Beiträge zur Goetheforschung [Reprint 2021 ed.]
 9783112581360, 9783112581353

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DEUTSCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU BERLIN V e r ö f f e n t l i c h u n g e n des I n s t i t u t s für d e u t s c h e S p r a c h e und L i t e r a t u r

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BEITRÄGE ZUR GOETHEFORSCHUNG Herausgegeben von

E R N S T GRUMACH

AKADEMIE-VERLAG »BERLIN 1959

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, Berlin W 8» Mohrenstraße 39 Lizenz-Nr.: 202 . 100/64/59 Satz und Druck: Druckhaus „Maxim Gorki", Altenburg Bestell- und Verlagsnummer: 2054/58/16 Printed in Germany ES 7E

Heinz Bluhm Yale University New H a v e n

Viktor Shirmunski Staatliche Universität Leningrad

Wilhelm Wissmann Ludwig-Maximilian-Universität München

Karl Lothar Wolf Akademie der Naturforscher (Leopoldina) zu Halle

den Freunden der G o e t h e - A k a d e m i e - A u s g a b e

INHALT Vorwort

VII

Abkürzungsverzeichnis ERNST

GRUMACH

•Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe WALTRAUD

HANNA

1

HAGEN

Zur Druckgeschichte von Goethes Werken 1. Die Doppeldrucke der Taschenausgabe letzter Hand 2. Zu einigen Cartons in der Taschenausgabe letzter Hand . . . . 3. Der Erstdruck von Goethes Faustfragment 4. Der Erstdruck der Proserpina 5. Zu einigen Einzeldrucken

36 52 59 78 80

FISCHER-LAMBERG

Zu den Jugendwerken 1. Die zweite Fassung der Mitschuldigen 2. Zur Entstehungsgeschichte der Ephemerides 3. Ein Quellennachweis zu den Ephemerides *4. Die Datierung des Romanfragments Arianne an Wetty . . . . *5. Textkritische Bemerkungen zu Arianne an Wetty 6. Zu Goethes Koran-Auszügen *7. Die Prometheushandschriften *8. Die Minervagestalt in Goethes Prometheus 9. Eine Quellenstudie zu Götter, Helden und Wieland LIESELOTTE

Zu *1. *2. 3.

VIII

BLUMENTHAL

Tasso und Egmont Die Tasso-Handschriften Goethes Bühnenbearbeitung des Tasso Ein unveröffentlichter Entwurf Goethes

SIEGFRIED

226 245

GRUMACH

Faustiana *1. ZumUrfaust *2. Kommata RENATE

143 182 212

SCHEIBE

Zu Hermann und Dorothea 1. Zur Entstehungsgeschichte 2. Zur Textgeschichte ERNST

87 91 104 106 115 119 121 128 139

268 276

FISCHER-LAMBERG

Der Schluß der Klassischen Walpurgisnacht

279

VORWORT Der vorliegende Band vereinigt eine Reihe von Untersuchungen, die im Zuge der vorbereitenden Arbeiten für die Goethe-Akademie-Ausgabe entstanden sind. Die im Inhaltsverzeichnis mit * gekennzeichneten Aufsätze sind bereits im Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft von 1950—1956 veröffentlicht worden. Ihr Wiederabdruck in nahezu unveränderter Form erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Herrn Präsidenten der Goethe-Gesellschaft, dem auch an dieser Stelle für sein Entgegenkommen gedankt sei. Bei der Redaktion und Drucklegung des Bandes ist mir Dr. Inge Jensen zur Hand gegangen. Im Januar 1958

Ernst Grumach

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS GJb

Goethe-Jahrbuch

GRM

Germanisch-Romanische Monatsschrift

GSA

Goethe- und Schiller-Archiv Weimar

JA

Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, Hrsg. v. E. v. d. Hellen 1902-07

JbDH

Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts

JbGG(NF) Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft (Neue Folge) JG2

Der junge Goethe, besorgt von M. Morris 1909—12

MA

Welt-Goethe-Ausgabe der Gutenbergstadt Mainz. Hrsg. v. A. Kippenberg, J . Petersen und H. Wahl 1932—40

MLN

Modern Language Notes

PMLA

Publications of the Modern Language Association of America

SchrGG

Schriften der Goethe-Gesellschaft

ZfB(NF)

Zeitschrift für Bücherfreunde (Neue Folge)

Die Weimarer Sophien-Ausgabe wird ohne nähere Angaben nach Abteilung. Band und Seite zitiert.

E R N S T GRUMACH

PROLEGOMENA ZU E I N E R GOETHE-AUSGABE (1951)

Der freundlichen Aufforderung des Herausgebers des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft, der im letzten Bande veröffentlichten Denkschrift über das Goethe-Wörterbuch1 einen Bericht über die Goethe-Ausgabe der Deutschen Akademie der Wissenschaften folgen zu lassen, bin ich nicht ohne Bedenken nachgekommen. Die Akademie-Ausgabe ist noch ein junges Unternehmen. Sie blickt heute erst auf ein zweijähriges Bestehen zurück, eine Frist, die nicht ausreicht, um die für die Grundlegung einer kritischen Goethe-Ausgabe erforderlichen Vorarbeiten abzuschließen, wie die Geschichte ihrer Vorgängerin, der Weimarer Sophien-Ausgabe, mit mahnender Eindringlichkeit zeigt. Dies warnende Beispiel, das dem Leiter und den Mitarbeitern der Ausgabe ständig vor Augen stand, machte es ihnen zur Pflicht, mit doppelter Vorsicht vorzugehen, um nicht wieder am grünen Tisch Pläne zu entwerfen und editorische Grundsätze aufzustellen, die sich dann bei der editorischen Arbeit als unzulänglich erweisen könnten. Es galt daher, alle Voraussetzungen unserer Überlieferung sorgfältig zu prüfen und die Grundsätze des neuen Unternehmens nach Möglichkeit aus der praktischen Arbeit an den Texten selbst zu entwickeln. Das machte eine erneute Sichtung der Handschriften erforderlich, um festzustellen, wie weit sie bereits von der Sophien-Ausgabe erfaßt und ausgeschöpft waren, zugleich aber auch eine neue Überprüfung der Druckgeschichte, soweit sie für die Gestaltung des Textes wesentlich geworden ist. Gerade die Druckgeschichte der Schriften Goethes ist ein Gebiet, dessen Karte auch heute noch so viele weiße Flecken zeigt, daß jeder Fußbreit neuen Bodens erst in mühsamer Kleinarbeit gewonnen werden muß2. Die folgenden Ausführungen können 1

W. Schadewaldt, Das Goethe-Wörterbuch. Eine Denkschrift a.O. 11, 292 ff. Diese Arbeit ist inzwischen von Waltraud Hagen geleistet worden. Ihre Ergebnisse sind jetzt zusammengefaßt in Ergänzungsband 1 der Ausgabe: Die Gesamt- und Einzeldrucke von Goethes Werken, Berlin 1956. Vgl. dazu W. Hagen, Die Drucke von Goethes Faustfragment 1790, Gedenkschrift für F. J. Schneider, Weimar 1956, 222ff., die unten S. 35ff. folgenden Aufsätze und den im Druck befindlichen Artikel „Editionen" von W. Hagen und E. Grumach im Goethe-Handbuch Band 1. 2

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ERNST

GRUMACH

und wollen dem Ergebnis dieser Untersuchungen nicht vorgreifen. Sie sollen daher kein 'Programm' entwickeln oder 'Richtlinien' aufstellen, sondern begnügen sich damit, die vielfältigen und verwickelten Probleme zu umreißen, denen sich der Goetheeditor gegenübergestellt sieht, und vorsichtig die Wege abzutasten, auf denen man vielleicht versuchen könnte, ihnen zu begegnen. Eine solche Besinnung auf die Problemlage mag um so nützlicher sein, da heute die Ansicht verbreitet zu sein scheint, daß es hier überhaupt keine Probleme mehr gibt. Der Glaube, daß die kritische Arbeit für Goethe bereits getan ist und daß wir in der Sophien-Ausgabe den Goethetext vor uns haben, hält sich mit so erstaunlicher Hartnäckigkeit, daß selbst von Goetheforschern wiederholt die Frage gestellt worden ist, ob eine neue kritische Ausgabe überhaupt notwendig sei. Er findet seinen praktischen Ausdruck in der Gewohnheit, Goetheausgaben in Serienproduktion herzustellen, indem man die an sich schon problematische Orthographie und Interpunktion der Sophien-Ausgabe durch 'moderne Schreibung' ersetzt und sich von irgendeinem prominenten Literarhistoriker ein 'schönes Nachwort' und 'Anmerkungen' schreiben läßt. Ja, wenn man einem vielbeachteten Ausspruch folgt, soll die Epoche der Goetheeditionen nunmehr abgeschlossen sein und die Forschung, von der lästigen Sorge um Kommata und Lesarten befreit, sich ausschließlich der interpretatorischen und geistesgeschichtlichen Erfassung Goethes widmen können. Zieht man einen Querschnitt durch das Goetheschrifttum unserer Tage und vergleicht man, wa8 noch vor einem halben Jahrhundert für die Bereinigung des Goethetextes getan worden ist, so scheint sich dieses Bild zu bestätigen. Man gewinnt den Eindruck, daß die Zeit der Goethephilologie, im guten und im schlechten Sinne des Wortes, vorbei ist und daß sie mehr und mehr von einer neuen Form der Forschung verdrängt wird, deren Verdienste um die Deutung und historische Erschließung Goethes unbestreitbar sind, die aber nur zu oft zu vergessen scheint, daß jede Interpretation auf einem Text beruht und daß die Gültigkeit ihrer Ergebnisse durch die Güte dieses Textes bedingt ist. Man wird daher doch gut tun zu fragen, ob der heute herrschende Optimismus berechtigt ist. Ist die kritische Arbeit am Goethetext tatsächlich beendet? Und besitzen wir in der Sophien-Ausgabe bereits den Text, den wir der interpretatorischen Arbeit unbedenklich zugrunde legen können? Werfen wir dazu zunächst einen Blick auf die Bedingungen, unter denen die Sophien-Ausgabe entstanden ist. Als im Jahre 1885 der letzte Enkel Goethes starb und die Großherzogin Sophie als Erbin des Goetheschen

Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe

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Familienarchivs einsetzte, wurden auf den Rat des von ihr einberufenen Konsiliums gleichzeitig drei „folgenschwere Beschlüsse" gefaßt: die Gründung der Goethe- Gesellschaft, die Umwandlung des Goetheschen Familienarchivs in ein „Goethe-Archiv mit besonderer eigener Verwaltung" und der Beschluß, „eine neue Ausgabe der Werke auf Grund des nun sich im vollsten Umfange darbietenden Materiales" zu veranstalten1. Mit bewundernswerter Energie, aber auch mit bedenklicher Eile ging man „sofort zu deren Ausführung". Kaum zwei Jahre später begann die Sophien-Ausgabe zu erscheinen, und mit erstaunlicher Präzision folgte Band auf Band, so daß trotz mancher persönlich bedingter Verzögerungen und des Ausbruchs des Weltkriegs im Jahre 1919 der gewaltige Bau errichtet war, dessen Dach zum ersten Male das gesamte Lebenswerk Goethes überspannte. Die Eile des Vorgehens ist aus der Situation der 80 er Jahre verständlich und in gewissem Sinne sogar gerechtfertigt, nachdem die Schätze des Goethenachlasses der Forschung lange genug verschlossen geblieben waren. Sie hatte aber auch bedenkliche Folgen, vor allem für den Nachlaß selbst, der nur notdürftig für die Herausgabe der Sophien-Ausgabe geordnet wurde und bis zum heutigen Tage der archivalischen Bearbeitung entbehrt2. Ebenso aber auch für die Ausgabe: da man sich nicht die Zeit ließ zu einer archivalischen Sichtung und Ordnung der Handschriften, was den Beginn der Edition freilich um Jahre verzögert hätte, war es unvermeidlich, daß Materiahen, die beim Bau eines Raumes hätten verwendet werden sollen, erst beim Bau des nächsten oder übernächsten entdeckt wurden, und noch heute kann der Benutzer des Weimarer Archivs auf Materialien stoßen, die bei diesem hastigen Vorgehen überhaupt übersehen worden sind. Noch folgenreicher war die langsam sich meldende Erkenntnis, daß auch die Fundamente dieses Riesenbaues nicht sicher genug gelegt waren. Da die Anlaufsfrist für die Klärung der Text- und Druckgeschichte nicht ausreichte, was ohne eine gleichzeitige Durchforschung des Cottaschen Hausarchivs und ohne vollständige Kenntnis der erst später edierten Tagebücher und Briefe auch unmöglich gewesen wäre, konnte es nicht ausbleiben, daß wichtige und für die recensio entscheidende Tatsachen erst nachträglich bekannt wurden. Daß für einzelne Bände der zweiten CottaAusgabe (B) nicht die erste Cotta-Ausgabe (A), sondern deren zur Michaelismesse 1808 erschienene Zweitauflage (A1) Druckvorlage und Fehlerquelle 1

Vgl. H. Grimms Bericht im Vorwort der Sophien-Ausgabe I 1, X l l l f f . Erst seit 1954 werden der Goethe-Nachlaß und die übrigen Handschriftenbestände des Goethe- und Schiller-Archivs von erfahrenen Archivaren neu geordnet. 2

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ERNST

GRUMACH

gewesen ist1, daß der Wiener Nachdruck der zweiten Cotta-Ausgabe (B1) auf derselben Druckvorlage wie B beruht und daher ein wichtiges Korrektiv für diesen unzuverlässigen Druck bildet2, daß weder von der Taschenausgabe letzter Hand (C1) noch von der Oktavausgabe (C) in Weimar Revision gelesen wurde und daher alle nicht brieflich angeordneten Abweichungen der Ausgabe C1 von ihrer Vorlage sowie alle Abweichungen der Ausgabe C von dem Revisionsexemplar C1 auf die Cottasche Officin zurückgehen3, all das sind Tatsachen, die erst im Laufe der 90er Jahre von Bernhard Seuffert und August Fresenius entdeckt wurden und die editorischen Grundsätze der Sophien-Ausgabe einschneidend verändert haben, nachdem eine Reihe wichtiger Bände bereits nach den alten Regeln ediert war. Sie wurden zusammen mit den neuen Richtlinien offiziell erst im „Bericht der 1

Daß auch diese Darstellung nicht dem wahren Gang der Druckgeschichte entspricht, haben erst neuere Untersuchungen erwiesen. So ergaben die Arbeiten von W. Kurrelmeyer (Zu den Doppeldrucken von Goethes Werken 1806—08, MLN 26, 1911, 133ff. u n d 27, 1912, 174f. sowie ergänzend ebd. 43, 1928, 245ff.), daß es sich bei den vom Originaldruck abweichenden Exemplaren von A nicht um eine Neuauflage, sondern lediglich um Doppeldrucke der Ausgabe A handelt, die von Goethe zum Teil als Vorlage für die zweite CottaAusgabe (B) benutzt worden sind; dazu jetzt zusammenfassend Hagen, Die Gesamt- und Einzeldrucke 18ff. 2

Die Bedeutung von B 1 wurde erst von B. Seuffert im Apparat zu „Die guten Weiber" I 18, 431ff. und G J b 15, 1895, 166ff. erkannt. Seine Ergebnisse sind durch eine nur handschriftlich vervielfältigte und für den Mitarbeiterkreis der Sophien-Ausgabe bestimmte Untersuchung von A. Fresenius bestätigt und ergänzt worden. Von ihr haben sich mehrere Exemplare unter den Handakten der Sophien-Ausgabe erhalten, die die Direktion des Goethe- und Schiller-Archivs mit freundlicher Genehmigung des Thüringischen Volksbildungsministeriums der Goethe-Akademie-Ausgabe zur Verfügung gestellt hat. Allerdings gehört die richtige Einschätzung und Verwertung des Wiener Nachdrucks noch heute zu den schwierigsten Problemen der Goetheschen Textkritik, da seine Entstehung und Deszendenz mangels hinreichenden Quellenmaterials bisher nicht in allen Einzelheiten geklärt werden konnte. So hat bereits W. Kurrelmeyer (MLN 27, 1912, 175f.) auf Grund eines Textvergleichs zeigen können, daß B 1 nicht in allen Fällen auf den Druckvorlagen von B beruht, sondern in einzelnen Teilen (z. B. vom 9. Bogen des 2. Bandes an) direkt auf B zurückgeht und daher hier ohne Korrektivwert ist. Eine abschließende Beurteilung des gesamten Wiener Nachdrucks, insbesondere auch seiner letzten sechs Bände, die über den Inhalt des in B Gebotenen hinausgehen, wird erst dann möglich sein, wenn die von W. Hagen begonnenen Kollationen für alle in Frage kommenden Werke vorliegen und die in Arbeit befindliche Sammlung der Quellen zur Druckgeschichte ihren Abschluß gefunden hat. 3

Ein Teil der für C 1 bestimmten Druckvorlagen konnte 1890 von Suphan entdeckt und noch für die textkritische Arbeit der Sophien-Ausgabe herangezogen werden, während die Druckvorlagen für die Oktavausgabe — nochmals revidierte Exemplare von C 1 — als verloren gelten müssen. Hier sind wir, um die Abweichungen der Oktavausgabe von C 1 be-

Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe

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Redactoren und Herausgeber" für 18951 verkündet, der zwar von Erich Schmidt gezeichnet, aber von Suphan und Fresenius formuliert ist und auf den Forschungsergebnissen von Fresenius beruht, die Fresenius selbst erst 1901 in der Einleitung zu den -Lesarten von 113 2 zusammenfassend dargestellt hat. Auch die Entdeckung und Erforschung der Doppeldrucke von C1, die wir seit ihrer ersten Erwähnung bei v. Loeper (I 2, 299) als C2 bezeichnen, setzte erst allmählich ein und ist erst durch die Untersuchungen von W. Hagen abgeschlossen worden2. Unberührt von dieser Änderung der editorischen Grundsätze blieb das, was man den 'Katholizismus' der Sophien-Ausgabe genannt hat. Ich meine die Kanonisierung eines bestimmten Druckes, der Oktavausgabe letzter Hand, als Textgrundlage, von der die Editoren nur bei offenkundigen Korruptelenund auch dann nurmit Zustimmung der Mehrzahl der Redaktoren urteilen zu können, auf die von Göttling verfaßten und von Goethe an Reichel weitergeleiteten Corrigenda-Listen zu C l angewiesen, die sich handschriftlich im Goethe- und Schiller-Archiv erhalten haben. Leider existieren sie in dieser Ausführlichkeit nur für die ersten sechs Bände, während Göttling später auf Goethes Wunsch dazu überging, die Korrekturen in das Revisionsexemplar von C1 einzutragen. Als eine äußerst wertvolle Hilfe zur Beurteilung des Textes von C hat sich jetzt auch der erste Doppeldruck von CM—10 = C 2a erwiesen; vgl. unten Anm. 2. Daß jedoch auch Lesarten auftreten, f ü r deren Beurteilung das uns zur Verfügung stehende Quellenmaterial nicht ausreicht, zeigt u. a. folgendes Beispiel aus dem Divan: In C1 Bd 5 S. 103 stand Z. 11 der Vers „Und das Lied nur heimlich piepet". Göttling, dem der Sinnzusammenhang der Strophe unklar blieb, bemerkte dazu in seiner am 25. 11. 1827 verfaßten Corrigenda-Liste zu C1 Bd 5: „Ich erwarte hier: wenn das Lied nur heimlich piepet, oder mir entgeht die Construction." Der Brief Göttlings trägt von Goethes Hand den Vermerk: „Die Copie des vorstehenden abgesendet an H r n . Reichel den 27. Decbr. 1827". Goethe leitete hier also wie auch in manchen anderen Fällen die von Göttling nur als Anfrage gemeinte Anmerkung ohne eigene Stellungnahme an die Cottasche Officin weiter. Dagegen enthalten C 2a und C übereinstimmend eine neue, sowohl von C1 als auch von Göttlings Vorschlag abweichende Fassung: „Liedchen aber heimlich piepet". Da mit Sicherheit anzunehmen ist, daß ein so tiefgehender Texteingriff nicht von der Augsburger Druckerei, sondern von Goethe selbst herrührt, muß hier — und entsprechend auch in anderen Fällen — mit dem Verlust einer genaueren Goetheschen Anweisung gerechnet werden. 1

G J b 16, 1895, 261 ff. Von der Taschenausgabe letzter Hand existieren zwei Doppeldrucke, ein Neudruck von Band 1 —10 mit der Jahreszahl 1828 (nach dem Siglensystem der Akademie-Ausgabe C2ct) und eine vollständige Neuauflage von Band 1 —40 (C2P), deren erste zehn Bände ebenfalls die Jahreszahl 1828 tragen, während die folgenden Bände den Erscheinungsjahren von C 1 folgen. Das Wissen um die Existenz dieser Doppeldrucke entwickelte sich erst während der Arbeit an der Sophien-Ausgabe und blieb so ungenau, daß beide Drucke in einer Reihe von Bänden, vor allem natürlich den frühesten, verwechselt und Lesarten f ü r C l verzeichnet werden, die C2 angehören, oder umgekehrt, was nicht ohne Folgen f ü r 2

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E R N S T GRUMACH

abweichen durften, ein Verfahren, das den Erfordernissen und Grundsätzen einer kritischen Edition ohnehin zuwiderläuft: denn die Aufgabe des kritischen Editors kann es nur sein, den b e s t e n T e x t herzustellen. Das klingt tautologisch und ist es vielleicht auch, bleibt aber die einzig mögliche Umschreibung der verwickelten und verantwortungsreichen Arbeit des Editors, den Text nach bestem Wissen und Gewissen zu prüfen und unter Berücksichtigung aller vorhandenen Textzeugen und aller die Textgeschichte bestimmenden Faktoren die Textfassung herzustellen, die der Intention des Autors adäquaten Ausdruck verleiht. Wird die Lösung dieser Frage, die für jedes einzelne Werk neu zu stellen ist 1 , dadurch unterbunden, daß ein Druck für sakrosankt erklärt wird und alle anderen Zeugen nur historisch oder akzessorisch berücksichtigt werden, so kann von echter Textkritik und damit auch von einer kritischen Edition keine Rede mehr sein. Was die Sophien-Ausgabe durchführt, ist daher keine Textrezension im strengen Sinne des Wortes, sondern bestenfalls eine Textrevision. In Wirklichkeit ist es kaum mehr als eine erneute Druckrevision der Ausgabe letzter Hand, die die Redaktoren der Sophien-Ausgabe aus falscher Pietät und aus ungenügender Kenntnis der historischen Voraussetzungen für Goethes Vermächtnis, für die letzte von ihm selbst gewollte und geformte Gestalt seines Werkes halten und daher unter allen Umständen erhalten und schützen zu müssen meinen. „Bei Allem", heißt es im Vorbericht der Sophien-Ausgabe (I 1, XIXf.), „was Gestalt und Erscheinung der Ausgabe im Großen wie im Einzelnen betrifft, soll befolgt werden, was uns als Goethes selbstwillige Verfügung bekannt ist . . . Für den Druck der Werke hat er selbst die Norm gegeben in der Ausgabe letzter Hand. Sie ist sein Vermächtniß, er selbst hat sie so betrachtet, als den Abschluß seiner Lebensarbeit. Er hat mit größter Umsicht, mit einer Sorgfalt wie bei keiner früheren, sich um die Textkonstitution geblieben ist. Die Geringschätzung, die die Bedaktoren und Editoren der Sophien-Ausgabe diesen Drucken entgegenbringen und die Fresenius (I 132, 140) in die Formel „ohne textkritischen Werth" gekleidet hat, wird dem wahren Sachverhalt nicht gerecht. Die Untersuchungen von W. Hagen haben ergeben, daß C 2a , also der Neudruck von C1 1 —10, nach den Druckvorlagen für C — nochmals korrigierten Bänden von C1 — gesetzt ist und damit die Möglichkeit bietet, den Text der ersten zehn Bände der Oktavausgabe zu kontrollieren. Textkritisch wertlos ist nur Caß, also die Neuauflage von C 1 1 —40, die vermutlich erst nach 1830 entstanden und in den ersten zehn Bänden nach C 2a , in den folgenden dagegen nach einem unkorrigierten Exemplar von C l gesetzt ist. Ihre Kennzeichen müssen jedoch bekannt sein, um Verwechslungen mit dem Originaldruck zu vermeiden; vgl. dazu W. Hagen, Die Gesamt- und Einzeldrucke 42ff. und Die Doppeldrucke der Taschenausgabe letzter Hand (unten S. 353.). 1 Richtig von der Hellen (JA 10, 256): „Übrigens besitzt jedes einzelne Werk seine besondere Textgeschichte und verlangt eine von starren Prinzipien unbehinderte Behandlung".

Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe

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die Reinheit und Vollkommenheit dieser Ausgabe selbst bemüht . . . Wir können seinen eigenen Antheil verfolgen, zunächst an den einzelnen Bänden der Taschenausgabe (C1), dann ebenmäßig an der auf Grund derselben in erneuter Durchsicht hergestellten Octavausgabe, der letztwilligen Textrecension (C)." Es erscheint den Redaktoren der Sophien-Ausgabe daher „geboten, diese Ausgabe zu Grunde zu legen", nicht nur in der Anordnung der Werke, denen nur noch die nachgelassenen Schriften und das Ungedruckte einzufügen waren, sondern auch in allen „Fragen der Textkritik", bei der „nur aus zwingenden Gründen von der Lesart C abgegangen werden soll." „Die Änderungen, die auf Grund der Handschriften und der älteren Drucke oder auf Grund selbständiger Kritik vorgenommen werden, müssen sich als nothwendige ausweisen. Ist nicht mit voller Gewißheit eine Verderbniß anzunehmen, besteht irgend ein Zweifel an der Nothwendigkeit der Änderung, so darf sie nur im Einverständniß mit den Redactoren eingeführt werden." Da Zweifel an der Notwendigkeit einer Textänderung, außer bei groben und offensichtlichen Korruptelen, immer möglich sind, bedeutete diese Regel die Unterdrückung jeder subtileren Textkritik. Der kritische Apparat und in noch höherem Maße die erhaltenen Teile der Korrespondenz zwischen den Editoren und Redaktoren der Sophien-Ausgabe bieten jedoch Beispiele dafür, daß auch schwere Korruptelen gegen die bessere Einsicht eines Herausgebers im Text belassen wurden, weil sein Vorschlag von der Mehrheit der Redaktoren überstimmt wurde. Ob und wie weit diese Übertragung des Mehrheitsprinzips auf das Gebiet der Textkritik sinnvoll ist, kann dahingestellt bleiben.Wesentlicher in dem hier behandelten Zusammenhang ist die Frage, ob der Grundsatz selbst richtig ist, dessen Einhaltung mit so rigorosen Mitteln überwacht wurde und der tatsächlich in allen Bänden der Sophien-Ausgabe aufs strengste gewahrt ist. Stellt C die gegebene Textgrundlage für eine kritische Goetheausgabe dar? Haben wir in C wirklich, wie die Herausgeber der Sophien-Ausgabe meinen, die „letztwillige Textrecension" Goethes vor uns? Und läßt sich „sein eigener Antheil" an den einzelnen Bänden in den erhaltenen Zeugnissen so genau verfolgen, daß diese „auf Grund erneuter Durchsicht" von C 1 hergestellte Ausgabe tatsächlich als sein heiliges Vermächtnis, als die endgültige und verbindliche Gestalt seines Werkes angesehen werden muß, die unter allen Umständen zu achten ist? Die Frage zerfällt offenkundig in eine Reihe von Teilfragen, die nacheinander beantwortet werden müssen. Beginnen wir zunächst mit dem Verhältnis von C zu C1. In seiner immer noch lesenswerten Besprechung der ersten Bände der Sophien-Ausgabe in der Zeitschrift für deutsche Philo-

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E R N S T GRUMACH

logie 23, 1891, 309 hat H. Düntzer darauf hingewiesen, daß schon die Bezeichnung der Taschenausgabe als C1 und der Oktavausgabe als 0 den wirklichen „Tatbestand verschleiert". Sie erweckt den Eindruck, als wenn C1 nur eine „Vorläuferin der vornehmeren Ausgabe (C)" gewesen ist, während in Wirklichkeit gerade umgekehrt „die Oktavausgabe nur ein neu durchgesehener besserer Abdruck (von C1) gewesen ist, der als solcher bezeichnet werden müßte"1. „Diese Ungehörigkeiten betreffen" nach Düntzers Meinung „freilich nur Kleinigkeiten". In Wirklichkeit sind sie der Ausdruck einer falschen Konzeption, nämlich der Ansicht, daß die Kraft Goethes und seiner Helfer in erster Linie auf die Herstellung von C gerichtet war, daß er 0 als den Abschluß seiner Lebensarbeit betrachtet hat und C1 daher nur eine Art Vorläufer und eine Vorstufe von C darstellt, die durch das Erscheinen von C überholt ist. Diese Ansicht bedarf in vielfacher Hinsicht der Revision, schon deshalb weil für Goethe selbst die Taschenausgabe die Ausgabe letzter Hand ist. Der Druck einer Oktavausgabe wurde von ihm zwar angeregt, aber nicht, um gegenüber, der Taschenausgabe einen noch weiter verbesserten Text zu schaffen, sondern um dem Publikum neben der äußerlich etwas unscheinbaren Taschenausgabe „einen zwar nicht prächtigen aber doch anständigen Abdruck in Octav zugleich mit anzubieten"2. Die eigentliche Revisionsarbeit Goethes und seiner Helfer richtete sich daher auf die Taschenausgabe, deren Text tatsächlich mit „einer Sorgfalt wie bei keiner früheren" geprüft worden ist. Der Gedanke, auch die Oktavausgabe einer nochmaligen Revision zu unterziehen, tauchte erst auf, als bereits zehn Bogen des ersten Bandes von C3 nach einem unkorrigierten Exemplar von C1 gesetzt waren3. Er kommt von Goethe selbst, der in seinem Schreiben vom 3. 4. 18274, einer Anregung Reichels folgend, eine nochmalige Revision der Taschenausgabe vorschlägt: „Wollten Sie . . . mir bald ein vollständiges Exemplar durch die fahrende Post zuschicken und 1 Das bedeutet, daß man, da inzwischen die C2-Drucke zum Vorschein gekommen sind (vgl. S. 5 Anm. 2), die Oktavausgabe am besten als C3 bezeichnet. Auch diese Siglenverteilung ist freilich noch ungenau, da strenggenommen nur der Neudruck von C1 Band 1 — 10 als Ca und der Nachdruck von C l Band 1—40 schon als C4 bezeichnet werden müßte. Da dieser aber ohne textkritische Bedeutung ist und lediglich der Neudruck von C l Band 1—10 Erwähnung verdient, kann diese Ungenauigkeit in Kauf genommen werden. Die Akademie-Ausgabe bezeichnet die erste Taschenausgabe daher wie bisher als C l , den Neudruck von C l Band 1—10 als C2 bzw. C2a, die Oktavausgabe als C3 und verwendet C für die Übereinstimmung von C^CC. a An Cotta 20. 11. 1825 (IV 40,135) und Cottas Antwort vom 30. 11. 1825 (GSA, ungedruckt) 3 Vgl. Reichel an Goethe 29. 3. 1827 und 8. 4. 1827 (beide GSA, ungedruckt) 4 IV 42, 117

Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe

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das Original mit beylegen, so würde für nochmalige Revision und Beseitigung aller etwaigen Anstände gesorgt werden, und wir eines großen Vortheils genießen, wenn die Octavausgabe nach der Taschenausgabe abgesetzt würde, besonders da diese was das Arrangement betrifft wie mich dünkt untadelhaft ist." Ebenso heißt es in seinem Brief an Göttling vom 18. 4. 18271: „Ich sende . . . den Abdruck des ersten Bandes der Taschenausgabe zu nochmals geneigter Revision . . . Wir haben den Vortheil daß nach diesem ersten Abdruck nun die Octavausgabe besorgt wird, welche denn möglichst fehlerfrey werden kann. . . . Die Hälfte dieses ersten Bandes ist in Octav schon abgesetzt und erwartet zum Abschluß und Abdruck unsere letzte Revision." Die nochmalige Revision der Oktavausgabe erfolgt also nicht, um den Text von C3 weiter zu verbessern, sondern um die beabsichtigte Übereinstimmung der beiden Ausgaben zu sichern und zugleich, um Fehler zu erfassen, die beim Druck von C1 entstanden waren. Das Verhältnis der beiden Ausgaben liegt also gerade umgekehrt, als man bei der Anlage der Sophien-Ausgabe annahm, abgesehen davon daß C3 ein ziemlich nachlässiger Druck ist, in den sich neue Fehler eingeschlichen haben oder Fehler, die in C1 schon berichtigt waren, wieder auftauchen. Wer den von Goethe gewollten oder doch wenigstens den unter seiner Aufsicht und mit seinem Wissen und Willen hergestellten Text der Ausgabe letzter Hand feststellen will, wird daher gut tun, C3 aus der Hand zu legen und auf C1 zurückzugreifen. Freilich ist auch bei der Taschenausgabe Goethes Anteil geringer, als man gewöhnlich annimmt. Wer den Briefwechsel Goethes mit Göttling und Reichel prüft, der leider bisher nur teilweise veröffentlicht ist2, und wer sich der mühseligen Aufgabe unterzieht, in den erhaltenen Druckvorlagen von C1 Goethes und Göttlings Korrekturen zu scheiden, wird gewahr, daß Goethes Anteil sich auf sporadische Nachprüfungen beschränkt und daß die Zahl seiner Eingriffe und Verbesserungen, verglichen mit den Korrekturen Göttlings, gering ist. Sein Anteil unterscheidet sich aber nicht nur umfangmäßig durch die Zahl der Korrekturen, sondern auch durch die Konsequenz und Methodik, mit der Göttling, und den Mangel an Konstanz und Intensität, mit der Goethe zu Werke geht. Während Göttling mit minutiöser Sorgfalt von Zeile zu Zeile vorgeht und jedes Komma und jedes ß so genau prüft, daß ihm dabei bisweilen größere Versehen entgehen3, schlägt Goethe hier und da eine Seite auf, korrigiert einige Zeilen, läßt die gleichen Fehler in den 1 2 3

IV 42, 145 Vgl. S. 13 Anm. 1 Vgl. dazu Fresenius I 132, 129

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ERNST

GRUMACH

folgenden Zeilen stehen, überspringt einen ganzen Abschnitt, vertieft sich in den folgenden und wird des ganzen, ihm so lästigen Geschäfts so schnell müde, daß er auch die von Göttling zurückkehrenden Druckvorlagen nur noch einer flüchtigen Durchsicht unterzieht. Das Gefühl, einen Helfer gefunden zu haben, auf dessen Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit er sich verlassen kann, ist in ihm offenbar so stark, daß er Göttlings Korrekturen nur selten nachprüft und ihm mit Freuden den Hauptanteil an diesem sauren Geschäft überläßt, das er auch früher gerne andern zu überlassen pflegte. Infolgedessen ist Göttlings Einfluß auf die Textgestaltung schon bei der Taschenausgabe erheblich größer, als man bisher vermutet hat. Immerhin kann man bei C1 noch von einer echten Mitarbeit Goethes sprechen, was bei C3 nur für die ersten Bände und mit dem Fortschreiten der Ausgabe in immer geringerem Maße zutrifft. Als die Vorarbeiten für C1 begannen und Goethe sich mit Göttling zu dem mühseligen Werk verband, schrieb man 1825, ein Jahr, in dem der Wille abzuschließen, die Ernte seines Lebens in die Scheuern zu bringen, mächtig und beherrschend war und in dem nicht zufällig auch die Neuarbeit am Faust einsetzt. Beim Beginn der Vorbereitung von C3 schreibt man 1827, ein Jahr höchster, erstaunlichster Altersproduktivität, und je mehr Goethes Hoffnung wächst, das „Hauptgeschäft" noch zu vollenden, desto stärker wird sein Widerwille gegen alles, was ihn ablenken und durch die Erinnerung an vergangene Zeiten verwirren und lähmen könnte. Den ersten Band des für C3 bestimmten Revisionsexemplares von C1 unterzieht er zwar noch einer flüchtigen Durchsicht, bevor er ihn an Göttling weitersendet. Aber schon beim zweiten wird dies Verfahren aufgegeben. Er geht unfertig an Göttling und Goethe begnügt sich, im Begleitbrief zu bemerken: „Ein paar blaue Zeichen finden Sie auch in dem zweyten Bande, doch habe ich's weiter unterlassen; ich werde durch das Gedicht fortgezogen und, was noch schlimmer ist, durch die Erinnerung an vorige Zeiten verwirrt. Es sey Ihnen alles anheim gegeben." 1 Auch ist seine Geduld erschöpft, und die Tatsache, daß trotz aller Mühe, die man auf die Taschenausgabe verwendet hat, noch immer nicht alle Fehler bereinigt sind und in C1, wie er von Göttling erfährt2, 1

IV 42,155 Vgl. Göttlings am gleichen Tage eingetroffenen Brief vom 21. 4. 1827 (GSA): „Ew. Excellenz übersende hierbei den Abdruck des ersten Bandes der Taschenausgabe nebst dem Originale wieder zurück. An der Correctur dieses Abdruckes ist mancherlei zu vermissen und Ew. Excellenz werden wohl dem Corrector für die Octavausgabe größere Genauigkeit mit Nachdruck einschärfen. Es wäre mir sehr erwünscht gewesen, wenn wenigstens die Octavausgabe hier in Jena hätte gedruckt werden können, wo ich die Revision mit Freuden übernommen haben würde." 2

Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe

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sogar neue Fehler auftauchen, scheint ihn zu ermüden und zu verdrießen: „Corrigirt man doch an den alten Classikern schon einige tausend Jahre, und Gubitz muß sich bey seinen Stereotypen doch noch endlich ein fehlendes Strichelchen nachweisen lassen. Haben Sie die Güte Ihre Sorgfalt diesem Unternehmen ferner zu schenken und bleiben meiner aufrichtigsten Dankbarkeit gewiß." So bleibt die Bearbeitung der Revisionsexemplare von C1 an Göttling hängen, der Band für Band mit gewohnter Sorgfalt durchsieht und mit langen Corrigenda-Listen zu den ersten sechs Bänden an Goethe zurückschickt. Goethe begnügt sich auch hier mit einer flüchtigen Durchsicht, bevor er die Listen abschriftlich mit geringfügigen Streichungen und Ergänzungen an Cotta weiterleitet, oft ohne eine Stellungnahme zu den von Göttling gestellten Fragen, deren Entscheidung daher Reichel und den Korrektoren der Cottaschen Officin überlassen bleibt1. Die ihm am 15. 5. übersandte Corrigenda-Liste zum 3. Band weist nur 3 Streichungen auf und keinen Zusatz von seiner Hand; sein einziger Beitrag besteht in den über die Abschrift gesetzten Worten: „Zum 3. Bande wäre folgendes zu bemerken." Die am 27. 7. abgehende Liste Göttlings zum 4. Band enthält stärkere Streichungen und 5 eigene Zusätze Goethes, denen jedoch 53 Korrekturen Göttlings gegenüberstehen, die nicht gestrichen sind und daher in C3 aufgenommen wurden. Die Liste zum Divanband wird ohne jede Streichung mit einem einzigen geringfügigen Zusatz Goethes an Reichel weitergeleitet: Goethe nimmt alle Vorschläge Göttlings widerspruchslos an, obwohl Göttling nicht weniger als neunmal löst in lös't, kost in kos't, preist in preis't und selbst präteritales rast (229,5) in ras't ändert, das Loeper und Burdach später zur Wiederherstellung des Tempus in ras't' verwandeln. Aber selbst dies Verfahren scheint Goethe noch zu mühselig zu sein: „Ew. Wohlgeboren", schreibt er am 26. 12. 1827, „übersende hiebey die nächsten 5 Bändchen mit der Bitte gleich in das Exemplar Ihre Correcturen mit Bleystift hinein zu schreiben, wodurch wie mich dünkt mehr Bequemlichkeit befördert wird."2 Göttling trägt daher vom 7. Band an seine Korrekturen unmittelbar in die Revisionsexemplare ein und begnügt sich, brieflich nur noch das hervorzuheben, was nicht „zu dem gewöhnlichen Philologischen gehört, worin Ew. Excellenz mir Voll macht gegeben haben"3 und das er auch vorher schon nach eigenem Ermessen entschieden hatte. Angesichts dieser Tatsachen, die in Goethes Briefwechsel mit Göttling, der den Redaktoren der Sophien-Ausgabe zur 1 2 3

Vgl. S. 4 Anm. 3 Konzept, GSA ungedruekt; vgl. dazu auch die Reinschrift des Briefes IV 43, 215 Briefwechsel S. 90

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E R N S T GRUMACH

Hand war1, offen zu Tage liegen, erscheint es kühn, von einer „letztwilligen Textrecension" Goethes zu sprechen. Goethe selbst ist an dieser letzten und abschließenden Ausgabe seiner Werke so wenig beteiligt, daß von einer eigenen Redaktion oder gar von einer schöpferisch weiterformenden und vollendenden Textgestaltung keine Rede sein kann2. Sein Wille war nur der, alles Störende von sich fern zu halten und die editorische Arbeit Göttling so weit wie möglich zu überlassen. Die Oktavausgabe trägt daher in noch höherem Grade als die Taschenausgabe den Stempel des Mannes, dem Goethe in „dem gewöhnlichen Philologischen" und das heißt: bis in die subtilsten Fragen der Textgestaltung hinein freie Hand gelassen hat und der daher, wie Goethe selbst nach dem Empfang des ersten Bandes der Oktavausgabe anerkennt, an „der Vollendung derselben den besten Antheil" hat 3 . Goethes eigener Anteil tritt diesem gegenüber völlig zurück. Er läßt sich auch nicht bestimmen, ohne zuvor die umfangreichen und tiefgreifenden Korrekturen Göttlings zu eliminieren, was in der Sophien-Ausgabe nur in ungenügendem Maße geschehen ist und für C3 nur da möglich ist, wo uns die Briefe und Corrigenda-Listen Göttlings erhalten sind und außerdem noch C2 heurathen! Es ist anzunehmen, daß auch Exemplare von D l a existieren, deren erster Bogen mit D 1 identisch ist. Vermutlich ist der Bogen A von D 1 in größerer Anzahl hergestellt und für einen Teil der späteren Drucke mit verwendet worden. Mit gleichem Titel und gleicher Jahresangabe erschien ein Neudruck des Clavigo D 2 (bisher a6 bzw. E5), der nur 96 Seiten zählt. Er ist nach D l a gesetzt worden, nur der erste Bogen folgt D 1 , hat aber S. 8, 21 die bereits in D l ß beobachtete Preßkorrektur heurathen > heurathen!, ein Zeichen dafür, daß auch Exemplare von Dlct mit dem ersten Bogen von D 1 existieren müssen. Die bisher als a 2 bzw. E 2 und E 6 bezeichneten Drucke sind keine selbständigen Ausgaben, sondern lediglich Zusammensetzungen aus den vorher beschriebenen Drucken. III. Götter, Helden und Wieland: Als ein weiteres Beispiel f ü r die in jener Zeit ofFenbar nicht ungewöhnliche Druckerpraxis, durch Zusammensetzung von Bogen verschiedener Provenienz eine neue Ausgabe zu erzielen, seien hier die beiden ersten Drucke von Goethes „Götter, Helden und Wieland" 1

18, 1—2 (19, 5) hofte, . . . solche Herzen in Spanien zu finden E 1 hofte, . . . in Spanien solche Herzen zu finden E 3 E 4 ; 25, 3—4 (24, 13) unzähliche Schwierigkeiten E 1 unzählige Schwürigkeiten E 4 unzählige Schwierigkeiten E 3 ; 34, 14 (31, 7) doppelten unerträglichen E 1 doppelten und unerträglichen E 8 E 4 ; 66, 7 (59, 7) doch E 1 E 4 noch E 3 ; 91, 13 (80, 6—7). Es ist nicht möglich E 1 E 4 Es ist möglich E 3 ; 96, 17 (84, 18) Trutz E 1 Trotz E 3 E 4 . 2 Vgl. Erg. Bd 1 S. 74 f.

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WALTRAUD H A G E N

angeführt. M. Rieger hat sie in der Weimarer Ausgabe1 unter den Siglen E 1 und E 2 zitiert und beschrieben. Beide Drucke haben den Titel „Götter Helden und Wieland. Eine Farce. Auf Subcription. Leipzig 1774.", umfassen 18 ungezählte Blätter und tragen als einheitlichen Bildschmuck eine Titelvignette: Blumenstreuender Putto über Wolken. Nach Rieger unterscheiden sie sich lediglich durch einige Textvarianten in Bl. 2—11 sowie die Vertauschung der Seiten 14 und 15 (d. h. der beiden letzten Blätter des Bogens A) voneinander. Auf Grund einer eingehenden Prüfung der beiden Drucke2 sind die Angaben Riegers und nach ihm Goedekes3, Gräfs4 sowie der auf ihnen fußenden Goethe-Kataloge wie folgt zu korrigieren: Die von Rieger als E 2 bezeichnete Ausgabe stellt keineswegs in ihrer Gesamtheit einen vollständigen Druck dar, sondern enthält lediglich den Bogen A im Neusatz, während die beiden folgenden Bogen (B —C) mit denen des Erstdrucks identisch sind5. Offenbar bestand aus drucktechnischen oder merkantilen Gründen die Notwendigkeit eines Neusatzes von Bogen A, der mit einer selbst für einen Doppeldruck ungewöhnlichen Flüchtigkeit und Achtlosigkeit vorgenommen worden ist, wie seine zahlreichen Druckfehler beweisen6. Zum Glück blieben diese Korruptelen ohne Nachwirkung, da der Wiederdruck des Werkes in Band 33 der Ausgabe letzter Hand auf dem Originaldruck (D1) beruht. Dagegen haben der erste Himburgsche Nachdruck (D. Goethens Schriften. Th. 1. Berlin 1775) sowie auch ein früher Einzelnachdruck des Werkes „Götter, Helden und Wieland, eine Farce. 32 S."7 das beschriebene Mischexemplar (Riegers E2) als Vorlage benutzt und dessen Korruptelen übernommen, ein Zeichen dafür, daß es unmittelbar im Anschluß an den Erstdruck hergestellt und vertrieben worden ist. 1

I 38, 426 Durchgeführt an Hand der in der Sammlung Hirzel (Univ. Bibl. Leipzig) befindlichen Ausgaben, verzeichnet in deren Katalog, neu hrsg. v. R. Fink, Leipzig 1932, unter der Signatur A 44/45 8 3 IV 119 4 II 3, 14 6 In Erg. Bd 1 S. 73f. ist daher dieser Doppeldruck von Bogen A des Erstdrucks (D l ) mit der Sigle D l a belegt worden. 8 Bl. A 4 (Vorders.) Z. 4 Mercur und du trägst D 1 Mercur und trägst D l a ; A 4 (Vs.) Z. 10 Pfuy! D 1 Pfuy; D l a ; A 4 (Ys.) Z. 18 Hayn D l Haym D l a ; A 6 (Vs.) Z. 17 so übel begegnet D 1 so viel begegnet D lcl 7 Verzeichnet im Katalog der Sammlung Speck Nr. 782; vgl. Erg. Bd 1 S. 74 (D lb ) 2

HANNA FISCHER-LAMBERG

ZU DEN JUGENDWERKEN 1. Die zweite Fassung der Mitschuldigen Die zweite Fassung der „Mitschuldigen" von 1769, die die ältere Form des Lustspiels von 1768 (H1) durch das Davorsetzen eines Expositionsaktes in drei Akte umgewandelt hatte, liegt uns allein in einer Reinschrift Goethes (H2) vor, die sich in dem Nachlaß von Friederike Brion gefunden hat, also wohl erst in Straßburg 1770/71 geschrieben worden ist. Diese Abschrift aber trägt den eigenhändigen Vermerk Goethes: 1769. Die Identität von H 2 mit der verlorengegangenen Originalhandschrift wurde in der Wissenschaft mit kleinen Einschränkungen1 vorausgesetzt, bis Doell in seiner Monographie der „Mitschuldigen"2 H 2 von ihrer Vorlage VH 2 mit Nachdruck trennte. In H2, so behauptete Doell, lägen Zusätze und Änderungen vor, die unmöglich schon in VH 2 gestanden haben könnten, vielmehr erst aus Straßburg stammen müßten. So ergab sich für die Entstehungsgeschichte der zweiten Fassung der ,,Mitschuldigen'' nach Doell ein neues Bild: zwischen die Originalhandschrift von 1769 und die Reinschrift der Straßburger Zeit schob sich eine, wenn auch geringfügige, Bearbeitung des ursprünglichen Textes, die dann in H 2 eingegangen wäre. Es scheint mir nun aus verschiedenen Gründen angebracht, diese von Doell vertretene Anschauung zu überprüfen. Schon die eine Voraussetzung, mit der Doell argumentiert3 und die ihm gleichsam die Vorstellung einer vor H 2 liegenden Bearbeitung suggerierte, beruht auf einem Irrtum, den Doell von Seuffert4 übernahm. Seuffert wollte die in H 2 häufig auftretende nasalierte Form „genung" auf die Lektüre von Wielands „Dialogen des Diogenes" zurückführen, in denen diese Form oft, vor allem in der Einleitung, zu finden ist. Erst seitdem Goethe dieses Werk im Februar 1770 1

Vgl. 1 9 , 460f.; R. Weißenfels, Goethe im Sturm und Drang, Halle 1894, 454f.; W. Martini, Die Technik der Jugenddramen Goethes, Weimar 1933, 41 1 A. Doell, Goethes Mitschuldige. In: Bausteine z. Gesch. d. neueren dtsch. Lit. III Halle 1909, 158f. 201 f. 211 f. 213 » Ebd. 199 * Der junge Goethe und Wieland, Ztschr. f. dtsch. Altert. 26, 257ff.

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gelesen hatte1, wären die ihm sonst fremden nasalierten Formen in seine Sprache eingedrungen. Nur ein einziges Mal, und hier dazu noch im Reim, fände sich vor diesem Termin eine „Genung"-Form2. Danach könnten in der Originalhandschrift der „Mitschuldigen" vom Sommer 1769 diese Formen noch nicht gestanden haben, man müßte also zum mindesten mit einer späteren Korrekturschicht, die diese Formen betraf, rechnen. Dieser Ansicht schloß sich Doell an3, obwohl er bemerkt hatte, daß schon in der ersten Fassung des Lustspiels eine „Genung"-Form stand4. Nach der Veröffentlichung der Briefe Goethes an Langer5 aber war die von Seuffert angeregte Vermutung nicht mehr haltbar. Denn in diesen Briefen, die allerdings weder Seuffert noch Doell kennen konnten, finden wir im Jahre 1768 die nasalierte Form verschiedentlich angewandt6. Auch in den „Ephemerides", in einer Januareintragung des Jahres 1770, also vor der Lektüre der „Dialoge", setzt Goethe in einem Paracelsuszitat und zwar dort, wo in der Vorlage „gnug" steht, ein „gnung" selbständig ein7. Mithin ist der Beweis erbracht, daß aus den „Genung"-Formen keine chronologischen Schlüsse in Doells Sinne zu ziehen sind. Für Doell aber war es nun naheliegend, sich nach weiteren Anzeichen für die nun einmal postulierte Umarbeitung, die er in der Hauptsache nach Straßburg verlegte, umzusehen. Denn daß Goethe sich ab Februar 1770 nur auf die Korrektur einer Reihe von Genug-Stellen beschränkt haben sollte, war durchaus unwahrscheinlich. Solche vermutlichen Änderungen, die zwischen VH 2 und H 2 hegen mußten, gewann Doell durch einen Vergleich der ersten einaktigen Fassung des Lustspiels und ihrer Umarbeitung in den 2. und 3. Akt der zweiten Fassung (H2 II III). Es ergaben sich im einzelnen gewisse Unterschiede. So trat in H 2 II III eine unverkennbare Tendenz hervor, sowohl auf gedanklichem wie auch auf formalem Gebiet eine größere Mäßigung walten zu lassen. Apodiktische Urteile wurden zahmer ausgedrückt, allzu krasse Ausdrücke abgeschwächt8. In solchen Änderungen sah nun Doell, ihre Bedeutung weit überschätzend, ein deutliches 1

JG' 1, 343 An Venus, JG a 1, 245 3 a. O. 199 4 JG 2 6, 103 V. 326 5 Hrsg. von P. Zimmermann, Wolfenbüttel 1922 * Ebd. 8 (hier zweimal); 13 7 JG 2 2, 26 u. 6, 144 8 Vgl. JG» 6, 94 V. 177f. mit JG 2 1, 397 V. 509f.; JG 2 6, 94 V. 183 mit JG 2 1, 397 V. 515; JG 2 6, 113 V. 447 mit JG 2 1, 417 V. 799 2

Die zweite Fassung der Mitschuldigen

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Abrücken von dem philosophisch-moralischen Einfluß Wielands1. Sie wiesen damit auf die späte Straßburger Zeit. Diese Annahme ist schon aus inneren Gründen wenig glaubhaft — man bedenke den gesteigerten Zustand, in dem der junge Goethe sich damals durch den Verkehr mit Herder befand, der von jeglicher Art der Mäßigung denkbar weit entfernt war. Auch eine Änderung wie die folgende paßt in keiner Weise in diese Situation. In H 1 heißt es: O Herr sie plagt mich gnug. Doch man ist's nicht im Stande, Da würde Herkules zum Schelmen hier zu Lande. 2

Dagegen lautet dieselbe Stelle in H 2 : Ah, sie bleibt gern zu Haus, und lässt mich immer schwärmen; Denn sie versteht die Kunst sich ohne mich zu wärmen. 3

Hier kann von einer Loslösung von Wieland schwerlich die Rede sein. Diese und ähnliche Änderungen entstammen vielmehr dem Willen zu einer konventionell-möglichen Form, ein Bemühen, das sicherlich mit dem schon im Februar 1769 geäußerten Plan zusammenhängt, das Lustspiel drucken zu lassen4. Die erwähnten Umformungen scheinen mir daher weit mehr nach Frankfurt als nach Straßburg zu gehören. Sie werden schon in dem ursprünglichen Manuskript der zweiten Fassung gestanden haben und von hieraus in H 2 aufgenommen worden sein. Einige Superverse in H 2 erregten nun weiter Doells Verdacht wegen ihres angeblichen Sturm- und Drangcharakters5. Dazu gehören etwa die Verse 961/69®, weil sie einen Ausfall auf die „großen Herrn" enthalten, ein Thema, das aber schon in H 1 V. 6037 anklingt, zudem auch, wie Doell an anderer Stelle selbst angibt8, von der Satire der Zeit schon behandelt worden war. Auch die Kritik an der Justiz: Nun weis man, die Justitz behält steets was für sich 9

findet sich bei Rabener10, den Goethe schon in seinem ersten uns erhaltenen Brief erwähnt11. Es liegt also kein Grund vor, diese Superverse, die noch 1

a. 0 . 1 7 0 . 212 JG 2 6, 120 V. 543f. 3 JG 2 1, 424 V. 895 f. 4 JG 2 1, 322 6 a. O. 158f. « JG 2 1, 430 7 JG 2 6, 125 8 a. O. 159 f. ' JG 2 1, 384 V. 349 10 Vgl. u. a. Satiren4, Leipzig 1759, III S. 62ff. 11 JG 2 1, 77 2

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nicht in H 1 zu finden sind, für Straßburger Zusätze zu erklären. Ebenso steht es mit den Superversen 331/32: Doch ist s ein schlechtes Ding um halbe Bösewichter. Ich seh's man wird zum Dieb gebohren wie zum Dichter; 1

Dieses Verspaar gehört ohne Zweifel noch unter den Einfluß Wielands, der nach Goethes Urteil im Februar 1770 ein Meister in der Schilderung „gemischter Empfindungen" war2, also etwas von „halben Bösewichtern" wußte, und der in seiner „Musarion", die Goethe auswendig konnte, im 3. Buch Formulierungen bringt, wie: Ein Held wird nicht geformt, er wird geboren

und: Man wird zum Geisterseher Geboren, wie zum Feldherrn Xenophon. 3

Also auch solche Superverse in H 2 werden mit großer Wahrscheinlichkeit nach Frankfurt, in die Zeit der größten Wielandverehrung, gehören. Dazu kommt noch eine weitere Überlegung. Als Goethe im Sommer 1769 die einaktige Fassung der „Mitschuldigen" in den 2. und 3. Aufzug der zweiten Fassung hineinarbeitete, übernahm er nicht die politischen Anspielungen von H1, da sie nach relativ so kurzer Zeit schon ihre Wirkung eingebüßt hatten. An ihre Stelle wurden andere gesetzt, die sich auf Ereignisse des zweiten Halbjahrs 1769 bezogen. Die Reinschrift aus Straßburg aber schrieb noch 1770/71 diese ab, trotz ihrer mangelnden Aktualität. Nicht einmal diese Stellen also, die Goethe einmal so wichtig gewesen waren, konnten ihn zu einer nochmaligen Umarbeitung bewegen. Stoff und Form des Lustspiels, das so deutlich einer überwundenen Entwicklungsstufe angehörte, waren Goethe in Straßburg eben fremd geworden, ungeachtet eines gewissen Stolzes, den er Zeit seines Lebens für diese technisch überaus geschickte Jugendarbeit empfand und der ihn wohl auch zu der Reinschrift für Friederike Brion trieb. Seine Eintragung auf dem Titelblatt dieser Handschrift aber, 1769, wird nicht nur aus der Vorlage mechanisch abgeschrieben worden sein, sondern mit vollem Recht für den ganzen Text von H 2 gelten. 1

JG*1, 384 JG» 1, 343 * Wielands Werke (Hempel) 4, 39; vgl. Weißenfels a. O. 93. 114; Doell a. O. 160 4

2. Zur E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e der E p h e m e r i d e s I Die Datierung einzelner Eintragungen oder gar größerer Abschnitte der „Ephemerides" stößt, wie bekannt, auf erhebliche Schwierigkeiten. Aus der uns erhaltenen Originalhandschrift1 ist, wie man bisher annahm, lediglich zu ersehen, daß das Tagebuch, laut Titelblatt, 1770 begonnen wurde und zwar, wie sich aus einer in der Mitte von S. 52 eingetragenen Notiz, „Febr.", ergibt, im Januar dieses Jahres. Ferner findet sich auf S. 12 rechts unten das Wort „Martius". Die erste dieser Datierungen, „Febr.", ist, wie die Handschrift deutlich zeigt, nachträglich vor den Text gesetzt, und mir scheint auch die zweite, „Martius", erst später — vermutlich gleichzeitig mit „Febr." — eingetragen worden zu sein, denn sie steht unvermittelt, in auffallend kleiner lateinischer Schrift rechts unten auf S. 12, weil hier, bei nachträglicher Einfügung, mehr Platz vorhanden war als oben auf S. 13, wo die laufende Tagebucheintragung relativ hoch auf der Seite anfängt und ein Zusatz die Gliederung des Blattes erheblich gestört hätte. Daß aber dieses „Martius" entsprechend dem „Febr." auf S. 5 auf das Folgende hinweist und nicht etwa, wie man aus der Stellung des Wortes entnehmen könnte, als abschließende Notierung aufzufassen ist, unterliegt wohl keinem Zweifel. So beginnen also die März-Eintragungen mit S. 13. Wie weit aber reichen sie, mit anderen Worten: wie weit gehen die Frankfurter Eintragungen von 1770, da Goethe ja Ende März/Anfang April nach Straßburg übersiedelte?3 Die Frage nach dem Einsetzen des Straßburger Teils des Tagebuchs hat die Forschung häufig beschäftigt, ohne daß man bisher zu einer befriedigenden Lösung kommen konnte. Immer wieder versuchte man, aus indirekten Merkmalen zu annähernden Datierungen zu gelangen, die zwar den Einsatz der Straßburger Eintragungen nicht mit Genauigkeit festlegen konnten, aber doch die Fixierung der einen oder anderen Bemerkung für die Straßburger Zeit wahrscheinlich machen sollten. Der erste Herausgeber der Tagebücher, Schöll, verwirrte die chronologische Frage zunächst durch seine Anordnung des Inhalts der „Ephemerides" nach Sachgebieten, bei der die Scheidung zwischen Frankfurter und Straßburger Aufzeichnungen ver1

H in der Straßburger Landes- und Universitätsbibliothek. Für die vorliegende Untersuchung stand mir eine Photokopie von H im GSA zur Verfügung. 8 Die Zählung der 34 Seiten nach H, eigenhändige Paginierung Goethes. 8 Vgl. Martin, Abdruck der Ephemerides in Seufferts „Deutschen Litteraturdenkmalen des 18. und 19. Jahrhunderts" Heft 14, Heilbronn 1883, S. IV; ders. I 38, 226: „Auch das Folgende (ab S. 12) scheint großenteils noch in Frankfurt geschrieben zu sein."

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wischt wurde. Im ganzen genommen sind die „Ephemerides" für Schöll ein Dokument der Straßburger Zeit1, setzt er doch irrtümlicherweise schon die französischen Verse auf S. 6, die aus dem Mercure de France vom Januar 1770 stammen und deutlich noch zu dem von Goethe bezeichneten Februar-Abschnitt gehören, in Straßburg an2. Nach Schöll vermutete Haym in seiner Herder-Biographie3, daß die Büchertitel „zur Skaldischen Literatur" auf S. 27 der Handschrift auf eine Anregung Herders zurückgingen, eine Auffassung, der sich Martin, wenn auch mit einigem Vorbehalt anschloß, denn mit Sicherheit, so meinte er vorsichtig, könne man erst die Notiz von S. 28: Im Elsaß heißt die termenei B a n n der Feldschütze B a n n k e r t

für Straßburg beanspruchen. Martin vertrat im Gegensatz zu seinen Vorgängern überhaupt die Überzeugung, daß die Frankfurter Niederschrift des Tagebuchs sehr weit reiche. So wollte er das Phädon-Referat von S. 21—25 der Handschrift noch in Frankfurt ansetzen, da Goethe in der Zerstreuung des ersten Straßburger Semesters für derartige Arbeiten keine Muße gehabt hätte4. Wir werden uns im Verlauf unserer Untersuchung dieser Meinung nähern, wenn auch unter anderen Voraussetzungen. Weißenfels machte dagegen gar nicht erst denVersuch, die Frankfurter Aufzeichnungen von den Straßburgern streng zu scheiden. Nach seiner Ansicht, die der von Schöll nahe kommt, umfassen die gesamten „Ephemerides" die Zeit in Goethes Entwicklung, die man schlechthin als die „Straßburger" bezeichnen könnte6. Einer differenzierteren Chronologie wandte sich erst wieder Morris zu6 und setzte den Beginn der Straßburger Aufzeichnungen sehr früh, schon mit der Notiz auf S. 15 an: Wer in einer fremden Sprache schreibt oder dichtet, ist wie einer der in einem fremden Hause wohnt.

Morris hielt diese Sentenz für einen „Nachklang" eines Gespräches mit Herder aus der „vorgerückten Straßburger Zeit", also etwa aus dem Winter 1770/71. Wir werden uns mit dieser Auffassung noch auseinanderzusetzen haben. 1

Briefe und Aufsätze von Goethe aus den Jahren 1766—1786, Weimar 1846, 69 Ebd. 69 f. * Herder nach seinem Leben und seinen Werken I, Berlin 1880, 423 * I 38, 226; dagegen Trevelyan, Goethe and the Greeks, Cambridge 1949, 325 8 Goethe im Sturm und Drang, Halle 1894, 163, Anm.: „Wie diese Zeit, so nehme ich das Tagebuch, das ihr angehört, als eine Einheit." S. 166: „Wir wissen nicht, wo die Straßburger Aufzeichnungen beginnen." 4 JG 2 6, 143. 148 4

Zur Entstehungsgeschichte der Ephemerides

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Die indirekte Methode, Eintragungen der „Ephemerides" zeitlich zu bestimmen, und auf diesem Wege zu einer annähernden Datierung größerer Abschnitte zu kommen, führte, wie man sieht, immer wieder auf Herder und seinen bestimmenden Einfluß auf Goethe. Auch wir werden bei unserer Untersuchung ohne dieses Kriterium nicht auskommen; dennoch scheint es mir, daß dieser Einfluß allzu sehr beansprucht und seine Dehnbarkeit oft überspannt worden ist1. Die geistesgeschichtliche Bedeutung und die persönliche Intensität von Herders Wirkung auf Goethe soll damit in keiner Weise berührt oder gar herabgemindert werden. Wer damals, bei der schicksalhaften Begegnung der beiden großen Geister der reifere, der reichere, der weitschauendere und wissendere war, steht außer aller Frage. In diesem Sinne hat ja auch Goethe selbst das Zusammentreffen mit dem älteren Freund in Straßburg in „Dichtung und Wahrheit" geschildert2. Es ist hier nicht der Ort, die Motive, die Goethe bei der Abfassung dieses Teiles seiner Selbstbiographie antrieben, im einzelnen zu analysieren. Aber es steht fest, daß Goethe im Alter dazu neigte, seine Jugendjahre sehr skeptisch anzusehen3, und daß es ihm ferner bei der Schilderung der Straßburger Zeit allein darauf ankam, die große Antithese: Herder und sein gelehriger Schüler, herauszuarbeiten. Das mußte, um der künstlerischen Wirkung Willen, auf Kosten des jungen Goethe geschehen, und die Gefahr lag seit dieser klassischen Darstellung nahe, Goethes Selbständigkeit in dieser Epoche seines Lebens zu unterschätzen. Herders Einfluß erstreckte sich weit mehr auf eine überraschend neue und originelle Interpretation des oft schon Bekannten als auf eine grundlegende Erweiterung des rein Stofflichen. Homer, Ossian, Shakespeare — von der Bibel ganz zu schweigen — waren schon vor Herder Begriffe für Goethe, nur hatte es ihm allein noch nicht gelingen wollen, sie an ein „Höheres anzuknüpfen". Auch seine Kenntnisse der zeitgenössischen Literatur waren — wie das Tagebuch und die Briefe zeigen — umfangreicher, als Goethe es rückblickend später zugeben wollte. So muß nicht nur mit einer weitgehenden seelischen und geistigen Disposition des jungen Goethe bei seiner Bekanntschaft mit Herder, sondern auch mit beträchtlichen Vorkenntnissen gerechnet werden, wichtigsten Vorbedingungen also, die er mit nach Straßburg brachte, die aber bei der kunstvoll auf Gegensätzen aufgebauten Architektur von „Dichtung und Wahrheit" eine zu geringe Rolle spielen. 1 a 8

Vgl. Weißenfels a. O. 160ff. I 27, 302ff. Vgl. u. a. den Brief an Marianne v. Willemer vom 3. Januar 1828 (IV 43, 227)

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Führen solche Überlegungen, ganz allgemein gesehen, zu einer vorsichtigen Haltung dem allzu eifrigen Spürsinn gegenüber, der überall Herderschen Einfluß wittert, so auch in dem besonderen Fall der „Ephemerides", von dem wir ausgingen, und es gilt daher nun zu prüfen, ob die von Schöll, Haym, Martin und Morris angeführten Stellen im Goetheschen Tagebuch eindeutig auf die Autorität Herders zurückzuführen waren oder ob unsere Bedenken auch hier am Platze sind. Betrachten wir zunächst, um chronologisch vorzugehen, die schon erwähnte Sentenz von S. 15: Wer in einer fremden Sprache schreibt oder dichtet, ist wie einer der in einem fremden Hause wohnt.

Morris verweist, um hier Herders Einfluß wahrscheinlich zu machen, auf eine Parallelstelle in den „Fragmenten"1. Da Goethe aber dieses Werk Herders nachweislich erst 1772 kennen lernte2, entscheidet sich Morris für einen „Nachklang" entsprechender Gespräche. Die von Morris aus den „Fragmenten" angeführte Stelle heißt: Wahrlich, der Dichter muß seinem Boden getreu bleiben, der über den Ausdruck herrschen will! Hierher kann er Machtwörter pflanzen, denn er kennt das Land; hier kann er Blumen pflücken, denn die Erde ist sein; hier kann er in die Tiefe graben und Gold suchen und Berge aufführen und Ströme leiten, denn er ist Hausherr.

Liegt hier nun eine zwingende Parallele vor? Zunächst haben wir es hier nicht mit einer spezifisch Herderschen Erkenntnis zu tun, sondern mit einem Problem, das das 18. Jahrhundert stark beschäftigte, gehörte es doch auch zu den Lieblingsthemen Hamanns. Auch der junge Goethe hatte auf diesem Gebiet Erfahrungen gesammelt. Man denke an die Abfassung eines allegorischen „Stückchens" in französischer Sprache, bei dem der Freund Derones ihn gönnerhaft beriet, oder gar an den gescheiterten Versuch eines französischen Trauerspiels in Alexandrinern3, man denke ferner an seine fremdsprachlichen Briefe und Gedichte an Cornelia, Schlosser, Behrisch und Langer, an den der letzte Brief in französischer Sprache erst am 30. November 17694, also kurz vor Beginn des Tagebuchs, gerichtet worden war. Alle diese Versuche mußten Goethe allmählich von der Unzulänglichkeit derartiger sprachlicher Experimente überzeugen. Unmittelbar beeinflußt mag er auch von Blackwells „Enquiry into the life and writings of 1 2 3 4

Herders Werke (Hempel) 19, 219 Brief an Herder vom 10. Juli 1772 (JG a 2, 294) I 26, 167 ff. 352 Zimmermann S. 19 ff.

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Homer" (1735) gewesen sein, dessen Lektüre auf S. 27 des Tagebuchs verzeichnet ist und der wiederholt auf die Bedeutung der Muttersprache hingewiesen hatte. Besteht so keine Notwendigkeit, den gedanklichen Inhalt der Sentenz auf S.15 auf Herder zurückzuführen, so fragt es sich, ob die Formulierung eine solche Abhängigkeit voraussetzt. Herder vergleicht die Muttersprache, der ein Dichter treu bleiben soll, mit dem heimatlichen „Boden", der „Erde", in der der Dichter „pflanzen" und „graben" kann, die er bewässert, und von der er Blumen pflückt — denn er ist „Hausherr", was hier offensichtlich gleichbedeutend mit Grundherr ist, da von einem Haus im eigentlichen Sinn des Wortes ja keine Rede sein kann. Er zerlegt seinen Vergleich, der auf der Vorstellung: Dichter = Grundherr beruht, in viele, dichterisch ausgeschmückte Handlungen, die die poetische Vision des Dichters als eines Gärtners hervorrufen. Dagegen nun Goethes plastisches, aber sehr viel nüchterneres und einfacheres Bild: Schreiben in fremder Sprache gleich Wohnen in fremdem Haus. Es handelt sich also, wie man sieht, wohl um verwandte Erfahrungen und Vorstellungsformen, aber keineswegs um solche, die voneinander abhängig zu sein brauchen. So liegt wohl hier, weder inhaltlich noch formal, eine zwingende Notwendigkeit vor, bei der Sentenz auf S. 15 des Tagebuchs eine Patenschaft Herders vorauszusetzen. Die zweite Eintragung innerhalb der „Ephemerides", die Schöll, Haym und Martin für den Herderschen Einfluß in Anspruch genommen haben, ist die Liste auf S. 27: Bücher zur Skaldischen L i t e r a t u r Hikesii Thesaurus lingu. Septentrional. Olai Wormii litt Runica, et alia ipsius scripta Edda. Saxon. Gramm, hist Danica. Thom Bartholin, de contemtu mortis apud vet. Monumens Celtiques p. Mallet. Herr Dr. Gottfr. Schütze.

