Über die Tugend 9783495999080, 9783495492543

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Über die Tugend
 9783495999080, 9783495492543

Table of contents :
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Einleitung der Herausgeberinnen
Quellen
Summa Theologiae I–II / Die Summe der Theologie I–II (Auszüge)
Ist der Habitus eine bestimmte Art der Qualität? (q. 49, a. 2)
Ist es notwendig, dass es einen Habitus gibt? (q. 49, a. 4)
Ist die menschliche Tugend ein Habitus? (q. 55, a. 1)
Ist die menschliche Tugend ein handlungsbezogener Habitus? (q. 55, a. 2)
Wird die Tugend angemessen definiert? (q. 55, a. 4)
Kann der Wille Träger der Tugend sein? (q. 56, a. 6)
Gibt es vier Kardinaltugenden? (q. 61, a. 2)
Gibt es theologische Tugenden? (q. 62, a. 1)
Unterscheiden sich die theologischen Tugenden von den intellektuellen und moralischen? (q. 62, a. 2)
Werden Glaube, Hoffnung und Liebe angemessen als theologische Tugenden gesetzt? (q. 62, a. 3)
Ist die Tugend von Natur aus in uns? (q. 63, a. 1)
Wird irgendeine Tugend in uns durch Gewöhnung an Werke verursacht? (q. 63, a. 2)
Sind manche moralischen Tugenden durch Eingießung in uns? (q. 63, a. 3)
Ist die Tugend, die wir durch Gewöhnung an Werke erwerben, von derselben Art wie die eingegossene Tugend? (q. 63, a. 4)
Lateinische Werke / Deutsche Predigten und Traktate (Auszüge)
Tugenden als transzendentale perfectiones spirituales
Tugendhabitus als überformende Gleichgestaltungen mit der Gerechtigkeit
Gott Vater als immanenter Habitus, der uns zum Handeln drängt
Die verschiedenen Tugenden sind in ihrem Ursprung letztlich eins
Die Erkenntnis des Guten und ihre Auswirkung auf Begehren und Willen
Das Verhältnis zwischen Willen, Wesen, Werken und Besitz der Die drei göttlichen Tugenden
Gnade, „Einströmen“ der Gerechtigkeit und Abgeschiedenheit als höchste Tugend
Die vollendete Gerechtigkeit ist das ewige Leben
Interpretationen
Das Wesen und die Bedeutung der sittlichen Tugenden für ein glückliches Leben des Menschen nach Thomas von Aquin und Meister Eckhart
„[Q]uanto virtus fuerit perfectior, tanto magis passionem causat.“ Tugend und Leidenschaft bei Thomas von Aquin
Der moralische Partikularismus bei Thomas und die kognitive Rolle der ethischen Tugenden
Die Tugendethik des Thomas von Aquin: philosophisch oder theologisch, christlich oder universal?
„Mit dem Spinozismus [die] größte Ähnlichkeit“? Gott und Tugend bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart
(Das) Nichts zu bewahren: Meister Eckharts Tugendlehre als Umformung konservativen Denkens
„Virtuoso virtus est pro Deo.“ Meister Eckharts Ethik zwischen Autonomie und Gottessohnschaft
Anhang
Abkürzungen und Siglen
Textnachweise, Editionen, Literatur zur Einführung
Angaben zu den Autorinnen und Autoren
Personenregister
Sachregister

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Interpretationen und Quellen

6

Thomas von Aquin | Meister Eckhart

Über die Tugend

Herausgegeben von Kathi Beier und Martina Roesner

https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Interpretationen und Quellen Herausgegeben von Holger Zaborowski Band 6

https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Thomas von Aquin | Meister Eckhart

Über die Tugend

Herausgegeben von Kathi Beier und Martina Roesner

https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-49254-3 (Print) ISBN 978-3-495-99908-0 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Inhalt

Einleitung der Herausgeberinnen . . . . . . . . . . . . . .

9

Quellen Summa Theologiae I–II / Die Summe der Theologie I–II (Auszüge) . . . . . . . . . . von Thomas von Aquin

27

Ist der Habitus eine bestimmte Art der Qualität? (q. 49, a. 2) . . .

29

Ist es notwendig, dass es einen Habitus gibt? (q. 49, a. 4) . . . . .

41

Ist die menschliche Tugend ein Habitus? (q. 55, a. 1) . . . . . . .

49

Ist die menschliche Tugend ein handlungsbezogener Habitus? (q. 55, a. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Wird die Tugend angemessen definiert? (q. 55, a. 4) . . . . . . .

61

Kann der Wille Träger der Tugend sein? (q. 56, a. 6) . . . . . . . .

73

Gibt es vier Kardinaltugenden? (q. 61, a. 2) . . . . . . . . . . .

81

Gibt es theologische Tugenden? (q. 62, a. 1) . . . . . . . . . . .

87

Unterscheiden sich die theologischen Tugenden von den intellektuellen und moralischen? (q. 62, a. 2) . . . . . . . . . .

93

Werden Glaube, Hoffnung und Liebe angemessen als theologische Tugenden gesetzt? (q. 62, a. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Ist die Tugend von Natur aus in uns? (q. 63, a. 1) . . . . . . . . .

105

Wird irgendeine Tugend in uns durch Gewöhnung an Werke verursacht? (q. 63, a. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

Sind manche moralischen Tugenden durch Eingießung in uns? (q. 63, a. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

Ist die Tugend, die wir durch Gewöhnung an Werke erwerben, von derselben Art wie die eingegossene Tugend? (q. 63, a. 4) . . . . .

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5 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Inhalt

Lateinische Werke / Deutsche Predigten und Traktate (Auszüge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von Meister Eckhart Tugenden als transzendentale perfectiones spirituales . . . . . . Prol. gen. nn. 1–10 Prol. op. prop. nn. 1–4 Tugendhabitus als überformende Gleichgestaltungen mit der Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In Sap. nn. 41–45. 55. 74. 100 BgT In Gen. II n. 147

129 131

145

Gott Vater als immanenter Habitus, der uns zum Handeln drängt In Ioh. nn. 416–418. 454–455 Pr. 39

167

Die verschiedenen Tugenden sind in ihrem Ursprung letztlich eins In Gen. I nn. 88. 156–157. 176. 178 Pr. 35 Pr. 74

177

Die Erkenntnis des Guten und ihre Auswirkung auf Begehren und Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In Gen. II nn. 63. 86–88 In Exod. nn. 205–207 Das Verhältnis zwischen Willen, Wesen, Werken und Besitz der Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pr. 86 RdU 10. 21 Die drei göttlichen Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . Pr. 32 Pr. 33 In Exod. nn. 98–99 Gnade, „Einströmen“ der Gerechtigkeit und Abgeschiedenheit als höchste Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sermo XXV nn. 254–256. 259–267 VAb Die vollendete Gerechtigkeit ist das ewige Leben . . . . . . . . . In Sap. nn. 261–267 Pr. 67

6 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

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Inhalt

Interpretationen Das Wesen und die Bedeutung der sittlichen Tugenden für ein glückliches Leben des Menschen nach Thomas von Aquin und Meister Eckhart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Enders, Freiburg „[Q]uanto virtus fuerit perfectior, tanto magis passionem causat.“ Tugend und Leidenschaft bei Thomas von Aquin . . . . . . Peter Nickl, Hannover / Regensburg

263

302

Der moralische Partikularismus bei Thomas und die kognitive Rolle der ethischen Tugenden . . . . . . . . . . . Matthias Perkams, Jena

316

Die Tugendethik des Thomas von Aquin: philosophisch oder theologisch, christlich oder universal? . . . . . . . . . . . . Kathi Beier, Bremen / Erfurt

338

„Mit dem Spinozismus [die] größte Ähnlichkeit“? Gott und Tugend bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart Marko Fuchs, Bamberg

354

(Das) Nichts zu bewahren: Meister Eckharts Tugendlehre als Umformung konservativen Denkens . . . . . . . . . . . . Andrés Quero-Sánchez, Andújar / Regensburg

381

„Virtuoso virtus est pro Deo.“ Meister Eckharts Ethik zwischen Autonomie und Gottessohnschaft . . . . . . . . Martina Roesner, Wien / Oldenburg

402

Anhang Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427

Textnachweise, Editionen, Literatur zur Einführung . . . . . . .

434

Angaben zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . .

444

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

453

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

449

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Kathi Beier, Martina Roesner

Einleitung der Herausgeberinnen

1. Alte und neue Tugendlehren 1.1 Wiederentdeckte Tugend Blickt man auf die Geschichte der westlichen Ethik und Moralphilosophie, dann fällt auf, dass über nichts so viel nachgedacht wurde wie über die Tugend – ja, man kann mit Recht behaupten, dass der Begriff der Tugend das ethische Denken über Jahrhunderte hinweg dominiert hat. In der griechischen Antike, bei den römischen Denkern, im frühen Christentum und durch das Mittelalter hinweg bis zur Neuzeit war die Tugend der Grundbegriff der moralphilosophischen Reflexion. David Hume schrieb ebenso eine Tugendlehre wie Immanuel Kant, auch wenn der Tugendbegriff bei letzterem vom Begriff der Pflicht abgeleitet ist. Und noch Friedrich Nietzsche bleibt bei all seiner Kritik am Zustand der Moraltheorie seiner Zeit auf die Tugenden fixiert. Natürlich gibt es gravierende Unterschiede zwischen dem Verständnis der Tugend der klassischen Antike und dem der Stoa, zwischen dem Platons und dem des Aristoteles, ganz sicher zwischen der Tugendlehre des Thomas von Aquin und der Meister Eckharts, zwischen David Hume und Adam Smith und erst recht zwischen den einzelnen Epochen, etwa zwischen Sokrates und Spinoza. Und dennoch ist es der Begriff der Tugend (Griechisch: ܻȡİIJȒ / aretē, Latein: virtus, Englisch: virtue), der in all diesen Ansätzen im Zentrum steht.1 Erst Kantianismus und Konsequentialismus sowie später der Kontraktualismus und die Diskursethik haben dazu geführt, dass das Nachdenken über die Tugenden eine Zeit lang in den Hintergrund geriet. 1 Das belegt nicht zuletzt der Artikel »Tugend« im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer / Gottfried Gabriel, Basel 1971–2007, Bd. 10, 1532–1569.

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Kathi Beier, Martina Roesner

Das ist seit den 1950er Jahren anders. Angelsächsische Philosophinnen und Philosophen wie Elisabeth Anscombe, Peter Geach, Philippa Foot und Alasdair MacIntyre haben mit ihren Überlegungen eine Wiederbesinnung auf die Tugenden und eine Renaissance der Tugendethik ausgelöst.2 Mittlerweile werden alle möglichen der alten tugendethischen Spielarten neu entdeckt und für gegenwärtige Debatten fruchtbar gemacht; vertreten werden neo-aristotelische Varianten ebenso wie neo-stoische, kantische und nietzscheanische, auch utilitaristische sowie dezidiert pluralistisch angelegte. Man kann deshalb unumwunden sagen: Die Tugendethik ist aus der Moralphilosophie der Gegenwart nicht mehr wegzudenken.3 Dabei erregen die Tugend und ihr Gegenteil, das Laster, aus vielerlei Perspektiven das Interesse der Forschung. In eher systematischer Hinsicht wird nach der Definition des Tugendbegriffs, der Kategorisierung von Tugenden und Lastern, dem Tugenderwerb, der Einheit der Tugenden sowie der normativen Reichweite respektive der Grenzen der Tugendethik im Vergleich mit alternativen moralischen Theorien gefragt. Aus einem stärker historischen Blickwinkel werden die recht unterschiedlichen Verständnisse der Tugend und einzelner Tugenden und Laster von der Antike bis ins 21. Jahrhundert untersucht. Und kulturvergleichend interessieren das Konzept und die Kataloge von Tugenden und Lastern in verschiedenen Religionen und Gesellschaftsformen.4 Zu diesen Forschungen will der vorliegende Band beitragen. Es geht uns vor allem darum, zwei Stimmen aus dem europäischen Mittelalter in die Diskussion um den Begriff der Tugend und die Bedeutung der Tugendethik einzubringen. Denn so prominent Thomas von 2 Vgl. etwa G.E.M. Anscombe, »Die Moralphilosophie der Moderne« (1958), in: dies., Aufsätze, hg. und übers. von Katharina Nieswandt und Ulf Hlobil, Berlin 2014, 142– 170; Peter Geach, The Virtues, Cambridge 1977; Philippa Foot, »Tugenden und Laster« (1978), in: dies., Die Wirklichkeit des Guten. Moralphilosophische Aufsätze, hg. von Ursula Wolf und Anton Leist, Frankfurt a. M. 1997, 108–127; Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart (1981), Frankfurt a. M. 1995. 3 Für eine genauere Unterscheidung zwischen Tugendlehre, Ethik der Tugenden und Tugendethik vgl. Christoph Halbig, Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Berlin 2013, 11. 4 Vgl. dazu die in den letzten Jahren erschienenen größeren Kompendien und Handbücher zur Tugendethik, u.ௗa. Christoph Halbig / Felix Timmermann (Hg.), Handbuch Tugend und Tugendethik, Wiesbaden 2021; Nancy E. Snow (Hg.), The Oxford Handbook of Virtue, New York 2018; Lorraine Besser-Jones / Michael Slote (Hg.), The Routledge Companion to Virtue Ethics, New York 2015.

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Einleitung der Herausgeberinnen

Aquin und Meister Eckhart und mit ihnen ihre Tugendlehren zu ihrer Zeit waren, so wenig werden sie heute berücksichtigt. Innerhalb der systematischen tugendethischen Debatte wird auf Thomas wenig, auf Eckhart meist überhaupt nicht referiert. Innerhalb der Thomas- bzw. der Eckhart-Forschung wiederum wird selten ausführlich auf das Tugendverständnis der beiden Dominikaner eingegangen; noch weniger interessiert man sich für einen direkten Vergleich ihrer moralphilosophischen bzw. moraltheologischen Überlegungen. Es gibt also mindestens drei gute Gründe, den Blick zurück auf Thomas und Eckhart zu werfen. Erstens sind ihre Tugendlehren so verschieden voneinander, dass eine vergleichende Analyse dabei hilft, die jeweils vorhandenen methodischen und thematischen Präsuppositionen aufzudecken und sie zu reflektieren. Das führt zu einem tieferen Verständnis dieser und ähnlicher Theorien der Tugend. Zweitens sind die Überlegungen zur Tugend bei beiden Denkern Teil einer umfassenderen Theorie des Menschen; sie resultieren insbesondere aus einem bestimmten Verständnis der menschlichen Seele und des Verhältnisses des Menschen zu Gott. Der Blick darauf hilft zu verstehen, wie eng Anthropologie, Psychologie, Metaphysik und Tugendlehre miteinander verwoben sind und wie letztere aus ersteren folgt – damals wie heute. Drittens sind die Überlegungen zur Tugend von Thomas und Eckhart je für sich so eigenständig und in sich so gut begründet, dass sie es verdient haben, innerhalb der tugendethischen Debatte der Gegenwart mehr Gehör zu finden. Der Blick auf ihre Argumente für die Tugend könnte dabei helfen zu erkennen, wie die Tugendethik von heute ihre Eigenständigkeit verteidigen und ihre Vorteile gegenüber anderen Moraltheorien herausstellen kann.

1.2 Vergessene Tugendethiker: Thomas und Eckhart Obwohl die Tugendtheorie des Thomas von Aquin innerhalb der modernen Tugendethik mittlerweile mehr Beachtung findet als die Meister Eckharts, gehören beide nicht zu den klassischen Referenzautoren. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Der Tugendethiker Thomas gilt den einen bloß als »getaufter Aristoteles«, so dass man ihn zugunsten des Originals glaubt ver-

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Kathi Beier, Martina Roesner

nachlässigen zu können.5 Andere streichen die christlich-theologische Ausrichtung seines Denkens heraus, so dass er für die philosophische Debatte verlorenzugehen droht.6 Die Tugendethik von Meister Eckhart kennen die heutigen Philosophinnen und Philosophen meist gar nicht. Sie wird im akademischen Diskurs überwiegend im Feld historischer Forschungen zur Mystik behandelt;7 ansonsten begegnet sie bruchstückhaft und populärwissenschaftlich in Lifestyle- und Meditationsratgebern.8 Umgekehrt erfährt die Tugend innerhalb der Thomas- wie der Eckhart-Forschung noch nicht die Aufmerksamkeit, die sie unserer Meinung nach verdient hat. Die tugendethischen Aspekte im Werk des Thomas haben im 20. Jahrhundert eher selten das Interesse der Philosophen und Theologen geweckt.9 Heute wird seine Moralphilosophie vor allem historisch untersucht, einerseits in ihrem Verhältnis 5 Zwar betont etwa Jean Porter, dass es irreführend sei, »to read Aquinas as if he not only baptized Aristotle but is himself little more than Aristotle baptized« (»Right Reason and the Love of God: The parameters of Aquinas’ Moral Theology«, in: Rik van Nieuwenhove / Joseph Wawrykow (Hg.), The Theology of Thomas Aquinas, Notre Dame, Indiana 2005, 167–191, hier 167). Doch damit bedient sie sich des üblichen Topos und trägt ihn weiter. Er findet sich u.ௗa. bereits bei Étienne Gilson, Der Geist der mittelalterlichen Philosophie, Wien 1950, 10, und Gilbert Keith Chesterton, Thomas von Aquin, Heidelberg, 21957, 67. 6 Vgl. Eleonore Stump, »The non-Aristotelian character of Aquinas’s ethics: Aquinas on the passions«, in: Faith and Philosophy 28.1 (2011), 29–43; Andrew Pinsent, The Second-Person Perspective in Aquinas’s Ethics: Virtues and Gifts, New York 2012; Anton Ten Klooster, Thomas Aquinas on the Beatitudes: Reading Matthew, Disputing Grace and Virtue, Preaching Happiness, Leuven 2018. 7 Vgl. Katharina Ceming, Mystik und Ethik bei Meister Eckhart und Johann Gottlieb Fichte, Frankfurt a. M. 1999; Alessandro Palazzo, »›Die tugent hat vierley grad‹. Meister Eckhart on Macrobius’ four degrees of the cardinal virtues«, in: Documenti e Studi sulla tradizione filosofica medievale 24 (2013), 555–587. 8 Vgl. etwa Paul J. Kohtes, Meister Eckhart. 33 Tore zum guten Leben, Düsseldorf 2014; Katharina Ceming, Lass mal! Mit Meister Eckhart ins Hier und Jetzt!, Münsterschwarzach 2018; Harald-Alexander Korp, Dem ruhigen Geist ist alles möglich. Mit Meister Eckhart lernen, im Hier und Jetzt zu sein, Gütersloh 2019; Stefan Blankertz / Erhard Doubrawa, Meister Eckhart: Heilende Texte, Köln 2018. 9 Zu den Ausnahmen im deutschsprachigen Raum gehören Josef Pieper, Die Aktualität der Kardinaltugenden: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß, Werke in acht Bänden, hg. von Berthold Wald, Bd. 8.1, Hamburg 2005; Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 31998; Eberhard Schockenhoff, Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin, Mainz 1987; Martin Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis. Handlungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik, Berlin 1994.

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Einleitung der Herausgeberinnen

zur Ethik des Aristoteles,10 andererseits im Kontext der verschiedenen ethischen Stimmen des Mittelalters oder auch bis in die Gegenwart hinein.11 Die systematischen Analysen greifen meist einzelne Tugenden oder Tugendkomplexe heraus, etwa die Gerechtigkeit,12 Freundschaft und Liebe,13 die theologischen Tugenden,14 oder sie widmen sich der Struktur der Laster bzw. einzelner Laster.15 Die tugendethischen Aspekte im Werk von Eckhart werden nur selten thematisiert und oft nicht an sich, sondern nur in Bezug auf seine eigene und die Theologie seiner Zeit für interessant gehalten.16 Insbesondere fehlt es an Studien, die Eckharts Ethik im Allgemeinen und sein Tugendverständnis im Besonderen in Relation zur Moralphilosophie seines berühmten Ordensbruders und Vorgängers an der Universität in Paris diskutieren.17

10 Vgl. u a. Tobias Hoffmann / Jörn Müller / Matthias Perkams (Hg.), Aquinas and the Nicomachean Ethics, Cambridge 2013; Anthony Celano, Aristotle’s Ethics and Medieval Philosophy: Moral Goodness and Practical Wisdom, Cambridge 2016. 11 Vgl. u.ௗa. Peter Nickl, Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des habitus, Hamburg 2001. 12 Vgl. u.a. Marko J. Fuchs, Gerechtigkeit als allgemeine Tugend. Die Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie im Mittelalter und das Problem des ethischen Universalismus, Berlin / Boston 2017. 13 Vgl. u.a. Winfried Rohr (Hg.), Liebe – eine Tugend? Das Dilemma der modernen Ethik und der verdrängte Status der Liebe, Wiesbaden 2018. 14 Vgl. u.a. Harm Goris / Lambert Hendriks / Henk Schoot (Hg.), Faith, Hope and Love: Thomas Aquinas on Living by the Theological Virtues, Leuven 2015; Harm Goris / Henk Schoot (Hg.), The Virtuous Life: Thomas Aquinas on the Theological Nature of Moral Virtues, Leuven 2017. 15 Vgl. u.ௗa. Colleen McCluskey, Thomas Aquinas on Moral Wrongdoing, Cambridge 2017; Rebecca Konyndyk de Young, Glittering Vices: A New Look on the Seven Deadly Sins and Their Remedies, Grand Rapids, MI, 2009. 16 Vgl. Theo Kobusch, »Mystik als Metaphysik des moralischen Seins. Bemerkungen zur spekulativen Ethik Meister Eckharts«, in: Kurt Ruh (Hg.), Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, Stuttgart 1986, 49–62; Dietmar Mieth, »Die theologische Transposition der Tugendethik bei Meister Eckhart«, in: Ruh (Hg.), Abendländische Mystik im Mittelalter, 63–79; Joseph Milne, »Meister Eckhart and the Virtues«, in: Medieval Mystical Theology 25.2 (2016), 96–109; Jeannine Quillet, »Sur la noblesse et la vertu à la fin du Moyen Âge«, in: Études médiévales 1 (1999), 341–346. 17 Zu den wenigen Ausnahmen gehören Reginald Mary Chua, »Eckhart, Aquinas, and the Problem of Intrinsic Goods«, in: Medieval Mystical Theology 28.1 (2019), 3–13, und Peter Nickl, »Thomas von Aquin und Meister Eckhart: Freiheit als Seinsprinzip«, in: Uwe an der Heiden / Helmut Schneider (Hg.), Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, Stuttgart 2007, 100–113.

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Kathi Beier, Martina Roesner

Diesen Tendenzen in der Forschung will der vorliegende Band dadurch entgegenwirken, dass er die Aufmerksamkeit auf zentrale tugendethische Passagen beider Denker lenkt und deutlich macht, wie sie je für sich, in ihrem spannungsreichen Bezug zueinander und in ihrer Bedeutung für die gegenwärtige Tugendethik interpretiert werden können.

2. Thomas von Aquin und Eckhart von Hochheim 2.1 Zwei unterschiedliche Persönlichkeiten Sowohl Thomas von Aquin als auch Meister Eckhart gehörten dem damals noch jungen, 1216 gegründeten Dominikanerorden an, in dessen Grundkonzeption das philosophisch-theologische Studium eine zentrale Rolle spielte. In dieselbe Zeit fiel auch die Entstehung der ersten europäischen Universitäten, und so nimmt es nicht wunder, dass schon bald zahlreiche Lehrstühle, namentlich an der Pariser Universität, von Dominikanern besetzt wurden. Obwohl zwischen Thomas (1224/25–1274) und Eckhart (um 1260–1328) ein Altersunterschied von gut 35 Jahren liegt, zeigen ihre Biographien doch auffallende Ähnlichkeiten. So hatten sie in Albertus Magnus (um 1200–1280) einen gemeinsamen Lehrer,18 beiden wurde die seltene Ehre zuteil, nicht nur einmal, sondern gleich zweimal den für Nichtfranzosen reservierten theologischen Lehrstuhl an der Pariser Universität zu bekleiden,19 beide übernahmen für ihren Orden andere wichtige Ämter oder Aufgaben, und beide sahen sich aufgrund ihrer Schriften dem Vorwurf der Häresie ausgesetzt, starben jedoch, bevor es zur Verurteilung einzelner Lehrsätze kam.20 18 Vgl. Denys Turner, »A Teacher and Two Students: Albert the Great, Thomas Aquinas, Meister Eckhart«, in: Fran O’Rourke (Hg.), Ciphers of Transcendence. Essays in Philosophy of Religion in Honour of Patrick Masterson, Newbridge 2019, 125–138. 19 Thomas hatte den Lehrstuhl von 1256–59 sowie von 1268–72 inne, Eckhart von 1302–03 sowie von 1311–13. 20 1277 wurden durch den Bischof von Paris große Teile der aristotelischen Lehre verurteilt und in diesem Zusammenhang auch einige Sätze aus dem Werk des Thomas – was seiner Heiligsprechung im Jahr 1323 durch Papst Johannes XXII. und seiner Erhebung zum Kirchenlehrer 1567 durch Papst Pius V. aber nicht mehr im Wege stand. Gegen Eckhart wurde 1326 vom Kölner Erzbischof Heinrich II. von Virneburg ein Inquisitionsprozess eingeleitet, an dessen Ende 1329 – also ein Jahr nach Eckharts

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Einleitung der Herausgeberinnen

Doch gibt es, was Leben, Persönlichkeit und Lehre betrifft, auch nicht zu übersehende Unterschiede zwischen dem italienischen und dem deutschen Dominikaner. Während Thomas zeitlebens in erster Linie als Lehrer der Theologie tätig war, wurde Eckharts akademischer Werdegang immer wieder durch längere Phasen der Leitungstätigkeit innerhalb seines Ordens unterbrochen: zunächst als Prior des Erfurter Dominikanerkonvents, dann als Provinzial der Ordensprovinz Saxonia und schließlich als Visitator, Prediger und Seelsorger am Ober- und Niederrhein.21 Diese Unterschiede in den akademischen bzw. kirchlichen Tätigkeitsfeldern der beiden Magister haben auch ihren Niederschlag in ihrem jeweiligen Gesamtwerk gefunden. Von Thomas sind fast ausschließlich systematische philosophisch-theologische Werke (Sentenzenkommentar, Summen, Quaestiones disputatae), Kommentare zu den Schriften des Aristoteles und anderen philosophischen Werken wie dem Liber de causis sowie Auslegungen zu verschiedenen Büchern der Hl. Schrift erhalten, die durchgehend in lateinischer Sprache verfasst sind. Die Gattung der Predigt spielt in seinem Gesamtwerk nur eine untergeordnete Rolle, und volkssprachliche Texte geistlichen Inhalts sind von ihm überhaupt nicht überliefert. Demgegenüber umfasst Eckharts Œuvre neben einem beachtlichen Corpus von lateinisch-scholastischen Schriften, die aus seiner Lehrtätigkeit in Paris und andernorts hervorgegangen sind, auch eine große Anzahl von Predigten sowie etliche Traktate in mittelhochdeutscher Sprache, die im Rahmen seines langjährigen Wirkens als Prediger und Seelsorger entstanden sind. Zudem dürfen wir uns Thomas und Eckhart als zwei charakterlich und charismatisch sehr unterschiedliche Persönlichkeiten vorstellen. Der in der zwischen Rom und Neapel gelegenen Grafschaft Aquino geborene Thomas muss ein recht großer und stämmiger, zugleich aber auch ein gedankenversunkener und sehr zurückhaltender Mensch gewesen sein. Seine stille und scheue Art hat ihm bei seinen Studiengenossen in Köln den Spitznamen »der stumme Ochse« eingebracht. Albertus Magnus hat die Geisteskraft, die in Thomas steckte, allerdings schnell erkannt. Legendär ist sein Ausspruch: »Ihr nennt ihn den ›stummen Ochsen‹, ich aber sage euch, das Brüllen Tod – vom Papst insgesamt 28 Sätze als häretisch oder zumindest häresieverdächtig verurteilt wurden. 21 Vgl. Kurt Ruh, Meister Eckhart: Theologe – Prediger – Mystiker, München 1989, 18–30. 136–167.

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Kathi Beier, Martina Roesner

dieses ›stummen Ochsen‹ wird so laut werden, dass es die ganze Welt erfüllt.«22 Der Thüringer Eckhart dagegen ist wohl alles andere als menschenscheu gewesen. Er hat seine Zuhörer im Gegenteil durch seine Erscheinung und sein Auftreten, vor allem aber durch die Radikalität seiner mystisch-spekulativen Aussagen fasziniert und bisweilen wohl auch schockiert. Die Schwestern, vor denen er predigte, waren jedenfalls so beeindruckt von seinen Ausführungen, dass seine steilen theologischen Gedanken Eingang in ihre geistlichen Dichtungen gefunden haben.23 Die Unterschiede zwischen Thomas und Eckhart betreffen schließlich in ganz fundamentaler Weise die systematische Grundorientierung ihres Denkens: Thomas ist stets um Differenzierung und Detailgenauigkeit bemüht und tendiert dahin, bei der Darlegung seines eigenen philosophisch-theologischen Ansatzes zwischen den jeweils möglichen Extrempositionen zu vermitteln. Besonders viel liegt ihm daran, die seinerzeit erstmals vollständig auf Latein zugänglichen großen Werke des Aristoteles in das christliche Denken zu integrieren. Demgegenüber zeichnet sich Eckharts Denkstil nicht nur durch eine stärker neuplatonische Prägung, sondern vor allem auch durch eine ausgesprochene Vorliebe für radikale spekulative Zuspitzungen und schwindelerregende »Alles-oder-nichts«-Thesen aus. Diese Haltung ist Ausdruck seiner philosophisch-theologischen Grundüberzeugung, die von der absoluten Einheit und Unteilbarkeit der Wahrheit ausgeht und daher die Absicht verfolgt, alle Fragen philosophischer, theologischer und geistlich-mystischer Art vom Standpunkt des göttlichen Ursprungs aus zu erörtern, in dem alle Dinge letztlich eins sind. Dies mag erklären, warum Eckhart ein derart geringes Interesse an der Auffächerung einer Fragestellung in immer neue distinctiones hat und stattdessen mit Vorliebe der Frage nachgeht, wie sich die Sache im Grunde – und d.ௗh. aus der göttlichen Perspektive – verhält.

22

Zitiert nach Chesterton, Thomas von Aquin, 73. In einem geistlichen Gedicht aus dem 14. Jahrhundert mit dem Titel Ich will vch sagen mere wird Eckharts radikale und nicht eben leichtverständliche Lehre vom Nichts erwähnt: Der wise meister hechart / wil vns von nithe san / der des nit enverstat / der mag es gode clan / in den hat nit gelvthet / der gůdeliche schin (zitiert nach: Loris Sturlese, »Ich will vch sagen mere. Das sogenannte ›Gedicht auf Meister Eckhart‹«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 114.3 [1992], 493f., hier 494). 23

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Einleitung der Herausgeberinnen

2.2 Die Tugend im Denken der beiden Dominikaner Die soeben skizzierten, eher gegenläufigen Denkstile von Thomas und Eckhart schlagen sich auch in ihren konkreten metaphysischen Grundoptionen nieder: Thomas ist Substanzontologe, Eckhart vertritt eine relationale Metaphysik; Thomas unterscheidet die natürliche Theologie von der Offenbarungstheologie und betont so den fundamentalen Unterschied zwischen Natur und Gnade, für Eckhart gibt es im Kern nur eine Theologie, auch wenn sie in der Bibel und in der Philosophie auf unterschiedliche Weise artikuliert wird;24 Thomas denkt analog, Eckhart univok; etc. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf ihre Ethik. Während für Eckhart die Tugenden die göttliche Natur des Menschen zum Vorschein bringen, ihn gewissermaßen schon auf Erden zu Gott werden und göttlich »wirken« lassen, ist für Thomas der Unterschied von Gott und Mensch im Dies- und Jenseits unaufhebbar. Daher baut Thomas’ Tugendethik auf einer genauen Analyse der spezifisch menschlichen Natur auf. Für ihn sind die Tugenden qualitative Eigenschaften einer Person, mithin Akzidenzien. Die einzelnen Tugenden werden von ihm aus den verschiedenen Seelenvermögen des Menschen abgeleitet, deren Ausrichtung (habitus) sie darstellen. Es ist ihm wichtig, zwischen verschiedenen Arten der Tugend zu differenzieren: zwischen ethischen und intellektuellen, zwischen durch eigenes Tun erworbenen und von Gott geschenkten bzw. eingegossenen, zwischen natürlichen und übernatürlichen, zwischen den theologischen (Glaube, Hoffnung, Liebe) und den Kardinaltugenden. Zudem legt er Wert darauf, eine Ordnung unter den Tugenden zu stiften, indem er die besondere Rolle der Liebe (caritas) als Wurzel bzw. Mutter aller Tugenden betont und ein System von Kardinaltugenden und deren Unterarten entwirft. Im Gegensatz dazu geht es Eckhart darum, alle Tugenden als »geistige Vollkommenheiten« (perfectiones spirituales) zu deuten, die keine empirischen Akzidenzien der menschlichen Person darstellen, sondern transzendentale Bestimmungen, die den Menschen zur Gänze überformen und ihn sich angleichen. Von besonderer Bedeutung ist dabei zum einen die »Wurzeltugend« der Abgeschiedenheit, durch die der Mensch von 24 Vgl. Andreas Speer, »Are there one or two theologies? A fundamental disagreement between Thomas Aquinas and Meister Eckhart«, in: Medieval Mystical Theology 22.2 (2014), 139–154.

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Kathi Beier, Martina Roesner

allen kreatürlichen Anhaftungen befreit wird, und zum anderen die »Gerechtigkeit«, durch die er ganz in Gott hineingebildet und somit vergöttlicht wird. Eckhart leugnet dabei weder den Aspekt der empirischen Habitualisierung der Tugenden unter dem Gesichtspunkt unserer Kreatürlichkeit noch die begriffliche Unterscheidung der einzelnen Tugenden (Gerechtigkeit, Liebe, Barmherzigkeit, Demut usw.) auf phänomenaler Ebene. Er betont allerdings, dass die äußeren Werke der verschiedenen Tugenden auf ihr inneres Wesen, das transzendentaler Natur ist, zurückverfolgt und in ihm verankert werden müssen. Eckhart betrachtet die Tugenden also vor allem unter dem Gesichtspunkt ihres göttlichen Einheitsgrundes, Thomas hingegen in ihrer konkreten menschlichen Ausprägung und ihrer Vielfalt. Doch schon in dieser groben Skizze werden auch die Gemeinsamkeiten deutlich. So schöpfen beide aus denselben Quellen, nämlich aus den damals zum Teil gerade erst wiedergewonnenen antiken Überlieferungen, der Bibel und den Kirchenvätern. Darüber hinaus müssen ihre jeweiligen ethischen Ansätze als Stellungnahmen zum zeitgenössischen, durch den lateinischen Averroismus angestoßenen Streit um die Möglichkeit eines »aristotélisme éthique« (Alain de Libera) verstanden werden.25 Im Zentrum dieser Debatte steht die provokante These, dass die theoretisch-metaphysische Existenzweise die vollkommenste Verwirklichung des Menschseins darstelle, so dass der professionelle Philosoph schon in diesem Leben glückselig werden könne und auf den kirchlich-sakramental vermittelten Heilsweg sowie die ewige Seligkeit im Jenseits nicht mehr angewiesen sei. Thomas und Eckhart wenden unterschiedliche Strategien an, um die elitäre, intellektualistische Verengung dieses Glückseligkeitskonzepts zu korrigieren. Beide kommen jedoch darin überein, dass der Erwerb der Tugenden notwendig für ein glückseliges Leben ist. Überdies betrachten beide Autoren Tugenden wie die Liebe und die Gerechtigkeit als besonders wichtig. Und sie entwickeln ihre jeweiligen Tugendkonzepte ausgehend von einem Menschenbild, das wesentlich vom Gedanken der Vernunft und Freiheit geprägt ist.

25

Vgl. Alain de Libera, Penser au Moyen Âge, Paris 1991.

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Einleitung der Herausgeberinnen

3. Forschungsfragen, Ziele und Aufbau des Bandes Vor diesem Hintergrund bietet sich eine gemeinsame Betrachtung der Tugendethik von Thomas und Eckhart an. Sie öffnet den Blick u.ௗa. für folgende Fragestellungen: i) Gründet die Verschiedenheit des Tugendverständnisses von Thomas und Eckhart in einer unterschiedlichen Interpretation derselben Quellen oder vielmehr in der Rezeption verschiedener Quellen – bei Thomas vor allem Aristoteles, bei Eckhart in höherem Maße Platon und der Neuplatonismus? ii) Ist die Ethik bei beiden theologisch fundiert, d.ௗh. eine dezidiert christliche Ethik? Oder lässt sie sich von der Theologie trennen? Ist eine Trennung bei dem einen Dominikaner leichter möglich als bei dem anderen? iii) Ist das Tugendverständnis des Thomas nicht doch zu verschieden von dem Eckharts, so dass beide kaum miteinander vergleichbar sind? Stehen sie unverbunden nebeneinander, oder lässt sich in Eckharts Überlegungen eine substantielle Übernahme von Gedanken seines Ordensbruders nachweisen? Gibt es eine Perspektive, aus der heraus deutlich werden könnte, dass sich die beiden Zugänge zur Tugend ergänzen? Lassen sie sich vielleicht sogar als zwei Seiten derselben Medaille betrachten? iv) Was können die Überlegungen von Thomas und Eckhart zum gegenwärtigen Tugenddiskurs beitragen? Welche Erkenntnisse besaßen sie über Wesen, Wert und Wirkung der Tugend, die heute gerne übersehen werden? Mit der Konzeption des vorliegenden Bandes verfolgen wir insbesondere drei Ziele. Erstens wollen wir eine neue, dem heutigen Sprachgebrauch besser zugängliche Übersetzung wichtiger tugendethischer Passagen aus Thomas’ Summa Theologiae vorlegen. Zweitens wollen wir zentrale Überlegungen zur Tugend von Eckhart, die über sein deutsches und lateinisches Werk verstreut sind, gebündelt präsentieren. Drittens sollen die ausgewählten Texte Thomas von Aquins und Eckharts von einschlägigen Forscherinnen und Forschern unserer Zeit sowohl in ihrem historischen Umfeld als auch im Bezug zueinander sowie in ihrer Relevanz für die gegenwärtige Tugendethik erläutert und interpretiert werden. Daraus ergibt sich der Aufbau des Bandes. Die Quellen sind, was die beiden Autoren anbelangt, chronologisch geordnet. Bei Thomas haben wir die Stellen ausgewählt, die wir für seine Theorie der

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Tugend für grundlegend halten. Die Auszüge sind daher alle der Prima Secundae der Summa Theologiae entnommen. Da jede Tugend ein Habitus ist, steht am Beginn ein Auszug aus der Habitus-Lehre. Es folgen nach der Ordnung, die Thomas selbst vornimmt, Passagen zu Wesen und Begriff der menschlichen Tugend sowie zu ihren Trägern, Arten und ihrem Erwerb. Anders als Thomas hat Eckhart keinen systematisch zusammenhängenden philosophischen bzw. theologischen Tugendtraktat verfasst. Seine Ausführungen zu diesem Thema sind über seine lateinischen und deutschen Werke verstreut, so dass man sich ein Gesamtbild seiner Tugendlehre gleichsam aus einzelnen Mosaiksteinen zusammensetzen muss. Dennoch sind diese zumeist kurzen Passagen sehr erhellend, da sie Eckharts Grundverständnis der Tugend als solcher, bestimmter Einzeltugenden wie der Gerechtigkeit, der Gelassenheit usw. sowie ihre Bedeutung für die Vergöttlichung des Menschen prägnant hervortreten lassen. Die für den vorliegenden Band zusammengestellten Passagen aus Eckharts lateinischen und deutschen Werken sind so angeordnet, dass sich eine möglichst enge Entsprechung zur systematischen Aufeinanderfolge der ausgewählten Passagen aus Thomas’ Tugendlehre ergibt. Sie spiegeln also nicht die chronologische Ordnung der ohnehin oft schwer zu bestimmenden mutmaßlichen Entstehungszeiten der jeweiligen Werke Eckharts wider. An die Quellen in den jeweiligen Originalsprachen mit den Übersetzungen schließen sich die Interpretationen an. Die sieben Essays diskutieren entweder die Tugendethik von Thomas und Eckhart im Vergleich, oder sie widmen sich nur einem der beiden Denker. Markus Enders (Freiburg) analysiert zentrale Gedanken in beiden Tugendlehren und betont zunächst besonders deren Unterschiede. Während Thomas die Tugend als akzidentelle Eigenschaft des Menschen begreife, stelle sie bei Eckhart ein attributionsanaloges Verhältnis etwa zwischen der Gerechtigkeit und dem Gerechten dar. Schlussendlich erkennt Enders aber eine Komplementarität bzw. eine Konvergenz zwischen diesen beiden Tugendverständnissen. Peter Nickl (Hannover / Regensburg) wirft einen genauen Blick auf das Verhältnis von Leidenschaften und Tugend bei Thomas. Gegen das Ideal der apatheia bei den Stoikern sei Thomas’ Tugendlehre eindeutig als ein Lob der Leidenschaften zu verstehen, denn erst das Miteinander von passio und ratio trage zum »Ganzen« des Menschen bei und ermögliche so ein tugendhaftes Handeln. Das zeige sich nicht zuletzt an Jesus Christus selbst.

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Einleitung der Herausgeberinnen

Matthias Perkams (Jena) wendet sich gegen die übliche Darstellung von Thomas als ethischen Generalisten. Weil Thomas die richtige Bewertung der jeweiligen Handlungssituation wichtig sei, er also das Urteil im Einzelfall betone, müsse seine Ethik insgesamt eher als (moderat) partikularistisch aufgefasst werden. Das zeigt Perkams, indem er auf die komplexen Reflexionen des Thomas zur Klugheit und zum Verhältnis zwischen den Zielen des Menschen und moralischen Regeln eingeht. Kathi Beier (Bremen / Erfurt) setzt sich mit der in jüngster Zeit wieder einmal vertretenen These auseinander, das Tugendverständnis des Thomas sei wesentlich unaristotelisch. Gegen die Argumente von Eleonore Stump und Andrew Pinsent versucht sie zu zeigen, dass Thomas in seiner Definition der Tugend eng an Aristoteles anschließt und mit Blick auf die christlichen Elemente seiner Tugendlehre Aristoteles zwar transformiert, aber nicht negiert. Marko J. Fuchs (Bamberg) wirft mithilfe von Hegel den Blick zurück auf Thomas und Eckhart. Hegel fand den kirchlichen Scholastiker Thomas wenig interessant, lobte aber den Mystiker Eckhart. Fuchs untersucht insbesondere die Verbindung zwischen dem Begriff der Tugend und Gott. Keiner der beiden mittelalterlichen Denker vertrete eine theologiefreie, rein philosophische Konzeption der Tugend, so seine These. Allerdings sei Eckhart radikaler als Thomas mit seiner Perspektive auf die All-Einheit zwischen Gott und Geschöpf – und darum auch für Hegel interessanter. Auch Andrés Quero-Sánchez (Andújar / Regensburg) vergleicht die Tugendlehre des Thomas mit der Eckharts, konzentriert sich dabei aber auf grundlegende Unterschiede im Begriffsverständnis. Thomas zufolge ist die Tugend ein Habitus und als solcher ein erster Akt; das tugendhafte Handeln als zweiter Akt müsse als Realisierung eines Vorgegebenen, eben des Habitus, verstanden werden. Eckhart dagegen kenne eine solche Unterscheidung nicht und betone stattdessen das Lassen und das Werden. Martina Roesner (Wien / Oldenburg) analysiert die Doppelbedeutung, die der Begriff der virtus bei Eckhart hat. Zum einen wendet er ihn in inhaltlich konkreter Hinsicht auf die »geistigen Vollkommenheiten« (perfectiones spirituales) wie Gerechtigkeit, Weisheit usw. an, so dass man hier von virtutes im Plural sprechen kann. Zum anderen verwendet Eckhart diesen Begriff aber auch als singulare tantum für die von innen kommende »Wirkmacht«, die jedem wahrhaft tugendhaf-

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Kathi Beier, Martina Roesner

ten Werk zugrunde liegt und letztlich mit dem ursprunghaften Wirken Gott Vaters identisch ist. Die Essays machen deutlich, dass das Verhältnis zwischen Thomas und Eckhart mit Blick auf die Tugenden unterschiedlich aufgefasst wird. Während die einen die beiden tugendethischen Ansätze als in gewisser Hinsicht komplementär betrachten, scheinen sie für andere völlig inkompatibel zu sein. Während die einen die Ethik des Thomas für eher anthropologisch fundiert halten, die Ethik Eckharts dagegen als eher theozentrisch orientiert wahrnehmen, ergibt eine solche Unterscheidung für andere wenig Sinn. Und während die einen die theologische Perspektive des Thomas betonen, tritt diese bei den anderen eher in den Hintergrund. Es ist absolut nicht unser Anliegen, hier für eine irgendwie einheitliche Interpretationslinie zu sorgen. Im Gegenteil, uns freut die Kontroverse, denn sie zeigt, dass noch nicht alle Fragen beantwortet sind und sich weiteres Nachdenken lohnt. Der vorliegende Band versteht sich als eine Station auf diesem Denkweg. Er will zum einen das Studium der ethischen Schriften von Thomas und Eckhart anregen und zum anderen einen Beitrag zur Forschung leisten – zur Erforschung der Ethik des Thomas ebenso wie der Ethik Eckharts und der Tugendethik im Allgemeinen.

4. Zu den Übersetzungen Die Passagen aus Thomas‫ ތ‬Summa Theologiae I–II haben Roberto Vinco und Kathi Beier neu übersetzt, denn wir glauben, dass die bisherigen Übersetzungen nicht immer dem heute üblichen Sprachgebrauch genügen, mitunter sogar das Textverständnis erschweren. Die Übersetzer haben sich bemüht, für zentrale Begriffe bei Thomas deutsche Entsprechungen zu finden. Für etliche Begriffe kursieren in der Forschungsliteratur verschiedene Übersetzungen, etwa für temperantia oder für habitus operativus. Hier war jeweils eine Entscheidung nötig. Unübersetzt geblieben sind dagegen habitus und intellectus, weil beide Begriffe auch im Deutschen gebraucht werden und wirklich passende Übersetzungen nicht leicht zu finden sind. Die neuhochdeutschen Übersetzungen der Textauszüge aus Eckharts lateinischen bzw. mittelhochdeutschen Werken sind in fast allen Fällen der kritischen Kohlhammer-Ausgabe entnommen. Dabei wurde nicht nur die Orthographie den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung angeglichen, sondern es wurden in Einzelfällen – vor

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Einleitung der Herausgeberinnen

allem in den von Josef Quint angefertigten Übersetzungen von Eckharts deutschen Predigten und Traktaten – auch veraltete, heutzutage nicht mehr übliche Ausdrücke (wie »traun«, »dafern« usw.) behutsam modernisiert. Lediglich die Auszüge aus Predigt 67 und Predigt 86 wurden von Martina Roesner gänzlich neu übersetzt. Die deutschen Überschriften zu den ausgewählten Werkauszügen Eckharts stammen ebenfalls von ihr. Auf ein Glossar der wichtigsten Begriffe haben wir jeweils verzichtet. Wir geben jedoch im Sachregister die von Thomas und Eckhart verwendeten lateinischen und zum Teil auch die mittelhochdeutschen Begriffe in Klammern mit an.

5. Dank Der vorliegende Band wäre ohne die Hilfe anderer Personen und Institutionen nicht zustande gekommen. Ihnen möchten wir an dieser Stelle sehr herzlich danken. Unser Dank gilt zunächst Martin Hähnel vom Verlag Karl Alber, der die erste Idee zu dieser Publikation hatte. Wir danken zudem Holger Zaborowski dafür, dass der Band in der von ihm geleiteten Alber-Reihe »Interpretationen und Quellen« erscheinen kann. Bedanken wollen wir uns ebenfalls bei den folgenden Institutionen: Dem Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt sowie der dortigen Meister-EckhartForschungsstelle unter der Leitung von Dietmar Mieth und Markus Vinzent haben wir es zu verdanken, dass wir zu einem Forschungsaufenthalt eingeladen wurden, aus dem heraus unsere Zusammenarbeit für dieses Projekt entstehen konnte. Die Katholische Akademie Freiburg im Breisgau war Gastgeber eines Workshops, auf dem die Autorinnen und Autoren der Essays im April 2022 ihre ersten Entwürfe miteinander diskutieren konnten. Finanziert wurde dieser Workshop aus den Sachmitteln des vom Austrian Science Fund (FWF) geförderten Einzelprojekts von Martina Roesner (Projektnummer: P 31358). Wir danken den Verantwortlichen der Editio Leonina für das Einverständnis, die ausgewählten Passagen aus Thomas von Aquins Summa Theologiae hier erneut abzudrucken, und dem KohlhammerVerlag für die Genehmigung des Wiederabdrucks und der punktuel-

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Kathi Beier, Martina Roesner

len, behutsamen Modifikationen der neuhochdeutschen Übersetzungen von Eckharts Werken. Schließlich schulden wir auch weiteren einzelnen Personen unseren Dank. Bei Roberto Vinco bedanken wir uns herzlich für die Zusammenarbeit bei der Übersetzung der Thomas-Auszüge. Er möchte an dieser Stelle seinerseits Magdalena Vinco und Paul Busch für die wertvollen Korrekturen, Anmerkungen und Vorschläge zur Übersetzung danken. Kathi Beier dankt Jana Ilnicka für Rat und Hilfe bei der Übersetzung von Thomas. Sarah Al-Taher danken wir für die Durchsicht der Eckhart-Auszüge und Ulrich Barton für die Prüfung der Übersetzung von Eckharts Predigten 67 und 86. Schließlich gilt ein großer Dank Maria Saam und Fabian Wahl vom Verlag Karl Alber, die uns bei dieser Publikation geduldig begleitet und beraten haben.   Erfurt und Wien, den 30. September 2022

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Thomas von Aquin Summa Theologiae I–II / Die Summe der Theologie I–II (Auszüge) übersetzt

von Roberto Vinco und Kathi Beier, mit Anmerkungen von Kathi Beier

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Quaestio XLIX: De habitibus in generali, quoad eorum substantiam

Post actus et passiones, considerandum est de principiis humanorum   actuum. Et primo, de principiis intrinsecis; secundo, de principiis extrinsecis. Principium autem intrinsecum est potentia et habitus; sed quia de potentiis in Prima Parte dictum est, nunc restat de habitibus considerandum. Et primo quidem, in generali; secundo vero, de virtutibus et vitiis, et   aliis huiusmodi habitibus, qui sunt humanorum actuum principia. Circa ipsos autem habitus in generali, quatuor consideranda sunt:   primo quidem, de ipsa substantia habituum; secundo, de subiecto eorum; tertio, de causa generationis, augmenti et corruptionis ipsorum; quarto, de distinctione ipsorum. Circa primum quaeruntur quatuor:

 

1.

Utrum habitus sit qualitas

 

2.

Utrum sit determinata species qualitatis

 

3.

Utrum habitus importet ordinem ad actum.

 

4.

De necessitate habitus

 

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Frage 49: Vom Wesen der Habitus im Allgemeinen1

Nach den Handlungen und Leidenschaften sind die Prinzipien der menschlichen Tätigkeiten zu untersuchen; zuerst die inneren Prinzipien, dann die äußeren Prinzipien. Innere Prinzipien sind Vermögen und Habitus. Weil aber die Vermögen schon im ersten Teil besprochen wurden,2 bleibt hier nur, die Habitus zu untersuchen. Das geschieht erstens im Allgemeinen und zweitens mit Blick auf Tugenden und Laster und ähnliche Habitus, die Prinzipien menschlicher Tätigkeiten sind. Bezüglich der Habitus im Allgemeinen sind vier Dinge zu betrachten: erstens das Wesen der Habitus; zweitens ihr Träger; drittens die Ursache ihres Entstehens, Wachsens und Vergehens; viertens ihre Unterscheidung. Bezüglich des ersten Punktes sind vier Dinge zu untersuchen: 1.

Ist der Habitus eine Qualität?

2.

Ist er eine bestimmte Art der Qualität?

3.

Führt der Habitus eine Hinordnung auf die Tätigkeit herbei?

4.

Die Notwendigkeit des Habitus.

1 Eine konzise Einführung in den Aufbau einer Frage und eines Artikels in der Summa Theologiae gibt Klaus Jacobi in seiner Einleitung zu Thomas von Aquin, Summa Theologiae, Bd. 9A: Ziel und Handeln des Menschen (STh I–II, qq. 1–21), Die deutsche Thomas-Ausgabe, hg. von der Dominikaner-Provinz Teutonia Köln, Berlin / Boston 2021, (31)–(36). 2 Vgl. STh I, qq. 77–89.

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Quaestio XLIX, articulus II: Utrum habitus sit determinata species qualitatis

Ad secundum sic proceditur. Videtur quod habitus non sit determi-   nata species qualitatis. 1. Quia, ut dictum est, habitus, secundum quod est qualitas, dicitur   dispositio secundum quam bene aut male disponitur dispositum. Sed hoc contingit secundum quamlibet qualitatem, nam et secundum figuram contingit aliquid bene vel male esse dispositum, et similiter secundum calorem et frigus, et secundum omnia huiusmodi. Ergo habitus non est determinata species qualitatis. 2. Praeterea, philosophus, in praedicamentis, caliditatem et frigidi-   tatem dicit esse dispositiones vel habitus, sicut aegritudinem et sanitatem. Sed calor et frigus sunt in tertia specie qualitatis. Ergo habitus vel dispositio non distinguuntur ab aliis speciebus qualitatis. 3. Praeterea, difficile mobile non est differentia pertinens ad genus   qualitatis, sed magis pertinet ad motum vel passionem. Nullum autem genus determinatur ad speciem per differentiam alterius generis; sed oportet differentias per se advenire generi, ut philosophus

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Frage 49, Artikel 2: Ist der Habitus eine bestimmte Art der Qualität?

Es scheint, dass der Habitus keine bestimmte Art der Qualität ist. 1. Wie gesagt, ist der Habitus, insofern er eine Qualität ist, eine »Disposition, der gemäß das, was ausgerichtet wird, gut oder schlecht ausgerichtet wird«.3 Allerdings geschieht dies entsprechend jeder [der vier Arten der]4 Qualität.5 Denn auch entsprechend der Gestalt kann etwas gut oder schlecht ausgerichtet sein und genauso entsprechend dem Warmen und Kalten und allen anderen Qualitäten. Also ist der Habitus keine bestimmte Art der Qualität. 2. Außerdem: Der Philosoph6 sagt in den Kategorien, dass Wärme und Kälte Dispositionen bzw. Habitus sind wie Krankheit und Gesundheit.7 Aber das Warme und das Kalte gehören der dritten Art der Qualität an. Also unterscheiden sich Habitus bzw. Disposition nicht von den anderen Arten der Qualität. 3. Außerdem: »Schwer veränderlich« ist kein Unterschied, der sich auf die Gattung der Qualität bezieht, sondern vielmehr einer, der sich auf Bewegung [bzw. Tun] und Leiden bezieht.8 Keine Gattung wird aber zur Art hin durch den Artunterschied einer anderen Gattung näher bestimmt, sondern die Artunterschiede müssen von sich aus 3 Vgl. STh I–II, q. 49, a. 1. Dort wie auch hier zitiert Thomas Aristoteles, Met. V 20, 1022 b 10–13. 4 Bemerkungen in eckigen Klammern sind Hinzufügungen der Übersetzer, die dem besseren Verständnis dienen sollen. Sie werden auf das Nötigste reduziert. 5 Aristoteles unterscheidet in den Kategorien vier Arten von Qualität: i) Habitus und Anlage (hexis kai diathesis), ii) natürliche Vermögen (dynameis physikai), iii) affektive Zustände und Affekte (pathētikai poiotētes kai pathē), iv) äußere Form und Gestalt (schēma kai morphē); vgl. Cat. 8. 6 Gemeint ist damit immer Aristoteles. 7 Vgl. Aristoteles, Cat. 8, 8 b 35.

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Quaestio XLIX, articulus II

dicit, in VII Metaphys. Ergo, cum habitus dicatur esse qualitas difficile mobilis, videtur quod non sit determinata species qualitatis.

Sed contra est quod philosophus dicit, in praedicamentis, quod una   species qualitatis est habitus et dispositio. Respondeo dicendum quod philosophus, in praedicamentis, ponit   inter quatuor species qualitatis primam, dispositionem et habitum. Quarum quidem specierum differentias sic assignat Simplicius, in commento praedicamentorum, dicens quod qualitatum quaedam sunt naturales, quae secundum naturam insunt, et semper, quaedam autem sunt adventitiae, quae ab extrinseco efficiuntur, et possunt amitti. Et haec quidem, quae sunt adventitiae, sunt habitus et dispositiones, secundum facile et difficile amissibile differentes. Naturalium autem qualitatum quaedam sunt secundum id quod aliquid est in potentia, et sic est secunda species qualitatis. Quaedam vero secundum quod aliquid est in actu, et hoc vel in profundum, vel secundum superficiem. Si in profundum quidem, sic est tertia species qualitatis, secundum vero superficiem, est quarta species qualitatis, sicut figura et forma, quae est figura animati.

Sed ista distinctio specierum qualitatis inconveniens videtur. Sunt   enim multae figurae et qualitates passibiles non naturales, sed adventitiae, et multae dispositiones non adventitiae, sed naturales, sicut sanitas et pulchritudo et huiusmodi. Et praeterea hoc non convenit ordini specierum, semper enim quod naturalius est, prius est.

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Frage 49, Artikel 2

einer bestimmten Gattung zukommen, wie der Philosoph im VII. Buch der Metaphysik sagt.9 Also scheint der Habitus, da er eine »schwer zu verändernde Qualität« genannt wird,10 keine bestimmte Art der Qualität zu sein. DAGEGEN spricht jedoch, was der Philosoph in den Kategorien sagt, nämlich dass »Habitus und Disposition eine Art der Qualität sind«.11 ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass der Philosoph in den Kategorien Disposition und Habitus als erste [Art] innerhalb der vier Arten der Qualität setzt. Simplicius bestimmt im Kommentar zu den Kategorien die Unterschiede dieser Arten folgendermaßen: »Manche der Qualitäten sind natürlich, [nämlich die], die [einer Sache] gemäß der Natur und dauerhaft zukommen, manche aber sind hinzugekommen, [nämlich die], die von außen verursacht werden und verlorengehen können. Und eben diese, die hinzugekommen sind, sind Habitus und Dispositionen, die sich dadurch unterscheiden, dass sie leicht bzw. schwer verlorengehen können. Einige der natürlichen Qualitäten aber bestehen, insofern etwas potenziell ist, und das ist die zweite Art der Qualität. Einige aber bestehen, insofern etwas aktual ist, und dies entweder in der Tiefe oder an der Oberfläche. Wenn in der Tiefe, dann geht es um die dritte Art der Qualität, wenn aber an der Oberfläche, dann geht es um die vierte Art der Qualität, wie zum Beispiel Gestalt und Form, wobei letztere die Gestalt des Lebendigen ist.«12 Diese Unterscheidung der Arten der Qualität scheint allerdings unpassend zu sein. Viele Gestalten und passive Qualitäten sind nämlich keine natürlichen, sondern hinzugekommene, und viele Dispositionen sind keine hinzugekommenen, sondern natürliche [Qualitäten], wie etwa Gesundheit und Schönheit und dergleichen. Zudem entspricht dies nicht der Ordnung der Arten, denn immer ist das, was natürlicher ist, früher.

8 Aristoteles unterscheidet als oberste Gattungen des Seins zehn Kategorien: Substanz (ousia), Quantität bzw. Wieviel (poson), Qualität bzw. Wie-beschaffen (poion), Relation bzw. In-bezug-auf (pros ti), Ort bzw. Wo (pou), Zeit bzw. Wann (pote), Liegen (keisthai), Haben (echein), Tun (poiein) und Leiden (paschein); vgl. Cat. 4. 9 Vgl. Aristoteles, Met. VII 12, insbesondere 1038 a 9–17. 10 Vgl. Aristoteles, Cat. 8, 8 b 26–9 a 9. 11 Vgl. Aristoteles, Cat. 8, 8 b 25f. 12 Simplicius, In cat., c. 8, ed. Pattin, Bd. 2, 312f.

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Quaestio XLIX, articulus II

Et ideo aliter accipienda est distinctio dispositionum et habituum ab   aliis qualitatibus. Proprie enim qualitas importat quendam modum substantiae. Modus autem est, ut dicit Augustinus, super Gen. ad litteram, quem mensura praefigit, unde importat quandam determinationem secundum aliquam mensuram. Et ideo sicut id secundum quod determinatur potentia materiae secundum esse substantiale dicitur qualitas quae est differentia substantiae; ita id secundum quod determinatur potentia subiecti secundum esse accidentale, dicitur qualitas accidentalis, quae est etiam quaedam differentia, ut patet per philosophum in V Metaphys.

Modus autem sive determinatio subiecti secundum esse accidentale,   potest accipi vel in ordine ad ipsam naturam subiecti; vel secundum actionem et passionem quae consequuntur principia naturae, quae sunt materia et forma; vel secundum quantitatem. Si autem accipiatur modus vel determinatio subiecti secundum quan-   titatem, sic est quarta species qualitatis. Et quia quantitas, secundum sui rationem, est sine motu, et sine ratione boni et mali; ideo ad quartam speciem qualitatis non pertinet quod aliquid sit bene vel male, cito vel tarde transiens. Modus autem sive determinatio subiecti secundum actionem et   passionem, attenditur in secunda et tertia specie qualitatis. Et ideo in utraque consideratur quod aliquid facile vel difficile fiat, vel quod sit cito transiens aut diuturnum. Non autem consideratur in his aliquid pertinens ad rationem boni vel mali, quia motus et passiones non habent rationem finis, bonum autem et malum dicitur per respectum ad finem. Sed modus et determinatio subiecti in ordine ad naturam rei, pertinet   ad primam speciem qualitatis, quae est habitus et dispositio, dicit enim philosophus, in VII Physic., loquens de habitibus animae et corporis, quod sunt dispositiones quaedam perfecti ad optimum; dico autem perfecti, quod est dispositum secundum naturam. Et quia ipsa

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Frage 49, Artikel 2

Und deshalb ist die Unterscheidung der Dispositionen und Habitus von den anderen Qualitäten anders zu begreifen. Die Qualität im eigentlichen Sinne führt nämlich einen gewissen Modus der Substanz herbei. Der Modus aber, sagt Augustinus in De Genesi ad litteram, »folgt einem Maß«.13 Und deshalb impliziert er eine gewisse Bestimmung nach irgendeinem Maß. Wie man daher das, wodurch die Potenz der Materie auf substantielle Weise bestimmt wird, eine Qualität nennt, die zu einem substantiellen Unterschied führt, nennt man das, wodurch die Potenz des Trägers auf akzidentelle Weise bestimmt wird, eine akzidentelle Qualität, die auch einen gewissen Unterschied ausmacht, wie der Philosoph im V. Buch der Metaphysik zeigt.14 Der Modus bzw. die Bestimmung des Trägers gemäß dem akzidentellen Sein kann aber entweder mit Bezug auf die Natur des Trägers begriffen werden oder mit Bezug auf Tun und Leiden, die den Prinzipien der Natur folgen, nämlich Materie und Form, oder mit Bezug auf die Quantität. Wenn der Modus bzw. die Bestimmung des Trägers der Quantität nach begriffen wird, so handelt es sich um die vierte Art der Qualität. Und da die Quantität ihrem Begriff nach ohne Veränderung und ohne ein Verhältnis zum Guten und Schlechten ist, ist es der vierten Art der Qualität nicht eigen [zu bewirken], dass etwas gut oder schlecht ist, sich schnell oder langsam verändert. Der Modus bzw. die Bestimmung des Trägers im Sinne von Tun und Leiden bezieht sich auf die zweite und dritte Art der Qualität. Und deshalb zieht man bei beiden in Betracht, dass etwas leicht oder schwer geschieht oder dass es rasch vergeht oder von Bestand ist. Man zieht aber nicht in Betracht, ob es sich auf Gutes oder Schlechtes bezieht, denn Bewegung und Leiden haben keinen Zielcharakter; Gut und Schlecht aber werden in Bezug auf ein Ziel ausgesagt. Dagegen bezieht sich der Modus und die Bestimmung des Trägers im Sinne der Natur der Sache auf die erste Art der Qualität, also auf Habitus und Disposition. Der Philosoph sagt nämlich im VII. Buch der Physik, wo er von den Habitus der Seele und des Leibes spricht, dass sie »gewisse Ausrichtungen des Vollkommenen zum

13 14

Vgl. Augustinus, Gen. ad litt. IV, 3, CSEL 28/1, 99. Vgl. Aristoteles, Met. V 14.

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Quaestio XLIX, articulus II

forma et natura rei est finis et cuius causa fit aliquid, ut dicitur in II Physic., ideo in prima specie consideratur et bonum et malum; et etiam facile et difficile mobile, secundum quod aliqua natura est finis generationis et motus. Unde in V Metaphys. philosophus definit habitum, quod est dispositio secundum quam aliquis disponitur bene vel male. Et in II Ethic. dicit quod habitus sunt secundum quos ad passiones nos habemus bene vel male. Quando enim est modus conveniens naturae rei, tunc habet rationem boni, quando autem non convenit, tunc habet rationem mali. Et quia natura est id quod primum consideratur in re, ideo habitus ponitur prima species qualitatis.

Ad primum ergo dicendum quod dispositio ordinem quendam   importat, ut dictum est. Unde non dicitur aliquis disponi per qualitatem, nisi in ordine ad aliquid. Et si addatur bene vel male, quod pertinet ad rationem habitus, oportet quod attendatur ordo ad naturam, quae est finis. Unde secundum figuram, vel secundum calorem vel frigus, non dicitur aliquis disponi bene vel male, nisi secundum ordinem ad naturam rei, secundum quod est conveniens vel non conveniens. Unde et ipsae figurae et passibiles qualitates, secundum quod considerantur ut convenientes vel non convenientes naturae rei, pertinent ad habitus vel dispositiones, nam figura, prout convenit naturae rei, et color, pertinent ad pulchritudinem; calor autem et frigus, secundum quod conveniunt naturae rei, pertinent ad sanitatem. Et hoc modo caliditas et frigiditas ponuntur a philosopho in prima specie qualitatis.

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Frage 49, Artikel 2

Besten hin sind; ich nenne aber vollkommen, was der Natur gemäß ausgerichtet ist«.15 Und da »diese Form und Natur der Sache das Ziel ist und das, um dessentwillen etwas geschieht«, wie es im II. Buch der Physik heißt,16 betrachtet man in der ersten Art der Qualität sowohl ›gut‹ und ›schlecht‹ als auch ›leicht‹ und ›schwer veränderlich‹, sofern irgendeine Natur Ziel der Entstehung und Veränderung ist. Aus diesem Grund definiert der Philosoph im V. Buch der Metaphysik den Habitus als eine »Disposition, der gemäß jemand gut oder schlecht ausgerichtet ist«.17 Und im II. Buch der Ethik sagt er, dass »die Habitus das sind, wodurch wir uns gut oder schlecht zu den Leidenschaften verhalten«.18 Wenn nämlich der Modus der Natur der Sache entspricht, dann ist er gut, wenn er ihr aber nicht entspricht, dann ist er schlecht. Und da die Natur das ist, was als erstes in einer Sache betrachtet wird, wird der Habitus als erste Art der Qualität gesetzt. Zu 1. Dazu ist also zu sagen, dass die Disposition eine gewisse Ordnung herbeiführt, wie erwähnt.19 Darum ist niemand qualitativ ausgerichtet, wenn nicht in Bezug auf etwas. Und wenn man hinzufügt »gut oder schlecht«, was zum Begriff des Habitus gehört, ist es nötig, dass die Ordnung auf die Natur hin erfolgt, die Ziel ist. Folglich sagt man nicht, dass etwas der Gestalt nach oder gemäß Wärme oder Kälte gut oder schlecht ausgerichtet sei, es sei denn, dies geschieht unter Hinordnung auf die Natur der Sache, der es entspricht oder nicht entspricht. Darum gehören auch die Gestalten und passiven Qualitäten, insofern sie als der Natur der Sache entsprechend oder nicht entsprechend betrachtet werden, zu Habitus und Dispositionen. Denn die Gestalt als der Natur der Sache entsprechende sowie die Farbe gehören zur Schönheit; das Warme und das Kalte dagegen als der Natur der Sache entsprechende gehören zur Gesundheit. Und so werden Wärme und Kälte vom Philosophen in die erste Art der Qualität gesetzt.

15 16 17 18 19

Vgl. Aristoteles, Phys. VII 3, 246 a 11–17. Vgl. Aristoteles, Phys. II 7, 198 b 3. Vgl. Aristoteles, Met. V 20, 1022 b 10f. Vgl. Aristoteles, EN II 4, 1105 b 25–27. Vgl. STh I–II, q. 49, a. 1, ad 3.

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Quaestio XLIX, articulus II

Unde patet solutio ad secundum. Licet a quibusdam aliter solvatur, ut   Simplicius dicit, in commento praedicamentorum. Ad tertium dicendum quod ista differentia, difficile mobile, non   diversificat habitum ab aliis speciebus qualitatis, sed a dispositione. Dispositio autem dupliciter accipitur, uno modo, secundum quod est genus habitus, nam in V Metaphys. dispositio ponitur in definitione habitus; alio modo, secundum quod est aliquid contra habitum divisum. Et potest intelligi dispositio proprie dicta condividi contra habitum, dupliciter.

Uno modo, sicut perfectum et imperfectum in eadem specie, ut scili-   cet dispositio dicatur, retinens nomen commune, quando imperfecte inest, ita quod de facile amittitur; habitus autem, quando perfecte inest, ut non de facili amittatur. Et sic dispositio fit habitus, sicut puer fit vir.

Alio modo possunt distingui sicut diversae species unius generis   subalterni, ut dicantur dispositiones illae qualitates primae speciei, quibus convenit secundum propriam rationem ut de facili amittantur, quia habent causas transmutabiles, ut aegritudo et sanitas; habitus vero dicuntur illae qualitates quae secundum suam rationem habent quod non de facili transmutentur, quia habent causas immobiles, sicut scientiae et virtutes. Et secundum hoc dispositio non fit habitus. Et hoc videtur magis consonum intentioni Aristotelis. Unde ad huius distinctionis probationem inducit communem loquendi consuetudinem, secundum quam qualitates quae secundum rationem suam sunt facile mobiles, si ex aliquo accidenti difficile mobiles reddantur, habitus dicuntur, et e converso est de qualitatibus quae secundum suam rationem sunt difficile mobiles; nam si aliquis imperfecte habeat scientiam, ut de facili possit ipsam amittere, magis dicitur disponi ad scientiam quam scientiam habere. Ex quo patet quod nomen habitus diuturnitatem quandam importat; non autem nomen dispositionis.

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Frage 49, Artikel 2

Zu 2. Daraus ergibt sich die Lösung des zweiten Einwands. Auch wenn er von anderen anders gelöst wird, wie Simplicius in seinem Kommentar zu den Kategorien sagt. Zu 3. Dazu ist zu sagen, dass dieser Unterschied, nämlich »schwer veränderlich«, den Habitus nicht von den anderen Arten der Qualität unterscheidet, sondern von der Disposition. Disposition wird allerdings auf zweifache Weise verstanden: Einerseits in dem Sinne, dass sie Gattung des Habitus ist; im V. Buch der Metaphysik wird nämlich die Disposition in die Definition des Habitus aufgenommen.20 Andererseits in dem Sinne, dass sie etwas vom Habitus Verschiedenes ist. Und zwar kann die Verschiedenheit dieser Disposition im eigentlichen Sinne des Wortes vom Habitus auf zweierlei Art verstanden werden: Einmal wie das Vollkommene vom Unvollkommenen innerhalb derselben Art, so dass man, den gemeinsamen Namen beibehaltend, von Disposition spricht, wenn sie [in einem Träger] unvollkommen [ausgebildet] ist und so leicht verlorengeht, von Habitus aber, wenn sie [in ihm] vollkommen [ausgebildet] ist, so dass sie nicht leicht verlorengeht. Und so wird die Disposition zum Habitus wie der Knabe zum Mann. Auf eine andere Weise können sie unterschieden werden wie die verschiedenen Arten einer einzigen untergeordneten Gattung. So werden jene Qualitäten der ersten Art als Dispositionen bezeichnet, denen es ihrem eigenen Begriff nach zukommt, dass sie leicht verlorengehen, weil sie veränderliche Ursachen haben, wie Krankheit und Gesundheit. Dagegen werden jene Qualitäten als Habitus bezeichnet, welche es ihrem Begriff nach an sich haben, dass sie sich nicht leicht verändern, weil sie unveränderliche Ursachen haben, wie das Wissen und die Tugenden. In dieser Hinsicht wird eine Disposition nicht zu einem Habitus. Und dies scheint nun mehr der Intention des Aristoteles zu entsprechen. Darum zieht er zur Rechtfertigung dieses Unterschiedes den üblichen Sprachgebrauch heran, dem zufolge Qualitäten, die sich ihrem Begriff nach leicht verändern, Habitus genannt werden, wenn sie aus irgendeinem Zufall heraus schwer veränderlich sind. Umgekehrt verhält es sich bei Qualitäten, die sich ihrem Begriff nach schwer verändern. Wenn einer nämlich Wissen auf unvollkommene Art besitzt, so dass er es leicht verlieren kann, 20

Vgl. Aristoteles, Met. V 20, 1022 b 10.

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Quaestio XLIX, articulus II

Nec impeditur quin secundum hoc facile et difficile mobile sint speci-   ficae differentiae, propter hoc quod ista pertinent ad passionem et motum, et non ad genus qualitatis. Nam istae differentiae, quamvis per accidens videantur se habere ad qualitatem, designant tamen proprias et per se differentias qualitatum. Sicut etiam in genere substantiae frequenter accipiuntur differentiae accidentales loco substantialium, inquantum per eas designantur principia essentialia.

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Frage 49, Artikel 2

sagt man eher, dass er für das Wissen disponiert sei, als dass er Wissen besitze. Daraus folgt, dass der Name ›Habitus‹, anders als der Name ›Disposition‹, einen gewissen dauerhaften Bestand impliziert. Dies verhindert nicht, dass »leicht und schwer veränderlich« artbildende Unterschiede sind, auch wenn sich die Unterscheidung [eigentlich] auf Leiden und Bewegung [bzw. Tun] bezieht und nicht auf die Gattung der Qualität. Denn obwohl sich diese Unterschiede zufällig auf die Qualität zu beziehen scheinen, bezeichnen sie doch eigentliche und an sich bestehende Unterschiede der Qualitäten. So werden auch in der Gattung der Substanz häufig akzidentelle Unterschiede anstelle der substanziellen verwendet, insofern durch sie substanzielle Prinzipien angegeben werden.

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Quaestio XLIX, articulus IV: Utrum sit necessarium esse habitum

Ad quartum sic proceditur. Videtur quod non sit necessarium   esse habitus. 1. Habitus enim sunt quibus aliquid disponitur bene vel male ad   aliquid, sicut dictum est. Sed per suam formam aliquid bene vel male disponitur, nam secundum formam aliquid est bonum, sicut et ens. Ergo nulla necessitas est habituum. 2. Praeterea, habitus importat ordinem ad actum. Sed potentia   importat principium actus sufficienter, nam et potentiae naturales absque habitibus sunt principia actuum. Ergo non fuit necessarium habitus esse. 3. Praeterea, sicut potentia se habet ad bonum et malum, ita et habi-   tus, et sicut potentia non semper agit, ita nec habitus. Existentibus igitur potentiis, superfluum fuit habitum esse. Sed contra est quod habitus sunt perfectiones quaedam, ut dicitur   in VII Physic. Sed perfectio est maxime necessaria rei, cum habeat rationem finis. Ergo necessarium fuit habitus esse.

Respondeo dicendum quod, sicut supra dictum est, habitus importat   dispositionem quandam in ordine ad naturam rei, et ad operationem vel finem eius, secundum quam bene vel male aliquid ad hoc

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Frage 49, Artikel 4: Ist es notwendig, dass es einen Habitus gibt?

Es scheint nicht notwendig zu sein, dass es einen Habitus gibt. 1. Habitus sind nämlich, wie gesagt wurde,21 dasjenige, wodurch etwas gut oder schlecht auf etwas hin ausgerichtet wird. Etwas wird jedoch durch seine Form gut oder schlecht ausgerichtet. Denn entsprechend seiner Form ist etwas gut, wie auch seiend. Also sind Habitus nicht notwendig. 2. Außerdem: Der Habitus führt eine Hinordnung auf den Akt [bzw. die Tätigkeit] herbei. Das Vermögen ist aber ausreichend dafür, einen Akt zu verursachen, denn auch die natürlichen Vermögen sind ohne Habitus schon Prinzipien der Akte. Also ist es nicht nötig gewesen, dass es Habitus gibt.22 3. Außerdem: So wie sich das Vermögen zum Guten und Schlechten verhält, so auch der Habitus, und so wie das Vermögen nicht immer tätig ist, so auch der Habitus nicht. Da nun die Vermögen existieren, ist die Existenz des Habitus überflüssig gewesen. DAGEGEN spricht, dass die Habitus gewisse Vollkommenheiten sind, wie der Philosoph im VII. Buch der Physik sagt.23 Vollkommenheit ist aber einer Sache im höchsten Maße notwendig, denn sie hat einen Zielcharakter. Also ist es notwendig gewesen, dass es Habitus gibt. ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass, wie oben gesagt wurde, der Habitus eine gewisse Ausrichtung auf die Natur einer Sache herbeiführt sowie auf ihre Tätigkeit bzw. ihr Ziel; dadurch wird sie

21

Siehe oben, q. 49, a. 2, r. und ad 1. Thomas wechselt hier sowie im dritten Einwand und im Sed contra vom sonst üblichen Präsens ins Perfekt. Warum er das tut, ist nicht offensichtlich. 23 Vgl. Aristoteles, Phys. VII 3, 246 a 11. 22

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Quaestio XLIX, articulus IV

disponitur. Ad hoc autem quod aliquid indigeat disponi ad alterum, tria requiruntur. Primo quidem, ut id quod disponitur, sit alterum ab eo ad quod   disponitur; et sic se habeat ad ipsum ut potentia ad actum. Unde si aliquid sit cuius natura non sit composita ex potentia et actu, et cuius substantia sit sua operatio, et ipsum sit propter seipsum; ibi habitus vel dispositio locum non habet, sicut patet in Deo. Secundo requiritur quod id quod est in potentia ad alterum, possit   pluribus modis determinari, et ad diversa. Unde si aliquid sit in potentia ad alterum, ita tamen quod non sit in potentia nisi ad ipsum, ibi dispositio et habitus locum non habet, quia tale subiectum ex sua natura habet debitam habitudinem ad talem actum. Unde si corpus caeleste sit compositum ex materia et forma, cum illa materia non sit in potentia ad aliam formam, ut in primo dictum est, non habet ibi locum dispositio vel habitus ad formam; aut etiam ad operationem, quia natura caelestis corporis non est in potentia nisi ad unum motum determinatum.

Tertio requiritur quod plura concurrant ad disponendum subiectum   ad unum eorum ad quae est in potentia, quae diversis modis commensurari possunt, ut sic disponatur bene vel male ad formam vel ad operationem. Unde qualitates simplices elementorum, quae secundum unum modum determinatum naturis elementorum conveniunt, non dicimus dispositiones vel habitus, sed simplices qualitates, dicimus autem dispositiones vel habitus sanitatem, pulchritudinem et alia huiusmodi, quae important quandam commensurationem plurium quae diversis modis commensurari possunt. Propter quod philosophus dicit, in V Metaphys., quod habitus est dispositio, et dispositio est ordo habentis partes vel secundum locum, vel secundum potentiam, vel secundum speciem; ut supra dictum est.

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Frage 49, Artikel 4

[die Sache] gut oder schlecht ausgerichtet.24 Dafür aber, dass etwas einer Ausrichtung auf etwas anderes bedarf, ist dreierlei erforderlich: Erstens, dass das, was ausgerichtet wird, verschieden ist von dem, worauf es ausgerichtet wird. Es muss sich also dazu verhalten wie die Potenz zum Akt. Wenn es daher etwas gibt, dessen Natur nicht aus Akt und Potenz zusammengesetzt ist und dessen Wesen seine Tätigkeit ist und das um seiner selbst willen ist, dann gibt es keinen Platz für Habitus bzw. Ausrichtung, wie etwa in Gott. Zweitens ist nötig, dass das, was ein Vermögen zu etwas anderem hat, auf mehrfache Weise und zu Unterschiedlichem bestimmt werden kann. Wenn daher etwas ein Vermögen zu etwas anderem hat, allerdings so, dass es nur zu diesem einen hin offen ist, dann gibt es keinen Platz für Ausrichtung und Habitus, weil ein solcher Träger aus seiner Natur heraus die passende Verfassung zum Akt hat. Auch wenn daher ein Himmelskörper aus Materie und Form besteht, dann gibt es dort keinen Platz für eine Ausrichtung bzw. einen Habitus zu einer Form, da jene Materie zu keiner anderen Form hin offen ist, wie im ersten Artikel gesagt wurde,25 und auch nicht zu einer Tätigkeit hin, weil die Natur eines Himmelskörpers nur zu einer einzigen Bewegung bestimmt ist. Drittens ist nötig, dass mehreres bei der Ausrichtung eines Trägers zusammenwirkt, das auf verschiedene Weisen aufeinander abgestimmt werden kann, damit er auf eines von dem ausgerichtet wird, für das er offen ist, so dass er dadurch gut oder schlecht auf die Form oder Tätigkeit ausgerichtet ist. Darum nennen wir die einfachen Qualitäten der Elemente, die auf eine einzige bestimmte Weise den Naturen der Elemente zukommen, nicht Ausrichtungen bzw. Habitus, sondern einfache Qualitäten. Wir nennen hingegen Ausrichtungen bzw. Habitus die Gesundheit, die Schönheit und anderes dieser Art, wo also eine gewisse Abgestimmtheit mehrerer [Teile] herbeigeführt wird, die auf verschiedene Weise aufeinander abgestimmt werden können. Deshalb sagt der Philosoph im V. Buch der Metaphysik, »der Habitus ist eine Ausrichtung«,26 und »Ausrichtung ist die Ordnung

24 25 26

Siehe oben, q. 49, a. 2 sowie a. 3. Vgl. insbesondere STh I–II, q. 49, a. 1, ad 3. Aristoteles, Met. V 20, 1022 b 10.

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Quaestio XLIX, articulus IV

 

 

Quia igitur multa sunt entium ad quorum naturas et operationes   necesse est plura concurrere quae diversis modis commensurari possunt, ideo necesse est habitus esse. Ad primum ergo dicendum quod per formam perficitur natura rei, sed   oportet quod in ordine ad ipsam formam disponatur subiectum aliqua dispositione. Ipsa tamen forma ordinatur ulterius ad operationem, quae vel est finis, vel via in finem. Et si quidem forma habeat determinate unam tantum operationem determinatam, nulla alia dispositio requiritur ad operationem praeter ipsam formam. Si autem sit talis forma quae possit diversimode operari, sicut est anima; oportet quod disponatur ad suas operationes per aliquos habitus.

Ad secundum dicendum quod potentia quandoque se habet ad multa,   et ideo oportet quod aliquo alio determinetur. Si vero sit aliqua potentia quae non se habeat ad multa, non indiget habitu determinante, ut dictum est. Et propter hoc vires naturales non agunt operationes suas mediantibus aliquibus habitibus, quia secundum seipsas sunt determinatae ad unum. Ad tertium dicendum quod non idem habitus se habet ad bonum et   malum, sicut infra patebit. Eadem autem potentia se habet ad bonum et malum. Et ideo necessarii sunt habitus ut potentiae determinentur ad bonum.

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Frage 49, Artikel 4

(eines Dinges), welches Teile hat, entweder dem Ort, dem Vermögen, oder der Art nach«,27 wie oben gesagt wurde.28 Weil es nun vieles gibt, zu dessen Natur und Tätigkeit mehreres zusammenwirken muss, das auf verschiedene Weise aufeinander abgestimmt werden kann, so ist es notwendig, dass es Habitus gibt. Zu 1. Dazu ist also zu sagen, dass durch die Form die Natur einer Sache vervollkommnet wird. Allerdings ist es nötig, dass der Träger durch irgendeine Ausrichtung auf die Form hin ausgerichtet wird. Die Form ist aber darüber hinaus auf die Tätigkeit hingeordnet, die entweder Ziel oder Weg zum Ziel ist. Wenn freilich die Form nur genau eine bestimmte Tätigkeit hat, ist zur Tätigkeit außer dieser Form keine weitere Ausrichtung mehr vonnöten. Wenn es aber um eine Form geht, die unterschiedlich tätig sein kann, wie die Seele, dann ist es nötig, dass sie auf ihre Tätigkeiten durch gewisse Habitus ausgerichtet wird. Zu 2. Dazu ist zu sagen, dass sich das Vermögen bisweilen zu vielem hin offen verhält und es folglich nötig ist, dass es durch etwas anderes bestimmt wird. Wenn es jedoch ein Vermögen gibt, das sich nicht zu vielem hin offen verhält, benötigt es auch keinen bestimmenden Habitus, wie gesagt wurde. Und deswegen vollziehen die natürlichen Kräfte ihre Tätigkeiten nicht vermittels irgendwelcher Habitus, weil sie aus sich selbst heraus auf eines festgelegt sind. Zu 3. Dazu ist zu sagen, dass sich ein und derselbe Habitus nicht [zugleich] auf das Gute und das Schlechte richtet, wie im Folgenden klar werden wird.29 Ein und dasselbe Vermögen richtet sich aber [zugleich] auf das Gute und das Schlechte. Und deshalb sind Habitus notwendig, damit die Vermögen auf das Gute festgelegt werden.

27 28 29

Aristoteles, Met. V 19, 1022 b 3. Vgl. STh I–II, q. 49, a. 1, ad 3. Vgl. STh I–II, q. 54, a. 3.

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Quaestio LV: De virtutibus, quantum ad suas essentias

 

Consequenter considerandum est de habitibus in speciali. Et quia   habitus, ut dictum est, distinguuntur per bonum et malum, primo dicendum est de habitibus bonis, qui sunt virtutes et alia eis adiuncta, scilicet dona, beatitudines et fructus; secundo, de habitibus malis, scilicet de vitiis et peccatis. Circa virtutes autem quinque consideranda sunt, primo, de essentia   virtutis; secundo, de subiecto eius; tertio, de divisione virtutum; quarto, de causa virtutis; quinto, de quibusdam proprietatibus virtutis. Circa primum quaeruntur quatuor:

 

1.

Utrum virtus humana sit habitus.

 

2.

Utrum sit habitus operativus.

 

3.

Utrum sit habitus bonus.

 

4.

De definitione virtutis.

 

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Frage 55: Vom Wesen der Tugenden

Anschließend sind die Habitus im Besonderen zu betrachten. Und da die Habitus, wie gesagt wurde,30 nach gut und schlecht unterschieden werden, muss man zunächst von den guten Habitus reden: den Tugenden und dem mit ihnen Verbundenen, nämlich den Gaben, Seligkeiten und Früchten; zweitens von den schlechten Habitus, nämlich den Lastern und Sünden. Bezüglich der Tugenden sind fünf Punkte zu betrachten: erstens das Wesen der Tugend, zweitens ihr Träger, drittens die Einteilung der Tugenden, viertens die Ursache der Tugend, fünftens gewisse Eigenschaften der Tugend. Bezüglich des ersten Punktes ist viererlei zu untersuchen: 1.

Ist die menschliche Tugend ein Habitus?

2.

Ist sie ein handlungsbezogener Habitus?

3.

Ist sie ein guter Habitus?

4.

Die Definition der Tugend.

30

Vgl. STh I–II, q. 54, a. 3.

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Quaestio LV, articulus I: Utrum virtus humana sit habitus

Ad primum sic proceditur. Videtur quod virtus humana non sit habi-   tus. 1. Virtus enim est ultimum potentiae, ut dicitur in I de caelo. Sed ulti-   mum uniuscuiusque reducitur ad genus illud cuius est ultimum, sicut punctum ad genus lineae. Ergo virtus reducitur ad genus potentiae, et non ad genus habitus. 2. Praeterea, Augustinus dicit, in II de libero Arbit., quod virtus est   bonus usus liberi arbitrii. Sed usus liberi arbitrii est actus. Ergo virtus non est habitus, sed actus.

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Frage 55, Artikel 1: Ist die menschliche Tugend ein Habitus?

Es scheint, dass die menschliche Tugend kein Habitus ist. 1. Die Tugend ist »das Äußerste eines Vermögens«, wie im I. Buch von Über den Himmel gesagt wird.31 Das Äußerste eines jeden Dinges wird aber auf jene Gattung zurückgeführt, von der es das Äußerste ist, wie der Punkt auf die Gattung der Linie. Also wird die Tugend auf die Gattung des Vermögens und nicht auf die des Habitus zurückgeführt. 2. Außerdem: Augustinus sagt im II. Buch von Über den freien Willen, dass »die Tugend der gute Gebrauch der Willensfreiheit ist«.32 Der Gebrauch der Willensfreiheit ist aber ein Akt. Also ist die Tugend kein Habitus, sondern ein Akt.

31 Vgl. Aristoteles, Cael. I 11, 281 a 3–18. Dort heißt es: »Wenn nun etwas sich [über 100 Stadien] bewegen oder ein Gewicht hochheben kann, beziehen wir uns in unserer Rede stets auf das Höchstmaß (seiner Leistungsfähigkeit), etwa auf die Fähigkeit, 100 Talente hochzuheben oder 100 Stadien zurückzulegen (dabei kann es auch die Teile, die in diesen Maßen enthalten sind, bewältigen, wenn es denn das Höchstmaß bewältigen kann), da wir es für nötig halten, das Vermögen nach der Grenze und dem Höchstmaß zu bestimmen. […] Das Vermögen (dynamis) ist also das des Höchstmaßes (hyperochēn). […] Die Grenze (telos), die als das Mögliche (dynaton) im eigentlichen Sinn bezeichnet wird, soll nach dem Höchstmaß (kata tēs hyperochēs) bestimmt werden.« 32 Vgl. Augustinus, De lib. arb. II, c. 19, n. 196 (»der Wille […] ist ein mittleres Gut«) und nn. 191–192, wo es heißt: »Die Tugenden also, kraft deren man recht lebt, sind große Güter, aber die äußeren Erscheinungsformen aller beliebigen Körper, ohne die man sehr wohl recht leben kann, sind die geringsten Güter. Dagegen sind die geistigen Kräfte, ohne die man nicht recht leben kann, mittlere Güter. Die Tugenden missbraucht niemand; doch die übrigen Güter, also die mittleren und kleinsten, kann jeder nicht nur gut, sondern auch schlecht gebrauchen. Die Tugend kann darum von niemand missbraucht werden, weil das Werk der Tugend kein anderes ist als der gute Gebrauch dessen, was auch missbraucht werden kann. Denn wer gut gebraucht, missbraucht nicht.« (CSEL 74, 85; Übers. W. Thimme, 211 und 209).

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Quaestio LV, articulus I

3. Praeterea, habitibus non meremur, sed actibus, alioquin homo   mereretur continue, etiam dormiendo. Sed virtutibus meremur. Ergo virtutes non sunt habitus, sed actus.

4. Praeterea, Augustinus dicit, in libro de moribus Eccles., quod virtus   est ordo amoris. Et in libro octoginta trium quaest., dicit quod ordinatio quae virtus vocatur, est fruendis frui, et utendis uti. Ordo autem, seu ordinatio, nominat vel actum, vel relationem. Ergo virtus non est habitus, sed actus vel relatio.

5. Praeterea, sicut inveniuntur virtutes humanae, ita et virtutes   naturales. Sed virtutes naturales non sunt habitus, sed potentiae quaedam. Ergo etiam neque virtutes humanae. Sed contra est quod philosophus, in libro Praedicament., scientiam et   virtutem ponit esse habitus. Respondeo dicendum quod virtus nominat quandam potentiae per-   fectionem. Uniuscuiusque autem perfectio praecipue consideratur in ordine ad suum finem. Finis autem potentiae actus est. Unde potentia dicitur esse perfecta, secundum quod determinatur ad suum actum.

Sunt autem quaedam potentiae quae secundum seipsas sunt deter-   minatae ad suos actus; sicut potentiae naturales activae. Et ideo

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Frage 55, Artikel 1

3. Außerdem: Wir erwerben uns nicht durch Habitus Verdienste, sondern durch Akte, denn sonst würde sich der Mensch durchgehend Verdienste erwerben, auch im Schlaf. Durch die Tugenden erwerben wir uns aber Verdienste. Also sind die Tugenden keine Habitus, sondern Akte. 4. Außerdem: Augustinus sagt im Buch Über die Lebensführung der katholischen Kirche, dass »die Tugend die Ordnung der Liebe ist«.33 Und im Buch Über 83 Fragen sagt er: »Die Anordnung, welche Tugend genannt wird, ist das Gebrauchen des zu Gebrauchenden und das Genießen des zu Genießenden.«34 Ordnung oder Anordnung bezeichnen aber entweder einen Akt oder eine Relation. Also ist die Tugend kein Habitus, sondern Akt oder Relation. 5. Außerdem: Wie man menschliche Tugenden vorfindet, so findet man auch natürliche Tugenden vor. Natürliche Tugenden sind aber keine Habitus, sondern gewisse Vermögen. Also sind auch die menschlichen Tugenden keine Habitus. DAGEGEN spricht, dass der Philosoph in den Kategorien Wissen und Tugend als Habitus setzt.35 ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass die Tugend eine gewisse Vollkommenheit des Vermögens bezeichnet. Die Vollkommenheit eines jeden Dinges wird aber vorwiegend mit Bezug auf sein Ziel betrachtet. Das Ziel des Vermögens aber ist der Akt. Daher wird ein Vermögen vollkommen genannt, sofern es auf seinen Akt hin bestimmt ist. Es gibt aber gewisse Vermögen, die an sich auf ihre Akte hin bestimmt sind, wie die natürlichen aktiven Vermögen. Deshalb werden solche 33 Und zwar weil Mäßigkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Klugheit jeweils für sich (geordnete) Liebe (amor) sind; vgl. Augustinus, Mor. eccl. I, 15, CSEL 90, 29f. Vgl. auch Augustinus, Civ. XV, c. 22, denn dort heißt es: »So ist’s bei jeglichem Geschöpf. Denn es ist gut und kann gut geliebt werden und böse, gut, wenn die rechte Ordnung gewahrt, böse, wenn sie gestört wird. […] Wenn aber der Schöpfer wahrhaft geliebt wird, das heißt, wenn er selbst und nicht statt seiner etwas anderes, was er nicht ist, geliebt wird, gibt es keine böse Liebe. Denn damit in uns die Tugend wohne, kraft deren man gut lebt, muss in rechter Ordnung auch die Liebe selbst geliebt werden, die das Liebenswerte gut liebt. So kann man, scheint mir, die Tugend kurz und treffend als rechte Ordnung der Liebe definieren, und darum singt im heiligen Hoheliede die Braut Christi: ›Ordnet in mir die Liebe.‹«. 34 Vgl. Augustinus, Quaest. oct., q. 30, CCSL 44, 38. 35 Vgl. Aristoteles, Cat. 8, 8 b 28.

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Quaestio LV, articulus I

huiusmodi potentiae naturales secundum seipsas dicuntur virtutes. Potentiae autem rationales, quae sunt propriae hominis, non sunt determinatae ad unum, sed se habent indeterminate ad multa, determinantur autem ad actus per habitus, sicut ex supradictis patet. Et ideo virtutes humanae habitus sunt. Ad primum ergo dicendum quod quandoque virtus dicitur id ad   quod est virtus, scilicet vel obiectum virtutis, vel actus eius, sicut fides dicitur quandoque id quod creditur, quandoque vero ipsum credere, quandoque autem ipse habitus quo creditur. Unde quando dicitur quod virtus est ultimum potentiae, sumitur virtus pro obiecto virtutis. Id enim in quod ultimo potentia potest, est id ad quod dicitur virtus rei, sicut si aliquis potest ferre centum libras et non plus, virtus eius consideratur secundum centum libras, non autem secundum sexaginta. Obiectio autem procedebat ac si essentialiter virtus esset ultimum potentiae.

Ad secundum dicendum quod bonus usus liberi arbitrii dicitur esse   virtus, secundum eandem rationem, quia scilicet est id ad quod ordinatur virtus sicut ad proprium actum. Nihil est enim aliud actus virtutis quam bonus usus liberi arbitrii. Ad tertium dicendum quod aliquo dicimur mereri dupliciter. Uno   modo, sicut ipso merito, eo modo quo dicimur currere cursu, et hoc modo meremur actibus. Alio modo dicimur mereri aliquo sicut principio merendi, sicut dicimur currere potentia motiva, et sic dicimur mereri virtutibus et habitibus.

Ad quartum dicendum quod virtus dicitur ordo vel ordinatio amoris,   sicut id ad quod est virtus, per virtutem enim ordinatur amor in nobis. Ad quintum dicendum quod potentiae naturales sunt de se determi-   natae ad unum, non autem potentiae rationales. Et ideo non est simile, ut dictum est.

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Frage 55, Artikel 1

natürlichen Vermögen an sich Tugenden genannt. Die vernünftigen Vermögen aber, die dem Menschen eigen sind, sind nicht auf Eines hin festgelegt, sondern verhalten sich unbestimmt zu Vielem; sie werden aber durch die Habitus auf die Akte festgelegt, wie aus dem oben Gesagten erhellt.36 Deshalb sind menschliche Tugenden Habitus. Zu 1. Dazu ist also zu sagen, dass bisweilen das ›Tugend‹ genannt wird, worauf sich die Tugend bezieht, nämlich entweder der Gegenstand der Tugend oder ihr Akt, so wie bisweilen das ›Glaube‹ genannt wird, was geglaubt wird, bisweilen das Glauben selbst, bisweilen aber der Habitus, kraft dessen man glaubt. Wenn man daher sagt, dass die Tugend das Äußerste des Vermögens ist, nimmt man ›Tugend‹ für den Gegenstand der Tugend. Das nämlich, was ein Vermögen als Äußerstes [zu leisten] vermag, ist das, woraufhin die Tugend einer Sache ausgesagt wird; wenn z.ௗB. jemand hundert Pfund tragen kann und nicht mehr, wird seine Tugend nach hundert Pfunden bemessen, nicht jedoch nach sechzig. Der Einwand ging hingegen davon aus, dass die Tugend ihrem Wesen nach das Äußerste des Vermögens sei. Zu 2. Dazu ist zu sagen, dass aus demselben Grund der gute Gebrauch der Willensfreiheit ›Tugend‹ genannt wird, weil er es ist, auf den die Tugend als auf ihren eigenen Akt hingeordnet ist. Der Akt der Tugend ist nämlich nichts anderes als der gute Gebrauch der Willensfreiheit. Zu 3. Dazu ist zu sagen, dass wir in einem zweifachen Sinn durch etwas Verdienste erwerben. Einmal durch das Verdienst selbst, auf die Art, in der man sagt, wir laufen durch das Laufen; auf diese Art erwerben wir uns Verdienste durch die Akte. In einem anderen Sinn erwerben wir uns durch etwas Verdienste wie durch das Prinzip des Verdienstes, wie man sagt, wir laufen kraft des Bewegungsvermögens; in diesem Sinn erwerben wir uns Verdienste durch die Tugenden und Habitus. Zu 4. Dazu ist zu sagen, dass die Tugend Ordnung oder Anordnung der Liebe genannt wird als das, worauf sich die Tugend bezieht, denn durch die Tugend wird die Liebe in uns geordnet. Zu 5. Dazu ist zu sagen, dass natürliche Vermögen von sich aus auf Eines festgelegt sind, vernünftige Vermögen dagegen nicht. Deshalb besteht hier keine Ähnlichkeit, wie ausgeführt. 36

Vgl. STh I–II, q. 49, a. 4.

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Quaestio LV, articulus II: Utrum virtus humana sit habitus operativus

 

Ad secundum sic proceditur. Videtur quod non sit de ratione virtutis   humanae quod sit habitus operativus. 1. Dicit enim Tullius, in IV de Tuscul. quaest., quod sicut est sanitas et   pulchritudo corporis, ita est virtus animae. Sed sanitas et pulchritudo non sunt habitus operativi. Ergo neque etiam virtus. 2. Praeterea, in rebus naturalibus invenitur virtus non solum ad agere,   sed etiam ad esse, ut patet per philosophum, in I de caelo, quod quaedam habent virtutem ut sint semper, quaedam vero non ad hoc quod sint semper, sed aliquo tempore determinato. Sed sicut se habet virtus naturalis in rebus naturalibus, ita se habet virtus humana in rationalibus. Ergo etiam virtus humana non solum est ad agere, sed etiam ad esse. 3. Praeterea, philosophus dicit, in VII Physic., quod virtus est dispo-   sitio perfecti ad optimum. Optimum autem ad quod hominem oportet disponi per virtutem, est ipse Deus, ut probat Augustinus in libro II de moribus Eccles.; ad quem disponitur anima per assimilationem ad ipsum. Ergo videtur quod virtus dicatur qualitas quaedam animae in

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Frage 55, Artikel 2: Ist die menschliche Tugend ein handlungsbezogener37 Habitus?

Es scheint, dass es nicht zum Begriff der menschlichen Tugend gehört, dass sie ein handlungsbezogener Habitus ist. 1. Cicero sagt nämlich im IV. Buch der Gespräche in Tusculum, dass es sich mit der Tugend der Seele so verhalte wie mit der Gesundheit und Schönheit des Körpers.38 Gesundheit und Schönheit sind aber keine handlungsbezogenen Habitus; also ist es auch die Tugend nicht. 2. Außerdem: In den Naturdingen findet sich Tugend39 nicht nur zum Handeln, sondern auch zum Sein; wie der Philosoph, im I. Buch Über den Himmel, klarstellt, besitzen manche die Tugend, immer zu sein, andere dagegen nicht dazu, immer zu sein, sondern für eine bestimmte Zeit.40 Wie es sich aber mit der natürlichen Tugend in den Naturdingen verhält, so verhält es sich auch mit der menschlichen Tugend in Vernunftdingen. Also ist auch die menschliche Tugend nicht nur auf das Handeln, sondern auch auf das Sein [angelegt]. 3. Außerdem: Der Philosoph sagt im VII. Buch der Physik, dass die Tugend »Ausrichtung des Vollkommenen zum Besten« ist.41 Das Beste aber, auf das der Mensch durch Tugend ausgerichtet werden soll, ist Gott selbst (wie Augustinus im 2. Buch von Die Lebensführung der katholischen Kirche darlegt), auf den die Seele durch Angleichung an Ihn ausgerichtet wird. Also scheint es, dass 37 Als Übersetzungen für »habitus operativus« sind auch üblich »operativer Habitus«, »Handlungen hervorrufender Habitus« oder »Tätigkeiten bewirkender Habitus«. 38 Vgl. Cicero, Tusc. IV, c. 30f. (Übers. O. Gigon, 268f.). 39 Hier ist virtus eher im Sinne von »Kraft« gemeint. 40 Vgl. Aristoteles, Cael. I 12, 281 a 28–30. 41 Vgl. Aristoteles, Phys. VII 3, 246 a 13–15. Dort heißt es: »[…] vielmehr ist die Vollkommenheit (aretē) eine Art Ans-Ende-Kommen (teleiōsis) – wenn doch (etwas) seine vollkommene Erfüllung erreicht hat, dann nennt man es ›vollendet‹ (teleion): dann ist es in besonderer Weise der Naturbestimmung gemäß (kata physin) […].«

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Quaestio LV, articulus II

ordine ad Deum, tanquam assimilativa ad ipsum, non autem in ordine ad operationem. Non igitur est habitus operativus.

Sed contra est quod philosophus dicit, in II Ethic., quod virtus   uniuscuiusque rei est quae opus eius bonum reddit. Respondeo dicendum quod virtus, ex ipsa ratione nominis, importat   quandam perfectionem potentiae, ut supra dictum est. Unde, cum duplex sit potentia, scilicet potentia ad esse et potentia ad agere, utriusque potentiae perfectio virtus vocatur. Sed potentia ad esse se tenet ex parte materiae, quae est ens in potentia, potentia autem ad agere se tenet ex parte formae, quae est principium agendi, eo quod unumquodque agit inquantum est actu. In constitutione autem hominis, corpus se habet sicut materia, anima   vero sicut forma. Et quantum quidem ad corpus, homo communicat cum aliis animalibus; et similiter quantum ad vires quae sunt animae et corpori communes; solae autem illae vires quae sunt propriae animae, scilicet rationales, sunt hominis tantum. Et ideo virtus humana, de qua loquimur, non potest pertinere ad corpus; sed pertinet tantum ad id quod est proprium animae. Unde virtus humana non importat ordinem ad esse, sed magis ad agere. Et ideo de ratione virtutis humanae est quod sit habitus operativus.

Ad primum ergo dicendum quod modus actionis sequitur disposi-   tionem agentis, unumquodque enim quale est, talia operatur. Et ideo, cum virtus sit principium aliqualis operationis, oportet quod in operante praeexistat secundum virtutem aliqua conformis dispositio. Facit autem virtus operationem ordinatam. Et ideo ipsa virtus est quaedam dispositio ordinata in anima, secundum scilicet quod potentiae animae ordinantur aliqualiter ad invicem, et ad id quod est extra. Et ideo virtus, inquantum est conveniens dispositio animae, assimilatur

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Frage 55, Artikel 2

die Tugend eine bestimmte Qualität der Seele in Hinordnung auf Gott genannt werden muss, im Sinne einer Angleichung an Ihn, nicht aber in Hinordnung auf eine Handlung. Folglich ist sie kein handlungsbezogener Habitus. DAGEGEN steht, dass der Philosoph im II. Buch der Ethik sagt, »die Tugend eines jeden Dinges ist das, was sein Werk gut macht«.42 ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass die Tugend, schon aufgrund des Namens, eine gewisse Vollkommenheit des Vermögens mit sich bringt, wie oben gesagt wurde.43 Da Vermögen zweierlei heißen kann, nämlich Vermögen zum Sein und Vermögen zum Handeln, wird die Vollkommenheit beider Vermögen ›Tugend‹ genannt. Das Vermögen zum Sein beruht auf der Materie, die Sein in Potenz ist; das Vermögen zum Handeln jedoch beruht auf der Form, die Prinzip des Handelns ist, da ein jedes Ding handelt, insofern es aktual ist. In der Beschaffenheit des Menschen verhält sich nun der Körper wie die Materie, die Seele aber wie die Form. Was das Verhältnis zum Körper angeht, so gibt es eine Übereinstimmung mit den anderen Tieren, und ähnlich ist es mit den Kräften, die Seele und Körper gemein sind; nur jene Kräfte aber, die der Seele eigen sind, nämlich die vernünftigen, gehören bloß dem Menschen. Und deshalb kann sich die menschliche Tugend, von der wir hier sprechen, nicht auf den Körper beziehen, sondern sie bezieht sich nur auf das, was der [menschlichen] Seele eigen ist. Darum bringt die menschliche Tugend keine Hinordnung auf das Sein mit sich, sondern mehr auf das Handeln. Und deshalb gehört es zur Natur der menschlichen Tugend, dass sie ein handlungsbezogener Habitus ist. Zu 1. Dazu ist also zu sagen, dass die Art und Weise der Handlung der Ausrichtung des Handelnden folgt, denn ein jedes Ding ist so tätig, wie es beschaffen ist. Da nun die Tugend Prinzip einer bestimmten Tätigkeit ist, ist es nötig, dass im Tätigen eine der Tugend entsprechende gleichförmige Ausrichtung vorherbesteht. Die Tugend nun bewirkt eine geordnete Tätigkeit. Deshalb ist die Tugend selbst eine gewisse geordnete Ausrichtung in der Seele, und zwar so, dass die Vermögen der Seele auf bestimmte Weise zueinander und auf das hin, was außen ist, geordnet sind. Und deshalb ähnelt die

42 43

Vgl. Aristoteles, EN II 5, 1106 a 15–17. Siehe oben, q. 55, a. 1.

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Quaestio LV, articulus II

sanitati et pulchritudini, quae sunt debitae dispositiones corporis. Sed per hoc non excluditur quin virtus etiam sit operationis principium.

Ad secundum dicendum quod virtus quae est ad esse, non est propria   hominis, sed solum virtus quae est ad opera rationis, quae sunt propria hominis. Ad tertium dicendum quod, cum Dei substantia sit eius actio, summa   assimilatio hominis ad Deum est secundum aliquam operationem. Unde, sicut supra dictum est, felicitas sive beatitudo, per quam homo maxime Deo conformatur, quae est finis humanae vitae, in operatione consistit.

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Frage 55, Artikel 2

Tugend, insofern sie eine angemessene Ausrichtung der Seele ist, der Gesundheit und der Schönheit, welche erforderliche Ausrichtungen des Körpers sind. Dadurch wird aber nicht ausgeschlossen, dass die Tugend auch ein Prinzip des Handelns ist. Zu 2. Dazu ist zu sagen, dass die Tugend, die auf das Sein [angelegt] ist, nicht dem Menschen eigen ist, sondern nur die Tugend, die auf die Werke der Vernunft [angelegt] ist, welche dem Menschen eigentümlich sind. Zu 3. Dazu ist zu sagen, dass die höchste Angleichung des Menschen an Gott, da das Wesen Gottes sein Akt ist, in einer gewissen Tätigkeit liegt. Daher besteht, wie oben gesagt wurde,44 das Glück bzw. die Glückseligkeit, wodurch der Mensch am meisten Gott gleichgeformt wird und die das Ziel des menschlichen Lebens ist, in einer Tätigkeit.

44

Vgl. STh I–II, q. 3, a. 2.

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Quaestio LV, articulus IV: Utrum virtus convenienter definiatur

Ad quartum sic proceditur. Videtur quod non sit conveniens definitio   virtutis quae solet assignari, scilicet: virtus est bona qualitas mentis, qua recte vivitur, qua nullus male utitur, quam Deus in nobis sine nobis operatur. 1. Virtus enim est bonitas hominis, ipsa enim est quae bonum facit   habentem. Sed bonitas non videtur esse bona, sicut nec albedo est alba. Igitur inconvenienter dicitur quod virtus est bona qualitas. 2. Praeterea, nulla differentia est communior suo genere, cum sit   generis divisiva. Sed bonum est communius quam qualitas, convertitur enim cum ente. Ergo bonum non debet poni in definitione virtutis, ut differentia qualitatis. 3. Praeterea, sicut Augustinus dicit, in XII de Trin., ubi primo occurrit   aliquid quod non sit nobis pecoribusque commune, illud ad mentem pertinet. Sed quaedam virtutes sunt etiam irrationabilium partium; ut philosophus dicit, in III Ethic. Non ergo omnis virtus est bona qualitas mentis.

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Frage 55, Artikel 4: Wird die Tugend angemessen definiert?

Es scheint, dass die Definition der Tugend, die ihr gewöhnlich zugeordnet wird, nicht angemessen ist, nämlich »die Tugend ist eine gute Qualität des Geistes, durch die man recht lebt, die niemand schlecht gebraucht, die Gott in uns ohne uns bewirkt«.45 1. Tugend ist nämlich Gutheit des Menschen, denn sie selbst ist es, die »den gut macht, der sie hat«.46 Aber Gutheit scheint nicht (selbst) gut zu sein, wie auch das Weißsein nicht weiß ist. Deshalb ist es unangemessen zu sagen, dass die Tugend eine »gute Qualität« ist. 2. Außerdem: Kein [Art-]Unterschied ist allgemeiner als seine Gattung, da er die Gattung aufteilt. Das Gute aber ist allgemeiner als die Qualität, da es mit dem Seienden austauschbar ist. Also darf in der Definition der Tugend das Gute nicht als [Art-]Unterschied der Qualität gesetzt werden. 3. Außerdem: Augustinus sagt im XII. Buch von Über die Trinität: »Sobald etwas vorkommt, was uns und den Schafen nicht gemeinsam ist, betrifft dies den Geist.«47 Es gibt aber auch »Tugenden des unvernünftigen (Seelen-)Teiles«, wie der Philosoph im III. Buch

45 Diese Definition entnimmt Thomas den Sentenzen des Petrus Lombardus, vgl. Sent. II, distinctio 27, c. 1, n. 1, ed. Collegii S. Bonaventurae Ad Claras Aquas, Bd. 1, 480: »Virtus est, ut ait Augustinus, bona qualitas mentis, qua recte vivitur et qua nullus male utitur, quam Deus solus in homine operatur.« In n. 2 der dinstinctio wird diese Definition am Beispiel der Gerechtigkeit (iustitia) und in n. 3 am Beispiel des Glaubens (fides) erläutert. 46 So Thomas kurz zuvor in STh I–II, q. 55, a. 3, s.c., wobei er sich auf Aristoteles EN II 5, 1106 a 15–24 beruft. 47 Vgl. Augustinus, Trin. XII, 8, CSEL 50, 368. Eigentlich heißt es dort: »[…] was uns und den Tieren (bestiae) nicht gemeinsam ist, […].«

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Quaestio LV, articulus IV

4. Praeterea, rectitudo videtur ad iustitiam pertinere, unde idem   dicuntur recti, et iusti. Sed iustitia est species virtutis. Inconvenienter ergo ponitur rectum in definitione virtutis, cum dicitur, qua recte vivitur. 5. Praeterea, quicumque superbit de aliquo, male utitur eo. Sed multi   superbiunt de virtute, dicit enim Augustinus, in regula, quod superbia etiam bonis operibus insidiatur, ut pereant. Falsum est ergo quod nemo virtute male utatur. 6. Praeterea, homo per virtutem iustificatur. Sed Augustinus dicit,   super illud Ioan., maiora horum faciet, qui creavit te sine te, non iustificabit te sine te. Inconvenienter ergo dicitur quod virtutem Deus in nobis sine nobis operatur. Sed contra est auctoritas Augustini, ex cuius verbis praedicta definitio   colligitur, et praecipue in II de libero arbitrio. Respondeo dicendum quod ista definitio perfecte complectitur totam   rationem virtutis. Perfecta enim ratio uniuscuiusque rei colligitur ex omnibus causis eius. Comprehendit autem praedicta definitio omnes causas virtutis. Causa namque formalis virtutis, sicut et cuiuslibet rei, accipitur   ex eius genere et differentia, cum dicitur qualitas bona, genus

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Frage 55, Artikel 4

der Ethik sagt.48 Also ist nicht jede Tugend eine gute Eigenschaft »des Geistes«. 4. Außerdem: Recht-Sein scheint zur Gerechtigkeit zu gehören, weshalb dieselben (Menschen) recht und gerecht genannt werden. Die Gerechtigkeit ist aber eine Art der Tugend. Es ist also unangemessen, das Rechte in die Definition der Tugend aufzunehmen, indem man sagt: »durch die man recht lebt«. 5. Außerdem: Jeder, der auf etwas stolz ist (superbit), gebraucht es schlecht. Aber viele sind stolz auf die Tugend. Augustinus sagt nämlich in der Regel, »dass der Hochmut (superbia) auch den guten Werken nachstellt, so dass sie zugrunde gehen.«49 Es ist also falsch, dass »keiner die Tugend schlecht gebraucht«. 6. Außerdem: Der Mensch wird durch die Tugend gerechtfertigt. Über jene Stelle des Johannesevangeliums: »Er wird Größeres tun als dieses« (Joh. 14,12) sagt Augustinus aber: »Der dich ohne dich geschaffen hat, wird dich nicht ohne dich rechtfertigen.«50 Es ist also unangemessen zu sagen, »Gott bewirkt die Tugend in uns ohne uns«. DAGEGEN steht die Autorität des Augustinus, aus dessen Worten die vorausgeschickte Definition zusammengestellt ist, vor allem im II. Buch von Über den freien Willen.51 ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass diese Definition vollkommen das gesamte Wesen der Tugend erfasst. Das vollkommene Wesen eines jeden Dinges ergibt sich nämlich aus all seinen Ursachen. Die oben gegebene Definition umfasst aber alle Ursachen der Tugend. Die Formursache der Tugend, wie eines jeden Dinges, wird nämlich aus ihrer Gattung und ihrem [Art-]Unterschied gewonnen, indem 48 Vgl. Aristoteles, EN III 13, 1117 b 23; vgl. auch EN I 13, 1103 a 3–10 und II 1, 1103 a 11–17. 49 Vgl. Augustinus, Ep. 211, n. 6, CSEL 57, 361. Der Brief ist an das Frauenkloster in Hippo gerichtet, das von der Schwester des Augustinus geleitet wurde; er enthält (ab n. 5) die Augustinerregel, die auch Dominikus seinem Orden gab. Der Satz lautet im Ganzen: »Jedes andere Laster (iniquitas) wird durch Vollbringung böser Werke ausgeübt, der Stolz (superbia) aber legt den guten Werken eine Schlinge, in der sie zugrunde gehen.« (Übers. A. Hoffmann, 273). 50 Vgl. Augustinus, In Ioh. tract., tract. 72, CCSL 36 (auch PL 35, 1822). 51 Vgl. Augustinus, De lib. arb. II, c. 19, n. 190, CSEL 74, 84f. (Übers. W. Thimme, 207), sowie Enarr. in Ps. 118, serm. 26, n. 1, CSEL 95/2, 180f.

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Quaestio LV, articulus IV

enim virtutis qualitas est, differentia autem bonum. Esset tamen convenientior definitio, si loco qualitatis habitus poneretur, qui est genus propinquum. Virtus autem non habet materiam ex qua, sicut nec alia accidentia, sed   habet materiam circa quam; et materiam in qua, scilicet subiectum. Materia autem circa quam est obiectum virtutis; quod non potuit in praedicta definitione poni, eo quod per obiectum determinatur virtus ad speciem; hic autem assignatur definitio virtutis in communi. Unde ponitur subiectum loco causae materialis, cum dicitur quod est bona qualitas mentis.

Finis autem virtutis, cum sit habitus operativus, est ipsa operatio.   Sed notandum quod habituum operativorum aliqui sunt semper ad malum, sicut habitus vitiosi; aliqui vero quandoque ad bonum, et quandoque ad malum, sicut opinio se habet ad verum et ad falsum; virtus autem est habitus semper se habens ad bonum. Et ideo, ut discernatur virtus ab his quae semper se habent ad malum, dicitur, qua recte vivitur, ut autem discernatur ab his quae se habent quandoque ad bonum, quandoque ad malum, dicitur, qua nullus male utitur.

Causa autem efficiens virtutis infusae, de qua definitio datur, Deus   est. Propter quod dicitur, quam Deus in nobis sine nobis operatur. Quae quidem particula si auferatur, reliquum definitionis erit commune omnibus virtutibus, et acquisitis et infusis. Ad primum ergo dicendum quod id quod primo cadit in intellectu,   est ens, unde unicuique apprehenso a nobis attribuimus quod sit ens; et per consequens quod sit unum et bonum, quae convertuntur cum ente. Unde dicimus quod essentia est ens et una et bona; et quod unitas est ens et una et bona; et similiter de bonitate. Non autem hoc habet locum in specialibus formis, sicut est albedo et sanitas, non enim omne quod apprehendimus, sub ratione albi et sani

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Frage 55, Artikel 4

sie eine »gute Qualität« genannt wird; die Gattung der Tugend ist nämlich »Qualität«, der [Art-]Unterschied dagegen »gut«. Es wäre allerdings eine angemessenere Definition, wenn man anstelle der Qualität den Habitus setzen würde, der die nächste Gattung ist. Die Tugend hat nun aber keine Materie, »aus der« [sie besteht], wie auch die anderen Akzidenzien nicht, sondern sie hat eine Materie, »auf die« [sie sich bezieht], und eine Materie, »in der« [sie verhaftet ist], nämlich den Träger. Die Materie, »auf die« [sie sich bezieht], ist der Gegenstand der Tugend, der in der vorausgeschickten Definition nicht gesetzt werden kann, weil die Tugend über den Gegenstand zu ihrer Art [hin] bestimmt wird; hier aber wird der Begriff der Tugend im Allgemeinen definiert. Daher setzt man anstelle der Materialursache den Träger, indem man sagt, dass sie [die Tugend] eine gute Qualität »des Geistes« ist. Das Ziel der Tugend aber ist, da sie ein handlungsbezogener Habitus ist, die [entsprechende] Handlung [bzw. Tätigkeit]. Man muss allerdings beachten, dass manche der handlungsbezogenen Habitus immer auf das Schlechte [gerichtet] sind, wie die lasterhaften Habitus, manche dagegen bisweilen auf das Gute und bisweilen auf das Schlechte, wie sich die Meinung auf das Wahre und das Falsche bezieht; die Tugend ist dagegen ein Habitus, der immer auf das Gute gerichtet ist. Um die Tugend deshalb von jenen [Habitus] zu unterscheiden, die immer auf das Schlechte gerichtet sind, sagt man »durch die man recht lebt«, und um sie von denjenigen [Habitus] zu unterscheiden, die bisweilen auf das Gute und bisweilen auf das Schlechte gerichtet sind, sagt man, »die niemand schlecht gebraucht«. Die Wirkursache aber der eingegossenen Tugend, von der die[se] Definition gegeben wird, ist Gott. Deswegen sagt man, »die Gott in uns ohne uns bewirkt«. Wenn man diesen Teil entfernen würde, wäre der Rest der Definition allen Tugenden gemeinsam, sowohl den erworbenen als auch den eingegossenen. Zu 1. Dazu ist also zu sagen, dass das Erste, was in den Intellekt fällt, das Seiende ist; daher schreiben wir einem jeden von uns erfassten [Ding] zu, dass es Seiendes ist und folglich, dass es Eines und Gutes ist, die mit dem Seienden austauschbar sind. Darum sagen wir, dass das Wesen seiend ist, eines und gut und dass die Einheit seiend ist, eine und gut, und ähnlich [sagen wir das] von der Gutheit. Das ist aber nicht anwendbar auf besondere Formen, wie das Weißsein und

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Quaestio LV, articulus IV

apprehendimus. Sed tamen considerandum quod sicut accidentia et formae non subsistentes dicuntur entia, non quia ipsa habeant esse, sed quia eis aliquid est; ita etiam dicuntur bona vel una, non quidem aliqua alia bonitate vel unitate, sed quia eis est aliquid bonum vel unum. Sic igitur et virtus dicitur bona, quia ea aliquid est bonum.

Ad secundum dicendum quod bonum quod ponitur in definitione   virtutis, non est bonum commune, quod convertitur cum ente, et est in plus quam qualitas, sed est bonum rationis, secundum quod Dionysius dicit, in IV cap. de Div. Nom., quod bonum animae est secundum rationem esse. Ad tertium dicendum quod virtus non potest esse in irrationali parte   animae, nisi inquantum participat rationem, ut dicitur in I Ethic. Et ideo ratio, sive mens, est proprium subiectum virtutis humanae. Ad quartum dicendum quod iustitiae est propria rectitudo quae   constituitur circa res exteriores quae in usum hominis veniunt, quae sunt propria materia iustitiae, ut infra patebit. Sed rectitudo quae importat ordinem ad finem debitum et ad legem divinam, quae est regula voluntatis humanae, ut supra dictum est, communis est omni virtuti. Ad quintum dicendum quod virtute potest aliquis male uti tanquam   obiecto, puta cum male sentit de virtute, cum odit eam, vel superbit de ea, non autem tanquam principio usus, ita scilicet quod malus sit actus virtutis. Ad sextum dicendum quod virtus infusa causatur in nobis a Deo sine   nobis agentibus, non tamen sine nobis consentientibus. Et sic est intelligendum quod dicitur, quam Deus in nobis sine nobis operatur.