Hatte man bei der Notiz auf S.15 Goethe die nötige formale und gedankliche Selbständigkeit nicht zugetraut, so nahm man bei der Bücherliste an, daß ihm die erforderlichen sachlichen Kenntnisse in Frankfurt noch gefehlt hätten, die Notiz also mit Sicherheit unter den Herderschen Einfluß fallen müßte. Die Erwähnung einer altnordischen Literatur rief zwangsläufig die Assoziation von Herders weitgespannten literarischen Ideen, Plänen und Theorien hervor und ließ die Möglichkeit, es läge hier eine selbständige

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Eintragung Goethes vor, nicht aufkommen. Dieses deutliche Mißtrauen, das man Goethes literarischen Kenntnissen um 1770 entgegenbrachte, geht, wie wir sahen, auf Goethes eigene Schilderung seiner geistigen Situation vor Straßburg zurück: „. . . und was seit einigen Jahren in der weiten literarischen Welt vorgegangen, war mir meistens fremd geblieben"1, eine Formulierung, die, tendenziös zugespitzt, den wahren Sachverhalt verschleiert. Das beweisen die Briefe an Friedrich und Friederike Oeser2, an Langer und auch manche Notiz der „Ephemerides". Eine ausführliche Darlegung von dem Umfang der literarischen Kenntnisse Goethes etwa in den Jahren 1769/70 würde außerhalb des Rahmens unserer Betrachtung liegen. Es sei nur daraufhingewiesen, daß Goethe 1769 den Kampf um den „Laokoon" aufs intensivste verfolgte, daß er das erste „Kritische Wäldchen" Herders, das sich mit Lessing auseinandersetzt, kannte, wie aus Briefen an Oeser und Langer unzweifelhaft hervorgeht3, daß er nach anfänglichem, respektvollem Zögern, nach dem Besuch der Mannheimer Plastiken im Oktober 1769, daran ging, selbst einen Aufsatz über den Laokoon zu verfassen, und daß selbst im Februar 1770, wie das Tagebuch zeigt, das Thema ihn noch so erregte, daß er den sonst so knappen Stil der „Ephemerides" durchbrach und Gedanken zum „Laokoon" aufschrieb, die sich über fast anderthalb Seiten erstrecken4. Ebenso sehr beschäftigte ihn ein Vergleich von Piatons und Mendelssohns „Phädon", dem er fünf Seiten des Tagebuchs widmete8. Ferner beweist das Tagebuch die Fortsetzung der schon in Leipzig begonnenen Lektüre Shakespeares8 und Wielands, dessen Shakespeare-Übersetzungen und „Diogenes von Sinope"7 erwähnt werden. Wie stark sein Verlangen war, über Neuerscheinungen unterrichtet zu werden, zeigt ferner der schon erwähnte Brief an Friederike Oeser vom 13. Februar 1769, wo er die Freundin bittet, ihm „von den neusten, artigen und guten Schriften" Nachricht zu geben, und sich bitter über das langsame Tempo des Frankfurter Buchhandels beklagt. Wie aber stand es mit Goethes Beziehungen zur altnordischen Literatur? Hier wird der Weg für ihn wie für das durchschnittliche Lesepublikum über die modernen Skalden gegangen sein. Klopstocks Oden hatten die nor1

I 27, 308 JG 2 1, 312. 317ff. 329 3 Brief an Oeser v. 14. Februar 1769 (JG 2 1, 328); an Langer vom 30. November 1769 (Zimmermann S. 21) 4 H 9/10 s H 21-25 « H 3, 13, 14 ' H 13 2

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dische Mythologie oder, wie Goethe selbst vorsichtig sagt, die „Nomenclatur ihrer Gottheiten" weiteren Kreisen bekannt gemacht1 und Gerstenberg und Kretschmann die allgemeine Kenntnis der „kunstwidrigen Gespenster" noch vermehrt. Daß Goethe diese Literatur nicht nur gut gekannt, sondern auch heftig abgelehnt hat, geht wiederum aus dem schon herangezogenen Brief an Friederike Oeser hervor, wo er beteuert, daß er kein Freund von „Rhingluff", diesem Menschen mit dem „Barbarischen Namen", sei. Daß Goethe aber, über diese poetische Vermittlung hinaus, sich mit nordischer Literatur und Mythologie schon früh befaßt hat, erfahren wir durch eine Bemerkung in Dichtung und Wahrheit: „Ich hatte die Fabeln der Edda schon l ä n g s t aus der Vorrede zu Mallets Dänischer Geschichte kennen gelernt, und mich derselben so gleich bemächtigt . . . Herder gab mir den Resenius2 in die Hände und machte mich mit den Heldensagen mehr bekannt." 3 Also auch hier sind wichtige Vorkenntnisse bezeugt, auf denen Herder aufbauen konnte. Die hier von Goethe genannte dänische Geschichte von Mallet aber 4 , aus der er sich zuerst — vor Herder! — über die Edda unterrichtet haben will, steht nun an sechster Stelle unter den „Büchern zur Skaldischen Literatur" auf S. 27 der Handschrift der „Ephemerides". Eines dieser Bücher war also Goethe nachweislich schon in Frankfurt bekannt, die Beschäftigung mit dem Stoff ist daher vor Herder gesichert, und so braucht auch die Zusammenstellung der ganzen Liste nicht an Herders Namen gebunden zu sein. Daß diese Liste aber sogar mit großer Wahrscheinlichkeit noch nach Frankfurt gehört, scheint mir aus einer vorhergehenden, auf derselben Seite der Handschrift stehenden Notiz von ausgesprochen lokalem Frankfurter Interesse hervorzugehen: Der Haarhandel ist zu Ffurt sehr starck in der Messe,

eine Bemerkung, die, wie man zugeben muß, besser in die Frankfurter als die Straßburger Zeit paßt. So werden die Eintragungen der „Ephemerides" bis zur Mitte der S. 27 einheitlich vor Herder und noch in die Frankfurter Zeit zu setzen sein. Wir wagen uns, wenn auch mit abweichender Begründung, also lediglich um einen Schritt weiter als Martin, der den Frankfurter Teil des Tagebuchs 1

I 28, 143 Edda Islandorum, Hafniae 1665 3 I 28, 143 (Sperrungen von mir) 4 Introduction k l'Histoire de Dannemark etc., Copenhagen 1755—56; enthält eine Übersetzung der Edda. 2

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mindestens bis S. 25 gehen ließ1. Es ergab sich, daß weder die Sentenz über die Bedeutung der Muttersprache noch die Bücherliste zur skaldischen Literatur — und mit diesen beiden Argumenten wurde die Datierungsfrage von den Forschern bisher im wesentlichen bestritten — mit Notwendigkeit auf Herder zurückgehen muß. II Wenn wir aber nun die Eintragungen, die auf die Bücherliste folgen, untersuchen, so ändert sich die Situation entscheidend. Sie beginnen gleich mit einer sehr charakteristischen Notiz: Stenders Lettische Grammatik.2

Mit einem Schlage stehen wir in der für Herder typischen Atmosphäre. Jetzt handelt es sich nicht mehr wie bei der skaldischen Literatur um ein Gemeingut des gebildeten Publikums, sondern um ein Spezialinteresse Herders, um einen Wissensbereich, der Goethe schwerlich von einer andern Seite nahegebracht werden konnte. Nach der lettischen Grammatik von Stender hatte Herder in Riga die lettische Sprache zu lernen begonnen3, er hatte in den Rigaer Jahren lettische Volkslieder gesammelt und in den „Gelehrten Beiträgen zu den Rigischen Anzeigen" schon 1764 über sie rühmend gesprochen4. Stände diese Notiz vereinzelt da, so könnte noch ein Zufall im Spiel sein, aber es folgen nun gedrängt Eintragungen, die Straß bürg und den Herderschen Einfluß voraussetzen. Schon als übernächste Aufzeichnung finden wir oben auf S. 28 die Bemerkung, die schon Martin für die Straßburger Zeit mit Sicherheit in Anspruch nahm: Im Elsas heißt die termenei B a n n der Feldschütze B a n n k e r t .

An sie schließen sich die ausführlichen Auszüge aus der „ReformationsOrdnung" des näher gerückten Basels an, dann folgen Hinweise historischer Art, Smolletts „Peregrine Pickle" wird genannt und zehn Titel von naturwissenschaftlichen Schriften, die das Thema der Elektrizität behandeln und dadurch in ihrer modernen Richtung die Umwälzung, die Straßburg auch auf diesem Gebiet bedeutete, beweisen. Nach dieser Liste bleibt etwa ein Drittel der Seite 30 frei; ob dieser freigelassene Raum etwas zu sagen hat* werden wir später prüfen. 1

Vgl. S. II Braunschweig 1761 * Vgl. Haym a. O. 423 1 Stück 12, 13 2

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S. 31 beginnt dann mit einer bibliographischen Notiz zum Thema „Volkspoesie": Ancient Scottish Poems. Publishdfrom the MS. of George Bannatyne, 1568. 12.1770,

eine Aufzeichnung, die wohl von Herder angeregt, aber — und das ist für unsere spätere Beweisführung wichtig — nicht unbedingt in den Monaten des Zusammenseins eingetragen zu sein braucht. Ihi schließt sich eine Bemerkung über den Unterschied zwischen Fehde und Faustrecht und ein Zitat aus einer Frankfurter Chronik1, die Zeit Götzens betreffend, an. Wir stehen damit nicht nur mit Sicherheit in den Vorarbeiten zum Götz, sondern befinden uns vermutlich auch wieder in der Heimatstadt Goethes, wofür jedenfalls das Studium einer Frankfurter Chronik sprechen würde. Daß wir mit den Eintragungen des Tagebuchs bereits in das Jahr 1771 gelängt sind, beweist die nun folgende Erwähnung von Riedesels „Sicilianischer Reise", die erst 1771 erschien. Es schließen sich nun, auf den drei letzten Seiten des Tagebuchs, vermischt mit sprachlichen Beobachtungen, genrehafte Mitteilungen aus dem Frankfurter Lebenskreis an, die bis zum Ende des Jahres 1771 reichen: verschiedene Frankfurter Familiennamen werden genannt, zum erstenmal taucht der „Doktor Mercks" auf, den Goethe Weihnachten 1771 kennen lernte, und schließlich wird noch eine Anekdote aus einem bekannten Frankfurter Prozeß erzählt2. III Wir sind in der glücklichen Lage, diese, aus der Interpretation einzelner Eintragungen gewonnenen Resultate durch die Handschrift selber so stützen zu können, daß sie einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit erlangen. Es handelt sich um ein Schriftzeichen, das in seiner Bedeutung bisher von der Forschung nicht ausgewertet worden ist, das aber, wie mir scheint, von besonderer Wichtigkeit ist: z w i s c h e n der B ü c h e r l i s t e zur s k a l d i s c h e n L i t e r a t u r auf S. 27 und der N o t i z v o n S t e n ders l e t t i s c h e r Grammatik s t e h t in der H a n d s c h r i f t ein e n e r g i s c h e r D o p p e l s t r i c h in der Mitte der Zeile (vgl. Abb. 1). Kann er uns Aufschlüsse geben, die die bisherige Interpretation der Eintragungen uns noch versagte? Wer sich mit Handschriften des jungen Goethe beschäftigt hat, weiß, wie wichtig derartige Zeichen sind, daß sie bei Goethe stets mit einer bestimmten Absicht verwendet werden. Die klare Gliederung einer Manuskriptseite des jungen Goethe, ganz gleich, ob 1 2

A. A. v. Lersner, Chronika der Reichsstadt Franckfurth, Frkf. a. M. 1734 Vgl. Beutler, Artemis-Gedenk-Ausg. 4, 1098 ff.

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es sich um ein Konzept oder eine Reinschrift handelt — von „Fetzen" wollen wir absehen —, ist ein Charakteristikum seiner Art zu schreiben. Wie hier der Raum aufgeteilt ist, wie oben, unten und am linken Rande einer Seite ein regelmäßiger Rand ausgespart wird, wie Spatien nur da stehen, wo sie etwas zu bedeuten haben, wie Überschriften herausspringen, wie Absätze markiert werden, spricht von dem hohen Formniveau dieser Handschrift und fällt schon dem graphologisch Ungeschulten auf. Auch in den ,,Ephemerides" herrscht —trotz ihrer oft flüchtigen Fixierung — dieselbe Ordnung, und zu diesem Ordnungssystem gehört es, daß auch größere Abschnitte hervorgehoben werden. Die Markierung eines solchen größeren Abschnittes finden wir z. B. vor dem „Phädon" auf S. 20. Dort werden vier Zeilen freigelassen, um auf S. 21 mit der Überschrift „Phädon" beginnen zu können. Auch der Schluß des „Phädon" ist durch das Einrücken des letzten Wortes „stirbt" in die Mitte der letzten Zeile von S. 25 deutlich betont. Ein solcher freier Raum ist ferner, wie schon erwähnt, auf S. 30 ausgespart nach der Anführung der naturwissenschaftlichen Literatur, dessen Bedeutung uns noch beschäftigen wird. Ein Schlußstrich aber, wie der auf S. 27, steht nur an dieser Stelle. Er ist der einzige seiner Art in dem ganzen Tagebuch1. Dieser .Trennungsstrich, obwohl er in den Ausgaben der „Ephemerides" erscheint2, konnte aus dem Druckbild heraus in seiner Wichtigkeit nicht erkannt werden; wirkt er doch als graphisches Signal allein in der kühn geschwungenen Strichführung der Handschrift. Was aber will er ausdrücken? Auf alle Fälle einen Einschnitt, in seiner ursprünglichen Funktion vermutlich nur den Abschluß von etwas Erledigtem. Der wichtigste Einschnitt aber in dem Zeitraum, in dem das Tagebuch geführt wurde, ist nun ohne Zweifel der Übergang von Frankfurt nach Straßburg, und so wird es kein gewaltsamer Schluß sein, anzunehmen, daß Goethe mit diesem Doppelstrich die Trennungslinie zwischen Frankfurt und Straßburg zog3. Unsere bisherige Interpretation, die lediglich vom Inhaltlichen ausging, hatte uns bis an diesen Schlußstrich geführt. Bis zu ihm lag, wie wir sahen, keine Notwendigkeit vor, mit Herder zu rechnen, ja, die kurz vor der Literaturliste notierte Bemerkung über den Haarhandel auf der Frank1

Die kurzen,, vom linken Band ausgehenden Striche innerhalb des Cäsar-Fragments (H 33, 34) wollen nur die einzelnen Dialog-Fetzen voneinander trennen. * Vgl. 137, 108; JG 8 2, 46 3 Die Schrift vor und nach dem Doppelstrich scheint sich, soweit die Photokopie ein Urteil zuläßt, nicht wesentlich voneinander zu unterscheiden.

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furter Messe, das Anführen von Mallets dänischer Geschichte, die Goethe schon in Frankfurt kannte, schien uns nach Frankfurt als Abfassungsort für die ersten 27 Seiten des Tagebuchs zu weisen. Nach dem Doppelstrich aber, mit der Erwähnung der Stenderschen lettischen Grammatik, steht Herder hinter einer großen Anzahl der Eintragungen. So wird dieser Doppelstrich nicht nur, wie wohl ursprünglich beabsichtigt, zum Trennungsstrich zwischen Frankfurt und Straßburg schlechthin, sondern zwischen Frankfurt und dem Straßburg mit Herder. Damit ergibt sich ein Weiteres: im ersten Straßburger Semester muß das Tagebuch geruht haben, und die Eintragungen wurden erst, als die Belebung durch Herder einsetzte, also frühestens ab September 1770, wieder aufgenommen. Was wir von der Unruhe der ersten Straßburger Monate wissen, kann diese Vermutung nur stützen. Die Lektüre der antiken Schriftsteller, der das Tagebuch doch bevorzugt zunächst gewidmet gewesen war, trat bei den zerstreuenden Eindrücken, den zahlreichen geselligen Unternehmungen in Straßburg zurück. Man erinnere sich an die Erzählung in „Dichtung und Wahrheit", wo Goethe berichtet, wie Herder über die „schöne Sammlung" antiker Autoren, die Goethe aus Frankfurt mitgebracht hatte, spottete, da sie ungenutzt auf „wohlgehobelten Brettern" herumstanden1. „Wie sollte aber", verteidigt sich Goethe, „die Zeit zureichen, die ich in hunderterlei Thätigkeiten zersplitterte?" Im Juni 1770, auf der Lothringer Reise, scheint Goethe allerdings ein Tagebuch geführt zu haben. Jedenfalls standen ihm offenbar bei der Abfassung des zehnten und elften Buches von „Dichtung und Wahrheit" derartige Aufzeichnungen zur Verfügung, die aber nicht erhalten sind2. Aber noch einen anderen Einschnitt können wir aus der Handschrift herauslesen. Es handelt sich zwar nicht um ein so markantes Zeichen wie den Doppelstrich auf S. 27, aber doch auch um ein Charakteristikum des Goetheschen Ordnungswillens: um die schon häufig erwähnte Lücke von 6 Zeilen auf S. 30. Auch sie kann uns einen Wink für die Entstehungsgeschichte der „Ephemerides" geben. Die letzten Eintragungen auf dieser Seite betreffen naturwissenschaftliche Bücher. Dann auf S. 31 oben steht die Notiz: Ancient Scottish 12. 1770.

Poems. Publishd from the MS. of George Bannatyne, 1568.

Was bedeutet diese Lücke? Sachlich wollte Goethe hier gewiß nichts trennen, denn die Anlage des Tagebuchs brachte es mit sich, daß Natur1

I 27, 311 « Vgl. Archiv f. Litteratur-Geschichte; JG 2 6, 144

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wissenschaftliches neben Literarischem stand. Sollte der frei gebliebene Platz nicht wiederum einen wichtigen Einschnitt, diesmal aber den Übergang von Straßburg nach Frankfurt, bezeichnen?1 Man darf sich durch die Notiz über die alte schottische Poesie auf S. 31 oben nicht irre machen lassen und der Suggestion, die nun einmal von Herder ausgeht, wiederum erliegen. Mag diese Notiz auch mit Herder in Zusammenhang stehen — und sie wird es wohl mit Sicherheit —, ihre Fixierung ist selbstverständlich auch noch nach dem Straßburger Aufenthalt denkbar und kann sehr wohl in Frankfurt erfolgt sein. Um unsere Überzeugung, daß mit S. 31 der letzte, wiederum in Frankfurt geschriebene Abschnitt der „Ephemerides" beginnt, zu stützen, kommt nun noch ein weiteres äußeres Merkmal hinzu: die Schrift der letzten vier Seiten der Handschrift wird, wie schon Martin2 beobachtet hatte, einheitlich weiter, flüchtiger, aufgelockerter als auf den vorhergehenden 30 Seiten. Hier würde also der Eindruck der Handschrift unsere Ausführungen noch unterstützen können. Wenn unsere Folgerungen, die sich sowohl aus der inhaltlichen Interpretation einiger wichtiger Aufzeichnungen der „Ephemerides" als auch aus dem optischen Eindruck der Goetheschen Handschrift ergaben, zutreffen, so könnte man zur Entstehungsgeschichte der Ephemerides folgende Tabelle aufstellen: Handschrift 1—5 (Mitte) 5 (Mitte) —12 13—27 (bis zum Doppelstrich) 27 (ab Doppelstrich)—30 (Lücke) 31—34

Ort Frankfurt Frankfurt Frankfurt Straßburg Frankfurt

Zeit Januar 1770 Februar 1770 März 1770 ab September 1770 abEndeAugustbisEndel771

Die Tabelle zeigt die stärkste Benutzung des Tagebuchs im März 1770, doch halten sich die Eintragungen nach Zahl und Art durchaus im Bereich des Möglichen — muß man sich doch immer gerade bei den Zitaten aus antiken Autoren daran erinnern, daß Goethe sie, nach seinen eigenen Worten, nur „sprungweise" gelesen hatte 3 . Von den 14% Seiten der März-Aufzeichnungen gehören allein fünf dem Phädon-Vergleich an, und auch auf Seite 18, 19, 20 wird Goethe ausführlicher als bisher, und zitiert auf diesen drei Seiten nur acht Autoren. So sagt die bloße Anzahl der beschriebenen Seiten innerhalb eines Monats wenig über den Umfang der Lektüre aus, 1

Vgl. Beutler a. O. 1099 * a. O. IV ' 128,148

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und selbst die Zahl der angeführten Schriften und Autoren verrät noch nichts über die Intensität ihres Studiums. — Die Abnahme der Notizen seit der Bekanntschaft mit Herder ist deutlich, psychologisch aber in keiner Weise auffallend: der polyhistorische, rückwärts gewandte, ursprüngliche Charakter des Tagebuchs konnte nach der tief eingreifenden Wirkung, die die Freundschaft mit Herder bedeutete, nicht im alten Sinn fortgeführt werden, die durch Herder geweckten produktiven Kräfte Goethes suchten jetzt nach einem anderen Betätigungsfeld. So schließt das Tagebuch bezeichnenderweise auch mit den Cäsar-Fragmenten, die mit der alten Tradition brechen. Da unsere Untersuchung ergeben hat, daß von den 34 Seiten der Handschrift rund 27 nach Frankfurt, und zwar in den Anfang des Jahres 1770 gehören, so verlagert sich die Bedeutung des Tagebuchs durchaus auf die Zeit vor Straßburg und beweist, daß dieser in „Dichtung und Wahrheit" ein wenig stiefmütterlich behandelte Lebensabschnitt nicht von der geistigen Sterilität war, wie sie Goethe zu schildern später für gut befand. Der Straßburger Goethe tritt dagegen zurück, wenn wir auch manches Wichtige über ihn erfahren. Die geistige Befreiung aber, die der Straßburger Aufenthalt brachte, das Erwachen originaler produktiver Kräfte spiegeln dann die vier letzten Seiten der Handschrift, die in die Zeit nach Straßburg fallen, wider. In einer chronologisch geordneten Sammlung der Werke Goethes wird man infolgedessen berechtigt sein, die „Ephemerides" entweder an den Anfang des Jahres 1770, also nach Frankfurt zu rücken, denn in dieser Zeit liegt ihr Schwerpunkt, oder gar das Tagebuch in die drei nun festgelegten Abschnitte aufzuteilen. In der Akademie-Ausgabe erscheinen die „Ephemerides" wegen der besseren Übersicht noch als ein Ganzes; eine Neubearbeitung von Morris' „Jungem Goethe" dürfte aber wohl mit Recht die drei Teile den Zeiträumen, zu denen sie gehören, zuordnen.

3. Ein Q u e l l e n n a c h w e i s zu den E p h e m e r i d e s Eine der wenigen Eintragungen in den „Ephemerides", der Goethe selbst 1770 ein näheres Datum hinzugefügt hat, lautet: Febr.) Wie falsch Cleanth die Verdrüsslichkeit seiner Geliebten auslegte, und wie Astolf ein lang versagtes Geständniss herauslockte. 1

Hinter dieser Notiz vermutete der erste Herausgeber der „Ephemerides", Schöll, ein „eigenes Erlebnis" Goethes, das er symbolisch „maskirt" wiedergäbe2. Doch hatte diese Auslegung wenig Überzeugendes, zumal die genannten Personennamen, Cleanth und Astolf, durchaus auf literarische Gestalten hinzuweisen schienen. — Auch Martin, der zunächst in einem Sonderdruck, dann in der Weimarer Ausgabe die „Ephemerides" herausgab3, konnte trotz der „ausgiebigeren Noten", die er den Lesarten hinzufügte, zu unserer Notiz keine nähere Erklärung geben. — Im 6. Band seines „Jungen Goethe"4 bemerkt Morris zu den Namen: „Personen in einer noch nicht ermittelten Erzählung", und wies damit zwar auf die Möglichkeit einer literarischen Quelle hin, ohne aber anzugeben, warum er gerade eine „Erzählung" hinter der Notiz annahm. Es handelt sich nun aber nicht um die Anspielung auf eine „Erzählung", sondern um eine dramatische Reminiszenz Goethes, die für den Anfang des Jahres 1770 besonders naheliegend war. Ende September 1769 lagen die beiden Fassungen der „Mitschuldigen" vor und es ist bekannt, wie stark hier das Vorbild Molieres sich auf den Dialog des Goetheschen Lustspiels ausgewirkt hat 5 . Kein Wunder, daß im Februar 1770 Molieresche Szenen in Goethe so lebendig waren, daß sie ihn zur Fixierung unserer Notiz trieben. Und zwar erinnert sich Goethe offenbar an Szenen in dem „Malade imaginaire" und der „Ecole des Femmes". Mit den Worten über Cleanth bezieht sich Goethe auf die 14. Szene des dritten Akts vom „Eingebildeten Kranken". Die Situation ist folgende: Argan stellt sich tot, um das wahre Urteil seiner Familie über sich zu erfahren. Seine Tochter Angelique simuliert an der „Leiche" des Vaters einen Ausbruch von Verzweiflung, und als ihr Geliebter Cleanthe dazu kommt, und sie ihn in ihrem fingierten Kummer schroff abweist, kann er, 1

JG» 2, 29 Briefe und Aufsätze von Goethe aus den Jahren 1766—1786, Weimar 1846, 69 3 Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, Heft 14, Heilbronn 1883 und I 37, 38 * S. 145 5 Vgl. R. Weißenfels, „Goethe im Sturm und Drang", Halle 1894, 451 2

Ein Quellennachweis zu den Ephemerides

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der in die Intrige nicht eingeweiht ist, die „Verdrüsslichkeit seiner Geliebten" nicht verstehen. Bei der Notiz über A s t o l f liegt in den „Ephemerides" offenbar ein Gedächtnisfehler Goethes vor. Denn ohne Zweifel denkt er an die berühmte Szene der „Ecole des femmes" (III, 6), wo A r n o l p h e seinem Pflegekind Agnes das Geständnis ihrer Liebe zu Horace dialektisch sehr geschickt entlockt. Die Kunst der Dialogführung gerade dieser Szene ist bestimmend für den Auftritt zwischen dem Wirt und Alcest in den „Mitschuldigen" (III 3) gewesen. So klingt wohl noch etwas wie eine staunende Bewunderung für die technischen Fähigkeiten Molieres durch unsere Notiz. Vermutlich aber lag die Lektüre der betreffenden Moliereschen Stücke weiter zurück. Dafür würde jedenfalls die Verwechslung von A s t o l f mit Arnolphe sprechen. So würde auch unser Quellennachweis zeigen können, daß in den „Ephemerides" nicht nur der Niederschlag einer mit den Eintragungen gleichzeitigen Lektüre zu finden ist, sondern daß auch Augenblickseinfälle, die auf frühere Eindrücke zurückgehen, notiert wurden.

4. Die D a t i e r u n g des Goetheschen R o m a n f r a g m e n t s Arianne an W e t t y Das Fragment eines Romans in Briefen, „Arianne an Wetty" 1 , ist seit seiner ersten Veröffentlichung durch Schöll2 den verschiedensten Deutungen und damit auch Datierungen ausgesetzt gewesen. Die beiden Briefe, aus denen das Bruchstück besteht, sind in der uns erhaltenen Handschrift3 unter der Überschrift „Arianne an Wetty" zusammengefaßt4, Brief 1 und 2 sind nur durch einen Zwischenraum von einer Zeile und nicht durch eine neue Überschrift getrennt. Trotz dieser Art der Überlieferung faßte Schöll nur den ersten Brief als Dichtung, den zweiten als ein persönliches Dokument des jungen Goethe auf und wies beide Briefe in die Leipziger Zeit, während E. Schmidt6 sowohl den ersten wie den zweiten Brief für romanhaft erklärte und ihre Abfassung in das Frühjahr 1769 verlegte. Erst Weißenfels6 betonte nachdrücklich, daß beide Briefe als Teile eines geplanten Briefromans aufzufassen seien, und schloß sich in der Datierung Minor7 an, der eine weit spätere Niederschrift, im Herbst bzw. im Winter 1770, annahm, und zwar aus folgenden Gründen: Minor wies eine zunächst sehr überzeugend wirkende Parallele nach zwischen einem Satz des ersten Briefes des Romans: „Der kältste Sinn ist das Sehen"8 und einer Stelle in Herders Ursprung der Sprache9: „Das Sehen ist der kälteste Sinn." Für ihn war dadurch bewiesen, daß das Fragment erst nach der Bekanntschaft mit Herders Preisschrift, also im Herbst oder Winter 1770, entstanden sein könnte. Daß Goethe in das Manuskript von Herders Arbeit in Straßburg Einblick nahm, wissen wir aus „Dichtung und Wahrheit"10. Minors Beweis schloß sich die Wissenschaft an11. 1

JG ! 2,51 ff. a. O. 21 ff. 3 H befindet sich in Straßburg auf der Landes- und Universitätsbibliothek, benutzt wurde eine Photokopie von H im GSA. * Aus dieser Überschrift in H und der Tatsache, daß Lavater 1774 die spätere Fortsetzung oder Umarbeitung des Romans mit „Ariane an Wetty" oder „Arianne" zitiert (SohrGG 16, 299. 304), schließe ich, daß die Überschrift dem ganzen geplanten Roman und nicht nur einem einzelnen Brief aus ihm zukommt. 5 Aus Goethes Frühzeit, Straßburg 1879, lff. 4 a. O. 473ff. 7 J. Minor und A. Sauer, Studien zur Goethe-Philologie, Wien 1880, 82 Anm. 2 8 JG* 2, 51 9 V 62 Suphan 10 127, 309 11 Vgl. 138, 223; JG* 6, 152 2

Die Datierung des Romanfragments Arianne an Wetty

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, Daß die von Minor aufgezeigte Übereinstimmung eine zunächst frappierende ist, muß zugestanden werden, und doch fragt es sich, ob man sich bei der aus ihr gewonnenen Datierimg beruhigen kann. Sowohl äußere wie auch innere Gründe scheinen mir dagegen zu sprechen. Zunächst stimmt die Handschrift1, in der uns „Arianne an Wetty" überliefert ist, bedenklich. Es handelt sich um das Straßburger Konzeptheft, dessen Lagen und Blätter offenbar erst später in unchronologischer Folge zusammengebunden worden sind. Es enthält außer dem Romanfragment noch elf Briefkonzepte, die vom 27. Juni 1770 bis Februar 1771 reichen, also einwandfrei der Straßburger Zeit angehören. Unser Romanbruchstück befindet sich auf S. 1—3 der ersten Lage, die aus zwei ineinandergelegten Foliobogen besteht. Auf S. 4 beginnt ein undatierter Briefentwurf mit der Anrede „Wunderlicher Mann", der inhaltlich aber so stark an ein Konzept von S. 13, einen Brief an Trapp vom 28. Juli 1770, erinnert, daß er als ein erster Entwurf für diesen Brief angesehen werden muß2. S. 6—8 der Handschrift sind freigeblieben. Bestände also Minors Hypothese zu Recht, so müßte man annehmen, Goethe habe von der ersten Lage des Heftes nur S, 4/5 im Juli 1770 benutzt und die ersten drei Seiten zunächst freigelassen, um auf ihnen später, nachdem er Herders Preisschrift gelesen hatte, das Romanfragment einzutragen, eine Erklärung, die einer gewissen Künstlichkeit nicht entbehrt, zumal es bei einer derartigen nachträglichen Eintragung merkwürdig bleibt, wenn die in der Raumaufteilung normale Niederschrift sich mit dem freigebliebenen Platz so mühelos deckt, wie die Handschrift es zeigt. Dazu kommt noch eine weitere Beobachtung. Über dem Titel „Arianne an Wetty" auf S. 1 stehen im Konzeptheft noch die vier Worte: „ist das Stillschweigen Erlaubniss." Von diesen vier Worten sagt E. Schmidt3, daß mit diesem „winzigen Bruchstück" nichts anzufangen sei; Martin, der Herausgeber des Romanfragments in der Weimarer Ausgabe, vermutet4, daß es der Schluß eines Briefes Wettys oder Walters wäre, und Morris6 bezeichnet die vier Worte „als Schlußworte eines verlorenen Briefes". Schwerlich kann es sich dabei um die Schlußworte eines zu dem Roman gehörenden Briefes handeln. Denn die beiden uns erhaltenen Briefe bringen deutliche Schlußformeln, wie wir sie auch aus Goethes persönlichen Briefen 1

Ihre Beschreibung I 38, 223 u. IV 1, 277 * IV 1, 279f.; JG 2 6, 133 s a. O. 2 4 I 38, 223 5 JG 2 6, 154

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kennen. Der erste Brief schließt: „Grüsse Deinen Walter, und sag ihm wir wollten Freunde bleiben. Leb wohl." Am Ende des zweiten Briefes steht: „Leben Sie wohl meine liebste Freundinn." Die vier Worte „ist das Stillschweigen Erlaubniss" tragen aber in keiner Weise ein formelhaftes Gepräge, sondern sie drücken unverkennbar die Anschauung aus, daß Schweigen erlaubt, d. h. das Richtige, in einer bestimmten Situation das Gegebene, sein kann. Mit diesem Gedanken erinnert das „winzige Bruchstück" aber in auffallender Weise an ein Schreiben Goethes an Reich vom 20. Februar 17701, also an einen Brief, der verhältnismäßig kurz vor Goethes Abreise nach Straßburg (1. April) geschrieben wurde und der nach dem Stand unserer Überlieferung sogar der letzte Brief Goethes vor der Übersiedlung nach Straßburg ist. Dort heißt es nach der Lektüre von Wielands Dialogen des Diogenes: „Es giebt gemischte Empfindungen . . . von denen wir andre schweigen müssen . . . Und auch darum lasse ich meine E r k ä n n t l i c h k e i t gerne schweigen . . . E m p f i n d e n und schweigen ist alles was man bey dieser Gelegenheit thun kann." Sollten die Worte: „ist das Stillschweigen Erlaubniss" nicht aus einem Konzept dieses Briefes an Reich und somit aus der Frankfurter Zeit stammen? Wenn diese Vermutung zutrifft, so stünde „Arianne an Wetty" im Konzeptheft zwischen zwei annähernd datierbaren Eintragungen, dem Rest eines Frankfurter Briefentwurfs an Reich aus dem Februar 1770 und dem Konzept „Wunderlicher Mann", das mit dem Julibrief an Trapp in Verbindung gebracht werden muß, und nach dieser Stellung läge es nahe, die Niederschrift des Romanfragments zwischen Ende Februar und Ende Juli 1770 anzusetzen. Kann nun dieser Termin, den wir für die Niederschrift aus Indizien der Handschrift gewonnen haben, auch einer inhaltlichen Analyse standhalten? Oder zwingt uns der gedankliche Gehalt dieses Jugendwerkes etwa doch dazu, es in die unmittelbare Nachbarschaft Herders zu rücken? Die formal bestechende Übereinstimmung der in Frage stehenden Stelle hat dazu verleitet, die beiden kongruenten Definitionen des Gesichtssinnes aus ihrer unmittelbaren Umgebung zu lösen, sie zu isolieren und daraus falsche Schlüsse zu ziehen. Zwar spricht auch Minor2 von einer „selbständigen Weiterbildung der Herderschen Ideen von Seite Goethes". Aber es handelt sich hier nicht um eine Weiterbildung, sondern um etwas grundsätzlich anderes. 1

JG21,343 f.

« a. O. 82

Die Datierung des Romanfragments Arianne an Wetty

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Es ist bekannt, wie stark man seit Bacon und Locke an dem erkenntnistheoretischen und psychologischen Problem der menschlichen Sinne, ihren Funktionen, ihrer Leistimgsfähigkeit interessiert war. England, Frankreich, Deutschland beteiligten sich an der Diskussion über dieses Thema und gerade die Eigenschaften des Gesichtssinnes, seine Unzulänglichkeit und Unzuverlässigkeit, ferner die sich daraus ergebende Rangordnung der Sinne wurde immer wieder behandelt. Diderot, Sulzer, Condillac, Rousseau, Mendelssohn, um nur einige zu nennen, die direkt und indirekt auf Herder und Goethe Einfluß gewonnen haben können, hatten sich mit dieser Frage beschäftigt. Diderot 1 hatte den Gesichtssinn „le plus superficiel" genannt, Sulzer2 vom Gesicht behauptet, daß es im Vergleich mit den anderen Sinnen die „schwächste Empfindung" hervorbringe. Bei Condillac3 entwickelt die „Statue" das Sehen allein mit Hilfe des Tastsinns, womit das Gesicht dem viel wichtigeren Tastsinn untergeordnet wird, und Rousseau4 sagt vom Gesichtssinn: ,,la vue est de tous nos sens le plus fautif." „Kalt" nennt allerdings, soweit ich sehe, keiner von diesen das Gesicht, aber ihre Definitionen bewegen sich doch in der überbetont negativen Beurteilung des Gesichts in der Nähe dieses Begriffs. Daß Herder die Unzulänglichkeit des Gesichts mit „kalt" bezeichnet, liegt nun nicht nur daran, daß er — wie auch der junge Goethe! — die Antithese kalt-warm überhaupt bevorzugt, sondern an der besonderen Aufgabe, die er sich in seiner Sprachabhandlung gesetzt hat. Ihm kommt es allein darauf an, den Sinn herauszustellen, der „Fähigkeit zur Sprache" hat, d. h. der genug Wärme besitzt, um das Wunder des Sprache-Werdens verständlich zu machen. Die gewünschten Eigenschaften, über die das „kalte, gleichgiltige Auge" nicht verfügt, findet er allein in dem „mittleren Sinn", dem Gehör, der „eigentlichen Thüre zur Seele". Zwar ist auch das „Gefühl", der Tastsinn, für Herder „wärmer" als das Auge, aber doch nicht fähig zur Sprache. So ergibt sich die Scheidung zwischen kalten und warmen Sinnen bei Herder lediglich aus ihrer Beziehung zur Sprachbildung6. In welcher Bedeutung gebraucht nun der junge Goethe im Romanfragment das Wort vom „kältsten Sinn"? Daß er, lange vor der Bekanntschaft mit Herder, an dem Problem der Sinne, das die Zeit so stark beschäftigte, teilnahm, ist bezeugt. Er kannte Mendelssohns Abhandlung über die Emp1 a 3 4 s

Lettre sur les Sourds et Muets, Paris 1751 Über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen, 1751/52 Abhandlung über die Empfindungen, 1754, übers, v. E. Johnson, Leipzig 1870 Emile ed. Touquet, Paris, o. J., Livre II, S. 131 a. O. 64ff.

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findungen1, er hatte Rousseaus Emile und seinen Brief an Herrn v. Beaumont2 und wahrscheinlich auch Diderot gelesen. Auch die eifrige Lektüre Wielands, den er damals als einen „ächten Lehrer" anerkannte, wird ihm in poetischer Form Anregungen im Sinne des Sensualismus gegeben haben. So beschäftigt ihn der „kuriose Punkt", wo der Mensch nicht nur sieht, sondern auch erkennen lernt, was er sieht3, oder er nennt das Auge einen „gefährlichen Sinn", weil es zerstreuend wirkt, und behauptet, er „gäbe manchmal was drum blind zu seyn"4. Schon dieser Ausspruch zeigt, von welcher Seite aus Goethe an das Problem herangeht, und in dem ersten Brief von „Arianne an Wetty" wird diese Einstellung noch deutlicher : nur die psychologische Seite der Frage interessiert ihn. Es kommt ihm keineswegs darauf an, mit wissenschaftlichen Methoden die Erkenntnisfähigkeit des Auges zu untersuchen, sondern nur das Emotionelle des ganzen Fragenkomplexes berührt ihn. Es geht ihm darum: welche seelischen Erregungen kann das Auge vermitteln? Eng damit zusammen hängt eine weitere Frage: kann das Auge uns wahren Genuß verschaffen? Er findet die Antwort : nur „Erkänntniss"5, d. h. intellektuelle Freuden, vermag das Gesicht zu geben, es kann nicht wie Geruch, Geschmack und Gehör Genuß bereiten. In diesem Mangel an Genußfähigkeit ist das Auge nur „eine Vorbereitung der übrigen Sinne", und so kommt Goethe lediglich durch die Ausrichtung des Problems auf die Genußmöglichkeit auch zu einer Art von Rangordnung der Sinne, in der der Gesichtssinn auf der untersten Stufe rangiert. Denn er ist kalt. Alle diese Ausführungen spitzen sich aber auf die zentrale Frage zu : was leistet das Auge im Liebesleben? Hier kommt Goethe zu der seltsamen Einsicht: das, was man nur sieht, kann man „nie mit einem zärtlichen Herzen lieben". Also gerade auf diesem, für den jungen Goethe so wichtigen Gebiet, wo die Antithese warm-kalt sich, weit ungezwungener als bei Herder, wie von selbst ergibt, steht für Goethe das Versagen des kalten Gesichtssinnes fest. Die grundlegenden Unterschiede, die unsere Untersuchung zwischen Herders und Goethes Einstellung zu den Sinnen, im besonderen zu dem 1

Vgl. J G 2 1 , 3 4 3 Vgl. JG 2 1, 328; 2, 39 8 JG 2 2, 13; vgl. hierzu auch Bousseau a. 0 . 155: „il faut beaucoup de temps pour apprendre à voir." 4 JG 2 2, 4 5 Vgl. auch hier Bousseau a. O. 135: „Comme la vue est de tous les sens celui dont on peut le moins séparer les jugemens de l'esprit." 2

Die Datierung des ßomaniragments Arianne an Wetty

III

Gesichtssinn, ergeben hat, scheinen mir nun die Bedeutung der von Minor aufgezeigten Parallelstelle herabzudrücken, wenn nicht aufzuheben. Gedankliche Zusammenhänge zwischen Herder und Goethe bestehen so gut wie gar keine, das aus der Zeit übernommene Ideengut wird von beiden von ganz verschiedenen Standpunkten aus interpretiert. Es liegt also keine Notwendigkeit vor, das Ergebnis, das wir aus der Handschrift gewonnen hatten, zu revidieren. Das Fragment kann auch nach seinem geistigen Gehalt in der ersten Hälfte des Jahres 1770 entstanden sein, so wie die Handschrift es nahelegte. Aber auch noch andere Überlegungen scheinen mir für diesen Termin zu sprechen. Die ersten Datierungen des Bruchstücks von Schöll und E. Schmidt stützen sich auf die richtige Beobachtung, daß von den beiden uns erhaltenen Briefen deutliche Fäden zur Leipziger Zeit, vor allem zumKäthchen-Erlebnis, zurückgehen. Im besonderen wollte man dies bei dem zweiten der Briefe feststellen, der ja in seinem hilflosen Kokettieren mit freigeistigen Ideen unverkennbar auf Leipziger Erfahrungen zurückgreift. Aber auch der erste Brief schließt in geradezu überraschender Weise an Gespräche an, die Goethe mit Behrisch offenbar geführt hat, und von denen wir aus einem Brief vom 20. November 17671 einiges erfahren: „Wir haben oft geredet, warum sie [Käthchen] mich lieben möchte? Wir haben viel Stolz in ihren Bewegursachen zu finden geglaubt . . . Was meynst du Behrisch sollte es nicht bioser Stolz seyn, daß sie micht liebt." Das sind dieselben Fragen, die den Schreiber im Romanfragment beunruhigen, wenn er sie auch ein wenig anders beantwortet: „Nein Wetty, unsere Empfindungen liegen tiefer, als daß man sie mit einer superficiellen Erkänntniss, so kavalierement durch Stolz und Eigennutz erklären könnte." Diese Übereinstimmungen knüpfen das Fragment noch fester, als man es bisher annahm, an das KäthchenErlebnis. Daß der Loslösungsprozeß von dieser Jugendliebe Goethe besonders schwer geworden ist, ist bekannt, erfüllte er doch als zentrales seelisches Problem die Korrespondenz der darauf folgenden Frankfurter Jahre. Aber daß dieser Prozeß auch noch in Straßburg fortdauert, wird häufig übersehen. Ein Brief an Katharina Fabricius vom 27. Juni 17702 zeigt das aber aufs deutlichste. „Heute regnet's, und in meiner Einsamkeit finde ich nichts reitzenders als an Sie zu dencken: an Sie; das heisst zugleich an alle die Sie lieben, die mich lieben und auch sogar an Käthgen, von der ich doch weiss, dass sie sich nicht verläugnen wird, dass sie gegen meine Briefe seyn wird,. 1 2

JG 2 1,199 JG 2 2, 5

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was sie gegen mich war, und dass sie — Genug, wer sie auch nur als Silhouette gesehn hat, der kennt sie." Eine gewisse Beunruhigung bedeutet also Käthchen nach wie vor. Eine dichterische Gestaltung der mit ihr verbundenen Probleme wäre demnach innerhalb der ersten Straßburger Monate durchaus denkbar, und es fragt sich, ob diese Annahme durch irgendein bestimmteres Zeugnis an Glaubwürdigkeit gewinnen könnte. Ein solches Zeugnis scheint mir nun in einem an Langer gerichteten Brief vorzuliegen, der am 29. April begonnen und am 11. Mai fortgesetzt wurde und der uns nun unmittelbar in die Zeit der Entstehung von „Arianne an Wetty" führen könnte1. Denn in ihm klingen Motive an, denen wir im Romanfragment wieder begegnen. Aus einer weichen Frühlingsstimmung heraus werden sowohl der persönliche wie der romanhafte Brief geschrieben. Der Schreiber in „Arianne an Wetty" findet, in -der Frühlingssonne sitzend, das schöne Bild von der Wonne des Atemholens, das dem Wesen der Liebe entspricht, und dem Freunde Langer versichert Goethe: „wenn's in Ihrem Herzen, lieber Freund, dabey auch so Frühling ist wie in meinem, so haben Sie weder über die grose noch über die kleine Welt zu klagen, so wenig als ich." Beide Schreiber haben sich nach schwerer Leidenschaft zu einer künstlichen Ruhe des Herzens durchgerungen. An Langer heißt es: „Ich binn nun hier, und wohl, und so vergnügt als man seyn kann wenn man ruhig ist" und später: „ich binn auch nicht bewegter als ein Teich bey einem stillen Abend Regen." Im zweiten Brief des Fragments aber steht: „Ich binn ruhig, wie er [der Freund] bewegt ist, und doch war eine Zeit da ich bewegter war als er ist." An Stelle der eigenen Erregung treten hier wie dort die Liebesnöte des Freundes. Goethe fragt Langer: „wie stehts mit Ihrer Flamme Langer? Fürchten Sie nichts? Oder sind Sie in dem Zustand nichts mehr zu fürchten." Selbst das Motiv des „Stolzes", der in der Liebe „unwürcksam" würde, taucht in dem Schreiben an Langer auf. Mögen die eben angeführten Gründe, das Romanfragment dem Frühjahr 1770 zuzuweisen, noch nicht zum Beweise ausreichen, so spricht nun für unsere Vermutung noch ein psychologisches Moment von ganz besonderem Gewicht: es betrifft das Verhältnis Goethes zu Friederike. Der erste Besuch Goethes in Sesenheim findet Anfang Oktober statt. Mit ihm setzt die endgültige Lösung von Käthchen ein. Und während des sich nun entfaltenden neuen Liebeserlebnisses sollte Goethe eine innere Notwendigkeit dazu getrieben haben, die nun erledigte Leipziger Problema1

Zimmermann S. 26ff.

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tik künstlerisch noch einmal zu gestalten? Eine solche Vorstellung, die jeglicher psychologischen Einsicht entbehrt, muß entschieden abgelehnt werden. Keine noch so bestechende Parallele kann sie glaubhaft machen. Man vergleiche nur die Stimmung von „Arianne an Wetty" mit der der Sesenheimer Briefe. Statt pseudo-gelehrter Reflexionen und seelischer Hilfskonstruktionen wie im Romanfragment spricht hier ein Liebender, der auf Gedeih und Verderb der neuen Leidenschaft ausgeliefert ist. In dieser von Grund aus gewandelten inneren Lage ist aber ein literarisches Kokettieren mit den Problemen einer versunkenen Epoche bei Goethe schlechthin undenkbar. So bliebe es uns nur noch übrig, die von Minor aufgezeigte Parallelstelle, die die Datierung von „Arianne an Wetty" seit 75 Jahren bestimmt hat, für eine zufällige zu erklären, es sei denn, daß es noch einmal gelingen würde, eine gemeinsame Quelle für Herder und Goethe nachzuweisen. Dem Vorwurf, unsere Untersuchung liefe so am Ende doch nur auf eine Art Verlegenheitslösung hinaus, hoffe ich durch meine Beweisführung zuvorgekommen zu sein. Auch sind derartige sprachliche Zufälligkeiten innerhalb einer bestimmten geistigen Schicht weit häufiger, als man gemeinhin annimmt1. Ein sehr lehrreiches Beispiel innerhalb der Goethe-Philologie bieten hierfür die „Frankfurter Gelehrten Anzeigen" und die Geschichte ihrer Bearbeitung2. Hier führte die übermäßige Bewertung von Parallelstellen zunächst zu schweren Fehlschlüssen, bis man erkannte, daß derartige sprachliche Übereinstimmungen in einem Kreis, wie ihn die Mitarbeiter der Zeitschrift darstellten, sehr wohl möglich sind. In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch einmal auf Wieland zurückkommen, dessen sprachlicher Einfluß auf den jungen Goethe für die in Frage kommende Zeit feststeht3. Wenn wir bei Wieland auf Wendungen treffen wie: etwas „mit K a l t s i n n ansehen" oder die Rede ist vom „ K a l t s i n n beim A n blick der Not4, so führen uns solche Formulierungen in die unmittelbare Nähe der Definition: „das Sehen ist der kälteste Sinn." So denke ich, ist es gelungen, die von Minor aufgedeckte Parallele, durch die das Fragment 1

Vgl. dazu E. Schmidt, Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt 61905 S. XXII, wo eine Sammlung von irreleitenden Parallelstellen gegeben wird. 2 Vgl. M. Morris, Goethes und Herders Anteil an dem Jahrg. 1772 der Frankfurter gelehrten Anzeigen, 1.—3. Aufl., Stuttgart — Berlin 1909. 1912. 1915; Bräuning-Oktavio, Beiträge zur Geschichte und Frage nach den Mitarbeitern der Frankfurter gelehrten Anzeigen vom Jahre 1772, Darmstadt 1912; O. Modick, Goethes Beiträge zu den Frankfurter gelehrten Anzeigen von 1772, Borna-Leipzig 1913. 3 "Vgl. Seuffert, Der junge Goethe und Wieland, Ztschr. f. dtsch. Altertum 26, 252fF. 4 Vgl. Grimms Wörterbuch unter „Kaltsinn"

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von „Arianne an Wetty" an das Ende des Jahres 1770 gerückt wurde, von allen Seiten so einzukreisen, daß die aus ihr sich ergebende Datierung nicht mehr haltbar erscheint. Die Handschrift spricht, wie wir sahen, für eine Niederschrift zwischen Februar und Juli 1770, der gedankliche Gehalt der Briefe, die für Goethe typischen Modifikationen eines Zeitproblems, lösen das Bruchstück aus der einseitigen Abhängigkeit von Herder und die persönliche Situation Goethes in den ersten Straßburger Monaten zeigt noch die zur poetischen Konzeption notwendige Bindung an die Leipziger Erlebnisse, die nach dem Oktober nicht mehr vorausgesetzt werden kann. So wird das Romanfragment „Arianne an Wetty" in der ersten Hälfte des Jahres 1770, vermutlich im Frühjahr, entstanden sein.

5. T e x t k r i t i s c h e B e m e r k u n g e n zu Arianne an W e t t y und dem Aufsatz Uber das, was man ist Im zweiten Band seines „Jungen Goethe"1 erweitert Morris den Text des Romanfragments „Arianne an Wetty", das uns in einem alten Konzeptheft der Straßburger Zeit vorliegt2, um einige Zusätze, die aus dem Tagebuch Lavaters vom Sommer 1774 stammen. Während Goethe den Jugendroman weder in einem der uns erhaltenen Briefe3 noch in „Dichtung und Wahrheit" erwähnt, zitiert ihn Lavater zweimal im Tagebuch, einmal als „Ariane an Wetty" und ein andermal als „Arianne". Am 16. Juli 1774 schreibt Lavater: Las von Goethe A r i a n e a n W e t t y .

Auf diese Bemerkung folgen sechs in Anführungsstriche gesetzte Zitate aus der Lektüre4: „Bas Lachen ist der Empfindung feindseliger als die Kälte dem May." — „Lieber schlimm aus Empfindung als gut aus Verstand." „Wie die Sicherheit des Ausdrucks dem Gedanken des Redners Flügel giebt, so die Musick der Empfindung." „Was ist die Harmonie anders, als die Regeln und die Melodie anders als die Ausübung." „Die ganze Natur ist eine Melodie, in der eine tiefe Harmonie verborgen ist." „Ich bin vergnügt; ich bin glücklich! Das fühle ich, u. doch ist der ganze Inhalt meiner Freude ein wallendes Sehnen nach etwas, das ich nicht habe, nach etwas, das ich nicht kenne."

Am 17. Juli wird der Roman noch einmal angeführt: . . . Tagbuch — Bett — Arianne — schlief ein — mit allen Schrecken des Entsetzens über meine kalte, trockne Gefüllosigkeit und wilde Undankbarkeit. 5

Dieser Erwähnung von „Arianne" läßt Lavater diesmal keine Zitate folgen. Morris aber fügt den oben wiedergegebenen sechs Zitaten, die ohne Zweifel zu „Arianne an Wetty" gehören, noch weitere drei hinzu: 1

J G 2 2, 54; ihm folgt Beutler, Artemis-Gedenk-Ausg. 4, 266 138,223 3 Es sei denn, daß die Bemerkung in dem Brief an Kestner vom 12. J u n i 1773 ( J G 2 3 , 4 7 ) : „schreibe Dramata, und Romanen und dergleichen" sich mit auf das Romanfragment bezieht. 4 Ich folge hier einer genauen Abschrift, die die Zentralbibliothek, Zürich, dankenswerterweise für die Akademie-Ausgabe anfertigen ließ. Die Texte, die Funck (GJb 20, 268; SchrGG 16, 299; Nord und Süd 91, 57) gibt, sind nicht zuverlässig. s Ob die letzte Bemerkung den Eindruck der Lektüre von „Arianne" wiedergibt, ist nur zu vermuten. 2

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Wenn das Herz das Gute freywillig annehmen kann, so findet es sich immer eher, als wenn man ihm aufdringen will. Man adoptirt einen Gedanken, eine Meynung eines Freundes, ohne dran zu denken, da man gegen die herrlichste Sentenz einer Strafpredigt einen unüberwindlichen Widerwillen fühlt. Ja der Haß gegen die Hofmeister ist ein ewiges Grundgesetz der Natur.

Es fragt sich nun, ob Morris im Recht war, den Text des Romanfragments durch diese Zusätze zu erweitern. Woher stammen sie? Am 15. Juli, also einen Tag, bevor Lavater zum ersten Male von seiner Arianne-Lektüre berichtet, heißt es im Tagebuch: . . . dann zu Basedow, und er las uns einen herrlichen Aufsatz von Goethe über das, was man ist. Leßing ist nichts u. alles was er seyn will . . . Diesen Aufsatz in den Schönenhof.

Am 16. Juli, also am Tage der Arianne-Lektüre, kommt Lavater wieder auf diesen Aufsatz zu sprechen: . . . Auf Y2II Uhr — noch aus dem Aufsatz: „wenn das Herz das Gute freywillig annehmen kann, so förderts sich immer mehr als wenn man ihm aufdringen will. Man adoptirt einen Gedanken, eine Meynung eines Freundes, ohne dran zu denken, da man gegen die herrlichste Sentenz einer Strafpredigt einen unüberwindlichen Widerwillen fühlt. Ja der Hass gegen die Hofmeister ist ein ewiges Grundgesetz der Natur."1

Über den Sachverhalt läßt Lavater uns also nicht im unklaren: es handelt sich hier um den Bericht von einem uns verlorengegangenen A u f s a t z Goethes „Über das, was man ist", den Basedow am 15. Juli Lavater vorliest. Lavater aber bekommt offenbar das Manuskript mit, macht sich daraus am 16. Juli Notizen und schickt es zu Barbara Schultheß in den Schönenhof nach Zürich. Unbegreiflicherweise hatte nun schon Funck2 unter dem hier genannten „Aufsatz" das Romanfragment „Arianne an Wetty" verstanden, obwohl er sich wunderte, daß Lavater, der den „Werther" richtig mit „einer Geschichte in Briefen", den „Ewigen Juden" als „ein Ding in Knittelversen" und „Erwin und Elmire" als „Operette" bezeichnete, im Falle des Romanfragments eine so irreführende Bezeichnung wie „Aufsatz" gebraucht hätte. Der Irrtum liegt aber keineswegs, wie man sieht, bei Lavater, sondern allein bei Funck, dem Morris sich unkritischerweise anschloß. Wenn es so gelungen ist, die von Lavater vermittelten Zitate zwischen „Arianne an Wetty" und dem Aufsatz „Über das, was man ist" nach seinen unzweideutigen Angaben aufzuteilen, so müssen wir nun an die Frage 1 1

Die richtige Lesung bei Funck nur G Jb 20, 268 GJb 20, 268

Textkritiecho Bemerkungen zu Arianne an Wetty

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herantreten, ob diese, durch Lavater bezeugten Zitate uns etwas Näheres über das Romanfragment und den Aufsatz aussagen können. Was zunächst die zum Romanfragment gehörenden Aussprüche betriflFt, so bin ich mit Beutler1 der Ansicht, daß sie in „innerem Gegensatz" zu den erhaltenen Briefen des Straßburger Konzeptheftes stehen, mit anderen Worten sicherlich jüngeren Datums sind. Es herrscht, gedanklich und formal, ein sehr viel freierer, gelösterer Ton in den Zusätzen, der zu den rational gebundenen alten Aufzeichnungen in keiner Weise mehr passen will. Anschauungen von Sturm und Drang und seine Terminologie haben sich bereits durchgesetzt. Vor allem in dem letzten Zitat: „ich bin vergnügt; ich bin glücklich! . . tritt uns ein seelisches Geständnis entgegen, das in die Atmosphäre der Wertherbriefe gehört. Wie weit der wieder aufgenommene Romanentwurf die alten Briefe verwertet hat, wie sein beabsichtigter Plan und seine Tendenz war, können wir aus den spärlichen uns erhaltenen Resten nicht mehr entnehmen. Daß es sich um ein schon weit fortgeschrittenes Manuskript gehandelt hat, scheint mir aus der Tatsache hervorzugehen, daß Lavater sich zweimal mit seiner Lektüre beschäftigte. Auch werden hier vermutlich zentrale Probleme des Sommers 1774 abgehandelt worden sein, da die Handschrift von Goethe für wert gehalten wurde, neben der des „Werther", des „Clavigo" und des „Ewigen Juden" mit nach Ems genommen zu werden. Wie schon Beutler2 annahm, wird mit dem Verlust des Manuskripts ein wichtiges Zwischenglied zwischen dem Straßburger Goethe und dem Goethe der Wertherzeit für uns verlorengegangen sein. Bei dem Aufsatz „Über das, was man ist" können wir nun schon aus dem Titel auf ein psychologisches Thema schließen, und die uns erhaltenen Bruchstücke bestätigen diese Vermutung. Schon aus der psychologischen Fragestellung heraus sind wir berechtigt anzunehmen, daß die Abfassung frühestens Ende 1772, vermutlich erst 1773/74 erfolgt ist, denn erst nach dem Wetzlarer Erlebnis stehen derartige Probleme im Mittelpunkt von Goethes Interesse und verdichten sich dann schließlich im „Werther". Mit Hilfe unserer Fragmente läßt sich der psychologische Gehalt des Aufsatzes sogar noch enger bestimmen, wenn auch die von Lavater ausgewählte Stelle nur einen kleinen Ausschnitt wiedergibt. In den drei erhaltenen Sätzen handelt es sich um eine psychologisch-pädagogische Frage und so wird es wohl kein Zufall gewesen sein, wenn Goethe diesen Aufsatz, wie wir aus Lavaters Tagebuch erfahren, zunächst nicht Lavater, sondern dem 1 2

Artemis-Gedenk-Ausg. 4, 1060f. a. O. 1061

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andern berühmten Kurgast in Ems, dem Pädagogen Basedow, gegeben hatte, durch den Lavater ja den „herrlichen Aufsatz" erst kennenlernte. Die zentrale Frage der Zitate ist: wie reagiert der Mensch, wenn er sich freiwillig entscheiden kann? Unter welchen Bedingungen nimmt er von anderen Gedanken und Meinungen willig auf? Wann aber leistet er Widerstand? Die Antwort lautet, ganz im Sinne von Sturm und Drang: jeder seelische Prozeß muß sich in Freiheit entwickeln können. Zugespitzt erscheint diese Überzeugung im letzten Satz: „Der Haß gegen die Hofmeister ist ein ewiges Grundgesetz der Natur." Zur Ostermesse 1774 war der „Hofmeister" von Lenz erschienen1, der mit den Worten schließt: „Wenigstens, mein süßer Junge, werd' ich dich nie durch Hofmeister erziehen lassen." Wir befinden uns also mit unseren Fragmenten in dem für Sturm und Drang typischen Problemkreis. Auch die bedeutsamen Worte über Lessing, dessen Persönlichkeit und Leistung als das Resultat eines Willensaktes aufgefaßt wird, paßt sich dem Rahmen der Sturm-und-Drang-Psychologie an. Alle diese in den Fragmenten aus dem Aufsatz geäußerten Urteile sind, vom Standpunkt des Jahres 1774 aus gesehen, extrem modern und so geht man vielleicht nicht zu weit, wenn man hinter dem Aufsatz „Über das, was man ist" eine Art Programmschrift von Sturm und Drang, und zwar auf psychologisch-pädagogischem Gebiet, vermutet. Im Gegensatz zu gelegentlichen pädagogischen Bemerkungen im „Götz" und in „Erwin und Elmire" übt Goethe hier nicht nur an der bestehenden Pädagogik Kritik, sondern er stellt in der Form einer Abhandlung das psychologische „Grundgesetz der Natur" auf: jede Erziehung muß von dem Drang des Menschen nach freier Willensbetätigung ausgehen. So hat uns die Reinigung des Textes von „Arianne an Wetty" noch ejnen zusätzlichen, nicht unwesentlichen Gewinn gebracht. Wir haben mit Hilfe der Lavaterschen Aufzeichnungen einen zwar sehr bescheidenen, aber charakteristischen Text für den verlorengegangenen Aufsatz Goethes „Über das, was man ist" gewinnen und ihn als typisches Produkt der Sturm-undDrang-Zeit erkennen können. 1

Vgl. JGS 4,14

6. Zu G o e t h e s K o r a n - A u s z ü g e n Seit Minors grundlegenden Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte von Goethes Mahomet1 war man allgemein der Meinung, Goethe sei in seinen Koran-Auszügen — mit Ausnahme der VI. Sura, wo er ausdrücklich Marraccius2 als Quelle angibt — ausschließlich Megerlins „Türkischer Bibel" gefolgt3. Mir scheinen nun auch für die Excerpte aus der X. Sura dieselben Bedingungen wie für die VI. Sura vorzuliegen, ohne daß Goethe hier Marraccius nennt. Diese Abhängigkeit kann aber nur deutlich werden, wenn man sich zunächst über das Verhältnis Goethes zur Megerlinschen Übersetzung klar wird, wenn man das Prinzip erkannt hat, nach dem er die Auszüge aus Megerlin machte. Daß Goethe bei den Excerpten eigene Rechtschreibung und Interpunktion brauchte, spielt in unserem Zusammenhang ebenso wenig eine Rolle, wie daß er ausgesprochene Dialektformen wie „förchten", „Glaubige" usw., die er bei Megerlin fand, vermied. Wichtiger ist, was und wie er excerpierte, daß er nie mechanisch abschrieb, sondern das für ihn Wesentliche auswählte. Dabei läßt er nicht nur nebensächliche Worte wie „ja", „gewiß", „warlich", „auch" aus, sondern überspringt ganze Sätze und Abschnitte4, die dann zuweilen durch „pp"6 oder durch Gedankenstriche6 angedeutet werden. In der Eile des Excerpierens, die gegen den Schluß noch zunimmt, bevorzugt Goethe verkürzte Formen gegenüber volleren bei Megerlin7. Trotz dieser Veränderungen besteht aber eine auffallende Abhängigkeit von Megerlins Text. Das, was Goethe bringt, bringt er nahezu wörtlich und versucht gar nicht, den Wortlaut der „Türkischen Bibel" in seine eigene Sprache zu übersetzen. Ganz wenige und unwichtige stilistische Abweichungen lassen sich feststellen: so in Sura XVII „zulegen" für „beylegen", und bei dem Excerpt von Sura XXIX, das offenbar sehr flüchtig gearbeitet 1

J. Minor, Goethes Mahomet, Jena 1907 Mohammedis Filii Abdallae . . , Lipsiae 1721 s D. F. Megerlin, Die türkische Bibel oder des Korans allererste teutsche Übersetzung aus der Arabischen Urschrift.., Frankfurt am Mayn 1772; vgl. Saran, Goethes Mahomet und Prometheus, Halle 1914, 5f.; JG 2 6, 293; I 53, 479 1

4 Sura II 109. 159. 166. 172; Sura H I 138. 174; Sura IV 142; Sura V 101; Sura XVII 80. 81; Sura X X I X 4 7 . 4 9 5 6 7

Sura II 159 Sura. IV 142; Sura V 101; Sura I X 73; Sura XVII 80

u.a. Sura II 159 Tags st. Tages; 172 Darinn besteht st. Darinnen bestehet; kriegrisch st. kriegerisch; Sura IV 142 lässt st. lässet; Sura X X I X 47 vorher st. vorhero.

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ist1, „Zeichen" für „Wunderzeichen" und „offenbarer Prediger" für „öffentlichen Prediger"2. Nur in Sura X scheint mir die Abhängigkeit von Megerlin gelockert, wenn nicht aufgehoben zu sein3. Ich gebe zur klareren Übersicht die drei Texte von Marraccius, Megerlin und Goethe im Paralleldruck: Marraccius

Megerlin

Sura X . J o n a s . D a s 10. Capitel. J o n a s . 11. Precatio eorum in illis 10. Ihr Gebett wird darinnen erit: Laus tua o Deus. Et seyn: Lob seye dir, o Gott! consalutatio eorum in ipsis Und ihre Begrüssung gegenerit: Pax. Et finis preca- einander wird seyn: Friede! tionis erit: Laus Deo, Do- 11. Und das Ende ihres Gemino seoulorum. betts wird wieder seyn: Lob seye Gott dem Herrn aller Geschöpfe!

Goethe Sura X J o n a s V. 10. Ihr Gebet wird seyn: E h r e sey Gott! Und ihr Gruss gegen einander: Friede. Ihr Gebet wird e n d i gen: E h r e sey Gott dem Herrn der E w i g k e i t e n .

Es scheint, daß Goethe bei dem Excerpt von Sura X die Geduld verloren hat, sich der steifen und holprigen Übersetzung Megerlins zu fügen. Jedenfalls finden wir hier die stärksten Abweichungen von Megerlin in Wortwahl und -Stellung. So entsteht hier ein typisch Goethescher Rhythmus. Man vergleiche nur die Worte: „Lob seye dir, o Gott" bei Megerlin mit Goethes „Ehre sey Gott!" Daß es sich aber nicht nur um eine selbständigere Bearbeitung der Megerlinschen Vorlage handelt, sondern Goethe eich hier — bei aller Freiheit der Übersetzung4 — nach Marraccius gerichtet hat, beweist wohl die Übertragung „Ewigkeiten" für „seculorum", während Megerlin „Geschöpfe" setzt. So verleugnet der junge Goethe auch bei einer so unselbständigen Arbeit, wie es die Koran-Auszüge ihrer Natur nach sind, nicht völlig seine sprachliche Eigenart und Empfindlichkeit, die es ihm auf die Dauer unmöglich machen, sich einem fremden und heterogenen Stilgefühl anzupassen. Dort, wo Megerlin ihm nicht genügen konnte, entschloß er sich zu einer eigenen Übersetzung des Marraccius. 1

Die Inhaltsangabe „Fürtrefflichkeit" paßt nicht zu dem angegebenen Vers. Vgl. Minor a. 0 . 107 Anm. 4. Es liegt hier aber kein Fehler von Schöll, Briefe und Aufsätze von Goethe aus den Jahren 1766—1786, Weimar 1846, 149, vor, ebensowenig vergaß Schöll die Angabe „Sura IX", sondern die beiden Fehler finden sich in der Goetheschen Handschrift, die Minor nicht vorlag. 2 Marraccius: Praedicator manifestus 3 Nur in der Verszählung folgt Goethe Megerlin. * Auch die Übertragung der Sura VI nach Marraccius ist ausgesprochen frei.

7. Die Prometheushandschriften Das Prometheusfragment gehört zu den problematischsten Arbeiten des jungen Goethe. Hier soll nun nicht versucht werden, die weltanschaulichen und persönlichen Hintergründe der Dichtimg aufzuhellen1, sondern es soll lediglich aus der Originalhandschrift heraus ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Fragments gegeben werden. Wir befinden uns beim Prometheus in der günstigen Lage, sowohl eine Originalhandschrift (H) des jungen Goethe als auch drei wichtige Abschriften, eine von seinem Jugendfreunde M. R. Lenz (H2)2 und zwei von Luise von Göchhausen (H3, H 4 ) 3 zu besitzen. Die Originalhandschrift, von der Universitäts- und Landesbibliothek Straßburg aus dem Nachlaß Frau von Steins erworben, stand mir nicht zur Verfügung, sondern nur eine Photokopie im Goethe- und Schiller-Archiv. Die Beobachtungen, die ich an ihr gemacht habe, hat auf meine Bitte die Straßburger Bibliothek in bereitwilligster Weise am Original nachgeprüft und ihre Richtigkeit bestätigt. Als Erich Schmidt4 das Prometheusfragment 1880 zum erstenmal nach der Handschrift herausgab, fiel ihm schon der Wechsel der Schriftzüge innerhalb von H auf und Heß ihn vermuten, daß die Niederschrift „vielleicht mehrere rasch aufeinander folgende Stadien der Entstehung" gehabt habe. Allerdings ist der häufige Wechsel im Duktus, in der Aufteilung der Seite, in der Größe der Buchstaben auffallend, und so unterscheidet sich diese Handschrift ausgesprochen von anderen Jugendhandschriften Goethes, etwa von der der,,Mitschuldigen", des„Mahomet" oder der von „Götter, Helden und Wieland". Ein Wechsel nur von Feder und Tinte erklärt diese Abweichungen nicht genügend, sondern es läßt sich aus ihnen wohl eindeutig feststellen, daß wir es hier mit einer von größeren Pausen unterbrochenen Niederschrift zu tun haben. Es fragt sich nun, ob aus dieser optischen Beobachtung auch Schlüsse auf die Entstehungsgeschichte des Fragments möglich sind. 1

Vgl. hierüber Franz Saran, Goethes Mahomet und Prometheus, Halle 1914; Julius Richter, Zur Deutung der Goetheschen Prometheusdichtung, JbDH 1928, 65ff.; ders., Eine neue Erklärung der Prometheusdichtung Goethes, GRM 18, 1930, 269ff.; Cäsar Cierjacks, Gehalt und Gestalt von Goethes Prometheus-Fragment, Diss. Hamburg 1929 2 8 4

139, 433: H 1 I 39, 434: H s , H 2 ; H 2 H s H 4 im GSA Prometheus. Nach der Straßburger Handschrift, GJb 1, 1880, 290ff.

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Besonders auffallend ist der Wechsel im Duktus nach V. 8 9 a l s o nach der Szene: Prometheus—Epimetheus, und mit Beginn des zweiten Aktes (V. 206)2, in dem dann wieder die Verse 275—314, d. h. die Szene: Zwey andre Männer, eine besondere Rolle spielen. Daß den ersten und zweiten Akt eine Schreibpause trennt, scheint mir sicher. Ob sie groß genug war, um eine innere Entwicklung des Dichters von der individuellen Geniemoral zur Anerkennung des Gesetzes (Jupiter-Szene!) zu fassen, wie H. M. Wolff 3 sie zwischen den beiden Akten annimmt, kann zwar aus H nicht bewiesen werden, aber das Schriftbild widerspricht auch in keiner Weise dieser Hypothese, sondern könnte sie nur stützen. Nur über die Szene „Zwey andre Männer" läßt sich Bestimmteres sagen. Die Handschrift H besteht aus neun Quartblättern, Goethe hat sie eigenhändig mit Tinte bis Seite 11, d. h. bis zur Vorderseite von Blatt 6, durchpaginiert, die Rückseite von Blatt 6 und die Vorderseite von Blatt 7 bei der Paginierung aber übersprungen4. Er fährt mit der eigenhändigen Paginierung auf der Rückseite von Blatt 7 bis zum Schluß des Manuskripts mit der Zählung: 12—15 fort. Auf den übersprungenen Seiten hat nun eine spätere Hand (Lenz?) mit Bleistift die fehlenden Seitenzahlen 12*, 13* eingetragen5 und unter Goethes wieder mit Seite 12 einsetzender Paginierung die sich nun ergebenden Zahlen 14*—17* geschrieben. Auf den beiden von Goethe bei der Paginierung übersprungenen Seiten steht nun die vollständige Szene „Zwey andre Männer", und zwar in einer Handschrift, die sich auffallend vom Duktus der vorangehenden Seite 11 und der Seiten 12—15 unterscheidet, die wiederum unter sich einen einheitlichen Schriftcharakter tragen. Offenbar hatte Goethe also bei der Niederschrift die Seiten 12*, 13* freigelassen, und zwar nicht nur, um sich, wie es seine eingestandene Eigentümlichkeit war, auf die Hauptszene, Prometheus-Pandora, zu werfen, sondern — das scheint mir gerade das Überspringen der Seiten zu zeigen — weil er sich über die Notwendigkeit dieses Auftritts noch nicht völlig im klaren war. In der Szene „Zwey andre Männer" wird nämlich das Thema der „Urprobleme", das schon in dem vorhergehenden Auftritt „Thal am Fusse des Olympus" angeschlagen war, nur erweitert: der Begriff des Eigentums wird durch den Streit um die 1

Zählung nach GJb 1, 293ff. Vgl. E. Schmidt a. O. 303: „Der zweite Ackt später geschrieben; es braucht sich ja nur um Tage zu handeln." 3 Goethes Weg zur Humanität, München 1951, 132 1 Vgl. die nicht ganz genauen Angaben in 1 6 9 , 433 5 Setzung der Sternchen von mir a

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Ziege, den Kampf, den Diebstahl und die Verwundung des einen der Männer wieder aufgenommen, Prometheus als Schiedsrichter und als medizinischer Berater seiner Geschöpfe gezeigt und so als Menschheitsführer 1 stärker herausgearbeitet. Trotz dieser Steigerung enthielt die Szene die Gefahr einer gewissen Wiederholung, und so ist es durchaus verständlich, daß Goethe sich vor der Ausführung scheute und daher die beiden Seiten zunächst nur f ü r sie reservierte, ohne sich durch eine Seitenzahlangabe festzulegen. Er befolgte hier also eine Methode, wie sie E. Schmidt 2 f ü r den Urfaust schon annahm und wie wir sie auch aus späteren Reinschriften Goethes, wie z. B. zu Faust II, kennen. Aber noch weitere Aufschlüsse über die Entstehungsgeschichte des Fragments vermag uns die Handschrift zu vermitteln, und zwar durch ihre Korrekturen. Wir finden in H eine Reihe von Änderungen, Zusätzen und Streichungen, die handschriftlich keinen einheitlichen Charakter tragen 3 . Man kann — schon nach der Photokopie — feststellen, daß ein Teil der Korrekturen, der sich über Akt I und I I erstreckt, in Tinte und Duktus der Handschrift des Manuskripts entspricht, also wohl während der Niederschrift oder unmittelbar darauf entstanden ist, während andere Änderungen — und sie sind auf Akt I beschränkt — in dunklerer Tinte ausgeführt sind und sich deutlich im Duktus von dem der Handschrift absetzen. Wir haben es also offenbar hier mit zwei K o r r e k t u r s c h i c h t e n zu tun. Die erste Schicht, als ursprünglich zu H gehörend, braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Wichtiger ist die zweite. Sie betrifft die Verse 4 : Und Geh! Ich diene nicht Vasallen. (47) Sich all ein innig ganzes fühlten. (86) Immer als wenn meine Seele spräche zu sich selbst! ( < zu sich selbst spräche) (104) Für sie! Bin ich für sie. (133) Mir ( < Mich) Labsaal ergossen. (180)

Die Korrekturen V. 47, 86, 104 gleichen, wie man sieht, rhythmische Unebenheiten aus, V. 133 ist neu eingesetzt, um den Protest Prometheus' noch mehr zu steigern6, in V. 180 handelt es sich nur um die Verbesserung eines Schreibfehlers. Von diesen Änderungen, die wir als eine zweite Korrekturschicht erkannt haben, wußte die Textgeschichte bis zur Veröffentlichung der Originalhand1 2 3 4 8

Vgl. J. Richter, JbDH 1928, 94 Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt, Weimar '1905, X Vgl. E. Schmidt a. O. 292 Das kursiv Gesetzte zeigt die Korrekturen an. Vgl. dagegen GJb 1, 299 Apparat

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schrift durch E. Schmidt nichts. Denn als Goethe das Prometheusfragment 1830, in der Ausgabe letzter Hand (C), zum ersten Male drucken ließ, ging er nicht auf H zurück, das nicht mehr in seinem Besitz war, sondern auf die Kopie von M. R. Lenz (H1), die ihm 1819 durch Seebeck zugeschickt worden war1. U n d in dieser A b s c h r i f t f e h l t e die z w e i t e K o r r e k t u r s c h i c h t , und somit ist sie auch in keine der von ihr abhängigen Ausgaben aufgenommen worden. Aus dem Fehlen dieser Schicht in Lenzens Kopie ergibt sich nun mit Sicherheit, daß Goethe den ersten Akt des Fragments noch einmal überarbeitet hat, n a c h d e m Lenz seine Abschrift genommen hatte. Als nun die Originalhandschrift wieder auftauchte, fällte man über Lenz als Abschreiber ein hartes Urteil. Sowohl E. Schmidt als auch der Herausgeber des „Prometheus" in der Weimarer Ausgabe, Rudolf Henning, gingen von der falschen Voraussetzung aus, Lenz habe die Originalhandschrift mit allen Korrekturen vorgelegen, und es sei nur ein neuer Beweis für seine Flüchtigkeit, daß die betreffenden Änderungen in H 1 fehlten. — Nun ist Lenz gewiß kein vorbildlicher Abschreiber gewesen. Er behält seine eigene Rechtschreibung im Ganzen bei, setzt sehr selten Interpunktionszeichen, und man kann ihm einige erhebliche Fehler nachweisen2. Die Verse 47, 86, 104, 180 aber schrieb er korrekt ab 3 . Er „überging" also nicht und ließ nicht „außer Acht", wie Henning tadelt, sondern er fand in seiner Vorlage die Korrekturen der zweiten Schicht nicht vor4. Die Weimarer Ausgabe setzte nun die, wie sie meinte, von Lenz übersehenen Korrekturen nach H wieder ein, nur nicht das „all" in V. 86 mit der nicht überzeugenden Begründung, Goethe hätte „das pleonastische 'all' seiner Jugenddichtungen" später zu tilgen gepflegt®. Es muß selbstverständlich wieder eingefügt werden, wie dies auch schon Morris getan hat 6 . Leider fehlt uns nun das Material, um Lenzens Kopie genauer datieren und damit einen terminus post quem für die Überarbeitung des Fragments gewinnen zu können. Der Briefwechsel Goethe-Lenz aus dieser Zeit, der wohl Aufschluß geben könnte, ist verloren. Wir wissen aus dem Brief 1

Vgl. Seebeok an Goethe. 1. Juni 1819 (GSA Eing. Br. 1819, 164), Goethe an Seebeck 5. Juni 1819 und 30. Dezember 1819 (IV 31, 170; 32, 134) 2 V. 108/109 übersprungen, V. 162 fehlt: nicht, V. 261 dir st. die 3 Selbst der grammatische Fehler (180) ist bei Lenz trotz leichter Rasur, aber ohne Korrektur, noch deutlich erkennbar. 4 Vgl. I 39, 436f. * I 39, 436 6 JG 2 3, 310

Die Prometheushandschriften

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Schönborns an Gerstenberg1, daß Anfang Oktober 1773 zwei Akte des Prometheus vorlagen. In demselben Jahr entstand auch Lenzens verschollene Schrift „Über unsere Ehe", von der Goethe in „Dichtung und Wahrheit"2 sagt, Lenz habe in ihr auf eine innigste Verbindung mit Goethe gedrängt: „So theilte ich ihm von nun an alles mit, sowohl das schon Gearbeitete als was ich vorhatte." Nur vermuten kann man, daß der Prometheus so schon im letzten Drittel des Jahres 1773 an Lenz geschickt worden ist. Vielleicht erhält diese Annahme noch eine Stütze durch Goethes Brief an Salzmann3, der — undatiert — auch dem Oktober 1773 zugeschrieben wird. Dort heißt es: „Lenz soll mir doch schreiben. Ich habe was für ihn aufm Herzen." Damit könnte der Prometheus gemeint sein4, für den Goethe bei Lenz mit Recht ein besonderes Interesse voraussetzen konnte6. Doch wir kommen über Vermutungen nicht hinaus. So bleibt es ungewiß, ob Goethes leichte Überarbeitung von H noch in die Zeit vor Weimar fällt. Jedenfalls fand Luise von Göchhausen die zweite Korrekturschicht vor, als sie den Prometheus zum ersten Male abschrieb. Diese Kopie (H2) gehört zu dem Sammelband6 von eigenhändigen und fremden Abschriften aus dem Nachlaß der Göchhausen, in dem sich auch der Urfaust vorgefunden hat. Die Kopie ist offenbar schnell hingeschrieben, die Schriftzüge wechseln häufig, die Flächenaufteilung erscheint wenig überlegt, inhaltlich aber erweist sich H 2 als eine sehr sorgfältige Wiedergabe des Originals mit gewissenhafter Beibehaltung der Eigentümlichkeiten der Handschrift in Orthographie und Interpunktion7. Daß die Göchhausen H direkt abgeschrieben hat, scheint mir daher sicher zu sein. 1

JG 2 3, 389 128, 250f. * JG 2 3, 57 1 E. Schmidt, Lenz und Klinger, Berlin 1878, S. 16 nimmt ganz allgemein die Jahre 1774/75 als Termin für die Abschrift an. Cierjacks a. O. 90 glaubt, daß Lenz 1774 „wohl bei Jacobi" den Prometheus abgeschrieben hat. 5 Daß Lenz Mitte des Jahres 1775 den Prometheus kannte, scheint mir aus einer Stelle des „Pandaemonium Germanicum" hervorzugehen (vgl. dazu Franz Blei, Lenz, Gesammelte Schriften, 3, 457). Dort fragt Lenz Goethe: „ . . . Wer bist du denn? G o e t h e : Ich bin hier geboren, Weiss ich, wo ich her bin. Wass wissen wir alle wo wir herstammen?" Diese Worte erinnern auffallend an Prometheus' Antwort (8/9): Was Vater! Mutter! Weissest du woher du kommst? 6 Jetzt im GSA 7 So wechselt Goethe in der Schreibung Olimpus und Olympus (64, 128), die Göchhausen schließt sich der jeweiligen Schreibung an; sie korrigiert Mädgen ( = H) < Mädchen (nach 52) und benutzt dieselben Abkürzungen wie etwa weibl. (nach 172). Die ungewöhnliche Form ensanck (333) kopiert sie genau. 2

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An schwerwiegenden Fehlern — abgesehen von denen, die durch den thüringischen Dialekt bedingt sind1 — finden wir nur: Mein Bruder2 statt Nein Bruder (61) fühlen statt fühlten (86) Verbrechen statt Verbrechern (229) stechen statt nehmen (276) Wir statt Dir (361) Ende des zweyten Theils statt Ende des zweyten Ackts (nach 412).

Neben den genannten Vorzügen weist H 2 auch noch den weiteren auf, lückenlos zu sein, und stellt somit der Kopistin ein gutes Zeugnis aus, so daß man E. Schmidts enthusiastischem Urteil 3 — er nennt die Kopie des Urfaust, allerdings ohne das Original zum Vergleich heranziehen zu können, ein „getreues Facsimile der Goetheschen Jugendschrift" — mit einigen Einschränkungen zustimmen kann. H 2 zeigt jedenfalls, daß die Göchhausen, wenn sie eine Originalhandschrift vor sich hatte, zuverlässig kopierte. Und so darf man auch wohl das günstigste Urteil auf die übrigen Abschriften der Göschhausen, auf die des Urfaust, des„Satyros" und des „Jahrmarktsfests zu Plundersweilern" ausdehnen, da wohl in allen Fällen eine Goethesche Handschrift die Vorlage war. Allerdings scheint die Sorgfalt der Göchhausen erheblich nachgelassen zu haben, wenn es sich um die Abschrift einer eigenen Kopie, wie in H 3 , handelt. Zwar meinte J. Wahle4, daß H 2 und H 3 von der gleichen Vorlage abgeschrieben wären, aber ein sorgfältiger Vergleich der beiden Kopien beweist, daß H 2 für H 3 die Vorlage war. Daß H 2 von H abgeschrieben war, konnten wir als sicheres Ergebnis feststellen. Nun weicht H 3 nicht nur an sehr vielen Stellen5 von H ab (was immer noch die Möglichkeit einer direkten Abschrift offen ließe), sondern es übernimmt auch die oben bei H 2 genannten Abschreibefehler ausnahmslos, die die Abhängigkeit der beiden Abschriften voneinander einwandfrei beweisen. Da H 2 aber dem Original sehr viel näher steht als H 3 , muß es die Vorlage für H 3 gewesen sein8. 1

Vgl. E. Schmidt I 39, 442 Eine Lesart, die bisher von H 1 bis JG 2 zu finden ist, obwohl in H deutlich: Nein Bruder steht. a Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt, S. XII 4 Handschriftliche Kollation von H 2 (WA: H 3 ) in der Mappe Prometheus, GSA. 6 H 3 schreibt u. a.: zerstreut sind st. zerstreut stehn (vor 48), einen st. reinen (184), Dann rammle st. Dann hier rammle (253), meine Mira st. Meine arme Mira (321) 4 Vgl. dagegen I 39, 434 2

Die Prometheushandschriften

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Wiederum läßt uns das Material zur Datierung aller dieser Vorgänge im Stich. Wir wissen nicht, wann die Göchhausen die verschiedenen Kopien Goethescher Werke angefertigt hat 1 . Wir wissen ferner auch nicht zuverlässig, wann Goethe die Originalhandschriften seiner frühen Jugendwerke Frau von Stein geschenkt hat. Möglich, daß sich der Prometheus unter den Papieren befand, die Goethe am 2. Mai 17772 an Charlotte schickte mit den Worten: „Es muss Sie wunderlich düncken das vergangne von mir zu lesen." Blieb die Handschrift dann schon in Frau von Steins Besitz, hatte somit die Göchhausen sie vorher kopiert, oder wanderte sie noch einmal zu Goethe zurück und von da aus an den Hof Anna Amaliens, um dann erst endgültig mit anderen Manuskripten Goethes bei Frau von Stein zu verschwinden — alles Fragen, bei deren Beantwortung wir über Vermutungen nicht hinauskommen können. Die Tatsache aber, daß Goethe sich von der Prometheushandschrift trennte, zeigt jedenfalls, daß er hier, ebenso wie beim „Mahomet" und im deutlichen Gegensatz zum ,,Faust", keine Möglichkeit einer Weiterarbeit sah. Die Problematik des „Prometheus" war für ihn erledigt, sie hatte mit seinen Weimarer Bestrebungen nichts mehr zu tun. Ja, darüber hinaus war ihm diese Jugenddichtung ein peinlicher Zeuge des Krisenjahres 1773. So war es wohl mehr als eine freundschaftlich-vertrauende Geste, als er das Manuskript der Freundin gab. Diese Schenkung war nicht nur bedeutsam im Hinblick auf seine Beziehungen zu Frau von Stein, sie war eine Protesthandlung, ein Abstoßen überwundener Probleme, harmloser gewiß, aber doch den Autodafes seiner ersten Jugendjahre vergleichbar. Und wie stark im Grunde der Vernichtungswille gegenüber der Jugendarbeit war, geht daraus hervor, daß er ihre Existenz — noch dazu in unmittelbarer Nachbarschaft — in einem Grade verdrängte, daß er die Handschrift sowohl 1787 bei der Ausgabe der Schriften als auch 1807 und 1816 bei der der Werke endgültig für verloren hielt. 1

Auch E. Schmidt kann für die Abschrift des Urfaust nur ganz allgemein „die erste weimarische Zeit" angeben. 2 IV 3, 153

8. Die M i n e r v a g e s t a l t in G o e t h e s P r o m e t h e u s Die Arbeitsmethode des jungen Goethe, von Erlebtem auszugehen und charakteristische Züge und Merkmale von Personen seiner Umgebung in seinen Dichtungen zu verwerten, gilt in ganz besonderer Weise für das Jahr 1773. Durch F. J. Schneiders1 Entdeckung, das Urbild des Satyros sei in dem Wetzlarer Freund Goue zu sehen, ist die Reihe der Modelle für dieses wichtige Jahr noch um ein bedeutsames vermehrt worden, und zwar wurde damit für den „Satyros" ein Hintergrund geschaffen, der die Berechtigung der allzu sehr in Mißkredit geratenenen „Modellsucht" glänzend bewies. Dabei ist es kein Zufall, daß gerade diese Beziehung — nach manchen Irrwegen — verhältnismäßig spät aufgedeckt werden konnte, da hier offenbar eine bewußte Absicht Goethes vorlag, das Modell nicht zu verraten. Die schwierige seelische Konstellation des Hochsommers 1773 zeitigte wohl diese Neigung, eine Art Versteckspiel mit sich und anderen zu treiben, erregte ein vermehrtes Bedürfnis nach geheimnisvoller Tarnung. Mußte so der Freundeskreis immer wieder Modelle liefern, so bleibt es dagegen auffallend, daß die Familie Goethes offenbar weniger für seine künstlerischen Zwecke herangezogen wurde. Die Persönlichkeit des Vaters erscheint nirgends in voller Deutlichkeit, Züge der Mutter erkennen wir wohl in der Elisabeth des „Götz" und später in der Olimpia von „Erwin und Elmire", aber nur ein gewisser Typus wird übernommen, es wird vermieden, die Individualität der Mutter wiederzugeben. Aber geradezu als Unterlassungssünde wollte man es Goethe wiederholt anrechnen2, daß die Schwester Cornelia, die wie kein anderer ein Recht darauf besaß, in keiner seiner Dichtungen fortzuleben scheint. Man hat, um Goethe gewissermaßen zu entlasten, die Frage aufgeworfen, ob nicht in der Prinzessin des „Tasso" Züge von Cornelia wiederzufinden seien3. Mit sehr viel mehr Recht kann man an die „Geschwister" denken, deren Problemstellung sicherlich mit Goethes Beziehungen zu seiner Schwester zusammenhängt4, wo aber wiederum die Gleichung Marianne-Cornelia nicht aufgehen will. — Nur die Amelie in „Wilhelm Meisters theatralischer Sendung" hat sicherlich persönliche Erinnerungen aufgenommen, aber die farblose Erscheinung der Schwester Wilhelms kann uns nicht das Bild Cornelias heraufbeschwören. 1

Goethes „Satyros" und der Urfaust, Halle 1949 Vgl. Ii. a. L. Geiger, Dichter und Frauen IV: Goethes Schwester, Berlin 1896, 80 f. 3 G. Witkowski, Cornelia, die Schwester Goethes, Frankfurt 1903, 133 1 Vgl. IV 3, 118: „schickts der Schwester," vgl. ferner B. Springer, Der Schlüssel zu Goethes Liebesleben, Berlin 1926, 70 2

Die Mineryagestalt in Goethes Prometheus

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Nach dem Tode der Schwester (1777) plante Goethe, das „geliebte, unbegreifliche Wesen" in einem Roman im Stile Richardsons zu schildern: „Nur durch das genaueste Detail, durch unendliche Einzelnheiten, die lebendig alle den Charakter des Ganzen tragen und, indem sie aus einer wundersamen Tiefe hervorspringen, eine Ahnung von dieser Tiefe geben; nur auf solche Weise hätte es einigermaßen gelingen können, eine Vorstellung dieser merkwürdigen Persönlichkeit mitzutheilen."1 Aber dieser „schöne und fromme Vorsatz" wurde nicht ausgeführt, mag, wie Goethe selbst angibt, der „Tumult der Welt" ihn von einer derartigen Konzentration abgehalten oder — was mehr Wahrscheinlichkeit hat — Goethe die bei dieser Arbeit unvermeidlichen, zerstörenden Erinnerungen gefürchtet haben. Allein in „Dichtung und Wahrheit" bekannte sich Goethe in späteren Jahren mit aller Entschiedenheit zu der Bedeutung, die Cornelia für seine Kindheit und Jugendjahre gehabt hatte. Von allen Familienmitgliedern spielt sie — so wie es ihr zukommt — die größte Rolle. Man spürt des Dichters angestrengtes Bemühen, gerade diesen Menschen dem Leser verständlich und irgendwie anziehend zu machen. Er wiederholt2 sich sogar in der Schilderung ihrer äußeren Erscheinung, ihres „eigenen Wesens". Nicht genug kann er die „leidige Mode" jener Zeit schelten, die dazu beitrug, daß die Schwester oft „wirklich häßlich" aussah. Er rühmt immer wieder ihre groß angelegte Natur, ihre geistigen Gaben, die Wirkung, die sie auf ihre Mitmenschen ausübte. Für die Kindheit Goethes erscheint Cornelia auch da, wo ihr Name nicht erwähnt wird, als die stete Gespielin und Begleiterin. „Wir", „wir Kinder", „uns Kindern", „wir Geschwister" — so heißt es bei der Schilderung des häuslichen Lebens, des Unterrichts, der Spiele. So entsteht vor uns die Unzertrennlichkeit der Geschwister, die sich nach Goethes Worten anfänglich wohl für Zwillinge hätten halten können. Sehr zeitig stellen sich bei beiden literarisch-künstlerische Interessen ein. Im Einverständnis mit der Mutter, hinter dem Rücken des Vaters, wird der „Messias" gelesen und teilweise auswendig gelernt. Aus der verbotenen Lektüre entwickelt sich eine Art Geheimsprache der Kinder, wenn sie die „wohlklingenden Verwünschungen" miteinander austauschen oder sich mit den „höllischen Redensarten" von Satan und Adramelech begrüßen3, ein frühes Zeugnis dafür, wie stark die Geschwister schon damals sprachlich aufeinander eingespielt waren. 1

I 27, 23 f. » 126, 125

1

127, 23fF. und 29, 97ff.

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Während der Gretchen-Affäre erfüllt Cornelia eine wichtige Aufgabe. Sie erscheint mit der Mutter als V e r m i t t l e r i n z w i s c h e n Goethe und dem V a t e r und bietet dem Bruder im Namen des schon mehr besänftigten Familienoberhauptes eine „völlige Amnestie" an, die Goethe aber nur sehr bedingt annimmt, im übrigen aber auf seiner trotzigen Ablehnung aller versöhnlichen Angebote besteht 1 . Goethes Briefe an die Schwester aus Leipzig bringen uns — zumal Cornelias Antworten fehlen — in der Erkenntnis der Beziehungen der Geschwister nicht wesentlich weiter, es sei denn, daß man die zunehmende didaktische Neigung des Bruders beobachten kann. Mit Goethes Rückkehr ins Vaterhaus ergibt sich aber eine neue Konstellation: jetzt bilden Bruder und Schwester bewußt eine Oppositionspartei gegenüber den Eltern, vor allem gegenüber dem Vater. Sie schließen sich instinktiv noch fester als früher zusammen. Als Symbol für ihre Haltung wird eine nur ihnen verständliche „Cotterie-Sprache" erfunden, deren sich Cornelia auch vor den Eltern „mit vieler Keckheit" bedient2. Die innere Zusammengehörigkeit dokumentiert sich also wiederum durch eine sprachliche Übereinkunft. Ihren Höhepunkt erreicht aber die geistige Gemeinschaft der Geschwister nach Straßburg. Jetzt können sie die infantile Form eines „Rothwelschs" entbehren, denn sie verstehen sich auf einer weit höheren Ebene, von der die übrigen Familienmitglieder ausgeschlossen sind. Goethe führt die Schwester jetzt erst eigentlich in seine geistige Welt ein. Eine „weit ausgebreitete Weltpoesie" wird ihr nahe gebracht. „Dem, was ich geistreich hingab, folgte sie mit dem Geiste."3 Auch die „eignen kleinen Machwerke" Goethes werden ihr mitgeteilt. Am bedeutsamsten wirkte sich aber Cornelias Teilnahme bei der Entstehung des „Gottfried" aus4. „Ich hatte mich davon, so wie ich vorwärts ging, mit meiner Schwester umständlich unterhalten, die an solchen Dingen mit Geist und Gemüth Theil nahm, und ich erneuerte diese Unterhaltung so oft, ohne nur irgend zum Werke zu schreiten." Cornelia ist nun diejenige, die Goethe antreibt, die in seinem Geiste noch verschlossenen Gestalten sichtbar werden zu lassen. Durch ihr reges Interesse, aber auch wieder ihren Unglauben an seine Beharrlichkeit reizt sie Goethe, das, was ihm „so gegenwärtig" war, „auf das Papier festzubringen". Was also bisher nur in Goethes Bewußtsein Form hatte, wird jetzt unter Cornelias Einfluß lebendige Ge1 s

3 4

126, 339 127,198ff.

I 28,168 I 28, 197

Die Minervagestalt in Goethes Prometheus

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stalt. „Auch mir ward alles von Schritt zu Schritt lebendiger." 1 So entstand der Götz in seiner „Urgestalt". Diese Vorgänge fallen in den Herbst und Winter 1771. Die Umformung dies Götz ist dann der Auftakt zu der fieberhaften Produktion des Krisenjähres 1773, die die innere Zerrissenheit Goethes bezeugt. Vordringlich bedrückt ihn seine zunehmende Isolierung. Der Freundeskreis in Darmstadt, Wetzlar, Frankfurt beginnt sich aufzulösen. Die Schwester steht seit 1772 in nahen Beziehungen zu Schlosser. „Meine arme Existenz starrt zum öden Fels", heißt es im April 1773 in einem Brief an Kestner. „Diesen Sommer geht alles. Merck mit dem Hofe nach Berlin, sein Weib in die Schweiz, meine Schwester, die Flachsland, ihr, alles. Und ich binn allein."2 Über die bevorstehende Verbindung von Cornelia und Schlosser war Goethe „einigermaßen betroffen". Noch aus „Dichtimg und Wahrheit" schlägt uns eine Welle von schlecht verhüllter Eifersucht entgegen: nie hätte die Schwester sich zu diesem Schritt „bereden" lassen, wenn er, der Bruder, sie nicht während des Wetzlarer Erlebnisses vernachlässigt hätte. Nur mühsam wird der Groll gegen den Schwager, dem er die Prädikate „redlich" und „wacker" zubilligen muß, zurückgehalten3. Die ganz naive Reaktion des jungen Goethe auf diesen Eingriff in seine Besitzerrechte wird, wenn auch durch den Altersstil gebändigt, noch deutlich. Goethe fühlt sich als der Betrogene. Wie oft hatte ihm Cornelia nicht versichert, daß er der „Einzige sei, der sie wahrhaft hebe"4, wie sehnlich hatte sie gewünscht, ihr Leben in dieser „geschwisterlichen Harmonie fortzusetzen und zuzubringen."5 „Aufrichtig habe ich zu gestehen, daß ich mir, wenn ich manchmal über ihr Schicksal phantasirte, sie nicht gern als Hausfrau, wohl aber als Äbtissin, als Vorsteherin einer edlen Gemeine gar gern denken mochte. Sie besaß alles, was ein solcher höherer Zustand verlangt."6 Während dieser schwierigen Auseinandersetzungen schrieb Goethe zwischen dem Juli und Oktober 17737, also noch vor Cornelias Hochzeit (1. November 1773), zum „Trutz Gottes und der Menschen" den „Prometheus"8. 1

128,198 (Sperrung von mir) * JG a 3, 41 3 Wie stark noch beim „Clavigo" der Schwager-Komplex aktiv war, hat E. Feise überzeugend nachgewiesen: Zum Problem von Goethes Clavigo. In: Xenion, Themes, Forms, and Ideas in German Literature, Baltimore 1950, 66ff. 1 127, 26 5 129,99 ' I 29, 99 (Sperrung von mir); vgl. auch das Gespräch mit Eckermann 28. 3. 1831 7 VgL Schneider a. O. 6 f. 8 Zitate nach JG" 3, 307ff.; Zählung nach 139, 195ff.

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Daß der „Prometheus" seine Entstehung der Krisenstimmung des Jahres 1773 verdankt, ist jetzt eine allgemein anerkannte Tatsache. Kaum eine andere Dichtung jenes Jahres ist so gesättigt mit eigener Problematik. Walzel1 spricht davon, daß Goethe das Prometheussymbol mit seinem eigenen Herzblut erfüllte. Saran2, obwohl ihm doch der „Prometheus" als ein abstraktes christlich-gnostisches Welterlösungsdrama erscheint, gibt die Wichtigkeit der persönlichen Komponente zu. Richter3 sieht im „Prometheus" in erster Linie ein Zeugnis des Lebens und Erlebens des Dichters", und für Cierjack4 ist der „Prometheus" ein Symbol, in dem Goethe eigenes Erleben verkörperte. Bei allen diesen Forschern beschränkt sich aber der biographische Gehalt allein auf die Spannungen im Verhältnis des Prometheus zum Vater Jupiter, auf seine schöpferischen Kräfte, auf alle die revolutionären Elemente, die in den Szenen mit Merkur und Epimetheus zum Ausdruck kommen, deren Interpretation daher — von Sarans Emanationstheorie abgesehen — viel Übereinstimmendes aufweist. Die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen erst mit dem Auftreten der Minerva. Zwar klingt hier auch wieder das Vater-Sohn-Problem und das Schöpferthema an, aber die Szene bringt zusätzlich einige unbequeme Dunkelheiten. Wie war es zu erklären, daß Prometheus sich in schärfstem Gegensatz zu „den Göttern" befindet, mit der Göttin Minerva aber aufs innigste verbunden erscheint? Wie hatte man es ferner zu verstehen, daß Minerva, als Vermittlerin von Jupiter gesandt, sich zwar ihres Auftrages entledigt, ihn dann aber bei Prometheus' Protest fallen läßt und augenscheinlich seine Partei ergreift? Was hatte Goethe ferner mit dem Symbol des „Lebensquells" sagen wollen?5 Welche Rolle spielte Minerva bei der Belebung der Geschöpfe des Prometheus?6 War sie nur hilfreiche Göttin oder mußte man in ihr auch ein Symbol für höhere Kräfte sehen?7 1

Das Prometheus-Symbol von Shaftesbury zu Goethe, Neue Jb. f. d. klass. Altertum 13, 1910, 138 s 3

a. O. 60 Zur Deutung der Goetheschen Prometheuadichtung, J b D H 1928, 73

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a. 0 . 11

6

Vgl. hierzu vor allem Saran a. O. 105 u. 86 und Richters Kritik a. O. 68 Vgl. Cierjack a.O. 17f.

6 7

Von der Vielfalt der Interpretationen nur die wichtigsten: Düntzer, Goethes Prometheus und Pandora. Ein Versuch zur Erklärung und Ausdeutung dieser Dichtungen. Leipzig 1850, 33: Minerva gleich „Schöpfungsdrang — als Ausfluß göttlicher Weisheit,'als wahres Kunstgenie." Saran a. O. 115: M. gleich „heiliger Geist, creator spiritua". Richter a. O. 77f.: „Genius als die Verkörperung der Gotteskraft."

Die Minervagestalt in Goethes Prometheus

133

Von allen Interpreten fühlte allein Cierjack, daß die Minervagestalt mit einem „Mehr" ausgestattet war, er spürte etwas davon, daß die Minervaszene von einem geheimen Huldigungs- und Dankgefühl erfüllt war, das in der Tradition der Sage nicht vorgebildet war. Als Goethe die Prometheusfabel im Hochsommer 1773 ergriff, war es mehr als das Vater-Sohn-Problem, das Trotz- und Schöpferthema, was ihn faszinierte. Mögen alle diese Motive auch den Ausschlag gegeben haben, der Stoff bot noch eine Möglichkeit, ein weiteres, für Goethe sehr schwerwiegendes Problem in sich aufzunehmen: in aller Verhülltheit, aber auch mit aller Innigkeit konnte Goethe hier der Schwester Cornelia — bevor ér sie verlor! — bekennen, welche Bedeutung sie „von Anbeginn" für ihn gehabt hatte. Daß Goethe — entgegen der antiken Tradition — Jupiter zum Vater des Prometheus macht, mag auf eine Notiz bei Hederich zurückgehen1. Aber auch ohne diese Quelle war diese Änderung eine Notwendigkeit, sollte der Stoff Goethes „Situation" fassen können. Der Protest gegen den Vater konnte nur so in voller Schärfe herausgearbeitet werden, und gleichzeitig gewann Goethe noch eine weitere wichtige Beziehung: Minerva, die T o c h t e r J u p i t e r s , wurde so zur S c h w e s t e r des P r o m e t h e u s . Es ist seltsam, daß diese an sich so einfache Tatsache bisher immer übersehen oder in ihrer Bedeutung verkannt wurde, und doch kann sie uns in wichtigen Punkten weiterführen. Denn das Bruder-Schwester-Verhältnis ist die stillschweigende Voraussetzung für das Gespräch der beiden. Zwar redet Prometheus Minerva nie mit „Schwester", sie ihn nie mit „Bruder" an, solche Deutlichkeiten vermied der Dichter aus Rücksicht und Scheu, mag auch die Tarnungslust, der Hang zum Mystifizieren mitgespielt haben. Vorsichtig bezeichnet sich Prometheus Minerva gegenüber nur als „deines Vaters Feind", während Minerva sich zu ihrem „Vater Jupiter" bekennt« Worte, die zwischen Prometheus und Minerva befremden, die weder durch die Überlieferung noch durch die dramatische Situation berechtigt er^ scheinen, enthüllen jetzt ihre tiefere Bedeutung. In leisen Andeutungen spricht Prometheus zu Minerva von ihren nahen verwandtschaftlichen Beziehungen, spielt er auf ihre gemeinsam verbrachte Kindheit und Jugendzeit an: Sind v o n A n b e g i n n Mir deine Worte Himmelslicht gewesen! (102/03) Und m i t g e b o h r n e H a r m o n i e n In ihr erklängen aus sich selbst. (106/07) 1

Mythologisches Lexikon, Leipzig 21770, Spalte 2091; vgl. auch JG 2 6,314

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H A N N A FISCHER-LAMBERG

So haben m e i n e K r ä f f t e sich e n t w i c k e l t Mit iedem Athemzug aus deiner HimmelsLuft. (124/25)

Nachdem das nahe verwandtschaftliche Verhältnis sinnvoll festgelegt war, konnte die Überlieferung wieder verwertet werden. Nach der antiken Mythologie ist Minerva die „jungfräuliche" Göttin, sie verkörpert also einen Zustand, wie ihn Goethe für Cornelia als einen dauernden gewünscht hatte und der im Sommer 1773 bedroht war. Wir erinnern uns an seine Phantasien über Cornelias Zukunft: er vermochte sie sich nicht als Frau zu denken, eher als Äbtissin, als Vorsteherin einer edlen Gemeine — kurz, ein höherer Zustand war der ihr gemäße. Wie selbstverständlich entsprach das Bild der jungfräulichen Göttin diesem erwünschten „höheren Zustand", wie willkommen war gerade diese Eigenschaft von Minerva, um eigene geheime Wünsche unter dem Schutze überlieferter Mythologie verbergen zu können. Vielleicht haben wir hier den psychologisch wichtigsten Ausgangspunkt der Konzeption Minerva gleich Cornelia vor uns. Minerva galt ferner im Altertum als die Göttin der Weisheit und der Künste, sie war also dazu geeignet, dem Genius Freundin zu sein — so wie Cornelia mit ihrer „entschiedenen Anlage zum Verstand"1 Goethe mit „Geist und Gemüt" bei seiner dichterischen Arbeit folgen konnte. Die wichtigste Voraussetzung der Gleichung lag aber in dem aus dem Altertum überlieferten nahen Verhältnis der beiden. Prometheus ist der auserkorene Liebling der Minerva, dem sie ihre Kräfte zur Verfügung stellt und zur Belebung seiner Geschöpfe verhilft, mochte diese Hilfe im Laufe der Jahrhunderte auch unter von einander abweichenden Symbolen gesehen werden. Die von der Antike übernommenen Züge wurden nun von Goethe um die Erinnerungen der mit Cornelia „von Anbeginn" verbrachten Jugendjahre bereichert. So erhält die Szene ein geheimes Leben, wird doppelschichtig, nimmt anscheinend Widersprüche in sich auf, die aber aus dem verhüllten Erlebnisgehalt stammen und durch ihn auch zu erklären sind. Nicht immer will sich die Rolle, die Minerva in der Dichtung als Göttin spielt, mit der Funktion, die sie als Schwester des Prometheus — des Dichters — erfüllt, decken. Sie muß in ihrer Doppel-Bedeutung gewisse Widersprüche aufweisen. Lassen sich nun bestimmte Erlebnisse der Jugend Goethes in der Minervaszene auffinden? Gleich zu Beginn scheint mir eindeutig eine derartige Erinnerung vorzuliegen: Du wagst es meine Göttin? Wagest zu deines Vater Feind zu treten! (96/97) 1

127,25

Die Minervagestalt in Goethes Prometheus

135

Wir denken an jene Erzählung aus dem 5. Buche von „Dichtung und Wahrheit" zurück (vgl. S. 130), wo Cornelia als Abgesandte des Vaters zum Bruder kommt und ihm eine „völlige Amnestie" anbietet. Auch Minerva hat sich eines väterlichen Auftrages zu entledigen: Jupiter hat dir entboten Ihnen allen das Leben zu ertheilen, Wenn du seinem Antrag Gehör gäbst. (187/90)

Und wie der junge Goethe 1764 alle Annäherungsversuche ablehnte und bei seiner trotzigen Haltung blieb, so auch Prometheus. Bezeichnend ist nun Minervas Reaktion. Sie, die eben noch als Göttin rein verstandesmäßig die Haltung der Götter verteidigt hat, ergreift jetzt mit bemerkenswerter Schnelle die Partei des Prometheus und verspricht ihm ihre Hilfe. Jetzt ist sie ganz Schwester. Ihre Zärtlichkeit verlangt diesen Wechsel ihrer Stellung, dem man mit logischen Gründen nicht beikommen kann. Ihr Eingeständnis erklärt alles: Ich ehre meinen Vater Und liebe dich Prometheus. (98/99)

Wenn man diese Doppel-Funktion der Minerva erkannt hat, kann nun auch Prometheus' Haltung nicht mehr erstaunen. Er lehnt zwar „die Götter" im allgemeinen als seine Feinde ab, aber dieser Haß schweigt völlig in seinen Beziehungen zu Minerva. Er redet sie mit „meine Göttin" (96, 206), nicht „Göttin" an, irgendwie gehört sie für ihn nicht zu den „stolzen Bewohnern des Olympus", sondern sie gehört, trotz ihres „höheren Zustandes", zu ihm. Ihr Liebesgeständnis tönt zurück in seinen Worten: Ewig meine Liebe dir. (116)

Die Verbundenheit von Prometheus und Minerva erreicht nun ihren Höhepunkt in dem Ausdruck einer einzigartigen seelischen und geistigen Verschmelzung. In den Worten des Prometheus ersteht dieses Wunder der Identität 1 : Und du bist meinem Geist Was er sich selbst ist. Sind von Anbeginn Mir deine Worte Himmelslicht gewesen! Immer als wenn meine Seele spräche zu sich selbst! Sie sich eröffnete 1

Man vergleiche auch in diesem Zusammenhang Diohtung und Wahrheit: „so daß sie sich wohl für Zwillinge halten konnten." (I 27, 22)

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Und mitgebohrne Harmonien In ihr erklängen aus sich selbst, . . Und eine Gottheit sprach Wenn ich zu reden wähnte, Und wähnt ich eine Gottheit spreche, Sprach ich selbst. Und so mit dir und mir So ein so innig Ewig meine Liebe dir. (100—116)

Die wohl gewollte Dunkelheit dieser Verse hat zu den verschiedensten Interpretationen Anlaß gegeben. Saran1 faßt das Verhältnis von Prometheus und Minerva als „metaphysische Immanenz" auf, während Richter2 nur die „Verkörperung der Gotteskraft", die Prometheus in seinem eigenen Innern fühlt, in Minerva erkennen will. Wesentlich komplizierter sieht Cierjack3 die Beziehungen zwischen Prometheus und Minerva: „In diesem 'Sich ganz eins fühlen' mit der Gottheit, diesem 'Gott in sich, aus sich sprechen hören' stehen wir einem religiösen Gemütszustand, dem echten, tiefen, spezifisch jung-Goethischen Frommsein, seinem Gott-in-Allglauben . . . kurz: seinem Pantheismus oder richtiger Panentheismus gegenüber." Minerva ist nur die Empfängerin dieses „ausströmenden Gefühls des Durchgottetseins des eigenen Ichs". Daß Goethe das, was er hier sagen wollte, sprachlich in ihm geläufige pantheistische Wendungen und Formeln hüllte, muß zugegeben werden. Aber nicht um einen Vergottungsrausch, der sich nur wie zufällig an Minerva richtet, handelt es sich hier, sondern um das Ringen nach einem gemäßen Ausdruck für ein gemeinsames Erlebnis, das Prometheus und die Schwester auf „ewig" verbindet. Wir stehen hier vor der höchsten Sublimierung von Erinnerungen, wie wir sie aus „Dichtung und Wahrheit" herauslesen. Früheste Kindheitserlebnisse steigen auf: das Glück, sich — gegen den Willen des Vaters! — in wohlklingenden Verwünschungen aus dem Messias heimlich zu verständigen, die kecke Freude, in dem selbst erfundenen „Rothwelsch" eine gemeinsame Geheimsprache zu besitzen! Die Ekstasen des jungen Goethe zu Beginn seiner Dichterlaufbahn, die nur der Schwester verständlich waren, und endlich, als höchste Steigerung, die über kindliche Formen hinauswachsende gemeinsame produktive Arbeit. 1 a. 0 . 91 * a. 0. 78. Er nähert sich hier Watzels (a. O. 146) Auffassung: „sie ist die Verkörperung von Prometheus' Künstlergenius." 1 a. O. 18f.

Die Minervagestalt in Goethes Prometheus

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Wir sahen, wie fruchtbar sich Cornelias geistige und seelische Kräfte bei der Entstehung des „Gottfried" ausgewirkt hatten, wie die Gestalten, die noch in Goethes Bewußtsein schlummerten, durch der Schwester Aktivität entbunden wurden. Die Geschöpfe des Prometheus erhielten ihr Leben. Sie sollen leben und durch dich (202)

sagt Minerva — und Prometheus: Durch dich o meine Göttin. (203)

Der schöpferische Akt ist ihrer beider Werk1. Vielleicht kann auch von unserer Betrachtungsweise aus erklärt werden, warum Goethe als Symbol der Belebung den Lebensquell wählte. Es mußte ein Bild gefunden werden, das der Beteiligung Cornelias irgendwie nahe kam. Das Symbol des Schmetterlings2, das er bei Hederich fand, erwies sich bei aller Anmut als zu leicht, zu spielerisch. Aber auch das mit Minervas Hilfe vom Himmel geholte Feuer hätte den tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprochen, hätte der Schöpferkraft des Prometheus, die doch außer aller Frage stehen mußte, Abbruch getan. Nur das klare, frische Bild des belebenden Wassers stimmte zu dem, was Goethe hier ausdrücken wollte. Noch sehr viel später in „Dichtung und Wahrheit" erscheint — wohl nicht zufällig — dasselbe Symbol im Zusammenhang mit der Schwester3. Da wird (vgl. S. 129) von den „unendlichen Einzelnheiten" ihres Charakters gesprochen, die aus „einer wundersamen Tiefe hervorspringen" und erst eine Ahnung dieser Tiefe geben. „Denn die Quelle kann nur gedacht werden, in sofern, sie fließt." Die Szene klingt aus in innigen Dankesworten an Minerva — ihr tiefster Sinn ist ein Huldigungs- und Dankeshymnus auf Cornelia. Bei der Hochzeit der Schwester schweigt Goethe. Mochten andere Hochzeitscarmina dichten, ihm blieb nach seiner geheimen Liebeserklärung im „Prometheus" nichts mehr zu sagen übrig. Damit beginnt der Loslösungsprozeß von Cornelia, der für die Schwester überaus schmerzlich sein mußte. Die allzu starke Bindung an sie war durch die Prometheus-Minerva-Szene abreagiert worden. So wie Goethes Verhältnis zu Kestners nach der Entstehung des „Werther" sichtlich abkühlt, so wollte und konnte Goethe sich auch nach dem „Prometheus" von 1

Vgl. JG 2 6, 316, wo Morris vermutet, daß mit den männlichen Bildsäulen Faust und Götz („Und dieses Busens Macht! Drängt sich entgegen der all anfallenden Gefahr umher!") gemeint sei. » JG 2 6, 314 3 127, 23

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Cornelia allmählich lösen. In diesem Ablösungsprozeß finden wir wohl auch den tiefsten Grund, warum es trotz des „frommen Vorsatzes" zu keinem „dichterischen Ganzen" zu Ehren der Schwester kommen konnte. Nur in dem sachlich-berichtenden Stil von,.Dichtung und Wahrheit" bemühte sich Goethe nach langen Jahren, „den Schatten jenes seligen Geistes nur, wie durch Hülfe eines magischen Spiegels, auf einen Augenblick heranzurufen."1 Wie verblaßt die Erinnerungen an Cornelia damals schon waren, beweist das Bild vom Zauberspiegel, das eine gewisse Hilflosigkeit der Aufgabe gegenüber zugibt. Das immittelbare Erlebnis der geschwisterlichen Liebe ist uns nur in der Prometheus-Minerva-Szene aufgehoben. 1

127, 23

9. Eine Quellenstudie zu Götter, H e l d e n und W i e l a n d Goethes Farce „Götter, Helden und Wieland" gehört zu der literarischen Gruppe der Totengespräche, deren geistiger Ahnherr Lukian ist. Den griechischen Satiriker lernte Goethe vermutlich schon 1762 durch seinen Lehrer Johann Georg Albrecht kennen, war doch Lukian „fast der einzige Schriftsteller", den der alte Rektor schätzte1. In welche Zeit die Bekanntschaft mit Lukians „Totengesprächen" fällt, ist nicht mehr festzustellen. Lukian wird weder in den „Ephemerides" noch in den Jugendbriefen erwähnt. Auch indirekte Beziehungen auf ihn fehlen, bis Goethe im Herbst 1773 die Form des Totengesprächs für eine literarische Satire wählt. Da sich die Forschung bisher über Lukians Einfluß auf Goethes Farce nur sehr summarisch geäußert hat2, muß zunächst der Grad dieser Abhängigkeit untersucht werden. Für die zentrale Auseinandersetzung zwischen Euripides und Wieland ist die Bindung an Lukian3 von sekundärer Bedeutung, denn nur der Rahmen, der Schauplatz der Gespräche im Hades, und der oft recht bissige Ton der Unterhaltungen ist übernommen, es finden sich weder gedanklich noch formal bemerkenswerte Anklänge. Denn während der antike Dichter charakterliche Schwächen und Laster der Menschen zum Ziel seines Spottes macht, und die Toten nur Repräsentanten übler Eigenschaften sind, geht es bei Goethe nicht um moralische, sondern um rein geistige Dinge, um die falsche Auffassung der Antike und ihre kraftlose, heterogene Darstellung durch Wieland. Näher scheint sich Goethe allerdings in dem kurzen Vorspiel zwischen Charon und Merkur Lukian anzuschließen. Hier kommt vor allem Lukians IV. Gespräch4 und das „kleine Aristophanische Drama", wie Wieland es nennt, „Die Überfahrt oder der Tyrann" in Frage5. Im IV. Totengespräch reden Charon und Merkur über Geldangelegenheiten miteinander, und Merkur beklagt sich über die geringe Qualität der Schatten, die er Charon zuführen muß. Er stellt fest, „daß sich die Zeiten sehr verändert haben, wenn man die dermaligen Ankömmlinge aus der Oberwelt mit den ehmaligen vergleicht." In der „Überfahrt oder der Tyrann" ist es nun Charon, der sich über die „Passagiere" beschwert und I 26,199 JGa 6, 319; Beutlet, Artemis-Gedenk-Ausg. 4, 1044 3 Lucian, Totengespräohe, in der Übersetzung von C. M. Wieland, Sämtl. Werke, Zweyter Theil, 1788, 195ff. 1 a

ä. O. 206ff. 6

a. O. 301 ff.

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der, als Merkur ihm nun gar Neugeborene heranbringt, sagt: ,,0 weh! ein schlechter Fang! das ist gar zu grüne Waare, Merkur, die du uns da mitbringst!" Von diesen Motiven klingen bei Goethe noch einige im Vorspiel von „Götter, Helden und Wieland" an: der Schauplatz am „Ufer des Cozytus", und die auftretenden Personen sind dieselben, barg doch gerade die Gestalt des Götterboten Merkur für Goethe die gewünschte Möglichkeit, seinen Angriff auf Wielands „Teutschen Merkur" einzuleiten. Auch der leicht gereizte Ton zwischen Charon und Merkur kehrt wieder. Charons abfälliges Urteil über die beiden Schatten, den „Litterator" und die „Megäre", die Merkur zum Orkus führt: „Saubre Nation! Woher! das ist einmal wieder von der rechten Race. Die könnten immer leben," 1 erinnert durchaus an den angeführten Dialog in Lukians „Überfahrt". Ein ganz wesentlicher Unterschied besteht aber dennoch: denn während bei Lukian das Gespräch zwischen Charon und Merkur selbständige Bedeutung hat und eine in sich abgeschlossene Szene darstellt, deren Schwerpunkt in der ungünstigen Kritik der Schatten liegt, hat das kleine Vorspiel bei Goethe nur eine vorbereitende Aufgabe, dient lediglich als Auftakt zu der eigentlich wichtigen literarischen Auseinandersetzung im Hades. Die Funktion der Szene ist also eine ganz andere als bei Lukian. Für diese Verschiebung der technischen Bedeutung des Auftritts kann man, so scheint mir, noch ein weiteres literarisches Erlebnis Goethes heranziehen. Eine Umschau nach einer solchen Anregung, die für das Vorspiel der Farce in Frage kommen könnte, führt in eine, wie es zunächst scheint, ganz entgegengesetzte Richtung, und zwar von der Antike fort zu den Volksschauspielen des 17. und 18. Jahrhunderts, und unter diesen ist es eine bestimmte Gruppe der Spiele vom Dr. Faust, die in unserem Zusammenhang von Wichtigkeit ist 2 . Zu der ältesten Form der dramatischen Behandlungen von Faust scheint ein Vorspiel in der Hölle gehört zu haben, das sich offenbar großer Beliebtheit erfreute 3 und dessen Wirkung — man denke an Lessings Faustfrag1

s

J G 2 3 , 329

Goethe wird sowohl Volksschauspiele als auch Puppenkomödien von Faust gekannt haben (vgl. E. Schmidt, Faust-Aufführungen in Straßburg 1770, Archiv f. LitteraturGeschichte 8, 1879, 359ff.) Da die relativ jungen Texte keinen reinen Typus der einen oder, anderen Form übermitteln, fasse ich sie hier unter dem Begriff „Faustspiele" zusammen. 3 W. Creizenach, Versuch einer Geschichte des Volksschauspiels vom Doctor Fatist, Halle 1878, 133; ders., Der älteste Faustprolog, Krakau 1887

Eine Quellenstudie zu Götter, Helden und Wieland

141

meht — sich noch weit ins 18. Jahrhundert hinein erstreckte. Das früheste Zeugnis für das Vorhandensein eines solchen Vorspiels ist der Bericht des Danziger Ratsherrn Georg Schröder aus dem Jahr 16691. Die von ihm geschilderte „Commedia vom D. Fausto" beginnt mit einer Szene, in der Pluto seinen Teufeln befiehlt, die Menschen zu verführen und zu betrügen. Das eigentliche Opfer dieses Befehls ist dann Faust. Hier haben wir also ein Vorspiel, das zur Faust-Tragödie hinleitet, in dem die Antike, wenn auch äußerst primitiv, durch Pluto hineinspielt. Noch sind die Beziehungen zu „Götter, Helden und Wieland" fraglich. Aber diese von Schröder bezeugte Szene kehrt nun in zwei überlieferten Faustspielen, dem Ulmer2 und dem Straßburger3, wieder und ist hier um ein vorangehendes Pluto-Charongespräch erweitert. In ihm handelt es sich um die uns wohlbekannten Themen: Charons gereizte Stimmung, seine Klagen über schlechte Geschäfte und mindere Qualität der Schatten — die alten Lukianschen Motive tauchen also wieder auf, aber ausgerichtet auf die Haupthandlung, die Verführung Fausts, nur wendet sich Charon mit seinen Beschwerden nicht an Merkur wie bei Lukian, sondern an Pluto. Es ist durchaus denkbar, daß der junge Goethe diese seltsame Verbindung von antikem Gedankengut und Fauststoff — sie geht auf die englischen Komödianten zurück4 — bei seinen Besuchen der Puppenkomödien schon zeitig kennengelernt hat, vielleicht sogar schon, bevor er Albrechts Schüler wurde. Ohne Zweifel stiegen jedenfalls derartige Erinnerungen in ihm auf, als er 1773 den Angriff auf Wieland mit dem Vorspiel an den Ufern des Cozytus einleitete. Noch stärker aber verrät sich diese Abhängigkeit vom Volksschauspiel in der Einführung des Pluto. Bei Lukian erscheint Pluto als ernsthafter Gesprächspartner. Erst im Volksschauspiel wird er zum „Höllenfürsten", zur komischen Figur. Davon spukt in Goethes Farce noch etwas nach. Denn am Schluß greift Pluto, der sich von der Auseinandersetzung zwischen Euripides und Wieland fernhält, mit einer derben Bemerkung in die Handlung ein. In das literarische Gezänk hinein hört man Plutos Stimme „inwendig": 1 J. Bolte, Das Danziger Theater im 16. u. 17. Jahrh., Theatergesch. Forschungen 12, Hamburg — Leipzig 1895, 108ff. « Scheible, Kloster 5, 783ff. * Ebd. 853ff.; Der Text von Engel (Deutsche Puppenkomödien 1874, 1, lff.) ist von J. W. Bruinier (Das Engeische Volksschauspiel Doctor Johann Faust, Halle 1894) als Fälschung erkannt worden. 4 E. Herz, Englische Schauspieler und englisches Schauspiel zur Zeit Shakespeares in Deutschland, Theatergesch. Forschungen 18, Hamburg — Leipzig 1903

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He! Ho! Was für ein verfluchter Lärm dadraussen. Herkules dich hört man überall vor. Kann man nicht einmal ruhig liegen bey seinem Weibe wenn sie nichts dagegen hat. 1

Überraschend übereinstimmend heißt es im Straßburger Faustspiel, als Pluto, von Charon gerufen, erscheint: Welcher vermessene Höllengeist wagt es, mich in der muthigen Umarmung meiner Höllengöttin Proserpina zu stören?2

Von den überlieferten Texten der Faustspiele bringt nur das Straßburger Spiel diese Formulierung. Goethe muß also dieses oder eine ihm nahestehende Fassung, die die betreffenden Worte enthielt, gekannt haben, denn eine solche Übereinstimmung wird schwerlich auf Zufall beruhen. Die These bleibt also bestehen, daß Goethe in Götter, Helden und Wieland Lukian für die Form des Totengesprächs verpflichtet ist. Aber der Verlauf dieser Beeinflussung ist komplizierter, als man bisher angenommen hat. Denn wichtiger als die direkte Beziehung zu dem antiken Satiriker erscheint die Vermittlung durch das Volksschauspiel vom Doktor Faust, wo Goethe Elemente der Lukianischen Gespräche in einer Form geböten wurden, wie er sie für seinen übermütigen Angriff auf Wieland gebrauchen konnte. Das Vorspiel und die Gestalt des Pluto beweisen es. Durch diese Verbindung mit einem Faustspiel wird aber die schnell hingeworfene Farce in den weit bedeutsameren Prozeß der Arbeit am Faust, der steten Auseinandersetzung mit der Faustüberlieferung einbezogen. Für den Faustplan war das volkstümliche Vorspiel an den Ufern des CozytUs nicht zu brauchen, es fand aber seinen adäquaten Platz in dem „Schand und Frevel Stück" 3 Götter, Helden und Wieland. 1 2 3

JG 2 3, 347 Kloster 5, 854 J G 2 4, 12

LIESELOTTE BLUMENTHAL

ZU TASSO UND EGMONT 1. Die Tasso-Handschriften Bei der höchsten Sorgfalt, die ich auf dieses Stück gewendet, wünsche ich auch, daß es ganz rein in die Hände des Publikums komme. Goethe an Göschen am 22. Juni 1789

Im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar befinden sich auf zwei kleinen Blättern einige flüchtig hingeschriebene, sehr verwischte Bleistiftverse aus dem 2., 3. und 5. Akt des „Tasso". Das ist das einzige, was aus der langen Entstehungszeit des Werkes zufällig auf uns gekommen ist: Einfälle während der italienischen Reise, eilig bewahrt und später erinnert und verwendet. Doch von diesen spärlichen Entwürfen — sie umfassen im ganzen 15 Verse — soll hier nicht die Rede sein. Die beiden Tasso-Handschriften, von denen der Druck des Werkes ausgegangen ist, stammen aus dem Endstadium der Entstehungsgeschichte; es sind letzte und vorletzte vollständige Abschrift des Goethischen Manuskripts durch seinen Schreiber Karl Vogel. Das eine Exemplar, die wohl zum großen Teil nach Diktat niedergeschriebene Reinschrift, behielt Goethe bei sich; das andere diente als Druckvorlage für die Erstausgabe, die als Band 6 der bei Göschen erscheinenden „Schriften Goethes" 1790 herauskam, und wurde nach Fertigstellung des Druckes wieder an Goethe zurückgeschickt, wie es im Vertrag ausbedungen war. Die beiden Manuskripte sind auf Quartbogen zum Teil des gleichen Papiers geschrieben und später in einen weißen und blauen Pappumschlag gelegt bzw. geheftet worden. Das eine, von der Weimarer Ausgabe (I 10, 428) mit H 1 bezeichnete, trägt auf dem Titelblatt die Inschrift: „Torquato Tasso. Ein Schauspiel", das andere, H 2 , auf dem Umschlag: „Torquato Tasso. Corrigirtes Manuscript". Nach der Ansicht des Herausgebers in der Weimarer Ausgabe, Karl Weinhold, ist H a Druckvorlage für den Erstdruck gewesen. Beide Handschriften sind in der schönen, sauberen Schrift Vogels leicht lesbar, Goethes Textänderungen, die sich, auf den ersten Blick herausheben, klar erkennbar, das Verhältnis der beiden Handschriften als Reinschrift (Mundum) und Abschrift der Reinschrift.

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(Drackvorlage) eindeutig bestimmt, so daß wir hier eine geradezu ideale Situation für einen Herausgeber zu haben scheinen und man sich verwundert fragen muß, ob über etwas so Einfaches noch ein Wort zu sagen ist. Bei genauer Betrachtung der beiden Handschriften stellt sich aber heraus, daß nur die Oberfläche so klar und eindeutig ist und daß sich darunter ein solcher Komplex von Schwierigkeiten verbirgt, daß an ihnen geradezu die ganze Problematik einer Textedition aufgezeigt werden kann und die Verantwortung sichtbar wird, vor die sich der moderne Herausgeber gestellt sieht. Es zeigt sich nämlich, daß die beiden Handschriften, so wie sie heute daliegen, nicht ihre ursprüngliche Zusammengehörigkeit bieten, sondern daß die einzelnen Aufzüge des Dramas durcheinandergeraten sind und sich in jedem Band Teile aus dem anderen finden. Goethes Korrekturen sind klar, soweit es sich um Textänderungen handelt. Doch hat er auch orthographische und Interpunktionsverbesserungen vorgenommen, aber, wie es so seine Art war, bald in der ersten, bald in der zweiten Abschrift, manchmal ganz genau Vers für Vers und dann wieder viele Seiten lang keine einzige. Doch selbst da, wo eine eingehende Durchsicht vorliegt, fallen noch Eigentümlichkeiten auf, von denen man mit ziemlicher Sicherheit sagen kann: dies ist nicht Absicht, sondern Versehen. Und schließlich: von einem bestimmten Zeitpunkt an taucht neben Goethes und des Schreibers Verbesserungen noch eine andere Hand auf, mit zartem, etwas kritzeligem Duktus, die Kommata, Fragezeichen, Punkte und Ausrufungszeichen einfügt oder ändert und ganz selten einmal auch eine andere kleine Korrektur vornimmt. Niemand, der die Handschriften bisher sah und darüber schrieb, scheint das bemerkt zu haben; man nahm sie immer als eine einheitliche Gegebenheit und stellte darum auch nicht die Fragen, welche Korrekturen von Goethe und welche von anderen sind, was für Korrekturen es sind und welche Bedeutung sie für den Text und damit auch für die Textedition haben. Die Weimarer Ausgabe vermerkt in ihren Lesarten nur die T e x t änderungen der Handschriften, da sie auf dem Standpunkt steht, daß „durch Verzeichnung aller Interpunctionsabweichungen. . . der Apparat ganz nutzlos angeschwellt" (10, 427) würde. Das war die Ansicht von 1889, als der Tasso-Band der Weimarer Ausgabe erschien, aber heute sehen wir die Bedeutung der Interpunktion anders, und so sollen hier bei der Betrachtung der Tasso-Handschriften grundsätzliche Probleme einer modernen kritischen Edition von Goethes Werken aufgezeigt werden. Die Untersuchung geht dabei von der Entstehungsgeschichte der Handschriften aus, beschreibt dann ihren Befund, versucht, an den Korrekturen eigener oder fremder

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Hand Goethes Willen aufzuzeigen, und möchte sich damit ganz unter das eingangs zitierte Motto stellen: Goethes „höchste Sorgfalt" an diesem Werk aufzeigen, damit es nun wirklich „ganz rein in die Hände des Publikums komme". I Um die Handschriften richtig zu deuten, ist es nötig, ihre Entstehungsgeschichte zu rekonstruieren, denn erst aus ihr wird der Ausgangspunkt für die Beurteilung gewonnen. Die Reinschrift Vogels entstand während der Arbeit Goethes am „Tasso" und spiegelt das Werden des Werkes wider, was aber nicht heißen soll, daß beide völlig parallel gehen. Im Gegenteil! Sie vermögen sich wohl eine Strecke weit gegenseitig zu erhellen, aber die Entstehung des Werkes liegt für entscheidende Abschnitte noch immer im Dunkeln. Was hier versucht werden soll, ist nur eine Klärung der Fragen der Handschriften, und für diese Aufgabe kommt von den Anfängen des Werkes der „Urtasso", d. h. das vor der italienischen Reise Niedergeschriebene, so wenig in Betracht wie der Beginn der Umarbeitung in Italien, von der wir aus Goethes Briefen wissen. Die Vorgeschichte unserer Handschriften setzt mit dem 1. Februar 1788 ein, wo Goethe in der „Italienischen Reise" schreibt: „Tasso muß umgearbeitet werden, was da steht, ist zu nichts zu brauchen, ich kann weder so endigen noch alles wegwerfen." Am 1. März heißt es dann: „Auch ist der Plan von Tasso in Ordnung." Nach diesem Plan ging nun die Umarbeitung vor sich, und Goethe fing damit nicht bei den beiden allein ausgeführten ersten Aufzügen an, die er nach Italien mitgebracht hatte; er ließ auch den Versuch einer Fortsetzung am 3. Akt liegen und wandte sich zuerst dem 5. und 4. Akt zu und arbeitete daran, abgesehen von den durch die Reise und den Neubeginn in Weimar selbstverständlichen Unterbrechungen, von Anfang März bis Ende Oktober 1788. Am 25. Oktober schrieb er an Knebel: „Tasso hat einen Stillstand gemacht." Um diese Schaffenspause fruchtbar zu verwerten, ließ Goethe das bisher Vorhandene durch seinen Schreiber Karl Vogel abschreiben, und dieser quittierte am 4. November den Empfang von 15 Groschen 6 Pfennigen für 14 Bogen des 4. und 5. Aufzugs1. Der 4. Aufzug war aber damals 1 Drei Quittungen. Vogels liegen bei den Rechnungen Goethes im GSA. Abgedruckt wurden sie zum erstenmal in dem Aufsatz von Eduard Scheidemantel, Neues zur Entstehungsgeschichte von Goethes Torquato Tasso. In: GJb 18, 1897, 165f. Scheidemantel hat als erster gesehen, daß die heutige Form der Handschriften nicht die ursprüngliche ist, und hat die einzelnen Abschnitte von Vogels Abschreibetätigkeit zu datieren versucht. Die folgenden Ausführungen sind ihm für die Berechnungen dankbar verpflichtet und stimmen weitgehend mit ihm überein.

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noch nicht vollendet, es fehlten der 4. und 5. Auftritt. Daß hier die ältesten Teile der Handschriften vorliegen, geht auch daraus hervor, daß Antonio noch Battista heißt; erst in Goethes Korrektur wurde der Name geändert. Einen neuen Antrieb erhielt Goethes Arbeit am Werk durch den Besuch von Karl Philipp Moritz von Anfang Dezember 1788 bis zum 1. Februar 1789. Caroline Herder schrieb am 12. Dezember 1788 an Herder nach Italien: „Moritzens Gegenwart tut ihm [ = Goethe] sehr gut, und er muß so lange hier bei ihm bleiben, bis Tasso fertig ist." Damals wurden der 2. und 3. Akt vorgenommen, aber trotz intensiver Arbeit — Caroline schrieb an Herder am 9. Januar 1789: „Er arbeitet viel am Tasso" — waren sie noch nicht vollendet, als Moritz am 1. Februar abreiste. Schon vorher, etwa von Mitte Januar an, scheint eine kleine Pause eingetreten zu sein; Caroline berichtete Herder am 19. Januar: „Goethe ist fleißig beim Tasso gewesen, wie mir gestern Moritz sagte; er ist aber noch nicht damit fertig und pausiert ein wenig." In dieser Zeit stellte Vogel das Mundum der neuen fertigen Teile her und liquidierte dafür am 27. Januar 14 Groschen für 14 Bogen „zum 2ten und 3ten Aufzug". Wie Scheidemantel nachgewiesen hat, handelt es sich dabei um den 2.—5. Auftritt des 2. Aufzugs und den 1.—4. Auftritt des 3. Aufzugs bis Vers 2111 (H2), mit Ausnahme von einem Bogen, der der Schrift nach zu einer späteren Schicht von Vogels Reinschrift gehört. Trotzdem bedeutet diese Auslassung wahrscheinlich nicht, daß die Verse 1740—1816 erst später entstanden sind, sondern wohl nur, daß in diesem Teil so viele Korrekturen waren, daß Vogel diese Seiten noch einmal abschreiben mußte oder daß Goethe sie später noch einmal in geänderter Form diktiert hat. Wenn der Schluß des 3. Aufzugs erst der nächsten Periode von Vogels Niederschrift zugewiesen wird, soll damit nicht behauptet werden, daß Goethe sich über die Fortführung noch nicht klar war und sie erst nach Moritzens Abreise gestaltete. Es kann durchaus sein, daß schon der ganze Akt im Rohbau vorlag und nur noch die Feinarbeit der feilenden Hand fehlte. Obwohl die Entstehungsgeschichte der Handschriften eng mit Goethes Arbeit am „Tasso" verbunden ist, so ist sie doch, wie sich auch hier wieder zeigt, kein Abbild, sondern vermittelt nur einige Anhaltspunkte der Datierung. Anfang Februar, nach der Abreise von Moritz, setzte eine neue Schaffensperiode ein. Der 2 . - 5 . Akt waren der Hauptsache nach fertig, jetzt wurde der 1. Akt vorgenommen und in langsamem Fortschreiten im Februar und März abgeschlossen. Am 19. Februar 1789 schrieb Goethe an Herzog Carl August: „Ich bin fleißig, leider giebt es aber nicht viel aus. Tasso wächst wie

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ein Orangebaum sehr langsam." Am 20. März schickte Goethe das „Ende der dritten Scene" an Caroline Herder, vom 1. Akt fehlte also nur noch die letzte, d. h. die Antonio-Szene. Sie war auch am 6. April noch nicht geschrieben, wie Goethe an diesem Tag dem Herzog berichtete, entstand dann aber im Laufe des April. Dagegen wurde wahrscheinlich noch im März an den im 2. und 3. Aufzug noch fehlenden Auftritten gearbeitet und einiges abgeschlossen. Ende Mai hieß es zwar in einem Brief an Caroline Herder: „Tasso ist so gut als fertig", doch es sollte noch ein Stück Sommer darüber hingehen, bis Goethe am 2. August aus Eisenach an Herder schreiben konnte: „Seit zwey Tagen darf ich erst sagen er sey fertig, denn ich habe noch immer an den letzten zwey Ackten zu thun gehabt." Es handelt sich dabei wohl vor allem um den 4. und 5. Auftritt des 4. Aufzugs, also wieder um eine Antonio-Szene und Tassos Monolog, von denen wir ja schon erfahren haben, daß sie bei Vogels erster Abschrift dieser beiden Akte noch fehlten. Am 5. April 1789 hatte Vogels Abschreibetätigkeit wieder begonnen, wie aus seiner Quittung vom 25. August hervorgeht. Hier bescheinigte er, für 44 Bogen Tasso „vom 5. April bis im Monat Juni" 1 Reichstaler 20 Groschen und für 21 Bogen Tasso im Juli und August 21 Groschen erhalten zu haben. Da die ersten Szenen der Druckvorlage am 22. Juni und der Schluß des 1. Aktes am 29. Juni an Göschen abgeschickt wurden, muß Vogel in der Zeit von April bis Juni die noch nicht vorliegenden Teile des Mundums geschrieben haben, also den ganzen 1. Aufzug und die noch fehlenden Teile des 2. und 3. Aufzugs. Außerdem mußte die Abschrift des Mundums, die als Druckvorlage an Göschen geschickt werden sollte, in Angriff genommen werden, denn Göschen hatte am 17. Juni gemahnt : „Es hängt von Ew. Hochwohlgeboren ab wenn ich mit dem Taßo anfangen soll; alles ist dazu bereit." Nach Scheidemantels Berechnung wurde in diesen Monaten die Druckvorlage des 1. und 2. Aufzugs (H1) hergestellt. Der 3. Aufzug der Druckvorlage (H1) wurde auch in dieser Zeit geschrieben, aber nicht von Vogel, sondern von einem anderen Schreiber, da Vogel wohl wegen des nahen Termins der Ablieferung an Göschen die Abschrift allein nicht bewältigen konnte. Aus der Quittung Vogels vom 25. August ist ersichtlich, daß er im Juli und August 21 Bogen Tasso geschrieben hat; Das müssen von der Reinschrift der noch fehlende 4. und 5. Auftritt des 4. Aufzugs (H1) sein, von denen wir vermuteten, daß Goethe noch ganz zuletzt daran arbeitete. Auch die Druckvorlage des 4. und 5. Aufzugs (H2) wird jetzt abgeschrieben worden sein. Ende August wurde dieser Rest des Druckmanuskripts an Göschen nach Leipzig geschickt.

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Das Mundum, das in Weimar zurückblieb, wurde von Goethe an die Freunde ausgeliehen: am 9. Juli erhielt Knebel den 1.—3. Akt und gab sie in den ersten Augusttagen nach Goethes Anweisung an Herder weiter. Etwa am 18. August wurden Herder die beiden letzten Akte von Goethe direkt zugeschickt1. Wann Knebel sie gelesen hat, wissen wir nicht; Goethe hatte versprochen, sie ihm bei einem persönlichen Besuch mitzubringen. Wer sonst noch das Mundum erhielt, konnte im einzelnen nicht ermittelt werden. Sicher gehörte Prinz August von Gotha dazu, der Anfang November an Herder schrieb, er wolle den „Tasso" wieder zurückschicken. Als Goethe am 12. Februar die 1. Szene des 1. Akts bei Frau von Stein und im April und Mai den ganzen ,,Tasso" bis auf die drei damals noch fehlenden Szenen bei der Herzogin Luise vorlas, geschah es wohl aus einem von ihm selbst geschriebenen Manuskript, das dann die Vorlage für Vogels Mundum war und nach dem Abschreiben vernichtet wurde. Von diesem Exemplar hatte Goethe schon früher einige Szenen Caroline Herder zum Lesen gegeben, die die ersten drei Szenen des 1. Akts abschrieb und Herder nach Italien schickte. Dieser las sie am 9. Mai in der Villa d'Este der Herzogin Anna Amalia und ihrer Begleitung vor, und diese Handschrift scheint dann in Angelika Kauffmanns Besitz verblieben zu sein. Karl Philipp Moritz hatte, vielleicht schon im April, die ersten drei Szenen des 1. Akts bekommen, und auch Herzog Carl August wird eine Abschrift des „Tasso", mindestens einiger Teile, erhalten haben, wie aus Goethes Brief an ihn vom 6. April 1789 hervorgeht. Von allen diesen Handschriften ist heute keine mehr vorhanden. So hatten die Nächsten aus Goethes Kreis das Werk durch Vorlesen oder aus anderen Handschriften kennengelernt, so daß es gut möglich ist, daß die Einsicht in das Mundum auf Knebel und Herder und vielleicht noch den Gothaer Prinzen beschränkt blieb. Die Druckvorlage war in mehreren Lieferungen nach Leipzig geschickt worden. Am 20. August bat Goethe Göschen, doch das Manuskript immer zusammen mit den Druckbogen wieder zurückzusenden, wie es im Verlagsvertrag vom 1. Juli 1786 festgelegt worden war. Das scheint nicht geschehen zu sein, denn am 4. Januar 1790 schrieb Goethe ziemlich energisch: „Ich wünschte nun das Manuscript zurück." Göschen schickte es am 16. Januar, und man kann vermuten, daß Goethe dann die beiden Manu1

Scheidemantel (a. O. 172 Anm. 1) und Graf, Goethe über seine Dichtungen II 4, 318 Anm. 8 nehmen an, daß es sich dabei um die Druckvorlage handelt. Da aber Goethe und der Korrektor in diesen Tagen die Druckvorlage sehr gründlich durchkorrigierten, dabei aber offensichtlich nicht die Reinschrift verglichen, ist es wahrscheinlicher, daß Goethe Herder das Mundum zum Lesen gab.

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skripte mit anderen zusammen seinem Buchbinder Christoph Ludolf Zäncker zum Heften übergab. In der Quittung vom 2. März 17901 verzeichnete Zäncker unter den für Goethe in den letzten Monaten ausgeführten Buchbinderarbeiten auch „4 Stück Schreibe Bücher geheft a 1 Groschen". Wahrscheinlich hat Zäncker damals die verschiedenen Aufzüge der beiden Handschriften nach der Häufigkeit der Korrekturen zusammengeordnet, so daß sich für ihn, und auch heute noch auf den ersten Blick, eine Reinschrift mit wenigen Korrekturen und ein „Corrigirtes Manusciipt", wie auf dem Umschlag steht, ergab. Die Untersuchimg der Handschriften hat aber gezeigt, daß diese Zusammenstellung falsch war. Zur Veranschaulichung des bisher Gesagten folgt hier ein Schema der Reihenfolge der Abschriften: 1. O k t o b e r / N o v e m b e r 1788 5. Aufzug der Reinschrift (H1) 4. Aufzug 1.—3. Auftritt der Reinschrift (H l )

2. J a n u a r 1789 2. Aufzug 2 . - 5 . Auftritt der Reinschrift (H2) 3. Aufzug 1.—4. Auftritt der Reinschrift bis Vers 2111 (H 2 )

3. 5. April bis E n d e J u n i 1789 1. Aufzug der Reinschrift (H2) 2. Aufzug 1. Auftritt der Reinschrift (H2) 3. Aufzug Schluß des 4. Auftritts bis 5. Auftritt der Reinschrift (HJ) 1. Aufzug der Druckvorlage (H1) 2. Aufzug der Druckvorlage (H1) 3. Aufzug der Druckvorlage (H l )

4. -Juli/August 1789 4. Aufzug 4 . - 5 . Auftritt der Reinschrift (H l ) 4. Aufzug der Druckvorlage (H2) 5. Aufzug der Druckvorlage (H2)

II Die beiden Handschriften sind sich sehr ähnlich. Sie haben beide leichtgeripptes Papier in Quartformat mit verschiedenen Wasserzeichen2, auf jedem Titelblatt steht: Torquato Tasso. / Ein Schauspiel, (in H 1 befindet sich noch der spätere Zusatz: Vidi Rz, auf den später eingegangen werden soll), und auf der Rückseite des Titelblatts ist das Personen1 2

In Goethes Rechnungen von 1790 im GSA Über die Wasserzeichen vgl. I 10, 428f. und Scheidemantel a. O. 167

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Verzeichnis des Werkes. H 1 trägt die Signatur 56 a , H 2 56"; die fortlaufende Zählung in beiden Handschriften ist neu, nur im 4. und 5. Aufzug der Druckvorlage hat Goethe die einzelnen Blätter mit großen Zahlen von 1—35 bezeichnet. Beide Handschriften sind, wie erwähnt, mit Ausnahme des 3. Aufzugs der Druckvorlage, von Christian Georg K a r l Vogel (1760—1819) geschrieben. E r war ein besonders zuverlässiger Schreiber, den Goethe sehr schätzte und von 1785—89 ununterbrochen beschäftigte, bis er dann eine Anstellung als Geheimer Kanzleisekretär erhielt, aber auch später noch f ü r Goethe bei der Führung der Korrespondenz und Herausgabe der Werke tätig war. Seine Tüchtigkeit bestand nicht nur darin, daß er eine schöne, saubere Handschrift schrieb, auffallend wenig Schreibfehler machte und ein „wahrer und urteilender Kenner" der Schönschreibekunst war, wie Goethe bezeugt 1 . Der Vergleich der beiden Handschriften ergibt, daß die Druckvorlage in orthographischer Hinsicht einen besseren Text als die Reinschrift hat und daß das nicht auf Korrekturen Goethes zurückgeht, sondern selbständiges Verfahren Vogels ist. Davon soll später noch die Rede sein. Die Reinschrift (Mundum) setzte sich ursprünglich aus dem 1., 2. und 3. Aufzug von H 2 und dem 4. und 5. Aufzug von H 1 zusammen, und die Druckvorlage umfaßte den 1., 2. und 3. Aufzug von H 1 und den 4. und 5. Aufzug von H 2 . Die Richtigkeit dieser Behauptung geht aus dem im vorigen Kapitel Gesagten hervor; außerdem beweisen es die von dem Setzer an den R a n d geschriebenen Bogenbezeichnungen des Erstdrucks (B 17—O 209), die sich in beiden Handschriften finden. Auch eine Kollation des Erstdrucks mit den beiden Handschriften ergab, daß der Druck sich stets nach der Niederschrift mit den Bezifferungen am R a n d richtete, daß dies also die Druckvorlage war. Aus der Entstehungsgeschichte der Handschriften folgt, daß eine Darlegung ihres Befundes sich dieser Chronologie anzuschließen hat. Bevor wir ihre Auswertung geben, soll beschreibend gezeigt werden, wie sich die einzelnen Stadien der Niederschrift im Bild der Handschriften widerspiegeln. 1. Stadium. I n der Reinschrift des 5. Aufzugs (H 1 ) und des 1.—3. Auftritts des 4. Aufzugs (H 1 ), womit Vogels Abschreibetätigkeit am „ T a s s o " begann, finden sich außer einigen orthographischen Korrekturen von seiner Hand Goethes Änderungen mit Bleistift und Tinte. Davon sind die Bleikorrekturen weitaus häufiger und wurden in mehreren Etappen zuerst 1

Brief an Eichstädt vom 17. 11. 1803 (IV 16, 345f.)