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Frage 55, Artikel 4

die Gesundheit, denn nicht alles, was wir erfassen, erfassen wir unter dem Begriff des Weißen und Gesunden. Allerdings ist zu beachten, dass so wie die Akzidenzien und die nicht-subsistierenden Formen Seiende genannt werden nicht [darum], weil sie selbst Sein haben, sondern weil etwas durch sie ist, sie so auch gut bzw. eines genannt werden, nicht aufgrund einer anderen Gutheit bzw. Einheit, sondern weil durch sie etwas gut bzw. eins ist. So wird folglich auch die Tugend gut genannt, weil durch sie etwas gut ist. Zu 2. Dazu ist zu sagen, dass das Gute, das in die Definition der Tugend gesetzt wird, nicht das allgemeine Gute ist, das mit dem Seienden austauschbar ist und über die Qualität hinausreicht, sondern das Gute der Vernunft, gemäß dem, was Dionysius im IV. Buch Über die göttlichen Namen sagt, [nämlich] »dass das Gute der Seele das Vernünftig-Sein ist«.52 Zu 3. Dazu ist zu sagen, dass die Tugend nur insofern im unvernünftigen Teil der Seele sein kann, als dieser an der Vernunft teilhat, wie im I. Buch der Ethik gesagt wird.53 Und deshalb ist die Vernunft bzw. der Geist der eigentliche Träger der menschlichen Tugend. Zu 4. Dazu ist zu sagen, dass der Gerechtigkeit ein Recht-Sein eigentümlich ist, das von den äußeren Dingen her bestimmt ist, welche der Mensch gebraucht und welche den eigentlichen Bereich der Gerechtigkeit ausmachen, wie sich später zeigen wird.54 Das Recht-Sein jedoch, das eine Hinordnung auf das erforderliche Ziel und das göttliche Gesetz herbeiführt, das, wie oben gesagt wurde,55 Richtschnur für den menschlichen Willen ist, ist allen Tugenden gemein. Zu 5. Dazu ist zu sagen, dass jemand die Tugend als Gegenstand schlecht gebrauchen kann, etwa wenn er schlecht über die Tugend denkt, sie hasst oder auf sie stolz ist, nicht aber als Gebrauchsprinzip, so dass der Tugendakt [selbst] schlecht wäre. Zu 6. Dazu ist zu sagen, dass die eingegossene Tugend in uns von Gott ohne unser Zutun verursacht wird, nicht aber ohne unsere Zustimmung. Und so ist der Satz zu verstehen: »die Gott in uns ohne uns bewirkt«. Was jedoch durch uns getan wird, verursacht Gott in

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Vgl. Dionysius Areopagita, Div. nom. IV 32, 733 A, ed. Suchla, 178. Vgl. Aristoteles, EN I 13, 1102 b 13–35. Vgl. STh I–II, q. 60, a. 2, sowie STh II–II, q. 58, a. 8. Vgl. STh I–II, q. 19, a. 4.

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Quaestio LV, articulus IV

Quae vero per nos aguntur, Deus in nobis causat non sine nobis agentibus, ipse enim operatur in omni voluntate et natura.

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Frage 55, Artikel 4

uns nicht ohne unser Zutun; er wirkt nämlich in jedem Willen und in jeder Natur.

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Quaestio LVI: De subiecto virtutis

Deinde considerandum est de subiecto virtutis. Et circa hoc quaerun-   tur sex: 1.

Utrum virtus sit in potentia animae sicut in subiecto.

 

2.

Utrum una virtus possit esse in pluribus potentiis.

 

3.

Utrum intellectus possit esse subiectum virtutis.

 

4.

Utrum irascibilis et concupiscibilis.

 

5.

Utrum vires apprehensivae sensitivae.

 

6.

Utrum voluntas.

 

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Frage 56: Vom Träger der Tugend

Daraufhin ist der Träger der Tugend zu betrachten. Dazu werden sechs Fragen gestellt: 1.

Ist die Tugend im Vermögen der Seele als dem Träger?

2.

Kann ein und dieselbe Tugend in mehreren Vermögen sein?

3.

Kann der Intellekt Träger der Tugend sein?

4.

Können es Überwindungs- und Begierdekraft56 sein?

5.

Können es die sinnlich wahrnehmenden Kräfte sein?

6.

Kann es der Wille sein?

56 In STh I, q. 81, a. 2, grenzt Thomas, Bezug nehmend auf Gregor von Nyssa und Johannes von Damaskus, innerhalb des sinnlichen Strebevermögens (appetitus sensitivus) des Menschen zwei Grundvermögen als die beiden Arten der der Gattung nach einen Kraft der Sinnlichkeit (sensualitas) voneinander ab: einerseits das, was er als »(vis) concupiscibilis« (wörtlich: begehrende Kraft) bezeichnet, und andererseits das, was er »(vis) irascibilis« (wörtlich: zornhafte bzw. zornmütige Kraft) nennt. Die erste Kraft bewirkt, dass wir das, was uns zuträglich erscheint, zu erlangen versuchen und vor dem, was schädlich erscheint, fliehen. Die zweite Kraft bewirkt, dass wir Hindernisse überwinden, die sich beim Versuch, Zuträgliches zu erlangen und vor Schädlichem zu fliehen, in den Weg stellen. Daher ist die Übersetzung von irascibilis als Überwindungskraft recht verbreitet.

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Quaestio LVI, articulus VI: Utrum voluntas possit esse subiectum virtutis

 

Ad sextum sic proceditur. Videtur quod voluntas non sit subiectum   alicuius virtutis. 1. Ad id enim quod convenit potentiae ex ipsa ratione potentiae, non   requiritur aliquis habitus. Sed de ipsa ratione voluntatis, cum sit in ratione, secundum philosophum in III de anima, est quod tendat in id quod est bonum secundum rationem, ad quod ordinatur omnis virtus, quia unumquodque naturaliter appetit proprium bonum, virtus enim est habitus per modum naturae, consentaneus rationi, ut Tullius dicit in sua rhetorica. Ergo voluntas non est subiectum virtutis.

2. Praeterea, omnis virtus aut est intellectualis, aut moralis, ut dicitur   in I et II Ethic. Sed virtus intellectualis est, sicut in subiecto, in intellectu et ratione, non autem in voluntate, virtus autem moralis est, sicut in subiecto, in irascibili et concupiscibili, quae sunt rationales per participationem. Ergo nulla virtus est in voluntate sicut in subiecto. 3. Praeterea, omnes actus humani, ad quos virtutes ordinantur,   sunt voluntarii. Si igitur respectu aliquorum humanorum actuum sit aliqua virtus in voluntate, pari ratione respectu omnium actuum humanorum erit virtus in voluntate. Aut ergo in nulla alia potentia erit aliqua virtus, aut ad eundem actum ordinabuntur duae virtutes, quod videtur inconveniens. Voluntas ergo non potest esse subiectum virtutis.

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Frage 56, Artikel 6: Kann der Wille Träger der Tugend sein?

Es scheint, dass der Wille kein Träger irgendeiner Tugend ist. 1. Für das nämlich, was dem Vermögen aus seiner eigenen Natur heraus zukommt, ist kein Habitus erforderlich. Es gehört aber zur Natur des Willens, da er, so der Philosoph im III. Buch Über die Seele, in der Vernunft ist,57 dass er zu dem hinstrebt, was gut entsprechend der Vernunft ist, worauf jede Tugend hingeordnet ist, da ein jedes von Natur aus nach dem eigenen Guten strebt. »Die Tugend ist nämlich Habitus nach Maßgabe der Natur in Übereinstimmung mit der Vernunft«, wie Cicero in seiner Rhetorik sagt.58 Also ist der Wille kein Träger der Tugend. 2. Außerdem: Jede Tugend ist entweder eine intellektuelle oder eine moralische, wie im I. und II. Buch der Ethik gesagt wird.59 Die intellektuelle Tugend ist aber im Intellekt und in der Vernunft als ihrem Träger, nicht im Willen, und die moralische Tugend ist in der Überwindungs- und Begierdekraft als ihrem Träger, die vernünftig durch Teilhabe sind. Also ist keine Tugend im Willen als Träger. 3. Außerdem: Alle menschlichen Handlungen, auf die die Tugenden hingeordnet sind, sind willentlich. Wenn es daher bezüglich mancher menschlicher Handlungen eine Tugend im Willen gibt, wird es aus demselben Grund bezüglich aller menschlichen Handlungen eine Tugend im Willen geben. Entweder wird es also in keinem anderen Vermögen eine Tugend geben, oder auf dieselbe Handlung werden zwei Tugenden hingeordnet sein, was unpassend scheint. Der Wille kann also nicht Träger der Tugend sein. 57 Vgl. Aristoteles, An. III 9: 432 b 5. Wörtlich heißt es dort: »Denn im vernünftigen (Seelenteil) (logistikon) entsteht das Wünschen (boulēsis).« 58 Vgl. Cicero, Inv. II, c. 53 (Übers. T. Nüßlein, 321). 59 Vgl. Aristoteles, EN I 13, 1103 a 4–10 und II 1, 1103 a 11–18.

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Quaestio LVI, articulus VI

Sed contra est quod maior perfectio requiritur in movente quam in   moto. Sed voluntas movet irascibilem et concupiscibilem. Multo ergo magis debet esse virtus in voluntate, quam in irascibili et concupiscibili. Respondeo dicendum quod, cum per habitum perficiatur potentia ad   agendum, ibi indiget potentia habitu perficiente ad bene agendum, qui quidem habitus est virtus, ubi ad hoc non sufficit propria ratio potentiae. Omnis autem potentiae propria ratio attenditur in ordine ad obiectum. Unde cum, sicut dictum est, obiectum voluntati sit bonum rationis voluntati proportionatum, quantum ad hoc non indiget voluntas virtute perficiente. Sed si quod bonum immineat homini volendum, quod excedat proportionem volentis; sive quantum ad totam speciem humanam, sicut bonum divinum, quod transcendit limites humanae naturae, sive quantum ad individuum, sicut bonum proximi; ibi voluntas indiget virtute. Et ideo huiusmodi virtutes quae ordinant affectum hominis in Deum vel in proximum, sunt in voluntate sicut in subiecto; ut caritas, iustitia et huiusmodi.

Ad primum ergo dicendum quod ratio illa habet locum de virtute   quae ordinat ad bonum proprium ipsius volentis, sicut temperantia et fortitudo, quae sunt circa passiones humanas et alia huiusmodi, ut ex dictis patet. Ad secundum dicendum quod rationale per participationem non   solum est irascibilis et concupiscibilis; sed omnino, idest universaliter, appetitivum, ut dicitur in I Ethic. Sub appetitivo autem comprehenditur voluntas. Et ideo, si qua virtus est in voluntate, erit moralis, nisi sit theologica, ut infra patebit.

Ad tertium dicendum quod quaedam virtutes ordinantur ad bonum   passionis moderatae, quod est proprium huius vel illius hominis, et in talibus non est necessarium quod sit aliqua virtus in volun-

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Frage 56, Artikel 6

DAGEGEN spricht, dass eine größere Vollkommenheit im Bewegenden erfordert wird als im Bewegten. Der Wille bewegt aber die Überwindungs- und die Begierdekraft. Es muss also viel mehr Tugend im Willen sein als in der Überwindungs- und der Begierdekraft. ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass, da das Vermögen zum Handeln durch einen Habitus vervollkommnet wird, es dort eines vervollkommnenden Habitus zum guten Handeln bedarf – und dieser Habitus ist Tugend –, wo die eigentümliche Natur des Vermögens dazu nicht hinreicht. Die eigentümliche Natur eines jeden Vermögens richtet sich nach seinem Gegenstand. Darum bedarf der Wille, da sein Gegenstand, wie gesagt wurde, das ihm angemessene Gut der Vernunft ist,60 diesbezüglich keiner vervollkommnenden Tugend. Wenn sich aber ein anzustrebendes Gut des Menschen bemächtigt, welches das [dem Willen] angemessene [Gut] übersteigt – entweder hinsichtlich der menschlichen Art als ganzer, wie das göttliche Gute, das die Grenzen der menschlichen Natur übersteigt, oder hinsichtlich des Individuums, wie das Gut des Nächsten –, dann bedarf der Wille der Tugend. Und deshalb sind solche Tugenden, die die Neigung des Menschen auf Gott oder auf den Nächsten hinordnen, im Willen als dem Träger, wie die Liebe, die Gerechtigkeit und dergleichen. Zu 1. Dazu ist also zu sagen, dass jener Grund für die Tugend gilt, die auf das eigene Gute des Wollenden hinordnet, wie die Mäßigkeit und die Tapferkeit, die sich auf die menschlichen Leidenschaften und anderes dergleichen beziehen, wie aus dem Gesagten erhellt.61 Zu 2. Dazu ist zu sagen, dass vernünftig durch Teilhabe nicht nur die Begierde- und Überwindungskraft ist, sondern auch »das Strebevermögen insgesamt«, das heißt allgemein, wie im I. Buch der Ethik gesagt wird.62 Unter dem Strebevermögen wird aber der Wille miteingeschlossen. Deshalb ist die Tugend, wenn sie im Willen ist, eine moralische, wenn sie nicht eine theologische ist, wie später klar werden wird.63 Zu 3. Dazu ist zu sagen, dass einige Tugenden auf das Gut der gemäßigten Leidenschaft hingeordnet sind, das diesem oder jenem Menschen eigentümlich ist; und bei solchen ist es nicht nötig, dass 60 61 62 63

Vgl. STh I–II, q. 19, a. 3. Vgl. STh I, q. 21, a. 1, ad 1; q. 25, a. 6, ad 3 und q. 59, a. 4, ad 3. Vgl. Aristoteles, EN I 13, 1102 b 30–33. Vgl. STh I–II, q. 58, a. 3, ad 3 und q. 62, a. 3.

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Quaestio LVI, articulus VI

tate, cum ad hoc sufficiat natura potentiae, ut dictum est. Sed hoc solum necessarium est in illis virtutibus quae ordinantur ad aliquod bonum extrinsecum.

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Frage 56, Artikel 6

es eine Tugend im Willen gibt, da dazu die Natur des Vermögens ausreicht, wie [in der Antwort] gesagt wurde. Das ist nur bei jenen Tugenden nötig, die auf ein äußerliches Gut hingeordnet sind.

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Quaestio LXI: De virtutibus cardinalibus

 

Deinde considerandum est de virtutibus cardinalibus. Et circa hoc quaeruntur quinque:

 

1.

Utrum virtutes morales debeant dici cardinales, vel principales.  

2.

De numero earum.

 

3.

Quae sint.

 

4.

Utrum differant ab invicem.

 

5.

Utrum dividantur convenienter in virtutes politicas, et purgato-   rias, et purgati animi, et exemplares.

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Frage 61: Von den Kardinaltugenden

Daraufhin sind die Kardinaltugenden zu betrachten. Dazu werden fünf Fragen gestellt: 1.

Müssen die moralischen Tugenden Kardinal- oder Haupttugenden genannt werden?

2.

Ihre Anzahl.

3.

Welche es sind.

4.

Unterscheiden sie sich voneinander?

5.

Werden sie passenderweise in politische Tugenden, reinigende Tugenden, Tugenden der gereinigten Seele und exemplarische Tugenden eingeteilt?64

64 Die Unterscheidung stammt von Macrobius, Somn. Scip. I, 8. Danach sind die exemplarischen oder urbildlichen Tugenden jene, »die im göttlichen Geiste selbst wohnen«, die Tugenden der gereinigten Seele jene, die ohne Leidenschaften sind, die reinigenden Tugenden jene, »die das Menschliche fliehen und sich einzig mit dem Göttlichen beschäftigen«, und die politischen Tugenden jene, durch die »gute Männer für das Staatswesen sorgen und die Städte beschützen«. In seiner Antwort übernimmt Thomas diese Einteilung und deutet sie im Sinne von vier unterschiedlichen Stadien des Besitzes aller vier Kardinaltugenden: Klugheit, Mäßigkeit, Tapferkeit und Gerechtigkeit bestehen i) als Urbilder der menschlichen Tugenden in Gott voraus, ii) im Menschen, insofern er seiner Natur nach ein politisches Wesen ist, iii) in Menschen, die auf dem Wege sind und nach der Ähnlichkeit mit Gott streben, iv) in Menschen, die die Ähnlichkeit mit Gott bereits erreicht haben.

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Quaestio LXI, articulus II: Utrum sint quatuor virtutes cardinales

Ad secundum sic proceditur. Videtur quod non sint quatuor vir-   tutes cardinales. 1. Prudentia enim est directiva aliarum virtutum moralium, ut ex   supradictis patet. Sed id quod est directivum aliorum, principalius est. Ergo prudentia sola est virtus principalis. 2. Praeterea, virtutes principales sunt aliquo modo morales. Sed ad   operationes morales ordinamur per rationem practicam, et appetitum rectum, ut dicitur in VI Ethic. Ergo solae duae virtutes cardinales sunt. 3. Praeterea, inter alias etiam virtutes una est principalior altera.   Sed ad hoc quod virtus dicatur principalis, non requiritur quod sit principalis respectu omnium, sed respectu quarundam. Ergo videtur quod sint multo plures principales virtutes. Sed contra est quod Gregorius dicit, in II Moral., in quatuor virtutibus   tota boni operis structura consurgit. Respondeo dicendum quod numerus aliquorum accipi potest aut   secundum principia formalia aut secundum subiecta, et utroque modo inveniuntur quatuor cardinales virtutes. Principium enim formale virtutis de qua nunc loquimur, est rationis   bonum. Quod quidem dupliciter potest considerari. Uno modo, secundum quod in ipsa consideratione rationis consistit. Et sic erit una virtus principalis, quae dicitur prudentia. Alio modo, secundum

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Frage 61, Artikel 2: Gibt es vier Kardinaltugenden?

Es scheint, dass es nicht vier Kardinaltugenden gibt. 1. Die Klugheit ist die Tugend, die die anderen moralischen Tugenden steuert, wie sich aus dem oben Gesagten ergibt.65 Das aber, was anderes steuert, ist grundlegender. Darum ist nur die Klugheit eine Haupttugend. 2. Außerdem: Die Haupttugenden sind irgendwie moralische. Auf die moralischen Tätigkeiten werden wir aber durch die praktische Vernunft und das rechte Streben hingeordnet, wie im sechsten Buch der Ethik gesagt wird.66 Also sind nur [diese] zwei Kardinaltugenden. 3. Außerdem: Auch unter den anderen Tugenden ist die eine grundlegender als die andere. Dazu aber, dass eine Tugend Haupttugend genannt wird, ist nicht erforderlich, dass sie Haupttugend in Bezug auf alle [anderen] ist, sondern nur in Bezug auf manche. Es scheint also, dass es viel mehr [als nur vier] Haupttugenden gibt. DAGEGEN steht das, was Gregorius im II. Buch der Moralia sagt: »In vier Tugenden erhebt sich die ganze Struktur des guten Werkes.«67 ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass die Anzahl irgendwelcher Dinge entweder gemäß den Formprinzipen oder gemäß den Trägern erfasst werden kann, und in beiden Fällen findet man vier Kardinaltugenden. Das Formprinzip der Tugend, von der wir jetzt reden, ist nämlich das Gute der Vernunft. Dieses kann auf zweierlei Weise betrachtet werden: Einerseits, insofern es in der Betrachtung der Vernunft selbst besteht; und so ergibt sich die eine Haupttugend, die Klugheit 65 66 67

Vgl. STh I–II, q. 58, a. 4. Vgl. Aristoteles, EN VI 2, 1139 a 22–26 und VI 13, 1144 a 23–1145 a 2. Vgl. Gregor der Große, Moral. II, c. 49, CCSL 143, 105.

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Quaestio LXI, articulus II

quod circa aliquid ponitur rationis ordo. Et hoc vel circa operationes, et sic est iustitia, vel circa passiones, et sic necesse est esse duas virtutes. Ordinem enim rationis necesse est ponere circa passiones, considerata repugnantia ipsarum ad rationem. Quae quidem potest esse dupliciter. Uno modo secundum quod passio impellit ad aliquid contrarium rationi, et sic necesse est quod passio reprimatur, et ab hoc denominatur temperantia. Alio modo, secundum quod passio retrahit ab eo quod ratio dictat, sicut timor periculorum vel laborum, et sic necesse est quod homo firmetur in eo quod est rationis, ne recedat; et ab hoc denominatur fortitudo.

Similiter secundum subiecta, idem numerus invenitur. Quadruplex   enim invenitur subiectum huius virtutis de qua nunc loquimur, scilicet rationale per essentiam, quod prudentia perficit; et rationale per participationem, quod dividitur in tria; idest in voluntatem, quae est subiectum iustitiae; et in concupiscibilem, quae est subiectum temperantiae; et in irascibilem, quae est subiectum fortitudinis. Ad primum ergo dicendum quod prudentia est simpliciter prin-   cipalior omnibus. Sed aliae ponuntur principales unaquaeque in suo genere. Ad secundum dicendum quod rationale per participationem dividitur   in tria, ut dictum est. Ad tertium dicendum quod omnes aliae virtutes, quarum una est   principalior alia, reducuntur ad praedictas quatuor, et quantum ad subiectum, et quantum ad rationes formales.

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Frage 61, Artikel 2

genannt wird. Andererseits, insofern die Ordnung der Vernunft in etwas gestiftet wird; und zwar entweder in den Tätigkeiten, und so ergibt sich die Gerechtigkeit, oder in den Leidenschaften, und so sind zwei Tugenden nötig. Die Ordnung der Vernunft muss nämlich in den Leidenschaften gestiftet werden, in Anbetracht ihres Widerstreits mit der Vernunft. Dieser [Widerstreit] kann zweifach sein: Zum einen, insofern die Leidenschaft zu etwas antreibt, das der Vernunft widerspricht; und so ist es nötig, dass die Leidenschaft zurückgedrängt wird; und davon hat die Mäßigkeit ihren Namen. Zum anderen, insofern eine Leidenschaft von dem zurückhält, was die Vernunft befiehlt, wie die Furcht vor Gefahren oder Mühen; und so ist es nötig, dass der Mensch gefestigt wird in dem, was vernünftig ist, damit er nicht zurückweiche; und davon hat die Tapferkeit ihren Namen. Gemäß den Trägern ergibt sich dieselbe Anzahl. Der Träger der Tugend, von der wir hier reden, zeigt sich nämlich vierfach: als wesenhaft vernünftiger, den die Klugheit vervollkommnet, und als durch Teilhabe vernünftiger, der [wiederum] in drei aufgeteilt ist, nämlich in den Willen, der Träger der Gerechtigkeit ist, in die Begierdekraft, die Träger der Mäßigkeit ist, und in die Überwindungskraft, die Träger der Tapferkeit ist. Zu 1. Dazu ist also zu sagen, dass die Klugheit schlechthin grundlegender ist als alle [anderen Tugenden]. Die anderen [Tugenden] werden jeweils in ihrer Gattung als Haupttugend gesetzt. Zu 2. Dazu ist zu sagen, dass das durch Teilhabe Rationale dreigeteilt ist, wie [in der Antwort] gesagt wurde. Zu 3. Dazu ist zu sagen, dass sich alle anderen Tugenden, von denen die eine grundlegender als die andere ist, auf die oben genannten vier zurückführen lassen, sowohl mit Bezug auf den Träger als auch mit Bezug auf die Formgründe.

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Quaestio LXII: De virtutibus theologicis

 

Deinde considerandum est de virtutibus theologicis. Et circa hoc quaeruntur quatuor:

 

1.

Utrum sint aliquae virtutes theologicae.

 

2.

Utrum virtutes theologicae distinguantur ab intellectualibus et moralibus.

 

3.

Quot, et quae sint.

 

4.

De ordine earum.

 

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Frage 62: Von den theologischen Tugenden

Daraufhin sind die theologischen Tugenden zu betrachten. Dazu werden vier Fragen gestellt: 1.

Gibt es theologische Tugenden?

2.

Unterscheiden sich die theologischen Tugenden von den intellektuellen und moralischen?

3.

Wie viele und welche es gibt.

4.

Ihre Ordnung.

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Quaestio LXII, articulus I: Utrum sint aliquae virtutes theologicae

Ad primum sic proceditur. Videtur quod non sint aliquae virtutes the-   ologicae. 1. Ut enim dicitur in VII Physic., virtus est dispositio perfecti ad opti-   mum, dico autem perfectum, quod est dispositum secundum naturam. Sed id quod est divinum, est supra naturam hominis. Ergo virtutes theologicae non sunt virtutes hominis. 2. Praeterea, virtutes theologicae dicuntur quasi virtutes divinae.   Sed virtutes divinae sunt exemplares, ut dictum est, quae quidem non sunt in nobis, sed in Deo. Ergo virtutes theologicae non sunt virtutes hominis. 3. Praeterea, virtutes theologicae dicuntur quibus ordinamur in   Deum, qui est primum principium et ultimus finis rerum. Sed homo ex ipsa natura rationis et voluntatis, habet ordinem ad primum principium et ultimum finem. Non ergo requiruntur aliqui habitus virtutum theologicarum, quibus ratio et voluntas ordinetur in Deum. Sed contra est quod praecepta legis sunt de actibus virtutum. Sed de   actibus fidei, spei et caritatis dantur praecepta in lege divina, dicitur enim Eccli. II, qui timetis Deum, credite illi; item, sperate in illum; item, diligite illum. Ergo fides, spes et caritas sunt virtutes in Deum ordinantes. Sunt ergo theologicae.

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Frage 62, Artikel 1: Gibt es theologische Tugenden?

Es scheint, dass es keine theologischen Tugenden gibt. 1. Der Philosoph sagt im VII. Buch der Physik: »Tugend ist Ausrichtung des Vollkommenen zum Besten; ›vollkommen‹ nenne ich aber das, was gemäß der Natur ausgerichtet ist.«68 Das, was göttlich ist, ist aber über der Natur des Menschen. Also sind die theologischen Tugenden keine Tugenden des Menschen. 2. Außerdem: Die theologischen Tugenden werden gewissermaßen göttliche Tugenden genannt. Göttliche Tugenden sind aber, wie gesagt wurde,69 exemplarische Tugenden, die nicht in uns, sondern in Gott sind. Also sind die theologischen Tugenden keine Tugenden des Menschen. 3. Außerdem: Als theologische Tugenden werden die bezeichnet, durch die wir auf Gott hingeordnet sind, der erster Anfang und letztes Ziel der Dinge ist. Der Mensch hat aber von der Natur der Vernunft und des Willens [aus] die Hinordnung auf den ersten Anfang und das letzte Ziel. Also werden keine Habitus theologischer Tugenden benötigt, durch die Vernunft und Wille auf Gott hingeordnet würden. DAGEGEN spricht, dass die Vorschriften des Gesetzes die Tugendakte betreffen. Die Vorschriften bezüglich der Akte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe werden aber im göttlichen Gesetz gegeben. In Sir 2,8ff. heißt es nämlich: »Die ihr Gott fürchtet, glaubt Ihm.« Ebenso: »Hofft auf Ihn.« Ebenso: »Liebt Ihn.« Also sind Glaube, Hoffnung und Liebe Tugenden, die auf Gott hinordnen. Sie sind also theologische Tugenden.

68 69

Vgl. Aristoteles, Phys. VII 3, 246 a 13–16. Vgl. STh I–II, q. 61, a. 5.

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Quaestio LXII, articulus I

Respondeo dicendum quod per virtutem perficitur homo ad actus   quibus in beatitudinem ordinatur, ut ex supradictis patet. Est autem duplex hominis beatitudo sive felicitas, ut supra dictum est. Una quidem proportionata humanae naturae, ad quam scilicet homo pervenire potest per principia suae naturae. Alia autem est beatitudo naturam hominis excedens, ad quam homo sola divina virtute pervenire potest, secundum quandam divinitatis participationem; secundum quod dicitur II Petr. 1,4, quod per Christum facti sumus consortes divinae naturae.

Et quia huiusmodi beatitudo proportionem humanae naturae excedit,   principia naturalia hominis, ex quibus procedit ad bene agendum secundum suam proportionem, non sufficiunt ad ordinandum hominem in beatitudinem praedictam. Unde oportet quod superaddantur homini divinitus aliqua principia, per quae ita ordinetur ad beatitudinem supernaturalem, sicut per principia naturalia ordinatur ad finem connaturalem, non tamen absque adiutorio divino. Et huiusmodi principia virtutes dicuntur theologicae, tum quia habent Deum pro obiecto, inquantum per eas recte ordinamur in Deum; tum quia a solo Deo nobis infunduntur; tum quia sola divina revelatione, in sacra Scriptura, huiusmodi virtutes traduntur.

Ad primum ergo dicendum quod aliqua natura potest attribui alicui   rei dupliciter. Uno modo, essentialiter, et sic huiusmodi virtutes theologicae excedunt hominis naturam. Alio modo, participative, sicut lignum ignitum participat naturam ignis, et sic quodammodo fit homo particeps divinae naturae, ut dictum est. Et sic istae virtutes conveniunt homini secundum naturam participatam.

Ad secundum dicendum quod istae virtutes non dicuntur divinae,   sicut quibus Deus sit virtuosus, sed sicut quibus nos efficimur virtuosi

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Frage 62, Artikel 1

ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass der Mensch durch die Tugend zu Akten vervollkommnet wird, die ihn auf die Glückseligkeit hinordnen, wie aus dem zuvor Gesagten klar ist.70 Es gibt allerdings eine zweifache Glückseligkeit bzw. ein zweifaches Glück des Menschen, wie oben gesagt wurde71: Das eine [Glück ist] gemäß der menschlichen Natur, zu dem der Mensch durch die Prinzipien seiner Natur gelangen kann. Die andere aber ist eine die menschliche Natur übersteigende Glückseligkeit, zu der der Mensch nur mithilfe göttlicher Kraft durch eine Art Teilhabe an der Göttlichkeit gelangen kann, entsprechend dem, was in 2 Petr 1,4 gesagt wird, [nämlich] dass wir durch Christus zu »Teilhabern der göttlichen Natur« gemacht werden. Da nun eine derartige Glückseligkeit das Maß der menschlichen Natur übersteigt, reichen die natürlichen Prinzipien des Menschen, aus denen heraus er seinem Maß entsprechend zum guten Handeln gelangt, nicht aus, den Menschen auf die genannte Glückseligkeit hinzuordnen. Daher ist es nötig, dass dem Menschen durch göttliche Kraft einige Prinzipien gegeben werden, durch die er so auf die übernatürliche Glückseligkeit hingeordnet werde, wie er durch die natürlichen Prinzipien, wenngleich nicht ohne göttliche Hilfe, auf ein seiner Natur entsprechendes Ziel hingeordnet wird. Und solche Prinzipien werden theologische Tugenden genannt, einmal weil sie Gott zum Gegenstand haben, insofern wir durch sie in rechter Weise auf Gott hingeordnet werden; sodann, weil sie uns allein von Gott eingegossen werden; ferner, weil diese Tugenden uns allein durch göttliche Offenbarung in der Heiligen Schrift bekannt sind. Zu 1. Dazu ist also zu sagen, dass eine Natur einem Ding auf zweierlei Weise zugeschrieben werden kann: einerseits wesentlich, und so übersteigen die theologischen Tugenden die Natur des Menschen. Andererseits durch Teilhabe, wie das brennende Holz an der Natur des Feuers teilhat, und so hat der Mensch gewissermaßen an der göttlichen Natur teil, wie [in der Antwort] gesagt wurde. Und so kommen diese Tugenden dem Menschen gemäß der Natur zu, an der er teilhat. Zu 2. Dazu ist zu sagen, dass diese Tugenden nicht göttliche genannt werden, weil Gott durch sie tugendhaft wäre, sondern weil wir 70 71

Vgl. STh I–II, q. 5, a. 7. Vgl. STh I–II, q. 5, a. 5.

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Quaestio LXII, articulus I

a Deo, et in ordine ad Deum. Unde non sunt exemplares, sed exemplatae. Ad tertium dicendum quod ad Deum naturaliter ratio et voluntas   ordinatur prout est naturae principium et finis, secundum tamen proportionem naturae. Sed ad ipsum secundum quod est obiectum beatitudinis supernaturalis, ratio et voluntas secundum suam naturam non ordinantur sufficienter.

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Frage 62, Artikel 1

durch sie von Gott und in Hinordnung auf Gott tugendhaft gemacht werden. Daher sind sie keine exemplarischen [Tugenden], sondern vom Exempel herrührende. Zu 3. Dazu ist zu sagen, dass Vernunft und Wille natürlicherweise auf Gott hingeordnet sind, insofern er Anfang und Ziel der Natur ist, jedoch dem Maß der Natur entsprechend. Auf Ihn aber, insofern er Gegenstand der übernatürlichen Glückseligkeit ist, sind Vernunft und Wille ihrer eigenen Natur nach nicht ausreichend hingeordnet.

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Quaestio LXII, articulus II: Utrum virtutes theologicae distinguantur ab intellectuabilus et moralibus

 

Ad secundum sic proceditur. Videtur quod virtutes theologicae non   distinguantur a moralibus et intellectualibus. 1. Virtutes enim theologicae, si sunt in anima humana, oportet quod   perficiant ipsam vel secundum partem intellectivam vel secundum partem appetitivam. Sed virtutes quae perficiunt partem intellectivam, dicuntur intellectuales, virtutes autem quae perficiunt partem appetitivam, sunt morales. Ergo virtutes theologicae non distinguuntur a virtutibus moralibus et intellectualibus. 2. Praeterea, virtutes theologicae dicuntur quae ordinant nos ad   Deum. Sed inter intellectuales virtutes est aliqua quae ordinat nos ad Deum, scilicet sapientia, quae est de divinis, utpote causam altissimam considerans. Ergo virtutes theologicae ab intellectualibus virtutibus non distinguuntur. 3. Praeterea, Augustinus, in libro de moribus Eccles., manifestat in   quatuor virtutibus cardinalibus quod sunt ordo amoris. Sed amor est caritas, quae ponitur virtus theologica. Ergo virtutes morales non distinguuntur a theologicis. Sed contra, id quod est supra naturam hominis, distinguitur ab eo   quod est secundum naturam hominis. Sed virtutes theologicae sunt super naturam hominis, cui secundum naturam conveniunt virtutes

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Frage 62, Artikel 2: Unterscheiden sich die theologischen Tugenden von den intellektuellen und moralischen?

Es scheint, dass sich die theologischen Tugenden nicht von den moralischen und intellektuellen unterscheiden. 1. Die theologischen Tugenden müssen, wenn sie in der menschlichen Seele sind, diese entweder gemäß dem denkenden oder dem strebenden Teil vervollkommnen. Die Tugenden aber, die den denkenden Teil vervollkommnen, heißen intellektuelle; die Tugenden hingegen, die den strebenden Teil vervollkommnen, sind die moralischen. Also unterscheiden sich die theologischen Tugenden nicht von den intellektuellen und moralischen. 2. Außerdem: Theologische Tugenden werden diejenigen genannt, die uns auf Gott hinordnen. Unter den intellektuellen Tugenden gibt es aber eine, die uns auf Gott hinordnet, nämlich die Weisheit, die auf das Göttliche [gerichtet] ist, weil sie ja die höchste Ursache betrachtet. Also unterscheiden sich die theologischen nicht von den intellektuellen Tugenden. 3. Außerdem: Augustinus macht im Buch Über die Lebensführung der katholischen Kirche bezüglich der vier Kardinaltugenden deutlich, dass sie »Ordnung der Liebe« sind.72 Liebe ist aber Gottesliebe, die als theologische Tugend gilt. Also unterscheiden sich die moralischen Tugenden nicht von den theologischen Tugenden. DAGEGEN: Das, was über der Natur des Menschen ist, unterscheidet sich von dem, was gemäß der Natur des Menschen ist. Die theologischen Tugenden sind aber über der Natur des Menschen, dem die intellektuellen und moralischen Tugenden seiner Natur

72

Vgl. Augustinus, Mor. eccl. I, c. 15, CSEL 90, 29f.; siehe oben, q. 55, a. 4, arg. 4.

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Quaestio LXII, articulus II

intellectuales et morales, ut ex supradictis patet. Ergo distinguuntur ab invicem. Respondeo dicendum quod, sicut supra dictum est, habitus spe-   cie distinguuntur secundum formalem differentiam obiectorum. Obiectum autem theologicarum virtutum est ipse Deus, qui est ultimus rerum finis, prout nostrae rationis cognitionem excedit. Obiectum autem virtutum intellectualium et moralium est aliquid quod humana ratione comprehendi potest. Unde virtutes theologicae specie distinguuntur a moralibus et intellectualibus.

Ad primum ergo dicendum quod virtutes intellectuales et morales   perficiunt intellectum et appetitum hominis secundum proportionem naturae humanae, sed theologicae supernaturaliter. Ad secundum dicendum quod sapientia quae a philosopho ponitur   intellectualis virtus, considerat divina secundum quod sunt investigabilia ratione humana. Sed theologica virtus est circa ea secundum quod rationem humanam excedunt. Ad tertium dicendum quod, licet caritas sit amor, non tamen omnis   amor est caritas. Cum ergo dicitur quod omnis virtus est ordo amoris, potest intelligi vel de amore communiter dicto; vel de amore caritatis. Si de amore communiter dicto, sic dicitur quaelibet virtus esse ordo amoris, inquantum ad quamlibet cardinalium virtutum requiritur ordinata affectio, omnis autem affectionis radix et principium est amor, ut supra dictum est. Si autem intelligatur de amore caritatis, non datur per hoc intelligi quod quaelibet alia virtus essentialiter sit caritas, sed quod omnes aliae virtutes aliqualiter a caritate dependeant, ut infra patebit.

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Frage 62, Artikel 2

nach zukommen, wie aus dem vorher Gesagten klar ist.73 Also unterscheiden sie sich voneinander. ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass sich, wie oben gesagt wurde,74 die Habitus der Art nach gemäß dem formalen Unterschied der Gegenstände (voneinander) unterscheiden. Gegenstand der theologischen Tugenden ist aber Gott selbst, der das letzte Ziel der Dinge ist, insofern Er die Erkenntnis unserer Vernunft übersteigt. Gegenstand der intellektuellen und moralischen Tugenden ist aber etwas, das von der menschlichen Vernunft erfasst werden kann. Darum unterscheiden sich die theologischen Tugenden der Art nach von den moralischen und intellektuellen. Zu 1. Dazu ist also zu sagen, dass die intellektuellen und moralischen Tugenden Intellekt und Streben des Menschen entsprechend dem Maß der menschlichen Natur vervollkommnen, die theologischen Tugenden aber auf übernatürliche Weise. Zu 2. Dazu ist zu sagen, dass die Weisheit, die vom Philosophen als intellektuelle Tugend gesetzt wird,75 das Göttliche betrachtet, insofern es durch die menschliche Vernunft erforschbar ist. Die theologische Tugend bezieht sich aber auf das, was die menschliche Vernunft übersteigt. Zu 3. Dazu ist zu sagen, dass, auch wenn die Gottesliebe Liebe ist, doch nicht [umgekehrt] jede Liebe Gottesliebe ist. Wenn also gesagt wird, dass jede Tugend Ordnung der Liebe sei, kann das entweder von der Liebe im Allgemeinen oder von der Gottesliebe verstanden werden. Wird es von der Liebe im Allgemeinen verstanden, so kann man sagen, dass jede Tugend insofern eine Ordnung der Liebe ist, als für jede der Kardinaltugenden eine geordnete Zuneigung erforderlich ist; Wurzel und Prinzip jeder Zuneigung ist aber die Liebe, wie oben gesagt wurde. 76 Wird es jedoch von der Liebe im Sinne der Gottesliebe verstanden, dann wird dadurch nicht zu verstehen gegeben, dass jegliche andere Tugend wesentlich Gottesliebe sei, sondern dass alle anderen Tugenden irgendwie von der Gottesliebe abhängen, wie später klar werden wird.77 73 74 75 76 77

Vgl. STh I–II, q. 58, a. 3. Vgl. STh I–II, q. 54, a. 2. Vgl. Aristoteles, EN I 13, 1103 a 3–7; VI 3, 1139 b 14–18 und VI 7. Vgl. STh I–II, q. 27, a. 4; q. 28, a. 6, ad 2; q. 41, a. 2, ad 1; q. 56, a. 3, ad 1. Vgl. STh I–II, q. 65, a. 2 und a. 4 sowie STh II–II, q. 23, a. 7.

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Quaestio LXII, articulus III: Utrum convenienter fides, spes et caritas ponantur virtutes theologicae

 

Ad tertium sic proceditur. Videtur quod inconvenienter ponantur tres   virtutes theologicae, fides, spes et caritas. 1. Virtutes enim theologicae se habent in ordine ad beatitudinem   divinam, sicut inclinatio naturae ad finem connaturalem. Sed inter virtutes ordinatas ad finem connaturalem, ponitur una sola virtus naturalis, scilicet intellectus principiorum. Ergo debet poni una sola virtus theologica. 2. Praeterea, theologicae virtutes sunt perfectiores virtutibus intel-   lectualibus et moralibus. Sed inter intellectuales virtutes fides non ponitur, sed est aliquid minus virtute, cum sit cognitio imperfecta. Similiter etiam inter virtutes morales non ponitur spes, sed est aliquid minus virtute, cum sit passio. Ergo multo minus debent poni virtutes theologicae.

3. Praeterea, virtutes theologicae ordinant animam hominis ad   Deum. Sed ad Deum non potest anima hominis ordinari nisi per intellectivam partem, in qua est intellectus et voluntas. Ergo non debent esse nisi duae virtutes theologicae, una quae perficiat intellectum, alia quae perficiat voluntatem. Sed contra est quod apostolus dicit, I ad Cor. XIII: nunc autem manent   fides, spes, caritas, tria haec.

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Frage 62, Artikel 3: Werden Glaube, Hoffnung und Liebe angemessen als theologische Tugenden gesetzt?

Es scheint unangemessen, Glaube, Hoffnung und Liebe als theologische Tugenden zu setzen. 1. Die theologischen Tugenden verhalten sich nämlich zur göttlichen Glückseligkeit wie die Neigung der Natur zu einem naturgemäßen Ziel. Unter den Tugenden, die auf ein naturgemäßes Ziel hingeordnet sind, wird nur eine natürliche Tugend gesetzt, nämlich die Einsicht in die Prinzipien. Also muss auch nur eine einzige theologische Tugend gesetzt werden. 2. Außerdem: Die theologischen Tugenden sind vollkommener als die intellektuellen und moralischen Tugenden. Zu den intellektuellen Tugenden wird aber nicht der Glaube gerechnet; er ist im Gegenteil etwas, das niedriger als die Tugend ist, da er eine unvollkommene Erkenntnis darstellt. Auf ähnliche Weise wird auch zu den moralischen Tugenden nicht die Hoffnung gerechnet; sie ist im Gegenteil niedriger als die Tugend, da sie eine Leidenschaft ist. Also dürfen sie [noch] viel weniger zu den theologischen Tugenden gerechnet werden. 3. Außerdem: Die theologischen Tugenden ordnen die Seele des Menschen auf Gott hin. Die menschliche Seele kann aber auf Gott nur durch den denkenden Teil hingeordnet werden, in dem Intellekt und Wille sitzen. Also braucht es nur zwei theologische Tugenden: eine, die den Intellekt vervollkommnet, eine andere, die den Willen vervollkommnet. DAGEGEN spricht, was der Apostel in 1 Kor 13,13 sagt: »Jetzt aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei.«

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Quaestio LXII, articulus III

Respondeo dicendum quod, sicut supra dictum est, virtutes theolog-   icae hoc modo ordinant hominem ad beatitudinem supernaturalem, sicut per naturalem inclinationem ordinatur homo in finem sibi connaturalem. Hoc autem contingit secundum duo. Primo quidem, secundum rationem vel intellectum, inquantum continet prima principia universalia cognita nobis per naturale lumen intellectus, ex quibus procedit ratio tam in speculandis quam in agendis. Secundo, per rectitudinem voluntatis naturaliter tendentis in bonum rationis.

Sed haec duo deficiunt ab ordine beatitudinis supernaturalis; secun-   dum illud I ad Cor. II, oculus non vidit, et auris non audivit, et in cor hominis non ascendit, quae praeparavit Deus diligentibus se. Unde oportuit quod quantum ad utrumque, aliquid homini supernaturaliter adderetur, ad ordinandum ipsum in finem supernaturalem. Et primo quidem, quantum ad intellectum, adduntur homini quaedam principia supernaturalia, quae divino lumine capiuntur, et haec sunt credibilia, de quibus est fides.

Secundo vero, voluntas ordinatur in illum finem et quantum ad   motum intentionis, in ipsum tendentem sicut in id quod est possibile consequi, quod pertinet ad spem, et quantum ad unionem quandam spiritualem, per quam quodammodo transformatur in illum finem, quod fit per caritatem. Appetitus enim uniuscuiusque rei naturaliter movetur et tendit in finem sibi connaturalem, et iste motus provenit ex quadam conformitate rei ad suum finem.

Ad primum ergo dicendum quod intellectus indiget speciebus intel-   ligibilibus, per quas intelligat, et ideo oportet quod in eo ponatur aliquis habitus naturalis superadditus potentiae. Sed ipsa natura voluntatis sufficit ad naturalem ordinem in finem, sive quantum ad intentionem finis, sive quantum ad conformitatem ad ipsum. Sed in ordine ad ea quae supra naturam sunt, ad nihil horum sufficit natura

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Frage 62, Artikel 3

ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass die theologischen Tugenden, wie oben gesagt wurde,78 den Menschen so auf die übernatürliche Glückseligkeit hinordnen, wie der Mensch durch die natürliche Neigung auf ein ihm seiner Natur gemäßes Ziel hingeordnet wird. Das geschieht aber auf zweifache Weise: Erstens gemäß der Vernunft bzw. dem Intellekt, insofern er die ersten allgemeinen, von uns durch das natürliche Licht des Intellekts erfassten Prinzipien enthält, von denen ausgehend die Vernunft sowohl im Spekulativen als auch im Praktischen voranschreitet. Zweitens durch das Recht-Sein des Willens, der von Natur aus zum Gut der Vernunft hinstrebt. Diese beiden [Weisen] sind aber bezüglich der Ordnung der übernatürlichen Glückseligkeit unzureichend; gemäß 1 Kor 2,9: »Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr hat es gehört und in keines Menschen Herz ist es gedrungen, was Gott denen bereitet hat, die Ihn lieben.« Darum war es mit Bezug auf beide nötig, dem Menschen etwas auf übernatürliche Weise hinzuzugeben, um ihn auf das übernatürliche Ziel hinzuordnen. Erstens werden dem Menschen, was den Intellekt angeht, gewisse übernatürliche Prinzipien gegeben, die durch das göttliche Licht erfasst werden; das sind die Glaubensinhalte, von denen der Glaube handelt. Zweitens aber wird der Wille auf jenes Ziel hingeordnet, sowohl bezüglich der Bewegung der Intention, die zu ihm [dem Ziel] hinstrebt wie zu etwas, das zu erreichen möglich ist, was zur Hoffnung gehört, als auch bezüglich einer gewissen geistigen Vereinigung, durch die er in jenes Ziel verwandelt wird, was durch die Gottesliebe geschieht. Das Streben eines jeden Dinges bewegt sich und strebt nämlich von Natur aus auf ein ihm naturgemäßes Ziel hin, und diese Bewegung geht aus einer gewissen Gleichförmigkeit des Dinges mit seinem Ziel hervor. Zu 1. Dazu ist also zu sagen, dass der Intellekt anschauliche Vorstellungen braucht, durch die er versteht, und deshalb ist es nötig, dass in ihm ein natürlicher, dem Vermögen hinzugefügter Habitus angenommen wird. Die Natur des Willens reicht dagegen für die natürliche Hinordnung auf das Ziel aus, sei es hinsichtlich der Intention des Zieles, sei es hinsichtlich der Gleichförmigkeit mit ihm. In der Hinordnung auf die Dinge jedoch, die über der Natur sind,

78

Siehe oben, STh I–II, q. 62, a. 1.

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Quaestio LXII, articulus III

potentiae. Et ideo oportet fieri superadditionem habitus supernaturalis quantum ad utrumque. Ad secundum dicendum quod fides et spes imperfectionem quandam   important, quia fides est de his quae non videntur, et spes de his quae non habentur. Unde habere fidem et spem de his quae subduntur humanae potestati, deficit a ratione virtutis. Sed habere fidem et spem de his quae sunt supra facultatem naturae humanae, excedit omnem virtutem homini proportionatam; secundum illud I ad Cor. I, quod infirmum est Dei, fortius est hominibus.

Ad tertium dicendum quod ad appetitum duo pertinent, scilicet   motus in finem; et conformatio ad finem per amorem. Et sic oportet quod in appetitu humano duae virtutes theologicae ponantur, scilicet spes et caritas.

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Frage 62, Artikel 3

reicht die Natur des Vermögens zu nichts davon aus. Und deshalb ist für beide Fälle die Hinzufügung eines übernatürlichen Habitus nötig. Zu 2. Dazu ist zu sagen, dass Glaube und Hoffnung eine gewisse Unvollkommenheit mit sich bringen, weil sich der Glaube auf das bezieht, was man nicht sieht, und die Hoffnung auf das, was man nicht hat. Glaube und Hoffnung zu haben hinsichtlich dessen, was der menschlichen Macht untersteht, genügt darum dem Begriff der Tugend nicht. Doch Glaube und Hoffnung zu haben hinsichtlich dessen, was über der Fähigkeit der menschlichen Natur ist, übersteigt jegliche am Menschen Maß nehmende Tugend; gemäß 1 Kor 1,25: »Das Schwache Gottes ist stärker als die Menschen.« Zu 3. Dazu ist zu sagen, dass zum Streben zweierlei gehört, nämlich die Bewegung auf das Ziel hin und die Gleichförmigkeit mit dem Ziel durch die Liebe. Und so ist es nötig, im menschlichen Streben zwei theologische Tugenden anzunehmen, Glaube und Gottesliebe.

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Quaestio LXIII: De causa virtutum

Deinde considerandum est de causa virtutum. Et circa hoc quaerun-   tur quatuor: 1.

Utrum virtus sit in nobis a natura.

 

2.

Utrum aliqua virtus causetur in nobis ex assuetudine operum.

 

3.

Utrum aliquae virtutes morales sint in nobis per infusionem.

 

4.

Utrum virtus quam acquirimus ex assuetudine operum, sit eiusdem speciei cum virtute infusa.

 

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Frage 63: Von der Ursache der Tugenden

Daraufhin ist die Ursache der Tugenden zu betrachten. Dazu sind vier Fragen zu stellen: 1.

Ist die Tugend von Natur aus in uns?

2.

Wird irgendeine Tugend in uns durch Gewöhnung an Werke verursacht?

3.

Sind manche moralischen Tugenden durch Eingießung in uns?

4.

Ist die Tugend, die wir durch Gewöhnung an Werke erwerben, von derselben Art wie die eingegossene Tugend?

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Quaestio LXIII, articulus I: Utrum virtus insit nobis a natura

Ad primum sic proceditur. Videtur quod virtus sit in nobis a natura.   1. Dicit enim Damascenus, in III libro, naturales sunt virtutes, et   aequaliter insunt omnibus. Et Antonius dicit, in sermone ad monachos, si naturam voluntas mutaverit, perversitas est; conditio servetur, et virtus est. Et Matth. IV, super illud, circuibat Iesus etc., dicit Glossa, docet naturales iustitias, scilicet castitatem, iustitiam, humilitatem, quas naturaliter habet homo. 2. Praeterea, bonum virtutis est secundum rationem esse, ut ex dictis   patet. Sed id quod est secundum rationem, est homini naturale, cum ratio sit hominis natura. Ergo virtus inest homini a natura.

3. Praeterea, illud dicitur esse nobis naturale, quod nobis a nativitate   inest. Sed virtutes quibusdam a nativitate insunt, dicitur enim Iob

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Frage 63, Artikel 1: Ist die Tugend von Natur aus in uns?

Es scheint, dass die Tugend von Natur aus in uns ist. 1. Johannes von Damaskus sagt nämlich im III. Buch: »Die Tugenden sind natürlich und gleichermaßen in allen.«79 Und Antonius sagt in der Predigt an die Mönche: »Wenn der Wille die Natur verändert, ist es Verkehrtheit; wird die Bedingung [der Natur] bewahrt, ist es Tugend.«80 Und zu Mt 4,23 »Jesus ging herum« sagt die Glosse: »Er lehrt die natürlichen Rechtheiten, nämlich Keuschheit, Gerechtigkeit, Demut, die der Mensch auf natürliche Weise hat.«81 2. Außerdem: Das Gute der Tugend besteht darin, dass sie der Vernunft gemäß ist, wie aus dem Gesagten hervorgeht.82 Das aber, was der Vernunft gemäß ist, ist dem Menschen natürlich, da die Vernunft die Natur des Menschen ist. Also ist die Tugend von Natur aus im Menschen. 3. Außerdem: Das wird uns natürlich genannt, was von Geburt an in uns ist. Die Tugenden sind aber in manchen [von uns Menschen] 79 Vgl. Johannes von Damaskus, De fide orthodoxa III, c. 14 (Übers. D. Stiefenhofer, 152). 80 Vgl. Athanasius, Vita Antonii, c. 20. Dort heißt es: »Fürchtet euch aber nicht, wenn ihr von Tugend hört, und seid nicht betroffen über den Namen; denn sie ist nicht fern von uns noch steht sie außer uns, sondern in uns liegt die Ausführung, und das Werk ist leicht, wenn wir nur wollen. […] Zur Tugend ist also nur nötig, dass wir selbst wollen, da sie in uns ist und aus uns entsteht. Denn die Tugend besteht darin, dass die Seele das Vernünftige in sich hat, wie es ihrer Natur gemäß ist. Sie befindet sich aber in ihrem natürlichen Zustand, wenn sie bleibt, wie sie geschaffen ist, geschaffen ist sie aber in Schönheit und voller Harmonie. […] Denn in der Geradheit der Seele besteht ihr naturgemäßer vernünftiger Zustand, und so ist sie auch geschaffen. Wenn sie aber anderseits vom rechten Weg abbiegt und sich von ihrem natürlichen Zustand abkehrt, dann ist das die Schlechtigkeit der Seele. Die Arbeit ist also keine schwere; wenn wir bleiben, wie wir sind, dann verharren wir in der Tugend.« (Übers. H. Mertel, 34f.). 81 Vgl. PL 114, 88 B. 82 Siehe oben, STh I–II, q. 55, a. 4, ad 2.

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Quaestio LXIII, articulus I

XXXI, ab infantia crevit mecum miseratio, et de utero egressa est mecum. Ergo virtus inest homini a natura.

Sed contra, id quod inest homini a natura, est omnibus hominibus   commune, et non tollitur per peccatum, quia etiam in daemonibus bona naturalia manent, ut Dionysius dicit, in IV cap. de Div. Nom. Sed virtus non inest omnibus hominibus; et abiicitur per peccatum. Ergo non inest homini a natura. Respondeo dicendum quod circa formas corporales, aliqui dixerunt   quod sunt totaliter ab intrinseco, sicut ponentes latitationem formarum. Aliqui vero, quod totaliter sint ab extrinseco, sicut ponentes formas corporales esse ab aliqua causa separata. Aliqui vero, quod partim sint ab intrinseco, inquantum scilicet praeexistunt in materia in potentia; et partim ab extrinseco, inquantum scilicet reducuntur ad actum per agens.

Ita etiam circa scientias et virtutes, aliqui quidem posuerunt eas tota-   liter esse ab intrinseco, ita scilicet quod omnes virtutes et scientiae naturaliter praeexistunt in anima; sed per disciplinam et exercitium impedimenta scientiae et virtutis tolluntur, quae adveniunt animae ex corporis gravitate; sicut cum ferrum clarificatur per limationem. Et haec fuit opinio Platonicorum. Alii vero dixerunt quod sunt totaliter ab extrinseco, idest ex influentia intelligentiae agentis, ut ponit Avicenna. Alii vero dixerunt quod secundum aptitudinem scientiae et virtutes sunt in nobis a natura, non autem secundum perfectionem, ut philosophus dicit, in II Ethic. Et hoc verius est.

Ad cuius manifestationem, oportet considerare quod aliquid dicitur   alicui homini naturale dupliciter, uno modo, ex natura speciei; alio

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Frage 63, Artikel 1

von Geburt an; in Ijob 31,18 heißt es nämlich: »Von Kindheit an wuchs das Erbarmen mit mir mit, und aus dem Schoß der Mutter ist es mit mir hervorgegangen.« Also ist die Tugend von Natur aus im Menschen. DAGEGEN: Das, was von Natur aus im Menschen ist, ist allen Menschen gemeinsam und wird nicht durch die Sünde getilgt, denn sogar in den bösen Geistern bleiben die natürlichen Güter, wie Dionysius im IV. Kap. von Über die göttlichen Namen sagt.83 Die Tugend ist aber nicht in allen Menschen, und sie geht durch die Sünde verloren. Also ist sie nicht von Natur aus im Menschen. ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass, was die körperlichen Formen betrifft, manche sagten, dass sie gänzlich von innen kommen, wie diejenigen, die ein Sich-versteckt-Halten der Formen annehmen. Andere dagegen, dass sie gänzlich von außen kommen, wie diejenigen, die meinen, dass die körperlichen Formen von einer abgetrennten Ursache stammen. Wieder andere [sagten], dass sie teils von innen kommen, insofern sie in der Materie potentiell vorherbestehen, und teils von außen, insofern sie durch ein Tätiges aktualisiert werden. So nahmen auch, was die Wissenschaften und Tugenden betrifft, einige an, dass sie gänzlich von innen kommen, so dass alle Tugenden und Wissenschaften auf natürliche Weise in der Seele vorherbestehen; durch Erziehung und Übung würde man aber die Hindernisse von Wissenschaft und Tugend wegnehmen, die in die Seele wegen der Schwere des Körpers eindringen; so wie man ein Eisen durch Feilen poliert. Und das war die Meinung der Platoniker.84 Andere sagten hingegen, dass sie gänzlich von außen kommen, nämlich durch den Einfluss eines geistigen Akteurs, wie Avicenna behauptet.85 Andere wiederum sagten, dass Wissenschaften und Tugenden im Sinne der Veranlagung von Natur aus in uns sind, nicht aber im Sinne der Vollendung, wie der Philosoph im II. Buch der Ethik sagt.86 Und das ist näher an der Wahrheit. Um hier Deutlichkeit zu erlangen, muss man erwägen, dass etwas auf zweierlei Weise als dem Menschen natürlich bezeichnet werden 83 84 85 86

Vgl. Dionysius Areopagita, Div. nom. IV 23, 724 C, ed. Suchla, 170. Vgl. z.ௗB. Platon, Men. 99e–100a. Vgl. Avicenna, An. V 5, ed. Van Riet, Bd. 2, 126–133. Vgl. Aristoteles, EN II 1, 1103 a 25.

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Quaestio LXIII, articulus I

modo, ex natura individui. Et quia unumquodque habet speciem secundum suam formam, individuatur vero secundum materiam; forma vero hominis est anima rationalis, materia vero corpus, id quod convenit homini secundum animam rationalem, est ei naturale secundum rationem speciei; id vero quod est ei naturale secundum determinatam corporis complexionem, est ei naturale secundum naturam individui. Quod enim est naturale homini ex parte corporis secundum speciem, quodammodo refertur ad animam, inquantum scilicet tale corpus est tali animae proportionatum.

Utroque autem modo virtus est homini naturalis secundum quan-   dam inchoationem. Secundum quidem naturam speciei, inquantum in ratione homini insunt naturaliter quaedam principia naturaliter cognita tam scibilium quam agendorum, quae sunt quaedam seminalia intellectualium virtutum et moralium; et inquantum in voluntate inest quidam naturalis appetitus boni quod est secundum rationem. Secundum vero naturam individui, inquantum ex corporis disposi-   tione aliqui sunt dispositi vel melius vel peius ad quasdam virtutes, prout scilicet vires quaedam sensitivae actus sunt quarundam partium corporis, ex quarum dispositione adiuvantur vel impediuntur huiusmodi vires in suis actibus, et per consequens vires rationales, quibus huiusmodi sensitivae vires deserviunt. Et secundum hoc, unus homo habet naturalem aptitudinem ad scientiam, alius ad fortitudinem, alius ad temperantiam. Et his modis tam virtutes intellectuales quam morales, secundum quandam aptitudinis inchoationem, sunt in nobis a natura. Non autem consummatio earum. Quia natura determinatur ad unum, consummatio autem huiusmodi virtutum non est secundum unum modum actionis, sed diversimode, secundum diversas materias in quibus virtutes operantur, et secundum diversas circumstantias.

Sic ergo patet quod virtutes in nobis sunt a natura secundum aptitu-   dinem et inchoationem, non autem secundum perfectionem, praeter virtutes theologicas, quae sunt totaliter ab extrinseco.

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Frage 63, Artikel 1

kann: zum einen aufgrund der Natur der Art; zum anderen aufgrund der Natur des Individuums. Und da ein jedes [Seiendes] seine Art entsprechend seiner Form hat und entsprechend der Materie individuiert wird, die Form des Menschen aber die vernünftige Seele ist, die Materie hingegen der Körper, ist das, was dem Menschen entsprechend seiner vernünftigen Seele zukommt, ihm gemäß seiner Art natürlich; das jedoch, was ihm entsprechend einer bestimmten Körperbeschaffenheit natürlich ist, ist ihm gemäß seiner individuellen Natur natürlich. Was nämlich dem Menschen aufgrund des Körpers gemäß der Art natürlich ist, wird irgendwie auf die Seele zurückgeführt, insofern ein solcher Körper einer solchen Seele angemessen ist. Auf beide Weisen ist dem Menschen die Tugend gemäß einem gewissen Anfangszustand natürlich. Gemäß der Natur der Art, insofern es in der Vernunft des Menschen von Natur aus gewisse natürlich erkannte Prinzipien sowohl des zu Wissenden als auch des zu Tuenden gibt, die gewissermaßen Keime der intellektuellen und moralischen Tugenden sind, und insofern es im Willen ein gewisses natürliches Streben nach dem vernünftigen Guten gibt. Gemäß der individuellen Natur, insofern manche [Menschen] aufgrund der körperlichen Anlage zu bestimmten Tugenden besser oder schlechter veranlagt sind, wie etwa manche sinnlichen Kräfte Akte mancher Teile des Körpers sind, durch deren Anlage diese Kräfte in ihren Aktualisierungen unterstützt oder behindert werden, und folglich auch die rationalen Kräfte, denen diese sinnlichen Kräfte dienen. Und dementsprechend hat der eine Mensch eine natürliche Veranlagung zur Wissenschaft, ein anderer zur Tapferkeit, wieder ein anderer zur Mäßigkeit. Und auf diese Weise sind sowohl die intellektuellen als auch die moralischen Tugenden gemäß einer gewissen anfänglichen Veranlagung von Natur aus in uns. Das gilt aber nicht für ihre Vollendung. Denn die Natur ist zu Einem bestimmt, die Vollendung dieser Tugenden erfolgt jedoch nicht auf [nur] eine Tätigkeitsweise, sondern auf verschiedene Weisen, entsprechend den verschiedenen Materien, in denen die Tugenden sich betätigen, und entsprechend den verschiedenen Umständen. So zeigt sich also, dass die Tugenden von Natur aus in uns sind im Sinne einer Veranlagung und eines Anfangs, nicht jedoch im Sinne

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Quaestio LXIII, articulus I

Et per hoc patet responsio ad obiecta. Nam primae duae rationes   procedunt secundum quod seminalia virtutum insunt nobis a natura, inquantum rationales sumus. Tertia vero ratio procedit secundum quod ex naturali dispositione corporis, quam habet ex nativitate, unus habet aptitudinem ad miserendum, alius ad temperate vivendum, alius ad aliam virtutem.

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Frage 63, Artikel 1

der Vollkommenheit; mit Ausnahme der theologischen Tugenden, die gänzlich von außen kommen. Und dadurch ergibt sich die Antwort auf die Einwände. Denn die ersten zwei Argumente gehen davon aus, dass die Keime der Tugenden von Natur aus in uns sind, insofern wir vernünftige Wesen sind. Das dritte hingegen geht davon aus, dass durch eine natürliche Disposition des Körpers, die er von Geburt an hat, einer eine Veranlagung zur Barmherzigkeit hat, ein anderer zum mäßigen Leben, wieder ein anderer zu irgendeiner anderen Tugend.

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Quaestio LXIII, articulus II: Utrum aliqua virtus causetur in nobis ex assuetudine operum

Ad secundum sic proceditur. Videtur quod virtutes in nobis causari   non possint ex assuetudine operum. 1. Quia super illud Rom. XIV, omne quod non est ex fide, peccatum   est, dicit Glossa Augustini, omnis infidelium vita peccatum est; et nihil est bonum sine summo bono. Ubi deest cognitio veritatis, falsa est virtus etiam in optimis moribus. Sed fides non potest acquiri ex operibus, sed causatur in nobis a Deo; secundum illud Ephes. II, gratia estis salvati per fidem. Ergo nulla virtus potest in nobis acquiri ex assuetudine operum. 2. Praeterea, peccatum, cum contrarietur virtuti, non compatitur   secum virtutem. Sed homo non potest vitare peccatum nisi per gratiam Dei; secundum illud Sap. VIII, didici quod non possum esse aliter continens, nisi Deus det. Ergo nec virtutes aliquae possunt in nobis causari ex assuetudine operum; sed solum dono Dei.

3. Praeterea, actus qui sunt in virtutem, deficiunt a perfectione   virtutis. Sed effectus non potest esse perfectior causa. Ergo virtus non potest causari ex actibus praecedentibus virtutem. Sed contra est quod Dionysius dicit, IV cap. de Div. Nom., quod   bonum est virtuosius quam malum. Sed ex malis actibus causantur habitus vitiorum. Ergo multo magis ex bonis actibus possunt causari habitus virtutum.

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Frage 63, Artikel 2: Wird irgendeine Tugend in uns durch Gewöhnung an Werke verursacht?

Es scheint, dass die Tugenden in uns nicht durch Gewöhnung an Werke verursacht werden können. 1. Denn über Röm 14,23 »Alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde« sagt die Glosse des Augustinus: »Das ganze Leben der Ungläubigen ist Sünde, und nichts ist gut ohne das höchste Gut. Wo die Erkenntnis der Wahrheit fehlt, ist die Tugend falsch trotz bester Sitten.«87 Der Glaube kann aber nicht durch Werke erworben werden, sondern er wird in uns von Gott verursacht, gemäß Eph 2,8: »Aus Gnade seid ihr gerettet durch den Glauben«. Also kann keine Tugend in uns durch Gewöhnung an Werke erworben werden. 2. Außerdem: Da die Sünde der Tugend entgegengesetzt ist, ist sie mit der Tugend unvereinbar. Der Mensch kann aber nur durch die Gnade Gottes die Sünde vermeiden, gemäß Weish 8,21: »Ich habe gelernt, dass ich nicht anders enthaltsam sein kann, es würde mir denn von Gott gewährt.« Also können die Tugenden in uns nicht durch Gewöhnung an Werke verursacht werden, sondern allein durch ein Geschenk Gottes. 3. Außerdem: Die Akte, die zur Tugend hinführen, verfehlen die Vollkommenheit der Tugend. Die Wirkung kann aber nicht vollkommener als die Ursache sein. Also kann die Tugend nicht durch Akte verursacht werden, die der Tugend vorausgehen. DAGEGEN spricht, was Dionysius im IV. Kap. in Von den göttlichen Namen sagt, [nämlich] dass das Gute kraftvoller als das Schlechte ist. Aus schlechten Akten werden aber die Habitus der Laster verursacht. Also können umso mehr aus guten Akten die Habitus der Tugenden verursacht werden. 87

Vgl. PL 114, 516 C.

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Quaestio LXIII, articulus II

Respondeo dicendum quod de generatione habituum ex actibus,   supra in generali dictum est. Nunc autem specialiter quantum ad virtutem, considerandum est quod sicut supra dictum est, virtus hominis perficit ipsum ad bonum. Cum autem ratio boni consistat in modo, specie et ordine, ut Augustinus dicit in libro de natura boni; sive in numero, pondere et mensura, ut dicitur Sap. XI, oportet quod bonum hominis secundum aliquam regulam consideretur. Quae quidem est duplex, ut supra dictum est, scilicet ratio humana, et lex divina. Et quia lex divina est superior regula, ideo ad plura se extendit, ita quod quidquid regulatur ratione humana, regulatur etiam lege divina, sed non convertitur.

Virtus igitur hominis ordinata ad bonum quod modificatur secundum   regulam rationis humanae, potest ex actibus humanis causari, inquantum huiusmodi actus procedunt a ratione, sub cuius potestate et regula tale bonum consistit. Virtus vero ordinans hominem ad bonum secundum quod modificatur per legem divinam, et non per rationem humanam, non potest causari per actus humanos, quorum principium est ratio, sed causatur solum in nobis per operationem divinam. Et ideo, huiusmodi virtutem definiens, Augustinus posuit in definitione virtutis, quam Deus in nobis sine nobis operatur.

Et de huiusmodi etiam virtutibus prima ratio procedit.

 

Ad secundum dicendum quod virtus divinitus infusa, maxime si in   sua perfectione consideretur, non compatitur secum aliquod peccatum mortale. Sed virtus humanitus acquisita potest secum compati aliquem actum peccati, etiam mortalis, quia usus habitus in nobis est nostrae voluntati subiectus, ut supra dictum est; non autem per unum actum peccati corrumpitur habitus virtutis acquisitae; habitui enim non contrariatur directe actus, sed habitus. Et ideo, licet sine gratia

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Frage 63, Artikel 2

ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass von der Entstehung der Habitus aus den Akten in allgemeiner Hinsicht oben gesprochen wurde.88 Nun ist aber hinsichtlich der Tugend im Besonderen zu beachten, dass, wie oben erwähnt,89 die Tugend des Menschen diesen auf das Gute hin vervollkommnet. Da aber die Natur des Guten in »Modus, Art und Ordnung« besteht, wie Augustinus im Buch Über die Natur des Guten sagt,90 oder in »Zahl, Gewicht und Maß«, wie es in Weish 11,21 heißt, ist es nötig, das Gute des Menschen gemäß einer Richtschnur zu betrachten. Diese ist, wie oben gesagt wurde, eine zweifache: die menschliche Vernunft und das göttliche Gesetz.91 Und da das göttliche Gesetz die höhere Richtschnur ist, so erstreckt sie sich auf Mehreres, so dass alles, was von der menschlichen Vernunft geregelt wird, auch vom göttlichen Gesetz geregelt wird, aber nicht umgekehrt. Die Tugend des Menschen nun, die auf das nach der Richtschnur der Vernunft gemessene Gute hingeordnet ist, kann durch menschliche Handlungen verursacht werden, insofern diese Handlungen von der Vernunft ausgehen, unter deren Macht und Richtschnur ein solches Gutes steht. Die Tugend jedoch, die den Menschen auf das durch das göttliche Gesetz und nicht durch die menschliche Vernunft gemessene Gute hinordnet, kann nicht durch menschliche Handlungen verursacht werden, deren Prinzip die Vernunft ist, sondern wird in uns allein durch göttliches Handeln verursacht. Und deshalb fügt Augustinus, der diese Tugend definiert, in der Definition der Tugend hinzu: »die Gott in uns ohne uns bewirkt«. Und von diesen [den eingegossenen] Tugenden geht auch der erste Einwand aus. Zu 2. Dazu ist zu sagen, dass sich die göttlich eingegossene Tugend, besonders wenn man sie in ihrer Vollkommenheit betrachtet, mit keiner Todsünde verträgt. Die auf menschliche Weise erworbene Tugend ist aber mit einem sündigen Akt, auch mit einer Todsünde, vereinbar, weil der Gebrauch des Habitus in uns unserem Willen untersteht, wie oben gesagt wurde.92 Durch einen einzelnen sündigen Akt wird aber der Habitus der erworbenen Tugend nicht zerstört, 88 89 90 91

Vgl. STh I–II, q. 51, aa. 2–3. Siehe oben, STh I–II, q. 55, aa. 3–4. Vgl. Augustinus, De nat. bon., c. 3, CSEL 25/2, 856. Vgl. STh I–II, q. 19, aa. 3–4.

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Quaestio LXIII, articulus II

homo non possit peccatum mortale vitare, ita quod nunquam peccet mortaliter; non tamen impeditur quin possit habitum virtutis acquirere, per quam a malis operibus abstineat ut in pluribus, et praecipue ab his quae sunt valde rationi contraria. Sunt etiam quaedam peccata mortalia quae homo sine gratia nullo modo potest vitare, quae scilicet directe opponuntur virtutibus theologicis, quae ex dono gratiae sunt in nobis. Hoc tamen infra manifestius fiet.

Ad tertium dicendum quod, sicut dictum est, virtutum acquisitarum   praeexistunt in nobis quaedam semina sive principia, secundum naturam. Quae quidem principia sunt nobiliora virtutibus eorum virtute acquisitis, sicut intellectus principiorum speculabilium est nobilior scientia conclusionum; et naturalis rectitudo rationis est nobilior rectificatione appetitus quae fit per participationem rationis, quae quidem rectificatio pertinet ad virtutem moralem. Sic igitur actus humani, inquantum procedunt ex altioribus principiis, possunt causare virtutes acquisitas humanas.

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Frage 63, Artikel 2

denn nicht ein Akt, sondern ein Habitus steht einem Habitus direkt entgegen. Ist es deshalb dem Menschen ohne Gnade auch nicht möglich, eine Todsünde zu vermeiden, so dass er niemals auf schwere Weise sündigte, so hindert ihn doch nichts daran, den Habitus der Tugend zu erwerben, wodurch er sich in den meisten Fällen böser Werke enthielte, insbesondere jener, die der Vernunft stark entgegengesetzt sind. Es gibt allerdings gewisse Todsünden, die der Mensch ohne Gnade auf keinen Fall vermeiden kann, jene nämlich, die den theologischen Tugenden, die durch das Geschenk der Gnade in uns sind, direkt widersprechen. Das aber wird im Folgenden deutlicher werden.93 Zu 3. Dazu ist zu sagen, dass, wie oben gesagt wurde, gewisse Keime bzw. Prinzipien der erworbenen Tugenden der Natur nach in uns vorherbestehen.94 Solche Prinzipien sind vornehmer als die Tugenden, die kraft ihrer erworben werden, so wie die Einsicht in die Prinzipien der Gegenstände der [theoretischen] Betrachtung vornehmer ist als das Wissen der Schlusssätze, und wie das natürliche Recht-Sein der Vernunft vornehmer ist als die Richtigstellung des Strebens, die durch Teilhabe an der Vernunft geschieht und zur moralischen Tugend gehört. So können also die menschlichen Handlungen, insofern sie aus höheren Prinzipien hervorgehen, die erworbenen menschlichen Tugenden verursachen.

92 93 94

Vgl. STh I–II, q. 49, a. 3. Vgl. STh I–II, q. 109, a. 4. Siehe oben, q. 63, a. 1; vgl. STh I–II, q. 51, a. 1.

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Quaestio LXIII, articulus III: Utrum aliquae virtutes morales sint in nobis per infusionem

 

Ad tertium sic proceditur. Videtur quod praeter virtutes theologicas,   non sint aliae virtutes nobis infusae a Deo. 1. Ea enim quae possunt fieri a causis secundis, non fiunt immediate   a Deo, nisi forte aliquando miraculose, quia, ut Dionysius dicit, lex divinitatis est ultima per media adducere. Sed virtutes intellectuales et morales possunt in nobis causari per nostros actus, ut dictum est. Non ergo convenienter causantur in nobis per infusionem.

2. Praeterea, in operibus Dei multo minus est aliquid superfluum   quam in operibus naturae. Sed ad ordinandum nos in bonum supernaturale, sufficiunt virtutes theologicae. Ergo non sunt aliae virtutes supernaturales, quas oporteat in nobis causari a Deo. 3. Praeterea, natura non facit per duo, quod potest facere per unum,   et multo minus Deus. Sed Deus inseruit animae nostrae semina virtutum, ut dicit Glossa Heb. I. Ergo non oportet quod alias virtutes in nobis per infusionem causet. Sed contra est quod dicitur Sap. VIII: sobrietatem et iustitiam docet,   prudentiam et virtutem. Respondeo dicendum quod oportet effectus esse suis causis et princi-   piis proportionatos. Omnes autem virtutes tam intellectuales quam

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Frage 63, Artikel 3: Sind manche moralischen Tugenden durch Eingießung in uns?

Es scheint, dass es außer den theologischen Tugenden keine weiteren uns von Gott eingegossenen Tugenden gibt. 1. Was nämlich von Zweitursachen gemacht werden kann, wird nicht unmittelbar von Gott gemacht, ausgenommen vielleicht durch ein Wunder, denn Dionysius sagt: »Das Gesetz der Gottheit ist es, die letzten Dinge durch mittlere (Ursachen) herbeizuführen.«95 Die intellektuellen und moralischen Tugenden können aber in uns durch unsere Handlungen verursacht werden, wie gesagt wurde.96 Es ist also nicht angemessen, dass sie in uns durch Eingießung verursacht werden. 2. Außerdem: In den Werken Gottes gibt es viel weniger Überflüssiges als in den Werken der Natur. Um uns aber auf das übernatürliche Gute auszurichten, sind die theologischen Tugenden hinreichend. Also gibt es keine weiteren übernatürlichen Tugenden, die in uns von Gott verursacht werden müssten. 3. Außerdem: Die Natur macht nicht durch zwei, was sie durch eines machen kann, und noch viel weniger Gott. Gott hat unserer Seele aber die Keime der Tugenden eingepflanzt, wie die Glosse zu Hebr 1 sagt.97 Also ist es nicht nötig, dass Er in uns weitere Tugenden durch Eingießung verursacht. DAGEGEN heißt es Weish 8,7: »Sie [die Weisheit] lehrt Maßhaltung und Gerechtigkeit, Klugheit und Tugend.« ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass die Wirkungen ihren Ursachen und Prinzipien entsprechen müssen. Alle Tugenden aber, 95 96 97

Vgl. Dionysius Areopagita, Coel. Hier. IV 3, 180 C, ed. Heil / Ritter, 23. Siehe oben, q. 63, a. 2. Vgl. PL 26, 326 B.

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Quaestio LXIII, articulus III

morales, quae ex nostris actibus acquiruntur, procedunt ex quibusdam naturalibus principiis in nobis praeexistentibus, ut supra dictum est. Loco quorum naturalium principiorum, conferuntur nobis a Deo virtutes theologicae, quibus ordinamur ad finem supernaturalem, sicut supra dictum est. Unde oportet quod his etiam virtutibus theologicis proportionaliter respondeant alii habitus divinitus causati in nobis, qui sic se habeant ad virtutes theologicas sicut se habent virtutes morales et intellectuales ad principia naturalia virtutum.

Ad primum ergo dicendum quod aliquae quidem virtutes morales et   intellectuales possunt causari in nobis ex nostris actibus, tamen illae non sunt proportionatae virtutibus theologicis. Et ideo oportet alias, eis proportionatas, immediate a Deo causari. Ad secundum dicendum quod virtutes theologicae sufficienter nos   ordinant in finem supernaturalem, secundum quandam inchoationem, quantum scilicet ad ipsum Deum immediate. Sed oportet quod per alias virtutes infusas perficiatur anima circa alias res, in ordine tamen ad Deum. Ad tertium dicendum quod virtus illorum principiorum naturaliter   inditorum, non se extendit ultra proportionem naturae. Et ideo in ordine ad finem supernaturalem, indiget homo perfici per alia principia superaddita.

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Frage 63, Artikel 3

sowohl die intellektuellen als auch die moralischen, die wir durch unsere Handlungen erwerben, gehen aus gewissen natürlichen, in uns vorherbestehenden Prinzipien hervor, wie oben gesagt wurde.98 Anstelle dieser natürlichen Prinzipien werden uns von Gott die theologischen Tugenden übertragen, durch die wir auf das übernatürliche Ziel hingeordnet werden, wie oben gesagt wurde.99 Darum müssen diesen theologischen Tugenden auch andere, von Gott in uns verursachte Habitus entsprechen, die sich zu den theologischen Tugenden verhalten wie die moralischen und intellektuellen Tugenden zu den natürlichen Prinzipien der Tugenden. Zu 1. Dazu ist also zu sagen, dass einige moralische und intellektuelle Tugenden [zwar] in uns durch unsere Handlungen verursacht werden können, aber sie sind den theologischen Tugenden nicht gemäß. Es müssen deshalb andere, ihnen gemäße [Tugenden] unmittelbar von Gott verursacht werden. Zu 2. Dazu ist zu sagen, dass die theologischen Tugenden ausreichen, um uns im Sinne eines Anfangs auf das übernatürliche Ziel hinzuordnen, und zwar direkt auf Gott selbst. Es ist aber nötig, dass die Seele durch andere eingegossene Tugenden in Hinsicht auf die anderen Dinge vervollkommnet werde, immer aber in Hinordnung auf Gott. Zu 3. Dazu ist zu sagen, dass die Kraft jener Prinzipien, die in uns natürlich angelegt wurden, nicht über das Maß der Natur hinausgeht. Und deshalb muss der Mensch hinsichtlich des übernatürlichen Zieles durch andere hinzugegebene Prinzipien vervollkommnet werden.

98 99

Siehe oben, q. 63, a. 1; vgl. STh I–II, q. 51, a. 1. Siehe oben, q. 62, a. 1.

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Quaestio LXIII, articulus IV: Utrum virtus quam acquirimus ex operum assuetudine, sit eiusdem speciei cum virtute infusa

 

Ad quartum sic proceditur. Videtur quod virtutes infusae non sint   alterius speciei a virtutibus acquisitis. 1. Virtus enim acquisita et virtus infusa, secundum praedicta, non   videntur differre nisi secundum ordinem ad ultimum finem. Sed habitus et actus humani non recipiunt speciem ab ultimo fine, sed a proximo. Non ergo virtutes morales vel intellectuales infusae differunt specie ab acquisitis. 2. Praeterea, habitus per actus cognoscuntur. Sed idem est actus   temperantiae infusae, et acquisitae, scilicet moderari concupiscentias tactus. Ergo non differunt specie. 3. Praeterea, virtus acquisita et infusa differunt secundum illud quod   est immediate a Deo factum, et a creatura. Sed idem est specie homo quem Deus formavit, et quem generat natura; et oculus quem caeco nato dedit, et quem virtus formativa causat. Ergo videtur quod est eadem specie virtus acquisita, et infusa.

Sed contra, quaelibet differentia in definitione posita, mutata diversi-   ficat speciem. Sed in definitione virtutis infusae ponitur, quam Deus

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Frage 63, Artikel 4: Ist die Tugend, die wir durch Gewöhnung an Werke erwerben, von derselben Art wie die eingegossene Tugend?

Es scheint, dass die eingegossenen Tugenden nicht von anderer Art als die erworbenen sind. 1. Die erworbene Tugend und die eingegossene Tugend scheinen sich, dem vorher Gesagten gemäß, nur mit Bezug auf das letzte Ziel zu unterscheiden.100 Die menschlichen Habitus und Handlungen erhalten ihre Art aber nicht vom letzten, sondern vom nächsten Ziel.101 Also unterscheiden sich die moralischen und intellektuellen eingegossenen Tugenden der Art nach nicht von den erworbenen. 2. Außerdem: Habitus werden durch die Akte erkannt. Der Akt der eingegossenen Mäßigkeit ist aber derselbe wie der der erworbenen, nämlich die Begierden des Tastsinns zu mäßigen. Also unterscheiden sie sich der Art nach nicht. 3. Außerdem: Die erworbene und die eingegossene Tugend unterscheiden sich wie das, was unmittelbar von Gott geschaffen wurde, von dem, was von den Geschöpfen [gemacht ist]. Der Art nach ist es aber derselbe Mensch, den Gott gebildet hat und den die Natur zeugt, wie auch dasselbe Auge, das Er dem Blindgeborenen gab und das die formgebende Kraft [der Seele des Menschen] verursacht. Also scheint die erworbene Tugend der Art nach dieselbe zu sein wie die eingegossene. DAGEGEN: Jeder in eine Definition gesetzte Unterschied, der verändert wird, verändert die Art. In der Definition der eingegossenen Tugend steht aber: »die Gott in uns ohne uns bewirkt«, wie oben gesagt wurde.102 Also ist die erworbene Tugend, auf die ein solcher 100 101

Siehe oben, q. 63, a. 3. Vgl. dazu STh I–II, q. 18, aa. 6–7.

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Quaestio LXIII, articulus IV

in nobis sine nobis operatur, ut supra dictum est. Ergo virtus acquisita, cui hoc non convenit, non est eiusdem speciei cum infusa. Respondeo dicendum quod dupliciter habitus distinguuntur specie.   Uno modo, sicut praedictum est, secundum speciales et formales rationes obiectorum. Obiectum autem virtutis cuiuslibet est bonum consideratum in materia propria, sicut temperantiae obiectum est bonum delectabilium in concupiscentiis tactus. Cuius quidem obiecti formalis ratio est a ratione, quae instituit modum in his concupiscentiis, materiale autem est id quod est ex parte concupiscentiarum. Manifestum est autem quod alterius rationis est modus qui imponitur in huiusmodi concupiscentiis secundum regulam rationis humanae, et secundum regulam divinam. Puta in sumptione ciborum, ratione humana modus statuitur ut non noceat valetudini corporis, nec impediat rationis actum, secundum autem regulam legis divinae, requiritur quod homo castiget corpus suum, et in servitutem redigat, per abstinentiam cibi et potus, et aliorum huiusmodi. Unde manifestum est quod temperantia infusa et acquisita differunt specie, et eadem ratio est de aliis virtutibus.

Alio modo habitus distinguuntur specie secundum ea ad quae ordi-   nantur, non enim est eadem specie sanitas hominis et equi, propter diversas naturas ad quas ordinantur. Et eodem modo dicit philosophus, in III Polit., quod diversae sunt virtutes civium, secundum quod bene se habent ad diversas politias. Et per hunc etiam modum differunt specie virtutes morales infusae, per quas homines bene se habent in ordine ad hoc quod sint cives sanctorum et domestici Dei; et aliae virtutes acquisitae, secundum quas homo se bene habet in ordine ad res humanas.

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Frage 63, Artikel 4

Unterschied nicht zutrifft, nicht von derselben Art wie die eingegossene. ICH ANTWORTE, indem ich sage, dass sich die Habitus der Art nach auf zweierlei Weise unterscheiden: Einerseits gemäß den besonderen und formalen Gründen der Gegenstände, wie gesagt wurde.103 Der Gegenstand jeglicher Tugend ist aber das im eigenen Bereich betrachtete Gute, wie etwa der Gegenstand der Mäßigkeit das Gute des Genussbringenden in den Begierden des Tastsinns ist. Der formale Grund in diesem Gegenstand kommt von der Vernunft, die ein Maß für diese Begierden bestimmt, der materiale Grund jedoch ist das, was von Seiten der Begierden stammt. Es ist aber offensichtlich, dass das Maß, das für diese Begierden gemäß der Richtschnur der menschlichen Vernunft aufgestellt wird, ein anderes ist als das Maß gemäß der göttlichen Richtschnur. Bei der Nahrungsaufnahme wird z.ௗB. durch die menschliche Vernunft als Maß aufgestellt, dass sie der Gesundheit des Körpers nicht schade und die Tätigkeit der Vernunft nicht behindere; gemäß dem göttlichen Gesetz wird jedoch verlangt, dass der Mensch »seinen Leib züchtige und ihn sich gefügig mache« durch das Sich-Enthalten von Speisen, Getränken und anderen Dingen.104 Darum ist klar, dass sich die eingegossene Mäßigkeit und die erworbene der Art nach unterscheiden, und dasselbe gilt von den anderen Tugenden. Andererseits unterscheiden sich die Habitus der Art nach gemäß den Dingen, auf die sie hingeordnet sind; die Gesundheit des Menschen ist nämlich nicht von derselben Art wie die des Pferdes wegen der unterschiedlichen Naturen, auf die sie hingerodnet sind. In diesem Sinne sagt der Philosoph im III. Buch der Politik, dass die Tugenden der Bürger verschieden sind, je nachdem sie sich gut zu den verschiedenen Staatsformen verhalten.105 Und in derselben Weise unterscheiden sich der Art nach die eingegossenen moralischen Tugenden, durch die die Menschen sich gut in Hinordnung darauf verhalten, dass sie »Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes« sind,106

102 103 104 105 106

Siehe oben, q. 55, a. 4. Vgl. STh I–II, q. 54, a. 2; q. 56, a. 2; q. 60, a. 1. Vgl. 1 Kor 9,27. Vgl. Aristoteles, Pol. III 4, 1276 b 29–33. Vgl. Eph 2,19.

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Quaestio LXIII, articulus IV

Ad primum ergo dicendum quod virtus infusa et acquisita non solum   differunt secundum ordinem ad ultimum finem; sed etiam secundum ordinem ad propria obiecta, ut dictum est. Ad secundum dicendum quod alia ratione modificat concupiscentias   delectabilium tactus temperantia acquisita, et temperantia infusa, ut dictum est. Unde non habent eundem actum. Ad tertium dicendum quod oculum caeci nati Deus fecit ad eundem   actum ad quem formantur alii oculi secundum naturam, et ideo fuit eiusdem speciei. Et eadem ratio esset, si Deus vellet miraculose causare in homine virtutes quales acquiruntur ex actibus. Sed ita non est in proposito, ut dictum est.

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Frage 63, Artikel 4

von den anderen erworbenen Tugenden, durch die sich der Mensch gut in Hinordnung auf die menschlichen Angelegenheiten verhält. Zu 1. Dazu ist also zu sagen, dass sich die eingegossene und die erworbene Tugend nicht nur in der Hinordnung auf das letzte Ziel unterscheiden, sondern auch gemäß der Hinordnung auf die eigenen Gegenstände, wie [in der Antwort] gesagt wurde. Zu 2. Dazu ist zu sagen, dass die erworbene Mäßigkeit die Begierden des genussbringenden Tastsinns in anderer Hinsicht mäßigt als die eingegossene Mäßigkeit, wie [in der Antwort] gesagt wurde. Sie haben daher nicht denselben Akt. Zu 3. Dazu ist zu sagen, dass Gott das Auge des Blindgeborenen für denselben Akt gemacht hat, für den andere Augen gemäß der Natur gebildet werden, und deshalb war es von derselben Art. Dasselbe wäre es, wenn Gott durch ein Wunder im Menschen solche Tugenden verursachen wollte, wie sie durch Handlungen erworben werden. So ist es im vorliegenden Fall aber nicht, wie [in der Antwort] gesagt wurde.

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Meister Eckhart Lateinische Werke / Deutsche Predigten und Traktate (Auszüge)

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Prologus generalis in Opus tripartitum

 

n. 1 Prologus iste generalis, qui praemittitur, primo docet aucto-   ris intentionem, secundo operis distinctionem, tertio ordinem et modum in opere procedendi. Singulis tamen tribus operibus sua specialia prooemia praemittentur. n. 2 Auctoris intentio in hoc opere tripartito est satisfacere pro   posse studiosorum fratrum quorundam desideriis, qui iam dudum precibus importunis ipsum impellunt crebro et compellunt, ut ea quae ab ipso audire consueverunt, tum in lectionibus et aliis actibus scholasticis, tum in praedicationibus, tum in cottidianis collationibus, scripto commendet, praecipue quantum ad tria: videlicet quantum ad generales et sententiosas quasdam propositiones; item quantum ad diversarum quaestionum novas, breves et faciles declarationes; adhuc autem tertio quantum ad auctoritatum plurimarum sacri canonis utriusque testamenti raras expositiones, in his potissime quae se legisse alias non recolunt vel audisse, praesertim quia dulcius irritant animum nova et rara quam usitata, quamvis meliora fuerint et maiora. n. 3 Distinguitur igitur secundum hoc opus ipsum totale in tria princi-   paliter. Primum est opus generalium propositionum, secundum opus quaestionum, tertium opus expositionum. Opus autem primum, quia propositiones tenet mille et amplius, in tractatus quattuordecim distinguitur iuxta numerum terminorum, de quibus formantur propositiones. Et quia »opposita iuxta se posita magis elucescunt« et »oppositorum eadem est scientia«, quilibet praedictorum tractatuum

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Tugenden als transzendentale perfectiones spirituales Allgemeiner Prolog zum Dreigeteilten Werk

n. 1 Die hier vorangestellte allgemeine Vorrede belehrt erstens über die Absicht des Verfassers, zweitens über die Gliederung des Werkes, drittens über die Ordnung und das Verfahren in dem Werke. Den einzelnen drei Werken werden jedoch ihre besonderen Vorreden vorangestellt werden. n. 2 Der Verfasser beabsichtigt in diesem dreiteiligen Werke, nach Vermögen den Wünschen eifriger Mitbrüder zu genügen, die ihn schon lange mit inständigen Bitten oftmals angehen und drängen, das, was sie von ihm in Vorlesungen und anderen Schulübungen, wie auch in Predigten und täglichen Besprechungen zu hören gewohnt waren, schriftlich niederzulegen, vornehmlich in dreifacher Hinsicht, nämlich hinsichtlich gewisser allgemeiner und lehrsatzartiger Thesen, zweitens hinsichtlich neuer kurzer und leicht fasslicher Erklärungen verschiedener Probleme, ferner aber drittens hinsichtlich ungewöhnlicher Auslegungen zahlreicher Aussprüche der Hl. Schrift beider Testamente; besonders solcher, die sie ihrer Erinnerung nach sonst nicht gelesen oder gehört haben, weil Neues und Ungewöhnliches ja einen angenehmeren Reiz auf den Geist ausübt als Gewohntes, möge dies auch besser und bedeutender sein. n. 3 Demgemäß gliedert sich das Gesamtwerk also in drei Hauptwerke. Das erste ist das Werk der allgemeinen Thesen, das zweite das Werk der Probleme, das dritte das Werk der Auslegungen. Weil das erste Werk aber tausend und mehr Thesen enthält, gliedert es sich nach der Zahl der Begriffe, über welche die Thesen aufgestellt werden, in vierzehn Abhandlungen. Und weil »Gegensätze, wenn man sie nebeneinanderstellt, schärfer hervortreten«1, und weil sie 1

Vgl. Aristoteles, Cael. II 6, 289 a 7.

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Prologus generalis in Opus tripartitum

bipartitus est. Primo enim ponuntur propositiones de ipso termino, secundo ponuntur propositiones de eiusdem termini opposito. n. 4 Primus tractatus agit de esse et ente et eius opposito quod est nihil.

 

Secundus de unitate et uno et eius opposito quod est multum.   Tertius de veritate et vero et eius opposito quod est falsum.

 

Quartus de bonitate et bono et malo eius opposito.

 

Quintus de amore et caritate et peccato, eius opposito.

 

Sextus de honesto, virtute et recto et eorum oppositis, puta turpi, vitio, obliquo.

 

Septimus de toto et parte, eius opposito.

 

Octavus de communi et indistincto et horum oppositis, proprio   et distincto. Nonus de natura superioris et inferioris eius oppositi.

 

Decimus de primo et novissimo.

 

Undecimus de idea et ratione et horum oppositis, puta de informi et privatione.

 

Duodecimus vero de quo est et quod est ei condiviso.

 

Decimus tertius agit de ipso deo summo esse, quod »contra-   rium non habet nisi non esse«, ut ait Augustinus De immortalitate animae et De moribus Manichaeorum. Decimus quartus de substantia et accidente.

 

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Allgemeiner Prolog zum Dreigeteilten Werk

»Gegenstand ein- und desselben Wissens sind«2, ist jede der genannten Abhandlungen zweiteilig. Denn zuerst werden Thesen über den Begriff selbst, zweitens über seinen Gegensatz aufgestellt. n. 4 Die erste Abhandlung handelt vom Sein und vom Seienden und seinem Gegensatz, dem Nichts. Die zweite von der Einheit und dem Einen und seinem Gegensatz, dem Vielen. Die dritte von der Wahrheit und dem Wahren und seinem Gegensatz, dem Falschen. Die vierte von der Güte und dem Guten und dem Schlechten, seinem Gegensatz. Die fünfte von der Minne und der Liebe und der Sünde, ihrem Gegensatz. Die sechste vom sittlich Guten, von der Tugend und vom Geraden und deren Gegensatz, nämlich dem sittlich Schlechten, dem Laster und dem Ungeraden. Die siebente vom Ganzen und vom Teile, seinem Gegensatz. Die achte vom Gemeinsamen und Ununterschiedenen und seinem Gegensatz, dem Eigentümlichen und Unterschiedenen. Die neunte von der Natur des Oberen und des Niederen, seines Gegensatzes. Die zehnte vom Ersten und vom Letzten. Die elfte vom Urbild und von der Idee und ihrem Gegensatz, nämlich dem Ungeformten und der Beraubung. Die zwölfte von dem, wodurch etwas ist, und dem, was etwas ist, seinem Gegenstück. Die dreizehnte handelt von Gott selbst, dem höchsten Sein, »das keinen Gegensatz außer dem Nichtsein hat«, wie Augustin in den Schriften Von der Unsterblichkeit der Seele3 und Von der Religion der Manichäer4 sagt. Die vierzehnte von der Substanz und dem Akzidenz. 2 3 4

Vgl. Aristoteles, Top. I 14, 105 b 5. Augustinus, Immort. an., c. 12, n. 19, CSEL 89, 121. Augustinus, Mor. eccl. II, c. 1, n. 1, CSEL 90, 88.

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Prologus generalis in Opus tripartitum

n. 5 Opus autem secundum, quaestionum scilicet, distinguitur   secundum materiam quaestionum, de quibus agitur ordine quo ponuntur in Summa doctoris egregii venerabilis fratris Thomae de Aquino, quamvis non de omnibus sed paucis, prout se offerebat occasio disputandi, legendi et conferendi. n. 6 Opus vero tertium, scilicet expositionum, in duo dividitur. Quia   enim nonnullas auctoritates utriusque testamenti in sermonibus specialiter diffusius auctor pertractavit et exposuit, placuit ipsi alias seorsum exponere et hoc opus sermonum nominari. Adhuc autem opus expositionum subdividitur numero et ordine librorum veteris et novi testamenti, quorum auctoritates in ipso exponuntur.

n. 7 Et quamvis haec omnia pelagus quoddam scripturae videantur   requirere, duo tamen sunt quae brevitati, quantum licuit, deserviunt et opus succingunt. Primo, quia vix aliqua et rarissime alias habita hic ponuntur. Secundo, quia tam in opere quaestionum quam in opere expositionum intercise et de paucissimis respective hic tractatur. Quo etiam modo beatus Augustinus procedit in libris septem Quaestionum super primos septem libros veteris testamenti et in De 83 quaestionibus et Ad Orosium et nonnullis aliis libris suis.

Advertendum est autem quod nonnulla ex sequentibus propositioni-   bus, quaestionibus, expositionibus primo aspectu monstruosa, dubia aut falsa apparebunt, secus autem si sollerter et studiosius pertractentur. Luculenter enim invenietur dictis attestari veritas et auctoritas ipsius sacri canonis seu alicuius sanctorum aut doctorum famosorum.

n. 8 Ad evidentiam igitur dicendorum tria sunt praemittenda.   Primum est quod de terminis generalibus, puta esse, unitate, veritate, sapientia, bonitate et similibus nequaquam est imaginandum vel iudicandum secundum modum et naturam accidentium, quae accipiunt esse in subiecto et per subiectum et per ipsius transmutationem et sunt posteriora ipso et inhaerendo esse accipiunt. Propter quod

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Allgemeiner Prolog zum Dreigeteilten Werk

n. 5 Das zweite Werk aber, also das der Probleme, gliedert sich nach dem Gegenstand der Probleme, die in der gleichen Reihenfolge wie in der Summe des hervorragenden Lehrers, des ehrwürdigen Bruders Thomas von Aquin behandelt werden, jedoch nicht alle, sondern nur wenige, wie sie sich, je nach Gelegenheit, bei Disputationen, Vorlesungen und Besprechungen ergaben. n. 6 Das dritte Werk, nämlich das der Auslegungen, zerfällt in zwei Teile. Denn weil der Verfasser einige Aussprüche beider Testamente in Predigten mit besonderer Ausführlichkeit behandelt und ausgelegt hat, beschloss er, (auch) andere gesondert auszulegen und diesen (Teil) als Predigtwerk zu bezeichnen. Im übrigen aber gliedert sich das Werk der Auslegungen nach Zahl und Reihenfolge der Bücher des Alten und Neuen Testamentes, deren Aussprüche darin ausgelegt werden. n. 7 Und obwohl dies alles schier ein Meer von Büchern zu erfordern scheint, so sind es doch zwei Umstände, die der Kürze dienen, soweit es anging, und den Umfang des Werkes verringern. Erstens: nur das eine und andere und nur ganz selten anderswo Behandeltes wird hier aufgenommen. Zweitens: sowohl in dem Werk der Probleme, wie in dem Werk der Auslegungen handelt es sich nicht um eine fortlaufende Erörterung, sondern nur um Besprechung einiger weniger Punkte unter Bezugnahme auf andere Stellen. In dieser Weise verfährt auch der hl. Augustin in den sieben Büchern über Probleme des Heptateuch und in dem Buch Über 83 Fragen und An Orosius und einigen anderen seiner Bücher. Es ist aber zu beachten, dass einiges aus den folgenden Thesen, Problemen und Auslegungen beim ersten Anblick ungeheuerlich, zweifelhaft oder falsch erscheinen wird, anders aber verhält es sich, wenn man es mit Scharfsinn und größerer Hingebung durchdenkt. Dann wird man finden, dass die Wahrheit und das Gewicht der Hl. Schrift oder eines Heiligen oder berühmten Lehrers für das Gesagte hellleuchtendes Zeugnis ablegt. n. 8 Zum Verständnis der nachfolgenden Ausführungen ist also dreierlei vorauszuschicken. Das erste ist dies: Die Allgemeinbegriffe, zum Beispiel Sein, Einheit, Wahrheit, Weisheit, Güte und dergleichen darf man sich nicht vorstellen oder beurteilen nach der Seinsweise und Natur der Akzidentien. Denn diese empfangen ihr Sein in einem Träger und durch einen Träger und durch dessen Verände-

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Prologus generalis in Opus tripartitum

et numerum et divisionem accipiunt in ipso subiecto in tantum, ut subiectum cadat in diffinitione accidentium huiusmodi in ratione qua esse habent. Secus autem omnino se habet de praemissis generalibus. Non enim ipsum esse et quae cum ipso convertibiliter idem sunt, superveniunt rebus tamquam posteriora, sed sunt priora omnibus in rebus. Ipsum enim esse non accipit quod sit in aliquo nec ab aliquo nec per aliquid, nec advenit nec supervenit alicui, sed praevenit et prius est omnium.

Propter quod esse omnium est immediate a causa prima et a causa   universali omnium. Ab ipso igitur esse ›et per ipsum et in ipso sunt omnia‹, ipsum non ab alio. Quod enim aliud est ab esse, non est aut nihil est. Ipsum enim esse comparatur ad omnia sicut actus et perfectio et est ipsa actualitas omnium, etiam formarum. Propter quod Avicenna VIII Metaphysicae 6 c. ait: »id quod desiderat omnis res, est esse et perfectio esse, inquantum est esse«; et subdit: »id ergo quod vere desideratur, est esse«.

n. 9 Hinc est quod omnis res quamvis mobilis et transmutabilis   de consideratione est metaphysici, inquantum ens, etiam ipsa materia, radix rerum corruptibilium. Et iterum: esse rerum omnium, inquantum esse, mensuratur aeternitate, nequaquam tempore. Intellectus enim, cuius obiectum est ens et in quo secundum Avicennam ens cadit primo omnium, ab hic et nunc abstrahit et per consequens a tempore. Augustinus VII De trinitate c. 1 praedictis alludens dicit: »sapientia« »sapiens est et se ipsa sapiens est. Et« »quaecumque anima participatione sapientiae fit sapiens si rursum desipiat, manet tamen in se sapientia, nec cum fuerit anima in stultitiam commutata, illa mutatur. Non ita est in eo qui ex ea fit sapiens, quemadmodum candor in corpore quod ex illo candidum est.

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Allgemeiner Prolog zum Dreigeteilten Werk

rung, sind also (ihrer Natur nach) später als er und empfangen ihr Sein als Sein an etwas. Deshalb empfangen sie auch ihre Zahl und Einteilung nach dem (Verhältnis zum) Träger, in dem Maße, dass er in die Begriffsbestimmung derartiger Akzidentien eingeht, sofern sie Sein haben. Völlig anders aber verhält es sich mit den genannten Allgemeinbegriffen. Denn das Sein selbst und was mit ihm bis zur Vertauschbarkeit identisch ist, kommt nicht wie etwas Späteres zu den Dingen hinzu, sondern ist früher als alles andere in den Dingen. Denn das Sein selbst empfängt sein Sein nicht an etwas noch von etwas noch durch etwas noch kommt es (von außen) herbei noch zu etwas hinzu, sondern es geht voraus und ist früher als alles. Deshalb ist das Sein aller Dinge unmittelbar von der ersten Ursache und von der allumfassenden Ursache aller Dinge. Vom Sein also »und durch es und in ihm ist alles« (Röm 11,36), es selbst aber ist von nichts anderem. Denn was verschieden ist vom Sein, ist nicht oder ist nichts. Denn das Sein als solches verhält sich zu allem anderen wie dessen Verwirklichung und Vollendung, ja es ist die Wirklichkeit aller Dinge, auch der Formen. Deshalb sagt Avicenna im 6. Kapitel des 8. Buches seiner Metaphysik: »das, was jedes Ding verlangt, ist das Sein und die Vollkommenheit des Seins, insofern es Sein ist«5. Und er fügt hinzu: »das also, was wahrhaft verlangt wird, ist das Sein«6. n. 9 Daher unterliegt jedes Ding, mag es auch beweglich und veränderlich sein, als seiendes der Betrachtung des Philosophen, sogar die Materie, die Wurzel der vergänglichen Dinge. Ferner hat das Sein der Dinge als solches sein Maß an der Ewigkeit, keineswegs an der Zeit. Denn der Geist, dessen Gegenstand das Seiende ist und der dies nach Avicenna zuerst von allem erfasst,7 sieht vom Hier und Jetzt und folglich von der Zeit ab. Augustin, der im 1. Kapitel des 7. Buches Von der Dreifaltigkeit auf das Gesagte anspielt, sagt: »Die Weisheit ist weise und ist durch sich selbst weise. Und welche Seele immer durch Teilhabe an der Weisheit weise wird: wenn sie wieder unweise wird, bleibt doch die Weisheit in sich. Und wenn sich die Seele zur Torheit wandelt, wandelt sie sich nicht. Es verhält sich mit dem, der von ihr weise ist, nicht so wie mit der Weiße an einem Körper, der von ihr 5 6 7

Avicenna, Met. VIII 6 (100 ra 1–3), ed. Van Riet, 412. Avicenna, Met. VIII 6 (100 ra 4–5), ed. Van Riet, 412. Vgl. Avicenna, Met. I 2 (70 vb 37–39), ed. Van Riet, 13.

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Prologus generalis in Opus tripartitum

Cum enim corpus in alium colorem fuerit commutatum, non manebit candor ille atque omnino esse desinet«. n. 10 Secundo est praenotandum quod universaliter priora et super-   iora nihil prorsus accipiunt a posterioribus, sed nec ab aliquo afficiuntur quod sit in illis; sed e converso priora et superiora afficiunt inferiora et posteriora et in ipsa descendunt cum suis proprietatibus et ipsa sibi assimulant, utpote causa causatum et agens passum. De ratione enim primi et superioris, cum sit »dives per se«, est influere et afficere inferiora suis proprietatibus, inter quas est unitas et indivisio. Semper divisum inferius unum est et indivisum in superiori. Ex quo patet quod superius nullo modo dividitur in inferioribus, sed manens indivisum colligit et unit divisa in inferioribus.

Exemplum evidens praemissorum est in partibus animalis, in quibus   dividitur non anima, sed manens indivisa singulas partes in se unit, ut ipsarum sit una anima, una vita, unum esse et unum vivere, in tantum quod si caput hominis imaginaretur in polo arctico et pedes in polo antarctico, non plus distabit pes a capite quam a se ipso nec erit inferior capite quantum ad esse, vivere, animam et vitam. In uno enim nulla est distantia, nihil inferius altero, nulla prorsus distinctio figurae, ordinis aut actus.

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Allgemeiner Prolog zum Dreigeteilten Werk

weiß ist. Denn wenn der Körper in eine andere Farbe umgefärbt wird, bleibt jenes Weiß nicht, sondern hört gänzlich auf zu sein.«8 n. 10 Zweitens ist vorher zu bemerken, dass ganz allgemein das Frühere und Obere durchaus nichts von dem Späteren empfängt, ja sogar auch von nichts in ihm berührt wird. Sondern das Frühere und Obere berührt vielmehr das Niedere und Spätere und steigt mit seinen Eigentümlichkeiten in es herab und gleicht sich ௅ nämlich als Ursache und als Tätiges ௅ jenes als das Verursachte und das Leidende an. Denn im Wesen des Ersten und Oberen liegt es, da es »von Natur reich«9 ist, das Niedere mit seinen Eigentümlichkeiten zu beeinflussen und zu berühren, zwischen denen Einheit und Ungeteiltheit besteht. Immer ist das im Niederen Geteilte eins und ungeteilt im Oberen. Daraus erhellt, dass das Obere in keiner Weise im Niederen geteilt wird, sondern es bleibt ungeteilt und bindet und eint das im Niederen Geteilte. Ein anschauliches Beispiel für das Gesagte bieten die Teile eines Lebewesens: die Seele wird in ihnen nicht geteilt, sondern bleibt ungeteilt und eint die einzelnen Teile in sich, so dass sie eine Seele, ein Leben, ein Sein und ein Lebendigsein haben. Das ist so wahr, dass, wenn man sich das Haupt eines Menschen am Nord- und seine Füße am Südpol (des Himmels) dächte, der Fuß vom Haupt nicht weiter entfernt wäre als von sich selbst und hinsichtlich von Sein, Lebendigsein, Seele und Leben keinen niederen Platz als das Haupt einnähme. Denn wo Einheit ist, da gibt es keine Entfernung, da ist nichts niedriger als das andere, da ist durchaus kein Unterschied der Gestalt, des Ranges oder der Wirklichkeit.

8 9

Augustinus, Trin. VII, 1, 2, CCSL 50, 248. Liber de causis, prop. 20, § 162, ed. Pattin, 180.

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Prologus in opus propositionum

n. 1 Esse deus est. Incipit pars prima tripartiti operis, scilicet proposi-   tionum, cuius primus tractatus est de esse et de ente et de eius opposito, quod est nihil. Ad evidentiam igitur dicendorum in hoc tractatu et pluribus sequentibus quaedam prooemialiter sunt praenotanda.

n. 2 Primum est quod, sicut »album solam qualitatem significat«,   ut ait philosophus, sic ens solum esse significat. Similiter autem se habet et in aliis, puta quod unum solam unitatem significat, verum veritatem, bonum bonitatem, honestum honestatem, rectum rectitudinem, iustum iustitiam et sic de aliis et horum oppositis, puta malum solam malitiam, falsum solam falsitatem, obliquum obliquitatem, iniustum iniustitiam et sic de aliis.

n. 3 Secundo praenotandum est quod aliter sentiendum est de ente   et aliter de ente hoc et hoc. Similiter autem de esse absolute et simpliciter nullo addito, et aliter de esse huius et huius. Similiter etiam de aliis, puta de bono absolute et aliter de bono hoc et hoc aut de bono huius et bono huic. Cum igitur dico aliquid esse, aut unum, verum seu bonum praedico, et in praedicato cadunt tamquam secundum adiacens praemissa quattuor et formaliter accipiuntur et substantive. Cum vero dico aliquid esse hoc, puta lapidem, et esse unum lapidem, verum lapidem aut bonum hoc, scilicet lapidem, praemissa quattuor accipiuntur ut tertium adiacens propositionis nec sunt praedicata, sed copula vel adiacens praedicati.

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Prolog zum Thesenwerk

n. 1 Das Sein ist Gott. Hier beginnt der erste Teil des dreiteiligen Werks, nämlich das Werk der Thesen, dessen erste Abhandlung das Sein und das Seiende und seinen Gegensatz, das Nichts, zum Gegenstand hat. Zum Verständnis der Ausführungen in dieser und in mehreren folgenden Abhandlungen ist darum einleitend einiges vorauszuschicken. n. 2 Erstens, wie nach dem Philosophen »weiß allein die Qualität bezeichnet«10, so bezeichnet seiend allein das Sein. Entsprechendes gilt auch bei anderem. Eines bezeichnet zum Beispiel allein die Einheit, wahr die Wahrheit, gut ௅ im ontologischen wie im sittlichen Sinne ௅ die (entsprechende) Gutheit, gerade die Geradheit, gerecht die Gerechtigkeit und so weiter; ebenso bei dem Entgegengesetzten: schlecht bezeichnet allein die Schlechtigkeit, falsch allein die Falschheit, ungerade die Ungeradheit, ungerecht die Ungerechtigkeit und so weiter. n. 3 Zweite Vorbemerkung. Man muss anders urteilen über das Seiende (als solches) als über dieses und jenes Seiende. Desgleichen anders über das Sein an sich und schlechthin ohne nähere Bestimmung als über das Sein dieses oder jenes (Seienden). Dasselbe gilt von den übrigen allgemeinsten Bestimmungen. Man muss zum Beispiel über das Gute an sich anders urteilen als über dieses und jenes Gute oder das, was diesem da oder für dieses da gut ist. Wenn ich also von etwas aussage, dass es ist oder dass es eines, wahr oder gut ist, so sind diese vier Bestimmungen als zweites Satzglied Satzaussage und werden in ihrem eigentlichen Sinne und als Hauptwörter genommen. Sage ich aber: etwas ist dieses, etwa der Stein da, es ist ein Stein, ein wahrer Stein, oder dieses Gute, nämlich der Stein da, dann bilden diese vier Bestimmungen das dritte Glied des Satzes und sind nicht

10

Aristoteles, Cat. 5, 3 b 19.

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Prologus in opus propositionum

n. 4 Notandum ergo prooemialiter primo quod solus deus proprie   est ens, unum, verum et bonum. Secundo quod ab ipso omnia sunt, unum sunt, vera sunt et bona sunt. Tertio quod ab ipso immediate omnia habent quod sunt, quod unum sunt, quod vera sunt, quod bona sunt. Quarto: cum dico hoc ens aut unum hoc aut unum istud, verum hoc et istud, li hoc et istud nihil prorsus addunt seu adiciunt entitatis, unitatis, veritatis aut bonitatis super ens, unum, verum, bonum.

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Prolog zum Thesenwerk

das (eigentlich) Ausgesagte, sondern entweder Kopula oder nähere Bestimmung zum Ausgesagten. n. 4 Einleitend ist also zu bemerken: erstens, dass Gott allein im eigentlichen Sinne Seiendes, Eines, Wahres und Gutes ist; zweitens, dass von ihm alles Sein, Einheit, Wahrheit und Gutheit hat; drittens, dass alles von ihm unmittelbar hat, dass es ist, dass es eines, wahr und gut ist. Viertens, wenn ich sage: dieses Seiende oder dies und das Eine oder dies und das Wahre, so fügen oder legen ›dies‹ und ›das‹ nichts weiter an Seinsgehalt, Einheit, Wahrheit oder Gutheit zum Seienden, Einen, Wahren und Guten hinzu.

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Expositio libri Sapientiae

 

n. 41 Iustitia enim perpetua est et immortalis. Notandum quod haec   propositio simpliciter vera est de omni iustitia universaliter, sicut sonat. Sciendum enim quod omnino aliter ¢se habet² et opposito modo de accidentibus corporalibus, puta albedine, sapore et huiusmodi, et aliter de perfectionibus spiritualibus. Corporalia enim corrumpuntur et desinunt esse corruptis subiectis. Et est ratio, quia accipiunt esse et unum esse, per consequens autem divisum esse et numerum, ut dictum est supra de partibus universi, a subiecto, per subiectum et in subiecto, et per consequens sunt posteriora subiectis.

Spirituales autem perfectiones per eandem rationem iam dictam   omnino se habent opposito modo. Ipsae enim in nullo prorsus accipiunt esse a subiectis, et per consequens nec divisionem nec numerum nec desitionem. »Omnis enim res, per quascumque causas nascitur, per easdem dissolvitur«, ut ait Chrysostomus, et »nihil tam naturale«, ut ait iurisperitus. E converso autem huiusmodi perfectiones, puta iustitia, sapientia et similia, in nullo penitus accipiunt quidquam sui a subiecto, sed potius dant subiecto totum suum esse in quantum huiusmodi, ut patet in ipsa iustitia et iusto. Propter hoc huiusmodi sunt priora suis subiectis et anteriora subiectis nec sunt proprie in subiectis nec accipiunt esse in subiectis proprie, sed e converso subiecta sunt in ipsis, Eph. 3: ›in caritate radicati et

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Tugendhabitus als überformende Gleichgestaltungen mit der Gerechtigkeit Kommentar zum Buch der Weisheit

n. 41 Die Gerechtigkeit ist ja immerwährend und unsterblich. Es ist zu bemerken: dieser Satz trifft für alle Gerechtigkeit überhaupt schlechthin zu, so wie sein Wortlaut es besagt. Man muss nämlich wissen, dass es sich völlig anders, ja entgegengesetzt mit den körperlichen Bestimmtheiten, wie zum Beispiel dem Weißsein, dem Geschmack und dergleichen, verhält und anders mit den geistigen Vollkommenheiten. Denn die körperlichen (Bestimmtheiten) gehen zugrunde und hören auf zu sein, wenn ihre Träger zugrunde gehen. Der Grund dafür ist der: sie empfangen Sein und Einssein, folglich aber auch Geteiltsein und Zahl von ihrem Träger, durch ihn und in ihm, und sind folglich (ihrer Natur nach) später als ihre Träger. (Das entspricht dem) was vorher über das Verhältnis der Teile zum Weltall gesagt worden ist. Mit den geistigen Vollkommenheiten aber verhält es sich aus demselben eben genannten Grund ganz entgegengesetzt. Sie empfangen nämlich durchaus nicht irgendwie ihr Sein von ihren Trägern und werden infolgedessen auch nicht mit ihnen geteilt oder gezählt noch hören sie mit ihnen auf zu sein. »Alles wird ja durch dieselben Ursachen wieder aufgehoben, durch die es entsteht«11, wie Chrysostomus sagt, und »nichts ist so natürlich«12, wie ein Rechtsgelehrter dazu bemerkt. Vielmehr geben umgekehrt diese Vollkommenheiten, wie Gerechtigkeit, Weisheit und dergleichen, da sie durchaus nicht irgendwie etwas des Ihrigen von ihren Trägern empfangen, dem Träger sein ganzes Sein als solches, wie es das Verhältnis der Gerechtigkeit zum Gerechten klar zeigt. Daher sind sie früher als ihre Träger und ihnen voraus und sind nicht eigentlich an den Trägern 11

Pseudo-Johannes Chrysostomus, Op. imperf. in Matth., hom. 32, PG 56, 802.

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Expositio libri Sapientiae

fundati‹, et accipiunt esse, in quantum huiusmodi, in illis tamquam in prioribus.

n. 42 Exempli gratia: iustus ut sic totum suum esse accipit ab ipsa   iustitia, ita ut iustitia vere sit parens et pater iusti et iustus ut sic vere sit proles genita et filius iustitiae, sicut notavi super illo: ›ex quo omnis paternitas in caelo et in terra‹, Eph. 3. Adhuc autem exemplum manifestum est in corpore et anima. Dicimus enim usualiter animam esse in corpore, cum tamen secundum veritatem potius corpus sit in anima et ipsa det esse corpori. Propter quod corrupto ipso corpore hominis non corrumpitur anima, prout non est immersa materiae. Semper enim corruptis primis sive prioribus causalibus corrumpuntur posteriora et causata, non e converso. Et hoc est quod hic dicitur: iustitia perpetua est et immortalis.

n. 43 Quod autem dicitur et creditur ab imperitis iustitiam, sapien-   tiam et huiusmodi mori cum iusto et sapiente, ex ignorantia est eorum, qui spiritualia iudicant secundum corporalia, cum semper etiam in natura e converso sit, ut spiritualia sint iudex corporalium. Propter quod signanter infra tertio dicitur: ›iustorum animae in manu dei sunt, et non tanget illos tormentum mortis‹; et sequitur: ›visi sunt oculis insipientium mori‹. Praemissis manifeste consonat quod docet Augustinus VIII De trinitate c. 2, ubi sic dicit: cum »fit bonus animus, nisi se ad aliquid convertat quod ipse non est, non potest hoc assequi. Quo se autem convertat, ut fiat bonus animus, nisi ad bonum, cum hoc amat et appetit et adipiscitur? Unde se si rursus avertat fiatque non bonus hoc ipso quod se avertit a bono, nisi maneat in se illud bonum unde se avertit, non est quo se iterum, si voluerit emendare, convertat«. Et hoc est quod Is. 30 dicitur: ›exspectat vos dominus, ut misereatur vestri‹, sicut planius et plenius ibidem notavi. Infra septimo: ›inexstinguibile est lumen illius‹. Vide ibidem.

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Kommentar zum Buch der Weisheit

noch empfangen sie eigentlich ein Sein von ihnen, vielmehr sind die Träger in ihnen ௅ (wie es heißt:) »in der Liebe verwurzelt und gegründet« (Eph 3,17) ௅ und empfangen ihr Sein als solches in jenen (Vollkommenheiten), weil diese (ihrer Natur nach) früher sind. n. 42 Zum Beispiel empfängt der Gerechte als solcher sein ganzes Sein von der Gerechtigkeit, so dass die Gerechtigkeit in Wahrheit Erzeuger und Vater des Gerechten und der Gerechte als solcher gezeugtes Kind und Sohn der Gerechtigkeit ist, wie ich zu dem Wort bemerkt habe: »von ihm ist alle Vaterschaft im Himmel und auf Erden« (Eph 3,15). Ein anderes offenkundiges Beispiel bieten uns Leib und Seele. Gewöhnlich sagen wir, die Seele sei im Leib, während doch in Wahrheit der Leib vielmehr in der Seele ist und diese dem Leib das Sein gibt. Wird also der Leib eines Menschen zerstört, so doch nicht die Seele, insofern sie nämlich nicht der Materie verhaftet ist. Denn immer vergeht das Spätere und Verursachte, wenn das verursachende Erste oder Frühere vergeht, nicht umgekehrt. Das ist aber der Sinn des Wortes: die Gerechtigkeit ist immerwährend und unsterblich. n. 43 Dass aber Unerfahrene sagen und glauben, die Gerechtigkeit, Weisheit und dergleichen (Vollkommenheiten) stürben mit dem Gerechten und dem Weisen, kommt von der Unwissenheit derer her, die das Körperliche zum Maßstab des Geistigen machen, während es doch umgekehrt auch in der Natur immer so ist, dass das Geistige der Maßstab für das Körperliche ist. Deshalb heißt es bezeichnenderweise weiter unten: »die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand; des Todes Pein wird sie nicht berühren«; es folgt: »in den Augen der Toren waren sie Sterbende« (3,1.2). Mit dem Gesagten stimmt offenkundig überein, was Augustin im 2. [recte: 3.] Kapitel des 8. Buches Von der Dreifaltigkeit lehrt, wo er so sagt: »wird eine Seele gut, so kann sie dies nur erreichen, wenn sie sich zu etwas wendet, was sie nicht selbst ist. Wohin aber soll sie sich wenden, um eine gute Seele zu werden, wenn nicht zu dem Guten (schlechthin), indem sie dieses liebt, erstrebt und zu erlangen sucht? Wenn sie sich davon wieder abwendet und eben dadurch nicht gut wird, dass sie sich von dem Guten abwendet, dann gibt es nichts, zu dem sie sich wieder, wenn sie umkehren will, hinwenden könnte, hätte jenes Gut, von dem sie

12

Ulpianus, Digesta L 17, c. 35 (zitiert nach der Glossa ordinaria in Decretales).

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Expositio libri Sapientiae

n. 44 Rursus ad evidentiam praemissorum notandum quod non est   imaginandum, sicut plerique tardiores aestimant, quasi iustitia sit alia in pluribus iustis, divisa et numerata, fixa et radicem habens in ipsis iustis, sicut se habet – et iam dictum est – de accidentibus corporalibus. Sed potius omnes iusti iusti sunt ab una numero iustitia, numero tamen sine numero et una sine unitate vel proprius loquendo una super unitatem. Quapropter omnes iusti, in quantum iusti, unum sunt, sicut manifeste docet salvator Ioh. 17. Et hoc est quod dicit Augustinus III Confessionum: iustitia »ubique et semper« est, »non alibi alia nec alias aliter, secundum quam iusti« sunt »omnes«. Et infra: »numquid iustitia varia est et mutabilis? Sed tempora quibus praesidet non pariter eunt: tempora enim sunt«.

Et infra ponit exemplum satis conveniens in arte canendi. Si enim   alia et alia iustitia plures iusti essent iusti, aequivoce essent iusti, aut iustitia se haberet ad iustos univoce. Nunc autem se habet analogice, exemplariter et per prius, nec cadit sub numero sicut nec sub tempore. Et hoc est quid generale omnibus spiritualibus, divinis, secundum illud Psalmi: ›sapientiae eius non est numerus‹, sicut ibidem notavi. ›Omnis enim sapientia a domino deo est‹, Eccli. 1. Hinc est quod Avicenna in Metaphysica sua dicit iustitiam et virtutem esse a datore formarum, accidentia vero corporalia dicit esse per actionem qualitatum activarum corporis alterantis.

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Kommentar zum Buch der Weisheit

sich abwandte, nicht in sich Bestand.«13 Das besagt das Wort: »der Herr wartet auf euch, um sich eurer zu erbarmen« (Jes 30,18), wie ich ausführlicher und vollständiger zu dieser Stelle bemerkt habe; (und:) »unauslöschlich ist ihr Licht« (7,10). Sieh dort nach. n. 44 Zur Erhellung des Gesagten ist ferner zu bemerken: man darf es sich nicht so vorstellen, wie viele Schwerfällige meinen, als ob die Gerechtigkeit eine je andere sei in mehreren Gerechten, geteilt und gezählt und festverwurzelt in den Gerechten selbst, wie es sich ௅ vergleiche oben ௅ mit den körperlichen Bestimmtheiten verhält. Vielmehr sind alle Gerechten von der der Zahl nach einen Gerechtigkeit gerecht; diese ›Zahl‹ ist aber ohne Zahl, und diese ›eine‹ ohne (zahlenmäßige) Einheit oder, richtiger gesagt, über der Einheit. Daher sind alle Gerechten als Gerechte eines (in Gott), wie der Heiland offenkundig lehrt (vgl. Joh 17,11.21௅23). Das sagt Augustin im 3. Buch der Bekenntnisse: die Gerechtigkeit ist »überall und immer« (dieselbe), »nicht anderswo eine andere noch ein andermal anders. Sie macht alle (Gerechten) gerecht«.14 Und weiter unten: »ist etwa die Gerechtigkeit verschieden und veränderlich? Nur die Zeiten, über die sie herrscht, sind nicht von der gleichen Art: es sind ja Zeiten«.15 Dann bringt er das treffende Beispiel von der Verskunst. Wären nämlich mehrere Gerechte durch eine je andere Gerechtigkeit gerecht, so bestände entweder zwischen ihnen nur eine Namensgleichheit, oder die Gerechtigkeit verhielte sich zu den Gerechten (wie eine) gleichartige Ursache. Nun aber verhält sie sich zu ihnen wie eine analoge Ursache, wie das Urbild (zum Abgebildeten) und das Frühere (zum Späteren) und fällt (damit) nicht unter die Zahl wie auch nicht unter die Zeit. Und das ist etwas allen geistigen und göttlichen Vollkommenheiten Gemeinsames, nach dem Wort: »seine Weisheit hat keine Zahl« (Ps 146,5), wie ich zu dieser Stelle bemerkt habe. »Denn alle Weisheit ist von Gott dem Herrn« (Sir 1,1). Darum sagt Avicenna in seiner Metaphysik, Gerechtigkeit und Tugend seien von dem Geber der Formen, von den körperlichen Bestimmtheiten

13 14 15

Augustinus, Trin. VIII, 3, 4, CCSL 50, 273. Augustinus, Conf. III, 7, 13, CSEL 33, 54,14. Augustinus, Conf. III, 7, 13, CSEL 33, 55,14–16.

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Expositio libri Sapientiae

 

 

n. 45 Nec tamen hoc dicendo, quod supra praemisimus, negamus   habitus virtutum esse in virtuosis, sed hoc dicimus quod sunt quaedam conformationes et configurationes ad iustitiam et ad ipsum deum, a quo sunt et cui configurant et conformant, secundum illud Cor. 3: ›in eandem imaginem transformamur‹ ›tamquam a domini spiritu‹; et Hebr. 1 de primo iusto, filio dei, dicitur quod est ›splendor gloriae et figura substantiae eius‹. ›Splendor‹, inquit, ›gloriae‹. Et hoc est quod volumus dicere. Virtutes enim, iustitia et huiusmodi, sunt potius quaedam actu configurationes quam quid figuratum immanens et habens fixionem et radicem in virtuoso et sunt in continuo fieri, sicut splendor in medio et imago in speculo. Propter quod flores dicuntur. Eccli. 24: ›flores mei fructus‹. Virtutes secundum Ambrosium fructus sunt, et hi fructus flores sunt. Ad praemissa facit quod, sicut dictum est super illo: ›flores mei fructus‹, in divinis filius semper nascitur; et iterum quod in ipso Christo homine non est aliud esse praeter esse divinum quo est filius dei.

n. 55 Nota quod boni eo quod sunt et computati sunt, etiam ›filii dei‹   sunt, mali e converso, quia nec sunt nec computati sunt, ›filii diaboli‹ sunt. ›Quod enim natum est ex carne, caro est, et quod natum est ex spiritu, spiritus est‹, Ioh. 3. »Deus autem est«, Exodi 3: ›qui est misit me‹. Diabolus vero non est, in quantum malus est, Iob. 18: ›socii eius qui non est‹. Constat ergo: cum generetur simile ex simili, proles a parente, boni eo quod sunt, geniti sunt et filii sunt ipsius esse. Deus autem est esse. Et hoc est quod hic dicitur: computati sunt inter filios dei. Igitur per oppositum: mali quia non sunt, geniti sunt et filii ›eius, qui non est‹, id est diaboli, Ioh. 8: ›vos ex patre diabolo estis‹. Hinc est quod vulgariter et usitate malo et malum facienti dicitur: ›diabole‹.

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aber sagt er, sie verdankten ihr Sein der Wirksamkeit der aktiven Eigenschaften des Körpers, der die Veränderung herbeiführt.16 n. 45 Mit den vorstehenden Ausführungen leugnen wir jedoch nicht, dass es in den Tugendhaften Tugend-Habitus gebe, wir sagen vielmehr dies, dass sie so etwas wie Gleichbildungen und Gleichgestaltungen mit der Gerechtigkeit und mit Gott selbst sind, von dem sie stammen und dem sie (uns) gleichbilden und gleichgestalten, nach dem Wort: »wir werden in dasselbe Bild verwandelt wie vom Geist des Herrn« (2 Kor 3,18); und vom ersten Gerechten, dem Sohn Gottes, wird gesagt, er sei der »Glanz seiner Herrlichkeit und die Gestalt seines Wesens« (Hebr 1,3). (Der Apostel) sagt: ›Glanz seiner Herrlichkeit‹. Das ist es, was wir sagen wollen: die Tugenden, Gerechtigkeit und dergleichen, sind nämlich viel eher so etwas wie sich (je und je) vollziehende Gleichgestaltungen als etwas eingeprägt Innebleibendes, was im Tugendhaften fest verwurzelten Bestand hätte; sie sind in einem beständigen Werden, wie der (Licht-)Glanz im Mittel und das Bild im Spiegel. Darum werden sie Blüten genannt: »Blüten sind meine Früchte« (Sir 24,23). Nach Ambrosius sind die Tugenden Früchte, und diese Früchte sind Blüten.17 Zum Gesagten passt gut, wie zu dem Wort: »meine Blüten sind Früchte« schon erklärt wurde, dass in Gott der Sohn immer geboren wird; und ferner, dass in Christus als Mensch kein anderes Sein ist außer dem göttlichen Sein, wodurch er der Sohn Gottes ist. n. 55 Merke: die Guten sind dadurch, dass sie sind und gerechnet sind, auch »Söhne Gottes«, die Bösen dagegen sind »Söhne des Teufels« (1 Joh 3,10), weil sie nicht sind und nicht gerechnet sind. Denn »was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist« (Joh 3,6). »Gott aber ist«: »der da ist, hat mich gesandt« (Ex 3,14). Der Teufel aber ist nicht, insofern er böse ist, (wie die Rede ist von den) »Genossen dessen, der nicht ist« (Ijob 18,15). Es steht also fest: da Gleiches von Gleichem, der Sprössling vom Vater gezeugt wird, so sind die Guten dadurch, dass sie sind, Gezeugte und Söhne des Seins. Gott ist aber das Sein. Das besagt das Wort: Sie sind unter die Söhne Gottes gerechnet. Also folgt für den Gegensatz: weil die Bösen nicht sind, sind sie Gezeugte und Söhne 16 Avicenna, Met. IX 2 (103 ra 35–42); ebd. IX 5 (105 va 53–57), ed. Van Riet, 456. 490f. 17 Vgl. Pseudo-Ambrosius, Comm. in Ep. Gal., c. 5, 22, CSEL 81/3, 60.

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Sic ergo peccatores nec sunt nec computati sunt et filii diaboli et nihil sunt, Psalmus: ›ad nihilum deductus est in conspectu eius malignus‹.

Et Augustinus super illo: ›sine ipso factum est nihil‹, Ioh. 1: nihil   enim, id est peccatum. Ad praemissa facit Origenes qui ait in glossa super Ier. 11: »totiens ex diabolo nascimur, quotiens peccamus. Infelix ille qui semper a diabolo generatur. Ille vero felix est qui ¢semper² a deo nascitur; non enim dicam semel iustum ex deo natum, sed per singula virtutis opera semper ex deo nascitur«. Verba sunt Origenis, secundum illud Ioh. 3: ›qui facit peccatum, ex diabolo est‹. Peccator igitur filius diaboli est, nihil est.

n. 74 Clara est et quae nunquam marcescit sapientia. Notandum   breviter quod, quia perfectiones spirituales, puta sapientia, iustitia et huiusmodi, non accipiunt esse a subiectis, sed habent causam extra efficienter et dant esse formaliter ipsis subiectis suis, proprie non accedunt nec accidunt per consequens subiectis, sed potius e converso subiecta formantur et informantur accedendo ad perfectiones huiusmodi, secundum illud Psalmi: ›accedite ad eum, et illuminamini‹; et iterum: ›appropinquate deo, et appropinquabit vobis‹, Iac. 4, et similia.

Propter hoc huiusmodi perfectiones non permiscentur suis subiectis   nec per consequens corrumpuntur nec senescunt nec mutantur corruptis aut senescentibus subiectis suis, secundum illud philosophi De anima: »si acciperet senex oculum iuvenis, videret ut iuvenis«. Et hoc est quod hic dicitur: clara est et quae nunquam marcescit sapientia. Et infra octavo capitulo: ›nihil inquinatum in illam incurrit; candor est enim lucis aeternae et speculum sine macula‹, et multa similia frequenter in scriptura. Secus autem per omnia se habet in

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›dessen, der nicht ist‹, das heißt des Teufels: »ihr habt den Teufel zum Vater« (Joh 8,44). Daher ist es beim Volk beliebt, einem schlechten Menschen und Bösewicht zuzurufen: du Teufel! Die Sünder sind also nicht und sind nicht gerechnet, sie sind Söhne des Teufels und sind nichts: »zum Nichts ist geworden der Böse vor seinen Augen« (Ps 14,4). Augustin sagt zu dem Wort: »ohne ihn ward nichts« (Joh 1,3): nichts, das heißt die Sünde.18 Zu dem Gesagten trägt Origenes bei, der in einer Glosse zu Jeremias (11,9) sagt: »wir werden ebenso oft aus dem Teufel geboren, wie wir sündigen. Unselig, wer vom Teufel immer geboren wird. Glückselig aber, wer aus Gott immer geboren wird. Denn ich möchte nicht sagen, der Gerechte sei aus Gott nur einmal geboren worden, vielmehr wird er durch jedes einzelne Tugendwerk immer aus Gott geboren«.19 So Origenes, entsprechend dem Wort: »wer Sünde tut, ist aus dem Teufel« (1 Joh 3,8). Der Sünder ist also ein Sohn des Teufels und ist (damit) nichts. n. 74 Hell ist und niemals welkt die Weisheit. Hierzu ist kurz folgendes zu bemerken: weil die geistigen Vollkommenheiten, wie Weisheit, Gerechtigkeit und dergleichen, Sein nicht von ihren Trägern empfangen, sondern von außen her wie durch eine Wirkursache bewirkt werden und (sie es sind, die) ihren Trägern Sein nach Art einer Form verleihen, so treten sie im eigentlichen Sinn nicht zu den Trägern hinzu und sind folglich keine Akzidenzien, vielmehr werden umgekehrt die Träger durch ihr Hinzutreten zu Vollkommenheiten dieser Art geformt und überformt, nach dem Wort: »tretet zu ihm, und ihr werdet erleuchtet« (Ps 33,6) und ferner: »nahet euch Gott, und er wird sich euch nahen« (Jak 4,8) und ähnlichen Worten. Deshalb vermischen sich solche Vollkommenheiten nicht mit ihren Trägern und vergehen folglich nicht, wenn diese vergehen, noch altern sie oder verwandeln sich, wenn diese altern, nach dem Wort des Philosophen im Buch von der Seele: »empfinge ein Greis das Auge eines Jünglings, so sähe er wie ein Jüngling«20. Das ist der Sinn des Wortes: hell ist und niemals welkt die Weisheit. Und weiter unten heißt es: »nichts Beflecktes hat Zugang zu ihr; denn sie ist der Glanz des ewigen Lichtes und ein Spiegel ohne Flecken« (7,25f). Ähnliche Worte finden sich oft in der Schrift. Ganz anders aber verhält es 18 19

Augustinus, In Ioh. tract., tract. 1, n. 13, CCSL 36, 7. Origenes, Hom. in Ier. 9, GCS 6, 70.

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formis et perfectionibus materialibus, sicut supra dictum est capitulo primo: ›iustitia perpetua est et immortalis‹. n. 100 Tertio li pariter descendit a verbo pario, paris, cum dicitur:   venerunt mihi omnia bona pariter cum illa. Sciendum ergo quod ea, quae ignis sunt, nulli veniunt nec obveniunt nec conveniunt – venerunt, inquit, mihi – nisi habenti formam et esse ignis. Accepta vero forma ignis pariter veniunt omnia quae ignis sunt. Forma autem ignis et esse ipsius sunt per generationem; terminus enim generationis est esse et forma generantis sive parientis et parturientis. Genitum autem et partum proles est et filius. ›Quod si filius, et heres‹, heres, inquam, omnium quae pariens sive pater parens habet, Ioh. 3: ›pater‹ ›omnia dedit‹ filio. Rom. 8 dicitur de filio: ›omnia cum illo nobis donavit‹.

Sic enim videmus de igne. Nunquam omnia sua nec perfecte com-   municat nisi illi quod accipit formam et esse ignis per partum et generationem post omnem motum et alterationem. Propter quod alteratio est via, imperfectum et dissimile, et quasi cum murmure resistentiae et contrarietatis, ad formam et esse ignis. Accepta vero forma et esse ignis, fixa iam et immanente forma ignis parientis, iam in quiete et in silentio, utpote iure hereditario, habet et operatur omnia quae ignis sunt. Et hoc est quod Ioh. 14 dicitur: ›pater in me manens, ipse facit opera‹. Pater enim, ignis generans, est quidem in alteratione et in alterato, sed non est ibi manens, sed in transitu et hospes nec haeret; propter quod nec est heres nec filius ignis. In igne autem genito et parto manet et haeret, et ibi operatur non iam opera igniti sed opera ignis. ›Pater‹, inquit, ›in me manens, ipse facit opera‹.

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sich mit den materiellen Formen und Vollkommenheiten, wie bereits oben (zu dem Wort): »die Gerechtigkeit ist immerwährend und unsterblich« (1,15) ausgeführt wurde. n. 100 Drittens wird pariter abgeleitet vom Tätigkeitswort pario, paris, wenn es heißt: es kam mit ihr aufgrund der Erzeugung alles Gute zu mir. Denn man muss wissen: was zum Feuer gehört, kommt nur zu dem, was Form und Sein des Feuers hat, nur ihm kommt es entgegen, nur mit ihm kommt es zusammen. Es kam zu mir, sagt ja der Weise. Hat (das Holz) aber die Form des Feuers empfangen, so kommt damit zugleich alles, was zum Feuer gehört. Form und Sein des Feuers aber kommen (dem Holz) durch Erzeugung zu. Denn Zielpunkt der Erzeugung ist das Sein und die Form des Erzeugenden oder Hervorbringenden oder Gebärenden (im Erzeugten). Das Gezeugte und Geborene aber ist Spross und Sohn. »Wenn Sohn, dann auch Erbe« (Gal 4,7), Erbe nämlich alles dessen, was der Zeugende oder der Vater hat: »der Vater hat alles dem Sohn gegeben« (Joh 3,35). Vom Sohn heißt es: »mit ihm hat er uns alles geschenkt« (Röm 8,32). So sehen wir es ja beim Feuer. Alles, was ihm zugehört, teilt es immer nur dem vollständig mit, was nach aller Bewegung und Veränderung durch Geburt und Erzeugung die Form und das Sein des Feuers empfängt. Deshalb ist die Veränderung der Weg zu der Form und dem Sein des Feuers, sie ist etwas Unvollkommenes und Unähnliches und (geschieht) gleichsam unter dem Murren des Widerstandes und der Gegensätzlichkeit. Hat (das Holz) aber Form und Sein des Feuers empfangen, ist die Form des erzeugenden Feuers (in ihm) bereits festbegründet und innebleibend, dann hat es in Ruhe und Stille, wie mit Erbrecht, alles und wirkt alles, was zum Feuer gehört. Das ist der Sinn des Wortes: »der Vater, der in mir bleibt, er tut die Werke« (Joh 14,10). Der Vater, das erzeugende Feuer, ist zwar (schon) in der Veränderung und im Veränderten, aber er ist dort nicht bleibend, sondern im Vorübergehen, als Gast, nicht dauernd. Darum ist (dort) weder Erbe noch Sohn des Feuers. Im erzeugten und geborenen Feuer aber bleibt (der Vater) dauernd, und dort wirkt er nicht mehr die Werke des nur vom Feuer Durchglühten, sondern die Werke des Feuers (selbst). »Der Vater«, sagt er, »der in mir bleibt, er tut die Werke« (Joh 14,10).

20

Aristoteles, An. I 4, 408 b 21.

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Daz buoch der götlîchen trœstunge

1. Von dem êrsten sol man wizzen, daz der wîse und wîsheit,   wâre und wârheit, gerehte und gerehticheit, guote und güete sich einander anesehent und alsô ze einander haltent: diu güete enist noch geschaffen noch gemachet noch geborn; mêr si ist gebernde und gebirt den guoten, und der guote, als verre sô er guot ist, ist ungemachet und ungeschaffen und doch geborn kint und sun der güete. Diu güete gebirt sich und allez, daz si ist, in dem guoten; wesen, wizzen, minnen und würken giuzet si alzemâle in den guoten, und der guote nimet allez sîn wesen, wizzen, minnen und würken von dem herzen und innigesten der güete und von ir aleine. Guot und güete ensint niht wan éin güete al ein in allem sunder gebern und geborn-werden; doch daz gebern der güete und geborn-werden in dem guoten ist al ein wesen, ein leben. Allez, daz des guoten ist, daz nimet er beidiu von der güete und in der güete. Dâ ist und lebet und wonet er. Dâ bekennet er sich selben und allez, daz er bekennet, und minnet allez, daz er minnet, und würket mit der güete in der güete und diu güete mit im und in im alliu ir werk nâch dem, als geschriben ist und sprichet der sun: ›der vater in mir inneblîbende und wonende würket diu werk‹. ›Der vater würket biz nû, und ich würke‹. Allez, daz des vaters ist, daz ist mîn, und allez, daz mîn und mînes ist, daz ist mînes vaters: sîn gebende und mîn nemende.

Noch sol man wizzen, daz der name oder daz wort, sô wir sprechen   ›guot‹, nennet und besliuzet in im niht anders, noch minner noch mê, wan blôze und lûter güete; doch gibet ez sich. Sô wir sprechen ›guot‹, sô vernimet man, daz sîn güete ist im gegeben, îngevlozzen und îngeborn von der ungebornen güete. Dar umbe sprichet daz êwangelium: ›als der vater hât daz leben in im selben, alsô hât er gegeben dem sune, daz er ouch habe daz leben in im selben‹. Er

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Das Buch der göttlichen Tröstung

1. Zum ersten muss man wissen, dass der Weise und die Weisheit, der Wahre und die Wahrheit, der Gerechte und die Gerechtigkeit, der Gute und die Gutheit aufeinander Bezug nehmen und sich wie folgt zueinander verhalten: Die Gutheit ist weder geschaffen noch gemacht noch geboren; jedoch ist sie gebärend und gebiert den Guten, und der Gute, insoweit er gut ist, ist ungemacht und ungeschaffen und doch geborenes Kind und Sohn der Gutheit. Die Gutheit gebiert sich und alles, was sie ist, in dem Guten: Sein, Wissen, Lieben und Wirken gießt sie allzumal in den Guten, und der Gute empfängt sein ganzes Sein, Wissen, Lieben und Wirken aus dem Herzen und Innersten der Gutheit und von ihr allein. Der Gute und die Gutheit sind nichts als eine Gutheit, völlig eins in allem, abgesehen vom Gebären einerseits und Geboren-Werden andererseits; indessen ist das Gebären der Gutheit und das Geboren-Werden in dem Guten völlig ein Sein, ein Leben. Alles, was zum Guten gehört, empfängt er von der Gutheit in der Gutheit. Dort ist und lebt und wohnt er. Dort erkennt er sich selbst und alles, was er erkennt, und liebt er alles, was er liebt, und wirkt er mit der Gutheit in der Gutheit und die Gutheit mit und in ihm alle ihre Werke gemäß dem, wie geschrieben steht und wie der Sohn sagt: »Der Vater wirkt in mir bleibend und wohnend die Werke« ¢Joh 14,10². »Der Vater wirkt bis nun, und ich wirke« ¢Joh 5‚17². »Alles, was des Vaters ist, das ist mein, und alles, was mein und des Meinen ist, das ist meines Vaters: sein im Geben und mein im Nehmen« ¢Joh 17,10². Weiterhin muss man wissen, dass, wenn wir vom ›Guten‹ sprechen, der Name oder das Wort nichts anderes bezeichnet und in sich schließt, und zwar nicht weniger und nicht mehr, als die bloße und lautere Gutheit; jedoch meint man dann das Gute, sofern es die sich gebende, gebärende Gutheit ist. Wenn wir vom ›Guten‹ sprechen, so versteht man dabei, dass sein Gutsein ihm gegeben, eingeflossen und eingeboren ist von der ungeborenen Gutheit. Darum sagt das Evangelium: »Wie der Vater das Leben in sich selbst hat, so hat er dem

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Daz buoch der götlîchen trœstunge

sprichet ›in im selben‹, niht ›von im selben‹, wan der vater hât ez im gegeben. Allez, daz ich nû hân gesprochen von dem guoten und von der güete,   daz ist ouch glîche wâr von dem wâren und der wârheit, von dem gerehten und der gerehticheit, von dem wîsen und der wîsheit, von gotes sune und von gote dem vater, von allem dem, daz von gote geborn ist und daz niht enhât vater ûf ertrîche, in daz sich niht gebirt allez, daz geschaffen ist, allez, daz niht got enist, in dem kein bilde enist dan got blôz lûter aleine. Wan alsô sprichet sant Johannes in sînem êwangeliô, daz ›allen den ist gegeben maht und mugent, gotes süne ze werdenne, die niht von bluote noch von vleisches willen noch von mannes willen, sunder von gote und ûz gote aleine geborn sint.‹ […] 2. […] Ouch sol man wizzen, daz âne zwîvel ouch natiurlîchiu   menschlîchiu tugent sô edel und sô kreftic ist, daz ir kein ûzerlîchez werk ze swære ist noch grôz genuoge, daz si sich dar ane und dar inne bewîsen müge und sich darîn bilden. Und dar umbe ist ein inner werk, daz noch zît noch stat besliezen noch begrîfen enmac, und in dem selben ist, waz götlich und gote glîch ist, den noch zît noch stat besliuzet ௅ er ist allenthalben und alle zît glîche gegenwertic ௅ und ¢ist² ouch dar ane gote glîch, den kein crêatûre volkomenlîche enpfâhen mac, noch gotes güete enmac in sich bilden. Und dâ von sô muoz etwaz innigers und hœhers sîn und ungeschaf-   fen, âne mâze und âne wîse, dâ sich der himelsche vater ganze înbilden und îngiezen und bewîsen müge: daz sint der sun und der heilige geist. Ouch enmac daz inner werk der tugent als wênic ieman gehindern, als man got niht hindern enmac. Daz werk glenzet und liuhtet tac und naht. Ez lobet und singet gotes lop und einen niuwen gesanc, als Dâvît sprichet: ›singet gote einen niuwen sanc‹. Des lop ist von der erde, und daz werk enminnet got niht, daz ûzer, daz zît und stat besliuzet, daz enge ist, daz man hindern mac und betwingen, daz müede wirt und alt von zît und von üebunge. Diz werk ist got minnen, guot und güete wellen, dâ allez daz, daz der mensche wil und wölte tuon mit lûterm ganzen willen in allen guoten werken, hât iezent getân, dar ane ouch glîch gote, von dem schrîbet Dâvît: allez, daz er wolte, daz hât er iezent getân und geworht.

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Sohn gegeben, dass auch er das Leben in sich selbst habe« ¢Joh 5,26². Er sagt: ›in sich selbst‹, nicht: ›von sich selbst‹, denn der Vater hat es ihm gegeben. Alles, was ich nun von dem Guten und von der Gutheit gesagt habe, das ist gleich wahr auch für den Wahren und die Wahrheit, für den Gerechten und die Gerechtigkeit, für den Weisen und die Weisheit, für Gottes Sohn und Gott den Vater, für alles das, was von Gott geboren ist und was keinen Vater auf Erden hat, in das sich auch nichts von allem dem gebiert, was geschaffen ist, was nicht Gott ist, in dem kein Bild ist als der bloße, lautere Gott allein. Denn so spricht Sankt Johannes in seinem Evangelium, dass »allen denen Macht und Vermögen gegeben ist, Gottes Söhne zu werden, die nicht vom Blute noch vom Willen des Fleisches noch vom Willen des Mannes, sondern von Gott und aus Gott allein geboren sind« ¢Joh 1,12f². […] 2. […] Auch soll man wissen, dass zweifellos schon natürliche menschliche Tugend so edel und kräftig ist, dass ihr kein äußeres Werk zu schwer noch groß genug ist, sich daran und darin erweisen und sich darein einformen zu können. Und darum gibt es ein inneres Werk, das weder Zeit noch Raum umschließen noch umfassen kann, und in demselben ist etwas, das göttlich und Gott gleich ist, den ¢ja ebenfalls² weder Zeit noch Raum umschließt ௅ er ist allenthalben und allzeit gleich gegenwärtig ௅, und es ist auch darin Gott gleich, dass ihn keine Kreatur vollkommen in sich aufzunehmen noch Gottes Gutheit in sich einzuformen vermag. Und deshalb muss es etwas Innerliches und Höheres und Ungeschaffenes geben, ohne Maß und ohne Weise, in das der himmlische Vater sich ganz einzuprägen und einzugießen und in dem er sich zu offenbaren vermag: das sind der Sohn und der Heilige Geist. Auch vermag jemand das innere Werk der Tugend so wenig zu hindern, wie man Gott hindern kann. Das Werk glänzt und leuchtet Tag und Nacht. Es lobt und singt Gottes Lob und einen neuen Gesang, wie David spricht: »Singet Gott einen neuen Gesang« ¢Ps 95,1². Dessen Lob ist irdisch, und das Werk liebt Gott nicht, das äußerlich ist, das Zeit und Raum umschließt, das eng ist, das man hindern und bezwingen kann, das müde wird und alt durch Zeit und Ausübung. Jenes Werk aber ist: Gott lieben, ist Gutes und die Gutheit wollen, wobei der Mensch alles das, was er mit lauterem und ganzem Willen in allen guten Werken tun will und tun möchte, damit bereits jetzt getan hat, auch darin Gott

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Dirre lêre hân wir ein offenbâre bewîsunge an dem steine: des ûzer   werk ist, daz er nider valle und lige ûf der erde. Daz werk mac gehindert werden, und envellet er niht alle zît noch âne underlâz. Ein ander werk ist noch inniger dem steine, daz ist neigunge niderwert, und daz ist im anegeborn; daz enkan im noch got noch crêatûre benemen noch nieman. Daz werk würket der stein âne underlâz tac und naht. Daz er tûsent jâr dâ obenân læge, er enneigete weder minner noch mê dan in dem êrsten tage. Rehte alsô spriche ich von der tugent, daz si hât ein innigez werk:   wellen und neigen ze allem guoten und îlen und widerkriegen von allem dem, daz bœse und übel ist, güete und gote unglîch. Und ie daz werk bœser ist und gote unglîcher, ie der widerkriec grœzer ist; und ie daz werk grœzer ist und gote glîcher, ie ir daz werk lîhter, williger und lustiger ist. Und alliu ir klage und leit ist, ob leit in sie gevallen möhte, daz diz lîden durch got alze kleine ist und al ûzer werk in der zît alze kleine, daz si sich niht ganze eröugen noch volle bewîsen noch darîn bilden enmac. Sich üebende wirt si kreftic, und von milte wirt si rîche. […] Ouch ist daz inner werk dar ane götlich und gotvar und smacket götlîche eigenschaft, daz, ze glîcher wîse alsam alle crêatûren, ob joch tûsent werlte wæren, eines hâres breite niht bezzer enist dan got eine, alsô spriche ich und hân ez dâ vor gesaget, daz diz ûzer werk noch sîn menge noch sîn grœze noch sîn lenge noch sîn wîte niht alzemâle mêret die güete des innern werkes; ez hât sîne güete in im selben. Dar umbe enkan daz ûzer werk niemer kleine gesîn, ob daz inner grôz ist, und daz ûzer enmac niemer grôz sîn noch guot, ob daz inner kleine oder niht enist wert. Daz inner werk hât in im beslozzen alle zît alle grœze, alle wîte und lenge. Daz inner werk nimet und schepfet allez sîn wesen niergen dan von und in gotes herzen; ez nimet den sun und wirt sun geborn in des himelschen vaters schôze; daz ûzer werk niht alsô, sunder ez nimet sîne götlîche güete mittels des innigen werkes, ûzgetragen und ûzgegozzen in einem nidervalle der gekleideten gotheit mit underscheide, mit menge, mit teile, daz allez und dem glîch und ouch glîchnisse selbe gote verre und vremde sint. Sie haftent und behaftent und gestillent in dem, daz guot ist, daz erliuhtet ist, daz crêatûre ist, blint alzemâle güete und liehtes in in

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gleichend, von dem David schreibt: »Alles, was er wollte, das hat er jetzt getan und gewirkt« ¢Ps 134,6². Für diese Lehre haben wir ein anschauliches Zeugnis am Steine: dessen äußeres Werk ist es, dass er niederfällt und auf der Erde aufliegt. Dieses Werk kann gehindert werden, und er fällt nicht jederzeit noch ohne Unterlass. Ein anderes Werk aber ist dem Stein noch inniger: das ist die Neigung niederwärts, und dies ist ihm angeboren: das kann ihm weder Gott noch Kreatur noch irgendwer benehmen. Dies Werk wirkt der Stein ohne Unterlass Tag und Nacht. Und wenn er tausend Jahre da oben läge, er würde nicht weniger noch mehr niederwärts neigen als am ersten Tage. Genauso sage ich von der Tugend, sie habe ein inneres Werk: ein Streben und Neigen zu allem Guten und ein Fliehen und Widerstreben weg von allem dem, was böse und übel ist, der Gutheit und Gott ungleich. Und je böser das Werk ist und Gott unähnlicher, umso größer ist das Widerstreben; und je bedeutender und Gott ähnlicher das Werk ist, umso leichter, lieber und lustvoller ist ihr das Werk. Und ihre ganze Klage und ihr Leid ist es ௅ sofern Leid sie überhaupt befallen kann ௅‚ dass dieses Leiden um Gottes willen und alles äußere Werk in der Zeit viel zu klein ist, als dass sie sich ganz darin offenbaren und voll erweisen und darin erbilden kann. Durch Übung wird sie kräftig, und durch Freigebigkeit wird sie reich. [...] Auch ist das innere Werk darin göttlich und gottartig und verrät göttliche Eigenheit, dass, gleichwie alle Kreaturen, selbst wenn es tausend Welten gäbe, nicht um Haaresbreite den Wert Gottes allein übersteigen würden ௅ so sage ich und habe es schon vorhin gesagt, dass jenes äußere Werk, sein Umfang und seine Größe, seine Länge und seine Weite um ganz und gar nichts die Gutheit des inneren Werkes mehrt; es hat seine Gutheit in sich selbst. Darum kann das äußere Werk niemals klein sein, wenn das innere groß ist, und das äußere niemals groß oder gut, wenn das innere klein oder nichts wert ist. Das innere Werk hat allzeit Größe, alle Weite und Länge in sich beschlossen. Das innere Werk nimmt und schöpft sein ganzes Sein nirgends als von und in Gottes Herzen; es nimmt den Sohn und wird als Sohn geboren in des himmlischen Vaters Schoß. Nicht so das äußere Werk: vielmehr empfängt dies seine göttliche Gutheit vermittels des inneren Werkes als ausgetragen und ausgegossen in einem Abstieg der mit Unterschied, mit Menge, mit Teil umkleideten Gottheit: dies alles aber und dem Ähnliches, wie auch die Gleichheit

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selben und des einen, in dem got gebirt sînen eingebornen sun und in im alle, die gotes kint sint, geborn süne. […]

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selbst, sind Gott fern und fremd. Denn dies alles haftet und verharrt und beruhigt sich in dem, was einzeln gut ist, was erleuchtet ist, was Kreatur ist, ganz und gar blind für die Gutheit und das Licht an sich und für das Eine, in dem Gott seinen eingeborenen Sohn gebiert und in ihm alle die, die Gottes Kinder, geborene Söhne, sind. [...]

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Liber parabolarum Genesis

n. 147 Exemplum manifestum est praemissorum in iustitia respectu   iusti. Iustitia enim omnia, quae iustitiae sunt, per se ipsam et se ipsam totam et se ipsa sine medio manifestat, pandit et expandit et transfundit in ipsum iustum, in quantum iustus est ௅ impium enim est dimidiam separare iustitiam; iam enim iustitia non est, si media est ௅ et ipsa manifestatio et ipsum pandere locutio est, verbum est, nuntius est ௅ ›annuntiat de ea amico, quod possessio eius sit et ad eam possit ascendere‹, Iob 37 ௅ ipsa, inquam, manifestatio verbum est et locutio, quo sibi loquuntur et colloquuntur superius et inferius ›facie ad faciem‹, ›facie‹, inquam, superioris aspicientis et inspicientis ›faciem‹ inferioris et ›facie‹ inferioris respicientis, Gen. 32: ›vidi dominum facie ad faciem, et salva facta est anima mea‹; 1 Cor. 13: ›videmus nunc per speculum‹, ›tunc autem facie ad faciem‹. Iustitia loquendo iustificat, iustus audiendo iustitiam iustificatur, gignitur iustus, fit filius iustitiae amisso omni quod non iustum est in se ipso et liquefacto, transformatur in iustitiam et conformatur, Cant. 5: ›anima mea liquefacta est, ut dilectus ¢locutus est‹².

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Buch der Bildreden der Genesis

n. 147 Ein deutliches Beispiel für das Gesagte ist die Beziehung der Gerechtigkeit zum Gerechten. Denn die Gerechtigkeit gibt alles, was zur Gerechtigkeit gehört, durch sich selbst kund, verbreitet es und breitet es aus und lässt es und (darin) sich selbst ganz und (zwar) durch sich selbst ohne Mittel in den Gerechten als solchen überströmen. Es wäre nämlich unfromm, die Gerechtigkeit zu halbieren; denn eine halbe Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit mehr. Und diese Kundgabe und Verbreitung ist Rede, Wort und Bote – »er bringt dem Freund die Botschaft, dass sie sein Besitz sei und er zu ihr hinaufsteigen könne« (Ijob 36,33) – diese Kundgabe, sage ich, ist Wort und Rede, durch die das Obere und das Niedere miteinander reden und ›von Angesicht zu Angesicht‹ Zwiesprache halten. Ich meine ›vom Angesicht‹ des Oberen, das ›zum Angesicht‹ des Niederen blickt und (auf es) hinblickt, und ›vom Angesicht‹ des Niederen, das zurückblickt: »ich sah den Herrn von Angesicht zu Angesicht, und meine Seele ist genesen« (32,20); »wir sehen jetzt durch einen Spiegel, dann aber von Angesicht zu Angesicht« (1 Kor 13,12). Die Gerechtigkeit rechtfertigt, indem sie spricht, der Gerechte wird gerechtfertigt, indem er die Gerechtigkeit hört, wird als Gerechter gezeugt, wird Sohn der Gerechtigkeit, nachdem alles, was an ihm nicht gerecht ist, (von ihm) abgetan wurde und zerflossen ist, wird umgeformt in die Gerechtigkeit und ihr gleichgeformt: »meine Seele zerfloss, da mein Geliebter sprach« (Hld 5,6).

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Expositio sancti evangelii secundum Iohannem

 

n. 416 Non potest filius a se quidquam facere. Ratio est: constat enim   quod iustus, in quantum iustus, filius scilicet iustitiae, non potest facere quidquam a se ipso, sed omne opus eius est ipsi a iustitia, praesertim cum iustus non sit quis nisi in ipsa iustitia. Quomodo ergo sine iustitia et a se ipso quidquam faceret, cum sine ipsa non sit nec esse habeat? Et hoc est quod ipse filius infra ait: ›non possum ego a me ipso facere quidquam‹; et infra quarto decimo: ›pater in me manens ipse facit opera‹. Sicut enim iusto, filio scilicet, esse est a patre iustitia, sic et facere et omnia huiusmodi.

Praeterea: si lapis non potest sursum ferri obstante et repugnante   natura gravitatis, ergo nec virtuosus potest facere quidquam, nisi quod viderit patrem, iustitiam scilicet, facientem. Habitus enim in modum naturae inclinat, ut ait Tullius. n. 417 Praeterea: fortior, utpote superior, est forma virtutis et gratiae   quam forma naturalis cuiusque entis. Exemplum huius patet in fluxu maris et eius refluxu, ubi motus impressus a luna praevalet et vincit motum impressum a forma aquae naturali. Notavi de hoc super illo: ›facilius est camelum per foramen acus transire‹ etc., Matth. 19. Igitur si non potest res naturalis a se quidquam facere, nisi quod dat ipsi forma sua, nec iustus potest quidquam facere, nisi quod viderit iustitiam facientem. Ex quo patet quod iustus et virtuosus non potest mentiri, peccare et universaliter malum facere repugnante habitu virtutis. Et hoc est quod Augustinus ait: »habe caritatem et fac

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Gott Vater als immanenter Habitus, der uns zum Handeln drängt Johanneskommentar

n. 416 Der Sohn kann nichts aus sich tun. Der Grund hierfür ist der: es steht fest, dass der Gerechte als solcher, nämlich als Sohn der Gerechtigkeit, aus sich selbst nichts tun kann; vielmehr kommt ihm sein ganzes Tun von der Gerechtigkeit zu, zumal da jemand nur in der Gerechtigkeit selbst gerecht ist. Wie sollte er also ohne Gerechtigkeit und aus sich selbst etwas tun, da er ohne sie weder ist noch Sein hat? Deshalb sagt der Sohn selbst: »ich kann nichts aus mir selbst tun« (V. 30); und weiter unten: »der Vater, der in mir bleibt, er selbst tut die Werke« (14,10). Denn wie dem Gerechten, nämlich dem Sohn, das Sein vom Vater, der Gerechtigkeit, zukommt, so auch das Tun und alles dergleichen. Außerdem: wenn der Stein sich nicht nach oben bewegen kann, weil die Natur der Schwere dem entgegensteht und widerstreitet, also kann auch der Tugendhafte nichts tun, was er nicht den Vater, nämlich die Gerechtigkeit, tun sieht. Der Habitus neigt dazu, etwas Naturhaftes zu werden, wie Cicero sagt.21 n. 417 Außerdem: stärker, weil überlegener ist die Form der Tugend und der Gnade als die naturhafte Form irgendeines Seienden. Ein Beispiel hierfür haben wir bei Flut und Ebbe des Meeres: die vom Mond eingeprägte Bewegung ist stärker als die von der naturhaften Form des Wassers hervorgerufene Bewegung und trägt den Sieg über sie davon. Darüber habe ich bei der Auslegung der Stelle: »es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurchgeht (als dass ein Reicher in das Himmelreich eingeht«, Mt 19,24) gehandelt. Wenn also ein Naturwesen aus sich nur tun kann, was ihm seine Form verleiht, so kann auch der Gerechte nur tun, was er die Gerechtigkeit 21

Cicero, Inv. II, 53, 159, ed. Stroebel, 147b.

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Expositio sancti evangelii secundum Iohannem

quod vis«. Et Boethius De consolatione l. I in persona philosophiae ait: »contuleramus tibi arma talia quae nisi prior abiecisses, invicta te firmitate tuerentur«. Iustus enim homo, in quantum iustus, etiam ipsam iustitiam ligat et prohibit, ne possit facere contrarium iusto, secundum illud: ›dimitte me, ut irascatur furor meus contra eos‹, Exodi 32.

n. 418 Neque enim pater iudicat quemquam, sed omne iudicium dedit   filio. Videtur contra quod iam dictum est patrem et filium semper et simul eadem operari. Sciendum ergo quod secundum regulam theologorum actus sive operationes procedunt a deo secundum proprietates attributorum; verbi gratia, quamvis in deo idem sit esse et scire, dicimus tamen ipsum scire mala, non autem ipsum esse malum, et sic in similibus, tam essentialibus quam notionalibus. Unde Bernardus quinto libro De consideratione sic ait: »Deus amat ut caritas, novit ut veritas, sedet ut aequitas, dominatur ut maiestas, regit ut principium, tuetur ut salus, operatur ut virtus, revelat ut lux, assistit ut pietas«. Sic ergo iudicium appropriatur filio, non patri, ut hic dicitur, propter tria quae debet habere iudex. […]

n. 454 Tertio patet per hoc quod omne quod quis facit ex se ipso,   motus non ex deo patre, peccatum est et nihil est. Nam ›sine ipso factum est nihil‹ Ioh. 1. Secundum hoc Psalmista orat: ›domine, labia mea aperies, et os‹ etc. Os enim laudat deum, quando nihil in nobis labia aperit nisi solus deus. Et hoc est quod hic sequitur: ›sicut docuit me pater, hoc loquor‹; et supra septimo: ›qui a semet ipso loquitur,

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Johanneskommentar

tun sah. Daraus erhellt, dass der Gerechte und Tugendhafte weder lügen noch sündigen noch überhaupt etwas Böses tun kann, weil der Habitus der Tugend dem widerstreitet. Darum sagt Augustin: »habe die Liebe, und dann tu, was du willst«22, und Boethius spricht im 1. Buch Von der Tröstung in der Person der Philosophie: »so gut waren die Waffen, die wir dir reichten, dass sie dich mit unüberwindlicher Kraft geschützt hätten, hättest du sie nicht zuvor weggeworfen«23. Denn der gerechte Mensch bindet, insofern er gerecht ist, sogar die Gerechtigkeit selbst und hindert sie, etwas zu tun, was dem Gerechten zuwider ist, gemäß dem Wort: »lass mich, damit mein Zorn wider sie entbrenne« (Ex 32,10). n. 418 Denn der Vater richtet niemand, sondern hat das ganze Gericht dem Sohn übergeben. Dies scheint dem Gesagten, dass der Vater und der Sohn stets und zugleich dasselbe wirken, zu widersprechen. Man muss also wissen, dass nach der Regel der Theologen die Akte oder Tätigkeiten von Gott ausgehen gemäß den Eigentümlichkeiten der Eigenschaften. Zum Beispiel sagen wir, obwohl in Gott Sein und Wissen dasselbe ist, dennoch, dass Gott das Böse wisse, nicht aber, dass er böse sei. Dasselbe gilt bei ähnlichen Aussagen über Eigenschaften sowohl des göttlichen Wesens wie der göttlichen Person. Daher sagt Bernhard im 5. Buch Von der Betrachtung: »Gott liebt als die Liebe, erkennt als die Wahrheit, thront als die Gerechtigkeit, herrscht als die Majestät, regiert als der Ursprung, beschützt als das Heil, wirkt als die Kraft, offenbart als das Licht, steht hilfreich bei als die Milde«24. So wird also das Gericht dem Sohn, nicht dem Vater zugeeignet, wie es hier heißt, wegen dreier Eigenschaften, die ein Richter haben muss. [...] n. 454 Drittens wird dadurch klar, dass alles, was einer aus sich selbst, nicht aus Gott dem Vater bewegt tut, Sünde ist und nichts ist. Denn »ohne ihn ward nichts« (1,3). Dem entsprechend betet der Psalmist: »Herr, öffne meine Lippen, und mein Mund wird dein Lob verkünden« (Ps 50,17). Der Mund nämlich lobt Gott, wenn nur Gott allein in uns die Lippen öffnet. Und das ist der Sinn des hier folgenden Wortes: »wie mich der Vater gelehrt hat, das rede ich« (V. 28), und

22

Augustinus, In ep. Ioh., tract. 7, c. 4, n. 8, PL 35, 2033. Boethius, Cons. I, pr. 2, CSEL 67, 4,28–30. 24 Bernhard von Clairvaux, Consid. V, 5, 12, ed. Leclerq / Rochais, in: Opera III, 476,26–477,2. 23

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Expositio sancti evangelii secundum Iohannem

gloriam propriam quaerit; qui autem quaerit gloriam eius qui misit illum, hic verax est‹, ut ibidem expositum est. Quarto docemur quod nihil aliud sapiamus nec quidquam aliud se   in nobis generet nec pater noster sit nisi solus deus, secundum illud Matth. 23: ›patrem nolite vobis vocare super terram‹. Vis ergo scire, si opus factum sit a te ipso vel a deo et in deo? Vide, si opus sit vivum: ›quod enim factum est, in ipso vita erat‹, supra primo. Vivum autem est quod pro nullo foris est, sed pro sola convenientia habitus intus manentis patris, secundum illud: ›pater in me manens, ipse facit opera‹. Dictum est de hoc prius capitulo quinto super illo: ›non possum a me facere quidquam‹.

n. 455 Et notandum quod illud quod hic dicitur ego sum et a me   ipso facio nihil, sed sicut docuit me pater, proprie specialiter competit ipsi Christo in sua persona. In ipso enim non erat aliud esse praeter esse suppositi divini. Propter hoc non poterat absolute quoquo modo peccare. In nobis autem, cum sit aliud esse praeter id quod est esse iustum, hinc est quod homo iustus, licet peccare non possit, in quantum iustus, potest tamen esse praeter iusti esse et non iustus esse, et sic potest peccare.

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Johanneskommentar

oben im siebten Kapitel: »wer aus sich selbst redet, sucht seinen eigenen Ruhm; wer aber den Ruhm dessen sucht, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaft« (7,18), wie dort erklärt wurde. Viertens werden wir belehrt, dass wir an nichts anderem Geschmack haben sollen, dass wir nichts anderes in uns zeugen lassen und nichts unser Vater sei als Gott allein, nach dem Wort: »nennet niemand auf Erden Vater« (Mt 23,9). Willst du also wissen, ob ein Werk aus dir selbst oder aus Gott und in Gott getan ist? Sieh, ob dein Werk lebendig ist; »denn was geworden ist, war in ihm Leben« (1,3.4). Lebendig aber ist, was nicht für etwas Äußeres geschieht, sondern nur im Dienst eines im Inneren bleibenden Habitus, des Vaters, gemäß dem Wort: »der Vater, der in mir bleibt, er selbst tut die Werke« (14,10). Darüber ist weiter oben an der Stelle: »ich kann von mir aus nichts tun« (5,30) gehandelt worden. n. 455 Es ist auch zu bemerken, dass dies Wort: ich bin es, und aus mir selbst tue ich nichts, sondern wie mich der Vater gelehrt hat, (das rede ich), insbesondere und in einzigartiger Weise auf Christus als Person zutrifft. In ihm war nämlich kein anderes Sein als das Sein der göttlichen Person. Deswegen konnte er überhaupt in keiner Weise sündigen. Da es in uns aber ein anderes Sein außer dem Gerechtsein gibt, so kann ein gerechter Mensch zwar nicht sündigen, insofern er gerecht ist; dennoch kann er sein ohne Gerechtsein und nicht gerecht sein, und so kann er sündigen.

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Predigt 39

Ein wörtelîn liset man hiute in der epistel, und ez sprichet der wîse   man: ›der gerehte lebet in die êwicheit‹. Etwenne hân ich gesprochen, waz ein gereht mensche sî; aber nû   spriche ich in einem andern sinne anders: daz ist ein gereht mensche, der in die gerehticheit îngebildet und übergebildet ist. Der gerehte lebet in gote und got in im, wan got wirt geborn in dem gerehten und der gerehte in gote; wan von einer ieglîchen tugent des gerehten wirt got geborn und wirt ervröuwet von einer ieglîchen tugent des gerehten, und niht aleine von einer ieglîchen tugent, mêr: von einem ieglîchen werke des gerehten, swie kleine ez sî, daz von dem gerehten in der gerehticheit geworht wirt, von dem wirt got ervröuwet, jâ durchvröuwet; wan ez enblîbet niht in sînem grunde, ez enwerde durchkützelt von vröude. Und diz ist groben liuten ze gloubenne und erliuhten ze wizzenne. Der gerehte ensuochet niht in sînen werken; wan die iht suochent   in irn werken, die sint knehte und mietlinge, oder die umbe einic warumbe würkent. Dar umbe, wilt dû în- und übergebildet werden in die gerehticheit, sô enmeine niht in dînen werken und enbilde kein warumbe in dich, noch in zît noch in êwicheit, noch lôn noch sælicheit, noch diz noch daz; wan disiu werk sint alliu wærlîche tôt. Jâ, und bildest dû got in dich, swaz dû werke dar umbe würkest, diu sint alliu tôt, und dû verderbest guotiu werk; und niht aleine verderbest dû guotiu werk, mêr: dû tuost ouch sünde, wan dû tuost rehte als ein gartenære, der einen garten pflanzen sölte und danne die böume ûzriutete und wölte danne lôn haben. Alsô verderbest dû guotiu werk. Und dar umbe, wilt dû leben und wilt, daz dîniu werk leben, sô muost dû allen dingen tôt sîn und ze nihte worden sîn. Der crêatûre eigen ist, daz si von ihte iht mache; aber gotes eigen ist, daz er von nihte iht mache; und dar umbe, sol got iht in dir oder mit dir machen, sô muost dû vor ze nihte worden sîn. Und dar umbe ganc in dînen eigenen grunt, und dâ würke, und diu werk, diu dû

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Predigt 39

Ein Wörtlein liest man heute in der Epistel, und es spricht ›der Weise‹: »Der Gerechte lebt in Ewigkeit« ¢Weish 5,16². Gelegentlich habe ich dargelegt, was ein gerechter Mensch sei; jetzt aber sage ich in einem anderen Sinne: Das ist ein gerechter Mensch, der in die Gerechtigkeit eingebildet und übergebildet ist. Der Gerechte lebt in Gott und Gott in ihm, denn Gott wird geboren in dem Gerechten und der Gerechte in Gott; denn durch eine jegliche Tugend des Gerechten wird Gott geboren und wird erfreut durch eine jegliche Tugend des Gerechten. Und nicht nur durch eine jegliche Tugend, sondern auch durch jegliches Werk des Gerechten, wie gering es auch sein mag, das durch den Gerechten und in der Gerechtigkeit gewirkt wird, durch das wird Gott erfreut, ja durchfreut; denn nichts bleibt in seinem Grunde, das nicht von Freude durchkitzelt würde. Und grobsinnige Leute müssen dies ¢einfach² glauben, die erleuchteten aber müssen es wissen. Der Gerechte sucht nichts mit seinen Werken; denn diejenigen, die mit ihren Werken irgendetwas suchen, oder auch solche, die um eines Warum willen wirken, die sind Knechte und Mietlinge. Darum, willst du eingebildet und überbildet werden in die Gerechtigkeit, so beabsichtige nichts mit deinen Werken und ziele auf kein Warum ab, weder in Zeit noch in Ewigkeit, weder auf Lohn noch auf Seligkeit noch auf dies oder das; denn solche Werke sind wahrlich alle tot. Ja, selbst wenn du dir Gott zum Ziel nimmst, so sind alle Werke, die du ¢selbst² darum wirken magst, tot, und du verdirbst ¢damit² gute Werke; und nicht nur verdirbst du gute Werke, sondern du tust auch Sünde, denn du tust wie ein Gärtner, der einen Garten pflanzen sollte, dabei aber die Bäume ausrodete und dann ¢noch² Lohn ¢dafür² haben wollte. So ¢auch² verdirbst du gute Werke. Und darum, willst du leben und willst, dass deine Werke leben, so musst du für alle Dinge tot und zunichte geworden sein. Es ist der Kreatur eigen, dass sie aus etwas etwas mache; Gott aber ist es eigen, dass er aus nichts etwas mache. Soll daher Gott etwas in dir oder mit dir machen, so musst du

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Predigt 39

dâ würkest, diu sint alliu lebendic. Und dar umbe sprichet er: ›der gerehte lebet‹, wan dar umbe daz er gereht ist, dar umbe würket er, und sîniu werk diu lebent. […] Nû sprechen vürbaz von dem worte ›gereht‹. Er ensprichet niht ›der gerehte mensche‹ noch ›der gerehte engel‹, er sprichet aleine: ›der gerehte‹. Der vater gebirt sînen sun den gerehten und den gerehten sînen sun; wan alliu diu tugent des gerehten und ein ieglich werk, daz von tugent des gerehten geworht wirt, enist niht anders, dan daz der sun von dem vater geborn wirt. Und dar umbe engeruowet der vater niemer, er enjage und entrîbe alle zît dar zuo, daz sîn sun in mir geborn werde, als ein geschrift sprichet: ›noch durch Syon enswîge ich niht noch durch Jêrusalem enruowe ich niht, biz daz der gerehte offenbære werde und schîne als ein blitze‹. Syon ist hôcheit von lebene, und Jêrusalem ist hôcheit von vride. Jâ, weder durch hôcheit von lebene noch durch hôcheit von vride sô engeruowet got niemer, er enjage und entrîbe alle zît dar zuo, ez werde offenbâr der gerehte.

In dem gerehten ensol kein dinc würken dan aleine got. Wan ist, daz   dich dehein dinc ûzwendic anerüeret ze würkenne, wærlîche diu werk sint alliu tôt; und ist, daz dich got ûzwendic anerüere ze würkenne, wærlîche, diu werk sint alliu tôt. Und suln dîniu werk leben, sô muoz dich got inwendic anerüeren in dem innigesten der sêle, suln sie leben; und dâ ist dîn leben, und dâ lebest dû aleine. Und ich spriche: dünket dich ein tugent grœzer dan diu ander und ahtest dû sie mê dan die ander, sô enminnest dû sie niht, als si in der gerehticheit ist, und got enwürket noch in dir niht. Wan als lange der mensche eine tugent mê ahtet oder minnet, sô enminnet noch ennimet er sie niht, als sie in der gerehticheit sint, noch er enist gereht; wan der gerehte nimet und würket alle tugende in der gerehticheit, als sie diu gerehticheit selbe sint. […]

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Predigt 39

vorher zu nichts geworden sein. Und darum geh in deinen eigenen Grund und wirke dort; die Werke aber, die du dort wirkst, die sind alle lebendig. Und darum spricht er ¢= ›der Weise‹²: »Der Gerechte lebt«; denn deshalb, weil er gerecht ist, darum wirkt er, und seine Werke leben. [...] Nun wollen wir weiter über das Wort ›gerecht‹ sprechen. Er sagt nicht: ›der gerechte Mensch‹ noch auch ›der gerechte Engel‹, er sagt nur: ›der Gerechte‹. Der Vater gebiert seinen Sohn als den Gerechten und den Gerechten als seinen Sohn; denn alle Tugend des Gerechten und jegliches Werk, das aus der Tugend des Gerechten gewirkt wird, ist nichts anderes, als dass der Sohn von dem Vater geboren wird. Und darum ruht der Vater nimmer; er jagt ¢vielmehr² und treibt allzeit dazu, dass sein Sohn in mir geboren werde, wie es in der Schrift heißt: »Weder um Zions willen schweige ich noch um Jerusalems willen ruhe ich, bis der Gerechte offenbar werde und leuchte wie ein Blitz« ¢Jes 62,1². ›Zion‹ bedeutet Höhe des Lebens, und ›Jerusalem‹ bedeutet Höhe des Friedens. In der Tat: weder um der Höhe des Lebens noch um der Höhe des Friedens willen ruht Gott je; er jagt ¢vielmehr² und treibt allzeit dazu, dass der Gerechte offenbar werde. Im Gerechten soll nichts wirken als einzig Gott. Denn sofern dich irgendetwas von außen zum Wirken anstößt, wahrlich, so sind alle solche Werke tot; und selbst, wenn Gott dich von außen zum Wirken anstieße, wahrlich, so sind ¢auch² diese Werke alle tot. Sollen aber deine Werke leben, so muss Gott dich inwendig im Innersten der Seele anstoßen, wenn sie ¢wirklich² leben sollen: denn da ist dein Leben, und da allein lebst du. Und ich sage: Dünkt dich eine Tugend größer als die andere und schätzest du sie höher ein als die andere, so liebst du sie nicht so, wie sie in der Gerechtigkeit ist, und wirkt Gott noch nicht in dir. Denn solange der Mensch eine Tugend mehr schätzt oder liebt, solange liebt und nimmt er sie ¢= die Tugenden² nicht, wie sie in der Gerechtigkeit sind, noch auch ist er gerecht; denn der Gerechte liebt und wirkt alle Tugenden in der Gerechtigkeit, so wie sie die Gerechtigkeit selbst sind. [...]

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Expositio libri Genesis

 

n. 88 Factum est vespere et mane dies secundus. Solet quaeri commu-   niter quare de creatis in secunda die non dicatur quod bonum est, sicut de prima die dictum est et infra similiter de creatis in aliis diebus. Et quamvis de hoc, sicut et de aquis super caelos, plurima sint scripta ab aliis, quae dimitto nunc et alias propter brevitatem, sicut in Prologo promissum est, dico quod binarius radix est et origo omnis divisionis. Divisio autem omnis, in quantum huiusmodi, mala est, ex malo et in malo. Divisio enim innumeri, multitudo, casus est ab uno et ab esse per consequens et a bono, quae cum uno convertuntur. Frustra ergo et falso diceretur bonum quod a bono cadit et recedit, quin immo hoc ipso ruit sive labitur in malum et fit malum. Et hoc est quod Iac. 2 dicitur: ›qui in uno offendit, factus est omnium reus‹, omnium scilicet bonorum et rursus omnium malorum, scilicet omnium bonorum quae perdidit et omnium malorum quae incidit, Ier. 2: ›malum et amarum est reliquisse te dominum‹; ›malum‹ propter privationem omnis boni, ›amarum‹ propter praesentiam mali culpae et poenae. Constat enim quod offendens et lapsus ab uno labitur et cadit, ut dictum est, necessario a bono. Lapsus autem a bono et elongatus sive divisus a bono non potest dici bonus nec quidquam boni habere. Quod si nihil boni habet, nec bonus est; ›factus est reus omnium‹ bonorum, quia perdidit omnia bona. Et hoc Eccl. 9 dicitur: ›qui in uno peccaverit, multa bona perdet‹.

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Die verschiedenen Tugenden sind in ihrem Ursprung letztlich eins Erster Genesiskommentar

n. 88 Es ward Abend und Morgen, der zweite Tag. Man pflegt gewöhnlich die Frage zu stellen, warum es von dem am zweiten Tag Geschaffenen nicht wie vom ersten Tag (V. 4) und später von dem an den anderen Tagen Geschaffenen (V. 10. 12. 18. 21. 25. 31) heißt, dass es gut war. Von anderen ist dazu, wie auch zu den Wassern über den Himmeln (V. 7), sehr viel geschrieben worden. Das übergehe ich jetzt, wie ich das auch sonst um der in der Vorrede versprochenen Kürze willen tue, und sage: die Zwei ist Wurzel und Ursprung aller Teilung. Alle Teilung ist aber als solche übel, vom Übel und im Übel. Denn die Teilung des der Zahl nicht Unterworfenen (und) die Vielheit ist Abfall vom Einen und folglich vom Sein und vom Guten, die mit dem Einen vertauschbar sind. Es wäre also vergeblich und falsch, gut zu nennen, was vom Guten abfällt und abweicht; denn eben damit stürzt oder sinkt es dem Übel zu und wird übel. Das besagt das Wort: »wer sich am Einen verfehlt, ist an allem« – und zwar allem Guten, aber auch allem Übel – »schuldig geworden« (Jak 2,10), nämlich an allem Guten, das er verloren hat, und an allem Übel, in das er gefallen ist: »übel und bitter ist es, dich, den Herrn, verlassen zu haben« (Jer 2,19); ›übel‹, weil es alles Guten beraubt, ›bitter‹, weil es das Übel der Schuld und der Strafe herbeizieht. Denn das ist gewiss: wer sich am Einen verfehlt und von ihm absinkt, sinkt und fällt, wie gesagt, notwendig vom Guten ab. Wer aber vom Guten abgesunken, entfernt oder getrennt ist, von dem kann man nicht sagen, dass er gut sei oder etwas Gutes (an sich) habe; hat er aber nichts Gutes (an sich), ist er auch nicht gut: »er ist an allem« Guten »schuldig geworden«, weil er alles Gute verloren hat. Und so heißt es: »wer an einem sündigt, wird viel Gutes verlieren« (Koh 9,18).

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Expositio libri Genesis

Et haec est una ratio ad praesens quare conexae sunt virtutes neces-   sario, ut, qui perdit unam, perdet omnes, et quod una virtus sine aliis haberi non potest. Quomodo enim virtutem haberet qui segregatus et divisus est ab uno et per consequens a bono? Et hoc est quod Osee dicitur: ›divisum est cor eorum, nunc interibunt‹. ›Nunc‹, inquam, id est simul, uno eodemque momento perdit et privatur omni virtute, utpote divisus a bono; necessario consequenter fit reus omnium vitiorum. Non est enim quo cadat nisi in malum et vitium oppositum, qui cadit a bono quolibet. Et hoc est quod in Psalmo dicitur: ›circumdederunt me mala quorum non est numerus‹. Sic ergo divisio, quam importat binarius – et in ipso oritur – malum est et in malo est, ut dictum est supra.

n. 156 Septima ratio et octava sunt morales. Primo ergo accipiendo li   universo collective moraliter vult dicere: deus in his quiescit, qui non solum unum mandatum sive opus bonum faciunt, sed qui universa. »Nec enim una hirundo facit ver, nec una dies« clara aestatem, ut ait philosophus. Exodi 24: ›omnia quae locutus est dominus, faciemus‹. Conexae sunt enim virtutes tam apud theologos quam apud philosophos.

n. 157 Octava ratio moralis est accipiendo li universo divisive, et   est sensus quod deus quiescit in quolibet opere bono quantumvis minimo, puta in calice aquae frigidae, si tamen deus et amor ipsius operatur in nobis opus. Non enim censum attendit deus, sed affectum, secundum Gregorium. Et Ambrosius De officiis l. I dicit: »affectus tuus operi tuo nomen imponit«.

n. 176 Postremo moraliter notandum quod in hoc, quod deus dici-   tur quiescere operando, notatur quod opus divinum in nobis est, quando ipsum operari dulce est in se ipso. Propter quod secundum philosophum signum generati habitus est delectatio in opere. Quod

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Erster Genesiskommentar

Dies ist gleichzeitig einer der Gründe dafür, dass Tugenden notwendig miteinander verknüpft sind, so dass alle Tugenden verliert, wer eine verliert, und dass man eine Tugend nicht ohne die anderen besitzen kann. Denn wie könnte Tugend besitzen, wer vom Einen und folglich vom Guten abgesondert und getrennt ist? Das besagt das Wort: »ihr Herz ist geteilt, nun werden sie verderben« (Hos 10,2). ›Nun‹, das heißt sogleich, in ein und demselben Augenblick, in dem einer vom Guten getrennt ist, verliert er alle Tugenden und wird aller beraubt; folglich muss er aller Laster schuldig werden. Denn von welchem Guten einer auch abfällt: er kann immer nur in das entgegengesetzte Übel und Laster fallen. Das besagt das Wort: »Übel ohne Zahl umgeben mich« (Ps 39,13). So ist also, wie gesagt, die Teilung, die die Zwei mit sich bringt und in der sie ihren Ursprung hat, etwas Übles und im Übel. n. 156 Die siebente und achte Überlegung betreffen das sittliche Leben. Beziehen wir universo zunächst auf die Gesamtheit als solche, so ergibt sich für das sittliche Leben: Gott ruht in denen, die nicht nur ein Gebot oder ein gutes Werk tun, sondern die (die Gebote) insgesamt (erfüllen). »Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und ein schöner Tag«25 noch keinen Sommer, wie der Philosoph sagt. »Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun« (Ex 24,3). Denn die Tugenden sind, wie Theologen und Philosophen lehren, miteinander verknüpft. n. 157 Die achte moralische Überlegung ergibt sich, wenn wir universo auf jedes einzelne (Werk) beziehen; dann ist der Sinn der, dass Gott in jedem guten Werk ruht, sei es auch noch so gering – etwa ein Becher kalten Wassers (vgl. Mt 10,42) – wenn nur Gott und die Liebe zu ihm das Werk in uns wirkt. Denn Gott wägt nach Gregor das Herz, nicht das Vermögen26. Und Ambrosius sagt im 1. Buch Von den Pflichten (der Geistlichen): »dein Wollen prägt deinem Tun den Namen auf«27. n. 176 Zuletzt ist für das sittliche Leben zu bemerken: mit den Worten, Gott ruhe im Wirken, ist gesagt, dass dann ein Werk in uns göttlich ist, wenn das Wirken als solches in sich selbst angenehm ist. Deswegen ist, wie der Philosoph sagt, die Freude am Werk ein 25 26 27

Vgl. Aristoteles, EN I 6, 1098 a 18. Vgl. Gregor der Große, Hom. in evang. I, hom. 5, n. 2, CCSL 141, 34. Ambrosius, Off. I, c. 30, n. 147, CCSL 15, 53.

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Expositio libri Genesis

enim pro alio extra fit, servile est, mercennarium est. Liberum enim est quod sui gratia, quod in se et propter se placet, Prov. 16: ›universa propter semet ipsum operatus est deus‹. Bonum ergo quod non propter se ipsum, quia bonum, operamur, non est opus divinum, nec deus illud operatur in nobis; sed hoc aliud extra, propter quod operamur, operatur in nobis. Propter quod signanter Matth. 5 dicitur: ›beati qui esuriunt et sitiunt iustitiam‹. Opus enim iustum est, in quo ipsa iustitia, nihil aliud esuritur, sititur, appetitur et quaeritur. Et infra sequitur: ›beati qui persecutionem patiuntur propter iustitiam‹. ›Patiuntur‹ inquit, non ait: ›passi sunt‹ aut ›patientur‹, ad signandum quod in ipsa operatione seu passione propter iustitiam consistit perfectio iustitiae. Iusto enim, in quantum iustus est, iuste agere vivere est et esse.

Rursus etiam ait in praesenti ›patiuntur‹. Iustitia enim et eius opus,   utpote divinum, non praeterit, secundum illud Sap. 5: ›iusti in perpetuum vivunt‹; et iterum: ›iustitia immortalis est‹. Praedictis alludit illud Ethicorum I: »differentia quaedam videtur esse finium. Hi quidem enim sunt operationes, hi vero praeter has opera quaedam«. Cetera vero, quae dicta sunt de quiete dei, de facili moraliter exponi possunt.

n. 178 Secundo notatur quod perfectio virtutum et operum divino-   rum consistit in hoc, quod operatio induat rationem esse et vivere, secundum illud Ioh. 17: ›haec est vita aeterna, ut cognoscant‹. Tunc enim cognoscere erit vivere, et »vivere viventibus est esse«, 1 Cor. 15: ›gratia dei sum id quod sum‹. Et in libro De Spiritu et anima dicitur quod vires inferiores convertentur et induent proprietatem superiorum, et per consequens supremae vires induent proprietatem vitae et esse, quae ipsam essentiam sive substantiam respiciunt.

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Erster Genesiskommentar

Zeichen für den erzeugten Habitus.28 Das Werk, das im Blick auf etwas außer dem Werk geschieht, ist knechtisch, ist Lohndienst. Frei ist, was um seiner selbst willen getan wird, was in sich und um seinetwillen gefällt: »alles hat Gott um seiner selbst willen gewirkt« (Spr 16,4). Das Gute also, das wir nicht um seiner selbst willen, weil es gut ist, wirken, ist kein göttliches Werk noch wirkt Gott es in uns; sondern jenes andere außer dem Werk, um dessentwillen wir wirken, wirkt es in uns. Deshalb heißt es treffend: »selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit« (Mt 5,6). Gerecht also ist ein Werk, in dem nichts anderes als der Hunger und Durst, das Verlangen und Suchen nach der Gerechtigkeit wirksam ist. Nachher folgt: »selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen« (Mt 5,10). ›Leiden‹ heißt es, nicht ›gelitten haben‹ oder ›leiden werden‹, um anzuzeigen, dass eben im Wirken oder Leiden um der Gerechtigkeit willen die vollkommene Gerechtigkeit besteht. Denn für den Gerechten als solchen ist Gerechthandeln Leben und Sein. Ferner gebraucht (der Herr) auch deshalb die Gegenwartsform ›leiden‹, weil die Gerechtigkeit und ihr Werk, da es ja göttlich ist, nicht vergeht, nach dem Wort: »die Gerechten leben in Ewigkeit« und: »die Gerechtigkeit ist unsterblich« (Weish 5,16). Darauf spielt das Wort aus dem 1. Buch der (Nikomachischen) Ethik an: »offensichtlich besteht ein Unterschied in den Zielen. Die einen bestehen in Tätigkeiten, andere dagegen in gewissen Werken, die aus den Tätigkeiten folgen.«29 Alles Übrige aber, was von der Ruhe Gottes gesagt ist, lässt sich ohne Schwierigkeit auf das sittliche Leben anwenden. n. 178 Damit wird ein Zweites angedeutet: die Vollendung der Tugenden und göttlichen Werke besteht darin, dass das Tun Sein und Leben wird, nach dem Wort: »das ist das ewige Leben, dass sie erkennen« (Joh 17,3). Dann nämlich wird Erkennen Leben sein, und »Leben ist für die Lebenden Sein«: »durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin« (1 Kor 15,10). Und im Buch Vom Geist und von der Seele30 heißt es, die niederen Kräfte (der Seele) werden verwandelt werden und die Eigentümlichkeit der oberen annehmen, und entsprechend

28 29 30

Aristoteles, EN I 1, 1094 a 3–5. Aristoteles, EN II 2, 1104 b 3–5. Vgl. Alcher von Clairvaux, Spir. an., c. 12, PL 40, 788.

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Expositio libri Genesis

Rursus tertio: deus quiescit ab opere, quia bonorum nostrorum non indiget nec quidquam ab iis ipsi accrescit, sed nobis, secundum illud Psalmi: ›oratio mea in sinu meo convertetur‹.

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Erster Genesiskommentar

werden die obersten Kräfte die Eigentümlichkeit von Leben und Sein annehmen, die zum Wesen oder zur Substanz selbst gehören. Wiederum drittens ruht Gott vom Werk, weil er unserer Güter nicht bedarf (vgl. Ps 15,2); auch wächst ihm daraus nichts zu, sondern uns, nach dem Wort: »mein Gebet wird sich in mein Herz zurückwenden« (Ps 34,13).

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Predigt 35

[…] Nû sprichet sant Paulus: ›sît ir ûferstanden mit Kristô, sô suochet   diu dinc, diu oben sint‹. Bî dem êrsten worte meinet er zwêne sinne. Etlîche liute die erstânt halbe, sie üebent sich an einer tugent und niht an der andern. Etlîche liute sint, die von natûre unedel sint, die sint giric ûf rîchtuom. Andere die sint edeler von natûre und enahtent niht guotes, aber sie wellent êre haben. Ein meister sprichet, daz von nôt alle tugende zesamen haftent. Swie daz sî, daz doch ein mensche ûf eine tugent mê sî geneiget dan ûf die andern mit üebenne, doch sô haftent sie von nôt alle mit ein. Etlîche liute erstânt alzemâle, sie erstânt aber niht mit Kristô. Dar umbe, swaz sîn ist, daz sol alzemâle ûfstân. Ein ander wîs vindet man etlîche liute, die erstânt zemâle ûf mit   Kristô; aber er muoz vil wîse sîn, der dâ prüeven sol ein wâr ûferstân mit Kristô. Die meister sprechent, ez sî wâriu urstende, der niht wider enstirbet. Ez enist niergen kein tugent sô grôz, man envinde liute, die sie von natiurlîcher kraft hânt gewürket, wan zeichen und wunder würket dicke natiurlich kraft; wan alliu diu ûzer werk, diu man ie vant an den heiligen, diu hât man ouch vunden an den heidenen. Dar umbe sprichet er: ir sult ûferstân mit Kristô, wan er ist enoben, dâ kein natûre zuo gereichen enmac. Swaz unser ist, daz sol alzemâle ûferstân. […]

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Predigt 35

[...] Nun spricht Sankt Paulus: »Seid ihr auferstanden mit Christus, so suchet die Dinge, die oben sind«. Mit dem ersteren Wort meint er zweierlei Bedeutung. Etliche Leute stehen ¢nur² halb auf, sie üben sich ¢nur² in einer Tugend und nicht in der anderen. Es gibt gewisse Leute, die von Natur unedel sind, die sind begierig nach Reichtum. Andere, die sind von edlerer Natur und achten nicht auf Besitz, sie streben aber nach Ehre. Ein Meister sagt, dass notwendigerweise alle Tugenden zusammenhaften.31 Wiewohl es so ist, dass ein Mensch eine Tugend mehr zu üben geneigt ist als die andere, so hängen sie doch alle notwendigerweise in eins zusammen. Gewisse Leute erstehen ¢zwar² ganz auf, erstehen aber nicht mit Christus auf. Deshalb muss alles, was einem zugehört, allzumal auferstehen. Andererseits ¢wiederum² findet man gewisse Leute, die erstehen ganz mit Christus auf; der muss jedoch sehr weise sein, wer eine wahre Auferstehung mit Christus erfahren soll. Die Meister sagen, das ¢nur² sei wahre Auferstehung, wenn einer nicht wieder stirbt. Es gibt nirgends eine so große Tugend, für die man nicht Leute findet, die sie aus naturgegebener Kraft gewirkt haben, denn oft wirkt naturgegebene Kraft Zeichen und Wunder; hat man doch alle äußeren Werke, die man je an den Heiligen erfand, auch an den Heiden erfunden. Darum sagt er ¢= Paulus²: Ihr sollt auferstehen mit Christus, denn er ist oben, wohin keine Natur zu reichen vermag. Was uns zugehört, das soll allzumal auferstehen. [...]

31

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 65, a. 1.

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Predigt 74

›Er ist lieb gewesen gott vnd den menschen‹ (deß wir nun gedencken),   ›vnd ist gebenedyet vnd ist in gott geheiliget in der klarheit der heiligen‹. So࢑ lche wort lißt man heüt von meinem lieben herren sant Francisco, vnd der wirt hie gelobt an zwey dingen, vnd wer die hat, der ist ein groß mensch. Daz ein ist geware armůt. Man lißt von im, dz er einest gieng mit eim   seinem gesellen. Do begegnet jn ein armer mensch. Do sprach er zů seinem gesellen: Nun hat vns diser mensch geschendet vnd hatt vns laster gethan, das er a࢑ rmer ist dann wir. Diß wort merckent, das er darab geschennt sich selber achtet, dz er yemant fandt, der a࢑ rmer was dann er. Ich pflag etwan ein wort zů sprechen (vnd ist warlich war): Wer da warlich liebhat armůt, dem ist so not darzů, dz er niemant gont, dz er minder hab dann er. Vnd also ist es von allen dingen, es sey reinigkeit, es sey gerechtigkeit, es sey, was tugend er liebhabe, an dem wil er an dem ho࢑ chsten sein. Er wil ymmer den ho࢑ chsten grad haben, den man haben mag in der zeit, vnd mag nit leiden, das icht ob im sey; er wil ymmer die obersten statt haben. Der liebe gnu࢑ gt nit, die weil etwas da ist, da mit man liebhaben mag. Diser heilig hett armůt also seer lieb, das er nit mocht leyden, das yemant a࢑ rmer were dann er. Ie a࢑ rmer der mensch ist im geyst, ye abgescheidner vnd vernichtende mer alle ding; ye a࢑ rmer er ist im geist, ye eigner alle ding sein seind vnd mer sein eigen seind.

Die ander tugent, die einen menschen groß machet, das ist ware   demu࢑ tigkeit; die hat diser heilig volkommenlich vnd vernichtigkeit vnd verworffenheit sein selbs. Dise tugent machet den menschen aller gro࢑ ßt; der diß in dem aller tieffsten vnd in dem volkomnesten hat, der hat müglicheit, alle volkommenheit zů empfahend. […]

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Predigt 74

»Er ist Gott und den Menschen lieb gewesen« – ¢er², dessen wir nun gedenken, – »und ist gebenedeit und ist in Gott in der Verklärung der Heiligen geheiligt« ¢Sir 45,1.2². Solche Worte liest man heute ¢in der Epistel² von meinem lieben Herrn Sankt Franziskus, und der wird hier wegen zweier Dinge gelobt, und wer die hat, der ist ein großer Mensch. Das eine ist wahre Armut. Man liest von ihm, dass er einst mit einem seiner Genossen ging. Da begegnete ihnen ein armer Mensch. Da sagte er zu seinem Genossen: Nun hat uns dieser Mensch damit Schande und Tadel angetan, dass er ärmer ist als wir. Beachtet diese Äußerung, dass er sich dadurch als geschändet erachtete, dass er jemanden fand, der ärmer war als er. Ich pflegte gelegentlich ein Wort zu sagen (und es ist wirklich wahr): Wer die Armut wahrlich liebhat, den drängt es so notwendig dazu, dass er niemandem vergönnt, dass er weniger habe als er. Und so ist es in allen Dingen, es sei Reinheit, es sei Gerechtigkeit, es sei, welche Tugend ¢auch immer² er liebe, darin will er im Höchsten sein. Er will immer den höchsten Grad einnehmen, den man in der Zeit erreichen kann und mag nicht dulden, dass etwas über ihm sei; er will stets den obersten Platz einnehmen. Der Liebe genügt es nicht, solange noch etwas vorhanden ist, womit man lieben kann. Jener Heilige hatte die Armut so sehr lieb, dass er nicht dulden konnte, dass jemand ärmer sei als er. Je ärmer ein Mensch im Geiste ist, umso ›abgeschiedener‹ und alle Dinge mehr zunichte machend ist er; je ärmer im Geiste er ist, umso zugehöriger sind ihm alle Dinge und umso mehr sind sie sein Eigen. Die zweite Tugend, die einen Menschen groß macht, das ist wahre Demut; die besaß jener Heilige vollkommen und Selbsterniedrigung und Selbstverworfenheit. Diese Tugend macht den Menschen am allergrößten; wer dies am allertiefsten und am vollkommensten hat, der besitzt die Möglichkeit, alle Vollkommenheit zu empfangen. [...]

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Predigt 74

Die tugent hat vierley grad. Der erst brichet hindurch vnd machet weg   dem menschen von allen vergengklichen dingen. Der ander benimpt sy dem menschen allzemal. Der dritt benimpt sy nit allein, mer: sy thůt ir allzůmal vergessen, als sy nie wurden, vnd dz ho࢑ ret darzů. Der vierd grad ist allzůmal in gott vnd ist got selb. Als wir hierzů kommen, ›so wirt der kunig begeren vnser gezierd‹. Er spricht weyter: ›Wann er ist der herr, dein got, vnd sy werdent jn   eren vnd anbetten‹. Denn ist vnser herr dein gott; als warlich vnd als gewaltiglich ist er dein, als er sein selbs ist, (gedenck ioch, wie du wilt), so ist er dein. Wie wirt er also din? – das du allzůmal sein seyest. Sol gott mein sein als sein, so sol ich sein sein als mein. […]

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Predigt 74

Die Tugend hat viererlei Grade. Der erste bricht hindurch und bereitet dem Menschen den Weg ¢weg² von allen vergänglichen Dingen. Der zweite ¢Grad² benimmt sie dem Menschen völlig. Der dritte benimmt sie nicht nur, sondern er lässt sie ganz und gar vergessen, so als wenn sie nie gewesen wären, und dies gehört ¢notwendig² dazu. Der vierte ist ganz in Gott und ist Gott selbst. Wenn wir hierzu gelangen, »so wird der König unserer Zierde begehren«. Er ¢= der Prophet² sagt weiterhin: »denn er ist der Herr, dein Gott, und sie werden ihn ehren und anbeten« ¢Ps 44,12². Dann ist unser Herr dein Gott; so wahrlich und so gewaltig ist er dein, wie er sich selbst besitzt, (denk, wie du auch willst,) er ist dein. Wie ¢aber² wird er so dein? – Dadurch, dass du völlig sein seiest. Soll Gott mein sein wie sein, dann muss ich sein sein wie mein.

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Liber parabolarum Genesis

 

n. 63 Hinc est quod bonum ad voluntatem pertinet et amorem.   Voluntas autem et amor descendunt ab intellectu et cognitione et procedunt ab istis, ut impossibile sit quippiam esse volitum vel amatum, quod non fuerit prius cognitum. »Bonum enim apparens«, id est »cognitum«, formale obiectum est voluntatis. Rursus bonum habet proprietatem ultimi, non primi. Non enim dicitur homo bonus nisi per ultima sui, accidentia scilicet, puta scientiam, virtutem et huiusmodi. Quamvis enim principium et finis sint re idem, ipsorum tamen rationes sunt oppositae.

Patet ergo ex praemissis quod intendimus, scilicet quod nihil est sci-   tum, visum et productum aut volitum ab aliquo, nisi prius praefuerit et praesit in eodem. Et haec sufficient quantum ad primum modum probandi, scilicet per rationes. n. 86 Tertia propositio est quod deus, utpote primum agens et movens   supremum omnium quae sunt, praecipit et imperat omnibus, Ez. 34: ›rex unus omnibus imperans‹; Apoc. 1: ›ipsi gloria et imperium in saecula saeculorum‹. Unumquodque autem aliorum quantum fuerit prius et superius, tanto magis et pluribus praecipit et imperat.

Adhuc autem deus cum sit causa omnium et omnibus et quantum   ad omnia, effectus eius, quem imprimit et imponit, ad quem trahit,

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Die Erkenntnis des Guten und ihre Auswirkung auf Begehren und Wille Buch der Bildreden der Genesis

n. 63 Daher kommt es, dass das Gute zum Willen und zur Liebe gehört. Wille und Liebe steigen aber aus dem Verstand und der Erkenntnis ab und gehen aus ihnen hervor, so dass nichts gewollt und geliebt werden kann, was nicht vorher erkannt wäre. Denn »das, was als gut erscheint«32, das heißt (als solches) »erkannt«33 ist, ist der formale Gegenstand des Willens. Ferner ist es dem Guten eigentümlich, Letztes, nicht Erstes zu sein. Ein Mensch heißt nämlich nur aufgrund seiner letzten, das heißt der (zum Menschsein) hinzukommenden (Bestimmtheiten) wie Wissen, Können und dergleichen gut. Denn wenn Ursprung und Endziel auch der Sache nach dasselbe sind, so sind sie doch begrifflich entgegengesetzt. Aus dem Gesagten leuchtet also ein, was wir (beweisen) wollen, nämlich dass niemand etwas wissen, sehen und hervorbringen oder wollen kann, was nicht vorher in ihm war und ist. Das möge für den ersten Beweisgang, (der sich) der Vernunftgründe (bedient), genügen. n. 86 Die dritte These lautet: da Gott ja das erste Wirkende und das oberste Bewegende alles Seienden ist, gebietet und befiehlt er allem: »ein König, der allen befiehlt« (Ez 37,22); »ihm gebührt Ruhm und Herrschaft von Ewigkeit zu Ewigkeit« (Offb 1,6). Von den anderen (Wesen) hingegen gebietet und befiehlt ein jedes umso mehr und umso zahlreicheren (Wesen), je früher und höher es (in der Wesensordnung) steht. Da Gott aber ferner die Ursache von allem, für alles und im Hinblick auf alles ist, ist seine Wirkung, die er einprägt und auferlegt, zu der 32 33

Aristoteles, Phys. II 3, 195 a 25. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 27, a. 2, r.

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Liber parabolarum Genesis

vocat et consulit, necessario est quid commune omnibus. Hoc autem est solum esse et quae cum ente convertuntur, puta unum, verum, bonum, ad quae nihil citra deum attingit, sed ipsa praesupponit in omni actione sua. Propter quod iam non est causa entis, unius, veritatis et bonitatis, sed tantum est causa huius entis, huius unius, huius veri, huius boni. Dando ergo et imprimendo hoc esse, hoc unum, hoc verum et hoc bonum per consequens praecipit hoc et hoc ens et bonum, non autem esse nec bonum simpliciter.

n. 87 Ex his patet quarta propositio et est quod, sicut ignis, generans   et conferens passo formam ignis, praecipit ipsi omnia consona illi formae, puta calefacere, sursum ferri et similia, prohibet autem omne alienum et dissonum ipsi formae, puta infrigidare, deorsum inclinari et huiusmodi, sic deus, cum se toto sit esse et bonus sive bonitas, imprimit, imponit, praecipit, movet, consulit et inspirat bonum, dissuadet autem et prohibet omne dissonum et alienum bono, malum scilicet.

n. 88 His igitur quattuor suppositis patent quinque praemissa supra   et promissa. Primo scilicet, quid sit praeceptum sive praecipere. Est enim praecipere id quod principiare et praecapere actum, quomodo habitus praecapit et praehabet in se actum. Item, cuius sit praecipere. Universaliter causa praecipit suo causato et ipsi leges imponit, quas praeterire non potest in quantum huiusmodi. Sic et superius omne praecipit et leges imponit suo inferiori, non autem pari nec superiori. Sic in naturalibus rectum praecipit et dat leges, cum sit iudex sui et obliqui. Sic in speculabilibus principia dant leges et praecepta conclusionibus. Sic in agibilibus finis praecipit et necessitatem imponit his, quae ad finem sunt. Item ipsum superius hoc ipso et hoc ipsum, quod imprimit et inspirat, praecipit et imponit inferiori, ut dictum est in exemplo de igne generante et generato, ubi naturaliter complacet omne consonum formae ignis, displicet autem omne dissonum ab illa.

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Buch der Bildreden der Genesis

er hinzieht, ruft und rät, notwendig etwas allen Gemeinsames. Das ist aber allein das Sein und was mit dem Seienden vertauschbar ist, nämlich das Eine, das Wahre und das Gute. Alles, was unter Gott ist, reicht an diese nicht heran, sondern setzt sie als Grundlage für all sein Wirken voraus. Es ist daher auch nicht mehr die Ursache des Seienden, des Einen, der Wahrheit und der Gutheit, sondern nur die Ursache dieses Seienden, dieses Einen, dieses Wahren, dieses Guten. Indem es also dieses Sein, dieses Eine, dieses Wahre und dieses Gute verleiht und einprägt, gebietet es folgerichtig (auch nur) dieses und jenes Seiende und Gute, nicht jedoch das Sein oder das Gute schlechthin. n. 87 Daraus erhellt die vierte These, die lautet: wie das Feuer, indem es die Form des Feuers im Erleidenden erzeugt und ihm mitteilt, diesem alles gebietet, was zu jener Form stimmt, nämlich zu erhitzen, nach oben zu streben und ähnliches, hingegen alles verbietet, was jener Form fremd ist und nicht zu ihr stimmt, nämlich abzukühlen, nach unten zu streben und dergleichen, so prägt Gott, der seinem ganzen (Wesen) nach Sein und gut oder Gutheit ist, ein, was gut ist, legt es auf und gebietet es, bewegt und rät dazu und haucht es ein; hingegen widerrät und verbietet er alles, was mit dem Guten nicht übereinstimmt und ihm fremd ist, nämlich das Schlechte. n. 88 Auf der Grundlage dieser vier Thesen ergeben sich die oben versprochenen (Antworten) auf die fünf vorgelegten (Fragen), nämlich erstens, was ein Gebot oder gebieten ist. Gebieten besagt nämlich dasselbe wie Prinzip eines Aktes sein und ihn vorwegnehmen, so wie der Habitus den Akt vorwegnimmt und (bereits) vorher in sich hat. Ferner (die Frage), wessen Sache es ist zu gebieten. Allgemein gebietet die Ursache dem von ihr Verursachten und legt ihm Gesetze auf, die es als solches nicht zu umgehen vermag. So gebietet auch alles Obere seinem Niederen und legt ihm Gesetze auf, aber keinem Gleichen noch einem Oberen. So gebietet in der Naturordnung das Gerade und gibt Gesetze, da es (nach Aristoteles) Richtmaß seiner selbst und des Krummen ist. So geben im Bereich der deduktiven Wissenschaften die Prinzipien die Gesetze und Gebote für die Schlussfolgerungen, während im Bereich des Handelns das Ziel dem gebietet und das notwendig macht, was zum Ziel führt. Ferner: eben das, was das Obere seinem Niederen einprägt und eingibt, gebietet es ihm und legt es ihm auf, und zwar eben durch (den Akt) des Einprägens und Eingebens, wie in dem Beispiel vom erzeugenden

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Liber parabolarum Genesis

Ubi et hoc notandum quod iste est propriissimus et perfectissimus   modus praecipiendi et prohibendi, dum non solum mandatur et praecipitur quippiam alicui verbo vel scripto exteriori transitorio, sed dum ipsa forma rei substantialis et essentialis perseverans in re ipsa semper docet continue, monet et movet, inclinat, suggerit, ostendit et suadet, quid faciendum, quid dimittendum, Psalmus: ›multi dicunt: quis ostendit nobis bona?‹ et sequitur: ›signatum est super nos lumen vultus tui, domine‹. ›Lumen vultus‹ dei intellectus est ›super nos‹ effusus. Similiter autem se habet in singulis formis et essentiis rerum, quae naturaliter praecipiunt et imperant sive eliciunt naturales rerum proprietates earumque operationes. Unde dare ipsis esse et formas est ipsis praecipere et imponere, ut sic agant, et prohibere, ne aliter agant.

Sic enim qui dat habitum virtutis, puta humilitatis, praecipit humili-   ter agere et prohibet superbe agere. Et signum habitus generati est facilitas, promptitudo et delectatio in opere, et virtuosus per hoc distinguitur a non virtuoso, quod ille facit opus mandato accepto forinsecus et ab extra, hic autem, virtuosus scilicet, operatur ex convenientia habitus intus suggerentis et praecipientis, id est principiantis, actum similem sibi. Exemplum est in servo, qui foris accipit mandatum voluntatis domini sui, et in illo, qui ipsam voluntatem domini habet praesentem et informantem et formantem ¢voluntatem² ipsius servi, non iam servi, sed amici potius, cuius est una voluntas et unum velle.

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Buch der Bildreden der Genesis

und erzeugten Feuer gesagt wurde, wo alles, was zur Form des Feuers stimmt, natürliches Gefallen erregt, während alles, was nicht zu ihr stimmt, missfällt. Hierbei ist auch zu bemerken, dass dies die eigentlichste und vollkommenste Weise des Gebietens und Verbietens ist, wenn jemandem etwas nicht nur einmal durch mündlichen oder schriftlichen Befehl von außen her aufgetragen und geboten wird, sondern wenn die Substantial- oder Wesensform des Dinges selbst, die in dem Ding immer fortbesteht, ununterbrochen lehrt, mahnt und bewegt, geneigt macht, nahelegt, hinweist und überredet, was zu tun und was zu unterlassen ist: »viele sagen: wer zeigt uns das Gute?«, worauf folgt: »aufgeprägt ist uns das Licht deines Antlitzes, o Herr« (Ps 4,6f). ›Das Licht des Antlitzes‹ Gottes ist der ›auf uns‹ ausgegossene Verstand. Ähnlich verhält es sich mit den einzelnen Formen und Wesenheiten der Dinge, die von Natur die natürlichen Eigenschaften der Dinge und ihre Wirksamkeiten gebieten und befehlen oder (aus ihnen) hervorlocken. Den Dingen Sein und Form verleihen heißt also ihnen gebieten und auferlegen, so zu wirken, und verbieten, anders zu wirken. Wer demnach einen Tugendhabitus, etwa den der Demut, verleiht, gebietet, demütig zu handeln, und verbietet, hochmütig zu handeln. Das Zeichen für den erzeugten Habitus ist die Unbeschwertheit, Behendigkeit und Freudigkeit beim Handeln, und der Tugendhafte unterscheidet sich dadurch vom Nicht-Tugendhaften, dass dieser aufgrund eines von außen empfangenen Befehles sein Werk tut, während jener, nämlich der Tugendhafte, handelt, wie es dem Habitus angemessen ist, der von innen her einen ihm ähnlichen Akt nahelegt und gebietet, das heißt aus sich als Prinzip hervorgehen lässt. Ein Beispiel hierfür bieten (zwei) Knechte: der eine empfängt die Willenskundgabe seines Herrn als äußeren Befehl, der andere hat den Willen des Herrn (so) gegenwärtig, dass er seinen Willen überformt und (so) gestaltet, dass er nicht mehr Knecht, sondern vielmehr Freund (des Herrn, vgl. Joh 15,14f) und (mit ihm) eines Willens und eines Wollens ist.

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Expositio libri Exodi

n. 205 Quarto decimo ait: non concupisces. Sciendum enim primo   quod secundum Augustinum De Trinitate l. IX c. 9 universaliter res concipitur quidem concupiscentia, sed »adipiscendo nascitur«, differenter tamen se habet in corporalibus et spiritualibus. In corporalibus enim aliud est concipi sive conceptio et aliud nasci sive partus. Et patet hoc manifeste in fetibus animalium. Sic etiam se habet in conceptionibus rerum corporalium. Concupiscere enim et concipere aurum, honores mundanos non est ista adipisci sive in re habere. In rebus autem spiritualibus, puta in iustitia et similibus, ipsa concupiscere utique est ita adipisci et habere: ipsa conceptio est ipsa adeptio. Qui enim vere concupiscit et amat iustitiam, iustus est, ut ibidem ait Augustinus. Et Gregorius dicit quod qui deum amat »profecto iam habet quem amat«.

n. 206 Tunc secundum notandum quod viso, audito, cogitato sive   quomodolibet oblato aliquo sive bono sive malo dupliciter se habet apprehendens illud: aut enim placet ipsum apprehensum apprehendenti et complacet sibi in illo aut displicet. Et si quidem placet, tunc adhaeret illi, et illud iam haeret ipsi et inhaeret ipsi et sic iam concipitur. Si vero displicet ipsi apprehendenti apprehensum et dissidet et non convertitur sed avertitur ab illo, non adhaeret illi, nec illud adhaeret nec inhaeret ipsi, et per consequens non fit conceptio.

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Exoduskommentar

n. 205 Vierzehntens heißt es: du sollst nicht begehren. Zum ersten muss man wissen, dass nach Augustin, 9. Buch Von der Dreifaltigkeit Kapitel 9, ganz allgemein ein Ding zwar durch Begierde (als Wunschbild) empfangen, aber erst »durch Inbesitznahme geboren« wird.34 Jedoch ist dies im körperlichen und im geistigen Bereich verschieden. Bei den körperlichen Wesen ist nämlich Empfangenwerden oder Empfängnis (ihres Wunschbildes) etwas anderes als Geborenwerden oder Geburt, wie man bei den leiblichen Zeugungen deutlich sehen kann. So aber verhält es sich auch mit der Empfängnis (des Wunschbildes) körperlicher Dinge (überhaupt). Gold und weltliche Ehren begehren und (als Wunschbild) empfangen heißt noch nicht, sie erlangen oder tatsächlich besitzen. Bei geistigen Dingen aber, zum Beispiel bei der Gerechtigkeit und dergleichen, ist es ein und dasselbe, sie zu begehren und sie zu erlangen und zu besitzen: Empfängnis ist (hier) Besitz. Denn wer die Gerechtigkeit wahrhaft begehrt und liebt, ist gerecht, wie Augustin an der genannten Stelle sagt. Und Gregor sagt: wer Gott liebt, »hat ohne Zweifel schon den, den er liebt«.35 n. 206 Sodann ist zweitens zu bemerken: wenn jemand etwas Gutes oder Böses gesehen, gehört oder gedacht oder sich irgendwie vorgestellt hat, so kann er sich auf zweierlei Weise verhalten: entweder gefällt ihm sein Gegenstand, und er gefällt sich in ihm, oder er missfällt ihm. Gefällt er ihm, so hängt er ihm an, und sein Gegenstand haftet schon an ihm und in ihm, und so findet bereits eine Empfängnis statt. Missfällt er ihm aber, bleibt er abgeneigt und wendet er sich von ihm ab statt ihm zu, so hängt er ihm nicht an, und der Gegenstand haftet nicht an und in ihm; infolgedessen findet keine Empfängnis statt.

34 35

Augustinus, Trin. IX, 9, 14, CCSL 50, 305. Gregor der Große, Hom. in evangel. II, hom. 30, n. 1, CCSL 141, 256.

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Exemplum est huius in homine sumente cibum vel potum. Nam   sano stomacho cibus haeret, non reicitur, sed concipitur, assumitur et retinetur. Secus de infirmo, qui non concipit nec retinet cibum, sed reicit. Eodem modo in similibus. Propter quod mali est signum, quando infirmus non retinet cibum nec recipit solatia. Probantur haec per illud Eccli. 22: ›musica in luctu importuna narratio‹. Unde e converso fletus dulcis est homini desolato propter convenientiam hinc inde.

n. 207 Patet ergo ex praemissis quod tam in bonis quam in malis   prima origo, puta conceptio, est adhaesio et inhaesio et quod conceptio est in concupiscentia et per concupiscentiam. Et quia, ut dictum est, in spiritualibus conceptio est ipsa parturitio sive partus, propter hoc concupiscens mala iam hoc ipso malus est, Iac. 1: ›concupiscentia cum conceperit, parit peccatum‹; et Augustinus: qualia amas, talis es; si mala, malus es, si bona, bonus es. Hinc est quod Christus, caput bonorum et primogenitus, in figura huius spiritualis vitae etiam corporaliter et spiritualiter simul eodem instanti fuit perfecte natus in utero quo conceptus, utpote de spiritu sancto: ›quod enim in ea natum est, de spiritu sancto est‹, Matth. 2; et Luc. 1: ›concipies in utero et paries filium‹; Ier. 31: ›mulier cicumdabit virum‹.

Ante concupiscentiam autem et extra concupiscentiam nunquam est   peccatum, nec magnum nec parvum. Exemplum huius evidens est in primo peccato hominis. In ipso enim ligno vetito nihil fuit mali, quin immo fuit ›bonum‹, ›pulchrum‹ et suave ›ad vescendum‹. Sed mulier, per quam sensualitas intelligitur, affecta pulchritudine et suavitate iam concepit simul et peperit concipiendo peccatum. ›Peccatum vero‹, quod iam vere peccatum est, quia ipsa conceptio est ipse partus, ›cum consummatum fuerit‹ viro consentiente, ›generat mortem‹, quia tunc demum est mortale. Sed notandum valde quod, quia conceptio est ipse partus, propter hoc viro consentiente etiam conceptioni, puta delectationi cogitationis, iam peccatum est consummatum et generat mortem, unde mortale est.

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Exoduskommentar

Ein Beispiel bietet der Mensch, der Speise oder Trank zu sich nimmt. Ist der Magen gesund, so haftet die Speise und wird nicht zurückgewiesen, sondern empfangen, angenommen und festgehalten. Anders beim kranken (Magen): er empfängt die Speise nicht und hält sie nicht fest, sondern weist sie zurück. Ebenso ist es in ähnlichen Fällen. Es ist daher immer ein schlimmes Zeichen, wenn ein Kranker keine Speise bei sich behält und sich keinen Trost zusprechen lässt. Ein Beweis hierfür ist das Wort: »wie Musik in der Trauer ist eine Rede zur Unzeit« (Sir 22,6). Hingegen verschaffen Tränen einem einsamen Menschen Linderung, weil sie seiner Stimmung entsprechen. n. 207 Aus diesen Ausführungen erhellt, dass für Gutes wie Böses der erste Ursprung, nämlich die Empfängnis, das Haften (des Gegenstandes) an und im (Empfangenden) ist und dass die Empfängnis in der Begierde und durch die Begierde erfolgt. Weil nun, wie gesagt, im geistigen Bereich Empfängnis zugleich Gebären oder Geburt ist, deswegen ist, wer Böses begehrt, dadurch bereits böse: »indem die Begierde empfängt, gebiert sie die Sünde« (Jak 1,15). Augustin: was du liebst, das bist du. Liebst du Böses, bist du böse; liebst du Gutes, bist du gut. Daher kommt es, dass Christus, das Haupt und der Erstgeborene (vgl. Kol 1,18) aller Guten, als Sinnbild dieses geistigen Lebens im Augenblick der Empfängnis in voller Reife des Körpers und des Geistes im Mutterleib geboren wurde, und zwar durch den Heiligen Geist: »was in ihr geboren ist, ist vom Heiligen Geist« (Mt 1,20); »du wirst in deinem Schoß empfangen und einen Sohn gebären« (Lk 1,31); »ein Weib wird einen Mann umschließen« (Jer 31,22). Vor der Begierde aber und außerhalb der Begierde gibt es niemals Sünde, weder große noch kleine. Ein einleuchtendes Beispiel dafür bietet die erste Sünde des Menschen. An dem verbotenen Baum selbst war nämlich nichts Böses, ja es war sogar »gut«, »schön« und süß »davon zu essen« (Gen 3,6). Aber das Weib, unter dem die Sinnlichkeit zu verstehen ist, empfing, von der Schönheit und Süßigkeit ergriffen, und gebar in der Empfängnis sogleich die Sünde. »Wenn aber die Sünde«, die nun schon wahrhaft Sünde ist – denn Empfängnis ist (hier) Geburt – durch Zustimmung des Mannes »vollendet wird, zeugt sie den Tod« (Jak 1,15). Denn nun erst ist sie Todsünde. Aber beachte wohl: weil Empfängnis (hier) Geburt ist, ist die Sünde auch dann schon vollendet, wenn der Mann (nur)

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Exoduskommentar

der Empfängnis, das heißt der Freude am (sündigen) Gedanken zustimmt, und zeugt den Tod, weshalb sie Todsünde ist.

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Predigt 86

 

[...] Nû sprichet Marthâ: ›herre, heiz, daz si mir helfe‹. Diz ensprach   Marthâ niht von hazze, mêr: si sprach ez von einem minnegunste, von dem wart si betwungen. Wir suln im sprechen einen minnegunst oder einen minneschimpf. Als wie? Daz merket! Si sach, daz Marîâ umbegriffen was mit luste nâch aller ir sêle genüegede. Marthâ bekante baz Marîen dan Marîâ Marthen, wan si lange und wol gelebet hâte; wan leben gibet daz edelste bekennen. Leben bekennet baz dan lust oder lieht allez, daz man in disem lîbe under gote enpfâhen mac, und etlîche wîs bekennet leben lûterer, dan êwic lieht gegeben müge. Êwic lieht gibet ze erkennenne sich selber únd got, aber niht sich selber âne got; aber leben gibet ze erkennenne sich selber âne got. Dâ ez sich selber aleine sihet, dâ merket ez baz daz, waz glîch oder unglîch ist. Daz bewîset sant Paulus und ouch die heidenischen meister. Sant Paulus sach in sînem zucke got únd sich selber nâch geistes wîse in gote, und enwas doch niht bildelîche wîs in im eine ieglîche tugent erkennende an daz næhste; und daz was dâ von, daz er sie an werken niht geüebet enhâte. Die meister kâmen mit üebunge der tugende in sô hôch bekantnisse, daz sie eine ieglîche tugent bildelîche nâher bekanten dan Paulus oder dehein heilige in sînem êrsten zucke. [...]

Nû nemet lêre der tugende. Tugenthaft leben hât drî puncte an   willen. Daz eine ist: den willen ûfgeben in got, wan daz muoz sîn, daz man daz volbringe, daz man dâ bekennet, ez sî danne abelegen oder zuonemen. Ez ist drîerleie wille. Der eine ist ein sinnelîcher wille, der ander ist ein redelîcher wille, der dritte ein êwiger wille.

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Das Verhältnis zwischen Willen, Wesen, Werken und Besitz der Tugend Predigt 86

[...] Nun spricht Martha: »Herr, sag ihr, dass sie mir helfen soll«. Dies sagte Martha nicht aus Feindseligkeit, sondern vielmehr getrieben von liebendem Wohlwollen. Wir müssen das wohl als liebendes Wohlwollen oder als eine liebenswürdige Neckerei interpretieren. Wieso? Nun passt auf! Sie sah, dass Maria sich aus voller Seele im Wohlgefühl erging. Martha kannte Maria besser als Maria Martha, da sie lange und in der rechten Weise gelebt hatte; denn das Leben gibt die edelste Erkenntnis. Das Leben erkennt alles, was man in diesem Leben unterhalb von Gott empfangen kann, besser, als Wohlgefühl oder Erleuchtung [wörtlich: Licht] es vermögen, und in gewisser Weise erkennt das Leben in reinerer Form, als sie das ewige Licht zu verleihen vermag. Das ewige Licht gibt sich selbst und Gott zu erkennen, aber nicht sich selbst ohne Gott; das Leben hingegen gibt sich selbst zu erkennen ohne Gott. Wo es nur sich selbst sieht, da nimmt es besser wahr, was gleich und ungleich ist. Das beweisen der hl. Paulus und auch die heidnischen Meister. Der hl. Paulus sah in seiner Verzückung Gott und sich selbst auf geistige Weise in Gott, und doch erkannte er nicht eine jegliche Tugend auf das genaueste in bildlicher Weise; das kam davon, dass er sie nicht in Form von Werken geübt hatte. Die Meister kamen mit Übung der Tugend zu einer so hohen Erkenntnis, dass sie eine jegliche Tugend besser auf bildliche Weise erkannten als Paulus oder sonst ein Heiliger in seiner ersten Verzückung. [...] Nun lasst euch über die Tugenden belehren! Das tugendhafte Leben hat drei Aspekte, die den Willen betreffen. Das eine ist, dass man den Willen in Gott aufgibt, denn es ist erforderlich, dass man das, was man dabei erkennt, vollbringe, sei es das Ablegen [von schlechten Gewohnheiten] oder das Zunehmen [im Tun des Guten]. Der Wille

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Predigt 86

Der sinnelîche wille gebiutet lêre, daz man hœre wâre lêrære. Der redelîche wille daz ist, daz man die vüeze setze in alliu diu werk Jêsû Kristî und der heiligen, daz ist; daz man glîche schicke wort, wandel und gewerp, an daz næhste geordent. Sô diz allez volbrâht wirt, sô gibet got ein anderz in der sêle grunt, daz ist: ein êwiger wille mit lieplîchem gebote des heiligen geistes. Danne sprichet diu sêle: ›herre, sprich in mich, daz dîn êwiger wille sî‹. Sô si alsus genuoc ist dem, als wir hie vor gesprochen hân, gevellet ez danne gote wol, sô sprichet der liebe vater sîn êwigez wort in die sêle. [...]

Marthâ was sô weselich, daz sie ir gewerp niht enhinderte; werk und   gewerp leitte sie ze êwiger sælde. Si wart wol etwaz gemittelt: ez stiuret wol edeliu natûre und stæter vlîz und vor genante tugende. Marîâ was ê Marthâ, ê si Marîâ würde; wan, dô si saz bî den vüezen unsers herren, dô enwas si niht Marîâ: si was ez wol an dem namen, si enwas ez aber niht an dem wesene; wan si saz bî luste und bî süeze und was allerêrst ze schuole gesetzet und lernete leben. Aber Marthâ stuont sô weselîche, dâ von sprach si: ›herre, heiz sie ûfstân!‹, als ob si spræche: ›herre, ich wölte gerne, daz si dâ niht ensæze durch lust; ich wölte, daz si lernete leben, daz si ez weselîche besæze. »Heiz sie ûfstân«, daz si durnehte werde‹. Si enhiez niht Marîâ, dô si bî Kristî vüezen saz. Ich heize daz Marîâ: ein wol geüebeter lîp, gehôrsam einer wîsen sêle. Daz heize ich gehôrsam: swaz bescheidenheit gebiutet, daz des der wille genuoc sî. [...]

Nû wellent etelîche liute dar zuo komen, daz sie werke ledic sîn. Ich   spriche: ez enmac niht gesîn. Nâch der zît, dô die jünger enpfiengen den heiligen geist, dô viengen sie êrste ane, tugende ze würkenne. ›Marîâ saz bî den vüezen unsers herren und hôrte sîniu wort‹ und lernete, wan si allerêrst ze schuole was gesetzet und lernete leben. Aber dar nâch, dô si gelernete und Kristus ze himel gevuor und si den heiligen geist enpfienc, dô vienc si allerêrst ane ze dienenne und vuor über mer und predigete und lêrte und wart ein dienærinne und ein wescherinne der jünger. Sô die heiligen ze heiligen werdent,

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Predigt 86

ist dreifach untergliedert: Der erste ist ein sinnlicher Wille, der zweite ist ein vernunftgeprägter Wille, und der dritte ist ein ewiger Wille. Der sinnliche Wille verlangt Belehrung, die darin besteht, dass man auf wahrhafte Lehrer höre. Der vernunftgeprägte Wille besteht darin, dass man allen Werken Jesu Christi und der Heiligen nachfolge, das heißt, dass man in gleicher Weise [wie sie] Sprache, Lebenswandel und Tätigkeit auf das Höchste hin ausrichte. Wenn all dies erfüllt wird, legt Gott noch etwas anderes in den Grund der Seele, und zwar einen ewigen Willen mit dem lieblichen Gebot des Heiligen Geistes. Dann spricht die Seele: »Herr, sprich in mich, was dein ewiger Wille sei«. Wenn sie also dem, was wir vorher erörtert haben, genügt und es Gott wohlgefällt, dann spricht der liebe Vater sein ewiges Wort in die Seele. [...] Martha war so seinshaft, dass ihre Tätigkeit sie nicht behinderte; ihr Werk und ihre Tätigkeit führten sie zur ewigen Seligkeit. Zu diesem Ziel wurde sie noch durch eine gewisse Vermittlung hingelenkt: eine adlige Natur, stetigen Fleiß und die vorher genannten Tugenden. Maria war zunächst Martha, ehe sie Maria wurde; denn als sie zu den Füßen des Herrn saß, da war sie nicht Maria: sie war es wohl dem Namen, aber nicht dem Sein nach; da hielt sie sich bei dem Wohlgefühl und der Süßigkeit auf und wurde erst in die Schule genommen und lernte leben. Aber Martha stand so seinshaft da und sprach aus dieser Haltung heraus: »Herr, heiß sie aufstehen«, als ob sie sagen wollte: »Herr, ich wollte gerne, dass sie nicht aufgrund des Wohlgefühls dort säße; ich wollte, dass sie lernte zu leben, damit sie es in seinshafter Weise besäße. ›Heiß sie aufstehen!‹, damit sie vollkommen werde«. Sie hieß nicht Maria, als sie zu Füßen Christi saß. Das nenne ich ›Maria‹: einen wohlgeübten Leib, der einer weisen Seele gehorsam ist. Das nenne ich Gehorsam, dass der Wille das ausführt, was das Urteilsvermögen gebietet. [...] Nun wollen gewisse Leute so weit kommen, dass sie auf Werke verzichten können. Ich [aber] sage: das kann nicht sein. Erst nachdem die Jünger den Heiligen Geist empfangen hatten, fingen sie an, Tugenden zu wirken. ›Maria saß dem Herrn zu Füßen und hörte seine Worte‹ und lernte, denn sie wurde erst in die Schule genommen und lernte leben. Aber danach, als sie gelernt hatte und Christus gen Himmel gefahren war und sie den Heiligen Geist empfing, da erst fing sie an zu dienen und fuhr über das Meer und predigte und lehrte und wurde eine Dienerin und Wäscherin der Jünger. Erst wenn die

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Predigt 86

danne allerêrst vâhent sie ane, tugende ze würkenne, wan danne samenent sie hort êwiger sælde. Swaz dâ vor ist gewürket, daz giltet schulde und leitet wîze abe. Des vinden wir geziucnisse an Kristô: von dem anbeginne, daz got mensche wart und mensche got, dô vienc er ane, ze würkenne unser êwigen sælicheit unz an daz ende, daz er starp an dem kriuze. Kein glit was an sînem lîbe, ez enüebete sunderlîche tugent. Daz wir im gewærlîche nâchvolgen an üebunge wârer tugende, des   helfe uns got. Âmen.

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Predigt 86

Heiligen zu Heiligen werden, fangen sie an, Tugenden zu wirken, denn dann sammeln sie einen Schatz ewiger Seligkeit. Was davor gewirkt wird, büßt Schuld ab und bewahrt vor Höllenstrafe. Dafür legt Christus selbst Zeugnis ab: Von Anbeginn, als Gott Mensch und der Mensch Gott wurde, fing er an, unser ewiges Heil zu wirken bis an das Ende, als er am Kreuz starb. Kein Glied war an seinem Leibe, das nicht seine je eigene Tugend geübt hätte. Dass wir ihm in der Übung echter Tugenden wahrhaft nachfolgen, dazu helfe uns Gott. Amen.

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Die rede der underscheidunge

 

Kap. 10: Wie der wille alliu dinc vermac und wie alle tugende in dem willen ligent, ob er anders gereht ist.

 

Der mensche ensol sich sô sêre deheines dinges erschrecken, die wîle   er sich vindet in einem guoten willen, noch ensol sich niht betrüeben, ob er des niht volbringen enmac mit den werken; aber er ensol sich niht verre ahten von den tugenden, als er in im vindet einen rehten guoten willen, wan diu tugent und allez guot liget in dem guoten willen. Dir enmac nihtes gebrechen, ob dû einen wâren, rehten willen hâst, weder minne noch dêmüeticheit noch dehein tugent. Aber, daz dû krefticlîche und mit allem willen wilt, daz hâst dû, und daz enmac dir got und alle crêatûren niht benemen, ob der wille anders ganz und ein rehte götlich wille ist und gegenwertic ist. Niht alsô: ›ich wolte mêr‹, daz wære noch zuokünftic, sunder: ›ich wil, daz ez iezunt alsô sî‹. Nû merke! Wære ein dinc über tûsent mîle und wil ich ez haben, ich hân ez eigenlîcher, dan daz ich in mîner schôz hân und daz ich niht wil haben. Daz guote enist niht minner kreftic ze dem guoten dan daz bœse   ze dem bœsen. Daz merke! Daz ich niemer kein bœse werk getæte, dennoch, hân ich den willen ze dem bœsen, ich hân die sünde, als ob ich diu werk hæte getân; und ich möhte in einem ganzen willen alsô grôze sünde tuon, als ob ich alle werlt hæte getœtet und doch niemer dehein werk dar zuo getæte. War umbe ensolte daz selbe niht mügen gesîn in einem guoten willen? Jâ, vil und unglîches mêr! In der wârheit, mit dem willen vermac ich alliu dinc. Ich mac aller   menschen arbeit tragen und alle armen spîsen und aller menschen werk würken und swaz dû erdenken maht. Gebrichet dir niht an dem willen dan aleine an der maht, in der wârheit, vor gote hâst dû ez allez getân, und enmac dir daz nieman benemen noch dich des geirren einen ougenblik; wan wellen tuon, als balde ich mac, und haben

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Die Reden der Unterweisung

Kapitel 10: Wie der Wille alles vermag, und wie alle Tugenden im Willen liegen, wenn anders er recht ist Der Mensch soll über nichts groß erschrecken, solange er sich in einem guten Willen findet, noch soll er sich betrüben, wenn er ihn nicht in Werken zu vollbringen vermag; wiederum soll er sich nicht als fern von der Tugend achten, wenn er einen rechten, guten Willen in sich findet, denn die Tugend und alles Gute liegt im guten Willen. Dir kann es an nichts fehlen, wenn du einen wahren, rechten Willen hast, weder an Liebe noch an Demut noch an irgendwelcher Tugend. Vielmehr, was du kräftig und mit ganzem Willen willst, das hast du, und Gott und alle Kreaturen können dir das nicht wegnehmen, wenn anders der Wille ein ganzer und ein recht göttlicher Wille und auf die Gegenwart gerichtet ist. Nicht also: »Ich möchte nächstens«, das wäre noch erst zukünftig, sondern: »Ich will, dass es jetzt so sei!« Hör zu: Wäre etwas tausend Meilen weit weg und will ich es haben, so habe ich es eigentlicher als das, was ich in meinem Schoß habe und nicht haben will. Das Gute ist nicht minder mächtig zum Guten als das Böse zum Bösen. Merk dir: Wenn ich auch nimmer ein böses Werk täte, dennoch: habe ich den Willen zum Bösen, so habe ich die Sünde, wie wenn ich die Tat getan hätte; und ich könnte in einem entschiedenen Willen so große Sünde tun, wie wenn ich die ganze Welt getötet hätte, ohne dass ich doch je eine Tat dabei ausführte. Weshalb sollte das Gleiche nicht auch einem guten Willen möglich sein? In der Tat, noch viel und unvergleichlich mehr! Wahrlich, mit dem Willen vermag ich alles. Ich kann aller Menschen Mühsal tragen und alle Armen speisen und aller Menschen Werke wirken und was du nur ausdenken magst. Fehlt es dir nicht am Willen, sondern nur am Vermögen, so hast du es in der Tat vor Gott alles getan, und niemand kann es dir nehmen noch dich nur einen Augenblick daran hindern; denn tun wollen, sobald ich es vermag,

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Die rede der underscheidunge

getân, daz ist vor gote glîch. Ouch, wölte ich als vil willen haben, als alliu diu werlt hât, und ist mîn begerunge dar zuo grôz und ganz, in der wârheit, sô hân ich in; wan, daz ich wil haben, daz hân ich. Ouch, wölte ich in der wârheit als vil minne haben, als alle menschen ie gewunnen, und got als vil loben oder swaz dû erdenken maht, daz hâst dû allez in der wârheit, ob der wille ganz ist. Nû möhtest dû vrâgen, wanne der wille ein reht wille sî? Dâ ist der   wille ganz und reht, dâ er âne alle eigenschaft ist und dâ er sîn selbes ûzgegangen ist und in den willen gotes gebildet und geformieret ist. Jâ, ie des mêr ist, ie der wille rehter und wârer ist. Und in dem willen vermaht dû alliu dinc, ez sî minne oder swaz dû wilt. Nû vrâge: wie möhte ich dise minne gehaben, die wîle ich ir niht   enpfinde noch gewar enwirde, als ich sihe an vil liuten, die bewîsent grôziu werk, und vinde an in grôze andâht und wunder, der ich niht enhân? Hie solt dû zwei dinc merken, diu an der minne sint: daz ein ist ein   wesen der minne, daz ander ist ein werk oder ein ûzbruch der minne. Des wesens der minne stat ist aleine in dem willen; wer mêr willen hât, der hât ouch der minne mêr. Aber, wer des mêr habe, daz enweiz nieman von dem andern, daz liget verborgen in der sêle, die wîle got verborgen liget in dem grunde der sêle. Disiu minne liget alzemâle in dem willen; wer mêr willen hât, der hât ouch mêr der minne. Nû ist ein anderz, daz ist ein ûzbruch und ein werk der minne. Daz   schînet sêre als innicheit und andâht und jubilieren und enist alwege daz beste niht; wan ez enist etwenne von minne niht, sunder ez kumet von natûre etwenne, daz man solchen smak und süezicheit hât, oder ez mac des himels îndruk sîn, oder ez mac sinnelich îngetragen sîn. Und die des mêr hânt, daz ensint alwege die aller besten niht; wan, ez sî ouch, daz ez wol von gote sî, sô gibet unser herre daz solchen liuten durch ein lückern und durch ein reizen und ouch, daz man dâ mite sêre enthalten wirt von andern. Aber die selben, sô sie her nâch mêr minne gewinnent, sô enhânt sie lîhte niht als vil vüelennes und enpfindennes und dar ane schînet wol, daz sie minne hânt, ob sie âne solchen enthalt gote ganze und stæte triuwe haltent.

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Die Reden der Unterweisung

und getan haben, das ist vor Gott gleich. Wollte ich ferner so viel Willen haben, wie die ganze Welt hat, und ist mein Begehren danach groß und umfassend, wahrhaftig, so habe ich ihn; denn was ich haben will, das habe ich. Ebenso: Wenn ich wahrhaft so viel Liebe haben wollte, wie alle Menschen je gewannen, und wenn ich Gott ebenso sehr loben wollte, oder was du sonst ausdenken magst, das hast du wahrhaftig alles, wenn der Wille vollkommen ist. Nun könntest du fragen, wann der Wille ein rechter Wille sei? Dann ist der Wille vollkommen und recht, wenn er ohne jede Selbstverhaftetheit ist und wo er sich seiner selbst entäußert hat und in den Willen Gottes hineingebildet und -geformt ist. Ja, je mehr dem so ist, desto rechter und wahrer ist der Wille. Und in solchem Willen vermagst du alles, es sei Liebe oder was du willst. Nun fragst du: »Wie könnte ich die Liebe haben, solange ich sie nicht empfinde noch ihrer gewahr werde, wie ich es an vielen Menschen sehe, die große Werke aufzuweisen haben und an denen ich große Andacht und andere bewundernswerte Dinge finde, von denen ich nichts habe?« Hier musst du zwei Dinge beachten, die sich in der Liebe finden: Das eine ist das Wesen der Liebe, das andere ist ein Werk oder ein Ausbruch der Liebe. Die Stätte des Wesens der Liebe ist allein im Willen; wer mehr Willen hat, der hat auch mehr Liebe. Aber wer davon mehr habe, das weiß niemand vom anderen; das liegt verborgen in der Seele, dieweil Gott verborgen liegt im Grunde der Seele. Diese Liebe liegt ganz und gar im Willen; wer mehr Willen hat, der hat auch mehr Liebe. Nun gibt es aber noch ein zweites: das ist ein Ausbruch und ein Werk der Liebe. Das sticht recht in die Augen, wie Innigkeit und Andacht und Jubilieren, und ist dennoch nicht in jedem Fall das Beste. Denn es stammt mitunter gar nicht von der Liebe her, sondern es kommt bisweilen aus der Natur, dass man solches Wohlgefühl und süßes Empfinden hat, oder es mag des Himmels Einfluss oder auch durch die Sinne eingetragen sein; und die dergleichen öfter erfahren, das sind nicht in jedem Fall die Allerbesten. Denn sei es auch, dass es wirklich von Gott stamme, so gibt unser Herr das solchen Menschen, um sie zu locken oder zu reizen und auch wohl, auf dass man dadurch von anderen Menschen recht ferngehalten wird. Wenn aber diese selben Menschen hernach an Liebe zunehmen, so mögen sie leicht

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Die rede der underscheidunge

Nû sî, daz ez zemâle minne sî, sô enist ez doch daz aller beste niht;   daz schînet dar ane: wan man sol solchen jubilus underwîlen lâzen durch ein bezzerz von minne und underwîlen durch ein minnewerk ze würkenne, dâ man sîn nôt hât, geistlîchen oder lîplîchen. Als ich mêr gesprochen hân: wære der mensche alsô in einem înzucke, als sant Paulus was, und weste einen siechen menschen, der eines suppelîns von im bedörfte, ich ahtete verre bezzer, daz dû liezest von minne von dem und dientest dem dürftigen in mêrer minne. [...]  