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ausgeführt. Einige überschrieb Goethe später mit Tinte und nahm neue Korrekturen gleich mit Tinte vor; schließlich gibt es noch einige. Fälle, wo Goethe die Korrektur erst bei der Durchsicht der Druckvorlage ausführte und dann in das Mundum übertrug. Alle Änderungen sind von sehr eingreifender Art: Die Namen Battista und Pigna f ü r Tassos Rivalen wurden aufgegeben und dafür Antonio eingeführt; die ausführlichen Auftrittsbezeichnungen im 5. Aufzug wurden entweder ganz gestrichen oder durch eine kurze Fassung ersetzt, so daß Goethes Tendenz sichtbar wird, sie auf das unbedingt Notwendige zu beschränken, und jeder neue Auftritt schließlich nur mit der Nennung der auftretenden Personen beginnt. Einige Verse wurden gestrichen (nach 2211 und 2947), an anderen Stellen neue hinzugefügt (2848—49, 2975—88). Auch im einzelnen wurden die Verse einer stilistischen Feilung unterworfen, die entweder Wortänderungen vornahm (2327, 2381, 2397) oder Verse ganz umformte (2248, 2470—71, 3103—04)1. Auch Interpunktionskorrekturen, hauptsächlich mit Blei, finden sich; aber sie bestehen meistens aus hie und da hinzugefügten Satzzeichen — Goethes erste Niederschrift, die wir nicht kennen, scheint nur wenige gehabt zu haben — und rühren nicht von einer systematischen Anwendung bestimmter Interpunktionsregeln her. Das 2. Stadium umschließt den 2.—5. Auftritt des 2. Aufzugs und den 1.—4. Auftritt des 3. Aufzugs der Reinschrift (H2). Das Bild dieser Teile der Handschrift ist auf den ersten Blick dasselbe, zeigt aber dann doch gegenüber dem ersten Stadium zwei Abweichungen. Es finden sich manchmal am Rand und unter einigen Worten kleine Rötelstriche, die von Goethe bei der ersten Durchsicht des Manuskripts angebracht wurden und die Verse, in denen er später etwas ändern wollte, markieren sollten. Die ausgeführten Korrekturen beziehen sich vor allem wieder auf die sprachliche Gestaltung: Verse wurden gestrichen (nach 1437), hinzugefügt (1615—16, 1702—03), komprimiert (1531 — 32, 1536), ganz umgeformt (1317—19, 1898—99) oder erhielten durch ein geändertes Wort eine neue Tönung (1396, 1485, 1697). Im 3. Aufzug sind diese Textänderungen seltener als im 2.; hier scheint Goethe sich zum Teil Vers für Vers immer wieder vorgenommen und bis in jedes Komma durchdacht zu haben. Wo die Fülle der Korrekturen einen schwer lesbaren Text ergeben konnte, schrieb Goethe die neuen Verse auf einen besonderen Zettel und klebte ihn über die alten (1317—19). Für seine überaus sorgfältige Korrekturarbeit möge ein Beispiel für viele stehen. Die Verse 1429—30 lauteten ursprünglich: 1

Die aufgezählten Verse sind immer Beispiele und keine vollständige Registrierung.

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Er hat die Glut entzündet, angefacht Die wirblend meine Seele schmerzlich faßte.

Am Band des 2. Verses findet sich ein Rötelstrich, und bei der nächsten Durchsicht schrieb Goethe mit Blei unter „Die wirblend" „Gewaltsam". Dann erfolgte eine neue Bleistiftänderung über und unter diesem Wort; von der oberen Zeile ist zu entziffern: „Er hat die Glut gewaltsam angefacht", von der unteren: „Die mich ergriffen". Schließlich wurden die Bleistiftverse ausradiert und die endgültige Fassung mit Tinte hingeschrieben : Er hat die Glut gewaltsam angefacht, Die mich ergriff und mich und ihn verletzte.

Die zweite Besonderheit, der man in diesem Stadium der Niederschrift begegnet, sind Zeichen einer fremden Hand. Vom 2. Auftritt des 2. Aufzugs an stößt man auf Interpunktionskorrekturen, die nachträglich hinzugefügt oder geändert wurden und weder Goethes noch Vogels Duktus haben. Diese dritte Hand setzt die Feder nicht energisch auf, sondern schreibt behutsam, etwas kritzelig und gehört einem Manne, der mit den grammatischen Regeln des Interpunktion genau Bescheid wußte. Darum scheint Goethe ihm von nun an regelmäßig alles von Vogel Geschriebene gegeben zu haben, damit er es mit moderner Zeichensetzung versähe, auch wohl noch einige orthographische Änderungen vornähme, und Goethe sich ganz auf die stilistische Bearbeitung konzentrieren könne. Das bedeutet aber nicht, daß Goethe sich jetzt überhaupt nicht mehr um die Zeichensetzung kümmerte. Im 4. Auftritt des 2. Aufzugs findet sich z. B. fast in jedem Vers ein Komma oder Ausrufungszeichen von seiner Hand, aber es gibt auch Auftritte, die er nur flüchtig durchsah. Damit der „Tasso" aber auch in der Interpunktion einheitlich und genau sei, sollte der Unbekannte, den wir einstweilen den Korrektor nennen wollen, den ganzen Text auf ihre Richtigkeit durchsehen. Das 3. Stadium der Niederschrift umfaßt den 1. Aufzug und die noch nicht geschriebenen Teile des 2. und 3. Aufzugs der Reinschrift (H2) und den 1., 2. und 3. Aufzug der Druckvorlage (H1). Ein gewaltiges Stück Arbeit, das in den Monaten April bis Juni 1789 geschafft werden mußte, denn es umschloß für diese Teile alle Stadien der Entstehung, Niederschrift und Korrektur! Die ersten drei Auftritte des 1. Aufzugs zeigen schon im Mundum, daß hier eine späte, ausgereifte Form des Werkes vorliegt. Auf 33 Seiten nur dreimal ein Bleistiftstrich am Rand, daß hier etwas geändert werden sollte! Kein Vers wurde gestrichen, keiner hinzugefügt, nur einmal fand

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eine Umformung statt (257—58) und selten eine Wortänderung (99, 327, 382, 419). Auch die Interpunktionskorrekturen Goethes und des Korrektors sind verhältnismäßig spärlich. Manche wurden von Goethe erst bei der Korrektur der Druckvorlage in beiden Handschriften eingetragen, und die letzten 8 Seiten scheint er nur überflogen zu haben. Dagegen zeigt der 4. Auftritt, die Antonio-Szene, von der wir aus der Entstehungsgeschichte wissen, daß Goethe sich sehr mit ihr abmühte, in der ersten Hälfte viele Korrekturen. Vogels Schrift läßt erkennen, daß zwischen dem Ende des 3. Auftritts und dem Anfang des 4. eine Pause lag: seine Schrift ist dann etwas kleiner, zierlicher und die Tinte brauner. Goethe setzte wieder Rötelstriche an den Rand, auf der 2. Seite gleich drei! Die umfangreicheren Textkorrekturen wurden zuerst mit Bleistift hingeschrieben, aber die Änderung sollte zunächst nur als Möglichkeit in Betracht kommen. In Vers 574—75, der ursprünglich lautete; Für manchen langen, schmählich durchgeharrten Und absichtsvoll verlohrnen Tag

schrieb Goethe darüber mit Blei: „oder: bald mit Ungeduld durchharrten,". Da er sich für diese Version entschied, wurde der Text nun mit Tinte gestrichen und geändert zu der Fassung: Für manchen bald mit Ungeduld durchharrten, Said absichtsvoll verlohrnen Tag.

Bei Vers 582: Des viel erfahrnen Mannes auch zu erfreun

erwog Goethe, den Anfang des Verses durch „Des Manns der viel erfahren" zu ersetzen, verwarf es aber bei einer späteren Durchsicht, radierte es aus und änderte nur wegen des Versrhythmus „erfreun" in „freun". Da diese ausradierten Stellen kaum noch zu entziffern sind, blieben sie bisher unbeachtet, und doch sind sie aufschlußreich, weil wir hier einen Blick in die Werkstatt Goethes und das Werden der Endfassung tun. In den jetzt erst ausgeführten Teilen des 2. und 3. Aufzugs finden sich Goethes Rötelstriche am Rand häufig, und nur wenige Male hat er sie bei der Korrektur nicht beachtet. Bei der ersten Durchsicht mit dem Rötelstift in der Hand nahm Goethe auch gleich Interpunktionskorrekturen im Text vor, von denen er später einige mit Tinte nachzog. Neu hinzugefügt wurden die Verse 951—58; Goethe schrieb sie auf einen besonderen Zettel, der dann eingeklebt und noch einmal mit Tinte und Rötel durchkorrigiert wurde. Im allgemeinen überließ Goethe die Interpunktion aber ganz dem Korrektor und beschränkte sich auf stilistische Änderungen, bei denen hier

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auffällt, wie sehr er an der rhythmischen Gestaltung arbeitete, um den Vers ohne Anstoß ebenmäßig dahinfließen zu lassen (854, 861, 915). Die Abschrift der Druckvorlage fertigte Vogel erst an, nachdem Goethe und der Korrektor im Mundum alle Korrekturen vorgenommen hatten. So zeigt sie auf vielen Seiten hintereinander den Anblick einer vorbildlichen Schreiberhandschrift, kalligraphisch schön, ganz ohne Verbesserungen von ihm selbst und mit nur wenigen Korrekturen Goethes. Diese betreffen im 1. und 2. Aufzug der Druckvorlage nicht mehr Textänderungen, sondern ausschließlich Verbesserungen der Orthographie und Interpunktion. Auf den ersten Seiten scheint Goethe beide Handschriften vor sich gehabt und seine Änderungen in der Druckvorlage auch in das Mundum Überträgen zu haben, denn die ersten Bleistiftkorrekturen sind in beiden Handschriften dieselben (17, 21, 27, 181). Später beschränkte er sich auf die Druckvorlage und kennzeichnete die verbesserungsbedürftigen Verse am Rande mit einem Haken aus Blei oder Tinte. Hier änderte er dann später die Schreibung eines Wortes oder ein Satzzeichen, und es scheint, daß Goethe bei der Revision nur diese herausgehobenen Stellen vornahm, denn nur ganz selten trifft man auf Änderungen ohne diesen Hinweis. Manchmal ist 7, 9, ja 15 Seiten lang kein Haken und keine Korrektur zu sehen, und es bleibt unentschieden, ob Goethe hier mit allem einverstanden war oder diese Seiten nur flüchtig durchblätterte. Ganz anders ist das Bild des 3. Aufzugs der Druckvorlage! Anscheinend drängte die Zeit der Ablieferung an Göschen, und Vogel konnte nicht alles allein bis zu dem vereinbarten Termin abschreiben. So wurde der 3. Aufzug einem anderen Schreiber anvertraut, und durch einen Vergleich von Handschriften läßt sich vermuten, daß Goethes Faktotum Johann Georg Paul Goetze die Abschrift anfertigte. Goetze (1759—1835) war 1777 als Goethes Diener in sein Haus gekommen und blieb bis 1794. Dann wurde er Baukondukteur und 1807 Wegebauinspektor in Jena, aber seine Anhänglichkeit scheint sich bis zu Goethes Tod bewährt zu haben, denn noch in den letzten Jahren vermerkt das Tagebuch seinen Besuch bei Goethe. Als Hausgenosse des Dichters wurde er auch mit Schreibarbeiten beauftragt, aber gerade die Abschrift des 3. Tasso-Aktes, die doch als Druckvorlage dienen sollte, zeigt einen gewaltigen Qualitätsunterschied zu Vogel. Goetze war in der Orthographie anscheinend unsicher, vor allein im Gebrauch der Doppelkonsonanten, und schrieb dasselbe Wort verschieden; aber anstatt sich nach Vogels Vorbild zu richten, blieb er hartnäckig dabei, dessen richtige Schreibung durch seine falsche zu ersetzen, Kommata auszulassen und Goethes Korrekturen nicht zu beachten oder mißzuver-

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stehen. Dafür ist ein besonders tolles Beispiel Vers 1677, wo Vogel in der Reinschrift versehentlich „als eben ihn sich Tasso stellte" geschrieben hatte. Goethe verbesserte aus „eben" „neben", und Goetze machte daraus: „als'n eben ihn". In 1814—16 ließ er von zwei Versen je eine Hälfte aus und brachte in den dritten drei Fehler hinein. Daraufhin schrieb Goethe die drei Verse noch einmal auf einen Zettel und klebte ihn über die korrumpierte Stelle. So mußte Goethe den Text sehr genau und mehrmals kontrollieren, und seine ersten Verbesserungen betrafen nur Abschreibefehler. Trotzdem übersah er noch viele Nachlässigkeiten, die dann stillschweigend beim Satz des Erstdruckes in Ordnung gebracht wurden. Der Zwang zur genauen Durchsicht bewirkte noch einige Textverbesserungen (1898—99, 1996, 2150—51), die Goethe nachträglich auch dem Mundum einfügte. Sein letztes Korrekturlesen ist vielleicht gleichzeitig mit dem der beiden «rsten Aufzüge vorgenommen worden und betrifft dieselben orthographischen Neuerungen gegenüber dem Mundum, am Rand der Seiten durch Haken mit Bleistift gekennzeichnet. I m 4. Stadium wurden von Vogel der 4. und 5. Auftritt des 4. Aufzugs der Reinschrift (H 1 ) und der ganze 4. und 5. Aufzug der Druckvorlage (H 2 ) abgeschrieben. Die letzten Auftritte des 4. Aufzugs machen auf den ersten Blick den Eindruck einer gänzlich unkorrigierten Reinschrift, und man begreift Zänckers Versehen, der sie in die Druckvorlage heftete. Erst bei genauem Hinsehen entdeckt man Bleistiftkorrekturen Goethes, die anscheinend alle von demselben einzigen Durchlesen stammen und außer zwei kleinen Textkorrekturen hauptsächlich Interpunktionszusätze sind. Zu dieser Vermutung kommt man durch die innerhalb der Reinschrift ganz ungewöhnliche Tatsache, daß sich weder Rötel- noch Bleistiftstriche am Rand befinden und daß der Korrektor diese beiden Szenen offensichtlich nicht in der Hand gehabt hat. Der Grund lag wohl darin, daß der Ablieferungstermin der Druckvorlage nahte; so wurden die beiden Auftritte nur einmal flüchtig von Goethe durchgesehen und dann sofort an Vogel zur Abschrift weitergegeben. Wir erinnern uns, daß der 4. und 5. Aufzug, abgesehen von den beiden eben besprochenen Auftritten, das erste gewesen war, was Vogel abgeschrieben und Goethe korrigiert hatte. Der Korrektor war damals noch nicht beteiligt und Adelungs Orthographie noch nicht durchgearbeitet und zur Richtschnur genommen. So haben wir für diese Teile die Textkorrekturen in der Reinschrift und die Änderungen in Interpunktion und Orthographie in der Druckvorlage. Natürlich ist diese Scheidung nicht rein durchzuführen, denn auch im Mundum finden sich Interpunktionszusätze, und die Druck-

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vorläge weist eine Reihe von Textänderungen auf (2277, 2309—13, 2530—31, 2628—29). Aber die Intention lag dort bei der sprachlichen Feilung und hier bei der Zeichensetzung. Der Korrektor hatte die Reinschrift nicht durchgesehen, und die Druckvorlage war ihm bisher noch nie gegeben worden; so mußte Goethe nun selbst sein ganzes Augenmerk auf die Interpunktion richten und war zu genauer, mehrfacher Durchsicht gezwungen. Es finden sich auch jetzt noch Blei- oder Rötelstriche am Rand, wo später eine sprachliche Änderung durchgeführt wurde, aber viel öfter verbesserte Goethe mit dem Rötelstift die Interpunktion gleich im Text. Häufig zog er sie dann noch mit Tinte nach und unterstrich dadurch seine Absicht. Bei demselben Korrekturvorgang wurden auch neue Satzzug, vor mit Tinte hinzugefügt oder geändert, so daß wir in diesem 4. Aufzeichen allem im 1.—4. Auftritt, Goethes Korrekturen ganz rein und ohne fremde Beimischung haben und an ihnen seinen Willen klar ablesen können. Der 5. Auftritt, der Monolog Tassos, wurde nur flüchtig durchgesehen. Hier setzte nun wieder die Durchsicht des Korrektors ein, und Goethe überließ sie ihm so sehr, daß er selbst auf ein nochmaliges Lesen verzichtete und seine geplante Korrektur — ein Rötelstrich am Rand bei Vers 2810 deutet darauf hin — nicht ausführte. Diese sporadische Art des Korrekturlesens setzte sich dann auch im 5. Aufzug fort. Es scheint, daß Goethe ihn gleich nach der Fertigstellung der Niederschrift aufmerksam durchlas und seine Rötelzeichen am Rand eintrug. Dann begann er mit der Text- und Interpunktionskorrektur, verharrte aber nicht lange dabei, sondern übergab das Manuskript dem Korrektor, der nun seine Interpunktion hineinarbeitete. Schließlich erfolgte Goethes weitere ändernde Durchsicht, die bald einige Seiten genauer, dann wieder andere flüchtiger vornahm. Umarbeitung von Versen (2853, 2981, 3187), Wortänderungen (3228, 3269), orthographische Verbesserungen (2839, 3115), vielleicht auch noch einige neue Satzzeichen sind das sichtbare Ergebnis. Aber gegen Schluß des Werkes finden sich immer weniger Korrekturen von seiner Hand, bis schließlich im 5. Auftritt noch nicht einmal mehr die Rötelstriche beachtet wurden, so daß man hier nur noch vermuten kann, woran Goethes kritische Überlegung beim ersten Lesen Anstoß genommen hatte. Doch auf der letzten Seite springt dem Blick noch einmal Goethes Handschrift entgegen, und diese Änderung zeigt die ganze Großartigkeit und Wucht seiner Korrekturarbeit, so daß man nur bedauern kann, daß er die anderen im 5. Auftritt vorgesehenen Änderungen nicht ausführte. Vers 3449—50 lautete:

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Seh ich schon Den Boden sich zu meinen Füßen theilen!

Goethe änderte: Berstend reißt Der Boden unter meinen Füßen auf!

III Die Beschreibung des Handschriftenbefundes wollte versuchen, ein Bild der beiden Niederschriften zu vermitteln und den Prozeß von Goethes Korrekturarbeit und die Intensität seiner Beschäftigung mit diesem Werk sichtbar werden zu lassen. Es bleibt die Frage nach der Bedeutung all dieser Korrekturen zu beantworten. Textänderungen, Vereinheitlichung der Rechtschreibung, Verbesserungen der Zeichensetzung, ausgeführt von Goethe, dem Schreiber und einem unbekannten Korrektor — läßt sich in diesem Vielerlei ein einheitlicher Wille erkennen, und was bezweckte er? 1. Textänderungen Als Vogel mit der Abschrift der beiden Handschriften beauftragt wurde, handelte es sich darum, die vorliegende Endgestalt des „Tasso" in eine schöne äußere Form zu bringen, die als Reinschrift für Goethes eigenen Gebrauch und als Druckvorlage für Göschen dienen sollte. So würden wir eher vermuten, daß der Text völlig unangetastet blieb, als daß er noch geändert wurde. Wenn nun doch Verbesserungen vorgenommen wurden, zeigt sich hierin Goethes unermüdliches Bemühen um seine „konsequente Komposition". Aber es ist selbstverständlich, daß die Substanz nicht mehr angerührt wurde; es tauchte zum Schluß kein neuer Gedanke auf, keine inhaltliche Verschiebung fand statt oder eine Änderung in der Komposition. Das alles gehörte früheren Stadien der Entstehungsgeschichte an, und was abgeschrieben wurde, war das in Gehalt und Gestalt fertige Werk. Was nun noch daran vorgenommen wurde, war die Fein- und Kleinarbeit des letzten Handanlegens, Oberflächenbehandlung, in der sich aber genau wie in der großen Gestaltung Goethes Wille aussprach und die dadurch auch in die Tiefe reichte. Aus der Beschreibung der beiden Handschriften war deutlich geworden, daß Goethe bei der Korrektur ursprünglich sein ganzes Augenmerk nur auf die Überarbeitung des Textes gerichtet hatte. Blei- und Rötelstriche am Rand sollten dafür Wegweiser sein; Interpunktionen fielen nur nebenbei mit ab, und erst später wurde ihnen und der Orthographie ein besonderes Interesse gewidmet. Diese Textkorrekturen bezogen sich auf Streichung,

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Hinzufügung und Umformung ganzer Verse, auf Verbesserung einzelner Worte und Behandlung des Rhythmus. Auf sie im einzelnen einzugehen, ist im Rahmen unserer Aufgabe unmöglich; es sollen hier nur einige Beispiele herausgegriffen werden, an denen deutlich wird, was Goethe mit seinem Ändern bezweckte. Stellt man alle Textkorrekturen Goethes zusammen und untersucht sie auf ihre Bedeutung, so scheinen sie alle den Sinn zu haben, den sprachlichen Leib dieses Wunderwerkes noch klarer, einfacher und „konsequenter" sichtbar werden zu lassen. Abgesehen von den mehr technischen Richtigstellungen der grammatischen Konstruktion (923, 1982, 2277, 3187) und des Versrhythmus (746, 855, 1974, 2424) sollte durch die Korrektur eine klarere und zugleich schlichtere Form der Aussage gefunden werden. Dies mögen einige Beispiele illustrieren. Im Mundum stand: Als ich den Kardinal begleitend reiste,

Goethe verbesserte daraus: Als ich dem Kardinal nach Frankreich folgte (1563).

2981 lautete ursprünglich: Werd* ich noch eh als sie zu Hause seyn

und heißt jetzt: Werd' ich vor ihnen noch zu Hause seyn.

In der alten Fassung stand: Nein, künftig soll Nicht Tasso zwischen Bäumen zwischen Menschen Sich sinnend einsam mehr verlohren wandlen.

Der letzte Vers wurde geändert in: Sich einsam, schwach und trübgesinnt verliehren! (1168)

Dies Bemühen um Klarheit ließ Goethe nicht nur einzelne Ausdrücke ändern, sondern erstrebte auch die Durchsichtigkeit des Satzgefüges. Bei der Formulierung: Um deiner würdig wie es möglich ist Dir sein Gedicht als Opfer darzubringen

war nicht sicher zu erkennen, worauf sich „würdig" beziehen sollte, ob auf die Person des Schenkers oder das Geschenk. Ebenso scheint Goethe bei der Korrektur an der zweiten Hälfte des Verses „wie es möglich ist"

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Anstoß genommen zu haben; jedenfalls wurde sie gestrichen und die Beziehung des „würdig" eindeutig herausgestellt: Um deiner Huld die ihm soviel gewährt, Ein würdig Opfer endlich darzubringen. (257—58)

Die Verse 2309—13 lauteten ursprünglich: Und das verdrießt mich, denn er weiß so glatt Und so bedingt zu sprechen, daß sein Lob Erst recht zum Tadel wird und daß nichts mehr Nichts tiefer dich verletzt als eben Lob Aus seinem Munde.

Bei der Durchsicht bemängelte Goethe vermutlich, daß nichts Zusammengehöriges: „so glatt und so bedingt", „sein Lob — zum Tadel", „nichts mehr — nichts tiefer" in einem Vers stand. Durch den kleinen Kunstgriff, daß er das Wort „eben" aus Vers 2312 in Vers 2309 versetzte, erreichte er diese Zusammenordnung, und es ist erstaunlich, wie der Vers damit an Klarheit und Einfachheit gewann: Und das verdrießt mich eben; denn er Weiß So glatt und so bedingt zu sprechen, daß Sein Lob erst recht zum Tadel wird und daß Nichts mehr, nichts tiefer dich verletzt als Lob Aus seinem Munde.

Die Vorhebe für den schlichten Ausdruck bedeutet aber nicht, daß das gängige und uncharakteristische Wort gewählt wurde. Man hat im Gegenteil den Eindruck, daß jedes Attribut, Substantiv und Verb auf seine Prägnanz hin abgewogen und ausgesucht wurde. So hieß es im Mundum: Doch giebt es leichte Kränze, Kränze giebt es Von mancher Art und sind auf manche Weise Oft im Spazierengehn leicht zu erreichen.

Die Verbindung „Art und Weise" stellt sich schnell als Redensart ein, ohne daß etwas Verschiedenes damit gesagt wird. Durch das doppelte „manche" wird die Tautologie noch verstärkt, und darum änderte Goethe: Doch giebt es leichte Kränze, Kränze giebt es Von sehr verschiedner Art, sie lassen sich Oft im Spazierengehn bequem erreichen. (1300—02)

Das zweifache „leicht" wurde dabei auch umgangen, und es scheint überhaupt ein besonderes Anliegen Goethes gewesen zu sein, jede Wiederholung eines Ausdrucks zu vermeiden. So änderte er „Gerechtigkeit" in „Gelegenheit" (99), „gesteh" in „bekenn" (1996), „selbst" in „ganz" (2229),

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„würcken" in „kämpfen" (2397), da dasselbe Wort schon einmal in der Nähe vorkam. Auch ganze Verse wurden gestrichen, um einer Wiederholung desselben Gedankens, wenn auch mit anderen Worten, aus dem Wege zu gehen (nach 1437, 2211, 2947). Die Vereinfachung der szenischen Bemerkungen, auf die bereits hingewiesen wurde (S. 151), stammt wohl aus demselben Bedürfnis nach Beschränkung auf das Notwendige. Jeder Ablenkung von der Haupthandlung wurde vorgebeugt. So hatte in der ersten Antonio-Szene Leonore den Herzog apostrophiert: Womit verdient ich heut, daß du, o Fürst! So wenig eine Freundinn schonen magst.

Danach konnte man ein Sondergespräch erwarten, das vom Hauptthema fortgeführt hätte. Goethe zog die Verse in einen zusammen und wandelte die Aufforderung zu einem neckenden Geplänkel in ein Abwehren: Du willst mich reitzen, es gelingt dir nicht. (650)

Bei allen angeführten Beispielen war offensichtlich, daß das Bestreben nach Konzentration und sprachlicher Feilung die Feder geführt hatte. So mag auch das Verbessern einzelner starker Ausdrücke — aus „Pöbel" wurde „Volk" (1396), aus „schelten" „tadeln" (923) — noch mit stilistischen Erwägungen zu erklären sein. Aber diese Milderung blieb nicht auf die Region der sprachlichen Vervollkommnung beschränkt, sondern griff auf das Wesen der Menschen des Dramas über, und Goethe vermochte durch wenige Änderungen nicht nur Schärfen zu tilgen und den Sprechenden beherrscht zu zeigen, sondern die Persönlichkeit selbst rückte in ein anderes Licht. Wir wissen, daß sich Goethes Auffassung von der Antoniogestalt im Verlauf der Arbeit am „Tasso" gewandelt hatte; aber daß er bis in die letzte Korrektur hinein noch diesem neuen Bild Ausdruck verschaffen wollte, zeigen erst die Änderungen in den Handschriften. So ist es nicht unbedeutsam, daß der vorhin erwähnte Ausdruck „Pöbel" von Antonio gebraucht wurde. Ebenso ist aufschlußreich, daß sich fast alle in den Korrekturen hinzugefügten Verse auf Antonio beziehen; sie stammen aus Szenen, in denen er entweder anwesend (1199, 1615—16, 2975—88) oder Gegenstand des Gesprächs (1702—03) ist. Was hier und in anderen geänderten Versen von ihm oder über ihn gesagt wurde, zeigt, wie Goethe bestrebt ist, jede negative Charakteristik von Antonios Wesen zu tilgen und durch ein sachliches Urteil zu ersetzen. So sagte Tasso ursprünglich von ihm: was weder Gold Noch Schwerdt, noch List, noch die Beharrlichkeit Erzwingen kann, das wird er nie verzeihn. (2326—28)

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Goethe ersetzte „List" durch „Klugheit", so daß sich das negative Urteil in ein positives wandelte, ohne daß sich doch in der sachlichen Aussage etwas änderte; außerdem strich er den Artikel vor „Beharrlichkeit", so daß nun kein Substantiv mehr hervorgehoben wird. — Antonios Worte nach dem Streit mit Tasso: Und seinen Lippen ist im größten Zorne Kein sittenloses Wort entflohn. (1615—16)

sind von Goethe im Mundum hinzugefügt worden, um Antonios auch in der Selbstverteidigung noch gerechtes Urteil über den Gegner zu zeigen. Dadurch wurde die wenige Verse später vorgenommene Einfügung bei den Worten des Herzogs zu Antonio: Du wirst als Freund und Vater mit ihm sprechen, (1633)

innerlich vorbereitet und wirkte nun nicht mehr befremdend. Dieselbe Tendenz, Schärfe zu vermeiden, veranlaßte Goethe zu einer bedeutsamen Umstellung in der Auseinandersetzung des Herzogs mit den beiden Rivalen nach dem Streit (II, 4). In der ersten Niederschrift hatte der Herzog von Tasso den Degen verlangt; Goethe strich und änderte diese Stellen, und jetzt übergibt Tasso den Degen ohne Aufforderung. Eine Gegenüberstellung der beiden Fassungen zeigt, wie stark die Szene durch diesen neuen Zug gemildert wurde, wie eine größere Schlichtheit der Sprache damit Hand in Hand ging und zugleich die Katastrophe von außen nach innen verlegt wurde. Der Befehl wurde ursprünglich ausgesprochen : Gieb deinen Degen Freywillig ab und sey auf deinem Zimmer.

Jetzt lautet er: Verlaß uns, Tasso! bleib auf deinem Zimmer (1531).

Tasso antwortete früher darauf: O Fürst, dein Wort, dein richterlicher Spruch Beraubt mich meiner Waffen, übergiebt Mich Freyen der Gefangenschaft.

Jetzt heißt es schlicht: O Fürst, es übergiebt dein ernstes Wort Mich Freyen der Gefangenschaft. (1536—37)

Noch eine dritte Stelle wurde geändert. Einige Verse später hatte Tasso gesagt: Den Degen forderst du den du mir gabst,

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nun wurde daraus: Hier nimm den Degen erat, den du mir gabst (1562).

Aus den angeführten Beispielen geht hervor, wie sehr Goethe sich um Klarheit und Schlichtheit der Form bemühte, aber sie zeigen auch, daß die Durchsichtigkeit und Prägnanz der Sprache, die wir am „Tasso" bewundern und die Goethe selbst dieses Werk höher als die „Iphigenie" einschätzen ließ (Caroline Herder an Herder am 6. 10. 1788), nicht von Anfang an da war, sondern Ergebnis mühevoller Arbeit wurde, deren letzte Spuren wir in den beiden vorliegenden Handschriften verfolgen können. So konnte Goethe, kurz bevor die letzten Teile des Manuskripts an Göschen geschickt wurden, sich Herder gegenüber äußern, er habe dies Werk mit einer „unerlaubten Sorgfalt" gearbeitet (am 10. 8. 1789). 2. Orthographie Im Vertrag zwischen Goethe und Göschen über die Herausgabe der „Schriften" war vereinbart worden, „der Adelungischen Rechtschreibung vollkommen zu folgen"1. Der Leipziger Gelehrte und spätere Dresdner Bibliothekar Johann Christoph Adelung (1732—1806) hatte eine Reihe sprachgeschichtlicher, grammatischer und orthographischer Werke verfaßt, von denen die „Grundsätze der deutschen Orthographie" zuletzt erschienen waren (1782). So stand für den „Tasso" der Kanon von vornherein fest, und man kann nur mit Überraschung konstatieren, daß Vogels Niederschriften eine Wandlung der Orthographie aufweisen. Bis Januar 1789, also in den beiden ersten Stadien seiner Abschreibetätigkeit, schrieb er in seiner gewohnten Rechtschreibung, in der z. B. auch der Verlagsvertrag gehalten war und die ausdrücklich als die „Adelungische" bezeichnet wurde. Dann übernahm er bestimmte Neuerungen, die er zuerst in die schon vorliegenden Teile des Mundums hineinzukorrigieren suchte, vor allem im 4. Aufzug von H 1 . Dies mühsame Geschäft gab er aber bald auf und schrieb von nun an die neuen Teile gleich in einer moderneren Schreibweise. Seine Richtschnur für die Änderungen war das soeben erschienene neue Werk Adelungs: „Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie nebst einem kleinen Wörterbuche für die Aussprache, Orthographie, Biegung und Ableitung", das Göschen an Goethe am 1. November 1788 geschickt hatte. Goethe hatte im Dezember zwei weitere Exemplare nachbestellt, und wir möchten vermuten, daß eins davon zu Vogels Studium bestimmt 1

Die Angaben in diesem Kapitel über den Vertrag und die Korrespondenz mit Göschen sind den Akten im GSA entnommen: Verl. I. A. „Die Ausgabe Goetheisoher Schriften betr."

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war, dem er sich in der Abschreibepause Februar/März 1789 eifrig hingab, so daß er vpn da an die neue Orthographie anwenden konnte. Aber auch Goethe scheint sein eigenes Exemplar gründlich benutzt zu haben, denn nachdem der letzte Teil des Druckmanuskripts endlich abgeschickt war, ließ er sich seinen Band der „Orthographie" von dem Buchbinder Zäncker binden, der auf der Rechnung vom 21. Dezember 1789 vermerkte: „Adelungs Orthographie in Pappe 3 Groschen". Leider befindet sich heute dieser Band nicht mehr in Goethes Bibliothek, auch kein anderes der beiden bei Göschen bestellten Exemplare. Adelungs Besonderheit innerhalb seiner zeitgenössischen Orthographiereformer besteht darin, daß er nicht ausschließlich die Aussprache oder die Etymologie zum Grundgesetz der Schreibung machen wollte, sondern nachwies, daß es „orthographische Schreibegesetze" gäbe, die ganz bestimmte Mittel der Anwendung verlangten. So ist sein Verfahren im ganzen konservativ, und er verbreitet sich ausführlich darüber, daß man nicht ohne Notwendigkeit orthographische Neuerungen einführen dürfe, weil eine „sehr merkliche" Veränderung des Wortbildes eine „Zerrüttung" der Vorstellung nach sich ziehen könne. Seine Regeln bedeuten keine R e f o r m der Schreibung, sondern bezwecken vor allem Vereinheitlichung, Differenzierung, Vereinfachung der verschiedenen orthographischen Möglichkeiten und damit eine allmähliche Modernisierung, die Veraltetes oder Provinzielles abstreifen sollte und eine einheitlich „richtige" Schreibimg erstrebte. All dies untersteht dem Leitmotiv: „Eine schöne Schriftsprache muß nach den Begriffen der Würde, der Schicklichkeit, des Wohlanständigen ausgebildet werden, und es ist eine Vollkommenheit mehr, wenn sie das auch in ihrer Orthographie zeigt" (S. 274). Vielleicht war es unter anderen Gründen dies konservativ-ästhetische Verhalten, das Goethe veranlaßte, Adelungs Orthographie für die „Schriften" als maßgebend zu erklären und sich und den Schreiber beim „Tasso" der Mühe des Umlernens zu unterziehen. Wie wirkte sich nun die neue „Orthographie" von 1788 in den TassoHandschriften aus? Es scheint Goethe vor allem darauf angekommen zu sein, alle oberdeutschen Eigentümlichkeiten zu tilgen. Als solche gelten bei Adelung bestimmte Wortformen, z. B. rucken statt rücken, und außerdem wurden noch keichen in keuchen, würken in wirken, nutzen in nützen, Trutz in Trotz geändert. Nur betrügen wurde beibehalten — ob mit Absicht oder aus Versehen, steht dahin —, obwohl Adelung behauptete, die von jeher übliche Form sei betriegen und müsse es auch bleiben. Die größte Schwierigkeit für Oberdeutsche besteht nach Adelung darin, s, ss und ß richtig zu unterschei-

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den, und an der Stelle wird er geradezu ausfallend gegen die armen Oberdeutschen: „Wenn sie harthörig genug sind, diesen Unterschied nicht zu empfinden, so ist weiter nicht mit ihnen zu streiten; aber sie müssen alsdann auch auf hochdeutsche Feinheit und Genauigkeit Verzicht leisten" (S. 181). Das wollte Goethe gewiß nicht, und so wurden alle vorkommenden s nach Adelungs Vorschriften behandelt, wobei im Einzelfall sicher auch das Wörterbuch am Schluß des Bandes benutzt wurde. Die Schreibungen laßen, faßen, Prinzeßinn, wißen, stosen, begrüsen, reisen (für reißen), Füse, preißen und viele andere mußten verschwinden, und ein Überblick über die Korrekturen zeigt, wie energisch hier durchgegriffen wurde. Daneben ist die häufigste Änderung die Tilgung des c von ck bei vorangehendem Konsonanten: denken, danken, schränken, Kranke, Wölkchen, Geschenk, Kerker, Markt hatte Vogel im Mundum mit ck geschrieben, und in der Druckvorlage wurde daraus ein einfaches k. Die Beispiele hierfür lassen sich nicht aufzählen; aber manchmal hat sich doch die alte Schreibung gehalten, und es kommt sogar vor, daß Vogel in den späteren Teilen des Mundums ein Wort modern schrieb und in der Druckvorlage wieder in die alte Form zurückfiel. Ein ausführliches Kapitel bei Adelung behandelte die Dehnungszeichen, bei denen auch die Regeln für den Gebrauch von y und i und den Endungen ieren und iren aufgestellt wurden. An einer Stelle scheint Adelungs formalästhetisches Prinzip wieder durch, wenn er behauptete, eine gedehnte Wurzelsilbe brauche nicht durch ein Dehnungszeichen verlängert zu werden, wenn sie vier oder mehr Buchstaben umfasse, denn sie habe dadurch schon den „gehörigen Umfang im Äußern" (S. 281). Darum müssen Meer, mehr, Loos, Saal ein Dehnungszeichen haben, aber Qual, Schar, Schere bedürfen dessen nicht. Eine schwierige Angelegenheit scheint für Vogel die Anwendung des Apostrophs gewesen zu sein. Adelung hatte darüber verfügt, daß er nur selten zu gebrauchen sei und höchstens der „vertraulichen und dichterischen Schreibart" (S. 401) nachgesehen werden könne. Notwendig sei er im Genitiv bestimmter Eigennamen und bei Auslassung eines Buchstabens, und dies versuchte Vogel zu befolgen. So trifft man in den späteren Teilen der Handschriften auf viel mehr Apostrophe als in den früheren, und doch würde eine kritische Sichtung ergeben, daß Vogel und Goethe sehr viele Fälle, wo er gesetzt werden müßte, übersehen haben. Bei allen orthographischen Korrekturen — hier sind nur einige erwähnt worden — zeigt sich dasselbe Bild: Goethe und Vogel nahmen die Durchführung von Adelungs Rechtschreibung sehr ernst, und so ist die Druck-

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vorläge gegenüber dem Mundum viel fortgeschrittener. Noch Goethes letzte Korrekturen in der Druckvorlage betreffen fast ausschließlich orthographische Verbesserungen. Und doch ließ sich die neue Schreibung in so kurzer Zeit nicht vollkommen beherrschen; gar zu leicht stellte sich immer wieder die gewohnte Form ein, und weder Goethe noch Vogel waren so sorgfältige Korrektoren, daß ihnen jeder Fehler auffiel. So finden sich in demselben Auftritt laßen und lassen, Quaal und Qual, würcken und wirken nebeneinander — die Fülle der Inkorrektheiten ist so groß, daß sich manchmal fast in jedem Vers ein Versehen aufzeigen läßt. Da versteht man, warum Goethe an Göschen schrieb, er wolle das Manuskript möglichst lange behalten, denn es finde sich immer noch etwas zu retouchieren (Brief vom 29. 6. 1789); aber man begreift auch, welche Arbeit die Korrektoren bei Göschen nun noch zu leisten hatten. Von den ersten Bänden hat Göschen behauptet, daß „jeder Bogen ... viermahl durch 3 Correktoren corrigirt worden"1 sei, aber wir wissen nicht, ob diese Regelung auch bei den späteren Bänden durchgeführt wurde. In demselben Jahr 1787 hob Göschen Schiller gegenüber die Genauigkeit seines Korrektors Lorentz hervor, der zum „Buchstabenkrämer" geboren und von Adelung „in seiner Manier herangezogen"2 worden sei. So kann man vielleicht annehmen, daß Lorentz auch mit der Korrektur des „Tasso" beauftragt wurde. In der Druckvorlage findet sich aber noch ein anderer Hinweis. Wie schon erwähnt (S. 149), trägt das Titelblatt den Vermerk „Vidi Rz", und von späterer Hand wurde mit Bleistift „Reiz" hinzugefügt. Es ist nicht anzunehmen, daß einer der ständigen Korrektoren Göschens oder gar der Setzer seine Tätigkeit so kalligraphisch bezeugen durfte, zumal eine solche Eintragung in anderen Manuskripten nicht geschah. Man darf hier also wohl eine Besonderheit vermuten und die Aufmerksamkeit auf eine höhere Instanz richten. Der klassische Philologe Friedrich Wolfgang Reiz (Reitz) (1733—90) war Professor der griechischen und lateinischen Sprache in Leipzig, und nach Goethes eigenem Zeugnis hatte er mit ihm des öfteren Unterhaltungen über Winckelmanns Verhältnis zu dem Archäologen Christ3. Vielleicht kamen dabei aber auch andere Probleme zur Sprache, und so scheint die Vermutung nicht ganz abwegig, daß Professor Reiz der erste der klassischen Philologen war, der als Korrektor von Goethes Werken fungierte und dies, seinem Rang entsprechend, auf dem Manuskript ver1

Göschen an Philipp Seidel am 22. November 1787 (GSA, ungedruckt) Brief von Göschen an Schiller im März 1787 (Geschäftsbriefe Schillers, hrsg. von Karl Goedeke, 1875, 31) s I 46, 89 3

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merkte. Auf jeden Fall war es den Korrektoren in Leipzig zu verdanken, daß im Druck des „Tasso" Adelungs Orthographie konsequent durchgeführt worden ist. 3. Interpunktion Zur Rechtschreibung gehörte auch die Interpunktion, aber sie spielte in den Grammatiken des 18. Jahrhunderts kaum eine Rolle. Selbst bei Adelung wurde ihr nur ein schmales, bescheidenes Kapitel zugeteilt, das er „Von den orthographischen Zeichen" überschrieb. Für ihn war noch selbstverständlich, daß diese Zeichen der mündlichen Rede entstammten, daß sie Ersatz für den „Ton der lebendigen Stimme" sein und die „verschiedene Gemütsstellung des Sprechenden andeuten" (S. 360) sollten. Darum glaubte er noch beweisen zu müssen, daß sie der Orthographie und nicht der Rhetorik zugehörig seien, und tat es mit dem Argument, daß die Anwendung nicht nach dem Belieben des Einzelnen erfolgen könne, sondern mehr „Verstand und Bestimmtheit" (S. 361) erfordere und sich nach einem festgelegten Gebrauch zu richten habe. Regeln für ihre Anwendung versuchte er aufzustellen, aber dabei scheint ihm klar geworden zu sein, daß er nur einzelne Fälle erfassen könne und sich nicht alle Möglichkeiten in seinem Kanon unterbringen ließen. So blieb schließlich als letzte Richtschnur doch nur die gesprochene Sprache, und trotz seines Versuchs, allgemeine Regeln nach „Verstand und Bestimmtheit" aufzustellen, wußte er im Einzelfall dem Zweifelnden keinen besseren Rat als: „Schreib wie du sprichst" (S. 393). Ja, er war sogar bereit, dem Temperament des Schreibenden noch so viel individuelle Ausdrucksmöglichkeit zuzugestehen, daß der „Pathetische und Leidenschaftliche" stärkere Zeichen gebrauchen könne als der „Kaltblütige", daß jener Ausrufungszeichen und Doppelpunkt setzen dürfe, wo diesem Punkt und Komma genügten. Natur, das Losungswort des ganzen Jahrhunderts, taucht sogar hier auf, wo man es nicht erwarten würde, denn Adelung betonte: „Man folge daher auch hier der Natur" (S. 393), und wenn man sich nur hüten würde, mit den Zeichen willkürlich und verschwenderisch umzugehen, habe man die Freiheit, sie als persönliches Ausdrucksmittel anzuwenden. Man sieht, bei der Interpunktion bewegte sich Adelung in unerschlossenem Gelände, und wenn ihm auch regelmäßige, sichere Straßen als Ziel vorschweben mochten, so war er doch froh, erst einmal Pfade durch das Dickicht zu schlagen. So sind seine Regeln für die Zeichensetzung vorsichtiger und toleranter als die für die Rechtschreibung, und nur bei der Ablehnung von willkürlicher Häufung der orthographischen Zeichen wurde er leidenschaftlich. Der Analogie zur mündlichen Rede und

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damit der Entscheidung des Schreibenden blieb letztlich das meiste überlassen. Die Anwendung der „Zeichen der Gemütsstellung" (Fragezeichen und Ausrufungszeichen) sei leicht, da man nur „der merklichen Veränderung der Stimme auf dem Fuße" (S. 364) folgen müsse. Auch der richtige Gebrauch der „Unterscheidungszeichen" (Punkt, Kolon, Semikolon, Komma, Parenthese, Gedankenstrich) sei nicht schwer zu lernen; denn da auch diese Zeichen ihre Herkunft in der gesprochenen Sprache hätten, solle das, was dort durch kürzere oder längere Pausen und den Ton der Stimme ausgedrückt würde, hier dem Auge durch die verschiedenen Zeichen (daher Unterscheidungszeichen) sichtbar gemacht werden. Ohne sie würde der Sinn „dunkel, schwankend und zweydeutig" (S. 372) sein, aber um der allgemeinen Verständlichkeit willen dürfe man nicht nach eigenem Gutdünken verfahren. Oberstes Gesetz müsse die Zweckmäßigkeit sein, und zu ihr gelange man durch „Befolgung des besten und allgemeinsten Gebrauches" (S. 373f.). Aber Adelung war sich klar, daß er sich damit auf keine Gegebenheit berief, sondern ein Postulat aufstellte; und so bemühte er sich, erst einmal Regeln für den „allgemeinsten Gebrauch" zu schaffen. Was ihn dabei leitete, war dasselbe Streben nach Klarheit und Vereinfachung, von dem auch seine Orthographie beherrscht war und von dem wir annehmen möchten, daß es Goethe bei seinem sorgfältigen Bemühen um die Form des „Tasso" verwandt ansprach. Bei Adelungs Äußerungen über die orthographischen Zeichen wird sichtbar, daß sich die Interpunktion zu seiner Zeit in einer Zwischenstufe der Entwicklung befand: von dem gesprochenen Wort hatte sie sich gelöst und bestimmten Regeln unterworfen, aber sie war noch nicht Grammatik geworden, sondern immer noch klang ihre Herkunft durch, und letzte Instanz war nicht eine abstrakte Regel, sondern noch das gesprochene Wort. So ist die Interpunktion, der wir im „Tasso" begegnen, alles andere als die schematische Anwendung von Punkt und Komma, wie wir sie heute haben; es sind Zeichen, die noch wirklich etwas bedeuten, Ausdrucksmittel des Sinnes und ein Teil der lebendigen Sprache selbst sind. Auf den ersten Blick scheint die Interpunktion in den beiden TassoHandschriften allerdings wirklich nur die Durchführung bestimmter Regeln zu sein. Es bietet sich hier dasselbe Bild wie bei der Orthographie: die älteren Teile der Handschriften haben noch eine willkürlichere Interpunktion, dann wurden die Regeln, die Adelung in der „Orthographie" von 1788 aufgestellt hatte, durchgeführt. Vergleicht man die verschiedenen Teile der Handschriften miteinander und beachtet die Interpunktionskorrekturen, so scheinen es vor allem vier Anweisungen Adelungs zu sein, die konsequent

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durchgeführt werden sollten, um die Druckvorlage in der äußeren Form auf den neusten Stand zu bringen. 1. Vor und nach der Anrede ist ein Komma zu setzen; bisher war meistens vor der Anrede kein Zeichen und hinterher ein Ausrufungszeichen gewesen. 2. In Frage- und Ausrufsätzen steht das Zeichen am Schluß des ganzen Satzes und nicht mehr nach dem Frage- oder Affektwort oder am Schluß des Hauptsatzes. 3. Bestimmte Nebensätze (Konsekutiv-, Konzessiv-, Konditional-, Kausal- und Komparativsätze) und der folgende Hauptsatz werden nicht mehr durch ein Semikolon, sondern ein Komma geschieden. Nur bei langen Sätzen soll es noch um der Übersichtlichkeit und Gliederung willen beibehalten werden. 4. Vor Relativ- und erweiterten Infinitivsätzen steht ein Komma, bisher war dort kein Zeichen gewesen. So wie der Schreiber Vogel die neue Rechtschreibung gelernt hatte, versuchte er sich auch die Interpunktionsregeln anzueignen. Ob die ersten Teile der Handschrift eine treue Abschrift von Goethes Vorlage waren oder ob er auch da schon Korrekturen vornahm, entzieht sich unserer Kenntnis. Aber bei der Druckvorlage läßt sich feststellen, daß Vogel im Gegensatz zu seiner Reinschrift das Semikolon zwischen Neben- und Hauptsatz vermied, die Anrede in Kommata setzte und auch sonst verschiedene Kommata selbständig hinzufügte. Doch sehr sicher war er dabei nicht, und trotz solcher Verbesserungen hielt er es mit der Zeichensetzung im Grunde nur nach Gutdünken; es war wohl auch etwas viel, was da von einem Tag zum andern von ihm verlangt wurde. Die Durchführung von Adelungs Interpunktionsregeln verdankte der „Tasso" dem Unbekannten, den Goethe mit der Durchsicht und Korrektur des Mundums und ganz zuletzt der Druckvorlage beauftragt hatte. Er muß ihm die Interpungierung des Textes grundsätzlich ganz überlassen haben, denn es gibt Szenen, in denen sich keine Zeichenkorrektur Goethes findet, und in anderen läßt sich feststellen, daß Goethe die Reinschrift nach der Durchsicht des Korrektors nicht mehr kontrollierte, auch nicht mehr später in der Druckvorlage. Der Korrektor nahm seine Aufgabe ernst; er prüfte den Text sorgfältig von Zeile zu Zeile und brachte Adelungs Regeln zur Anwendung. Die allermeisten Hinzufügungen oder Änderungen von Interpunktionszeichen ergaben sich durch eine der vorhin erwähnten Regeln. Trotzdem übersah auch dieser geübte Kenner noch manche notwendigen Änderungen, aber sie gehörten so eindeutig in Adelungs Bereich, daß die Korrektoren bei Göschen sie leicht in Ordnung brachten. Manchmal griff Goethes Korrektor auch in ein anderes Gebiet über und verbesserte den Versrhythmus und die Orthographie, aber das trat im ganzen kaum in Erscheinung. Wichtiger wurde

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dagegen, daß die Vollmacht, die ihm Goethe anscheinend für die Interpunktion gegeben hatte, es mit sich brachte, daß der Korrektor auch Verbesserungen vornehmen konnte, die zwar nach Adelungs Regeln richtig waren, aber doch eine leichte Verschiebung des Sinnes herbeiführten. Wenn der Korrektor am Schluß der Verse 3028—29 Du wirst mir nicht an diesem Tage nehmen Was du mir kaum an diesem Tag gebracht.

aus dem Punkt ein Fragezeichen verbesserte, das auch in den Erstdruck überging, dann wurde die Unmöglichkeit der Zurücknahme des Geschenks, die Alphons Tasso gegenüber durch den schlichten Aussagesatz ausgedrückt hatte, durch das geänderte Satzzeichen in Frage gestellt; durch den andern Sprechton bekam auch der Inhalt eine etwas andere Deutung. Goethe scheint froh gewesen zu sein, bei der Interpunktion so entlastet zu werden, und war sicher davon überzeugt, mit dem Korrektor in der Entscheidung völlig übereinzustimmen. Daß dies nicht immer der Fall war, beweisen die Stellen, wo Goethe sich in der Druckvorlage ausnahmsweise doch um die Zeichensetzung kümmerte und Interpunktionen des Korrektors wieder rückgängig machte. Aus den Versen: Und wie der Mensch nur sagen kann: Hie bin ich Daß Freunde seiner schonend sich erfreuen: So kann ich auch nur sagen: Nimm es hin. (388—90)

hatte der Korrektor im Mundum einen einzigen Satz mit drei Kommata gemacht. So wurde es in der Druckvorlage abgeschrieben, aber Goethe setzte hier dann wieder die ursprünglichen Satzzeichen ein und fügte am Ende des ersten und dritten Verses Ausrufungszeichen hinzu, so daß die Sprache durch die Differenzierung viel stärkere Akzente erhielt. Aber auch in dem Korrektor war noch die Rhythmik des gesprochenen Verses lebendig, und so trennte er mit „und" verbundene Verben desselben Subjekts durch Kommata voneinander, weil für ihn jedes Tun einen eigenen rhythmischen Raum beanspruchte, der stärker war als das gemeinsame Subjekt. Dagegen empfand er, wie auch Goethe, einen Relativsatz oft noch mit seinem Bestimmungswort als Einheit und löste ihn trotz Adelung nicht durch ein Komma: Den langen Stab erwählst du dir, und gehst Freywillig arm dahin, und nimmst uns weg Was du mit uns allein genießen konntest. (3182—84)

Die Kommata in diesen Versen sind vom Korrektor hinzugefügt; sie sind rhythmisch empfunden und gliedern die Verse.

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Bei so starker Beteiligung des Korrektors wüßte man gern, wem Goethe dies verantwortungsvolle Geschäft anvertraut hat, aber nirgends findet sich ein Hinweis. In keinem Brief Goethes — ein Tagebuch dieser Zeit hat sich nicht erhalten — begegnet man einer Andeutung, daß noch ein Dritter sich an den Tasso-Handschriften betätigte, und auch später ist nie ein anderer Name damit in Verbindung gebracht worden. Goethes Rechnungsund Haushaltsbücher, die sonst manchen unerwarteten Aufschluß geben, wissen nichts von einem Honorar, das für diese Arbeit gezahlt wurde, oder von Portoausgaben für die Übersendung des Manuskripts, etwa nach Jena, wie es später der Fall war. So ist man geneigt, den Helfer in Weimar und unter den Freunden des Dichters zu suchen. Zuerst denkt man natürlich an Herder, den Goethe gleich am Anfang des Unternehmens der „Schriften" zu seinem Stellvertreter ernannt hatte, so daß während Goethes Abwesenheit in Italien nicht nur die Druckproben und Aushängebogen an ihn gingen, sondern ihm auch die Manuskripte erst zur Einsichtnahme und Korrektur geschickt wurden, bevor Göschen sie zum Druck erhielt. Aber Herder war während der in Frage kommenden Monate in Italien und sah das Manuskript erst im August 1789, als der größte Teil der Druckvorlage schon bei Göschen war. Auch Knebel lernte die Handschrift erst im Juli kennen, so daß er ebenfalls als Korrektor ausscheidet. Karl Philipp Moritz schließlich verließ Weimar Anfang Februar, und die Haupttätigkeit des Korrekturlesens kann erst im Frühling und Sommer vor sich gegangen sein. Ein einziges Mal taucht ein Name im Zusammenhang mit der Arbeit am „Tasso" auf, der eine Aufklärung verheißt. Am 5. Juli 1789 berichtete Goethe dem Herzog Carl August von dem Vorschreiten der Arbeit: „Von Tasso sind 3 Ackte ganz absolvirt, die beyden letzten noch in der Revision, noch wenige Tage, so wäre denn auch dieses schwere Jahrwerck vollendet. Ich werde mit Bornstädt zufrieden ausrufen: soweit hätten wir sie." Das Register der Weimarer Ausgabe verzeichnet Bornstädt als Schreiber, und dieser These hat man auch sonst vorsichtig zugestimmt. Aber im Umkreis dieser Tassojahre läßt sich in Weimar kein Bürger dieses Namens nachweisen, die Tauf-, Heirats- und Sterberegister kennen keinen Bornstädt, und die Staatskalender, die die Inhaber aller öffentlichen Ämter verzeichneten, nennen den Namen auch nicht. Da hat ein Zufall die Aufklärung gegeben. In der Sammlung Kippenberg in Düsseldorf befinden sich zwei Blätter, auf denen Riemer offensichtlich Mitteilungen Goethes niedergeschrieben hat. Es werden da „Motive in Romanen zu brauchen" aufgeführt, und an elfter Stelle heißt es: „Bornstädt, Oberst beym Regiment Kronprinz, heirathet eine Frau mit 50000 Rthalern die er durchbrachte mit

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Gastereyen. Als sie todt und begraben war, und er von der Leichenbestattung zurückkam, sagte er: so weit hätten wir sie denn!" 1 Damit ist die Legende von dem Schreiber Bornstädt widerlegt. So bleibt nur noch eine letzte Vermutung über die Person des Korrektors. Es ist auffallend, daß unter den Freunden, die das Tasso-Manuskript zum Lesen erhielten oder Goethes Zuhörerschaft bei seinen Vorlesungen bildeten, ein Name nie fiel, den man doch erwarten dürfte: Wieland. Leider scheint sich aus dem Jahr 1789 kein einziger Brief Goethes an Wieland und nach den bisherigen Veröffentlichungen auch kein Brief Wielands an Goethe erhalten zu haben, so daß man über ihre Beziehungen in diesem entscheidenden Jahr im einzelnen nichts weiß. Aber trotz des Fehlens der unmittelbaren Zeugnisse hat man den Eindruck, daß sich Goethe nach der Rückkehr aus Italien in seiner Enttäuschung über Frau von Stein und Herders Abwesenheit noch einmal Wieland näherte und daß diese neue Freundschaft ihr Zentrum in der gegenseitigen Anteilnahme an den dichterischen Arbeiten hatte. Schon bei den ersten Bänden der „Schriften" war nicht nur Herders Hilfe in Anspruch genommen worden, und wenigstens für einige Werke ist Wielands Mitarbeit erwiesen. Am 6. Juli 1786 schrieb Goethe an Frau von Stein: „Wieland geht die Sachen auch fleisig durch", und nach der italienischen Reise gibt es für den Gedichtband mehrere Zeugnisse, daß Wieland ihn Ende August / Anfang September 1788 „in der Revision" hatte2. Gerade für die gewünschte Interpunktionskorrektur war Wieland der geeignete Mann, denn er kannte Adelung seit der gemeinsamen Schulzeit, und wenn er ihn auch später im „Teutschen Merkur" angriff, so weiß Riemer doch von ihm zu berichten, daß er „den Adelung" immer neben sich auf dem Tisch liegen gehabt habe: das „tägliche Befehlbuch"3. Auch Böttiger erzählt, daß Wieland nach seinem eigenen Zeugnis täglich viele Male im Adelung nachschlage4, und wenn dabei auch vor allem das Wörterbuch gemeint sein sollte, so wurde Adelung doch wohl ebenfalls bei Unsicherheit in der Interpunktion zu Rate gezogen. Danach scheint es nicht zu kühn, auch beim „Tasso" Wielands Korrektorhilfe zu vermuten. Die Kontrolle durch die Handschriften erhärtet noch diese Annahme. Zwar läßt sich bei einem Vergleich eines handgeschriebenen Wielandischen Textes mit diesen Interpunktionszeichen die Identität des Schreibers nicht 1

Jahrbuch der Sammlung Kippenberg 8, 1929/30, 331 Goethe an Charlotte von Stein am 12. und 24. August (VI 9, 10. 12), an Wieland Anfang September und an Herder am 4. September 1788 (IV 9, 18) 5 Friedrich Wilhelm Riemer, Mittheilüngen über Goethe, Berlin 1841, Bd 1, 200 und 475 * Lit. Zustände und Zeitgenossen, Leipzig 1838, 1, 164 a

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mit absoluter Sicherheit behaupten, denn einzelne als Korrektur gemeinte Zeichen vermitteln einen andern Eindruck als dieselben Zeichen in einem zusammenhängenden Text. Jeder weiß auch aus eigener Erfahrung, daß schon der Vorgang des Schreibens in beiden Fällen ein anderer ist. Aber eine Kollation der nachträglich hinzugefügten Satzzeichen in den TassoHandschriften und der Druckvorlage der Gedichte weist eine sehr nahe Verwandtschaft auf, so daß wir auf denselben Schreibenden schließen möchten. Wenn Wieland der Korrektor von Goethes „Tasso" war, erklärt sich auch mühelos Goethes Vertrauen und Großzügigkeit gegenüber seinen Änderungen. Will man versuchen, aus G o e t h e s Zeichensetzung seine Absicht herauszulesen, so muß man sich zunächst die Art seines Korrigierens vergegenwärtigen. Aus seinen vielfachen Entwürfen zu anderen Werken wissen wir, daß sie zunächst ganz ohne Interpunktion niedergeschrieben wurden. Auch im Mundum finden sich oft nur die wichtigsten Satzzeichen, erst in der Korrektur wurden die anderen genau bedacht und eingefügt. So scheint es auch beim „Tasso" gewesen zu sein. Die Reinschrift hatte ursprünglich nur wenige Zeichen, und wir erinnern uns, daß Goethe trotzdem bei den Korrekturen zunächst nur auf die Feilung des Textes bedacht war und einige Kommata mehr nebenbei mit abfielen. Da er dann für die meisten Teile des Mundums die Interpunktion Wieland vertrauensvoll überließ, beachtete er sie auch in der Druckvorlage im allgemeinen kaum, und es wäre sehr gewagt, wollte man aus den mehr zufällig hingesetzten Zeichen eine bestimmte Gesamtabsicht Goethes herauslesen. Nur da, wo die Interpunktion ganz allein in Goethes Händen lag, wo er gezwungen war, Vers für Vers durchzusehen und die Satzzeichen einzufügen, nur aus diesen Szenen können wir ein Bild von seinem Interpunktionswillen gewinnen. Aber selbst hier muß noch eine Einschränkung gemacht werden. Eine systematische Bearbeitung, die mit der Exaktheit eines geschulten Korrektors ausgeführt wurde, war Goethe unmöglich; auch da, wo sich Korrekturen häufen, darf man nicht erwarten, daß eine absolut einwandfreie Interpunktion das Ergebnis ist. Auch jetzt noch bleibt hier ein Rest von Flüchtigkeit, Inkonsequenz und Zufälligkeit, und im Grunde kann man nur von den eigenhändig hinzugefügten Zeichen sagen, daß sie Goethes Willen darstellen. Wo sich eine Interpunktion Wielands oder Vogels findet oder jedes Zeichen fehlt, kann man nie ganz sicher sein, ob vielleicht flüchtig darüber hinweggelesen wurde und ob Goethe selbst auch so entschieden hätte. Darum wird im folgenden nur das herangezogen, was durch Goethes Hand belegt ist, und es werden nur solche Fälle als Beispiel angeführt, die

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für andere stehen, so daß sie wirklich Ausdruck einer bestimmten Absicht sind. Die Teile der Handschriften sind also für uns am aufschlußreichsten, die Wielands berichtigende Hand nicht erfahren haben und die außerdem noch als Druckvorlage die letzte Fassimg darstellen. Schönstes und überzeugendstes Beispiel sind hierfür der 1.—4. Auftritt des 4. Aufzugs, wo Goethe mit Rötel und Tinte in mehrmaliger Durchsicht jeden Vers vornahm. Dabei entglitten ihm Adelungs Regeln immer mehr, seine Zeichen wurden zu einem Mittel, sich selbst auszudrücken, zu unterstreichen, was er sagen wollte, und die Interpretation in seine Bahn zu lenken. Feine Nuancen, die dem geschriebenen Wort sonst nicht zur Verfügung standen, ließen sich dadurch andeuten, und die Interpunktion wurde zu einem biegsamen Instrument, das noch ganz der lebendigen Sprache dienstbar war. So konnte es geschehen, daß Goethe sie auch gegen die grammatische Regel anwandte, in Fällen, die selbst den Zeitgenossen ungewohnt waren, so daß schon der Korrektor bei Göschen nichts damit anzufangen wußte und diese Eigenmächtigkeit gar nicht erst in den Druck gelangen ließ. Ein solches ungewöhnliches Beispiel ist folgendes: Und wenn das alles nun verlohren wäre? Wenn, einen Freund, den du einst reich geglaubt, Auf einmal du als einen Bettler fändest? (2251—53)

Die Interpunktionszeichen wurden im Mundum und in der Druckvorlage mit Blei, Rötel oder Tinte von Goethe hinzugefügt, und das Komma nach „Wenn" (2252), das ganz besonders groß und auffallend ist, wurde sicher mit Bedacht gewählt. Die erste Betonung im Vers sollte also nicht auf „Freund" liegen, sondern der Vers sollte gleich mit einem starken Ton und einer darauf folgenden kurzen Pause einsetzen. Dies Wenn, um des Sprechrhythmus willen so bedeutsam isoliert, ist so eigentümlich Goethisch, daß es unbedingt erhalten bleiben muß, aber es findet sich, wie gesagt, in keiner Ausgabe des „Tasso". Bevor auf die einzelnen Satzzeichen eingegangen werden soll, möge ein Beispiel in der Gegenüberstellung von Mundum und Druckvorlage illustrieren, wieviele Satzzeichen Goethe nachträglich einfügte und wie sie den Versen die Zwischentöne verliehen. Die Reinschrift der Verse 2498—2501 sah so aus: Wie oft hab ich mich willig selbst betrogen, Auch über sie und doch im Grunde nur Hat mich die Eitelkeit betrogen. Wohl Ich kannte sie und schmeichelte mir selbst.

Goethes Korrekturen wurden mit Bleistift, Rötel und Tinte ausgeführt, so daß sie mindestens drei Etappen entstammen und nicht Ergebnis

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e i n e s Durchlesens, sondern mehrfacher Formung sind. Schon das deutet auf ihre Wichtigkeit. In der letzten Fassung steht nun: Wie oft hab ich mich willig selbst betrogen, Auch über sie, und doch im Grunde hat Mich nur — die Eitelkeit betrogen. Wohl! Ich kannte sie, und schmeichelte mir selbst.

Durch die Einfügung der beiden Kommata erhielten die Verse eine stärkere Zäsur, der Inhalt wurde nicht mehr als Einheit aufgefaßt, sondern jeder Teil bekam ein Eigengewicht und damit eine besondere Bedeutung. Durch den hinzugefügten Gedankenstrich trat im Vers eine Pause ein: „Eitelkeit" wurde hervorgehoben und durch die Umstellung der Worte noch stärker betont. Daß es Eitelkeit gewesen sei, was Tassos Verhalten zu den Menschen bestimmt habe, wurde zuerst wie eine selbstverständliche Tatsache ausgesprochen; Goethes Korrektur machte daraus eine überraschende Feststellung, ein schmerzliches Zu-Gerichtsitzen über sich selbst, das nun auch den Ton des Folgenden bestimmte. Nach dem interpunktionslosen Text des Mundums hätte man interpretieren können: Ich kannte sie wohl und schmeichelte mir selbst. Durch das Ausrufungszeichen wurde „Wohl!" isoliert und erhielt einen ironischen Unterton. Es war nicht mehr eine sachliche Rechenschaftsablegung, die Tasso mit sich vornahm, sondern eine erbarmungslos übertreibende Anklage und Verurteilung. Sehen wir uns nun einige der wichtigsten Interpunktionszeichen darauf an, wie Goethe sie gebraucht! Es ist selbstverständlich, daß nur eine kleine Auswahl getroffen werden kann, nur so viel, daß wir hoffen können, damit eine Vorstellung von Goethes Absicht zu geben. Über die Anwendung des K o m m a s hatte Adelung bestimmte Anweisungen erlassen, und wir sahen bei den Änderungen des Korrektors, daß er sie durchzuführen suchte. Da Goethe eine moderne Adelungische Interpunktion wollte, war er nicht nur mit dem Verfahren Wielands einverstanden, sondern verbesserte selbst nach diesen Richtlinien. Aber sobald das grammatische Schema den Sinn verwischte oder den Rhythmus behinderte, wurde es in der Korrektur ausgemerzt, mochte dadurch auch die Interpunktion wieder altmodisch werden. So hatte Goethe selbst in dem Vers: Noch eins, geliebte Freundinn, sage mir (2434)

die Kommata hinzugefügt, aber in der Druckvorlage verbesserte er das zweite Komma in ein Ausrufungszeichen: Noch eins, geliebte Freundinn! sage mir

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Jetzt bezog sich „Noch eins" nicht mehr auf „sage mir", als brächte Tasso ein Programm von Fragen vor, sondern indem Leonore sich zum Gehen wendete: Ich gehe mit der schönsten Hoffnung weg (2430)

hielt Tasso sie schnell zurück:

Noch eins, geliebte Freundinn!

dann trat eine Pause ein, und das Folgende wurde in den Rhythmus und Inhalt des nächsten Verses mit hineingenommen: sage mir Wie ist die Fürstinn gegen mich gesinnt?

Diese Zusammengehörigkeit wurde von Goethe noch dadurch unterstrichen, daß er kein Komma dazwischensetzte. Adelung hatte zwar verfügt, daß vor Relativ- und indirekten Fragesätzen ein Komma zu stehen habe, aber gerade hier verfuhr Goethe nach eigener Entscheidung. Man ist immer wieder überrascht, wie selten ein Komma grammatischer Erwägung entstammte und wieviel häufiger sich die rhythmische Urfunktion durchsetzte. Das gilt nicht nur von den vielen Fällen, wo durch „und" verbundene Verben trotz desselben Subjekts durch ein Komma getrennt wurden: Allein bedenk, und überhebe nicht Dich deiner Kraft! (3436—37)

oder: Im Schiffe bin ich still, und trete dann Auch schweigend an das Land (3152—53).

Solches Vorgehen war Wieland ebenfalls nicht fremd, wie wir gesehen haben. Aber Goethe setzte manchmal nach Adelungs Regel vor einem Relativsatz ein Komma: Allein das kränkt mich, was es mir bedeutet. (2280)

und tat es in den meisten Fällen nicht:

Er fühlt gewiß Das was du bist und hast, und schätzt es auch. (2316—17)

Das einzige Komma hier wurde von Goethe erst mit Rötel und dann mit Tinte eingefügt, und es sollte die beiden Verben als ein Nacheinander im . zeitlichen Ablauf isolieren. Dagegen wurde der Relativsatz von ihm nicht als selbständiger Satz, sondern wie ein Satzteil empfunden und in die rhythmische Einheit des ersten Teils einbezogen. Dasselbe gilt auch für andere Nebensätze, und statt weiterer Erläuterungen möge ein Beispiel hier angeführt werden:

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Nun muß ich schweigen lernen wenn er spricht, Und thun wenn er gebietet (935—36).

Wenn Goethe hier überall das Bestreben hatte, möglichst wenige Zeichen zu setzen, um das Zusammengehörige schneller überschauen zu lassen und klare rhythmische Gliederungen zu schaffen, so konnte er doch andererseits einen ihm wichtigen Begriff durch besondere Kommata hervorheben: So lange hegst du schon Verdruß und Sorge, Wie ein geliebtes Kind, an deiner Brust. (2379—80)

Der Nachdruck, mit dem jetzt die Worte „Wie ein geliebtes Kind" gesprochen werden müssen, machte erst den Widersinn, daß ausgerechnet „Verdruß und Sorge" diese zärtliche Behandlung bei Tasso erfuhren, auffallend, und der Vergleich war nicht mehr leicht hingesagt, sondern mit Bedacht als Gegensatz gewählt. — An einer anderen Stelle unterstützen die Kommata die Deutung. Als Tasso in der Krönungsszene den Kranz abwies, antwortete ihm die Prinzessin, er müsse diese Zweige genau wie seine Dichtergabe tragen lernen: Wem einmal, würdig, sie das Haupt berührt, Dem schweben sie auf ewig um die Stirne. (625—26)

Nur die Erstausgabe hat diese Kommata, in keinem späteren Druck tauchen sie auf, und doch kommt hier alles auf das „würdig" an. Denn nicht der Akt der Dichterkrönung war es, der Unsterblichkeit verlieh, sondern nur dem wurde sie zuteil, der ihrer würdig war — wer spürte nicht das Gewicht, das Goethe in dieses Wort hineinlegte, und welche Bedeutung umschloß es für ihn und das ausgehende 18. Jahrhundert! Zugleich lag in der Hervorhebung ein zarter Hinweis der Prinzessin, daß dies Zeichen der Liebe und Verehrung im Grunde einem künftigen Tasso galt. Dem S e m i k o l o n hatte Adelung die Anwendungsmöglichkeiten stark beschnitten, aber es blieb als Zwischenzeichen zwischen Punkt und Komma bestehen. Es verursachte eine größere Pause als das Komma, ohne doch den Satz wie ein Punkt abzuschließen. Im Gegenteil, es schuf gleichsam einen Schwebezustand, in dem sich Vorder- und Nachsatz ausbalancierten: Thöricht ist's In allen Stücken billig seyn; es heißt Sein eigen Selbst zerstören. (2342—44)

oder: Meinen Bruder zwar Möcht' ich so nennen, denn sein großes Herz Trägt sein Geschick mit immer gleichem Muth; Allein was er verdient das ward ihm nie. (1783—86)

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In beiden Fällen stammt das Semikolon erst aus der Korrektur. Wenn es nicht da wäre, sondern nur ein Komma, würde der Hauptton dieser Verse auf dem Schlußsatz liegen. Aber durch die größere Pause, die das Semikolon erfordert, tritt das Eigengewicht des Vordersatzes stärker hervor und erhält mehr Bedeutung. Man erkennt hieran, daß das Semikolon, so wie Goethe es gebraucht, von Grammatik weitgehend entlastet, vor allem ein rhythmisch-musikalisches Zeichen ist. Da es innerhalb eines Satzes mehr Gewicht als ein Komma hat, kam es Goethes Streben nach Klarheit und anschaulicher Gliederung weitgehend entgegen. Umfaßte ein Satz mehrere Verse, so würde durch eine Häufung der Kommata die Übersicht verlorengehen. Durch das Semikolon wurde ein größerer rhythmischer Raum geschaffen, der in sich durch Kommata untergeteilt war, aber keine abgeschlossene Einheit bildete, sondern sich zum Folgenden hin öffnete und Rhythmus und Gedanken weiterleitete. Tassos Schilderung der goldnen Zeit breitete die großen Bilder arkadischen Daseins aus, und indem die Zeichensetzung die Verse band und trennte, wurde jedes Bild zwar vom anderen abgegrenzt, Heß aber doch ein folgendes erwarten, bis dann der Doppelpunkt auf die Schlußfolgerung deutete: Da auf der freyen Erde Menschen sich Wie frohe Heerden im Genuß verbreiteten; Da ein uralter Baum auf bunter Wiese Dem Hirten und der Hirtinn Schatten gab, Und jüngeres Gebüsch die zarten Zweige Um sehnsuchtsvolle Liebe traulich schlang; Wo klar und still auf immer reinem Sande Der weiche Fluß die Nymphe sanft umfing; Wo in dem Grase die gescheuchte Schlange Unschädlich sich verlohr, der kühne Faun Vom tapfern Jüngling bald bestraft entfloh; Wo jeder Vogel in der freyen Luft Und jedes Thier durch Berg und Thäler schweifend Zum Menschen sprach: erlaubt ist was gefällt. (981—94)

Wegen der dem Semikolon innewohnenden Möglichkeit, einen Satz abzuschließen und ihn doch zugleich in der Schwebe zu halten, gebrauchte Goethe das Zeichen mit Vorliebe bei parallel gebauten Versen: Ja, ich will weg, allein nicht wie ihr wollt; Ich will hinweg, und weiter als ihr denkt. (2530—31)

oder: Ich weiß, es reut dich nicht wenn du dich öffnest; Ich weiß, du bist mein Freund wenn du mich kennst: Und eines solchen Freunds bedurft' ich lange. (1260—62)

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Aus beiden Beispielen wird deutlich, daß die starke Parallelität der Verse erst durch das Semikolon in Erscheinung tritt, denn es läßt die Stimme nicht sinken und zwingt doch zu neuem Atemholen und neuem Anfangen. Nach Adelung sollten die Zeichen der Gemütsstellung, d. h. Frage- und A u s r u f u n g s z e i c h e n , nicht mehr nach dem Affektwort oder -satz, sondern erst am Schluß des ganzen Satzes stehen. Diese Berichtigung hatte Wieland übernommen, aber in dem von Goethe überarbeiteten 4. Aufzug wurden sie doch nach dem alten Gebrauch gesetzt: Wohin, wohin beweg ich meinen Schritt? Dem Ekel zu entfliehn, der mich umsaußt, Dem Abgrund zu entgehn, der vor mir liegt? (2238—40)

Die beiden Fragezeichen stammen von Goethe, und der Erstdruck hatte sie auch übernommen; trotzdem steht jetzt in allen Ausgaben am Ende des ersten Verses ein Komma. Aber wieviel eindringlicher und für Tassos seelische Verfassung bezeichnender sind die doppelten Fragezeichen! Goethe setzte nicht nur das Fragezeichen an den Schluß der Frage, sondern konnte auch noch dem davon abhängigen Relativsatz einen besonderen Akzent verleihen. Aus dem einen Satz: Die goldne Zeit wohin ist sie geflohn? Nach der sich jedes Herz vergebens sehnt! (979—80)

wurde der eigentliche Fragesatz abgelöst, und der Relativsatz erhielt seine eigene Schwere; das „vergebens sehnt" wurde erst durch das Ausrufungszeichen betont. Die Rechtfertigung für solches Vorgehen war für Goethe die Ausdruckskraft der Sprache, und so nimmt es nicht wunder, daß er auch die Ausrufungszeichen trotz Adelung unmittelbar nach dem AfFektwort einfügte: Ich kann ihm wohl verzeihen, er nicht mir; Und sein bedarf man, leider! meiner nicht. Und er ist klug, und leider! bin ichs nicht. (2391—93)

Sie fehlen in der Ausgabe letzter Hand und dadurch auch in der Weimarer Ausgabe und in allen modernen Editionen. Dabei machen erst die Ausrufungszeichen das doppelte „leider!" zu einem Ausruf, zum Ausdruck einer schrperzlichen Erkenntnis, und rücken es von dem stark abgeschwächten heutigen Sprachgebrauch weit ab. — In demselben Aufzug löste Goethe längere Sätze voneinander, machte sie selbständig und verstärkte ihre Intensität durch Ausrufungszeichen: Nur Fesseln sind es die mich halten können! Alphons ist kein Tyrann, er sprach mich frey.

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Wie gern gehorcht' ich seinen Worten sonst! Heut kann ich nicht gehorchen. Heute nur Laßt mich in Freyheit, daß mein Geist sich finde! Ich kehre bald zu meiner Pflicht zurück. (2710—15)

Im Mundum hatten statt der Ausrufungszeichen Kommata gestanden. Wieviel stärker wirken jetzt die kurzen Sätze, wieviel eindrucksvoller ist der Wechsel von Punkt und Ausrufungszeichen, und wie deutlich wird in der Häufung der Affektzeichen die steigende Erregung Tassos sichtbar! Man glaubt in dieser Szene nicht nur Tassos, sondern auch Goethes Leidenschaft zu spüren, die hier bei der Korrektur jede Möglichkeit ergriff, um der Deutung durch sichtbare Zeichen den Weg zu weisen. So sind auch die U n t e r s t r e i c h u n g e n zu verstehen, die er vornahm und die gerade hier mehrfach auftreten: Zu f ü r c h t e n hab ich nichts; (2615) Und was ich h o f f e will ich seinem Herzen Allein verdanken, (2617—18) Vollende hier dein Werk (2646).

Der G e d a n k e n s t r i c h ist die stärkste Zäsur innerhalb eines Satzes, oft nicht so sehr in bezug auf die Länge der Pause als die Intensität der Aufmerksamkeit. Er ist wie ein Atemholen vor etwas Besonderem: einen Augenblick bleibt die Spannung in der Schwebe, dann erfolgt die überraschende Wendung: Der Pfeil des Schimpfs kehrt auf den Mann zurück Der zu verwunden glaubt, die Meynung andrer Befriedigt leicht das wohlgeführte Schwerdt — Doch ein gekränktes Herz erhohlt sich schwer. (2567—70)

Die Verse waren ursprünglich zwei selbständige Sätze gewesen; erst Goethes Korrektur verband sie zu einem Satz, aber durch den Gedankenstrich schied er ihn nun von dem dritten Teil, der Wendung ins Persönliche. — Du glaubst ich soll hinweg, ich glaub' es selbst — So lebt denn wohl! (2398—99)

Auch hier steht der Gedankenstrich für eine Pause, in der sich im Sprechenden ein Umschwung vollzog und dann als plötzlicher Entschluß kundgab. An einer anderen Stelle diente er zuerst als Ritardando, aber auch dann erfolgte die überraschende Wendung: O Tasso! — rath ich dir'si Sprech' ich es aus? — Du solltest dich entfernen! (2384—85)

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Die beiden Gedankenstriche wurden erst in der Druckvorlage eingefügt, und das erste Versende wirkt fast wie ein dritter. Die Verse erhielten starke Einschnitte, durch die das Zögernde, Vorsichtige in Leonores Verhalten zum Ausdruck kam. Sie brachte ihren Vorschlag nun nicht mehr sofort an, sondern behutsam, als entstände er erst allmählich in ihr, und die eingelegten Pausen bereiteten auf ihn vor und nahmen ihm zugleich alles Absichtliche. Obwohl die Ausführungen über die beiden Tasso-Handschriften sich von vornherein Beschränkung auf das unbedingt Notwendige auferlegen mußten und aus der Fülle des Materials nicht viele Beispiele bringen konnten, versuchten sie anschaulich zu machen, warum Goethe von einem „schweren Jahrwerck" und seiner „unerlaubten Sorgfalt" am „Tasso" sprechen konnte. Aus der ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte des Werkes und der Handschriften ergab sich die Methode des Vorgehens, und die Analyse und Interpretation des handschriftlichen Befundes zeigten auf, daß sich Goethes Sorgfalt nicht auf die sprachliche Feinarbeit am Text beschränkte, sondern auch Rechtschreibung und Zeichensetzung umschloß und hier seine künstlerischen Absichten mit den grammatisch-formalen Anforderungen der Wissenschaft in Übereinstimmung zu bringen suchte. Bei diesem klaren Tatbestand kann man nur mit Bedauern feststellen, daß von den vielen Editionen des „Tasso", die seit dem Erstdruck erschienen sind, keine Ausgabe diese von Goethe gewollte Form rein widergibt. Schon der Erstdruck brachte, gemessen an den Handschriften, in manchem eine Verfälschung. Der Korrektor bei Göschen hatte allerdings die Vollmacht, wie wir wissen, Adelungs Regeln konsequent zur Anwendung zu bringen, aber sein energisches Vorgehen, das bei der Orthographie die nötige Einheitlichkeit herstellte, zerstörte durch die schematische Anwendung der Interpunktionsregeln einige Goethische Besonderheiten, auf die wir heute nicht gern verzichten möchten. Aber schon in der handschriftlichen Druckvorlage hatten sich gelegentlich Fehler eingeschlichen, da Vogel beim Abschreiben einige Bleistiftkorrekturen Goethes im Mundum übersah. Sie wurden trotz des mehrmaligen Korrekturlesens nicht bemerkt und sind bis heute nicht bekannt geworden, da auch die Weimarer Ausgabe in ihrem Text nicht auf die Handschriften zurückgriff und bei den Lesarten keine ins Einzelne gehende Kollation von Mundum und Druckvorlage vornahm. Es ist hier nicht die Aufgabe, eine kritische Übersicht über die TassoDrucke zu geben, aber es darf wohl die summarische Feststellung getroffen werden, daß durch die verschiedenen Mitarbeiter Goethes bei der Heraasgabe seiner Werke bis zur Ausgabe letzter Hand und durch die editorischen

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Grundsätze der vorbildlich gewordenen Weimarer Ausgabe viele Eigentümlichkeiten und beabsichtigten Feinheiten der Handschriften verlorengingen. Die Akademie-Ausgabe von Goethes Werken hat sich darum von diesen Editionsprinzipien entfernt und versucht, jedes Werk so zu bringen, wie es Goethe im Augenblick des Abschlusses gewollt hat. Was den „Tasso" betrifft, so muß allerdings eingestanden werden, daß sich die gewünschte Vollkommenheit nicht erreichen Heß. Wohl wurde versucht, Goethes Intentionen aufzuspüren und zu verwirklichen, indem durch Kollation beider Handschriften ein Text hergestellt wurde, in dem alle Bekundungen seines Willens erhalten bleiben sollten und nur da eine Normalisierung vorgenommen wurde, wo sie in der Handschrift eindeutig versehentlich unterblieben war. Aber es gab Fälle, wo Goethes Entscheidung nicht mit absoluter Sicherheit behauptet werden konnte, und da ist lieber das unvollkommene Bild der Handschrift beibehalten worden, als daß sich der Bearbeiter einer Eigenmächtigkeit schuldig machen wollte. Außer dem editorischen Kanon, den der Dichter selbst seinem Werk auferlegt hatte, sollte kein anderer gelten, um wenigstens annäherungsweise Goethes Absicht gerecht zu werden, seiner „höchsten Sorgfalt" genugzutun und seinen Wunsch der Verwirklichung näher zu bringen, daß dies Werk „ganz rein in die Hände des Publikums komme".

2. Goethes Bühnenbearbeitung des Tasso I Das Schauspiel „Torquato Tasso" war 1790 als Band 6 von Goethes „Schriften" herausgekommen, aber die Uraufführung fand erst am 16. Februar 1807 statt. Siebzehn Jahre vergingen also seit dem Erscheinen der Erstausgabe, und kein Theaterleiter hatte es in der Zwischenzeit gewagt, das Werk auf die Bühne zu bringen, obwohl ein gedrucktes Stück als frei galt und jederzeit aufgeführt werden konnte. Den „Tasso" hielt man von Anfang an für unaufführbar und blieb mit eifriger Beharrlichkeit dabei. Die Urteile waren im Ton verschieden, aber im Ergebnis und in der Begründung stimmten sie immer überein: „Dieses Schauspiel scheint nicht für das Theater bestimmt"1, hieß es oder: „Tasso, als episches Gedicht fast unerreichbar, ist doch unstreitig das erbärmlichste langweiligste Drama, das je existierte"2. So äußerte sich die Kritik von der vorsichtigen Vermutung bis zur unsachlichen Verdammung je nach Temperament und Charakter des Urteilenden, aber im Resultat war sie immer einer Meinung: der „Tasso" sei ein Gedicht, dessen Schönheiten sich nur dem Lesenden offenbarten und dessen Handlungsarmut jede Aufführung unmöglich mache. Für Goethe war dies keine Enttäuschung, denn er dachte selbst nicht anders. Er hatte sein Stück nicht für die Bühne geschrieben, und trotz seiner äußeren Form war es theaterfremd, so daß auch der Weimarer Theaterleiter bei seinen Repertoirenöten den Gedanken an eine Aufführung nicht verwirklichte, vielleicht sogar noch nicht einmal erwog. In den „Tagund Jahresheften" von 1807 nennt er seinen jahrelangen inneren Widerstand einen „verzeihlichen Unglauben und daran geknüpften Eigensinn"3, die ihn an seinem Vorurteil festhalten und eine Aufführung nicht wagen ließen. Viele Jahre später faßte er seine früheren Einwände dem Kanzler Müller gegenüber in der Begründung zusammen: „Alles geschieht darin nur innerlich; ich fürchtete daher immer, es werde äußerlich nicht klar genug werden."4 1

Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Leipzig 1790, Bd 41, 2. Stück, 254 2 Karl Beinhold, Saat von Göthe gesäet, dem Tage der Garben zu reifen, Weimar und Leipzig 1808, 16 s I 36, 4 1 Gespräch am 23. 3. 1823 (Biedermann 2, 624)

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Trotzdem war die Dichtung den Weimarer Schauspielern am Anfang des neuen Jahrhunderts bekannt. Goethe berichtet selbst, daß sie die Rollen unter sich verteilt, sie einstudiert und sogar in seiner Gegenwart vorgelesen hätten. Es gehörte nämlich zu den Besonderheiten der Weimarer Theaterleitung, auch Stücke einstudieren zu lassen, die dann nicht aufgeführt wurden, wie es mit ,,Hakon Jarl" von Oehlenschläger und dem „Wundertätigen Magus" von Calderon geschah. So wichtig für Goethe die finanzielle Sicherung des Theaters durch zugkräftige Stücke war, so berechtigt er das Verlangen des Publikums nach Unterhaltung fand, so kam beides doch erst in zweiter Linie. Wesentlich war ihm die Arbeit an den Schauspielern selbst: sie sollten sich nicht nur in ihrer Kunst üben und weiterbilden, sondern der ganze Mensch sollte ergriffen und geformt werden, damit der neue Darstellungsstil keine äußere Technik bliebe, sondern Gestaltung des inneren Menschen würde. Goethe glaubte, jedenfalls eine Zeitlang, daß er auch seinen Durchschnittsschauspielern ein Gefühl für die Würde ihrer Kunst beibringen könne, und ein geeignetes Mittel schien ihm dafür das „Studium des Vortrefflichen"1 zu sein: die intensive Beschäftigung mit Dichtungen, die nur nach ihrem Kunstwert und nicht nach ihrem dramatischen Gehalt und Bühnenzweck gewählt wurden. Aber selbst wenn Goethe ein Werk für die Aufführung bestimmt hatte, konnte es geschehen, daß er sie lange hinausschob, weil er für die Rollen keine geeigneten Schauspieler hatte oder der Aufnahme im Publikum nicht sicher war. Denn all der Aufwand, den eine Vorstellung gegenüber dem bloßen Vorlesen erforderte, rechtfertigte sich für Goethe nur, wenn sich das neue Werk dem Stamm des Repertoires einfügen ließ und wiederholte Aufführungen auf Jahre hinaus garantiert waren. Beides war beim „Tasso" sehr fraglich, und da diese Bedenken aus Goethes eigener Beurteilung seines Werkes entsprangen, ließen sie sich nicht widerlegen. So mußten stärkste, umstürzende Kräfte wirken, damit langjährige, wohlbegründete Meinungen aufgegeben wurden und Goethe die Aufführung erlaubte — fast möchte man sagen: sich abzwingen ließ. Der Winter 1806/07 stand im Zeichen der Kriegsereignisse. Bis zum 13. Oktober, als schon der Kanonendonner zu hören war, hatte Goethe spielen lassen. Dann wurde das Theater geschlossen und dem Personal der Betrag von sechs Wochengagen ausgezahlt. In den ersten Wochen der französischen Besatzung hatte jeder mit seinen eigenen Sorgen genug zu tun, aber dann setzten Bemühungen ein, das Theater wieder in Gang zu bringen. Der Aktivität von Goethe und Kirms, der eigentlich bei den Schauspielern 1

Eckermann 22. 3. 1825 (Biedermann 3, 168)

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wegen seiner knauserigen Sparpolitik nicht sonderlich beliebt war, gelang es zur Freude der Schauspieler, das Theater schon zu Weihnachten wieder zu eröffnen. Doch es sah so aus, als fingen nun die Schwierigkeiten erst an. Eine Besatzungsmacht, auf die im Spielplan Rücksicht genommen werden mußte, eine leere Kasse und auf lange Zeit hinaus kein Geld für Anschaffungen, ein Publikum, das sich des Theaters völlig entwöhnt hatte — von diesen Gegebenheiten mußte die Theaterleitung ausgehen. An dem letzten Punkt setzten Goethes Bemühungen zuerst ein, und es scheint, daß er daran dachte, durch das Lockmittel von Erstaufführungen das Theaterinteresse zu beleben, um dem Institut „seine alte Konsistenz wieder zu geben"1. Aber woher neue Stücke nehmen und wie sie in kürzester Zeit einüben? Da ging von den Schauspielern der Vorschlag aus, den längst einstudierten „Tasso" für die Aufführung freizugeben, und anscheinend gelang es schließlich Goethes Lieblingsschüler Pius Alexander WolfF, den Meister umzustimmen. Für die Schauspieler war es naheliegend und fast selbstverständlich, aber wie sollte in dieser turbulenten Zeit ein so zartes Werk, das einer höfischen Welt angehörte, die in Revolutions- und Kriegsstürmen untergegangen war, noch wirken können? Höchstens konnte es bei einigen eine wehmütige Erinnerung an die „goldne Zeit" wecken, und gerade dies wollte Goethe nicht. Von der Bühne sollte „alles Krankhafte, Schwache, Weinerliche und Sentimentale . . . ein für allemal ausgeschlossen" sein; ein Stück mußte „groß und tüchtig, heiter und graziös, auf alle Fälle aber gesund sein und einen gewissen Kern haben"2. Erfüllte der „Tasso" diese Anforderungen? Sprach nicht außerdem jede Bühnenerfahrung dagegen, in einer Zeit des Umbruchs ein so problematisches Werk aufzuführen, das den Menschen weder ein Abbild ihrer eigenen Nöte gab und sie in einen höheren Zusammenhang einordnete, noch von ihnen ablenkte und reine Entspannung bot? Wenn Goethe trotzdem der Not des Augenblicks und der „freundlichen Zudringlichkeit" der „lieben Zöglinge" nachgab, so waren damit seine Bedenken nicht ausgelöscht. Noch in dem späten Bericht in den „Tag- und Jahresheften" flackern sie wieder auf, wenn er bekennt, daß er „halb unwillig" zugestanden habe, was er „eifrig hätte wünschen, befördern und mit Dank anerkennen sollen". So war für ihn das Unternehmen „zwar vorbereitet, aber doch zufällig"3. Doch das völlig Unerwartete trat ein: die Aufführung wurde ein großer Erfolg. Voll Zweifel, mit vorgefaßter Meinung und doch mit geheimer 1 2 3

Tag- und Jahreshefte 1807 (I 36, 4) Eckermann 22. 3.1825 (Biedermann 3, 168) I 36, 4

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Spannung waren die Zuschauer zahlreich erschienen und erlebten zu ihrem Erstaunen, daß sie aufs stärkste beeindruckt wurden. „Die Aufführung überraschte die sehr gemäßigte, bei vielen sogar ungünstige Erwartung des Publikums so angenehm, daß, von dem ersten Akt an, gespannte Aufmerksamkeit und lauter Beifall die Darstellung bis zum Ende begleiteten. Selbst die Klasse, deren Bildung keine Ansprüche auf den Genuß eines solchen Kunstwerks machen kann, hatte sich ziemlich zahlreich eingefunden, und verhielt sich mit einer Ruhe und Stille, welche zeigte, daß sie etwas Vorzügliches wenigstens ahnde."1 Die Zustimmung war allgemein, und als die Weimarer Schauspieler im Sommer eine Gastspielreise nach Leipzig und Lauchstädt unternahmen und auch dort den „Tasso" spielten, erhielten sie von einem großen Teil des Publikums begeisterten Beifall. Gerade in Leipzig besagte das viel, denn hier herrschte auf der Bühne der anderswo veraltete Naturalismus der Sekondaschen Truppe, auf den aber das Publikum eingestellt war und den es darum hebte. Daß die Tasso-Aufführung mehr als nur respektvolle Anerkennung hervorrief, daß das Publikum selbst nach einer Wiederholung verlangte, bedeutete hier mehr als in Weimar, und darum war Goethe über diesen Erfolg besonders erfreut2. Wie aber war diese überraschende Wirkung zu erklären? Fragen wir die Zeitgenossen, so haben sie zwei Deutungen für das Phänomen. Die Ansicht, daß das handlungsarme Stück auf der Bühne langweilen würde, hat sich als Vorurteil herausgestellt; die Erfahrung zeigt, daß sich die Bühnenwirksamkeit nur vom Lesen her nicht berechnen lasse. Aber das größte Verdienst an dem Erfolg haben nach Ansicht der Kritiker die Schauspieler. Es ist eine besonders gute Ensembleleistung, und die einzige Besetzung, die einigen Einwänden begegnete, die von Demoiselle Silie als Prinzessin, erhielt später durch Karoline Jagemann eine würdige Gestaltung. Die begeistertste Zustimmung erhielt P. A. Wolff. Er schien für die Rolle des Tasso wie geschaffen und vermochte der problematischen Gestalt überzeugendes Leben zu geben. Abeken schreibt noch als alter Mann in seinen Erinnerungen voll Begeisterung: „Nichts riß mich so hin als Wolff im 'Tasso'; 1

Besprechung im Morgenblatt für die gebildeten Stände, 1807, Nr. 63, 252 * Über die Aufführung in Leipzig haben begeisterte Besprechungen verfaßt: Hofrat August Mahlmann in der Zeitung für die elegante Welt 1807, Nr. 113, 899f., und Johann Gottfried Dyk in der Bibliothek der redenden und bildenden Künste, Leipzig 1807, Bd 4, 46—49. Die ablehnende Kritik in dem anonym erschienenen Büchlein des entlassenen Weimarer Schauspielers Karl Beinhold „Saat von Göthe gesäet, dem Tage der Garben zu reifen", Weimar und Leipzig 1808, entsprang zum Teü einem persönlichen Bachebedürfnis, vermittelt uns aber gerade in seiner Kritik eine anschauliche Vorstellung des Weimarer Schauspielstils.

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ja, ich darf sagen, daß ich Vollkommneres auf der Bühne nicht gesehen habe."1 Doch in Weimar blieben der Erfolg und eine jahrelange Anhänglichkeit an diese Glanzinszenierung am stärksten. Das ließ schon die Zeitgenossen vermuten, daß hier nicht nur ein geniales Werk eine vollkommene Wiedergabe fand, sondern daß es ein von Goethe gebildetes Auditorium voraussetzte. Am häufigsten lautete das Urteil: der „Tasso" sei auch jetzt noch kein Stück „für den großen Haufen", sondern erfordere ein „auserlesenes Publikum."2 Aber die tiefer Blickenden meinten nicht, daß das Verständnis für das Werk durch die soziale Herkunft der Zuschauer bedingt sei, sondern erkannten, daß die Empfänglichkeit das Ergebnis von Goethes langjähriger Erziehungsarbeit an Schauspielern und Publikum war. Als C. A. Vulpius seinem und Goethes Bremer Freund Nikolaus Meyer von der gelungenen Aufführung berichtete, fügte er hinzu: „Es ist also ein neuer Beweis, wie gut unsere Schauspieler und wie fein gestimmt unsere Spektatoren sein müssen. Selbst die Galerie verhielt sich mäuschenstill und applaudierte wacker mit."3 Hier lag also Goethes Anteil an dem Gehngen des Wagnisses. Seine mühselige Arbeit als Theaterleiter, Regisseur und Menschenbildner, die Saat, die er in vielen Jahren gesät hatte, war zu einem „Tag der Garben" gereift, aber in dem lauten Getümmel des Erntefestes gedachten nur wenige des Sämanns. Doch unser Interesse gilt nicht ausschließlich der Tatsache, daß der „Tasso" endlich auf der Bühne erschien, und noch weniger den Erfolgen oder Mißerfolgen späterer Tasso-Aufführungen. Für uns steht das Werk selbst im Mittelpunkt, und unsere Fragen umkreisen die G e s t a l t , in der es jetzt auf die Zuschauer wirkte. Auf welche Weise wurde der zu große Umfang des gedruckten Schauspiels den Erfordernissen einer Aufführung angepaßt, und nach welchen Gesichtspunkten hatte man die Bearbeitung vorgenommen? War sie etwa an der unerwarteten Resonanz beim Publikum entscheidend beteiligt? Für die Zeitgenossen scheint hier allerdings keine Frage bestanden zu haben. Wenn der Gedanke an eine Bearbeitung einmal auftauchte, so geschah es nicht in offiziellen Rezensionen, sondern in privaten Briefen, und da wurde er dem Empfänger als möglicher Einwand sofort widerlegt. Nein, das Werk habe keinerlei Veränderung erfahren, sei 1

Goethe in meinem Leben. Erinnerungen und Betrachtungen, hrsg. v. Adolf Heuermann, Weimar 1904, 91 2 Zeitung für die elegante Welt, 1807, Nr. 33, Sp. 264 3 Goethes Bremer Freund Dr. Nikolaus Meyer. Briefwechsel mit Goethe und dem Weimarer Kreise, hrsg. v. Hans Kasten, Bremen 1926, 205

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nur hin und wieder gekürzt worden und habe immer noch dreieinhalb Stunden gedauert. Selbst Beurteiler, die von sich sagten, daß sie „durch oftmaliges Lesen in vertrautester Bekanntschaft mit jeder einzelnen Rolle"1 ständen, fanden in der Aufführung nur die Bestätigung des Eindrucks, den sie beim Lesen gewonnen hatten. „Welch ein Genuß für den Zuschauer, wenn er das, was ihn in einsamen Stunden entzückte, nun mit allem Zauber der äußeren Ausstattung aufführen und darstellen sieht!"2 Dasselbe Urteil findet sich in der gesamten Literatur über Goethe als Theaterleiter bis zum heutigen Tag. Anton Genasts Darstellung — und vor allem seine Formulierung, die Schauspieler hätten beschlossen, „ohne Goethe davon in Kenntnis zu setzen, den 'Torquato Tasso' unter sich einzustudieren, um den Dichter damit zu überraschen"3 — hat zu der verbreiteten Ansicht geführt, die Schauspieler hätten nach der Wiedereröffnung des Theaters von sich aus dies Werk als eine zarte Huldigung für Goethe ausgesucht, einstudiert und den Ahnungslosen mit einem fait accompli überrascht, dem nur noch die Genehmigung der Aufführung fehlte. So stellt sich für Kindermann, um ein materialreiches Werk der Theatergeschichte zu nennen, die Vorgeschichte so dar: „Für das nun im Weimarer Kreis wachsende Zutrauen zur eigenen Ensembleleistung zeugt die Tatsache, daß die Schauspieler bald nach Wiederaufnahme des Spiels nach den Schreckenstagen beschlossen, ohne Goethe vorher zu fragen, als Überraschung für ihn, sein dramatisches Meisterwerk deutscher Klassizität, sein Reifewerk vom schöpferischen Menschen, sein bedeutendstes Kammerspielwerk, den in Weimar noch nie aufgeführten 'Torquato Tasso' einzustudieren."4 Demgegenüber muß betont werden, daß die oben erwähnte Darstellung von dem jüngeren Genast stammt und daß er berichtet, sein Vater sei bei dem Unternehmen ganz unbeteiligt gewesen und habe sich aller Einmischung enthalten, war also auch wohl nicht in alle Phasen der Vorgeschichte eingeweiht. Außerdem stehen Goethes eigene Äußerungen zu seinen, und damit auch zu Kindermanns, Angaben in Widerspruch. In seinem Aufsatz „Über das deutsche Theater" spricht Goethe von „langer stiller Vorbereitung", und an der schon mehrfach zitierten Stelle in den „Tag- und Jahresheften" heißt es ausdrücklich: „Tasso ward aufgeführt, allerdings nicht erst unter solchen Stürmen, vielmehr längst im Stillen eingelernt: denn wie bei uns antretende jüngere Schauspieler sich in man1 a 3 4

Mahlmann in der Zeitung für die elegante Welt, 1807, Nr. 113, Sp. 899 Ebd. Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Leipzig 1862—66, 1, 162 Theatergeschichte der Goethezeit, Wien 1948, 676

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chen Rollen übten, die sie nicht alsobald übernehmen sollten, so verfuhren auch die älteren, indem sie manchmal ein Stück einzulernen unternahmen, das zur Aufführung nicht eben gleich geeignet schien. Hiernach hatten sie auch 'Tasso' seit geraumer Zeit unter sich verabredet, verteilt und einstudiert, auch wohl in meiner Gegenwart gelesen, ohne daß ich jedoch . . . die Vorstellung hätte ansagen und entscheiden wollen." 1 Die Überraschung für Goethe, von der Genast spricht, besteht also nicht in dem heimlichen Vorgehen der Schauspieler vom Aussuchen bis zum fertigen Einstudieren des Stücks, sondern in den wohl ziemlich weit gediehenen Vorbereitungen, die private Kunstübung aufführungsreif zu machen. Die Frage, wann und von wem die Kürzungen vorgenommen waren, taucht in fast keiner frühen oder späten Darstellung der Weimarer Inszenierung auf. Soweit ich sehen konnte, hat nur ein einziger sein Augenmerk darauf gerichtet: der Schauspieler Eduard Devrient, den seine geheime Rivalität zu P. A. Wolff wohl besonders scharfhörig und kritisch gemacht hatte. Ihm fiel auf, daß bei der notwendigen Verkürzung des Stückes auf eine normale Spieldauer mit Absicht ganz bestimmte Stellen in der Rolle des Tasso gestrichen waren, nämlich die, „welche den Charakter des Tasso bis zur Unliebenswürdigkeit überreizt, empfindlich und von ungerechter Heftigkeit übermannt zeigen. Besonders im letzten Akte" 2 . Nach Devrient bestand das Wesen von Wolfis schauspielerischer Eigenart darin, daß er ein „reflektierender" Darsteller sei, der an ein Drama nur mit dem Verstand heranging und den Geist des Werkes durch formvollendete Deklamation auszudrücken suche, dem aber jede Leidenschaft und alles temperamentvolle Spielen fremd sei. Die Streichungen in der Rolle des Tasso trugen für Devrient so sehr das Gepräge von Wolfis eigenem Schauspielstil, daß es ihm selbstverständlich war, ihn auch für den Text verantwortlich zu machen. Die Annahme, daß Wolff sich seine Rolle selbst bearbeitet habe, ist aber ein Irrtum, denn in Weimar war es keinem Schauspieler erlaubt, seine Rolle zu verändern, und die Bearbeitung eines Stückes lag bei den großen Werken in Goethes und Schillers Händen, während das leichte Genre, aber auch Opern, Vulpius übergeben wurden. Für den „Tasso" haben wir außerdem noch Goethes Zeugnis, daß er ihn selbst für die Bühne redigiert hat; davon wird später noch die Rede sein. Doch Devrients Urteil läßt uns aufhorchen: er behauptet, das Verfahren der Kürzungen zeige „die Gleichgültigkeit für das charakteristische Element dem deklamatorischen gegenüber."3 Wenn 1 2 3

I 36, 4 Geschichte der deutschen Schauspielkunst, Leipzig 1848, Bd 3, 369 Devrient ebd. 369f.

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das richtig ist, trifft die Behauptung nicht zu, daß nur belanglose Streichungen vorgenommen wurden; wenn aus der Rolle des Tasso jedes Übermaß nach der negativen Seite entfernt wurde, fehlte ihr nicht nur ein „charakteristisches Element", sondern es fand eine Gewichtsverlagerung nach der positiven Seite statt. Es leuchtet ein, daß ein so eingreifendes Vorgehen seinen Grund nicht nur in praktischen Bühnenforderungen haben konnte, sondern daß hier ein Wille am Werk war, der etwas ganz Bestimmtes zum Ausdruck bringen wollte. Sollte sich Goethes Auffassung von der Welt und Persönlichkeit Tassos geändert haben, und sollte uns die Bühnenfassung leise Kunde davon geben können, wie der späte Goethe über das Problem von Dichter und Leben dachte? Auf diese Fragen kann nur das Manuskript von Goethes Bühnenbearbeitung Antwort geben. II Über der Handschrift des „Tasso", die Goethe redigiert hatte und die für die Aufführungen seit 1807 als Regiebuch benutzt worden war, hat ein Unstern gewaltet: bei dem Brand des Weimarer Theaters in der Nacht vom 21. zum 22. März 1825 wurde auch sie vernichtet. Es ist oft dargestellt worden, wie die Zerstörung „seines" Theaters Goethe aufs tiefste beeindruckt hat, auch wenn er in Briefen an Zelter, Varnhagen und Boisseree erklärte, der „Unfall" habe ihn „im physischen und psychischen Gleichgewicht" angetroffen. Wohl war er schon seit vielen Jahren aus der Theaterleitung ausgeschieden, aber die Spuren seines Wirkens waren geblieben. Wie Goethe selbst an Staatsrat Schultz berichtete, war es „das Haus nicht allein, sondern auch Bibliothek, Garderobe bis auf die Requisiten herab"1, wo alles von seiner früheren Tätigkeit zeugte, und erst als alle diese „sinnlichen Documente" in Flammen aufgingen, war das Kapitel seines Theaterwirkens abgeschlossen. So hat Goethe es empfunden, und das Schicksal schien es ihm durch ein Orakel noch ausdrücklich bestätigen zu wollen. Am Morgen nach der Unglücksnacht war Eckermann noch einmal zur Brandstelle gegangen und hatte unter den Trümmern einige angesengte Blätter aus dem Tasso-Manuskript gefunden. Es standen Verse darauf, die unmittelbar der gegenwärtigen Situation entsprungen zu sein schienen und die Größe des Unglücks und die Fassungslosigkeit des Betroffenen aussprachen. Daß gerade diese Fragmente erhalten geblieben waren, schien Goethe von geheimer Bedeutung: „Der Zufall hat manchmal Lust sich sibyllinisch zu geberden."2 Darum ließ er die Verse von Riemer 1

Am 31. Mai 1825 (IV 39, 205) * An Staatsrat Schultz (ebd. 206)

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auf einem Bogen untereinander schreiben, wo sie nun mehr als jedes andere Wort verraten, wie Goethe in jenen Tagen empfand. Erstes Fragment Wenn ganz was unerwartetes begegnet Wenn unser Blick was ungeheures sieht, Steht unser Geist auf eine Weile still Wir haben nichts womit wir das vergleichen. Zweytes Fragment Und wenn das alles nun verloren wäre? Wenn einen Freund, den du einst reich geglaubt Auf einmal du als einen Bettler fändest? Drittes Fragment Zerbrochen ist das Steuer, und es kracht Das Schiff an allen Seiten. Berstend reißt Der Boden unter meinen Füßen auf! Ich fasse dich mit beyden Armen an! So klammert sich der Schiffer endlich noch Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.

Auf diese verhaltene Weise ließ Goethe die Freunde an seinem Schmerz teilnehmen; er schickte Abschriften der Verse an Zelter (am 27. März), Boisserée (am 9. April) und Staatsrat Schultz (am 31. Mai). Wohl kann man ihrem Inhalt die tiefe Erschütterung Goethes entnehmen, aber selbst dies Zeugnis gibt sich nicht unmittelbar, sondern ist gestaltet. Die Fragmente stehen nicht in der Reihenfolge, wie man ihnen im „Tasso" begegnet, denn das zweite Fragment stammt aus dem vierten Akt und müßte danach den Anfang bilden. In der neuen Ordnung macht sich unverkennbar der Wille nach einer Steigerung bemerkbar, indem zunächst nur auf etwas Unerwartetes, Ungeheures hingewiesen wird, dann sich die Spannung auf einen Menschen konzentriert, der plötzlich alles verloren hat, und schließlich das Ausmaß der Katastrophe sichtbar wird. Zur Erläuterung der Brief beilage diktierte Goethe seinem Schreiber John noch einen kurzen Text, von dem sich sein eigenhändiger Bleistiftentwurf im Goethe- und Schiller-Archiv erhalten hat. Er lautet: Bey Aufräumung des Theater Schuttes, fanden sich unter den Trümmern der Bibliothek folgende Stellen aus dem Manuscript des Tasso die Blätter ringsherum angebräunt.

Bei dem Diktat des endgültigen Textes, den John auf die Rückseite von Riemers Aufzeichnung schreiben mußte, wurde am Anfang „Zur Nach-

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rieht" und am Schluß „Weimar Ende März 1825" hinzugefügt, aber vor allem wurde die knappe Notiz „folgende Stellen aus dem Manuscript des Tasso" in die genauere und für uns sehr aufschlußreiche Bekundung geändert: „aus einem von mir noch selbst redigirten Manuscript des Tasso folgende Stellen". So schrieb John die „Nachricht" und die Fragmente für Zelter und Boisserée ab; später nahm Goethe das Blatt noch einmal in die Hand, fügte zwei kleine Zusätze ein, und in dieser letzten Fassung wurde der Text für Staatsrat Schultz abgeschrieben. Sehr wenig ist es also, was wir von dem Bühnenmanuskript des „Tasso" wissen, aber auf jeden Fall hat Goethe uns selbst bezeugt, daß die Bearbeitung sein Werk ist, und in Theaterkreisen war das damals auch durchaus bekannt. Ein weiteres Manuskript des „Tasso" läßt sich durch die Angabe von Burkhardt nachweisen, der eine Quittung gekannt hat, auf der Goethes Schreiber Karl Mack am 18. Januar 1811 für eine Abschrift des „Tasso" liquidierte, die ausdrücklich „für das Theater" bestimmt war1; leider ließ sich dieser Beleg nicht unter Goethes Rechnungen auffinden. Bei diesem Manuskript handelt es sich sehr wahrscheinlich um das für die Berliner Aufführungen bestimmte Exemplar. Iffland hatte bei seinem Gastspiel in Weimar im September 1810 sich auch eine Aufführung des „Tasso" angesehen und muß davon so beeindruckt gewesen sein, daß er sich zu einer Inszenierung auf seinem eigenen Theater entschloß. Dafür schien ihm aber die Weimarer Bearbeitung unerläßliche Vorbedingung zu sein, und er wandte sich von Berlin aus an Kirms mit der Bitte um eine Abschrift. Dieser gab die Anfrage an Goethe weiter: „. . . . H. Iffland wünscht, den Tasso so gestrichen zu bekommen, wie er hier gestrichen ist . . .", und Goethe erklärte sich damit einverstanden: „Vorstehende Gründe überzeugen mich, so daß ich meine Einwilligung in die Absendung einer redigirten Abschrift von Tasso nicht versagen kann."2 Wie aus einem Brief von Kirms an Iffland hervorgeht, wurde der „Tasso" am 31. Dezember zum Abschreiben in Auftrag gegeben, und als Karl Mack am 18. Januar sein Geld erhielt, wird die Handschrift vielleicht schon auf dem Wege nach Berlin gewesen sein. Nach dieser Abschrift von Goethes Bearbeitung erfolgten dann die Berliner Aufführungen, und das Bewußtsein dieser Besonderheit hielt die auf den Theaterzetteln stets angeführte Notiz wach: „Nach dem von dem Dichter für die Darstellung eingerichteten Manu1

C. A. H. Burkhardt, Zur Kenntnis der Goethe-Handschriften, Wien 1899, 9 Kirms an Goethe und Goethe an Kirms, beide Briefe wahrscheinlich vom Dezember 1810, veröffentlicht in Stargardts Autographenkatalog 327 Nr. 6 2

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Scripte". Leider ist diese wertvolle Handschrift ein Opfer des letzten Krieges geworden, so daß sie für unsere Betrachtung ausscheiden muß. Aus den im Landeshauptarchiv Weimar vorhandenen Akten über die Revisionen der Theaterbibliothek in den Jahren 1805—23 (A 9666) geht hervor, daß das dort aufbewahrte Manuskript des „Tasso" die Bibliotheksnummer 198 trug. Von Genast erfahren wir, daß die Schauspieler sich ihre Rollen selbst abgeschrieben hatten, und da Eckermann in seinem Bericht von „angebrannten Stücken einer geschriebenen Rolle" spricht, hat man vielfach angenommen, daß es sich bei den Fragmenten um Reste eines Rollenheftes gehandelt habe, obwohl die Verse nicht nur von Tasso, sondern auch von Antonio stammen. Außerdem schreibt Goethe ausdrücklich von dem Manuskript des „Tasso", das er selbst redigiert habe, und das, was er als Fragment in Händen hielt, war ihm sicher eindeutig nach Art und Herkunft bekannt und vertraut. Über das spätere Verbleiben der drei Reliquien fehlt jede Nachricht. In Goethes Nachlaß befanden sie sich anscheinend nicht, aber man trifft in seinen Briefen und Tagebüchern auch auf keinen Hinweis, wem er sie geschenkt haben könnte. Da bedeutet es einen großen Glückszufall, daß das erste Fragment vor einigen Jahren unerwartet wieder aufgetaucht ist: Hans-Georg Böhme hat es in Weilburg im Nachlaß von P. A. Wolff gefunden und veröffentlicht1. Auch jetzt hat sich noch nicht ermitteln lassen, auf welche Weise Wolff das Blatt erhalten hat; auch in seinem Nachlaß findet sich keine Andeutung, wann Goethe es ihm oder seiner Frau geschenkt hat, ob er es ihnen bei einem Besuch persönlich gab oder nach Berlin schickte. Diese Weilburger Handschrift ist eine große Überraschung. Nach den von Goethe mitgeteilten vier Versen ist man versucht, sich das Bruchstück als schmalen Streifen oder stark zerstörten Rest vorzustellen, auf dem gerade noch diese Verse zu erkennen wären. Nun stellt sich aber heraus, daß es ein noch fast ganz erhaltenes, vergilbtes Quartblatt ist, nur am oberen und teilweise am inneren Rand angesengt oder abgebrannt und mit einem großen Wasserfleck quer über die untere Blatthälfte. Am äußeren Rand steht auf der Vorderseite von fremder Hand: „Stück vom abgebrannten Schauspielhaus 1825". Beide Seiten sind beschrieben; man kann auf der Vorderseite die Verse 3286—3303 und auf der Rückseite 3305—3324 erkennen, es fehlt also je nur eine Zeile mit dem Namen Antonio und Vers 1

Hans-Georg Böhme, Die Weilburger Goethe-Funde. Blätter aus dem Nachlaß von Pius Alexander Wolff. In: Die Schaubühne, Quellen und Forschungen zur Theatergeschichte, Bd 36, Emsdetten (Westfalen) 1950, 9 5 - 1 0 0 ; 150-152

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3304. Die Goethe so tief berührenden Verse 3290—93 machen also bei weitem nicht das ganze Fragment aus. Aber Goethe selbst hat auch nie behauptet, daß der sibyllinische Zufall nur diese Verse von der Vernichtung ausgenommen habe. In dem Text des Bleistiftentwurfs, der den Abschriften der Fragmente zur Erläuterung beigefügt werden sollte, schrieb er zuerst, unter den Trümmern der Bibliothek hätten sich „folgende Blätter . . . ringsherum angebräunt" gefunden; dann änderte er: „folgende Stellen . . . die Blätter ringsherum angebräunt". So kann man schon dieser Korrektur den Sachverhalt entnehmen, und sje ist ein Beispiel für Goethes Bemühen um die genau zutreffende Formulierung. Der Text des Blattes ist von dem Theaterschreiber Johann Christian Rötsch sauber und ohne Korrekturen, aber mit einigen Fehlern geschrieben. Vielleicht war es eine Niederschrift nach Diktat und . keine Abschrift, und der Schreiber behielt seine eigene Orthographie bei und berichtigte sie nicht nach dem vorliegenden Text, wie es bei einer Theaterhandschrift auch nicht üblich war. Sie ist vom Standpunkt der heutigen Schreibung aus in manchem rückständiger als die Goethes und der Korrektoren von Göschen und Cotta — er schreibt z. B. Unglüklicher, Blik, zulezt —, in manchem dagegen vorgeschrittener: bei statt bey, sei statt sey, feiern statt feyern. Darin spiegelt sich die ganze orthographische Unsicherheit der Zeit wider, die sich um Regeln der Rechtschreibung bemühte und in der Anwendung doch individuelle Gewohnheiten beibehielt. Bei einer Abweichung des Schreibers könnte man vielleicht einen Hörfehler vermuten, wenn er „gekränzt" statt „bekränzt" schreibt. Da wir keine orthographisch exakte Abschrift vor uns haben — wie sie für ein Regiebuch auch nicht verlangt wurde —, läßt sich nur schwer bestimmen, welche Vorlage der Schreiber benutzt hat. In Frage kommen die beiden Handschriften, die Goethe vor dem Druck der Erstausgabe herstellen ließ, und die bis Ende 1806 erschienenen Drucke. Der Tasso-Band der Ausgabe A bei Cotta kam erst 1807 heraus, aber die Möglichkeit, daß die Druckvorlage dieses Bandes benutzt wurde, ließ sich nicht von vornherein ausschalten. Durch die orthographische Großzügigkeit des Schreibers wurde die sichere Feststellung erschwert, da die Kriterien der Rechtschreibung nur eingeschränkt Geltung haben konnten. Trotzdem ergab eine genaue Kollation des Weilburger Blattes mit den Weimarer Handschriften, den verschiedenen Drucken bei Göschen und der Ausgabe A bei Cotta, daß die Abschrift entweder von der Druckvorlage dieser Cottaschen Ausgabe oder von einem Exemplar der sogenannten „geringeren" Ausgabe der bei Göschen erschienenen „Schriften" (S2) gemacht sein mußte. Der Verleger

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hatte von der Erstausgabe einen eigenen Nachdruck hergestellt, der den „Tasso" 1791 im dritten Band brachte, und dieser Nachdruck war für die Textherstellung von A benutzt worden, so daß sich daraus die weitgehenden Übereinstimmungen von S2 und A erklären. In dem auf der Weilburger Handschrift zur Verfügung stehenden Text gibt es eine einzige Stelle, wo. die Drucke S 2 und A voneinander abweichen und die darum für die Bestimmung der Vorlage der Weilburger Handschrift entscheidend ist. In Vers 3311/12 So seh' ich mich am Ende denn verbannt, Verstoßen nnd verbannt als Bettler hier?

hat A das Fragezeichen, das sich in den Weimarer Handschriften und allen Göschen-Drucken findet, in ein Ausrufungszeichen geändert, das von dort in die gesamte spätere Drucküberlieferung eingegangen ist. Die Weilburger Handschrift hat an dieser Stelle ein Fragezeichen, und dadurch ist wohl bewiesen, daß der Schreiber seinen Text aus einem Exemplar von S 2 abgeschrieben hat. Die wichtigste Überraschung des Weilburger Tasso-Blattes besteht darin, daß es Streichungen aufweist. Die betreffenden Verse sind eingerahmt und mit parallelen Kreuzstrichen ausgefüllt. Daß sie einmal mit Tinte, einmal mit Bleistift und einmal mit Tinte über Bleistift vorgenommen wurden, zeugt von einer mindestens zweimaligen Durchsicht. Es ist bekannt, daß Goethes dramaturgische Bearbeitungen sich meistens auf Streichungen beschränkten (auf die besonders gelagerten Fälle von Shakespeare und Voltaire kann hier nicht eingegangen werden). Aber diese konnten so einschneidend und so erbarmungslos sein, daß ein Stück wie der „Schutzgeist" von Kotzebue von 3221 auf 2169 Verse zusammengestrichen wurde. Wenn Goethe in einem Brief an Zelter ausführte, wie er bei seiner Redaktion „nur das Wirksame behalten und das Nothwendige in die Enge gebracht" habe, wie er „mit grausamer Scheere hineingeschnitten, wieder zusammengefügt und übermalt" habe, so war bei dem „Schutzgeist" etwas Besseres dabei herausgekommen, nämlich ein „interessantes glatt hintereinander weggehendes Stück"1, aber es war nun ganz anders als das ursprüngliche. Ein Werk durch Streichungen umzugestalten, diese Kunst scheint Goethe bei seinen Bearbeitungen für die Weimarer Bühne souverän beherrscht und angewandt zu haben. Die Streichungen in dem Weilburger Tasso-Blatt sind also die Zeichen von Goethes Eingreifen in sein eigenes 1

Am 9. März 1817 (IV 28, 6)

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Werk; durch sie unterscheidet sich die Bühnenbearbeitung von jeder Buchausgabe des „Tasso". Auf den beiden Seiten wurden gestrichen: Vers 3301—03, dann blieb die Bühnenanweisung für den Schauspieler: „Gegen die Scene" stehen; schon an diesem kleinen Zug erkennt man den Goethe der „Regeln für Schauspieler"! Die weitere Streichung umfaßt die Verse 3304—10 und schließlich noch 3321—24; der Text von 39 Versen wurde also um 14 Verse gekürzt. Natürlich soll von diesem einen Blatt kein voreiliger Schluß auf die Zahl der Tilgungen innerhalb des ganzen Werkes gezogen werden, aber vielleicht darf hier an die Äußerung Devrients1 erinnert werden, dem die Kürzungen „besonders im letzten Akte" aufgefallen waren. So fragt man gespannt: was wurde gestrichen? Am Anfang der letzten Szene des ganzen Werkes, in dem großen Ausbruch Tassos Antonio gegenüber, sind es folgende Verse: Du bist ein theures Werkzeug des Tyrannen, Sei Kerkermeister, sei der Marterknecht, Wie wohl! wie eigen steht dir beides an! Ja, gehe nur, Tyrann! Du konntest dich Nicht bis zuletzt verstellen, triumphire! Du hast den Sclaven wohl gekettet, hast Ihn wohl gespart zu ausgedachten Qualen: Geh' nur, ich hasse dich, ich fühle ganz Den Abscheu, den die Uebermacht erregt, Die frevelhaft und ungerecht ergreift. Jezt seh' ich wohl, warum ich feiern soll. Es ist Verschwörung, und du bist das Haupt. Damit mein Lied nur nicht vollkommner werde, Daß nur mein Name sich nicht mehr verbreite,

Böhme vermutet, daß politische Rücksichten Goethe bewogen, diese Verse zu tilgen, und gewiß haben solche Bedenken mitgesprochen. Auch in ruhigeren Zeiten achtete Goethe energisch darauf, daß bei der Bearbeitung der aufzuführenden Stücke alles gestrichen wurde, was auch nur im entferntesten als politische Anspielung verstanden werden konnte. Und nun gar 1806/07! Da war es für Goethe unmöglich, daß auf der Bühne Worte wie Tyrann, Kerkermeister, Marterknecht, Sklave, Verschwörung in leidenschaftlicher Erregung herausgeschleudert wurden, und niemand von den Zuschauern hätte manche dieser Verse hören können, ohne daß Tasso und Ferrara versunken und Napoleon und die Gegenwart aufgetaucht wären. Darum unterdrückte Goethe alles, was die Gedanken eine 1

Siehe S. 188

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Beziehung zur politischen Situation aufspüren lassen konnte; aber die letzten der gestrichenen Verse können eigentlich zu solcher Auslegung nicht verführen. Da der eine Streichung abschließende waagerechte Strich fehlt, ist anzunehmen, daß die Kürzung noch weitergeht, daß also nicht nur bestimmte Worte nicht mehr vorkommen sollten, sondern daß dieser große Monolog Tassos — denn das ist er seinem Gehalt nach — ganz einschneidend gekürzt wurde. Bei dem uns erhaltenen Teil sind von den 31 Versen Tassos 14 gestrichen; er ist also fast nur noch zur Hälfte geblieben. Nicht nur die gefährlichen Worte sind gefallen, sondern mit ihnen das Übermaß von Tassos Erregung, seine Steigerung zu stärksten Anklagen und Beschuldigungen und der Schrei seiner Verzweiflung. Geblieben ist, was Tasso zweimal „nach einer Pause" sagt, wo er verhältnismäßig ruhig anfängt: „Vollende nur dein Amt" und „So seh' ich mich am Ende denn verbannt". Zwar folgt auch jetzt die Steigerung, aber sie macht gegenüber der früheren auf halber Höhe halt und verliert nie eine gewisse Beherrschtheit; man hat nicht mehr das Gefühl, daß hier ein Mensch an der Grenze seiner Existenz angelangt ist. Aber der Eindruck eines einzelnen Blattes kann täuschen, und man darf sich nicht zu Schlüssen über das Ganze verleiten lassen. Vielleicht handelt es sich nur um eine technische Maßnahme, die gerade zum Schluß besonders viel streichen wollte, um den undramatischen Ausgang nicht noch durch lange Reden auszudehnen. Dann würde trotz der Kürzungen der letzten Szene der Gesamteindruck unverändert bleiben und höchstens die verdeckte Tragik des Schlusses noch unsichtbarer werden. So gibt das wiedergefundene erste Fragment wohl zum Teil Antwort auf die Fragen, die Goethes Mitteilungen vom März 1825 hervorgerufen hatten, aber zugleich läßt es neue Fragen entstehen, die brennender sind, weil nun das Problem der Bearbeitung des Werkes sichtbar geworden ist. Wenn bisher der Wunsch nach dem Wiedergewinn der drei Fragmente vor allem an ihren Reliquienwert dachte, so richtet sich nun das sachliche Interesse auf alles, was Kenntnis von dem verbrannten Manuskript, Goethes letzter Aibeit am „Tasso", vermitteln könnte. III Aus den Archivbeständen des Weimarer Nationaltheaters sind vor Jahren einige Bühnenhandschriften von Werken Goethes, Schillers und Shakespeares in das Goethe- und Schiller-Archiv gekommen. Unter diesen Bänden, die alle von ähnlichem Format und Aussehen sind, befindet sich ein abgenutzter blaugrauer Pappband mit blauem Leinenrücken und der

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Nummer 51 a auf dem Rückenschild. Es ist ein Regiebuch des „Tasso", aber beim ersten Zusehen enttäuscht es die aufsteigenden Hoffnungen. Der Blick fällt auf starke Spuren der Benutzung, und die Handschrift scheint für mehrere Inszenierungen gedient zu haben, von denen sich nach den Eintragungen im Personenverzeichnis die vom 3. September 1863, 5. November 1864 und 2. Juni 1881 nachweisen lassen. Neben den Personen des Stückes stehen die Namen der Schauspieler von 1864 mit Bleistift und von 1881 darüber mit Blaustift, aber der Text zeigt außerdem noch andere Bleistifteintragungen und eine Bearbeitung mit Tinte. Es sind Streichungen, Tilgung von Streichungen und Wortkorrekturen, aber alle Bearbeitungen gehören demselben Zeitraum an, und so scheint hier ein Bühnenmanuskript aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorzuliegen, das für diesen Abschnitt Weimarischer Theatergeschichte interessant ist, aber mit Goethe unmittelbar nichts zu tun hat. Ich weiß nicht, ob über die Bedeutung des Regiebuchs je eine andere Vermutung geäußert wurde, aber da es früher nicht bei den zum „Tasso" gehörigen Handschriften aufbewahrt wurde, scheint man ihm keinen besonderen Wert beigemessen zu haben. Sobald man aber die Schichten der Bearbeitungen abträgt und die unterste freilegt, macht man die überraschende Entdeckung, daß der Schreiber der Handschrift ein Papier benutzte, das um 1850 nicht mehr hergestellt wurde, und eine Schrift schrieb, die in Duktus und Orthographie am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts üblich war. Aber es ist nicht nur ein unbestimmter Eindruck, daß die Niederschrift des Textes aus einer anderen Zeit als die Bearbeitungen stammt. Wer Spätwerke Goethes in ihrer handschriftlichen Fassung gesehen hat, erkennt hier die Hand von Goethes Schreiber Johann August Friedrich John wieder. Für den Herbst 1814 ist Johns Tätigkeit bei Goethe bezeugt, dann trat er als Freiwilliger ins Heer ein, und von 1816 an war er als Sekretär bei Goethe angestellt. Seine Schrift findet sich von da an am häufigsten auf Goethes Manuskripten: Entwürfe und Abschriften der Werke, Konzepte und Reinschriften der Briefe, Eintragungen in den Tagebüchern — auf jedem Gebiet und in jedem Werdezustand von Goethes Schaffen wurde die Hand des Schreibers gebraucht. So ist auch diese Tasso-Handschrift von John geschrieben. Sie macht einen flüchtigen Eindruck, ist aber leicht zu lesen, und wenn ein Wort in den falschen Vers geraten war, wurde es sorgfältig ausradiert und nicht durch Ausstreichen und Überschreiben korrigiert. Aber trotz des bestechenden äußeren Eindrucks ist dies alles andere als eine zuverlässige Abschrift.

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Der Text ist, anscheinend nach Diktat, flüchtig und ungenau hingeschrieben, manchmal das, was dem Schreiber noch ungefähr im Ohr klang. So sind Worte ausgelassen, andere doppelt geschrieben, andere spuken noch aus einem früheren Vers. Auffallend gering ist das Gefühl für Klang und Rhythmus eines Verses. Natürlich kann es sein, daß der Diktierende keinen deutlichen Unterschied zwischen unsere und unsre, sehen und sehn machte, aber einem geübten oder musikalischen Schreiber hätte die vom Vers geforderte Wortform nicht zweifelhaft sein können. Vielleicht war es für John noch eine ungeiwohnte Aufgabe, Verse zu schreiben. Manchmal hat man überdies noch den Eindruck, daß er rein mechanisch schrieb und nicht auf den Sinn achtete. Da steht dann statt „Geschweige denn" „Geschweigen den" (613), statt „seit" „seyd" (895), „einem" „einen" — häufig kommt in jedem Vers ein Fehler vor. Die Interpunktion ist auch willkürlich. Hervorgehobene Zeichen scheinen diktiert worden zu sein, aber wie oft fehlt am Schluß der Rede der Punkt! Manche Kommata wurden wohl nur gesetzt, weil der Vorlesende zufällig eine Pause machte; so finden sie sich häufig in der Mitte eines Verses, auch wenn sie nicht sinnvoll sind. Zu diesen Ungenauigkeiten gesellt sich noch die Unbekümmertheit, um nicht zu sagen Nachlässigkeit, in der Orthographie. Adelungs Regeln scheint John nicht zu kennen, und darum wirkt seine Schreibung veraltet; sie hat ungefähr den Stand von Goethes Schreiber Vogel, als er 1788 die ersten Teile des „Tasso" abschrieb. Außerdem ist Johns Rechtschreibung uneinheitlich: Taßo wechselt mit Tasso, Prinzeßinn mit Prinzessin, meynen mit meinen, Blik mit Blick, wobei die modernere Form die seltenere ist. So ergibt sich von allen Seiten her der Eindruck von Unzuverlässigkeit, und er verstärkt sich noch, weil das Geschriebene anscheinend nur von John selbst noch einmal durchgelesen und korrigiert wurde. Da blieben noch viele sinnstörenden Fehler stehen und wurden erst bei den späteren Bearbeitungen verbessert. Aus dem Gesagten bestätigt sich die schon bei der Weilburger Handschrift gemachte Beobachtung, daß es anscheinend nur auf den Text ankam, daß die Richtigkeit von Orthographie und Interpunktion gleichgültig war, daß dies also von Anfang an eine Theaterhandschrift war und nicht erst später dafür benutzt wurde. Aber ist es auch die Bearbeitung für die Aufführung von 1807, eine Abschrift des verbrannten, von Goethe redigierten Manuskripts? Nur ein Vergleich mit den Versen des Weilburger Fragments kann darüber Aufschluß geben. Orthographie und Interpunktion scheiden für die Betrachtung aus, sie sind bei einem Regiebuch, wie wir gesehen haben, keine sicheren, beweiskräftigen Merkmale. Es bleibt nur der Text, und von ihm läßt sich nun mit Sicherheit sagen, daß er auf eine

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Vorlage zurückgeht, die nach einer Göschen-Ausgabe von 1790 oder 1791 und nicht nach der Cotta-Ausgabe von 1807 gemacht wurde. Überall, wo die spätere Ausgabe einen anderen Wortlaut als die früheren hat, stimmt die Weimarer Handschrift mit den Göschen-Ausgaben überein. Einige Beispiele mögen diese Behauptung unterstützen. Vers 1744 heißt in den Göschen-Ausgaben (S und S2) und bei John (H4): Daß er nicht etwa künftig Mangel leide

dagegen in der Cotta-Ausgabe (A): Daß er nicht Mangel etwa künftig leide

oder 2191: nach einem Tag S S 2 H 4 : an einem Tag A oder 2893/94: Wesen. Er schilt S S 2 H 4 : Wesen, Und schilt A. Aber entscheidender ist die Tatsache, daß die in der Weilburger Handschrift gestrichenen Verse in unserem Manuskript fehlen. John muß jedoch eine Vorlage gehabt haben, in der die Streichung der Verse erst vorgenommen wurde, denn seine Wiedergabe der szenischen Anweisungen, die Goethe innerhalb und am Schluß der Streichungen hatte stehenlassen, läßt ihr ursprüngliches Getrenntsein noch deutlich erkennen: /: Gegen die Scene :/ nach einer Pause :/. Noch eine ungewöhnliche Übereinstimmung fällt auf: den Abschreibe- oder Hörfehler des Weilburger Schreibers „gekränzt" statt „bekränzt", der sich in keiner anderen handschriftlichen oder Drucküberlieferung belegen läßt, hat John übernommen, und erst eine spätere Korrektur hat ihn berichtigt. Sicher ist es ein gewagter Versuch, den Beweis, daß das vorliegende Manuskript eine Abschrift des verbrannten ist, auf der Übereinstimmung mit einem einzigen Blatt aufzubauen, und nichts wäre erwünschter, als wenn nun auch die beiden anderen Fragmente auftauchten. Aber spricht nicht jetzt schon Gewichtiges für die Richtigkeit der Behauptung? Der Nachweis, daß Johns Vorlage den Text einer Göschen-Ausgabe hatte, datiert sie in die Zeit von 1790—1806; die Tatsache, daß John die Handschrift geschrieben hat, läßt Goethes Auftrag vermuten; das Fehlen jeder anderen Weimarer Tasso-Bearbeitung aus Goethes Zeit rückt die Herstellung der Abschrift in die Zeit vor 1825, und die Übereinstimmung in den gestrichenen Versen und dem auffallenden Fehler setzt schließlich die beiden Handschriften in eine unmittelbare Beziehung. Darum glaube ich, daß John seine Abschrift nach dem von Goethe redigierten Manuskript anfertigte und daß wir im Wortlaut des Textes eine Wiedergabe von Goethes Bearbeitung haben.

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Die Frage, wann Goethe diese Abschrift herstellen ließ und wie sie in den Besitz des Theaters gelangte, läßt sich nur mit Vermutungen beantworten, und sie erheben keinen Anspruch, mehr zu sein. Der Vergleich mit anderen von John geschriebenen und sicher datierten Texten macht es wahrscheinlich, daß es sich bei dem Tasso-Manuskript um die Arbeit eines noch wenig geübten Schreibers handelt, und so möchte man die Herstellung in die Anfangszeit von Johns Dienst bei Goethe setzen. Da die Handschrift keine Benutzungsspuren aus der Zeit ihrer Herstellung aufweist, dürfte die Möglichkeit ausscheiden, daß Johns Abschrift im Weimarer Theater verwendet wurde und vielleicht durch Aufbewahrung im Hofmarschallamt dem Brand entging. Eher möchte man dem Gedanken Raum geben, daß sie für ein anderes Theater bestimmt war, aber aus irgendeinem Grund nicht abgeschickt wurde und Goethe sie nun für sich behielt. Es wäre an das Wiener Burgtheater zu denken, dessen Sekretär Josef Schreyvogel um eine Abschrift der Weimarer Bearbeitung bat, wie Vulpius Goethe am 23. November 1815 mitteilte. Die Verhandlungen gingen bis Anfang 1816 hin und her, führten aber aus ungeklärtem Grunde zu keinem positiven Ergebnis. Da schon früher Abschriften Goethischer Bühnenbearbeitungen nach Wien geliefert worden waren, ist die Vermutung nicht abwegig, daß Goethe auch diesmal einwilligen wollte und die Abschrift schon in Angriff nehmen ließ, obwohl der endgültige Auftrag noch nicht erfolgt war. Als sich die Sache zerschlug, behielt er die Handschrift für sich, und die Enkel benutzten die freien Blätter für ihre kindlichen Zeichnungen. Im Haus am Frauenplan konnte sie auch kein Opfer des Brandes von 1825 werden. Da schon am 5. September im neuerbauten Hoftheater eine Tasso-Aufführung stattfand, wäre es denkbar, daß Goethe sein Manuskript für die Aufführung zur Verfügung stellte, es vielleicht sogar schenkte, und so verblieb es dann in der Theaterbibliothek. Sollte sich hier die Phantasie zu weit gewagt haben, so sprechen nun wieder die Tatsachen. Was in dem Weilburger Fragment am meisten interessierte, waren Goethes Streichungen, in Johns Manuskript sind es daher die fehlenden Stellen. Nicht oft geschieht es einer Handschrift, daß sie kaum um ihrer selbst willen beachtet wird und daß das Interesse fast ausschließlich dem gilt, was nicht in ihr steht! Um zuerst eine Vorstellung von dem Ausmaß der Streichungen und ihrer Verteilung innerhalb des Werkes zu vermitteln, sollen nur Zahlen angeführt werden. Im ganzen wurden 726 Verse gestrichen, das bedeutet über ein Fünftel des gesamten Umfangs, die reichliche Länge eines ganzen Aufzugs. Schon diese Zahl verrät, wie einschneidend hier durchgegriffen

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wurde. Betrachtet man die einzelnen Aufzüge, so fällt zunächst auf, daß die Streichungen sich nicht ungefähr gleichmäßig über das ganze Werk verteilen. Der III. Aufzug, der allerdings auch der wenigst umfangreiche ist, weist nur geringe auf, nämlich 42 von 540 Versen. Auch im I. Aufzug treten die Kürzungen nicht stark hervor, sie betragen 82 von 749 Versen, also ungefähr ein Neuntel. Der II. Aufzug wurde um 174 Verse verringert; mit 899 Versen war er zwar der weitaus längste, aber die Kürzung um ein Fünftel mußte sich doch auswirken. Noch stärker war sie im V. Aufzug : hier wurden von 624 Versen 131 gestrichen, also ungefähr ein Viertel des Aufzugs. Aber gewaltig ist der Eingriff im IV. Akt: hier hat Goethe von 641 Versen 297 erbarmungslos geopfert, den Aufzug fast auf die Hälfte gekürzt, der damit auch innerhalb des Ganzen sehr viel knapper als jeder andere wurde. So starke Streichungen des IV. und V. Aufzugs konnten nicht vorgenommen werden, ohne daß sie sich bedeutsam auswirkten: beide zusammen hatten fast nur noch den Umfang eines einzigen Aufzugs, wurden dadurch dicht aneinandergerückt, und das Tempo der Aufführung mußte sich zum Schluß steigern, so daß man vermuten kann, daß nach dem III. Akt die Handlung ohne Verhalten zur Katastrophe eilte. Wie verteilen sich nun die Streichungen auf die einzelnen Personen des Werkes? Alphons büßte kaum etwas ein, nur 24 Verse wurden ihm genommen. Die Zahl der Kürzungen ist bei der Prinzessin, Leonore Sanvitale und Antonio fast gleich, sie beträgt 74, 73 und 70 Verse, und innerhalb des Gesamtumfangs ihrer Rolle bedeutet das bei den Frauen eine Minderung um ein Siebentel, bei Antonio um ein Neuntel. Dagegen wurden Tasso 486 Verse genommen, zwei Drittel aller gestrichenen Verse! Das besagt nicht nur, daß bei ihm als der Hauptgestalt auch der zahlenmäßige Abstrich der größte sein mußte, sondern dadurch, daß ihm ein volles Drittel seines eigenen Umfangs genommen wurde, erhebt sich für uns die Frage: Kann diese Kürzung um ein Drittel noch als eine äußere Maßnahme angesehen werden, bedeutet sie wirklich nur eine Verringerung der Aufführungsdauer oder greift sie nicht vielmehr an die Substanz der Gestalt? Bevor die Streichungen auf ihren Inhalt und ihre Bedeutung hin untersucht werden, möge noch eine Einschränkung ausgesprochen werden. Es soll keine Registrierung der ausgelassenen Verse gegeben werden, da sie in eine kritische Ausgabe gehört, sondern es soll versucht werden, von dem Ganzen der Bearbeitung einen Eindruck zu vermitteln. Die Beispiele sollen illustrierende Funktion haben, wobei der Übelstand zu berücksichtigen ist, daß sie aus ihrem Zusammenhang gerissen werden müssen und in der Isolierung vielleicht nicht mehr beweiskräftig sind. Auch können nur wenige

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angeführt werden, und die Deutung der Bearbeitung muß sich auf einige Punkte beschränken. Die Interpretation möchte sich aber nie der Anmaßung schuldig machen, Goethes Absicht sicher zu wissen. Nur die Ähnlichkeit, Übereinstimmimg und Häufigkeit der einzelnen Fälle verleihen den Behauptungen Wahrscheinlichkeit, aber auch dann noch bleibt die Möglichkeit offen, daß Goethe anders gedacht hat. Die schwer zu begreifende Tatsache, daß den zeitgenössischen Zuschauern die Streichungen im „Tasso" kaum auffielen und sie sie auf jeden Fall für unwesentlich hielten, findet seine Erklärung in Goethes Kunst des Streichens. Wenn man ihr im „Tasso" nachgeht, fühlt man sich immer wieder an Goethes Wort zu Eckermann erinnert: „Man muß ein alter Praktikus sein, um das Streichen zu verstehen."1 Aber man spürt nicht nur den Praktikus und seine erlernbare Geschicklichkeit, lange Reden zu kürzen, auf epische Schilderungen zu verzichten und die Handlungselemente stärker zu betonen, sondern Goethes Meisterschaft besteht darin, die Verse so herauszulösen, daß das äußere Gefüge nahtlos erhalten bleibt. Einige Beispiele sollen das beleuchten, aber eigentlich könnte jede Streichung dafür herangezogen werden. Bei Tassos Werben um Antonios Freundschaft (II, 3) wurden 10 Verse gestrichen, in denen Tasso im Namen der Tugend und der Prinzessin überheblich-anmaßend an Antonio herantrat: Ich bitt' es nicht von dir, ich darf es fodern (1273).