Kap. 21: Von dem vlîze [...] Der mensche sol sich wenen, daz er des sînen in keinen dingen   niht ensuoche noch enmeine und daz er got in allen dingen vinde und neme. Wan got engibet keine gâbe noch nie gegap, daz man die gâbe hæte und dar ane geruowete; sunder alle die gâbe, die er ie gegap in himel und ûf erden, die gap er alle dar umbe, daz er éine gâbe geben möhte: daz was er selber. Mit disen gâben allen wil er uns bereiten ze der gâbe, diu er selber ist; und alliu diu werk, diu got ie geworhte in himel und in erden, diu worhte er durch éines werkes willen, daz er daz möhte gewürken: daz ist in sæligen, daz er uns möhte sæligen. Alsô spriche ich: in allen gâben und in allen werken suln wir got lernen anesehen, und an nihte suln wir uns lâzen genüegen und an nihte stân blîben. Ze keiner wîse enist unsers stânnes in disem lebene, noch nie menschen enwart, swie verre er ouch ie kam. Vor allen dingen sol sich der mensche alle zît haben gerihtet gegen den gâben gotes und alwege niuwe. Ich spriche kurzlîchen von einem menschen, der wolte sêre gerne von   unserm herren etwaz haben; dâ sprach ich: si enwære niht wol bereit, und gæbe ir got die gâbe alsô unbereit, sô sölte si verderben.

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Die Reden der Unterweisung

nicht mehr so viele Gefühle und Empfindungen haben, und daran erst wird ganz deutlich, dass sie Liebe haben: wenn sie ¢auch² ohne solchen Rückhalt Gott ganz und fest Treue bewahren. Gesetzt nun, dass es voll und ganz Liebe sei, so ist es doch das Allerbeste nicht. Das wird aus Folgendem deutlich: Man soll nämlich von solchem Jubilus bisweilen ablassen um eines Besseren aus Liebe willen und um zuweilen ein Liebeswerk zu wirken, wo es dessen nottut, sei es geistlich oder leiblich. Wie ich auch sonst schon gesagt habe: Wäre der Mensch so in Verzückung, wie es Sankt Paulus war, und wüsste einen kranken Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich erachtete es für weit besser, du ließest aus Liebe von der Verzückung ab und dientest dem Bedürftigen in größerer Liebe. [...]

Kapitel 21: Vom Fleiße [...] Der Mensch muss sich daran gewöhnen, in nichts das Seine zu suchen und zu erstreben, vielmehr in allen Dingen Gott zu finden und zu erfassen. Denn Gott gibt keine Gabe und hat noch nie eine gegeben, auf dass man die Gabe besitze und bei ihr ausruhe. Alle Gaben vielmehr, die er je im Himmel und auf Erden gegeben hat, die gab er alle nur zu dem Ende, dass er eine Gabe geben könne: die ist er selber. Mit allen jenen Gaben will er uns nur bereiten zu der Gabe, die er selber ist; und alle Werke, die Gott je im Himmel und auf Erden wirkte, die wirkte er nur, um ein Werk wirken zu können, d.ௗh.: sich zu beseligen, auf dass er uns beseligen könne. So denn sage ich: In allen Gaben und Werken müssen wir Gott ansehen lernen, und an nichts sollen wir uns genügen lassen und bei nichts stehen bleiben. Es gibt für uns kein Stehenbleiben bei irgendeiner Weise in diesem Leben und gab es nie für einen Menschen, wie weit er auch je gedieh. Vor allen Dingen soll sich der Mensch allzeit auf die Gaben Gottes gerichtet halten und immer wieder von neuem. Ich will kurz von einer erzählen, die wollte sehr gern von unserem Herrn etwas haben; ich aber sagte da, sie sei nicht recht bereitet, und wenn Gott ihr so unvorbereitet die Gabe gäbe, so würde diese verderben.

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Die rede der underscheidunge

Ein vrâge: war umbe was si niht bereit? Si hâte doch einen guoten   willen, wan ir sprechet, daz ér alliu dinc vermüge und in dem alliu dinc und volkomenheit lige? Daz ist wâr. Ez sint zwêne sinne ze nemenne an dem willen: der ein ist   ein zuovallender wille und ein ungewesenter wille, der ander ist ein zuoverhengender wille und machender wille und ein gewenter wille. Triuwen, des enist niht genuoc, daz des menschen gemüete abege-   scheiden sî in einem gegenwertigen puncten, als man sich gote vüegen wil, sunder man muoz eine wolgeüebete abegescheidenheit haben, diu vor- und nâchgânde sî. Denne mac man grôziu dinc von gote enpfâhen und got in den dingen. Und ist man unbereit, man verderbet die gâbe und got mit der gâbe. Daz ist diu sache, daz uns got niht gegeben enmac alle zît, als wir ez biten. Ez gebrichet an im niht, wan im ist tûsentstunt gæher ze gebenne wan uns ze nemenne. Aber wir tuon im gewalt und unreht mit dem, daz wir in sînes natiurlîchen werkes hindern mit unser unbereitschaft. Der mensche sol sich in allen gâben lernen selber ûz im tragen   und niht eigens behalten noch nihtes ensuochen, weder nutz noch lust noch innicheit noch süezicheit noch lôn noch himelrîche noch eigenen willen. Got gegap sich nie noch engibet sich niemer in deheinen vremden willen. Niht engibet er sich dan in sîn selbes willen. Swâ got sînen willen vindet, dâ gibet er sich în und læzet sich in den mit allem dem, daz er ist. Und ie wir mêr des unsern entwerden, ie mêr wir in disem gewærlîcher werden. Dar umbe enist im niht genuoc, daz wir ze éinem mâle ûfgeben uns selber und allez, daz wir hân und vermugen, sunder wir suln uns dicke erniuwen und alsô einigen und erledigen uns selber in allen dingen. Ouch ist ez sêre nütze, daz im der mensche niht lâze genüegen   dar ane, daz er hât die tugende in dem gemüete als gehôrsame, armuot und ander tugende, sunder der mensche sol sich selber an den werken und an den vrühten üeben der tugende und sich dicke versuochen und begern und wellen von den liuten werden geüebet und versuochet. Wan dâ mite enist ez niht genuoc, daz man tuo diu werk der tugent oder die gehôrsame getuon müge oder armuot oder smâcheit enpfâhen müge oder daz man sich mit einer andern wîse

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Die Reden der Unterweisung

Nun fragt ihr: »Warum war sie nicht bereitet? Sie hatte doch einen guten Willen, und Ihr sagt doch, dass der alle Dinge vermöge und in ihm lägen alle Dinge und ¢alle² Vollkommenheit?« Das ist wahr, ¢jedoch² muss man beim Willen zweierlei Bedeutungen unterscheiden: Der eine Wille ist ein zufälliger und unwesentlicher Wille, der andere ist ein entscheidender und schöpferischer und ein eingewöhnter Wille. Nun genügt es in der Tat ¢aber² nicht, dass des Menschen Gemüt in einem eben gegenwärtigen Zeitpunkt, da man sich Gott ¢gerade² verbinden will, abgeschieden sei, sondern man muss eine wohlgeübte Abgeschiedenheit haben, die ¢schon² vorausgeht wie ¢auch² nachdauert; ¢nur² dann kann man große Dinge von Gott empfangen und Gott in den Dingen. Ist man aber unvorbereitet, so verdirbt man die Gabe und Gott mit der Gabe. Das ist auch der Grund, weshalb uns Gott nicht allzeit geben kann, wie wir es erbitten. An ihm fehlt’s nicht, denn er hat es tausendmal eiliger zu geben als wir zu nehmen. Wir aber tun ihm Gewalt an und Unrecht damit, dass wir ihn an seinem natürlichen Wirken hindern durch unsere fehlende Bereitschaft. Der Mensch muss lernen, bei allen Gaben sein Selbst aus sich herauszuschaffen und nichts Eigenes zu behalten und nichts zu suchen, weder Nutzen noch Lust noch Innigkeit noch Süßigkeit noch Lohn noch Himmelreich noch eigenen Willen. Gott gab sich nie noch gibt er sich je in irgendeinen fremden Willen; nur in seinen eigenen Willen gibt er sich. Wo aber Gott seinen Willen findet, da gibt er und lässt er sich in ihn hinein mit allem dem, was er ist. Und je mehr wir dem Unseren entwerden, umso wahrhafter werden wir in diesem. Darum ist es damit nicht genug, dass wir ein einzelnes Mal uns selbst und alles, was wir haben und vermögen, aufgeben, sondern wir müssen uns oft erneuern und uns selber so in allen Dingen einfaltig und frei machen. Auch ist es sehr von Nutzen, dass der Mensch sich nicht daran genügen lasse, dass er die Tugenden, wie Gehorsam, Armut und andere Tugend, ¢lediglich² im Gemüte habe; vielmehr soll sich der Mensch selbst in den Werken und Früchten der Tugend üben und sich oft erproben und ¢überdies² begehren und wünschen, durch die Leute geübt und erprobt zu werden, ¢denn² damit ist es nicht genug, dass man die Werke der Tugend wirke, Gehorsam leiste, Armut oder Verachtung auf sich nehme oder sich auf andere Weise demütig

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Die rede der underscheidunge

gedêmüetigen oder gelâzen müge, sunder man sol dar nâch stân und niemer ûfhœren, biz man die tugent gewinne in irm wesene und in irm grunde. Und daz man sie habe, daz mac man an dem prüeven: als man sich ze der tugent vindet geneiget vor allen dingen, und wenne man diu werk der tugent würket âne bereitunge des willen und würket sie ûz sunder eigenen ûfsaz einer gerehten oder grôzen sache und si würket sich als mêr durch sich selber und durch die minne der tugent und umbe kein warumbe – denne hât man die tugent volkomenlîche und niht ê. Als lange lerne man sich lâzen, biz daz man niht eigens enbeheltet.   Al gestürme und unvride kumet zemâle von eigenem willen, man merke ez oder enmerke ez niht. Man sol sich selber und mit allem dem sînen in einem lûtern entwerdenne willen und begerennes legen in den guoten und liebesten willen gotes mit allem dem, daz man wellen und begern mac in allen dingen. [...]

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Die Reden der Unterweisung

oder gelassen halte; man soll vielmehr danach trachten und nimmer aufhören, bis man die Tugend in ihrem Wesen und Grunde gewinne. Und dass man sie habe, das kann man daran erkennen: wenn man sich vor allen anderen Dingen zur Tugend geneigt findet und wenn man die Werke der Tugend wirkt ohne ¢besondere² Bereitung des Willens und sie ohne besonderen eigenen Vorsatz zu einer gerechten und großen Sache wirkt, sie sich vielmehr um ihrer selbst willen und aus Liebe zur Tugend und um keines Warum willen wirkt, ௅ dann hat man die Tugend vollkommen und eher nicht. So lange lerne man sich lassen, bis man nichts Eigenes mehr behält. Alles Gestürm und aller Unfriede kommt allemal vom Eigenwillen, ob man es merke oder nicht. Man soll sich selbst mit allem dem Seinen in lauterem Entwerden des Wollens und Begehrens in den guten und liebsten Willen Gottes legen mit allem dem, was man wollen und begehren mag in allen Dingen. [...]

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Predigt 32

 

[...] Der hœhsten krefte der sêle der sint drî: diu êrste ist bekantnisse,   diu ander irascibilis, daz ist ein ûfkriegendiu kraft; daz dritte ist der wille. Swenne sich diu sêle ziuhet an die bekantnisse der rehten wârheit, an die einvaltige kraft, dâ man got ane bekennet, dâ heizet diu sêle ein lieht. Und got ist ouch ein lieht; und swenne sich daz götlîche lieht giuzet in die sêle, sô wirt diu sêle mit gote vereinet als ein lieht mit liehte; sô heizet ez ein lieht des glouben, und daz ist ein götlîchiu tugent. Und dar diu sêle mit irn sinnen noch kreften niht komen enmac, dâ treget sie der gloube hine. Daz ander ist diu ûfkriegende kraft, der werk ist daz eigenlîche,   daz si ûfkriegende ist. Als dem ougen daz eigen ist, daz ez sehe gestaltnisse und varwe, und dem ôren daz eigen ist, daz ez hœre süeze lûte und stimme, alsô ist der sêle ein eigen werk, daz si an der kraft âne underlâz ûfkriegende ist; und sihet si bî sîten, sô vellet si an hôchmuot, daz ist sünde. Si enmac niht gelîden, daz iht ob ir sî. Ich wæne, si joch niht gelîden enmüge, daz got ob ir sî; er ensî in ir und si enhabe ez als guot als er selber, sô enmac si niemer geruowen. An dirre kraft wirt got begriffen an der sêle als verre, als ez der crêatûre mügelich ist, und sô heizet ez ein hoffenunge, daz ist ouch ein götlîchiu tugent. An der hât diu sêle sô grôzen zuoverlâz ze gote, daz sie dünket, daz got in allem sînem wesene niht enhabe, ez ensî ir mügelich ze enpfâhenne. Her Salomôn sprichet, daz ›verstolne wazzer süezer sîn‹ dan ander wazzer. Sant Augustînus sprichet: die birn wâren mir süezer, die ich verstal, dan die mir mîn muoter koufte, dar umbe, daz sie mir verboten und beslozzen wâren. Alsô ist der sêle vil süezer diu gnâde, die si erkrieget mit sunderlîcher wîsheit und vlîze, dan die allen liuten gemeine ist.

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Die drei göttlichen Tugenden Predigt 32

[...] Der höchsten Kräfte der Seele sind drei: die erste ist Erkenntnis, die zweite irascibilis, das ist eine aufstrebende Kraft; die dritte ist der Wille. Wenn die Seele sich der Erkenntnis der rechten Wahrheit hingibt, der einfaltigen Kraft, in der man Gott erkennt, dann heißt die Seele ein Licht. Und auch Gott ist ein Licht; und wenn das göttliche Licht sich in die Seele gießt, so wird die Seele mit Gott vereint wie ein Licht mit dem Lichte; dann heißt es ein Licht des Glaubens, und das ist eine göttliche Tugend. Und wohin die Seele mit ihren Sinnen und Kräften nicht kommen kann, da trägt sie der Glaube hin. Die zweite ist die aufstrebende Kraft, deren Werk es recht eigentlich ist, dass sie nach oben strebt. So wie es dem Auge eigen ist, Gestalten und Farben zu sehen, und es dem Ohr eigen ist, süße Laute und Stimmen zu hören, so ist es der Seele eigen, mit dieser Kraft unablässig aufzustreben; sieht sie aber beiseite, so verfällt sie dem Hochmut, das ¢aber² ist Sünde. Sie kann nicht ertragen, dass irgendetwas über ihr sei. Ich glaube, sie kann sogar nicht ertragen, dass Gott über ihr sei; wenn er nicht in ihr ist und sie es nicht ebenso gut hat wie er selbst, so kann sie nimmer zur Ruhe kommen. In dieser Kraft wird Gott in der Seele ergriffen, soweit es ¢überhaupt² der Kreatur möglich ist, und im Hinblick darauf spricht man von der Hoffnung, die auch eine göttliche Tugend ist. In der hat die Seele so große Zuversicht zu Gott, dass es sie dünkt, Gott habe in seinem ganzen Sein nichts, das zu empfangen ihr nicht ¢auch² möglich wäre. Herr Salomon sagt, dass »gestohlenes Wasser süßer« sei als anderes Wasser ¢Spr 9,17². Sankt Augustinus sagt: Die Birnen waren mir süßer, die ich stahl, als die mir meine Mutter kaufte, eben weil sie mir verboten und ¢vor mir² verschlossen waren.36 So auch ist der Seele die Gnade viel süßer, die

36

Augustinus, Conf. II, 4, 9, CSEL 33, 36.

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Predigt 32

Diu dritte kraft daz ist der inwendige wille, der als ein antlütze alle   zît ze gote gekêret ist in götlîchen willen und schepfet von gote die minne in sich. Dâ wirt got gezogen durch die sêle und diu sêle wirt gezogen durch got und heizet ez ein götlîchiu minne, und daz ist ouch ein götlîchiu tugent. Götlîchiu sælicheit liget an drin dingen: daz ist an bekantnisse, daz er sich selben endelîche bekennet, daz ander vrîheit, daz er unbegriffen und unbetwungen blîbet von aller sîner crêatûre, und an volkomener genüegede, daz er sich selben und aller crêatûre genüeget. Dar ane liget ouch der sêle volkomenheit: an bekantnisse und an begrîfenne, daz si got begriffen hât, und an vereinunge volkomener minne. [...]

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Predigt 32

sie mit besonderer Weisheit und Beflissenheit erringt, als die, welche allen Leuten gemein ist. Die dritte Kraft, das ist der innere Wille, der wie ein Antlitz allzeit Gott zugekehrt ist in göttlichen Willen und aus Gott die Liebe in sich schöpft. Da wird Gott durch die Seele gezogen, und die Seele wird gezogen durch Gott, und das heißt eine göttliche Liebe, und auch das ist eine göttliche Tugend. Gottes Seligkeit ist gelegen an drei Dingen, und zwar: an der Erkenntnis, mit der er ¢= Gott² sich selbst vollends erkennt; zum zweiten an der Freiheit, in der er unbegriffen und uneingeschränkt von seiner ganzen Schöpfung bleibt, und ¢schließlich² am vollkommenen Genügen, in dem er sich selbst und aller Kreatur genügt. Daran nun auch ist der Seele Vollkommenheit gelegen: an der Erkenntnis und am Begreifen, dass sie Gott ergriffen hat, und an der Vereinigung in vollkommener Liebe. [...]

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Predigt 33

Sant Paulus sprichet: ›die heiligen hânt überwunden diu rîche mit   dem glouben‹. Vier künicrîche hânt die heiligen überwunden, und diu suln wir ouch überwinden. Daz êrste rîche ist diu werlt; der werlt rîche sol man überwinden mit armuot des geistes. Daz ander rîche ist unsers vleisches; daz suln wir überwinden mit hunger und mit durste. Daz dritte rîche ist des tiuvels; daz suln wir überwinden mit jâmer und mit pîne. Daz vierde rîche ist unsers herren Jêsû Kristî; daz suln wir überwinden mit kraft der minne. Hæte der mensche alle die werlt, sô sol er doch sich dünken arm und   sol alle zît ûzrecken die hant vür die tür unsers herren gotes und biten umbe daz almuosen der gnâde unsers herren, wan diu gnâde machet sie gotes kint. Dar umbe sprichet Dâvît: ›herre, alliu mîniu gerunge ist vor dir und nâch dir‹. Sant Paulus sprichet: ›alliu dinc sint mir als ein pfuol, umbe daz ich gewuocher unsern herren Jêsum Kristum‹. Ez ist unmügelich, daz deheiniu sêle âne sünde sî, gotes gnâde envalle in sie. Der gnâde werk ist, daz si die sêle snel machet und gevüege ze allen götlîchen werken, wan diu gnâde vliuzet ûz dem götlîchen brunnen und ist ein glîchnisse gotes und smacket als got und machet die sêle gote glîch. Swenne sich diu selbe gnâde und der smak wirfet in den willen, sô heizet ez ein minne; und swenne sich diu gnâde und der smak wirfet in die redelîche kraft, sô heizet ez ein lieht des glouben; und swenne sich diu selbe gnâde und smak wirfet in die zürnerîn, daz ist diu ûfkriegende kraft, sô heizet ez ein hoffenunge.

Dar umbe heizent sie götlîche tugende, daz sie götlîchiu werk wür-   kent in der sêle, als man prüeven mac bî der kraft der sunnen, daz si lebendigiu werk würket ûf dem ertrîche, wan si alliu dinc lebendic machet und entheltet an irm wesene. Vergienge daz lieht, sô

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Predigt 33

Sankt Paulus spricht: »Die Heiligen haben die Reiche mit dem Glauben überwunden« ¢Hebr 11,32f². Vier Königreiche haben die Heiligen überwunden, und die sollen auch wir überwinden. Das erste Reich ist die Welt; der Welt Reich soll man überwinden mit Armut des Geistes. Das zweite Reich ist das unseres Fleisches; das sollen wir überwinden mit Hunger und mit Durst. Das dritte Reich ist das des Teufels; das sollen wir überwinden mit Jammer und mit Pein. Das vierte Reich ist das unseres Herrn Jesus Christus; das sollen wir überwinden mit der Kraft der Liebe. Besäße der Mensch die ganze Welt, so sollte er sich doch arm dünken und sollte allzeit die Hand der Tür unseres Herrn und Gottes entgegenstrecken und um das Almosen der Gnade unseres Herrn bitten, denn die Gnade macht die Menschen zu Kindern Gottes. Darum spricht David: »Herr, mein ganzes Verlangen ist vor dir und nach dir« ¢Ps 37,10². Sankt Paulus spricht: »Alle Dinge sind mir ¢soviel² wie ein Pfuhl, auf dass ich unsern Herrn Jesus Christus gewinne« ¢Phil 3,8². Es ist unmöglich, dass irgendeine Seele ohne Sünde sei, ohne dass Gottes Gnade in sie falle. Der Gnade Werk ist, dass sie die Seele behende macht und gefügig für alle göttlichen Werke, denn die Gnade fließt aus dem göttlichen Born und ist ein Gleichnis Gottes und schmeckt wie Gott und macht die Seele Gott ähnlich. Wenn sich eben diese Gnade und dieser Geschmack in den Willen wirft, dann heißt dies Liebe; und wenn sich die Gnade und der Geschmack in die Verstandeskraft wirft, dann heißt dies ein Licht des Glaubens; und wenn sich die nämliche Gnade und der Geschmack in die ›Zürnerin‹ ¢= irascibilis, Zornkraft²; das ist die aufstrebende Kraft, wirft, dann heißt dies Hoffnung. Darum heißen sie göttliche Tugenden, weil sie göttliche Werke in der Seele wirken, so wie man an der Kraft der Sonne erkennen kann, dass sie belebende Werke auf der Erde wirkt, denn sie macht alle Dinge lebendig und erhält sie in ihrem Sein. Verginge dieses

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Predigt 33

vergiengen alliu dinc, als dô sie niht enwâren. Alsô ist ez in der sêle: swâ diu gnâde ist und diu minne, dem menschen sint lîhte ze tuonne alliu götlîchiu werk, und ist ein gewis zeichen, swelhem menschen swære sint ze tuonne götlîchiu werk, daz dâ kein gnâde inne ist. Dar umbe sprichet ein meister: ich enurteile die liute niht, die guotiu kleit tragent oder wol ezzent, ob sie die minne hânt. Ich enhân mich ouch niht grœzer, ob ich ein hart leben hân, dan ob ich prüeve, daz ich der minne mê hân. Ez ist ein grôz tôrheit, daz manic mensche vil vastet und betet und grôziu werk tuot und alle zît aleine ist, daz er niht enbezzert sîne site und ist ungeruowic und zornic. Er solte prüeven, dâ er aller krenkest ane wære, dâ solte er sînen vlîz zuo kêren, wie er daz überwünde. Swenne er wol geordent ist an sînen siten, swaz er danne tuot, daz behaget gote.

Und alsô überwindet man diu rîche.

 

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Predigt 33

Licht, so vergingen alle Dinge ¢und würden so², wie da sie noch nicht waren. Ganz so ist es in der Seele: Wo die Gnade ist und die Liebe, da sind dem Menschen alle göttlichen Werke leicht zu tun, und es ist ein sicheres Zeichen, dass da, wo es einem Menschen schwerfällt, göttliche Werke zu tun, keine Gnade darin ist. Darum sagt ein Meister: Ich verurteile die Leute nicht, die gute Kleider tragen oder gut essen, sofern sie Liebe haben. Ich halte mich auch nicht für größer, wenn ich ein hartes Leben habe, als wenn ich feststelle, dass ich mehr Liebe habe. Es ist eine große Torheit, dass mancher Mensch viel fastet und betet und große Werke verrichtet und sich allzeit allein hält, wenn er nicht seinen Lebenswandel bessert und unruhig und zornig ist. Er sollte darauf achten, worin er am schwächsten wäre; darauf sollte er seinen Fleiß richten, wie er das überwände. Wenn er wohlgeordnet ist in seinem Wandel, was immer er dann tut, das ist Gott wohlgefällig. Und so ›überwindet‹ man die ›Reiche‹.

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Expositio libri Exodi

n. 98 Rursus quarto videtur dicendum quod praeceptum caritatis   convenienter valde non est positum inter decem praecepta, de quibus hic est mentio. Ratio est, quia lex vetus est lex timoris, lex autem nova lex est amoris sive caritatis. »Brevis«, ait Augustinus, »differentia legis« veteris et novae »timor et amor«. Ioh. 13: ›mandatum novum do vobis, ut diligatis‹; et ibidem 15: ›hoc est praeceptum meum, ut diligatis‹. ›Meum‹ inquit filius, verbum in carne. Rom. 8: ›non accepistis spiritum servitutis in timore, sed accepistis spiritum adoptionis filiorum‹, id est amoris. Filius enim a philos, quod est amor, dictus est.

n. 99 Argumentum autem et signum dictorum est quod in tota lege   Moysi non memini quod alicubi dilectio dei ponatur sub imperativo modo sive praeceptivo, ut dicatur: ›dilige‹, sed Deut. 6 dicitur: ›diliges‹, quod magis est exhortatorium sive promissorium. Unde hic c. 20 scribitur: ›misericordiam his, qui diligunt me‹. Hinc est quod Matth. 5 filius dei, ›filius dilectionis‹, ipse ait: ›dictum est: diliges‹. ›Ego autem dico vobis: diligite‹, imperative scilicet.

Adhuc autem notandum quod li ›diliges‹ Deut. 6 non solum non   est positum imperative aut sicut praeceptum, sed promissive aut etiam sicut praemium, fructus et ›finis praecepti‹. Ratio est, quia qui diligit proximum sicut se ipsum, ¢Matth. 22², et tamquam se ipsum, Marci ¢12², id est tantum quantum se ipsum – hoc enim sonat tamquam: tantum quantum – omnia quae sunt proximi, sive in merito sive in praemio, tantum sunt sua, quantum si ipse in se ipso esset operatus merito aut possideret in praemio. Notavi de hoc diffuse

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Exoduskommentar

n. 98 Wiederum viertens: es erscheint sehr passend, dass das Gebot der Liebe nicht unter den zehn Geboten, von denen hier die Rede ist, steht. Der Grund ist: das alte Gesetz ist das Gesetz der Furcht, das neue Gesetz aber das Gesetz der Liebe. Augustin sagt: »der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Gesetz ist, kurz gesagt, der zwischen Furcht und Liebe«37. »Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr liebt« (Joh 13,34) und: »das ist mein Gebot, dass ihr liebt« (Joh 15,12). ›Mein‹ spricht der Sohn, das fleischgewordene Wort. »Ihr habt nicht den Geist der Knechtschaft in Furcht empfangen, sondern ihr habt den Geist der Sohnschaft – das ist: der Liebe – empfangen« (Röm 8,15). Filius (Sohn) kommt nämlich von philos (Liebe). n. 99 Ein Beweis und ein Zeichen für das Gesagte ist aber, dass, soweit ich mich entsinne, im ganzen Gesetz des Moses die Liebe zu Gott nirgends in der Befehls- oder Gebotsform vorkommt, so dass es etwa hieße: »liebe«, sondern es heißt: »du wirst lieben« (Dt 6,5), was eher eine Mahnung oder Verheißung ist. Daher steht hier: »Erbarmen über die, die mich lieben« (20,6). Darum sagt der Sohn Gottes, »der Sohn der Liebe« (Kol 1,13), selbst: »es ist gesagt worden: du wirst lieben«. »Ich aber sage euch: liebt« (Mt 5,43f.), in der Befehlsform also. Ferner aber ist noch zu bemerken, dass »du wirst lieben« (Dt 6,5) nicht allein nicht in der Befehlsform oder wie ein Gebot, sondern wie eine Verheißung oder auch wie Lohn, Frucht und »Ziel des Gebotes« (1 Tim 1,5) steht. Der Grund ist: wer seinen Nächsten wie sich selbst (vgl. Mt 22,39) und sich selbst gleich (vgl. Mk 12,31), das ist ebenso sehr wie sich selbst liebt – diesen Sinn hat nämlich ›gleich‹: ebenso sehr –, dem ist alles, was seinem Nächsten als Verdienst oder als Lohn zusteht, in demselben Maße eigen, als wenn er es selbst in sich als verdienstliches Werk getan hätte oder als Lohn besäße. Ich

37

Augustinus, C. Adim., c. 17, CSEL 25/1, 166,27f.

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Expositio libri Exodi

et luculenter super illo Matth. 22: ›diliges proximum tuum‹ etc. et super illo: ›omnia vestra sunt‹, 1 Cor. 3.

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Exoduskommentar

habe darüber ausführlich genug bei Auslegung der Worte: »du sollst deinen Nächsten lieben (wie dich selbst«, Mt 22,39) und: »alles ist euer« (1 Kor 3,22) gehandelt.

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Sermo XXV

 

n. 254 Secundum hoc gratia dei in verbis praemissis laudatur et   praedicatur a forma, quia gratia, ab efficiente: dei, a fine: sum id quod sum. Ex forma est rei cuiuslibet pretiositas et speciositas, ex efficiente generositas, ex fine fructuositas. De primo Sap. 7: ›vapor est virtutis dei et emanatio dei sincera‹. Et post 8 c: ›in animas sanctas se transfert, amicos dei et prophetas constituit‹. Haec est ›mulier illa prudentissima et speciosa‹, quae virum suum a morte liberavit, oves et familiam salvavit, iram regis David placavit, Reg. 25. ›Mulier speciosa‹, quia ex forma, ut dictum est, accipitur rei speciositas, Sap. 7: ›speciosior sole est‹. Adhuc autem ex forma est rei pretiositas. Gratia quid pretiosius? Iob 28: ›nescit homo pretium eius‹. Propter quod damnatur simoniaca pravitas, quae gratiam pretio aestimavit. Thomas docet quod perfectio gratiae uniuscuiuslibet hominis praeponderat etc. Gratia quid speciosius?

n. 255 Sequitur de causa ipsius gratiae emanatio, cum dicitur: dei.   Ex qua patet et accipitur rei generositas, Sap. 8: ›generositatem illius glorificat contubernium habens dei‹. Gratia dei ratione caelestis est, divina est, a solo deo et immediate est. ›Nihil inquinatum incurrit in illam‹, quia nihil creatum cooperatur ad illam.

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Gnade, »Einströmen« der Gerechtigkeit und Abgeschiedenheit als höchste Tugend Lateinische Predigt XXV

n. 254 Demgemäß wird in den voraufgehenden Textworten die Gnade Gottes gelobt und gepriesen von ihrer Form her: durch die Gnade, vom Bewirkenden her: Gottes, vom Ziel her: bin ich das, was ich bin. Von der Form her stammt der Wert und die Schönheit eines jeglichen Dinges, vom Bewirkenden her sein Adel, vom Ziel her seine Fruchtbarkeit. Vom ersten (gilt das Wort): »sie ist der Gluthauch der Kraft Gottes und ein reiner Ausfluss Gottes« (Weish 7,25), und das folgende Wort: »in heilige Seelen ergießt sie sich, macht sie zu Gottesfreunden und Propheten« (V. 27). Sie ist »jene sehr kluge und schöne Frau«, die ihren Mann vom Tode befreite, Haus und Hof rettete und den Zorn des Königs David besänftigte (1 Kön 25), »Eine schöne Frau«, denn von der Form her empfängt, wie gesagt, ein Ding seine Schönheit; »sie ist schöner als die Sonne« (Weish 7,29). Weiter aber stammt von der Form der Wert eines Dinges. Was ist wertvoller als die Gnade? »Der Mensch kennt nicht ihren Wert« (Ijob 28,13). Daher wird das Verbrechen der Simonie verurteilt, weil sie die Gnade nach einem Kaufwert einschätzt. Thomas lehrt, dass die Vollkommenheit der Gnade eines jeden einzelnen Menschen mehr wert ist (als die Schöpfung des Himmels und der Erde).38 Was ist schöner als die Gnade? n. 255 Das folgende Gottes bezeichnet die Wirkursache der Gnade. Daraus erhellt und versteht sich der Adel der Sache: »ihren Adel verherrlicht, wer Gemeinschaft mit Gott hat« (Weish 8,3). Die Gnade Gottes ist ihrem Wesensgehalt nach himmlisch, göttlich, sie kommt von Gott allein und unmittelbar her. »Nichts Beflecktes hat Zugang zu ihr« (Weish 7,25), denn nichts Geschaffenes wirkt bei ihr mit. 38

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 113, a. 9, r.

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Sermo XXV

n. 256 Gratia dei. Gratia, quia gratis data, quia sine merito, Eph. 2:   ›gratia salvi facti estis‹. Sapientes antiquorum et praecipuorum aliqui ponebant formas substantiales esse quidem a datore aliquo deo formarum, sed tamen dari secundum merita materiarum. Propter quod nec semper datur forma materiae nec omni materiae nec omnis forma semper. Non ergo gratis. Deus autem ›dat‹, contra primum; ›omnibus‹, contra secundum; ›affluenter‹, contra tertium. Quia igitur sine merito, gratis et pro nihilo dat deus sua dona et gratiam, dicitur Sap. 8: ›attingit a fine usque ad finem fortiter‹ etc. ›Suaviter‹: primo, quia sua vi; secundo, quia pro nihilo; tertio, quia primo dat se ipsum; quarto, ¢quia² quod operatur nobis et in nobis, passive ab extra est; quinto, quia operatur bonum in communi. Ubi prosequere quam utiliter, quam pacifice viveret universum, si pars universo serviret.

n. 259 Adhuc prima gratia consistit in quodam effluxu, egressu,   regressu a deo. Secunda consistit in quodam refluxu sive regressu in ipsum deum. Hoc tamen habent commune gratia prima et secunda quod utraque est a solo deo. Propter quod ait apostolus: gratia dei. Ratio, quia gratia est ex sui natura quod datur sine meritis, datur gratis, pro nihilo, sine medio disponente. Hoc autem competit tantum primo, quodcumque sit illud in suscipiente. Primum autem in singulis est id, quod a deo est. Aliter enim deus non esset prima causa nec deus esset. Primum autem est ex nihilo, et ante ipsum est nihil, et sic sine merito, sine medio, sine dispositione, et per consequens gratis. Sic ergo omnis operatio dei in creatura gratia est.

n. 260 Hinc iterum est illud Sap. 8: ›attingit a fine usque ad finem   fortiter et disponit omnia suaviter‹. ›Suaviter‹ dando habitum. Virtus enim sive habitus in nobis ex actibus adhuc dissimilibus nascitur, ideo cum labore. Secus de habitu infuso. Ubi nota quomodo inferius dimensiones praecedunt formam, secus in caelo. Iterum ibi caelum prius quam hoc caelum, e converso inferius prius hic homo quam homo. In actione singularium enim natura occulte operatur. Vel: prius caelum quam hoc caelum, quia caelum est per formam, hoc caelum

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n. 256 Durch die Gnade Gottes. Gratia (Gnade), weil gratis, das heißt ohne Verdienst gegeben: »durch Gnade seid ihr erlöst worden« (Eph 2,8). Die Weisen des Altertums und einige hervorragende Denker (der neueren Zeit) lehrten, die Wesensformen stammten zwar von einem göttlichen Formgeber, sie würden aber nach dem Verdienst der Stoffe verteilt, (die diese Formen empfangen). Deshalb wird die Form weder immer noch jedem Stoff gegeben, aber auch nicht immer jede Form, also nicht unverdient. Gott aber »gibt«, entgegen dem ersten, »allen«, entgegen dem zweiten, »überreichlich« (Jak 1,5), entgegen dem dritten. Weil Gott also seine Gaben und seine Gnade ohne Verdienst, ohne Gegengabe und umsonst gibt, darum heißt es: »er reicht von einem Ende zum anderen in Stärke (und ordnet alles lieblich«, Weish 8,1). ›Lieblich‹ heißt es erstens, weil (Gott) durch eigene Kraft (gibt); zweitens, weil er ohne Gegengabe (gibt); drittens, weil er zuerst sich selbst gibt; viertens, weil das, was er für uns und in uns wirkt, wir von außen her empfangen; fünftens, weil er das Gute im Allgemeinen wirkt. Dabei führe weiter aus, wie nützlich, wie friedlich das All leben würde, wenn (jeder) Teil dem All diente. n. 259 Weiter besteht die erste Gnade in einer Art Ausfluss, Ausgang von Gott; die zweite besteht in einer Art Rückfluss oder Rückkehr in Gott. Die erste und zweite Gnade haben aber gemeinsam, dass sie beide von Gott allein herstammen. Deswegen sagt der Apostel: durch die Gnade Gottes. Grund, weil die Gnade ihrer Natur nach das ist, was ohne Verdienst, umsonst, für nichts, ohne vorbereitendes Mittel gegeben wird. Dies aber steht allein dem Ersten zu, was immer es im Empfangenden sein mag. Das Erste in jedem Wesen ist aber das, was von Gott ist. Sonst wäre nämlich Gott nicht die erste Ursache, noch wäre er Gott. Das Erste aber ist aus dem Nichts und vor ihm ist nichts, und so (wird es) ohne Verdienst, ohne Mittel, ohne Vorbereitung, und folglich umsonst (gegeben). So ist also jedes Wirken Gottes im Geschöpf Gnade. n. 260 Auch deshalb heißt es: »er reicht von einem Ende zum anderen in Stärke und ordnet alles lieblich« (Weish 8,1). ›Lieblich‹, indem er allem den Habitus gibt. Denn die Tugend oder der (erworbene) Habitus entspringt in uns aus (einzelnen) Akten, die zunächst noch unähnlich sind, (er entspringt) daher unter Anstrengung. Anders verhält es sich mit dem eingegossenen Habitus. Dabei bemerke, dass hienieden die Abmessungen der Form vorangehen; beim Himmel ist es umgekehrt. Ferner ist da der Himmel als solcher vor seiner indi-

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per dimensiones. Sic in nobis, si divini sumus, si caelestes, si ›nostra conversatio in caelis est‹, amore, non terreni timore, fit opus suave.

n. 261 Item ›suaviter‹, quia primo se ipsum dat. Item ›a fine in finem‹,   et quia principium ipsum est finis. Finis autem semper suavis est. Item ›a fine‹ adepto ›ad finem‹ relictum, ›ibique renascens‹. Et propter hoc ›fortiter‹: semper revirescit et vigorescit. Item ›suaviter‹, quia actio respicit bonum absolute semper, non hoc aut illud bonum particulare. .

n. 262 Gratia dei sum id quod sum. Gratia longe super caritatem:   primo sicut anima super potentiam, secundo sicut esse super opus, tertio sicut principium et causa super causatum, et sic extra genus, sicut scis, et consequenter est super intellectum. Nam intellectus potentia est et in ratione veri versatur. Gratia dei sum id quod sum, id ipsum, Psalmus: ›in id ipsum dormiam et requiescam‹.

n. 263 Gratia dei id sum quod sum. Nota primo quod gratia est   ebullitio quaedam parturitionis filii, radicem habens in ipso patris pectore intimo. Vita est, non solum esse – ›nomen eius: verbum‹ – eminentior natura. Non ergo inter omnia, sed super omnia bona. Item respectu suscipientis gratiam gratia est confirmatio, configuratio sive potius transfiguratio animae in deum et cum deo. Secundo dat esse unum cum deo, quod est plus assimilatione. Nota quomodo verbum assumpsit naturam, quae est aequaliter ad omnem hominem. In Christo autem non est aliud esse quam esse divinum.

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viduellen Bestimmtheit; umgekehrt ist hienieden der Einzelmensch vor dem Menschen als solchem. Denn beim Wirken der Einzeldinge ist die Natur in verborgener Weise tätig. Oder: der Himmel als solcher ist vor seiner individuellen Bestimmtheit, weil er Himmel durch seine Form, individuell bestimmt aber durch seine Abmessungen ist. So wird in uns unser Werk lieblich, wenn wir durch die Liebe göttlich, wenn wir durch sie himmlisch sind, wenn »unser Wandel im Himmel ist« (Phil 3,20), nicht irdisch durch die Furcht. n. 261 Ferner: »lieblich«, weil (Gott) zuerst sich selbst gibt. Ferner: »von einem Ziel zum anderen« (Weish 8,1); erstens, weil der Ursprung selbst das Ziel ist – das Ziel aber ist immer lieblich – und ferner: »vom Ziel«, das erreicht ist, (wieder zurück) »zum Ziel«, das (anfangs) zurückgelassen wurde, »und dort vollzieht sich die Wiedergeburt« (Koh 1,5). Und deshalb »in Stärke«: ständig erstarkt und belebt er sich von neuem. Ferner »lieblich«, weil sein Wirken sich immer auf das Gute schlechthin bezieht, nicht auf dies oder jenes einzelne Gute. n. 262 Durch die Gnade Gottes bin ich das, was ich bin. Die Gnade steht hoch über der Liebe: erstens so hoch, wie die Seele über einem (ihrer) Vermögen, zweitens so hoch, wie das Sein über dem Werk, drittens so hoch, wie der Ursprung und die Ursache über dem Verursachten steht, und so ist sie außerhalb der Gattung, wie du weißt, und folglich ist sie auch über dem Intellekt. Denn der Intellekt ist ein (Seelen-)Vermögen und bewegt sich in der Gattung des Wahren. Durch die Gnade Gottes bin ich das, was ich bin, d.ௗh. identisch: »in der Identität will ich schlafen und ruhen« (Ps 4,9). n. 263 Durch die Gnade Gottes bin ich das, was ich bin. Bemerke erstens, dass die Gnade eine Art Übersprudeln der Zeugung des Sohnes ist und ihre Wurzel im innersten Herzen des Vaters hat. Sie ist Leben, nicht nur Sein – »sein Name ist: das Wort« (Offb 19,13) – erhabener als die Natur. Sie ist also nicht eins unter allen Gütern, sondern über allen. Für den, der sie empfängt, ist die Gnade eine Festigung, eine Gleichgestaltung der Seele mit Gott oder vielmehr deren Umgestaltung in Gott. Zweitens verleiht sie das Eines-Sein mit Gott, das mehr ist als Verähnlichung. Bemerke, dass das Wort eine Natur angenommen hat, die sich gleichmäßig zu allen Menschen verhält. In Christus aber ist kein anderes Sein als das göttliche Sein.

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n. 264 Gratia dei. Nota quod gratia est a solo deo pari ratione sicut et   ipsum esse. Praeterea sicut aer totus se habet immediate ad solem in ratione illuminabilis, quamvis sit ordo partium aeris in situ, sic omnis creatura immediate se habet ad deum quantum ad esse, quantum ad gratiam et quantum ad omnes perfectiones, maxime communes, indeterminatas ad hoc et hoc. Hoc enim et hoc creatura est, proprium est, mendacium est. Hinc est quod huiusmodi, scilicet perfectiones communes et gratia, dicuntur gratis dari, a deo dari, sine meritis dari scilicet, quia nihil creatum se habet ad huiusmodi active aut fortassis dispositive proprie. Hinc est quod dicitur gratia esse supernaturalis.

n. 265 Rursus etiam causalitas non est sine ordine. Creaturae   autem non habent ordinem ad invicem nisi quantum ad differentias, non autem quantum ad genus. Omnes enim species sunt in genere et aequalem habent ordinem ad genus. Aequaliter enim participant genus suum, sed inaequalitas ipsis ex suis differentiis et per consequens ordo. Hinc est quod ordinem habent ad invicem, non autem ad genus. Sic et potentiae animae se habent ad ipsam animam. Unde secundum ordinem potentiarum animae est ordo specierum animalis.

n. 266 Ubi notandum quod creatura universaliter non videtur esse   capax passive sive susceptive gratiae aut cuiusquam perfectionis, communis maxime, in quantum creatura sive ¢in² quantum hoc et hoc, sed solum ut in ordine ad deum, circumscripta et exuta ab omni ordine et respectu sui ad se aut at aliud creatum sive ad hoc et hoc. Unde Augustinus dicit quod anima eo quod imago dei est capax. Imago enim, in quantum imago, se tota ad illud est, cuius imago est, sive in ordine, quem ad illud habet, et ad nihil ¢aliud². Ad hoc est etiam quod convenientur dicitur … ¢Dicitur² enim: ›nisi quis renuntiaverit omnibus, quae possidet‹ etc. Item: ›beati pauperes‹. Item: ›abneget semet ipsum‹. Item: ›obliviscere populum tuum et domum patris tui‹. Item: ›egredere de terra tua‹ etc. Item: ›dedit eis potestatem

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n. 264 Durch die Gnade Gottes. Bemerke, dass die Gnade von Gott allein herkommt aus dem gleichen Grund wie auch das Sein. Außerdem: wie die ganze Luft sich unmittelbar zur Sonne verhält hinsichtlich ihrer Erleuchtbarkeit, obwohl die einzelnen Luftteilchen verschieden angeordnet sind, so verhält sich jedes Geschöpf unmittelbar zu Gott hinsichtlich des Seins, hinsichtlich der Gnade und hinsichtlich aller Vollkommenheiten, am meisten der allgemeinen, die nicht auf dies und das beschränkt sind. Denn das Dies und Das ist Geschöpf, ist Eigenes, ist Lüge. Daher werden, wie man sagt, dergleichen Dinge, nämlich die allgemeinen Vollkommenheiten und die Gnade, umsonst gegeben, von Gott gegeben, das heißt ohne Verdienst gegeben, weil nichts Geschaffenes sich zu dergleichen Dingen tätig oder etwa im eigentlichen Sinne vorbereitend verhält. Daher heißt die Gnade übernatürlich. n. 265 Wiederum gibt es auch Ursächlichkeit nur da, wo es Hinordnung (aufeinander) gibt. Die Geschöpfe sind aber nur insofern aufeinander hingeordnet, als sie verschieden sind, nicht insofern sie der Gattung (Geschöpf) angehören. Denn alle Arten gehören irgendeiner Gattung an und sind in gleicher Weise auf sie hingeordnet. Denn sie nehmen in gleicher Weise an ihrer Gattung teil, aber ihre Ungleichheit kommt ihnen aufgrund ihrer Artunterschiede zu, und folglich auch ihre Hinordnung aufeinander. Daher kommt es, dass (die Geschöpfe) wohl aufeinander hingeordnet sind, nicht aber auf ihre Gattung (Geschöpf). So haben auch die Seelenvermögen das (gleiche) Verhältnis zur Seele. Daher ergibt sich aus der Hinordnung der Seelenvermögen die Ordnung der Arten der Gattung Sinneswesen. n. 266 Hier ist nun zu bemerken: es scheint allgemein so zu sein, dass kein Geschöpf als solches oder, insofern es dies und das ist, für die Gnade oder irgendeine Vollkommenheit, besonders eine allgemeine, aufnahmefähig oder -bereit ist, sondern nur, insofern es auf Gott hingeordnet und von all seiner Beziehung und Rücksicht auf sich oder ein anderes Geschaffenes oder ein Dies und Das gelöst und befreit ist. Daher sagt Augustin, die Seele sei nur dadurch, dass sie Bild Gottes ist, für ihn empfänglich.39 Denn das Bild ist als Bild ganz auf das bezogen und hingeordnet, dessen Bild es ist, und diese Hinordnung hat es nur zu diesem und zu nichts anderem. Dem entspricht auch die zutreffende Lehre, (dass wir uns verleugnen und auf das Eigene verzichten müssen). Es heißt ja: »wenn einer nicht auf

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filios dei fieri‹, ›qui non ex sanguinibus‹ etc. Abnegatio proprii est abnegatio creaturae sive huius et huius. Hoc enim et hoc proprium est, creatura est.

n. 267 Gratia dei sum. Nota quod gratia non est in potentia animae,   sed in substantia, in intimo scilicet vel potius in ipso esse animae, quia sum id quod sum. Secundo nota consequenter ex hoc quod in anima si est gratia, est omnis gratia. Eccli. 24: ›in me gratia omnis‹. Primo, quia anima talis deum habet, qui est fons omnis gratiae, illuminans omnem hominem. Secundo, quia omnis vel nulla. ›Lux‹ enim ›quae illuminat omnem hominem‹ unica est, id ipsum in omnibus et omnia unum in illo cui relucet. Sic et gratia. Tertio, quia ipsi esse animae, in quo gratia ponitur, nihil est absens. Nihil enim potest ¢de²esse et esse absens ipsi esse. Praeterea esse commune est omnibus, non solum commune aut idem in omnibus, et sic semper nihil gratiae deest ipsi esse animae. Quarto, quia conexae sunt virtutes et omnis gratia in esse. Vide super ›conexio virtutum‹. Anima vero per suum esse stat in esse dei, in deo. Ubi nota quod omnia sunt in deo tantum ratione sui esse et ut sic se totis.

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alles verzichtet, was er besitzt, (kann er mein Jünger nicht sein«, Lk 14,33); »selig sind die Armen« (Mt 5,3); »er verleugne sich selbst« (Mt 16,24); »vergiss dein Volk und das Haus deines Vaters« (Ps 44,11); »zieh aus deinem Lande (und von deiner Verwandtschaft und aus dem Hause deines Vaters«, Gen 12,1); »denen gab er Macht, Gottes Söhne zu werden, die nicht aus dem Blute (... sondern aus Gott geboren sind«, Joh 1,12.13). Das Eigene verleugnen heißt das Geschaffene, heißt dies und das verleugnen. Denn das Dies und Das ist Eigenes, ist Geschöpf. n. 267 Durch die Gnade Gottes bin ich. Bemerke, dass die Gnade nicht im Vermögen der Seele ist, sondern in ihrem Wesen, nämlich im Innersten oder vielmehr im Sein der Seele selbst, denn ich bin das, was ich bin. Zweitens zieh daraus die Folgerung: wenn in der Seele die Gnade ist, ist alle Gnade in ihr; »in mir ist alle Gnade« (Sir 24,25). Denn erstens besitzt eine solche Seele Gott, welcher der Quell aller Gnade ist und jeden Menschen erleuchtet. Zweitens, entweder ist alle oder gar keine (Gnade) da. Denn »das Licht, das jeden Menschen erleuchtet« (Joh 1,9), ist ein einziges, ist dasselbe in allen, und alles ist eines in jenem, dem es leuchtet. So ist es auch bei der Gnade. Drittens, dem Sein der Seele, in dem nach unserer Ansicht die Gnade ist, ist nichts fern. Denn dem Sein kann nichts fehlen oder fern sein. Außerdem ist das Sein allen Dingen gemeinsam und nicht nur in allen gemeinsam oder dasselbe, und so fehlt dem Sein der Seele niemals etwas von der Gnade. Viertens, die Tugenden und alle Gnaden sind im Sein verknüpft. Sieh (die Aufzeichnungen) über »Verknüpfung der Tugenden«.40 Die Seele aber steht durch ihr Sein im Sein Gottes, in Gott. Dazu bemerke, dass alles nur aufgrund seines Seins in Gott ist und insofern ganz und gar.

39 40

Vgl. Augustinus, Trin. XIV, 8, 11, CCSL 50A, 436. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 65, a. 1.

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Von abegescheidenheit

Ich hân der geschrift vil gelesen, beidiu von den heidenischen meis-   tern und von den wîssagen und von der alten und niuwen ê, und hân mit ernste und mit ganzem vlîze gesuochet, welhiu diu hœhste und diu beste tugent sî, dâ mite der mensche sich ze gote allermeist und aller næhest gevüegen müge und mit der der mensche von gnâden werden müge, daz got ist von natûre, und dâ mite der mensche aller glîchest stande dem bilde, als er in gote was, in dem zwischen im und gote kein underscheit was, ê daz got die crêatûre geschuof. Und sô ich alle die geschrift durchgründe, als verre mîn vernunft erziugen und bekennen mac, sô envinde ich niht anders, wan daz lûteriu abegescheidenheit ob allen dingen sî, wan alle tugende hânt etwaz ûfsehennes ûf die crêatûre, sô stât abegescheidenheit ledic aller crêatûren. Dar umbe sprach unser herre ze Marthâ: ›unum est necessarium‹, daz ist als vil gesprochen: Marthâ, wer unbetrüebet und lûter welle sîn, der muoz haben einez, daz ist abegescheidenheit.

Die lêrære lobent die minne grœzlîche, als sant Paulus tuot, der   sprichet: ›in waz üebunge ich mac gestân, enhân ich niht minne, sô enbin ich nihtes niht‹. Sô lobe ich abegescheidenheit vür alle minne. Von êrste dar umbe, wan daz beste, daz an der minne ist, daz ist, daz si mich twinget, daz ich got minne, sô twinget abegescheidenheit got, daz er mich minne. Nû ist vil edellîcher daz ich twinge got ze mir, dan daz ich mich twinge ze gote. Und ist daz dâ von, wan got kan sich învüeclîcher vüegen ze mir und baz vereinigen mit mir, dan ich mich künde vereinigen mit gote. Daz abegescheidenheit twinge got ze mir, daz bewære ich dâ mite: wan ein ieclich dinc ist gerne an sîner natiurlîchen eigen stat. Nû ist gotes natiurlîchiu eigen stat einicheit und lûterkeit, daz kumet von abegescheidenheit. Dâ von muoz got von nôt sich selber geben einem abegescheidenen herzen.

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Von Abgeschiedenheit

Ich habe viele Schriften gelesen sowohl der heidnischen Meister wie der Propheten, des Alten und des Neuen Testaments, und habe mit Ernst und mit ganzem Eifer danach gesucht, welches die höchste und die beste Tugend sei, mit der sich der Mensch am meisten und am allernächsten Gott verbinden und mit der der Mensch von Gnaden werden könne, was Gott von Natur ist, und durch die der Mensch in der größten Übereinstimmung mit dem Bilde stände, das er in Gott war, in dem zwischen ihm und Gott kein Unterschied war, ehe Gott die Kreaturen erschuf. Und wenn ich alle Schriften durchgründe, soweit meine Vernunft es zu leisten und soweit sie zu erkennen vermag, so finde ich nichts anderes, als dass lautere Abgeschiedenheit alles übertreffe, denn alle Tugenden haben irgendein Absehen auf die Kreatur, während Abgeschiedenheit losgelöst von allen Kreaturen ist. Darum sprach unser Herr zu Martha: »Unum est necessarium« ¢Lk 10,42², das besagt so viel wie: Martha, wer unbetrübt und lauter sein will, der muss Eines haben, das ist Abgeschiedenheit. Die Lehrer loben die Liebe in hohem Maße, wie es Sankt Paulus tut, der sagt: »Welches Tun auch immer ich betreiben mag, habe ich die Liebe nicht, so bin ich nichts« ¢vgl. 1 Kor 13,1f². Ich hingegen lobe die Abgeschiedenheit vor aller Liebe. Zum ersten deshalb, weil das Beste, das an der Liebe ist, dies ist, dass sie mich zwingt, dass ich Gott liebe, wohingegen die Abgeschiedenheit Gott zwingt, dass er mich liebe. Nun ist es um vieles vorzüglicher, dass ich Gott zu mir zwinge, als dass ich mich zu Gott zwinge. Und das liegt daran, weil Gott sich eindringlicher zu mir fügen und besser mit mir vereinigen kann, als ich mich mit Gott vereinigen könnte. Dass Abgeschiedenheit ¢aber² Gott zu mir zwinge, das beweise ich damit, dass ein jegliches Ding gern an seiner naturgemäßen eigenen Stätte ist. Gottes naturgemäße eigene Stätte ist nun Einheit und Lauterkeit; das aber kommt von

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Von abegescheidenheit

Ze dem andern mâle lobe ich abegescheidenheit vür minne, wan   minne twinget mich dar zuo, daz ich alliu dinc lîde durch got, sô bringet mich abgescheidenheit dar zuo, daz ich nihtes enpfenclich bin wan gotes. Nû ist vil edeler nihtes niht enpfenclich sîn wan gotes, dan alliu dinc lîden durch got, wan in dem lîdenne hât der mensche etwaz ûfsehennes ûf die crêatûre, von der der mensche daz lîden hât, sô stât abegescheidenheit genzlîche ledic aller crêatûre. [...]

Die meister lobent ouch dêmüeticheit vür vil ander tugende. Aber   ich lobe abegescheidenheit vür alle dêmüeticheit, und ist daz dar umbe, wan dêmüeticheit mac gestân âne abegescheidenheit, sô enmac volkomeniu abegescheidenheit niht gestân âne volkomene dêmüeticheit, wan volkomeniu dêmüeticheit gât ûf ein vernihten sîn selbes. Nû rüeret abegescheidenheit alsô nâhe dem nihte, daz zwischen volkomener abegescheidenheit und dem nihte kein dinc gesîn enmac. Dâ von enmac volkomeniu abegescheidenheit niht gesîn âne dêmüeticheit. Nû ist alle zît zwô tugende bezzer dan einiu. Diu ander sache ist, war umbe ich lobe abegescheidenheit vür dêmüeticheit, wan volkomeniu dêmüeticheit ist sich selber neigende under alle crêatûre, und in dér neigunge sô gât der mensche ûz im selber ûf die crêatûre, sô blîbet abegescheidenheit in ir selber. Nû enmac kein ûzganc niemer sô edel werden, daz inneblîben ensî vil edeler in im selber. Dâ von sprach der wîssage Dâvît: ›omnis gloria eius filiae regis ab intus‹, daz ist gesprochen: ›des küniges tohter hât alle ir êre von ir inwendicheit‹. Volkomeniu abegescheidenheit enhât kein ûfsehen ûf keine neigunge   under keine crêatûre noch über keine crêatûre; si enwil weder under noch obe sîn, si wil alsô stân von ir selber, niemanne ze liebe noch

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Von Abgeschiedenheit

Abgeschiedenheit. Deshalb muss Gott notwendig sich selbst einem abgeschiedenen Herzen geben. Zum zweiten lobe ich die Abgeschiedenheit vor der Liebe, weil die Liebe mich dazu zwingt, dass ich alle Dinge um Gottes willen ertrage, während Abgeschiedenheit mich dazu bringt, dass ich für nichts empfänglich bin als für Gott. Nun ist es viel wertvoller, für nichts empfänglich zu sein denn für Gott, als alle Dinge zu ertragen um Gottes willen. Denn im Leiden hat der Mensch ¢noch² ein gewisses Hinsehen auf die Kreatur, von der dem Menschen das Leiden kommt, wohingegen Abgeschiedenheit gänzlich losgelöst ist von aller Kreatur. Dass aber Abgeschiedenheit für nichts empfänglich ist als für Gott, das beweise ich wie folgt: Was immer aufgenommen werden soll, das muss in etwas hinein aufgenommen werden. Nun ¢aber² ist die Abgeschiedenheit dem Nichts so nahe, dass nichts so fein ¢subtil² ist, dass es sich in der Abgeschiedenheit halten könnte, als Gott allein. ¢Nur² der ist so einfaltig und so feinfügig, dass er sich in dem abgeschiedenen Herzen wohl halten kann. Daher ist Abgeschiedenheit für nichts empfänglich als für Gott. Die Meister loben auch die Demut vor vielen anderen Tugenden. Ich aber lobe die Abgeschiedenheit vor aller Demut, und zwar deshalb, weil Demut ohne Abgeschiedenheit, vollkommene Abgeschiedenheit aber nicht ohne vollkommene Demut bestehen kann, denn vollkommene Demut geht auf ein Vernichten des eigenen Selbst aus. Nun rührt ¢aber² Abgeschiedenheit so nahe an das Nichts, dass zwischen vollkommener Abgeschiedenheit und dem Nichts nichts sein kann. Daher kann vollkommene Abgeschiedenheit nicht ohne Demut sein. Nun sind allzeit zwei Tugenden besser als ¢nur² eine. Der zweite Grund, weshalb ich die Abgeschiedenheit vor der Demut lobe, ist der, dass vollkommene Demut sich selbst unter alle Kreaturen neigt, und in dieser Neigung geht der Mensch aus sich selbst heraus auf die Kreaturen ¢hin², wohingegen die Abgeschiedenheit in sich selbst bleibt. Nun kann kein Ausgehen je so edel werden, dass nicht das Innebleiben in sich selbst viel edler sei. Deshalb sprach der Prophet David: »Omnis gloria eius filiae regis ab intus«, das heißt: »Des Königs Tochter hat alle ihre Ehre von innen« ¢Ps 44,14². Vollkommene Abgeschiedenheit hat kein Absehen auf irgendwelche Neigung unter irgendeine Kreatur noch über irgendeine Kreatur: sie will weder darunter noch darüber sein, sie will aus sich selbst

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Von abegescheidenheit

ze leide, und enwil weder glîcheit noch unglîcheit mit keiner crêatûre haben noch diz noch daz: si enwil niht anders wan sîn. Daz si aber welle diz oder daz sîn, des enwil si niht. Wan swer wil diz oder daz sîn, der wil etwaz sîn, sô enwil abegescheidenheit nihtes niht sîn. Dâ von stânt alliu dinc von ir unbeswæret. Nû möhte ein mensche sprechen: nû wâren doch alle tugende vol-   komenlîche in unser vrouwen, und alsô muoste ouch volkomeniu abegescheidenheit in ir sîn. Ist nû abegescheidenheit hœher dan dêmüeticheit, war umbe ruomte sich danne unser vrouwe ir dêmüeticheit und niht ir abegescheidenheit, dô si sprach: ›quia respexit dominus humilitatem ancillae suae‹, daz ist: ›er sach ane die dêmüeticheit sîner diernen‹, – war umbe ensprach si niht: er sach ane die abegescheidenheit sîner diernen? Des antwürte ich alsô und spriche, daz in gote ist abegescheidenheit und dêmüeticheit, als verre wir tugende von gote gesprechen mügen. Nû solt dû wizzen, daz diu minnebære dêmüeticheit got dâ zuo   brâhte, daz er sich neigete in menschlîche natûre, und stuont abegescheidenheit unbewegelich in ir selber, dô er mensche wart, als si tete, dô er himelrîche und ertrîche beschuof, als ich dir her nâch sagen wil. Und wan unser herre, dô er mensche werden wolte, unbewegelich stuont an sîner abegescheidenheit, dô weste unser vrouwe wol, daz er des selben ouch von ir begerte und daz er in der sache anesach ir dêmüeticheit und niht ir abegescheidenheit. Dâ von stuont si unbewegelich in ir abegescheidenheit und ruomte sich ir dêmüeticheit und niht ir abegescheidenheit. Und hæte si niuwan gedâht mit einem worte ir abegescheidenheit, daz si gesprochen hæte: er sach ane mîne abegescheidenheit, dâ mite wære diu abegescheidenheit betrüebet worden und wære niht ganz noch volkomen gewesen, wan dâ wære ein ûzganc geschehen. Sô enmac kein ûzganc sô kleine gesîn, in dem diu abegescheidenheit müge âne mâsen blîben. Und alsô hâst dû die sache, war umbe sich unser vrouwe ruomte ir dêmüeticheit und niht ir abegescheidenheit. Dâ von sprach der wîssage: ›audiam, quid loquatur in me dominus deus‹, daz ist gesprochen: ›ich wil‹ swîgen und wil ›hœren, waz mîn got und mîn herre in mich rede‹, als ob er spræche: wil got ze mir reden, sô kome her in mich, ich enwil niht hin ûz.

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Von Abgeschiedenheit

dastehen, niemand zu Liebe noch zu Leide, und will weder Gleichheit noch Ungleichheit mit irgendeiner Kreatur haben noch dies und das: sie will nichts anderes als sein. Dass sie aber dies oder das sein möchte, das will sie nicht; denn wer dies oder das sein will, der will etwas sein, Abgeschiedenheit hingegen will nichts sein. Daher bleiben alle Dinge von ihr unbeschwert. Nun könnte jemand sagen: Es waren aber doch alle Tugenden auf vollkommene Weise in Unserer Frau, und also musste auch vollkommene Abgeschiedenheit in ihr sein. Ist nun ¢aber² Abgeschiedenheit höher als Demut, weshalb rühmte sich dann Unsere Frau ihrer Demut und nicht ihrer Abgeschiedenheit, als sie sprach: »Quia respexit dominus humilitatem ancillae suae«, das heißt: »Er sah an die Demut seiner Magd« ¢Lk 1,48², ௅ warum also sprach sie nicht: »Er sah an die Abgeschiedenheit seiner Magd«? Darauf antworte ich wie folgt und sage, dass in Gott Abgeschiedenheit und Demut sind, sofern wir von Gott Tugenden aussagen können. Nun sollst du wissen, dass die liebeträchtige Demut Gott dazu brachte, dass er sich in menschliche Natur herabneigte, während ¢seine² Abgeschiedenheit unbeweglich in sich selbst verharrte, als er Mensch ward, wie sie es tat, als er Himmel und Erde erschuf, wie ich dir hernach ¢noch² darlegen will. Und weil unser Herr, als er Mensch werden sollte, unbeweglich in seiner Abgeschiedenheit verharrte, wusste Unsere Frau sehr wohl, dass er dasselbe auch von ihr begehrte und dass er in dieser Sache auf ihre Demut und nicht auf ihre Abgeschiedenheit sah. Daher stand sie unbeweglich in ihrer Abgeschiedenheit und rühmte sich ihrer Demut und nicht ihrer Abgeschiedenheit. Und hätte sie auch nur mit einem Wort ihrer Abgeschiedenheit gedacht, so dass sie gesagt hätte: »Er sah an meine Abgeschiedenheit«, so wäre damit die Abgeschiedenheit getrübt worden und nicht ¢mehr² vollständig noch vollkommen gewesen, weil dabei ein Aus-sich-Heraustreten geschehen wäre. Kein Herausgehen aber kann so geringfügig sein, dass die Abgeschiedenheit dabei ohne Makel bleiben könnte. Und damit hast du den Grund, warum Unsere Frau sich ihrer Demut rühmte und nicht ihrer Abgeschiedenheit. Daher sprach der Prophet: »Audiam quid loquatur in me dominus deus« ¢Ps 84,9², das heißt: »Ich« will schweigen und »will hören, was mein Gott und mein Herr in mich rede«, als ob er habe sagen wollen: »Will Gott zu mir reden, so komme er herein in mich, ich will nicht hinaus«.

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Von abegescheidenheit

Ich lobe ouch abegescheidenheit vür alle barmherzicheit, wan barm-   herzicheit enist niht anders, wan daz der mensche ûz im selber gât ûf sînes ebenmenschen gebresten und dâ von sîn herze betrüebet wirt. Des stât abegescheidenheit ledic und blîbet in ir selber und lât sich kein dinc betrüeben; wan alle die wîle dehein dinc den menschen mac betrüeben, sô enist dem menschen niht reht. Kürzlîchen geredet: wenne ich alle tugende anesihe, sô envinde ich keine sô gar âne gebresten und ze gote zuovüegic, als abegescheidenheit ist. [...] Nû maht dû vrâgen, waz abegescheidenheit sî, wan si als gar edel   an ir selber ist? Hie solt dû wizzen, daz rehtiu abegescheidenheit niht anders enist, wan daz der geist alsô unbewegelich stande gegen allen zuovellen liebes und leides, êren, schanden und lasters als ein blîgîn berc unbewegelich ist gegen einem kleinen winde. Disiu unbewegelîchiu abegescheidenheit bringet den menschen in die grœste glîcheit mit gote. Wan daz got ist got, daz hât er von sîner unbewegelîchen abegescheidenheit, und von der abegescheidenheit hât er sîne lûterkeit und sîne einvalticheit und sîne unwandelbærkeit. Und dâ von, sol der mensche gote glîch werden, als verre als ein crêatûre glîcheit mit gote gehaben mac, daz muoz geschehen mit abegescheidenheit. Diu ziuhet danne den menschen in lûterkeit und von der lûterkeit in einvalticheit und von der einvalticheit in unwandelbærkeit, und diu dinc bringent eine glîcheit zwischen gote und dem menschen; und diu glîcheit muoz beschehen in gnâden, wan diu gnâde ziuhet den menschen von allen zîtlîchen dingen und liutert in von allen zergenclîchen dingen. Und dû solt wizzen: lære sîn aller crêatûre ist gotes vol sîn, und vol sîn aller crêatûre ist gotes lære sîn. Nû solt dû wizzen, daz got in dirre unbewegelîchen abegescheiden-   heit ist êwelten gestanden und noch stât, und solt wizzen: dô got himelrîche und ertrîche beschuof und alle crêatûre, daz gienc sîne unbewegelîche abegescheidenheit als wênic ane, als ob nie crêatûre geschaffen wære. Ich spriche ouch mêr: allez daz gebet und guotiu werk, diu der mensche in der zît mac gewürken, daz gotes abegescheidenheit alsô wênic dâ von beweget wirt, als ob niendert gebet noch guotez werk in der zît beschæhe, und enwirt got niemer deste milter noch deste geneigeter gegen dem menschen, dan ob er daz gebet oder diu guoten werk niemer gewürhte. Ich spriche ouch mêr: dô der sun in der gotheit mensche werden wolte und wart und die marter leit, daz

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Von Abgeschiedenheit

Ich lobe die Abgeschiedenheit auch vor aller Barmherzigkeit, denn Barmherzigkeit ist nichts anderes, als dass der Mensch aus sich selbst herausgeht hin zu den Gebrechen seines Mitmenschen und dadurch sein Herz betrübt wird. Davon bleibt die Abgeschiedenheit frei und verharrt in sich selbst und lässt sich von nichts betrüben; denn solange irgendetwas den Menschen betrüben kann, steht es nicht recht um ihn. Kurz gesagt: Wenn ich alle Tugenden ansehe, so finde ich keine so ohne Makel und so Gott verbindend, wie es die Abgeschiedenheit ist. [...] Nun magst du fragen, was Abgeschiedenheit sei, da sie so gar edel ist in sich selbst? Hierzu sollst du wissen, dass rechte Abgeschiedenheit nichts anderes ist, als dass der Geist so unbeweglich stehe gegenüber allem anfallenden Lieb und Leid, Ehren, Schanden und Schmähung, wie ein bleierner Berg unbeweglich ist gegenüber einem schwachen Winde. Diese unbewegliche Abgeschiedenheit bringt den Menschen in die größte Gleichheit mit Gott. Denn dass Gott Gott ist, das hat er von seiner unbeweglichen Abgeschiedenheit, und von der Abgeschiedenheit hat er seine Lauterkeit und seine Einfaltigkeit und seine Unwandelbarkeit. Und daher, soll der Mensch Gott gleich werden, soweit eine Kreatur Gleichheit mit Gott haben kann, so muss das geschehen durch Abgeschiedenheit. Die zieht dann den Menschen in Lauterkeit und von der Lauterkeit in Einfaltigkeit und von der Einfaltigkeit in Unwandelbarkeit, und die bringen eine Gleichheit zwischen Gott und dem Menschen hervor; diese Gleichheit aber muss in Gnade erstehen, denn die Gnade zieht den Menschen von allen zeitlichen Dingen weg und läutert ihn von allen vergänglichen Dingen. Und du sollst wissen: Leer sein aller Kreatur ist Gottes voll sein, und voll sein aller Kreatur ist Gottes leer sein. Nun sollst du wissen, dass Gott in dieser unbeweglichen Abgeschiedenheit von Ewigkeit her gestanden hat und noch steht, und sollst wissen, dass, als Gott Himmel und Erde erschuf, das seine unbewegliche Abgeschiedenheit so wenig anging, als ob nie eine Kreatur geschaffen worden wäre. Ich sage auch weiterhin: Alle Gebete und guten Werke, die der Mensch im Zeitlichen verrichten kann, davon wird Gottes Abgeschiedenheit so wenig bewegt, als ob niemals ein Gebet oder gutes Werk in der Zeit verrichtet würde, und Gott wird deshalb nimmer gnädiger noch geneigter gegenüber dem Menschen, als wenn er das Gebet oder die guten Werke niemals verrichtete. Ich sage zudem weiter: Als der Sohn in der Gottheit Mensch werden

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Von abegescheidenheit

gienc die unbewegelîche abegescheidenheit gotes alsô wênic ane, als ob er nie mensche worden wære. [...] Dâ von mügen wir ouch nemen, daz ein meister sprichet: die armen   des geistes sint die, die gote alliu dinc gelâzen hânt, als er sie hâte, dô wir niht enwâren. Diz enmac nieman getuon wan ein lûter abegescheiden herze. Daz got in einem abegescheidenen herzen lieber sî dan in allen herzen, daz merken wir dar ane, wan vrâgest dû mich: waz suochet got in allen dingen?, sô antwürte ich dir ûz dem buoche der wîsheit; dâ sprichet er: ›in allen dingen suoche ich ruowe!‹ Sô enist niendert ganziu ruowe dan aleine in dem abegescheidenen herzen. Dâ von ist got lieber dâ dan in andern tugenden oder in deheinen dingen. Ouch solt dû wizzen: ie mê sich der mensche dar ûf setzet, daz er enpfenclich sî des götlîchen învluzzes, ie sæliger er ist; und wer sich gesetzen mac dâ inne in die obersten bereitschaft, der stât ouch in der obersten sælicheit. Nû enmac kein mensche sich enpfenclich gemachen des götlîchen   învluzzes dan mit einförmicheit mit gote, wan dâ nâch als ein ieclich mensche einförmic ist mit gote, dâ nâch ist er enpfenclich des götlîchen învluzzes. Nû kumet einförmicheit dâ von, daz sich der mensche wirfet under got; und als vil sich der mensche wirfet under die crêatûre, alsô vil ist er minner einförmic mit gote. Nû stât daz lûter abegescheiden herze ledic aller crêatûren. Dâ von ist ez alzemâle geworfen under got, und dâ von stât ez in der obersten einförmicheit mit gote und ist ouch aller enpfenclîchest des götlîchen învluzzes. Daz meinet sant Paulus, dô er sprach: ›leget an iuch Jêsum Kristum‹, und meinet: mit einförmicheit mit Kristô, und daz anelegen enmac niht beschehen dan mit einförmicheit mit Kristô. Und wizze: dô Kristus mensche wart, dô ennam er niht an sich einen menschen, er nam an sich menschlîche natûre. Dâ von sô ganc ûz aller dinge, sô blîbet aleine, daz Kristus an sich nam, und alsô hâst dû Kristum an dich geleget. […]

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Von Abgeschiedenheit

wollte und ward und die Marter erlitt, ging das die unbewegliche Abgeschiedenheit Gottes so wenig an, wie wenn er nie Mensch geworden wäre. [...] Dazu können wir auch anführen, was ein Meister spricht: Die Armen des Geistes sind diejenigen, die Gott alle Dinge so überlassen haben, wie er sie hatte, als wir ¢noch² nicht waren. Dies vermag niemand zu tun als ein lauteres, abgeschiedenes Herz. Dass Gott in einem abgeschiedenen Herzen lieber sei als in allen ¢anderen² Herzen, das erkennen wir an Folgendem: Fragst du mich: »Was sucht Gott in allen Dingen?«, so antworte ich dir aus dem Buche der Weisheit; dort spricht er ¢= Gott²: »In allen Dingen suche ich Ruhe!« ¢Sir 24,11². Nirgends aber ist vollständige Ruhe als einzig im abgeschiedenen Herzen. Deshalb ist Gott dort lieber als in anderen Tugenden oder in irgendwelchen ¢sonstigen² Dingen. Auch sollst du wissen: Je mehr der Mensch danach strebt, des göttlichen Einflusses empfänglich zu werden, umso seliger ist er; und wer sich dabei in die höchste Bereitschaft zu versetzen vermag, der steht auch in der höchsten Seligkeit. Nun vermag sich kein Mensch des göttlichen Einflusses empfänglich zu machen als durch Einförmigkeit mit Gott; denn so weit wie ein jeglicher Mensch einförmig mit Gott ist, so weit ist er empfänglich des göttlichen Einflusses. Nun kommt Einförmigkeit daher, dass sich der Mensch Gott unterwirft; so weit sich aber der Mensch der Kreatur unterwirft, so weit ist er minder einförmig mit Gott. Nun steht das lautere, abgeschiedene Herz ledig aller Kreaturen. Daher ist es völlig Gott unterworfen, und dadurch steht es in der höchsten Einförmigkeit mit Gott und ist zugleich des göttlichen Einflusses am allerempfänglichsten. Das meinte Sankt Paulus, als er sprach: »Legt an euch Jesus Christus!«, und er meinte: durch Einförmigkeit mit Christus; das Anlegen nämlich kann nur durch Einförmigkeit mit Christus geschehen. Und wisse: Als Christus Mensch ward, da nahm er nicht an sich einen Menschen, er nahm an die menschliche Natur. Entäußere dich deshalb aller Dinge, so bleibt allein, was Christus an sich nahm, und so denn hast du dir Christus angelegt. [...]

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Expositio libri Sapientiae

 

n. 261 Nosse enim te consummata iustitia est, et scire iustitiam tuam   radix est immortalitatis. Notanda sunt sex ex quorum quolibet possunt verba praemissa exponi. Primum est quod Plato probat animam immortalem ex eo quod erat susceptiva et subiectum sapientiae immortalis, et Augustinus dicit quod anima »eo imago dei est, quo capax est eius«. Et hoc est quod hic dicitur: nosse te et sequitur: radix est immortalitatis.

n. 262 Secundo notandum quod Ioh. 17 dicitur: ›haec est vita aeterna,   ut cognoscant te‹. Et Augustinus De moribus ecclesiae ait: »fortasse non incongrue quaeritur aeterna ipsa vita quid sit. Sed eius largitorem potius audiamus: ›haec est‹, inquit, ›vita aeterna, ut cognoscant te verum deum‹«; et sequitur: »aeterna igitur vita est cognitio ipsa veritatis«. Hoc est ergo quod hic dicitur: nosse te consummata iustitia est, quod veritas in Iohanne dicit: ›haec est vita aeterna, ut cognoscant te‹. Quod illic in Iohanne scribitur: ›ut cognoscant te‹, hic dicitur: nosse te. Unde Augustinus in Epistula ad Dardanum sic ait: »beatissimi sunt quibus hoc est deum habere quod nosse«; et sequitur: »ipsa quippe notitia plenissima, verissima, felicissima est«.

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Die vollendete Gerechtigkeit ist das ewige Leben Kommentar zum Buch der Weisheit

n. 261 Dich erkennen ist vollendete Gerechtigkeit, und deine Gerechtigkeit und Kraft erkennen ist die Wurzel der Unsterblichkeit. Hier sind sechs Dinge zu merken, und aus jedem können die voraufgehenden Worte ausgelegt werden. Das erste ist: Plato41 beweist die Unsterblichkeit der Seele daraus, dass sie aufnahmefähig und Träger der unsterblichen Weisheit war, und Augustin sagt, die Seele »sei dadurch Bild Gottes, wodurch sie für ihn empfänglich ist«42. Und das ist der Sinn dieses Wortes: dich erkennen, und es folgt: das ist die Wurzel der Unsterblichkeit. n. 262 Zweitens ist zu merken: es heißt: »das ist das ewige Leben, dass sie dich erkennen« (Joh 17,3). Und Augustin sagt in der Schrift Von der Religion der (Katholischen) Kirche: »vielleicht fragt jemand nicht unpassend, was das ewige Leben selbst sei. Lasst uns aber lieber den hören, der es schenkt. ›Das ist‹, sagt er, ›das ewige Leben, dass sie dich, den wahren Gott, erkennen‹« 43; und es folgt: »ewiges Leben ist also die Erkenntnis der Wahrheit selbst«44. Das ist also der Sinn dieses Wortes: dich erkennen ist vollendete Gerechtigkeit, (das ist dasselbe) was die Wahrheit bei Johannes (17,3) sagt: »das ist das ewige Leben, dass sie dich erkennen«. Was bei Johannes steht: »dass sie dich erkennen«, heißt hier: dich erkennen. Darum sagt Augustin im Brief an Dardanus: »ganz selig sind die, für die Gott besitzen dasselbe ist wie ihn erkennen«45; und er fährt fort:

41 42 43 44 45

Vgl. Platon, Phaid. 79c–84b. Augustinus, Trin. XIV, 8, 11, CCSL 50A, 436. Augustinus, Mor. eccl. I, c. 25, n. 47, CSEL 90, 52,7–10. Augustinus, Mor. eccl. I, c. 25, n. 47, CSEL 90, 52,10f. Augustinus, Ep. 187, c. 6, n. 21, CSEL 57, 100,3f.

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Expositio libri Sapientiae

n. 263 Tertio notandum est quod, sicut universaliter divisa inferius   sunt unum superius, sic potissime virtutes in sui supremo, perfecto et consummato unum sunt. Hinc est quod doctores dicunt virtutes etiam morales conexas in sui propria perfectione, et Plotinus Platonicus virtutes in quarto et supremo gradu dicit consistere in mente divina. Et Augustinus Super Genesim l. XII versus finem, loquens de beatitudine, ait: »ibi beata vita in fonte suo bibitur, unde aspergitur aliquid humanae vitae, ut in temptationibus huius saeculi temperanter, fortiter, iuste prudenterque vivatur«. Vult ergo hic sapiens dicere quod iustitia et virtus universaliter consummata meretur beatitudinem quae est nosse deum, secundum illud Psalmi: ›ibunt de virtute in virtutem‹, proficiendo scilicet, ›videbitur deus deorum in Sion‹, id est in supremo. Notavi de hoc supra plenius capitulo septimo: ›ignorabam quoniam omnium bonorum mater est‹.

n. 264 Adhuc autem sub eodem sensu possunt verba praemissa   aliter exponi, ut sit sensus et intentio sapientis dicere et docere quod iustitia et universaliter virtus ad hoc requiritur, ut mundetur oculus animae ad videndum deum, secundum illud Matth. 5: ›beati mundo corde, quoniam ipsi deum videbunt‹. Unde Augustinus Super Iohanne p. III homilia 44 ait: »ad fructum contemplationis cuncta officia referuntur actionis«. »Ad hunc refertur quidquid bene agitur, quia propter hunc agitur«. »Ibi enim finis qui sufficit nobis«. Tractat de hoc multum pulchre Augustinus libro Quaestionum Genesis c. 113 quaerens quare, postquam dictum est: ›non vocaberis Iacob, sed Israel erit nomen tuum‹, nihilominus postmodum etiam communiter in scriptura Iacob est appellatus.

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Kommentar zum Buch der Weisheit

»denn diese Erkenntnis umfasst ja die ganze Fülle der Wahrheit und Seligkeit«46.                                                                 n. 263 Drittens ist zu merken: wie allgemein das, was in einem unteren Bereich geteilt ist, eins ist im oberen Bereich, so sind insbesondere die Tugenden auf ihrer obersten, vollkommenen und vollendeten Stufe eins. Daher sagen die Theologen, dass auch die sittlichen Tugenden miteinander verknüpft sind in der ihnen eigenen Vollkommenheit, und der Platoniker Plotin sagt, die Tugenden auf ihrer vierten und obersten Stufe hätten Bestand im göttlichen Geist.47 Und Augustin sagt gegen Ende des 12. Buches Über die Genesis von der Glückseligkeit: »dort trinkt man das glückselige Leben an seiner Quelle, und etwas davon wird auf das menschliche Leben ausgesprengt, dass man in den Versuchungen dieser Welt mit den Tugenden der Mäßigkeit, des Starkmutes, der Gerechtigkeit und der Klugheit leben kann.«48 Der Weise will hier also sagen, dass Gerechtigkeit und Tugend überhaupt in ihrer Vollendung die Glückseligkeit verdient, die darin besteht, Gott zu erkennen, nach dem Wort: »sie werden von Tugend zu Tugend schreiten«, das heißt Fortschritte machen, »der Gott der Götter wird geschaut werden in Sion« (Ps 83,8), das heißt an der obersten Statt. Mehr hierüber habe ich oben im 7. Kapitel ausgeführt zu dem Wort: »ich wusste nicht, dass sie die Mutter von allem Guten ist« (7,12). n. 264 Die genannten Worte können ferner in gleichem Sinn auf andere Weise ausgelegt werden, so dass sich als Sinn und als Absicht des Weisen ergibt bei seinem Wort und seiner Lehre, dass Gerechtigkeit und Tugend überhaupt dazu erforderlich ist, dass das Auge der Seele gereinigt werde, um Gott zu sehen, nach dem Wort: »selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott sehen« (Mt 5,8). Darum sagt Augustin im dritten Teil seiner Auslegung des Johannesevangeliums in der 44. Homilie: »alle Werke des tätigen Lebens sind hingeordnet auf die Schau als Frucht. Was auch immer an Gutem geschieht, ist auf sie bezogen, weil es um ihretwillen geschieht. Denn dort ist das Ziel, das uns genügt (vgl. Joh 14,8).«49 Darüber handelt Augustin auch sehr schön im Buch der Fragen zur

46 47 48 49

Augustinus, Ep. 187, c. 6, n. 21, CSEL 57, 100,4f. Zitiert nach Macrobius, Somn. Scip. I, 8, 5. 10, 37. 39. Augustinus, Gen. ad litt. XII, 26, CSEL 28/1, 419,20–23. Augustinus, In Ioh. tract., tract. 101, n. 5, CCSL 36, 593.

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n. 265 Quarto notandum est quod iustitia vita est et vivere iusto et est   iustitia ipsi esse, in quantum huiusmodi; ›iustitia autem perpetua est et immortalis‹, supra primo. Hoc est ergo quod hic dicitur: scire iustitiam radix est immortalitatis. Unde supra tertio de iustis dicitur: ›non tanget illos tormentum mortis; visi sunt oculis insipientium mori‹.

n. 266 Adhuc autem quinto notandum quod omnis potentia id quod   est se tota et per essentiam accipit esse suum ab actu ad quem est, quin immo se tota et per essentiam fugit se ipsam et a se ipsa ad actum, adeo ut non solum in separatis a materia idem sit potentia intellectiva et intelligibile, verum etiam, secundum ipsum philosophum, sensus et sensibile in actu idem sunt. Eodem enim prorsus fit visus actu videre et visibile actu videri, et hoc ipsum idem quod prius fuit potentia aqua ¢calida², nunc est actu aqua ¢calida². Quod quia sic est, manifeste apparet quod nosse deum et scire consummata iustitia est, ut hic dicitur. Quid enim consummatius, perfectius et beatius quam sic uniri deo?

n. 267 Ultimo notandum quod ait: scire iustitiam et virtutem, ubi duo   nominat, et ait: radix est immortalitatis; ubi vero praemittit nosse te, sequitur consummata iustitia est in singulari. Propter quod iam supra dictum est quod virtutes in imperfecto sui plures sunt et divisae, in sui autem supremo et consummato unum sunt.

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Kommentar zum Buch der Weisheit

Genesis im 113. Kapitel;50 er fragt dort, warum nach den Worten: »du sollst nicht (mehr) Jakob heißen, sondern Israel soll dein Name sein« (Gen 35,10), er denn trotzdem auch noch weiterhin in der Schrift Jakob genannt ist. n. 265 Viertens ist zu merken: die Gerechtigkeit ist Leben und Lebendigsein für den Gerechten, und die Gerechtigkeit ist für den Gerechten als Gerechten Sein; oben im 1. Kapitel heißt es: »die Gerechtigkeit aber ist immerwährend und unsterblich« (1,15). Das ist also dasselbe, was hier gesagt wird: die Gerechtigkeit erkennen ist die Wurzel der Unsterblichkeit. Darum heißt es oben von den Gerechten: »nicht wird sie berühren die Pein des Todes; in den Augen der Toren waren sie Sterbende« (3,1f). n. 266 Ferner ist aber fünftens zu merken: jedes Vermögen erhält das, was es ist, und sein Sein gänzlich und wesenhaft von dem Akt, auf den es gerichtet ist, ja es flieht sogar gänzlich und wesenhaft vor sich selbst und von sich selbst weg zur Verwirklichung hin, in dem Maße, dass nicht nur in den stofflosen Wesen das intellektive Vermögen und das Gedachte identisch sind, sondern dass nach den Worten des Philosophen auch der Sinn und das sinnlich Wahrnehmbare im Verwirklichtsein identisch sind.51 Denn durch dasselbe geschieht es, dass das Sehen zum wirklichen Sehen wird und das Sichtbare wirklich gesehen wird, und ebenso wird das Wasser, das vorher der Möglichkeit nach warm war, später wirklich warm. Weil das so ist, wird ganz offenkundig, dass Gott kennen und erkennen vollendete Gerechtigkeit ist, wie es hier heißt. Denn was gibt es Vollendeteres, Vollkommeneres und Seligeres, als so mit Gott vereinigt zu werden? n. 267 Schließlich ist noch zu merken, dass es heißt: (deine) Gerechtigkeit und Kraft erkennen, wobei er zweierlei nennt, und es dann heißt: das ist die Wurzel der Unsterblichkeit; wenn er aber vorher sagt: dich erkennen, dann folgt darauf in der Einzahl: das ist die vollendete Gerechtigkeit. Darum wurde auch schon oben gesagt, dass die Tugenden auf ihrer unvollkommenen Stufe mehrere und geteilt sind, auf ihrer obersten und vollendeten Stufe aber eins sind.

50 51

Augustinus, Quaest. hept. I, q. 114, CSEL 28/2, 57,6–20. Aristoteles, An. III 2, 425 b 26.

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Predigt 67

[...] Daz got in der kraft ist, daz sîn wir in dem bilde; daz der vater   ist in der kraft und der sun in der wîsheit und der heilige geist in der güeticheit, daz sîn wir in dem bilde. ›Dâ bekennen wir, als wir bekant sîn‹, und minnen, als wir geminnet sîn. Diz enist joch sunder werk, wan si wirt dâ enthalten in dem bilde und würket in der kraft als diu kraft; si ist noch enthalten in den persônen und stât nâch mügenheit des vaters und nâch wîsheit des sunes und nâch der güeticheit des heiligen geistes. Diz ist noch allez werk in den persônen. Hie oben ist wesen únwürklich; sunder dâ ist aleine wesen únd werk. Dâ si ist in gote, jâ, nâch înhangunge der persônen in daz wesen, dâ ist werk únd wesen ein, dâ ez ist, dâ si die persônen nimet in der inneblîbunge des wesens, dâ sie nie ûzkâmen, dâ ein lûter wesenlich bilde ist. Ez ist diu wesenlich vernünfticheit gotes, der diu lûter blôz kraft ist intellectus, daz die meister heizent ein enpfenclîchez.

Nû merket mich! Dar obe nimet si êrste die lûter absolûcio des vrîen   wesens, daz dâ ist sunder dâ, dâ ez ennimet noch engibet; ez ist diu blôze isticheit, diu dâ beroubet ist alles wesens und aller isticheit. Dâ nimet si got blôz nâch dem grunde dâ, dâ er ist über allez wesen. Wære dâ noch wesen, sô næme si wesen in wesene; dâ enist niht wan éin grunt. Diz ist diu hœhste volkomenheit des geistes, dâ man zuo komen mac in disem lebene nâch geistes art! Aber ez enist niht diu beste volkomenheit, die wir iemer besitzen suln mit lîbe und mit sêle, daz der ûzerste mensche alzemâle enthalten werde in dem understantnisse haben¢ne² von dem persônlîchen wesene alsô, als diu menscheit und diu gotheit an der persônlicheit Kristî éin persônlich wesen ist, daz ich in dem selben understantnisse habe des persônlîchen wesens, daz ich daz persônlich wesen selber sî, alzemâle lougenlîche mîn selbes verstantnisses alsô, als ich nâch geistes art éin bin nâch dem grunde alsô, als der grunt selbe ein grunt ist: – daz ich

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Predigt 67

[...] Das, was Gott in der Kraft ist, das sind wir in dem Bilde; was der Vater in der Kraft und der Sohn in der Weisheit und der Heilige Geist in der Gutheit ist, das sind wir in dem Bilde. ›Da erkennen wir, wie wir erkannt werden‹, und lieben, wie wir geliebt werden. Das geschieht aber noch nicht ohne Werk, denn sie [= die Seele] wird da gehalten in dem Bilde und wirkt in der Kraft so wie diese Kraft selbst; sie wird noch gehalten in den [göttlichen] Personen und verhält sich gemäß der Macht des Vaters und der Weisheit des Sohnes und der Gutheit des Heiligen Geistes. Dies ist alles noch ein Werk in den Personen. Darüber liegt Sein ohne Werk, während dort nur Sein und Werk ist. Wo sie [= die Seele] in Gott ist, ja, wo die Personen in das Sein hineinragen, da ist Werk und Sein eins, dort nimmt sie die Personen im Innebleiben des Seins, wo sie nie heraustraten, wo ein reines, seinshaftes Bild ist. Es ist die seinshafte Vernunft Gottes, der die lautere, bloße Kraft des intellectus ist, den die Meister als ein Empfängliches bezeichnen. Nun hört mir gut zu! Erst oberhalb davon nimmt sie die lautere Abgelöstheit des freien Seins, das da ohne Ort ist, wo es weder nimmt noch gibt; es ist die bloße Seinsheit, die da allen Seins und aller Seinsheit beraubt ist. Dort nimmt sie Gott ausschließlich nach dem Grunde, dort, wo er über alles Sein hinausliegt. Wäre da noch Sein, so nähme sie das Sein im Sein; dort gibt es nur einen einzigen Grund. Dies ist die höchste Vollkommenheit des Geistes, zu der man in diesem Leben auf geistige Weise zu gelangen vermag! Aber es ist nicht die beste Vollkommenheit, die wir auf immer mit Leib und Seele besitzen sollen, so dass der äußere Mensch vollkommen gehalten wird, indem er in seinem personhaften Sein so gehalten wird, wie die Menschheit und die Gottheit Christi in der Personhaftigkeit Christi ein personhaftes Sein bilden. Folglich werde ich auf dieselbe Weise so im personhaften Sein gehalten, dass ich das personhafte Sein selbst bin, indem ich mein Selbstverständnis so vollkommen verleugne, wie ich auf geistige Weise gemäß dem Grunde ebenso eins

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Predigt 67

nâch dem ûzersten wesene daz selbe persônlich wesen sî, alzemâle beroubet eigens understantnisses. Diz persônlich wesen mensche-got entwehset und überswebet dem   ûzersten menschen alzemâle, daz er ez niemer ervolgen enkan. Stânde an im selber er enpfæhet wol der gnâde învluz von dem persônlîchen wesene in maniger hande wîse süezicheit, trôst und innicheit, daz guot ist; aber ez enist daz beste niht. Blibe er alsô an im selber âne understantnisse sîn selbes, aleine er wol trôst enpfienge von gnâden und mitwürkunge der gnâde, daz doch sîn bestez niht enist, sô müeste der inner mensche nâch geistes art sich herûzbiegen ûzer dem grunde, in dem er ein ist, und müeste sich halten nâch dem gnædelîchen wesene, von dem er gnædelîchen enthalten ist. Her umbe sô enmac der geist niemer volkomen werden, lîp und sêle enwerden volbrâht. Alsô als der inner mensche nâch geistes art entvellet sînes eigens wesens, dâ er in dem grunde éin grunt ist, alsô müeste ouch der ûzer mensche beroubet werden eigens understantnisses und alzemâle behalten understantnisse des êwigen persônlîchen wesens, daz daz selbe persônlich wesen ist. Nû sint hie zwei wesen. Ein wesen ist nâch der gotheit daz blôz substanzlich wesen, daz ander daz persônlich ¢wesen², und ist doch éin understôz. Wan der selbe understôz Kristî persônlicheit der sêle understôz   ist, understandicheit der êwigen menscheit, und ist éin Kristus an understandicheit, beidiu weselich und persônlich; alsô müesten wir ouch der selbe Kristus sîn, wir nâchvolgende in den werken alsô, als er in dem wesene éin Kristus ist nâch menschlîcher art; wan, dâ ich diu selbe art bin nâch menscheit, sô bin ich alsô vereiniget dem persônlîchen wesene, daz ich von gnâden in dem persônlîchen wesene bin ein und ouch daz persônlich wesen. Wan denne got in dem grunde des vaters êwiclîche inneblîbende ist und ich in im, ein grunt und der selbe Kristus, ein understandicheit mîner menscheit, sô ist si als wol mîn als sîn an einer understandicheit des êwigen wesens, daz beidiu wesen lîbes und sêle volbrâht werden in éinem Kristô, éin got, éin sun. Daz uns daz geschehe, des helfe uns diu heilic drîvalticheit. Âmen.

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Predigt 67

bin, wie der Grund selbst ein Grund ist: – dass ich gemäß meinem äußeren Sein dasselbe personhafte Sein bin, meines eigenen Halts gänzlich beraubt. Dieses personhafte Mensch-Gott-Sein wächst gänzlich über den äußeren Menschen hinaus und schwebt über ihm, so dass er es niemals erlangen kann. Auf sich allein gestellt, empfängt er gewiss den Einfluss der Gnade von dem personhaften Sein in Form mannigfaltiger Süßigkeit, Trost und Innigkeit, was gut ist, aber es ist nicht das Beste. Würde er so in sich selbst verharren, ohne in sich selbst Halt zu finden, obwohl er doch Trost empfinge aufgrund der Gnade und der Mitwirkung der Gnade, was doch für ihn nicht das Beste ist, so müsste der innere Mensch auf geistige Weise sich aus dem Grund, in dem er eins ist, herausbiegen und müsste sich an das gnadenhafte Sein halten, von dem er gnadenhaft gehalten wird. Daher kann der Geist niemals vollkommen werden, wenn Leib und Seele nicht vollendet werden. So wie der innere Mensch auf geistige Art seinem eigenen Sein entgleitet, wenn er im Grunde ein Grund ist, so müsste auch der äußere Mensch seines eigenen Halts beraubt werden und gänzlich den Halt des ewigen personhaften Seins bewahren, das dasselbe personhafte Sein ist. Nun gibt es hier zwei Arten von Sein. Das eine Sein ist gemäß der Gottheit das bloße, substanzhafte Sein, das andere ist das personhafte Sein, und doch bilden beide nur eine Substanz. Da dieselbe Substanz der Personhaftigkeit Christi auch die Substanz der Seele ist und als Trägerin der ewigen Menschheit fungiert und in seinshafter wie personhafter Weise nur einen Christus als Träger bildet, so müssten auch wir derselbe Christus sein und ihm so in unseren Werken nachfolgen, wie er im Sein ein Christus ist nach menschlicher Art. Denn da ich der Menschheit nach von derselben Art bin, so bin ich auch mit dem personhaften Sein so vereinigt, dass ich aus Gnade in dem personhaften Sein eins bin und auch das personhafte Sein selbst bin. Da nun Gott [= Christus] im Grunde des Vaters ewiglich innebleibend ist und ich in ihm, ein Grund und derselbe Christus, ein Träger meiner Menschheit, so gehört sie sowohl mir als auch ihm in einem Träger des ewigen Seins, so dass sowohl das Sein des Leibes als auch das der Seele zur Vollendung gelangen in einem Christus als ein Gott und ein Sohn. Dass uns dies zuteilwerde, dazu helfe uns die heilige Dreifaltigkeit. Amen.

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Interpretationen

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Das Wesen und die Bedeutung der sittlichen Tugenden für ein glückliches Leben des Menschen nach Thomas von Aquin und Meister Eckhart

1. Einführung in das Thema und in den Aufbau des Beitrags Im ersten Hauptteil dieses Beitrags soll nach einer kurzen Ortsbestimmung der Tugendethik des Thomas von Aquin in seiner Summa Theologiae der Tugendtraktat in der Prima Secundae (I–II) der Summa Theologiae im engeren Sinne dieses Wortes, d.ௗh. in den Quästionen 55–67 der Prima Secundae, in der gebotenen Kürze rekonstruiert werden. Dabei soll nach einer allgemeinen Inhaltsübersicht über den Tugendtraktat zuerst die allgemeine Wesensbestimmung der Tugend (virtus) vorgestellt werden. Danach soll die sittliche Tugend (virtus moralis), und zwar ihre Wesensbestimmung und ihr Unterschied zur verstandesmäßigen Tugend (virtus intellectualis), erörtert werden. Im nächsten Schritt soll die Einteilung der sittlichen Tugenden und deren Kriterium und danach die Unterscheidung zwischen den sittlichen Tugenden und den sogenannten Kardinal- oder Haupttugenden (virtutes cardinales vel principales) nachvollzogen werden. Schließlich sollen die sogenannten theologischen Tugenden (virtutes theologicae) und ihre Hinordnung des Menschen auf sein vollkommenes Glück (beatitudo) durch seine gnadenhafte Teilhabe an der göttlichen Natur und abschließend die thomanische Unterscheidung zwischen der sogenannten erworbenen und der sogenannten eingegossenen Tugend rekonstruiert werden. Der zweite Hauptteil dieses Beitrags ist der Wesensbestimmung der sittlichen Tugenden und ihrer Relevanz für das Glück des Menschen nach Meister Eckhart gewidmet. Dieser Teil beginnt mit einer kurzen Skizze des guten und gerechten Willens als Grund der sittlichen Tugenden nach den Erfurter Reden der Unterweisung. Dann

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wird Eckharts grundsätzliches Verständnis der sittlichen Tugenden als »geistiger Vollkommenheiten« (perfectiones spirituales) und diese als Wesenseigenschaften Gottes vorgestellt. Dieser umfangreichere Abschnitt schließt Eckharts Verständnis der Tugenden als aktualer »Gleichbildungen« (conformationes) und Gleichgestaltungen (configurationes) des tugendhaften Menschen mit Gott bzw. dem Sohn Gottes ein. Dann soll kurz auf Eckharts Tugendlehre in seinem Buch der göttlichen Tröstung (auch Liber Benedictus oder Trostbüchlein genannt) eingegangen werden. Dieser auf Eckhart bezogene Teil des vorliegenden Beitrags soll mit sehr knappen Ausführungen zu den vier Graden der Tugend, den göttlichen Tugenden, der Liebe als der Mutter und Zierde der Tugenden und zur Tugendlehre des Traktats Von abegescheidenheit abgeschlossen werden. Ein kurzes Resümee zum Vergleich der Tugendlehre des Thomas von Aquin mit derjenigen Meister Eckharts sowie der Versuch zumindest vorläufiger Antworten auf die von den Herausgeberinnen den Beiträgern gestellten Forschungsfragen bringt diesen Beitrag zum Abschluss.

2. Zur Wesensbestimmung der sittlichen Tugenden und ihrer Relevanz für das Glück des Menschen nach der Summa Theologiae des Thomas von Aquin 2.1 Zum Ort der Tugendethik des Thomas von Aquin in der Summa Theologiae Sein Verständnis der Tugenden und seine Tugendethik behandelt Thomas von Aquin in zahlreichen seiner Schriften, am ausführlichsten aber in seinen Quaestiones disputatae de virtutibus und in seiner Summa Theologiae. Auch wenn die kritische Edition von Thomas‫ތ‬ Untersuchungen über die Tugenden im Rahmen der Editio Leonina noch aussteht, so liegen diese in deutscher Übersetzung im Meiner-Verlag bereits seit 2012 vor.1 Während nun die Quaestiones disputatae de virtutibus ihrem literarischen Genus gemäß einzelne 1

Vgl. Thomas von Aquin, Über die Tugenden / De virtutibus, übers. von Winfried Rohr, Band 10 der Quaestiones disputatae: Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung, hg. von Rolf Schönberger, Hamburg 2012.

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Das Wesen und die Bedeutung der sittlichen Tugenden für ein glückliches Leben

Fragestellungen zu den Tugenden bzw. zur Tugendlehre behandeln, »gibt die Summa [Theologiae] eine systematische oder systematisierende Gesamtdarstellung«2 der Tugendlehre des Thomas, und zwar im engeren Sinne mit den Quästionen 55–67, die aufgrund ihrer thematischen Geschlossenheit daher gerne auch als der Tugendtraktat der Summa Theologiae bezeichnet werden. Die daran anschließenden Quästionen 68–70 behandeln mit den Gaben des Heiligen Geistes, den Seligkeiten und den Früchten des Heiligen Geistes keine Tugenden, sondern, wie sie im Kommentar zu Band 11 der zweisprachigen deutschen Thomas-Ausgabe genannt werden, die »Beigaben der Tugenden«.3 Dabei stellt die Anordnung der Quästionen in der Summa Theologiae, wie Wilhelm Metz überzeugend gezeigt hat,4 »keine bloße Ab- und Reihenfolge«5 sondern eine Architektonik dar, worauf hier aber nicht näher eingegangen werden kann. Bekanntermaßen umfasst die von Thomas nicht vollendete Summa Theologiae drei Teile: Ihr erster Teil hat die Gotteslehre zum Gegenstand; ihr zweiter Teil behandelt das Bild Gottes, d.ௗh. den Menschen, sofern er ein vernunftbegabter und freier Urheber seiner Handlungen ist; ihr dritter Teil behandelt die Offenbarung Gottes in Jesus Christus und die von ihm bzw. von der Kirche durch ihn gestifteten Heilsmittel, d.ௗh. die Sakramente. Dabei ist der zweite Teil der mit Abstand umfangreichste Teil der Summa Theologiae und zerfällt seinerseits wiederum in zwei Teile: Der erste davon, die Prima Secundae (I–II), »ist den begrifflichen Strukturen des menschlichen Handelns gewidmet«.6 Weil das menschliche Handeln ziel- bzw. zweckgeleitet ist, behandelt der erste kurze Abschnitt in den Quästionen 1–5 dieses ersten Teils, der Prima Secundae, die Zielorientierung des Menschen hin zum (unvollkommenen) Glück (felicitas) und seine Bestimmung zur Glückseligkeit (beatitudo) als dem vollkommenen Glück. Darauf kommen wir noch zurück. In den 2 Rolf Schönberger, »Thomas von Aquin – neue Tugenden und alte Tugendethik?«, in: Christoph Halbig / Felix Timmermann (Hg.), Handbuch Tugend und Tugendethik, Wiesbaden 2021, 177–197, hier 180. 3 Fridolin Utz, »Kommentar«, in: Die deutsche Thomas-Ausgabe: Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica, Bd. 11: Grundlagen der menschlichen Handlung, I–II, 49–70, Salzburg / Leipzig 1940, 447–663, hier 630. 4 Vgl. Wilhelm Metz, Die Architektonik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. Zur Gesamtsicht des thomanischen Gedankens (Paradeigmata, Bd. 18), Hamburg 1998. 5 Schönberger, Thomas von Aquin, 180. 6 Schönberger, Thomas von Aquin, 181.

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folgenden Quästionen wird das behandelt, was gleichsam nur ein Mittel oder Weg zu diesem Ziel ist. Hierzu gehört erstens das sittlich qualifizierte Handeln des Menschen, zu dessen Vermögen auch der Wille und seine Wahlfreiheit, d.ௗh. das Entscheidungsvermögen des Willens, gehört. Dieses wird in den Quästionen 6–21 behandelt. Dann, in den Quästionen 22–48, kommt der umfangreiche Traktat zu den Leidenschaften (passiones) des Menschen, deren Berücksichtigung für das menschliche Handeln notwendig ist.7 Danach, und zwar in den Quästionen 49–114, werden die Prinzipien des menschlichen Handelns untersucht, die Thomas in die inneren und die äußeren Handlungsprinzipien unterteilt. Die inneren Handlungsprinzipien sind erstens die habitus, d.ௗh. die Handlungs- oder – angemessener – Verhaltensdispositionen, die Thomas in den Quästionen 49–54 behandelt. Dann folgen die Tugenden (virtutes) als die zweite Art der inneren Handlungsprinzipien des Menschen. Dieser Tugendtraktat der Summa Theologiae im engeren Sinne dieses Wortes umfasst die Quästionen 55–67 der Prima Secundae. Danach handelt Thomas die äußeren Handlungsprinzipien ab, und zwar das Sittengesetz in den Quästionen 90–108 sowie die Gnade in den Quästionen 109–114.8 Im besonders umfangreichen zweiten Teil des zweiten Teils, der Secunda Secundae, der Summa Theologiae (II–II) erörtert Thomas in den Quästionen 1–179 die Tugenden und ihre Gegensätze, die Laster, und zwar nach ihren verschiedenen Arten: die sogenannten theologischen oder göttlichen Tugenden, ihre Spezifikationen und ihre Gegensätze (in den Quästionen 1–46); dann die sogenannten Kardinaltugenden, d.ௗh. die sittlichen Haupttugenden, ihre Spezifikationen und ihre Gegensätze (in den Quästionen 47–170). Schließlich bilden die Ausführungen zu den geistlichen Ständen und den Orden den letzten Teil der Secunda Secundae (in den Quästionen 171–189).

2.2 Allgemeine Inhaltsübersicht über den Tugendtraktat der Summa Theologiae in der Prima Secundae (I–II) Wir beschränken unsere nachfolgenden Ausführungen zur Tugendethik des Thomas von Aquin auf seinen Tugendtraktat im 7

Vgl. dazu den Beitrag von Peter Nickel in diesem Band. Zum Verhältnis der inneren und äußeren Handlungsprinzipien vgl. den Beitrag von Matthias Perkams in diesem Band. 8

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engeren Sinne dieses Wortes, d.ௗh. auf die Quästionen 55–67 der Prima Secundae der Summa Theologiae, weil Thomas hier die Tugend grundsätzlich und allgemeingültig behandelt, und zwar zuerst ihr Wesen (q. 55), dann ihren Träger bzw. ihr Subjekt (q. 56), also dasjenige, an dem als dessen Eigenschaft eine Tugend überhaupt nur vorkommen kann. In den folgenden Quästionen teilt Thomas die Tugenden in vier verschiedene Arten ein, und zwar in (1) Verstandestugenden (virtutes intellectuales) in q. 57; dann in (2) sittliche Tugenden (virtutes morales) in den qq. 58–60, und zwar zuerst in ihrem Unterschied zu den Verstandestugenden (q. 58), dann in ihrem Unterschied zu den Leidenschaften (q. 59) und schließlich zur Unterscheidung der sittlichen Tugenden untereinander (q. 60); ferner in (3) die erstmals seit Ambrosius von Mailand so genannten Kardinal- oder Haupttugenden (virtutes cardinales), deren Grundbedeutung Thomas in De virtutibus etymologisch erklärt: »Eine Tugend heißt Kardinalbzw. Haupttugend, weil an ihr die anderen Tugenden befestigt sind wie die Tür in der Angel.«9 Thomas definiert die Kardinal- oder Haupttugenden als solche Tugenden, welche »die Rechtheit des Strebevermögens einschließen«, d.ௗh. die Fähigkeit zum guten Handeln wie auch die Ausführung des guten Werkes verleihen.10 Davon gibt es sowohl traditionellerweise als auch bei Thomas genau vier, und zwar bei Thomas sowohl nach dem Kriterium der formgebenden Wesensgründe (principia formalia) als auch nach dem Kriterium der Träger (subiecta), nämlich die Klugheit (prudentia), die Gerechtigkeit (iustitia), die Maßhaltung bzw. Mäßigkeit (temperantia) und die Tapferkeit (fortitudo). Schließlich unterscheidet Thomas noch eine vierte Art von Tugenden, und zwar (4) die sogenannten theologischen Tugenden (virtutes theologicae), die von Thomas aus drei Gründen so genannt werden: erstens, weil sie Gott zum Gegenstand haben, insofern wir durch sie in rechter Weise auf Gott hingeordnet werden; zweitens, weil sie von Gott alleine uns eingegossen werden; und drittens, weil diese Tugenden alleine durch göttliche Offenbarung in der Heiligen Schrift überliefert sind.11 9

Thomas von Aquin, De virt., q. 1, a. 12, ad 24: Virtus aliqua dicitur cardinalis, quasi principalis, quia super eam aliae virtutes firmantur, sicut ostium in cardine (Übersetzung: Winfried Rohr). 10 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 61, r.: huiusmodi enim virtus non solum facit facultatem bene agendi, sed etiam ipsum usum boni operis causat. 11 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 62, a. 1, r.

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Mit seiner Erörterung der theologischen Tugenden in ihrem Verhältnis zu den drei anderen Tugendarten schließt Thomas seine Einteilung der Tugenden in insgesamt vier verschiedene Tugendarten ab. In q. 63 wird die (Wirk-)Ursache der Tugenden und in den qq. 64–67 werden die Eigenschaften der Tugenden behandelt, und zwar erstens die Mitte-Stellung der Tugenden (q. 64), dann die Verknüpfung der Tugenden miteinander (q. 65), dann die Frage nach der Gleichheit der Tugenden in ihren verschiedenen Arten zueinander (q. 66) und schließlich in q. 67 dieses Tugendtraktats die Frage nach der Fortdauer der unterschiedenen Tugendarten nach dem irdischen Leben.

2.3 Die allgemeine Wesensbestimmung der Tugend (virtus) als einer guten Verhaltensdisposition (habitus) der rationalen Vermögen der menschlichen Seele für deren Tätigsein Bevor wir uns unserem Thema der Bedeutung der sittlichen Tugenden für ein glückliches Leben des Menschen nach Thomas zuwenden können, müssen wir uns zunächst noch die Wesensbestimmung der sittlichen Tugenden im Verständnis des Thomas vergegenwärtigen. Denn um die Glücksrelevanz der sittlichen Tugenden für den Menschen nach Thomas beurteilen zu können, müssen wir wissen, wie Thomas die sittlichen Tugenden grundsätzlich und allgemein versteht. Das aber setzt die thomanische Wesensbestimmung dessen voraus, was eine Tugend grundsätzlich und allgemein ist. Das Wesen der Tugend bestimmt Thomas in q. 55 und damit vor seiner Einteilung der Tugend in die vier unterschiedenen Arten. Die vollständige Wesensbestimmung der Tugend nimmt Thomas in insgesamt vier Argumentationsschritten vor: Im ersten Artikel der q. 55 zeigt er, dass die Tugend ein Habitus, d.ௗh. eine Verhaltensdisposition, ist. Denn die Tugend bedeute eine gewisse Vollkommenheit eines Vermögens. Nun werde aber die Vollkommenheit einer jeden Entität im Hinblick auf deren Ziel gesehen, das Ziel eines Vermögens aber sei dessen Akt. Folglich werde ein Vermögen als vollkommen bezeichnet, wenn es auf seinen Akt hin bestimmt ist.12 Nun gebe es gewisse Vermögen, die aus sich selbst 12

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 1, r.

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Das Wesen und die Bedeutung der sittlichen Tugenden für ein glückliches Leben

auf ihre Akte hin bestimmt seien; deshalb würden solche natürlichen Vermögen bereits »Tugenden« bzw. »Kräfte« (virtutes) genannt.13 Die vernunfthaften Vermögen aber, die zur Natur des Menschen gehören, seien nicht auf ein Bestimmtes festgelegt, sondern verhielten sich vielem gegenüber noch unbestimmt. Sie würden aber durch Verhaltensdispositionen (habitus) auf ihre Akte hin bestimmt; folglich seien die menschlichen Tugenden Verhaltensdispositionen (habitus).14 Den Begriff des habitus hat Thomas in q. 49 bestimmt als eine Qualität, und zwar genauer als einen in bestimmter Weise qualifizierten, entweder durch eine einzige Handlung, meist aber durch Übung und Gewohnheit erworbenen und daher nur schwer veränderlichen Modus im Sinne einer dispositio, also eines Zustands einer Substanz, der daher im Deutschen angemessen als eine Verhaltensdisposition einer zumindest basal selbstbestimmungsfähigen und damit lebendigen Substanz wiedergegeben werden kann.15 Darüber hinaus ist die Tugend, wie Thomas im zweiten Artikel der q. 55 zeigt, auch ein operativer Habitus (habitus operativus), d.ௗh. ein auf Handeln bzw. Tätigsein ausgerichteter Habitus. Denn der Begriff »virtus« besage bereits eine gewisse Vollkommenheit, nämlich Kraft oder Tüchtigkeit, eines Vermögens.16 Und da es ein doppeltes Vermögen gebe, nämlich ein Vermögen zum Sein und zum Wirken, werde die Vollkommenheit beider Vermögen »Tugend« genannt. Das Vermögen zum Sein aber liege auf der Seite des Stoffes, das Vermögen zum Wirken aber auf der Seite der Form, weil diese ein Wirkprinzip darstelle, denn jedes Wesen könne nur dann wirken, wenn es im Akt sei. Beim Menschen aber verhalte sich der Leib wie der Stoff und die Seele wie die Form. Die menschliche Tugend, um deren Wesensbestimmung es ihm geht, könne daher nur eine Verhaltensdisposition derjenigen vernunftartigen Kräfte sein, die der menschlichen Seele eigentümlich seien. Folglich bedeute die menschliche Tugend einen habitus, d.ௗh. eine Verhaltensdisposition der spezifischen Kräfte bzw.

13 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 1, r.: Sunt autem quaedam potentiae quae secundum seipsas sunt determinatae ad suos actus; sicut potentiae naturales activae. Et ideo hujusmodi potentiae naturales secundum seipsas dicuntur virtutes. 14 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 1, r. 15 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 49, aa. 1–3. 16 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 2, r.: dicendum est virtus, ex ipsa ratione nominis, importat quamdam perfectionem potentiae.

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der rationalen Vermögen der menschlichen Seele, die sich nicht auf das Sein, sondern auf das Tätigsein dieser Vermögen beziehe.17 Dass diese menschliche, auf das Tätigsein bezogene Verhaltensdisposition der Tugend eine gute Verhaltensdisposition sein muss und keine schlechte sein kann, zeigt Thomas im 3. Artikel dieser Quästion. Denn wenn die Tugend eine Vollkommenheit des Vermögens bedeute, könne sie nicht schlecht sein, weil alles Schlechte – gemäß der Privationstheorie des Schlechten – einen Mangel (an Sein) und damit eine Schwäche und folglich ein »relatives Nicht-Können«18 bedeute.19 Die sachliche Richtigkeit der von ihm entwickelten Wesensbestimmung der Tugend zeigt Thomas im vierten und letzten Artikel der q. 55 auf.20 Diese Definition umfasse in vollkommener Weise den ganzen Begriffsgehalt (ratio) und damit das ganze Wesen der Tugend. Denn die vollkommene Begriffsbestimmung einer jeden Entität werde aus der Gesamtheit ihrer Ursachen gefolgert; die gegebene Definition der Tugend aber umfasse alle ihre Ursachen.21 Zudem sei diese Definition der Tugend – und das ist ein Autoritätsargument des Thomas – aus der augustinischen Begriffsbestimmung der Tugend abgeleitet.22 Dann geht Thomas die Definitionselemente der Tugend im Einzelnen durch. Die (innere) Formursache der Tugend werde wie bei jeder Entität ihrer Gattung und ihrem Artunterschied entnommen. Die Gattung, zu der die Tugend gehört, sei aber (nach Augustinus) die »Beschaffenheit« (qualitas) bzw. angemessener der habitus, weil der habitus die nächste Gattung für die Tugend darstelle.23 Der Artunterschied bzw. die spezifische Differenz dieses habitus aber sei »gut« , sodass die Tugend als ein guter habitus bzw. als ein habitus, der sich immer auf das Gute richte, verstanden werden müsse.24 Diese gute Verhaltensdisposition aber besitze keine Stoffursache, aus der sie bestünde, sondern sie komme einem Träger als dessen 17

Zu diesem Passus vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 2, r. Schönberger, Thomas von Aquin, 185. 19 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 3, r. 20 Vgl. dazu auch den Beitrag von Kathi Beier in diesem Band, dort insbesondere Abschnitt 2. 21 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 4, r. 22 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 4, s. c.: est auctoritas Augustini, ex cuius verbis definitio praedicta colligitur, et praecipue in 2 de Libero Arbitrio [cap. 19; super Psalm. 118, serm. 26]. 23 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 4, r. 24 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 4, r. 18

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Das Wesen und die Bedeutung der sittlichen Tugenden für ein glückliches Leben

(mögliche, mithin kontingente, nicht notwendige) Eigenschaft zu. Der Träger bzw. das subiectum der Tugend als einer auf das Tun des Guten bezogenen Verhaltensdisposition des Menschen aber sei der menschliche Geist, weshalb Augustinus die Tugend als eine gute Beschaffenheit des Geistes bezeichne.25 Wenn Augustinus die Tugend als eine solche Beschaffenheit des Geistes bezeichne, »durch die man in rechter Weise lebt«, dann sei damit die wesenhafte Ausrichtung der Tugend auf das Tun des Guten zum Ausdruck gebracht. Und wenn Augustinus in seiner Definition der Tugend von dieser sage, dass sie niemand schlecht gebrauche, unterscheide er sie von denjenigen habitus, die sich manchmal auf das Gute und manchmal auf das Schlechte hin ausrichten.26 Schließlich gebe Augustinus in seiner Begriffsbestimmung der Tugend auch die Wirkursache der eingegossenen Tugend an, wenn er sage: »[…] die Gott in uns ohne uns bewirkt.«27 Hier spezifiziert Thomas die augustinische Begriffsbestimmung der Tugend auf die eingegossene, d.ௗh. die gnadenhaft von Gott verliehene, Tugend hin, indem er Gott als deren Wirkursache bestimmt.28 Denn nur so kann er die augustinische Wesensbestimmung der Tugend gleichsam noch retten.

2.4 Das Wesen der sittlichen Tugend, ihr Unterschied zur verstandesmäßigen Tugend und die vollständige Einteilung der natürlichen Tugenden in diese beiden Tugendarten Nachdem Thomas bewiesen hat, dass sowohl der Verstand bzw. die Vernunft als auch der sittlich qualifizierte Wille Träger von Tugenden sein können, ist es konsequent, wenn er im Folgenden (q. 57) zuerst die verstandesmäßigen Tugenden (virtutes intellectuales) und danach (q. 58) die sittlichen Tugenden (virtutes morales) behandelt. Im Hinblick auf das Thema dieses Beitrags wird die Abhandlung der verstandesmäßigen Tugenden, zu denen Thomas die Weisheit, die 25

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 4, r. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 4, r. 27 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 4, r; ad 6. Diese Stelle findet sich aber nicht in Augustinus, sondern bei Petrus Lombardus (vgl. Sent. II, 27, ed. Collegii S. Bonaventurae, 192/714) bzw. bei Petrus von Poitiers (vgl. 3 Sent., c. 1, PL 211/1041). 28 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 4, r.: Causa autem efficiens virtutis infusae, de qua definitio datur, Deus est.