Jetzt heißt es knapp: In Einem Augenblick gewährt die Liebe, Was Mühe kaum in langer Zeit erreicht. Noch einmal! Hier ist meine Hand! Schlag' ein! (1271—72, 1283)

und es fällt nicht auf, daß dazwischen 10 Verse fehlen. — In dem Gespräch zwischen Tasso und Leonore Sanvitale im IV. Akt wird Tassos Charakteristik von Antonio an einer Stelle um sechs Verse gekürzt, aber indem der Relativsatz 2297 an das Substantiv in Vers 2290 angefügt wurde, war der Anschluß so eng, daß die Auslassung nicht bemerkt werden konnte. — Auch Antonios Darstellung von Tassos Charakter (V, 1) wurde komprimiert. Die Kürzung einer Antwort Antonios betrug 17 Verse und begann mit den Worten: O sollt' er erst erwerben was ihm nun Mit offnen Händen angeboten wird (2952—53). 1

Am 5. April 1830 (Biedermann 4, 258)

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Goethe verzichtete auf die ausführliche Darlegung, daß alle Schwierigkeiten mit Tasso letztlich in seinem raschen Aufstieg begründet sind, der ihn schon in der Jugend erreichen ließ, wozu andere ein ganzes Leben brauchen. Er läßt Antonio jetzt alles in einem Satz zusammenfassen, der auch mit dem Ausruf 0 beginnt, also in dem demselben Ton wie das Gestrichene gehalten ist, und sich so unmittelbar dem Behauptungssatz anfügt, daß keine Naht zu sehen ist: So jung hat er zu vieles schon erreicht, Als daß genügsam er genießen könnte. O glaube mir, sein launisch Mißbehagen Ruht auf dem breiten Polster seines Glücks. (2950—51, 2969—70)

Wenden wir uns nun den Gründen für Streichungen zu, so ist bekannt, daß Goethe für die dramaturgische Bearbeitung von Bühnenstücken strenge Anweisungen gegeben hatte. Alle politischen Anspielungen, moralischen Zweideutigkeiten und persönlichen oder wissenschaftlichen Polemiken mußten ausgemerzt werden, und davon wurden nicht nur die bea b s i c h t i g t e n Andeutungen getroffen, sondern auch alles, was etwa so ausgelegt werden konnte. Der Theaterleiter wußte sehr genau, daß das Publikum überall stoffliche Beziehungen vermutete und aufsuchte, und so waltete er mit großer Strenge, besonders wo er einen Hinweis auf die französische Revolution oder Napoleon argwöhnte. Daß der Zensor im „Tasso" auf keine moralischen und polemischen Ausfälle stoßen konnte, war selbstverständlich, und ein politisches Stück hatte der „Tasso" nie sein sollen; auch waren die Verhältnisse seiner Entstehungszeit längst überholt, als er 1807 aufgeführt wurde. Trotzdem mochte Goethe manche Aussagen als unheimlich modern empfinden, und wir sahen schon, wie er in der Weilburger Handschrift alle Äußerungen der Auflehnung Tassos gegen die fürstliche Gewalt gestrichen hatte. Auch die Verse: Wir sehn ja, dem Gewaltigen, dem Klugen Steht alles wohl, und er erlaubt sich alles. (1011 —12)

konnten jetzt als Anspielung auf Napoleon verstanden werden und fehlten darum bei der Aufführung. — Der oft zitierte Vers Der Mensch ist nicht gebohren frey zu seyn, (930)

wurde nicht gesprochen, aber ebensowenig die folgenden Verse Und für den Edeln ist kein schöner Glück Als einem Fürsten, den er ehrt, zu dienen. (931—32)

Doch vor allem wurde die bedeutsame Stelle in dem Streit zwischen Tasso und Antonio getilgt, wo Tasso seiner Empörung gegen die höfische

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Welt Luft machte und die Gleichberechtigung des geistigen Adels mit dem durch Geburt überkommenen betonte (1350—57). Hier ging durch die Streichimg ein wesentlicher Zug verloren, denn nun spricht Tasso nicht mehr als der Kritiker der höfischen Gesellschaft, sondern richtet nur noch seinen persönlichen Zorn gegen den Rivalen. Es gab nicht viele Stellen, die dem politischen Verdikt zum Opfer fallen mußten, und so könnte man annehmen, daß die Streichungen doch nur dem Hauptzweck galten, aus dem Lesedrama ein bühnenwirksames Stück zurechtzuschneiden. Es scheint aber, daß Goethe bei dieser Arbeit auch noch eine andere Absicht verfolgte. Aus einer später verworfenen Fassung des Abschlusses der „Italienischen Reise" aus dem Jahre 1817 wissen wir, daß in den „Tasso" so viel von der Verzweiflungsstimmung auf der Rückreise aus Italien eingegangen war, daß die Stellen, die damals entstanden, noch den alten Goethe unmittelbar „in jene Zeit, jene Gefühle" 1 zurückversetzten. Wahrscheinlich empfand der Dichter auch schon bei der Arbeit an der Bühnenfassung, wie sehr er sich früher mit Tassos Schicksal identifiziert hatte; sagte er doch auch zu Riemer, er habe in den „Tasso" „des Herzblutes, vielleicht mehr als billig ist, transfundiert." 2 Nun scheint es, daß er den Bekenntnischarakter des Werkes zurücktreten lassen wollte. Wenn z. B. in der Eingangsszene gesagt wurde: Hier ist die Frage nicht von einer Liebe, Die, sich des Gegenstands bemeistern will, Ausschließend ihn besitzen, eifersüchtig Den Anblick jedem andern wehren möchte. (205—208)

dann lag in diesen Worten so viel leidenschaftliche Bitterkeit, daß der Ton ganz aus der sanften Sprache der beiden Frauen herausfiel und mehr die Erregung des Dichters verriet, der damals von einer Liebe gequält wurde, auf die diese Merkmale zutrafen. Diese Verse wurden jetzt gestrichen, und auch bei anderen möchte man glauben, daß es aus dem Wunsch geschah, möglichst viel von dem, was Goethe als zu persönliche Aussage im „Tasso" empfand, zu unterdrücken. Diese Vermutung soll hier nur angedeutet werden; wenn sie sich auch später bei den an Tassos Worten vorgenommenen Kürzungen immer wieder aufdrängt, ist sie doch mit dem Bühnenzweck der Bearbeitung so eng verbunden, daß sie nie als das bestimmende Motiv auftritt. Aber es möge erlaubt sein, an einem Beispiel zu zeigen, wie Goethe das persönliche Bekenntnis unsichtbar werden ließ. Bei Tassos Hymnus (1092—1108): 1 2

I 32, 429 Mittheilungen über Goethe, Berlin 1841, 2, 515

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Was auch in meinem Liede wiederklingt Ich bin nur Einer, Einer alles schuldig!

würde ein moderner Dramaturg wahrscheinlich die Aufzählung der Liebenden aus Tassos Werk streichen: Tancredens Heldenliebe zu Chlorinden, Erminiens stille nicht bemerkte Treue, Sophroniens Großheit und Olindens Noth.

Aber gerade dies läßt Goethe stehen und streicht dafür das Herzstück: Es schwebt kein geistig unbestimmtes Bild Vor meiner Stirne, das der Seele bald Sich überglänzend nahte bald entzöge. Mit meinen Augen hab ich es gesehn, Das Urbild jeder Tugend, jeder Schöne Was ich nach ihm gebildet das wird bleiben.

Mit dem Fehlen des letzten Verses wird die ursächliche Beziehung getilgt, daß jene dichterischen Gestalten Abbild des in der Wirklichkeit erlebten Urbilds sind. Es ist nicht mehr die überschwengliche Verkündung des dichterischen Erlebnisses, sondern nun treten die Gestalten in den Vordergrund, und was ihnen Wirkung auf Jahrhunderte verleiht, ist das in ihnen verborgene Geheimnis der Liebe. So vollzog Goethe durch die Streichung die Wendung vom Subjekt zum Objekt, und wenn ihm die Verherrlichung der Einen als des Urbilds von allem Hohen zu sehr nach persönlichem Bekenntnis jener früheren Jahre Idingen mochte, trat er nun hinter das Werk zurück. Alles bisher Angeführte betraf Einzelfälle und rührte nicht an das Hauptproblem, aus dem „schönen Gedicht" ein Bühnenstück zu machen. Nach Goethes und der allgemeinen Ansicht lagen die Hauptfehler des „Tasso" in der Handlungsarmut und der epischen Breite der Ausführung. So mußte eine Bühnenbearbeitung vor allem daran gehen, die ausführlichen Schilderungen einzuschränken und die Handlungselemente hervorzuheben. Diese Überlegungen wurden für Goethes Vorgehen bestimmend. Um die Haüpthandlung klar heraustreten zu lassen, wurde auf alles verzichtet, was von ihr ablenken konnte. Der Bericht der Vorgeschichte wurde zusammengedrängt, einiges fiel fort, anderes wurde gekürzt. Von einer ausmalenden Schilderung blieb nur das Notwendige erhalten, die Wiederholungen konnten fehlen, und wo mehrere Beispiele gewesen waren, genügte eins. Wenn sich im Hin und Her des Gesprächs oder der einsamen Überlegung ein Entschluß herauskristallisiert hatte, entstand er jetzt schneller, manchmal ganz plötzlich. Gegen Abweichungen vom Thema, Reflexionen über das Erlebte, Leidenschaft der Gefühlsäußerung wütete die Hand des Bearbeiters, und

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hier verzichtete Goethe nicht nur auf 2—3 Verse, sondern strich grausam bis zu 60 Versen. Aber wen betrafen diese Streichungen? Wer machte sich der langen Reden, Abschweifungen, Wiederholungen, Gefühlsausbrüche schuldig? Es war nur einer, und gegen ihn richteten sich diese Maßnahmen. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Aufzug, in dem Tasso nicht auftritt, fast unverändert blieb, daß dagegen der IV. Aufzug mit den drei Monologen Tassos ungefähr bis auf die Hälfte zusammengestrichen wurde — wenn man bei den Streichungen, die die anderen Personen betreffen, abzieht, was im Gespräch mit Tasso übrigbleibt —, dann springt hervor, daß es in der ganzen Bearbeitung nur um ein Problem ging, daß sie um e i n e Mitte kreiste: um Tasso. Alle anderen Fragen, seien es die der Aufführungsdauer oder die des persönlichen Bekenntnisses, waren letztlich mit dieser einen identisch. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, darzutun, welche Streichungen an Tassos Worten innerhalb des ganzen Werkes vorgenommen wurden. Wir müssen uns auf ein Beispiel beschränken und wählen dazu den IV. Aufzug, der die zahlreichsten und radikalsten Eingriffe aufweist. Es muß hervorgehoben werden, daß Goethe in den andern Aufzügen nicht so konsequent verfuhr, und es scheint sich der Vorgang in der Druckvorlage der Erstausgabe zu wiederholen, wo Goethes charakteristischste Änderungen auch dem IV. Aufzug gegolten hatten. Hier möchten wir ihn in den Mittelpunkt stellen, weil sich in ihm die Veränderung in der Gestalt Tassos am deutlichsten abzeichnet und die geheime Absicht von Goethes Bearbeitung aufleuchtet. Von dem ersten Monolog Tassos (IV, 1), der 52 Verse umfaßt, sind nur die ersten 11 übriggeblieben, die beginnen: Bist du aus einem Traum erwacht und hat Der schöne Trug auf einmal dich verlassen? (2189—90)

und den Schwebezustand festhalten: „Du wachst und träumst". Dann tritt Leonore ein. Gestrichen wurden also 41 Verse, und damit fehlt jetzt Tassos Frage nach der Schuld und seine Reflexion über die Vorgänge, die ihn ins „Verderben" führten. Vor allem geht am Schluß verloren, was als beginnender Wahnsinn gedeutet werden könnte: Das häßliche zweydeutige Geflügel, Das leidige Gefolg der alten Nacht, Es schwärmt hervor und schwirrt mir um das Haupt. Wohin, wohin beweg ich meinen Schritt? Dem Ekel zu entfliehn, der mich umsaußt, Dem Abgrund zu entgehn, der vor mir liegt? (2235—40)

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In dem Gespräch zwischen Leonore und Tasso (IV, 2) sind nicht nur einzelne Verse Tassos, sondern Teile des Dialogs getilgt worden. Jetzt fehlt die Übertreibung: Du trifst den Freund in einem Kerker an. (2273)

oder die Ungerechtigkeit í Kenn' ich doch Die Welt von Jugend auf, wie sie so leicht Uns hülflos, einsam läßt, und ihren Weg Wie Sonn' und Mond und andre Götter geht. (2408—11)

die Tasso in einem Augenblick ausspricht, wo alle sich um ihn bemühen und Mittel der Rettung suchen. Seine Charakteristik von Antonios „steifer Klugheit" ist stark gekürzt, da der gestrichene Teil keinen neuen Wesenszug enthielt, sondern erläuterte, daß Antonio „immer nur den Meister spielt". Aber nun wird das Ziel dieser Unterredung: Tassos Entschluß, aus Ferrara fortzugehen, viel direkter angesteuert. Leonores vorsichtiges Lavieren, Tassos Klagen über seine Stellung am Hof, der Freundin behutsam vorgebrachter Rat und seine Wirkung auf Tasso — von all dem, was Goethe früher in 49 Versen entwickelt hatte, bleiben nur Leonores Worte übrig: Willst du, theurer Freund, Von deinem Sinn nicht lassen, seh' ich kaum, Wie du am Hofe länger bleiben willst. Du weißt, wie viel er gilt und gelten muß. O Tasso! — rath ich dir'sí Sprech' ich es aus? — Du solltest dich entfernen! (2353—56, 2384—85)

und Tasso schweigt. Dann bittet er um Bedenkzeit, und seine Fragen nach der Prinzessin lassen ihn schon halb entschlossen erscheinen, so daß Leonores Worte Ich gehe mit der schönsten Hoffnung weg Für dich und uns und auch für dieses Haus. (2430—31)

den Ertrag der Unterredung bezeichnen. In dem darauffolgenden Monolog Tassos (IV, 3) wurden die ersten 62 Verse gestrichen, in denen sich die Übereinstimmung mit Leonores Plan als eine Täuschung erwies und in sein Gegenteil verzerrte. Der eigene Wunsch, von hier fortzugehen, stellte sich als gewaltsame Entfernung dar, Alphons' Wohlwollen und Leonores „treue liebe Meinung" wurden zu Schachzügen eines Feindes, der Vorschlag, Florenz als Aufenthaltsort zu wählen, sollte die Möglichkeit der Rückkehr nach Ferrara versperren. Wenn aus solcher Selbstquälerei dasWort herausbrach: „Ja, ich will weg", war es ein Einfall des Augenblicks,.

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der von falschen Voraussetzungen ausging und darum nicht unabänderlich zu sein brauchte. Dies alles wurde gestrichen. Wohl wurde damit das für die Haupthandlung weniger Wichtige, nämlich Tassos Verhältnis zu Alphons und Leonore, abgestoßen, und es blieb nur das für den Fortgang Wesentliche: Tassos Entschluß der Abreise und sein Urteil über die Prinzessin. Aber indem die Zuschauer nicht mehr erlebten, wie sich die Wirklichkeit in Tassos Sinn verkehrte, blieb der positive Eindruck bestehen, und Tassos erste Worte nach Leonores Fortgang: Ja ich will weg, allein nicht wie ihr wollt; Ich will hinweg, und weiter als ihr denkt. (2530—31)

sind nun unmittelbare Folge der Unterredung und bezeichnen seinen festen Entschluß, der zugleich die Handlung weitertreibt. Antonios Äußerung über Tassos Gelassenheit (IV, 4) beruht darum nur zum Teil auf einer Täuschung, denn durch die starke Kürzung seiner Reden — der ganze Auftritt ist fast auf die Hälfte gestrichen — wirkt Tasso beherrschter, entschlossener als sonst und übernimmt die Führung des Gesprächs. Auf die lange Erörterung, warum er nach Rom will und Antonio seine Unterstützung zunächst verweigert, wird verzichtet. Auf Antonios Worte: Vollende hier dein Werk, hier ist der Platz, Und um zu wirken eile dann nach Rom. (2646—47)

antwortet Tasso jetzt: Du hältst mich nicht mit diesen Worten ab. (2691)

Dazwischen wurden ursprünglich 43 Verse gesprochen! Ebenso stellt Tasso jetzt die kurze Forderung: Soll ich dir glauben, denkst du gut für mich, So wirke was ich wünsche, was du kannst. (2718—19)

auf die Antonio antwortet: Weil ich dir doch, o Tasso, schaden soll, So wähl' ich denn den Weg, den du erwählst. (2728—29)

Der letzte Monolog Tassos in diesem Aufzug (IV,5) beginnt wie in der Buchfassung mit der Feststellung, daß Antonio der Meister des „höfischen Gewebes" ist: So umnebelt er Die Stirn des Fürsten und der Fürstinn Blick. (2756—57)

Die Nennung dieses Namens — wieder ein großartiges Beispiel von Goethes Kunst des Streichens — ruft nun aber sofort die erschütternde Steigerung des Schlusses hervor:

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Ja, alles flieht mich nun. Auch du! Auch du! (2792)

in der kein Vers fehlt. Aber dazwischen wurde das Mittelstück von 34 Versen entfernt, die Paraphrase des Themas: Das ist mein Schicksal, daß nur gegen mich Sich jeglicher verändert, der für andre fest Und treu und sicher bleibt (2776—78).

Wollen wir versuchen, nach dem Beispiel dieses Aufzugs die Bedeutung der Streichungen zu umreißen, so muß als erstes festgestellt werden, daß der Handlungsablauf erhalten blieb. Aber durch den Wegfall der langen Reden wurde er gestrafft und trat mehr in den Vordergrund, auf Kosten des Interesses an Tassos seelischem Zustand. Er war nun einfacher zu begreifen, weil das Problem nach außen verlagert war. Eine zeitgenössische Rezension der Leipziger Aufführung von 1807 gab als Inhalt des „Tasso" an: „Der Dichter wünscht nun auch als Staatsmann, als Krieger sich zu zeigen; er strebt wohl gar darnach, von einer Fürstin persönlich geliebt zu werden, und die Beschützerin und Freundin des Dichters verliebt sich in den Menschen: hieraus geht ein Kampf der Gefühle, ein Streit der Verhältnisse hervor, der mit der Dichtkunst vertraute Menschen auf eine Art affiziert, daß man auf einige Stunden die Welt und alles um sich her vergißt, und tiefe Blicke in sein Herz tut." 1 Es ist hier nicht von Belang, ob das Urteil nach unserer Kenntnis des Regiebuchs richtig ist, sondern nur, daß es hervorgerufen wurde, daß also die Aufführung den Eindruck einer interessanten Handlung zu erwecken vermochte. Auch Johanna Schopenhauer berichtete ihrem Sohn, daß sie beim Lesen keine Vorstellung von dem „hohen Interesse" gehabt habe, „das man auf der Bühne auch an der Handlung dieses dem Ansehen nach so tatenlosen Stücks nehmen kann."2 Demgegenüber trat nun die innere Welt zurück. Die Kürzung der Monologe bedeutete nicht nur eine Verringerung der handlungsarmen Stellen, sondern zerstörte die Konfession. Tasso reflektiert nicht mehr so viel über sich selbst, sondern ist dem Leben zugewandter; er läßt sich nicht von den Gewalten seines Innern treiben, sondern handelt zielbewußt. Da Goethe außerdem anscheinend die Stellen tilgen wollte, aus denen auf Tassos Wahnsinn geschlossen werden konnte — auch wenn es sich nur um das Wort „zerrütten" handelte (2278) —, entsteht jetzt der Eindruck eines zwar komplizierten und für seine Umwelt höchst schwierigen, aber durchaus nicht 1

Joh. Gottfr. Dyk, Über einige Vorstellungen der Weimarischen Hofschauspieler zu Leipzig. In: Bibliothek der redenden und bildenden Künste, Leipzig 1807, 4, 48 1 Brief vom 20. Februar 1807. In: H. H. Houben, Damals in Weimar, Leipzig 1924, 64

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besonders gefährdeten Menschen. Wenn Goethe 1789 nach Caroline Herders Mitteilung als den „eigentlichen Sinn" des „Tasso" die „Disproportion des Talents mit dem Leben"1 bezeichnete, so scheint es jetzt fast so, als sei diese Naturgegebenheit nicht unwiderruflich, sondern als könnte es durch die tätige Hilfe der Mitmenschen doch einmal zu einer „Proportion" kommen. Es mag gewagt erscheinen, solche Behauptungen nur auf Grund einer Analyse des Regiebuchs aufzustellen, denn da die Wirkung des Lesens eine andere als die des Spiels ist, kann nur eine Aufführung die gültigen Aufschlüsse geben. Unsere Kenntnis von Goethes Bühnenbearbeitung bleibt nach der wichtigsten Seite hin notwendig fragmentarisch, solange ihr die Erprobung und Wirkung durch die Darstellung fehlt. Nach Bekanntwerden der Bühnenfassung hat das Erfurter Theater 1953 den Versuch unternommen, den „Tasso" in Goethes Sinn zu inszenieren. Leider konnte man sich nicht entschließen, seine Bearbeitung genau zu übernehmen, sondern fügte noch weitere Streichungen hinzu, vor allem in der Rolle der Prinzessin, so daß kein reines Echo entstehen konnte. Trotzdem läßt sich im ganzen sagen, daß der Eindruck, der durch das Regiebuch gewonnen wurde und den die zeitgenössischen Urteile behaupteten, durch die Aufführung unterstrichen wurde. Infolge der starken Kürzungen von Tassos Text traten seine Schattenseiten zurück, der Charakter erhielt eine schärfere Zeichnung, und der Dichterjüngling schien durch die Katastrophe zum Manne zu reifen. Dieser positive Gesamteindruck der modernen Inszenierung findet eine Bestätigung durch Beurteiler der ersten Aufführungen. Der Leipziger Rezensent von 1807 behauptet von dem Schluß des „Tasso": „Tasso erkennt, der Mensch müsse nicht bloß phantasieren, sondern auch handeln, wenn er sich hienieden glücklich fühlen will", und bekennt von sich: „In vielen, vielen Jahren hatte ich keine ähnliche Empfindung gehabt, hatte ich mich, nach geendetem Schauspiel, nicht so froh gefühlt."2 Daß der Ausgang des Stückes, der unverändert blieb, nicht als Katastrophe wirkte, scheint allgemeiner Eindruck gewesen zu sein, und dahin zielte wohl auch Goethes Absicht. Während seiner ganzen Tätigkeit als Theaterleiter wünschte er, daß ein Bühnenstück vor allem „tüchtig" zu sein habe und eine positive Wirkung von ihm ausgehe. Er hatte gewiß nichts dagegen, wenn nun das Ende des Dramas die Hoffnung erweckte, daß Tasso sich 1

Herders Reise nach Italien, hrsg. v. Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried von Herder, Gießen 1859, 296 8 Dyk a. O. Bd 3, 418f.

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doch noch als handelnder Mensch bewähren werde, und wir möchten sogar glauben, daß er diese Interpretation gewollt hat. Der „Tasso" wurde damit zu einem Lobpreis des tätigen Lebens, das sogar die Möglichkeit habe, die „Disproportion des Talents mit dem Leben" auszugleichen. Dieser realistische „Tasso" gefiel vielen Theaterbesuchern besser als der, den sie gelesen hatten, wenn sie auch geneigt waren, das Hauptverdienst den Schauspielern zuzusprechen. 726 Verse waren gestrichen worden, aber weil nirgends ein Bruch sichtbar wurde, meinte man, es sei nur Überflüssiges weggefallen; aus dem Tasso, der über sich und die Welt ständig reflektierte und dessen Eigenart darin bestanden hatte, daß er dem Leben nicht aktiv gegenüberstand, war ein Mann geworden, der seine größte Qual und Hoffnungslosigkeit verschwieg, — doch niemand merkte es. Der publikumskundige Theaterleiter wußte, was die Menschen brauchten, und gab ihnen diesen Tasso, dessen letzte Worte nicht als Untergang, sondern als Umkehr aufgefaßt wurden. „Grausam aber konsequent" — dies Urteil Goethes über Schillers Egmont-Bearbeitung könnte auch über seiner eigenen Tasso-Bearbeitung stehen. Der Theaterleiter hatte seine Dichtung dem Publikum geopfert; der Dichter war hinter dem Werk unsichtbar geworden und wollte nicht mehr ahnen lassen, wieviel von dem Problem und Schicksal Tassos sein eigenes war. Wie er jetzt über die Frage von Dichter und Welt dachte, blieb unentschieden, denn Tassos Mund sprach es nicht mehr aus. Aber war es wirklich nur der Theaterleiter, der sich von dem ursprünglichen Tasso distanziert hatte? Wieviel verrät seine grausame Behandlung des Werkes davon, wie Goethe im Innern dachte? Wir wissen es nicht, aber in diesen selben Jahren sagte er einmal zu Riemer — und in dieser Richtimg möchten wir die Antwort auf unsere Frage suchen —: „Das Theater ist die tätige Reflexion des Menschen über sich selbst."1 1 Robert Keil, Aus den Tagebüchern Riemers, des vertrauten Freundes von Goethe, Deutsche Revue 12, 1836, 164

3. Ein unveröffentlichter Entwurf Goethes Von dem Wort „unveröffentlicht" pflegt auch heute noch eine gewisse Bezauberung auszugehen. Obwohl es gar nicht selten vorkommt, daß geerbte Handschriftenschätze im Privatbesitz verborgen sind, weil die Eigentümer ihre Bedeutung nicht kennen, dürfte doch nach den Erlebnissen der Kriegsjahre die beliebte Vorstellung im Schwinden sein, daß unbekannte Handschriften auf spinnwebdurchzogenen Böden oder im Gerümpel dunkler Keller Jahrzehnte und Jahrhunderte überdauern, bis sie von einem eifrigen Sucher ans Tageslicht gefördert und einer überraschten Öffentlichkeit präsentiert werden. Im allgemeinen neigt man jetzt eher dazu, die Möglichkeit bedeutender neuer Funde überhaupt zu leugnen. Tritt aber ein solches unerwartetes Ereignis ein, so vermag es, wie die Handschrift von Hölderlins „Friedensfeier" gezeigt hat, nicht nur die Germanisten aufzuregen, sondern auch bei einem Publikum, das sonst nur der neusten Gegenwartsliteratur Beachtung zu schenken pflegt, geradezu Sensation zu machen. Doch selbst wenn es sich nicht um die Entdeckung eines umfangreichen Manuskripts, sondern um den kleinen Fund weniger Zeilen handelt, wird die Veröffentlichung, zumal wenn es sich um Goethes Handschrift handelt, auch in Fachkreisen als besondere Leistung gewertet: die Ankündigung des Unbekannten erweckt Spannung, der Reiz des Neuen überhöht manchmal die Bedeutung, und die Kenntnis des bisher Verborgenen vermag der Forschung Möglichkeiten zu erschließen, an die bisher noch nicht gedacht werden konnte. Von einem Entwurf gilt dies noch mehr als von einer Reinschrift. Diese bietet zwar ein ästhetisch vollkommneres Bild, und an sie denken wir zumeist, wenn von Goethes Handschrift die Rede ist; aber durch ihre Nähe zu dem allgemein bekannten Druck wirkt sie viel weniger geheimnisvoll als eine flüchtige erste Niederschrift, die noch vom Anfänglichen des Schöpfertums umwittert ist und dann vom Dichter allen Wandlungen der Konzeption und Gestaltung ausgeliefert wurde. Was Wunder, daß jede Auffindung eines Goethischen Entwurfs eine Sensation im kleinen ist! Solche hohen Erwartungen vermag das vorliegende Unternehmen nicht zu erfüllen, und es muß gleich am Anfang die etwa aufgetauchte Illusion zerstört werden, daß hier etwas revolutionierend Neues als gesichertes Ergebnis proklamiert werden könnte. Zwar handelt es sich um einen bisher unveröffentlichten Entwurf, aber es kann nicht angenommen werden, daß er auch völlig unbekannt geblieben ist. Er befindet sich auf der Rückseite einer Zeichnung Goethes, und jeder Betrachter dieses Blattes wird es auch

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umgewendet und sich an der Entzifferung der Bleistiftzeilen versucht haben. Auf dem Karteiblatt der Zeichnung im Goethe-Nationalmuseum in Weimar, das die wissenschaftlichen Ergebnisse mehrerer Forscher zusammenfassend festhält, steht über die Rückseite nur die Notiz: „mehrere Zeilen eigenhändiger Bleistiftnotizen (lesbar: Gehorsams Pflicht)." Wenn weder Graevenitz noch Hirth, die sich mit dieser Zeichnung beschäftigt haben, den Text erwähnen, wenn selbst ein Kenner wie Hans Wahl zwar eine Datierung der Zeichnung, aber keinen Wortlaut des Entwurfs vorgeschlagen hat, wenn also die diesen Forschern bekannte Niederschrift Goethes trotzdem unveröffentlicht gebheben ist, dürfte der Grund in der Schwierigkeit der Sache hegen. Es handelt sich hier um einen „schweren Brocken", der sicher mehrfach in Angriff genommen wurde und doch unbewältigt hegengelassen werden mußte. Auch jetzt ist die vollständige Entzifferung des Entwurfs nicht gelungen, und es soll nur als kleine Entschuldigung vorgebracht werden, daß die Beschneidung des Blattes den Text verstümmelt hat, so daß er wohl nie mit absoluter Sicherheit ergänzt werden kann. Aber der Haupthinderungsgrund liegt doch in der sehr schweren Lesbarkeit dieser Zeilen, und jeder Kenner von Goethes Handschrift weiß, daß man bei der Entzifferung der Bleistiftentwürfe verzweifeln kann. Wenn min trotzdem das Wagnis einer Veröffentlichung unternommen wird, geschieht es nicht in der Meinung, daß das Problem des Entwurfs damit gelöst sei, sondern aus der Überlegung, daß das Blatt es wohl verdient, aus seiner Unbekanntheit gezogen zu werden. Auch bei der großzügigen Bereitstellung der Handschriften für wissenschaftliche Zwecke, wie sie in Weimar herrscht, liegt es in der Natur der Sache, daß nur verhältnismäßig wenigen Menschen Handschriften zur Anschauung gelangen und daß erst der Druck ihnen die Verbreitung gibt, die für die Entstehung eines wissenschaftlichen Fachgesprächs Vorbedingung ist. Bei dieser Zielsetzung der Aufgabe und im Bewußtsein der Vorläufigkeit der Ausführungen möchte sich diese Untersuchung bescheiden. Das Blatt, auf dem sich Zeichnung und Entwurf befinden, ist 20,1x12,3cm groß. Es hat ehemals weißes, jetzt vergilbtes Papier, auf dem als Wasserzeichen der Herstellungsort Hof der berühmten Papierpresse I. A. Wunneriichs zu erkennen ist. Die Zeichnung1 wurde im Breitformat mit Bleistift 1

Vgl. Abb. 3 = Inventar-Nummer 157 der Zeichnungen Goethes im Goethe-Nationalmuseum Weimar. Die Angaben über diese Zeichnung und die Orientierung über die Datierungsprobleme der Goethischen Zeichnungen verdanke ich Dr. Gerhard Femniel, dem Bearbeiter des Katalogs von Goethes Handzeichnungen. Er machte mich auf den Entwurf aufmerksam, und die Veröffentlichung geht auf seine Anregung zurück.

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skizziert, später mit der Feder ausgeführt und mit Tusche laviert, und schließlich wurde das fertige Bild noch beschnitten. Es stellt eine bepflanzte Terrasse dar, auf deren Höhe sich vier Zypressen und ein kleines Gebäude befinden. Auf dem Passepartout steht der Vermerk von Wahl „Rückreise?" und die Datierung von Hirth „Anf. Frühj. 1788". Nach den Untersuchungen von Graevenitz1 gehörte auch diese Zeichnung zu dem von Goethe geplanten Sammelband zur Italienischen Reise, und das Verzeichnis von Oettingens aus dem Jahre 1910 im Goethe-Nationalmuseum über den Inhalt des später wieder aufgelösten Sammelbandes verweist sie auf Blatt IIa. Auf dfer Rückseite der Zeichnung2 stehen in der Richtung des Schmalformats sechs Bleistiftzeilen. Sie sind rechts nur unvollkommen ausgefüllt, was beim ersten Blick an Verse denken läßt, sich aber beim Entziffern sofort als Irrtum herausstellt. Links ist der Text durch die Beschneidung der Zeichnung verstümmelt; drei Worte sind dadurch zerschnitten, und bei den übrigen drei Zeilen ist anzunehmen, daß mindestens ein noch vorhanden gewesenes Wort ganz verlorengegangen ist. Wie breit der abgeschnittene Streifen war, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Die Handschriften im Goethe- und Schiller-Archiv, die auf Wunnerlich-Papier geschrieben sind, weisen alle im Format geringe Abweichungen voneinander auf, so daß sie nie millimetergenau übereinstimmen. Immerhin kann man annehmen, daß das Normalformat für das Folioblatt ungefähr 21X 34,4 cm und für das Quartblatt ungefähr 17,2x21 cm betragen hat. Wenn auch unsere Zeichnung ursprünglich Quartformat hatte, was die 20,1 cm vermuten lassen, dürfte der am unteren Rand abgeschnittene Streifen etwa 5 cm breit gewesen sein. Für die Deutung des Entwurfs ergibt sich daraus, daß auf der linken abgeschnittenen Seite, selbst wenn man einen freigelassenen Rand annimmt, in jeder Zeile noch mehrere Worte gestanden haben können, so daß ein beträchtlicher Teil des Textes verlorengegangen wäre und es ein unmögliches Unterfangen sein würde, ihn ergänzen zu wollen. Die ersten vier Zeilen sind mit einem senkrechten Bleistiftstrich durchgestrichen. Goethe pflegte es zu tun, wenn ein Entwurf durch seine Abschrift erledigt war; auf jeden Fall läßt sich hier daraus schließen, daß diese vier Zeilen in irgendeiner Form verwertet worden sind. Die beiden nicht durchgestrichenen Zeilen sind demnach wahrscheinlich nicht benutzt 1

G. von Graevenitz, Der Sammelband Goethescher Handzeichnungen von der Italienischen Reise im Goethe-Nationalmuseum, GJb 32, 1911, 12—18 1 Vgl. Abb. 4

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worden. Das Ganze ist mit deutschen Buchstaben sehr flüchtig hingeschrieben und zeigt deutlich, wie ein Gedanke oder eine Formulierung schnell festgehalten werden sollte. Die Schrift ist zierlich; in der Eile wurden die Worte nicht ausgeschrieben, und die kleinen Buchstaben verloren ihre charakteristische Form, so daß sie als ein vages Auf und Ab erscheinen und jeder nicht nur jedes bedeuten kann, sondern auch ihre Anzahl nicht auszumachen ist. Es fehlen i-Punkte, u-Haken und Umlaut-Tüttelchen, so daß man auch auf diesen Anhaltspunkt der Identifizierung verzichten muß. Kein Wort läßt sich aus den einzelnen Buchstaben zusammensetzen, man muß es als Ganzes intuitiv erfassen oder im Zusammenhang erraten. So können einige Worte auf verschiedene Weise gelesen werden, und ihre sichere Bedeutung ließe sich nur aus dem vollständigen Text erkennen. Der Entwurf hat nur wenige Worte, die absolut eindeutig sind, aber diese Problematik kann der Druck nicht widerspiegeln; um sie wenigstens anzudeuten, wurde in einigen Fällen die ebenfalls mögliche Lesung in der unteren Zeile hinzugefügt. Der Entzifferungsversuch wurde bewährten Kennern von Goethes Handschrift vorgelegt, die ihre Zustimmung erklärten, so daß er damit eine gewisse Beglaubigung erhalten hat. König

der

uns

weiser txxgt weises txhxx und sich durch die Mil[de] auch der Gegenwart erstaunt und Uns iede Gehorsamspflicht erlassen erlassend k gebend / Weisse Tücher ng[en] auf Spxiegeln eg[en]

Die durchgeschnittenen Worte der beiden letzten Zeilen könnten vielleicht als „zurück" und „hängen" oder „liegen" ergänzt werden, so daß der Text lautete: zurück gebend / Weisse Tücher hängen auf Spiegeln

Gegen die Lesung „Spiegeln" läßt sich einwenden, daß innerhalb des Wortes ein zusätzlicher Buchstabe vorhanden ist; da aber kein richtiger passendes Wort gefunden wurde, ist vielleicht möglich, einen Irrtum Goethes beim schnellen Schreiben anzunehmen. Da die Zeichnung eine italienische Landschaft darstellt, könnte man bei dieser Notiz an eine Beobachtung während des römischen Karnevals denken, die Goethe dann entweder vergaß oder absichtlich nicht verwendete, denn etwas Ähnliches wird in seiner

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Beschreibung des römischen Volksfestes nicht erwähnt. Aber diese Beziehung ist auch nicht wahrscheinlich, denn das Fehlen eines Zwischenraums zum vorhergehenden Text zeigt, daß beides zusammengehört, und die ersten Zeilen haben offensichtlich nichts mit dem Karneval zu tun. Von diesem Text fällt als das am besten zu lesende Wort „GehorsamsPflicht" auf. Es ist ein Wort, dessen ursprünglich selbständige Teile sich noch durch die Schreibung erkennen lassen. Dies ist keine besondere Eigentümlichkeit Goethes, sondern allgemeiner Gebrauch des 18. Jahrhunderts, der erst allmählich durch Adelungs Orthographieregeln verschwand. Das Wort „GehorsamsPflicht", das charakteristisch und den Inhalt bestimmend wirkt, scheint der Interpretation den Weg zu weisen. Da es sich um einen benutzten Entwurf Goethes handelt, braucht nur nachgewiesen zu werden, wo in seinen Werken, Tagebüchern und Briefen der Begriff vorkommt, um danach festzustellen, für welchen Text dieser Entwurf gedient hat. Eine Anfrage bei allen Abteilungen des Goethe-Wörterbuchs1 ergab die erstaunliche Tatsache, daß dies so vertraut klingende Wort bei Goethe nicht belegt ist. Es ist ein eigenes Gefühl, mit dem man nun die Bleistiftzüge anschaut: ein Wort, das Goethe eigenhändig geschrieben hat und das nach unserer Kenntnis weder in seinen Werken noch in seinen persönlichen Äußerungen vorkommt! Damit erweist sich allerdings der Weg, vom Einzelwort aus zu einer Deutung des Entwurfs vorzudringen, als unzugänglich. So muß ein anderer eingeschlagen werden, und wir möchten versuchen, durch Aufspüren der Entstehungsgeschichte des Blattes weiterzukommen. Wie schon erwähnt, haben Wahl und Hirth die Zeichnung auf Goethes Rückreise aus Italien, also ins Frühjahr 1788, datiert. In seiner ungedruckten Habilitationsschrift2 hat Hirth diese Zuweisung wieder zurückgenommen, indem er es für wahrscheinlicher hält, daß die Zeichnung erst später in Weimar nach der Erinnerung entstanden ist. Zum Beweis führt er an, daß das Gebäude in der Bleistiftskizzierung fast noch einmal so groß ist als in der darüber ausgeführten Federzeichnung. Das ist nach ihm ein „typisches Merkzeichen für den Arbeitsvorgang bei Phantasien oder Erinnerungszeichnungen, die erst während der Arbeit endgültige Gestalt gewinnen". Noch beweiskräftiger ist ihm die Beobachtung, daß sich das 1

Die Auskünfte gaben mir freundlicherweise Frau Dr. Jutta Neuendorff, Berlin, für die Werke, Frau Erna Merker, Leipzig, für die Tagebücher und die „Italienische Reise" und Herr Professor Dr. Hans Pyritz, Hamburg, für die Briefe. 3 Alfried Hirth, Goethe als Zeichner. Eine Studie unter besonderer Berücksichtigung der Italienischen Reise, S. 110

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Wunnerlich-Papier bei keiner Zeichnung nachweisen läßt, die bestimmt in Italien entstanden ist. Nach ihm hat Goethe dies Papier bis unmittelbar vor der italienischen Reise benutzt und dann erst wieder gleich nach der Rückkehr in Weimar. Aber nach unserer Kenntnis der Handschriften läßt sich diese Behauptung nicht unbedingt annehmen, denn die Handschriften des Großkophta z. B., die sicher in Italien im Sommer 1787 entstanden sind, haben Wunnerlich-Papier. Doch es findet sich in der italienischen Zeit verhältnismäßig selten — da wurde vor allem italienisches Papier und das aus der Presse C. und I. Honigs verwendet —, so daß man vielleicht annehmen kann, daß Goethe sich zwar einen Rest Wunnerlich-Papier aus Deutschland mitnahm, es aber nach dem Verbrauch nicht ergänzte. Bei unserer Zeichnung hat Hirth zudem übersehen, daß der verstümmelte Text die Priorität des Entwurfs beweist; erst als er erledigt war, benutzte Goethe seine Rückseite für die Zeichnung. Es kann also durchaus sein, daß er auf der Heimreise einen Landschaftseindruck mit Bleistift flüchtig skizzierte, ihn dann später — ob noch in Italien oder erst in Weimar, steht dahin — ausführte und dem Bild schließlich durch Beschneiden das wirksame Format gab. Der späteste Termin für die Entstehung des Entwurfs läge dann Anfang 1788, bevor die Rückreise angetreten wurde. Als früheste Datierung könnte man, wenn man der Beobachtung Hirths zustimmt, annehmen, daß die Zeilen schon vor der italienischen Reise in Weimar niedergeschrieben wurden; sonst sind sie aber sicher während der ersten Hälfte des Aufenthalts entstanden. In diese Zeitspanne von Ende 1786 — um nicht allzu kühn zu sein — bis Anfang 1788 gehört der Entwurf. Obwohl sich das Fragment der Festlegung auf einen eindeutigen Inhalt und der Rekonstruktion des ursprünglichen Textes entzieht, lassen die lesbaren Worte doch erkennen, daß hier weder eine Tagebucheintragung noch ein Briefkonzept vorliegt. Ebenso scheidet die Hoffnung aus, daß man die Frühform eines Gedichts oder Verse aus einem Drama entdeckt hat. Die Sprache ist zweifellos Prosa, aber eine rhythmische Prosa. Ton und Wortwahl sind nicht die des täglichen Umgangs, sondern gehören der dichterischen Sprache an, und jedes Zeilenbruchstück hat diesen Rhythmus und Klang. Man hört sofort, daß es Prosa-Dichtung ist, und der Zusammenhang mit der italienischen Reise läßt ein Werk vermuten, das in Italien entstanden oder vollendet oder wenigstens weitergeführt worden ist. Wenn wir uns Goethes dichterisches Schaffen während jener zwei Jahre vergegenwärtigen, so war es mir zum geringsten Teil der Verarbeitung des neuen Erlebnisses gewidmet, sondern stand vielmehr unter dem Zwang einer Verpflichtung. Im Sommer 1786 war mit dem Leipziger Verleger

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Göschen der Vertrag über die Herausgabe von Goethes „Schriften" in acht Bänden geschlossen worden. Bis zur Abreise nach Karlsbad waren die ersten vier Bände leidlich vollendet worden; es fehlten noch für den ersten Band die „Zueignung an's deutsche Publicum" und für den dritten die „Iphigenie". Die in Italien zu leistende Arbeit bestand also nicht nur darin, diese beiden Werke nachzuliefern, sondern es mußten außerdem die andern vier Bände fertiggestellt werden. Dies war eine weit größere Aufgabe als bei den ersten Bänden, da es sich außer dem Umschreiben und Redigieren vorhandener Dichtungen um das Umarbeiten und Vollenden von Dramenfragmenten handelte. Die Notwendigkeit lastete wie ein Alb auf dem Dichter, dessen innerstes Anliegen es wurde, seine „Wiedergeburt" in unbedingter Freiheit geschehen zu lassen, der aber von außen und innen immer wieder an seine zu vollendenden Werke gemahnt wurde, die ihn quälend bedrängten, weil sie nach seinem eigenen Willen diese „erste (oder eigentlich . . . zweyte) Schriftsteller-Epoche"1 abschließen sollten. Das Vorhaben ist nur zu einem kleinen Teil erfüllt worden. „Iphigenie" und „Zueignung" wurden im Januar 1787 aus Rom abgeschickt; das Manuskript des fünften Bandes ging in mehreren Etappen fort: „Egmont" am 15. September 1787, „Erwin und Elmire" am 10. Januar 1788 und „Claudine von Villa Bella" am 27. Januar und 9. Februar 1788. Die Bände 6—8 wurden erst nach der Rückkehr in Weimar abgeschlossen, aber f ü r jeden Band läßt sich nachweisen, daß Goethe sich in Italien mit ihm beschäftigt hat. So kann der vorliegende Entwurf theoretisch f ü r jedes Werk bestimmt gewesen sein, und es ist unsere Aufgabe, diese Möglichkeiten einzugrenzen und jede der in Italien bearbeiteten Dichtungen daraufhin zu untersuchen, ob der Entwurf eine Vorarbeit sein könnte. Es dürfte zunächst zweckmäßig sein, sich die in Frage kommenden Werke zu vergegenwärtigen, und dies soll in einer einfachen Aufzählung geschehen. Band „ ,, „ „ ,,

1: 3: 5: 6: 7: 8:

Zueignung an's deutsche Publicum. Iphigenie. Egmont. Claudine von Villa Bella. Erwin und Elmire. Torquato Tasso. Lila. Faust. Jery und Bätely. Scherz, List und Rache. Gedichte.

Für die Entscheidung, ob unsere Handschrift mit einer dieser Dichtungen in Zusammenhang gebracht werden kann, sind folgende Überlegungen bestimmend. 1

An Carl August 11. August 1787 (IV 8, 241)

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1. Da der Entwurf in Prosa abgefaßt ist, wird er wahrscheinlich zu einer Prosadichtung gehören. Trotzdem ist die Möglichkeit nicht außer acht zu lassen, daß er schon ein Entwurf aus der Weimarer Zeit sein könnte, der in Italien in Verse umgedichtet wurde. 2. Von den fertigen Dichtungen wurde für die Bearbeitung eine vollständige Handschrift oder ein Druck mit nach Italien genommen. Bei diesen Werken kann ein Entwurf nur eine Vorform der letzten Fassung sein und wäre an dieser Nähe zu erkennen. 3. Da das Wort „Gehorsamspflicht" in Goethes Werken nicht vorkommt, läßt sich vermuten, daß nicht nur dies eine Wort geändert, sondern daß die ganze Fassung umgegossen wurde, so daß sie in der ursprünglichen Form nicht mehr sichtbar ist. 4. Diese anzunehmende Ferne zwischen Entwurf und Dichtung legt den Gedanken nahe, daß der Entwurf nicht zu der Umarbeitung eines abgeschlossenen Werkes gehört, sondern zu einem der Dramenfragmente, die in Italien vollendet werden sollten. Doch darf diese Möglichkeit nicht von vornherein als sicher angenommen werden, sondern jedes der genannten Werke soll auf seine Zuständigkeit befragt werden. Die „Zueignung" und der achte Band scheiden durch diese Erwägungen aus, weil sie Gedichte sind. Die fünf Singspiele: „Claudine von Villa Bella", „Erwin und Elmire", „Lila", „Jery und Bätely" und „Scherz, List und Rache" stammen alle aus früheren Jahren. Soweit sie in Italien umgearbeitet wurden, kam es Goethe darauf an, ihre alte stilistische Zugehörigkeit zur französischen Operette zu tilgen und sie der italienischen Opera buffa anzunähern. Ihre gefällige Form läßt zwar „eine Menge Gemüthsbewegungen in einer lebhaft fortgehenden Handlung" zu, wie Goethe sie charakterisiert hat1, aber Form und Gehalt bleiben dem Heiteren verhaftet, das nur vorübergehende Trübung erfahren kann. Grundsätzliche Erörterungen eines Problems, worauf unser Bruchstück hinzudeuten scheint, ist diesem Genre nicht eigen, und die Lektüre der Singspiele bestätigt die Unmöglichkeit einer Beziehung. „Faust" ist das einzige Werk der „Schriften", das sich weder in Italien noch in Weimar vollenden ließ und als Fragment aufgenommen wurde. Die Faustforschung hat bis ins einzelne nachgewiesen, was in Italien neu entstanden ist oder geändert wurde, und dazu kann der Entwurf weder dem Inhalt noch der Form nach gehören. 1

An Philipp Kayser 29. Dezember 1779 (IV 4, 156)

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Von der „Iphigenie" lag seit 1779 eine vollständige Prosafassung vor; bereits in Karlsbad begann Goethe mit dem „Umschreiben" in Verse und schloß diese Arbeit im Januar 1787 in Rom ab. Aus dieser Zeit haben sich zwei Bleistiftentwürfe erhalten, die einige Verse flüchtig skizzieren. Zu solchen Vorarbeiten gehört unser Entwurf aus stilistischen Gründen nicht, und so kommt er für die „Iphigenie" nicht in Betracht, obwohl der Wortlaut dieser Welt anzugehören scheint. Die beiden ersten Akte des „Tasso" wurden in einer Prosafassung mit auf die Reise genommen. Spätestens nach dem Abschluß der „Iphigenie" muß auch für den „Tasso" die Entscheidung zugunsten der Versform gefallen sein, und die wenigen erhaltenen Entwürfe zeigen ausschließlich Verse aus den folgenden Akten. Ein Prosa-Entwurf könnte nur eine in Weimar verbliebene Vorarbeit zu den ersten Akten sein; aber auch dem Inhalt nach kann unsere Handschrift hier kein Heimatrecht beanspruchen. Wieweit der „Egmont" vor der italienischen Reise gediehen war, ist schwer zu sagen. In der Ankündigung der „Schriften" für Bertuch und Göschen vom 28. Juni 1786 wird er als „unvollendet" bezeichnet; aber gegenüber den Angaben: „Tasso, zwei Acte" und „Faust, ein Fragment" hat man den Eindruck, daß „Egmont" am weitesten vorgeschritten war und Goethe mit seiner Vollendung am sichersten rechnen konnte. Bei der Umarbeitung im Juli 1787 rückten die ersten drei Akte schnell vor, der vierte Akt jedoch scheint große Not verursacht zu haben. Am 17. Juli war Goethe schon damit beschäftigt, aber erst am 1. August hat er ihn abgeschlossen; am 5. September war schließlich das ganze Werk „recht völlig fertig geworden."1 Ein Entwurf zu dieser Umarbeitung ist nicht bekannt geworden, obwohl man bei der Zeit und Mühe, die der „fatale vierte Ackt" und der Schluß des fünften gekostet haben, mit einiger Sicherheit auf mehrere verworfene oder umgearbeitete Fassungen schließen darf. Sie müssen in Prosa geschrieben worden sein, da der „Egmont" eine Prosadichtung ist, und können in ihrem Wortlaut jede Nähe und Ferne zu der letzten Fassung gehabt haben. Bei solchen Überlegungen fällt die Übereinstimmung mit dem uns beschäftigenden Entwurf auf: er ist in Prosa verfaßt, zwischen Ende 1786 und Anfang 1788 entstanden und gehört wahrscheinlich zu einer Dichtung, die in dieser Zeit noch eine durchgreifende Umgestaltung erfuhr. So bleibt durch das angewandte Ausklammerungsverfahren der „Egmont" nicht nur übrig, sondern besitzt auch die Merkmale, die wir aus einer isolierten Betrachtung des Entwurfs über das Werk, für das er bestimmt war, glaubten behaupten zu dürfen. 1

Italienische Heise, Zweiter Römischer Aufenthalt, 5. September 1787 (I 32, 75)

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Läßt sich der Entwurf nun aber auch inhaltlich dem „Egmont" zuweisen? Es darf hier noch einmal daran erinnert werden, daß das bei Goethe nicht anzutreffende Wort Gehorsamspflicht den Gedanken nahelegt, daß der ganze Entwurf entweder verworfen wurde oder eine solche Umgestaltung erfuhr, daß man nicht erwarten kann, dem genauen Wortlaut in irgendeiner Szene zu begegnen. Der Inhalt aber dürfte auch nach dem Umschmelzungsprozeß noch denselben Gegenstand haben; die bedeutungsvollen Worte König, weise, Gegenwart, Gehorsamspflicht bezeichnen das Thema und weisen in die Richtung der Zugehörigkeit. In der politischen Auseinandersetzung zwischen Alba und Egmont im 4. Akt geht es um die großen Probleme von Volk und König, Freiheit und Herrschaft, nationalem Recht und absoluter Macht. Es ist häufig dargestellt worden, wie hier zwei polare Charaktere konfrontiert werden und zwischen ihnen das „Dämonische" waltet. Wir brauchen das nicht zu wiederholen, sondern möchten darauf hinweisen, wie dialektisch Goethe diese Szene gestaltet hat. Der ahnungslose Egmont glaubt, daß die Aufforderung Albas, „Rath und Meinung" über die Befriedung der Provinzen zu äußern, aufrichtig gemeint sei und dadurch Entscheidungen des Königs beeinflußt werden könnten. So geht er von seiner Ansicht der gegenwärtigen Lage aus: er berichtigt Albas Behauptung dahin, daß die Ordnung durch der Regentin „so kluges als tapferes Betragen" bereits wiederhergestellt sei, läßt durchblicken, daß es klüger gewesen wäre, wenn der König nicht das Heer geschickt hätte, sondern selbst gekommen wäre, und schlägt für die Erhaltung des Friedens und zur Beruhigung der Bevölkerung großmütige Maßnahmen vor. Unvorsichtig läßt er sich von Alba verleiten, seine politischen Anschauungen ausführlich darzulegen, und er, der sich in seinem Händeln für das Volk einsetzt und ihm durch Klärchen auch gefühlsmäßig verbunden ist, verrät in diesen Bekenntnissen einen Standpunkt, den er in der Praxis längst überwunden hat. So tritt er nicht etwa für das nationale Selbstbestimmungsrecht des niederländischen Volkes ein, sondern möchte anscheinend die feudale Verfassung einer schon überholten Vergangenheit wiederherstellen. Aus solchen utopischen Träumen reißt ihn Albas Feststellung seiner staatsfeindlichen Gesinnung, und die Verhaftung bringt ihm dann mit einem Schlag die beabsichtigte Zwecklosigkeit der Unterredung zum Bewußtsein. Ganz anders ist Alba Herr der Situation. In dem Augenblick, wo Egmont den Palast betritt, hat er gewonnenes Spiel; das Gespräch dient ihm nur dazu, die für die letzten Maßnahmen erforderliche Zeit zu gewinnen, und liefert zuletzt den Vorwand für die Verhaftung. Darum liegt Alba nichts an einer Diskussion über die Ereignisse der jüngsten Vergangen-

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heit und die Situation der Gegenwart, denn seine Beschlüsse werden bereits ausgeführt. Er lenkt das Gespräch auf allgemeine politische Erörterungen, bei denen er den Standpunkt des uneingeschränkten Absolutismus vertritt. Diese Übereinstimmung von Theorie und Praxis macht ihn Egmont überlegen und scheint ihn zum Sieger nicht nur über den Gesprächspartner, sondern auch über die Niederländer zu prädestinieren. Bei dieser klaren Gegenüberstellung scheint das geschichtliche Recht auf der Seite des Triumphators zu liegen, denn der Besiegte vertritt eine untergegangene Epoche. Unsere Sympathie gehört jedoch dem Unterlegenen, dessen Menschlichkeit ihn trotz seines Versagens liebenswert macht. Damit vollzieht sich ein dramatisches Gesetz, aber man mißversteht die Szene, wenn man sie nur so vordergründig nimmt und die Ironie verkennt, unter die Goethe sie gestellt hat. Diesem Gespräch sind nämlich nicht nur die Szenen voraufgegangen, in denen die Anordnungen für die Vernichtung Egmonts und seiner Anhänger gegeben werden, sondern auch die Monologe Albas und Silvas, die die Eindeutigkeit der Zukunft in Frage stellen. Das Selbstgespräch Albas zeigt, daß dieser Meister der Politik nicht Herr des Schicksals ist und es auch weiß: „Wie in einen Loostopf greifst du in die dunckle Zukunft; was du faßest ist noch zugerollt, dir unbewußt sey's Treffer oder Fehler!" Noch deutlicher hatte Silva es ausgesprochen: „Ich fürchte es wird nicht werden wie er denckt." Er erkennt, daß über die Zukunft der Fürsten und Völker noch nichts entschieden ist; sie liegt auf den schwarzen Schalen der Waage, und welche Schale steigt oder sinkt, entscheidet der „Eigensinn" des Schicksals und nicht Albas Wille. Unter solchem Aspekt geht die Unterredung vor sich und macht sie zwielichtig. Daher läßt Goethe auch den Sieger äußerlich beherrscht und innerlich unruhig, den Besiegten zugleich erregt und sicher sein. Über beiden waltet das „Schicksal", und der Verlauf der Auseinandersetzung ist nicht identisch mit der Entscheidung der Geschichte. Solche überlegene, ironische Behandlung des Gesprächs konnte Goethe erst in Italien schaffen, und aus der Entstehungsgeschichte des Werkes ist bekannt, daß die Umarbeitung des 4. Aktes die größte Schwierigkeit bereitet hat. Eine Szene zwischen Alba und Egmont gab es sicher vorher auch schon; wahrscheinlich gehörte sie in einer noch anderen Fassimg bereits zu den „Hauptscenen" der ältesten Niederschrift. Aber Alba dürfte erst in der letzten Bearbeitung zu der beherrschenden Rolle emporgestiegen sein, in der er allein über das Geschick Egmonts und der Niederländer zu bestimmen scheint. Es wäre denkbar, daß in einem früheren Stadium der Mitwirkung Philipps II. ein größerer Raum gewährt war; die häufigen Er-

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wähnungen des Königs, sein Brief an die Regentin und die Bedeutung, die seinem Kommen beigelegt wird, lassen diesen Schluß wohl zu. In dem Auftritt Silva — Gomez im 4. Akt wird erwogen, ob der König wirklich die Absicht hat zu kommen oder sie nur vorgibt; Egmont behauptet, daß die Gegenwart des Königs stärker gewirkt hätte als das Heer, und selbst Alba spielt mit dem Phantom: „Solltest du das alles in des Königs Gegenwart wiederholen?" Auch unser Entwurf spricht offensichtlich von dieser Gegenwart des Königs, und er scheint eine Äußerung Egmonts zu sein. Damit dürfte er in die Nähe der eben erwähnten Behauptung Egmonts gehören, die in ihrer endgültigen Fassung lautet: ,,Ob der König das Heer hätte schicken sollen, ob nicht vielmehr die Macht seiner majestätischen Gegenwart allein stärcker gewürckt hätte, ist meine Sache nicht zu beurtheilen, das Heer ist da, er nicht." Egmont weist hier nur auf die Möglichkeit einer anderen Politik hin. Obwohl seine Stellungnahme deutlich ist, erklärt er sich für nicht zuständig und schneidet damit eine Diskussion über dieses Thema noch vor ihrem Beginn ab. Der Entwurf scheint zu verraten, daß Egmont ursprünglich seine Meinung ausführlicher kundgetan hat. Nicht von der „Macht" der „majestätischen Gegenwart" ist hier die Rede, sondern von ihrer „Milde", und Egmont hält es für möglich, daß der „weise" König — er nennt ihn später einen „guten weisen" König — alle durch diese „Milde" seiner „Gegenwart" „erstaunt" und „iede Gehorsamspflicht erlassen" wird. Wenn der Entwurf so interpretiert werden kann, geht daraus hervor, daß der Egmont dieser früheren Fassung den späteren an politischer Unkenntnis noch weit übertroffen hat. Die Änderung von „Milde" in „Macht" zeigt, daß der spätere Egmont sich nicht mehr der Illusion hingibt, daß die Gegenwart des Königs alle Konflikte mit Milde lösen könnte, ja, er vermeidet es sogar,überdasAuftretendesKönigsirgendeineVermutung zu äußern. „Milde" war eine von Egmont Philipp II. zugetraute Eigenschaft oder Handlungsweise, aber die Formulierung „Macht seiner majestätischen Gegenwart" charakterisiert mehr den Nimbus, der mit dem Königtum verbunden ist, als die Person des Königs, und nach Meinung Egmonts wird diese Macht auf die Niederländer ihre Wirkung nicht verfehlen. Vermutungen über die Politik des Königs sind überflüssig, da er nicht gekommen ist. Der Egmont des Entwurfs hatte mit der allgemeinen Milde noch den besonderen Gnadenakt des Entlassens aus der Gehorsamspflicht verbunden. Wem er gelten sollte, bleibt im Dunkeln; es ist aber wohl anzunehmen, daß Egmont hier auf Privilegien seines Standes anspielt. Albas Worte am Schluß des Gesprächs, von denen wir allerdings nicht wissen,.

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wann sie entstanden sind, verkünden die wirkliche Politik der Spanier und bedeuten den schneidendsten Hohn auf Egmonts zukunftsfrohes Träumen: „Gehorsam fordr' ich von dem Volcke — und von Euch, ihr ersten edelsten, Rath und That, als Bürgen dieser unbedingten Pflicht." Unbedingte Pflicht — könnte man nicht glauben, daß hier das Wort Gehorsamspflicht durchscheint, das nicht gewählt (oder vielleicht geändert) wurde, um die Wiederholung von Gehorsam in demselben Satz zu vermeiden? Alba verlangt unbedingten Gehorsam, und der Adel hat für die Durchführung zu garantieren. Aus „Rath und Meinung", wie es am Anfang der Unterredung hieß, ist „Rath und That" geworden. Des Herzogs Forderung „ihr Bürgen dieser unbedingten Pflicht" dürfte der äußerste Gegensatz zu Egmonts Hoffnung „iede Gehorsamspflicht erlassen" sein, und fast könnte man sagen, daß nichts beide Gegner mehr unterscheidet als ihre Vorstellung von Gehorsamspflicht, dem Wort, das es in Goethes Drama nicht gibt. Der Egmont, den wir kennen, spricht es nicht mehr aus, und indem ihm Goethe diese Äußerung strich, nahm er ihm an dieser Stelle, wo wir es durch den Vergleich beurteilen können, das Übermaß politischer Unkenntnis und zeigt ihn sogar der Situation gewachsen. Wenn es erlaubt ist, diesen Fall zu verallgemeinern, so möchten wir glauben, daß Goethe bei seiner letzten Bearbeitung des 4. Aufzugs die Absicht hatte, nicht nur Alba zu steigern — worauf die literaturwissenschaftliche Forschung durch den Vergleich mit Antonio im „Tasso" mehrfach hingewiesen hat —, sondern auch Egmont höheren Rang zu verleihen. Er sollte für diesen Alba ein würdiger Gegner werden und damit auf den Egmont der Gefängnisszenen des 5. Aufzuges vorbereiten. Es bleibt noch übrig, auf die letzten Zeilen des Entwurfs einzugehen, die, wie erinnerlich, nicht durchgestrichen sind. Goethe hat sie nicht verwertet, sie sind also in dem Gespräch zwischen Alba und Egmont nicht wiederzufinden. Aber es ist jetzt klar, daß es sich um eine Regiebemerkung handeln muß. Egmont gibt irgend etwas zurück, vielleicht ein vorgelegtes Schreiben des Königs. Die folgenden Worte dürften eine Notiz über den Raum sein, in dem die Unterredung stattfindet. Vielleicht hatte Goethe ihn sich als einen Spiegelsaal des Culenburgischen Palastes vorgestellt, in dem die Spiegel mit weißen Tüchern verhängt werden sollten, um beim öffnen einer Tür kein Spiegelbild der Gewaffneten sehen zu lassen. Diese Maßnahme wäre aber wohl auch für den ahnungslosen Egmont auffällig gewesen, und vielleicht verzichtete Goethe darum auf diese Regieanweisung. Sollte es geglückt sein, die sechs Bleistiftzeilen als eine Vorarbeit Goethes für den „Egmont" wahrscheinlich zu machen, so sind wir damit zwar in

Ein unveröffentlichter Entwurf Goethes

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den Besitz eines Entwurfs zum „Egmont" gelangt, den es vorher für unsere Kenntnis nicht gab, aber für unser Verständnis des Werkes hat sich nichts wesentlich Neues herausgestellt. Vielleicht ist das wichtigste Ergebnis, daß das Karteiblatt der Zeichnung Goethes über die Rückseite kein Fragezeichen mehr aufweist.

SIEGFRIED SCHEIBE ZU HERMANN U N D DOROTHEA

1. Zur Entstehungsgeschichte I

Die erste Nachricht, daß Goethe sich mit dem Gedanken an die Ausarbeitung einer „bürgerlichen Idylle" trägt, ist uns in dem Mundum eines Briefes an Schiller erhalten, das jedoch kassiert wurde. Nachdem sich Goethe dort im Hinblick auf den „Wilhelm Meister" als „zugleich Homer und Homeride" bezeichnet hat, fährt er fort 1 : „Ich werde, in so fern man in solchen Dingen Herr über sich selbst ist, mich künftig nur an kleinere Arbeiten halten nur den reinsten Stoff wählen um in der Form wenigstens alles thun zu können was meine Kräfte vermögen. Außer Hero und Leander habe ich eine bürgerliche Idylle im Sinn, weil ich doch so etwas auch muß gemacht haben." Der Satz wurde zwischen dem 2. und 7. Juli 1796 niedergeschrieben und deutet auf eine Behandlung des Stoffes in kleinem Rahmen, wozu auch das Wort „Idylle" paßt, das in den ersten Tagen der Ausarbeitung oft im Tagebuch auftaucht und erst spater von dem Ausdruck „episches Gedicht" oder einfach „Gedicht" abgelöst wird2. Goethe hatte erkannt, daß sich das Werk zu einer längeren Arbeit ausweiten würde, so daß er dafür die treffende Gattungsbezeichnung wählte. Der ersten Erwähnung in seinem Briefe an Schiller ging eine längere Konzeptionszeit voraus. K. A. Böttiger, ein zwar nicht immer zuverlässiger Berichterstatter, überliefert uns, Goethe habe bereits zwei Jahre den Stoff mit sich herumgetragen, ehe er 1796 an die Ausführung ging3. Dies erklärt 1

IV11, 324. Vgl. u.a. Tagebuch vom 9 . - 1 6 . Sept. 1796 (III 2, 47f). Am 28. Sept. verwendet Goethe zum ersten Male den Begriff „episches Gedicht" (III 2, 48), •während er bereits am 13. Sept. 1796 an Christiane geschrieben hatte (IV 11, 198), die Idylle „wird aber viel größer als ich gedacht habe." Die Zeugnisse gesammelt bei Gräf, Goethe über seine Dichtungen, 11, 79ff. 8 Böttiger, Lit. Zustände und Zeitgenossen, Leipzig 1838, 174: „Goethe ging seit zwei Jahren mit diesem Sujet schwanger und versuchte es erst als Drama, dann als eine Idyllenreihe." Vgl. auch den Brief Schillers an Körner vom 28. Okt. 1796 (Jonas 5, 97), in dem es 2

Zur Entstehungsgeschichte von Hermann und Dorothea

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vielleicht die verhältnismäßig rasche Niederschrift des Gedichts nach dem ersten Ansatz. Als Vorlage benutzte Goethe die Liebesgeschichte zwischen einer Salzburger Emigrantin, die ihres Glaubens wegen die Heimat verlassen mußte, und dem Sohn eines reichen Bürgers aus Altmühl, die in den Berichten über die Wanderungen der 1731 vertriebenen Salzburger in mehreren Fassungen überliefert ist 1 . Auf diese Quelle wies man bereits im Jahre 1800 im „Breslauischen Erzähler"2. Goethe ließ eine andere Nachricht darüber, die 1809 im „Morgenblatt" Nr. 138 veröffentlicht wurde, unwidersprochen und erkannte damit den Zusammenhang zumindest stillschweigend an. Er billigte es auch, daß in einem Aufsatze von R**pf in „Kunst und Alterthum"3 auf die Emigrantengeschichte als Grundlage von „Hermann und Dorothea" verwiesen wurde. Die unmittelbare Anregung zur Gestaltung aber gaben die kriegerischen Ereignisse der Gegenwart. Französische Armeen waren in die rheinischen Gebiete eingedrungen und rückten ständig weiter vor. Vor ihnen her zogen flüchtende Menschen, die nur wenig Hab und Gut gerettet hatten. Goethe erfuhr davon aus den Briefen seiner Mutter, die in dem ebenfalls von Franzosen besetzten Frankfurt zurückgeblieben war und die Schrecken des Krieges aus der Nähe erleben mußte. Dieses Leiden der Gegenwart verband Goethe mit der Erzählung von ähnlichen Erlebnissen der Salzburger Emigranten aus dem 18. Jahrhundert und gestaltete es als „bürgerliche Idylle". Er bemerkt dazu selbst in einem Briefe an H.Meyer vom 5.Dezember 17964: „Ich habe das reine menschliche der Existenz einer kleinen deutschen Stadt in dem epischen Tiegel von seinen Schlacken abzuscheiden gesucht, und zugleich die großen Bewegungen und Veränderungen des Welttheaters aus einem kleinen Spiegel zurück zu werfen getrachtet. Die Zeit der Handlung ist ohngefähr im vergangenen August und ich habe die Kühnheit meines Unternehmens nicht eher wahrgenommen, als bis das Schwerste schon überstanden war." heißt: „Goethe hat jetzt ein neues poetisches Werk unter der Arbeit, das auch größtentheils fertig ist. Es ist eine Art bürgerlicher Idylle... Die Idee dazu hat er zwar mehrere Jahre schon mit sich herumgetragen, aber die Ausführung, die gleichsam unter meinen Augen geschah, ist mit einer mir unbegreiflichen Leichtigkeit und Schnelligkeit vor sich gegangen, so daß er 9 Tage hintereinander, jeden Tag über anderthalb 100 Hexameter niederschrieb." 1 Die Berichte sind veröffentlicht bei E. F. Yxem, Über die Quelle des idyllischen Epos: Hermann und Dorothea von Goethe, Germania, Neues Jahrb. d. Berlinischen Gesellschaft für Dtsch. Sprache u. Alterthumskunde 2, Berlin 1837, 137 ff, vgl. auch 108 f. 2 Vgl. K. Olbrich, Goethes Quelle zu Herrmann und Dorothea, GJb 26, 1905, 274f. 3 IV 3, 1824, 77 f. * IV 11, 273.

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Diesen Stoff begann Goethe im Sommer 1796 zu formen. Am 9. September 1796 berichtet das Tagebuch lakonisch (III 2,47): „Neuer Antrieb zur großen Idylle", ohne daß wir wissen, worin dieser Antrieb bestand. Es können Gespräche mit Schiller über den Stoff gewesen sein (denn Goethe weilte damals in Jena), es mögen ihn auch die „Politika", die in den Briefen jener Tage immer wieder eine Rolle spielen, zur Arbeit gedrängt haben1. Auch wie sich dieser Antrieb auswirkte, läßt sich nicht mehr fassen: vielleicht entstanden zunächst Schemata zu den einzelnen Gesängen, denn auch die späteren Gesänge wurden, wie wir noch sehen werden, vor ihrer Ausführung schematisiert. Jedenfalls lesen wir am 11. September im Tagebuch (1112,47): „Anfang die Idylle zu versificiren", und gleichzeitig äußert Goethe in einem Brief an Christiane optimistisch (IV 11, 192): „Ich denke bis heute über acht Tage schon ziemlich weit in meiner Arbeit zu seyn". Er schreibt täglich an dem Gedicht, das, anfangs auf sechs Gesänge geplant (gegenüber der späteren Einteilung in neun Gesänge), nicht in systematischer Reihenfolge entsteht 2 : am 13. September wird zunächst der 2. Gesang vollendet (III 2,48), am 16. September der 4. Gesang (der 5. und 6. der heutigen Zählung). Ihnen folgt am 17. September die zweite Hälfte des 3. Gesangs (etwa 4. Gesang) und am 18. September die erste Hälfte des 3. Gesangs (etwa 3. Gesang). An diesem Tage meldet das Tagebuch weiter: „Der 2. 3. 4. [2. —6.] Ges. zusammen gehängt." Was dieser Ausdruck besagen soll, ist nicht völlig klar: vielleicht wurden die entsprechenden Handschriften in die gewünschte Ordnung gebracht, vielleicht wurden die Übergänge zwischen den einzelnen Gesängen geschaffen, vielleicht ließ Goethe auch eine Reinschrift dieser Partien herstellen3. Am 19. September kommt noch die erste Hälfte des 1. Gesanges hinzu, dann schweigen die Zeugnisse bis zum 28. September: an diesem Tage wird das ,,epische Gedicht wieder vorgenommen" (III 2,48). Aber erst am 18. Oktober, in einem Brief an Schiller, hören wir Neues von „Hermann und Dorothea", nämlich daß „die drey ersten Gesänge [1 —4] des neuen Gedichts ... nun so ziemlich durchgearbeitet [sind], ich werde nunmehr an den 4ten [5. 6.] gehen" (IV 11, 236). Dieser Entschluß wird nicht sofort verwirklicht; doch ist der Brief mit seiner einstweiligen Beschränkung auf die erste Hälfte des Epos 1

Etwa in den Briefen an Voigt vom 30. August, 5. oder 6. Sept., 9. Sept. und 11. Sept. 1796 (IV 11, 178f. 182ff. 189f. 192ff.) * Vgl. dazu die Übersichtstabelle hinter S. 240 3 Darauf könnte die Bemerkung in seinem Brief an Schiller vom 15. November 1796 deuten (IV 11, 263), daß die ersten Gesänge „abermals abgeschrieben" seien, was voraussetzt, daß vorher bereits eine Abschrift existierte.

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wichtig, da sich die Spuren dieser Trennung in der uns erhaltenen Handschrift wiederfinden lassen1. Wenn wir auch keine direkten Zeugnisse für die weitere Beschäftigung mit „Hermann und Dorothea" in den nächsten Wochen haben, so können wir sie erschließen, denn Goethe berichtet am 15. November an Schiller (IV 11, 263): „Die drey [vier] ersten Gesänge meines epischen Gedichts sind fleißig durchgearbeitet, und abermals abgeschrieben" (IV 11, 263). In jenen Tagen entstand eine Separathandschrift vom ersten Teile des Werkes, die einzige Handschrift, die uns neben der Druckvorlage sicher bezeugt ist. Sie wanderte, nachdem Goethe im Frühjahr 1797 die Arbeit wieder aufgenommen hatte, an Schiller und von diesem an Humboldt (IV 12, 41) und wird, nachdem Goethe die Handschrift zurückerhalten hatte, im März 1797 an einigen Tagen noch einmal einer Korrektur unterzogen, wobei die Monita der beiden Freunde berücksichtigt werden. Aber die H a u p t a r b e i t am ersten Teile des Epos war doch bereits im November 1796 beendet, als die eben erwähnte Reinschrift hergestellt war. Am Anfang des Jahres 1797 beschäftigte sich Goethe erneut mit dem Gedicht, doch schritt die Ausführung zunächst nur langsam voran. Auf seiner Reise nach Leipzig in den ersten Januar-Tagen hatte Goethe wenigstens das „Schema zum Schluß des epischen Gedichtes ... fertig" gestellt (III 2, 53). Nach einer weiteren Pause nahm er den bereits im vergangenen Jahre niedergeschriebenen 4. (5. 6.) Gesang wieder vor, der am 1. März „in Ordnung gebracht und zum Abschreiben gegeben" wird (III 2, 58). Danach wendet er sich dem 6. (8. 9.) Gesänge zu: das Tagebuch berichtet ab 2.März von dieser Arbeit. Wieder „versificirte" Goethe zuerst den Mittelteil des Gesangs (vielleicht den ersten Teil des jetzigen 9. Gesangs), ehe der Anfang (wahrscheinlich der jetzige 8. Gesang) hinzukam. Wann der 5. (7.) Gesang entsteht, ist nicht überliefert, vermutlich auch in dieser Zeit, denn am 10. März berichtet das Tagebuch, daß „corrigirt und abgeschrieben" wurde, was man auf die neuen Abschnitte beziehen könnte. An den folgenden Tagen beschäftigte Goethe sich mit dem Ende des Werks, bis es am 15. März heißt: „Früh das Gedicht geendigt" (III 2, 60), und am 21. März vermerkt das Tagebuch: „Den Schluß des letzten Gesangs". Damals entstand aber noch 1

Goethe möchte anfangs sogar die erste Hälfte des Gedichts getrennt veröffentlichen; er schlägt sie Schiller am 26. Oktober 1796 für die Hören vor, da die weitere Ausführung erst im nächsten Frühjahr erfolgen solle: da sich aber die „kleine Composition" sehr „leicht übersehen läßt", und des „leidigen Mammons" wegen (IV 11, 337 f) unterläßt er die Absendung dieses Angebotes und entscheidet sich so gegen eine sofortige Veröffentlichung.

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nicht dessen endgültige Fassung, denn Goethe bemühte sich, wie wir unten sehen werden, noch drei Monate später, für den Schluß die entsprechende Form zu finden. Zugleich meldet das Tagebuch, daß der „Anfang zur Abschrift der drey letzten Gesänge" (5.—9. Gesang) gemacht worden sei (III 2, 62). Jetzt wurde also eine zusammenhängende Abschrift des letzten Teiles hergestellt, die mindestens so weit reichte, wie Goethe den Text damals sanktionierte. Was von „Hermann und Dorothea" bis März 1797 fertig war, lag somit in zwei Handschriften vor, von denen jede drei Gesänge umfaßte. Ende März oder Anfang April entschließt sich Goethe, die ursprüngliche Einteilung des Gedichts in sechs Gesänge aufzugeben und an deren Stelle, entsprechend der Zahl der Musen, neun Gesänge einzuführen. Diese Umformung, bei der drei der bisherigen Gesänge (der 3., 4. und 6. Gesang) geteilt wurden und jeder der neun Gesänge einen Musennamen und einen Titel erhielt, muß vor dem 8. April 1797 vollzogen gewesen sein1, denn an diesem Tage schreibt Goethe an Schiller (IY 12, 84): „Die ersten [Gesänge] sind nun bald in's reine geschrieben und nehmen sich, mit ihren doppelten Inschriften, gar artig aus." Mit dieser Reinschrift der Gesänge 1—4 entsteht ein Teil der Vorlage für den ersten Druck im „Taschenbuch für 1798". Sie wird am 11. April Böttiger zur Begutachtung zugeschickt (IV 12, 85), der seine Beanstandungen Goethe am 13. April vorträgt (III 2, 64). Wahrscheinlich am 17. April schickt Goethe diesen ersten Teil des Manuskripts an Vieweg zur Drucklegung ab 2 . 1 Dieser Zeitpunkt läßt sich vielleicht genauer nach einem unveröffentlichten Briefe des Buchhändlers Friedrich Vieweg an K. A. Böttiger vom 1. April 1797 bestimmen (Sächs. Landesbibl. Dresd. h 37,4°, 208,19). Vieweg trägt darin Bedenken gegen einen Vorschlag Böttigers aus dessen (unbekannten) Briefe vom 24. März 1797 vor, nämlich dem Kalender Kupfer mit den neun Musen beizugeben. Daraus könnte geschlossen werden, daß Böttiger schon am 24. März Goethes Entschluß zur Umwandlung des Gedichts in neun mit den Musennamen zu bezeichnenden Gesänge gekannt hat. Böttigers Vorschlag an Vieweg war jedoch nicht von Goethe veranlaßt worden, denn Böttiger übersendet Goethe den oben erwähnten Brief des Verlegers am 7. April mit den Worten: „Hier ist der gestern von Vieweg eingegangene B r i e f . . . Ich hatte ihm geschrieben, daß sich vielleicht . . . ein Nachstich der 9 Musen noch am erträglichsten ausnehmen würde . . . Ich lege diese Idee auch Ihnen jetzt noch zur Prüfung vor, bescheide mich aber sehr gern, daß auch dieß eine hohle Idee sey" (GSA, Eing. Br. 1797, 192). Goethe billigte den Vorschlag Böttigers und schlug Schadow als ausführenden Künstler vor, an dessen Ablehnung jedoch die Ausführung scheiterte (vgl. ZfB 1,147). 2 Der Tag der Absendung ergibt sich aus Goethes Brief an Schiller von Sonnabend, dem 15. April 1797 (IV 12, 87): „Montags gehen die vier Ersten M u s e n a b . " Er wird bestätigt durch eine Mitteilung Viewegs an Böttiger vom 22. April (ZfB 1,147): „Mein sehnlichstes Erwarten ist erfüllt. Heute empfing ich den Anfang des Manuscripts."

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Nachdem die Arbeit an der ersten Hälfte des Gedichts abgeschlossen ist, geht Goethe an die folgenden Gesänge und läßt auch von diesen eine neue Reinschrift herstellen. Sie muß bis zum 13. Mai 1797 vorgelegen haben, weil das Tagebuch unter diesem Datum (III 2, 67) von „Correctur am Gedicht" meldet, die vermutlich der Fortsetzung des Druckmanuskripts gegolten hat. Dieses geht am 21. Mai an Vieweg ab 1 . Das Manuskript enthielt aber noch nicht den vollständigen zweiten Teil des Gedichts, sondern nur Gesang 5—8. Den 9. Gesang nahm Goethe am 19. Mai 1797 wieder vor, und ließ ihn nach erneuter Umarbeitung abschreiben. Damit wurde der dritte Teil der Druckvorlage fertig. Aber auch nach dieser neuen Überarbeitung war der letzte Gesang noch nicht vollendet, denn als Goethe am 3. Juni 1797 (IV 12, 134) Böttiger meldet, daß er morgen den neunten Gesang zur Weiterleitung an Vieweg übersenden wolle („damit Freund Vieweg nicht abgehalten werde")2, teilt er ihm gleichzeitig mit, daß er noch einen „kleinen Rest des Gedichts" schicken müsse, der noch fehle. Das geht auch aus einem Brief an Schiller hervor, dem Goethe am 3. Juni in Jena die Handschrift des fragmentarischen 9. Gesangs sendet und dazu schreibt:, .Möchten uns doch die 1 Goethe schreibt am 13. Mai an Schiller (IV 12,120): „Auf den Montag schicke ich abermals viere [Gesänge] fort." Geschrieben am Sonnabend würde dies auf Montag, den 15. Mai deuten. Jedoch berichtet Goethe an W. v. Humboldt in einem Briefe vom 14. Mai (IV 12,122), der am 15. Mai vom Schreiber mundiert wurde (vgl. IV 12, 415): „Die vier nächsten Musen gehen heute über acht Tage ab", d . h . am Montag, den 21. Mai. Die Richtigkeit dieses Datums ergibt sich aus einem ungedruckten Briefe Böttigers an Goethe vom 22. Mai (GSA, Eing. Br. 1797, 256), in dem es heißt: „Gestern ist das Msct. an Vieweg abgegangen." 2 Wann dieser erste Teil des neunten Gesangs tatsächlich abgeschickt wurde, ist nicht sicher zu bestimmen. Aus dem angeführten Briefe ergibt sich der 4. Juni als Tag der Absendung. Ursprünglich hatte Goethe beabsichtigt, Böttiger bereits am 3. Juni das Manuskript zu übermitteln, wie aus den Lesarten des Briefes hervorgeht (IV 12, 417). Er übergibt die Handschrift jedoch zuvor Schiller zur Durchsicht und bittet ihn um baldige Bückgabe. Gleichzeitig ändert er den Brief an Böttiger, indem er das Manuskript für den folgenden Tag ankündigt. Wann Goethe die Handschrift von Schiller zurückerhielt, ist nicht überliefert. — Am 8. Juni lesen wir im Tagebuch (1112,72): „Früh Sendung an Vieweg geschlossen." Das Briefverzeichnis vom 8. Juni (IV 12, 462) enthält die Notiz: „Berlin Friedr. Vieweg Das Ende des ep. Gedichts geschickt", und am nächsten Tage ist dort verzeichnet (IV 12, 463): „C. R. Böttiger... Nachr. d. geendigt. Gedichts und der Absendung". Diese Zeugnisse, zu denen die betreffenden Briefe fehlen, scheinen sich ihrem Wortlaut nach auf die Übersendung des letzten Teils der Handschrift zu beziehen, der aber erst am 13. J u n i abging (vgl. S. 232, Anm. 2). Vielleicht hat Goethe, der am 7. Juni die Ausarbeitung des Gedichts abgeschlossen hatte, unpräzis formuliert, und am 8. J u n i nicht das E n d e des Gedichts, sondern nur e i n e n T e i l d e s E n d e s , nämlich die erste Hälfte des neunten Gesangs, nach Berlin geschickt. Jedoch ist das nicht zu beweisen, wenn auch die Vermutung nahe liegt, daß erst nach der Vollendung des neunten Gesanges dessen erste Hälfte zum Druck gegeben wurde.

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nenne, die uns bisher beygestanden haben, bald noch zum epischen Schweife verhelfen" (IV 12, 136). Dieser fehlende oder wahrscheinlich nur zu überarbeitende Schlußteil des Gesangs1 hat sich am 6. Juni „noch nicht gezeigt" (an Christiane IV 12,145), denn erst am 7. Juni vermerkt das Tagebuch die Vollendung von „Hermann und Dorothea". Dieser Rest des Manuskripts geht am 13. Juni an Böttiger, der ihn an Vieweg weiterleitet2. Die einzelnen Teile der Druckvorlage wurden also an folgenden Tagen dem Verlag übersandt: 1) am 17. April 1797: Gesang 1 —4 2) am 21. Mai 1797: Gesang 5—8 3) am 4. oder 8. Juni 1797: Gesang 9, erste Hälfte 4) am 13. Juni 1797: Gesang 9, zweite Hälfte. II Nachdem wir auf Grund der Zeugnisse die Hauptphasen der Entstehungsgeschichte von „Hermann und Dorothea" rekonstruiert haben, muß nun geprüft werden, ob die sich aus der Handschrift selbst ergebenden chronologischen Indizien dem entsprechen. Das ist nötig, weil H. Schreyer in einem die Edition in der Weimarer Ausgabe vorbereitenden Aufsatz 3 wie auch im Apparat dieser Ausgabe selbst 4 aus dem gesamten Material eine Reihe falscher Schlußfolgerungen gezogen hat. Von den überlieferten Handschriften ist H 1 ( = H; I 50, 375) besonders wichtig6. Sie besteht aus zwei Faszikeln und enthält, mit Ausnahme weniger 1

Da er nach der Tagebucheintragung vom 21. März (III 2, 62) bereits gefunden schien, s. S. 229 s Vgl. Briefverzeichnis 1797 vom 13. Juni (IV 12,463): „Weimar O. C. B. Böttiger Ende des Gedichts". In dem entsprechenden Briefe heißt es (IV 12,155): „Ew. Wohlgeboren gratuliren mir gewiß, daß das Ende des Gedichtes endlich erschienen sey; ich wünsche nur auch Ihre Gratulation zu vernehmen, daß eben dieses Ende gerathen sey; haben Sie die Güte, solches nunmehr an Herrn Vieweg zu befördern." Daß der Best der Handschrift erst nach dem 13. Juni nach Berlin geschickt wurde, geht unzweifelhaft aus einem Schreiben Viewegs an Böttiger vom 20. Juni hervor (Sächs. Landesbibl. Dresd. h 37,4°, 208, 24), in dem es heißt: „Eben kommt das Ende. Meinen besten Dank! Nun ist mir um vieles leichter!" 3 Goethes Arbeit an „Hermann und Dorothea", GJb 10, 1889, 196—211 4 I 50, 375ff. 5 H 1 , im GSA: Zwei Hefte: 1. Heft aus 29 Folioblättern in 7 Lagen zu je zwei Bogen, dazu ein Titelblatt mit Heftrand nach dem ersten Bogen und zwei mit Siegellack an Bl. 5 Bs. und Bl. 6 Bs. angeklebte Zettel. Gelbliches geripptes Papier, Wz. GK, darüber im Halbkreis BLANCKENBUBG /

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Verse (vgl. S. 235 u. 237) den vollständigen Text des Epos, sehr oft jedoch in älterer Form. Wichtig ist an ihr zunächst, daß das Papier der beidenHefte verschieden ist: das erste Heft besteht aus gelblichem, das zweite aus bläulichgrauem Papier. Das kann darauf hindeuten, daß die beiden Teile der Handschrift nicht gleichzeitig geschrieben worden sind, daß wir also ein Manuskript vor uns haben, das aus verschiedenen Arbeitsgängen stammt. In H 1 finden wir in beiden Heften noch die alte Einteilung des Gedichts in sechs Gesänge. Daraus ist zunächst nichts anderes zu entnehmen, als daß die Handschrift vor dem 8. April 1797 entstanden sein muß, da spätestens an diesem Tage die neue Einteilung beschlossen wurde. Doch ist in ihr die spätere Einteilung in neun Gesänge schon nachgetragen : im ersten Heft geschah dies durch Goethes Schreiber Geist, der an der betreffenden Stelle des ursprünglich dritten Gesangs die Bezeichnung „Vierter Gesang" eintrug. In diesem ersten Teile bleiben aber die „doppelten Inschriften" noch weg, die erst Jahre später von dem jüngeren Voß bei seiner Durchsicht der Handschrift hinzugeschrieben wurden. Anders ist es im zweiten Heft: hier wurde die Neueinteilung des Epos von Goethe selbst vorgenommen, der auch die „Inschriften" hinzufügte, und zwar gleichzeitig mit der ersten Korrektur der Handschrift. Aus diesen Tatsachen lassen sich folgende Schlüsse ziehen: 1. Die Neueinteilung des Epos in neun Gesänge muß nicht von vornherein mit der Bezeichnimg der Gesänge durch die neun Musen und durch Titel verbunden gewesen sein. Vielleicht war die Verwendung der Musennamen eine Folge und nicht die Anregung zur Umwandlung, doch kann auch dies nicht bewiesen werden. 2. Daß die „Inschriften" in das erste Heft nicht mehr eingetragen wurden, läßt sich vielleicht daraus erklären, daß Goethe, bald nachdem er den Wappen mit Krone, um beides Zierornamente. Zettel gelbliches, geripptes Papier, Wz. zerschnitten. Blattzählung ab Titelblatt r. o. 1 —28 b, Bl. 29 r. o. 1 b. — Bl. 1 Vs. Aufschrift Hermann und Dorothea I Kr[äuter], r. o. Rep. Nr. 29» Kr, Bl. 1 Rs. frei. — Bl. 2 Ys. — Bl. 28 Rs. 1.—4. Gesang G[ei]st m. Korr. G1, G2 und G3 und Korr.-Vorschlägen V o ß ] 1 und Vo2. — Bl. 29 frei. 2. Heft aus 38 Folioblättern in 10 Lagen, davon 9 zu je 2 Bogen, die zehnte zu einem Bogen, dazu ein Foliobogen als Umschlag und an Bl. 29 Rs. ein mit Siegellack angeklebter Zettel. Heft und Umschlag bläulich-graues geripptes Papier, Wz. W I/Wappen; Zettel gelbliches geripptes Papier, Wz. fehlt. Blattzählung r. o. 1—15 y» 16—37 b, Bl. 38 o. Zählung. Auf dem Umschlag die Aufschrift Hermann und Dorothea II Kr, r. o. Rep. Nr. 29» Kr. Bl. 1 Vs. - Bl. 37 Rs. 6 . - 9 . Gesang Gst m. Korr. G2 und G3 und Korr.-Vorschlägen Vo1 und Vo2. Bl. 38 frei. Zu den Abkürzungen vgl. unten S. 281. H a ( = H 1 ), die Vorlage für den Erstdruck, ist nur sehr fragmentarisch in Briefen Humboldts erhalten. H 3 ( = H 2 ) enthält vier frühe Entwürfe einzelner Verse, H* ( = H 8 ) einige nachträgliche Änderungen von Versen des 5. und 6. Gesanges.

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Entschluß zur Neueinteilung gefaßt hatte, eine neue Reinschrift der ersten vier Gesänge anfertigen ließ (um den 8. April), die als Druckvorlage an Vieweg ging. Damit war die alte Handschrift überholt und brauchte nicht mehr auf den neuesten Stand gebracht zu werden. 3. Die Eintragung der „Inschriften" in das zweite Heft durch Goethe selbst im Zusammenhang mit der frühesten Korrekturschicht deutet daraufhin, daß das zweite Heft kurz vor dem Zeitpunkt entstanden ist, an dem die Umformung des Epos beschlossen wurde. Da sich aus den oben angeführten Zeugnissen der 8. April als spätester Zeitpunkt für die Umwandlung des Gedichts ergibt und für den 21. März eine Abschrift des letzten Teiles bezeugt ist, sonst aber aus dieser Zeit keine zusammenfassende Kopie dieser Partien bekannt ist, so können wir annehmen, daß in dieser Zeit die Abschrift der Gesänge 5—9 hergestellt wurde1. Diese Ansetzung entspricht dem, was wir nach den Zeugnissen über die Entwicklung des zweiten Teiles von „Hermann und Dorothea" erkannt haben. Mit dieser Datierung des zweiten Teiles von H 1 ist über die Entstehung des ersten Teiles noch nichts gesagt, wenn auch daraus, daß die neuen „Inschriften" hier nicht berücksichtigt worden sind, geschlossen werden kann, daß dieses Heft nicht so kurz vor dem April 1797 anzusetzen ist, wie wir das für das zweite Heft voraussetzen dürfen. Eine genauere Datierung läßt sich aber auf einem anderen Wege gewinnen. Über die gesamte Handschrift verstreut finden wir eigenhändige Korrekturen Goethes. Dabei lassen sich im ersten Teil drei Korrekturschichten unterscheiden, die drei durch Tinte gut getrennte Arbeitsperioden erkennen lassen. Die erste, mit sehr dunkler Tinte geschriebene Schicht, enthält Korrekturen, die fast ausschließlich dem ersten Druck zugute gekommen sind. Es handelt sich hierbei um die früheste Überarbeitung der Handschrift. Die zweite Schicht, die mit einer hellbraunen Tinte eingetragen ist, enthält Verbesserungen, die zum größten Teil auch noch für den Erstdruck verwendet worden sind und daher vor der Herstellung des Druckmanuskripts entstanden sein müssen. Dabei wurden an einigen Stellen auch Korrekturen der ersten Schicht weiter verändert, ein Beweis dafür, daß die hellbraune Tintenschicht später anzusetzen ist. Ihre Datierung ergibt sich daraus, daß Goethe mit dieser Tinte auch einige Änderungen nach Vorschlägen Humboldts2 im Mai 1797 in die Handschrift eintrug. Das beweist, daß die zweite Korrekturschicht im Frühjahr 1797 anzusetzen ist. Die dritte Schicht endlich, die sich an einer dunklen Tinte erkennen läßt, Allerdings mit einer Einschränkung im 9. Gesänge, vgl. S. 235 ff. Am 6. Mai 1797; Bratranek, Goethe's Briefwechsel mit den Gebrüdern von Humboldt, Leipzig 1876, 28ff. 1

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ähnlich der im ersten Arbeitsgang verwendeten, bringt Korrekturen, die nicht mehr für den ersten Druck genutzt worden sind. Diese stammen also aus späterer Zeit und sind, wie wir noch sehen werden, sicher vor 1805 entstanden. Vielleicht stellen sie einen ersten Versuch der grundlegenden Umarbeitung dar, die für die erste Cottasche Ausgabe (A) geplant war, und deren Vorbereitung schließlich dem jungen Voß übertragen wurde. Wie bereits erwähnt, sind im ersten Teile der Handschrift alle drei Korrekturschichten anzutreffen. Dagegen finden wir im zweiten Teile nur Verbesserungen der zweiten und dritten Schicht, und haben damit einen weiteren Beweis für die Datierung dieser Handschrift auf Frühjahr 1797 gewonnen. Andererseits ergibt sich daraus für den ersten Teil, der zeitlich vor der zweiten Schicht liegende Korrekturen enthält, daß er nicht erst im Frühjahr 1797 entstanden sein kann. Ein Zeugnis für die Abschrift der ersten drei (vier) Gesänge ist uns nur vom 15. November 1796 überliefert. Da alle aufgeführten Gründe, die das Papier, die Eintragung der „Inschriften", die Neueinteilung der Gesänge und die Korrektliren betreffen, auf eine zeitliche Trennung der beiden Handschriftenteile deuten und uns über eine andere Abschrift dieses Teiles sonst nichts bekannt ist, dürfen wir das erste Heft wohl mit einiger Sicherheit in diese Zeit setzen. Der erste Teil von H 1 wäre dann um den 15. November 1796, der zweite Teil um den 21. März 1797 geschrieben worden. Aber die Datierungen, die sich aus der Handschrift ergeben, sind damit noch nicht erschöpft. Bei der Besprechung der Zeugnisse sahen wir bereits, daß am 11. März im Tagebuch der „Schluß des letzten Gesanges" angezeigt war, daß aber beim Absenden der Druckvorlage an Vieweg (Mitte Mai) der neunte Gesang ausgeklammert wurde, da der „epische Schweif" noch fehlte. Erst Anfang Juni hatte Goethe auch dieses letzte Hindernis überwunden und das Werk vollendet. In unserer Handschrift liegt der 9. Gesang jedoch bis auf eine kleine Partie (IX 45 —54) vollständig vor. Diese wenigen Verse können nicht den fehlenden Schluß darstellen: einmal weil sie nicht am Ende des Werkes stehen, und zweitens weil Goethe in einem Briefe 1 das Fehlende auf ungefähr 100 Hexameter schätzt. Diese Zeugnisse sprechen scheinbar dagegen, daß der zweite Teil von H 1 Ende März 1797 geschrieben wurde, da zu diesem Zeitpunkt der darin vorhandene Schluß noch nicht gefunden war. Unser Ansatz wird aber dadurch gestützt, daß der jetzige 9. Gesang zusammen mit dem 8. ursprünglich den 6. Gesang bildete und in der Handschrift auch noch so gezählt wird. Da erst in ihr die Umformung vollzogen 1

An Böttiger 3. Juni 1797 (IV 12, 135)

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SIEGFRIED SCHEIBE

ist, muß der 9. Gesang am 8. April bereits vorgelegen haben. Es besteht also nur die Möglichkeit, daß der letzte Gesang nicht von Anfang an vollständig in die Handschrift eingetragen war. Betrachten wir diesen Gesang in H 1 genauer, so stellen wir einen Einschnitt vor dem V. 226 fest. Während vorher die Schriftzüge des Schreibers Geist gleichmäßig und schön fließen, werden sie von dieser Stelle ab, besonders in den ersten fünf Versen, flüchtiger, die Zeilen laufen nicht mehr gerade, sondern schräg über das Papier, und die von Geist so gerne benutzten schwungvollen Unterlängen werden kürzer. Das deutet darauf hin, daß wir es hier nicht mehr mit einer Reinschrift, sondern mit der Niederschrift nach einem Diktat zu tun haben. Diese Vermutung wird durch eine Korrektur gleich in der ersten Zeile des neuen Textes bestätigt. Es heißt dort ursprünglich (IX 226): Den übrigen hatte der Pfarrherr schon alles erkläret.

Dies ändert Geist selbst in: Und den übrigen hatte der Pfarrherr alles erkläret.

Die Möglichkeit, daß Geist nach eigenem Gutdünken den Vers geändert hat, schaltet wohl von vornherein aus, denn dazu hatte er keine Befugnisse. Einen Abschreibefehler anzunehmen ist ebenfalls unmöglich, da es sich um eine Korrektur handelt, bei der zwei Stellen im Zusammenhang umgeformt werden. Hätte Geist in einer Vorlage diese doppelte Verbesserung vorgefunden, so müßte er, wenn er die erste Änderung übersehen hätte, die Streichung des „schon" entdeckt haben. Dann würde er aber den Vers nicht zu Ende geschrieben, sondern ihn sofort berichtigt haben. Es bleibt also nur die Möglichkeit, daß Geist während eines Diktates auf Goethes Anweisung die Korrektur eintrug. Dazu kommt als weiteres Indiz die einzige textliche Änderung, die Goethe selbst in diesem Schlußteil vorgenommen hat. Im V. 271 heißt es: Und es gehört der Boden nicht mehr, es wandern die Schätze, . . .

Hier ändert Goethe den Hörfehler „Und es" in das richtige „Uns" um, wodurch der Satz erst einen Sinn erhält. Aus beiden Beobachtungen erweist es sich, daß die betreffende Partie eine später in die Handschrift eingefügte Diktatniederschrift ist, die am 7. Juni 1797 entstand, als das Tagebuch den „Schluß des epischen Gedichtes" meldete (III 2,72). Daß der Einschnitt vor V. 226 wirklich die Stelle bezeichnet, von der ab Goethe den fehlenden Schluß ergänzte, wird außerdem durch zwei Zeugnisse bewiesen. Wie schon erwähnt wurde, schrieb Goethe am 3. Juni 1797 an

Zur Entstehungsgeschichte von Hermann und Dorothea

237

Böttiger (IV 12, 135): „Was noch abgeht ist wenig über 100 Hexameter also etwa noch vier Blätter". Von V. 226 bis zum Ende des Gesanges zählen wir 93 Hexameter, die auf drei Blättern geschrieben sind. Das entspricht ungefähr der von Goethe vorher geschätzten Ausdehnung der Partie: nur auf sie kann sich also das Zeugnis beziehen. Hierzu stimmt ferner ein Bericht Böttigers über eine Vorlesung der letzten 5 Gesänge am 15. April 17971. Er beschreibt darin ausführlich die Einzelheiten des Gedichtes und schließt mit den Worten: „Hermann, die Mutter springen dazwischen. Alles entwickelt sich. Die letzten hundert Verse ein treffliches Nachhallen und Besänftigen." 2 Auch unsere Reinschrift endet damit, daß Hermann und die Mutter die Verwicklungen um Dorotheas Stellung im Haushalt lösen. Das Folgende, das Böttiger in seinem eingehenden Bericht nur mit einem Satz erwähnt, hatte Goethe nicht mehr vorgelesen, da es noch nicht vorhanden war. Er hatte wohl nur erwähnt, daß noch hundert Verse fehlen. Beides entspricht genau dem Bild der Handschrift. Wie wir bereits sahen, fehlt in H 1 ein anderer Teil des 9. Gesanges, nämlich die Verse IX 46 —54. Auch diese Partie läßt sich datieren. Goethe nahm am 29. Mai 1797 den Gesang wieder vor und arbeitete an ihm. Dabei entstand vermutlich die breite Rede des Pfarrers über den Tod. Sie wurde nicht in die Handschrift eingetragen, weil an der betreffenden Stelle dafür kein Platz war. Da am gleichen Tage eine Reinschrift hergestellt wurde, die diese Verse berücksichtigte, bestand keine Notwendigkeit, sie in unserer Handschrift nachzutragen. Damit ist die auf Grund der Zeugnisse rekonstruierte Entstehungsgeschichte von „Hermann und Dorothea" durch die Handschrift in allen wesentlichen Punkten bestätigt worden. H 1 ist also zu datieren: * das erste Heft: um den 15. November 1796 das zweite Heft bis Vers IX 225: um den 21. März 1797 im zweiten Heft die Verse IX 226—318: am 7. Juni 1797. Diese Ansetzung steht der bisherigen Schreyers entgegen 3 . Er hatte nicht erkannt, daß die beiden Hefte in verschiedenen Arbeitsperioden entstanden sind. Seine Datierung der ganzen Handschrift auf den Zeitraum zwischen Mitte März und Anfang April 1797 läßt sich also nicht länger halten. 1

Vgl. III 2,65 * Böttiger 1 8 0 » GJb 10, 1887, 205

238

SIEGFRIED SCHEIBE

III Unsere Handschrift hält außer den schon besprochenen Korrekturen, die der frühen Arbeitsperiode bis zum Erstdruck im „Taschenbuch für 1798" angehören, noch ein weiteres Stadium der Beschäftigung mit dem Epos fest. Dieses ist nach der Jahrhundertwende anzusetzen und sollte zu einer grundlegenden Umformung „nach neueren prosodischen Überzeugungen" (IV 19, 15) führen, die für die Aufnahme des Werkes in die erste Cotta-Ausgabe (A) bestimmt war. Wir hatten bereits oben (S.234f.) bemerkt, daß in H 1 eine dritte Korrekturschicht Goethes zu finden ist, die wir zu dieser Umarbeitung stellen können. Nachdem Goethe selbst das Gedicht neu durchgesehen hatte, fand er Gelegenheit, es erneut von fremder Seite überarbeiten zu lassen, denn inzwischen war Johann Heinrich Voß jun., der Sohn des Homerübersetzers gleichen Namens, nach Weimar übersiedelt1. Goethe hatte den kränklichen jungen Mann, mit dem er seit dessen Jenaer Studienjahren bekannt war, 1804 als Lehrer an das Gymnasium nach Weimar gezogen und lud ihn oft in sein Haus ein. 1805 übertrug Goethe ihm die Durchsicht seines Epos, besonders im Hinblick auf metrische Fragen, in denen er selbst sich nicht sicher fühlte. Die Arbeit begann im März oder Anfang April 1805. Voß berichtet darüber: „Ich habe in diesen vierzehn Tagen ein Geschäft eigner Art, das mich ganz beschäftigt. Goethe hat mir die Umarbeitung von 'Herrmann und Dorothea' aufgetragen, und ich darf ändern, wo und wie viel ich will. Dazu hat er mir sein Manuskript gegeben, wo die einzelnen Verse so weit von einander abstehn, daß ich viel dazwischen schreiben kann. Ich war anfangs schüchtern dabei, doch nun habe ich, da er es nicht anders haben will, auch toll hineinkorrigiert. 'Nicht bloß begangene Sünden,' sagte er, 'sondern auch die Unterlassimgsünden suchen Sie zu tilgen.' Nun lege ich jeden Hexameter auf die Goldwage und sehe zu, das Gedicht auch in dieser Hinsicht vollkommen zu machen, ohne daß die naive Sprache und die vollendete Diktion dabei einbüßt."2 An anderer Stelle a gibt Voß genauer über seine Tätigkeit Aufschluß: „Ich bin aufmerksam 1) auf die Quantität der einzelnen Worte 2) auf den regelmässigen Bau der einzelnen Hexameter, und endlich 3) auf die Verbindung der Hexameter unter einander." Voßens Durchsicht war wahrscheinlich im August 1805 beendet4. Darauf wollte Goethe mit ihm die vorgeschlagenen Änderungen im einzelnen prüfen, 1 Über ihn vgl. H. G. Graf, GJb 17, 1896, 75 — 104 und in der Einleitung zu: Goethe und Schiller in Briefen von Heinrich Voß dem jüngeren, Leipzig o. J. (Reclam-Nr. 3581/82) 2 Voßbriefe 95 f (Graf 11, Nr. 369) 3 4 GJb 5,1884, 48 Vgl. Graf 11, 174

Zur Entstehungsgeschichte von Hermann und Dorothea

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doch dazu kam es nicht, denn Voß wurde wieder von seinem gichtischen Leiden befallen, das sich in einer Lippenerkrankung auswirkte. So unterblieb die gemeinsame Arbeit, und da Voß im nächsten Jahre Weimar verließ und nach Heidelberg übersiedelte, wurde der Plan ganz aufgegeben. Dies und die Tatsache, daß die Handschrift mit den Voßschen Korrekturen geradezu tibersät ist, hielt vielleicht Goethe davon ab, allein noch einmal in der ursprünglich geplanten Weise das Gedicht durchzugehen. H. Schreyer bemerkt in seiner Ausgabe des Epos zu den Voßschen Verbesserungsvorschlägen, die in der Handschrift erhalten sind 1 : „Bei der Recension der Dichtung durch Goethe und Voss ist zu unterscheiden zwischen einer Periode g e m e i n s a m e r Arbeit, wo der Text in gegenseitigem Gedankenaustausch und wahrscheinlich öfters in persönlichem Beisammensein durchgegangen wurde, und einer späteren Periode, in welcher Heinrich Voss den Auftrag hatte, das gemeinsam angefangene Werk zunächst allein fortzusetzen." An anderer Stelle2 schreibt Schreyer weiter: „Ein solches Zusammenwirken [von Goethe und Voß] lässt sich aus einer grösseren Zahl von Correcturen in H sicher feststellen. Meist liegt es so, dass Goethe dieÄnderüng beginnt, Voss sie fortsetzt; bisweilen ist es umgekehrt, und einige Stellen geben überhaupt nur einen Sinn, wenn man die Änderungen beider zusammenfasst". Von einer solchen Zusammenarbeit ist uns jedoch nichts überliefert, und auch die Korrekturen der Handschrift können Schreyers Ansicht nicht stützen. Seiner Vorstellung entsprechend müßte man annehmen, daß in einem gemeinsamen Arbeitsgang und oft bei dem gleichen Verse einmal Voß und einmal Goethe selbst die Korrektur in die Handschrift eingetragen hätte, was schon rein methodisch kaum möglich ist, denn auch bei einer gemeinsamen Überarbeitung würde nur einer die Feder geführt haben und beide sich nicht inAbständen von wenigen Minuten beim Schreiben abwechseln. Die Handschrift und die Abfolge der Korrekturen in ihr ergibt außerdem ein ganz anderes Bild als es Schreyer behauptet. Dazu müssen wir die von Schreyer zitierten Verse prüfen. Schreyer schreibt3: „Der Vers 4, 154 lautet in H (übereinstimmend mit den Drucken): Wider Willen die Thräne dem Auge sich dringt zu entstürzen.

Durch gemeinsame Änderung von Goethe und Voss wurde daraus: Und die Thrän' aus den Augen sich unfreiwillig hervordrängt. 1 2 8

I 50, 380 I 50, 381 I 50, 381 (alle folgenden Zitate auf dieser und der nächsten Seite)

240

SIEGFRIED SCHEIBE

Goethe schrieb zuerst 'hervordringt' als Versschluss über die Zeile, Voss änderte dies in 'hervordrängt' und ergänzte die vorausgehenden Worte." Richtig ist daran nur die erste und letzte Fassung des Verses. Goethe hat aber das 'hervordringt' nicht, wie Schreyer annimmt, als Ende eines neuen Verses hingeschrieben, dessen Anfang noch nicht vorhanden war, sondern als Korrektur eines schon bestehenden Verses, der lautet: Wider Willen die Thräne hervordringt.

Dadurch entstand ein fünffüßiger Hexameter, wie er auch an anderen Stellen von „Hermann und Dorothea" zu finden ist 1 . Voß nahm daran Anstoß und formte den Vers um, wobei er auch die Goethesche Wortform ändern mußte. An eine gemeinsame Arbeit, durch die der neue Vers entstanden wäre, ist nicht zu denken; Voß trägt vielmehr allein die Verantwortung bei der letzten Form, für die er sowohl die Grundschicht wie die Goethesche Korrektur des Verses benutzte. Das Gleiche gilt für das folgende Beispiel: ,,4, 170 lautet in H (gleich den Drucken): Fiel ich sie an und schlug und traf, mit blindem Beginnen,

Eine Änderung Goethes durch Zahlen ergibt: Fiel ich mit blindem Beginnen sie an und schlug und traf,

Voss bessert dann den fehlerhaften Schluss: und sohlug und bläute,

fügt aber selbst ein Fragezeichen hinzu." Zunächst ist die Goethesche Umstellung bei Schreyer falsch verzeichnet. Der Vers lautete nach dieser Korrektur am Ende: und schlug traf

denn Goethe strich das „und" vor „traf" und schrieb nicht wie bei den anderen Worten eine Zahl darüber, die es in die Umformung einbezogen hätte. Den unvollständigen und unschönen Hexameter korrigierte Voß. Daß er aber gleichzeitig hinter seine Änderung ein Fragezeichen setzte, spricht gegen eine gemeinsame Arbeit mit Goethe, denn dabei wäre wohl sofort eine endgültige Fassung des Verses beschlossen worden. Auch dieses Beispiel kann also Schreyers These nicht stützen. Ebensowenig beweist der nächste Fall. Schreyer schreibt: „Den Vers 4, 223: Wenn er das Mädchen sieht, das einziggeliebte, davonziehn, 1

Vgl. etwa den Fünffüßler IV 138, S. 243

ÜBERSIC

Entstehungsgeschichte von I

1796 11. Sept. 12. Sept. 13. Sept. 14. Sept. 15. Sept. 16. Sept. 17. Sept. 18. Sept. 18. Sept. 19. Sept. 28. Sept. 18. Okt. 15. Nov. 15. Nov.

Allgemeine

1. G e s a n g

2. G e s a n g

Angaben

(=1.Gesang)

(=2.Gesang)

3. G e s a n g

4. G e s a n g

(=3.
Semikolon), und 4mal wird ein Satzzeichen an einer Stelle eingeführt, an der sich im Erstdruck noch keine Interpunktion befand. 3. Änderungen der Orthographie

Die orthographischen Varianten sollen hier und im folgenden nicht einzeln verzeichnet werden. Hewett entwickelt seine These hauptsächlich von den Orthographica her und hat alle diese Abweichungen der verschiedenen Drucke genau behandelt 1 . Zur Erweiterung von Hewetts Argumenten sollen hier im wesentlichen die Druckfehler und die interpunktioneilen Veränderungen herangezogen werden. Alle Wandlungen der Orthographie sind in der großen Übersicht am Schluß des Aufsatzes in ihrem Fortwirken zusammen mit allen anderen Abweichungen leicht zu übersehen. 1

a. O. 15ff.

250

SIEGFRIED SCHEIBE

Wir erkennen, wie durch diese Fehler der Text eine andere Gestalt annimmt. Wenn es auch oft nur Kleinigkeiten sind, die den Wortlaut verändern, so findet sich doch schon an vielen Stellen der Goethesche Text, aber auch dessen Sinn, verfälscht. Auf den eben besprochenen Druck (D1*)1 geht in der Textgestaltung jener in Frage stehende Nachdruck zurück, der im Jahre 1806 in Reutlingen veröffentlicht wurde (D la2 ) und Vorlage für die Ausgabe A werden sollte2. Damit übernimmt er auch, unkritisch wie er als Nachdruck ist, fast alle der oben angeführten Fehler aus D l a , und zwar alle falschen Lesarten der Gruppen 1) und 3), während er bei der Interpunktion in einigen Fällen seinen eigenen Weg geht. D l a 2 korrigiert die falschen Satzzeichen seiner Druckvorlage in den Versen 127. 31. 86. 170. 173, II 250, IX 45: alles Stellen, die ohne weiteres als Druckfehler erkennbar waren (fehlender Punkt am Satzende, fehlendes Komma an wichtiger Stelle u. a.) Bei einem Vers (I 196) wird durch die Korrektur des Interpunktionsfehlers nicht das ursprüngliche Satzzeichen wiederhergestellt, sondern ein neuer, weiterwirkender Fehler entsteht = Deutschen, D 1 : Deutschen. D l a : Deutschen D l a 2 (1196). Die Verbesserungen in diesen wenigen Versen dürfen aber nicht zu der Annahme führen, daß der gesamte Text einer kritischen Kontrolle unterzogen worden ist: das ist keineswegs geschehen. Es handelt sich vielmehr um genau bestimmbare und ins Auge fallende Druckfehler, deren Berichtigung auch durch den Setzer erfolgt sein kann. Denn bei dem Reutlinger Druck haben wir keine verbesserte Ausgabe von D l a vor uns, sondern einen neuen Nachdruck, der zu den bisherigen viele neue Irrtümer und Fehler in den Text bringt. Die Kollation gegen D 1 ergab, daß D l a 2 neben den von D l a übernommenen Fehlern 163 falsche Lesarten in den Text einführte, so daß wir insgesamt 241 Textverschlechterungen in einem Gedicht von rund 2000 Versen zu verzeichnen haben. Im folgenden soll nun für D l a 2 zusammengestellt werden, welche neue Fehler den Text überlagern (wozu selbstverständlich noch die oben verzeichneten Änderungen von D l a kommen). Wenn wir hier auch die Fehler 1 Es ist unmöglich, an dieser Stelle die Deszendenz aller Einzeldrucke von „Hermann und Dorothea" zu behandeln. Wir stützen uns deshalb nur auf die Drucke, die auf die Textgestaltung der von Goethe selbst besorgten Ausgaben eingewirkt haben und lassen diejenigen unberücksichtigt, die im Stemma außerhalb der Hauptlinie der Textentwioklung stehen. Über die Abhängigkeit dieser Drucke findet sich näheres bei Hewett und Hagen a. O.

' „Herrmann und Dorothea." Von J. W. von Göthe. Reutlingen, in der J. J. Mäcken'sohen Buchhandlung. 1806.

Zur Textgeschichte von Hermann und Dorothea

251

nach den beiden Gruppen — Druckfehler und Interpunktion — scheiden, ergibt sich folgendes Bild : 1.

Druckfehler

Der neue Text enthält 33 Druckfehler, die sich in dieser Weise auf die einzelnen Gesänge verteilen: I

II

IV

V VI

VII

VIII IX

5 114 176 213 29 34 75 96 98 42 43 59 103 122 192 21 45 87 175 293 16 47 55 154 25 94 72 95 122 136 230 256 317

D1 Vertriebnen wohlversehne schrecklichen unter den erblicket Schwangre Dürftigste leichtsten Keinesweges war ihr sagt* fanden sich tiefen den Mädchen keine Da begann dem drängt getragnem schnell ihn führte wackres erst dich hierher zu Last auch ihr von ernsten nicht mehr ich stehe in von dem Freude Erinnrung stände

Dla2 Vertriebenen wohlversehene schrecklichem unter dem erblicktet Schwangere Dürftige leichtesten Keineswegs war sie sagte fanden sie tiefsten dem Mädchen keinen Dann begann den dringt getragenem schnell heimführte wackeres dich erst hieher zur Last auch mir vom ernstem nicht länger ist stehe im von den Freuden Erinnerung stünde

Auch hier handelt es sich wieder um Flüchtigkeitsfehler, die auf schnellen Druck zurückzuführen sind, und zwar um Versehen, die vom Korrektor ohne Vergleich der Vorlage meist nicht erkannt werden können. Die Zahlen

252

SIEGFRIED SCHEIBE

der Gruppen, in die wir sie auch hier einteilen wollen, verschieben sich um weniges gegenüber denen von D l a : a) Ausfall von -e in unbetonter Silbe: 1 Beispiel b) Einschieben von -e in unbetonter Silbe: 8 Beispiele c) (Flüchtigkeits-)Fehler: 17 Beispiele d) Wechsel zwischen Dativ und Akkusativ, bzw. umgekehrt: 7 Beispiele. Insgesamt haben wir jetzt unter der Rubrik Druckfehler 69 Textänderungen erfaßt, die der Druck D l a 2 enthält! Wenn wir den Text in A mit dem in dem Reutlinger Druck vorliegenden vergleichen, ergibt sich folgendes Bild: A stimmt (nur im Punkt Druckfehler) an 22 Stellen mit D l a 2 überein und übernimmt damit 22 Fehler aus dem Reutlinger Druck. 45 Druckfehler, die der Nachdruck außerdem noch enthält, sind nicht übernommen worden; an 2 Stellen finden wir eine durch den Fehler in der Druckvorlage veranlaßte Korrektur, die eine neue Form bringt = Da begann D 1 : Dann begann D l a 2 : Drauf begann A (VI 21) und = dem stille D 1 : dem stillen D l a 2 : dem still A (IX 161), an allen anderen Stellen ist der Text von D l a wiederhergestellt. In A wurden damit durch den Reutlinger Druck der, wie oben gezeigt, zugleich Träger der Fehler seiner Vorlage ist, folgende Druckfehler veranlaßt: II IV

V VI

VII

VIII IX

29 75 59 103 120 122 187 225 130 271 291 293 302 314 16 154 156 19 72 77 230 317

D1

A

erblicket Dürftigste fanden sich tiefen verbürgest den Mädchen Garten erscheinet Pfarrer anderen An dem schnell ihn führte Pfarrherr Staub s wackres zu Last stehet kluges, nicht mehr in gutem Freude stände

erblicktet Dürftige fanden sie tiefsten verbirgst dem Mädchen Gärten erscheint Pfarrherr andern An den schnell heimführte Pfarrer Staubes wackeres zur Last steht gutes nicht länger im guten Freuden stünde

Zur Textgeschichte von Hermann und Dorothea

253

Da besonders die Übereinstimmungen in den Versen II 29. 75, IV 59. 103, VI 293, VIII 19 und I X 72 so schwerwiegend sind, daß sie nur durch die Annahme erklärt werden können, der Druck D l a 2 habe sie als Fehlerquelle in die Ausgabe A gebracht, so wird diese Ansicht durch die übrigen Übereinstimmungen zwischen den beiden Drucken gestützt, und wir müssen D l a 2 als Druckvorlage für A anerkennen: bei der Menge der Fälle ist es unmöglich, daß alle gleichartigen Textänderungen auf zufälligen Übereinstimmungen beruhen sollten. 2. Änderungen der Interpunktion I

II

29 56 74 82 87 151 187 212

D1

D1»2

Schlafrock, verfertigt). hinaus, enthüllen Hang, gerührt, sicher,

Schlafrock verfertigt.) hinaus enthüllen, Hang gerührt sicher Und,

III

89 105 107

IV

20 22 60 77 115 123 222 44 84 88 110 197 87 174 258 65

Und Zwergen. Kleinste. wieder, gebrochen hinüber, Herrmann, herrliche, sagst, bist, Jüngling da, brauchen; leicht; gestockt gebot Menschen, sitzt Putze, hülfe,

35 76 77 88 101

dieß: Mädchens; Art, Worten, Bündel,

V

VI

VII IX

Zwergen Kleinste, wieder gebrochen. hinüber. Hermann herrliche sagst bist Jüngling, da; brauchen: leicht, gestockt, gebot, Menschen sitzt, Putze hülfe dieß; Mädchens, Art Worten Bündel

254

SIEGFRIED SCHEIBE

115 125 137 186 187 198 205 254 288 290 298

D1

D1»

heiße, ertragen froh; dieß? nicht; stand verehren, Wie? höher, er; sprach,

heiße ertragen, froh, dieß, nicht, stand, verehren. Wie! höher er: sprach:

Nach dieser Zusammenstellung hat der Reutlinger Nachdruck allein an 43 Stellen die Interpunktion geändert. Dazu kommen noch 20 Fehler in der Zeichensetzung, die er aus dem Druck D l a übernommen hat, so daß insgesamt 63 Interpunktionsänderungen im Reutlinger Druck den Goetheschen Text verwandeln. Die neuen Varianten zeigen folgendes Bild: an 19 Stellen wird ein Satzzeichen ausgelassen, in anderen 9 Fällen ein neues eingefügt; 15mal wird ein Satzzeichen durch ein anderes ersetzt: alles Versehen oder Eigenmächtigkeiten des Setzers bei mangelnder Kontrolle. Von den 63 Satzzeichenfehlern tauchen in A 37 auf; während bei zwei Versen das Auslassen der Interpunktion zu einer Korrektur zwingt, die ein neues Satzzeichen einführt = Tamino. D 1 : Tamino D U 2 : Tamino, A (II 224) und = Bänke. D 1 : Bänke D l a 2 : Bänke, A (III 100); in allen anderen Fällen wird die Zeichensetzung von D 1 wieder hergestellt. A übernimmt fehlerhafte Zeichensetzung von den Nachdrucken zu folgenden Stellen: D1

A

I

29 53 56 82 181 196

Schlafrock, zurück, — Töchtern, verfertigt). enthüllen Gefahren. Deutschen,

Schlafrock zurück — Töchtern verfertigt.) enthüllen, Gefahren; Deutschen

II

235

schwur,

schwur

III

105

Kleinste.

Kleinste,

IV

60 77 115 222

Herrmann, herrliche, sagst, Jüngling

Hermann herrliche sagst Jüngling,

Zur Textgeschichte von Hermann und Dorothea Dl

D1»

V

44 84 110 126 197

da, brauchen; gestockt hinaus gebot

da; brauchen: gestockt, hinaus, gebot,

VI

87 168 174 258 65 160 9 17 18 46 88 101 115 125 137 143 198 254 288 290

Menschen, folgend; sitzt Putze,

Menschen folgend: sitzt, Putze

hülfe, ab: Mondes, mir zurückblieb, steht Worten, Bündel, heiße, ertragen froh; gehe stand Wie? höher, er;

hülfe ab; Mondes; mir, zurückblieb steht, Worten Bündel heiße ertragen, froh, gehe, stand, Wie! höher er:

VII IX

255

Auch hier kann die Übereinstimmung zwischen D l a 2 vielen Fällen nicht auf Zufall beruhen. Im Zusammenhang mit den Druckfehlerbeispielen muß auch hieraus der Schluß gezogen werden, daß der Reutlinger Druck die Druckvorlage für den Text von „Hermann und Dorothea" in der Ausgabe A gebildet hat. Damit erweist sich Hewetts These, daß in A ein gegenüber dem Erstdruck verschlechterter Text vorliegt, als richtig, und die Ablehnung dieses Beweises durch Schreyer muß zurückgewiesen werden. Auf der anderen Seite bleibt die Frage offen, warum ein gewisser Teil der Fehler in A getilgt worden ist und deshalb nicht weiter wirken konnte, während der größere Teil in den Text überging und damit auch die späteren Ausgaben beeinflußte. Schreyer nimmt in W zu dem Problem nicht Stellung, da er von der Ansicht ausgeht, daß der Text von A auf alle Fälle der bessere gegenüber D 1 ist; dagegen versucht Hewett eine Begründung zu geben. Er ist der Meinung, daß diese falschen Lesarten nicht von Goethe ausgehen bzw. nicht durch Goethe verschuldet sind, sondern allein auf mangelhafte

256

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Sorgfalt beim Verlag Cotta oder bei den Setzern und Druckern der neuen Ausgabe zurückzuführen sind. Er schreibt: „It seems probable that the poem was sent to the printer, not in manuscript, but in a volume of Vieweg's edition, with the changes indicated in the margin, but that these changes were not all transferred to the cheap reprint, published in the vicinity, which was used for convenience, at least, in part by the compositors as the basis of the text, and so in numerous cases the more correct forms of the earlier editions were not incorporated in the new volume." 1 Warum aber sollten die Setzer teilweise die von Goethe überschickte Druckvorlage benutzt, teilweise aber die Korrekturen erst in ein anderes Exemplar, eben den Reutlinger Nachdruck, übertragen haben, ehe sie den Satz der neuen Ausgabe herstellten? Das dürfte schon rein technisch ziemlich schwierig gewesen sein, in keinem Fall aber bequem, wie Hewett meint. Es wäre möglich, wenn der korrekte Text in längeren Partien auftreten würde, neben denen andere, größere Stellen mit dem verderbten Text stünden. Das würde bedeuten, daß an verschiedenen Teilen gleichzeitig gesetzt worden wäre. Aber hier sind die korrigierten und nichtkorrigierten Formen in kleinen Abständen über den ganzen Text verbreitet, so daß diese Erklärungsmöglichkeit ausscheidet. Andererseits gibt Hewett selbst einen Hinweis, der vielleicht zu einer Lösung des Problems führen könnte. Er zieht (S. 3) einen Brief an Eichstädt vom 22. Oktober 1804 heran2, in dem Goethe bittet, ihm für einige Zeit ein Exemplar von „Hermann und Dorothea" zu verschaffen. Der Brief beweist, daß Goethe damals keine Ausgabe des Epos besaß. Damit besteht die Möglichkeit, daß Goethe auch zwei Jahre später, als er an die Vorbereitung der neuen Ausgabe ging, über kein Exemplar der Erstausgabe oder eines anderen Druckes verfügte3. So hat er sich wieder eine Ausgabe besorgen lassen und erhielt dabei den neuesten und darum am besten zugänglichen Druck, eben unser D l a 2 . Denn daß Goethe den Nachdruck benutzte und damit selbst die vielen Fehler der Nachdrucke konservierte, 1

Hewett a. O. 17 » IV 17, 207 * Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß auch der von Hans Huppert bearbeitete Katalog von „Goethes Bibliothek", Weimar 1958, 264, in Goethes Besitz zwar einige (größtenteils jedoch erst in viel späteren Jahren angeschaffte) Übersetzungen von „Hermann und Dorothea" in fremde Sprachen verzeichnet, aber keine deutsche Ausgabe des Gedichtes, was vielleicht indirekt als weitere Bestätigung unserer Ansicht dienen kann.

Zur Textgeschichte von Hermann und Dorothea

257

müssen wir als sicher annehmen1, auch wenn Hewett sich bemüht, Goethe von diesem Verdacht zu reinigen. Die Verantwortung dafür auf die Setzer abzuwälzen, ist in der Art, wie es Hewett übernimmt, unmöglich (wie oben gezeigt wurde) und scheidet damit aus der Betrachtung aus. Wie Hewett weiter schreibt, hat Goethe die Textkorrekturen in das von ihm benutzte gedruckte Exemplar eingetragen, das dann an den Verlag geschickt worden ist. Ob es Goethe wirklich so handhabte, oder ob er den Text noch einmal neu abschreiben ließ, ist heute nicht mehr festzustellen. An der betreffenden Stelle seines Tagebuches findet sich keine Bemerkung, die auf das eine oder andere schließen ließe; wir lesen da nur am 8. Dezember 1807: „Einiges an den epischen Gedichten arrangiert und diesen Band eingepackt. . . . An Dr. Cotta nach Tübingen; Absendung des letzten Bandes."2 Die ausdrückliche Erwähnung, daß der 'Band' eingepackt und abgesendet sei, bezieht sich auf das Manuskript, das den Inhalt des betreffenden Bandes der neuen Ausgabe ausmachte. Daraus ist nicht zu schließen, daß das Manuskript selbst aus einem Druckexemplar bestand. Damit kommen wir aber erneut zu der Frage: wie kommt es, daß nur ein Teil, wenn auch der größere Teil, der Textverschlechterungen aus D l a 2 in die Ausgabe A eingegangen ist, während der andere Teil verbessert wurde? Würden wir eine Abschrift des Druckes in Weimar annehmen, könnten wir einen Bruchteil der Besserungen ausscheiden, weil dann die Annahme möglich sein würde, daß der Schreiber nicht konsequent seiner Vorlage gefolgt wäre. Aber darüber hinaus würde doch ein ungelöster Rest bleiben. Wir haben vielmehr zur Beantwortung dieser Frage die uns erhalten gebliebene Handschrift von „Hermann und Dorothea" heranzuziehen, die sich allezeit in Weimar in Goethes Besitz befand und heute noch im GSA einzusehen ist3. Bei dieser Handschrift handelt es sich um eine von Goethes Schreiber Geist geschriebene Reinschrift, die in gewissem Sinne 1 Dies ist auch nicht verwunderlich, wenn wir bedenken, mit welch gutem Griff Goethe in so vielen Fällen seinen neuen Ausgaben einen fehlerhaften Text anstatt des korrekten Unterlegte. * III 3, 305. — Es handelt sich um den zehnten Band von A, der als letzter der zwölfbändigen Ausgabe in den Druck ging. * Goethe konnte keinesfalls, wie denkbar wäre, diese Handschrift von „Hermann und Dorothea" als Grundlage des neuen Textes benutzen, wenn er keine Druckexemplare mehr besaß, da das Manuskript in vielenVersen nicht mit dem Erstdruck übereinstimmt, sondern eine etwas frühere Textstufe darstellt. Darüber wird sich Goethe sicherlich im klaren gewesen sein, bzw. konnte sich davon durch einen Vergleich weniger Verse überzeugen.

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SIEGFRIED SCHEIBE

eine Parallelhandschrift der für den ersten Druck verwendeten Textvorlage darstellt1. In ihr finden sich drei Schichten Goethescher Korrekturen, deren früheste, vor dem Abgang des Druckmanuskriptes nach Berlin eingetragen, beinahe vollständig in die erste Ausgabe eingegangen ist. Die zweite entstand noch vor und während des ersten Druckes, oft unter Verwendung von Verbesserungsvorschlägen Humboldts, den Goethe mit der Überwachung des Druckes beauftragt hatte, während die dritte und letzte Goethesche Korrekturschicht erst in späteren Jahren, aber noch vor der Voßschen Korrektur, hinzugefügt worden ist. 1805 beauftragte dann Goethe den jungen Heinrich Voß, der durch seinen Vater in der Verfertigung von Hexametern geübt war, mit einer metrischen und textlichen Korrektur, deren Spuren sich in fast jedem Goetheschen Vers finden, und deren Anwendung von dem ursprünglichen Text nicht viel übriggelassen hätte2. Glücklicherweise übernahm Goethe von diesen oft pedantischen und kleinlichen Änderungen nur einen ganz geringen Teil. Vielleicht hinderte ihn aber dieses Übersätsein des Textes mit Verbesserungsvorschlägen daran, eine vollkommene Umgestaltung des Textes vorzunehmen, wie er sie für „Hermann und Dorothea" ebenso geplant hatte wie für „Reineke Fuchs". Daß dies seine Absicht war, geht aus einem Entwurf über die Verteilung der Werke auf die 12 Bände der Ausgabe A hervor, den er am 1. Mai 1805 an Cotta schickte3. Darin heißt es: IX. Reinecke Fuchs. Hermann und Dorothea

Nach neueren prosodischen Überzeugungen bearbeitet.

Während die Neubearbeitung beim „Reineke Fuchs" tatsächlich bis in die Hälfte des 4. Gesanges gedieh, lassen sich bei „Hermann und Dorothea" keine Anzeichen einer neueren U m a r b e i t u n g feststellen. Einen Teil seines Versprechens löste Goethe später dadurch ein, daß er in A eine Reihe von Änderungen einfügte. Von diesen Verbesserungen sollen hier nur einige zur Textform genannt werden, ohne auch die orthographischen und interpunktionellen Korrekturen aufzuführen. 1

Zur Beschreibung der Handschrift und zur Trennung der Schichten vgl. S. 233 und den Apparatband zu den „Epen". 2 Die Verbesserungsvorschläge Voßens werden im Apparat zu „Hermann und Dorothea" zum ersten Male vollständig veröffentlicht werden. 3 IV 19, 15

Zur Textgeschichte von Hermann und Dorothea

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Dl 168 185

II IV

204 61 196 214 220/21

V VI

VII

IX

228 82 175

dem echten Becher Pfarrherr ebenso VI 81. 217, IX 20. 46. 207. allen Landen mir war Zwiespalt im Herzen wie und im traurigen Hinziehn und Herziehn und nicht dasMädchenalleine/ lasset Vater und Mutter dahinten, wenn sie dem Mann folgt,

235 122 129 135 141

der Richter mit ernstem Blicke ich darum Euch den man ihr vermuthlich geschenkt hat Seufzte fein scheint mit ihrem Begleiter zur Seite der Mutter verloren gewesen Es tranken

43 141 200

harrte stille verzehrendes eilet nur nicht und zürnet

den echten Bechern Pfarrer

allen den Landen Zwiespalt war mir im Herzen so wie und im traurigen Hin- und Herziehn und nicht das Mädchen alleinläßt/ Vater und Mutter zurück, wenn sie dem erwähleten Mann folgt, mit ernstem Blicke der Richter ich Euch darum der ihr vermuthlich geschenkt ward Seufzete fein dünkt mit ihrem stillen Begleiter der jammernden Mutter verloren Da tranken harrete still verzehrendes eilet nur nicht und zürnt nicht

Von den hier angeführten neuen Lesarten der Ausgabe A geht ein Teil auf Änderungen Goethes in der Handschrift zurück und beweist also, daß die Handschrift zu der Textgestaltung mit hervorgezogen worden ist. Wir finden von diesen Textstellen bereits dort eingetragen und damit sicherlich von dort übernommen: II 196, IV 214. 220/21, V 228 (Voß), VI 82 (Voß). 175. 235, VII 122 (Voß). 129. 135. 141, IX 43 (Voß). 141. 207 (Voß). Aus diesen Beispielen (zu denen noch einige aus dem Gebiet der Interpunktion kommen) geht hervor: einmal, daß Goethe in Weimar bei den Vorbereitungsarbeiten für die Ausgabe A eine Textrevision im allgemeinen Maßstabe vornahm, bei der nicht Wort für Wort durchgegangen, sondern nach der Goetheschen Gewohnheit das korrigiert wurde, was ihm beim Durchschauen gerade in die Augen fiel; zum anderen, daß er bei dieser Textrevision die in seinem Besitz befindliche Handschrift mit zu Rate zog; wahrscheinlich bei manchen Versen nach einem passenden Änderungsvorschlag in ihr nachschlug und dabei die ihm gut scheinenden Änderungen

260

SIEGFRIED

SCHEIBE

aus der Handschrift übernahm. Goethe war es in diesem Falle gleich, ob die Vorschläge ursprünglich von ihm selbst oder von Voss stammten, wie es auch unabhängig davon geschah, in welcher Zeit die Änderungen in die Handschrift eingetragen worden waren, denn alle drei Goethe-Schichten sind benutzt worden. Daneben finden sich Fälle, in denen Goethe sofort nach eigenem Gutdünken korrigierte oder beim Nachschlagen in der Handschrift keinen ihm zusagenden Vorschlag fand, die also unabhängig von der Handschrift geändert wurden. Wenn das zutrifft, dann beantwortet sich auch die Frage, warum nur ein Teil der Fehler von D l a 2 in A übergegangen ist. Goethe benutzte zu der eben erwiesenen Textrevision als Grundlage den Reutlinger Druck. Bei der Arbeit fielen ihm manche Fehler auf, die er, ebenso wie manche ursprünglich richtigen Lesarten, änderte, während andere Fehler ihm entgingen. Dies war um so eher möglich, da Goethe, wie wir bereits sahen, den Text keiner systematischen Umarbeitung und Korrektur unterzog, sondern nur hin und wieder nach Lust und Gutdünken besserte. So hat Goethe selbst, der sein Werk nicht als distanzierter Kritiker betrachtete, hier, ohne sein Wissen und seinen Willen, einen in vielen Einzelheiten korrupten Text sanktioniert. Wir sehen uns also einer sehr eigenartigen Situation gegenüber: einerseits besitzen wir in A einen von Goethe nochmals revidierten Text, den wir als die schließlich gewünschte Textform ansehen müssen. Er macht es unmöglich, als Textgrundlage wieder auf den Einzeldruck zurückzugreifen, der durch die neue Überarbeitung überholt ist. Andererseits hat Goethe als Vorlage für diese Revision einen Text benutzt, der, ohne daß Goethe sich dessen bewußt war, schon eine weitgehende Textumwandlung darstellt und viele Fehler und Abweichungen enthält, die auf diese Weise in die Textrevision von A und alle von ihm abhängigen Drucke übergegangen sind. Wir haben hier also einen ähnlichen Fall wie beim „Werther", wo durch die Benutzung von s3 (J. W. Goethens Schriften. Dritte Auflage, Berlin, 1779. Bei Christian Friedrich Himburg.) ebenfalls eine Fülle von Fehlern und Versehen in die zweite Fassung übergegangen sind1; mit dem Unterschied allerdings, daß beim „Werther" gleichzeitig eine neue Umformung des ganzen Werkes vorliegt, die dazu zwingt, die beiden Fassungen zu parallelisieren, wie es in der Akademie-Ausgabe geschehen ist, weil eine Verschmelzung der verschiedenen Texte, wie sie in W und den meisten modernen Ausgaben angewandt ist, zu unlöslichen Widersprüchen führen muß. Da bei „Hermann und Dorothea" von Goethe keine Umformung des ganzen Epos, sondern 1

Vgl. Michael Bernays, Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes, Berlin

1866, 1 5 - 3 8

Zur Textgeschichte von Hermann und Dorothea

261

nur eine neue Überarbeitung des Textes vorgenommen ist, da auch die Abweichungen von D1, die durch den Textverfall in den Nachdrucken und durch Goethes neue Textrevision entstanden, nicht so tiefgreifend sind wie beim „Werther", würde sich dieses Verfahren nicht lohnen. Der einzig mögliche Weg bei der Textgestaltung von „Hermann und Dorothea" scheint daher, den von Goethe überarbeiteten Text von A zugrunde zu legen, aber unter Abzug aller Fehler und Abweichungen, die durch die Nachdrucke in den Text von A gedrungen und keineswegs als von Goethe gewollt anzusehen sind. Die einzige Ausnahme davon bilden die wenigen Verse, in denen ein Fehler der Nachdrucke eine Korrektur Goethes bei der Revision auslöste (VI 21, 1X162): bei ihnen müssen wir die geänderte Form als endgültig gewünscht ansehen und im Text behalten. Anders ist es bei den zwei Interpunktionsfehlern (II 224 und III 100), bei denen auch in A eine neue Form auftritt. Bei ihnen kehren wir zur Zeichensetzung des Grundtextes zurück, da die von A eingeführte Interpunktion im zweiten Fall fehlerhaft ist und somit nach den Grundsätzen der Ausgabe gebessert werden muß; im ersten Beispiel ist in A versucht worden, die fehlerhafte Zeichensetzung der Nachdrucke zu verbessern, ohne aber zu dem entsprechenden Interpunktionszeichen zurückzufinden. Es besteht die Wahrscheinlichkeit, daß diese Änderung vom Setzer vorgenommen worden ist, sie kann deshalb bei der Textkonstituierung nicht berücksichtigt werden. Das sind die wenigen Ausnahmen, die sich bei der Herstellung des gereinigten Textes ergeben, im übrigen gilt also das Prinzip: Text von A minus Fehler der Nachdrucke.

Anhang Textveränderungen zwischen D 1 und A Dieses vollständige Verzeichnis der Textveränderungen zwischen D 1 und A soll f ü r die vier hier behandelten Drucke die unübersichtliche und teilweise inkorrekte Hewett'sche Liste ersetzen. Erläuterung: grenzen Fehler der Nachdrucke vom Text des Originaldruckes ab, Fehler der Nachdrucke von der Ausgabe A. Z e i c h e n : + Druckfehler x Interpunktion o Orthographie 5 5 18 27 28 29 31 33 40 45 50 53 56 70 74 82 86 87 88 100 114 119 123 138 145 151 165 170 173 176 181 182 187 191

D1 sehen. Vertriebnen darin gehn. verzeihn Schlafrock, Mode. Schlafrock Allen Ernte Ernte zurück, — Töchtern, verfertigt). andre hinaus, enthüllen vermögen, Hang, Reitzen Hausfrau: wohlversehne lieget Unbedeutende stürzt' gingen gerührt, gingen Füßen. Worten. schrecklichen Gefahren. Sollt' sicher, ich,

Dia

sehen Vertriebnen darin gehn verzeihn Schlafrock, Mode Schlafrock Allen Ernte Ernte

Di"2 sehen Vertriebenen darinn gehn. verzeyhn Schlafrock Mode. Schlafrok allen Erndte Erndte

zurück — Töchzurück — Töchtern tern verfertigt). | verfertigt.) andere andere hinaus, hinaus enthüllen enthüllen, vermögen vermögen, Hang, Hang Reitzen | Reizen Hausfrau; Hausfrau; wohlversehne wohlversehene liegt liegt Unbedeutende unbedeutende stürzt stürzt gingen giengen gerührt, gerührt gingen giengen Füßen. Füßen Worten Worten. schrecklichem schrecklichen Gefahren; | Gefahren; Soll' Soll' sicher, sicher ich ich

A sehen. Vertriebnen darinn gehn. verzeihn Schlafrock Mode. Schlafrock allen Erndte Erndte zurück — Töchtern verfertigt.) andre hinaus, enthüllen, vermögen, Hang, Reizen Hausfrau: wohlversehne lieget Unbedeutende stürzt' gingen gerührt, giengen Füßen. Worten. schrecklichen Gefahren; Sollt' sicher, ich,

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Zur Textgeschiohte von Hermann und Dorothea

I

196 213 II 2 24 25 29 34 53 53 60 75 88 93 96 97 98 112 115 119 127 204 207 212 224 235 250 III 24 80 86 89 93 100 105 107 110 110 IV 2 4 20 22 22 29 38 39 42 43

D1 Deutschen, unter den Blicken ging beiden erblicket Schwangre thut, thu' Euch ging Dürftigste auch schon Misst' leichtsten darauf Keinesweges schreckliche spazierend Ernte ging ging mußt Und Tamino. schwur, zeigte. Manheim welchen goldene Zwergen. geblendetem Bänke. Kleinste. wieder, schreckte Fordrung Ging ging gebrochen hinüber, ging hingen Ernten ging war ihr sagt'

Di» Deutschen. unter den Blicken gmg beiden erblicket Schwangre thut, t h u t Euch ging Dürftigste schon auch Misst' leichtsten drauf Keinesweges schreckliche spazierend Ernte ging ging mußt Und Tamino | schwur zeigte Manheim welchem goldne Zwergen. verblendetem Bänke Kleinste. wieder, schröckte Forderung Ging ging gebrochen hinüber, ging hingen Ernten ging war ihr sagt'

Dia2 Deutschen unter dem Bliken gieng beyden erblicktet Schwangere thut, thut euch gieng Dürftige schon auch | Mißt' leichtesten drauf Keineswegs | schrekliche spazirend Erndte gieng gieng mußt' Und, Tamino schwur zeigte. Mannheim welchem goldne Zwergen verblendetem Bänke | Kleinste, wieder schröckte Forderung Gieng gieng gebrochen. hinüber. gieng hiengen Erndten gieng war sie sagte

A Deutschen unter den Blicken gieng beyden erblicktet Schwang're thut, thu' Euch gieng Dürftige auch schon Mißt' leichtsten darauf Keinesweges schrekliche spazierend Erndte gieng gieng mußt' Und Tamino, schwur zeigte. Mannheim welchen goldene Zwergen. geblendetem Bänke, Elleinste, wieder, schreckte Fordrung Gieng gieng gebrochen hinüber, gieng hiengen Erndten gieng war ihr sagt'

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SIEGFRIED SCHEIBE

D1 fanden sich Herrmann, gestützt jetzo herrliche, war' Beispiel tiefen frei sagst, 120 verbirgest 122 den Mädchen 123 bist, 141 zerreißen 158 heut' 182 beim

IV 59 60 61 72 77 93 97 103 115 115

Dia

Dla2

fanden sich Herrmann, gestützt jetzo herrliche, war' Beispiel tiefen frei sagst, i | verbirgst

fanden sie Herrmann gestüzt jezo herrliche war Beyspiel tiefsten frey sagst

A fanden sie Hermann gestützt jetzo herrliche | war' Beyspiel tiefsten frey sagst

den Mädchen bist, zerreißen i heute beim

verbirgst | dem Mädchen bist | zerreissen heute | beym

verbirgst dem Mädchen bist, zerreissen heut' beym

Gärten die Zimmer freyer Jüngling, manches Wallens Saamen | da; sollte | brauchen: leicht, Mädchen. bey gestockt,

Gärten die Kammer freyer Jüngling, manches Wollens Samen da; solle brauchen: leicht; Mädchen, bey gestockt,

187 194 200 222 235 241 V 27 44 48 84 88 93 103 110

Garten die Kammer freier Jüngling Manches Wollens Samen da, solle brauchen; leicht; Mädchen, bei gestockt

:| Gärten : die Zimmer freier Jüngling Manches i Wallens Samen da, i sollte brauchen; leicht; : Mädchen. bei gestockt

126 164 173 179 192 197 225 239 VI 4 6 21 45 47 82

hinaus ging' Frei befraget keine gebot erscheinet Manns Bittre leugnet Da begann dem Allzu groß Ihr

j| hinaus, : ging Frei : befragt keine gebot ¡1 erscheint ! Mannes Bittre leugnet Da begann dem i Allzugros Ihr

hinaus, ging il

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befragt keinen | gebot, erscheint Mannes bittre | läugnet Dann begann den Allzu groß ihr

hinaus, ging' Frey befraget keine gebot, erscheint Manns Bittre läugnet Drauf begann dem Allzugroß ihr

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Zur Textgeschichte von Hermann und Dorothea

VI 87 87 95 115 130 134 141 148 164

D1 Menschen, drängt kehr' stürzt' Pfarrer

Di» Menschen, drängt kehr stürzt' i Pfarrherr

Di»« Menschen dringt kehr stürzt Pfarrherr

A Menschen drängt kehr' stürzt'

folgend:

Kissenüberzug Frey Pfarrherr gewißer folgend:

Kissenüberzug Frey Pfarrer gewißer

Pfarrherr

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Küssenüberzug Frei Pfarrer gewisser 168 folgend; 170 gingen 174 sitzt 175 getragnem 181 Schwert 184 dahin riß 189 hinging 199 hoffe, 200 drückt' 209 lass' 214 setzt' 248 dieß 258 Putze, 260 zuförderst

Küssenüberzug Frei Pfarrherr gewisser gingen sitzt getragnem Schwert dahin riß hinging hoffe; drückte laß setzt dieß Putze, zuförderst

giengen sitzt, getragenem Schwerdt dahinriß hingieng hoffe; drückte laß setzt dies Putze zuvörderst

giengen sitzt, getragnem Schwerdt dahinriß hingieng hoffe, drückt' lass' setzt' dies Putze zuvörderst

271 anderen 291 An dem 293 schnell ihn führte 302 Pfarrherr

andern An den

andern An den schnell heimführte Pfarrer Schaaren

andern An den schnell heimführte Pfarrer Staubes Getraide gieng wackeres

+

ging wackres

Staubes Getraide gieng wackeres

dies dies andern find' erst dich hierher hülfe, Segen beim Beide

dies dies andern find dich erst hieher | hülfe Seegen beym Beyde

dies dies anderen find' erst dich hierher hülfe | Segen beym Beyde

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310 Scharen 314 Staubs VII

7 Getreide 14 ging 16 wackres 20 dieß 30 dieß 40 anderen 46 find' 47 erst dich 55 hierher 65 hülfe, 95 Segen 108 beim 133 Beide

schnell ihn führte | Pfarrer Scharen | Staubes Getreide

folgend:

Schaaren

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SIEGFRIED

D1

VII

140 154 155 156 160 177 196 197 200 Vili 1 1 6 7 19 25 30 36 39 47 51 67 75 88 94 101 IX 9 17 18 35 38 42 45 46 50 53 65 72 76 77 77 81 88 95 101

Dia Brot Brod zu Last zu Last zerstreun zerstreuen stehet steht ab: ab; Schafe Schafe Schrein Schrein zweite zweite Zuckerbrodes Zuckerbrotes gingen gingen zwei zwei Ernte Ernte Beide Beide | gutes kluges, auch ihr auch ihr frei frei dies dies Beide Beide Segenswünsche Segenswünsche Gebieter Gebieter? find' find' Ernte Ernte her hing her hing von ernsten von ernsten Fern fern Mondes; Mondes, mir mir, zurückblieb zurückblieb, dieß: dieß: breterne breterne Breter Breter herum herum, | steht, steht Beiden Beiden beide beide Pfarrherr Pfarrer nicht mehr nicht mehr Mädchens; Mädchens; in gutem | im guten Art, Art, geholt geholt Worten, Worten, ich stehe ich stehe Bündel, Bündel,

SCHEIBE

Dla2 Brod zur Last zerstreuen steht ab; Schaafe Schreyn zweyte Zuckerbrodes giengen zwey Erndte Beyde gutes auch mir frey dieß Beyde Seegens wünsche Gebieter find Erndte herhieng vom erstem | fern Mondes ; mir, zurückblieb dieß; bretterne Bretter herum, steht, Beyden beyde Pfarrherr | nicht länger Mädchens, im guten Art gehöhlt | Worten ist stehe | Bündel

A Brod zur Last zerstreun steht ab; Schafe Schreyn zweyte Zuckerbrotes giengen zwey Erndte Beyde gutes ihr auch frey dieß Beyde Segenswünsche Gebieter? find' Erndte herhieng von ernsten fern Mondes; mir, zurückblieb dieß: bretterne Bretter herum, steht, Beyden beyde Pfarrer nicht länger Mädchens; im guten Art, geholt Worten ich stehe Bündel

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Zur Textgeschichte von Hermann und Dorothea D1 1X114 entschlössest 115 heiße, 118 Schwerste 122 in 125 ertragen 136 von dem 137 froh; 140 später 141 stille verzehrendes 143 gehe 155 war 161 dem stille 164 hab' 165 Besinnung 181 Ich 186 dieß? 187 nicht; 195 dieß 198 stand 205 verehren, 230 Freude 235 euch 254 Wie? 256 Erinnrung 288 höher, 290 er; 297 neben einander 298 sprach, 307 Dies 315 diesmal 317 stände

Dia entschlössest heiße, | schwerste in ertragen von dem froh; spätere stille verzehrendes gehe, war' dem stillen hab' Gesinnung Ich dieß? nicht; | dies stand verehren, Freude | Euch Wie? Erinnrung höher, er; neben einander sprach, Dies diesmal stände

Di»2 entschloßest heiße schwerste im ertragen, von den | froh, spätere Stille verzehrendes gehe, wär' dem stillen hab Gesinnung | ich dieß, nicht, dies | stand, verehren. | Freuden Euch | Wie! Erinnerung höher er: nebeneinander sprach: Dieß dießmal stünde

A entschloßest heiße schwerste in ertragen, von dem froh, später stillverzehrendes gehe, wär' dem still hab' Besinnung ich dieß? nicht; dies stand, verehren, Freuden Euch Wie! Erinnrung höher er: nebeneinander sprach, Dieß dießmal stünde

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E R N S T GRUMACH

FAUSTIANA 1. Z u m U r f a u s t Obwohl Pniower1 und Kögel2 schon in den ersten Jahren nach der Entdeckung des Urfaust ernste Bedenken dagegen erhoben haben, „daß uns in der Göchhausenschen Handschrift Goethes Faust in der Fassung, in der ihn der Dichter nach Weimar brachte, erhalten sei", hat sich ihre Ansicht nicht durchsetzen können. Düntzer ergriff 1891 aufs schärfste gegen beide Partei3, und vor allem entschied Schmidts Autorität zugunsten der Vollständigkeit des Göchhausenschen Szenenbestandes gegen fremde und eigene Zweifel, die an einigen Stellen der Einleitung seines „Faust in ursprünglicher Gestalt" leise angedeutet sind. Maßgebend blieb der von ihm in der ersten Entdeckerfreude geprägte Satz, daß das „Frl. v. Göchhausen uns die Retterin des Urfaust ist, s o w e i t sein S c e n e n g e f ü g e f e r t i g stand. Bloße Brouillons ließ sie bei Seite, falls sie überhaupt derlei beim Vorlesen gewiß nicht mitgetheilte, wahrscheinlich von den Lagen des zusammenhängenden Textes getrennte Buchstücke je gesehen hat." 4 Ähnlich formulierte es Schmidt auch in seinen späteren Faustausgaben und im engsten Anschluß an ihn erklärte Gräf6, daß „wir für die (bis November 1775) ausgeführten Theile einen sicheren Anhalt in der Abschrift haben, die Luise von Göchhausen, mit oder ohne Goethes Wissen und Erlaubnis, für sich anfertigte. Wir werden annehmen dürfen, daß diese Abschrift uns zum mindesten alles das überliefert, was Goethe in den ersten Weimarer Jahren bei seinen Vorlesungen am Hof und im Freundeskreise mittheilte."* 1

Deutsche Litteratur-Zeitung 9, 1888, 1218 f. und Vierteljahrschrift für Literaturgeschichte 2, 1889, 149 f. 2 Ebd. 2, 545if. 3 Zur Goetheforschung. Neue Beiträge S. 155ff. 4 Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt 3 1894, X I I 5 Goethe über seine Dichtungen II 2, 22 • Ähnlich auch M. Hecker im Nachwort der Mainzer Faustausgabe von 1932 (12, 405): „Der Urfaust stellt Goethes Dichtung in wesentlich demjenigen Stande dar, zu dem sie in vorweimarischer Zeit gefördert worden ist."