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Wissenschaft, die Einsicht und vor allem die Klugheit rechnet, jedoch übergangen. Stattdessen soll gleich zu den sittlichen Tugenden übergegangen werden, die Thomas in q. 58 von den verstandesmäßigen Tugenden unterscheidet. Im ersten Artikel dieser Quästion bestimmt Thomas nur jene Tugenden als sittlich bzw. als sittliche Tugenden, die in der Strebekraft des Menschen ihren Sitz haben.29 Denn die sittliche Tugend (virtus moralis) werde nach der Sitte (mos) so bezeichnet, welche eine naturhafte oder gleichsam naturhafte Neigung zu einem Tätigsein bedeute. Dieser Bedeutung von Sitte (mos) aber stehe eine andere Bedeutung nahe, die als »Gewohnheit« (consuetudo) bezeichnet werde. Denn die Gewohnheit werde gewissermaßen in die Natur verwandelt und schaffe eine der naturhaften Neigung ähnliche Neigung. Die Neigung zum Akt aber komme in eigentümlicher Weise der Strebekraft zu, deren Aufgabe es sei, alle Vermögen zum Tätigsein zu bewegen. Folglich werde nicht jede Tugend als sittlich bezeichnet, sondern nur jene, welche in der Strebekraft ihren Sitz habe.30 Der Mensch bedürfe zum sittlich guten Handeln nicht nur der Vernunft durch die Verhaltensdisposition der verstandesmäßigen Tugend (virtus intellectualis), sondern auch der guten Ausrichtung seiner Strebekraft durch die Verhaltensdisposition der sittlichen Tugend. Wie also das Strebevermögen von der Vernunft unterschieden sei, so sei auch die sittliche Tugend von der verstandesmäßigen Tugend unterschieden. Wie daher das Strebevermögen Beweggrund der menschlichen Handlung sei, insofern es irgendwie an der Vernunft teilhabe, so habe die sittliche Verhaltensdisposition (habitus moralis) die Form (ratio) einer menschlichen Tugend, insofern sie der Vernunft gleichgeformt werde.31 Damit hat Thomas das eigenständige Bestehen der sittlichen Tugend gegenüber der verstandesmäßigen Tugend erwiesen. Im dritten Artikel dieser Quästion zeigt Thomas die Vollständigkeit bzw. Suffizienz der Einteilung der Tugend in das Genus der verstandesmäßigen Tugend und in das Genus der sittlichen Tugend, tertium non datur. Er tut dies mit dem folgenden Argument: Die menschliche Tugend (virtus humana) sei eine gewisse Verhaltensdisposition, welche den Menschen zu einem guten Handeln 29 30 31

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 58, a. 1, r. Zu diesem Passus vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 58, a. 1, r. Zum Ganzen vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 58, a. 2, r.

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vervollkommne. Es gebe aber nur zwei Beweggründe für die menschlichen Akte im Menschen, und zwar den Verstand oder die Vernunft (intellectus sive ratio) einerseits und das Strebevermögen (appetitus) (des Willens) andererseits. Denn dies seien die beiden bewegenden Kräfte im Menschen, wie der Philosoph, d.ௗh. Aristoteles, in seiner Schrift Über die Seele ausführe.32 Deshalb müsse jede menschliche Tugend einen dieser beiden Beweggründe vervollkommnen. Wenn die menschliche Tugend den spekulativen bzw. theoretischen oder den praktischen Verstand auf den guten Akt hin vervollkommne, sei sie eine verstandesmäßige Tugend. Wenn sie den strebenden, d.ௗh. willentlichen Teil der menschlichen Seele vervollkommne, dann sei sie eine sittliche Tugend. Folglich sei jede menschliche Tugend entweder eine verstandesmäßige oder eine sittliche Tugend, quod erat demonstrandum.33 Dass es im Menschen nur diese beiden Arten von Tugenden, und zwar das verstandesmäßige und das sittliche Genus von Tugenden, überhaupt gibt und auch nur geben kann, liegt also nach Thomas darin begründet, dass es nur diese beiden Beweggründe für menschliche Akte im Menschen gibt, nämlich den Verstand bzw. die Vernunft und das Strebevermögen des menschlichen Willens.

2.5 Die verschiedenen Einteilungen der sittlichen Tugenden und ihr jeweiliges Einteilungskriterium In q. 60 werden die sittlichen Tugenden voneinander unterschieden. Hier zeigt Thomas zunächst ganz elementar, dass es nicht nur eine sittliche Tugend geben kann, sondern dass die sittlichen Tugenden der Art nach verschieden sind und nicht eine einzige Tugend bilden.34 Dann zeigt er, dass die sittlichen Tugenden, die sich auf die Handlungen des Menschen beziehen, wie etwa die Gerechtigkeit, von denjenigen sittlichen Tugenden zu unterscheiden sind, die sich auf die Leidenschaften als innere Regungen der menschlichen Seele beziehen, etwa die Maßhaltung und die Tapferkeit.35 Danach führt er folgerichtig aus, dass die sittlichen Tugenden, die sich auf die menschlichen Handlungen beziehen, plural, d.ௗh. mehrere sein müs32 33 34 35

Vgl. Aristoteles, An. III 10. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 58, a. 3, r. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 60, a. 1, r. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 60, a. 2, r.

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sen. Zwar sei ihnen das allgemeine Wesensmerkmal der Gerechtigkeit gemeinsam, das ein Erstatten des Geschuldeten einem anderen gegenüber bedeute; sie besäßen jedoch unterschiedliche spezifische Wesensmerkmale, weil das Geschuldete nicht in allen Fällen dieselbe Bestimmung (ratio) besitze. Entsprechend diesen unterschiedlichen Bestimmungen des Geschuldeten würden auch verschiedene sittliche Tugenden angenommen, die sich auf Handlungen beziehen: etwa die Gottesverehrung des Menschen oder auch seine Ergebenheit gegenüber den Eltern und dem Vaterland oder die Dankbarkeit als Gerechtigkeit gegenüber dem Wohltäter etc.36 Plural seien auch die sittlichen Tugenden, welche sich auf die Leidenschaften beziehen, weil letztere zu verschiedenen Vermögen gehören, wie etwa zum zornhaften oder zum begehrenden Vermögen, die durch die sittliche Tugend der Sanftmut bzw. der Maßhaltung geordnet werden.37 Die sittlichen Tugenden müssten nach ihrem Verhältnis zur Vernunft (ratio) voneinander unterschieden werden, während die Leidenschaften nach ihrem Verhältnis zum sinnlichen Strebevermögen unterschieden werden. Deshalb verursachten die Gegenstände der Leidenschaften verschiedene Arten von Leidenschaften, und entsprechend ihrem Verhältnis zur Vernunft verursachten sie verschiedene Arten von Tugenden.38 So könne das Gut des Menschen (bonum hominis),39 welches der Gegenstand der Liebe, der Begierde und der Lust sei, entweder in Beziehung auf die Sinne des Leibes oder auf das innere Erleben der Seele aufgefasst werden und hier wiederum entweder auf das Wohl des Menschen in sich genommen oder in dessen Beziehung zu anderen. Jede derartige Verschiedenheit aber bedinge aufgrund der verschiedenen Hinordnung auf die Vernunft eine Verschiedenheit der sittlichen Tugend. So gebe es etwa bei dem Gut des Menschen, das durch den leiblichen Tastsinn erfasst werde und der Erhaltung des menschlichen Lebens im Einzelnen oder in der Art diene, d.ௗh. bei der Lust am Essen und am Geschlechtsleben, eine Beziehung auf die Tugend der Maßhaltung. Auf das Gut des Geldes, das eine Hinordnung auf das Wohl des Leibes besitze, beziehe sich 36

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 60, a. 3, r. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 60, a. 4, r. 38 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 60, a. 5, r. 39 Zum bonum hominis als der maßgeblichen anthropologischen Grundlage der Tugendethik des Thomas von Aquin vgl. die umfassende Studie von Eberhard Schockenhoff, Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin, Mainz 1987. 37

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die sittliche Tugend der Freigebigkeit und die sittliche Tugend der Großzügigkeit, sofern das Geld Gegenstand der Hoffnung sei. Im Ganzen gesehen unterscheidet Thomas im Anschluss an Aristoteles‫ތ‬ Nikomachische Ethik40 zehn sittliche Tugenden in Bezug auf die menschlichen Leidenschaften, und zwar die Tapferkeit (fortitudo), die Maßhaltung (temperantia), die Freigebigkeit (liberalitas), die Großzügigkeit (magnificentia), die Hochgemutheit (magnanimitas), die Ehrliebe (philotimia), die Sanftmut (mansuetudo), die Freundlichkeit (amicitia), die Wahrhaftigkeit (veracitas) und die rechte Scherzlust (eutrapelia). Diese werden unterschieden nach den verschiedenen Tätigkeitsbereichen oder nach den verschiedenen passiones animae, d.ௗh. den Leidenschaften der menschlichen Seele, oder nach ihren verschiedenen Gegenständen. Ihnen fügt Thomas hier ausdrücklich noch jene sittliche Tugend hinzu, die ein allgemeines Wesensmerkmal derjenigen sittlichen Tugenden darstellt, die sich auf die Handlungen beziehen, nämlich die Gerechtigkeit,.41 Zu den sittlichen Tugenden zählt Thomas aber auch die drei sittlichen Tugenden der sogenannten Kardinal- oder Haupttugenden (virtutes cardinales vel principales), welche im Unterschied zu den anderen sittlichen Tugenden, die keine Haupttugenden sind, nicht nur die Fähigkeit zum guten Handeln, sondern auch die Ausführung des guten Werkes und damit die volle Rechtheit des Strebevermögens enthielten.42 Diese Begriffsbestimmung einer Kardinaltugend erfüllen unter den sittlichen Tugenden nur die Tapferkeit, die Maßhaltung und die Gerechtigkeit und unter den verstandesmäßigen Tugenden einzig und allein die Klugheit, wie Thomas in q. 61 mit überzeugenden Gründen aufweist, die hier aus Platzgründen leider nicht mehr ausgeführt werden können.

40 41 42

Vgl. Aristoteles, EN II 7. Zum gesamten Passus vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 60, a. 5, r. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 61, a. 1, r.

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2.6 Die theologischen Tugenden und ihre Hinordnung des Menschen auf das vollkommene Glück 2.6.1 Die Ausrichtung des Menschen durch die sittlichen Tugenden auf das unvollkommene Glück (felicitas) und seine Ausrichtung durch die theologischen Tugenden auf das vollkommene, übernatürliche Glück (beatitudo) Schließlich und besonders im Hinblick auf das Thema dieses Beitrags müssen noch die theologischen bzw. göttlichen Tugenden näher betrachtet werden, die Thomas in q. 62 behandelt. Im Sed contra des ersten Artikels weist Thomas darauf hin, dass die Vorschriften des Gesetzes, d.ௗh. des Alten Bundes zunächst die Akte der sittlichen und verstandesmäßigen Tugenden betreffen; darüber hinaus gebe es im Alten Testament aber auch Vorschriften für die Akte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Folglich seien Glaube, Hoffnung und Liebe theologische Tugenden des Menschen, d. h. solche Tugenden, die den Menschen auf Gott hinordnen.43 In seinem Respondeo, also in seiner Antwort auf den generellen Einwand, dass es theologische Tugenden des Menschen nicht geben könne, führt Thomas aus, dass der Mensch durch die Tugend zu Akten vervollkommnet werde, durch die er auf das Glück (beatitudo) hingeordnet werde. Es gebe aber ein doppeltes Glück des Menschen (duplex beatitudo sive felicitas): Ein Glück, das der menschlichen Natur angepasst sei, zu welcher der Mensch durch die Grundbestimmungen oder Grundkräfte (principia) seiner Natur gelangen könne und das Thomas terminologisch üblicherweise als felicitas bezeichnet. Es gebe aber noch ein anderes Glück, das über die Natur des Menschen hinausgehe und zu welcher der Mensch alleine durch göttliche Kraft gelangen könne, und zwar gemäß einer gewissen Teilhabe an der Gottheit. Von diesem Glück werde in 2 Petr 1,4 gesagt, dass wir durch Christus der göttlichen Natur teilhaftig geworden seien.44 Dieses vollkommene Glück des Menschen bezeichnet Thomas terminologisch als beatitudo und bestimmt es gemäß dem Glückstraktat in den ersten fünf Quästionen der Prima Secundae formal als das letzte Ziel (ultimus finis) des Menschen und inhaltlich nach der dritten Quästion der Prima Secundae als die unmittelbare Schau des 43 44

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 62, a. 1, s. c. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 62, a. 1, r.

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göttlichen Wesens im ewigen Leben.45 Und weil dieses Glück das Maß der menschlichen Natur überschreite, genügten die natürlichen Grundkräfte des Menschen, mittels derer er nach dem Maß seines eigenen Könnens zum guten Handeln schreite, nicht, den Menschen auf dieses übernatürliche Glück hinzuordnen. Folglich müssten dem Menschen von Gott Kräfte hinzugegeben werden, durch welche er in der Weise auf das übernatürliche Glück hingeordnet werde, wie er durch seine natürlichen Kräfte auf ein naturgleiches Ziel hingeordnet werde, allerdings nicht ohne göttliche Hilfe. Solche Kräfte, die diese Hinordnung des Menschen auf sein übernatürliches Glück bewirkten, würden aus drei Gründen »theologische Tugenden« genannt; und zwar zum einen deshalb, weil sie Gott zum Gegenstand haben, insofern wir Menschen durch sie eine rechte Hinordnung auf Gott erhalten; zum anderen deshalb, weil sie uns von Gott alleine eingegossen werden; und schließlich deshalb, weil diese theologischen Tugenden alleine durch göttliche Offenbarung in der Heiligen Schrift überliefert seien.46 Mit anderen Worten: Die sittlichen Tugenden richten den Menschen durch ihre natürlichen Kräfte auf einen Glückszustand als ein Ziel aus, das der menschlichen Natur gemäß ist, nämlich auf die sittliche Vervollkommnung der menschlichen Natur durch sittlich gute Handlungen. Bereits dies vermögen oder erreichen die sittlichen Tugenden aber nicht ohne göttliche Hilfe bzw. die göttliche Gnade. Einfacher und plakativ formuliert: Nach der Überzeugung des Thomas können die sittlichen Tugenden aus eigener Kraft das bonum hominis bzw. den natürlichen Glückszustand des Menschen, den Thomas terminologisch felicitas nennt, nicht schaffen bzw. hervorbringen. Dazu bedarf es zwar der Einübung und des Erwerbs der sittlichen Tugenden; deren Kraft sei aber zu schwach und reiche nicht aus, um dem Menschen einen natürlichen, seiner Natur gemäßen Glückszu45 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, qq. 1–5, insbesondere q. 3. Zum Argumentationsverlauf des Glückstraktats in STh I–II, qq. 1–5 vgl. Johannes Brachtendorf, »Einleitung«, in: Thomas von Aquin, Über das Glück / De beatitudine, übersetzt, mit einer Einleitung und einem Kommentar herausgegeben von Johannes Brachtendorf, Hamburg 2012, XIII–XXXII. Zu den traditionsgeschichtlichen Hintergründen und Zusammenhängen des Glückstraktats in der Summa Theologiae vgl. Klaus Jacobi, »Theologie- und philosophiegeschichtlicher Kommentar«, in: Die deutsche ThomasAusgabe: Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologiae, Bd. 9B: Ziel und Handeln des Menschen, übersetzt und kommentiert von Klaus Jacobi, I–II, 1–21, Berlin / Boston 2021, 685–1495, hier 687–725. 46 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 62, a. 1, r.

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stand auf Erden zu verschaffen. Hierzu bedürfe es vielmehr bereits der Hilfe und Unterstützung Gottes. Um wieviel mehr ist dies nach Thomas bei den sogenannten »theologischen Tugenden« der Fall. Denn die theologischen Tugenden richten den Menschen auf sein übernatürliches Glück aus, das Thomas beatitudo, d.ௗh. die Glückseligkeit, nennt, die für den Menschen in der unmittelbaren Schau des göttlichen Wesens im ewigen Leben bei Gott besteht. Dieses übernatürliche, postmortale, jenseitige Glück könne der Mensch noch viel weniger mit der Kraft seiner eigenen Natur erreichen als seinen natürlichen Glückzustand. Denn es überschreite grundsätzlich das Vermögen und die Grenzen der menschlichen Natur.

2.6.2 Die Unterschiedenheit der übernatürlichen, theologischen Tugenden von den natürlichen Tugenden des Verstandes und der Sitte Im zweiten Artikel der q. 62 führt Thomas den Nachweis, dass die theologischen Tugenden sich von den verstandesmäßigen und den sittlichen Tugenden unterscheiden. In unserem thematischen Zusammenhang soll nur auf das Sed contra und das Respondeo dieses Artikels eingegangen werden. Im Sed contra formuliert Thomas wie folgt: Was über der Natur des Menschen liegt, wird [mit Recht] von dem unterschieden, was zur Natur des Menschen gehört. Die theologischen Tugenden aber liegen über der Natur des Menschen, dem gemäß seiner Natur die verstandesmäßigen und sittlichen Tugenden zukommen [und zwar nach q. 58, a. 3]. Also werden sie [sc. die drei TugendGenera] voneinander unterschieden. (Übers. v. Verfasser)47

Mit anderen Worten: Während die verstandesmäßigen und die sittlichen Tugenden natürliche Tugenden sind, die der Vervollkommnung der menschlichen Natur durch ein habituell bzw. verhaltensdispositionell gutes Handeln dienen, sind die theologischen Tugenden übernatürliche Tugenden, die dem Menschen dazu verhelfen, einen übernatürlichen Glückszustand zu erreichen. 47 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 62, a. 2, s. c.: [I]d quod est supra naturam hominis, distinguitur ab eo quod est secundum naturam hominis. Sed virtutes theologicae sunt super naturam hominis: cui secundum naturam conveniunt virtutes intellectuales et morales, ut ex supradictis patet. Ergo distinguuntur ab invicem.

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Im Respondeo geht Thomas von seinem Unterscheidungskriterium der verschiedenen Arten der Verhaltensdispositionen aufgrund des formgebenden Unterschieds in den Gegenständen aus.48 Alle Tugenden aber, so müsste man sachlich noch ergänzen, schließen den Besitz einer Verhaltensdisposition zum guten Handeln, d.ௗh. einen Habitus, ein. Der Gegenstand der theologischen Tugenden aber sei Gott selbst, der das allgemeine Ziel der Entitäten sei, insofern er die Erkenntnis unserer Vernunft überrage. Der Gegenstand der verstandesmäßigen und der sittlichen Tugenden aber sei etwas, was sich mit der menschlichen Vernunft begreifen lasse. Folglich seien die theologischen Tugenden der Art nach von den sittlichen und verstandesmäßigen Tugenden zu unterscheiden,49 quod erat demonstrandum.

2.6.3 Der Nachweis der drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe Im dritten Artikel der q. 62 stellt sich Thomas die Frage, ob Glaube, Hoffnung und Liebe angemessenerweise als theologische Tugenden verstanden werden können. Den Einwänden gegen die Annahme, dass die theologischen Tugenden aus Glaube, Hoffnung und Liebe bestehen, setzt er im Sed contra die Stelle in 1 Kor 13,13 entgegen: »Jetzt aber bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei.« Zur Begründung dieser Dreizahl der theologischen Tugenden geht er im Respondeo dieses Artikels davon aus, dass die theologischen Tugenden den Menschen auf die Weise zur übernatürlichen Glückseligkeit hinordnen, wie der Mensch durch die naturhaften Neigungen auf ein ihm naturgleiches Ziel hingeordnet werde, und zwar in zweifacher Weise: erstens gemäß der Vernunft oder dem Verstand, insofern dieser die ersten allgemeinen, uns durch das natürliche Licht des Verstandes bekannten Grundsätze (principia) enthalte, von denen die Vernunft sowohl im theoretischen Erkenntnisbereich als auch im Handeln ausgehe; zweitens durch die Rechtheit des Willens, der von Natur aus auf das vernunftgemäße Gut hin strebe.50 Gleichwohl blieben diese beiden Vermögen hinter dem Stand der übernatürlichen Glückseligkeit zurück, wofür Thomas sich auf die Bibelstelle in 1 Kor 2,9 beruft: »Kein Auge hat es gesehen und kein Ohr hat es gehört und 48 49 50

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 54, a. 2, ad 1. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 62, a. 2, r. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 62, a. 3, r.

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in keines Menschen Herz ist es gedrungen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.« Daher habe unter beiden Gesichtspunkten (d.ௗh. hinsichtlich der Vernunft und des Willens) dem Menschen etwas in übernatürlicher Weise hinzugegeben werden müssen, um ihn auf das übernatürliche Ziel hinzuordnen. Hinsichtlich seines Verstandes seien dem Menschen übernatürliche Grundsätze hinzugegeben worden, die mit göttlichem Licht erfasst werden – das seien die Gegenstände, auf die sich der Glaube beziehe. Zweitens werde der Wille auf jenes Ziel hingeordnet, und zwar sowohl bezüglich der Bewegung der Absicht, die auf das Ziel hinstrebe wie auf etwas, das zu erreichen möglich sei – was zur Hoffnung gehöre –, als auch bezüglich einer gewissen geistigen Einung, durch die der Mensch gewissermaßen in jenes Ziel verwandelt werde – was durch die Liebe geschehe. Denn das Strebevermögen einer jeden Entität bewege sich und strebe von Natur aus auf ein ihr naturgleiches Ziel hin. Diese Bewegung gehe aus einer gewissen Gleichförmigkeit einer Entität mit ihrem Ziel hervor.51 Mit anderen Worten: Die theologischen Tugenden richten den Menschen nach Thomas ebenso auf die übernatürliche Glückseligkeit hin aus, wie der Mensch von seinen naturhaften Neigungen auf ein naturhaftes Ziel hin ausgerichtet werde, und zwar, seinen beiden geistigen Grundvermögen entsprechend, in zweifacher Weise, nämlich gemäß der Vernunft bzw. dem Verstand, der die ersten allgemeinen Erkenntnisprinzipien erfasst, als auch gemäß seinem Willen, der von Natur aus nach dem vernunftgemäßen Gut strebt. Beide natürlichen geistigen Grundvermögen des Menschen könnten aber aus eigener Kraft nicht die übernatürliche Glückseligkeit erreichen, sodass dem Menschen etwas von Gott in übernatürlicher Weise gegeben worden sei, um ihn auf sein übernatürliches Ziel hin auszurichten. Dem geistigen Erkenntnisvermögen des menschlichen Verstandes seien übernatürliche Grundsätze – das sind die geoffenbarten Gegenstände des Glaubens – und das übernatürliche Erkenntnisvermögen der theologischen Tugend des Glaubens gegeben worden, mit dem er diese übernatürlichen Glaubenssätze erfassen könne. Dem menschlichen Willen sei zweierlei von Gott gegeben worden: die Bewegung der Absicht, die nach dem übernatürlichen Ziel als auf etwas, das erreicht werden könne, strebe – das sei die theologische Tugend der Hoffnung; und schließlich die theologische Tugend der Liebe als einer geistigen 51

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 62, a. 3, r.

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Transformation des Menschen in sein übernatürliches Ziel, nach dem er natürlicherweise strebe.52 Der vierte Artikel dieser Quästion, der den Aufweis der zeitlichen bzw. genauer entstehungsmäßigen Priorität des Glaubens gegenüber der Hoffnung und der Hoffnung gegenüber der Liebe und damit die Ordnung der theologischen Tugenden nach ihrer Entstehung zum Gegenstand hat, kann hier unberücksichtigt bleiben, weil er für unsere Thematik nicht mehr relevant ist.

2.7 Die Begriffsbestimmung der erworbenen Tugend und die der eingegossenen Tugend und der Unterschied zwischen beiden Tugendarten Stattdessen soll noch auf den vierten Artikel der Quästion 63 eingegangen werden, in dem es um die Unterscheidung der erworbenen Tugenden von den eingegossenen Tugenden geht. Im Sed contra dieses Artikels macht Thomas geltend, dass jedes Unterscheidungsmerkmal, das in der Definition, d.ௗh. in der Wesensbestimmung, eines Gegenstandes enthalten ist und verändert wird, die Art eines Gegenstandes verschieden mache. In der Definition der eingegossenen Tugend aber sei das Unterscheidungsmerkmal enthalten »welche Gott in uns ohne uns wirkt«53. Folglich sei die erworbene Tugend, von der nicht gelte, dass sie Gott in uns ohne uns wirkt, nicht von der gleichen Art wie die eingegossene Tugend. Im Respondeo dieses Artikels geht Thomas von einer zweifachen Unterscheidung der Verhaltensdispositionen ihrer Art nach aus. Einmal aufgrund der besonderen und formgebenden Gründe der Gegenstände:54 Der Gegenstand jeder Tugend aber sei das Gute in ihrem eigenen Bereich. Thomas exemplifiziert diesen Grundsatz am Beispiel des Gegenstands der sittlichen Tugend der Maßhaltung. Deren Gegenstand sei das Gut der Lust in den Begehrlichkeiten des Tastsinns. Der formgebende Grund in diesem Gegenstand entstamme der Vernunft, welche das Maß dieser Begierden bestimme. Das nach der Richtschnur der menschlichen Vernunft in diesen Begier52

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 62, a. 3, r. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 63, a. 4, s. c.; q. 55, a. 4. Auf diesen Unterschied geht auch Marko Fuchs in Abschnitt 2.2 seines Beitrags zu diesem Band ein. 54 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 54, a. 2; q. 56, a. 2; q. 60, a. 1. 53

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den gesetzte Maß sei aber ein anderes als das, was der göttlichen Richtschnur entspreche. So werde etwa in der Nahrungsaufnahme durch die menschliche Vernunft als Maß festgesetzt, dass sie der Gesundheit des Leibes nicht schade und die Tätigkeit des Verstandes nicht behindere. Nach der Richtschnur des göttlichen Gesetzes aber werde verlangt, dass der Mensch durch die Enthaltung von Speise und Trank seinen Leib züchtige. Daher sei es offenkundig, dass die eingegossene Tugend der Maßhaltung und die erworbene Tugend der Maßhaltung sich der Art nach unterscheiden. Von den anderen Tugenden gelte dasselbe.55 Das zweite Unterscheidungskriterium der Verhaltensdispositionen ihrer Art nach bestehe in dem, woraufhin sie geordnet sind: So sei etwa die Gesundheit des Menschen und die des Pferdes nicht von derselben Art, und zwar wegen der verschiedenen Natur, auf die sie jeweils hingeordnet seien. Dementsprechend sage Aristoteles, dass die Tugenden der Bürger verschieden seien, und zwar nach den verschiedenen Staatsformen, auf die sie sich jeweils beziehen.56 In derselben Weise unterschieden sich ihrer Art nach die eingegossenen, sittlichen Tugenden, durch welche die Menschen sich gut daraufhin ausrichten, Bürger des Gottesreiches zu sein, von den anderen erworbenen Tugenden, aufgrund derer der Mensch sich wohlverhalte in seiner Ausrichtung auf die menschlichen Angelegenheiten.57 Mit anderen Worten: Es ist evident, dass ein Unterschied in der Definition, d.ௗh. in der Wesensbestimmung eines Gegenstandes, die Art dieses Gegenstandes verschieden macht von der eines anderen Gegenstandes, dem dieses Unterscheidungsmerkmal fehlt. Die für Thomas herkömmliche, auf den Sentenzenkommentar des Petrus Lombardus58 und darüber hinaus auf Augustinus zurückgehende Definition der Tugend aber lautet, wie wir oben bereits gesehen haben: »Tugend ist jene gute Beschaffenheit des Geistes, kraft deren man recht lebt, die niemand schlecht gebraucht, die Gott in uns ohne uns wirkt.«59 Thomas versteht diese Tugend-Definition zu Recht als Wesensbestimmung ausschließlich der eingegossenen, d.ௗh. der gnadenhaft von Gott verliehenen Tugend, und zwar wegen ihres 55

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 63, a. 4, r. Vgl. Aristoteles, Pol. III 4. 57 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 63, a. 4, r. 58 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. II, 27, ed. Collegii S. Bonaventurae 192/714. 59 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 4, arg. 1: Virtus est bona qualitas mentis, qua recte vivitur, qua nullus male utitur, quam Deus in nobis sine nobis operatur. 56

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definitorischen Unterscheidungsmerkmals, dass es sich dabei um eine Tugend handeln soll, die Gott im Menschen ohne dessen Zutun wirkt. Für die erworbene Tugend ist dieses Unterscheidungsmerkmal aber gerade nicht zutreffend und gültig, sodass sich die eingegossene Tugend von der erworbenen Tugend der Art nach unterscheiden muss. Am erläuterten Beispiel der sittlichen Tugend der Maßhaltung zeigt Thomas zudem auf, dass der formgebende Grund für den Gegenstand einer Tugend entweder die menschliche oder die göttliche Vernunft ist. Wenn die menschliche Vernunft dieser formgebende Grund für den Gegenstand einer Tugend ist, dann handelt es sich um eine erworbene Tugend. Wenn aber die göttliche Vernunft der formgebende Grund für den Gegenstand einer Tugend ist, dann handelt es sich um eine eingegossene Tugend. Die theologischen Tugenden aber sind nach Thomas ohnehin eingegossene, d.ௗh. den Menschen ohne deren Zutun von Gott gnadenhaft verliehene Tugenden, weil der formgebende Grund für den Gegenstand dieser Tugenden nicht die menschliche Vernunft, sondern nur die göttliche Vernunft sein kann. Denn die theologischen Tugenden sind auf ein übernatürliches Ziel ausgerichtet.

3. Zur Wesensbestimmung der sittlichen Tugenden und ihrer Relevanz für das Glück des Menschen nach Meister Eckhart 3.1 Der wahrhaft gute und gerechte Wille als Grund der sittlichen Tugenden nach Meister Eckharts Erfurter Reden der Unterweisung Der frühe Eckhart begründet in seinen Erfurter Reden der Unterweisung (oder Reden der Unterscheidung) die sittliche Qualität der sittlichen Tugenden mit dem guten bzw. gerechten Willen: Wenn und solange der Mensch einen wahrhaft guten Willen besitze, mangele es ihm an keiner sittlichen Tugend, »weder an Liebe noch an Demut noch an irgendwelcher Tugend«60. In dem wahrhaft guten Willen liege 60 Vgl. Eckhart, RdU 10, DW V 216,2–4: Dir enmac nihtes gebrechen, ob dû einen wâren, rehten willen hâst, weder minne noch dêmüeticheit noch dehein tugent (»Dir kann

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daher der Besitz der (sittlichen) Tugend begründet.61 Wann aber ist der eigene Wille vollständig gut? Eckhart antwortet diesbezüglich: Genau dann ist der Wille vollständig gut und gerecht, wenn er ohne jedes Für-sich-selbst-Habenwollen ist und sich seiner selbst entäußert hat und in den Willen Gottes hineingebildet und hineingeformt ist. Ja, je mehr dem so ist, desto gerechter und wahrer ist der Wille. Und in solchem Willen vermagst du alles, es sei Liebe oder was du willst.62

Die Allmacht des guten Willens, der »aller Menschen Mühsal tragen und alle Armen speisen und aller Menschen Werke wirken«63 kann, liegt nach Eckhart in der wesenhaften Allmacht dessen begründet, der das logische Subjekt des vollkommen guten menschlichen Willens ist, nämlich in der Allmacht Gottes, sodass schon für den frühen Eckhart der Ursprung bzw. genauer das Wirksubjekt der sittlichen Tugenden des Menschen Gott selbst ist.

es an nichts fehlen, wenn du einen wahren, rechten Willen hast, weder an Liebe noch an Demut noch an irgendeiner Tugend«, Übers. vom Verf.). 61 Vgl. Eckhart, RdU 10, DW V 215,10–216,2: aber er [sc. der mensche] ensol sich nicht verre ahten von den tugenden, als er in im vindet einen rehten guoten willen, wan diu tugent und alles guot liget in dem guoten willen (»aber er [sc. der Mensch] soll sich nicht als fern von den Tugenden erachten, wenn er einen wahrhaft guten Willen in sich findet, denn die Tugend und alles Gute liegt in dem guten Willen begründet«, Übers. vom Verf.). 62 Eckhart, RdU 10, DW V 218,9–12: Dâ ist der wille ganz und reht, dâ er âne alle eigenschaft ist und dâ er sin selbes ûzgegangen ist und in den willen gotes gebildet und geformieret ist. Jâ, ie des mêr ist, ie der wille rehter und wârer ist. Und in dem willen vermaht dû alliu dinc, ez sî minne oder swaz dû wilt (Übers. im Haupttext vom Verf.). 63 Vgl. Eckhart, RdU, DW V 217,7–9: In der wârheit, mit dem [ganz guoten und rehten] willen enmac ich alliu dinc. Ich mac aller menschen arbeit tragen und alle armen spîsen und alle menschen werk würken und swaz dû erdenken maht (»Wahrlich, mit dem [vollkommen guten und gerechten] Willen vermag ich alles. Ich kann aller Menschen Mühsal tragen und alle Armen speisen und aller Menschen Werke wirken und was du dir nur auszudenken vermagst«, Übers. vom Verf.).

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3.2 Das Verständnis der sittlichen Tugenden als geistiger (Seins-)Vollkommenheiten und damit als Wesenseigenschaften Gottes 3.2.1 Die Tugenden als Wesenseigenschaften Gottes nach den Vorreden zum Opus tripartitum und zum Opus propositionum Wir hatten gesehen: Thomas versteht die sittlichen Tugenden als gute Handlungs- bzw. Verhaltensdispositionen (habitus) der rationalen Vermögen der menschlichen Seele, die den strebenden Teil der menschlichen Seele, d.ௗh. den menschlichen Willen, vervollkommnen. Im Unterschied hierzu versteht Eckhart die Tugenden als perfectiones spirituales, d.ௗh. als geistige (Seins-)Vollkommenheiten, die im eigentlichen und primären Sinne, d.ௗh. wesenhaft und seinsmäßig, nur Gott selbst, nicht aber der menschlichen Seele zukommen. Darin besteht ein grundsätzlicher Unterschied im Verständnis der Tugenden zwischen Thomas und Eckhart. Dass Eckhart die Tugenden als in ihrem Sein vollkommene Wesenseigenschaften Gottes und nicht als (sittlich gute) Handlungsdispositionen des Menschen auffasst, geht bereits aus seinen beiden Vorreden zu seinem dreigeteilten Werk, dem Opus tripartitum, und zu seinem Thesenwerk, dem Opus propositionum, hervor.64 In seiner allgemeinen Vorrede zu seinem dreigeteilten Werk erläutert Eckhart den Aufbau seines Thesenwerks in insgesamt vierzehn Traktaten, deren sechster, uns leider nicht erhaltener Traktat vom sittlich Guten, von der Tugend (virtus) und dem sittlich Richtigen bzw. Rechten und deren jeweiligem Gegensatz, d.ௗh. dem sittlich Schlechten, dem Laster und dem sittlich Falschen handele.65 Zum Verständnis seiner weiteren Ausführungen in diesem Prolog formuliert Eckhart drei wichtige Vorbemerkungen: Die termini generales, d.ௗh. die Allgemeinbegriffe, wie etwa Sein, Einheit, Weisheit, (sittliche) Güte und dergleichen dürfe man, so Eckhart, nicht als Akzidenzien an einem von ihnen verschiedenen Träger auffassen, weil die Akzidenzien ihr Sein durch ihren Träger, und zwar durch dessen Veränderung, und von ihrem Träger erhalten, der daher der Natur nach früher sein müsse als die Akzidenzien; anders (als bei Akzidenzien) jedoch verhalte es 64 Vgl. dazu auch den Beitrag von Martina Roesner in diesem Band, dort insbesondere die Einleitung und Abschnitt 2.1. 65 Vgl. Eckhart, Prol. gen. n. 4, LW I/1 150,6f.

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sich mit den genannten Allgemeinbegriffen, unter denen Eckhart hier ausdrücklich das Sein und die mit ihm konvertiblen Bestimmungen oder Eigenschaften desselben versteht. Denn das Sein komme zu den Entitäten nicht als etwas Späteres hinzu, sondern es sei früher als alles andere in den Entitäten; und zwar deshalb, weil das Sein keine akzidentelle Eigenschaft an einem von ihm verschiedenen Träger und folglich weder von etwas anderem noch durch etwas anderes sei und auch nicht von außen zu etwas anderem hinzutrete, sondern früher als alle anderen Bestimmungen und Eigenschaften einer Entität sei, weil es unmittelbar von der ersten und allumfassenden Ursache aller Entitäten komme. Denn das Sein selbst verhalte sich zu allem anderen wie dessen Verwirklichung und Vollendung (sicut actus et perfectio) und es sei die Wirklichkeit selbst aller Entitäten (ipsa actualitas omnium), wie Eckhart hier unter Berufung auf Avicenna66 ausführt. Das Sein der Entitäten aber habe sein Maß an der Ewigkeit und nicht an der Zeit, weil der Intellekt, dessen Gegenstand das Seiende sei und der es als erstes von allem erfasse, wie Avicenna zeige,67 von raumzeitlichen Bestimmungen und folglich auch von der Zeit selbst abstrahiere.68 Was aber hat diese Kennzeichnung des zeitfreien Charakters des Seins mit den Tugenden zu tun? Auf diese Frage antwortet Eckhart indirekt und implizit, wenn er im Folgenden aus dem ersten Kapitel des 7. Buches von Augustins berühmter Schrift über die Dreifaltigkeit (De Trinitate) zitiert: ‚Die Weisheit ist weise und ist durch sich selbst weise. Und welche Seele auch immer durch Teilhabe an der Weisheit weise wird: wenn sie wieder unweise wird, bleibt dennoch die Weisheit in sich. Und wenn sich die Seele zur Torheit hin wandelt, verändert sich die Weisheit nicht. […].‘69

Mit anderen Worten: Die Weisheit ist eine Tugend; sie ist zwar keine sittliche Tugend, sondern nach ihrer traditionellen Bestimmung bei Aristoteles und Thomas eine intellektuelle Tugend, aber sie ist eine Tugend, und darauf kommt es hier an. Denn Eckhart will mit diesem Augustinus-Zitat zeigen, dass die mit dem Sein konvertible Weisheit eine, wie er sie an anderen Stellen bezeichnet, perfectio spiritualis, also 66

Vgl. Avicenna, Met. VIII 6 (ed. Van Riet, 412,63–66). Vgl. Avicenna, Met. I 5 (ed. Van Riet, 31,2–32,4). 68 Vgl. Eckhart, Prol. gen. nn. 8–9, LW I/1 152,8–154,6. 69 Eckhart, Prol. gen. n. 9, LW I/1 154,6–9; vgl. hierzu die Bezugsstelle bei Augustinus, Trin. VII, 1, 2 (ed. Mountain-Glorie, 248,136–144). 67

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eine geistige Seinsvollkommenheit, darstellt, die keine akzidentelle Eigenschaft der menschlichen Seele (wie bei Aristoteles und Thomas), sondern eine rein geistige Wesenseigenschaft Gottes ist, an der die menschliche Seele teilhat, wenn sie weise geworden ist, ohne dass sich diese geistige Seinsvollkommenheit als eine Wesenseigenschaft Gottes selbst auch verändern könnte. Wir werden später noch sehen, dass Eckhart nicht nur die intellektuellen Tugenden wie die Weisheit, sondern auch die sittlichen Tugenden wie etwa die Gerechtigkeit als geistige Seinsvollkommenheiten und damit als Wesenseigenschaften Gottes versteht. Im weiteren Verlauf seiner Vorrede zum Dreigeteilten Werk kommt Eckhart auf Tugenden im traditionellen Sinne zwar nicht mehr ausdrücklich zu sprechen, er nennt aber zur exemplarischen Erläuterung seiner Vorgehensweise im Dreigeteilten Werk die erste These seines Thesenwerks Esse est Deus, »das Sein ist Gott«.70 Diese These erläutert er dann ausführlich in seiner Vorrede zu seinem Thesenwerk, dem Opus propositionum. Hier entfaltet Eckhart seine von der Forschung so genannte Transzendentalienmetaphysik, indem er zeigt, dass die philosophiegeschichtlich später als sogenannte Transzendentalien bezeichneten allgemeinen Seinsweisen (modi generales) jedes Seienden als eines solchen, und zwar das Eines-Sein, das Wahr-Sein, das Gut-Sein und meist auch das Schön-Sein, im eigentlichen Sinne Gott alleine als Eigenschaften seines Wesens zukommen und dass alles andere außer und neben Gott, d.ௗh. alle Kreaturen, welche die allgemeinen Eigenschaften des Eines-Seins, Wahr-Seins, Gut-Seins und Schön-Seins ebenfalls besitzen, diese allgemeinen Eigenschaften unmittelbar von Gott erhalten und empfangen.71 Eckharts terminologische Bezeichnung für die etwa von Thomas so genannten modi generales ist, wie wir gesehen haben, termini generales, zu denen er neben den transzendentalen Eigenschaften jedes Seienden, d.ௗh. neben dem Eines-Sein, Wahr-Sein und Gut-Sein, etwa auch die Weisheit und damit nach thomanischer Nomenklatur eine intellektuelle Tugend rechnet. Diese ist für ihn daher ebenso eine Wesenseigenschaft Gottes wie die transzendentalen Eigenschaften jedes Seienden bzw. des Seins selbst.

70

Vgl. Eckhart, Prol. gen. n. 12, LW I/1 156,15. Vgl. Eckhart, Prol. op. prop. n. 4, LW I/1 167,9–168,5; ebd. n. 10, LW I/1 171,6–10; ebd. n. 11, LW I/1 171,11–14. 71

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3.2.2 Weisheit und Gerechtigkeit und ihre Überformung der menschlichen Geistseele bei weisen und gerechten Personen Als eine perfectio spiritualis bezeichnet Eckhart ausdrücklich die Weisheit und zudem die Gerechtigkeit, und zwar in seiner Auslegung des biblischen Spruches »hell ist und niemals welkt die Weisheit« (vgl. Weish 7,25f) im Rahmen seiner Auslegung des alttestamentlichen Buches der Weisheit Salomos. Hier wiederholt er seine uns aus der Vorrede zum Dreigeteilten Werk bereits bekannte These, dass die geistigen (Seins-)Vollkommenheiten das Sein nicht von ihren Trägern (wie etwa der menschlichen Seele, an der sie als deren Eigenschaften vorkommen können) erhielten und daher keine akzidentellen Bestimmungen ihrer Träger seien, die von außen an diese herantreten, sondern dass sie ihren Trägern das Sein nach Art einer Form verleihen würden. So würden ihre Träger durch das Hinzutreten dieser geistigen Vollkommenheiten zu ihnen ihrerseits zu geistigen (Seins-)Vollkommenheiten (und damit zu Wesenseigenschaften Gottes, wie wir ergänzen können) geformt und überformt. Deshalb vermischten sich diese geistigen (Seins-)Vollkommenheiten auch nicht mit ihren Trägern und würden sich auch nicht mit diesen verändern, altern oder vergehen. Dies sei der Sinngehalt der Sentenz »hell ist und niemals welkt die Weisheit« aus dem Buch der Weisheit.72 Demnach stellt sich Eckhart die Entstehung und Bildung bzw. Ausprägung der Weisheit menschlicher Personen als eine gleichsam von außen kommende Übermächtigung – oder richtiger: Überformung – der Geist-Seele dieser Personen durch die Weisheit vor, die er als eine geistige (Seins-)Vollkommenheit und damit als eine Wesenseigenschaft Gottes versteht. Folglich kann diese auch nicht kontingent sein und sich deshalb nicht verändern und damit auch nicht entstehen oder vergehen. Aber nicht nur die intellektuelle Tugend der Weisheit ist für und nach Eckhart eine perfectio spiritualis, d.ௗh. eine geistige (Seins-)Vollkommenheit und als solche eine Wesenseigenschaft Gottes, sondern dies gilt auch für diejenigen Tugenden, die von Aristoteles und Thomas als sittliche Tugenden bezeichnet werden. Dafür ist Eckharts Verständnis der Gerechtigkeit ein Paradebeispiel. In seiner Auslegung des Buches der Weisheit kommentiert Eckhart auch den Satz Iustitia enim perpetua est et immortalis (»Die 72

Vgl. Eckhart, In Sap. n. 74, LW II 404,5–405,5.

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Gerechtigkeit ist immerwährend und unsterblich«). Dabei schärft er zunächst dem Leser ein, dass es sich hier um eine All-Aussage über die Gerechtigkeit handelt, die jede Form von Gerechtigkeit betrifft, mit anderen Worten: Diese Aussage gelte von jeder Gerechtigkeit und damit von Gerechtigkeit überhaupt und schlechthin. Zur Begründung erläutert er das Gegensatz-Verhältnis zwischen körperlichen Akzidenzien wie etwa dem Weiß-Sein oder dem Geschmack und den geistigen (Seins-)Vollkommenheiten (perfectiones spirituales): Denn während die körperlichen Eigenschaften und Bestimmtheiten ihr Sein und ihr Eines-Sein und damit auch ihr Geteilt-Sein und ihre Zahl von ihrem Träger erhielten und deshalb ihrer Natur nach später als ihr (jeweiliger) Träger seien, erhielten die geistigen (Seins-)Vollkommenheiten ihr Sein nicht von ihren Trägern und veränderten sich oder vergingen daher auch nicht mit ihren Trägern. Vielmehr teilten umgekehrt die geistigen (Seins-)Vollkommenheiten wie die Weisheit und die Gerechtigkeit ihren Trägern deren ganzes Sein mit, wie es das Verhältnis der Gerechtigkeit zum Gerechten deutlich zeige. Folglich seien die geistigen (Seins-)Vollkommenheiten früher als ihre Träger und seien diesen voraus; sie seien nicht eigentlich in ihren Trägern noch empfingen sie eigentlich ein Sein von ihren Trägern, sondern umgekehrt, ihre Träger seien in ihnen, in denen sie ihr Sein empfingen.73

3.2.3 Das Verhältnis der Zeugung und des Gebärens zwischen der Gerechtigkeit und dem Gerechten als ihrem Sohn Die allgemeine Verhältnisbestimmung zwischen den geistigen (Seins-)Vollkommenheiten und ihren Trägern erläutert Eckhart anschließend am Beispiel der Gerechtigkeit: Zum Beispiel empfängt der Gerechte als solcher sein ganzes Sein von der Gerechtigkeit, so dass die Gerechtigkeit in Wahrheit Erzeuger und Vater des Gerechten und der Gerechte in Wahrheit gezeugtes Kind und Sohn der Gerechtigkeit ist.74

Ein analoges Beispiel dafür sei das Verhältnis zwischen dem Leib und der Seele des Menschen: 73

Vgl. Eckhart, In Sap. n. 41, LW II 362,3–364,4. Eckhart, In Sap. n. 42, LW II 364,5–7: Exempli gratia: iustus ut sic totum suum esse accipit ab ipa iustitia, ita ut iustitia vere sit parens et pater iusti et iustus ut sic vere sit proles genita et filius iustitiae (Übers. vom Verf.). 74

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Zwar sagen wir gewöhnlich, die Seele ist im Leib, während doch vielmehr in Wahrheit der Leib in der Seele ist und sie, die Seele selbst, dem Leib das Sein gibt. Deshalb wird, wenn der Leib eines Menschen zerstört wird, nicht auch seine Seele zerstört, sofern sie nicht der Materie verhaftet ist. Denn stets vergeht das Spätere und Verursachte, wenn das Verursachende und Erste vergeht, nicht umgekehrt. Das aber ist der Sinn des Wortes: ›Die Gerechtigkeit ist immerwährend und unsterblich‹.75

Grund für die Überzeugung der unerfahrenen Menschen, dass die geistigen (Seins-)Vollkommenheiten der Gerechtigkeit und der Weisheit etc. mit dem Gerechten und dem Weisen, d.ௗh. mit ihrem jeweiligen irdischen Träger, verschwinden würden, sei die Unwissenheit derer, die das Körperliche zum Maßstab für das Urteil über das Geistige machen, während es sich doch umgekehrt auch in der Natur so verhalte, dass das Geistige der Richter über das Körperliche sei.76 Das Verhältnis zwischen der Gerechtigkeit und einem gerechten Menschen dürfe man sich daher nicht so vorstellen, dass die Gerechtigkeit in verschiedenen gerechten Personen auch eine je andere und verschiedene sei, wie es sich mit den körperlichen Akzidenzien verhalte; vielmehr seien alle Gerechten durch die der Zahl nach eine und damit einzige Gerechtigkeit gerecht; wobei die Einheit dieser wahren Gerechtigkeit keine numerische Einheit sei, sondern, richtiger gesprochen, über der numerischen Einheit stehe. Deshalb seien alle Gerechten, insofern sie gerecht sind, eines (und dasselbe). Wären nämlich mehrere Gerechte durch eine je andere Gerechtigkeit gerecht, dann wären sie entweder in äquivoker Weise Gerechte (hätten also nur eine Namensgleichheit bei seinsmäßiger Verschiedenheit voneinander) oder die Gerechtigkeit verhielte sich zu den Gerechten in univoker Weise. Jetzt aber verhalte die Gerechtigkeit sich zu den Gerechten in analoger Weise, wie das Urbild (zum Abgebildeten) und das Frühere (zum Späteren) und falle damit weder unter die Zahl noch unter die Zeit. Diese Zahl- und Zeitlosigkeit aber sei allen geistigen und göttlichen (Seins-)Vollkommenheiten gemeinsam, denn 75 Eckhart, In Sap. n. 42, LW II 364,9–14: Dicimus enim usualiter animam esse in corpore, cum tamen secundum veritatem potius corpus sit in anima et ipsa det esse corpori. Propter quod corrupto ipso corpore hominis non corrumpitur anima, prout non est immersa materiae. Semper enim corruptis primis sive prioribus causalibus corrumpuntur posteriora et causata, non e converso. Et hoc est quod hic dicitur: iustitia perpetua est et immortalis (Übers. vom Verf.). 76 Vgl. Eckhart, In Sap. n. 43, LW II 365,1–4.

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alle Weisheit sei von Gott, dem Herrn (nach Sir 1,1). Deshalb sage Avicenna in seiner Metaphysik, dass die Gerechtigkeit und die Tugend von dem Geber der Formen seien, während die körperlichen Akzidenzien ihr Sein der Tätigkeit der aktiven Eigenschaften des Körpers verdankten, der eine Veränderung herbeiführe.77 Mit anderen Worten: Die Gerechtigkeit hat demnach ihre zahlund zeitfreie Einheit und Einzigkeit mit allen anderen geistigen (Seins-)Vollkommenheiten gemeinsam, die Eckhart deshalb auch als göttliche (Seins-)Vollkommenheiten bezeichnet, weil es sich bei ihnen um vollkommene Wesenseigenschaften Gottes handelt. Aus dieser Annahme aber folgt die Identität der Gerechtigkeit in allen gerechten Personen. Das Verhältnis zwischen der Gerechtigkeit wie auch allen anderen Tugenden als göttlichen (Seins-)Vollkommenheiten zu den von ihnen überformten menschlichen Personen bestimmt Eckhart als ein unmittelbares attributionsanaloges Verhältnis, in dem sich die jeweilige göttliche (Seins-)Vollkommenheit und damit Gott selbst einer menschlichen Person unmittelbar mitteilt.

3.2.4 Die Tugenden als aktuale Gleichbildungen und Gleichgestaltungen des tugendhaften Menschen mit Gott Damit wolle er, so fährt Eckhart im unmittelbaren Anschluss an das zuvor Gesagte fort, jedoch nicht leugnen, dass es in den tugendhaften Personen Tugend-Habitus, d.ௗh. (sittliche) Tugenden als Verhaltensdispositionen, gebe, wie Eckhart offensichtlich im Hinblick auf die Tugendlehre des Thomas behauptet, zu der er sich daher mit seinen Ausführungen zur Gerechtigkeit nicht in einen Widerspruch setzen möchte; vielmehr wolle er sagen, dass die Tugendhaften so etwas wie Gleichbildungen (conformationes) und Gleichgestaltungen (configurationes) mit der Tugend, z.ௗB. der Gerechtigkeit, und somit mit Gott selbst seien, von dem sie stammen und dem sie gleichgebildet und gleichgestaltet werden, gemäß dem Schriftwort »wir werden in dasselbe Bild verwandelt wie vom Geist des Herren« (2 Kor 3,18); und vom ersten Gerechten, dem Sohn Gottes, werde gesagt, er sei der »Glanz der Herrlichkeit und die Gestalt seines Wesens« (Hebr 1,13):78 77 78

Vgl. Eckhart, In Sap. n. 44, LW II 366,1–367,7. Vgl. Eckhart, In Sap. n. 45, LW II 367,8–368,3.

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Denn die Tugenden wie etwa die Gerechtigkeit und dergleichen, sind viel eher so etwas wie sich vollziehende Gleichgestaltungen als etwas eingeprägt Innebleibendes, das im Tugendhaften einen fest verwurzelten Bestand hätte; sie sind in einem kontinuierlichen Werden, wie der (Licht-)Glanz in der Mitte und das Bild im Spiegel. Darum werden sie Blüten genannt: ›Blüten sind meine Früchte‹ (Jes. Sir. 24,23). Nach Ambrosius sind die Tugenden Früchte, und diese Früchte sind Blüten.79 Zu dem Gesagten passt gut, […] dass in Gott der Sohn immer geboren wird; und ferner, dass in Christus als Mensch kein anderes Sein ist außer dem göttlichen Sein, wodurch er der Sohn Gottes ist.80

Mit seiner Bestätigung des habituellen Charakters der Tugenden will Eckhart offensichtlich sein Verständnis der Tugenden als geistiger (Seins-)Vollkommenheiten Gottes in ein widerspruchsfreies Verhältnis zu dem traditionellen, insbesondere thomanischen, Grundverständnis der Tugenden als Handlungs- bzw. Verhaltensdispositionen (habitus virtutum) der menschlichen Seele setzen, wobei er dabei zwischen den sittlichen und den intellektuellen Tugenden nicht unterscheidet. Denn der Unterschied zwischen seinem und dem thomanischen Grundverständnis der Tugenden ist prima facie so sehr manifest, dass sich Eckhart angesichts der Lehrautorität des Thomas offensichtlich zu einer Korrektur dieses Eindrucks gedrängt fühlt.81 Um diesen Anschein eines Widerspruchs aufzulösen, charakterisiert Eckhart die Tugenden als sich vollziehende Gleichbildungen und Gleichgestaltungen der tugendhaften Personen mit Gott selbst als der Quelle bzw. dem Wirksubjekt ihrer Tugenden. Die Tugenden seien daher wie der Glanz, d.ௗh. die erscheinende Licht-Gestalt und damit der Ausfluss der Herrlichkeit Gottes, der sie entströmen, und konformieren daher die tugendhaften Personen mit dem göttlichen Sohn als dem wesenhaften Glanz der Herrlichkeit Gottes und dem selbst göttlichen Bild des göttlichen Wesens. 79 Eckhart, In Sap. n. 45, LW II 368,4–369,1: Virtutes enim, iustitia et huiusmodi, sunt potius quaedam actu configurationes quam quid figuratum immanens et habens fixionem et radicem in virtuoso et sunt in continuo fieri, sicut splendor in medio et imago in speculo. Propter quod flores dicuntur. Eccli. 24: ›flores mei fructus‹. Virtutes secundum Ambrosium fructus sunt, et hi fructus flores sunt (Übers. vom Verf.). 80 Eckhart, In Sap. n. 45, LW II 369,1–3, insb. 2f.: […] in divinis filius semper nascitur; et iterum quod in ipso Christo homine non est aliud esse praeter esse divinum quod est filius dei (Übers. vom Verf.). 81 Vgl. zu diesem Unterschied auch den Beitrag von Andrés Quero-Sánchez in diesem Band.

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Die Tugenden hätten daher, so Eckhart, weniger den Charakter von der menschlichen Seele immanenten und ihr eingeprägten bzw., so können wir sinngemäß ergänzen, von ihr erworbenen Verhaltens- und Handlungsdispositionen – wie die sittlichen und verstandesmäßigen Tugenden nach Thomas–, sondern vielmehr den eines kontinuierlichen Einflusses, Glänzens und Blühens Gottes bzw. des göttlichen Sohnes in die Seele (hinein) bzw. in der Seele eines tugendhaften Menschen. Damit aber haben sie nach Eckhart den Charakter einer gnadenhaften Gleichgestaltung der menschlichen Seele zumindest in ihrem Grund mit der Sohnesgeburt, genauer mit dem göttlichen Sein des Sohnes Gottes in seiner ewigen Geburt aus dem göttlichen Vater, die sich nach Eckhart im Grunde jeder menschlichen Seele immerfort vollzieht. Diesem radikal theozentrischen Verständnis der Tugenden bei Eckhart kommen bei Thomas die eingegossenen, theologischen Tugenden am nächsten, auch wenn Thomas nicht so weit wie Eckhart geht, diese göttlichen Tugenden mit den Wesenseigenschaften Gottes selbst zu identifizieren. Und noch viel weniger würde Thomas sein Verständnis der sittlichen und der verstandesmäßigen Tugenden der menschlichen Seele mit dem eckhartschen Verständnis dieser Tugenden als gnadenhafter Gleichgestaltungen der menschlichen Seele mit den Wesenseigenschaften Gottes und damit mit Gott selbst gleichsetzen, weil er eine gnadenhaft bewirkte seinsmäßige Vereinigung von Gott und Mensch weder in diesem irdischen noch in dem ewigen Leben für möglich hält. Dass der Gerechte nicht nur einmal, sondern durch jedes einzelne seiner Tugendwerke aus Gott geboren werde, betont Eckhart unter Verweis auf Origenes an einer späteren Stelle seiner Auslegung des Buches der Weisheit ausdrücklich.82

3.2.5 Eckharts Tugendlehre im Buch der göttlichen Tröstung: Die vollständige Selbstmitteilung der perfectiones spirituales an den tugendhaften Menschen als das Wesen seiner Gottessohnschaft Dieses Geborenwerden des Gerechten aus der göttlichen Gerechtigkeit wie auch des Weisen aus der göttlichen Weisheit und des Guten aus der göttlichen Güte und aller Tugenden bzw. geistiger 82 Vgl. Eckhart, In Sap. n. 55, LW II 383,2–4; als Teil eines Origenes-Zitats (vgl. ebd., Anm. 9).

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(Seins-)Vollkommenheiten aus Gott gehört zur zentralen Lehre des sogenannten Buches der göttlichen Tröstung. Im für unsere Fragestellung besonders relevanten ersten Teil des Trostbüchleins entfaltet Eckhart drei Wahrheiten, denen man hinreichende Trostgründe im Leiden entnehmen könne. Die erste dieser Wahrheiten besteht in der richtigen Verhältnisbestimmung zwischen dem Weisen und der Weisheit, dem Wahren und der Wahrheit, dem Gerechten und der Gerechtigkeit, dem Guten und der Gutheit, d.ௗh. dem Tugendhaften und der Tugend selbst. Diese Verhältnisbestimmung bestehe darin, dass die Tugend bzw. genauer die jeweilige geistige (Seins-)Vollkommenheit, d.ௗh. die Weisheit, die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die Gutheit etc., weder geschaffen noch gemacht noch geboren sei, aber ihr ganzes Sein in dem Weisen, Wahren, Gerechten und Guten etc. gebäre, d.ௗh. hervorbringe, sich ihm also vollständig mitteile, sodass der Weise, Wahre, Gerechte und Gute ein einziges bzw. dasselbe Sein und Leben empfange und besitze wie das der Weisheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Gutheit etc. und sich von seiner jeweiligen, in ihn sich gleichsam ergießenden, sich ihm gebenden geistigen Seinsvollkommenheit nur noch dadurch relational unterscheide, dass er sie empfange, dass er also in der Weisheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Gutheit etc. geboren werde, während die Weisheit etc. sich in ihn hinein gebäre, d.ௗh. sich ihm mitteile.83 Eckhart zeigt dies zunächst am Beispiel der Güte bzw. Gutheit auf: Der Gute und die Gutheit sind nichts als eine Gutheit, völlig eins in allem, abgesehen von dem Gebären einerseits und dem Geborenwerden andererseits. Indessen ist das Gebären der Gutheit und das Geboren-Werden in dem Guten völlig ein Sein, ein Leben. Alles, was zum Guten gehört, empfängt er von der Gutheit in der Gutheit. Dort ist und lebt und wohnt er. Dort erkennt er sich selbst und alles, was er erkennt, und liebt er alles, was er liebt und wirkt er mit der Gutheit in der Gutheit und die Gutheit mit ihm und in ihm alle ihre Werke, wie geschrieben steht und der Sohn sagt: ›Der Vater wirkt in mir bleibend und wohnend die Werke‹.84 83

Vgl. Eckhart, BgT 1, DW V 9,4–16. Eckhart, BgT 1, DW V 9,12–20: Guot und güete ensint niht wan éin güete al ein in allem sunder gebern und geborn-werden; doch daz gebern der güete und geborn-werden in dem guoten ist al ein wesen, ein leben. Allez, daz des guoten ist, daz nimet er beidiu von der güete und in der güete. Dâ ist und lebet und wonet er. Dâ bekennet er sich selben und allez, daz er bekennet, und minnet allez, daz er minnet, und würket mit der güete in der 84

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Mit der Gutheit sei die bloße und lautere, die selbst ungeborene, aber sich gebende, gebärende Gutheit, d.ௗh. die reine Gutheit Gottes, gemeint; mit dem Guten aber sei derjenige gemeint, dem sein Gutsein von der ungeborenen Gutheit gegeben, in ihn von ihr her eingeflossen und ihm eingeboren sei.85 Diese Verhältnisbestimmung zwischen der Gutheit und dem Guten gelte, so Eckhart weiter, auch für das Verhältnis zwischen der Wahrheit und dem Wahren, der Gerechtigkeit und dem Gerechten, der Weisheit und dem Weisen etc., für Gott Vater in seinem Verhältnis zu seinem göttlichen Sohn sowie für den bloßen, lauteren Gott und alles, was von ihm geboren und nicht geschaffen sei.86 Dabei ist stets zu bedenken, dass mit dem Gebären die Hervorbringung von Wesensidentischem und nur relational Verschiedenem, mit dem Schaffen bzw. Schöpfen aber die Hervorbringung von im Wesen Verschiedenem gemeint ist bzw. bezeichnet wird. Der gute Mensch ist daher, insofern er gut ist, von der Gutheit Gottes geboren und folglich Sohn der Gutheit bzw. Sohn Gottes. Entsprechendes gilt für Eckhart von dem gerechten bzw. dem wahren und dem weisen Menschen: Denn alles dessen bin ich Sohn, was mich nach sich und in sich als gleich bildet und gebiert. Soweit ein solcher Mensch, Gottes Sohn, gut als Sohn der Gutheit, gerecht als Sohn der Gerechtigkeit ist, insofern er einzig ihr [sc. der Gerechtigkeit] Sohn ist, ist sie [sc. die Gerechtigkeit] ungeboren-gebärend, und ihr geborener Sohn hat dasselbe eine Sein, das die Gerechtigkeit hat und ist, und er tritt ein in die ganze Eigenschaft der Gerechtigkeit und der Wahrheit.87

Und weil in Gott weder Traurigkeit noch Leid noch Ungemach sei, könne den Gerechten, d.ௗh. denjenigen, der von der Gerechtigkeit Gottes gebildet und geboren werde, also den Menschen, insofern er durch Gnade zum Sohn Gottes geworden sei, ebenfalls kein Leid und kein Ungemacht ereilen. Vielmehr entstehe alles Leid für den

güete und diu güete mit im und in im alliu ir werk nâch dem, als geschriben ist und sprichet der sun: ›der vater in mir inneblîbende und wonende würket diu werk‹ (Übers. vom Verf.). 85 Vgl. Eckhart, BgT 1, DW V 10,3–7. 86 Vgl. Eckhart, BgT 1, DW V 10,11–16. 87 Eckhart, BgT 1, DW V 11,14–19: Wan alles des bin ich sun, daz mich nâch im und in sich glîche bildet und gebirt. Ein sôgetân mensche, gotes sun, guot der güete sun, gereht sun der gerehticheit, alsô verre als er aleine ir sun ist, sô si ungeborn-gebernde, und ir geborn sun hât daz selbe eine wesen, daz diu gerehticheit hât und ist, und tritet in alle die eigenschaft der gerehticheit und der wârheit (Übers. vom Verf.).

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Menschen dadurch, dass er sich nicht alleine in Gott und zu Gott kehre, in dem nichts als Freude, Lust und Wonne sei.88 Zudem erfreue sich der gute und gerechte Mensch mehr am Werk der Gerechtigkeit als an seinem eigenen natürlichen Sein, weshalb die heiligen Märtyrer ihr Leben fröhlich hingegeben hätten für die Gerechtigkeit.89 Und schließlich und drittens soll man wissen, so Eckhart am Ende des ersten Teils seines Trostbüchleins, dass Gott alleine die Ursache allen Gutseins, aller wesenhaften Wahrheit und allen Trostes sei; und dass alles von Gott Verschiedene, mithin die Kreaturen, in sich natürliche Bitterkeit, Leid und Untrost besitze.90 Deshalb soll sich der Mensch sehr darum bemühen, dass er sich seiner eigenen Kreatürlichkeit und aller Kreaturen »entbilde« und keinen Vater kenne als Gott allein; denn, wie Eckhart am Ende seines ersten Trostgrundes im ersten Teil des Liber Benedictus formuliert: Dann kann ihn nichts in Leid versetzen oder betrüben, weder Gott noch die Kreatur, weder Geschaffenes noch Ungeschaffenes, und sein ganzes Sein, Leben, Erkennen, Wissen und Lieben ist aus Gott und in Gott und ist Gott selbst.91

Wenn aber alle Tugenden in Wahrheit geistige (Seins-)Vollkommenheiten Gottes sind, dann müssen alle Tugenden schon deshalb miteinander verbunden sein, wie Eckhart in Predigt 35 unter Verweis auf Thomas92 und in seinem ersten Genesis-Kommentar93 formuliert, weil sie in ihrem Ursprung identisch, nämlich Gott selbst sind. Wir können für Eckhart daher konstatieren: Seine Lehre von den Tugenden als geistigen (Seins-)Vollkommenheiten und damit als Wesenseigenschaften Gottes als des vollkommenen Seins selbst steht in einem unmittelbaren mystagogischen Zusammenhang mit seiner Lehre von der Gottes- bzw. genauer Sohnesgeburt des Menschen, d.ௗh. von der gnadenhaften Überformung und Gleichgestaltung der höchsten Kräfte und des Grundes der menschlichen Seele mit Gott selbst bzw. mit seinen Wesenseigenschaften, als welche Eckhart sowohl 88

Vgl. Eckhart, BgT 1, DW V 12,2–7. Eckhart, BgT 1, DW V 13,5–10. 90 Eckhart, BgT 1, DW V 14,3–8. 91 Eckhart, BgT 1, DW V 13,1–4: [S]ô enmac in niht leidic gemachen noch betrüeben, weder got noch crêatûre, noch geschaffenez noch ungeschaffenez, und allez sîn wesen, leben, bekennen, wizzen und minnen ist ûz gote und in gote und got (Übers. vom Verf.). 92 Vgl. Eckhart, Pr. 35 (Si consurrexistis cum Christo, quae sursum sunt etc.), DW II 175,1f. 93 Vgl. Eckhart, In Gen. I n. 156, LW I/1 305,14. 89

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Das Wesen und die Bedeutung der sittlichen Tugenden für ein glückliches Leben

die sittlichen als auch die verstandesmäßigen und nicht zuletzt die theologischen Tugenden versteht.

3.2.6 Zu den vier Graden der Tugend, den göttlichen Tugenden, der Liebe als der Mutter und Zierde der Tugenden und zur Tugendlehre des Traktats Von abegescheidenheit Nach der deutschsprachigen Predigt 74 hat die Tugend vier Grade: Der erste Tugendgrad besteht in der Befreiung des Menschen von dem Einfluss und seiner Abhängigkeit im Willen von allen vergänglichen Entitäten. Der zweite Grad der Tugend nimmt, auch wenn es paradox klingen mag, dem Menschen die Tugend weg, und zwar als eine Seinsbestimmung bzw. Eigenschaft der menschlichen Seele. Der dritte Grad der Tugend nimmt dem Menschen auch die Erinnerung an seinen früheren Besitz der Tugend als einer Eigenschaft seiner Seele weg, er lässt sie ihn ganz und gar vergessen, so als hätte er sie nie besessen. Der vierte und höchste Grad der Tugend ist ganz in Gott und Gott selbst, d.ௗh. die Vervollkommnung des Menschen durch die Tugend endet mit der Gleichgestaltung des Menschen mit Gott selbst, mit seiner Vergöttlichung.94 In Predigt 33 führt Eckhart u.ௗa. aus, dass die göttliche Gnade, die aus dem göttlichen Brunnen fließe, die ein Gleichnis Gottes sei und die die menschliche Seele Gott ähnlich mache, sich, wie er sich sehr anschaulich ausdrückt, in die drei höchsten menschlichen Seelenkräfte werfe. Werfe sich die göttliche Gnade in den menschlichen Willen, sei dies die Liebe im Menschen. Werfe sie sich in die Verstandeskraft des Menschen, dann heiße dies ein Licht des Glaubens im Menschen. Und wenn sich die göttliche Gnade in die aufstrebende Kraft der menschlichen Seele werfe, dann heiße dies die Hoffnung im Menschen. Deshalb hießen diese, nämlich Glaube, Hoffnung und Liebe, göttliche Tugenden, weil sie göttliche Werke in der Seele wirken, so wie man an der Kraft der Sonne erkennen könne, dass sie alle Dinge auf der Erde lebendig mache und in ihrem Sein erhalte.95 Demnach sind Glaube, Hoffnung und Liebe für Eckhart die Erscheinungsformen der göttlichen Gnade in den drei höchsten Seelenkräften des Menschen, ist also die göttliche Tugend des Glaubens nichts anderes als der von der Gnade Gottes erfüllte Verstand des 94 95

Vgl. Eckhart, Pr. 74, DW III 280,9–13. Vgl. Eckhart, Pr. 33, DW II 152,4–153,11.

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Menschen; ferner ist die göttliche Tugend der Hoffnung für Eckhart nichts anderes als die von der Gnade Gottes erfüllte Strebekraft des Menschen nach dem Höheren und Göttlichen; und ist schließlich die göttliche Tugend der Liebe für ihn nichts anderes als der von der göttlichen Gnade erfüllte Wille des Menschen. Als göttliche Tugenden aber werden diese drei Tugenden bezeichnet, weil sie genuin göttliche Wirkweisen in der menschlichen Seele hervorbringen, denn die in ihnen wirksame Kraft ist göttlich. In Predigt 28 führt Eckhart aus, dass die Liebe zu den Tugenden eine Blume und eine Zierde und eine Mutter aller Tugenden und aller Vollkommenheit und aller Seligkeit [ist], denn sie ist Gott, da Gott die Frucht der Tugenden ist; Gott befruchtet alle Tugenden und ist eine Frucht der Tugenden, und diese Frucht bleibt dem Menschen.96

Hier wird also die Liebe als der Quellgrund und die Zierde der Tugenden mit Gott selbst, d.ௗh. mit seiner Liebe, identifiziert. Wenn hier Gott als die Frucht der Tugenden bezeichnet wird, dann deshalb, weil die Tugenden den Menschen zu Gott bzw. zur Vereinigung mit Gott führen. Dem Traktat Von abegescheidenheit hat der Verfasser dieses Beitrags an anderer Stelle eine ausführliche Interpretation gewidmet, die hier nicht wiederholt werden kann.97 Für unseren Kontext mag es genügen, dass Eckhart, sofern er der Autor dieses Traktats ist, wofür vieles spricht, was aber nicht mit letzter Sicherheit erweislich ist, in diesem Traktat die von ihm gestellte Frage nach der höchsten und besten Tugend beantwortet, mit der sich der Mensch am allermeisten mit Gott verbinden und das durch Gnade werden könne, was Gott von Natur ist. Seine Antwort auf diese Frage erkennt der »lauteren Abgeschiedenheit« die Superiorität über die Tugenden der Liebe, der Demut und der Barmherzigkeit zu, weil die Abgeschiedenheit gänz-

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Eckhart, Pr. 28 (Ego elegi vos de mundo), DW II 60,2–5: Minne der tugende ist ein bluome und ein gezierde und ein muoter aller tugende und aller volkomenheit und aller sælicheit, wan si ist got, wan got ist vruht der tugende, got vrühtet alle tugende und ist ein vruht der tugende, und diu vruht blîbet dem menschen (Übers. vom Verf.). 97 Vgl. Markus Enders, »Abgeschiedenheit des Geistes – höchste ›Tugend‹ des Menschen und fundamentale Seinsweise Gottes. Eine Interpretation von Meister Eckharts Traktat Von abegescheidenheit«, in: ders., Gelassenheit und Abgeschiedenheit – Studien zur Deutschen Mystik (Boethiana, Bd. 82), Hamburg 2008, 99–128 (mit allen erforderlichen Belegstellen). Vgl. auch die Bemerkungen von Marko J. Fuchs in Abschnitt 2.3 seines Beitrages in diesem Band.

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Das Wesen und die Bedeutung der sittlichen Tugenden für ein glückliches Leben

lich beziehungslos zu allem Kreatürlichen und daher unempfänglich für alle kreatürlichen Einflüsse sei, während alle anderen Tugenden ein »Absehen auf die Kreatur«,98 d.ௗh. ein (Mit-)Bestimmt-Sein durch die Kreatur, besäßen. Diese Unempfänglichkeit für Einwirkungen und Einflüsse von Seiten der Kreatur als von etwas, das nicht Gott selbst ist, ist aber nach Eckhart jene notwendige Bedingung, die der Mensch erfüllen muss, damit Gott ihn mit sich vereinigen kann. Hinreichend ist diese Bedingung für das Sich-Ereignen der sogenannten unio mystica, weil Gott in seiner vollkommenen Güte sich selbst dem ihm gegenüber ganz willenlos gewordenen und damit restlos hingegebenen Menschen uneingeschränkt mitteilt und gibt. Deshalb steht für Eckhart die Abgeschiedenheit in ihrem spirituellen Wert und Nutzen für den Menschen noch über den traditionell höchsten Tugenden der Liebe, der Demut und der Barmherzigkeit.

4. Ein kurzes Resümee zum Vergleich beider Tugendlehren und eine vorläufige Antwort auf die gestellten Forschungsfragen Thomas von Aquin und Meister Eckhart stimmen darin überein, dass Gott der Ursprung der Tugenden ist, und zwar bei Eckhart der alleinige Ursprung aller Tugenden, nach Thomas ist Gott nur bei den eingegossenen, insbesondere aber bei den theologischen Tugenden der alleinige Ursprung, bei den sittlichen und intellektuellen Tugenden ist Gott nach Thomas nur der Ko-Ursprung der Tugenden, die sich nach ihm auch dem menschlichen Handeln und Verhalten verdanken. Worin sich beide, Thomas und Eckhart, allerdings grundsätzlich voneinander unterscheiden, ist die jeweilige Wesensbestimmung der Tugenden. Nach Eckhart ist Gott selbst das Sein der Tugenden, weil Eckhart ein univokes Seinsverständnis besitzt. Nach Thomas ist das Sein der Tugenden nicht mit Gott identisch, sondern es handelt sich dabei um eine erworbene oder eingegossene Eigenschaft des Menschen bzw. der menschlichen Seele, die allerdings von Gott (mit)verursacht ist. Im Hinblick auf die in der Einleitung zum vorliegenden Band angesprochenen Forschungsfragen sollen in aller Vorläufigkeit die folgenden Antworten formuliert werden: 98

Vgl. Eckhart, VAb, DW V 401,6f.

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Die angedeutete grundsätzliche Verschiedenheit des Tugendverständnisses von Thomas und Eckhart gründet nicht primär in ihrer Rezeption verschiedener Quellen – bei Thomas vor allem Aristoteles, bei Eckhart in höherem Maße der (insbesondere christliche) Platonismus –, obwohl auch dies bei beiden zweifelsohne eine Rolle spielt; sie gründet vielmehr primär in ihrem unterschiedlichen Wirklichkeits- bzw. Seinsverständnis, das bei Thomas analog, bei Eckhart univok ist. Die Tugendethik des Thomas ist primär philosophisch – und zwar im Hinblick auf die natürlichen, d.ௗh. auf die sittlichen und die intellektuellen Tugenden – und nur sekundär theologisch fundiert, und zwar im Hinblick auf die theologischen Tugenden und seine Unterscheidung zwischen einer erworbenen und einer eingegossenen Tugend; allerdings ist der Erwerb der sittlichen Tugenden nach Thomas nicht ohne göttliche Hilfe, d.ௗh. Gnade, möglich – darin liegt eine theologische Ergänzung der primär philosophischen Fundierung seiner Ethik der natürlichen Tugenden. Die Tugendethik Eckharts ist wie sein gesamtes Wirklichkeitsverständnis vor allem theozentrisch orientiert, weil er das Wesen der Tugenden als geistiger (Seins-)Vollkommenheiten und damit als Wesenseigenschaften Gottes bestimmt, der daher nach Eckhart nicht nur der wesenskausale Ursprung, sondern auch das Wesen aller Tugenden selbst ist. Beide Tugendverständnisse verhalten sich grundsätzlich komplementär zueinander, denn Thomas betrachtet und bestimmt die natürlichen Tugenden zunächst aus der Perspektive der menschlichen Natur und ihres Erwerbs dieser Tugenden, um sie dann jedoch durch die Perspektive ihres göttlichen Ko-Ursprungs zu ergänzen. Eckhart betrachtet alles, und so auch und ganz besonders die Tugenden, aus der absoluten Perspektive Gottes, d.ௗh. in ihrem Ursprung und von ihrem göttlichen Wesen her. Thomas vertritt also ungleich stärker als Eckhart die menschliche Erwerbs- und Aneignungsperspektive der Tugenden, Eckhart ihre göttliche Ursprungs- und nach seinem Verständnis ebenfalls ihre göttliche Seins- bzw. Wesensperspektive. Beide Perspektiven sind nur im Hinblick auf ihre Wesensbestimmung der natürlichen Tugenden, nicht jedoch im Hinblick auf ihre göttliche Ursprungsbestimmung miteinander unvereinbar. Vielmehr konvergieren sie in ihrer Ursprungsperspektive, die allerdings bei Eckhart noch sehr viel radikaler ausfällt als bei Thomas. Dafür

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kann die thomanische Tugend-Perspektive diejenige Eckharts ex parte naturae humanae ergänzen, sodass mit der besagten Ausnahme ein komplementäres Verhältnis zwischen beiden Tugendethiken bestehen dürfte. Von der heutigen philosophischen Tugendethik – wenn das hier überhaupt so allgemein formuliert werden kann, weil der Verfasser dieses Beitrags über die heutige Tugendethik keinen hinreichenden Überblick besitzt – werden weitgehend nur die sogenannten natürlichen Tugenden berücksichtigt und zu ihnen teilweise auch die traditionell theologischen oder göttlichen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe in ihrer allerdings säkular reduzierten Form gerechnet oder auch komplett in die Theologie ausgelagert, weil die göttliche Ursprungsperspektive auf die menschlichen Tugenden weitgehend, mit einigen wenigen Ausnahmen (wie etwa bei Robert Spaemann), verlorengegangen ist. Für ein möglichst adäquates und umfassendes Verständnis der menschlichen Tugenden dürfte diese Tugendauffassung zumindest des überwiegenden Teils der heutigen Tugendethik aber in erheblichem Maße unzureichend sein. Daher stellt das Deutungsangebot menschlicher Tugenden bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart eine wichtige und unverzichtbare Ergänzung für die heutige philosophische Tugendethik dar, die es wert ist und verdient hat, berücksichtigt zu werden.

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»[Q]uanto virtus fuerit perfectior, tanto magis passionem causat.« Tugend und Leidenschaft bei Thomas von Aquin

1. Einleitung Jacques Maritain hat mit seinem 1920 erschienenen Büchlein Art et scolastique den Begriff des Habitus wieder in die Diskussion gebracht. Er ist dann später von Erwin Panofsky und von Pierre Bourdieu aufgenommen worden und hat im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine neue Karriere erlebt. Allerdings blieb der wiederentdeckte Habitus blass; er taugte zu bestimmten soziologischen Einsichten, doch es fehlte ihm ein wichtiges Element. Auch bei Maritain, der dem Begriff viel abgewinnen konnte und ein gründlicher Kenner von Thomas und Aristoteles war, blieb ein wesentlicher Bestandteil des Habitus ausgeblendet: die Integration der Leidenschaften. (Ich habe, als ich, durch Maritain angeregt, beschloss, das Thema Habitus in meiner Habilitation zu bearbeiten, auch eine ganze Weile gebraucht, bis ich auf dieses Fehlen aufmerksam wurde.)

2. Auf welche Frage ist die Tugendethik die Antwort? Seit dem epochemachenden Buch After Virtue von Alasdair MacIntyre (1981) hat, so scheint es, das scholastisch-biedermeierlich-bürgerlich angestaubte Wort »Tugend« eine unerwartbare Renaissance erfahren. Neben der deontologischen und der utilitaristischen Ethikbegründung hat sich die tugendethische als dritte Variante etablieren können

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– auch wenn ein einschlägig ausgewiesener Philosoph zu dem Schluss kommt, »dass das Projekt der Tugendethik insgesamt gescheitert ist.«1 Liegt das vielleicht daran, dass trotz intensiver Diskussionen sich vielen Beteiligten das Proprium der Tugendethik nicht erschlossen hat? Denn die Jahrhunderte währende Überzeugungskraft dieses Ansatzes ist kaum auf die Autorität des Aristoteles allein zurückzuführen. Eher ergibt sie sich aus ihrer anthropologischen Stimmigkeit. Anders als für Kant, der immer wieder betont, dass seine Pflichtethik »für alle vernünftige[n] Wesen«2 (also z.ௗB. auch für Engel oder Bewohner anderer Planeten) konzipiert sei, ist für Aristoteles und Thomas klar, dass sich ihre Ethik als Orientierung für Menschen versteht. Dieser auf den ersten Blick nicht gerade aufregende Befund enthält zwei bedeutsame Momente. Erstens achtet Thomas darauf, dass menschliches Handeln eingebettet ist in ein Fundament, das unsere Seele mit der der Tiere teilt (Nietzsche würde hier heftig applaudieren). Deswegen wird der Tugendlehre eine umfangreiche Untersuchung der »Akte, die der Mensch mit den anderen Lebewesen gemeinsam hat und die Leidenschaften genannt werden« (STh I–II, q. 6, prooem.), vorangestellt. Die Leidenschaften nehmen immerhin einen ganzen Band der Deutschen Thomas-Ausgabe ein (Band 10)! Die anthropologische Ausgangsthese, dass der Mensch sozusagen eine sinnlich-geistige Doppelnatur besitzt, bedeutet zweitens: wir kommen mit Anlagen zur Welt, die nicht von vornherein »getunt«, aufeinander abgestimmt sind. Der Mensch bedarf der Erziehung. Oder, um es zugespitzt mit Freud zu sagen: der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus, solang er die explosive Mischung von Vernunft und Leidenschaft, von ratio und emotio, die ihn ausmacht, nicht in den Griff bekommt. Wie soll das gehen? Die erste Strategie – und sie ist in der Philosophie seit den Zeiten des Aristoteles über die Stoiker bis zu Kant immer wieder empfohlen worden – meint: der Mensch wird Herr im eigenen Haus, wenn er mit Hilfe der Vernunft die Leidenschaften ausmerzt. Ein Zitat des späten Kant mag das veranschaulichen: »[...] dass du durch deine Vernunft

1 Christoph Halbig, Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Berlin 2013, 350. 2 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA, Bd. IV, 425.

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deine Neigung einschränken und überwältigen kannst, das ist die Freiheit deines Willens.«3 Ganz anders die von Aristoteles und Thomas verfochtene Idee: stabiles sittliches Handeln funktioniert nur durch Integration der Leidenschaften. Diese Idee hat auch den Niedergang der Scholastik überlebt – sie findet sich z.ௗB. in Schillers Ausführungen zur »schönen Seele«: »In einer schönen Seele also ist es, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung.«4 Tugendethik ist also der Versuch, die Bereitschaft zum guten Handeln anthropologisch zu verankern, und zwar so, dass dabei alle seelischen Kräfte, sowohl die emotionalen als auch die rationalen, zum Zuge kommen. Sie antwortet damit auf die Frage, wie der Mensch ganz werden kann. Um ein Bild zu verwenden: wenn wir die Bereitschaft zum Handeln mit dem Start eines Flugzeugs vergleichen wollten, dann würde eine Ethik Kantischen Typs fragen: »Ready for take-off – habt ihr die Leidenschaften ausgeschaltet?« Und im Moral-Flugzeug des hl. Thomas hieße es: »Sind die Leidenschaften eingeschaltet?«

3. Das »System der Leidenschaften«5 Wie viele Leidenschaften gibt es überhaupt, und wie heißen sie? Es soll hier nicht das kunstvolle System von insgesamt elf Leidenschaften, wie Thomas es entwickelt, im Detail vorgestellt werden. Die Schichtung der emotionalen Vermögen und ihre teilweise Entsprechung bei Tier und Mensch verleitet zu dem Missverständnis, der Mensch teile zwar mit dem Tier die beiden elementaren Grundkräfte des Begehrens und Überwindens, erhebe sich aber sodann mit seinen geistigen Vermögen darüber und verfüge über seine Sinnlichkeit wie ein dekoratives Anhängsel, sozusagen ein »nice-to-have«. Wäre 3

Kant, Die Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, AA, Bd. VI, 481. Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde, in: Sämtliche Werke, hg. von G. Fricke und H.G. Göpfert, Bd. 5, Darmstadt 91993, 469. – Und mit deutlicher Spitze gegen Kant (ebd., 467): »Wäre die sinnliche Natur im Sittlichen nur die unterdrückte und nie die mitwirkende Partei, wie könnte sie das ganze Feuer ihrer Gefühle zu einem Triumph hergeben, der über sie selbst gefeiert wird?« 5 Vgl. Josef Jacob SVD, Passiones. Ihr Wesen und ihre Anteilnahme an der Vernunft nach dem hl. Thomas von Aquin, Mödling bei Wien 1958, hier 60. 4

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dem so, hätte Thomas dem Traktat über die Leidenschaften, der der Abhandlung über Habitus und Tugend (22 Quästionen) vorausgeht, nicht 27 Quästionen seiner Summa Theologiae gewidmet. Die Leidenschaften haben bei Thomas ihren Sitz in den beiden elementaren Seelenkräften des Begehrens und des Überwindens: alle Tiere sind aus auf Nahrung und Geschlechtspartner (vis concupiscibilis), und die höher entwickelten verfügen dazu noch über die Kraft, Hindernisse, die sich dem Begehren in den Weg stellen, zu überwinden (vis irascibilis). Beispielsweise kämpft der Löwe um ein Weibchen oder verteidigt seine Beute gegen Konkurrenten. Die Leidenschaften des Begehrens gehen direkt auf ein erstrebtes Gut (bzw. wenden sich von einem Übel ab), und das in drei Stufen: als »Liebe und Hass«, die sich als erste Reaktion auf das Gute oder Üble einstellen, »Sehnsucht und Flucht«, wenn das Gut bzw. Übel noch in der Zukunft liegt, »Freude und Trauer«, wenn das Gut erreicht bzw. das Übel eingetreten ist.6 Wenn man Thomas genau liest, merkt man, dass es ihm hier nicht darum geht, die Bausteine eines vorgefertigten Schemas anzubringen, sondern echte Phänomene des seelischen Lebens zu erfassen. So umschreibt er etwa die erste Stufe der Anziehung (virtus attractiva) bzw. der Liebe als »eine gewisse Neigung oder Eignung oder natürliche Verwandtschaft«7 zu dem Gut. Wir würden wohl von Sympathie und im negativen Fall von Antipathie sprechen. (Nebenbei: Wenn Max Scheler in Liebe und Hass die elementarsten Gefühle überhaupt sieht, so meint er sie wohl in dem anfänglichen Sinn, den Thomas hier mit amor und odium verbindet – nicht als emotionale Höchststufe wie die Liebe von Romeo und Julia oder den Hass Rigolettos auf den Herzog.) Die Dynamik der Leidenschaft zeigt sich in der zweiten Stufe als Sehnsucht (desiderium), wenn das Gut noch nicht erreicht, bzw. als Flucht (fuga), wenn das Übel noch zu vermeiden ist. Im dritten Stadium stellt sich dann Freude (gaudium) ein, wenn das ersehnte Gut erlangt wurde, bzw. Trauer (tristitia), wenn das gehasste Übel eingetreten ist. Die Leidenschaften, die ins Spiel kommen, wenn es gilt, Schwierigkeiten zu überwinden, sind zum Teil komplizierter aufgebaut, weil sich in ein und derselben Leidenschaft ein ambivalentes Verhältnis zu 6 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 23, a. 4, r. (Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 10, 30). – Vgl. Jacob, Passiones, 69. 7 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 23, a. 4, r. (DThA 10, 28f.); die lateinischen Termini heißen inclinatio, aptitudo, connaturalitas ad bonum.

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deren Gegenstand zeigen kann: die Verzweiflung (desperatio) wendet sich von einem Gut ab, weil es unerreichbar scheint; die Kühnheit (audacia) wirft sich einem Übel entgegen, weil es als besiegbar empfunden wird. Hoffnung (spes) dagegen geht direkt auf das nur schwer zu erreichende Gut, Furcht (timor) auf das nur schwer zu vermeidende Übel. Eine besondere Bewandtnis hat es mit der fünften Leidenschaft der vis irascibilis, dem Zorn (ira). Zorn ist die Reaktion auf erlittenes Unrecht – er setzt also eine Bewertung der Situation voraus, kurz: er ist »in gewisser Weise vernunftgeleitet«8. Bemerkenswert ist, dass Thomas diese irgendwie an der Vernunft partizipierende Leidenschaft auch den Tieren zugesteht.9 Halten wir im Rückblick noch einmal fest: Auch wenn die Leidenschaften in der Sinnlichkeit wurzeln, die Mensch und Tier gemeinsam ist, so ist doch z.ௗB. die menschliche Sehnsucht, einer Zufallsbekanntschaft noch einmal zu begegnen, von vornherein eine andere als die Sehnsucht, mit der der Hund im Frühling den läufigen Hündinnen nachläuft; und die Kühnheit, mit der z.ௗB. die ukrainischen Soldaten von russischen Invasoren besetzte Städte zurückerobern, ist eine andere Kühnheit als die, mit der ein Löwe seinen Rivalen aus dem Revier vertreibt.

4. Leidenschaft und Tugend I. Die Leidenschaften gehen also in die Dynamik unseres Handelns ein, sie gehören dazu, weil wir nicht nur aus reiner Vernunft, sondern auch aus sinnlich induzierten Gefühlen bestehen. Aber was bedeuten diese Gefühle, die Leidenschaften, für die moralische Qualität unserer Handlungen? Wird das Handeln durch die Mitwirkung der Leidenschaft besser oder schlechter? Thomas stellt diese Frage ausdrücklich, denn das stoische Ideal der apatheia, der Leidenschaftslosigkeit, drängt sich als Vorbild christlicher Ethik geradezu auf. Wir wissen, wie Thomas antwortet – und er bringt es mit einem passenden Psalmen-Zitat auf den Punkt: »›Mein Herz und mein Fleisch jubelten 8 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 46, a. 4, r. (DThA 10, 391): ira est quodammodo cum ratione. 9 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 46, a. 4, arg. 2 (DThA 10, 391); a. 7, ad 1 (DThA 10, 402); q. 47, arg. 2 und ad 2 (DThA 10, 410f., 413).

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dem lebendigen Gott‹, wobei wir ›Herz‹ vom geistigen, ›Fleisch‹ aber vom sinnlichen Streben verstehen.«10 Wir haben uns bis jetzt noch im Passionen-Traktat (DThA 10) aufgehalten, der entscheidende Weichenstellungen für das Verständnis der Tugend vorbereitet. Wie stellt sich nun das Verhältnis von Leidenschaft und Tugend im Tugendtraktat (DThA 11) dar? Thomas muss auch hier wieder das allgegenwärtige stoische Vorurteil, dass Tugend Leidenschaftslosigkeit bedeutet, aus dem Weg räumen, und kann sich dabei auf Augustinus berufen. Weil sie mir besonders schlagkräftig erscheinen, zitiere ich hier zwei AugustinusStellen aus dem Gottesstaat, die Thomas in ähnlichem Kontext bereits in den Fragen Über die Wahrheit herangezogen hatte: Solange wir an der Schwäche dieses Lebens tragen, leben wir nicht rechtens, wenn wir überhaupt keine Affekte haben. Der Apostel beschimpfte und verabscheute diejenigen, die meinten, ohne Affekte leben zu können. Auch tadelte sie der ehrwürdige Psalmist mit den Worten: »Ich erwartete Mitleid, doch es gab keines.« Ich weiß nicht, ob man nach reiflicher Überlegung den schelten kann, der mit dem Sünder zürnt, damit dieser sich bessere, der um den Bedrängten sich ängstigt, damit er befreit wird, der um den Bedrohten fürchtet, damit dieser nicht sterbe. Auch wenn die Stoiker die Barmherzigkeit schelten, so hat viel besser, menschlicher und dem frommen Empfinden angemessener Cicero zum Lobpreis Cäsars gesagt: »Keine deiner Tugenden ist bewundernswerter und gefälliger als die der Barmherzigkeit.«11

10 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 24, a. 3, r. (DThA 10, 39f.): ›Cor meum et caro mea exultaverunt in Deum vivum‹, ut ›cor‹ accipiamus pro appetitu intellectivo, ›carnem‹ autem pro appetitu sensitivo. (Der zitierte Psalm ist Ps 84,3.) 11 Thomas von Aquin, De ver., q. 26, a. 7, s. c.: Est quod Augustinus dicit, libro XIV de civitate Dei: »dum huius vitae infirmitatem gerimus, si passiones omnino nullas habeamus, tunc non recte vivimus: vituperabat enim et detestabatur apostolus quosdam, quos etiam esse dixit sine affectione. Culpavit illos satis Psalmista, de quibus ait in Psalmo LXVIII: sustinui qui simul contristaretur, et non fuit.« […] Praeterea, Augustinus dicit, libro IX de Civit. Dei: »irasci peccanti, ut corrigatur; contristari pro afflicto, ut liberetur; timere periclitanti, ne pereat: nescio, utrum quisquam sana consideratione reprehendat. Nam et misericordiam Stoicorum est solere culpare; et ita longe melius, et humanius, et piorum sensibus accommodatius locutus est Cicero ubi ait: nulla de virtutibus tuis nec admirabilior nec gratior misericordia est.« (Übersetzt von Paul Hellmeier, Andreas Schönfeld SJ, Jörg Alejandro Tellkamp, Über die Wahrheit VI, Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung, hg. von Rolf Schönberger, Bd. 6, Hamburg 2014, 104; Wortlaut leicht geändert.) – Vgl. Augustinus, Civ. XIV, 9; IX, 5.

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II. Wie Thomas Leidenschaft und Tugend verwebt, sieht man nicht auf den ersten Blick. Das folgende Schaubild kann aber helfen: Thomas von Aquin: Tugendpyramide

Hoffnung

he isc log den eo Th ugen T

Liebe

ratio

Klugheit

ns

ch

ich

n

Se

de

en

ele

Gerechtigkeit

ug

voluntas

alt

n rdi

Ka

ten

Glaube

vis irascibilis

vis concupiscibilis

Tapferkeit

Selbstbeherrschung

ratio: Vernunft voluntas: Wille vis irascibilis: Kraft, Schwierigkeiten zu überwinden vis concupiscibilis: Kraft des Begehrens (Selbst- und Arterhaltung)

Copyright mohsen ataey

Da gibt es einmal Tugenden, die nichts anderes sind als geformte Leidenschaften – oder anders ausgedrückt, es gibt Tugenden, deren Substrat, deren »Materie« die Leidenschaften sind: »sensibiles passio-

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nes sunt materia moralium actuum«, heißt es sprechend an einer späteren Stelle der Summa Theologiae.12 Wir erinnern uns an die beiden, Tier und Mensch gemeinsamen Elementarschichten der Seele: die Kraft des Begehrens bzw. vis concupiscibilis (Platon nennt sie in Politeia 580e epithymetikon) und die Kraft, Schwierigkeiten zu überwinden, bzw. vis irascibilis (bei Platon in Politeia 580d thymoeides). Die Tiere gehen damit startbereit ins Leben, beim Menschen müssen sie erst noch durch Vernunftkontrolle justiert, in Form gebracht werden. Diese Form heißt im einen Fall temperantia, Mäßigung oder Selbstbeherrschung: das ist die Tugend, ohne die nichts geht. Denn wer die Begierde nicht in den Griff bekommt, wer z.ௗB. ein Alkohol- oder Drogenproblem hat oder in sexueller Hörigkeit lebt, dem kann man keine verantwortungsvolle Tätigkeit anvertrauen. Danach kommt die Formung des Zornvermögens, die entsprechende Tugend ist fortitudo, Tapferkeit. Auf der nächsten Stufe der Tugendpyramide kommt die Gerechtigkeit (iustitia) , die es nicht direkt mit den Leidenschaften zu tun hat. Thomas sagt hierzu: »Jene sittlichen Tugenden aber, die sich nicht mit den Leidenschaften, sondern mit den Handlungen befassen, können ohne Leidenschaft sein, und eine solche Tugend ist die Gerechtigkeit.«13 Gerecht zu sein bedeutet, jedem ohne Ansehen der Person das Seine zukommen zu lassen. Ein Richter, der gerechte Urteile spricht, kann das ohne Leidenschaft tun, ja man würde sogar erwarten, dass er es umso besser tun kann, je weniger Leidenschaft dabei im Spiel ist. Aber der Moralpsychologe Thomas geht den Phänomenen noch ein Stück weiter nach: »dem Akt der Gerechtigkeit«, schreibt er, »folgt […] die Freude, zum wenigsten im Willen, und diese Freude ist nicht Leidenschaft«.14 Man muss hierzu wissen, dass für Thomas jede Kardinaltugend einer besonderen Seelenschicht zugeteilt ist; die Gerechtigkeit hat ihren Sitz im Willen, der im Unterschied zu den sinnlichen Triebkräften appetitus rationalis heißt. Es gibt also eine geistige Freude. Das wäre eine Seelenregung, mit der auch die Stoiker einverstanden sein könnten. Aber Thomas 12

Thomas von Aquin, STh II–II, q. 152, a. 1, r. (DThA 22, 18). Thomas von Aquin, STh I–II, q. 59, a. 5, r. (DThA 11, 198): Virtutes vero morales quae non sunt circa passiones, sed circa operationes, possunt esse sine passionibus et huiusmodi virtus est iustitia. 14 Ebd.: Sed tamen ad actum iustitiae sequitur gaudium, ad minus in voluntate, quod non est passio.

13

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geht noch weiter: Wenn die Freude im Willen groß ist, dann schwappt sie über – von redundantia ist die Rede; es drängt sich das Bild vom Römischen Brunnen auf, bei dem die obere Schale zu voll wird und mit ihrem Überfließen die unteren Schalen füllt. Auch mit dem durch den Soziologen Hartmut Rosa wieder zu Ehren gebrachten Begriff »Resonanz« lässt sich dieses Phänomen beschreiben.15 Und so heißt es bei Thomas: Wenn aber die Freude sich steigert durch die Vervollkommnung der Gerechtigkeit, strömt sie über auf das sinnliche Strebevermögen [...]. Und durch dieses Überströmen geschieht es, dass die Tugend, je vollkommener sie ist, umso mehr die Leidenschaft hervorruft.16

Das heißt, wenn wir ein Kriterium dafür suchen, ob eine Tugend – auch und gerade eine geistige, wie Gerechtigkeit oder Klugheit – ihre Höchstform erreicht hat, so müssen wir darauf schauen, wie weit sie durch Resonanz den ganzen Menschen durchtönt. Eine kleine Phänomenologie der überschäumenden Freude gibt Thomas an einer Stelle von De veritate: Wenn aber die Intensität der Freude in Hinblick auf gewisse äußere Zeichen hervorbricht, dann handelt es sich um Ausgelassenheit. Von Ausgelassenheit ist die Rede, wenn eine innere Freude irgendwie nach außen hervorbricht. Dieses Hervorbrechen ist an der Veränderung des Gesichtsausdrucks zu bemerken, weil das Gesicht wegen seiner Nähe zur Vorstellungskraft die Anzeichen eines Affekts zuerst offenbart; und daraus entsteht die Heiterkeit. Auch ergibt sich das Hervorbrechen daraus, dass die Affekte aufgrund der Intensität der inneren Freude auf Worte und Taten gerichtet werden. Hierbei handelt es sich um den Frohsinn.17

15 Vgl. G. Simon Harak, Virtuous Passions. The Formation of Christian Character, New York / Mahwah 1993, 79f. und Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehungen, Berlin 2019. 16 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 59, a. 5, r. (DThA 11, 198): Et si hoc gaudium multiplicetur per iustitiae perfectionem, fiet gaudii redundantia usque ad appetitum sensitivum […]. Et sic per redundantiam huiusmodi, quanto virtus fuerit perfectior, tanto magis passionem causat. 17 Thomas von Aquin, De ver., q. 26, a. 4, ad 5: vel secundum quod intensio gaudii interioris prorumpit in quaedam exteriora signa, et sic est exultatio: dicitur enim exultatio ex hoc quod gaudium interius quodammodo exterius exilit: quae quidem exilitio attenditur vel secundum immutationem vultus, in quo primo apparent affectus indicia, propter propinquitatem eius ad vim imaginativam, et sic est hilaritas; vel secundum

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»[Q]uanto virtus fuerit perfectior, tanto magis passionem causat.«

III. Wir haben von der »Tugendpyramide« des hl. Thomas gesprochen. Genau genommen gibt es zwei solche Pyramiden, denn über den vier Kardinaltugenden erhebt sich noch der Aufsatz der drei theologischen Tugenden: Glaube (fides), Hoffnung (spes), Liebe (caritas). Sie existieren in der antiken Philosophie noch nicht – es ist also keineswegs ausgemacht, dass sie ebenfalls als Habitus funktionieren und mit den Leidenschaften verbunden sind. Thomas möchte zeigen, dass gerade in ihnen die Höchstform von Tugend sichtbar wird. So heißt es vom Akt der caritas: »[...] keine Tugend hat eine so große Neigung zu ihrem Akt wie die Liebe, und keine handelt mit so viel Freude.«18 Und durch die Liebe »wird alles, was wir tun und leiden, zu einer Erfahrung der Freude.«19 Ein eindrucksvolles Beispiel für die Resonanzfähigkeit dieser »mächtigste[n] unter den Tugenden«20, d.ௗh. der Liebe, bietet der selige Tiburtius, von dem Thomas im Kontext seiner Diskussion der Tapferkeit berichtet: »So sagte der selige Tiburtius, als er mit bloßen Füßen über glühende Kohlen schritt, ›es scheine ihm, er wandle über Rosen‹.«21

5. Das »Wie« der Tugend Tugenden kann man nicht einzeln erwerben – wie bereits angedeutet, muss ein Mensch erst einmal Ordnung in seine Grund-Triebe gebracht haben (also über Selbstbeherrschung und Tapferkeit verfügen), um die Tugend der Gerechtigkeit zu verwirklichen. Diese wiederum besteht nicht in einzelnen Akten, sondern sie liegt ihnen zugrunde bzw. sie geht aus ihnen hervor. Ein einzelner Tugend-Akt quod ex intensione interioris gaudii disponuntur et verba et facta, et sic est iucunditas. (Übersetzung aus: Über die Wahrheit VI, Hamburg 2014, 81). 18 Thomas von Aquin, STh II–II, q. 23, a. 2, r.: […] nulla virtus habet tantam inclinationem ad suum actum sicut caritas, nec aliqua ita delectabiliter operatur. – Vgl. STh., I–II, q. 62. 19 Thomas von Aquin, De virt., q. 2, a. 1, r.: et per eumdem omnia quae agimus vel patimur, delectabilia redduntur. (Übersetzung Winfried Rohr, Über die Tugenden, Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung, hg. von Rolf Schönberger, Bd. 10, Hamburg 2012, 149). 20 Thomas von Aquin, De virt., q. 2, a. 2, r.: potissima virtutum. (Übersetzung aus: Über die Tugenden, Hamburg 2012, 159). 21 Thomas von Aquin, STh II–II, q. 123, a. 8, r. (DThA 21, 27): [S]icut beatus Tiburtius, cum super carbones incensos nudis plantis incederet, dixit quod »videbatur sibi super roseos flores ambulare«.

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wäre so etwas wie ein Widerspruch in sich, denn nicht was wir tun, sondern wie wir es tun, ist das entscheidende Kriterium der Tugend. Ein Beispiel: Vor dem Münster sitzt ein Bettler und hofft, dass ihm jemand etwas Kleingeld in den Kaffeebecher wirft. Ein Passant zieht einen Euro aus der Tasche, zögert, überlegt, möchte den Euro schon wieder ins Portemonnaie zurückstecken und wirft ihn dann im Vorbeigehen doch dem Bettler hin. Ein anderer Passant holt das Geldstück heraus, findet ein freundliches Wort für den Armen, während er ihm den Euro in den Becher legt und geht gut gelaunt weiter. Beide haben das Gleiche getan – einen Euro verschenkt –, aber nur bei einem kann man auf einen Habitus der Großzügigkeit oder der Barmherzigkeit schließen. Drei Dinge kennzeichnen den Habitus: dass ein bestimmtes Handeln stabil gelingt, dass es dazu keiner großen Überlegung mehr bedarf, dass infolge der zur zweiten Natur gewordenen Bereitschaft das entsprechende Handeln mit Freude verbunden ist.22 Lässt sich zeigen, dass bei diesem »Wie« des Handelns die Leidenschaften gebraucht werden? Begnügen wir uns mit zwei Hinweisen: einmal darauf, dass die Freude, an der man (schon bei Aristoteles) den Tugendhabitus erkennt, offenbar mit der Integration der Leidenschaften zu tun hat.23 Und dann gibt es noch die aristotelische Beobachtung, dass »gewiss größerer Mut dazu [gehört], in plötzlichen Gefahren furchtlos und unerschrocken zu sein, als in vorhergesehenen«, weil man im ersten Fall aus dem Augenblick heraus richtig reagieren muss, während man im zweiten »aufgrund von vernünftiger Überlegung«24 entscheiden kann. Offenbar braucht das Nachdenken Zeit (wie im obigen Beispiel bei dem nur halbherzig Barmherzigen), die hat man aber in bestimmten Situationen nicht. Schnelle Entscheidungen kommen aus dem Habitus – das heißt, es 22 Vgl. die gelungene Paraphrase von De virt., q. 1, a. 1, bei Eberhard Schockenhoff, Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin, Mainz 1987, 219f. Schockenhoff resümiert (ebd., 220): »Kurz: Der habitus macht das Handeln sicher, spontan und angenehm und schenkt ihm die innovatorische Lust an der Auffindung neuer, ihm entsprechender Handlungsmöglichkeiten.« (Hervorh. im Orig.) Damit sind die geradezu zur Formel gewordenen Habitus-Merkmale »firme, prompte, delectabiliter« gut eingefangen. – Vgl. auch Thomas von Aquin, De ver., q. 20, a. 2: operationes ex habitu procedentes delectabiles sunt, et in promptu habentur, et faciliter exercentur, quia sunt quasi connaturales effectae. 23 Vgl. Thomas von Aquin, De virt., q. 1, a. 1. 24 Aristoteles, EN III 11, 1117 a 18f. und 22 (übers. und hg. von Günther Bien, Hamburg 41985, 65).

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gibt eine Fähigkeit, die Lage intuitiv richtig einzuschätzen, was wohl dem entspricht, was man »emotionale Intelligenz« nennt.

6. Leidenschaften des Gottmenschen Die mittelalterliche Anthropologie kennt verschiedene Modelle bzw. Zustände des Menschseins: Adam und Eva vor dem Sündenfall (hierher gehören die aufschlussreichen Überlegungen über die sogenannte Paradiesesehe), den Normalzustand nach dem Sündenfall, schließlich die Höchstform menschlichen Seins in Jesus Christus. Was sagt uns Thomas über Leidenschaften in Christus? I. Greifen wir eine besonders eindrucksvolle Szene heraus. Im 11. Kapitel des Johannes-Evangeliums wird berichtet, wie Martha und Maria, die Schwestern des Lazarus, Jesus um Hilfe für ihren verstorbenen Bruder bitten. Jesus zeigt sich zunächst reserviert, er gibt Martha eine katechetische Unterweisung über die Auferstehung am Jüngsten Tag. Die Szene ändert sich, als Jesus mit Maria spricht, die ihm offenbar nähersteht. Endlich am Grab des Lazarus angekommen, lässt Jesus sich von der Trauer der Umstehenden anstecken. Im Evangelium heißt es: »Als Jesus sah, wie sie (Maria) weinte und wie auch die Juden weinten, [...] war er im Innersten erregt und erschüttert.« (Joh 11,33). Dann kommt der lapidare Satz: »Da weinte Jesus.« (Joh 11,35) Sehen wir, was Thomas in seinem Kommentar daraus macht. Darf Gott weinen? Müsste Jesus nicht seine Gefühle vollkommen beherrschen? Thomas schreibt: Die Stoiker [...] sagten, dass kein Weiser traurig werde. Aber es scheint sehr unmenschlich zu sein, dass jemand durch den Tod von jemand nicht traurig wird. [...] Aber der Herr wollte traurig werden, damit er dir bezeichne, dass du manchmal traurig werden sollst, was gegen die Stoiker ist [...].25

25 Thomas von Aquin: Super Ioh., c. XI, l. V: Stoici enim dixerunt quod nullus sapiens tristatur. Sed valde inhumanum esse videtur quod aliquis de morte alicuius non tristetur. […]. Sed dominus tristari voluit, ut significet tibi quod aliquando debeas contristari, quod est contra Stoicos […]. (Kommentar zum Johannesevangelium, Teil 2, übers. und hg. von Paul Weingartner, Michael Ernst und Wolfgang Schöner, Göttingen 2016, 121).

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Für den Ireniker Thomas, der alle philosophischen Richtungen so weit wie möglich integriert (und zwischen Stoa und Christentum zumal gibt es offensichtlich Schnittmengen), eine singuläre Aussage! II. In gewisser Weise nimmt Thomas das Lob der Leidenschaft hier wieder zurück, denn er legt Wert darauf zu zeigen, dass Jesus »Maß in der Trauer« hielt (ebd.). Schon die Kirchenväter haben sich bemüht, einerseits die Leidensfähigkeit Christi anzuerkennen – ohne echtes Leiden keine Erlösung –, andererseits aber Unterschiede zwischen unkontrollierter normalmenschlicher und kontrollierter gottmenschlicher Leidenschaft herauszustellen. Thomas hebt in seiner Christologie drei Momente heraus: die Leidenschaften Christi richten sich niemals auf Unerlaubtes, sie entstehen nicht vor, sondern nach dem Urteil der Vernunft, sie verbleiben im appetitus sensitivus, ohne die Vernunft mitzureißen. Thomas zitiert einmal Augustinus: »Wie Christus aus freiem Willen Mensch werden wollte, so hat Er auch kraft eines unerschütterlichen freien Willensentschlusses in Seiner Seele solche Regungen zugelassen.«26 Und dann Hieronymus: »Der Herr war wirklich traurig, um uns so die Wirklichkeit Seiner angenommenen Natur zu beweisen. Damit man aber dabei nicht an eine starke Erregung des Gemütes denkt, die Seine Seele übermannte, heißt es, Er fing an, traurig zu werden in einer propassio.«27 Damit ist für die Dynamik von Leidenschaft und Tugend noch einmal klargestellt: Die »Bewegung der Tugend«, so Thomas, »geht aus von der Vernunft und endigt im Strebevermögen, insofern dieses von der Vernunft bewegt wird.«28 26 Thomas von Aquin, STh III, q. 15, a. 4, r. (DThA 25, 349): Unde Augustinus dicit, XIV De civ. Dei, quod »hos motus, certissimae dispensationis gratia, ita cum voluit Christus suscepit animo humano, sicut cum voluit factus est homo.« Vgl. Augustinus, Civ. XIV, 9. 27 Thomas von Aquin, STh III, q. 15, a. 4, r. (DThA 25, 349): Unde Hieronymus dicit, Super Mt., quod »Dominus noster, ut veritatem assumpti probaret hominis, vere quidem contristatus est: sed, ne passio in animo illius dominaretur, per propassionem dicitur quod ›coepit contristari‹«. 28 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 59, a. 1, r. (DThA 11, 185): Motus autem virtutis […] principium habens in ratione et terminum in appetitu, secundum quod a ratione movetur. – Etwas kryptischer ist der vorhergehende Satz. Dort heißt es: »Angenommen, eine Leidenschaft gehe in bestimmter Weise nur auf das Gute oder nur auf das Schlechte, dann nimmt doch die Bewegung der Leidenschaft, insofern sie Leidenschaft ist, ihren Ausgang vom Strebevermögen und endigt in der Vernunft, mit der das Streben übereinzustimmen sucht.« ([D]ato quod aliqua passio se habeat solum ad bonum,

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7. Schluss Dinge werden manchmal klarer durch den Kontrast. »Denn nichts ist für den Menschen als Mensch etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann.«29 Max Weber spricht in seinem 1917 gehaltenen Vortrag »Wissenschaft als Beruf« eine Einsicht aus, die die Tugendlehre von Thomas bestätigt. Tugendhaftes Handeln kann, so haben wir gesehen, eigentlich nicht ohne Leidenschaft sein. Aber handeln wir überhaupt noch? Ziehen wir nicht in unserer Zivilisation der »Körperausschaltung«, wie Paul Alsberg sie genannt hat,30 systematisch unser sinnliches Dasein aus der Welt zurück, um Handlungen an Maschinen oder Künstliche Intelligenzen zu delegieren? Kann man »cum passione« einen Knopf bedienen oder eine Taste drücken? Sind wir nicht gefangen vom transhumanistischen Traum, unser Bestes, nämlich unser Denken, an Artefakte zu delegieren, die uns darin haushoch überlegen sind? Ist es nicht die Zukunftshoffnung der gebildeteren Menschheit, durch Partizipation daran in eine höhere Seinssphäre, vielleicht sogar in die Unsterblichkeit vorzustoßen? Künstliche Intelligenz mag es geben – künstliche Leidenschaften, so hoffe ich, nicht. So kann die Erinnerung an die Zusammengehörigkeit von Tugend und Leidenschaft helfen, eine Alternative für echtes menschliches Handeln zu bewahren.

vel solum ad malum, secundum aliquem modum; tamen motus passionis, inquantum passio est, principium habet in ipso appetitu et terminum in ratione, in cuius conformitatem appetitus tendit.) Das könnte heißen: eine zum Guten gepolte Leidenschaft reicht ihren Gegenstand (die zu realisierende Handlung) »nach oben« an die Vernunft weiter, dann übernimmt diese die Regie und löst anschließend die Handlung mit einer begleitenden Leidenschaft aus. Ob bei dieser Konstruktion dann noch das »repentina sunt ab habitu« (s.o., Anm. 24; vgl. Thomas von Aquin, De ver., q. 24, a. 12, r.) zutrifft? 29 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, München und Leipzig 1919, 10 (Hervorh. im Orig.) – Der Vortrag wurde 1917 gehalten. 30 Paul Alsberg, Das Menschheitsrätsel, Dresden 1922. Alsberg schreibt dort auf Seite 123: »Mit jedem Handwerkszeug schalten wir die Hand, mit dem Kraftwagen den Fuß, mit der Additionsmaschine das Gehirn aus. Ja, das Ideal des modernen Ingenieurs wäre eine Maschine, die den Menschen völlig ausschaltet.«

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Der moralische Partikularismus bei Thomas und die kognitive Rolle der Tugenden

1. Der moralische Partikularismus in der modernen metaethischen Debatte und seine aristotelischen Wurzeln In der metaethischen Diskussion stellen seit einigen Jahrzehnten sogenannte partikularistische Positionen die Annahme infrage, dass die moralische Güte oder Schlechtigkeit einer Handlung sich danach bestimmen, ob bzw. inwiefern die handelnde Person einer allgemeinen Regel folgt. Gegenüber sogenannten generalistischen Theorien, die eine derartige Bewertbarkeit richtiger Handlungsweisen anhand solcher Regeln behaupten, treten Partikularisten, summarisch gesprochen, dafür ein, dass ein richtiges bzw. gutes Handeln letztlich den Bedingungen und Erfordernissen der jeweiligen Situation angemessen sein muss und nicht allgemeinen Regeln. Nicht selten werden solche Positionen auch mit tugendethischen Ansätzen verbunden, die die Urteilskompetenz tugendhafter Akteure betonen. Die konsequentesten partikularistischen Theorieentwürfe bestreiten die Existenz moralischer Regeln insgesamt,1 während moderatere Spielarten lediglich bestreiten, dass solche Normen ein geeignetes Kriterium für ein moralisch gutes oder schlechtes Verhalten in einzelnen Situationen abgeben.2 Denn die Position, Einzelfälle könnten z.ௗB. anhand eines situativen Abgleichs mehrerer Regeln kompetent beurteilt werden, ist zwar nicht partikularistisch – auch dann hängt die Gutheit der 1 In diesem Sinne stellt etwa der bekannte Entwurf von Jonathan Dancy darauf ab, dass ein Grund, der eine Handlung in einer Situation »gut« macht, in partikularistischer Perspektive in einer anderen Situation die umgekehrte Funktion haben kann, vgl. Jonathan Dancy, Ethics without Principles, Oxford 2004, 3–12. 2 Für einen Überblick vgl. Dietmar Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, 2., durchgesehene und korrigierte Auflage, Göttingen 2018, 68–78.

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Handlung ja letztlich von den Regeln ab –, aber im Rahmen partikularistischer Positionen können Regeln unter Umständen als subsidiäre Hilfsmittel mit einem didaktischen Zweck betrachtet werden, z.ௗB. um moralisch nicht kompetente Akteure auf Cluster ähnlich gelagerter Handlungstypen aufmerksam zu machen.3 Nicht verzichtet wird in partikularistischen Positionen auf universale Prädikate wie »gut« oder »schlecht«, »gerecht« oder »ungerecht«, »klug« oder »unklug«. Diese werden aber nicht mit Regeln verbunden, so dass bestimmte Handlungsabläufe, die sich auf allgemeine Weise beschreiben lassen, eben deswegen »gut« oder »schlecht« wären.4 Derartige Positionen haben insofern Wurzeln in der antiken Philosophie, als sie zumindest teilweise im Zuge der Erneuerung der Tugendethik entwickelt worden und von der z.ௗB. bei Aristoteles zu findenden Vorstellung beeinflusst sind, gut sei in einer Handlungssituation dasjenige, was ein idealer Akteur, der »Weise« oder »Tüchtige«, unter den gegebenen Umständen als gut einschätze.5 Dagegen spielen mittelalterliche Positionen für die Formulierung moderner partikularistischer Positionen nur eine geringe Rolle, obwohl gelegentlich ihre – zunächst überraschend anmutende – Nähe zum Partikularismus zumindest erkannt wird: Thomas von Aquin etwa übernimmt viele platonische und aristotelische Bestände […], was ihre partikularistische Färbung angeht. Der christlich-theologische Bezug […] freilich […] bringt eine generalistische Note ein, geht dabei aber auch über die tugendethische Perspektive hinaus.6

Diese Charakterisierung stimmt mit der in der Thomas-Forschung bekannten besonderen Sensibilität für einzelne Situationen überein. Sie stellt das Verhältnis der partikularistischen und generalistischen Momente bei Thomas jedoch üblicherweise so dar, dass die Behandlung des Einzelfalls letztlich doch eine notwendige Konkretion einer Regel bzw. eines Gesetzes darstelle, so dass Thomas insgesamt als Generalist zu charakterisieren sei, der dem Anliegen, Einzelsituatio-

3

Vgl. Hübner, Einführung Philosophische Ethik, 72f. Vgl. Hübner, Einführung Philosophische Ethik, 73. 5 Deutlich sind die aristotelischen Wurzeln z.ௗB. bei John McDowell, Mind, Value, and Reality, Cambridge (Mass.) / London 1998, 77–94. 6 Hübner, Einführung Philosophische Ethik, 77f. 4

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nen gerecht zu werden, einen bestimmten Raum gibt.7 Ich möchte demgegenüber im Folgenden für ein Verständnis von Thomas’ Ethik argumentieren, das deren Rahmen in seiner Gesamtheit als partikularistisch versteht, auch wenn Regeln und Gesetze in großen Teilbereichen des menschlichen Verhaltens eine Rolle spielen. Diese scheint mir aber nie derart zu sein, dass ein richtiges Verhalten ausschließlich aus einer Regel abgeleitet werden kann: Vielmehr besteht stets die Möglichkeit, dass ein kompetenter bzw. tugendhafter Akteur in einer Einzelsituation ein besseres Urteil trifft, als es eine Regel oder auch der Abgleich von mehreren Regeln ermöglicht. Um diese Position zu erklären, widme ich mich im ersten Teil dieses Beitrags allgemeinen Fragen von Thomas’ Handlungstheorie, bevor ich im zweiten Teil erläutere, dass deren partikularistischer Grundcharakter auch die Bedeutung und die Gestalt der thomasischen Tugendlehre erklärt.

2. Partikularistische Züge in Thomas von Aquins Ethik Partikularistische Elemente in antiker Tradition begegnen bei Thomas an verschiedenen Stellen. Einige davon heben vor allem darauf ab, dass es für eine Regel Ausnahmen geben kann, die im jeweiligen Fall zu beachten sind. So zitiert er das von Platon und Aristoteles her bekannte Beispiel, dass die Regel, man solle Geliehenes zurückgeben, in bestimmten Fällen nicht gelte, z.ௗB. wenn eine geliehene Waffe gegen das Vaterland verwendet werden solle,8 oder er betont im Allgemeinen, dass kein Gesetz allgemein genug sein kann, um keinerlei Ausnahmen zuzulassen.9 Derartige Formulierungen legen es 7 Ich nenne hier nur wenige Beispiele: Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Darmstadt 31998, 218, der bereits die »größtmögliche Nähe zum Einzelfall« als Ziel der thomasischen Ethik hervorhebt; Christian Schröer, Praktische Vernunft bei Thomas von Aquin (Münchner philosophische Studien NF 10), Stuttgart 1995, z.ௗB. 90; Matthias Perkams, »Practical Reason and Normativity«, in: Jeffrey Hause (Hg.), Aquinas’s Summa Theologiae: A Critical Guide, Cambridge 2018, 150– 169, wo besonders die universalen Züge im Einzelfallurteil betont werden. 8 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 94, a. 4, r.; II–II, q. 120, a. 1, r. 9 Thomas von Aquin, STh II–II, q. 120, a. 1, r.; ad 1. Vgl. auch die genauere Beschreibung in STh I–II, q. 94, a. 4, r., wo die »prima principia communia« der »lex naturae« davon ausgeschlossen werden. Zur Deutung dieser Stelle vgl. unten, Abschnitte 4 und 5.

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nahe, in Thomas einen Generalisten zu sehen, der eine differenzierte Anwendbarkeit von Regeln zulässt. Andere Stellen stellen demgegenüber heraus, dass jede Handlung eines bestimmten Akteurs letztlich auf eine situationsadäquate Weise zu beurteilen ist, die sich nicht ohne weiteres generalisieren lässt. So konstatiert Thomas in Bezug auf das Beispiel einer von einem Richter gewollten, von der Frau des Verurteilten abgelehnten Hinrichtung eines Menschen, »dass unterschiedliche Willenstendenzen unterschiedlicher Menschen in Bezug auf Gegenteiliges beide gut sein können, insofern sie unter unterschiedlichen Blickwinkeln wollen, dass dies geschieht oder nicht geschieht«,10 und er verweist auf die Inkommensurabilität der allumfassenden Perspektive Gottes mit den jeweils partikulären, von der Auffassung durch die Vernunft abhängigen Perspektiven von Menschen, die lediglich allgemein einem universalen Gut verpflichtet sein müssen. An anderer Stelle, im Zusammenhang der Behandlung der Umstände der Handlung, bemerkt Thomas: Der Prozess der Vernunft […] kann, wenn irgendetwas gegeben ist, weiter voranschreiten; und daher kann das, was in einer Handlung als Umstand begriffen wird, der zum Objekt hinzukommt [...], von der ordnenden Vernunft als Hauptbedingung für das Objekt genommen werden, das die Art der Handlung festlegt.11

Auch dieser Text, der mit dem Beispiel erläutert wird, ein Diebstahl an einem heiligen Ort sei korrekt als Sakrileg zu beschreiben, fällt vor allem durch die durchgängige Ablehnung einer Geltung von Regeln in allen Fällen auf: In jedem einzelnen Fall kann die Vernunft noch weiter konkretisierend und umdeutend eingreifen, ebenso wie sie im vorherigen Beispiel für unterschiedliche Personen verschiedene Handlungsweisen in derselben Situation für gut erklären kann. Diese beiden Texte beschreiben die jeweiligen Fälle also nicht als Ausnahmen von Regeln, sondern insinuieren, dass die Beurteilungskraft der Vernunft in unendlichem Fortschreiten zu einer je genaueren 10 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 19, a. 10, r.: Possunt diversae voluntates diversorum hominum circa opposita esse bonae, prout sub diversis rationibus particularibus volunt hoc esse vel non esse. 11 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 18, a. 10, r.: Processus […], quolibet dato, potest ulterius procedere. Et ideo quod in uno actu accipitur ut circumstantia superaddita obiecto [...] potest iterum accipi a ratione ordinante ut principalis conditio obiecti determinantis speciem actus.