Zum Urfaust

269

Die Göchhausensche Abschrift gilt daher auch heute noch als getreuer Spiegel des Szenenbestandes, den Goethe fertig nach Weimar mitbrachte und den er bei den Faustvorlesungen der ersten Weimarer Zeit vortrug, wobei lediglich offengelassen wird, ob Goethe selbst diese Szenen ausgewählt oder ob er es der Schreiberin überlassen hat, im 'Urkodex' die fertigen Szenen von dem noch Unfertigen und Bruchstückhaften zu scheiden. Seltsamerweise geben gerade die Berichte über diese frühesten Weimarer Faustvorlesungen1 ein anderes Bild. Auffällig ist schon, daß Friedrich Leopold zu Stolberg in seinem Bericht über die Faustvorlesung vor den beiden Herzoginnen (zwischen 27. November und 3. Dezember 1775)2 den Faust als h a l b f e r t i g bezeichnet: „Einen Nachmittag las Göthe seinen halbfertigen Faust vor. Es ist ein herrliches Stück. Die Herzoginnen waren gewaltig gerührt bei feinigen Scenen." Das klingt nach mehr, als die Göchhausensche Handschrift erwarten läßt, deren mageres und lückenhaftes Szenengefüge niemals als halbfertig bezeichnet werden könnte. Graf hilft sich mit der Annahme, daß „Goethe bei dieser (wohl der ersten) Vorlesung des Faust am Hofe den Inhalt des späteren 'zweiten' Theils der Dichtung, wie er ihm damals vorschwebte, in großen Zügen erzählt habe". Aber Stolberg spricht von einer „Vorlesung", also offenbar doch fertigen Szenen, und nichts in seinem allerdings äußerst knappen Bericht deutet darauf hin, daß Goethe daneben auch die noch unfertigen Teile des Werkes skizziert hätte. Wir erinnern uns dabei, daß Boie nach der Faustvorlesung vom 15. Oktober 1774 das Werk sogar als „fast f e r t i g " bezeichnet3, daß er nach einer leider nicht mehr nachprüfbaren Mitteilung Constantin Rößlers4 offenbar bei der selben Vorlesung eine verschollene Fassung der Szene „Vor dem Thor" gehört hat und daß Goethe Knebel am 11. oder 12. Dezember 1774 „eine der letzten Scenen des Faust vorlas", während „die ersten 1

Am vollständigsten gesammelt bei Pniower, Goethes Faust Nr. 26ff. und Graf a. O. Nr. 859ff. 2 An Henriette von Bernstorff 6. Dezember 1775 (Pniower Nr. 26 = Graf Nr. 859). » K. Weinhold, Heinrich Christian Boie, S. 70 (Pniower Nr. 12 = Graf Nr. 852 Anm.l): „Er [Goethe] hat mir viel vorlesen müßen, ganz und Fragment, und in allem ist der originale Ton, eigne Kraft, und bey allem sonderbaren, unkorrekten, alles mit dem Stempel des Genies geprägt. Sein Dr. Faust ist fast fertig, und scheint mir der größte und eigenthümlichste von Allem." * Grenzboten 4, 1883, 662; vgl. dazu Gräf a. O., Niejahr, GJb 20, 169f., und vor allem Schmidt a. 0. Einl. LXV Anm. 1. Auch durch Umfragen bei zahlreichen Bibliotheken ist es mir bisher leider nicht gelungen, die „norddeutsche Zeitung", in der Rößler kurz vor dem Kriegsausbruch von 1866 den Brief Boies gelesen haben will, ausfindig zu machen. Vielleicht veranlassen diese Zeilen einen Bibliothekar, nach dem unschätzbaren Dokument zu suchen.

270

E R N S T GRUMACH

Scenen gar noch nicht vorhanden waren"1. Vergleicht man diese Zeugnisse, so gewinnt man den Eindruck, daß der Faust, den Goethe in den Jahren 1774/75 vorlas und den er nach Weimar mitbrachte, „fertiger" und vollständiger war als der der folgenden Jahre und daß er jedenfalls Szenen vortrug, die sowohl in der Göchhausenschen Abschrift wie im Faustfragment von 1790 fehlen. Die Vermutung bestätigt sich dadurch, daß einige der Teilnehmer dieser frühen Weimarer Vorlesungen allem Anschein nach Szenen kennen, die heute verschollen sind. So lassen sich die bekannten Verse Einsiedels2: Paradirt sich drauf als Doctor Faust, Daß'm Teufel selber vor ihm graußt

mit Minor3 nur als eine Anspielung auf eine verlorene Faustszene deuten, die Einsiedel bei einer der vorangehenden Vorlesungen gehört und die auch die Hofgesellschaft, der er sein „Schreiben eines Politikers an die Gesellschaft" am 6. Januar 1776 vorträgt, gekannt haben muß. Auch Wielands Gedicht „An Psychen", das die Erinnerung an die Stettener Faustvorlesung vom 1./2. Januar 1776 festhält und in denselben Tagen geschrieben ist, enthält Anspielungen, die sich aus dem erhaltenen Szenenbestand nicht mehr erklären lassen4. Noch schwerer wiegt Wielands durch Böttiger 5 erhaltene Bemerkung vom 12. November 1796, daß im Fragment einige von Goethe früher vorgetragene Szenen „unterdrückt" sind. Da Wieland nicht nur an der Faustvorlesung in Stetten teilgenommen, sondern den Faust sicher auch bei anderen Gelegenheiten gehört hat, ist sein Zeugnis von schwer zu überschätzender Bedeutung. Ich gebe es daher in seinem vollen Wortlaut wieder: Überhaupt fand er [Merck] eine teuflische Lust darin, Leute, die sich glücklich fühlten, auf die linke Seite aufmerksam zu machen und ihr Glück zu stören. Ihn hat daher auch Goethe zum Original seines Mephistopheles in seinem Faust (dies ist Goethe selbst) genommen, und mehrere Scenen sind Anspielungen auf wirkliche Begebenheiten, die er mit Merk erlebt hatte, z. B. die Scene in Auerbach's Hofe und das Liedchen vom Floh. Schade nur, daß dieser Faust, wie wir ihn jetzt in seinen Werken haben, ein aus früheren und späteren Arbeiten zusammengeflicktes Werk ist (sowie auch der Wilhelm Meister), und daß die interessantesten Scenen, z. B. im Gefängnisse, wo Faust so wüthend wird, daß er selbst den Mephistopheles erschreckt, unterdrückt worden sind. 1

Gubitz, Berühmte Schriftsteller der Deutschen 1, 325f. (Graf a. O.) Keil, Goethes Tagebuch aus den Jahren 1776—1782 S. 32 (Graf Nr. 859) 3 Goethes Faust 1,11 4 Teutscher Merkur, Jan. 1776, 12 (Akad.-Ausgabe I 12, 72); vgl. besonders die Verse 80fiF., 125ff.; zu Wielands Faustkenntnis vgl. Pniower a. O. Nr. 28, zu den Schlußversen von „Göthe und die jüngste Niobetochter" (Akad.-Ausgabe I 12, 36) u. S. 272 5 Lit. Zustände und Zeitgenossen 1, 21 (Pniower Nr. 91 = Gräf Nr. 859) 2

Zum Urlaust

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Der dunkle Schlußsatz ist verschieden gedeutet worden. Darüber aber herrscht Einigkeit, daß die Worte „wo Faust so wüthend wird" usw. sich mit der heutigen Kerkerszene nicht in Einklang bringen lassen. Scherer1, dem sich Pniower (Nr. 91) u. a. angeschlossen haben, dachte daher an eine Verwechslung mit der Szene „Trüber Tag. Feld", obwohl auch hier kaum von einem „Erschrecken" des Mephistopheles die Rede sein kann. Und soll Fausts „Wüthen" wirklich Zorn bedeuten und nicht vielmehr „Liebeswuth" wie V. 3307? Max Koch 2 hält „im Gefängnisse" für einen Hörfehler Böttigers für „vorm Gefängnisse", womit wenig geholfen ist, und nur Minor3 bemerkt die auffällige Ähnlichkeit zwischen der Schilderung Wielands und den oben genannten Versen Einsiedels und schließt aus beiden auf eine verlorengegangene Gefängnisszene, in der Faust so „wüthend" wird, Daß'm Teufel selber vor ihm graußt.

Daß seine Vermutung richtig ist, glaube ich jetzt infolge eines Zufallsfundes zeigen zu können. Zur Vorbereitung einer Neuausgabe von Goethes Gesprächen habe ich in den vergangenen Jahren neben anderen ost- und westdeutschen Nachlässen auch den Dresdener Böttiger-Nachlaß durchgesehen, für dessen leihweise Überlassung ich der Dresdener Landesbibliothek zu besonderem Dank verpflichtet bin. Die Arbeit erwies sich als äußerst lohnend, denn es zeigte sich sehr bald, daß der Nachlaß eine Reihe unbekannter Notizen enthält, die auch von Leitzmanns Nachlese4 nicht erfaßt sind. Außerdem weicht der handschriftliche Text der Aufzeichnungen Böttigers an zahlreichen Stellen von dem von seinem Sohn besorgten Druck der „Literarischen Zustände und Zeitgenossen" ab5. Der Erlanger Professor und Hofrat K. W. Böttiger scheint ein etwas flüchtiger, vor allem aber ein recht sittenstrenger Mann gewesen zu sein, der alle ihm anstößig scheinenden Stellen in den Aufzeichnungen seines Vaters entweder gestrichen oder so bearbeitet hat, daß sie den Druck nicht mehr zu scheuen brauchten. Unglücklicherweise ist auch das Wielandgespräch vom 12. November 1796 seinem puristischen Eifer zum Opfer gefallen, so daß er die Faustforschung über hundert Jahre 1

Aus Goethes Frühzeit S. 77 Berichte des Freien Deutschen Hochstifts 17, 1902, 232 3 a. O. 1, 11 1 Neues über Goethe. Aus Böttigers Nachlaß, Neophilologus 18, 22£f. 5 Vgl. auch Leitzmann a. O. 19: „Der text der von Böttigers söhn abgedruckten notizblätter seines Vaters ist nicht durchweg genau und zeigt sowohl fehler wie auslassungen." 3

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ERNST

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in die Irre geführt hat. Denn Wieland hat, wie das Abb. 2 wiedergegebene Notizblatt zeigt, keineswegs von den „interessantesten Scenen" gesprochen, sondern von den „interessantesten Wollustscenen" und damit, selbst wenn man annimmt, daß der Ausdruck von Böttiger vergröbert und nicht wortwörtlich zu nehmen ist, den Charakter der „unterdrückten" Szenen eindeutig fixiert. Da man die heutige Kerkerszene auch in noch so abgeschwächtem Sinne nicht als „interessante Wollustscene" bezeichnen kann und da auch die übrigen Angaben Wielands nicht zu ihr passen, bestätigt sich Minors Vermutung vollkommen: Wieland muß eine andere Gefängnisszene vor Augen gehabt haben oder doch eine verschollene Fassung der Gefängnisszene, die er aus früheren Faustvorlesungen gekannt hat und die, wenn Einsiedels Verse sich auf denselben Streit mit Mephisto beziehen, auch der Weimarer Hofgesellschaft bekannt gewesen sein muß. Leider fehlt jeder nähere Anhalt für eine Bestimmung der anderen Szenen, die Wieland im Fragment vermißt. Nur daß es sich auch hier um Liebesszenen, und um Liebesszenen in einem sehr konkreten Sinne handelt, dürfte nach seinen Angaben sicher sein, und so wird man kaum fehlgehen, wenn man annimmt, daß diese einmal in der großen Lücke gestanden haben, die heute zwischen den Szenen „Marthens Garten" und „Am Brunnen" klafft. Vielleicht steckt eine Erinnerung an eine dieser Szenen auch noch in den Versen, die Mephistopheles am Ende von Wielands Scherzspiel „Göthe und die jüngste Niobetochter"1 spricht: Und daß er in Niobe's Töchterlein, Nichts anders als Bein von seinem Bein, Nichts als ein liebes G r e t c h e n küßt; Und denkt dann im Hertzen: wie lieblich und fein Ihm wäre, wenn er bey Mondes Schein Auf halbbeleuchtetem Blumenbett Solch Mägdlein in den Armen hätt'.

In jedem Fall bleibt die Tatsache bestehen, daß Wieland aus den Faustvorlesungen der ersten Weimarer Jahre eine Reihe von Szenen kennt, die im Fragment und, wie wir über ihn hinausgehend sagen können, in der Göchhausenschen Abschrift fehlen. Denn da keine der Szenen, die der Urfaust vor dem Fragment voraus hat, von Wieland gemeint sein kann, kann man nur annehmen, daß die fraglichen Szenen schon vor der Entstehung der Göchhausenschen Abschrift „unterdrückt" worden sind. Ich kann daher Minors Vermutung nicht folgen, daß es sich bei diesen bzw. bei der verschollenen Gefängnisszene „um eine der Scenen handeln 1

Vgl. oben S. 270

Zum Urfaust

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muß, die Goethe, wie er später (5. Mai 1798) an Schiller schreibt, 'wegen ihrer Natürlichkeit und Stärke ganz unerträglich' geworden waren und die er ganz fallen ließ". Denn von einer Streichung ganzer Szenen ist an dieser Stelle überhaupt nicht die Rede, sondern von dem Versuch, „einige tragische Scenen in Prosa", die „durch ihre Natürlichkeit und Stärke, in Verhältniß gegen das andere, ganz unerträglich" geworden waren, „gegenwärtig in Reime zu bringen", das heißt also vermutlich von der Umformung der heutigen Kerkerszene und, wenn Gräfs Annahme 1 zutrifft, vielleicht auch von "einem erfolglos gebliebenen Versifizierungsversuch von „Trüber Tag. Feld". Die Sätze beziehen sich außerdem, wie der vorangehende Absatz zeigt, gar nicht auf das „alte, noch vorräthige, höchst confuse Manuscript", sondern auf die neue, von Geist hergestellte Abschrift, deren „Theile in abgesonderten Lagen, nach den Nummern eines ausführlichen Schemas hinter einander gelegt sind". Man müßte also, wenn Minors Ansicht richtig wäre, annehmen, daß diese alten Szenen sich noch bis in das neue Faustmanuskript von 1797/98 hinein erhalten hätten und daß sie erst abgeschrieben wären, um wieder gestrichen zu werden, was einen völligen Umbau des Schemas vom 23. Juni 1797 zur Folge gehabt hätte, auf dem die neue Abschrift beruht2. All das spricht gegen Minors Vermutung und macht es wenig wahrscheinlich, daß die fraglichen Szenen im Jahre 1798 noch existiert haben. Das schließt freilich nicht aus, daß auch sie einmal aus ähnlichen Gründen unterdrückt wurden und gerade diese „Wollustscenen" Goethe „durch ihre Natürlichkeit und Stärke ganz unerträglich" geworden waren. Es ist daher wohl kein Zufall, daß diese Szenen nicht nur im Fragment, sondern auch schon im Urfaust fehlen und das heißt: in der Vorlage, die Luise von Göchhausen benutzt hat. Denn was hätte das redund schreibselige Hoffräulein sonst veranlassen können, vollständige und allem Anschein nach fertige Szene auszulassen, die sie selbst vielleicht bei verschiedenen Gelegenheiten aus Goethes Munde gehört hatte? Der Szenenbestand des Urfaust oder sagen wir besser: die Szenenauswahl, die sich in der Göchhausenschen Abschrift erhalten hat, muß daher, wie es natürlich und eigentlich selbstverständlich ist, das Werk des Dichters sein und schon deshalb verbietet sich die Vermutung, daß das Fräulein von Göchhausen Teile des Originalmanuskriptes nach eigenem Ermessen kopiert hat. Minor3 u. a. nehmen zwar an, daß „die Abschrift auf Grund des Urmanuskripts gemacht ist". Seine Begründung, „Goethe würde schwerlich 1

Nr. 942 S. 80 Anm. 1 Vgl. Verf. JbGG(NF) 14/15, 63ff. * a. O. 1, 242

s

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den Eingang der Auerbachszene in Versen haben stehen lassen, wenn er die Szene noch einmal abgeschrieben hätte", überzeugt jedoch ebensowenig wie Krogmanns Vergleich des einzigen erhaltenen Urkodex-Blattes (Paralipomenon 21) mit der entsprechenden Szene „Land Strase" des Urfaust 1 . Krogmanns Hauptargument, daß der „Doppelpunkt hinter Meph sicher aus dem Punkt und dem darunter befindlichen i-Punkt [des Urkodexblattes] verlesen ist", ist alles andere als zwingend, denn der Urfaust pflegt Mephisto auch sonst Meph: abzukürzen2. Der Doppelpunkt hinter Meph in der Göchhausenschen Abschrift (im Gegensatz zu Punkt im Urkodex) gehört vielmehr zu den Lesarten, die beide trennen. Dazu kommen: Urkodex Vorurteil genug zu wider

Göchhau sen Vorurtheil genung zuwieder

eine für eine aus nur neun Zeilen bestehende Szene so beträchtliche Anzahl von Abweichungen, daß man mit Sicherheit annehmen kann, daß die Göchhausen nicht das OriginahUanuskript als Vorlage benutzt hat, aus der das Blatt stammt, sondern eine von Goethe selbst oder einem Schreiber hergestellte Abschrift. Diese muß dann bereits den gekürzten Szenenbestand enthalten haben, den der Urfaust bietet. Die schon von H. Maync3, allerdings ohne nähere Begründung vertretene Ansicht, daß „die Göchhausensche Abschrift des Ur-Faust" ebenso wie die Schulthessische Abschrift der Theatralischen Sendung „auf einer bloßen Abschrift beruht", ist daher zweifellos richtig4. Sie hat nichts Ungewöhnliches, da wir tatsächlich von einer Kopie Goethes „Urfaust" S. 19 Als Sprechername findet sich im Urfaust 108mal Meph: neben lmal Mephis: l m a l Mephist. und 3mal Mephistopheles; in den szenischen Bemerkungen 2mal Meph: neben 8 mal Mephistopheles, dagegen niemals Meph. 3 I 51, 288 * Ergänzend könnte man auf die im Urfaust teils verbesserten, teils nicht verbesserten Schreibungen 15 blagen, 210 steicht, 214 Drunk, 836 Malda usw. hinweisen. Daß das „Fehler der Thüringerin" sind, wie Schmidt (a. O. L X X V I I und I 39, 442) und von Oettingen (bei Schmidt 8 L X X X ) annehmen, wäre nur dann sicher, wenn die Göchhausen nach dem Originalmanuskript gearbeitet hat. Wenn sie eine Abschrift kopiert, können es auch Abschreibe- oder Hörfehler sein, die schon in ihrer Vorlage enthalten waren. Ich habe daher in dem Urfaust-Band der Akademie-Ausgabe die Formen blagen, Malda, murmeld usw. geschont, wie es teilweise auch von Oettingen (a. 0.) schon getan hat; vgl. Kögel a. O. 1, 55: „Überhaupt hätte ich mich nach Maßgabe dessen, was [bei Schmidt, Einl.] S. L X X V I I , über die Treue bemerkt ist, mit der das Fräulein copirt hat, bei den Änderungen auf das äußerste Maß beschränkt und ich weiß nicht, ob ich nicht auch blagen, Malda und die n für m im pronominalen Dativ ruhig stehen gelassen hätte." 1

1

Zum Urfaust

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wissen, die in jenen Jahren existiert hat und die im Sommer oder Spätherbst 1777 entstanden zu sein scheint. Ich meine die Abschrift, denn nur um eine solche kann es sich handeln1, die nach der Tabelle der Postsendungen von 17772 am 1. Dezember dieses Jahres nach Frankfurt gegangen ist und die man mit Recht mit der Göchhausenschen Abschrift in Verbindung gebracht hat. Schon Schmidt3, der allerdings zwischen Originalmanuskript und Abschrift schwankt, vermutete, daß „Frl. v. Göchhausen sich das Manuscript — das am 1. December 1777 auch einmal zur Mutter nach Frankfurt gewandert ist, wenn es nicht gar unsre Copie war — erbeten und mit oder ohne Erlaubniß des Dichters . . . abgeschrieben habe". Minor hielt beide Kopien für identisch, während Kögel annahm, „Thusnelda könnte sie [die Frankfurter Abschrift] im Oktober 1780 in Frankfurt copirt haben, da sie als Begleiterin der Herzogin Amalia zwölf Tage dort verweilte". Beweisen läßt sich das eine so wenig wie das andere und wahrscheinlich wird sich das Verhältnis der beiden Handschriften nie ganz aufklären lassen. Aber man wird, da die Göchhausensche Abschrift zweifellos auf einer Abschrift beruht und uns über eine dritte Abschrift nichts bekannt ist, in jedem Fall gut tun, beide so eng wie möglich zusammenzurücken4. Darf man also vermuten, daß auch der Szenenbestand der beiden Handschriften identisch gewesen war? Da Frau Aja nach dem Zeugnis Petersens5 „das Manuscript. . . wie ein Heiligthum aufbewahrt", es Freunden zeigte und Merck gelegentlich daraus vorlesen ließ, wären die „interessanten Wollustscenen" Wielands schwerlich unbemerkt geblieben, wenn sie sich in der Frankfurter Handschrift länger erhalten hätten. Das würde bedeuten, daß die fraglichen Szenen spätestens bei der Entstehung der Frankfurter Abschrift im Jahre 1777 „unterdrückt" worden sind. Die Streichung der Szenen, die Goethe „durch ihre Stärke und Natürlichkeit unerträglich" geworden waren, und die Herstellung der neuen Szenenordnung, die wir aus dem Urfaust kennen, wäre dann schon der erste Schritt gewesen in der Umwandlung der „alten barbarischen Production", die über den römischen Faustplan zum Fragment von 1790 und über den Faustplan von 1797 zum Faust von 1808 führt. 1

Vgl. Kögel, Vierteljahrsschrift 2, 546, Minor 1, 12 und Graf a. O. IV 3, 320 (Pniower Nr. 29 = Graf Nr. 860) 3 a. O. XII * Wenn die Seckendorffsche Fassung des „Königs in Thüle" und das Jahr 1782 nicht mehr als terminus post quem für die Entstehung der Göchhausenschen Abschrift zu gelten braucht, bestehen hier auch zeitlich keine Schwierigkeiten; vgl. dazu die vorsichtigen Ausführungen von Richter, Urfaust und Ururfaust, Monatshefte Wisconsin 1949, 343ff. 5 Vgl. v. Loeper, Faust 1, IX und Schmidt a. O. XII Anm. 2 3

2. K o m m a t a Im 12. Band des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft S. 73fr.1 habe ich an Beispielen aus dem Di van zu zeigen versucht, wie weitgehend unser Goethetext durch Interpunktionsänderungen entstellt ist, die Göttling und die Setzer und Korrektoren der Cottaschen Officin in der Ausgabe letzter Hand vorgenommen haben. Auf die Gefahr hin, mich wieder dem Vorwurf der 'Kommaphilologie' auszusetzen, möchte ich im Folgenden auf ein Beispiel hinweisen, das an noch zentralerer Stelle steht, nämlich die Verse 340—343, mit denen der Herr im Himmelsprolog seinen Pakt mit Mephistopheles begründet: Des Menschen Thätigkeit kann allzuleicht erschlaffen, Er liebt sich bald die unbedingte Buh; Drum geb' ich gern ihm den Gesellen zu, Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen.

So stehen die Verse in dem von E. Schmidt bearbeiteten Faustband der Weimarer Ausgabe (114, 23), und so lesen wir sie, mit einer noch zu besprechenden Ausnahme, daher auch in allen neueren Ausgaben, obwohl sie in der vorliegenden Form sinnlos sind. Denn was soll der abschließende Relativsatz: Der reizt und wirkt usw. besagen? Und was bedeuten vor allem die rätselhaften Worte: Und muß als Teufel schaffen? Auch unsere Kommentare lösen dies Rätsel nicht und können es nicht lösen, da der Vers korrupt ist. Dies zeigt eine einfache Überlegung: die Verse gehen davon aus, daß des Menschen Tätigkeit allzu leicht erschlafft, da „er sich bald die unbedingte Ruh liebt". Da diese Tendenz in ihm selbst liegt, dem Menschen eingeboren ist, läßt sie sich nicht von innen, sondern nur von außen heilen, das heißt so, daß der Herr dem Menschen eine andere Kraft „gesellt", die in entgegengesetztem Sinne auf ihn einwirkt. Daher gibt er ihm „den Gesellen" zu, der ständig „reizt und wirkt" und den Menschen daran hindert, in „unbedingte Ruh" zu verfallen. Der mit V. 340 einsetzende Gedanke ist also offenbar mit den Worten „reizt und wirkt" geschlossen, so daß hier ein Interpunktionszeichen stehen müßte und zwar, da die Schlußworte mit „und" angeschlossen sind, kein Punkt, sondern ein Komma. Damit erhebt sich die Frage, wie diese Schlußworte zu verstehen sind? Da sie, wenn unsere Interpretation richtig ist, nicht mehr zu dem Relativsatz gehören, andererseits aber auch nicht den Hauptsatz fortsetzen, bleibt nur die Möglichkeit, daß sie einen Konsekutivsatz vertreten: „und muß" hat also offenbar die Bedeutung „und so muß er, sodaß er muß", eine Deu1

Vgl. oben S. 17ff.

Kommata

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tung, die auch durch das Verbum „schaffen" gestützt wird. Denn da „schaffen" zweifellos positiven Sinn hat, die Reihe „reizen — wirken — schaffen" also eine Klimax bildet, müssen die Schlußworte eine p o s i t i v e Folge ausdrücken, die sich aus dem Vorangehenden ergibt. Der Sinn des Ganzen kann daher nur sein: da der Mensch allzu leicht erschlafft, gebe ich ihm den Gesellen zu, der reizt und wirkt, und so muß er (der Geselle) eine positive Funktion ausüben und „schaffen". Die Deutung wird weiter gestützt durch die oft herangezogenen Parallelverse 1335 f.: E i n T h e ü v o n j e n e r Kraft> Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Da auch der „Schalk" zu den Geistern gehört, die „verneinen", da auch er nur „ein Theil von jener Kraft" ist, die „stets das Böse will", kann er von sich aus nicht „schaffen" oder, wie es hier heißt, „das Gute schaffen". Erst dadurch, daß Gott ihn als „Gesellen" dem Menschen zugibt, der ohne sein „Reizen und Wirken" erschlaffen würde, fügt er ihn so in den göttlichen Weltplan ein, daß seine negative Funktion in eine positive, sein „Reizen und Wirken" in ein „Schaffen" verwandelt wird. Damit stehen wir freilich erneut vor der Frage, wie die Worte „und muß als Teufel schaffen" zu verstehen sind. Denn gerade dann, wenn der Teufel als Teufel schafft, wenn er seiner eigenen Tendenz überlassen bleibt, seinem „bösen Willen" folgt, kann er nicht „schaffen", sondern nur zerstören. Hier klafft also ein Widerspruch, der auf dem immanenten Gegensatz der Begriffe „Teufel" und „schaffen" beruht, die sich gegenseitig ausschließen und bedingen. Dieser Widerspruch ist so lange unausweichlich, wie wir die Worte „als Teufel" als Apposition zu „er" verstehen. Das zeigt, daß sie in Wirklichkeit einen Nebensatz vertreten, der offenbar konzessiven Sinn hat: „und so muß er, auch noch als Teufel, obwohl er doch der Teufel ist, schaffen." Dieser Sinn tritt nur dann deutlich hervor, wenn wir die Worte „als Teufel", Goethescher Gewohnheit folgend1, in Kommata schließen, wie es Alt in seiner Faustausgabe tut mit der richtigen Begründung (Kommentar S. 528): „Er muß schaffen, obwohl er als Teufel lieber zerstört." ¡Die richtige Interpunktion der Verse wäre demnach: Er liebt sich bald die unbedingte Ruh; Drum geb' ich gern ihm den Gesellen zu, Der reizt und wirkt, und muß, als Teufel, schaffen.

Tatsächlich — und das kann zugleich als Bestätigung für unsere Interpretation dienen — stehen die Verse so in allen Originaldrucken. Sowohl der Faust-Erstdruck im 8. Band der ersten Cottaausgabe (A) von 1808 wie 1

Vgl. oben S. 19

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E R N S T GRUMACH

sein Nachdruck im 9. Band der zweiten Cottaausgabe (B) von 1816 hat die drei Kommata, die sich auch in den von ihnen abhängigen Einzeldrucken von 1808 und 1816 erhalten haben. Auch in dem heute in der Cottaschen Handschriftensammlung in Marbach befindlichen Handexemplar von B Band 9, das Goethe und Göttling 1826 gemeinsam revidiert haben, sind die Kommata nicht gestrichen, ein Beweis dafür, daß Goethe ihre Erhaltung gewünscht hat. Da der Band als Druckvorlage für die Taschenausgabe letzter Hand (C1) gedient hat, sind sie auch in diese übergegangen und in deren ersten Nachdruck (C2"1) von 1828, der auf einem von Goethe und Göttling revidierten Exemplar von C1 beruht1. Erst in der nach derselben Vorlage gesetzten Oktavausgabe (C3) sind die Kommata verschwunden, die also dem nachträglichen Eingriff eines Korrektors der Cottaschen Officin zum Opfer gefallen sein müssen. Da die Weimarer Ausgabe unglücklicherweise gerade C3 zum Muster genommen hat2, ist der Vera in seiner entstellten Form sowohl in diese wie in alle modernen Faustausgaben übergegangen, die auf der Weimarer Ausgabe beruhen. Nur Düntzers Faustausgabe3, die sich auch sonst oft den älteren Drucken anschließt, bringt ihn in richtiger Gestalt. Die kritische Faustausgabe hätte hier also wie an mancher andern Stelle von der 'unkritischen' lernen können4. 1

Vgl. dazu W. Hagen, Erg. Bd 1, 42 Vgl. I 1 Vorbericht S. X X und oben S. 5ff. 8 Deutsche National-Literatur Bd 93 1 Herr Erich Neumann vom Thomas Mann-Archiv der Akademie macht mich nachträglich auf folgende Äußerung Schopenhauers aufmerksam: Am 24. 1. 1860 wendet sich der Schauspieler Clemens Rainer an Schopenhauer mit einer Anfrage, in der es heißt: „Göthe benutzte nach Seydelmanns Ausdruck diesen alten, wohlbekannten Teufel zu seiner wunderbaren Gestalt. Er that aber etwas hinzu, was ihn bedeutend modificirte, besonders durch den ihm beigelegten Zug, daß er als heilsames Ferment s c h a f f e n d wirken müsse. So redlich ich mich in das Werk Ihres Geistes zu vertiefen strebte, ist mir bis zur Stunde unerschlossen, wie viel von dieser Modification der Hinneigung des Dichters zum Hellenismus zuzurechnen sein möge." (A. Schopenhauers Sämtliche Werke Bd 15 = Der Briefwechsel Bd 2, 775). Schopenhauer antwortet am 24. 1. (ebd. 776): „Ich will versuchen, Ihre etwas unbestimmt gestellte Frage zu beantworten, so gut ich kann; obwohl ich zweifle, daß sich praktische Resultate daraus ergeben werden. — Ob das „und muß, als Teufel, s c h a f f e n " , d . h . wirken, einem gewißen Hellenismus oder wohl gar Optimismus, der Alles als zum Besten führend auffaßt, in Göthe's Ansicht, zuzuschreiben Bei, oder ob wirklich der Teufel, als Urheber des Uebels und Leidens indirekt zur Verneinung des Willens und dadurch zur Erlösung beitragend von ihm gedacht worden, vermag ich so wenig wie Sie zu entscheiden." Die Sperrung des Wortes „schaffen" stammt von Schopenhauer. Für ihn stand der positive Sinn von „schaffen" und die konzessive Bedeutung der Worte „als Teufel" also außer Frage. Allerdings war ihm das Verständnis des Verses noch nicht so schwer gemacht wie uns, da er ihn, wie das Zitat zeigt, noch mit der richtigen Interpunktion las. 2

R E N A T E FISCHER-LAMBERG

DER SCHLUSS DER KLASSISCHEN WALPURGISNACHT Die Faustforschung kennt bisher nur eine kritische Ausgabe von Goethes Faust, nämlich die 1888 im Rahmen der Weimarer Sophien-Ausgabe erschienene. Diese, von Erich Schmidt besorgte Ausgabe stellt eine editorische Glanzleistung dar, wenn man bedenkt, in welcher „Verwirrung und Verwahrlosung"1 die Goetheschen Handschriften sich damals befanden und in wie kurzer Zeit2 Text und Lesarten zum Faust vorgelegt wurden. Um den Ansprüchen einer historisch-kritischen Ausgabe ganz gerecht werden zu können, fehlten damals freilich noch die wichtigsten Hilfsmittel, vor allem die Publikationen von Goethes Tagebüchern und Briefen, die mit den dazugehörigen Registerbänden erst 1919 vollständig vorlagen. Erich Schmidt war also gar nicht in der Lage, ins einzelne gehende Datierungen zu Goethes Arbeit am Faust zu geben. Diese Aufgabe stellten sich später besonders Pniower3 und Gräf4, die Goethes eigene und fremde Zeugnisse zur Entstehung des Faust zusammenstellten und auswerteten. Die Zeugnisse sind jedoch oft so vage und allgemein formuliert, daß sie nur selten eine Grundlage für genauere Datierungen abgeben. Dieses Ziel einer exakten Datierung einzelner Faust-Szenen und -Verse konnte nur erreicht werden, wenn man das Quellenmaterial, das in den Fausthandschriften selbst liegt, verwertete. Untersuchungen in dieser Richtung sind nicht sehr zahlreich. Sie beginnen mit v. Loepers Faust-Edition5, die im Anhang einige Hinweise auf Handschriften bietet, die v. Loeper schon bekannt waren und von ihm teilweise zur Datierung ausgewertet wurden. Es folgt E. Schmidts Edition 1

Vgl. 115 2 , 4 * 1885 wurden die Handschriften für die Benutzung freigegeben und bereits 1888 konnten die beiden Abteilungen des 15. Bandes der Weimarer Ausgabe erscheinen. * Pniower, Goethes Faust. Zeugnisse und Excurse zu seiner Entstehungsgeschichte, Berlin 1899 4 H. G. Gräf, Goethe über seine Dichtungen II 2 s Goethe, Faust. Hrsg. G. v. Loeper, Zweite Bearbeitung, zweiter Theil, Berlin 1879

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R E N A T E FISCHER-LAMBERG

innerhalb der Weimarer Ausgabe, in deren Lesartenband er „alles was irgend wie zur Chronologie dienen kann.. . vermerkt" soweit, wie bereits erwähnt, die damals zur Verfügung stehenden Hilfsmittel es gestatteten2. Weitere Beiträge zu diesem Komplex hegen vor in den genannten Arbeiten von Pniower und Graf, die aber nur in ganz seltenen Fällen die Handschriften für ihre Datierungen zu Rate ziehen. Schließlich wären noch einige Einzeluntersuchungen von Düntzer3, Morris4, G. W. Hertz5 u. a. zu nennen. Auf dem von ihnen schon beschrittenen Wege einer chronologischen Auswertung der Handschriften mußte bei den Vorarbeiten für die FaustEdition der Akademie-Ausgabe weitergegangen werden. Die Verf. erhielt daher den Auftrag, alle chronologischen Indizien, die uns in den Fausthandschriften gegeben sind, zu sammeln, zu bestimmen und für die Entstehungsgeschichte von Faust II auszuwerten. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sollen in einem Ergänzungsband der Akademie-Ausgabe vorgelegt werden6. Der Aufgabenstellung gemäß lag das Schwergewicht auf einer exakten Beschreibung der vorhandenen Handschriften und auf der Auswertung der chronologischen Indizien, die durch diese selbst gegeben sind. Wir verstehen darunter 1. das Verhältnis der verschiedenen Fassungen von einzelnen Szenen und Versgruppen zueinander, aus denen sich die relative Chronologie der betreffenden Handschriften ergibt, 2. alle äußeren Indizien wie Papierart, Wasserzeichen, Heftung usw., und 3. die zahlreichen brieflichen und sonstigen Konzepte, die in den Handschriften mit Faustentwürfen verbunden sind. Diese zu identifizieren und für die Chronologie auszuwerten, war eine der Hauptaufgaben der Untersuchung. Die Gliederung der Arbeit war durch die von E. Schmidt in I 152 festgelegte Reihenfolge der Handschriften im wesentlichen gegeben; nur an einigen Stellen mußte von dieser Reihenfolge abgewichen werden, nämlich 1

115 2 , 8 * E. Schmidt gibt zu ca. 100 Blättern Hinweise auf Datierungsstützen (etwa bei der Hälfte mit Angabe eines Datums), während etwa 200 Handschriften des 2. Teils chronologische Indizien tragen. 3 H. Düntzer, Neues über Goethes Faust, Beilage zur Allgemeinen Ztg. IS. 12. 1899 4 M. Morris, Goethe-Studien, Berlin 2 1902; vgl. auch S.287 Anm. 3 u. 4 5 Vgl. S. 286 Anm. 4 und 287 Anm. 3 4 Ein Teil ist u. d.T.: „Untersuchungen zur Chronologie der Handschriften von Faust II 2 und 3" von der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität 1955 als Dissertation angenommen worden; vgl. das Autorreferat in Wiss. Zeitschrift der HumboldtUniversität zu Berlin. Gesellschafts- und sprachwiss. Reihe Jg. VI (1956/7) Nr. 2

Der Schluß der Klassischen Walpurgisnacht

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da, wo E. Schmidt ohne ersichtlichen Grund zwei nicht zusammengehörige Handschriften unter einer Nummer zusammenfaßt: hier wurden für die Zwecke dieser Untersuchung Trennungen etwa in H8 und H 8a vorgenommen. Im übrigen wurde jedes der fortlaufend gezählten Blätter einzeln beschrieben, und zwar ungeachtet der Bedeutung der auf ihnen überlieferten Verse oder Skizzen mit gleicher Ausführlichkeit. Jedes Konzept auf diesen Blättern, das nicht zum Faust gehört, wurde in seinem vollen Wortlaut wiedergegeben und seine Identifizierung versucht. Als Hilfsmittel standen dafür vor allem die vier Abteilungen der Weimarer Ausgabe mit ihren Registern zur Verfügung. In zahlreichen Fällen mußten jedoch auch die handschriftlichen Bestände des Goethe- und Schiller-Archivs herangezogen werden, so vor allem die Goetheschen Briefkonzepte und die „Eingegangenen Briefe", aber auch Handschriften zu anderen Werken, die der gleichen Schaffensperiode angehören. Besondere Schwierigkeiten bereitete dabei die Bestimmung zahlreicher Konzepte zu Oberaufsichtlichen Schreiben Goethes, da diese meist ungedruckt und ihre Originale zum weitaus größten Teil 1945 in Bad Sulza verbrannt sind. Doch konnten in einigen Fällen Aktenkopien herangezogen werden, die von den Herausgebern der Weimarer Ausgabe hergestellt wurden und jetzt im Goethe- und Schiller-Archiv verwahrt werden. Jeweils im Anschluß an die Beschreibung einer Handschrift1 und die Bestimmung ihrer chronologischen Indizien wird versucht, die Verse, die 1

Dabei verwende ich folgende Siglen- und Abkürzungen der Akademie-Ausgabe: Goethe Bleistift (erste, zweite Schicht) g (g1 ga) Goethe Tinte (erste, zweite Schicht) G (G1 G2) Goethe Rötel/Rotstift (erste, zweite Schicht) Y (Y1 Y2) r (r1 r2) Goethe rote Tinte (erste, zweite Schicht) b Bleistift t Tinte rö Rötel rt rote Tinte John Jo Reinschrift von Faust II R erg./Erg. ergänzt/Ergänzung Ergz. Ergänzungszeichen korr./Korr. korrigiert/Korrektur gestr. gestrichen r. o./u. rechts oben/unten 1. o./u. links oben/unten Blatt Bl. Bogen Bg.

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RENATE FISCHER-LAMBERG

auf diesen Blättern überliefert sind, zu datieren. Einen Einblick in die relative Chronologie geben dann Proben aus dem Variantenapparat. Um eine Vorstellung von der Methodik dieser Arbeit zu vermitteln, teilen wir hier ein besonders charakteristisches Beispiel aus dem 2. Akt mit, das zugleich ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte» der Klassischen Walpurgisnacht ist: H70 vierBll., graues Konzeptpapier, Wz. Stern über N 1/H über Stuetzerbach; Bl. 1 Foliobl.; Vs. (Abb. 5) 8347—8369 Jo nach Diktat (V. 8350 „unter Einsicht" st. „und der einzig") mit Korr. und Erg. (8362 in Spatium) g, 8370—8375, 8377—8378 erg. (?) Jo u. d. T. und a. 1. R., das Ganze gestr. b; Rs. (Abb. 6) 8379—8398, 8404—8407 Jo nach Diktat (vor 8391 „Doriten") m. Korr. g; 8399—8401 m. Ergz. a. 1. R.g, das Ganze gestr. b; Bl. 2 Quartbl.; Vs. (Abb. 7) 8408—8415 Jo m. Korr. g gestr. b; Rs. (Abb. 8) zwei Konzepte g, gestr. b; Bl. 3 Foliobl., von dem unten ein Streifen abgeschnitten ist; Vs. (Abb. 9) 8416—8425 Jo m. Korr. g, gestr. b; Rs. (Abb. 10) umgekehrt Konzept g und y, gestr. b; Bl. 4 Foliobl.; Vs. (Abb. 11) 8426—8448 Jo m. Korr. und Erg. (8440) gG gestr. b; Rs. (Abb. 12) 8449—8457 Jo m. Korr. und Erg. (8451 und 8457) gG gestr. b Um die Niederschrift der Verse auf H70 zeitlich zu bestimmen, müssen wir zunächst die Bll. 2 und 3 näher betrachten, da diese Konzepte tragen, die nicht zum Faust gehören und somit für die Datierung wichtig sind. Auf der Rs. von Bl. 2 (vgl. Abb. 8.) stehen zwei Konzepte. Von dem ersten läßt sich etwa folgendes entziffern: Der ich aufrichtifg] bekla[g]e Sie durch wid[er]h[o]lte Trau[er]falle in ein[er] Lage zu wissen wo auch das beste Gelingen nicht erheitert

Inhaltlich, wenn auch nicht wörtlich, entspricht diese Stelle der Schlußwendung von Goethes Brief an Wilmans vom 29.8.1830, wo es, nun positiver ausgedrückt, heißt: Mit Bedauern vernahm ich zugleich mit jener erwünschten Sendung den doppelt e n U n f a l l der Sie inzwischen betroffen. Möge eine fortgesetzte, durchErfolg würdig belohnte Thätigkeit Linderung und Trost gewähren.1

Man wird in der Annahme, daß es sich bei dem genannten Konzept wirklich um ein Vorkonzept zu diesem Brief an Wilmans handelt, dadurch be1

IV 47, 198 (Sperrung von mir)

Der Schluß der Klassischen Walpurgisnacht

283

stärkt, daß auch die Zeilen auf der Rs. von Bl. 2 (vgl. Abb. 8) vermutlich auf den 29. 8. 1830 zu datieren sind: Dieser Sendung theuerstfer] Man[n] füge nicht[s] hinzu da sie sich s[e]lbe[r] einführen mag und ein [? mein?] Schreiben das zugleich auf der Post abgeht das Nähe[re] erläut[ern wird] nur den schönsten Gruß an das werthe Paar, füge noch hinzu Gegenw[ärtig]es der Sorgfalt der H Parisch zu übergebfen] das de[nn] zu guter Stunde bald zu Ihnen gelafngen] möge

In den gedruckten Briefen Goethes hat sich kein Schreiben dieses Wortlauts nachweisen lassen. Wir müssen daher versuchen, aus dem Inhalt auf den Adressaten und das Datum der Absendung zu schließen: die Erwähnung des Handelshauses Parish legt die Vermutung nahe, daß es sich um das Begleitschreiben zu einem Paket an Carlyle handelt, denn diese Firma übernahm alle an Carlyle gerichteten Sendungen1; von Sendungen an andere Adressaten, die Goethe von Parish hätte erledigen lassen, wissen wir nichts. Auch die Erwähnung des „werthen Paars" spricht für Carlyle, da Goethe keinen Brief an diesen schloß, ohne dabei beider Gatten zu gedenken. Entscheidend für die zeitliche Fixierung des Konzepts ist die Angabe, daß ein zweites Schreiben „zugleich auf der Post abgeht" und „das Nähere erläutern" wird. Dieses beides trifft, soweit ich sehe, nur für einen der 1830 an Carlyle gesandten Briefe zu: Goethes Brief vom 14. 4.2 erläutert zwar eine Sendung, stellt diese aber erst für den Juni in Aussicht, ist also nicht „gleichzeitig"; für den Brief vom 6./7. Juni3 treffen zwar die Angaben zu, aber das Begleitschreiben ist erhalten4 und mit unserm Konzept nicht identisch; so bleibt nur der Brief vom 5. Okt.6, der eine „Erläuterung" zu der am 29. 8. abgegangenen Sendung enthält: er ist also zwar nicht „gleichzeitig" mit dieser, war aber nach Ausweis des Tagebuchs „lange liegen geblieben"6. Wahrscheinlich hatte er ursprünglich mit dem Paket „zugleich auf der Post" abgehen sollen und lag seit Ende August unter nicht abgesandten Briefen7. Diesen rekonstruierten Tatbestand bestätigen die Eintragungen der Agendaliste vom August 18308, in der der Name Carlyle zweimal auftaucht, aber nur einmal gestrichen ist — die zweite Notiz 1

Vgl. IV 42, 273 u. ö. IV 47, 16 fi. 3 Ebd. 89 ff. 4 Ebd. 102 ff. s Ebd. 276 ff. « 6. 10. 1830 (III 12, 313) 7 Der im Tgb. gleichzeitig erwähnte Brief an Zelter lag „schon viele Wochen" (IV 47,276) 8 III 13, 255 2

284

RENATE

FISCHER-LAMBERG

bezieht sich eben auf den Brief, der im August wohl angefangen wurde, aber „lange liegen" blieb und darum in der Liste nicht gestrichen werden konnte. Schließlich sei noch auf eine auffallende stilistische Übereinstimmung der beiden mutmaßlich am 29. 8. entstandenen oder begonnenen Briefe verwiesen : im vorliegenden Konzept schließt Goethe mit der Bemerkung, daß er „gegenwärtiges der Sorgfalt der H Parisch zu übergeben" vorhabe. Ebenso leitet er seine „Erläuterungen" zu dem am 29.8. abgegangenen Paket in dem Brief vom 5. 10. ein: „Das Gegenwärtige, gleichfalls der Sorgfalt Herrn Parish's Überlassene . . Z'1. Aus der Anordnung der drei Konzepte auf Bl. 2 von H70 läßt sich nicht ersehen, ob zunächst die Vs. mit den Faustversen von Jo und dann erst die Rs. von g verwendet wurde oder umgekehrt; beide Seiten sind jedoch, wie das Schriftbild deutlich erkennen läßt, erst nach der Trennung des vorliegenden Quartbl. von seinem ergänzenden Quartbl. beschrieben worden. Wir können also für die Niederschrift der V. 8405/15 zunächst nur ± 29. 8. 1830 als Entstehungsdatum angeben. Bevor wir eine genauere Datierung erwägen, müssen wir uns erst Bl. 3 zuwenden, das ebenfalls auf der Rs. (vgl. Abb. 10) ein nicht zum Faust gehörendes Konzept trägt. Dieses lautet: Die von H Dr Schr[ön] geleistete] Bea[rbei]tung dieser Angelegenheit, wodurch sie völlig ins Klare gesetzt ward, beyfalig auf zu nehmen gewesen

Es gelang, dieses Bruchstück mit einem Abschnitt aus einem Oberaufsichtlichen Schreiben zu identifizieren, das sich in den Aktenkopien nach „Acta Großherzogliche S. Oberaufsicht für Wissenschaft und Kunst. Die Sternwarte und Meteorologische Anstalt zu Jena betr."2 befindet. Dieses Schreiben stammt vom 2. 7. 1830 und ist an Dr. Schrön gerichtet. Da es ungedruckt ist, teilen wir es in seinem vollen Wortlaut mit: An den Inspector der Großherzoglichen Sternwarte Herrn Dr. Schrön. Da die Bedenklichkeiten wegen eines durch den Mechanikus Sieglitz reparirten Trougthonischen Theodoliten durch einen unter dem nächst vergangenen 26 Juni von dem Inspector der G. H. Sternwarte zu Jena H. Dr. Schrön, erstatteten ausführlich - und genügenden Bericht völlig gehoben worden, und aus demselben hervorgeht, „daß der Theodolit von Troughton durch die Reparatur des Mech. Sieglitz in einen so brauchbaren Zustand gesetzt sey, als es von einem Instrumente von dieser Größe und Bauart, unter den obwaltenden Umständen verlangt werden könne" und es daher der Billigkeit gemäß seyn möchte, das früher für diese Arbeit bedungene Honorar von dreyßig Thalern dem Künstler ungekürzt abreichen zu lassen sendet 1 1

IV 47, 276 Z. 24f. Tit. 10 N. 5 Bd. 5 1830. 1831

Der Schluß der Klassischen Walpurgisnacht

285

Man die ausgestellte Quittung an 15. Thlr. als die restirende Hälfte, autorisirt, zu völligem Abschluß des Geschäftes, hiemit zurück. Auch wird der ausgestellte Schein des Herrn Prof. Wahl, gedachten Theodoliten von Großherzoglicher Sternwarte leihweise erhalten zu haben vidirt zurück gesendet. Wobey Man nicht unterlassen kann zu bemerken: daß die, von H. Dr. Schrön geleistete Bearbeitung dieser Angelegenheit, wodurch sie völlig ins Klare gesetzt ward, mit entschiedenem Beyfall aufzunehmen gewesen. Weimar den 2. Jul. 1830.

Großherzoglich-S. Oberaufsicht pp

Den Entwurf zum Schlußsatz dieses amtlichen Briefes schrieb Goethe auf der Rs. von Bl. 3 unterhalb der erwähnten Schnittlinie nieder. Da die Durchstreichung des Briefkonzepts auf dem später hier abgeschnittenen Streifen weiterläuft, ist mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß das Konzept schon auf dem Blatt stand, als der Streifen noch nicht abgetrennt war. Diese Feststellung ist deswegen wichtig, weil der Streifen, wie über dem Schnitt liegende Buchstaben zeigen, auf der Vs. einige Zeilen getragen hat, die gewiß vor der Verwendung des Blattes für die Johnsche Reinschrift abgeschnitten wurden. Da das Briefkonzept der Rs. also vor der Abtrennung des Streifens anzusetzen ist, die Niederschrift der Faustverse auf der Vs. aber danach, so können wir das Datum des Briefkonzepts als terminus post quem betrachten und die Verse demnach+ 2.7.1830 datieren. Damit haben wir zwei der in H70 überlieferten Bll. datiert; Bl. 2 mit den V. 8408/15 und Bl. 3 mit V. 8416/25. Es fragt sich daher, ob wir diese Daten auch auf die Gesamthandschrift H70 anwenden dürfen, oder ob sie nur für die beiden genannten Bll. gelten. Dies würde zutreffen, wenn die beiden Bll. nachträglich ergänzt wären und die vorliegende Reinschrift zunächst nur Bl. 1 und 4 umfaßt hätte. Daß dies nicht der Fall ist, wird auf anderem Wege deutlich: gegen Schluß von Bl. 1 fragen die Doriden den Nereus, ob sie die dem Strande abgewonnenen Jünglinge „unsterblich. . . an ewiger Jugendbrust" halten dürfen. Und zu Beginn von Bl. 4 ruft Nereus aus: „Vorüber sie ziehen vorüber". Es fehlte also die Antwort auf der Doriden dringliche Frage und das Erscheinen der Galatee, das Voraussetzung für den Schmerzensausruf des Nereus ist. Wir sehen daraus, daß die V. 8408/25 auf den Bll. 2 und 3 nicht nachträglich ergänzt sind, sondern von Anfang an zu dem Manuskript gehört haben, wofür auch das durchaus einheitliche Schriftbild spricht (vgl. die Abb. 5 bis 12). Da wir eines der datierbaren Bll. + 2. 7. 1830 ansetzen, gilt dieser terminus post quem also auch für die ganze Hs. Man kann aber wohl noch weiter gehen: da das Tagebuch zwischen dem 2. 7. und dem 29. 8. (dem Datum der Briefkonzepte auf Bl. 3) von keiner produktiven

286

R E N A T E FISCHER-LAMBERG

Arbeit am Faust berichtet, kann man + 29. 8. 1830 für die ganze Hs. H 70 als wahrscheinliche Entstehungszeit annehmen1. Diesem Ansatz scheinen aber zwei Goethesche Aussagen zu widersprechen: am 25. 6. 1830 meldet er seinem Sohn, daß „die Walpurgisnacht . . . völlig abgeschlossen" sei2, und ebenso berichtet er Eckermann am 9. 8., „daß die classische Walpurgisnacht zu Stande gekommen, oder vielmehr in's Grenzenlose ausgelaufen ist"3. Nach diesen Briefen wäre die Klassische Walpurgisnacht also vor dem 25. 6. bzw. 9. 8. 1830 abgeschlossen. Dieser allgemein angenommenen Tatsache war 1913 schon G. W. Hertz in seiner Schrift „Goethes Naturphilosophie im Faust"4 entgegengetreten. Da sich seine Ausführungen zum Teil mit den Ergebnissen decken, die wir auf Grund unserer Untersuchungen an H70 gewonnen haben, müssen wir an dieser Stelle näher auf seine Theorie eingehen: nach Hertz ist Goethe zur dichterischen Gestaltung des Meeresleuchtens am Schluß der Walpurgisnacht durch eine Untersuchung von Ehrenberg über „Organisation, Systematik und geographisches Verhältnis der Infusionstierchen" und eine Studie von Michaelis über „Das Leuchten der Ostsee" angeregt worden6. Über beide Themen war auf der Hamburger Tagung deutscher Naturforscher und Ärzte Anfang Oktober 1830 gehandelt worden. Goethe hatte durch Huschke und Froriep darüber Berichte empfangen und am 21. Oktober 1830 auch Ehrenbergs Schrift erhalten6. Hertz verweist ferner auf einen Brief des Grafen Sternberg vom 29. 10. 30, in dem dieser eine Exkursion nach Helgoland schildert7, die nach Goethes Bekenntnis seine „Einbildungskraft... in jene Gegenden versetzt . . . und . . . mit Felsen und 1

Dem Einwand, daß die drei Briefkonzepte ebensogut erst nach Abschluß der vorliegenden Fausthandschrift niedergeschrieben sein können, ist entgegenzuhalten, daß es höchst unwahrscheinlich ist, daß Goethe aus einer zusammenhängenden Folge von Bll., die auch noch in seinem Nachlaß zusammen vorgefunden wurden, ein Bl. Anfang Juni herausnimmt, um die freie Rs. für ein Briefkonzept zu verwenden, es zurücklegt und acht Wochen später denselben Vorgang mit einem anderen Bl. dieses Ms.'s wiederholt. Und schließlich wäre zu fragen, warum John nicht auch auf Bl. 2 und 3 die Rs. beschreibt, wenn diese Rss. damals noch frei waren? 2

IV 47, 112

3

Ebd. 171 Wiederholt u. d. T.: „Der Schluß der Classischen Walpurgisnacht" in GRM 7, 1915 und „Natur und Geist in Goethes Faust" 1931 (Dt. Forschungen Bd 25) S. 163fF. Seitenangaben im folgenden nach der Fassung von 1931 1

5

a. O. 171 ff.

• a.O. 173 7

Briefw. Goethe-Sternberg S. 224 Nr. 67 (Bratranek)

Der Schluß der Klaasischen Walpurgisnacht

287

Wellen, Schiffen und Abenteuern eine Zeitlang beschäftigt" hat1. Wie Goethe selbst bestätigt, griff er diese Fäden nach der Wiederherstellung vom Blutsturz (25. 11. 30) wieder auf, so daß der Schluß des zweiten Akts (V. 8445ff.) nach Hertz 2 ,,in den Tagen vom 2. bis 17. Dezember entstanden ist." Dieser im wesentlichen naturwissenschaftlich begründeten Ansicht trat noch in demselben Jahre Morris entgegen3, indem er vor allem die von Hertz angedeuteten Beziehungen zwischen Homunkulus und Helena bestritt. Er verwies außerdem auf die Faustblätter H 69 und H72, auf denen die nach Hertz erst später entstandenen Verse 8445—8487 mit den vorangehenden „in wirrem Durcheinander" stehen. Das hatte auch Hertz gesehen und zu beweisen gesucht, daß jene erst nach halbjähriger Pause auf den Blättern nachgetragen wurden, was wenig überzeugend ist. Morris hatte sich aber in seiner ersten Entgegnung ein gewichtiges Argument entgehen lassen, die uns hier interessierende Handschrift H 70 : diese enthält nämlich, wie Morris in seiner schließlichen „Antwort"4 dann auch hervorhebt, in fortlaufender Niederschrift die Verse 8347—8457, ohne daß sich an der von Hertz hervorgehobenen Stelle, also nach V. 8444, ein Bruch feststellen ließe. Daraus mit Morris zu schließen, daß die ganze Hertzsche Theorie hinfällig sei, wäre allerdings voreilig. In Wirklichkeit läßt sich daraus nur schließen, daß nicht nur die von Hertz angenommenen Verse 8445—8475, sondern, wie wir oben sahen, die ganze Versgruppe 8347—8487 erst im Dezember 1830 entstanden ist. So ist auch der von Morris vorgebrachte Einwand, daß H69 und H72 Verse aus den beiden von Hertz angenommenen Schichten in wirrem Durcheinander enthalte, hinfällig, denn beide Versgruppen gehören einer Ergänzungsschicht an5. Wenn es sich bei dieser späten Ergänzung zur Klassischen Walpurgisnacht um eine Neudichtung von 140 Versen handelt und nicht nur um 40 nach Hertz, dann erklärt sich auch die Gewichtigkeit des Ausrufs in Goethes Brief an Zelter vom 1.4.1831: „Die zwey ersten Acte von Faust sind fertig. Die Exclamation des Cardinais von Este, womit er den Ariost zu ehren glaubte, möchte wohl hier am Orte sein. Genug! Helena tritt zu Anfang des 1

Ebd. 228 Nr. 69 = IV 48, 69 a. O. 179 3 Euphorion 20, 1913, 215ff.; vgl. die Erwiderung von Hertz ebd. 582ff. 4 Ebd. 585 6 Tatsächlich entspräche dies auch mehr dem Goetheschen Gebrauch, als das wirre Durcheinander zeitlich voneinander getrennter Entwürfe. 1

288

R E N A T E FISCHER-LAMBERG

dritten Acts, nicht als Zwischenspielerin, sondern als Heroine, ohne weiteres auf." 1 Diese Worte sind tatsächlich eine Bestätigung für unsere These, denn wie hätte Goethe Anfang 1831 eine solche Erleichterung über den Abschluß des zweiten Aktes empfinden können, wenn dieser tatsächlich seit dem Juni des vergangenen Jahres abgeschlossen vorgelegen hätte 2 ! Wir fassen zusammen: die Brief konzepte auf H70 verweisen die Niederschrift der von John geschriebenen Faustverse dieser Handschrift in die Zeit nach dem „völligen Abschluß" der Klassischen Walpurgisnacht im Juni 1830.Das Tagebuch verzeichnet bis zum 2. 12. keine Arbeit am „Hauptgeschäft". In teilweiser Übereinstimmung mit G. W. Hertz datieren wir daher die abschließenden Arbeiten am zweiten Akt in die Zeit zwischen dem 2. und 17. Dezember 1830. Da H 70 mit der Nereusrede V. 8346ff. einsetzt, hat die Klassische Walpurgisnacht ursprünglich mit den Versen 8345 f. Unser Fest, es ist vollendet, Heitre Wonne voll und klar!

geendet, die ja auch einen deutlichen Abschluß bezeichnen. Die Begegnung des Nereus mit Galatee, das Auftreten der Psyllen und Marsen, der Doriden und Jünglinge wäre dann erst eine Schöpfung des Dezembers 1830. Davon bleibt die Tatsache unberührt, daß die „Drachen und Meerpferde" und der „Muschelwagen der Venus" bereits im Schema vom 6. 2. 18303 erwähnt werden, das heißt also, daß der heutige Schluß der Klassischen Walpurgisnacht in seinen Umrissen schon von Anfang an geplant war: Goethe verzichtete im Juni 1830zunächst auf die vollständige Ausführung seines Themas — der zweite Akt drohte ja „in's Grenzenlose" auszulaufen — um den Abschluß erst im Dezember des gleichen Jahres so zu gestalten, wie er uns heute vorliegt. Inwieweit dabei Augusts Tod, die Erkrankung des Dichters im November4 und die Anregungen von Sternberg, Ehrenberg und Michaelis mitgewirkt haben, ist eine Frage, die über den Rahmen dieser Arbeit hinausgeht. Zur Illustration der Entwicklung der in H70 überlieferten Verse wählen wir hier V. 8370 aus; er erscheint in folgenden Varianten: H 71 H 69 - 1

Stum geschäftig scheuen Leise geschäftig scheuen Leise geschäftig scheuen Wir Leise geschäftig scheuen

gl g2 g1 g2

1

I V 48, 72

2

Gegen Hertz* Hinweis auf diesen Brief vermag auch Morris nichts vorzubringen. Paralip. 125; vgl. auch Paralip. 124 Vgl. oben S. 287 und Hertz a. O.

a 4

Der Schluß der Klassischen Walpurgisnacht jj7o R

Wir leise geschäftig scheuen

Jo

Wir leise Geschäftige scheuen

g

289

Wir, leise Geschäftige scheuen Jo Wir leise Geschäftigen scheuen G

Um die zahlreichen Einzelergebnisse, die auf diese Weise durch die Untersuchung von über 300 Fausthandschriften gewonnen werden, dem Benutzer leichter zugänglich zu machen, wird zum Schluß jeweils eine graphische Darstellung gegeben. In ihr werden Verse und Daten in einem Koordinatensystem vereinigt, das auch den praktischen Zwecken der Edition dienen soll und das mit einem Blick erkennen läßt, in wie vielen und welchen Handschriften ein Vers oder eine Versgruppe auftritt, wann und in welchen Handschriften noch vorhandene Lücken geschlossen werden und wie die Aufeinanderfolge mehrerer Handschriften zu einer bestimmten Variantengruppe zu denken ist. Die Y-Achse repräsentiert dabei die Daten, die X-Achse die Verse. Der Umfang einer Handschrift ist durch eine w a a g e r e c h t e Linie dargestellt, die nur an den Stellen unterbrochen ist, an denen die Handschrift Lücken aufweist. Ergänzungen innerhalb einer Hs. sind durch Ausbuchtungen nach unten angezeigt. Die s e n k r e c h t e n Striche zeigen an, daß eine Hs. in eine nachfolgende übernommen worden ist, sie sind durchgezogen bis zu der waagerechten Linie derjenigen Hs., in die die darüberstehende eingeht. Die Höhe, in der ein waagerechter Strich angebracht ist, entspricht dem links stehenden Datum. Findet sich auf der entsprechenden Höhe keine Zeitangabe, so können aus der Stellung dieses waagerechten Strichs innerhalb des Stemmas nur dann Schlüsse auf die Entstehungszeit der entsprechenden Hs. gezogen werden, wenn eine darüber- oder darunterliegende Hs. gleiche Verse trägt, so daß deren Datum als terminus post quem oder terminus ante quem betrachtet werden kann. Um ein Beispiel zu geben, drucken wir abschließend hier das Stemma ab, in dem die von uns untersuchte Handschrift H70 in ihren Beziehungen zu ihren Vorstufen und der Reinschrift dargestellt ist:

8484-8487



8470-8483

jr¡

¡tí f

8469 8466-8408 8464 — 8465

S

8458-8463 8457

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8456 8454-8455 8453 8452

1

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8445 - 8 4 5 0

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8444 8442 - 8443

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8438-8439

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8427-8431

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8408-8415

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8404-8407 8402-8403 8399-8401



8379-8398

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8377-8378

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8376 8370

1

8375

8363-8369 8362

1

8359-8361

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8347-8358

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W E R K E GOETHES Herausgegeben von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin unter Leitung von E R N S T GRUMACH Jugendwerke Band 1: Dramen und dramatische Szenen (1757 —1773) Bearbeiter: HANNA FISCHER-LAMBERG 1953, V, 353 Seiten — gr. 8° Band 2: Dramen und dramatische Szenen (1774—1775) 1953. V, 295 Seiten - gr. 8° Band 3: Prosaschriften (1757 — 1775) 1956. VIII, 305 Seiten — 21 Lichtdrucktafeln — gr. 8° Band 4: Überlieferung und Lesarten Die Leiden des jungen Werthers Band 1 : Text (Paralleldruck der 1. und 2. Fassung) Bearbeiter: ERNA MERKER 1954. VIII, 313 Seiten — 2 Abbildungen - gr. 8° Band 2 : Uberlieferung und Lesarten Bearbeiter: WALTRAUD HAGEN

Ganzleinen DM 10,— Ganzleinen DM 8,— Ganzleinen DM 23,— In Vorbereitung

Ganzleinen DM 12,— In Vorbereitung

Götz Ton Berlichingen Band 1 : Die Geschichte Gottfriedens von Berlichingen — Götz von Berlichingen (Paralleldruck) Bearbeiter: JUTTA NEUENDORFF-FÜRSTENAU Ganzleinen DM 26,50 1958. IV, 2 X 293 Seiten - gr. 8° Egmont Band 1 : Text Bearbeiter: ELISABETH VÖLKER 1957. IV, 160 Seiten - gr. 8° Band 2 : Überlieferung und Lesarten

Ganzleinen DM 12,— In Vorbereitung

Torquato Tasso Band 1 : Text Bearbeiter: LIESELOTTE BLUMENTHAL 1954. VI, 240 Seiten - gr. 8°

Ganzleinen DM 9,50

Band 2 : Überlieferung und Lesarten

In Vorbereitung

Faust Band 1 : Urfaust — Faust. Ein Fragment (Paralleldruck mit einem Faksimile der Göchhausenschen Handschrift) Bearbeiter: ERNST GRUMACH 1954. VI, 96 Liohtdruckseiten — 2 X 149 Seiten — 1 Abbildung — Ganzleinen DM 19,50 gr. 8°, Band 2: Der Tragödie Erster Theil Bearbeiter: ERNST GRUMACH - INGE JENSEN 1958. IV, 242 Seiten — gr. 8° Ganzleinen DM 12,50 Band 3 : Der Tragödie Zweyter Theil In Vorbereitung Band 5 : Überlieferung und Lesarten (zu Band 1—2) In Vorbereitung

Dramen und dramatische Szenen vor der Jahrhundertwende (1788—1799) Band 1: Text Bearbeiter: ILSE-MARIE KÜMMEL Teil 1: 1958. VI, 383 Seiten — gr. 8° Ganzleinen DM 18,— Teil 2: 1958. VI, 276 Seiten — Lichtdrucktafeln — gr. 8° Ganzleinen DM 12,— Band 2: Überlieferung und Lesarten In Vorbereitung West-östlicher Divan Band 1: Text Bearbeiter: ERNST GRUMACH 1952. IV, 248 Seiten - gr. 8° Band 2: Noten und Abhandlungen 1952. IV, 208 Seiten — gr. 8° Band 3: Paralipomena 1952. VIII, 294 Seiten — 37 Lichtdrucktafeln — gr. 8° Band 4: Überlieferung und Lesarten

Ganzleinen DM 18,50 Im Druck

Epen Band 1: Text Bearbeiter: SIEGFRIED SCHEIBE 1958. IV, 318 Seiten - gr. 8° Band 2: Überlieferung und Lesarten

Ganzleinen DM 1 8 , Im Druck

Wilhelm Meister Band 1: Wilhelm Meisters theatralische Sendung Bearbeiter: RENATE FISCHER-LAMBERG 1957. IV, 380 Seiten — gr. 8° Band 4 Lief. 1: Überlieferung und Lesarten (zu Band 1)

Ganzleinen DM 1 8 , I m Druck

Ganzleinen DM 8,50 Ganzleinen DM 6,50

Schriften zur Literaturgeschichte Band 1: Text Bearbeiter: KLAUS BAUMGÄRTNER

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Schriften zur Kunsttheorie und Kunstpädagogik Band 1: Text Bearbeiter: ERICH MATER

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Ergänzungsband 1: Die Gesamt- und Einzeldrucke von Goethes Werken Bearbeiter: WALTRAUD HAGEN 1956. XV, 154 Seiten - gr. 8°

Ganzleinen DM 20,—

Ergänzungsband 3 : Urfaust — Faust. Ein Fragment — Faust. Der Tragödie Erster Theil (Paralleldruok) Bearbeiter: ERNST GRUMACH - INGE JENSEN 1958. IV, 260 Seiten — 1 Falttafel — gr. 8° Ganzleinen DM 26,—

Bestellungen, durch eine Buchhandlung erbeten

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