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Beschreibung von Einzelfällen in der Lage und verpflichtet ist, die letztlich das Ziel der ethischen Reflexion der einzelnen Akteure darstellt. Ist insoweit klar, dass die partikularistische Perspektive bei Thomas sich nicht darauf beschränkt, gewisse begrenzte Ausnahmen allgemeiner Regeln zu formulieren, stellt sich in verschärfter Weise die Frage nach einer Gesamteinschätzung seiner Ethik: Ist er im Ganzen ein Generalist, der gewisse Ausnahmen im Einzelfall zulässt, oder letztlich doch ein moderater Partikularist, der die Relevanz und Gültigkeit allgemeiner ethischer Regeln zwar anerkennt, sie aber nicht für ausreichend hält, um die Güte oder Schlechtigkeit bestimmter Handlungen in konkreten Situationen zu bestimmen? Eine Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten fällt wohl auch deswegen nicht leicht, weil Thomas’ praktisch-philosophisches Hauptwerk, die Secunda Pars der Summa Theologiae, Normativität unter zwei Hauptüberschriften verhandelt: Zum einen diskutiert er sehr ausführlich die Tugend und suggeriert damit, dass es beim Handeln auf Einzelfallurteile tugendhafter Akteure ankommt, zum anderen behandelt er kaum weniger ausführlich »das Gesetz« (lex) und legt folglich nahe, dass sich einzelne Handlungen unter bestimmte Regeln fassen lassen.12 Beiden Teilen vorgeschaltet ist eine Beschreibung der Handlung im Allgemeinen, aus der die beiden genannten Texte stammen und die auch sonst einige interessante Beobachtungen zu unserem Thema erlaubt: Nach der grundsätzlichen Erläuterung der Begriffe Objekt, Umstand und Ziel der Handlung führt Thomas hier die Vernunft als das einzige aktive Prinzip ein, dem zufolge Handlungen als gut oder schlecht zu bewerten sind.13 In diesem Rahmen betont er durchaus, dass allgemeine Beschreibungen von Handlungen, etwa als das Wegnehmen von etwas oder als ehelicher oder außerehelicher Geschlechtsverkehr, der Vernunft angemessen oder unangemessen sind und entsprechend als Ver- oder Gebote wirken.14 Allerdings gibt es auch komplexe Akte, auf die mehrere Beschreibungen zutreffen, weil Menschen bestimmte Handlungen für Ziele und unter Umständen einsetzen, die jedenfalls nicht mit einer einzelnen allgemeinen Handlungsbeschreibung adäquat zu charakte12 Auf das Nebeneinander dieser beiden Perspektiven weist bereits Kluxen, Philosophische Ethik, 229 hin. 13 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 18, a. 5, r. 14 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 18, a. 5, ad 2, ad 3.

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risieren sind, z.ௗB. wenn jemand stiehlt, um Ehebruch zu begehen.15 Diese Feststellung, die den Eindruck erweckt, jede Handlung könne zumindest durch eine Kombination allgemeiner Prinzipien adäquat bewertet werden, wird von Thomas im Folgenden allerdings noch einmal zugespitzt: Denn die Frage, ob es überhaupt irgendeinen Einzelakt geben kann, der indifferent, also weder gut noch schlecht ist, wird von ihm ausdrücklich verneint, da jeder menschliche Akt durch die individuelle Vernunft mit einem guten oder schlechten Ziel verbunden werden könne, und zwar selbst dann, wenn er seiner Art nach indifferent sei.16 Dies bedeutet nichts weniger, als dass die eudaimonistische Perspektive, in der jede menschliche Handlung für das gute Leben des Einzelnen relevant ist, den Rahmen sprengt, den eine Regelethik überhaupt nur setzen kann: Regeln können zwar ein wichtiges Klassifikationskriterium von Handlungen eines bestimmten Typs sein, aber eine solche Typologie kann nicht ausreichen, um sämtliche Handlungen aller einzelnen Personen moralisch beurteilen zu können. Wie ist nun vor diesem Hintergrund Thomas’ ausführliche Auseinandersetzung mit Regeln richtigen Verhaltens zu bewerten, wie sie sich besonders in seinem Lex-Traktat findet? Zur Beantwortung dieser Frage liefert eine auf den ersten Blick etwas enigmatische Erwähnung eines Gesetzes im Traktat über das menschliche Handeln einen ersten Ansatzpunkt: Im vierten Artikel der 19. Quaestio betont Thomas, dass nicht die Vernunft als unmittelbare Norm (mensura proxima), sondern das »ewige Gesetz« als mittelbare Norm (mensura remota) das letzte Kriterium für die Güte einer Handlung sei, obwohl es für den Menschen allenfalls teilweise erkennbar sei.17 Warum wird hier lediglich das opake ewige Gesetz erwähnt, nicht aber das Naturgesetz der Vernunft, das gerne als Standard der Regelethik bei Thomas gesehen wird? Eine Antwort im Sinne des oben Gesagten kann lauten, dass das ewige Gesetz bzw. der göttliche Plan, in dem festgelegt ist, wie wir nach Gottes Willen handeln sollen, eine noch umfassendere Norm für das menschliche Handeln darstellt als jede Regel der Vernunft. Genau dies wird von Thomas im Lex-Traktat selbst explizit bestätigt:

15 16 17

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 18, a. 7, r. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 18, a. 9, r. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 19, a. 4, r., ad 2.

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Die menschliche Vernunft kann nicht vollständig Anteil haben an der Regelungsmacht der göttlichen Vernunft, sondern auf ihre Weise und unvollkommen. […] Von Seiten der praktischen Vernunft hat der Mensch am ewigen Gesetz gemäß bestimmten allgemeinen Prinzipien teil, nicht aber gemäß konkreten Anweisungen für Einzelnes, die jedoch im ewigen Gesetz enthalten sind. Und daher ist es notwendig, dass die menschliche Vernunft fortschreitet zu bestimmten konkreten Strafanordnungen der Gesetze.18

Dies lässt sich als eine Bestätigung der gerade getroffenen Aussagen aus einem anderen Blickwinkel lesen: So wie die unendliche Vielfalt der Handlungen, durch die ein gutes oder nicht gutes menschliches Leben zustande kommt, den Raum übertrifft, der sich als Ableitung von Handlungsregeln beschreiben lässt, so übertrifft der von der Anordnung Gottes im ewigen Gesetz umfasste Bereich menschlicher Handlungen denjenigen, der sich durch die Regeln des Naturgesetzes adäquat beschreiben lässt, bei weitem. In der einen wie in der anderen Perspektive liefern Regeln, wie sie die menschliche Vernunft auffassen und anwenden kann, allenfalls für einen Teil aller moralisch relevanten Handlungen überzeugende Anweisungen, und auch nur so, dass sie einer Vielfalt von Besonderheiten angepasst werden. Eine generalistische Ethik kann daher allenfalls einen Teil des gewaltigen Raums erhellen, der in Einzelhandlungen besteht, die zwar vom göttlichen Wollen bzw. vom ewigen Gesetz her gut oder schlecht sind, aber zu einem großen Teil nicht oder nur unvollkommen unter Regeln gefasst werden können.

3. Partikularistische Züge in der Tugendethik Eine derartige Position weist bereits in ihrer systematischen Grundgestalt naheliegende Affinitäten zur Tugendethik auf. Denn in Anbetracht der Tatsache, dass die Orientierung an Regeln für ein gutes Handeln nicht ausreicht, kann nur der im Handeln kompetente 18 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 91, a. 3, ad 1: Ratio humana non potest participare ad plenum dictamen rationis divinae, sed suo modo et imperfecte. […] Ex parte rationis practicae naturaliter homo participat legem aeternam secundum quaedam communia principia, non autem secundum particulares directiones singulorum, quae tamen in aeterna lege continentur. Et ideo necesse est ulterius quod ratio humana procedat ad particulares quasdam legum sanctiones.

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Akteur, also der tugendhafte Mensch, in der Lage dazu sein, in der jeweiligen Situation treffsicher die richtige Handlungsalternative zu finden.19 In der Tat weist Thomas’ Tugendethik einen starken Handlungsbezug auf: Thomas bezeichnet die Tugend nicht nur als »Tätigkeiten hervorbringenden Habitus« (habitus operativus),20 sondern führt diesen Gedanken unter Aufnahme der Terminologie aus seiner Handlungstheorie recht genau aus, wenn er der Tugend im strengen Sinne (simpliciter) den »Gebrauch« bzw. die »Ausführung eines guten Werkes« (usus boni operis) zuschreibt, während er den Begriff ›Tugend‹ im weiteren Sinne auf alle Habitus ausdehnt, die eine »Fähigkeit zum guten Werk« (facultas boni operis) verleihen.21 Diese Aussagen erhalten durch einen Vergleich mit den handlungstheoretischen Passagen der Summa Theologiae klarere Konturen: Die »Ausführung« bzw. der »Gebrauch« (usus) ist ihnen zufolge ein Akt, in dem der menschliche Wille den Befehl (imperium) der Vernunft zur Ausführung bringt, der seinerseits aus einer vorhergehenden »Wahl« (electio) des Willens resultiert.22 Alle diese Akte sind nicht einfach als Abfolge zu deuten, sondern jeder derartige Willensakt, der aus dem konstanten Streben des Menschen zu Zielen hin resultiert, erhält durch das in ihm realisierte Vernunfturteil seine Form als ein bestimmter Akt, während er als gewollter ausgeführt wird.23 Aus diesem Grund sind für Thomas auch nur solche Habitus eine Tugend im strengen Sinne, welche »auf den strebensfähigen Teil« der Seele bezogen sind (respiciunt partem appetitivam) bzw. »im Willen selbst oder in irgendeiner Mächtigkeit bestehen, die vom Willen bewegt wird«.24 Das gilt insbesondere für die Klugheit (prudentia) im Gegensatz zur Fertigkeit (ars), da erstere »ein richtiges Streben voraussetzt« (praesupponens appetitum rectum) und insofern stets auf die richtigen 19 Vgl. zum Verhältnis von Tugendethik und Einzelfallnähe bei Thomas von Aquin bereits Kluxen, Philosophische Ethik, 221–225. 20 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 2, r., ad 1. 21 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 56, a. 3, r.; I–II, q. 57, a. 1, r. 22 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 16, a. 1; I–II, q. 16, a. 4, r. 23 Zu diesen Zusammenhängen vgl. auch Thomas von Aquin, De mal. 6, r. sowie Matthias Perkams, »Aquinas on Choice, Will, and Voluntary Action«, in: Thomas Hoffmann / Jörn Müller / Matthias Perkams (Hg.), Aquinas and the Nicomachean Ethics, Cambridge 2013, 72–90, hier 85–89. 24 Diese analog zu verstehenden Beschreibungen finden sich in Thomas von Aquin, STh I–II, q. 56, a. 3, r.; I–II, q. 57, a. 1, r.

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Ziele bezogen ist,25 nämlich so, dass sie die im Wollen erstrebten Ziele in ihren drei Akten des Ratschlagens (consilium), Urteilens (iudicium) und Befehlens (imperium)26 so konkretisiert, dass der Mensch aus seinem Willen heraus die befohlene Handlung tatsächlich vollzieht. Insofern löst die Klugheit die Unterbestimmtheit auf, die der Wille als ein Vermögen aufweist, das sich auf mehrere mögliche Objekte beziehen kann,27 und ist daher »zuhöchst notwendig« (maxime necessaria) für das menschliche Leben: »Denn gut zu leben besteht darin, gut zu handeln«,28 und genau solche Handlungen bringen Menschen dann hervor, wenn sie entsprechende Tugenden besitzen. Der Akzent dieser Darstellung des Thomas liegt in erster Linie darauf, dass ein tugendhafter Mensch in guter Weise handelt, indem sich sein guter Wille auf gute Ziele richtet und er durch die Klugheit feststellt, welche Handlung diesen dienlich ist. Insofern bewirkt die Tugend in Thomas’ Darstellung in erster Linie eine rechte Ausrichtung des inneren Aktes und somit die in diesem ruhende moralische Güte des Akteurs. Da aber die Klugheit zugleich auch die der Sache nach richtigen Akte auswählt, wird der tugendhafte Akteur auch tatsächliche gute bzw. richtige Handlungen nach außen hin vollziehen. Gerade diese doppelte Wirkung der Tugend auf das menschliche Handeln29 fasst Thomas unter dem Schlagwort praktische Wahrheit bzw. »das für den praktischen Intellekt Wahre« (verum intellectus practici) zusammen. Dieses besteht nach seinen Aussagen aber nicht in einer Erkenntnis des theoretischen bzw. spekulativen Intellekts, sondern in einer »Übereinstimmung mit dem richtigen Streben« (conformitas ad appetitum rectum), die sich sowohl auf die Gegenstände des Handelns (agibilia) als auch auf diejenigen des äußeren Tuns (factibilia) erstrecke.30 Mit anderen Worten: Ein tugendhafter, mit Klugheit versehener Akteur verbindet eine richtige innere Einstellung mit einer Kompetenz, richtige Entscheidungen zu treffen – und zwar in kontingenten, nicht notwendigen Dingen, in denen es keine unfehlbare Wahrheit gibt.

25

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 57, a. 4, r. Zu diesen drei Akten vgl. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 47, a. 8, r. 27 Vgl. z.ௗB. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 9, a. 2, r. 28 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 57, a. 5, r.: Bene enim vivere consistit in bene operari. 29 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 57, a. 1, ad 1. 30 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 57, a. 5, ad 3; vgl. I–II, q. 57, a. 3, ad 1: bonus usus sine arte esse non possit. 26

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Die durch diese Aussagen angesprochene Rolle der Tugend für die spezifische Handlungskompetenz im Einzelfall wird im thomasischen Tugendtraktat, obwohl sie nicht dessen Gliederungsprinzip ist,31 immer wieder angesprochen. Dies geschieht in beiden Dimensionen, die Thomas’ aristotelischer Position zufolge beim tugendhaft Handelnden in guter Weise funktionieren, nämlich im Hinblick auf die Ziele, die tugendhafte Akteure verfolgen, und im Hinblick auf die Wege, die sie zu diesem Ziel finden. Grundlegend ist dabei einmal mehr die Funktion der Klugheit. In Bezug auf sie erklärt Thomas ganz allgemein, »dass jemand Kluges notwendigerweise sowohl die universalen Vernunftprinzipien als auch das Einzelne erkennt, auf welches die Handlungen bezogen sind.«32 Grundsätzlich geht er also davon aus, dass auch der einzelne tugendhafte Mensch in der Lage ist, korrekt über Einzeldinge zu urteilen, und zwar so, dass sein Urteil in Übereinstimmung mit den natürlichen Zielen des Menschen steht, die mit einer universalen Vernunft gegeben sind, nämlich indem diese, als das Urgewissen (synderesis), die naturgesetzlich angeordneten Ziele vorstellt.33 Eine genauere Durchsicht der verschiedenen Bemerkungen des Thomas zu diesem Thema zeigt jedoch, dass das Einzelurteil der Klugheit über komplexe, mehrschichtige Voraussetzungen verfügt, die sich keineswegs ausschließlich dadurch erklären lassen, dass die Klugheit einzelne Folgerungen aus universalen Regeln ableitet. Vielmehr wird der Prozess, der zu diesem Einzelurteil führt, von Thomas in drei Dimensionen näher geklärt: a) im Hinblick auf die Art und Weise, wie dem klugen Menschen seine Handlungsziele gegeben sind; b) im Hinblick darauf, wie sich seine allgemeinen und seine einzelnen Urteile verhalten; und c) im Hinblick auf die Frage, wie die Klugheit zu Einzelurteilen in der Lage ist. Im Hinblick auf die Handlungsziele betont Thomas zunächst, dass gutes Handeln nicht nur eine Richtigkeit der universalen Handlungsziele, sondern auch der partikulären erfordert. Diese komme 31 Zur Gliederung der thomasischen Tugendtraktate vgl. den Beitrag von Markus Enders in diesem Band, Abschnitte 2.1 und 2.2. 32 Thomas von Aquin, STh II–II, q. 47, a. 3, r.: Et ideo necesse est quod prudens et cognoscat universalia principia rationis, et cognoscat singularia, circa quae sunt operationis. Vgl. STh I–II, q. 58, a. 5, r. 33 Vgl. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 47, a. 6, r., ad 1, ad 2.

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dadurch zustande, dass keine Leidenschaft die Auffassung der universalen Ziele menschlichen Handelns in einer einzelnen Person einschränke, indem es ihr, dank ethischer Tugend, gleichsam natürlich werde, richtig über das Ziel zu urteilen.34 Die erste Dimension, in der das Handlungsziel sichergestellt wird, ist somit, wie auch von Aristoteles in Nikomachische Ethik VI angedeutet,35 eine affektive Einstellung, die verhindert, dass ein Mensch von den für ihn natürlichen Zielen abgelenkt wird. Insofern scheint diese Dimension der Zielauffassung in der Tat rein das Streben zu betreffen, nicht aber eine rationale Auffassung des individuell Guten. Allerdings stellt Thomas wesentlich klarer als Aristoteles heraus, dass dies zwar eine Beschreibung in Bezug auf die Verfassung des individuellen Strebevermögens ist, aber keineswegs bedeutet, dass das Strebensziel nicht selbst rational aufgefasst wird.36 Zudem ist die Ordnung der Leidenschaften nur eine Leistung bestimmter Tugenden, nämlich der Tapferkeit und des Maßhaltens, neben denen es noch eine Kardinaltugend gibt, die direkt auf die Ordnung der Handlungen abzielt und daher im Willen selbst ihren Sitz hat, der diese Handlungen hervorbringt, nämlich die Gerechtigkeit.37 Diese ist allerdings in ihrer Grundform, der gesetzlichen Gerechtigkeit (iustitia legalis), auf das allgemeine Wohl bzw. Gut (bonum commune) bezogen und daher eher weniger auf das Individuum und seine Bedürfnisse, wie Maßhalten und Tapferkeit es sind.38 Allerdings bringt Thomas, wiederum in einer Ausarbeitung aristotelischer Gedanken, an diesem Bild verschiedene Korrekturen an: Zum einen betont er, dass es neben der allgemeinen auch eine partikuläre Gerechtigkeit gibt, die auf das Gut der eigenen oder einer anderen Person bezogen ist; Thomas betont sogar, dass es sich dabei um eine formal unterschiedene Form von Gerechtigkeit handelt.39 Somit ist, obwohl Thomas den Gedanken nicht näher ausführt, doch das Wohlverhalten im Einzelnen, je nach den beteiligten Personen, als 34

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 58, a. 5, r. Vgl. Aristoteles, EN VI 5, 1140 b 7–13. 36 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 58, a. 5, ad 1. 37 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 59, a. 4, r., ad 1; q. 59, a. 5, r. 38 Vgl. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 58, a. 5, ad 2. 39 Vgl. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 58, a. 7, r.; ad 2. Zur Frage, inwieweit Thomas in diesem Punkt Aristoteles korrekt wiedergibt, vgl. Jeffrey Hause, »Aquinas on Aristotelian Justice: Defender, Destroyer, Subverter, or Surveyor?«, in: Hoffmann / Müller / Perkams (Hg.), Aquinas and the Nicomachean Ethics, 146–164. 35

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eine eigene Form guten Handelns definiert, die keineswegs einfachhin als Ableitung aus der allgemeinen Gerechtigkeit verstanden werden kann. Dies ist freilich nicht so zu verstehen, dass überhaupt keine Kommensurabilität zwischen allgemeiner und spezieller Gerechtigkeit besteht, wie besonders aus Thomas’ Behandlung der Epieikie hervorgeht: Denn die konsequente Einhaltung der Inhalte konkreter Gesetze in Fällen, auf die diese nicht zutreffen, verfehle auch dann, wenn diese Gesetze gerecht seien, das allgemeine Wohl als den Standard der Gerechtigkeit schlechthin. Ein Vorgehen im Sinne der Epieikie, also ein auf Einzelnes bezogenes, halte diesen Standard hingegen ein.40 Daher sei die Epieikie ein Teil der Gerechtigkeit, der in gewissem Sinne sogar ein höherer Rang gegenüber der Gesetzesgerechtigkeit zukomme.41 Im Hinblick auf die Zielauffassung der handlungsbezogenen Tugend, der Gerechtigkeit, zeigt sich also ein komplexes Verhältnis universaler und singulärer Zielsetzungen: Obwohl Gerechtigkeit ihrem grundsätzlichen Sinne als Gleichheit zufolge universal ist, zeichnet es doch einen tugendhaften Akteur aus, dass er auch spezifische und individuelle Interessen mitbedenkt und folglich einen Ausgleich zwischen diesen und der universalen Zielsetzung von Gesetzen (und anderen Regeln) anstrebt. Insofern ist die Partikularität moralischen Handelns bereits in den Zielen präsent, die tugendhafte Akteure verfolgen, sowohl in der Ordnung ihrer eigenen Leidenschaften als auch im Abzielen auf Handlungen, die individuellen Besonderheiten gerecht werden.42 Bezüglich der Klugheit als der Instanz, die konkrete Urteile auszusprechen hat, lässt sich Ähnliches feststellen. Grundsätzlich stellt Thomas hierzu fest, dass gerade der von der Klugheit zu untersuchende Bereich der zum Ziel führenden Schritte (ea quae sunt ad finem) »auf vielfache Weise gemäß der Verschiedenheit der Personen und Aufgaben verschieden ist« (multipliciter diversificantur secundum diversitatem personarum et negotiorum), weswegen es von ihm keine Kenntnis von der menschlichen Natur im Allgemeinen und der ihr innewohnenden Vernunft her geben könne, so dass hier die unter-

40

Vgl. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 120, a. 1, r. Vgl. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 120, a. 2, r. 42 Ähnlich z.ௗB. die von Aristoteles inspirierten Überlegungen bei McDowell, Mind, Value, and Reality, 86–88. 41

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schiedlichen Kompetenzen einzelner Menschen zum Tragen kämen.43 Wie dies zu erreichen ist, wird von Thomas in den Antworten auf die Einwände im Artikel 3 der 47. Quaestio der Secunda secundae zusammengefasst, in der er grundsätzlich die Zuständigkeit der Klugheit für Einzelnes feststellt. Hier nennt Thomas zwei grundsätzliche Aspekte der aristotelischen Theorie praktischen Raisonnierens, die freilich eine gewisse Spannung zueinander aufweisen: Einerseits verweist er auf die im praktischen Syllogismus verankerte Fähigkeit der Vernunft, aus universalen Regeln auf Partikuläres zu schließen und so diese Regeln auf Einzelfälle »anzuwenden« (applicare);44 andererseits verweist er darauf, dass die »Unendlichkeit des Einzelnen« (infinitas singularium) zwar nicht von der Vernunft begriffen werden könne, dass aber »das unendliche Einzelne durch Erfahrung auf einiges Endliche zurückgeführt« werde, und »das in den allermeisten Fällen geschehe«, was für die menschliche Klugheit ausreiche.45 Will man diese beiden Aussagen in einer kohärenten Weise interpretieren, so darf man das syllogistische »Anwenden«46 nicht im Sinne eines exakten Schlusses verstehen, in dem Einzelnes aus Allgemeinem deduziert würde. Vielmehr ist zu bedenken, dass Einzelnes, so wie es bereits Aristoteles beschreibt und Thomas explizit wiederholt,47 nur insoweit Teil eines syllogistischen Schlusses sein kann, als es Teil einer Prämisse ist, die sich auf dieses Einzelne bezieht. Eine solche Prämisse setzt aber voraus, dass das Einzelne unabhängig vom Syllogismus erkannt werden kann, nämlich durch die Erfahrung, die eine gewisse Regelmäßigkeit im unendlichen Einzelnen feststellt,48 bzw. durch eine »Einsicht« (intellectus) in etwas Einzelnes.49 Der praktische Syllogismus kann dann aber nur als eine Art Zuordnung gedacht werden, indem er feststellt, dass der Fall x in gewissem Sinne durch eine Vernunftregel bzw. ein Prinzip (principium) vom Typ y erschlossen werden kann, das »den Schlussfolgerungen angepasst« 43

Thomas von Aquin, STh II–II, q. 47, a. 15, r. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 47, a. 3, ad 2. 45 Thomas von Aquin, STh II–II, q. 47, a. 3, ad 3. 46 Schon Kluxen, Philosophische Ethik, setzt dieses Wort gerne in Anführungszeichen. 47 Vgl. Aristoteles, EN VII 5, 1147 a 24–31; Thomas von Aquin, STh II–II, q. 49, a. 2, ad 1. 48 Vgl. dazu z.ௗB. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 49, a. 1, r. 49 So Thomas von Aquin, STh II–II, q. 49, a. 2, ad 1, in Anlehnung an Aristoteles, EN VI 12, 1143 a 35–b 5. 44

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(conclusionibus proportionata), d.ௗh. im Bereich des menschlichen Handelns in den meisten Fällen (ut in pluribus) gültig ist.50 Der Tatsache, dass praktische Regeln grundsätzlich nur in den meisten Fällen gelten, trägt meine Formulierung Rechnung, dass die Anwendbarkeit einer Regel auf einen Einzelfall nur »in gewissem Sinne« gegeben ist: Denn einer Grundannahme von Thomas’ Tugendlehre zufolge ergibt sich die Vielfalt einer möglichen Handlung bzw. eines Objekts (obiectum) des Handelns wesentlich dadurch, dass der material selbige Gegenstand des Handelns (z.ௗB. eine Situation, in der sich bestimmte Handlungsmöglichkeiten anbieten) von der praktischen Vernunft in mehrfacher Hinsicht betrachtet werden kann und muss, und zwar unter Berücksichtigung all der Habitus, unter denen dieser Gegenstand betrachtet werden kann.51 Letztlich gilt es also, eine Gesamterkenntnis eines Phänomens, nämlich der jeweiligen Handlungssituation des Akteurs, herzustellen, die die verschiedenen Aspekte berücksichtigt und dabei in geeigneter Weise priorisiert – d.ௗh. feststellt, ob hier überhaupt eine Regel anwendbar ist und welche Rolle diese spielen kann. Für die Herausarbeitung dieser Position kann Thomas nicht nur verschiedene Aspekte der Klugheit mit Bezug zum Einzelnen zusammenfassen – wie Vorsehung, Erinnerung, Einsicht etc.52 –, sondern sogar eine spezifische Tugend namhaft machen, nämlich die ihm aus Aristoteles’ Nikomachischer Ethik bekannte gnome, die in modernen Übersetzungen z.ௗB. als »Einsicht« übersetzt wird,53 für die Thomas aber auf das griechische Lehnwort zurückgreift. Schon Aristoteles verbindet diese Tugend bzw. Untertugend mit der Epieikie und suggeriert, dass sie gleichsam eine intellektuelle Einsicht (ȞȠ૨Ȣ) in Einzelnes ist.54 Thomas, der den »Intellekt« in diesem Sinne bereits mit anderen, eben zitierten Worten als Einsicht in das Einzelne beschrieben hat,55 versteht die gnome, wie auch ihr auf 50 Alle diese Elemente werden von Thomas z.ௗB. in STh II–II, q. 49, a. 1, r. im Zusammenhang beschrieben. 51 Dieser Punkt wird so abstrakt, wie er hier formuliert ist, von Thomas an mehreren Stellen genannt: STh I–II, q. 54, a. 1, r.; I–II, q. 54, a. 2, r.; II–II, q. 47, a. 5. 52 Zu diesen Vermögen vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 57, a. 6, ad 4; II–II, q. 49, aa. 1–8. 53 So Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf, Hamburg 2006. 54 Vgl. Aristoteles, EN VI 11, 1143 a 19–12 und 1143 b 5. 55 Vgl. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 49, a. 2.

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allgemeine Regeln bezügliches Pendant, die synesis, als eine der Klugheit angeschlossene Tugend (virtus adiuncta), mit der insbesondere die Urteilsfähigkeit der Klugheit geschärft werde.56 Zugleich stellt er, durch Vergleich mit anderen Gebieten seines philosophischen Denkens, ihren Rang besonders heraus, indem er eine breitere ontologische Rahmung vornimmt: Auch in der Naturerkenntnis gebe es Ausnahmen von konkreten Regeln, zum Beispiel bei der Geburt von nicht in artgemäßer Weise entwickelten Wesen (in Thomas’ Worten: monstruosi partus). Die Entstehung solcher Wesen falle zwar aus der Regelmäßigkeit des natürlichen Zeugungsvermögens heraus, sei aber deswegen keinesfalls ungeordnet, sondern aus den »Prinzipien einer höheren Ordnung«, nämlich des Einflusses der Himmelskörper oder der göttlichen Vorsehung, durchaus erklärbar. Mit anderen Worten: Auch das Vorhandensein von behinderten oder blinden Menschen hat in einer größeren Naturordnung seinen Sinn, diese Ordnung lasse sich aber nur unter einem übergeordneten Blickwinkel verstehen, den Thomas Weisheit nennt.57 Das gleiche gelte für Handlungsregeln: »Und daher ist es nötig, derartiges gemäß bestimmten höheren Prinzipien zu beurteilen, als es allgemeine Regeln sind (oportet de huiusmodi iudicare secundum aliqua altiora principia, quam sint regulae communes)«, was eben eine Leistung der gnome sei.58 An anderer Stelle findet sich die alternative Formulierung, die gnome urteile »gemäß der natürlichen Vernunft selbst in den Fällen, in denen das allgemeine Gesetz ausfällt« (secundum ipsam rationem naturalem in his in quibus deficit lex communis).59 Beide Stellen bestätigen in ihrem Zusammenhang noch einmal die oben gegebene partikularistische Gesamtinterpretation der thomasischen Ethik und verbinden sie mit der Tugendlehre: Das höchste Ordnungsprinzip, an dem sich die wahre Güte oder Schlechtigkeit moralischer Handlungen bemessen, besteht weder in menschlichen oder religiösen Regeln bzw. Gesetzen, noch auch in Regeln der natürlichen Vernunft, sondern letztlich in der göttlichen Weltordnung, die bestimmt, was in jeder einzelnen Situation eine richtige Handlung ist. Diese göttliche Weltordnung ist für uns Menschen zwar nicht völlig erkennbar, aber unserer urteilenden Vernunft auch nicht schlechthin 56 57 58 59

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 57, a. 6, r. Vgl. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 51, a. 4, r. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 51, a. 4, r. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 57, a. 6, ad 3.

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unzugänglich, sondern deren Urteil ist durchaus in der Lage, jenseits jeder Regeln das im Einzelfall Richtige zu erkennen. Daher gilt, wie gleich noch einmal zu erörtern ist, faktisch die Entsprechung einer Handlung zur Vernunft als höchste Basis für ein richtiges Urteil.60 Diese Fähigkeit wird durch das Erwerben von Tugenden, die in Epieikie und gnome gipfeln, noch einmal zusätzlich geschult. Im Hintergrund jeder Anwendung (applicatio) von Regeln muss daher die Möglichkeit stehen, dass eine bestimmte (oder auch im Extremfall jede) Regel in einer Situation keine Geltung haben darf, weil sie der rationalen Vernunftordnung selbst widerspricht – eine Frage, die beachtet werden muss, obwohl die Frage nach der Gültigkeit von Regeln im Einzelfall für den klügsten Menschen nicht vollständig auflösbar ist.61 Wie aber hat man sich ein solches Einzelurteil vorzustellen, das eine unter Umständen komplexe Situation in einer adäquaten Weise ordnet, die möglicherweise nicht mit moralischen Regeln fassbar ist? Für den Aristoteliker Thomas ist grundsätzlich klar, dass die Ordnung einer Handlung nur darin bestehen kann, sie auf ein richtiges Ziel auszurichten. Auch wenn die Handlungssituation eine hohe Komplexität aufweist, gilt es, damit eine geordnete Handlung möglich ist, die verschiedenen Aspekte unter einem angemessenen Ziel zu einer Handlung zusammenzufassen.62 Diese vereinheitlichende Perspektive wird von Thomas insbesondere mit der menschlichen Vorsehung als einem Teil der Klugheit verbunden, die zwar nur ein schwaches Abbild ihres göttlichen Vorbilds sein kann, aber prinzipiell in der Lage dazu ist, die rechte Zuordnung der Aspekte einer Situation auf ein Ziel hin vorzunehmen.63 Thomas schreibt: »Denn Vorsehung bedeutet einen bestimmten Blick auf etwas Entferntes, auf das hin das, was im Gegenwärtigen begegnet, zu ordnen ist.«64 Diese Formulierung liefert nicht nur eine Formel dafür, wie Einzelfälle zu beurteilen sind – nämlich so, dass sie den guten Zielen bzw. Perspektiven des menschlichen Lebens möglichst zuträglich sind –, sondern sie 60

Vgl. auch Thomas von Aquin, STh I–II, q. 94, a. 6, r. Vgl. z.ௗB. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 49, a. 8, ad 3. 62 Diese Gesamtperspektive wird angesprochen in Thomas von Aquin, STh I–II, q. 54, a. 1, ad 1. Zur Notwendigkeit, die Einheit der Handlung von einem guten Ziel her zu denken, vgl. auch STh I–II, q. 54, a. 1, arg. 3 und ad 3; II–II, q. 49, a. 2, ad 1 und ad 3. 63 Vgl. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 49, a. 6, ad 1. 64 Thomas von Aquin, STh II-II, q. 49, a. 6, r.: Importat enim providentia respectum quemdam alicuius distantis, ad quod ea, quae in praesenti occurrunt, ordinanda sunt. 61

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entwirft eine bemerkenswerte Antwort auf eine komplexe Frage der Aristoteles-Forschung: Wie ist Aristoteles’ auch von Thomas immer wieder wiederholte Formulierung zu verstehen, dass die Klugheit für das zuständig ist, was zum Ziel hinführt, nicht aber für das Ziel selbst? Die zitierte Stelle zeigt, dass sich das Urteil der Klugheit sehr wohl auf das Ziel bezieht, aber nicht so, dass sie ein bislang unbekanntes Ziel herausfindet, sondern dass sie von einer Kenntnis der in Thomas’ Worten »natürlichen« Ziele menschlichen Lebens ausgeht und überlegt, wie dieses Ziel aus der gegebenen Situation heraus zu realisieren ist. Als Beispiel kann man sich denken, dass jemand, der einem Kind in Not langfristig helfen will, wissen wird, wie wichtig eine adäquate Bildung für dieses Kind ist, und insofern seine Hilfe so organisiert, dass er dem Kind eine gute Bildungslaufbahn ermöglicht. Dies muss aber nicht darin bestehen, dass das Kind sofort zur Schule geschickt wird, wenn die tugendhafte, kluge Person mithilfe ihrer gnome begreift, dass erst einmal grundsätzliche therapeutische Schritte erforderlich sind, um die Lernfähigkeit des Kindes wiederherzustellen, und die Möglichkeiten eruiert, diese Schritte zu erreichen. Andere Beispiele können darin liegen, dass manchen Jugendlichen Raum gegeben werden muss, um selbst zu erkennen, wie wichtig Bildung für sie ist, weil sie auf jeglichen Druck empfindlich reagieren würden. Derartige Einzelfallentscheidungen lassen sich mit Thomas’ Konzeption hervorragend und überzeugend beschreiben, denn tatsächlich geht eine praktische Reflexion in ihnen immer von einer gewissen Kenntnis sinnvoller Lebensziele aus und versucht, mit allen Umwegen und Unterlassungen, die dafür nötig sind, den rechten Weg zu einer möglichst guten Erreichung dieser Ziele zu finden. Zugleich machen diese Beispiele aber auch Thomas’ Einsicht deutlich, dass eine treffende Beurteilung von Einzelfällen eben nicht losgelöst von einer Kenntnis des dem Menschen Zuträglichen in all seiner Komplexität ausgehen kann.

4. Zwei mögliche Einwände Gegen die auf diese Weise begründete Position, Thomas’ Theorie sei letztlich als partikularistisch einzustufen, lassen sich nun einige Einwände formulieren, von denen zwei hier kurz betrachtet werden sollen.

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Erstens lässt sich daran erinnern, dass Thomas zufolge zumindest die höchsten Prinzipien des Naturgesetzes keine Ausnahmen zulassen, also nicht nur in den meisten Fällen gelten.65 Sie könnten also die höchsten Prinzipien sein, auf die die gnome dann zurückgreift, wenn allgemeine Regeln im Einzelfall nicht mehr helfen, so dass letzten Endes strikt allgemeine Regeln an die Stelle von in eingeschränktem Maße allgemeinen Regeln treten würden. Die Frage ist aber, worin diese ganz allgemeinen Regeln bestehen: In STh I–II, q. 94, a. 2 scheint dies in erster Linie das so genannte »erste praktische Prinzip« zu betreffen, dass »Gutes zu tun, Böses aber zu lassen« sei. Die übrigen in diesem Artikel genannten primären menschlichen Güter (Selbsterhaltung, Arterhaltung, Streben nach Wahrheit) scheinen hingegen ihrer Natur nach Ausnahmen prinzipiell zuzulassen. In STh I–II, q. 94, a. 4 formuliert Thomas hingegen: »Bei allen ist dies richtig und wahr, dass gemäß der Vernunft gehandelt werden soll«,66 woraus direkt das Gebot, Geliehenes zurückzugeben, das Ausnahmen zulässt, abgeleitet wird. Tatsächlich erwecken also die beiden einschlägigsten Artikel der Summa Theologiae den Eindruck, dass die ausnahmslosen Prinzipien sich letztlich darauf reduzieren lassen, dass man im Handeln nach dem Guten streben soll, so wie es uns die Vernunft vorgibt. Insofern scheinen diese Stellen die hier vorgeschlagene Interpretation eher zu bestätigen als zu widerlegen: Letztlich sind es keine inhaltlich gefüllten Handlungsregeln, sondern es ist der formale Grundsatz, dass sich gutes oder schlechtes Handeln stets an der Rationalität des Handelns bemessen, der keine Ausnahmen zulässt – also eine Anerkennung der Geltung der Begriffe »gut« und »böse« in einer bestimmten Beschreibung, die auf Einzelfälle bezogen werden muss. In jedem Fall ist dieser Gedanke für ein angemessenes Verständnis der thomasischen Position aufschlussreich: Denn die Kriterien der Ausrichtung auf das Gute und der Rationalität sind ja keinesfalls beliebig, sondern implizieren, wie von Thomas gerne betont, dass menschliches Handeln stets eine Struktur und eine zielgerichtete Ordnung haben muss. Insofern lassen sich beide durchaus als formale

65

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 94, a. 2, r.; I–II, q. 94, a. 4, r. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 94, a. 4, r.: Apud omnes enim hoc rectum est et verum, quod secundum rationem agatur. 66

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Hilfskriterien auffassen, um ein partikularistisches Urteil hervorzubringen.67 Ein zweiter naheliegender Einwand gegen eine partikularistische Thomas-Lesart kann darin liegen, dass dieser gerne den Vorzug allgemeiner Blickwinkel, die sich im Begriff des »allgemeinen Guts« (bonum commune) fokussieren, vor partikulären Perspektiven betont, die er häufig als »privates Gut« (bonum privatum) bezeichnet.68 Derlei Aussagen können jedoch ebenfalls, im Sinne einer möglichst kohärenten Interpretation, in Übereinstimmung mit der partikularistischen Interpretation gelesen werden, wenn man folgende Annahmen macht: i) Zwischen dem universalen Gut aus göttlicher Perspektive und dem menschlich zugänglichen universalen und privaten Gut besteht, im Sinne der analogia entis, keine Kommensurabilität. Tatsächlich übertrifft die universale Güte der göttlichen Vorsehung jegliche aus menschlicher Sicht verständliche Güte in solch einem Maße, dass durchaus Fälle denkbar sind, in denen ein menschliches privates Gut so sehr im Sinne des göttlichen Willens ist, dass in einer konkreten Situation einer konkreten Person diesem legitim gefolgt werden kann. Dies setzt Thomas nicht nur im Beispiel des Richters und der Frau des Verurteilten voraus, sondern er betont auch sonst die partikuläre Natur jeglichen menschlichen Handlungsgrundes gegenüber einem perfekten (nämlich göttlichen) Gut.69 ii) Der Zusammenhang von allgemeinem und privatem Gut ist im Detail komplex: Zwar beinhaltet einerseits ein Streben nach dem allgemeinen Gut auch immer eines nach dem privaten Gut,70 andererseits sind aber doch die Habitus, die sich auf diese Güter richten, so verschieden, dass die auf sie gerichteten Weisen von Klugheit der Art nach verschieden sind.71 Hieraus lässt sich schließen, dass von Seiten der einzelnen Akteure, je nach ihren politischen und sozialen 67 Vgl. in ähnlichem Sinne Jean Porter, »The Natural Law«, in: Jeffrey Hause (Hg.), Aquinas’s Summa Theologiae: A Critical Guide, Cambridge 2018, 170–187, hier 181: »The first principle of practical reasoning is only activated, as it were, through processes of practical reasoning, yielding moral judgments which can be formulated as precepts.« 68 Zum Beispiel in Thomas von Aquin, STh II–II, q. 47, a. 10, r.; ad 2. Weitere Stellen bei Schröer, Praktische Vernunft, 212f. 69 Zum Beispiel in Thomas von Aquin, STh I–II, q. 10, a. 2. 70 Vgl. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 47, a. 10, ad 2. 71 Vgl. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 47, a. 11, r.

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Der moralische Partikularismus bei Thomas und die kognitive Rolle der Tugenden

Einflussmöglichkeiten, unterschiedliche Urteilskompetenzen gefragt sind, ohne dass irgendein rationales Wesen gänzlich einer solchen Kompetenz entbehren würde.72 Die ganz allgemeine Feststellung, dass im Zweifelsfall ein Vorrang des Allgemeinen vor dem Eigenen besteht, ist also selbst wieder eine Aussage, die nur in einzelnen Urteilen konkreter Akteure für konkrete Bereiche ihres Lebens bzw. konkrete Aufgabenbereiche in treffender Weise berücksichtigt werden kann; wie jede Regel und jedes Gesetz lässt sie vielfältige Ausgestaltungen zu.73 Somit bedeutet auch Thomas’ Überzeugung, es bestehe ein Vorrang des Gemeinwohls vor dem privaten Gut, keinen Widerspruch zur letztlich partikularistischen, auf das Wohlergehen der Individuen bezogenen Ordnung, mit der das ewige Gesetz die Wirklichkeit angeordnet hat, die uns zum Vorbild dient.

5. Fazit Nach dem Gesagten lässt sich Thomas’ Theorie aus zwei Gründen in ihrem Gesamtrahmen am besten als moderat partikularistisch beschreiben: Der eine Grund ergibt sich aus dem von einer neuplatonisch geformten Theologie geprägten normativen Gesamtrahmen der thomasischen Ethik: Die oberste Norm des Handelns ist ihm zufolge das ewige Gesetz bzw. Gottes Wille darüber, was Person x in einer konkreten Situation tun soll, und die Erkenntnis der individuellen Vernunft darüber, was das im Einzelfall bedeutet. Gut ist das, was dem göttlichen Willen bzw. – im Maße ihrer möglichen Erkenntnis – der menschlichen Vernunft entspricht; schlecht ist, was dem widerspricht. Weitere Regeln, wie etwa die des Naturgesetzes, schränken diesen Grundsatz nicht ein, sondern erhalten innerhalb des so gesteckten Rahmens ihre – notwendigerweise begrenzte – Signifikanz. Insofern hängt die Güte oder Schlechtigkeit von Handlungen letztlich nicht davon ab, ob nach einer konkretisierbaren Regel, z.ௗB. nach dem Naturgesetz oder nach einem menschlichen Gesetz, gehandelt wird oder nicht. Zwar gibt es ohne Zweifel bei Thomas einen gro72 So Thomas selbst in STh II–II, q. 47, a. 12, r.; ad 2; vgl. auch II–II, q. 47, a. 13, r. (über den »guten Dieb«). 73 Schröer, Praktische Vernunft, 213–215, zeigt überzeugend, dass Thomas nicht für eine politische Akzeptanz jedes privaten Urteils plädiert. An der partikularistischen Orientierung von Thomas‫ ތ‬Ethik ändert das aber grundlegend nichts.

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Matthias Perkams

ßen Bereich von Handlungen, der durch solche Regeln angemessen erschlossen und bewertet werden kann, und für diesen Bereich sind derartige Regeln auf inhaltlicher Ebene ausreichend. Aber letztlich determinieren nicht sie die Güte und Schlechtigkeit des Handelns, sondern sie helfen lediglich der menschlichen Vernunft, in einer möglichst großen Zahl von Fällen eine Orientierung zu finden und das menschliche Zusammenleben zu regeln. Zugleich besitzt die Vernunft aber für nahezu alle Fälle die Möglichkeit und Aufgabe, auch die Sinnhaftigkeit dieser Regeln entweder für den konkreten Fall oder, im Falle menschlicher Gesetze, auch in ihrer Allgemeinheit kritisch zu hinterfragen. Daraus ergibt sich die Dynamik, dass menschlich gegebene Regeln insgesamt weiterentwickelt und dem durch Vernunft erreichbaren Standard angenähert werden können und müssen. Der andere Grund betrifft den Geltungsbereich von Regeln, da es ganze Handlungsklassen gibt, die sich gar nicht durch sie erfassen lassen: Denn sämtliche »menschlichen Handlungen« (actus humani), auch solche, die ihrer Art nach – also gemäß regelhafter Betrachtung – indifferent sind, sind als Bestandteile einer individuellen Lebensführung sehr wohl gut oder schlecht. Daher ist schon die Frage, ob im Einzelfall überhaupt eine Regel anwendbar ist, selbst Teil der Regelanwendung, die somit eine direkte Einsicht in das im Einzelfall Richtige voraussetzt. Aber auch in Fällen, die grundsätzlich mithilfe von Regeln zu erfassen sind, kann es sein, dass deren Anwendung zu einer falschen Handlung führt, z.ௗB. im Falle des Verrückten, der eine geliehene Waffe zurückerbittet. Bemerkenswerterweise verweist Thomas an der Stelle, an der er auf diesen Fall am ausführlichsten eingeht, gerade nicht darauf, dass hier eine andere Regel an die Stelle des Gebots trete, die geliehene Waffe zurückzugeben, sondern er insinuiert eher, dass eine Konkretisierung von Regeln das Problem gerade nicht lösen werde.74 Demnach ist Thomas’ Theorie nicht nur metaphysisch in dem Sinne partikularistisch, dass sie Regeln lediglich eine unterstützende Rolle bei der Urteilsbildung zuschreibt, die aber letztlich den Einzelfall treffen muss. Sondern Regeln sind auch epistemologisch in dieser 74 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 94, a. 4, r. Das schließt nicht aus, dass der Vergleich mit anderen Fällen und die Entwicklung einer verallgemeinerten Betrachtung dieses Falls für dessen angemessene Beurteilung nützlich sein kann, wie in Perkams, Practical Reason and Normativity, 163 gezeigt. Aber auch dann bleibt aus meiner aktuellen Sicht eher die korrekte Beurteilung des Einzelfalls als die Befolgung der Regel der Grund dafür, dass richtig gehandelt wird.

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Der moralische Partikularismus bei Thomas und die kognitive Rolle der Tugenden

Theorie nur ein begrenzt nützliches Kriterium, um Handlungen zu beurteilen, da sie letztlich der Urteilskraft des Einzelnen, insbesondere wenn dieser ein tugendhafter Mensch ist, nachgeordnet sind. Allerdings zeigt die bei Thomas augenfällige Spannung zwischen dem partikularistischen Rahmen, in dem das Leben und die Entscheidungen jeder einzelnen Person im ewigen Gesetz vorgestaltet sind, und den konkreten menschlichen Lebensvollzügen, in denen jeder Mensch grundsätzlich auf die allgemeine Perspektive der Gemeinschaft verpflichtet ist, die sich in gesetzlichen Regeln äußert, wie eng generalistische und partikularistische Züge in einer differenzierten philosophischen Ethik miteinander verknüpft sein können – entsprechend dem Gedanken, dass auch ein partikuläres Urteil die Einzelsituation immer in der Perspektive größerer Zusammenhänge sehen muss, um sie richtig beurteilen zu können. Dies betrifft zunächst den Zusammenhang des Lebens und der Überzeugungen einer konkreten Person, aber auch weitere Annahmen wie etwa die Interessen anderer Beteiligter, die unter anderem anhand eines gemeinsamen Maßstabs gegeneinander abgewogen werden müssen, selbst wenn dieser in jedem Fall neu zu justieren ist. Insofern ist die Frage, ob eine Position im Ganzen generalistisch oder partikularistisch ist, vielleicht weniger relevant als diejenige nach der genauen Verknüpfung von Einzelfallurteilen und Regeln – denn so attraktiv Thomas’ Position auch aus der Sicht eines heutigen Individualismus scheinen mag, stellt sich doch die Frage, ob nicht zumindest die Verbote bestimmter Typen von in sich schlechten Handlungen noch klarer gegen die Ausnahmefälle abzugrenzen sind, in denen ein Abweichen von ihnen erlaubt ist.

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Kathi Beier

Die Tugendethik des Thomas von Aquin: philosophisch oder theologisch, christlich oder universal?

1. Einleitung Zu Beginn der Einleitung in sein 2006 erschienenes Buch Christliche Philosophie vertritt Theo Kobusch drei Thesen. Die erste These lautet, dass die Debatte um Sinn oder Unsinn des Begriffs einer »christlichen Philosophie« vorüber sei: [U]m die christliche Philosophie ist es – weltweit – still geworden. Erst wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Frage nach der Möglichkeit einer christlichen Philosophie während der letzten zwei Jahrhunderte die Philosophie geradezu in Atem hielt, wird man ermessen können, wie still es um sie geworden ist.1

Die zweite These besteht in einer historischen Feststellung. Das, was man »das Problem der christlichen Philosophie« nennen kann, also die erbitterten Kontroversen um das Verhältnis von Philosophie und Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, ist, so Kobusch, »offenkundig ein Problem, das erst nach der Trennung von Philosophie und Theologie im 13. Jahrhundert entstehen konnte«. Kobusch schreibt: Was als Errungenschaft des 13. Jahrhunderts gilt – nicht zuletzt dank des Werkes des Thomas von Aquin –, nämlich die strikte, durch die aristotelische Wissenschaftslehre ermöglichte Trennung von Philosophie und Theologie, das wird von É. Gilson, J. Maritain und anderen wieder zusammenzudenken versucht, indem einzelne Lehrstücke wie die von der Schöpfung aus Nichts oder der menschlichen Freiheit als aus dem Christentum stammende, integrierende Bestandteile der Phi-

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Theo Kobusch, Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006, 12.

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Die Tugendethik des Thomas von Aquin

losophie aufgewiesen werden. Wie diese Konzeption die Unterscheidung, ja Trennung von Philosophie und Theologie schon voraussetzt, so auch die ablehnende Haltung gegenüber dieser Vorstellung von christlicher Philosophie, die durch so berühmte Namen wie L. Feuerbach, M. Scheler, M. Heidegger, É. Bréhier und die protestantische Theologie (K. Barth und andere) repräsentiert ist.2

Die dritte These schließlich folgt aus der zweiten. Der »ursprüngliche Sinn« des Ausdrucks ›christliche Philosophie‹ wurde Kobusch zufolge bei den Kirchenvätern geprägt: Was christliche Philosophie wirklich und ursprünglich ist, können wir nicht vom 19. oder 20. Jahrhundert erfahren, auch nicht aus den Texten des Thomas von Aquin und der scholastischen Philosophie. Die christliche Philosophie ist die Philosophie der Kirchenväter. Deswegen muss, wenn man wissen will, was es mit der christlichen Philosophie auf sich hat, hinter die Distinktion von Philosophie und Theologie zurück- und auf das Denken der Kirchenväter eingegangen werden.3

Im Folgenden werde ich mich nicht mit dieser dritten These beschäftigen; ich werde also auch nicht weiter auf Kobuschs Buch eingehen, dessen Ziel es ist zu zeigen, dass die Entdeckung des »inneren Menschen« und damit der Subjektivität als eigenes Thema der Philosophie auf das frühe Christentum und die Kirchenväter zurückgeht. Auch die zweite These scheint mir evident zu sein und folglich wenig diskutabel. Aus ihr folgt, dass die Frage, ob Thomas von Aquin ein Philosoph oder ein Theologe war und ob seine Lehre als Beitrag zur Philosophie oder zur Theologie verstanden werden muss, anachronistisch ist. Die Philosophie hat sich als eigenständige Disziplin erst im Laufe des 13. Jahrhunderts von der Theologie gelöst.4 Thomas war zweifellos beides, Theologe und Philosoph – und zwar im damaligen und im heutigen Verständnis beider wissenschaftlicher Disziplinen. Vor allem aber war er der Ansicht, dass man nur dann

2

Kobusch, Christliche Philosophie, 12. Kobusch, Christliche Philosophie, 12f. 4 Zu dieser historischen Entwicklung und ihrer Deutung vgl. u.ௗa. Fernand van Steenberghen, The Philosophical Movement in the 13th Century, Edinburgh 1955; Georg Wieland, Ethica – Scientia practica. Die Anfänge der philosophischen Ethik im 13. Jahrhundert, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, Neue Folge, Bd. 21, Münster 1981. 3

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ein guter Theologe sein kann, wenn man ein guter Philosoph ist.5 Die erste Alternative im Titel meines Beitrages ist also eine Scheinalternative. Die folgenden Überlegungen haben mit Kobuschs erster These zu tun. Nach meinem Eindruck ist sie so nicht bzw. nicht mehr richtig. Der Streit um die christliche Philosophie kocht vielmehr unter anderem Namen und auf kleinerer Flamme wieder auf. Es ist ein Streit auf kleinerer Flamme, weil das Verhältnis von Philosophie und Theologie, d.ௗh. von Erkenntnis aus natürlicher Vernunft oder Offenbarungswahrheiten, nicht in seiner ganzen Breite, sondern nur mit Blick auf die Ethik des Thomas von Aquin diskutiert wird. Und es ist ein Streit unter anderem Namen, weil es nun um die Frage geht, wie aristotelisch Thomas’ Tugendlehre ist. Doch es ist derselbe Streit. Denn wie in der »alten Debatte« dreht sich alles um das Verhältnis von Natur und Gnade bzw. Vernunft und Glaube. Und wie in der »alten Debatte« streiten auch jetzt wieder die Philosophen untereinander, auch wenn einige von ihnen zugleich Priester sind. Protagonisten der »neuen Debatte« sind Eleonore Stump von der University of St. Louis (USA) und Andrew Pinsent von der Oxford University (UK). Beide versuchen, gegen das, was sie für einen Gemeinplatz in der Thomas-Forschung halten – vertreten u.ௗa. von Ralph McInerny und Anthony Kenny –, zu zeigen, dass Thomas’ Tugendethik grundsätzlich nicht-aristotelisch sei. Ich will die Argumente, die sie dafür vorbringen, im Einzelnen durchgehen und diskutieren. Es sind drei: das Definitionsargument (Abschnitt 2), das, was man als das Infusionsargument bezeichnen kann (Abschnitt 3), und das Argument aus der VDBF-Struktur, d.ௗh. des Netzwerkes aus Tugend (virtus), Gabe (donum), Seligkeit (beatitudo) und Frucht (fructus), das Thomas hervorhebt (Abschnitt 4). Mein Hauptanliegen ist es, die Schwächen dieser Argumente aufzuzeigen. Am Schluss gehe ich der Frage nach, was hinter diesem neuen Streit um die christliche Philosophie stecken könnte.

5 Vgl. dazu Jan A. Aertsen, »Aquinas’s philosophy in its historical setting«, in: Norman Kretzmann / Eleonore Stump (Hg.), The Cambridge Companion to Aquinas, Cambridge 1993, 12–37, 35: »Aquinas is a theologian by profession. It is, however, not the professional philosophers of the thirteenth century, but the theologian Thomas Aquinas who belongs among the outstanding figures in the history of philosophy.«

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2. Das Definitionsargument Das Argument nimmt Bezug auf Thomas’ Begriffsbestimmung der Tugend. In der Summa Theologiae I–II, q. 55, a. 4 greift Thomas im ersten Einwand die von ihm als »gewöhnlich« (conveniens) bezeichnete Bestimmung auf. Er entnimmt sie dem Sentenzenkommentar des Petrus Lombardus, sagt aber im Sed contra, dass sie aus den Worten des Heiligen Augustinus zusammengestellt sei. Die Definition lautet: »Tugend ist eine gute Qualität des Geistes, durch die man recht lebt, die niemand schlecht gebraucht, die Gott in uns ohne uns bewirkt.«6 In seiner Antwort rechtfertigt Thomas diese Definition in allen ihren Teilen.7 Er schreibt, »dass diese Definition vollkommen das ganze Wesen der Tugend erfasst. Das vollkommene Wesen eines jeden Dinges ergibt sich nämlich aus allen seinen Ursachen. Die oben gegebene Definition umfasst aber alle Ursachen der Tugend.«8 Für Andrew Pinsent stellt allein schon die Tatsache, dass sich Thomas hier bei Petrus Lombardus und Augustinus bedient, einen Beleg für den nicht-aristotelischen Charakter seiner Ethik dar.9 Schwerer wiegt für ihn wie für Eleonore Stump allerdings der letzte Teil der Definition. Weil Thomas darin die göttliche Gnade zur Bedingung der Tugend mache, Aristoteles jedoch die Tugend als eine durch eigenes Tätigsein erworbene Qualität betrachte, sei offensichtlich, dass der Begriff der Tugend bei Thomas mit dem von Aristoteles nichts gemein habe. In diesem Sinne heißt es bei Stump: »Aquinas

6 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 4, arg. 1: Virtus est bona qualitas mentis, qua recte vivitur, qua nullus male utitur, quam Deus in nobis sine nobis operatur. (Die Passagen aus der STh, die im vorliegenden Band enthalten sind, zitiere ich nach dieser Übersetzung. Für alle anderen Zitate übernehme ich die Übersetzung der Deutschen Thomas-Ausgabe, passe diese aber stillschweigend an, wo es mir geraten erscheint.) 7 Vgl. zu dieser Definition auch die Ausführungen von Markus Enders in Abschnitt 2.3 seines Beitrages im vorliegenden Band. 8 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 4, r.: Respondeo dicendum quod ista definitio perfecte complectitur totam rationem virtutis. Perfecta enim ratio uniuscuiusque rei colligitur ex omnibus causis eius. Comprehendit autem praedicta definitio omnes causas virtutis. 9 Vgl. Andrew Pinsent, »The Gifts and Fruits of the Holy Spirit«, in: Brian Davies / Eleonore Stump (Hg.), The Oxford Handbook of Aquinas, Oxford 2012, 475–488, 483 (Fußnote 2), sowie ders., The Second-Person Perspective in Aquinas’s Ethics: Virtues and Gifts, New York 2012, 12f.

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recognizes the Aristotelian virtues, but he thinks that they are not real virtues.«10 Pinsent formuliert es so: [T]he general approach of much Thomistic scholarship has been to view Aquinas’s treatise as following an Aristotelian framework with certain extrinsic additions. […] The principal motivation for doubting the continued validity of this approach is a growing recognition of the differences between Aristotle and Aquinas regarding what is meant by ›virtue‹ in the proper sense.11

Doch die Schlussfolgerung, die Stump und Pinsent ziehen, ist aus zwei Gründen nicht überzeugend. Erstens spielt Aristoteles im Hintergrund die maßgebliche Rolle. Denn mag die gewöhnliche Definition der Tugend auch aus den Worten des Augustinus zusammengestellt sein, so beruht sie doch vollständig auf aristotelischem Denken, wie Thomas’ Durchgang durch die Ursachen der Tugend zeigt. Es sind nämlich nicht nur die von Aristoteles eingeführten vier Ursachen, die Thomas hier analog anwendet, sondern diese werden auch ganz im Sinne des aristotelischen Tugendverständnisses erläutert. Das zeigt ein kurzer Durchgang: i) Die Formulierung »bona qualitas« gibt Thomas zufolge die causa formalis der Tugend an, da sie Gattung und Artunterschied benenne. Das Genus der Tugend ist die Qualität, denn eine Tugend beschreibt, wie eine Person beschaffen ist. Doch Thomas ist begrifflich noch präziser als seine Vorgänger Augustinus und Petrus Lombardus. Da Qualität nämlich nicht die nächste Gattung (genus propinquum) der Tugend sei, sondern die Tugend zunächst unter das Genus habitus falle, d.ௗh. eine Haltung bzw. eine schwer veränderliche Disposition sei, und erst der habitus seinerseits zur Gattung der Qualität gehöre, könne und müsse die Begriffsbestimmung in dieser Hinsicht geändert werden zu: »Virtus est bonus habitus …«. Das entspricht in vollem Umfang der aristotelischen Gattungsbestimmung, der zufolge jede Tugend eine hexis ist und damit zur ersten der vier Bedeutungen bzw. Arten von Qualität gehört, die Aristoteles in den Kategorien unter-

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Eleonore Stump, »The non-Aristotelian character of Aquinas’s Ethics: Aquinas on the passions«, in: Faith and Philosophy 28.1 (2011), 29–43, hier 31, sowie dies., »True virtue and the role of love in the ethics of Aquinas«, in: Harm Goris / Lambert Hendriks / Henk Schoot (Hg.), Faith, Hope, and Love: Thomas Aquinas on Living by the Theological Virtues, Leuven 2015, 7–24, hier 9. 11 Pinsent, Gifts and Fruits, 475.

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scheidet.12 Anders als die Laster, so sind sich Aristoteles, Augustinus und Thomas einig, sind Tugenden gute Habitus. ii) Da die Tugend keine Substanz ist, sondern als Qualität zu den Akzidenzien gehört, so Thomas weiter, kann sie keinen Stoff bzw. keine Materie haben, ›aus der‹ (ex qua) sie besteht. Die causa materialis der Tugend im allgemeinen Sinne müsse daher als Stoff ›in qua‹ verstanden werden, d.ௗh. im Sinne des Trägers (subiectum) der Tugend. Das ist nicht der Leib bzw. Körper eines Menschen, sondern die Seele bzw. der Geist (mens). Auch diese Bestimmung stimmt völlig mit der des Aristoteles überein.13 iii) Nun wollen Menschen sich die Tugenden nicht aneignen, um sie zu besitzen, sondern um gut zu handeln. Die dem habitus entsprechende Handlung bzw. die ihm gemäße Tätigkeit (operatio) ist also die causa finalis der Tugend. Doch auch hier gilt es genauer zu unterscheiden, so Thomas. Denn zu den habitūs operativi gehören einerseits auch die Laster (vitii) und andererseits die Meinung (opinio). Laster verursachten allein schlechte Tätigkeiten; die Meinung wiederum, die sich auf Wahres und Falsches erstrecken kann, verursache sowohl Gutes als auch Schlechtes. Der zweite und dritte Teil der Tugenddefinition mache daher klar, was die Tugend von beiden unterscheidet. Im Gegensatz zu den Lastern sei sie ein habitus, kraft dessen man gut handelt und recht lebt, und im Gegensatz zur Meinung bewirke sie, dass niemand sie schlecht gebraucht. Auch damit bewegt sich Thomas vollständig auf aristotelischem Boden. iv) Der Dissens, den Stump und Pinsent zwischen Aristoteles’ und Thomas’ Tugendverständnis ausmachen, bezieht sich deshalb allein auf den letzten Teilsatz der Definition.14 Er benennt Thomas zufolge die causa efficiens der Tugend. Doch die Art, wie Thomas diesen Teilsatz versteht, liefert den zweiten Grund dafür, die Schlussfolgerung von Stump und Pinsent für voreilig zu halten. Bei der Erläuterung dieser Klausel geht Thomas nämlich sehr differenziert vor. Er sagt zuerst, dass die Begriffsbestimmung nur die Wirkursache der eingegossenen Tugend (virtus infusa) angibt. Thomas’ 12 Vgl. Aristoteles, Cat. 8 b 24ff. Vgl. zur hexis bzw. zum habitus auch die Ausführungen von Andrés Quero-Sánchez in den Abschnitten 2–4 seines Beitrages im vorliegenden Band. 13 Vgl. Aristoteles, EN I 13, 1102 a 16. 14 Vgl. Stump, Non-Aristotelian Character, 31–33, und Pinsent, Second-Person Perspective, 13.

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Tugendlehre umfasst bekanntermaßen beide Arten von Tugend, die durch eigenes Handeln erworbene (virtus acquisita) sowie die durch Gottes Gnade geschenkte, mithin eingegossene Tugend. Dazu im nächsten Abschnitt mehr. Der letzte Teil der Definition, so Thomas, beziehe sich allein auf letztere. Daher erklärt er: »Wenn man diesen Teil entfernen würde, wäre der Rest der Definition allen Tugenden gemeinsam, sowohl den erworbenen als auch den eingegossenen.«15 Während die ersten Teile der Definition von beiden genannten Arten der Tugend gleichermaßen gelten, bezieht sich der letzte Teil nur auf die eingegossene Tugend. Deshalb wiederholt Thomas später auch noch einmal: »Und so hat Augustinus, da er bei der Definition diese Tugend im Auge hatte, in die Definition der Tugend aufgenommen: ›die Gott in uns ohne uns bewirkt‹.«16 Thomas verteidigt also die herkömmliche Begriffsbestimmung der Tugend als die bestmögliche, da sie erstens – ganz im Sinne des Aristoteles – alle Ursachen der Tugend anspricht, zweitens – ebenfalls in einem ganz aristotelischen Sinne – mit Blick auf Form-, Stoff- und Zielursache von der Tugend allgemein gilt, d.ௗh. gleichermaßen für die erworbene wie für die eingegossene Tugend, und da es drittens gar nicht möglich ist, eine Begriffsbestimmung zu geben, die die gleiche Wirkursache für die erworbenen wie für die eingegossenen Tugenden anführt. Nur weil Stump und Pinsent die differenzierte Argumentationsweise des Thomas, mit der er den letzten Teil seiner Tugenddefinition erläutert, übergehen, können sie schließen, dass Thomas die erworbenen Tugenden überhaupt nicht als »echte« (real) oder »wahre« (true) Tugenden betrachten würde. Das aber entspricht nicht nur nicht dem Geist der Tugendbestimmung des Thomas, wie gerade gezeigt; es entspricht auch nicht ihrem Buchstaben. Denn an vielen Stellen bezeichnet Thomas die erworbenen Tugenden jeweils als »virtus vera«, auch wenn er hinzufügt: »sed imperfecta«. Das heißt jedoch nur, dass diese Tugenden den Menschen lediglich auf das an der menschlichen Vernunft Maß nehmende gute Leben ausrichten, also auf die felicitas, die Thomas als beatitudo imperfecta bezeichnet. Auf die Glückseligkeit dagegen, die Maß an Gott nimmt, also auf die 15 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 4, r.: Quae quidem particula si auferatur, reliquum definitionis erit commune omnibus virtutibus, et acquisitis et infusis. 16 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 63, a. 2, r.: Et ideo, huiusmodi virtutem definiens, Augustinus posuit in definitione virtutis: ›quam Deus in nobis sine nobis operatur‹. Vgl. auch Thomas von Aquin, De virt., q. 1, a. 2, r., wo er ebenfalls betont, dass das Genannte auch dann die Definition der Tugend sei, wenn man den letzten Teil weglasse.

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beatitudo perfecta, wird der Mensch auf direkte Weise durch die drei göttlichen und auf indirekte Weise durch die eingegossenen Tugenden ausgerichtet. Wenn Thomas in STh I–II, q. 65, a. 2 die eingegossenen Tugenden virtutes simpliciter nennt und die erworbenen virtutes secundum quid, dann tut er das mit Bezug auf diese zwei Formen des Glücks. Doch daraus folgt nicht, dass die erworbenen Tugenden keine echten Tugenden im Sinne der erläuterten Tugenddefinition wären. Wären sie es nicht, gäbe es also zwei verschiedene Gattungen von Tugend mit je eigener Definition, wäre der Tugendbegriff des Thomas äquivok. Doch das ist er nicht; erworbene und eingegossene Tugenden sind vielmehr, wie Thomas in STh I–II, q. 63, a. 4 ausführt, zwei Arten desselben Genus.

3. Das Infusionsargument Dieses Argument knüpft an das erste unmittelbar an, denn es nimmt das Verhältnis von erworbenen und eingegossenen Tugenden in den Blick. Um es zu verstehen, ist ein Hinweis auf die komplexe Systematik der Tugenden in Thomas’ Ethik hilfreich. Thomas nimmt die Unterscheidung von Tugendarten anhand vier unterschiedlicher Gesichtspunkte vor. Mit Blick auf die Seelenvermögen, d.ௗh. den Träger (subiectum) der Tugend, differenziert er wie Aristoteles zunächst zwischen den ethischen bzw. moralischen und den intellektuellen bzw. Verstandestugenden (virtutes morales / intellectuales). Erstere richten die sinnlich strebenden Vermögen der menschlichen Seele zum Guten hin aus und werden von Thomas auf die vier Kardinaltugenden zurückgeführt, also auf Klugheit (prudentia), Gerechtigkeit (iustitia), Tapferkeit (fortitudo) und Mäßigkeit (temperantia). Letztere sind die Tugenden, durch die die rationalen Vermögen, also Verstand und Vernunft, am Guten ausgerichtet werden. Eine zweite Unterscheidung erfolgt danach, wie die Tugenden zustande kommen. Die erworbene Tugend (virtus acquisita) entsteht durch eigenes Handeln und Habitualisierung, die eingegossene Tugend (virtus infusa) allein durch Gottes Wirken im Menschen. Eine dritte Unterscheidung ist die zwischen den natürlichen und den übernatürlichen Tugenden (virtutes naturales / supernaturales).17 17

Vgl. etwa Thomas von Aquin, STh I–II, q. 68, a. 2.

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Der Maßstab hierfür ist weder der Träger noch die Wirkursache der Tugend, sondern das letzte Ziel bzw. höchste Gut, zu dem uns die Tugenden befähigen. Das ist einerseits das unvollkommene Glück der felicitas,18 andererseits das vollkommene Glück der beatitudo, das in der Schau Gottes als Bürger des himmlischen Jerusalem besteht. Dieses Glück ist nur durch Gottes Gnade möglich. Schließlich unterscheidet Thomas auch noch die vier schon erwähnten Kardinaltugenden (virtutes cardinales) von den drei so genannten theologischen bzw. göttlichen Tugenden (virtutes theologicae). Die Tugenden des Glaubens (fides), der Hoffnung (spes) und der Liebe (caritas) können deshalb als göttliche bezeichnet werden, weil sie, wie Thomas in STh I–II, q. 62, a. 1 erläutert, erstens Gott zum Gegenstand haben, da der Mensch durch sie auf Gott ausgerichtet wird, sie zweitens dem Menschen allein durch Gottes Gnade geschenkt werden, und wir sie drittens nur durch göttliche Offenbarung kennen.19 Eine besondere Herausforderung der Ethik des Thomas besteht nun darin, dass er bestimmte Kombinationen von Arten der Tugend zulässt. Während etwa Heinrich von Gent oder Duns Scotus später schlicht zwischen erworbenen und theologischen Tugenden unterscheiden, wobei eine Tugend entweder das eine oder das andere sei, führt Thomas in STh I–II, q. 63, a. 3 aus, dass die ethischen Tugenden und die Klugheit sowohl als erworbene als auch als eingegossene Tugenden im Menschen vorhanden sein können.20 Denn mit den theologischen Tugenden, erklärt er dort, müsse der Mensch zugleich auch aller eingegossenen Kardinaltugenden teilhaftig werden, weil Glaube, Hoffnung und Liebe zwar ausreichend auf die beatitudo ausrichteten, die menschliche Seele aber in allen Bereichen der Vervollkommnung mit Blick auf dieses Ziel bedürfe. Stephan Ernst drückt diesen Gedanken mithilfe des folgenden Bildes aus: »Die theologischen Tugenden stellen nicht ein zum sonstigen Leben des Menschen beziehungsloses ›zweites Stockwerk‹ dar, sondern durchformen das ganze Leben des Menschen auf sein vollkommenes Glück als seine

18

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 3, a. 2, ad 4 und q. 5, a. 3. Eine hilfreiche Erläuterung der Unterscheidung aller genannten Tugendarten bietet William C. Mattison III, »Thomas’s categorizations of virtue: Historical background and contemporary significance«, in: The Thomist 74.2 (2010), 189–235. 20 Vgl. dazu Bonnie Kent, »Habits and virtues (IaIIae, 49–70)«, in: Stephen J. Pope (Hg.), The ethics of Aquinas, Washington, D.C. 2002, 116–130, hier besonders 126. 19

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Die Tugendethik des Thomas von Aquin

letzte Zielbestimmung hin.«21 Umgekehrt ist es so, dass Thomas zufolge ein Mensch nur dann eine eingegossene Tugend haben könne, wenn er auch die theologische und übernatürliche Tugend der Liebe (caritas) besitze.22 Im Kern unterscheidet Thomas also drei Gattungen (tria genera) von Tugend: theologische, intellektuelle und moralische (vgl. STh I–II, q. 58, a. 3; q. 62, a. 1; q. 68, a. 8), wobei unter die beiden letzten mit Blick auf das Ziel je zwei Arten fallen, nämlich die erworbenen und die eingegossenen Tugenden (vgl. STh I–II, q. 63, a. 4). Es ist klar, dass Aristoteles weder eingegossene noch theologische Tugenden kennt; er war kein Christ. Das allein ist aber noch kein Beleg für die nicht-aristotelische Natur der Tugendlehre des Thomas. Stump und Pinsent stützen ihren Schluss deshalb auf die Behauptung, dass es Thomas in allen 170 Fragen der Secunda Secundae der Summa Theologiae, also dem so genannten Herzstück seiner Tugendethik, allein um die eingegossenen Tugenden ginge. So schreibt Pinsent: »[T]hese virtues are, by default, infused dispositions, unless Aquinas makes it clear in specific cases that they are acquired.«23 Und bei Stump heißt es: »Although Aquinas certainly recognizes a role for reason in the ethical life, the virtues around which his ethics is based are the virtues infused by God.«24 Es gibt für diese Behauptung bzw. Annahme allerdings keinerlei textlichen Beleg. Sie ist reine Unterstellung. Mehr noch, es spricht viel dafür, dass das Gegenteil wahr ist, denn Thomas macht es explizit deutlich, wenn er etwa über die eingegossene Form der Tapferkeit 21

Stephan Ernst, »Theologische Ethik«, in: Volker Leppin (Hg.), Thomas Handbuch, Tübingen 2016, 375–383, hier 379. Dass dem Menschen von Gott mitunter auch die Kardinaltugenden, die doch durch natürliche Kräfte verursacht werden können, eingegossen werden, betont und begründet Thomas in STh I–II, q. 51, a. 4. Zur Frage, ob die theologischen Tugenden auch schon zur Erreichung der felicitas nötig sind, vgl. die Beiträge von Markus Enders (Abschnitt 2.6.1) und Marko J. Fuchs (Abschnitt 2.2) im vorliegenden Band. 22 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 65, a. 2, und STh II–II, q. 23, a. 7. 23 Andrew Pinsent, »Aquinas: Infused Virtues«, in: Lorraine Besser-Jones / Michael Slote (Hg.), The Routledge Companion to Virtue Ethics, New York 2015, 141–153, hier 145 (Hervorhebung im Original). 24 Stump, True virtue, 14. Vgl. ebenso Stump, Non-Aristotelian character, 33f., sowie Pinsent, Gifts and Fruits, 476; Second-Person Perspective, 14–22. In jüngster Zeit hat sich auch Angela MacKay Knobel für eine solche Deutung ausgesprochen, vgl. Angela MacKay Knobel, »Two Theories of Christian Virtue«, in: American Catholic Philosophical Quarterly 84.3 (2010), 599–618, sowie dies., Aquinas and the infused moral virtues, Cambridge 2021.

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oder der Mäßigkeit spricht. Beim (unvoreingenommenen) Lesen der Secunda Secundae drängt sich eher ein ganz anderer Eindruck als der von Stump und Pinsent auf. Rudi te Velde beschreibt ihn am Beispiel der ethischen Tugend der Geduld (patientia) als Teil der Tapferkeit (fortitudo) so: The fact that Thomas speaks of an infused version of patience, in a specific Christian context, does not make the subject of the entire treatment of fortitudo to be the infused version of fortitude. It is about fortitude and its parts; and in some specific contexts, under the influence of charity, one can have an infused version of fortitude, for instance in the case of the virtue of martyrdom.25

Das Gleiche gilt für Mäßigkeit und Gerechtigkeit und den ihnen zuund untergeordneten Tugenden, von denen in STh II–II die Rede ist.

4. Das Argument aus der VDBF-Struktur Dieses Argument macht darauf aufmerksam, dass die Tugendlehre des Thomas neben den der aristotelischen Tugendethik fremden eingegossenen und theologischen Tugenden (virtutes) auch noch Gaben (dona), Seligkeiten (beatitudines) und Früchte (fructus) des Heiligen Geistes kennt. Thomas widmet sich ihnen nacheinander in STh I–II, qq. 68–70, denn sie tragen ihm zufolge zur Erlangung des vollkommenen Glücks wesentlich bei bzw. machen dieses mit aus.26 Pinsent spricht im Englischen deshalb vom ›VGBF network‹ der moralischen Vollkommenheit des Menschen (virtues‚ gifts‚ beatitudes, fruits).27 So wird beispielsweise die Tugend der Liebe (caritas) bei Thomas durch die Gabe der Weisheit (sapientia) vollendet, die die liebende Person zum richtigen Urteilen im Sinne Gottes befähigt (vgl. ST II–II, 25 Rudi te Velde, »The Hybrid Character of the Infused Moral Virtue According to Thomas Aquinas«, in: Goris / Hendriks / Schoot (Hg.), Faith, Hope and Love, 25–43, hier 42. 26 Schon in der Einleitung zur Frage über das Wesen der Tugend (STh I–II, q. 55, prooem.) weist Thomas darauf hin, dass die Gaben, Seligkeiten und Früchte mit den Tugenden »verbunden« (adiuncta) seien. 27 Vgl. Pinsent, Gifts and Fruits; Second-Person Perspective, 23–28; Infused virtues, 147–150; sowie ders., »Aquinas and the Nicomachean Ethics: A review«, in: Notre Dame Philosophical Reviews 2014.06.19., 3. Diese Redeweise übernimmt u.ௗa. Anton Ten Klooster, Thomas Aquinas on the beatitudes: Reading Matthew, disputing grace and virtue, preaching happiness, Leuven 2018.

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q. 45); die dazugehörige Seligkeit ist das Friedenstiften (pacificum), die Frucht der Frieden. Stumps und Pinsents Interpretation zufolge sorge dieses Netzwerk dafür, dass eine tugendhafte Person zu einer ganz bestimmten Haltung (stance) den Gegenständen im Feld einer Tugend gegenüber disponiert werde, genauer: sie partizipiere an der Sichtweise Gottes darauf. Pinsent zufolge führe die Einbeziehung der Gaben, Seligkeiten und Früchte in die Betrachtung der Tugendethik des Thomas beispielsweise zu einer ganz neuen Interpretation von Thomas’ Verständnis der Nächstenliebe. Gemäß der herkömmlichen Sichtweise – der etwa auch Marko Fuchs anhänge28 – erscheine die Nächstenliebe »kalt« und »abgeklärt« (detached), denn man liebe Gott zwar um seiner selbst willen, den Nächsten aber nur, insofern auch er in Gott ist bzw. Gott in ihm ist oder damit in ihm Gott sei, wie Thomas es in STh II–II, q. 25, a. 1, r. sowie in De virt., q. 2, a. 4, r. ausdrückt.29 Für Pinsent heißt das, dass man in dieser Sichtweise den Nächsten gerade nicht um seiner selbst willen liebe. Würde man dagegen stärker auf die VDBF-Struktur achten, so sein Argument, dann könne man die Nächstenliebe bei Thomas als eine triadische Beziehung verstehen, wie wir sie aus den Forschungen zur ›joint attention‹ kennen: gemeinsam mit und gewissermaßen durch die Augen einer geliebten Person falle der Blick auf einen Dritten. Deshalb spricht Pinsent auch von der »second-person perspective«, die für die Ethik des Thomas charakteristisch sei.30 Wer den Nächsten liebe, so Pinsents Interpretation, werde auf nicht-erzwungene Weise durch Gott dazu bewegt, mit Gott diejenigen um ihrer selbst willen zu lieben, die Gott liebt. Auf ganz ähnliche Weise verändere die Gabe des Wissens (scientia) die Haltung zur Wahrheit und erscheine die Tugend der Mäßigkeit in einem neuen Licht.31 Durch das Netzwerk aus Tugenden, Gaben, Seligkeiten und Früchten – wie auch immer man es interpretiert – unterscheidet sich 28 Vgl. Marko J. Fuchs, »Philia and caritas: Some aspects of Aquinas‫ތ‬s reception of Aristotle’s theory of friendship«, in: Tobias Hoffmann / Jörn Müller / Matthias Perkams (Hg.), Aquinas and the Nicomachean Ethics, Cambridge 2013, 203–219. 29 Vgl. Pinsent, Aquinas and the Nicomachean Ethics, 3. 30 Vgl. Pinsent, Second-Person Perspective, 41–63. 31 Vgl. dazu Pinsent, Infused virtues, 148, sowie ders., »The Non-Aristotelian Virtue of Truth from the Second-Person Perspective«, in: European Journal for Philosophy of Religion 5.4 (2013), 87–104, und »Temperance and the Second-Person Perspective«, in: European Journal for Philosophy of Religion 12.3 (2020), 101–115.

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Thomas’ Tugendlehre in der Tat von der des Aristoteles, der weder die Aufzählung der sieben Gaben des Heiligen Geistes in Jesaja 11 kannte noch die acht Seligpreisungen bei Matthäus 5,3 und auch nicht die Früchte, von denen der Apostel Paulus im Brief an die Galater spricht. Doch wie entscheidend ist dieser Unterschied? Einerseits macht Pinsent selbst darauf aufmerksam, dass Thomas nur einen relativ geringen Anteil seiner tugendethischen Überlegungen den Gaben, Seligkeiten und Früchten widmet, nämlich von allen Artikeln zur Tugend in der Prima und der Secunda Secundae der Summa Theologiae weniger als sieben Prozent.32 Andererseits fällt in Thomas’ Ausführungen zu diesen genuin christlichen Elementen seiner Morallehre ein deutliches Primat der Tugenden ins Auge. So versteht Thomas die Seligkeiten und Früchte als Akte (actus) bzw. Tätigkeiten (operationes), die aus den habitus der Tugenden und Gaben hervorgehen.33 Die Gaben wiederum sind für ihn »Erweiterungen« (derivationes) der drei theologischen Tugenden, die er ihrerseits als »Wurzeln« (radices) der Gaben bezeichnet.34 Letztlich hängen die Gaben, Seligkeiten und Früchte also an den göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe, wobei die Gaben dem Menschen von Gott als Unterstützung dieser Tugenden geschenkt werden. Insofern die Gaben die theologischen Tugenden bloß unterstützen, sagt Thomas auch, dass die theologischen Tugenden vollkommener als die Gaben seien, die Gaben allerdings vollkommener als die Kardinaltugenden.35 Das entscheidende Argument gegen den Einwand von Pinsent besteht meiner Meinung nach jedoch in Thomas’ These, dass es in der Ordnung des Entstehens bzw. Vorbereitens (ordo generationis seu dispositionis) umgekehrt sei. Mit Blick auf diese Ordnung, so Thomas, gehen die Kardinaltugenden den Gaben nämlich voraus: Und so gehen die moralischen und intellektuellen Tugenden den Gaben voraus. Denn dadurch, dass der Mensch sich der eigenen Vernunft

32 33 34 35

Vgl. Pinsent, Second-Person Perspective, 25; Infused virtues, 147. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 69, aa. 1–2; q. 70, a. 1, r. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 68, a. 4, ad 3. Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 68, a. 8, r.

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gegenüber gut verhält, wird er darauf ausgerichtet, sich Gott gegenüber gut zu verhalten.36

Es sind solche Stellen bei Thomas, die Stump und Pinsent unerwähnt lassen. Bezieht man sie in die Interpretation ein, scheint es insgesamt unangebracht, in der Tugendethik des Thomas die Kardinaltugenden bzw. die Natur auf der einen Seite gegen die Gaben, Seligkeiten und Früchte bzw. die Gnade Gottes auf der anderen Seite auszuspielen. Denn es gilt, was Thomas nicht müde wird zu betonen: Gratia non tollit sed perficit naturam.

5. Schlussbemerkungen Was bezwecken Stump, Pinsent und ihre Anhänger mit der dezidiert theologischen Interpretation der Tugendlehre des Thomas und mit der Aristoteles ausschließenden Betonung der genuin christlichen Elemente seiner Ethik? Und was hat man erreicht, wenn man gezeigt hätte, dass diese Lesart wenig überzeugend, vielmehr forciert und einseitig ist? Eine mögliche Erklärung für das forsche Auftreten dieser neuen Apologeten einer christlichen Philosophie geht von der Tatsache aus, dass in der Renaissance der Tugendethik, die seit einigen Jahrzehnten unvermindert anhält, die Position des Thomas von Aquin bisher keine große Rolle spielt. Das mag an einem Vorurteil liegen, das offenbar tief verwurzelt ist und das Rolf Schönberger so beschreibt: Allzu umstandslos geht das Vorurteil aus der undiskutierten Alternative hervor, auf dem Terrain der Tugendethik sei die Konzeption des Thomas entweder nur eine unoriginelle und also letztlich vernachlässigbare Variante derjenigen des Aristoteles, oder er sei zwar durchaus eigenständig, dies aber nur auf dem Feld derjenigen Hinzufügungen, die aus dem Christentum stammen.37

Wenn man diesem Vorurteil anhängt, dann folgt ziemlich logisch: Nur indem man den nicht-aristotelischen, christlichen Charakter der 36 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 68, a. 8, ad 2: Et sic virtutes morales et intellectuales praecedunt dona: quia per hoc quod homo bene se habet circa rationem propriam, disponitur ad hoc quod se bene habeat in ordine ad Deum. 37 Rolf Schönberger, »Thomas von Aquin – neue Tugenden und alte Tugendethik?«, in: Christoph Halbig / Felix Timmermann (Hg.), Handbuch Tugend und Tugendethik, Wiesbaden 2021, 177–197, hier 179.

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thomistischen Ethik betont, indem man also zeigt, dass Thomas mehr ist als ein »getaufter Aristoteles« (wie es oft heißt), macht man seine Position für aktuelle Debatten interessant. Darin könnte durchaus das Kalkül von Stump und Pinsent bestehen. Pinsent jedenfalls gibt sich viel Mühe, sein Triangulationsverständnis der eingegossenen Tugenden als originellen Beitrag zur neuen Tugendethik in die dort laufenden Diskussionen einzubringen. Ich halte dieses Kalkül jedoch in zweifacher Hinsicht für problematisch. Das erste Problem spricht Pinsent selbst an: Die Betonung des dezidiert christlichen Charakters der Tugendlehre des Thomas könnte ihre Attraktivität für die moderne Ethik mindern.38 Das ist in der Tat eine große Gefahr. Denn der Graben zwischen Moraltheologie auf der einen Seite und philosophischer Ethik auf der anderen ist heutzutage sehr tief. Wer Thomas auf die christliche Perspektive reduziert, beraubt ihn seines universalen Anspruches und entzieht seine Überlegungen dem heutigen philosophischen Diskurs. Man überwindet diese Gefahr nicht einfach dadurch, scheint mir, dass man zu zeigen versucht, wie anschlussfähig einige von Thomas’ Überlegungen an neuere empirische Forschungen scheinbar sind. Um Thomas der modernen Tugendethik schmackhaft zu machen, muss man vielmehr seinen philosophischen Zugriff, d.ௗh. auch sein Fundament in Aristoteles herausstellen. Das zweite Problem besteht darin, dass Stump und Pinsent mit ihrem Kalkül die undiskutierte Alternative, von der Schönberger spricht, übernehmen und unterstützen. Man sollte sie stattdessen aber gründlich in Frage stellen. Denn ein Entweder-Oder – entweder Thomas ist nur der getaufte Aristoteles, dann ist er nicht originell; oder er ist originell, dann aber nur, insofern er genuin christliche Motive vertritt – wird der Ethik des Thomas einfach nicht gerecht. So wie er als Person beides war, Philosoph und Theologe, ist auch seine Tugendlehre beides, nämlich zugleich aristotelisch und christlich. Das Originelle und Beachtenswerte seiner Tugendethik besteht meiner Ansicht nach gerade in ihrem Sowohl-als-Auch. Dieses »Miteinander« von Theologie und Philosophie bzw. diese »Synthese«, wie Wolfgang Kluxen es nennt,39 sei abschließend noch etwas eingehender erläutert. 38

Vgl. Pinsent, Infused virtues, 149. Vgl. Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 3 1998, XXX. 39

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Wie bei Aristoteles ist Thomas’ Tugendlehre anthropologisch und psychologisch fundiert, geht also von der speziellen menschlichen Natur und den verschiedenen Seelenvermögen aus. Darin liegt sowohl der philosophische Kern als auch der universale Anspruch dieser Ethik begründet. Wie Aristoteles sieht Thomas die zwei Naturen des Menschen (eine, insofern er Mensch ist, und eine, insofern in ihm etwas Göttliches vorhanden ist) sowie die Fragilität des guten Lebens, für das die Tugenden notwendig, aber nicht hinreichend sind. Anders als Aristoteles deutet Thomas diese Aspekte im Lichte des Christentums aus und gelangt so zur Vorstellung der beatitudo, einer vollkommenen Glückseligkeit bei Gott und durch Gottes Gnade, und zur Annahme von den theologischen und eingegossenen Tugenden. Und das wiederum ist die Grundlage für seine ausdifferenzierte und weit über Aristoteles hinausgehende Systematik der Tugenden und Laster, also einerseits der theologischen und der Kardinaltugenden und der ihnen jeweils zu- und untergeordneten (Arten von) Tugenden, und andererseits des Systems der Todsünden und anderer Laster. Kurz gesagt: Thomas schafft es, die Theorie der Tugenden von Aristoteles in einen christlich-theologischen Rahmen einzubetten, ohne dabei den philosophischen Kern aufzugeben oder aus den Augen zu verlieren. Es ist diese Leistung, wie mir scheint, die den universalen Charakter seiner Ethik unterstreicht. Denn natürlich haben Aristoteles und Thomas in ganz unterschiedlichen Welten gelebt: politisch, kulturell, philosophisch, religiös etc. Das betonen etwa Stump und andere mit Nachdruck.40 Doch gerade die Tatsache, dass Thomas unter gänzlich anderen Umständen die Stimme des Aristoteles hört, dessen Tugendlehre aufnimmt und für seine Zeit fruchtbar macht, spricht dafür, dass das auch bis in die gegenwärtige Ethik hinein möglich ist. Es ist der Nachweis der Kontinuität mit Aristoteles, nicht der Diskontinuität, der die Tugendethik des Thomas von Aquin für die Gegenwart interessant und relevant macht.

40 Vgl. Stump, True virtue, 10f., sowie Joseph Owens, »Aristotle and Aquinas«, in: Norman Kretzmann / Eleonore Stump (Hg.), The Cambridge Companion to Aquinas, Cambridge 1993, 38–59.

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»Mit dem Spinozismus [die] größte Ähnlichkeit«? Gott und Tugend bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart

1. Einleitung: »Echtes Philosophieren« oder »stroherne Verstandesmetaphysik«? Zwei Hegelianische Perspektiven auf das mittelalterliche Denken Hegel konnte der Scholastik nur sehr bedingt etwas abgewinnen. Zwar müsse man einräumen, dass es in den Reihen der Scholastiker »edle, tiefsinnige Individuen, Gelehrte« gegeben habe; der ›allgemeine Standpunkt der Scholastiker überhaupt‹ sei Hegel zufolge indes als »eine ganz barbarische Philosophie des Verstandes« zu kennzeichnen, letztlich nur allzu passend für das Mittelalter als eine Epoche, in der »die höchste Idee und die höchste Bildung zur Barbarei geworden« seien.1 Es handle sich beim scholastischen Denken um »leere[n] Verstand«, der sich – »ohne realen Stoff, Inhalt« – in »grundlosen Verbindungen von Kategorien, Verstandesbestimmungen« herumtreibe und deshalb »für sich unbrauchbar bleiben« müsse.2 Was Hegels intellektuellen Groll gegen die Scholastik ganz besonders weckt, ist somit offenkundig nicht die verbreitete Vorstellung, im Mittelalter habe es letztlich gar keine Philosophie im eigentlichen Sinne, sondern bloß Theologie gegeben, die das philosophische Denken an die Kette christlich-religiöser Dogmen gefesselt habe. Vielmehr kritisiert er die philosophische Art und Weise, in der 1 Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Werke 19, Frankfurt a. M. 1970, 587. Die Texte Hegels werden hier zitiert nach der durch Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel besorgten zwanzigbändigen Werkausgabe bei Suhrkamp. 2 Hegel, Vorlesungen Geschichte II, 587.

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sich die Scholastiker mit ›theologischen‹ Inhalten beschäftigt haben. Näherhin attackiert Hegel eine Zwei-Welten-Theorie, in der sich seiner Auffassung nach die »gänzliche Verwirrung des Verstandes in dem Knorren der nordisch-germanischen Natur« hauptsächlich ausdrücke: Wir haben zwei Welten: ein Reich des Lebens, ein Reich des Todes. Die göttliche Welt war für die Einbildungskraft, Andacht bevölkert durch Engel, Heilige, Märtyrer; in der übersinnlichen Welt war keine Natur, keine Wirklichkeit des denkenden, allgemeinen, vernünftigen Selbstbewusstseins. In der unmittelbaren Welt, sinnlichen Natur war keine Göttlichkeit, weil sie nur das Grab des Gottes, wie der Gott außer jener. Zum göttlichen Reich, von Verstorbenen bewohnt, war nur durch den Tod zu gelangen; die natürliche Welt war ebenso tot, – belebt nur durch den Schein jener und die Hoffnung, hatte sie keine Gegenwart. Es half nicht, Mittelwesen als ein Band einzuschieben, Maria, die Heiligen, Verstorbenen in einer jenseitigen Welt. Die Versöhnung war formell, nicht an und für sich, nur Sehnsucht des Menschen, – Befriedigung nur in einer anderen Welt.3

Das scholastische Denken ist also für Hegel nicht deswegen ›für sich unbrauchbar‹, weil es sich auf den christlichen Glauben bezogen hätte, sondern vielmehr deshalb, weil es sich ganz auf den Verstand (statt die Vernunft) kapriziert hat. Dessen Wesen besteht jedoch darin, Gegensätze herauszuarbeiten und diese alsdann abstrakt und unversöhnlich festzuhalten (sinnliche vs. übersinnliche bzw. göttliche Welt, Tod vs. Leben, Sehnsucht vs. Befriedigung usw.) – ein Hiatus, der dann durch keine Projektionen der Einbildungskraft und keine Operationen mit Hilfe von Verstandesvorstellungen mehr überbrückt und ›versöhnt‹ werden kann. Letztlich handelt es sich aus Hegels Sicht hier um eine »Verweltlichung«, ein »Hineinbringen von Verstandesunterschieden und sinnlichen Verhältnissen in das, was an und für sich seiner Natur nach Geistiges, Absolutes und Unendliches ist«.4 Aus dieser Perspektive erscheint mittelalterliches Denken einerseits gleichsam als bloß historische Idiosynkrasie, eine intellektuelle Sackgasse, die »uns kein wahrhaftes Interesse« erregen kann.5 Andererseits aber gibt es da noch andere Gestalten des Mittelalters, für die Hegel vor dem Hintergrund des eben Gesagten in 3 4 5

Hegel, Vorlesungen Geschichte II, 588. Hegel, Vorlesungen Geschichte II, 583. Hegel, Vorlesungen Geschichte II, 587.

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prima facie unerwarteter Weise das höchste Lob übrighat, nämlich die sogenannten Mystiker.6 Von diesen heißt es, man finde bei ihnen – im Gegensatz zu den »eigentlichen kirchlichen Scholastikern« – ein »echtes Philosophieren«, das »bis zur Innigkeit fort[schreite]« und – dies ist im vorliegenden Zusammenhang eine besonders interessante Bemerkung – »mit dem Spinozismus die größte Ähnlichkeit« aufweise.7 Grundlage dieser Ähnlichkeit mit dem Spinozismus sei, dass die Mystiker »das Philosophieren in der Weise der neuplatonischen Philosophie fortgesetzt« hätten.8 Sie haben Hegel zufolge »auch die Moralität, Religiosität aus wahrhaften Empfindungen geschöpft und Betrachtungen, Vorschriften usf. über Philosophie in diesem Sinne gegeben.«9 Man kann also verkürzend festhalten: Ein Denken, das die Trennung des Sinnlichen und Übersinnlichen überwindet und – wie Hegel unter dem Rubrum der ›Fortsetzung neuplatonischer Philosophie‹ insinuiert – eine gewisse Einheit von Mensch und Gott visiert, erfüllt für Hegel ein Kriterium ›echten Philosophierens‹; ein Denken dagegen, das verständig nicht nur Gegensätze aufmacht, sondern auf diesen als unüberwindlichen und irreduziblen Prinzipien beharrt, als ›stroherne Verstandesmetaphysik von Kirchenscholastikern‹. Wie eben schon angedeutet, bezieht sich dieses Schema nicht nur auf metaphysische Fragen, sondern lässt sich auch für den Bereich des im weitesten Sinne moralphilosophischen Philosophierens des Mittelalters anwenden. Ebenfalls wird nochmals deutlich, dass für Hegel

6 Das Maskulinum hat hier nicht nur generische Bedeutung. Tatsächlich kennt oder versteht Hegel unter dem Rubrum ›Mystik‹ nur »einzelne edle Männer« (Hegel, Vorlesungen Geschichte II, 583; er nennt Jean Gerson, Ramon Sibiuda, Roger Bacon und Ramon Llull), ungeachtet der Tatsache, dass herausragende Vertreterinnen der mittelalterlichen Mystik Frauen wie Mechthild von Magdeburg oder Marguerite Porète waren. Meister Eckhart, der Texte der letztgenannten während seines zweiten Pariser Aufenthalts kennengelernt haben könnte, findet bei Hegel im Rahmen der Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie übrigens ebenfalls keine Erwähnung, wohl aber in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion aus dem Jahre 1824 (Begriff der Religion, 248), wo er ihm attestiert, die »Tiefe« der innersten Verbindung zwischen Mensch und Gott »auf das Innigste gefasst« zu haben. Kennengelernt hat Hegel Meister Eckhart über Franz von Baader; vgl. hierzu Ingeborg Degenhardt, Studien zum Wandel des Eckhartbildes, Studien zur Problemgeschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie III, Leiden 1967, 116. 7 Hegel, Vorlesungen Geschichte II, 583f. 8 Hegel, Vorlesungen Geschichte II, 584. 9 Hegel, Vorlesungen Geschichte II, 584.

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Gott und Tugend bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart

das Manko mittelalterlichen Philosophierens offenkundig nicht – wie in der Regel und relativ unhinterfragt im heutigen philosophischen Diskurs – darin zu sehen ist, dass dort überhaupt theologische Fragen und Inhalte, die zunächst dem Glauben zuzurechnen sind, diskutiert werden. Hegel ist bekanntlich keineswegs der Auffassung, eine Denkform sei Philosophie nur dann, wenn sie sich lediglich mit endlichen und im szientistischen Sinne empirischen, oder kurz: ›naturalistischen‹ Gegenständen beschäftige.10 Vielmehr geht es Hegel in seiner Kritik um das Wie dieser theologischen Diskussion: Die auch für ethische Problemlagen einschlägigen metaphysischen und theologischen Themen werden bei den von ihm kritisierten ›Kirchenscholastikern‹ lediglich in abstrakt-verständiger Weise und damit der Sache nach unangemessen anstatt – wie bei den ›Mystikern‹ – spekulativ-vernünftig untersucht. Im vorliegenden Aufsatz soll diese Hegelsche Unterscheidung als grober Orientierungsrahmen dienen, um in Grundzügen einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszustellen, die in der Diskussion des Begriffs der Tugend (virtus) bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart zutage treten. Insbesondere soll hierbei gefragt werden, wie diese beiden scheinbaren Hauptvertreter ›kirchlicher Scholastik‹ einerseits, der ›Mystik‹ andererseits die Tugend konzipieren, welche systematische Rolle sie in den jeweiligen Entwürfen spielt – und zwar besonders hinsichtlich ihrer Verbindung mit Gott –, und inwieweit man hier die Unterscheidung zwischen einer ›gänzlichen Verwirrung des Verstandes‹ einerseits und einem ›echten Philosophieren‹ andererseits, das sich durch ›größte Ähnlichkeit mit dem Spinozismus‹ auszeichne, auf die beiden Autoren anwenden kann. Diesen Problemen wird im Weiteren dergestalt nachgegangen, dass am Beginn der Untersuchung zunächst eine kurze Klärung der Frage stehen wird, was Hegel eigentlich mit dem ›Spinozismus‹ meint, wenn er den Mystikern ›größte Ähnlichkeit‹ mit diesem attestiert (Abschnitt 2.1). Sodann folgen zuerst einige grundlegende Darstellungen des thomasischen (2.2) und daraufhin des eckhartschen Tugendverständnisses (2.3) sowie einige Schlussbemerkungen (3.).

10 Vgl. hierzu und zu einer diesbezüglichen Einschätzung des modernen, insbesondere angelsächsischen philosophischen Diskurses Fiona Ellis, God, Value, and Nature, Oxford 2014.

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2.1 Was versteht Hegel unter ›Spinozismus‹? Wenn Hegel den Begriff ›Spinozismus‹ im Zusammenhang seiner Charakterisierung der mittelalterlichen Mystik in die Waagschale wirft, ist hierbei mehr als nur ein gleichsam historiographischer Bezug auf die Philosophie Baruch Spinozas, wie diese insbesondere in der Ethica ordine geometrcio demonstrata11 entwickelt wird, anzusetzen. Hegel geht es mithin nicht um eine philosophiehistorische Aussage der Art, dass sich Spinozas Philosophie etwa aus dieser oder jener zeitlich früheren ›Vorgängerposition‹ entwickelt habe, welche ihrerseits daher gewisse Strukturelemente der späteren Figur bereits aufweise. Das hegelsche, zunächst als Charakterisierung des neuzeitlichen Denkens vorgebrachte Diktum: »entweder Spinozismus oder keine Philosophie«12 adressiert vielmehr wesentlich die im Kern von Hegels eigenem dialektischen Philosophieren selbst arbeitende Idee einer »tiefe[n] Einheit«, in der »Geist, Unendliches und Endliches [als] identisch in Gott« gedacht werden.13 Diese Idee sieht Hegel als das innerste Prinzip aller Philosophie und dessen Selbstbewusstwerdung zugleich als Grundlage philosophiegeschichtlicher Entwicklung an. Gemeint ist hiermit freilich keine bloße Identifizierung (›Einerleiheit‹) des Endlichen und des Unendlichen, der Welt und Gottes, sondern vielmehr die Auffassung, dass das Unendliche als der innerste Wesenskern des Endlichen anzusehen ist, der allem Endlichen – als ›Sein in allem Dasein‹14 – erst dessen Substanzialität und Wirklichkeit verleiht, ohne deshalb selbst ein Endliches zu sein. Umgekehrt aber wäre das Unendliche nicht, was es ist – Spinoza verwendet hier bekanntlich die Formel der ›Ursache seiner selbst‹ (causa sui) –, wenn es nicht Endliches hervorbrächte, so dass also gesagt werden muss: »[I]n der Bedeutung, in der Gott Ursache seiner selbst genannt wird, muss er auch Ursache aller Dinge genannt werden.«15 Entsprechend wird bei Spinoza diese Verschränkung mit 11

Zitiert wird die Ethik in der Übersetzung von Wolfgang Bartuschat: Baruch Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Hamburg 1999. 12 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke 20, 163f. 13 Hegel, Vorlesungen Geschichte III, 157f. 14 Diese Formel zur Charakterisierung der spinozischen Substanzkonzeption stammt von Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Werke 1,1, Hamburg/Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, 39. 15 Spinoza, E1p25schol.: eo sensu, quo Deus dicitur causa sui, etiam omnium rerum causa dicendum est.

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Gott und Tugend bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart

dem Begriff der (Seins-)Macht (potentia) konnotiert: aufseiten Gottes als die absolut unendliche Macht, alles hervorzubringen, aufseiten der endlichen ›Geschöpfe‹, bei Spinoza als Modi der einen göttlichen Substanz konzipiert, als das Streben, sich im Sein zu erhalten (conatus sese in esse conservandi) – zwei Perspektiven auf Ausdrucksweisen letztlich derselben Macht (potentia), die beide Male die Essenz (essentia) sowohl auf der Ebene Gottes als auch der der Modi konstituiert.16 Die Verklammerung von Essenzialität und Macht nicht nur auf der unendlich-göttlichen und der endlichen Ebene als jeweils solcher, sondern auf beiden Ebenen miteinander lässt sich auch in Spinozas Definition der Tugend erkennen: Unter Tugend und Macht verstehe ich dasselbe; d.ௗh. […]: Tugend, bezogen auf den Menschen, ist genau des Menschen Essenz oder Natur, insofern es in seiner Gewalt steht, etwas zuwege zu bringen, das durch die Gesetze seiner Natur allein eingesehen werden kann.17

Abschließend muss noch auf eine weitere zentrale Figur in Spinozas Philosophie hingewiesen werden, nämlich die Verzahnung der genannten ontologischen (›pantheistischen‹) Struktur mit dem Aspekt der Selbst- und zugleich Gotteserkenntnis durch den endlichen Modus (d.ௗh. den einzelnen Menschen). Dieses Erkennen hat hierbei Spinoza zufolge zwei Erscheinungsweisen: erstens in Form der Diskursivität des Verstandes (ratio), der aus allgemeinen Begriffen und Gesetzen heraus die notwendigen Grundstrukturen Gottes und der Welt erfasst, zweitens als das die ratio nochmals übersteigende intuitive Wissen (scientia intuitiva), in dem der endliche Modus sein eigenes individuelles Einssein mit Gott, sein Enthaltensein in Gottes Unendlichkeit, in höchst freudevoller Weise erkennt.18 Zugleich sind ethische Implikationen mit beiden Formen des Erkennens (hier insbesondere der intuitiven Erkenntnis) verbunden. Denn im Erkennen handelt der endliche Modus ›Mensch‹ im höchsten Maße allein nach den Gesetzen seiner (Vernunft-)Natur, verwirklicht so auch seine höchste Tugend und Macht und erlangt so das, was traditionell 16 Vgl. Spinoza, E1p34: Dei potentia est ipsa ipsius essentia; E3p6: Unaquæque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur; und E3p7: Conatus, quo unaquæque res in suo esse perseverare conatur, nihil est præter ipsius rei actualem essentiam. 17 Spinoza, E4def8: Per virtutem, & potentiam idem intelligo, hoc est […] virtus, quatenus ad hominem refertur, est ipsa hominis essentia, seu natura, quatenus potestatem habet, quaedam efficiendi, quae per solas ipsius naturae leges possunt intelligi. 18 Vgl. Spinoza, E2p40schol2.

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›Glückseligkeit‹ (beatitudo) genannt wird; in Spinozas Deutung die Selbsterkenntnis des Menschen als eines Produkts Gottes, was zumal dessen unendliche Produktivität und Präsenz in allen seinen Hervorbringungen erfasst und affirmiert.19 Es sind diese Elemente bei Spinoza und in einem Philosophieren, das ›mit dem Spinozismus größte Ähnlichkeit hat‹, die in Hegels Urteil als positiv zu charakterisieren sind. Dass Spinozas Philosophie selbst zugleich auch deutliche Kritik durch Hegel erfährt, hat weniger mit diesen Inhalten selbst als vielmehr damit zu tun, dass in Hegels Augen die geometrische Form, die Spinoza seinen Gedanken in der Ethik gibt – oder vielmehr aufzwingt –, diesen ›spekulativen‹ Inhalten nicht entspricht, sondern ihnen wiederum bloß äußerlich und damit – statt ›vernünftig‹ – bloß ›verständig‹ bleibt.20 Es wird sich im Weiteren zeigen, dass sich insbesondere bei Meister Eckhart deutliche Parallelen zu dem so verstandenen ›Spinozismus‹ herausstellen lassen. Zunächst aber soll im folgenden Abschnitt der Tugendbegriff in seiner Konzeption bei Thomas von Aquin entwickelt werden.

2.2 Der Begriff der Tugend bei Thomas von Aquin Was versteht Thomas von Aquin unter ›Tugend‹ (virtus)? Allgemein ist zunächst festzuhalten, dass Thomas wie Aristoteles die Tugend als eine Art von Habitus auffasst, genauer einen Habitus des Handelns bzw. einen aufs Handeln bezogenen Habitus (habitus operativus).21 Den Habitus im Allgemeinen wiederum konzipiert Thomas – u.ௗa. in Ausdeutung der Kategorienschrift des Aristoteles – als eine gewisse Art von Qualität, genauer einen gewissen modus substantiae bzw. eine determinatio subiecti, nämlich eine solche »in Hinordnung auf die Natur der Sache« (in ordine ad naturam rei); diese Natur der Sache ist die Form und das Ziel (forma et finis), auf die bzw. das hin der Habitus diejenige Substanz, der er inhäriert, entweder gut 19 Dem Nachweis dieser Zusammenhänge ist insbesondere der fünfte Teil der Ethik in seiner Gänze gewidmet. 20 Vgl. Hegel, Vorlesungen Geschichte III, 167: »Die Methode, welche Spinoza zur Darstellung seiner Philosophie gebraucht, ist, wie bei Cartesius, die geometrische, die des Euklides, die man um der mathematischen Evidenz willen für die vorzüglichste hält, die aber, für spekulativen Inhalt unbrauchbar, nur bei endlichen Verstandeswissenschaften an ihrem Orte ist.« 21 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 2, r.

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(= Tugend) oder schlecht (= Laster) ausrichtet.22 Innerhalb dieser teleologischen Ontologie steht der Habitus damit zwischen dem einer Substanz zukommenden Vermögen (potentia), etwa der Vernunft in der menschlichen Seele, und dessen Verwirklichung in Gestalt einer konkreten Handlung (actus), etwa eines jetzt vollzogenen vernunftgemäßen Akts durch eine konkrete Person. Dergestalt weder lediglich bloße Möglichkeit des Vermögens, aber auch noch nicht realisierter Akt als Wirklichkeit im eigentlichen Sinne, charakterisiert Thomas den Habitus metaphysisch als »erste Verwirklichung« (actus primus), während der tatsächliche Akt, die wirklich ausgeübte Handlung, dann als »zweite Verwirklichung« (actus secundus) zu bestimmen ist.23 Dass es der Tugenden als Habitus im Bereich des Ethischen überhaupt bedarf, liegt an der grundlegenden Offenheit der menschlichen Seelenvermögen, die sich der Vernunft gemäß zu wirklichen Handlungen verwirklichen können, dies aber nicht notwendig (von Natur aus) tun.24 Einer Tugend als lobenswertem Habitus obliegt es daher, ihren Träger so zu disponieren, dass dieser eher geneigt ist, seine Vermögen in guter (= vernunftgemäßer) statt in schlechter Weise in Form von Handlungen zu aktuieren. Was auf den ersten Blick wie eine einfache Rezeption eines aristotelischen Tugendverständnisses aussehen könnte, beinhaltet in der Tat aber einschlägige Modifikationen.25 Denn indem Thomas dem Habitus-Begriff eine »gute oder schlechte Ausrichtung des Subjekts auf seine eigene Natur« implementiert, welche Natur »durch die Tätigkeitsweise der Substanz, die der Mensch ist, näher festgelegt wird«, eröffnen sich ihm »wesentliche systematische Entscheidungen«: 22

Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 49, a. 2, r.; vgl. auch q. 63, a. 4, r. Vgl. hierzu etwa Thomasૃ Ausführungen in De unit. 4. (Alle Übersetzungen der Thomas-Stellen stammen vom Verfasser.) – Vgl. zum selben Punkt auch den Beitrag von Andrés Quero-Sánchez (Abschnitt 4) in diesem Band. 24 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II q. 63, a. 1, r. 25 Ich folge hier den Hinweisen von Winfried Rohr in seinem Nachwort zu: Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae, hg. von Rolf Schönberger, Band 10: Über die Tugenden / De virtutibus, übers. von Winfried Rohr, Hamburg 2012, 365–402. Rohr diskutiert hier auch die mittlerweile geradezu klassische Deutung Wolfgang Kluxens hinsichtlich der Frage, wie sich bei Thomas Theologie und Philosophie qua Metaphysik und Ethik zueinander verhalten (Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 31998). Diese Deutung ist auch im vorliegenden Text als bekannt vorausgesetzt. Vgl. auch Marko J. Fuchs, Gerechtigkeit als allgemeine Tugend, Berlin / Boston 2017, 30–41. 23

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Sofern der Habitus sozusagen ein Maß im Maß der menschlichen Natur ist, kann er einerseits im aristotelischen Sinne ein erworbener sein, dem die Vernunft in der Tugendmitte das Maß gibt, und auf den durch Gewohnheit zurückgegriffen werden kann; andererseits ist es aber auch – im Gegensatz zur aristotelischen Vorgabe – denkbar, dass die Formung des Habitus vom Gegenstand selbst herrührt und so der Habitus empfangen wird.26

Die Stelle, auf die Rohr sich hier interpretierend bezieht, ist die Widerlegung des dritten Einwandes in STh I–II, q. 49, a. 2. Thomas untersucht hier die Frage, inwieweit Aristoteles’ Bestimmung des Habitus als ›schwer veränderlich‹ (difficile mobile)27 insbesondere zur Unterscheidung des Habitus von der Disposition tauglich ist. Die hier nicht offen besprochene, aber – wie sich dem weiteren Gang der Diskussionen in STh entnehmen lässt – entferntere Zielrichtung der thomasischen Überlegung geht auf die Integration des Konzepts der eingegossenen Tugenden in den von Aristoteles übernommenen Tugendbegriff. Es lohnt daher hier eine genauere Darstellung der entsprechenden Passage. Der Einwand lautet: ›Schwer veränderlich‹ ist kein Unterschied, der zur Gattung der Qualität gehört [wo Disposition und Habitus Aristoteles zufolge zu verorten sind, vgl. Cat. 8 b 27, Anm. MJF], sondern eher zu Bewegung oder Erleiden. Keine Gattung aber wird zur Artunterscheidung hin bestimmt durch den Unterschied einer anderen Gattung; vielmehr ist es nötig, dass die Unterschiede per se der Gattung zukommen […]. Wenn daher der Habitus eine ›Qualität, die schwer zu verändern ist‹ genannt wird, so scheint er nicht eine bestimmte Art der Qualität zu sein.28

Die Antwort des Thomas auf diesen Einwand fällt sehr umfangreich aus und soll im Folgenden in Paraphrase wiedergegeben werden. So hält er zunächst fest, dass die Bestimmung ›schwer veränderlich‹ den Habitus nicht von anderen Arten der Qualität diversifiziere, sondern von der Disposition (Anlage, dispositio). Der Begriff der Disposition werde indessen in zweifacher Weise aufgefasst: einmal als Gattung, unter die auch der Habitus falle – wofür sich Thomas 26

Rohr, Nachwort, 375, Hervorhebung im Original. Aristoteles spricht in Cat. 9 a 3 von diskinetos. 28 Thomas von Aquin, STh I–II q. 49, a. 2, arg. 3: Praeterea, »difficile mobile« non est differentia pertinens ad genus qualitatis, sed magis pertinet ad motum vel passionem. Nullum autem genus determinatur ad speciem per differentiam alterius generis; sed oportet differentias per se advenire generi […]. Ergo, cum habitus dicatur esse »qualitas difficile mobilis«, videtur quod non sit determinata species qualitatis. 27

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auf Aristoteles’ Met. V 14, 1020 a 33ff. beruft –, ein andermal als etwas, das vom Habitus unterschieden wird. Thomas sieht Letzteres als ›dispositio proprie dicta‹ an und setzt deren Unterschied vom Habitus nochmals als doppelt. Erstens nämlich unterscheide sich eine solche Disposition vom Habitus wie das Unvollkommene vom Vollkommenen innerhalb derselben Art. Man spricht etwa davon, dass der Knabe (puer) ein Mann (vir) werde; in dieser Redeweise wird impliziert, dass innerhalb derselben Art – Mensch – die Disposition (Knabe) ›leicht‹ (de facili) verloren werde, weil das ›Knabe-Sein‹ der menschlichen Person nur als Unvollkommenheit des Menschseins inhäriere, wohingegen das ›Mann-Sein‹ nicht ›leicht‹ verloren wird, weil hier das Mensch-Sein der entsprechenden Einzelsubstanz in vollkommener Weise einwohnt. Mit Blick auf diese Auffassungsweise könne durchaus die Rede davon sein, dass eine Disposition in einen Habitus übergehe bzw. eine Disposition ein Habitus werde, so wie ein Knabe ein Mann wird. Zweitens aber können Thomas zufolge Habitus und Disposition voneinander unterschieden werden wie »zwei verschiedene untergeordnete Arten einer untergeordneten Gattung« (sicut diversae species unius generis subalterni). In diesem Fall werden Dispositionen jene Qualitäten der ersten Art genannt, denen es ihrem wesentlichen Begriff nach zukommt, dass sie leicht verloren werden, weil sie veränderliche Ursachen haben, wie dies etwa bei Unwohlsein und Gesundheit auftritt; Habitus werden dagegen jene Qualitäten genannt, die ihrem Begriff gemäß nicht leicht verloren werden, weil sie unveränderliche Ursachen haben, etwa Wissen und Tugend. Dispositionen in diesem Sinne werden kein Habitus.29

Diese Unterscheidung nun ist wesentlich und stellt mit Blick auf die aristotelische Vorlage eine wichtige Erweiterung bzw. »Überformung« dar.30 Denn sie ermöglicht Thomas zweierlei: erstens, durch die Fokussierung auf verschiedene Ursachen, durch die Tugenden hervorgebracht werden können, in den aristotelischen Rahmen neben 29 Thomas von Aquin, STh I–II q. 49, a. 2, ad 3: ut dicantur dispositiones illae qualitates primae speciei, quibus convenit secundum propriam rationem ut de facili amittantur, quia habent causas transmutabiles, sicut aegritudo et sanitas; habitus vero dicuntur illae qualitates quae secundum suam rationem habent quod non de facili transmutentur, quia habent causas immobiles, sicut scientiae et virtutes. Et secundum hoc dispositio non fit habitus. 30 Rohr, Nachwort, 376.

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die durch eigene Einübungstätigkeit erworbenen auch die von Gott eingegossenen Tugenden (virtutes adventitiae et infusae) einzuführen; zweitens, diese beiden Tugendarten nicht lediglich abstrakt nebeneinander stehen zu lassen, sondern vielmehr in ein inneres Gründungsgefüge zu setzen, das auf der »innere[n] Einheit« des thomasischen »theologisch geprägten Tugendbegriffs« beruht – eine Struktur, die in dieser Weise bei Aristoteles nicht denkbar wäre.31 Rohr erläutert dies so: Einerseits erhält dadurch die nur erworbene Gestalt des Habitus den Status der Unvollkommenheit, während der eigentliche Tugendhabitus auf eine causa immobilis [= Gott] zurückgeht. Diese ist die Form- und Zielursache eines solchen Habitus, den Thomas eine ›eingegossene Tugend‹ (virtus infusa) nennt. Virtutes infusae sind, wie De virtutibus cardinalibus beweist, nicht nur die theologischen, sondern auch die sittlichen Tugenden, sofern sie auf Gott ausgerichtet sind.32

Die ›theologische Überformung‹ verknüpft also die Frage nach dem Ursprung der Tugenden mit der nach ihren allgemeinen Zielperspektiven, die dem tugendhaften Handeln als solchem im thomasischen Entwurf zugrunde liegt. Dies wird bereits anhand der Ausführungen am Beginn von STh I–II deutlich, wo Thomas ausführt, dass das Ziel menschlichen Handelns einerseits, genommen im Sinne von dessen letztem Gegenstand, Gott selbst ist, »der allein« – als ein ›bonum increatum‹ – »aufgrund seiner unendlichen Gutheit in der Lage ist, den Willen des Menschen in vollkommener Weise zu erfüllen«33. Ziel im zweiten Sinne, d.ௗh. als etwas Erschaffenes im Menschen, ist die Erlangung (adeptio) und der Genuss (fruitio) dieses bonum increatum in Gestalt einer Handlung (operatio), namentlich der Erkenntnis vorzüglich der theoretischen oder spekulativen Vernunft (intellectus speculativus).34 In dieser Handlung besteht die beatitudo des Menschen, und deswegen ist Tugend überhaupt als habitus operativus zu bestimmen;35 denn Aristoteles zufolge ist die Tugend die Disposition

31

Rohr, Nachwort, 373. Rohr, Nachwort, 376. Rohr bezieht sich hierbei auf De virt. q. 5, a. 4, r. 33 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 3, a. 1, r.: Primo ergo modo, ultimus hominis finis est bonum increatum, scilicet Deus, qui solus sua infinita bonitate potest voluntatem hominis perfecte implere. 34 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II q. 3, a. 3 und a. 5. 35 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 2, arg. 3 und ad 3. 32

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eines Vollkommenen hin zu seinem Optimum.36 Kombiniert man dies mit Blick auf den Menschen mit einem Augustinus-Zitat,37 so wird klar, dass das Optimum des Menschen oder das Beste für den Menschen Gott selbst (Deus ipse) ist. Zu diesem hin werde die Seele durch Anähnlichung (assimilatio) disponiert. »Es scheint also, dass ›Tugend‹ eine gewisse Qualität der Seele in Hinordnung zu Gott genannt wird, die zu diesem hin gleichsam verähnlicht; nicht aber in Hinordnung zur Handlung.«38 In seiner Erwiderung auf diesen Einwand legt Thomas dar, dass Gottes Substanz, d.ௗh. sein Sein (substantia Dei), mit seinem Handeln (actio) identisch sei. Hieraus ergibt sich dann, dass die gesuchte höchste Anähnlichung des Menschen an Gott gemäß einem menschlichen Handeln (operatio) stattfinden müsse. »Daher besteht […] die Glückseligkeit, durch die der Mensch am meisten Gott gleichförmig wird, was ja das Ziel menschlichen Lebens ist, im Handeln.«39 Das letzte Ziel des Menschen ist also Gott – mag dem Menschen dies in seinem Streben klar bewusst sein oder nicht. Diese Überformung und in dieser Hinsicht auch Erweiterung des aristotelischen Tugendbegriffs impliziert aber zugleich eine deutliche Einschränkung, indem Thomas gerade durch den Begriff der eingegossenen Tugend ausdrücklich macht, dass die Erkenntnis Gottes, in der die menschliche beatitudo besteht, vom Menschen nicht in diesem Leben und nicht aus eigener Kraft erreicht werden kann. Die aristotelischen erworbenen ethischen Tugenden (virtutes acquisitae) sind zwar notwendig und auch hinreichend, um ein gutes irdisches Leben zu führen. Dieses aber stellt – im Gegensatz zu den Auffassungen des Aristoteles – noch nicht die vollkommene, sondern lediglich eine 36

Vgl. Aristoteles, Phys. VII 12, 281 a 15. Vgl. Augustinus, Mor. eccl. II. 38 Der gesamte Einwand in Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 2, arg. 3, im Wortlaut: Praeterea, philosophus dicit, in VII Physic., quod virtus est dispositio perfecti ad optimum. Optimum autem ad quod hominem oportet disponi per virtutem, est ipse Deus, ut probat Augustinus in libro II de moribus Eccles.; ad quem disponitur anima per assimilationem ad ipsum. Ergo videtur quod virtus dicatur qualitas quaedam animae in ordine ad Deum, tanquam assimilativa ad ipsum, non autem in ordine ad operationem. Non igitur est habitus operativus. 39 Die gesamte Stelle in Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55, a. 2, ad 3: Ad tertium dicendum quod, cum Dei substantia sit eius actio, summa assimilatio hominis ad Deum est secundum aliquam operationem. Unde, sicut supra dictum est, felicitas sive beatitudo, per quam homo maxime Deo conformatur, quae est finis humanae vitae, in operatione consistit. 37

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unvollkommene beatitudo dar. Um die vollkommene beatitudo zu erreichen bzw. überhaupt verfolgen zu können, bedarf es daher noch der eingegossenen Tugenden. Besonders deutlich und ausführlich argumentiert Thomas hierfür in De virt., q. 1, a. 10, r., was hier, diesen Abschnitt abschließend, nochmals eingehender dargestellt werden soll. Ausgangspunkt für Thomas ist die Feststellung, dass Aristoteles zufolge Tugenden ihren Inhaber und dessen Werke gut machen. Nun werde das Gute im Menschen diversifiziert – etwa sei, wie ebenfalls schon Aristoteles feststellt, ein guter Mensch zu sein unterschieden davon, ein guter Bürger einer Stadt zu sein, auch wenn beide Bestimmungen einer und derselben Person zukommen können –, und entsprechend sind auch die Tugenden zu unterscheiden, die den Menschen in dieser oder jener Hinsicht gut machen. Mit Blick auf den Menschen unterscheidet Thomas vor diesem Hintergrund nun ein doppeltes Gut (duplex bonum): erstens ein solches, das in einem angemessenen Verhältnis zur menschlichen Natur steht (bonum proportionatum suae [sc. hominis] naturae), zweitens ein solches, das die Fähigkeit der menschlichen Natur übersteigt (bonum excedens facultatem suae naturae). Thomas schreibt: Der Grund hierfür lautet, dass es notwendig ist, dass ein Passives Vollkommenheiten von einem Handelnden auf verschiedene Weise gemäß der Verschiedenheit der Kraft/Tugend des Handelnden erlangt; daher sehen wir, dass die Vollkommenheiten und Formen, die aus einer Handlung eines natürlichen Handelnden verursacht werden, die natürliche Fähigkeit des Empfangenden nicht überschreiten: Dem natürlichen passiven Vermögen nämlich ist die aktive natürliche Kraft/ Tugend verhältnisgemäß angeglichen.40

Genau genommen sieht man hier also eine doppelte Entsprechung am Werk: Die Fähigkeit des passiven natürlichen Vermögens bedingt die Möglichkeit an Vollkommenheiten, die ein aktives natürliches Vermögen in diesem hervorbringen kann, weil – im Bereich des Natürlichen – umgekehrt aktives und passives Vermögen zueinander in Proportion stehen. Die Grundlage der Verschiedenheit ist damit 40 Thomas von Aquin, De virt., q. 1, a. 10, r.: Cuius ratio est, quia oportet quod passivum consequatur perfectiones ab agente diversimode secundum diversitatem virtutis agentis; unde videmus quod perfectiones et formae quae causantur ex actione naturalis agentis, non excedunt naturalem facultatem recipientis: potentiae enim passivae naturali proportionatur virtus activa naturalis.

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nicht nur im aktiven, sondern auch im passiven Vermögen anzusetzen. Anders verhält sich dies nun in dem Fall, dass nicht ein natürliches, sondern ein übernatürliches Handelndes mit unendlicher Kraft/ Tugend (agens supernaturalis infinitae virtutis = Gott) Formen und Vollkommenheiten erwirkt. Diese übersteigen aufgrund ihrer Übernatürlichkeit die Fähigkeiten der Natur des Empfangenden, die bloß ein natürliches Maß innehaben; und dem schickt Thomas nun die folgende bemerkenswerte und durchaus auch merkwürdige Überlegung nach: Deshalb übersteigt die vernunftbegabte Seele, die unmittelbar von Gott hervorgebracht wird, die Kapazität ihrer Materie, sodass die körperliche Materie sie [sc. die Seele] nicht vollständig erfassen und einschließen kann; sondern es bleibt ihr eine Kraft/Tugend und eine Handlung, in der die körperliche Materie nicht Anteil nimmt – was bei keiner der anderen Formen vorkommt, die durch natürliche Handelnde hervorgebracht werden.41

Die anima rationalis, obzwar selbst eine bewirkte Form und (erste) Vollkommenheit, übersteigt somit aufgrund ihres unmittelbaren übernatürlichen Ursprungs die körperliche Materie als natürliche Grundlage, deren Form und Vervollkommnung sie dem aristotelischen Hylemorphismus gemäß ist, und ist, so muss man wohl schließen, somit ihrerseits etwas Übernatürliches, so dass also die ›menschliche Natur‹, verstanden als leiblich-seelische Einheit, ein in sich durchaus widersprüchliches Gebilde darstellt. Dies hat sodann die Konsequenz, dass der Mensch so, wie er seine Seele als erste Vollkommenheit unmittelbar von Gott empfängt, auch die »perfecta hominis felicitas« empfängt, die als ›Ruhen in Gott (quiescere in Deo)‹ zugleich die ›ultima perfectio‹ des Menschen darstellt. Nach diesem Ruhen in Gott habe der Mensch nämlich ein ›natürliches eingeborenes Begehren (desiderium innatum naturale)‹, aufgrund dessen er stets bestrebt ist, aus Verursachtem heraus nach dessen Ursachen zu forschen – ein Bedürfnis, von dem man also sagen muss, dass es gleichsam ›dem übernatürlichen Teil der menschlichen Natur 41 Thomas von Aquin, De virt., q. 1, a. 10, r.: Unde anima rationalis, quae immediate a Deo causatur, excedit capacitatem suae materiae, ita quod materia corporalis non totaliter potest comprehendere et includere ipsam; sed remanet aliqua virtus eius et operatio in qua non communicat materia corporalis; quod non contingit de aliqua aliarum formarum quae causantur ab agentibus naturalibus.

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natürlich‹ ist und erst in der Erkenntnis der ersten Ursache (causa prima) befriedigt werden kann. Daraus folgert Thomas: Es ist also notwendig, dass so, wie die erste Vollkommenheit des Menschen, d.ௗh. die vernunftbegabte Seele, die Fähigkeit der körperlichen Materie übersteigt, ebenso auch die letzte Vollkommenheit, zu der der Mensch gelangen kann, nämlich die Glückseligkeit des ewigen Lebens, die Fähigkeit der gesamten menschlichen Natur übersteigt.42

Hiermit gelangt Thomas schließlich auf die Zielgerade seines Argumentgangs zur Begründung der Notwendigkeit eingegossener Tugenden zur menschlichen beatitudo. Denn erstens ist nicht nur die beatitudo selbst, sondern schon die Hinordnung zu dieser als dem Ziel des Menschen eine Handlung (operatio) – eine Bemerkung, die weiter unten zur Diskussion des Tugendbegriffs bei Meister Eckhart noch bedeutsam werden wird. Zweitens muss diejenige operatio, die auf das Ziel hinordnet, diesem angemessen (›proportioniert‹) sein. Hieraus ergibt sich dann die Notwendigkeit, »dass es gewisse Vollkommenheiten des Menschen gibt, durch die er auf das übernatürliche Ziel ausgerichtet wird und die die Fähigkeit der natürlichen Prinzipien des Menschen übersteigen«, und dass es somit über die natürlichen Prinzipien der menschlichen Natur hinaus »gewisse übernatürliche Prinzipien der Handlungen« geben müsse, die, da eben nicht natürlich mitgegeben und das Natürliche übersteigend, dem Menschen durch Gott eingegossen (infundere) werden müssen.43 Da nun die natürlichen Handlungsprinzipien des Menschen die Essenz der Seele und die dieser angeborenen Seelenvermögen Wille und Intellekt sind, könnte die Eingießung nicht geschehen, wenn nicht der Intellekt eine Kenntnis derjenigen Prinzipien hätte, durch welche der Mensch zu etwas hingelenkt wird, und wenn nicht der Wille ein natürliches Streben nach demjenigen Gut hätte, das ihm angemessen ist. Dem Menschen werden deshalb von Gott eingegossen: erstens die Gnade, durch die die Seele »ein gewisses spirituelles Sein (quoddam esse spirituale) hat«, zweitens (und danach) die drei theologischen Tugenden 42 Thomas von Aquin, De virt., q. 1, a. 10, r.: Oportet igitur quod, sicut prima perfectio hominis, quae est anima rationalis, excedit facultatem materiae corporalis; ita ultima perfectio ad quam homo potest pervenire, quae est beatitudo vitae aeternae, excedat facultatem totius humanae naturae. 43 Thomas von Aquin, De virt., q. 1, a. 10, r.: […] necessarium est esse aliquas hominis perfectiones quibus ordinetur ad finem supernaturalem, quae excedant facultatem principiorum naturalium hominis. Hoc autem esse non posset, nisi supra principia naturalia aliqua supernaturalia operationum principia homini infundantur a Deo.

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Glaube, Hoffnung und Liebe (fides, spes, caritas). Während der Glaube den Intellekt dahingehend vervollkommne, dass dieser mit Blick auf übernatürliche Wissensgegenstände erleuchtet wird, verliehen Hoffnung und Liebe dem Willen ein Streben hin zum übernatürlichen Gut, zu dem hin der Wille durch sein natürliches Streben allein nicht in hinreichender Weise hingeordnet werden könnte. Stabilisiert werden diese übernatürlichen eingegossenen Prinzipien schließlich in ähnlicher Weise durch eingegossene Tugenden, wie die erworbenen Tugenden den Menschen mit Blick auf seine natürlicherweise erreichbare Vollkommenheit stabilisieren: Sie vervollkommnen ihn mit Blick auf »Handlungen, die ihn zum Ziel des ewigen Lebens hinordnen.« Fazit: Es hat sich also gezeigt, dass Thomas in spezifischer Weise die philosophischen Vorlagen des Aristoteles nutzt, um den Tugendbegriff zugleich so zu erweitern, dass nunmehr auch der Bezug zu Gott im Rahmen eines tugendethischen Entwurfs diskutiert werden kann dergestalt, dass ›Tugend‹ nicht mehr nur eine Beziehung des Menschen zu Gott, sondern auch Gottes zum Menschen impliziert. Weiterhin visiert Thomas zugleich eine Einheitsfigur, in der nicht nur durch ›Überformung‹ der aristotelischen Grundlage, sondern auch durch ›Überformung‹ der erworbenen Tugenden durch die eingegossenen in der Person, die deren Inhaberin ist, deren personale Identität bewahrt werden soll. Aber hierbei bleibt es in mehreren Hinsichten bei einem gleichsam ›unspinozischen‹ Verhältnis der Gegenüberstellung von Person und Gott, und gerade im Tugendbegriff – auch in seiner ›überformten‹ Gestalt – wird diese Dualität unterstrichen dadurch, dass die Tugend als Modus einer Substanz aufgefasst wird. Entsprechend erscheint die ›Eingießung‹ der virtutes infusae, mittels derer der Bezug von Person und Gott in ausgezeichneter Weise hergestellt werden soll, als ein für die menschliche Vernunft nicht weiter verständlicher Gnadenakt Gottes, was die Behauptung, menschliche beatitudo bestehe gerade in spekulativer Erkenntnis Gottes durch den Menschen, eigentümlich konterkariert. Ebenso muss das thomasische ›anthropologische‹ Grundgerüst, dem zufolge der Mensch aus einer natürlichen (Körper) und einer diese überschreitenden, in unmittelbarer Weise hervorgebrachten übernatürlichen (Seele) Dimension besteht, die dennoch nicht hinreichen soll, eine Erkenntnis des Übernatürlichen leisten zu können, eigenwillig schief und – um einen kritischen Grundbegriff Hegels zu verwenden – als eine ›bloße Versicherung‹ (eine bloße Setzung) erscheinen.

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Kurz: Aus einer hegelianischen Perspektive mangelt es Thomas’ Tugendkonzeption an vernünftig-spekulativem Denken; die durchaus ergriffenen spekulativen Inhalte, insbesondere der wechselseitige ›operationale‹ Bezug zwischen Gott und Menschen auf Ebene der eingegossenen Tugend, bleiben in Thomas’ ›Überformungsfigur‹ aristotelischer Vorgaben im Medium abstrakt-verständigen Denkens und damit in der Endlichkeit stecken.

2.3 ›Von abegescheidenheit‹, ›gehôrsame‹ und ›gerehticheit‹: Aspekte der Tugend bei Meister Eckhart Es ist allgemein bekannt, dass Meister Eckhart in viel stärkerem Maße als etwa Thomas von Aquin eine Verbindung der verschiedenen Wissensbereiche anstrebt. So hat etwa Alessandro Palazzo in einem sehr instruktiven Aufsatz, auf den im Weiteren noch zurückzukommen sein wird, die enge Verzahnung von metaphysischen, ontologischen, epistemologischen und ethischen Problemstellungen bei Eckhart so auf den Punkt gebracht: »Eckhart inserts the ethical discourse into a wider framework in which exemplarism, ontology, the doctrine of the transcendentals, the theory of knowledge and ethics are related to each other«.44 Man kann aus dieser Perspektive Eckharts Ansatz als eine konsequente Ausdeutung christlicher Glaubensinhalte besonders mit Hilfe der Instrumente des Neuplatonismus beschreiben. Dies hat natürlich auch einige weitreichende Konsequenzen für Eckharts Tugendbegriff. Deshalb hat man davon gesprochen, dass Eckhart in seinem Denkansatz eine Fülle der eben, wenngleich bloß skizzenhaft, für Thomas’ Entwurf herausgestellten Distinktionen im Bereich der Tugend grundlegend unterläuft, indem er etwa »keinen Unterschied [macht] zwischen erworbenen und eingegossenen Tugenden«.45 Bei näherer Betrachtung erscheint diese Formulierung jedoch in verschiedener Hinsicht als zu undifferenziert: Erstens wurde oben gezeigt, dass auch bei Thomas die eingegossenen Tugenden in gewisser Weise ›erworben‹ (›empfangen‹) sind, nur eben nicht gleichsam ›natürlich‹ 44 Alessandro Palazzo, »›Die tugent hat vierley grad‹. Meister Eckhart on Macrobiusૃ four degrees of the cardinal virtues«, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale (2013), 555–587, 573. 45 Dietmar Mieth, »Die theologische Transposition der Tugendethik bei Meister Eckhart«, in: Kurt Ruh (Hg.), Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, Stuttgart 1986, 63–79, 67.

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Gott und Tugend bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart

durch Einübung, sondern ›übernatürlich‹ durch göttliche Eingießung; zweitens wird im Weiteren noch deutlich werden, dass umgekehrt auch Meister Eckhart durchaus die Dimension eines Einübens mit Blick auf das, was bei ihm ›Tugend‹ heißt, anerkennt, ja sogar anmahnt. Im Folgenden soll Eckharts Denkfigur anhand dreier Tugenden, die er an verschiedenen Stellen diskutiert, erläutert werden: der Abgeschiedenheit, des Gehorsams und der Gerechtigkeit. Abgeschiedenheit: In VAb46 wird die Abgeschiedenheit als »höchste und beste Tugend« ausgewiesen, die noch vor der Liebe, der Demut und der Barmherzigkeit zu loben sei (DW V 400; Übers. 539).47 Als Kriterien für diese Vorordnung der Abgeschiedenheit, die sie vor allen anderen Tugenden zu setzen erlaubt, führt Eckhart an, dass die höchste Tugend diejenige sei, mit der sich der Mensch am meisten und am allernächsten Gott verbinden und mit der der Mensch von Gnaden werden könne, was Gott von Natur ist, und durch die der Mensch in der größten Übereinstimmung mit dem Bilde stände, das er in Gott war, in dem zwischen ihm und Gott kein Unterschied war, ehe Gott die Kreaturen schuf.48

Insbesondere das Bild in Gott vor Erschaffung der Geschöpfe verweist hierbei auf diejenige Ebene innerhalb der verschiedenen Distinktionsmöglichkeiten der Tugend, die man mit Thomas und im Anschluss an Macrobius als ›exemplarische Tugend‹ deuten kann, d.ௗh. die Idee der Ur- und Vorbildlichkeit aller Tugenden in Gott selbst.49 Eine Tugend, die diese und die anderen genannten Kriterien erfüllt, müsse »losgelöst von allen Kreaturen« sein (ebd.). Dies trifft Eckhart zufolge nur auf die Abgeschiedenheit zu, denn »alle Tugenden« außer ihr »haben irgendein Absehen auf die Kreatur« (ebd.), wie etwa anhand der Liebe deutlich wird: Diese »zwingt« mich dazu, »dass ich alle Dinge um Gottes willen ertrage«, und in diesem Ertragen oder »Leiden hat der Mensch [noch] ein gewisses Hinsehen auf die Kreatur, 46 Es gibt immer wieder Diskussionen um die Authentizität dieses Textes. Immerhin besteht aber Einigkeit darüber, dass dieser Text, sollte er auch nicht oder nicht ausschließlich Eckhart zugeschrieben werden können, dessen Denken in angemessener Weise wiedergibt, weswegen er im vorliegenden Aufsatz zurate gezogen werden kann. 47 Sofern nicht anders angegeben, folgen die Zitate der Übersetzung aus DW. 48 Eckhart, VAb, DW V 400f.; Übers. 539: dâ mite der mensche sich ze gote allermeist und aller næhest gevüegen müge und mit der der mensche von gnâden werden müge, daz got ist von natûre, und dâ mite der mensche aller glîchest stande dem bilde, als er in got was, in dem zwischen im und gote kein underscheit was, ê daz gote die crêatûre geschuof. 49 Vgl. hierzu Palazzo, Four Degrees, 556ff. und 566ff.

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von der dem Menschen das Leiden kommt« (ebd.). Im Gegensatz dazu ›zwingt‹ (twinget) die Abgeschiedenheit, sofern ich denn in ihr stehe, Gott dazu, mich zu lieben (minnen).50 Beides, also die Form der Unbezogenheit auf das Geschöpfliche (Kreatürliche) und der Charakter eines Zwingens, enthüllt zugleich einen Doppelaspekt der Abgeschiedenheit insofern, als diese für uns das – reelle oder zumindest ideelle – Ergebnis eines Prozesses des Ablassens von bzw. Lassens des Kreatürlichen bedeutet, dem wir zunächst äußerlich sowie in uns selbst verbunden sind. Für Gott hingegen bezeichnet die Abgeschiedenheit sein eigenstes Wesen: »Denn dass Gott Gott ist, das hat er von seiner unbeweglichen Abgeschiedenheit, und von der Abgeschiedenheit hat er seine Lauterkeit und Einfaltigkeit und seine Unwandelbarkeit.«51 Indem wir also das Kreatürliche lassen, streben wir zugleich jenen eigentlichen Kern unseres innersten Seins an, in dem Gott und wir selbst ungeschieden sind; wenn es umgekehrt heißt, dass unser Handeln nicht erst im Zustand der Abgeschiedenheit, sondern bereits im Lassen sich gnadenhaft (gratis) vollzieht, so wird erkennbar, dass bereits hierin ein Wirken Gottes zu sehen ist.52 Anders als bei Thomas von Aquin handelt es sich hierbei aber nicht um die Eingießung einer virtus infusa, die mir ermöglicht, mich mit Gott in Relation zu setzen, sondern vielmehr um eine Eingießung Gottes selbst, wie im Weiteren noch deutlicher werden wird. Gehorsam: Dem eben Gesagten widerspricht nicht die Tatsache, dass Eckhart an anderen Stellen auch andere Tugenden als höchste oder »Tugend vor allen Tugenden« ausweist, etwa in RdU den wahren und vollkommenen »Gehorsam« (gehôrsame).53 Denn auch der Gehorsam entspricht dem Grundmodus der Abgeschiedenheit insofern, als hier ebenfalls »der Mensch […] aus seinem Ich herausgeht und sich des Seinen entschlägt«; im Gehorsam gibt es kein »›Ich will so oder so‹ oder ›dies oder das‹ […], sondern nur vollkommenes Aufgeben des Deinen«.54 Wie sehr dies von dem thomasischen Entwurf differiert, wird erkennbar, wenn man die parallelen Stellen zur 50

Vgl. Eckhart, VAb, DW V 402; Übers. 539. Eckhart, VAb, DW V 412; Übers. 541f.: Wan daz got ist got, daz hât er von sîner unbewegelîchen abegescheidenheit, und von der abegescheidenheit hât er sîne lûterkeit und sîne einvalticheit und sîne unwandelbærkeit. 52 Vgl. Eckhart, DW V 413; Übers. 542. 53 Vgl. Eckhart, RdU, DW V 185; Übers. 505. 54 Eckhart, RdU, DW V 188, Übers. 505: In wârer gehôrsame ensol niht vunden werden ›ich will alsô oder alsô‹ oder ›diz oder daz‹, sunder ein lûter ûzgân des dînen. 51

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Gott und Tugend bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart

oboedientia aus STh II–II, q. 104 betrachtet, insbesondere Artikel 4, wo Thomas die Frage diskutiert, ob Gott in allem zu gehorchen sei. Die Antwort lautet wie folgt: Derjenige, welcher gehorcht, wird durch den Willen desjenigen bewegt, dem er gehorcht, so wie die natürlichen Dinge durch ihre Beweger bewegt werden. So aber, wie Gott der erste Beweger all desjenigen ist, was natürlicherweise bewegt wird, so ist er auch der erste Beweger aller Willen, wie aus Obigem klar wird. Deshalb: So, wie alle natürlichen Dinge aus natürlicher Notwendigkeit heraus der göttlichen Bewegung unterworfen sind, so sind auch aus einer gewissen Notwendigkeit der Gerechtigkeit heraus alle Willen gehalten, dem göttlichen Befehl zu gehorchen.55

Man sieht, dass Gehorsam bei Thomas klar als ein intersubjektives Verhältnis zweier Willen konzipiert wird, wobei der sich unterwerfende Wille seinen relativen Eigenstand in der Substanz der gehorchenden Person bewahrt – wenngleich die Parallelisierung mit dem ›Gehorsam‹ natürlicher Dinge heikel scheinen kann. Demgegenüber steht bei Eckhart auch beim Gehorsam die Perspektive einer Vereinigung von Geschöpf und Gott im Fokus. Der Gehorsame ist gerade dadurch gehorsam, dass er seinen Eigenwillen ›lässt‹, nicht sich mit diesem in ein Unterwerfungsverhältnis zu einem superioren Willen setzt.56 Ein solcherart Gehorsamer kann nicht mehr schlecht handeln: Gehorsam bewirkt allwegs das Beste in den Dingen. Fürwahr, der Gehorsam stört nie und behindert nicht, was einer auch tut, bei nichts, was aus wahrem Gehorsam kommt; denn der versäumt nichts

55 Thomas von Aquin, STh II–II, q. 104, a. 4, r.: Respondeo dicendum quod, sicut supra dictum est, ille qui obedit movetur per imperium eius cui obedit, sicut res naturales moventur per suos motores. Sicut autem Deus est primus motor omnium quae naturaliter moventur, ita etiam est primus motor omnium voluntatum, ut ex supra dictis patet. Et ideo sicut naturali necessitate omnia naturalia subduntur divinae motioni, ita etiam quadam necessitate iustitiae omnes voluntates tenentur obedire divino imperio. – In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die heikle Frage, ob dieses Gebot des Gehorsams auch gilt, wenn Gott naturrechtlich – zumindest dem Anschein nach – verbotene Handlungen befiehlt, etwa im Falle Abrahams die Tötung des eigenen Sohnes, was Thomas hier in der Antwort auf die zweiten Einwände bespricht. Vgl. zur Sache einschlägig Isabelle Mandrella, Das Isaak-Opfer: historisch-systematische Untersuchung zu Rationalität und Wandelbarkeit des Naturrechts in der mittelalterlichen Lehre vom natürlichen Gesetz, Münster 2002. 56 Vgl. Eckhart, RdU, DW V 191–196; Übers. 506f.

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Gutes. Gehorsam braucht sich nimmer zu sorgen, es gebricht ihm an keinem Gute.57

Oder kurz formuliert: »Wer Gott anhaftet, dem haftet Gott an und alle Tugend.«58 Wesentlich ist hierbei, dass das ›Anhaften Gottes‹ nicht verstanden werden darf wie ein Akt des bewussten An-Gott-Denkens, sondern vielmehr als ein In-Gott-Sein. Das wahrhafte Haben Gottes liegt am Gemüt und an einem innigen, vernünftigen59 Sich-Hinwenden und Streben zu Gott, nicht an einem beständigen, gleichmäßigen Darandenken; denn das wäre der Natur unmöglich zu erstreben und sehr schwer und zudem nicht das Allerbeste. Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur. Der Gott vergeht nicht, der Mensch wende sich denn mit Willen von ihm ab.60

Deutlich erkennbar ist hier die Aufhebung der für die gedankliche und damit äußerliche Reflexion auf Gott wesentlichen Form der Subjekt-Objekt-Dualität: Das Haben Gottes, also gleichsam der echte ›tugendhafte Habitus‹, besteht nicht in einem Bezug zweier Substanzen aufeinander, wobei eine der beiden, nämlich der endliche Mensch, seiner Endlichkeit unbeschadet lediglich durch einen Tugendhabitus modifiziert würde, sondern in einem Innestehen, sozusagen in einem ›sum‹ statt in einem ›cogito‹. Dass dies nichts mit einer Selbstauslöschung und einem Eingang in die Nacht eines bloßen Nichts zu tun hat, wird daran deutlich, dass dieses Innestehen als vernünftig geschildert wird. 57 Eckhart, RdU, DW V 186; Übers. 505: Gehôrsame würket alwege daz aller beste in allen dingen. Joch diu gehôrsame engeirret niemer niht und enversûmet ouch nihtes, swaz ieman tuot, in deheinen dingen, daz ûz der wâren gehorsâme gât, van si enversûmet kein guot. 58 Eckhart, RdU, DW V 200; Übers. 508: Der gote anhaftet, dem haftet got ane und alliu tugent. 59 Hier abweichend von der Übersetzung in DW V und näher am Originaltext. 60 Eckhart, RdU, DW V 205, Übers. 510: Diz wærlîche haben gotes liget an dem gemüete und an einem inniclîchen vernünftigen zuokêrenne und meinenne gotes, niht an einem stæten anegedenkenne in einer glîchen wîse, wan daz wære unmügelich der natûre in der meinunge ze habenne und sêre swære und ouch daz aller beste niht. Der mensche ensol niht haben noch im lâzen genüegen mit einem gedâhten gote, wan, swenne der gedank vergât, sô vergât ouch der got. Mêr: man sol haben einen gewesenden got, der verre ist obe den gedenken des menschen und aller crêatûre. Dér got envergât niht, der mensche enkêre denne williclîche abe.

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Gerechtigkeit: Eckharts Darlegungen zur Gerechtigkeit schließlich finden sich insbesondere in seiner sechsten deutschen Predigt, wo die Epistelperikope ›Iusti vivent in aeternum‹ aus Sap 5,16 erläutert werden soll. Die Ausgangsfrage lautet hier: »Welches sind die Gerechten« bzw. was bedeutet es, dass man gerecht sei, wenn man »einem jeden gibt, was sein ist«?61 Eckhart führt hierzu aus: Insbesondere Gott sei zu geben, was sein ist (freilich dann auch »den Heiligen und den Engeln […] und dem Mitmenschen«). Gott geben, was sein ist, bedeutet, ihm Ehre (êre) zu erweisen. Diejenigen, die dies tun, sind die, die aus sich selbst gänzlich ausgegangen sind und des Ihrigen ganz und gar nichts suchen in irgendwelchen Dingen […]; die auf nichts unter sich noch über sich noch neben sich noch an sich sehen; die nicht nach Gut noch Ehre noch Gemach noch Lust noch Nutzen noch Innigkeit noch Heiligkeit noch Lohn noch Himmelreich trachten und sich alles dieses entäußert haben, alles Ihrigen.62

Man erkennt hierin erneut die oben als Abgeschiedenheit beschriebene Struktur, von der Eckhart hier unter dem Topos der Gerechtigkeit noch einmal die mit ihr verbundene, rechtverstandene ›Gleichgültigkeit‹ betont: Nichts ist dem gerechten Menschen peinvoller und schwerer, als was der Gerechtigkeit zuwider ist: dass er nicht in allen Dingen gleich¢mütig² ist. […] Kann ein Ding die Menschen erfreuen und ein anderes sie betrüben, so sind sie nicht gerecht; vielmehr, wenn sie zu einer Zeit froh sind, so sind sie zu allen Zeiten froh […]. Wer die Gerechtigkeit liebt, der steht so fest darauf, dass, was er liebt, sein Wesen63 ist; kein Ding vermag ihn davon abzuziehen, und auf nichts sonst achtet er.64

61

Eckhart, Pr. 6, DW I 99; Übers. 452. Eckhart, Pr. 6, DW I 100; Übers. 452: Die ir selbes alzemâle sint ûzgegangen und des irn alzemâle niht ensuochent an keinen dingen, swaz ez joch sî, noch grôz noch klein, die niht ensehent under sich noch über sich noch neben sich noch an sich, die niht enmeinent noch guot noch êre noch gemach noch lust noch nuz noch innicheit noch heilicheit noch lôn noch himelrîche und dis alles sint ûzgegangen, alles des irn […]. 63 Hier und an anderen Stellen wird nicht, wie in der Übersetzung, ›wesen‹ mit ›Sein‹ wiedergegeben, weil dieser Ausdruck eher eine statische ontologische Struktur zu implizieren scheint, sondern mit ›Wesen‹, um hierin zugleich die ewige Dynamik des göttlichen Schaffens zu insinuieren. 64 Eckhart, Pr. 6, DW I 103f.; Übers. 453: Dem gerehten menschen enist niht pînlîcher noch swærer, dan daz der gerehticheit wider ist, daz er in allen dingen niht glîch ist. […] 62

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Dieses Wesen bestimmt Eckhart im Folgenden als »Leben« (leben); es wird um seiner selbst willen erstrebt und ist in den Gerechten so »edel«, »dass es unvermittelt [sunder allez mittel] von Gott in die Seele fließt« (DW I 105f.; Übers. 453). Diese Charakterisierung des ›Lebens‹ mag zunächst an Thomas’ unmittelbar gnadenhafte Erschaffung der Seele und sodann an die ebenso unmittelbar gnadenhafte Eingießung der virtutes infusae erinnern. Anders als dort aber ist das ›Leben‹ für Eckhart mit Gott gleichzusetzen: »Gottes Wesen ist mein Leben«, denn: »Ist denn mein Leben Gottes Wesen, so muss Gottes Sein [sîn] mein sein und Gottes Wesenheit [isticheit] meine Wesenheit, nicht weniger und nicht mehr.«65 Dies assoziiert Eckhart mit der christlichen Vorstellung der Gottes-Sohnschaft Christi und der Identifikation des Gottessohnes mit dem Wort, das dem Johannesevangelium zufolge im Anfang bei Gott war und zugleich Gott selbst ist, und setzt dieses Wort schließlich mit ›mir‹ gleich: Der Vater gebiert seinen Sohn in der Ewigkeit sich selbst gleich. […] Noch sage ich überdies: Er hat ihn geboren aus meiner Seele. Nicht allein ist sie bei ihm und er bei ihr als gleich, sondern er ist in ihr; und es gebiert der Vater seinen Sohn in der Seele in derselben Weise, wie er ihn in der Ewigkeit gebiert und nicht anders. […] Der Vater gebiert seinen Sohn ohne Unterlass, und ich sage mehr noch: Er gebiert mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Ich sage noch mehr: Er gebiert mich nicht allein als seinen Sohn; er gebiert mich als sich und sich als mich und mich als sein Wesen und seine Natur.66

In bemerkenswerter Weise schließt sich hieran Eckharts konsequente, schon im vorherigen Abschnitt angeklungene Feststellung an, dass die sachgemäße Auffassung des Verhältnisses zwischen der Seele

Mac sie ein dinc vröuwen und ein anderz betrüeben, sô ensint sie niht gereht, mêr: sint sie ze einer zît vrô, sô sint sie ze allen zîten vrô; […] Swer die gerehticheit minnet, der stât sô vaste dar ûf, swaz er minnet, daz ist sîn wesen; den enmac kein dinc abeziehen, noch keines dinges enahtet er anders. 65 Eckhart, Pr. 6, DW I 106; Übers. 453: Ist mîn leben gotes wesen, sô muoz daz gotes sîn mîn sîn und gotes isticheit mîn isticheit, noch minner noch mêr. 66 Eckhart, Pr. 6, DW I 109; Übers. 454: Der vater gebirt sînen sun in der êwicheit im selber glîch. […] Noch spriche ich mêr: er hât in geborn in mîner sêle. Niht aleine ist si bî im noch er bî ir glîch, sunder er ist in ir, und gebirt der vater sînen sun in der sêle in der selben wîse, als er in in der êwicheit gebirt, und niht anders. […] Der vater gebirt sînen sun âne underlâz, und ich spriche mêr: er gebirt mich sînen sun und den selben sun. Ich spriche mêr: er gebirt mich niht aleine sînen sun, mêr: er gebirt mich sich und sich mich und mich sîn wesen und sîn natûre.

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Gott und Tugend bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart

und Gott nicht die Gestalt einer äußerlichen Subjekt-Objekt-Stellung aufweisen kann: »Man soll Gott nicht als außerhalb von einem selbst erfassen und ansehen, sondern als mein Eigen und als das, was in einem ist.«67 Deshalb sei die Meinung mancher »einfältige[r] Leute« zurückzuweisen, dass man Gott so ansehen sollte, »als stünde er dort und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind eins«. Die gleichsam spinozische Verschränkung von Gott und Mensch findet einen abschließenden Ausdruck in der Formel: »Das Wirken und das Werden […] ist eins. […] Gott und ich, wir sind eins in solchem Wirken [gewürke]; er wirkt, und ich werde«68 – dies gesagt gegen diejenigen, die behaupten, die Seligkeit (sælicheit) liege allein im Willen und nicht in der Doppelstruktur der liebenden Erkenntnis (bekantnisse) Gottes, in der sowohl ich in Gott hineingehe (Liebe) als auch ihn in mich hineinhole (Erkenntnis) und dadurch mit ihm (wieder) eins werde. Bei alldem hält Eckhart verschiedentlich daran fest, dass a) im irdischen Leben die Einswerdung mit Gott nicht dauerhaft sein kann, ja, wohlmöglich lediglich in Gestalt eines unabschließbaren Progresses verfolgt werden muss,69 und dass b) dieses Verfolgen die Züge einer Fertigkeit oder Kunstfertigkeit (kunst) trägt,70 die durch ›steten Fleiß‹ bzw. Eifer erworben und weitergeübt werden muss71 – was wiederum an die thomasische Figur der erworbenen Tugenden und den operativen Status derselben (Tugend als habitus operativus) erinnert, ohne dass Eckhart diesen Ausdruck hier explizit verwendete. Bezeichnenderweise wählt Eckhart als ein Gleichnis für die von ihm intendierte zu erwerbende Kunstfertigkeit das Schreibenlernen.72 Diesen Prozess kennzeichnet Eckhart verschiedentlich als einen Bildungsprozess, etwa indem er im vorliegenden Zusammenhang davon spricht, der Mensch müsse im Lernprozess nicht eine äußere, sondern eine »innere Einsamkeit [innerlich einœde]« ergreifen, indem er lerne, »die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen« und ihn dadurch »in einer wesenhaften Weise in sich hineinbilden 67 Eckhart, Pr. 6, DW I 113; Übers. 455: Man ensol got niht nemen noch ahten ûzer im sunder als mîn eigen und daz in im ist. 68 Eckhart, Pr. 6, DW I 114; Übers. 455: Daz würken und daz werden ist ein. […] Got und ich wir sint ein in disem gewürke; er würket, und ich gewirde. 69 Vgl. Eckhart, DW V, 196f.; Übers. 507f. 70 Vgl. Eckhart, DW V 207f.; Übers. 510f. 71 Vgl. Eckhart, DW V 212; Übers. 512: Vom stæten vlîze in dem hœhsten zuonemenne. 72 Vgl. Eckhart, DW V 207f.; Übers. 510.

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[erbilden] zu können«.73 Zugleich ist jedoch mit Blick auf das oben Gesagte zu betonen, dass in Eckharts Grundfigur das eigentliche Agens dieser Bildungstätigkeit und die eigentliche Kraft (vis) in der Tugend (virtus) nicht der einzelne Mensch als solcher, das heißt als abgetrennte Substanz ist, sondern vielmehr derjenige, durch den Gott handelt, der »mich als sich und sich als mich und mich als sein Wesen und seine Natur« gebiert (DW I 109; Übers. 454). Die Nähe dieser Vorstellung zum oben umrissenen ›Spinozismus‹ ist offenkundig. Das Fazit zum vorliegenden Abschnitt wird im nächsten Abschnitt zugleich mit einem Vergleich der für Thomas von Aquin herausgearbeiteten Strukturen gezogen werden.

3. Schlussbemerkungen: Mystik als Spinozismus im Mittelalter? Folgende Schlüsse lassen sich aus dem Gesagten ziehen: 1.

Meister Eckhart scheint nach dem Gesagten weniger die aristotelische Konzeption erworbener Tugenden zu nivellieren, als dass er Tendenzen einer ›theologischen Überformung‹ dieser Konzeption, die sich bereits bei Thomas von Aquin finden lassen, aufgreift und in gleichsam radikalisierter Weise fortführt. Nicht nur stellt die Tugend für Eckhart wie bei Thomas einen ausgezeichneten Bezug zwischen der Einzelperson und Gott her, wobei die Einzelperson zugleich eine selbständige, durch die Tugend lediglich modifizierte Substanzialität bewahrte, sondern der Vollzug des Sich-Abscheidens von allem Kreatürlichen versetzt den Menschen in die Tugend, d.ௗh. Mächtigkeit Gottes selbst als des ›Seins in allem Dasein‹. Indem die Möglichkeit solchen Sich-Abscheidens selbst einer Mächtigkeit und damit der ›Tugend‹ (Kraft) bedarf – mit Thomas gesprochen: selbst bereits eine operatio ist –, kann Eckhart davon sprechen, dass es sich hierbei um ein Gnadengeschenk, d.ௗh. letztlich um ein Tun Gottes selbst handelt, das aber – erneut im Gegensatz zu Thomas – den Unterschied zwischen Gott und der handelnden Person zugunsten der zugrundeliegenden Einheit abhebt.

73 Eckhart, RdU, DW V 207; Übers. 510: Er muoz lernen diu dinc durchbrechen und sînen got dar inne nehmen und den krefticlîche in sich künnen erbilden in einer wesentlîchen wîse.

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Gott und Tugend bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart

2.

3.

Hegels Charakterisierung des mittelalterlichen Denkens, wie diese am Beginn des vorliegenden Aufsatzes entwickelt wurde, ist gewiss nicht toto coelo, aber für den vorliegenden Kontext doch immerhin dahingehend zuzustimmen, dass sich das Denken des Thomas von Aquin in der Tat, einiger ausgewiesener Stellen unbeschadet, in der Beschränkung der Reichweite dessen hält, was man mit Hegel als verstandesmäßige Erkenntnis bestimmen kann. Der Großteil der thomasischen Tugendethik ist letztlich nur aus dieser Beschränkung heraus verständlich. Demgegenüber apostrophiert Meister Eckhart bis in seine Begriffswahl hinein, u.ௗa. mit seiner Verwendung von Worten aus dem Umkreis der Vernunft- und Vernehmenssemantik, die zugleich eine Umwendung implizieren (›vernünftige zuokêrenne‹, das ›vernünftige Sich-[zurück]-Kehren‹, DW V 205), eine Überstiegsfigur, die die Begrenzungen verstandesmäßiger Differenzierungen konsequent transzendiert. Der ›Spinozismus‹ Eckharts, wenn man diese hegelsche Charakterisierung aufgreift, zeigt sich also insbesondere an zwei Momenten: erstens der Perspektive auf ein All-Einheitsdenken, das Gott und Geschöpf – freilich ohne beide einfachhin zu konfundieren – in ihrem substanziellen Bezug erfasst; zweitens in einer Ausdeutung der Tugend als Macht und Vermögen des göttlichen und von diesem her gedachten eigentlichen menschlichen Handelns. Der Ausgang von der Einschätzung Hegels bringt zudem ans Licht, dass einige der gängigen Fragestellungen, mit denen man sich dem mittelalterlichen Denken und speziell der mittelalterlichen Ethik nähert, den eigentlichen Sachbestand verfehlen. So muss sicherlich in den Entwürfen des Thomas von Aquin und Meister Eckharts ein Unterschied gemacht werden zwischen einer theologischen und einer philosophischen Dimension. Allerdings können beide Ebenen in keinem der beiden Ansätze als strikt getrennt und irreduzibel einander gegenüberstehend begriffen werden. Eine philosophische Tugendethik ganz ohne ›theologische‹ Perspektive gibt es weder bei Thomas noch bei Eckhart, was wiederum aber nicht bedeutet, dass das operative Vermögen innerhalb beider Entwürfe ein der Vernunft wiederum strikt entgegengesetzter Glaube wäre. Beide setzen die höchste beatitudo des Menschen vielmehr in die Erkenntnis, beide setzen das Streben nach dieser in die Vernunft und den vernünftigen Willen. Beide setzen zudem, obzwar in unterschiedlicher Weise,

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auf ein Wechselverhältnis zwischen durch Eigenaktivität des Menschen erreichbaren Qualitäten, die im weiteren zu gutem Handeln befähigen, und einem unverfügbaren Moment, das beide als göttliche Gnade benennen. Die Unterschiede bestehen demnach nicht darin, dass einer der Autoren eine Ethik ohne Gott entwerfen würde und der andere nicht, sondern in Hinsicht darauf, wie weit sie den philosophischen Erkenntnisanspruch innerhalb ihrer Überlegungen zur Tugend treiben. Mit Blick hierauf kann man Eckharts Denken, durchaus mit einer gewissen Überspitzung, als ›eine Art Spinozismus im Mittelalter‹ werten. Das betrifft nicht nur die Momente einer All-Einheitsphilosophie, die Eckharts Denken auszeichnen, sondern auch die Einschätzung der Reichweite der Vernunft, wie sie beide Denker einräumen, wie auch die Überstiegsfigur der diskursiven ratio durch ein intuitives Vernehmen (vernünftigez würklîchez wissen,74 ›scientia intuitiva‹) des Absoluten.

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(Das) Nichts zu bewahren: Meister Eckharts Tugendlehre als Umformung konservativen Denkens

1. Thomas von Aquin: Gott als der höchste Geber »Dadurch nun«, so schreibt Thomas von Aquin in seiner Summe der Theologie, »dass ein Mensch sich von einem anderen erhofft – oder gar ›sich von einem anderen erwartet‹ (se sperat) –, etwas Gutes für sich selbst zu erhalten, betrachtet er denjenigen, auf welchen er eine solche Hoffnung setzt, als etwas Gutes«, und zwar, so Thomas anschließend, nicht als etwas, was absolut oder an sich selbst gut wäre, sondern was allein im Hinblick auf etwas anderes, letztlich auf sein eigenes Interesse, gut ist; wie es heißt: quoddam bonum suum.1 Wir lieben Gott als das höchste Gut somit letztlich insofern, wie es scheint, als Er als der höchste Geber dasjenige geben kann, worauf wir – wir selbst – aus sind. Gott ist bei Thomas also – zumindest nicht zuletzt – der Geber einer zukünftigen Belohnung für das tugendhafte Verhalten des Menschen auf Erden. Es gibt darüber hinaus weitere Bereiche, in welchen Gott bei Thomas als der höchste Geber präsentiert wird. Er ist vor allem der Geber der Naturordnung, welche Er in einer zweifachen Art und Weise gibt. Erstens gibt Er – d.ௗh. Er bestimmt – die zu-realisierenden Ziele der Natur, also dasjenige, worauf die Naturdinge als solche aus sind. Zweitens gibt Er, und zwar durch die Schöpfung, die 1 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 62, a. 4, r.: Per hoc autem quod homo ab aliquo sperat se bonum consequi posse, reputat ipsum in quo spem habet, quoddam bonum suum. Unde ex hoc ipso quod homo sperat de aliquo, procedit ad amandum ipsum. Vgl. ebd., ad 3: [N]unquam enim speratur aliquod bonum nisi desideratum et amatum. Respicit etiam spes illum a quo se sperat posse consequi bonum. […] Per hoc enim quod aliquis reputat per aliquem se posse consequi aliquod bonum, incipit amare ipsum: et ex hoc ipso quod ipsum amat, postea fortius de eo sperat.

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reale Möglichkeit als die reale Grundlage, den Grund oder die Basis, auf welcher die Realisierung der von den Naturdingen angestrebten Ziele allein gründen kann: Er gibt sozusagen die Voraussetzung der Realisierung. Denn die Realisierung kann nichts als Aktuierung einer von Gott vorgegebenen Potenz sein. Die Natur – die es gibt, und zwar insofern, als Er (sie) gibt – gibt Gott somit als eine in eine bestimmte Richtung zu-aktuierende oder zu-realisierende reale Möglichkeit.2

2. Tugend als Relation Bei der eben beschriebenen Position handelt es sich freilich um eine zunächst ontologische These, welche für das Thomasische Verständnis von Tugend jedoch entscheidend ist. Tugend besagt bei Thomas bekanntlich einen Habitus (Griechisch: ਪȤȚȢ [héxis]). Er selbst erklärt, man habe diesen Ausdruck, habitus, im Sinne des lateinischen Ausdrucks ›se habere‹ zu verstehen,3 was soviel heißt wie ›sich zu etwas verhalten‹. Die Tugend ist ein habitus – schon diese Aussage besagt also, dass sie als solche kein Absolutes darstelle; sie drücke ein Verhältnis zu etwas anderem aus: se habere ad aliquod oder ad aliquem. Aber wozu drückt die Tugend ein Verhältnis aus? Die Antwort lautet: ein Verhältnis zur gegebenen Naturordnung, letztlich zu Gott als dem höchsten Geber derselben.4

2 Siehe dazu Andrés Quero-Sánchez, Über das Dasein: Albertus Magnus und die Metaphysik des Idealismus, Stuttgart 2013 (Meister-Eckhart-Jahrbuch, Beihefte 3), 155–164. 3 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 49, a. 1, r.: Respondeo dicendum quod hoc nomen habitus ab habendo est sumptum. A quo quidem nomen habitus dupliciter derivatur, uno quidem modo, secundum quod homo, vel quaecumque alia res, dicitur aliquid habere; alio modo, secundum quod aliqua res aliquo modo se habet in seipsa vel ad aliquid aliud. […] Si autem sumatur habere prout res aliqua dicitur quodam modo se habere in seipsa vel ad aliud; […] Et sic loquimur nunc de habitu. 4 Vgl. Peter Nickl, Ordnung der Gefühle: Studien zum Begriff des habitus, Hamburg 2001, 25f.: »Habitus (auch hexis) kommt von ›haben‹. Es ist klar, dass es hier um ein Haben geht, das sich nicht durch Bezug auf Äußeres, Materielles, definieren lässt, sondern um die Herstellung einer inneren Ordnung. Was im habitus gehabt wird, das ist man selber, insofern man die in der menschlichen Natur angelegte, aber nicht angeborene Hierarchie der Seelenteile verwirklicht.«

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Meister Eckharts Tugendlehre als Umformung konservativen Denkens

3. Natur als die ›im Voraus fixierte Ordnung‹ Die Tugend als Habitus besagt eine Qualität, d.ௗh. eine bestimmte, ja eine besondere – eben die natürliche – ›Seinsweise‹ des Menschen als eines Naturdinges. Die Tugend (virtus) vergleicht Thomas in diesem Kontext mit der Gesundheit (sanitas). Auch sie, die Gesundheit, besagt eine bestimmte Qualität oder Seinsweise eines natürlich gegebenen Wesens. Die Seinsweise definiert nun eine bestimmte Ordnung, nämlich die Naturordnung des Dinges. Alles, was diese bestimmte Ordnung fördert – etwa eine bestimmte Diät oder eine bestimmte Lebensweise oder bestimmte Angewohnheiten – ist ›gesund‹, wohingegen dasjenige, was dieser vorgegebenen Ordnung schadet – was ihr opponiert oder sie nur infragestellt –, ›ungesund‹, ›schädlich‹ wäre. Ein tugendhaftes Wesen ist somit ein im Sinne einer auf einer bestimmten Art und Weise gegebenen Ordnung gut – sprich: der gegebenen Ordnung entsprechend – funktionierendes Wesen. Und der Habitus ist eine – zumindest zum Teil – zu erwerbende Qualität, die als solche eine Neigung zu einer solchen Naturordnung mit sich bringt: qualitas inclinans (›eine Qualität mit Neigungscharakter‹,5 also mit ›Anhänglichkeit‹, mit ›Vorliebe‹). Die Tugend als Habitus dient in diesem Sinne dazu, die von Gott auf eine bestimmte Art und Weise durch die Natur gegebene Ordnung zu erhalten, zu bewahren, ja sie weiterzugeben oder eben zu tradieren. Und wie hat Gott die Naturordnung, welche es durch die Tugend zu bewahren oder zu tradieren gilt, gegeben? Thomas‫ ތ‬Antwort lautet: Eine Seinsweise (modus) ist nun dasjenige, wie Augustinus in seinem Genesiskommentar sagt, was von einer bestimmten Regel (mensura)

5 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 50, a. 5, ad 1: Ad primum ergo dicendum quod, sicut in intellectu est aliqua species quae est similitude obiecti, ita oportet in voluntate, et in qualibet vi appetitiva, esse aliquid quo inclinetur in suum obiectum: cum nihil aliud sit actus appetitivae virtutis quam inclinatio quaedam, ut supra dictum est. Ad ea ergo ad quae sufficienter inclinatur per naturam ipsius potentiae, non indiget aliqua qualitate inclinante. Sed quia necessarium est ad finem humanae vitae, quod vis appetitiva inclinetur in aliquid determinatum, ad quod non inclinatur ex natura potentiae, quae se habet ad multa et diversa; ideo necesse est quod in voluntate, et in aliis viribus appetitivis, sint quaedam qualitates inclinantes, quae dicuntur habitus. – Vgl. dazu Nickl, Ordnung der Gefühle, 44.

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bestimmt wird. Daher bringt sie [die Seinsweise] – eine gewisse, einer bestimmten Regel entsprechende Bestimmung mit sich.6

Die durch die Schöpfung gegebene Naturordnung beruht somit auf der besonderen Seinsweise – auf dem Modus –, letztlich auf der besonderen Seinsweise Gottes, der die Welt erschafft und damit die durch die Tugend zu bewahrende oder zu tradierende Ordnung bestimmt; oder, wie es an der gerade zitierten Stelle heißt: den Modus und mit ihm die bestimmte Naturordnung ›prae-figit‹.7 Das Präfix prae im Verb ›prae-figo‹ bedeutet bekanntlich ›vorher‹, ›im Voraus‹; das Verb figo ›errichten‹, ›erbauen‹, ›einprägen‹, ja, ›fest einprägen‹. Das Partizip passiv von figo ist fixum, was eben ›fixiert‹ bedeutet. Die durch die Tugend zu bewahrende, zu tradierende Ordnung ist somit auf eine bestimmte Art und Weise – eben als eine bestimmte Qualität auf einen bestimmten Modus als auf eine bestimmte Seinsweise – fixiert, ja prae-fixiert, d.ௗh. vom Geber der Ordnung ›im Voraus fixiert‹. Wir sind – und wir werden es auch sein – durch die Tugend an der 6 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 49, a. 2, r.: Modus autem est, ut dicit Augustinus, super Gen. ad litteram, quem mensura praefigit: unde importat quandam determinationem secundum aliquam mensuram. Vgl. Augustinus, Gen. ad litt. IV, 3, 7, PL 34, 299. 7 Gott und überhaupt alles, was (wirklich) ist, weist nach Meister Eckhart hingegen keinen Modus auf, d.ௗh. es ist, wie es heißt, ›sunder wîse‹. Vgl. etwa Meister Eckhart, Pr. 2, ed. von Georg Steer und Heidemarie Vogl, in: »Die bürgelîn-Predigt Meister Eckharts. Mutmaßungen zur Entstehung der Predigt und ihrer Beziehung zu Nikolaus von Kues. Neue textgeschichtliche Ausgabe der Predigt und der lateinischen Übersetzung aus der Koblenzer Handschrift«, in: Harald Schwaetzer / Georg Steer (Hg.), Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, Stuttgart 2011 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 4), 139–259. Das Zitat in ganzer Länge (239,148–154): Diz ist guot ze merkenne, wan diz einic ein daz ist sunder wîse und sunder eigenschaft. Und dar umbe bî gote: sol got iemer dar în geluogen, daz muoz in kosten alle sîne götlîche namen und sîne persônlîche eigenschaft: daz muoz er alzemâle hie vor lâzen, sol er iemer dar în geluogen. Sunder als er ist ein einvaltic ein, sunder alle wîse und sunder eigenschaft: dâ enist er vater noch sun noch heiliger geist in disem sinne und ist doch ein waz, daz enist noch diz noch daz. (Vgl. DW I 43,5–44,2. Es handelt sich dabei um Predigt 83* nach der neuen, liturgisch geordneten Edition von Loris Sturlese und Markus Vinzent: Meister Eckhart, The German Works. 56 Homilies for the Liturgical Year, Bd. 2: De sanctis, Leuven / Paris / Bristol, CT 2020 [Eckhart: Texts and Studies 12], 264, n. 14). Ebenso ist Gott und überhaupt alles, was (wirklich) ist, so Eckhart ausdrücklich, ›sine qualitate‹; vgl. Meister Eckhart, In Ioh. n. 502, LW III 432,8–433,1: Notandum quod haec quattuor verba [sc. Ego sum pastor bonus] proprie deo competunt. Ego enim meram substantiam significat, quam non est invenire in hoc mundo. Secundo, eo meram quod non dependens ab alio, sed per se et in se ipsa stans; et ab ipsa et per ipsam stant omnia. Tertio, meram sine qualitate, sine accidente, sine specie, sine genere, »pelagus substantiae infinitae«.

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im Voraus gegebenen Ordnung ›befestigt‹. Nicht zufällig gibt es im Lateinischen auch den Ausdruck ›hominem in cruce praefixum‹, d.ௗh. ›ein am Kreuz befestigter Mensch‹.

4. Das tugendhafte Handeln als Realisierung (zweiter Akt) des tugendhaften Habitus (als des ersten Akts des Naturdinges) Von Gott wird dem Menschen also – erstens – die Belohnung gegeben, welche er sich durch das tugendhafte Handeln als seine Zukunft erhofft oder gar erwartet. Ebenso werden von Gott dem Menschen – zweitens – die zu realisierenden Ziele als das anzustrebende Sollen gegeben, welches durch seine bestimmte Seinsweise – durch den besonderen Modus – prae-fixiert ist. Drittens wird dem Menschen von Gott auch die reale Möglichkeit der Realisierung gegeben, nämlich seine Existenz als die Grundlage, welche die Realisierung des Sollens überhaupt erst ermöglicht. Wie steht es nun mit der Realisierung oder Aktuierung selbst? Wem steht die Realisierung oder Aktuierung – das Vollbringen – der vorgegebenen Potenz zu? Thomas‫ ތ‬Antwort scheint hier klar zu sein: eine solche Aktuierung steht dem jeweiligen Individuum zu: Der Träger der Verhaltensweise, die im eigentlichen Sinne ›Tugend‹ genannt wird, kann allein der Wille sein, oder irgendwelches Vermögen, insofern als es vom Willen in Bewegung gesetzt wird. [...]. Dass ein Mensch de facto richtig handelt: das kommt daraus, dass er gutwillig ist [dass er Gutes will]. Die Tugend also, die nicht bloß der realen Möglichkeit nach das Gutsein des Menschen besagt, sondern zudem auch tatsächlich – de facto – das gute Handeln vollbringt, liegt entweder im [freien] Willen [des Menschen] selbst oder in irgendwelchem vom freien Willen des Menschen zum Handeln bewegenden Vermögen.8

Es sind nach Thomas somit zwei verschiedene actus, d.ௗh. zwei verschiedene Weisen, wie ein Ding seine Realität vervollständigen – 8 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 56, a. 3, r.: Subiectum vero habitus qui simpliciter dicitur virtus, non potest esse nisi voluntas; vel aliqua potentia secundum quod est mota a voluntate. […]. […] et ideo quod homo actu bene agat, contingit ex hoc quod homo habet bonam voluntatem. Unde virtus quae facit bene agere in actu, non solum in facultate, oportet quod vel sit in ipsa voluntate; vel in aliqua potentia secundum quod est a voluntate mota.

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eben aktuieren – kann. Die Scholastik aristotelischer Prägung spricht in diesem Zusammenhang gewöhnlich von ›actus primus‹ und ›actus secundus‹.9 Der Habitus als die reale Grundlage des tugendhaften Handelns besagt schon als solcher die Aktuierung – den ersten Akt – eines der realen Möglichkeit nach – also in potentia – dem Menschen gegebenen Vermögens. Ist das zunächst nur keimhaft oder inchoativ dem Menschen gegebene Vermögen zum tugendhaften Habitus aktuiert – worin ja der actus primus besteht –, so dient der Habitus selbst dann als die reale Grundlage für das tugendhafte Handeln selbst, also dafür, dass man gute Handlungen de facto tut – worin eben der zweite Akt besteht. Es gibt somit einen zweiten Akt (actus secundus), also eine höhere Weise, wie etwas seine Realität aktuiert oder vollendet, und dieser zweite Akt besteht in dem guten Handeln selbst (operatio) oder gar, wie Thomas ausdrücklich schreibt, in dem vom Handeln hervorgebrachten Werk (opus): Denn ein Habitus drückt ein Verhältnis zu einer vorgegebenen Natur eines Dinges aus, entsprechend welcher der Habitus für dieses Ding passend bzw. unpassend ist. Die Natur eines Dinges, welche ja das Ziel der Entstehung und Entwicklung dieses Dinges besagt, ist nun darüber hinaus auf ein höheres Ziel des Dinges hingeordnet, nämlich auf das Handeln (operatio) oder auf das durch das Handeln hervorgebrachte Werk (operatum). Daher besagt der Habitus nicht nur eine Hinordnung auf die Natur eines Dinges, sondern auch eine Hinordnung auf das Handeln, insofern als dieses ein der Natur des Dinges entsprechendes Ziel realisiert.10

Der Habitus – die bestimmte Qualität als Grundlage richtigen Handelns – ist somit der actus primus, das gute Handeln selbst – sowie das dadurch hervorgebrachte gute Werk – ist der actus secundus, wie Thomas, sich dabei zu Recht auf Aristoteles‫ ތ‬De anima beziehend, feststellt: »Daher nennt man den Habitus den ersten Akt, die

9

Vgl. Quero-Sánchez, Über das Dasein, 545–552. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 49, a. 3, r.: Est enim de ratione habitus ut importet habitudinem quandam in ordine ad naturam rei, secundum quod convenit vel non convenit. Sed natura rei, quae est finis generationis, ulterius etiam ordinatur ad alium finem, qui vel est operatio, vel aliquod operatum, ad quod quis pervenit per operationem. Unde habitus non solum importat ordinem ad ipsam naturam rei, sed etiam consequenter ad operationem, inquantum est finis naturae, vel perducens ad finem. 10

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Handlung den zweiten Akt, wie im zweiten Buch Über die Seele gezeigt wird.«11 Das tugendhafte Handeln und überhaupt das Handeln des Menschen als eines Vernunftwesens setzt sich somit nicht im Nichts oder gar aus dem Nichts, sondern es realisiert oder aktuiert eine auf eine bestimmte Art und Weise im Voraus gegebene – reale – Grundlage. Sieht man von Gott selbst ab, so gilt nach Thomas die Unterscheidung zwischen der substantia, also dem, was der Mensch ist – was den ersten Akt besagt (actus primus) –, und der operatio – welche allein den zweiten Akt angeht (actus secundus). Es gibt eben keine Selbstsetzung des Seins im Nichts, welche durch die Handlungen der Vernunft oder gar durch die grundlegende Vernunftoder Tathandlung stattfinden würde: Wenn es etwas gäbe, dessen Natur keine Zusammensetzung aus Potenz und Akt besagte, so dass seine Substanz nichts als seine Tätigkeit wäre, dann wäre ein solches Wesen durch sich selbst (et ipsum sit propter seipsum). Bei einem solchen Wesen hätte es dann keinen Sinn, über einen Habitus oder eine bestimmte Verfasstheit (dispositio) zu sprechen. Das ist aber allein bei Gott der Fall.12

5. Über die Grenzen der Freiheit Die Realisierung der keimhaft oder inchoativ dem Menschen natürlich – letztlich von Gott – gegebenen Tugend, deren Vollzug oder Vollendung (perfectio), steht also, wie es scheint, allein dem jeweiligen Menschen, dem Individuum, zu. Die Freiheit des Einzelnen steht somit im Mittelpunkt der Tugendlehre des Thomas von Aquin. Doch gilt diese Aussage allein mit gewissen Einschränkungen, von denen ich im Folgenden zwei diskutieren möchte. Erstens darf man die Rolle der göttlichen Gnade in diesem Zusammenhang nicht vergessen. Jedes Naturwesen – darunter auch 11 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 49, a. 3, ad 1: [H]abitus est actus quidam, inquantum est qualitas: et secundum hoc potest esse principium operationis. Sed est in potentia per respectum ad operationem. Unde habitus dicitur actus primus, et operatio actus secundus; ut patet in II de Anima. – Vgl. Aristoteles, An. II 1, 412 a 19–b 1. 12 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 49, a. 4, r.: […] si aliquid sit cuius natura non sit composita ex potentia et actu, et cuius substantia sit sua operatio, et ipsum sit propter seipsum; ibi habitus vel dispositio locum non habet, sicut patet in Deo.

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der Mensch – ist als solches auf das Gute aus; es »strebt [nämlich] der Natur nach dasjenige an, was für es – also für dieses Wesen selbst – gut ist« (unumquodque naturaliter appetit proprium bonum).13 Dass ein bestimmter Mensch jedoch de facto gutwillig ist und zum tugendhaften Leben kommt, dazu braucht er die Unterstützung Gottes. Der Mensch braucht die Gnade Gottes, die ihm letztlich ermöglicht – zumindest ihn dabei unterstützt –, gut zu sein und gut zu handeln.14 Was wir sind, wenn wir uns richtig – sprich: zum Guten – entscheiden, das haben wir letztlich auch Gott und dessen Gnade zu verdanken. Der christliche Philosoph ist als solcher dankbar – wie auch bescheiden. Denn die Tugend und überhaupt die Vernunft besagt keine absolute Selbstleistung oder Selbstsetzung des Menschen, für welche er sich bei Gott nicht zu bedanken hätte.15 13

Thomas von Aquin, STh I–II, q. 56, a. 6, arg. 1. Vgl. Thomas von Aquin, De ver., q. 24, a. 14, r.: Sed voluntas hominis non est determinata ad aliquam unam operationem, sed se habet indifferenter ad multas; et sic quodam modo est in potentia, nisi mota per aliquod activum, vel quod ei exterius repraesentatur sicu test bonum apprehensum, vel quod in ea interius operatur sicut est ipse Deus, ut Augustinus dicit in libro De gratia et libero arbitrio, ostendens multipliciter Deum operari in cordibus hominum. Omnes autem exteriores motus etiam a divina providentia moderantur, secundum quod ipse iudicat aliquem esse excitandum ad bonum his vel illis actionibus. Unde, si gratiam Dei velimus dicere non aliquod habituale donum, sed ipsam misericordiam Dei per quam interius motum mentis operatur et exteriora ordinat ad hominis salutem, sic etiam nec ullum bonum homo potest facere sine gratia Dei. 15 Vgl. Andrés Quero-Sánchez, »Über die Dankbarkeit der Vernunft: Gnade bei Augustinus und Meister Eckhart«, in: Rudolf K. Weigand / Regina Schiewer (Hg.), Meister Eckhart und Augustinus, Stuttgart 2011 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 3), 38– 73. Des öfteren wird allerdings die für den Christen kennzeichnende respektvolle Dankbarkeit gegenüber dem liebenden – und geliebten – Vater mit der sklavischen Furcht gegenüber einem allmächtigen Herren verwechselt; vgl. etwa Bertrand Russell, Why I Am Not a Christian – and Other Essays on Religion and Related Subjects, hg. von Paul Edwards, New York 1967, 23: »We want to stand upon our own feet and look fair and square at the world – its good facts, its bad facts, its beauties, and its ugliness; see the world as it is, and be not afraid of it. Conquer the world by intelligence, and not merely by being slavishly subdued by the terror that comes from it. The whole conception of God is a conception derived from the ancient Oriental despotisms. It is a conception quite unworthy of free men. When you hear people in church debasing themselves and saying that they are miserable sinners, and all the rest of it, it seems contemptible and not worthy of self-respecting human beings. We ought to stand up and look the world frankly in the face. >...] and if it is not so good as we wish, after all it will still better than what these others have made of it in all these ages. A good world needs knowledge, kindliness, and courage; it does not need a regretful hankering after the past, or a fettering of the free intelligence by the words uttered long ago by 14

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Darüber hinaus spielt auch die konkrete, durch die Natur und letztlich den Schöpfer dem Individuum jeweils gegebene Verfasstheit eine entscheidende Rolle in der Tugendlehre des Thomas von Aquin. Das wird aus seiner Diskussion in der Quaestio 63 der Prima Secundae besonders deutlich. Er fragt dort: »Ist die Natur die Ursache der Tugend in uns?« Letztlich ist, so Thomas‫ ތ‬Antwort, der freie Wille des Einzelnen der Grund der Tugend.16 Und doch: eine solche freie Entscheidung des Einzelnen findet nicht in der Luft, nicht im Nichts statt. Denn als Individuum weist der Mensch eine gewisse, durch Natur bestimmte, konkrete – sprich: von Individuum zu Individuum verschiedene – körperliche Verfasstheit (corporis dispositio) auf, welche sich auf die Ausübung der Tugend – diese fördernd oder behindernd – auswirkt. Es sei nämlich so, »dass einige Individuen wegen einer gewissen Verfasstheit des Körpers für bestimmte Tugenden besser bzw. schlechter geeignet sind«. Deshalb, so fährt Thomas fort, hat ein Mensch eine natürlich gegebene Fähigkeit zur Wissenschaft, wo ein anderer eine solche zur Tapferkeit (fortitudo), ein anderer zur Mäßigkeit (temperantia) hat. Dementsprechend werden sowohl die intellektuellen als auch die moralischen Tugenden uns entsprechend einer in uns keimhaft gegebenen Fähigkeit natürlich gegeben.17

Freilich betont Thomas dabei zugleich, dass eine solche, dem Individuum keimhaft gegebene Verfasstheit die Vollendung oder den Vollzug der Tugend nicht notwendigerweise mit sich bringt: »Die Natur bewirkt die Tugenden in uns, indem sie uns inchoativ zur

ignorant men. It needs a fearless outlook and a free intelligence. It needs hope for the future, not looking back all the time towards a past that is dead, which we trust will be far surpassed by the future that our intelligence can create.« 16 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 63, a.1, r.: [...] secundum aptitudinem scientiae et virtutes sunt in nobis a natura, non autem secundum perfectionem, ut philosophus dicit, in II Ethicorum. 17 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 63, a. 1, r.: Secundum vero naturam individui, inquantum ex corporis dispositione aliqui sunt dispositi vel melius vel peius ad quasdam virtutes: prout scilicet vires quaedam sensitivae actus sunt quarundam partium corporis, ex quarum dispositione adiuvantur vel impediuntur huiusmodi vires in suis actibus, et per consequens vires rationales, quibus huiusmodi sensitivae vires deserviunt. Et secundum hoc, unus homo habet naturalem aptitudinem ad scientiam, alius ad fortitudinem, alius ad temperantiam. Et his modis tam virtutes intellectuales quam morales, secundum quandam aptitudinis inchoationem, sunt in nobis a natura.

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Tugend befähigt, nicht jedoch, als würde sie selbst die Tugend in uns zur Vollendung bringen.«18 Es gibt nach Thomas somit so etwas wie eine natürliche Verfasstheit des Körpers, welche das Individuum, wie es ausdrücklich heißt, »von Geburt an […] sei es zu Elend (ad miserendum), sei es zum richtigen Leben (ad temperate vivendum) […] besonders befähigt.«19

6. Meister Eckhart: Sein statt Haben Ließe sich Meister Eckharts Position ebenso als eine ›Philosophie des Gegebenen‹ oder überhaupt als ›Beziehungsmetaphysik‹ bezeichnen?20 Mir scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Das könnte zunächst freilich überraschend klingen. Denn wir lesen etwa in den Erfurter Reden: Ja, ie mer wir eigen sin, ie minner eigen, d.ௗh.: »Je mehr wir selbst sind, desto weniger sind wir selbst.«21 Uns wird somit unser – angeblich eigenes – Sein doch gegeben, und zwar von Gott gegeben.22 18 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 63, a. 1, r.: Sic ergo patet quod virtutes in nobis sunt a natura secundum aptitudinem et inchoationem, non autem secundum perfectionem: praeter virtutes theologicas, quae sunt totaliter ab extrinseco. 19 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 63, a. 1, r.: […] ex naturali dispositione corporis, quam habet ex nativitate, unus habet aptitudinem ad miserendum, alius ad temperate vivendum, alius ad aliam virtutem. 20 Vgl. Christine Büchner, »Sein-Geben. Meister Eckharts Denken der Gott-WeltBeziehung als Ansatzpunkt einer Ontologie des Gebens und Sich-Gebens«, in: Rolf Kühn / Sebastian Laoureux (Hg.), Meister Eckhart – Erkenntnis und Mystik des Lebens. Forschungsbeiträge zur Lebensphänomenologie, Freiburg i.Br./München 2008, 358–382. 21 Eckhart, RdU, DW V 230,8. Bei diesen sogenannten Erfurter Reden handelt es sich um keinen von Eckhart selbst in dieser Form herausgegebenen Text. Siehe dazu Andrés Quero-Sánchez, »Meister Eckhart’s ›Rede von der armuot‹ in the Netherlands: Ruusbroec’s Critique and Geert Groote‫ތ‬s Sermon on Poverty«, in: Marie-Anne Vannier (Hg.), Mystique Rhénane et Devotio Moderna, Paris 2017, 77–102, hier 80f. Siehe ebenfalls: Dagmar Gottschall / Dietmar Mieth (Hg.), Meister Eckharts ›Erfurter Reden‹ in ihrem Kontext, Stuttgart 2013 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 6). 22 Zum Verhältnis Meister Eckharts zur Philosophie des Thomas von Aquin siehe: Chiara Paladini, »›frater Thomas dicit‹: Eckhart e Tommaso d‫ތ‬Aquino«, in: Loris Sturlese (Hg.), Studi sulle fonti di Meister Eckhart, Bd. 2, Fribourg 2021, 203–255; Andrés Quero-Sánchez, »Temporalia, maxime respectu aeternorum, nihil sunt: Über den angeblichen Thomismus des jungen Meister Eckhart«, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 10 (2005), 37–66; ders., Über das Dasein, 308–323, 345–351 und 553–558; Peter Nickl, »Thomas von Aquin und Meister

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Doch sind solche Aussagen von Eckhart eher mit Vorsicht zu genießen. Denn das göttliche Sein, das uns gegeben wird, wird eben durch die Vernichtung des kreatürlichen Seins befreit – also gerade durch die Vernichtung des uns von Gott als Schöpfer gegebenen Seins, dessen nämlich, was Eckhart in der Expositio Libri Genesis als »das Sein der Dinge in der Natur« bezeichnet, »welches«, so heißt es dort, »die Kreatur in ihrer eigenen Seinsform hat« (esse rerum in natura quod habet in forma propria).23 Was ist nun das natürlich gegebene Sein des Dinges, das es nach Eckhart zu vernichten gälte? Das ist das Sein des Dinges in der Relation zu anderem. Auch das könnte zunächst überraschend klingen. ›In der Relation zu anderem zu sein‹ bedeutet in diesem Zusammenhang allerdings dasselbe wie ›ein Warum haben‹. Das kreatürliche Sein des Dinges – und zwar als solches – weist nach Eckhart bekanntlich immer irgendein Warum auf, d.ௗh. die Kreatur ist immer als solche in Relation zu anderem. Sie steht als solche immer in einem Kausalzusammenhang,24 denn sie ist entweder bloßer Effekt, bloße Wirkung – also etwas, was von einer bestimmten Wirkursache (causa efficiens) gesetzt wird –, oder sie ist ein bloßes Mittel, InstruEckhart: Freiheit als Seinsprinzip«, in: Uwe an der Heiden / Helmut Schneider (Hg.), Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, Stuttgart 2007, 100–113. 23 Vgl. Eckhart, In Gen. I n. 77, LW I/1 238,1–7 (Rec. CT); LW I/2 121,21–122,4 (Rec. L). Zu Eckharts Expositio libri Genesis und deren Verhältnis zu dem – fälschlich – so genannten ›Zweiten Genesiskommentar‹, dem Liber Parabolarum Genesis, siehe Andrés Quero-Sánchez, »Meister Eckhart’s Commentaries on Genesis and his Treatise On Being, What is, and Nothing«, in: Revista española de Filosofía Medieval 23 (2016), 259–290, hier 276–288. 24 Vgl. Eckhart, In Sap. n. 98, LW II 432,5–434,2: Caritas enim est amor boni, in quantum bonum, et hoc deus est, »bonum bonum«, »omnis boni bonum«, ut supra Augustinus dicit. Bonum autem hoc aut illud, bonum huius aut bonum illius, iam creatum est et aliquid sub bono est, citra et praeter bonum, proprium est, non commune, aliquid excludit, caritas vero nihil excludit. Augustinus ubi supra: »tolle hoc et hoc«. Hoc enim et hoc laqueus est, quo quis iam non liber est, sed captus. Non enim agit bonum sui gratia – non enim gratis fit – sed propter hoc aut hoc servit huic aut huic, mercennarius est, servus, non filius boni, quia non amore boni. Filius enim philos est, ab amore. De quo laqueo servitutis liberari, quasi liber fieri, orat Psalmus: ›educes me de laqueo hoc‹. Hoc enim et hoc laqueus est, Psalmus: ›laqueus contritus est, et nos liberati sumus‹. ›Sumus liberat‹‹, id est liberi facti. Praemiserat enim: ›benedictus dominus, qui non dedit nos in captionem‹. ›Anima nostra erepta est de laqueo venantium‹, Ioh. 8: ›veritas liberabit vos‹. ›Veritas‹ deus, Ioh. 14: ›ego sum veritas‹. Bonum, in quantum bonum, non hoc aut illud, deus est, Luc. 18: ›nemo bonus nisi solus deus‹. Caritas, amor boni absolute, deus est, Ioh.: ›deus caritas est‹.

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ment für etwas anderes – also etwas, was bloß im Hinblick auf etwas anderes Bestand hätte, oder auch etwas, dessen Bewegungen oder gar Handlungen allein im Hinblick auf etwas anderes, im Sinne einer Finalursache (causa finalis), zustande zu bringen wäre. Dasjenige hingegen, was eigentlich – und damit nicht bloß wegen der Relation zu anderem – ist, kennt weder Wirk- noch Zielursache überhaupt. In diesem Sinne sagt Eckhart: Deus, et per consequens homo divinus, non agit propter quare25 bzw. nescit principium a quo.26 Das natürlich gegebene Sein des Dinges als das Sein desselben in der Relation zu anderem nennt Eckhart bekanntlich esse hoc, welches es hinter sich zu lassen gelte, um das Sein Gottes selbst – das Warumlose selbst, das esse absolute – im Menschen – und überhaupt in der Welt – sein zu lassen. Im Lichte einer solchen grundlegenden ontologischen Position wird nun deutlich, inwiefern die Tugend nach Eckhart gerade keinen Habitus besagen darf – zumindest keinen Habitus in der Bedeutung, welche dieser Ausdruck bei Thomas hat. Denn sie darf eben keine Weise besagen, wie man sich überhaupt zu etwas anderem verhält.27 25 Vgl. Eckhart, Sermo IV n. 21, LW IV 22,11–23,2: Secundo nota quod non ait nec addit: ›propter ipsum‹ sunt omnia: primo, quia deus, et per consequens homo divinus, non agit propter cur aut quare. Secundo, quia omnia operantur ex deo, per deum, quod in deo, sed et ipse deus omnia operatur in se ipso. In ipso autem non est propter. 26 Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 336, LW III 284,5–285,2: Secundo notandum quod spiritus sanctus nescitur unde veniat aut quo vadat, quia deus et omne divinum, in quantum huiusmodi, nescit principium a quo nec finem ad quem. Si enim »in mathematicis non est bonum« et finis, sed solum causa formalis, ut ait philosophus, quanto magis in metaphysicis et divinis. Et hoc est quod homo divinus prohibetur habere patrem et matrem super terram, Matth. 23. Et Christus venit ›separare hominem adversus patrem suum‹, Matth. 10; et ibidem infra undevicesimo: ›relinquet homo patrem et matrem et adhaerebit uxori suae‹. 27 Siehe ähnlich bei F.W.J. Schelling, Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, AA, Bd. I,15, 143,26–144,8: »Daß im Kriticismus diese Untersuchung, welche eigentlich das Centrum der Philosophie ausmacht, völlig verschwand, ist eben so begreiflich, als es consequent ist, daß die Barbaren in der Philosophie jene Frage vom Verhältniß des Endlichen zu Gott, für eine unbeantwortliche erklären, und in der Ordnung, wenn die Darstellung des endlichen Daseyns, als eines von Gott abgefallnen und getrennten Lebens, denjenigen am seltsamsten dünkt, welche an ihrer, ganz in Relationen versunkenen, Existenz, die unmittelbarste Erfahrung machen könnten, daß die einzige und eigentliche Sünde eben die Existenz selbst ist. // Das Seyn der Dinge in Gott ist, (wie in den voranstehenden Sätzen hinlänglich bewiesen ist), ihr Nicht-Seyn in Relation auf einander, so wie dann im Gegentheil ihr Seyn in Relation auf einander nothwendig ihr Nicht-in-Gott-Seyn oder ihr Nicht-Seyn in Ansehung Gottes involvirt.« Zum Verhältnis Schellings zu Meister Eckhart siehe:

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Die Tugend hat bei Eckhart überhaupt mit ›Haben‹ nichts zu tun, sondern allein mit ›Sein‹. Tatsächlich gibt es im Mittellateinischen nicht nur den Ausdruck ›se habere‹, auf welchen sich Thomas, wie bereits oben erwähnt, bei seiner Erläuterung des Begriffs des Habitus bezieht, sondern es gibt ebenso das Substantiv ›habitudo‹: ›habitudo ad aliquem‹ oder ›habitudo ad aliquod‹, was so viel bedeutet wie ›ein Verhältnis oder eine Beziehung zu jemandem oder überhaupt zu etwas‹.28 Nun, auch das Verb ›Haben‹ – also nicht bloß ›se habere‹, sondern ›habere‹ –, d.ௗh. ›haben‹ oder gar ›besitzen‹, schließt ein Verhältnis zu anderem in sich ein. Es ist nämlich nicht dasselbe, wenn ich sage: ›Domus est‹ (›Das Haus ist‹), und wenn ich sage: ›Mihi domus est‹ (›Ich habe ein Haus‹). Wenn ich das Haus habe, dann ist das Haus nicht selbst dasjenige, was ist, sondern das Haus ist mir – sprich: für mich (mihi). Dass ich etwas habe, bedeutet also, dass es nicht an sich ist, sondern bloß in der Beziehung zu mir selbst – nochmals: Mihi domus est. Es handelt sich dabei um den sogenannten Dativus possessivus, der auch im Altgriechischen und sogar im klassischen Arabisch verbreitet ist.29 Durch den Besitz – durch das Haben – lasse ich also die Dinge nicht an und für sich selbst sein, sondern ich nehme sie bloß in deren Beziehung zu mir selbst an. Deswegen sei das Lassen der Welt als Gegenstand eines möglichen Besitzes Voraussetzung dafür, dass ich (ich? Welches Ich?) sie – die Welt – zurück-gewinne, und zwar so, wie sie an sich oder eben selbst ist. Andrés Quero-Sánchez, »Edles Wissen: Schellings Philosophie und die Deutsche ›Mystik‹ (Meister Eckhart, Johannes Tauler und das Pseudo-Taulerische Buch von der geistigen Armut)«, in: Martina Roesner (Hg.) Meister Eckhart: Subjekt und Wahrheit. Meister Eckharts dynamische Vermittlung von Philosophie, Offenbarungstheologie und Glaubenspraxis, Leuven 2018 (Eckhart: Texts and Studies 6), 127–178; ders., »Zur Einleitung«, in: Andrés Quero-Sánchez (Hg.), Mystik und Idealismus: Eine Lichtung des deutschen Waldes, Leiden/Boston 2020 (Studies in Mysticism, Idealism and Phenomenology 1), 1–39, hier 18–39. 28 Siehe etwa Albertus Magnus, De causis et processu universitatis a prima causa, ed. W. Fauser, in: Opera omnia, ed. Coloniensis, Bd. 17,2, Münster 1993, 81,59–72; Gottfried von Fontaines, Quaestiones ordinariae, q. 1, ed. Odon Lottin, in: Le Quodlibet quinze et trois Questions ordinaires de Godefroid de Fontaines, Leuven 1937, 79,21–30; Heinrich von Gent, Quodlibet IX, q. 1, ed. R. Macken, in: Opera omnia, Bd. 13, Leuven 1983, 15,2–7. 29 Siehe etwa den Satz: ਩ıIJȚ μȠȚ IJ੹ Ȥȡ੾μĮIJĮ (ésti moi ta chrêmata), auf Deutsch: ›Das Geld gehört mir.‹ Ähnlich kann man im Arabischen ein Besitzverhältnis mit Hilfe der Präposition ϝ (›für‹) ausdrücken: ϞΟήϠϟ ΖϴΒϟ΃ (al-baitu lir-rağuli: ›das Haus des Mannes‹ [wörtlich: ›Das Haus für den Mann‹] – was in der Regel freilich eher mit Hilfe einer Genitivverbindung ausgedrückt wird: ϞΟήϟ΍ ΖϴΑ (baitu-r-rağuli).

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Schon der Begriff der ›Gelassenheit‹ – bekanntlich ein Grundbegriff im Denken Meister Eckharts30 – bringt somit eine Kritik an der Thomasischen und wohl überhaupt an der thomistischen Tugendlehre und Metaphysik mit sich. Allein dem gelassenen Menschen – der als solcher die Welt gelassen hat, d.ௗh. nichts hat, nichts will, ja überhaupt von nichts weiß31 – bietet sich die Welt – ja, bietet sich er selbst, wie er an sich selbst ist – an. Allerdings gibt es in der Gelassenheit gar nichts, dem sich das Ansich anbieten würde. Denn dieses – das Ansich – ist als solches nur dann, wenn es eben an sich ist, somit nicht bloß in Verhältnis zu irgendeinem Subjekt, welches es – das Ansich – als solches erscheinen ließe.32

30 Vgl. Andrés Quero-Sánchez, »Das Verständnis der ›Gelassenheit‹ bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Jakob Böhme in der Tradition bis Schelling«, in: Böhme-Studien: Beiträge zu Philosophie und Philologie 6, Berlin 2023 (im Druck). 31 Vgl. Eckhart, Rede von der armuot (Quint 52), ed. von Georg Steer, in: Lectura Eckhardi, Bd. 1, 168,21f. (vgl. DW II 488,5f.): daz ist ein arm mensche, der niht enwil und niht enweiz und niht enhât. Bei diesem Text – der von Schelling ausgiebig rezipiert wurde (siehe die oben angegebene Literatur) – handelt es sich um keine Predigt, sondern um eine Rede (collatio); vgl. Quero-Sánchez, Meister Eckhart’s ›Rede von der armuot‹, 77–81. Markus Vinzent, »Meister Eckharts Transformationszyklus – die Seele von Eckharts Werk«, in: Festschrift für Marie-Anne Vannier (im Druck), situiert diesen Text als eine der zentralen Predigten in einem von ihm untersuchten ›Transformationszyklus‹ Eckharts, der u.ௗa. die Predigten Quint 6, Quint 9, Steer 109 und Steer 117, neben weiteren, für Eckhart bis dato noch nicht gesicherten Predigten umfasse. In der liturgischen Anordnung der Eckhartpredigten nach Sturlese wird auch dieser Text (als Predigt 108*) angeführt; vgl. Meister Eckhart, The German Works, Bd. 2, 578–589, die zitierte Stelle hier 578, n. 7. Dass dieser Text jedoch – der, wie gesagt, keine Predigt ist – seine ursprüngliche Stellung in einer von Eckhart selbst so gewollten, liturgisch angeordneten Sammlung von Predigten gefunden haben soll – »in Eckharts buoch«, wie Sturlese es formuliert (vgl. Loris Sturlese, »Hat es ein Corpus der deutschen Predigten Meister Eckharts gegeben? Liturgische Beobachtungen zu aktuellen philosophiehistorischen Fragen«, in: Andreas Speer / Lydia Wegener (Hg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin 2005 [Miscellanea Medievalia 32], 393–408), scheint mir jedoch so gut wie ausgeschlossen. 32 Vgl. F.W.J. Schelling, Initia philosophiae universae. Erlanger Vorlesungen WS 1820/21, (Teilausdruck der Sämtlichen Werke unter dem Titel: Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft), AA, Bd. II,10,2, Stuttgart 2021, 628,23–629,3 (vgl. SW, Bd. 9, 228,22–229,11): »Aber in der Philosophie gilt es, sich zu erheben über alles Wissen, das bloß von mir ausgeht. […]. […] ihr erster Schritt ist nicht ein Wissen, sondern vielmehr ausdrücklich ein Nichtwissen, ein Aufgeben alles Wissens für den Menschen. […] indem Er sich des Wissens begibt, macht er Raum für das, was das Wissen ist, nämlich für das absolute Subjekt, von dem gezeigt ist, daß es eben das Wissen selbst ist. In diesem Akt, da er sich selbst bescheidet, nicht zu wissen, setzt er

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7. (Das) Nichts zu bewahren Die – angeblich auf bestimmte Art und Weise im Voraus fixierte – Realität: die gibt es nach Eckhart nicht. Genauer: es gibt sie, d.ௗh. sie ist da, aber nur als ein Zu-Vernichtendes, und zwar deshalb, weil sie als solche nicht – sprich: nicht wirklich – ist. Der Tugend kann nach Eckhart keine prae-fixierte Realität vorausgehen, welche der Tugendhafte dann allein zu aktuieren oder zu realisieren hätte. Denn das Sein, das als solches keinen Gegenstand eines möglichen Habens oder Besitzes darstelle – das esse absolute, das ja Gott selbst sei (Esse [absolute] est deus) –, ist, so Eckhart, nichts; ja, es ist das Nichts selbst.33 Es wird durch das tugendhafte Verhalten keine auf eine bestimmte Art und Weise vorgegebene Ordnung bewahrt, weitergegeben oder tradiert, sondern es gälte eher das Gegenteil: nämlich dasjenige, was an sich gilt, sein zu lassen, und zwar es trotz der vorgegebenen, realen eben das absolute Subjekt als das Wissen ein. […]: es ist ein Wissen, das in Ansehung meiner vielmehr ein Nichtwissen ist.« 33 Vgl. Eckhart, Pr. 82, DW III 431,2–4: got ist niht; niht alsô, daz er âne wesen sî: er enist weder diz noch daz, daz man gesprechen mac; er ist ein wesen ob allen wesen. Er ist ein wesen weselôs (es handelt sich dabei um Predigt 77* in der liturgisch geordneten Edition von Loris Sturlese und Markus Vinzent, Bd. 2, 190, n. 10). Siehe ebenfalls: Eckhart, Pr. 70, DW III 189,3–190,1: Ich hân etwenne gesprochen, daz sant Augustînus sprichet: »dô sant Paulus niht ensach, dô sach er got«. Nû kêre ich daz wort umbe, und ist wol bezzer, und spriche: ›dô er sach niht, dô sach er got‹ (vgl. Meister Eckhart, The German Works. 56 Homilies for the liturgical year, Bd. 1: De tempore, Leuven / Paris / Bristol, CT 2019 [Eckhart: Texts and Studies 9], Bd. 1, Predigt 40*, Bd. 1, 566, n. 4); Eckhart, Pr. 23, DW I 402,1–3: Und enist er noch güete noch wesen noch wârheit noch ein, waz ist er denne? Er ist nihtes niht, er enist weder diz noch daz. Gedenkest dû noch ihtes, daz er sî, des enist er niht (ed. Sturlese / Vinzent, Predigt 78*, Bd. 2, 200, n. 7). Vgl. auch F.W.J. Schelling Die Weltalter. Erstes Buch: Die Vergangenheit. Druck I (1811), ed. von Manfred Schröter, 14: »Es ist nur Ein Laut in allen höheren und besseren Lehren, daß das Seyn schon ein tieferer Zustand des Wesens, und daß sein urerster unbedingter Zustand über allem Seyn ist. […]. Nur über dem Seyn wohnt die wahre, die ewige Freyheit. Freyheit ist der bejahende Begriff der Ewigkeit oder dessen, was über aller Zeit ist. Den meisten, weil sie jene höchste Freyheit nie empfanden, scheint es das Höchste, ein Seyendes oder Subjekt zu seyn; daher fragen sie: was denn über dem Seyn gedacht werden könne? und antworten sich selbst: Das Nichts, oder dem Aehnliches. Ja wohl ist es ein Nichts, oder wie die lautre Freyheit ein Nichts ist; wie der Wille, der nichts will, der keiner Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der darum von keinem bewegt wird. Ein solcher Wille ist Nichts und Alles. Er ist Nichts, in wie fern er weder selbst wirkend zu werden begehrt, noch nach irgend einer Wirklichkeit verlangt. Er ist Alles, weil doch von ihm als der ewigen Freyheit allein alle Kraft kommt, weil er alle Dinge unter sich hat, alles beherrscht und von keinem beherrscht wird.«

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oder gar faktisch herrschenden Verhältnisse, welche sein Aufkommen verhindern, sein zu lassen. Das Faktisch-Gegebene gilt Meister Eckhart nicht als die Grundlage, die die Verwirklichung des Sollens erst ermöglicht, sondern eher als die das Aufkommen des Absoluten verhindernde Voraus-Setzung selbst, welche als solche außer Kraft zu setzen wäre. Die Verwirklichung des Guten hängt nach Eckhart jedenfalls auf keine Weise von irgendeiner realen Verfasstheit des Dinges ab, sondern sie ist jedem Menschen als Vernunftwesen prinzipiell zugänglich – und zwar in abstracto;34 wenn man so will: eben in der Luft, oder, wie es bei Eckhart ausdrücklich heißt: in lûterkeit des luftes aleine.35 Die besondere, von der Natur bestimmte körperliche Verfasstheit des jeweiligen Individuums (corporis dispositio) spielt nach Eckhart in diesem Sinne, wenn es um die Ausübung der Tugend oder gar um die Verwirklichung des Sollens geht, gar keine Rolle. Die Tugend – und überhaupt das wirkliche Sein – wird dem Einzelnen, so Eckhart (der in diesem Zusammenhang wohl nicht nur gegen die oben dargelegte Position des Thomas von Aquin, sondern in erster Linie gegen Autoren wie Thomas von Erfurt argumentiert),36 »ohne Verdienst, 34 Vgl. Eckhart, In Eccl. c. 24,23–31 n. 2, LW II 232,5f.: Sed li esse – ›sumus‹ – quanto communius, quanto abstractius, tanto purius vitam, quod li vivere, significat. 35 Vgl. Eckhart, BgT, DW V 60,13–18: Mir genüeget, daz in mir und in gote wâr sî, daz ich spriche und schrîbe. Der einen stapschaft sihet gestôzenen in ein wazzer, der dunket der stap krump sîn, aleine er gar reht sî, und kumet daz dâ von, daz daz wazzer gröber ist dan der luft sî; doch ist der stap beidiu in im reht und nicht krump und ouch in des ougen, der in sihet in lûterkeit des luftes aleine. 36 Vgl. Thomas von Erfurt, In Isagogas Porphirii, ed. Andrés Quero-Sánchez, in: »Thomas of Erfurt: Commentary on Porphyry’s ›Isagoge‹ (Commentum in Isagogas Porphirii): Three Selected Passages«, in: Markus Vinzent / Christopher Wojtulewicz (Hg.), Thomas von Erfurt und Meister Eckhart, Leiden 2021 (Eckhart: Texts and Studies 13), 237–251, hier 247,17–25: Forma accidentalis est illud a quo aliquid non est informatum simpliciter, sed dicitur ab illo ›formosum‹ et ›pulchrum‹. Et ista forma accidentalis non dat esse simpliciter, sed dat esse secundum quid et tale. Et hoc modo accipitur in proposito et definitur: Forma est elegans membrorum corporis dispositio, id est, decora et bona. Et sic forma est formositas et pulchritudo causata ex elegante dispositione membrorum. // Et hoc modo dicitur »species Priami«, id est, pulchritudo et formositas Priami, »digna est imperio«, id est, regere. Unde illi qui habent bonam et elegantem dispositionem membrorum, illi etiam habent bonam dispositionem mentis; et bona dispositio elegans membrorum corporis arguit bonam dispositionem mentis et attestatur bonam dispositionem mentis. – Vgl. Andrés Quero-Sánchez, »On Pure Reason, Abstractness, and the Relationship between Oneness and Plurality: Thomas of Erfurt and Eckhart of Hochheim´s Controversial Dialogue in Erfurt at the Turn of the 14th Century«, in: Vinzent / Wojtulewicz (Hg.), Thomas von Erfurt und Meister

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umsonst, für nichts, ohne vorbereitendes Mittel gegeben« (datur sine meritis, datur gratis, pro nihilo, sine medio disponente).37 Wird die Tugend und überhaupt das absolute Sein im Nichts – nicht aktuiert oder realisiert, sondern – verwirklicht,38 so setzt die tugendhafte Handlung und überhaupt die Vernunft als solche kein gegebenes Sein voraus – kein suppositum39 –, dessen Aktuierung oder Realisierung sie darstellte. In seinem Johanneskommentar schreibt Meister Eckhart in diesem Sinne über die Vernunft (intellectus), dass sie intelligendo formatur, nihil praeter intelligere est.40 Es gibt somit nach Eckhart keine Unterscheidung zwischen dem ersten und dem Eckhart, 29–52, hier 42–48 (The Question about the Attachment of Reason to a Given Reality). 37 Eckhart, Sermo XXV n. 259, LW IV 237,4–10: gratia est ex sui natura quod datur sine meritis, datur gratis, pro nihilo, sine medio disponente. Hoc autem competit tantum primo, quodcumque sit illud in suscipiente. Primum autem in singulis est id, quod a deo est. Aliter enim deus non esset prima causa nec deus esset. Primum autem est ex nihilo, et ante ipsum est nihil, et sic sine merito, sine medio, sine dispositione, et per consequens gratis. Sic ergo omnis operatio dei in creatura gratia est. – Vgl. Eckhart, In Exod. n. 75, LW II 78,9–79,1. Siehe die ausführliche Diskussion in: Quero-Sánchez, Über das Dasein, 595–602. 38 Zur Unterscheidung zwischen ›Realisierung‹ (›Aktuierung‹) und ›Verwirklichung‹ siehe Andrés Quero-Sánchez, Sein als Freiheit: Die idealistische Metaphysik Meister Eckharts und Johann Gottlieb Fichtes, Freiburg i.Br./München 2004, 30f.; ders., Angeblicher Thomismus des jungen Eckhart, 40–55. 39 Vgl. Eckhart, In Gen. II n. 62, LW I/1 528,12–530,4 (Rec. CT); LW I/2 368,13–26 (Rec. alt.): Sexto sic: rerum producendarum ›ratio‹ intra producentem est, in intellectu est, semen est, et ipsi convenit ex sui natura esse primum et principium, Ioh. 1: ›in principio erat verbum‹. Graecus ¢habet logos, id est² ratio. Ad ipsam enim, per ipsam et secundum ipsam res productae et cognoscuntur et sunt id quod sunt, et sine ipsa cognitum et ›factum est nihil‹. Quiditas enim rerum, quae et ratio est, radix et causa prima est omnium, quae de re quacumque vel affirmantur vel negantur. Propter quod commentator super VII ›Metaphysicae‹ dicit quod scita quiditate rerum sensibilium scitur causa prima omnium. Ipsa enim est causa prima omnium. Res autem iam producta extra producentem cadit et descendit foris, extra esse producentis et extra ipsius vivere et intelligere, obumbratum umbra temporis vel saltem factionis et causati, facti scilicet, et suppositi, positi scilicet sub et infra producentem, extra et sub ratione principii, cadens in ordine et sub ordine principiati, ultimi et finis, et per consequens in ordinem boni. Propter quod secundum philosophum bonum est non in anima, sed extra in rebus, et iterum: bonum et finis idem. 40 Eckhart, In Ioh. n. 38, LW III 33,2f. – Siehe auch ebd., n. 38, LW III 32,11–13: Tertia, quod ipsum principium semper est intellectus purus, in quo non sit aliud esse quam intelligere, nihilo nihil habens commune, ut ait Anaxagoras, III De anima. Und ebd. n. 34, LW III 27,12–14: Ubi signanter notandum est quod intellectus in deo maxime, et fortassis in ipso solo, utpote primo omnium principio, se toto intellectus est per essentiam, se toto purum intelligere. In ipso quidem idem est res et intellectus.

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zweiten Akt, sondern der zweite Akt – der Vollzug – ist selbst als der erste Akt zu betrachten, insofern nämlich, als dadurch – sprich: durch den Vollzug selbst – erst – und zwar im Nichts – die Realität – genauer: die Wirklichkeit – gesetzt wird. Bei Thomas – wie auch bei Albertus Magnus und der Scholastik aristotelischer Prägung überhaupt – gibt es hingegen nichts als Realisierung oder Aktuierung eines Vorgegebenen, so dass die tugendhafte Handlung Aktuierung einer vorgegebenen Seinsweise – nämlich des Habitus – als des ersten Akts des Dinges besagt.41 Eckharts Metaphysik sieht hingegen von einem solchen Akt völlig ab, sie erhebt vielmehr den zweiten Akt – die operatio – zum ersten Akt: Eckhart promoviert die operatio – und überhaupt das Werden (fieri) – zum Sein (esse) (fieri est sibi esse).42

8. Umsonst Alle bis dato angesprochenen Momente fokussieren in dem Aspekt, mit dem ich meine Ausführungen oben begonnen habe. Im Unterschied zu Thomas ist Gott nach Eckhart nämlich in keiner Weise als der Geber einer zukünftigen Belohnung zu sehen. Wir lieben Gott als das höchste Gut gerade nicht insofern, als Er als der höchste Geber uns dasjenige geben kann, worauf wir aus sind. »Ich dachte neulich darüber nach«, so berichtet Meister Eckhart in Predigt 6 (an einer Stelle übrigens, die von Papst Johannes XXII. als häretisch verurteilt wurde): 41

Vgl. Thomas von Aquin, STh I, q. 79, a. 1, r.: Respondeo dicendum quod necesse est dicere, secundum praemissa, quod intellectus sit aliqua potentia animae, et non ipsa animae essentia. Tunc enim solum immediatum principium operationis est ipsa essentia rei operantis, quando ipsa operatio est eius esse: sicut enim potentia se habet ad operationem ut ad suum actum, ita se habet essentia ad esse. In solo Deo autem idem est intelligere quod suum esse. Unde in solo Deo intellectus est eius essentia: in aliis autem creaturis intellectualibus intellectus est quaedam potentia intelligentis. – Vgl. Albertus Magnus, De unitate intellectus, ed. A. Hufnagel, Opera omnia, ed. Coloniensis, Bd. 17,1, Münster 1975, S. 14,21–23: quia nihil secundum agere est actus secundus alicuius, nisi quod secundum esse substantiale est actus primus eiusdem. – Vgl. auch Aegidius Romanus, Quaestiones disputatae de ente et essentia, q. 9, ad 1, ed. Venedig 1503, fol. 21vb,55– 58: Dico autem suo modo quia intelligentia dicit ipsam substantiam intellectualem, intelligere vero dicit actum eius non actum primum qui est esse sed actum secundum qui est agere. – Siehe dazu Quero-Sánchez, Über das Dasein, 545–558 (Zweiter Teil, Kapitel IV: Das Primat des Gegebenen als das Grundprinzip des Realismus). 42 Vgl. Eckhart, In Gen. II n. 23, LW I/1 493,4–10 (Rec. CT); LW I/2 354,1–6 (Rec. alt.).

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ob ich von Gott etwas annehmen oder mir wünschen sollte. Ich will es mir ¢aber² sehr wohl überlegen. Denn wenn ich von Gott etwas annehmen würde, so wäre ich ihm unterworfen oder unter ihm wie ein Knecht, Gott selbst würde dann im Geben zum bloßen Herren degradiert. So aber soll es mit uns nicht sein im ewigen Leben.43

Dieses Freiheitsverständnis hängt mit Eckharts radikalem Verständnis der »Warumlosigkeit« zusammen, mit der zentralen Rolle also, die der Gedanke des Absoluten – denn Warumlosigkeit bedeutet ja nichts anders als Absolutheit44 – in seinem Denken einnimmt, wie er ja an folgender Stelle der eben zitierten Predigt 6 sehr deutlich zum Ausdruck bringt: Gottes ist die Ehre. Wer sind die, die Gott ehren? Die aus sich selbst gänzlich ausgegangen sind und des Ihrigen ganz und gar nichts suchen in irgendwelchen Dingen, was immer es sei, [...] die nicht nach Gut noch Ehre noch Gemach noch Lust noch Nutzen noch Innigkeit noch Heiligkeit noch Lohn noch Himmelreich trachten und sich alles dieses entäußert haben, alles Ihrigen – von diesen Leuten hat Gott Ehre, und die ehren Gott im eigentlichen Sinne und geben Ihm, was sein ist.45

Auch diese Passage wurde vom Papst verurteilt. Nicht die ihm von Gott in Aussicht gestellte Belohnung ist nach Eckhart also für den edlen Menschen entscheidend, sondern allein das warumlose Stattfinden des Warumlosen selbst. Der Lohn wird also nicht der Sache zukommen, sondern er ist die Sache selbst: flores mei fructus (Sir 43 Eckhart, Pr. 6, DW I 112,6–9: Ich gedâhte niuwelîche, ob ich von gote iht nemen wölte oder begern. Ich wil mich harte wol berâten, wan dâ ich von gote wære nemende, da wære ich under gote als ein kneht und er als ein herre an dem gebenne. Alsô ensuln wir niht sîn in dem êwigen lebene (ed. Sturlese / Vinzent, Predigt 103*, Bd. 2, 512, n. 8). – Zur ausführlichen Analyse dieser Predigt siehe Andrés Quero-Sánchez, »Libertas enim filiorum non excludit accipere filios et Deum dare. Eine philosophische Darlegung des in Eckharts Prozess beanstandeten Freiheitsverständnisses«, in: Dietmar Mieth / Britta Müller-Schauenburg (Hg.), Mystik, Recht und Freiheit. Religiöse Erfahrung und kirchliche Institutionen im Spätmittelalter, Stuttgart 2012, 135–172. 44 Vgl. Andrés Quero-Sánchez, »Sein als Absolutheit (esse als abegescheidenheit)«, in: Andrés Quero-Sánchez / Georg Steer (Hg.), Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, Stuttgart 2008 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 2), 189–218. 45 Eckhart, Pr. 6, DW I 100,1–7: Gotes ist diu êre. Wer sint, die got êrent? Die ir selbes alzemâle sint ûzgegangen und des irn alzemâle niht ensuochent an keinen dingen, [...], die niht enmeinent noch guot noch êre noch gemach noch lust noch nuz noch innicheit noch heilicheit noch lôn noch himelrîche und dis alles sint ûzgegangen, alles des irn, dirre liute hât got êre, und die êrent got eigenlîche und gebent im, daz sîn ist (ed. Sturlese / Vinzent, Predigt 103*, Bd. 2, 510, n. 4).

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24,23).46 Das tugendhafte Leben selbst ist das Ziel des tugendhaften Lebens47 – nicht dasjenige, was man auch immer dadurch zustande bringen könnte: nicht das durch die gute Handlung hervorgebrachte Werk. Nicht einmal die gute Handlung oder gar das tugendhafte Leben selbst ist für Eckhart als vollbrachtes Werk von Interesse, d.ௗh. nicht die gute Handlung als etwas, was man getan hat und womit man vor Gott als dem Geber in der Hoffnung oder gar in der Erwartung auf eine zukünftige Belohnung antreten könnte: »Für den Tugendhaften besteht die Frucht (= der Gewinn) seines Wirkens in dem Tugendhaft-Wirken selbst, nicht in dem, was er dadurch (oder damit) gemacht hat« (virtuoso fructus est ipsum operari virtuose, non operatum esse).48 Eckhart bringt in diesem Zusammenhang das Musizieren als Beispiel: Derjenige ist tugendhaft, gut, der seinen Lohn und seine Belohnung darin findet, dass er etwas richtig und gerecht tut, nicht darin ¢also², dass er es getan hat. Das Tun selber ist nämlich erfreulicher als das Getanhaben (= als das, was man hat, wenn man mit dem Tun fertig geworden ist), wie Seneca in seinem neunten Brief mit einem Beispiel zeigt. Du sollst als Beispiel das eines Menschen bringen, der Leier spielt, dem es erfreulicher ist, Leier zu spielen, als Leier gespielt zu haben.49

46 Vgl. Eckharts Auslegung dieser Verse: In Eccl. c. 24,23–31 nn. 18–30, LW II 246,9–258,14. 47 Vgl. Eckhart, Pr. 26, DW II 27,9f.: ›war umbe lebest dû?‹ – ›triuwen, ich enweiz! ich lebe gerne‹ (ed. Sturlese / Vinzent, Predigt 25*, Bd. 1, 414, n. 6). 48 Dies ist eben die Position, die Martin Luther vertreten wird; vgl. Andrés QueroSánchez, »[…] vnd ausz lauterer freyheit, vmbsonst thut, alles was er thut. Durchbrechende Freiheit: Meister Eckhart und Luther« (im Rahmen der von Klaus Dicke und Hartmut Rosa organisierten Tagung Martin Luther im Spiegel Max Webers am 19. Januar 2017 in Jena gehaltener Vortrag; unveröffentlichter Text). 49 Eckhart, Sermo XIX n. 184, LW IV 173,7–10: cui merces sive praemium est recte sive iuste facere, non fecisse, virtuosus est, bonus est. Iucundius est enim facere quam fecisse, ut Seneca epistula 9 exempla ponit. Tu dic exemplum de canente in cithara, cui dulcius est canere quam cecinisse. – Der Gerechte, überhaupt der göttliche Mensch, tut sein Werk um des Werkes selbst willen (opus propter opus), schreibt Eckhart; vgl. In Ioh. n. 177, LW III 145,8–15: Vel dicamus quod divinorum omnium, praecipue gratiae est, ut sit ipsa pro se ipsa et propter se ipsam, Prov. 16: ›universa propter se ipsum operatus est deus‹. […]. Ubi enim finis et principium idem, semper est opus propter se ipsum, opus propter opus, operari propter operari. Hoc autem dei et solius dei est et divinorum per consequens, in quantum divina sunt. Unde in ipsis flos et fructus idem, Eccli. 24: ›flores mei fructus‹.

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Meister Eckharts Tugendlehre als Umformung konservativen Denkens

Damit will Eckhart das Interesse (!) für die Sache an und für sich selbst vor das bloße Interesse für den Nutzen stellen. Die Tugend führt zu nichts; es kommt nichts dabei heraus. Der Tugendhafte bringt nichts zustande – es sei denn sein tugendhaftes Leben selbst, welches als solches, wie es heißt, »durch die eigene Kraft (sua vi) anzieht«.50 Und das war es. Das war es.

50 Vgl. Eckhart, In Sap. n. 173, LW II 508,5–10: actio dei, et ipsius solius, in creaturis est suavis […]. Vgl. ebd. n. 177, LW II 512,10: […] suave est iuxta nomen suum quod sua vi trahit. Hoc autem solius dei est, utpote primi agentis et moventis. Primum enim, eo quod primum, sua vi propria movet omnia quae post sunt, et nihil posteriorum movet vi sui ipsius, sed vi primi. Vgl. auch In Ioh. n. 476, LW III 409,3–14.

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Martina Roesner

»Virtuoso virtus est pro deo.« Meister Eckharts Ethik zwischen Autonomie und Gottessohnschaft

1. Einleitung Von allen scholastischen Autoren ist Meister Eckhart wohl derjenige, der am wenigsten Gefahr läuft, sich in allzu detaillierte und spitzfindige Einzelfragen zu verlieren, sondern vielmehr bei allem, was er erörtert, immer den ersten und letzten Grund aller Dinge im Auge behält. So konsequent und beeindruckend diese Vorgehensweise auch sein mag, so sehr erweckt sie auf den ersten Blick doch den Eindruck der mangelnden Differenziertheit, die umso problematischer erscheint, je näher das in Frage stehende Thema den spezifischen Fragen der menschlichen Lebensgestaltung ist. »Und was bedeutet das nun konkret?« – diese Frage drängt sich dem Leser häufig auf, wenn er die über Eckharts Werke verstreuten Bemerkungen zum Thema Tugend liest, denn Eckharts Ausführungen haben wenig bis nichts mit einer konkreten Handlungsethik im klassischen Sinne zu tun, sondern zielen, wie Theo Kobusch dies formuliert hat, auf eine »Metaphysik des moralischen Seins«1 ab. Dennoch ist Eckharts Ansatz in ethischer Hinsicht interessant, da er die Problematik der Tugend und der menschlichen Lebenspraxis vor dem Hintergrund eines Wirklichkeitsmodells erörtert, das in sich schon einen dynamischen, vollzugshaften Charakter hat. Die menschliche Lebensgestaltung ist somit nicht das schlechthin Andere zu einer am Modell der Substantialität und Dinglichkeit orientierten Natur, sondern Eckhart deutet die gesamte Wirklichkeit als eine aus dem Göttlichen hervorgehende Prozessualität, in die sich auch die spezifisch menschlichen 1

Vgl. Theo Kobusch, »Mystik als Metaphysik des moralischen Seins. Bemerkungen zur spekulativen Ethik Meister Eckharts«, in: Kurt Ruh (Hg.), Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, Stuttgart 1986, 49–62.

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Meister Eckharts Ethik zwischen Autonomie und Gottessohnschaft

Daseins- und Handlungsvollzüge einfügen müssen, um das Prädikat der ethischen Güte zu verdienen. Eckhart legt das systematische Grundgerüst seines philosophisch-theologischen Denkens im Prologus generalis in Opus tripartitum (Allgemeiner Prolog zum Dreigeteilten Werk) dar. Das Kernstück dieses Prologs sind die vierzehn Terminipaare, die in ihrer polaren Gegensätzlichkeit die Hauptthemen von Eckharts Philosophie und Theologie und zugleich die formalen Grundstrukturen der Wirklichkeit insgesamt abstecken. Die gesamte Liste dieser Leitbegriffe lautet wie folgt: Primus tractatus agit de esse et ente et eius opposito quod est nihil. Secundus de unitate et uno et eius opposito quod est multum. Tertius de veritate et vero et eius opposito quod est falsum. Quartus de bonitate et bono et malo eius opposito. Quintus de amore et caritate et peccato, eius opposito. Sextus de honesto, virtute et recto et eius oppositis, puta turpi, vitio, obliquo. Septimus de toto et parte, eius opposito. Octavus de communi et indistincto et horum oppositis, proprio et distincto. Nonus de natura superioris et inferioris eius oppositi. Decimus de primo et novissimo. Undecimus de idea et ratione et horum oppositis, puta de informi et privatione. Duodecimus vero de quo est et quod est ei condiviso. Decimus tertius agit de ipso deo summo esse, quod ›contrarium non habet nisi non esse‹, ut ait Augustinus De immortalitate animae et De moribus Manichaeorum. Decimus quartus de substantia et accidente.   Die erste Abhandlung handelt vom Sein und vom Seienden und seinem Gegensatz, dem Nichts. Die zweite von der Einheit und dem Einen und seinem Gegensatz, dem Vielen. Die dritte von der Wahrheit und dem Wahren und seinem Gegensatz, dem Falschen. Die vierte von der Güte und dem Guten und dem Schlechten, seinem Gegensatz. Die fünfte von der Minne und der Liebe und der Sünde, ihrem Gegensatz.

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Die sechste vom sittlich Guten, von der Tugend und vom Geraden und deren Gegensatz, nämlich dem sittlich Schlechten, dem Laster und dem Ungeraden. Die siebente vom Ganzen und vom Teile, seinem Gegensatz. Die achte vom Gemeinsamen und Ununterschiedenen und seinem Gegensatz, dem Eigentümlichen und Unterschiedenen. Die neunte von der Natur des Oberen und des Niederen, seines Gegensatzes. Die zehnte vom Ersten und vom Letzten. Die elfte vom Urbild und von der Idee und ihrem Gegensatz, nämlich dem Ungeformten und der Beraubung. Die zwölfte von dem, wodurch etwas ist, und dem, was etwas ist, seinem Gegenstück. Die dreizehnte handelt von Gott selbst, dem höchsten Sein, ›das keinen Gegensatz außer dem Nichtsein hat‹, wie Augustin in den Schriften Von der Unsterblichkeit der Seele und Von der Religion der Manichäer sagt. Die vierzehnte von der Substanz und dem Akzidenz.2 Die ersten vier Termini sind die klassischen Transzendentalienbegriffe, die jeweils noch einmal in Abstraktum und Konkretum differenziert sind – esse / ens, unitas / unum, veritas / verum, bonitas / bonum –, und ihre jeweiligen Gegensätze, nämlich nihil, multum, falsum und malum. Interessanterweise sind die nächsten beiden Terminipaare ethisch-moralischer Natur, nämlich amor und caritas im Gegensatz zu peccatum sowie honestum, virtus und rectum im Gegensatz zu turpe, vitium und obliquum. Die Begriffe caritas und peccatum sind spezifisch christlich-theologischer Provenienz, doch honestum, virtus und rectum sind Zentralbegriffe der philosophischen Ethik, die der natürlichen Vernunft entspringt. Die grundlegenden Termini der theologischen bzw. philosophischen Ethik fungieren demnach bei Eckhart als Scharnier zwischen den klassischen vier Transzendentalien und den folgenden acht Terminipaaren, die wieder einen stärker strukturell-metaphysischen Charakter haben: das Ganze und der Teil (totum et pars), das Gemeinsame und Ununterschiedene im Gegensatz zum Eigenen und Unterschiedenen (commune et indistinctum / proprium et distinctum), das Höhere und das Niedere (superior

2

Eckhart, Prol. gen. n. 4, LW I/1 150,1–151,1; Übers. ebd.

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et inferior) usw.3 Die Frage nach der Tugend ist also buchstäblich der Dreh- und Angelpunkt von Eckharts transzendentalmetaphysischem System, und umgekehrt kann man nicht über menschliche Lebenspraxis reden, ohne sie in die metaphysische Grundstruktur der Wirklichkeit insgesamt einzubetten. Interessanterweise kommt Gott in ausdrücklicher Form erst an dreizehnter und vorletzter Stelle zur Sprache (De ipso deo summo esse4), was darauf hindeutet, dass Eckhart seine Tugendlehre nicht theonom konzipiert, sondern vielmehr das Wesen der Tugend als transzendentales Apriori versteht, an dem sich selbst Gott messen lassen muss, um Gott heißen zu dürfen. Eckhart spricht im Rahmen des sechsten Terminipaares von der virtus im Singular, ohne zwischen einzelnen Tugenden zu differenzieren. Auch wenn er andernorts in seinen Werken durchaus die Gerechtigkeit,5 die Barmherzigkeit,6 die Liebe,7 die Demut,8 die Gelassenheit,9 die Abgeschiedenheit10 und andere konkrete Tugenden erörtert,11 ist diese Verwendung »der« Tugend als singulare tantum im Prologus generalis des Opus tripartitum doch bedeutsam. Der nachfolgende Begriff in dem genannten Ternar, das »Gerade« (rectum) , präfiguriert Eckharts Grundbegriff der Gerechtigkeit als der »rechten Ausrichtung« des Menschen, der sich in seiner irdisch-zeitlichen Existenz stets am Ungeschaffenen orientieren soll.12 So gesehen, enthält der Prolog zum Opus tripartitum auch schon den Keim zu einer transzendentalen Ethik, die es weniger mit einzelnen Handlungen zu tun hat als vielmehr mit dem strukturmetaphysischen Grund der Möglichkeit des tugendhaften Handelns und einer Tugendlehre überhaupt. Auch wenn Eckhart in seinen Schriften eine Vielzahl unterschiedlicher Tugenden erwähnt, interessiert er sich doch, anders als Thomas 3

Eckhart, Prol. gen. n. 4, LW I/1 150,8–151,1. Eckhart, Prol. gen. n. 4, LW I/1 150,15. 5 Vgl. Eckhart, In Ioh. nn. 14–27, LW III 13,1–22,2; Sermo XVIII nn. 182–183, LW IV 171,10–172,7. 6 Vgl. Eckhart, Pr. 7, DW I 121,1–123,5; Sermo XVIII nn. 180–182, LW IV 169,9–171,9. 7 Vgl. Eckhart, Pr. 7, DW I 121,14–123,1; Pr. 28, DW II 59,1–60,11; Pr. 63, DW III 74,1–83,2. 8 Vgl. Eckhart, Pr. 14, DW I 233,1–241,2; Pr. 49, DW II 447,5–451,2. 9 Vgl. Eckhart, Pr. 4, DW I 60,1–66,2; Pr. 12, DW I 196,6–203,7. 10 Vgl. Eckhart, VAb, DW V 400,2–434,4. 11 Vgl. Eckhart, Sermo die b. Augustini nn. 7–10, LW V 95,12–97,14. 12 Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 18, LW III 15,8–11. 4

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von Aquin, nicht für ihre Pluralität als solche, ihre wechselseitige Differenzierung und ihre mögliche philosophisch-theologische Hierarchisierung. Der Umstand, dass er je nach Kontext bald dieser, bald jener Tugend den höchsten Rang zuweist, deutet vielmehr darauf hin, dass es diesbezüglich gar kein festes Einteilungsschema gibt und die Tugenden hinsichtlich ihres Wesens und ihrer metaphysischen Funktion letztlich austauschbar sind.13 Eckhart thematisiert nie die Tugenden in horizontaler Perspektive, also die Mäßigkeit als Mäßigkeit, die Tapferkeit als Tapferkeit, die Klugheit als Klugheit usw. mit Blick auf ihre spezifischen Objekte und ihre anthropologische Verortung, sondern betrachtet alle Tugenden stets in ihrer vertikalen Dimension, d.ௗh. mit Blick auf ihren geistigen Einheitsgrund in Gott und hinsichtlich der Bedeutung, die ihnen für die Vergöttlichung des Menschen zukommt. Diese auf Einheit abzielende Perspektive besagt nicht, dass es schlechthin keinen Unterschied zwischen den einzelnen Tugenden gäbe, sondern nur, dass ihre wechselseitige Unterschiedenheit lediglich ihre äußeren Ausprägungen in der Sphäre des geschöpflichen »Dies und das« (hoc et hoc) betrifft.14 Nun ist es aber ein Grundzug des eckhartschen Denkens, das Empirisch-Individuelle nie nur in sich, sondern immer auch und in noch höherem Maße in der dynamischen Bezogenheit auf seinen Ursprung hin zu betrachten, und hier konvergieren alle Tugenden auf absolute Einheit hin, bis sie ununterscheidbar sind. Eckhart erläutert diesen Umstand unter Verweis auf ein weiteres Terminipaar aus dem Prologus generalis, nämlich das neunte, das dem Verhältnis zwischen dem Höheren und dem Niederen (superior / inferior) gewidmet ist. In seinem Sapientiakommentar bemerkt er hierzu: Drittens ist zu merken: wie allgemein das, was in einem unteren Bereich geteilt ist, eins ist im oberen Bereich, so sind insbesondere die Tugenden auf ihrer obersten, vollkommenen und vollendeten Stufe eins. Daher sagen die Theologen, dass auch die sittlichen Tugenden miteinander verknüpft sind in der ihnen eigenen Vollkommenheit, und 13 So wird beispielsweise in Predigt 7 die Barmherzigkeit als die höchste Tugend bezeichnet (vgl. Eckhart, Pr. 7, DW I 121,1–13), in Predigt 28 dagegen die Liebe (vgl. Eckhart, Pr. 28, DW II 59,4–60,11) und in den Reden der Unterweisung der Gehorsam (vgl. Eckhart, RdU 1, DW V 185,7–189,6). Vgl. dazu Joseph Milne, »Meister Eckhart and the Virtues«, in: Medieval Mystical Theology 25.2 (2016), 96–109, hier 97, sowie Dietmar Mieth, »Die theologische Transposition der Tugendethik bei Meister Eckhart«, in: Kurt Ruh (Hg.), Abendländische Mystik im Mittelalter, 63–79, hier 65f. 14 Vgl. Eckhart, VAb, DW V 401, 4–7.

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der Platoniker Plotin sagt, die Tugenden auf ihrer vierten und obersten Stufe hätten Bestand im göttlichen Geist.15

Die traditionelle inhaltliche Unterteilung zwischen natürlichmenschlichen und übernatürlich-göttlichen Tugenden, die für die christliche Theologie sonst maßgeblich ist, hat bei Eckhart demnach keine absolute Gültigkeit, sondern wird von der vertikalen Perspektive durchkreuzt: jede Tugend, auch eine »göttliche« wie die Liebe, kann in sich, und somit auf geschöpflicher Ebene, betrachtet werden, und jede Tugend, auch eine vermeintlich »natürliche« wie die Gerechtigkeit, kann in ihrer höchsten Ausformung betrachtet werden, und d.ௗh. in jener absoluten Verwirklichung, die sie im Geist Gottes besitzt.

2. Das Verhältnis zwischen Gott und der Tugend im Allgemeinen In der Übersicht der 14 Terminipaare hatte Eckhart die spezifisch christlich-theologische Tugend der Liebe im Sinne der caritas vor den allgemein-philosophischen Begriffen des sittlich Guten (honestum), der Tugend (virtus) und des Geraden (rectum) angeführt. Auf den ersten Blick erweckt dies den Eindruck, dass die theologischen Tugenden bei ihm höher rangieren als die natürlich-menschlichen Tugenden und von diesen qualitativ unterschieden werden. Diese Auffassung wird jedoch durch Eckharts Ausführungen zur Gerechtigkeit eindrucksvoll widerlegt. In seiner deutschen Predigt 6 äußert er die provokante These, dass der gerechte Mensch, der vor die Wahl gestellt würde, sich zwischen Gott und der Gerechtigkeit entscheiden zu müssen, der Gerechtigkeit unverbrüchlich treu bleiben und auf Gott »nicht die Bohne geben« würde.16 Diese Auffassung scheint 15 Tertio notandum est quod, sicut universaliter divisa inferius sunt unum superius, sic potissime virtutes in sui supremo, perfecto et consummato unum sunt. Hinc est quod doctores dicunt virtutes etiam morales conexas in sui propria perfectione, et Plotinus Platonicus virtutes in quarto et supremo gradu dicit consistere in mente divina. (Eckhart, In Sap. n. 263, LW II 594,8–12). Ein ähnlicher Passus findet sich auch in Eckhart, In Gen. I n. 88, LW I/1 247,12–248,5. 16 Vgl. Eckhart, Pr. 6, DW I 103,1–4; Übers. 453: Den gerehten menschen den ist alsô ernst ze der gerehticheit, wære, daz got niht gereht wære, sie enahteten eine bône niht ûf got und stânt alsô vaste in der gerehticheit und sint ir selbes alsô gar ûzgegangen, daz sie niht enahtent pîne der helle noch vröude des himelrîches noch keines dinges. (»Den gerechten Menschen ist es so ernst mit der Gerechtigkeit, dass, wenn Gott nicht gerecht wäre, sie

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dafür zu sprechen, dass Eckhart eine radikale Autonomie der Ethik gegenüber der Theologie vertritt und damit auch die Sonderrolle der theologischen Tugenden gegenüber den allgemein-menschlichen Tugenden depotenziert. Dennoch ist die Lage nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick scheint, denn so wenig Gott im Rahmen von Eckharts Metaphysik eine voluntaristisch begründete Eigenständigkeit gegenüber den Grundgesetzen der Wirklichkeit insgesamt besitzen kann,17 so wenig ist es möglich, von der menschlichen Natur in einer rein innerweltlichen Weise zu sprechen, ohne sie immer schon vom Überzeitlichen und Göttlichen her zu verstehen. Es gilt also zu untersuchen, ob es mit Blick auf die Begriffe »Gott« und »Tugend« bei Eckhart eine eindeutige Priorisierung gibt, die entweder in Richtung einer radikal autonomen, natürlichen Ethik oder einer völligen theologisch-christologischen Umdeutung der Tugendethik18 geht, oder ob man es womöglich mit einer dynamischen Konvertibilität beider Begriffe zu tun hat, die auf ein formales tertium comparationis verweist und von diesem her verstanden werden muss. Den folgenden Ausführungen liegt die These zugrunde, dass der Tugendbegriff bei Eckhart in zweifacher Hinsicht differenziert ist: Zum einen umfasst er all jene inhaltlich konkretisierten geistigen Vollkommenheiten wie Gerechtigkeit, Weisheit, Liebe, Barmherzigkeit, Gelassenheit, Demut usw., die den Menschen, der an ihnen teilhat, in eine unmittelbare Gemeinschaft mit Gott bringen. Zum anderen aber – und dieser Punkt wird nachfolgend noch zu untersuchen sein – hat die Tugend im Sinne der virtus auch noch eine rein formale Bedeutung, bei der es um das Verwirklichungsprinzip der inhaltlich bestimmten Tugenden als solcher geht. Diese beiden Aspekte gilt es im Folgenden zu differenzieren, um ihre Bedeutung für Eckharts Denken herauszustellen.

nicht die Bohne auf Gott achten würden; und sie stehen so fest in der Gerechtigkeit und haben sich so gänzlich ihrer selbst entäußert, dass sie weder die Pein der Hölle noch die Freude des Himmelreiches noch irgend etwas beachten.«) 17 Vgl. Eckhart, Quaest. Par. I n. 7, LW V 44,7–9. 18 So die These bei Mieth, Theologische Transposition.

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2.1 Vom »Was soll ich tun?« zum »Wer soll ich sein?« – die spezifische Ontologie der Tugenden als geistiger Vollkommenheiten Eckharts Tugendlehre unterscheidet sich vom Modell der aristotelischen Ethik in zwei grundlegenden Aspekten: So versteht er die Tugenden im konkret bestimmten Sinne – also Gerechtigkeit, Liebe, Demut, Barmherzigkeit, Gelassenheit usw. – nicht als akzidentelle Eigenschaften, die der Seele der betreffenden Person unter anderem inhärieren oder auch nicht,19 sondern als geistige Vollkommenheiten (perfectiones spirituales),20 die den Menschen ganz überformen und in den Bereich der Überzeitlichkeit hineinziehen. In Eckharts Augen besteht der Kardinalfehler der aristotelischen Tugendlehre also darin, dass sie mit der Deutung der Tugend als »Akzidenz der Seele« das Geistige nach dem Modell der dinglichen Natursubstanz interpretiert.21 Die beiden Sphären der Natur und des Geistes verhalten sich bei Eckhart aber genau gegenläufig – in modernen naturwissenschaftlichen Kategorien gesprochen, könnte man sie als »chiral« bezeichnen, d.ௗh. sie verhalten sich genau spiegelverkehrt zueinander, so wie die rechte und die linke Hand. Während etwa im Bereich des Körperlichen eine Kraft umso heftiger nach außen wirkt, je stärker sie ist, zeichnet sich im Bereich des Geistes die je größere Wirkmacht des Agens durch eine proportional stärkere zentripetale Kraft nach innen aus.22 Dasselbe Umkehrungsverhältnis gilt nun hinsichtlich der Deutung der Tugenden in ihrer Beziehung zum Menschen: Während im Bereich der dinglichen Natur die Eigenschaften nur in ihren individuellen Trägern verwirklicht sind und mit diesen zugrunde gehen, sind im Bereich des Geistigen die Vollkommenheiten wie Gerechtigkeit 19

Vgl. Aristoteles, Cat. 8, 8 b 25–9 a 13; EN II 4, 1105 b 19–1106 a 13. Vgl. Eckhart, In Sap. n. 41, LW II 362,4–364,4. 21 Vgl. Eckhart, In Sap. n. 43, LW II 365,1–4; Übers. ebd.: Quod autem dicitur et creditur ab imperitis iustitiam, sapientiam et huiusmodi mori cum iusto et sapiente, ex ignorantia est eorum, qui spiritualia iudicant secundum corporalia, cum semper etiam in natura e converso sit, ut spiritualia sint iudex corporalium. (»Dass aber Unerfahrene sagen und glauben, die Gerechtigkeit, Weisheit und dergleichen [Vollkommenheiten] stürben mit dem Gerechten und dem Weisen, kommt von der Unwissenheit derer her, die das Körperliche zum Maßstab des Geistigen machen, während es doch umgekehrt in der Natur auch immer so ist, dass das Geistige der Maßstab für das Körperliche ist.«) Vgl. dazu auch im Beitrag von Markus Enders den Abschnitt 3.2. 22 Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 193, LW III 161,13–162,7; ebd. n. 669, LW III 582,4–8. 20

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oder Weisheit das Ursprünglichere, das sich den einzelnen Gerechten und Weisen als wesensgleiches Ebenbild erzeugt und sich in ihm manifestiert, ohne jedoch von ihm abzuhängen.23 Die einzelne gerechte Person ist insofern gerecht, als sie Teil des Ausstrahlungsund Erscheinungsprozesses der Gerechtigkeit ist, aber umgekehrt hört die Gerechtigkeit nicht auf, das zu sein, was sie ist, wenn der einzelne Gerechte aufhören sollte, gerecht zu sein. Der entscheidende Punkt liegt darin, dass für Eckhart dieser Prozess der »Zeugung« des Gerechten durch die Gerechtigkeit als vollkommene Überformung gedacht wird, die die betreffende Person in einem nicht akzidentellen, sondern essentiellen Sinne zu einem Gerechten macht: Zum Beispiel empfängt der Gerechte als solcher sein ganzes Sein von der Gerechtigkeit, so dass die Gerechtigkeit in Wahrheit Erzeuger und Vater des Gerechten und der Gerechte als solcher gezeugtes Kind und Sohn der Gerechtigkeit ist.24

Die ethische Grundfrage des Menschen lautet bei Eckhart also nicht: »Was soll ich tun?«, sondern »Wer soll ich sein?«, und die dem Menschen allein angemessene Wesensbestimmung ist diejenige, die seine empirische Identität dezentriert und sie von der transzendentalen Prozessualität der geistigen Vollkommenheiten her denkt, deren Wirklichkeit ihm immer schon vorausgeht und ihn überformt.25 In dem Maße, wie die Form zur Gänze das Sein verleiht, überstrahlt das Gerechtsein des Gerechten, insofern er gerecht ist, all seine partiellen Eigenschaften als Naturwesen. Die Gerechtigkeit ist somit keine akzidentelle Eigenschaft der natürlichen, menschlichen Person, sondern insofern der Mensch ein Gerechter ist, wird deutlich, dass er der Assimilation in eine andere Wesensform fähig ist, die nicht auf substantiellem In-sich-Sein, sondern auf geistiger Relationalität beruht. Das Zentrum seiner Selbstbestimmung als Ich liegt beim Gerechten also nicht in ihm selbst als menschlichem Individuum, sondern in der Gerechtigkeit als solcher, die sich ihn als ihren Sohn erzeugt und ihn dadurch aus dem Naturzusammenhang heraushebt. Das ethische Sein des Gerechten beruht bei Eckhart demnach auf der univoken Mitteilung der Form der Gerechtigkeit, die im Gerechten 23

Vgl. Eckhart, In Sap. n. 41, LW II 363,4–364,4. Eckhart, In Sap. n. 42, LW II 364,5–7; Übers. ebd.: Exempli gratia: iustus ut sic totum suum esse accipit ab ipsa iustitia, ita ut iustitia vere sit parens et pater iusti et iustus ut sic vere sit proles genita et filius iustitiae. 25 Vgl. dazu auch im Beitrag von Andrés Quero-Sánchez den Abschnitt 6. 24

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nicht weniger vollkommen verwirklicht ist als in der Gerechtigkeit selbst, nur im Modus der Manifestation und des Gezeugtseins.26 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum in Eckharts transzendentaler Ethik der für die aristotelische Willens- und Handlungstheorie so wichtige Begriff der Zielursache keine wie immer geartete Rolle spielt. Wirk- und Zielursächlichkeit sind laut Eckhart auf den Bereich der Physik beschränkt, haben aber keinerlei Geltung im Bereich der Metaphysik, die es allein mit Form und Materie zu tun hat.27 In dem Maße, wie er die Tugenden als »geistige Vollkommenheiten« versteht, die zu dem Menschen, der an ihnen teilhat, im Verhältnis des Zeugenden zum Gezeugten stehen, geht es in seiner Ethik überhaupt nur um die reine Form der jeweiligen Tugend (Gerechtigkeit, Weisheit usw.), die sich oberhalb der Zeit in den einzelnen tugendhaften Menschen unmittelbar manifestiert. Dennoch ist bei Eckhart das klassisch-aristotelische Motiv der sukzessiven Habitualisierung einer Tugend28 keineswegs abwesend. Entscheidend ist allerdings, dass dieses nur das äußere Werk betrifft, das in der Sphäre des geschöpflichen »Dies und das« ausgeübt wird.29 Hier gibt es in der Tat eine graduelle Veränderung (alteratio), die dem Handelnden dazu verhilft, das betreffende Werk im Laufe der Zeit immer rascher, müheloser und freudiger zu vollbringen. Insofern der Mensch ein individuelles, raumzeitliches Geschöpf ist, muss er folglich auch die Tugenden über einen mehr oder weniger langen Zeitraum hinweg einüben und so im graduellen Sinne immer tugendhafter werden.30 Der springende Punkt ist jedoch, dass am Ende dieses Prozesses ein qualitativer Umschlag erfolgt, der die Tugend nicht als Resultat eines innerzeitlichen Veränderungsprozesses, sondern als Ergebnis einer überzeitlichen Zeugung (generatio) erscheinen lässt. Der Moment, in dem sich der Mensch als ein vollkommen Gerechter manifestiert, ist nicht der letzte Punkt auf der Zeitachse des äußeren, natürlichen Habitualisierungsprozesses, sondern dasselbe überzeitliche bzw. allzeitliche »Jetzt«, in dem Gott Vater seinen Sohn zeugt. In dem Maße, wie es sich dabei um eine innebleibende Hervorbringung handelt, verändert sich auch die Bedeutung des Wortes »Habitus«: 26 27 28 29 30

Vgl. Eckhart, In Sap. n. 42, LW II 364,5–8. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 443, LW III 380,7–11; ders., In Gen. I n. 4, LW I/2 63,5–9. Vgl. Aristoteles, EN II 3, 1105 a 17–1105 b 19. Vgl. Eckhart, In Ioh. nn. 142–150. 583–585, LW III 119,13–124,10; 510,7–512,8. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 668, LW III 580,9–581,11.

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Bedeutete es im empirisch-innerzeitlichen Sinne die durch Gewohnheit erworbene Eigenschaft, steht es auf der transzendental-überzeitlichen Ebene für das Innestehen und Innewohnen (habitare) des vergöttlichten Menschen in der ungeschaffenen Sphäre der Tugenden als solcher.31 Doch auch unter der Voraussetzung, dass der Tugendhafte der betreffenden geistigen Formen – der Gerechtigkeit, der Weisheit usw. – nicht nur in akzidenteller Weise, sondern auf der Ebene seines Seins teilhaftig geworden ist, stellt sich noch die Frage, wie vor diesem Hintergrund seine tugendhaften Handlungen als Verwirklichungen und weitere Auszeugungen der empfangenen Form der Tugend zustande kommen sollen. Mit anderen Worten: Wenn der von der Gerechtigkeit überformte Mensch auf der Ebene seines Seins bereits zur Gänze ein Gerechter ist, wie kann man dann noch das ethische Wirken im konkreten Sinne denken? Die Form allein genügt dazu nicht, sondern es bedarf noch eines Wirkprinzips, das aber nicht mehr in der naturhaften Dimension des Menschen liegen kann, denn zwischen der weiterzugebenden Form und dem Prinzip der Weitergabe muss eine metaphysische Proportionalität herrschen, und das Natürliche als solches kann nicht das Prinzip der Weitergabe des Geistigen sein. Wie also löst Eckhart dieses Problem? Die Antwort auf diese Frage liegt in der bereits erwähnten, zweiten Bedeutung der Tugend (virtus) begründet, die nicht auf die inhaltliche Bestimmtheit der geistigen Vollkommenheiten, sondern auf den Ursprung ihrer Verwirklichung als solcher abzielt.

2.2 Das Verhältnis von »Gott« und »Tugend« in Eckharts Sermo XXX,1 Der Text, dem das Zitat im Titel des vorliegenden Beitrags entstammt – Virtuoso virtus est pro deo (»Für den Tugendhaften nimmt die Tugend die Stelle Gottes ein«) –, ist Eckharts lateinischem Sermo XXX,1 entnommen. Obwohl es sich um eine Predigt handelt, ist auch hier der spekulativ-systematische Anspruch leicht erkennbar; greift dieser Text doch die Grundmotive der Terminipaare 5–7 aus dem Allgemeinen Prolog zum Opus tripartitum auf, nämlich Liebe, 31

Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 68, LW III 56,7–57,14.

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Tugend und Ganzheit. Die Predigt hat als Motto den Vers aus Lk 10,27: Diliges dominum deum tuum ex toto corde tuo (»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen«). In seiner vollständigen Form schließt dieser Vers mit seinem zweiten Teil »... und deinen Nächsten wie dich selbst« das gesamte Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe ein. Eckhart geht es nun um die Frage, wie das Verhältnis von Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe zu bestimmen ist. Er verweist in diesem Zusammenhang auf eine Stelle aus dem neunten Buch von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, wo die freundschaftliche Einstellung zum Mitmenschen aus der rechtverstandenen Freundschaft zu sich selbst abgeleitet wird.32 Für Eckhart verschiebt sich jedoch im Kontext des biblischen Glaubens das ursprüngliche Maß der Liebe von der eigenen Person zu Gott. Nicht die Liebe zu sich selbst ist also das Vorbild für die Liebe, die wir dem Nächsten entgegenbringen müssen, sondern die ganze und ungeteilte Liebe zu Gott ist die Grundhaltung, die das richtige Wechselverhältnis zwischen der Liebe zum Nächsten und der Liebe zu sich selbst ermöglicht. Dieser These liegt das metaphysische Prinzip zugrunde, dass das, was in einer bestimmten Ordnung jeweils am höchsten steht, Maß und Richtschnur für alles Darunterliegende ist. Eckhart legt dar: Ferner liebt man auch Gott nicht aus ganzem Herzen, wenn man überhaupt noch etwas liebt, was man nicht in ihm und um seinetwillen liebt. Hier bemerke zweitens: wenn (der Herr) erst den Nächsten nennt und an zweiter Stelle dich selbst, will er damit die volle Gleichheit oder Gleichwertigkeit oder vielmehr Identität der Selbstliebe und Nächstenliebe ausdrücken. Die Selbstliebe ist also nicht das Maß der Nächstenliebe, sondern die aus ganzem Herzen kommende Gottesliebe ist Maß oder Grund und Ursache der Liebe sowohl zu dir wie zum Nächsten.33

32

Aristoteles, EN IX 4, 1166 a 1. Eckhart, Sermo XXX,1 n. 307, LW IV 272,3–8; Übers. ebd. (Hervorhebungen im Original): Rursus etiam deus non diligitur ex toto corde, si quid prorsus diligitur quod non in ipso et propter ipsum diligitur. Ubi secundo nota quod proximum primo nominat, secundo te ipsum, ad notandum plenam aequalitatem sive parilitatem aut potius identitatem dilectionis sui et proximi. Non ergo dilectio sui est mensura dilectionis proximi, sed dilectio ex toto corde est mensura sive ratio et causa dilectionis et tui et proximi. 33

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Dieser Passus klingt zunächst einmal ganz traditionell-theologisch: Gott als die Vollkommenheit schlechthin und die absolute Liebe in Person ist der einzige, dem man eine ebenso rückhaltlose, absolute Liebe entgegenbringen darf, während die Liebe zu den Geschöpfen, und zwar sowohl mit Blick auf den Nächsten als auch mit Blick auf sich selbst, nicht losgelöst von der Liebe zu Gott verwirklicht werden darf, sondern in diese eingebettet und auf sie ausgerichtet sein muss.34 Die Liebe zu Gott ist demnach das analogatum primarium und das Kriterium der Legitimität der Liebe zum Menschen, nicht umgekehrt. Nach diesem Absatz geht Eckhart jedoch noch einen Schritt weiter und nimmt eine Perspektive ein, von der aus auch die Liebe zu Gott nochmals einer höheren Richtschnur unterworfen wird: Viertens ist zu bemerken, dass das Maß aller Liebe und jedes tugendhaften Aktes überhaupt grundsätzlich die Tugend oder die Liebe zur Tugend ist. Jedenfalls liebt jeder Tugendhafte die Tugend mehr als sich selbst und den Nächsten so wie sich selbst. Auf Grund dessen bemerke fünftens, dass für den Tugendhaften die Tugend die Stelle Gottes einnimmt, ja die Tugend ist sogar wie Gott, und Gott ist die Tugend (für ihn).35

Auch die Liebe zu Gott ist demnach keine absolute, nur an sich selbst das Maß findende und ihre Legitimität aus sich selbst schöpfende Größe, sondern hängt an der Liebe zur Tugend, die als solche noch über Gott steht. Gott darf man demnach nur unter der Bedingung aus ganzem Herzen lieben, dass diese Liebe der Ausdruck einer absoluten, unbedingten Liebe zur Tugend selbst ist, nicht umgekehrt. Auf den ersten Blick klingt diese Aussage sehr kühn, um nicht zu sagen anstößig. Kommt Eckharts Aussage, dass für den Tugendhaften die Tugend die Stelle Gottes einnimmt, nicht einer Vergötzung der Maßstäbe der praktischen Vernunft gleich? Auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag, vertritt Eckhart doch nicht eine Reduktion der Religion auf Moral im kantischen Sinne. Im letzten Teil des zitierten Satzes fügt er ja nach der Aussage »die Tugend ist für ihn Gott« unmittelbar hinzu »und Gott ist die Tugend (für ihn).« Offenbar gilt 34

Vgl. Thomas von Aquin, STh II–II, q. 26, a. 2. Eckhart, Sermo XXX,1 nn. 307–308, LW IV 272,10–14; Übers. ebd.: Quarto notandum quod omnis dilectionis et universaliter omnis actus virtuosi mensura est principaliter virtus sive amor virtutis. Virtuosus siquidem omnis virtutem plus amat quam se ipsum et proximum quasi se ipsum. Ex quo nota quinto quod virtuoso virtus est pro deo, quin immo virtus est sic¢ut² deus et deus virtus. 35

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die Konvertibilität und vollkommene Ersetzbarkeit zwischen Gott und der Tugend auch in der anderen Richtung, nämlich in dem Sinne, dass im vollendet tugendhaften Menschen nichts anderes und niemand anderes wirkt als Gott.36 Hat man es demnach doch wieder mit einem theologischen Reduktionismus zu tun, der die Eigenständigkeit der natürlich-menschlichen Ethik untergräbt und alles unmittelbar an Gott festmacht? Wie sich zeigen wird, ist dies nicht der Fall, sondern Eckhart versteht sowohl die Tugend im Singular als auch Gott von einem dritten Begriff her, der beiden vorausgeht und sie zu dem macht, was sie sind.

2.3 Die Identifizierung von Seinsgrund und Handlungsursprung vor dem Hintergrund der johanneischen Trinitätstheologie Der zweite Teil der bislang behandelten lateinischen Predigt, der Sermo XXX,2, widmet sich dem Problem des ethischen Wirkens des Menschen im Rahmen einer vertieften Analyse des Versteiles ex toto corde tuo (»aus deinem ganzem Herzen«). Die »Ganzheit« hat für Eckhart eine zutiefst metaphysische Bedeutung, insofern sie das existenzielle Pendant des transzendentalen Grundbegriffs der Einheit ist. Nicht zufällig umfasst die Tafel der vierzehn Terminipaare ja auch an siebenter Stelle das Binom totum / pars (»das Ganze und der Teil«).37 Nur was ungeteilt ist, ist überhaupt im eigentlichen Sinne des Wortes, denn alle Teilung, Differenz und Vielheit ist bereits ein Abfall vom Sein und damit von Gott, da für Eckhart das Sein als solches mit Gott identisch ist.38 So, wie bei allen Dingen der Grad an Seinsfülle dem Grad ihrer jeweiligen Einheit mit sich selbst direkt proportional ist, so muss sich mit Blick auf den Menschen und seine ethisch-moralische Einstellung der Ursprung und das Movens all seines Wirkens gleichfalls durch absolute Einheit auszeichnen. 36 Burkhard Mojsisch definiert diese Konvertibilität in treffender Weise dahingehend, dass Gott »für die geistigen Vollkommenheiten supponiert«, vgl. Burkhard Mojsisch, »Perfectiones spirituales – Meister Eckharts Theorie der geistigen Vollkommenheiten. Mit possibilitätsphilosophischen Reflexionen«, in: Martin Pickavé (Hg.), Die Logik des Transzendentalen. Festschrift für Jan Aertsen, Berlin 2003, 511–524, hier 523. 37 Vgl. Eckhart, Prol. gen. n. 4, LW I/1 150,8. 38 Vgl. Eckhart, Sermo XXX,2 n. 317, LW IV 278,13f.: Divisus a deo per consequens dividitur ab esse, quod a solo deo est. (»Wer von Gott getrennt ist, ist folglich vom Sein getrennt, das von Gott allein ist.«)

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In diesem Zusammenhang erwähnt Eckhart erneut den Begriff der virtus, aber in einer Weise, die deutlich macht, dass man es hier nicht mit der Tugend im Sinne einer konkreten Form – beispielsweise der Gerechtigkeit – zu tun hat, sondern mit der virtus im Sinne der »Wirkkraft« als solcher, die jedem Handeln des Menschen zugrunde liegt. Eckhart führt diesbezüglich aus: Gott ist nicht in der Teilung. Worin Gott aber nicht ist, das ist kein Seiendes; denn Gott ist in allem Seienden. Wenn das Gebot also fordert, Gott aus ganzem Herzen zu lieben, so ist all das im Herzen, was Gott nicht liebt, ein Nichts. Erstens ist es ja geteilt, und zweitens liebt alles (Seiende) Gott [...]. Oder: ein Herz heißt deshalb geteilt, weil es sich an vieles und für vieles verstreut. ›Jedes Reich aber, das in sich geteilt ist, wird zerstört werden‹ (Luk. 11,17). Zum buchstäblichen Sinn: wir sehen, dass eine geteilte Kraft abnimmt, erlischt und vermodert.39

Die Prinzipien des Seins und des Wirkens sind für Eckhart identisch in dem Sinne, dass jede Teilung eine Verminderung des Seinsgrades bzw. der Wirkmacht zur Folge hat. Demnach bezieht sich virtus in diesem Zusammenhang nicht auf die geistigen Vollkommenheiten als solche sowie die aus ihnen resultierenden menschlichen Handlungen, sondern zielt auf deren universales »Von-woher«, nämlich die metaphysische Wirkkraft im allgemeinen Sinne. Der Grad der Tugend bemisst sich demnach nicht an dem, was man im einzelnen tut, sondern am Grad der Einheit, die der Grund des Wirkens besitzt, und in dem Maße, wie er wirklich einer ist, ist er mit Gott als dem Einen schlechthin identisch. So, wie es für Eckhart letztlich kein anderes Sein gibt als das Gottes, so gibt es auch letztlich keine echte Tätigkeit, die nicht direkt aus Gott entspringen würde. Die so verstandene virtus ist keine göttliche oder menschliche Tugend im Sinne einer bestimmten geistigen Form – Gerechtigkeit, Liebe und dergleichen –, sondern der transzendentale Einheitsgrund aller Vollzüge, die dem reinen Sein entspringen und auf das reine Sein abzielen. Die ethische Qualität einer Handlung hängt primär also weder von dem ab, was man tut, noch vom Zweck, um dessentwillen man es 39

Eckhart, Sermo XXX,2 nn. 317–318, LW IV 279,5–12: [D]eus non est in divisione; sed in quo deus non est, ens non est, cum deus sit in omnibus entibus. Cum ergo deus praecipitur diligi ex toto corde, quidquid cordis deum non diligit, nihil est, tum quia divisum est, tum quia deum amant omnia [...]. Vel cor divisum dicitur sparsum in multa et ad multa. ›Omne‹ autem ›regnum in se divisum desolabitur‹. Ad litteram etiam videmus quod virtus divisa deficit, exstinguitur, putrescit.

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tut, sondern von ihrem metaphysischen Ursprung. Dementsprechend sind alle jene Handlungen Sünde, bei denen nicht Gott, sondern unser kreatürliches Eigensein die treibende Kraft darstellt. In seinem Johanneskommentar erläutert Eckhart diesbezüglich: Drittens wird dadurch klar, dass alles, was einer aus sich selbst, nicht aus Gott dem Vater bewegt tut, Sünde ist und nichts ist. [...] Viertens werden wir belehrt, dass wir an nichts anderem Geschmack haben sollen, dass wir nichts anderes in uns zeugen lassen und nichts unser Vater sei als Gott allein [...]. Willst du also wissen, ob ein Werk aus dir selbst oder aus Gott und in Gott getan ist? Sieh, ob dein Werk lebendig ist [...]. Lebendig aber ist, was nicht für etwas Äußeres geschieht, sondern nur im Dienst eines im Inneren bleibenden Habitus, des Vaters, gemäß dem Wort: ›der Vater, der in mir bleibt, er selbst tut die Werke‹.40

Der am Ende des Zitats stehende Verweis auf die Aussage des Johanneischen Christus aus Joh 14,10 gibt Eckharts Tugendlehre noch eine zusätzliche Tiefendimension. Ethisches Wirken ist letztlich kein bloß menschliches Tun und auch kein göttliches Tun, wenn man dieses als Wirken ad extra, also in Richtung der Geschöpflichkeit versteht, sondern ein »Zeugen«, das letztlich auf die absolute Ursprungsbeziehung zwischen Gott Vater und Gott Sohn verweist. Eckhart depotenziert also mit Blick auf das ethische Wirken nicht nur die Zwischenebene menschlicher Zweitursächlichkeit, sondern verlegt den Gesamtraum des Ethischen in die innertrinitarischen Bezüge hinein. Dies stellt insofern eine Radikalisierung seiner Position aus dem Sermo XXX dar, als man dort noch den Eindruck haben konnte, dass der Ursprung unserer tugendhaften Handlungen zwar unmittelbar in Gott liegen solle, die Wirkung aber im Innerweltlichen zu finden sei. Der eben zitierte Passus aus dem Johanneskommentar belehrt uns eines Besseren: Es geht überhaupt nicht mehr um ein nach außen gerichtetes Tun, sei es menschlichen oder göttlichen Ursprungs, sondern allein um ein Zeugen, dessen Zielpunkt nicht in einer bestimmten Handlung,

40 Eckhart, In Ioh. n. 454, LW III 388,6f. 13–389,4: Tertio patet per hoc quod omne quod quis facit ex se ipso, motus non ex deo patre, peccatum est et nihil est. [...] Quarto docemur quod nihil aliud sapiamus nec quidquam aliud se in nobis generet nec pater noster sit nisi solus deus [...]. Vis ergo scire, si opus factum sit a te ipso vel a deo et in deo? Vide, si opus sit vivum [...]. Vivum autem est quod pro nullo foris est, sed pro sola convenientia habitus intus manentis patris, secundum illud: ›pater in me manens, ipse facit opera‹.

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sondern allein im Sein liegt – nämlich jener Seinsweise, die aus dem Gezeugten im univoken Sinne den Sohn Gottes macht.41 Demzufolge gibt es kein gelungenes menschliches Leben im ethischen Sinne losgelöst von jenem absoluten Leben schlechthin, das sich in der Dreifaltigkeit verwirklicht. Der Begriff der virtus ist somit gleichbedeutend mit der Ursprunghaftigkeit Gott Vaters, sofern dieser die Macht hat, nicht nur die Welt zu schaffen, sondern sich auch in jedem Menschen ein wesensgleiches Ebenbild zu erzeugen, das aus der absoluten Einheit des Ursprungs in diesen zurückwirkt und den göttlichen Lebenskreislauf damit schließt. Der »innewohnende Habitus«, von dem Eckhart spricht, ist also keine graduell erworbene Eigenschaft, sondern steht für die Präsenz der absoluten, ursprungslosen Spontaneität im Inneren des Menschen, sofern dieser nicht mehr in sich selbst, sondern in Gott existiert. Letztlich ist Eckharts Ethik also strenggenommen nicht christologisch fundiert, wenn man darunter lediglich die äußere Nachahmung des Lebens Christi als Realisierung der vollkommenen Gerechtigkeit versteht. Im eigentlichen Sinne handelt es sich, wenn man einen Neologismus wagen will, um eine »deuspatristische« Ethik, die besagt, dass in jeder Handlung des Menschen die gleiche treibende Kraft von innen wirksam sein soll wie in Christus, nämlich Gott Vater (Deus pater) selbst.42 Doch ist nicht so sehr das Entscheidende, dass diese treibende Kraft Gott heißt, sondern vielmehr, von woher der Anstoß zum Wirken erfolgt. In Predigt 39 formuliert Eckhart provokant: Im Gerechten soll nichts wirken als einzig Gott. Denn, dafern dich irgend etwas von außen zum Wirken anstößt, wahrlich, so sind alle solche Werke tot; und selbst, wenn Gott dich von außen zum Wirken anstieße, wahrlich, so sind ¢auch² diese Werke alle tot. Sollen aber deine Werke leben, so muß Gott dich inwendig im Innersten der Seele

41 Auch bei Thomas von Aquin findet man den Gedanken einer Einheit des Menschen mit Gott, doch vollzieht sich diese ausschließlich auf der Ebene des Willens und der Handlungen, nicht auf der Ebene des Seins wie bei Eckhart. Vgl. dazu Reginald M. Chua, »Eckhart, Aquinas, and the Problem of Intrinsic Goods«, in: Medieval Mystical Theology 28.1 (2019), 3–13, hier 6f. und 11. 42 Vgl. dazu noch einmal Eckhart, In Ioh. n. 454, LW III 388,6f.; Übers. ebd.: Tertio patet per hoc quod omne quod quis facit ex se ipso, motus non ex deo patre, peccatum est et nihil est. (»Drittens wird dadurch klar, dass alles, was einer aus sich selbst, nicht aus Gott dem Vater bewegt tut, Sünde ist und nichts ist.«).

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anstoßen, wenn sie ¢wirklich² leben sollen: denn da ist dein Leben, und da allein lebst du.43

Nicht, dass der Anstoß zum Wirken von Gott kommt, ist demnach für die ethische Qualität der Handlung entscheidend, sondern dass der Anstoß von innen kommt. Die radikale Immanenz des Ursprungs ist demnach das übergeordnete Kriterium, das sowohl Gottes Wirken als auch das des Menschen zu einer virtus im ursprünglichen Sinne macht, d.ௗh. zu einer Kraft, die den daraus hervorgehenden Werken das Leben gibt. So gesehen, ist Eckharts Rückführung des Wirkprinzips auf Gott Vater gerade nicht theonom in dem Sinne, dass Gott bewegt, insofern er Gott ist. Vielmehr ist Gott nur insofern mit der im Tugendhaften wirkenden virtus identisch, als er dem Kriterium des Bewegens von innen genügt.

2.4 Gott Vater werden: Die Weitergabe der Ursprunghaftigkeit als solcher Eckharts Denken zeichnet sich durch eine Dynamik aus, die jede noch so kühne und ungewöhnliche Aussage durch noch radikalere Formulierungen über sich hinaustreibt und überbietet. Die Aussage, dass im tugendhaften Menschen niemand anderes wirken darf als Gott Vater, ist denn auch nicht der Schlusspunkt seiner Ausführungen. Die letztgenannte Formulierung könnte nämlich immer noch den Eindruck erwecken, als handele es sich um eine Verdrängung oder gar Vernichtung der spezifisch menschlichen Subjektivität zugunsten des göttlichen Wirkens in uns.44 Und doch begreift Eckhart die Gleichsetzung des »inneren Habitus« unseres Wirkens mit Gott Vater nicht in dem Sinne, dass wir Menschen nur noch die passiven 43 Eckhart, Pr. 39, DW II 259,4–250,1; Übers. 685 (Hervorhebungen im Original): In dem gerehten ensol kein dinc würken dan aleine got. Wan ist, daz dich dehein dinc ûzwendic anerüeret ze würkenne, wærlîche diu werk sint alliu tôt; und ist, daz dich got ûzwendic anerüere ze würkenne, wærlîche, diu werk sint alliu tôt. Und suln dîniu werk leben, sô muoz dich got inwendic anerüeren in dem innigesten der sêle, suln sie leben; und dâ ist dîn leben, und dâ lebest dû aleine. 44 Die These eines mystischen Zugrundegehens jeder Pluralität von Subjekten zugunsten des singulären göttlichen Ich ist in der Eckhart-Forschung weit verbreitet. Vgl. dazu u.ௗa. Alois M. Haas, »›… Das Persönliche und Eigene verleugnen‹. Mystische vernichtigkeit vnd verworffenheit sein selbs im Geiste Meister Eckharts«, in: Manfred Frank / Anselm Haverkamp (Hg.), Individualität, München 1988, 106–122.

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Gegenstände oder Werkzeuge des göttlichen Wirkens in uns sind. Dies geht deutlich aus einem Passus in Predigt 22 hervor, die ganz dem Thema der Gottesgeburt im Menschen gewidmet ist. Zunächst entwickelt Eckhart dieses Motiv in dem für ihn üblichen Sinne, dass wir, so wie Christus, als der eine Sohn aus Gott geboren werden sollen. Bis zu dieser Stelle klingt dieser Vorgang noch rein passiv, als seien wir Menschen die Empfangenden dieser Sohnschaft. Doch dann geht Eckhart noch einen Schritt weiter und führt aus: ›In principio‹. Damit ist uns zu verstehen gegeben, dass wir ein einiger Sohn sind, den der Vater ewiglich geboren hat aus dem verborgenen Dunkel ewiger Verborgenheit ¢und doch² innebleibend im ersten Beginn der ersten Lauterkeit, die da eine Fülle aller Lauterkeit ist. [...] Aus dieser Lauterkeit hat er mich ewiglich geboren als seinen eingeborenen Sohn in das Ebenbild seiner ewigen Vaterschaft, auf dass ich Vater sei und den gebäre, von dem ich geboren bin. [...] So tut’s Gott: Er gebiert seinen eingeborenen Sohn in das Höchste der Seele. Im gleichen Zuge, da er seinen eingeborenen Sohn in mich gebiert, gebäre ich ihn zurück in den Vater.45

Mit dieser Deutung geht Eckhart noch einen Schritt über das sonst übliche Modell seiner Gottesgeburtslehre hinaus: Wir werden nicht nur im univoken Sinne als ein und derselbe Sohn Gottes geboren wie Christus, sondern der Vater kann bei diesem Auszeugen seines eigenen Wesens nicht weniger geben, als er selbst ist, und appropriiert uns sogar seine Vaterschaft im Sinne der absoluten Ursprunghaftigkeit.46 Daraus resultiert dann auch die Reziprozität des Zeugens und Gebärens: In dem Maße, wie wir aus dem Vater geboren werden, sind wir als Ebenbilder seiner Vaterschaft auch dazu aufgerufen, das, was wir empfangen haben, in ebenso hohem Maße und nicht weniger wieder »zurückzugebären«. Diese Wechselseitigkeit setzt voraus, dass es eben nicht nur im numerischen Sinne ein einziges Aktionszentrum 45 Eckhart, Pr. 22, DW I 382,3–6.8–383,1.6–8; Übers. 518f.: ›In principio‹. Hie ist uns ze verstânne geben, daz wir ein einiger sun sîn, den der vater êwiclîche geborn hât ûz dem verborgenen vinsternisse der êwigen verborgenheit, inneblîbende in dem êrsten beginne der êrsten lûterkeit, diu dâ ist ein vülle aller lûterkeit. [...] Ûz der lûterkeit hât er mich êwiclîche geborn sînen eingebornen sun in daz selbe bilde sîner êwigen vaterschaft, daz ich vater sî und geber den, von dem ich geborn bin. [...] Alsô tuot got: er gebirt sînen eingebornen sun in daz hœste teil der sêle. In dem selben, daz er gebirt sînen eingebornen sun in mich, sô gebir ich in wider in den vater. 46 Zu dieser radikalen Eliminierung jeder ontologischen Vorgegebenheit vgl. im Beitrag von Andrés Quero-Sánchez die Abschnitte 7 und 8.

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Meister Eckharts Ethik zwischen Autonomie und Gottessohnschaft

gibt – Gott Vater –, sondern dass der Vater kraft der Fülle seiner Gottheit so überströmend reich ist, dass er sogar seine Vaterschaft verströmen und mitteilen kann. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch hat also nicht mehr nur die Form der Beziehung zwischen Gott Vater und Gott Sohn als einer univoken Wesensgemeinschaft in personaler Unterschiedenheit, sondern verwirklicht sich überhaupt nur im Modus der Vaterschaft als die untrennbare Wechselbeziehung zwischen dem ursprünglich gebärenden Gott Vater und dem wiedergebärenden Gott Vater. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass auch die Immanenz des göttlichen Wirkens im einzelnen Individuum keine Implosion der Vielzahl menschlicher Handlungssubjekte zugunsten des numerisch einen göttlichen Subjekts zur Folge hat, sondern sich in der bleibenden Differenz zwischen den einzelnen Ursprungszentren verwirklicht. Daraus lässt sich schließen, dass in Eckharts Modell des ursprunghaften »Wirkens« das Verhältnis zwischen Einheit und Vielheit der Subjekte nicht mehr nach dem aristotelischen Schema des übergeordneten Artbegriffs und der durch akzidentelle Eigenschaften numerisch voneinander unterschiedenen Individuen begriffen werden kann. Die »deuspatristischen« Ursprünge des Wirkens unterscheiden sich lediglich dadurch, dass die äußeren Wirkungsradien der geborenen Gott-Vater-Instanzen aufgrund ihrer apperzeptiven Verbindung mit raumzeitlich individuierten Personen begrenzt sind.47 Was das innere Werk anbelangt, ist unsere Kraft (virtus) jedoch der Wirkmacht Gott Vaters gleich, so dass wir zwar nicht in gleichem Maße wie er als Schöpfer der dinglichen Natur gelten können, sehr wohl aber in univoker Gleichheit wie er als Schöpfer einer moralischen Welt wirken müssen. Vor dem Hintergrund der eckhartschen Ethik ist jeder Mensch also nicht nur, wie Leibniz sagen würde, ein »kleiner Gott in seinem Departement«,48 sondern ein geborener Gott Vater, der alle seine ethischen Handlungen allein aus der absoluten Immanenz seiner virtus heraus wirkt.

47 Vgl. Eckhart, RdU 10, DW V 217,9f.; Übers. 514: Gebrichet dir niht an dem willen dan aleine an der maht, in der wârheit, vor gote hâst dû ez allez getân. (»Gebricht’s dir nicht am Willen, sondern nur am Vermögen, fürwahr, so hast du es vor Gott alles getan.«). 48 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, § 83, in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, ed. C. I. Gerhardt, Hildesheim 1961, Bd. VI, 621: »[...] chaque esprit étant comme une petite divinité dans son département.«

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3. Schlussbetrachtung Wie sich gezeigt hat, ist Eckharts transzendental verstandener Tugendbegriff zweistufig, insofern er neben den reinen Formen der geistigen Vollkommenheiten (perfectiones spirituales) auch noch »die« virtus im Singular umfasst, die keinerlei inhaltliche Bestimmung mehr hat, sondern sich allein auf die von innen her treibende Kraft alles Wirkens bezieht.49 Die Grundbegriffe dieser fundamentalethischen Reflexionen – Liebe, Tugend und Ganzheit – finden sich allesamt in den Terminipaaren im Prolog zum Opus tripartitum wieder und bezeugen auf diese Weise eindrucksvoll, dass Eckhart keine Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie kennt, sondern beide Aspekte der Philosophie in den transzendentalen Grundgegebenheiten der Wirklichkeit verankert sieht, die nichts anderes sind als die strukturellen Ausfaltungen des Absoluten. Letztlich ist die Tugend daher überhaupt nichts Nur-Menschliches, sondern die überquellende produktive Kraft des Ursprungs, der sich an jedem Punkt der Wirklichkeit gleichermaßen manifestiert. Die Eliminierung des Begriffs der Zielursache zugunsten der immanenten Weitergabe der reinen Form der Tugenden verleiht dem Bereich des ethischen Wirkens den Charakter geistiger Freiheit und absoluter Selbstbestimmung. Der gerechte Mensch, der in vollendeter Weise durch die Gerechtigkeit überformt wurde, braucht sich an keinem äußeren Handlungskriterium mehr zu orientieren und hat es auf kein äußeres Ziel mehr abgesehen, sondern wirkt in der absoluten Immanenz und Autarkie geistiger Selbsthabe. Damit ist allerdings nicht gemeint, dass er die Maßstäbe seines Seins und Handelns willkürlich selbst setzen könnte. Er besitzt die Gerechtigkeit nicht wie eine Eigenschaft, sondern er ist die Gerechtigkeit selbst, die keiner anderen Richtschnur mehr unterworfen ist, nicht einmal Gott; ja, er ist sogar der Grund dafür, dass die Gerechtigkeit ist, was sie ist, und verkörpert somit selbst das unbedingt Seinsollende für alle aktuelle wie potentielle Wirklichkeit.50 49 In seinem Johanneskommentar verwendet Eckhart an einer Stelle ausdrücklich das Adjektiv virtuosius im Sinne von »stärker«, »kräftiger«, vgl. Eckhart, In Ioh. n. 669, LW III 582,4f.: in corporalibus quanto quid est virtuosius, tanto procedit magis ad extra (»je kraftvoller etwas im körperlichen Bereich ist, umso mehr dringt es nach außen vor«). 50 Vgl. dazu Eckhart, In Ioh. n. 417, LW III 354,2–4; Übers. ebd.: Iustus enim homo, in quantum iustus, etiam ipsam iustitiam ligat et prohibit, ne possit facere contrarium iusto.

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Meister Eckharts Ethik zwischen Autonomie und Gottessohnschaft

(»Denn der gerechte Mensch bindet, insofern er gerecht ist, sogar die Gerechtigkeit selbst und hindert sie, etwas zu tun, was dem Gerechten zuwider ist.«)

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Anhang

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Abkürzungen und Siglen

Allgemein Bd.

Band

c.

caput, capitulum: Kapitel

CCSL

Corpus Christianorum. Series Latina

CSEL

Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum

GCS

Griechische christliche Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte

n.

numerus: Nummer

hom.

homilia: Predigt

PG

Patrologia Graeca

PL

Patrologia Latina

Alcher von Clairvaux Spir. An.

De spiritu et anima: Über Geist und Seele

Ambrosius Off.

De officiis ministrorum: Über die Pflichten der Kirchendiener

Aristoteles An.

De anima: Über die Seele

427 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Abkürzungen und Siglen

Cael.

De caelo: Über den Himmel

Cat.

Categoriae: Kategorien

EN

Ethica Nicomachea: Nikomachische Ethik

Met.

Metaphysica: Metaphysik

Phys.

Physica: Physik

Pol.

Politica: Politik

Top.

Topica: Topik

Augustinus C. Adim.

Contra Adimantum Manichaei discipulum: Gegen den Manichäer Adimantus

Civ.

De civitate Dei: Über den Gottesstaat

Conf.

Confessiones: Bekenntnisse

De lib. arb. De libero arbitrio: Über den freien Willen De nat. bon.

De natura boni: Über die Natur des Guten

En.

Enarrationes in Psalmos: Psalmenkommentar

Ep.

Epistulae: Briefe

Gen. ad litt.

De Genesi ad litteram: Über den Wortlaut der Genesis

Immort. an.

De immortalitate animae: Über die Unsterblichkeit der Seele

In ep. Ioh. In epistolam Iohannis ad Parthos tractatus decem: Abhandlungen über den Johannesbrief In Ioh. tract.

In Iohannis evangelium tractatus: Abhandlungen über das Johannesevangelium

Mor. eccl.

De moribus ecclesiae et de moribus Manichaeorum: Über die Lebensführung der Katholischen Kirche und über die Lebensführung der Manichäer

Quaest. hept.

Quaestiones in Heptateuchum: Fragen zum Heptateuch

428 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Abkürzungen und Siglen

Quaest. oct.

De diversis quaestionibus octoginta tribus: Über 83 Fragen

tract.

tractatus: Traktat, Abhandlung

Trin.

De trinitate: Über die Trinität

Avicenna Met.

Liber de philosophia prima sive Scientia divina (= Metaphysica): Metaphysik

An.

Liber de anima seu sextus naturalibus (= De anima): Über die Seele

Bernhard von Clairvaux Consid.

De consideratione: Was ein Papst erwägen muss

Boethius (Anicius Manlius Severinus) Cons.

Consolatio philosophiae: Trost der Philosophie

pr.

prosa: Prosa

Cicero Tusc.

Tusculanae disputationes: Gespräche in Tusculum

Inv.

De inventione: Über die Auffindung des Stoffes

Dionysius Areopagita Div. nom.

De divinis nominibus: Über die göttlichen Namen

Coel. hier.

De coelesti hierarchia: Über die himmlische Hierarchie

429 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Abkürzungen und Siglen

Eckhart BgT

Daz buoch der gœtlîchen trœstunge: Das Buch der göttlichen Tröstung

DW

Die Deutschen Werke

In Eccl.

Sermones et lectiones super Ecclesiastici: Kommentar zu Jesus Sirach

In Exod.

Expositio libri Exodi: Exodus-Kommentar

In Gen. I

Expositio libri Genesis: Erster Genesis-Kommentar

In Gen. II

Liber parabolarum Genesis: Zweiter Genesis-Kommentar [Buch der Bildreden der Genesis]

In Ioh.

Expositio sancti evangelii secundum Iohannem: Johannes-Kommentar

In Sap.

Expositio libri Sapientiae: Sapientia-Kommentar

LW

Die Lateinischen Werke

Pr.

Die deutschen Predigten

Prol. gen.

Prologus generalis in Opus tripartitum: Allgemeiner Prolog zum Dreigeteilten Werk

Prol. op. prop.

Prologus in opus propositionum: Prolog zum Thesenwerk

RdU

Die rede der underscheidunge: Die Reden der Unterweisung [Die Reden der Unterscheidung / Erfurter Reden]

Sermo

Sermones: Lateinische Predigten

VAb

Von abegescheidenheit: Von Abgeschiedenheit

VeM

Von dem edeln menschen: Vom edlen Menschen

430 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Abkürzungen und Siglen

Gregor der Große Hom. in evang.

Homiliae in evangelia: Evangelienhomilien

Moral.

Moralia in Iob: Kommentar zum Buch Hiob

Kant und Schelling AA

Akademie-Ausgabe

Liber de causis prop.

propositio: Lehrsatz

Macrobius Somn. Scip.

Commentarius in somnium Scipionis: Kommentar zu Scipios Traum

Origenes Hom. in Ier.

Homiliae in Ieremiam: Homilien zu Jeremia

Petrus Lombardus Sent.

Sententiae in IV libris distinctae: Sentenzen

Platon Phaid.

Phaidon

431 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Abkürzungen und Siglen

Men.

Menon

Pseudo-Ambrosius Comm. in Ep. Gal.

Commentarius in Epistolam ad Galatas: Kommentar zum Galaterbrief

Pseudo-Johannes Chrysostomus Op. imperf. in Matth.

Opus imperfectum in Matthaeum: Unvollständiger Matthäuskommentar

Simplicius In Praed.

In Praedicamenta Aristotelis: Kommentar zu den Kategorien des Aristoteles

Spinoza, Baruch de E

Ethica: Ethik

p

propositio: Lehrsatz

sch

scholium: Anmerkung

def

definitio: Definition

Thomas von Aquin a.

articulus: Artikel

arg.

argumentum: Argument, Einwand

De mal.

Quaestiones disputatae De malo: Vom Übel

De unit.

De unitate intellectus: Über die Einheit des Geistes

432 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Abkürzungen und Siglen

De ver.

Quaestiones disputatae De veritate: Über die Wahrheit

De virt.

Quaestiones disputatae De virtutibus: Über die Tugenden

l.

lectio: Vorlesung

lib.

liber: Buch

prooem.

prooemium: Einleitung

q.

quaestio: Frage

r.

responsio: Antwort

s. c.

sed contra: Gegenthese

STh

Summa Theologiae: Die Summe der Theologie

STh I

Summa Theologiae, Prima Pars: Die Summe der Theologie, Erster Teil

STh I–II

Summa Theologiae, Prima Secundae: Die Summe der Theologie, Erster Teil des zweiten Teils

STh II–II

Summa Theologiae, Secunda Secundae: Die Summe der Theologie, Zweiter Teil des zweiten Teils

STh III

Summa Theologiae, Tertia Pars: Die Summe der Theologie, Dritter Teil

Super Ioh. Super Evangelium S. Ioannis lectura: Kommentar zum Johannesevangelium Bibelstellen werden nach den Loccumer Richtlinien abgekürzt: https:/ /www.uibk.ac.at/bibhist/repschinski/hilfsmittel/loccum.pdf

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Textnachweise, Editionen, Literatur zur Einführung

1. Textnachweise Thomas von Aquin: Der lateinische Text folgt der »Editio Leonina«: Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia, iussu Leonis XIII P.M. edita, Bd. 6: Prima Secundae Summae Theologiae, cura et studio Fratrum Praedicatorum, Romae: Ex Typographia Polyglotta, 1891, 309–411.

Eckhart: Die Auszüge sind der Eckhart-Werkausgabe entnommen: Die Deutschen und Lateinischen Werke (abgekürzt mit DW bzw. LW), hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1936–… (Auch die in den Essays zitierten Verweise auf Eckhart beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf diese Ausgabe.) Daz buoch der gœtlîchen trœstunge: Das Buch der göttlichen Tröstung (ed. J. Quint), in: DW V, Stuttgart, Kohlhammer, 1963, 1–105. Die deutschen Predigten 1–24 (ed. J. Quint), DW I, Stuttgart, Kohlhammer, 1958. Die deutschen Predigten 25–59 (ed. J. Quint), DW II, Stuttgart, Kohlhammer, 1971. Die deutschen Predigten 60–86 (ed. J. Quint), DW III, Stuttgart, Kohlhammer, 1976. Die deutschen Predigten 87–105 (ed. G. Steer), DW IV/1, Stuttgart, Kohlhammer, 2003. Die rede der underscheidunge: Die Reden der Unterweisung [Die Reden der Unterscheidung / Erfurter Reden] (ed. J. Quint), in: DW V 137–376. Expositio libri Exodi: Exodus-Kommentar (ed. H. Fischer / J. Koch / K. Weiss), in: LW II, Stuttgart, Kohlhammer, 21992, 1–227. Expositio libri Genesis: Erster Genesis-Kommentar (ed. K. Weiss), in: LW I/1, Stuttgart, Kohlhammer, 1964, 185–444.

434 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Textnachweise, Editionen, Literatur zur Einführung

Expositio libri Genesis: Erster Genesis-Kommentar [recensio L] (ed. L. Sturlese), in: LW I/2, Stuttgart, Kohlhammer, 2015, 62–329. Expositio libri Sapientiae: Sapientia-Kommentar (ed. H. Fischer / J. Koch), in: LW II 301–634. Expositio sancti evangelii secundum Iohannem: Johannes-Kommentar (ed. K. Christ / B. Decker / J. Koch / H. Fischer / L. Sturlese / A. Zimmermann), LW III, Stuttgart, Kohlhammer, 21994. Liber parabolarum Genesis: Zweiter Genesis-Kommentar [Buch der Bildreden der Genesis] (ed. K. Weiss), in: LW I/1 445–702. Liber parabolarum Genesis: Zweiter Genesis-Kommentar [Buch der Bildreden der Genesis] [recensio altera] (ed. L. Sturlese), in: LW I/2 331–446. Prologus generalis in Opus tripartitum: Allgemeiner Prolog zum Dreigeteilten Werk (ed. K. Weiss), in: LW I/1 148–165. Prologus generalis in Opus tripartitum: Allgemeiner Prolog zum Dreigeteilten Werk [recensio L] (ed. L. Sturlese), in: LW I/2 22–40. Prologus in opus propositionum: Prolog zum Thesenwerk (ed. K. Weiss), in: LW I/1 166–182. Prologus in opus propositionum: Prolog zum Thesenwerk [recensio L] (ed. L. Sturlese), in: LW I/2 42–57. Quaestiones Parisienses I–V: Pariser Quästionen I–V (ed. B. Geyer), in: LW V, Stuttgart, Kohlhammer, 1988, 27–83. Quaestiones Parisienses VI–IX: Pariser Quästionen VI–IX (ed. L. Sturlese), in: LW I/2 715–726. Sermo die beati Augustini Parisius habitus: Predigt zum Fest des Hl. Augustinus (ed. B. Geyer), in: LW V 85–99. Sermones: Lateinische Predigten (ed. E. Benz), LW IV, Stuttgart, Kohlhammer, 1956. Sermones et lectiones super Ecclesiastici: Kommentar zu Jesus Sirach (ed. J. Koch / H. Fischer), in: LW II 229–300. Sermo Paschalis: Osterpredigt (ed. L. Sturlese), in: LW V 131–148. Von abegescheidenheit: Von Abgeschiedenheit (ed. J. Quint), in: DW V 400–437. Von dem edeln menschen: Vom edlen Menschen (ed. J. Quint), in: DW V 106–136.

435 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Textnachweise, Editionen, Literatur zur Einführung

Studienausgaben: Meister Eckhart, Werke (in 2 Bd.), Bd. 1: Pr. 1–65, hg. und komm. von N. Largier, Stuttgart, Deutscher Klassiker Verlag, 22020. Meister Eckhart, Werke (in 2 Bd.), Bd. 2: Pr. 66–86, Prol. gen., In Ioh. [nn. 1–50], Quaestio Parisiensis I, Sermones [in Auswahl], hg. und komm. von N. Largier, Stuttgart, Deutscher Klassiker Verlag, 2008. Meister Eckhart, Studienausgabe der Lateinischen Werke, Bd. 1: Prologi in Opus tripartitum, Expositio libri Genesis, Liber Parabolarum Genesis, hg. von L. Sturlese / E. Rubino, Stuttgart, Kohlhammer, 2016. Meister Eckhart, Studienausgabe der Lateinischen Werke, Bd. 2: Expositio libri Exodi, Sermones et lectiones super Ecclesiastici cap. 24, Expositio libri Sapientiae, Expositio Cantici Canticorum (fragm.), hg. von L. Sturlese, Stuttgart, Kohlhammer, 2018.

2. Editionen der zitierten Quellen Angegeben werden die Quellen der Originaltexte sowie, wenn vorhanden, deutsche Übersetzungen und Studienausgaben.   Alcher von Clairvaux, De spiritu et anima, ed. J.-P. Migne, PL 40, Paris, Garnier, 1865. Ambrosius, De officiis ministrorum, ed. M. Testard, CCSL 15, Turnhout, Brepols, 2001. Aristoteles, Categoriae, ed. L. Minio-Paluello, Oxford, Oxford University Press, 1949. Deutsch: Kategorien, Aristoteles Werke, begr. von E. Grumach, fortgef. von H. Flashar, hg. von C. Rapp, Bd. 1/I, übers. und komm. von K. Oehler, Berlin, Akademie Verlag, 42006. Studienausgabe: Die Kategorien, (griech./dt.), übers. und hg. von I. W. Rath, Stuttgart, Reclam, 2009. Aristoteles, De anima, ed. W.D. Ross, Oxford, Oxford University Press, 1956. Deutsch: Über die Seele, Aristoteles Werke, Bd. 13, übers. und komm. von W. Theiler, Berlin, Akademie Verlag, 82006. Studienausgabe: Über die Seele / De anima (griech./dt.), übers. und hg. von K. Corcilius, Hamburg, Meiner, 2017. Aristoteles, De caelo, ed. D. J. Allan, Oxford, Oxford University Press, 1936. Deutsch: Über den Himmel, Aristoteles Werke, Bd. 12/III, übers. und komm. von A. Jori, Berlin, Akademie Verlag, 2009. Studienausgabe: Aristoteles: Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst, hg. und übers. von O. Gigon, München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983; Düsseldorf, Artemis und Winkler, 1994.

436 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Textnachweise, Editionen, Literatur zur Einführung

Aristoteles, Ethica Nicomachea, ed. I. Bywater, Oxford, Oxford University Press, 1894. Deutsch: Nikomachische Ethik, Aristoteles Werke, Bd. 6, übers. und komm. von D. Frede, Berlin, Akademie Verlag, 2020. Studienausgaben: Die Nikomachische Ethik (griech./dt.), übers. von O. Gigon, neu hg. von R. Nickel, Düsseldorf, Artemis & Winkler, 22007. Nikomachische Ethik, übers. und hg. von U. Wolf, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch, 2006. Aristoteles, Metaphysica, ed. W. Jaeger, Oxford, Oxford University Press, 1957. Deutsch/Studienausgabe: Metaphysik (griech./dt.), Neubearbeitung der Übersetzung von H. Bonitz, hg. von H. Seidl, Erster Halbband (Bücher I–VI), Zweiter Halbband (Bücher VII–XIV), Hamburg, Meiner, 31989/31991. Aristoteles, Physica, ed. W. D. Ross, Oxford, Oxford University Press, 1950. Deutsch: Physikvorlesung, Aristoteles Werke, Bd. 11, übers. und komm. von H. Wagner, Berlin, Akademie Verlag, 51995. Studienausgabe: Physik. Vorlesung über Natur (griech./dt.), übers. und hg. von H. G. Zekl, Erster Halbband (Bücher I–IV), Zweiter Halbband (Bücher V–VIII), Hamburg, Meiner, 1987/1988. Aristoteles, Politica, ed. W. D. Ross, Oxford, Oxford University Press, 1957. Deutsch: Politik, Aristoteles Werke, Bd. 9/I (Buch I) und 9/II (Bücher II und III), komm. von E. Schütrumpf, Berlin, Akademie Verlag, 1991; Bd. 9/III (Bücher IV–VI), komm. von E. Schütrumpf, Berlin, Akademie Verlag, 1996; Bd. 9/IV (Bücher VII und VIII), komm. von E. Schütrumpf, Berlin, Akademie Verlag, 2005. Studienausgaben: Politik, übers. und mit Anmerkungen versehen von E. Rolfes, eingel. von G. Bien, Hamburg, Meiner, 41981. Politik. Schriften zur Staatstheorie, übers. und hg. von F. F. Schwarz, Stuttgart, Reclam, 2010. Aristoteles, Topica, ed. W. D. Ross, Oxford, Oxford University Press, 1958. Deutsch / Studienausgabe: Topik, übers. und komm. von T. Wagner und C. Rapp, Stuttgart, Reclam, 2004. Athanasius, Vita Antonii, ed. L. Gandt / P. H. E. Bertrand, CCSL 170, Turnhout, Brepols, 2019. Augustinus, Confessiones, ed. P. Knöll, CSEL 33, Wien / Prag, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1896. Studienausgabe: Confessiones / Bekenntnisse (lat./dt.), übers. von W. Thimme, Düsseldorf, Artemis & Winkler, 2004. Augustinus, Contra Adimantum Manichaei discipulum, ed. J. Zycha, CSEL 25/1, Wien / Prag, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1891.

437 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Textnachweise, Editionen, Literatur zur Einführung

Augustinus, De civitate Dei, pars 1 (lib. I–XIII), ed. E. Hoffmann, CSEL 40/1, Wien / Prag, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1899; pars 2 (lib. XIV–XXII), ed. E. Hoffmann, CSEL 40/2, Wien / Prag, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1900. Deutsch: Vom Gottesstaat. Vollständige Ausgabe, übers. von W. Thimme, eingel. und komm. von C. Andersen, München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 2007. Augustinus, De diversis quaestionibus octoginta tribus, ed. A. Mutzenbecher, CCSL 44A, 1–249, Turnhout, Brepols, 1975. Augustinus, De Genesi ad litteram, ed. J. Zycha, CSEL 28/1, Wien / Prag, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1894. Augustinus, De immortalitate animae, ed. W. Hörmann, CSEL 89, Wien, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1986. Augustinus, De libero arbitrio libri tres, ed. W. M. Green, CSEL 74, Wien, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1956. Deutsch: Vom freien Willen, in: Theologische Frühschriften, übers. und erl. von W. Thimme, Zürich, Artemis, 1962. Augustinus, De moribus ecclesiae Catholicae et de moribus Manichaeorum, ed. J. B. Bauer, CSEL 90, Wien, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1992. Augustinus, De natura boni, ed. J. Zycha, CSEL 25/2, 853–889, Wien / Prag, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1892. Augustinus, De trinitate, ed. W. J. Mountain / F. Glorie, CCSL 50 (libri I–XII) / 50A (libri XIII–XV) Turnhout, Brepols, 2001 / 1968. Deutsch: Über den dreieinigen Gott, ausgew. und übertr. von M. Schmaus, Leipzig, Jakob Hegner, 1936. Lat./dt.: De trinitate (Bücher VIII–XI, XIV–XV, Anhang: Buch V), übers. und eingel. von J. Kreuzer, Hamburg, Meiner, 2001. Augustinus, Enarrationes in Psalmos 110–118, ed. F. Gori adiuvante F. Recanatini, CSEL 95/2, Berlin / München / Boston, De Gruyter, 2015. Augustinus, Epistulae 185–270, ed. A. Goldbacher, CSEL 57, Wien / Prag, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1911. Augustinus, In epistolam Iohannis ad Parthos tractatus decem, ed. J.-P. Migne, PL 35, Paris, Garnier, 1902. Augustinus, In Iohannis evangelium tractatus, ed. R. Willems, CCSL 36, Turnhout, Brepols, 1954. Augustinus, Quaestiones in Heptateuchum, ed. J. Zycha, CSEL 28/2, Wien / Prag, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1895. Augustinus, Regula (ep. 211, al. 109), in: Epistulae (185–270), ed. A. Goldbacher, CSEL 57, 359–371, Wien / Prag, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1911. Deutsch: Des Heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Briefe, Bd. 2 (Buch III–IV), übers. von A. Hoffmann, in: Bibliothek der Kirchenväter, hg. von O. Bardenhewer, Th. Schermann, K. Weyman, Kempten / München, Kösel, 1917. Augustinus, Sermones ad Populum, serm. 169, ed. S. Boodts / M. Torfs / G. Partoens, Augustiniana 59 (2009), 11–44.

438 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Textnachweise, Editionen, Literatur zur Einführung

Avicenna, Liber de Philosophia prima sive Scientia divina (= Metaphysica), Bd. 1 (libri I–IV), Bd. 2 (libri V–X), ed. S. Van Riet, Louvain / Leiden, Peeters / Brill, 1977/1980. Avicenna, Liber de anima seu sextus naturalibus, Bd. 1 (libri I–III), Bd. 2 (libri IV–V), ed. S. Van Riet, Louvain / Leiden, Peeters / Brill, 1972. Bernhard von Clairvaux, De consideratione ad Eugenium papam, in: Opera III: Tractatus et opuscula, ed. J. Leclerq / H. Rochais, Romae, Editiones Cistercienses, 1963. Studienausgabe: Was ein Papst erwägen muss, übers. von H.-U. von Balthasar, Einsiedeln, Johannes Verlag, 1985. Boethius, Consolatio philosophiae, ed. W. Weinberger, CSEL 67, Wien / Prag, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1934. Studienausgabe: Consolatio philosophiae / Trost der Philosophie (lat./dt.), übers. von E. Gegenschatz, Düsseldorf, Artemis & Winkler, 62002. Cicero, De inventione, ed. E. Stroebel, Leipzig, Teubner, 1977. Studienausgabe: De inventione / Über die Auffindung des Stoffes (lat./dt.), übers. von T. Nüßlein, Berlin, De Gruyter, 2013. Cicero, Tusculanae disputationes, ed. M. Pohlenz, Berlin / New York, De Gruyter, 2008. Studienausgabe: Tusculanae disputationes / Gespräche in Tusculum (lat./dt.), übers. von O. Gigon, Zürich, Artemis & Winkler, 1998. Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, ed. B. R. Suchla, Berlin, De Gruyter, 1990 (Corpus Dionysiacum I). Deutsch: Die Namen Gottes (Bibliothek der griechischen Literatur, Abt. Patristik, Bd. 26), übers. von B. R. Suchla, Stuttgart, Hiersemann, 1988. Dionysius Areopagita, De coelesti hierarchia, ed. G. Heil / A. M. Ritter, Berlin / Boston, De Gruyter, 2012 (Corpus Dionysiacum II). Deutsch: Über die himmlische Hierarchie, übers. von G. Heil, Stuttgart, Hiersemann, 22019. Gregor der Große, Homiliae in evangelia, ed. R. Étaix, CCSL 141, Turnhout, Brepols, 1999. Gregor der Große, Moralia in Iob: Libri I-X, ed. M. Adriaen, CCSL 143, Turnhout, Brepols, 1979. Johannes von Damaskus, De fide orthodoxa, ed. B. Kotter, in: Die Schriften des Johannes von Damaskos, Bd. 2, Berlin, De Gruyter, 1973. Studienausgabe: Des heiligen Johannes von Damaskus genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, übers. von D. Stiefenhofer, in: Bibliothek der Kirchenväter, hg. von O. Bardenhewer / K. Weyman / J. Zellinger, München, Kösel / Pustet, 1923. Liber de causis, ed. A. Pattin, in: Tijdschrift voor Filosofie 28 (1966), 90–203. Studienausgabe: Liber de causis / Das Buch von den Ursachen (lat./dt.), übers. von A. Schönfeld, Hamburg, Meiner, 2003.

439 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Textnachweise, Editionen, Literatur zur Einführung

Macrobius, Commentarius in somnium Scipionis, ed. J. Willis, Stuttgart, Teubner, 21994. Studienausgabe: Macrobius’ Commentary on the Dream of Scipio, transl. by W. H. Stahl, New York, Columbia University Press, 1990. Origenes, Homiliae in Ieremiam, ed. E. Klostermann, GCS 6, Leipzig, Hinrichs, 1909. Petrus Lombardus, Magistri Petri Lombardi Parisiensis Episcopi Sententiae in IV libris distinctae. Editiones Collegii S. Bonaventurae Ad Claras Aquas, 2 Bde., Rom / Grottaferrata, 1971/1981. Platon, Phaidon, ed. L. Robin / L. Méridier, in: Platon. Werke in acht Bänden (gr./dt.), übers. von F. Schleiermacher, hg. von G. Eigler, bearb. von D. Kurz, Bd. III, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1974, 1–207. Platon, Menon, ed. A. Croiset / L. Bodin / M. Croiset / L. Méridier, in: Platon. Werke in acht Bänden (gr./dt.), übers. von F. Schleiermacher, hg. von G. Eigler, bearb. von H. Hoffmann, Bd. II, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1974, 505–599. Pseudo-Ambrosius, Commentarius in epistulas Paulinas (ad Galatas, ad Efesios, ad Filippenses, ad Colosenses, ad Thesalonicenses, ad Timotheum, ad Titum, ad Filemonem), ed. H. J. Vogels, CSEL 81/3, Wien, Hoelder / Pichler / Tempsky, 1969. Pseudo-Johannes Chrysostomus, Opus imperfectum in Matthaeum, ed. J.-P. Migne, PG 56, Paris, Garnier, 1862. Simplicius, In Praedicamenta Aristotelis, ed. A. Pattin, 2 Bde. (Corpus Latinum Commentariorum in Aristotelem Graecorum V/1 und V/2), Louvain, Publications universitaires de Louvain, 1971/1975. Thomas von Aquin, De unitate intellectus contra Averroistas, in: Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia, iussu Leonis XIII P.M. edita (= Editio Leonina), Bd. 43: Opuscula, vol. 4, ed. H.-F. Dondaine, Rom 1976, 243–314. Deutsch: Über die Einheit des Geistes gegen die Averroisten (dt./lat.), übers., eingef. und erl. von W.-U. Klünker, Stuttgart, Verlag Freies Geistesleben, 1987. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae De malo, Editio Leonina, Bd. 23, ed. P.-M. Gils, Rom 1982. Deutsch: Vom Übel, Teilband 1 (Fragen 1–7), übers. von S. Schick, in: Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae. Vollständige Ausgabe der Quästionen in deutscher Übersetzung, hg. von R. Schönberger, Hamburg, Meiner, 2009; Teilband 2 (Fragen VIII–XVI), übers. von C. Schäfer, Hamburg, Meiner, 2010. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae De veritate, Editio Leonina, Bd. 22.1–3, ed. A. Dondaine, Rom 1972–1976. Deutsch: Über die Wahrheit, übers. von E. Stein, Wiesbaden, Marix, 2013. Von der Wahrheit / De veritate (q. I), übers. und eingel. von A. Zimmermann, Hamburg, Meiner, 1986. Über die Wahrheit II, übers. von E. Stein, bearb. von A. Speer und F.V. Tommasi, Edith-Stein-Gesamtausgabe, Bd. 24, Freiburg, Herder, 2008.

440 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Textnachweise, Editionen, Literatur zur Einführung

Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae De virtutibus, Bd. 2, cura et studio P. Bazzi / M. Calcaterra / T.S. Centi / E. Odetti / P.M. Pessier, Paris / Turin, Marietti, 101965, 701–828. Deutsch: Über die Tugenden, übers. von W. Rohr, in: Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae. Vollständige Ausgabe der Quästionen in deutscher Übersetzung, hg. von R. Schönberger, Hamburg, Meiner, 2012. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I–II, Editio Leonina, Bd. 9 (qq. 57–114), Rom, 1897. Deutsch: Die Summe der Theologie, übers. von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, vollständige, ungekürzte dt.-lat. Ausgabe (Die deutsche Thomas-Ausgabe), Bde. 11–14, Graz u.ௗa., Verlag Anton Pustet, 1940–... Thomas von Aquin, Super Evangelium S. Ioannis lectura, cura R. Cai, Turin / Rom, Marietti, 61972. Deutsch: Thomas von Aquins Kommentar zum Johannesevangelium, 2 Bde., hg. und übers. von P. Weingartner / M. Ernst / W. Schöner, Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 2011/2016. Eine von Hanns-Gregor Nissing zusammengestellte Übersicht über alle vollständigen und partiellen Übersetzungen der Werke des Thomas von Aquin ins Deutsche aus dem Jahr 2020 findet man im Internet unter: Schriften des Thomas von Aquin (thomas-von-aquin.de)

Ulpianus, Digesta, zitiert nach: Decretale glossa cum ordinaria domini Bernhardi, Basel 1482.

3. Literatur zur Einführung Thomas von Aquin: i) Zu Leben und Werk: Brian Davies, Thomas von Aquin. Eine kurze Einführung, Neunkirchen-Seelscheid, Editiones Scholasticae, 2019. Maurice De Wulf, Die Philosophie des Thomas von Aquin, Neunkirchen-Seelscheid, Editiones Scholasticae, 2013. Marie-Dominique Chenu, Das Werk des Hl. Thomas von Aquin, Heidelberg / Graz / Wien / Köln, F.H. Kerle / Styria, 1960 (Die deutsche Thomas-Ausgabe, 2. Ergänzungsband), 21982. Maximilian Forschner, Thomas von Aquin, München, C. H. Beck, 2006. Volker Leppin, Thomas von Aquin, Münster, Aschendorff, 2009. Volker Leppin (Hg.), Thomas Handbuch, Tübingen, Mohr Siebeck, 2016. Otto Hermann Pesch, Thomas von Aquin. Grenze und Größe mittelalterlicher Theologie. Eine Einführung, Mainz, Grünewald, 1988. Rolf Schönberger, Thomas von Aquin zur Einführung, Hamburg, Junius, 42012.

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Textnachweise, Editionen, Literatur zur Einführung

Jean-Pierre Torrell, Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin, Freiburg, Herder, 1995. Denys Turner, Thomas Aquinas: A Portrait, New Haven, Yale University Press, 2013. James A. Weisheipl, Thomas von Aquin. Sein Leben und seine Theologie, Graz / Wien / Köln, Styria, 1980.

ii) Zur Summa Theologiae: David Berger, Thomas von Aquins Summa theologiae, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004. Jeffrey Hause (Hg.), Aquinas’s Summa Theologiae: A Critical Guide, Cambridge, Cambridge University Press, 2018. Philip McCosker / Denys Turner (Hg.), The Cambridge Companion to the Summa Theologiae, Cambridge, Cambridge University Press, 2016. Wilhelm Metz, Die Architektonik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. Zur Gesamtsicht des thomasischen Gedankens, Hamburg, Felix Meiner, 1998. Andreas Speer (Hg.), Thomas von Aquin: Die Summa theologiae. Werkinterpretationen, Berlin / New York, De Gruyter, 2005. Jean-Pierre Torrell, Aquinas’s Summa: Background, Structure, and Reception, Washington, D.C., The Catholic University of America Press, 2005.

Eckhart: Karl Albert, Meister Eckharts These vom Sein. Untersuchungen zur Metaphysik des ›Opus tripartitum‹, Saarbrücken / Kastellaun, A. Henn, 1976. John M. Connolly, Living without Why: Meister Eckhart’s Critique of the Medieval Concept of Will, Oxford, Oxford University Press, 2014. Kurt Flasch, Meister Eckhart – Philosoph des Christentums, München, C. H. Beck, 2010. Ursula Fleming, Meister Eckhart: The Man From Whom God Hid Nothing, Leominster, Gracewing, 1995. Jeremiah H. Hackett (Hg.), A Companion to Meister Eckhart, Leiden / Boston, Brill, 2013. Dietmar Mieth, Meister Eckhart, München, C. H. Beck, 2014. Burkhard Mojsisch, Meister Eckhart: Analogie – Univozität – Einheit, Hamburg, Meiner, 1983. Martina Roesner, Logik des Ursprungs. Vernunft und Offenbarung bei Meister Eckhart, Freiburg / München, Alber, 2017. Kurt Ruh, Meister Eckhart: Theologe – Prediger – Mystiker, München, C. H. Beck, 21989. Meik Peter Schirpenbach, Wirklichkeit als Beziehung. Das strukturontologische Schema der ›Termini generales‹ im ›Opus tripartitum‹ Meister Eckharts, Münster, Aschendorff, 2004.

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Textnachweise, Editionen, Literatur zur Einführung

Karl Heinz Witte, Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens. Eine Einführung, Freiburg, Herder, 2016.

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Angaben zu den Autorinnen und Autoren

Kathi Beier ist seit 2019 Associate Fellow an der Meister-EckhartForschungsstelle des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt und seit Oktober 2022 Projektmitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Bremen. Sie studierte Philosophie sowie Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Leipzig und wurde 2010 in Philosophie am MaxWeber-Kolleg der Universität Erfurt promoviert. 2009–2011 war sie Lehrkraft für besondere Aufgaben am Philosophischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen, 2011–2015 Assistentin am Institut für Philosophie der Universität Wien. Forschungsaufenthalte führten sie an die Oxford University, UK (2007), ans Hoger Instituut voor Wijsbegeerte der KU Leuven in Belgien (2015–2017) und im Rahmen eines COFUND-Fellowship der EU ans Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt (2017–2019). Buch-Publikationen: Selbsttäuschung, Berlin / Boston, De Gruyter, 2010; (Hg. mit P. Heuer) Ontologie. Zur Aktualität einer umstrittenen Disziplin, Leipzig, Leipziger Universitätsverlag, 2010; (Hg. mit Th. Rossi Leidi) Substanz denken. Aristoteles und seine Bedeutung für die moderne Metaphysik und Naturwissenschaft, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2016.   Markus Enders ist seit 2001 Ordinarius für Christliche Religionsphilosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg im Breisgau. Er studierte Philosophie, katholische Theologie, Religionsgeschichte, Gräzistik und Germanistik (Mediävistik) an den Universitäten Freiburg im Breisgau und München (LMU). Promotion in Philosophie 1991, in katholischer Theologie 1999, Habilitation in Philosophie 1997 an der LMU München. Er war 1999–2000 Heisenberg-Stipendiat der DFG und ist seit 2017 Ordentliches Mitglied der Philosophisch-Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften sowie seit 2020 Ko-Leiter der Heidelberger Forschungsstelle der Karl-Jaspers-Gesamtausgabe an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeber der Karl-Jas-

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Angaben zu den Autorinnen und Autoren

pers-Gesamtausgabe, die im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben wird. Publikationen (Auswahl): Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, Paderborn, Schöningh, 1993; Wahrheit und Notwendigkeit. Die Theorie der Wahrheit bei Anselm von Canterbury im Gesamtzusammenhang seines Denkens und unter besonderer Berücksichtigung seiner antiken Quellen (Aristoteles, Cicero, Augustinus, Boethius), Leiden, Brill, 1999; Natürliche Theologie im Denken der Griechen, Frankfurt a. M., Knecht, 2000; Gelassenheit und Abgeschiedenheit – Studien zur Deutschen Mystik, Hamburg, Dr. Kovač, 2008; Bernhard Welte. Gesammelte Schriften II/1: Denken in Begegnung mit den Denkern I: Meister Eckhart, Thomas von Aquin, Bonaventura, Freiburg, Herder, 2007; »Im Anfang war der Logos…«. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart (hg. mit R. Kühn), Freiburg, Herder, 2011; Meister Eckhart und Bernhard Welte. Meister Eckhart als Inspirationsquelle für Bernhard Welte und für die Gegenwart, Münster / Berlin, LIT 2015; Meister Eckhart – interreligiös (hg. mit C. Büchner und D. Mieth), Stuttgart, Kohlhammer, 2016 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 10).   Marko J. Fuchs ist seit 2019 Akademischer Oberrat a. Z. am Institut für Philosophie der Universität Bamberg. Er war 2017–2018 Visiting Fellow am Heythrop College, University of London, und an der Pontificia Università Gregoriana, Rom. 2010–2019 arbeitete er als Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Philosophie I (Prof. Dr. Christian Schäfer) an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und 2008–2010 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Martin-Grabmann-Institut für mittelalterliche Theologie und Philosophie der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Publikationen (Auswahl): Gerechtigkeit als allgemeine Tugend. Die Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie im Mittelalter und das Problem des ethischen Universalismus, Berlin / Boston, De Gruyter, 2016; Sum und cogito – Grundfiguren endlichen Selbstseins bei Augustinus und Descartes, Paderborn, Schöningh, 2010; »Naturgesetz und Gewissen: Finnis, Westerman, Thomas von Aquin«, in: Marko J. Fuchs (Hg.), Perspectives on Normativity. Etica & Politica / Ethics & Politics, Vol. XXI, No. 1, 2019, 45–60, Open access: http://www 2.units.it/etica/2019_1/FUCHS.pdf; »Univozität und Distinktion. Metaphysische Grundstrukturen bei Duns Scotus, Suárez, Descartes

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Angaben zu den Autorinnen und Autoren

und Spinoza«, in: Lukáš Novák (Hg.), Suárez’s Metaphysics in Its Historical and Systematic Context. Contemporary Scholasticism, Bd. II, Berlin / Boston, De Gruyter, 2014, 105–116; »Philia and Caritas: Some Aspects of Aquinas’s Reception of Aristotle’s Theory of Friendship«, in: T. Hoffmann / M. Perkams / J. Müller (Hg.), Aquinas and the Nicomachean Ethics, Cambridge, Cambridge University Press, 2013, 203–219.   Peter Nickl ist Apl. Professor für Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Regensburg und Dozent an verschiedenen Bildungseinrichtungen in Hannover. Er studierte Philosophie in Pavia und München und wurde 1992 mit einer Arbeit über Jacques Maritain in München bei Robert Spaemann promoviert. Im Jahr 2000 hat er sich an der Universität Regensburg habilitiert. Vertretungsprofessuren führten ihn nach Hannover und Münster. Publikationen (Auswahl): Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des habitus, Hamburg, Meiner, 22005; Hg.: Die Sieben Todsünden – Zwischen Reiz und Reue, Münster, LIT Verlag, 2009; Bonaventura / Thomas von Aquin / Boethius von Dacien: Über die Ewigkeit der Welt, mit einer Einleitung von Rolf Schönberger, Übersetzung und Anmerkungen von Peter Nickl, Frankfurt a. M., Klostermann, 2000; Petrus Johannis Olivi: Über die menschliche Freiheit, übersetzt und eingeleitet von Peter Nickl, Freiburg, Herder, 2006; »Athanatizein: hexis-Erwerb als Weg zur Unsterblichkeit«, in: Walter Mesch (Hg.), Glück, Tugend, Zeit. Aristoteles über die Zeitstruktur des guten Lebens, Heidelberg, Metzler, 2013, 265–274; »Affectus & Intellectus: a Medieval Point of View«, in: Philosophy Study 5.7 (2015), 349–355; Petrus Iohannis Olivi: Traktat über Verträge, lat.-dt., übers. von Peter Nickl, hrsg., eingeleitet und mit einer Bibliographie versehen von Guiseppe Franco, Hamburg, Meiner, 2021.   Matthias Perkams ist Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Antike und Mittelalterliche Philosophie an der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Nach Studien der Philosophie, Theologie und Klassischen Philologie widmet er sich der Philosophie des lateinischen Mittelalters ebenso wie derjenigen der Antike sowie der christlichen und islamischen Traditionen des Orients. Er hat Übersetzungen verschiedener Texte in Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters herausgegeben. Seine über 50 Fachaufsätze behandeln schwerpunktmäßig die praktische Philosophie Thomas von Aquins und anderer

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Angaben zu den Autorinnen und Autoren

mittelalterlicher Autoren, die Entwicklung des Philosophiebegriffs in verschiedenen Kulturen, die syrisch-arabische Philosophietradition sowie die aristotelische und neuplatonische Philosophie der Spätantike. Buch-Publikationen (Auswahl): Liebe als Zentralbegriff der Ethik nach Peter Abaelard, Münster, Aschendorff, 2001; Selbstbewusstsein in der Spätantike. Die neuplatonischen Kommentare zu AristotelesҲ De anima, Berlin / Boston, De Gruyter, 2008; Aquinas and the Nicomachean Ethics, hg. mit T. Hoffmann und J. Müller, Cambridge, Cambridge University Press, 2013; Islamische Philosophie im Mittelalter, hg. mit H. Eichner und Chr. Schäfer, Darmstadt, WBG 2013, 22017; Hg., Philosophie in der Antike, 2 Bde., Meiner 2023.   Andrés Quero-Sánchez ist seit 2011 Apl. Professor für Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Regensburg und seit 2019 Direktor der Philosophischen Abteilung von Andújar஺s International Institute for German Culture (MAQUE). Er wurde 2002 in Philosophie an der Universität Regensburg promoviert und hat sich dort 2011 habilitiert. Als wissenschaftlicher Angestellter arbeitete er 2005–2011 an der Kommission für die Herausgabe ungedruckter Texte aus der mittelalterlichen Geisteswelt (Bayerische Akademie der Wissenschaften, München), 2012–2013 an der Forschungsstelle für geistliche Literatur des Mittelalters (Katholische Universität EichstättIngolstadt), 2013–2017 am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien (Universität Erfurt) sowie 2018–2019 am Institut für Philosophie der Universität Regensburg. 2008–2012 war er Mitglied des erweiterten Vorstands der Meister-Eckhart-Gesellschaft. Publikationen (Auswahl): Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, zus. mit G. Steer, Stuttgart, Kohlhammer, 2008 (MeisterEckhart-Jahrbuch 2); Über das Dasein. Albertus Magnus und die Metaphysik des Idealismus, Stuttgart, Kohlhammer, 2013; Mystik und Idealismus: Eine Lichtung des deutschen Waldes, Leiden, Brill, 2020; »Schellings philosophische Rezeption des Buchs von der geistigen Armut (auch Buch von der Nachfolgung des armen Lebens Christi genannt)«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 62 (2015), 240–280; »Meister Eckhart, lateinische Sermo XVII«, in: G. Steer / L. Sturlese (Hg.), Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, Bd. 3, Stuttgart, Kohlhammer, 2009, 175–217.

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Angaben zu den Autorinnen und Autoren

Martina Roesner ist seit 2019 Leiterin eines vom Austrian Science Fund (FWF) geförderten Forschungsprojekts zu Meister Eckhart und Edmund Husserl an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien (Projektnummer: P 31358). Sie studierte Philosophie an der Pontificia Università Gregoriana in Rom, an den Universitäten Tübingen und Salzburg sowie an der Université Paris IV-Sorbonne. 2001 promovierte sie in Philosophie an der Université Paris IV-Sorbonne und war danach mit Postdoc-Stipendien am Centre Universitaire de Luxembourg sowie am C.N.R.S. / Archives Husserl de Paris tätig. Von 2005–2009 war sie Lehrbeauftragte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und von 2009–2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. 2011/12 war sie Junior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald und wechselte 2013 als Lise-Meitner-Stipendiatin an die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Wien. 2017 habilitierte sie sich in Philosophie an der Universität Oldenburg und erwarb im gleichen Jahr einen Master in Katholischer Theologie an der Universität Wien. 2018/19 verbrachte sie im Rahmen eines COFUND-Fellowship einen Forschungsaufenthalt am Max-Weber-Kolleg in Erfurt. Publikationen (Auswahl): Metaphysica ludens. Das Spiel als phänomenologische Grundfigur im Denken Martin Heideggers, Dordrecht, Kluwer, 2003; Le laboureur de l’être. Une racine cachée de l’imaginaire philosophique heideggérien, Hildesheim, Olms, 2004; Logik des Ursprungs. Vernunft und Offenbarung bei Meister Eckhart, Freiburg / München, Alber, 2017; Ich – Logos – Welt. Der egologische Ansatz der Ersten Philosophie bei Meister Eckhart und Edmund Husserl, Freiburg / München, Alber, 2020; (Hg.), Subjekt und Wahrheit. Meister Eckharts dynamische Vermittlung von Philosophie, Offenbarungstheologie und Glaubenspraxis, Leuven, Peeters, 2018; (Hg.), Philosophische Schriftauslegung. Geschichte eines ungewöhnlichen Programms, Münster, Aschendorff, 2022; (Hg. zusammen mit Maxime Mauriège), Meister Eckharts Rezeption im Nationalsozialismus, Leiden, Brill, 2022.

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Personenregister

A Abraham 373 Aegidius Romanus 398 Aertsen, Jan A. 340, 415 Albertus Magnus 14, 15, 382, 393, 398 Alcher von Clairvaux 181 Alsberg, Paul 315 Ambrosius von Mailand 151, 179, 267, 292 Anscombe, G.E.M. 10 Antonius der Große (auch: A. Eremita) 105 Aristoteles (auch: der Philosoph) 9, 11, 13, 15, 16, 19, 21, 29–37, 41–45, 49, 51, 55, 57, 61, 67, 73, 75, 81, 87, 95, 107, 125, 153, 179, 193, 255, 273, 275, 282, 286–288, 300, 302–304, 312, 317, 318, 326–329, 332, 341–345, 347, 350–353, 360, 362–366, 369, 386, 387, 409, 411, 413 Athanasius 105 Augustinus 33, 49, 51, 55, 61, 63, 93, 113, 115, 133–137, 147, 149, 153, 169, 197, 199, 219, 227, 237, 251, 253, 270, 271, 282, 286, 307, 314, 341–344, 365, 383, 384, 388, 391, 403, 404 Avicenna 107, 137, 149, 286, 291 B Baader, Franz von 356 Bacon, Roger 356 Barth, Karl 339

Bernhard von Clairvaux 169 Blankertz, Stefan 12 Boethius, Anicius Manlius Severinus 169 Bourdieu, Pierre 302 Brachtendorf, Johannes 277 Bréhier, Émile 339 Büchner, Christine 390 C Celano, Anthony 13 Ceming, Katharina 12 Chesterton, Gilbert Keith 12, 16 Chua, Reginald M. 13, 418 Cicero, Marcus Tullius 55, 73, 167, 307 D Dancy, Jonathan 316 David (König) 159, 161, 223, 231, 243 Degenhardt, Ingeborg 356 Descartes, René 360 Dicke, Klaus 400 Dionysius Areopagita 67, 107, 113, 119 Doubrawa, Erhard 12 Duns Scotus 346 E Ellis, Fiona 357 Enders, Markus 298 Ernst, Stephan 346 Euklid 360

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Personenregister

F Feuerbach, Ludwig 339 Foot, Philippa 10 Franz von Assisi 187 Freud, Sigmund 303 Fuchs, Marko J. 13, 281, 298, 347, 349, 361 G Geach, Peter 10 Gerson, Jean 356 Gilson, Étienne 12, 338 Goris, Harm 13 Gottschall, Dagmar 390 Gregor der Große 81, 179, 197 H Haas, Alois M. 419 Halbig, Christoph 10, 265, 303, 351 Harak, G. Simon 310 Hause, Jeffrey 318, 326, 334 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 21, 354–358, 360, 369, 379 Heidegger, Martin 339 Heinrich II. von Virneburg (Erzbischof von Köln) 14 Heinrich von Gent 346 Hendriks, Lambert 13 Hieronymus 314 Hoffmann, Tobias 13 Hübner, Dietmar 316, 317 J Jacob, Josef 304, 305 Jacobi, Friedrich Heinrich 358 Jacobi, Klaus 27 Jakob 255 Jesus Christus 20, 105, 151, 171, 185, 199, 223, 235, 249, 257, 259, 265, 313, 314, 417, 418, 420

Johannes Chrysostomus 145 Johannes (Evangelist) 159, 251 Johannes von Damaskus 71, 105 Johannes XXII. (Papst) 14, 398, 399 K Kant, Immanuel 9, 10, 303, 304, 414 Kenny, Anthony 340 Kent, Bonnie 346 Kluxen, Wolfgang 12, 318, 320, 323, 328, 352, 361 Kobusch, Theo 13, 338– 340, 402 Kohtes, Paul J. 12 Konyndyk de Young, Rebecca 13 Korp, Harald-Alexander 12 L Lazarus 313 Leibniz, Gottfried Wilhelm Libera, Alain de 18 Llull, Ramon 356 Luther, Martin 400

421

M MacIntyre, Alasdair 10, 302 MacKay Knobel, Angela 347 Macrobius 79, 370, 371 Mandrella, Isabelle 373 Marguerite Porète 356 Maria (Mutter Jesu) 245, 355 Maria von Bethanien 203, 205, 313 Maritain, Jacques 302, 338 Martha von Bethanien 203, 205, 241, 313 Mattison, William C. III 346 McCluskey, Colleen 13 McDowell, John 317, 327 McInerny, Ralph 340 Mechthild von Magdeburg 356

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Personenregister

Metz, Wilhelm 265 Mieth, Dietmar 13, 370, 390, 399, 406, 408 Milne, Joseph 13, 406 Mojsisch, Burkhard 415 Moses 227 Müller, Jörn 13 N

R Rhonheimer, Martin 12 Rohr, Winfried 13, 264, 267, 311, 361, 362, 364 Rosa, Hartmut 310, 400 Ruh, Kurt 15, 370, 402, 406 Russell, Bertrand 388 S

Nickl, Peter 13, 382, 383, 390 Nietzsche, Friedrich 9, 10, 303 Nikolaus von Kues 384 O Origenes 153, 293 Owens, Joseph 353 P Paladini, Chiara 390 Palazzo, Alessandro 12, 370, 371 Panofsky, Erwin 302 Paulus (Apostel) 97, 185, 203, 213, 223, 241, 249, 350, 395 Perkams, Matthias 13, 266, 318, 323, 326, 336, 349 Petrus Lombardus 282, 341, 342 Pieper, Josef 12 Pinsent, Andrew 12, 21, 340– 344, 347–352 Platon 9, 19, 107, 251, 300, 309, 317, 318 Plotin 253, 407 Porter, Jean 12, 334 Q Quero-Sánchez, Andrés 292, 343, 361, 382, 386, 388, 390, 391, 393, 394, 396–400, 410, 420 Quillet, Jeannine 13 Quint, Josef 23, 394

Salomo (König) 219, 288 Scheler, Max 305, 339 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 392, 394, 395 Schiller, Friedrich 304 Schockenhoff, Eberhard 12, 274, 312 Schönberger, Rolf 264, 265, 270, 351, 352, 361 Schoot, Henk 13 Schröer, Christian 318, 334, 335 Seneca, Lucius Annaeus 400 Simplicius 31, 37 Spaemann, Robert 301 Speer, Andreas 17, 394 Spinoza, Baruch de 9, 358–360 Steer, Georg 384, 394, 399 Stump, Eleonore 12, 21, 340– 344, 347, 349, 351–353 Sturlese, Loris 16, 384, 394, 395, 399, 400 T Ten Klooster, Anton 12, 348 Te Velde, Rudi 348 Thomas von Aquin 135, 185, 191, 231, 239 Thomas von Erfurt 396 Tiburtius 311 Turner, Denys 14 V Vannier, Marie-Anne

390, 394

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Personenregister

Van Steenberghen, Fernand 339 Vinzent, Markus 384, 394–396, 399, 400

W Weber, Max 315 Wieland, Georg 339

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Sachregister

A Abgeschiedenheit, abgeschieden 17, 187, 215, 231, 241– 249, 298, 299, 371, 372, 375, 405 Absolutes, absolut 300, 355, 359, 380–382, 388, 392, 394– 397, 399, 406, 407, 414, 415, 417, 418, 420, 422 Akt (actus) 21, 31, 41, 43, 49–53, 57, 59, 89, 107, 109, 113–117, 123, 127, 169, 193, 195, 233, 255, 264, 268, 269, 272, 273, 276, 309, 311, 320, 321, 323, 324, 350, 361, 374, 382, 385–387, 394, 395, 398, 414, 420 Akzidenz (accidens, accidentia), akzidentell 17, 20, 33, 39, 65, 67, 133–137, 153, 288, 291, 343, 404, 409, 410, 412 Analogie, analog (analogia) 17, 20, 149, 289–291, 300, 334, 342 Anlage (dispositio) s. Ausrichtung, Disposition Äquivokation, äquivok 290, 345 Art (species) 334, 345, 347, 360, 362, 363, 421 Ausrichtung (dispositio) 205, 271, 272, 276, 282, 324, 333, 361, 405 Autonomie 408 B Barmherzigkeit (misericordia) 18, 111, 149, 227, 247,

298, 299, 307, 312, 371, 405, 406, 408, 409 Befehl (imperium) 195, 227, 323, 324, 373 Begehren, Begierde (appetitus sensitivus) 123–127, 189, 191, 197, 199, 211, 215, 217, 245, 274, 281, 314, 367 Beraubung (privatio) 133, 177, 179, 257, 259, 270, 404 Bild (imago) 149, 151, 159, 161, 173, 197, 203, 211, 237, 241, 251, 257, 265, 291, 292, 371, 420 C Christentum, christlich 9, 12, 16, 19, 21, 314, 317, 338–340, 350– 355, 370, 376, 388, 404, 407 Christologie 314, 408, 418 D Dankbarkeit (gratia) 274, 388 Demut (humilitas) 18, 105, 187, 195, 209, 215, 243, 245, 283, 284, 298, 299, 371, 405, 408, 409 Disposition (dispositio) 29, 31, 111, 266, 342, 347, 362–364, 389, 390, 396, 397 E Ehrliebe (philotimia) 185, 197, 275 Eines (unum) 133, 143, 177, 179, 193, 287, 289, 403

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Sachregister

Eingießung (infusio) 157, 159, 219, 231, 233, 368, 369, 371, 372, 376 Einheit (unitas) 65, 133, 135, 139–143, 149, 241, 285, 290, 291, 356, 358, 364, 367, 378– 380, 403, 406, 415, 416, 418, 421 Einsicht (intellectus; nous) 97, 117, 272, 328, 329, 336 Epieikie 327, 329, 331 Ergebenheit, auch: Frömmigkeit (pietas) 274 Erkenntnis (bekantnis) 157, 169, 191, 203, 219, 221, 251, 253, 257, 377 Essenz (essentia) s. Wesen, Wesenheit Ewigkeit, ewig (aeternitas) 18, 137, 153, 173, 181, 191, 203– 207, 247, 251, 259, 286, 293, 321, 322, 335, 337, 375, 376, 395, 420 F Form (forma) 33, 35, 41–45, 57, 67, 81, 95, 107, 109, 125, 137, 149, 153, 155, 159, 165, 167, 193, 195, 203, 211, 231–235, 267, 269, 279, 281, 283, 288, 291, 309, 323, 327, 333, 344, 360, 366, 367, 391, 396, 405, 410– 412, 416, 422 Freigebigkeit (liberalitas) 161, 275 Freude (gaudium) 173, 179, 195, 201, 296, 305, 309–312, 359, 408 Freundlichkeit (amicitia) 165, 195, 231, 275, 312 Frucht (fructus) 47, 151, 215, 227, 231, 253, 265, 292, 298, 340, 348–351, 400

Furcht (timor) 312, 388

83, 227, 235, 306,

G Gabe (donum) 47, 165, 211–215, 233, 235, 265, 340, 348–351 Ganzes (totum) 133, 145, 147, 157–161, 167, 193, 209, 211, 219, 253, 289, 404, 410, 413, 415, 422 Gattung (genus) 235, 237, 270, 342, 345, 347, 362, 363 Gebären, Geburt 151–163, 173, 175, 197, 199, 235, 239, 289, 293–296, 330, 390, 420 Gebrauch (usus) 49–53, 65, 67, 115, 323 Geduld (patientia) 348 Gehorsam (oboedientia; gehôrsame) 205, 215, 371– 373, 406 Geist (mens) 49, 61, 65, 67, 79, 107, 131, 137, 247, 249, 253, 257, 259, 271, 282, 288, 290, 341, 343, 355, 409, 416 Gelassenheit, gelassen 20, 213, 217, 249, 298, 394, 405, 408, 409 Gemeinsames (commune) 133, 149, 193, 233, 239, 404 Genuss (fruitio) 364 Gerades (rectum) 133, 141, 193, 203, 209, 219, 404, 405, 407 Gerechtigkeit, gerecht, der Gerechte (iustitia, iustus) 13, 18, 20, 21, 51, 61, 63, 67, 75, 83, 105, 119, 141, 145–159, 165– 175, 181, 187, 197, 217, 231, 251–255, 263, 267, 273–275, 283, 284, 287–296, 309–311, 326, 327, 345, 348, 361, 371, 375, 405, 407–412, 416, 418, 422, 423

454 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Sachregister

Gesetz (lex) 67, 87, 115, 119, 125, 193, 227, 266, 276, 282, 317, 318, 320–322, 327, 330, 335, 337, 359, 373 Gesundheit (sanitas) 29, 31, 35, 37, 43, 55, 59, 67, 125, 282, 363, 383 Glanz (splendor) 151, 153, 291, 292 Glaube (fides) 53, 61, 87, 97– 101, 113, 173, 219, 223, 276, 279–281, 297, 301, 311, 340, 346, 350, 355, 357, 369, 379, 393, 413 Gleichbildung (conformatio) 151, 264, 291, 292 Gleichgestaltung (configuratio) 145, 151, 235, 264, 291– 293, 296, 297 Glück, Glückseligkeit 298 – natürliches 277 – übernatürliches 89, 91, 99, 277–280 – unvollkommenes (felicitas) 265, 277, 344, 346, 347, 365, 366 – vollkommenes (beatitudo) 18, 59, 89, 97, 153, 253, 265, 268, 276–278, 344, 346, 348, 353, 360, 365, 368, 369, 379 Gnade (gratia) 17, 113, 117, 167, 181, 219, 223, 225, 231–241, 247, 259, 263, 266, 271, 277, 282, 283, 293, 295–298, 300, 340, 341, 344, 346, 351, 353, 368, 369, 371, 372, 376, 378, 380, 387, 388 Gott (Deus) 11, 17, 18, 21, 43, 55, 59–67, 75, 79, 87–101, 113, 115, 119–123, 127, 133, 141, 143, 147–153, 159–163, 169–175, 179–183, 187–193, 197, 203– 215, 219–227, 231–259, 264, 265, 267, 271, 276–285, 287, 288, 291–300, 307, 313, 319,

321, 322, 335, 341, 344–346, 348–351, 353, 355–359, 364, 365, 367–385, 387, 388, 390, 392, 395, 398–400, 404–408, 412–422 – Gott Sohn 147, 151, 155–163, 167, 169, 175, 199, 227, 247, 257, 259, 264, 291, 293, 295, 314, 376, 411, 417, 421 – Gott Vater 22, 147, 151–161, 167–171, 175, 205, 235, 239, 257, 259, 292, 295, 376, 391, 411, 417–421 Gottheit (deitas) 161, 247, 257, 259, 276, 421 Großzügigkeit (magnificentia) 275, 312 Gut / Gutes, gut, Gutheit (bonum, bonitas) 29, 33, 35, 41–53, 57, 61–67, 73, 75, 79, 81, 89, 99, 105, 109, 113, 115, 119, 125, 133, 135, 141, 143, 147, 151, 155–163, 173, 177–183, 191–199, 209, 233, 235, 247, 253, 257, 263, 267, 270–272, 275, 277–282, 284, 285, 287, 293–296, 304– 306, 314, 316, 317, 319–322, 324–326, 331, 333, 335, 336, 341, 343–346, 351, 353, 360, 361, 364, 366, 374, 375, 380, 381, 383, 385, 386, 388, 396, 398–400, 403 – allgemeines (b. commune) 319, 326, 334 – G. des Menschen (b. hominis) 274, 277, 368 – privates G. (b. privatum) 334, 335 – sittlich G. (honestum) 133, 283–285, 404, 407 H Habitus (habitus) 13, 17, 20, 21, 27–57, 65, 73, 75, 87, 95,

455 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Sachregister

101, 113–117, 121–125, 145, 151, 167–171, 181, 193, 195, 233, 266, 268–272, 278, 279, 281, 282, 285, 291, 292, 302, 305, 311, 312, 323, 329, 334, 342, 343, 350, 360–364, 374, 377, 382, 383, 386, 387, 392, 393, 398, 411, 417–419 , s. Tätigkeit Handlung (actio, actus, operatio) s. Tätigkeit Handlungsprinzip (principium agendum, principium operationis) 266, 320, 368 Heiliger Geist (spiritus sanctus) 159, 257 Hl. Schrift, Bibel 17, 18, 131, 135, 241 Hochgesinntheit / Hochgemutheit, auch: Stolz (magnanimitas) 275 Hoffnung (spes) 87, 97–101, 219, 223, 275, 276, 279–281, 297, 301, 306, 311, 315, 346, 350, 355, 369, 381, 400 Hylemorphismus 367 I Idee (idea) 133, 354, 371, 404 Immanenz 293, 419, 421, 422 Individuum, individuell 235, 321, 326, 327, 335, 336, 359, 385, 387, 389, 396, 406, 409– 411, 421 Intellekt (intellectus) 65, 71, 73, 97, 99, 235, 255, 257, 286, 324, 329, 354, 355, 368, 369 K Kategorie (categoria) 31, 354, 409 Klugheit (prudentia) 51, 81, 83, 119, 253, 267, 272, 275, 310, 323–325, 327–331, 334, 345, 346, 406

Körper, körperlich (corpus, corporealis) 43, 49, 55–59, 107– 111, 125, 137, 139, 145–151, 197, 199, 289–291, 315, 330, 343, 367–369, 389, 396, 409, 422 Kraft (vis, virtus), kräftig 55, 71, 121, 123, 159, 161, 169, 185, 209, 219–223, 231, 233, 255, 257, 269, 276, 277, 280, 297, 298, 365–367, 378, 395, 401, 409, 416–419, 421, 422 Kreatur, Geschöpf (creatura) 18, 21, 157–163, 173, 177, 209, 219, 221, 231, 233, 237–249, 287, 296, 299, 359, 371, 373, 374, 379, 391, 406, 407, 411, 414, 417 L Lassen 372, 392–395 Laster (vitium) 10, 13, 27, 47, 63, 65, 113, 133, 179, 266, 285, 343, 353, 361, 404 Leben, lebendig (vita, vivus) 18, 31, 49, 59, 113, 139, 157, 159, 171–175, 179–183, 199, 203, 205, 213, 223, 225, 233, 235, 253–257, 268, 269, 294, 296, 297, 305, 307, 309, 321, 324, 331, 335, 337, 346, 355, 365, 376, 377, 388, 390, 400, 402, 417–419 – ewiges 181, 251, 277, 278, 293, 368, 369, 399 Lebewesen (animal) 139, 303 Leib, leiblich 33, 125, 147, 197, 205, 207, 213, 257, 259, 269, 274, 282, 289, 290, 343, 367 Leiden (passio) 29–33, 39, 139, 161, 181, 193, 243, 294, 311, 314, 362, 371, 372 Leidenschaft (passio) 20, 27, 29, 35, 75, 79, 83, 97, 266, 267, 273– 275, 302–315, 326, 327

456 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Sachregister

Leidenschaftslosigkeit (apatheia) 306, 307 Licht (lumen, lux) 99, 149–153, 163, 169, 195, 203, 219, 223, 225, 239, 279, 280, 292, 297 Liebe (amor, caritas, dilectio) 13, 17, 18, 51, 53, 75, 87, 93, 95, 99, 101, 133, 147, 169, 179, 187, 191, 209–213, 217, 221–227, 235, 241–245, 264, 274, 276, 279– 281, 283, 284, 297–299, 301, 305, 311, 346, 348–350, 369, 371, 377, 381, 403, 405, 407– 409, 412–414, 416, 422 Lieben (minnen) 147, 157, 159, 169, 175, 187, 191, 197, 203, 227, 229, 257, 280, 296, 372, 377, 398, 413, 414, 416 M Maßhalten, Mäßigkeit, Mäßigung (temperantia) 51, 75, 83, 109, 119, 123–127, 253, 267, 273– 275, 281–283, 309, 326, 345, 348, 349, 389, 406 Materie (materia) 33, 43, 57, 65, 107, 109, 137, 147, 155, 269, 290, 308, 343, 354, 367, 368, 382, 411 Meinung (opinio) 65, 343, 377 Metaphysik 11, 13, 17, 18, 137, 149, 287, 291, 303, 304, 356, 361, 382, 390, 394, 397, 398, 402, 408, 411 Mitteilung, mitteilen (conferre) 193, 291, 293, 294, 299, 410, 421 Modus, Weise (modus) 33, 35, 115, 135, 139, 159, 171, 195, 197, 203, 205, 213, 215, 235, 237, 245, 253, 257, 259, 269, 277, 279, 280, 287, 359, 360, 369, 372, 377, 383–385, 411, 412, 418, 421

Mystik, mystisch 12, 16, 21, 298, 356–358, 370, 390, 393, 399, 402, 406, 419 N Natur, natürlich (natura, ratio, substantia) 17, 31–35, 43, 45, 55, 69, 73–77, 87–101, 105– 109, 115–127, 133–139, 145, 147, 167, 185, 193, 195, 205, 211, 233, 235, 241, 245, 249, 269, 272, 276–280, 282, 285, 289, 290, 296, 298, 300, 301, 303, 305, 312, 314, 321, 322, 325– 327, 330, 332, 335, 340, 351, 353, 355, 357, 359–362, 366– 369, 371, 373, 374, 376, 378, 381–383, 386–389, 391, 396, 404, 408, 409, 412, 421 Neigung (inclinatio) 75, 97, 99, 161, 167, 185, 195, 197, 217, 243–247, 272, 279, 280, 304, 305, 311, 383 Nichts (nihil) 133, 137–141, 153, 161, 167–175, 183, 213–217, 233, 241–247, 338, 374, 387, 389, 394, 395, 397, 398, 403, 416 O Offenbarung (revelatio) 89, 159, 161, 169, 175, 265, 267, 277, 280, 340, 346, 393 Ordnung, Hinordnung (ordo) 17, 31, 35, 41, 43, 51, 53, 57, 67, 83, 87, 91–95, 99, 115, 121, 127, 191, 193, 237, 267, 274, 276, 277, 279–282, 311, 325–328, 330, 331, 333, 335, 350, 360, 365, 368, 369, 371, 381, 383, 384, 386, 395, 413

457 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Sachregister

P

R

Person, personhaft 17, 169, 171, 257, 259, 288, 290–292, 309, 319, 321, 326, 327, 332, 337, 342, 349, 352, 361, 363, 369, 373, 378, 409, 410, 413, 414, 421 Potenz, Vermögen (potentia) 17, 27, 29, 33, 41–45, 49–53, 57, 73–77, 99, 101, 159, 179, 209, 215, 235–239, 255, 266, 268–270, 272, 274, 278–280, 285, 304, 324, 329, 345, 353, 361, 366, 368, 379, 382, 385– 387, 421 Prinzip (principium) 27, 33, 39, 41, 53, 57, 59, 67, 81, 89, 95– 99, 109, 115–121, 193, 195, 266, 269, 280, 321, 322, 325, 328, 330, 333, 356, 368, 369, 391, 398, 413, 416, 419

Realität, Wirklichkeit (actualitas) 137, 139, 255, 286, 300, 314, 335, 355, 358, 361, 385, 386, 395, 398, 402, 403, 405, 408, 410, 422 Regel, Maß (mensura) 33, 89, 91, 95, 101, 115, 121, 125, 137, 147, 159, 169, 193, 227, 277, 281, 282, 286, 316–322, 325, 328–331, 333, 335–337, 344, 362, 367, 383, 413, 414

Q Qualität, Eigenschaft (qualitas) 17, 20, 27–39, 47, 57, 61– 67, 141, 169, 267–269, 271, 283, 284, 287, 288, 291, 295, 297, 299, 306, 341–343, 360, 362, 363, 365, 380, 383, 384, 386, 409, 412, 416, 418, 419, 422 – aktive 151 – akzidentelle 33, 286, 287, 409, 410, 421 – Arten der 29, 31, 37, 342, 362 – einfache 43 – natürliche 31, 195 – passive 31, 35 – Wesens- 264, 285, 287, 288, 291, 293, 296, 300 Quantität, Menge, Größe (quantitas) 31, 33, 161, 175, 213

S Sanftmut (mansuetudo) 274, 275 Scherzlust (eutrapelia) 275 Schlechtes, schlecht, Böses (malum) 29, 33, 35, 41–49, 61–67, 105, 113, 133, 141, 151, 153, 161, 169, 193, 197, 199, 203, 209, 270, 271, 282, 285, 314, 316, 320, 322, 333, 335–337, 341, 343, 361, 373, 403 Scholastik, scholastisch 15, 21, 302, 304, 339, 354–357, 386, 398, 402 Schönheit, schön (pulchritudo) 31, 35, 43, 55, 59, 105, 179, 199, 231, 287, 304 Schöpfung, Schaffen (creatio, creare) 221, 231, 241, 245, 247, 294, 295, 338, 375, 381, 384, 418 Seele (anima) 11, 17, 33, 45, 55, 57, 61, 67, 73, 79, 93, 97, 105– 109, 119, 121, 133, 137, 139, 147, 153, 165, 175, 181, 203, 205, 211, 219–225, 231, 235–239, 251, 253, 257, 259, 269, 270, 273– 275, 285–290, 292, 293, 296– 299, 303, 304, 309, 314, 323, 343, 345, 346, 361, 365, 367– 369, 376, 404, 409, 418, 420

458 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Sachregister

Sein, Seiendes (esse, ens) 31, 33, 41, 55–61, 65, 67, 133– 147, 151–157, 161, 167–171, 177, 181, 183, 191–195, 205, 219, 223, 235–239, 243, 245, 255– 259, 269, 270, 285–297, 299, 300, 313, 315, 358, 359, 372, 374, 376, 378, 383, 387, 390– 393, 395–398, 402–404, 410, 412, 415 Seligkeiten (beatitudines) 47, 265, 340, 348–351 Sitte, sittlich (mos) 133, 141, 179, 181, 253, 266, 271–273, 277, 283, 285, 303, 304, 404 Stoa, stoisch 9, 10, 20, 306, 307, 314 Strebekraft 219, 272, 298, 323, 359, 368, 369, 372, 374 – begehrende (vis concupiscibilis) 71–75, 83, 185, 193, 213, 304, 305, 309 – überwindende / zornmütige (vis irascibilis) 71–75, 219, 223, 297, 304, 305, 309 Strebevermögen (appetitus) 267, 272, 273, 275, 280, 324, 326, 365 – sinnliches (a. sensitivus) 274, 307, 310, 314, 345 – vernünftiges (a. rationalis) 161, 273, 333, 379 Subjekt, Subjektivität 267, 284, 292, 338, 339, 361, 373, 374, 377, 393–395, 419, 421 Substanz, substanzhaft (substantia) 17, 31, 33, 39, 133, 183, 259, 269, 343, 358–361, 363, 365, 369, 373, 374, 378, 379, 387, 404, 409 Sünde, sündigen (peccatum, peccare) 47, 107, 113–117, 133, 153, 169–173, 177, 199, 201, 209, 219, 223, 307, 313, 353, 392, 403, 417, 418

synesis

330

T Tapferkeit (fortitudo) 51, 75, 83, 109, 267, 273, 275, 309, 311, 312, 326, 345, 347, 389, 406 Tätigkeit (operatio) 169, 181, 205, 269, 275, 282, 291, 309, 343, 350, 361, 364, 378, 387, 416 Teilhabe (participatio) 67, 73, 75, 83, 89, 117, 137, 263, 272, 276, 286 Teufel (diabolus) 151, 153, 223 Träger (subiectum) 27, 33, 43, 45, 65, 75, 81, 83, 135, 137, 145, 147, 153, 251, 259, 267, 270, 285, 286, 288–290, 343, 345, 346, 361, 385, 409 Transzendentalien, transzendental 17, 18, 131, 133, 143, 287, 404, 405, 410–412, 415, 416, 422 Trinität, Dreifaltigkeit (trinitas) 137, 147, 197, 257, 259, 286, 418 Tugend (virtus) 27, 37, 81, 105– 113, 131, 133, 145, 149–153, 159, 161, 167, 169, 173–181, 185–189, 195, 203–209, 215, 217, 231, 233, 239–249, 253, 255, 264, 267–270, 279, 286, 292, 294, 296, 298, 305, 309, 310, 314, 315, 320, 359, 404, 405, 415 – Arten der T. 17, 20, 123, 125, 268, 273, 274, 344, 346 – Definition (definitio) 10, 21, 61, 270, 282, 341, 343, 359, 370 – eingegossene (v. infusa) 17, 67, 115, 119–123, 271, 281, 283, 293, 343–345, 347, 352, 362, 364, 365, 368, 370

459 https://doi.org/10.5771/9783495999080 .

Sachregister

– Einteilung (divisio) der T. 272, 273 – Erwerb der T. 10, 18, 20, 107, 113, 300, 311, 331, 411 – erworbene (v. acquisita) 17, 115, 117, 123, 233, 281, 283, 344, 345, 364, 365, 377, 378 – ethische / moralische / sittliche (v. moralis) 17, 73, 93, 97, 117, 119, 267, 268, 272, 273, 275, 277, 281, 283, 285–288, 291, 299, 309, 326, 345, 348, 389, 406 – exemplarische (v. exemplaris) 87, 91, 371 – Gegenstand (obiectum) der T. 53, 125, 281, 283 – intellektuelle / Verstandes-T. (v. intellectualis) 17, 73, 93– 97, 119, 267, 271, 275, 286– 288, 299, 329, 345, 389 – Kardinal- / Haupt-T. (v. cardinalis / principalis) 12, 17, 79–83, 93, 253, 266, 267, 275, 309, 326, 345, 346, 351 – natürliche (v. naturalis) 17, 51, 55, 97, 109, 159, 278, 300, 301, 345, 387, 407 – theologische / göttliche T.en (virtutes theologicae) 17, 87, 89, 93–101, 111, 119, 121, 219–223, 266, 267, 276–280, 297, 299, 311, 346, 350, 368, 407 – Träger (subiectum) der T. 20, 73, 83, 271 – übernatürliche (v. supernaturalis) 17, 119, 278, 345, 407 – Ursache (causa) der T. 63, 268, 271, 284, 341, 342, 344, 389 – Wesen (ratio, natura) der T. 18–20, 49, 53, 55, 63, 268, 269, 283, 285, 293, 299,

323, 324, 342, 364, 369, 382, 392, 405, 408, 422 Tun (actio) 159, 167, 169, 179, 181, 195, 203, 209, 241, 271, 324, 378, 400, 417 U Überformung, Überbildung (transformatio) 17, 145, 153, 173, 195, 288, 291, 296, 363– 365, 369, 370, 378, 409, 410, 412, 422 Ungeschaffenheit, ungeschaffen (increatus) 157, 159, 296, 405, 412 unio mystica 299 Univozität, univok 17, 290, 299, 300, 410, 418, 420, 421 Unsterblichkeit, unsterblich (immortalitas, immortalis) 133, 145, 147, 155, 181, 251, 255, 289, 290, 315, 404 Unvollkommenheit, unvollkommen (imperfectus) 37, 97, 101, 155, 255, 322, 363, 364, 366 Urbild (exemplar) 79, 133, 149, 290, 404 Ursache (causa) 27, 31, 37, 41, 63, 67, 93, 107, 113, 115, 119– 123, 127, 137, 139, 145–149, 191, 193, 235, 286, 296, 341, 342, 358, 363, 367, 413 – erste U. (c. prima) 137, 233, 290, 368 – Formal- U. (c. formalis) 63, 270, 342, 364 – Material- U. (c. materialis) 65, 270, 343 – Wirk- U. (c. efficiens) 65, 153, 231, 271, 343, 391, 411 – Ziel-U. (c. finalis) 65, 155, 173, 181, 191, 193, 205, 227, 231, 235, 253, 343, 364, 392, 411, 422

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Sachregister

Ursprung (principium) 16, 22, 169, 177, 179, 191, 199, 235, 284, 296, 299, 300, 364, 367, 406, 412, 415, 417–419, 421, 422 V Veränderung (alteratio) 29, 33– 39, 105, 123, 137, 151, 155, 285, 291, 310, 411 Vernunft (ratio, intellectus) 18, 20, 53–59, 67, 73, 75, 81, 83, 87, 91, 95, 99, 105, 109, 111, 115, 117, 125, 191, 205, 241, 257, 269, 271–274, 279–281, 283, 303, 304, 306, 309, 314, 315, 319, 321, 325, 327, 333, 335, 336, 340, 344, 345, 350, 361, 369, 379, 380, 387, 388, 396, 397 – natürliche 330, 340, 404 – praktische 81, 318–320, 322, 323, 328–330, 333, 362, 414 – spekulative / theoretische 364 Verstand 279, 280, 354, 355, 357, 359, 360, 379 Verwirklichung 137, 255, 286, 361, 396, 397, 407, 408, 412 Verzweiflung (desperatio) 306 Vollkommenheit, Vollendung (perfectio) 33, 37, 41, 51, 55, 57, 63, 75, 87, 107–115, 137, 159, 181, 187, 195, 205, 211, 215, 217, 221, 231, 237, 243, 245, 253–259, 268–270, 298, 348, 366–369, 387, 389, 390, 406, 408, 409, 414 – geistige V. (p. spiritualis) 17, 21, 131, 145–149, 153, 155, 237, 264, 285, 287–290, 292, 294, 296, 300, 409–412, 415, 416, 422 Vorsehung (providentia) 329– 331, 334

W Wahl (electio) 266, 323, 407 Wahrhaftigkeit, wahrhaftig (veracitas) 137, 171, 197, 199, 205, 207, 211, 215, 275 Wahrheit, Wahres (veritas, verum) 16, 113, 133, 135, 141, 143, 147, 157, 159, 169, 185, 187, 193, 209, 211, 219, 235, 251, 253, 289, 290, 294–296, 307, 324, 333, 349, 403 Warum (Zweckabsicht) 173, 391 – ohne W. (âne warumbe) 173, 217, 392, 399 Weisheit, weise, der Weise (sapientia, sapiens) 21, 93, 95, 119, 135, 137, 145–149, 153–159, 173, 175, 185, 205, 221, 233, 249–253, 257, 271, 285–290, 293–295, 313, 317, 330, 348, 408–412 Werden (fieri) 292, 377 Werk (opus) 18, 22, 49, 57, 59, 63, 81, 103, 105, 113, 117, 119, 153–161, 167, 171–175, 179– 185, 195, 203, 205, 209–219, 223–227, 235, 247, 253, 257, 259, 275, 284, 293, 294, 296, 297, 323, 366, 386, 400, 411, 417–419, 421 Wille (voluntas) 49, 53, 67, 73– 77, 83, 87, 91, 97, 99, 105, 109, 115, 159, 191, 195, 203, 205, 209, 211, 215–223, 263, 266, 271, 273, 279, 280, 283–285, 297, 298, 304, 309, 310, 314, 321, 323, 324, 326, 334, 335, 364, 368, 369, 373, 374, 377, 379, 385, 389, 395, 411, 421 Wirken (gewürke) 157, 169, 173, 175, 179, 181, 191–195, 205– 209, 213, 215, 223, 231–235, 284, 297, 372, 377, 400, 412, 415–419, 421, 422

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Sachregister

Wissen, Wissenschaft (scientia) 37, 39, 51, 107, 109, 117, 272, 290, 296, 315, 338, 349, 359, 363, 369, 370, 380, 389, 393, 394, 409 Z Zahl (numerus) 115, 131, 135, 137, 145, 149, 177, 179, 191, 255, 279, 289–291 Zeit (tempus) 31, 137, 149, 159, 161, 173, 187, 215, 247, 281, 286,

290, 291, 312, 375, 395, 405, 408, 409, 411, 421 Zeugung, Erzeugung (generatio) 155, 197, 235, 289, 330, 410–412, 417, 418, 420 Ziel, Zweck (finis) 33, 35, 41, 45, 51, 59, 67, 87–91, 95–101, 121, 123, 127, 265, 266, 268, 276, 277, 279–281, 283, 320, 321, 323–327, 331, 332, 346, 360, 364, 368, 369, 381, 385, 386, 400, 416, 417, 422

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