Beiträge zur Entstehung des Staates [3., unveränderte Auflage, Reprint 2021]
 9783112538487, 9783112538470

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BEITRÄGE ZUR ENTSTEHUNG DES STAATES

BAND 1

VERÖFFENTLICHUNGEN des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der D D R HERAUSGEGEBEN VON

JOACHIM

HERRMANN

BEITRÄGE ZUR ENTSTEHUNG DES STAATES

HERAUSGEGEBEN VON

JOACHIM HERRMANN UND

IRMGARD SELLNOW

J., unveränderte Auflage

AKADEMIE-VERLAG 1976

BERLIN

Redaktion: Burkhard Böttger

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1973 Lizenznummer: 202 • 100/126/76 • P 257/75 Einband und Schutzumschlag: Nina Striewski Herstellung. VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza Bestellnummer: 7522236 (2153/1) • LSV 0415 Printed in GDR EVP 2 6 , -

Vorbemerkungen

In den „Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie" werden in lockerer Folge Arbeiten erscheinen, die größere Bereiche der frühen Geschichte und Kulturgeschichte der Menschheit zum Gegenstand haben. Es ist dabei an Handbücher und Gesamtdarstellungen ebenso wie an Problemuntersuchungen, die aus der Sicht verschiedener Fachrichtungen in interdisziplinärer Zusammenarbeit betrieben werden, und an Werke über die regionale Geschichte und Kulturgeschichte gedacht. Dem hier vorgelegten ersten Band „Beiträge zur Entstehung des Staates", von Vertretern mehrerer Einzeldisziplinen wie Rechtsgeschichte, Indologie, Sinologie, Altorientalistik, Griechische Geschichte, Ur- und Frühgeschichte und Völkerkunde ausgearbeitet, wird die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung der Ur- und Frühgeschichte Polens aus der Feder von Witold Hensel folgen. Weiterhin sind ein zweibändiges Handbuch zur Geschichte und Kultur der Germanen in Mitteleuropa, ein Abriß zur Weltgeschichte bis zur Herausbildung des Feudalismus sowie eine zweibändige Kulturgeschichte der griechischrömischen Antike in Vorbereitung — Vorhaben, die das angestrebte Profil der Veröffentlichungsreihe ebenso deutlich erkennen lassen wie das Verhältnis, in dem diese Schriftenreihe zu den anderen, vorwiegend von den Arbeitsergebnissen einzelner Disziplinen getragenen Veröffentlichungsreihen des Zentralinstituts steht, insbesondere zu den „Schriften zur Ur- und Frühgeschichte", den „Schriften zur Geschichte und Kultur des Alten Orients" sowie den „Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike". Joachim Herrmann

Inhalt

Vorwort

9

Werner Sellnow (Berlin) Marx, Engels und Lenin zu dem Problem der Staatsentstehung

13

Burchard Brentjes (Halle) Zu einigen Schlußfolgerungen aus den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels zur Entstehung des Staates im Alten Orient

27

Horst Klengel (Berlin) Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien

36

Thomas Thilo (Berlin) Zum Problem der Staatsentstehung in China

56

Walter Buben (Berlin) Uber den Beginn des altindischen Staates

73

Heinz Kreißig (Berlin) Die Bedeutung der sogenannten Richterzeit für die Staatsentstehung bei den Hebräern

82

Heinz Geiß (Berlin) Die Herausbildung des Staates in der minoischen Periode — Möglichkeiten und Tendenzen

92

Gabriele Bockisch und Heinz Geiß (Berlin) Beginn und Entwicklung der mykotischen Staaten Gabriele Bockisch (Berlin) Die Entstehung des Staates der Lakedaimonier

104 .

123

Irmgard Sellnow (Berlin) Zur Bolle der Volksmassen im Prozeß der Staatsentstehung. Ein Beitrag auf der Grundlage ethnographischen Materials

134

Bruno Krüger (Berlin) Auflösungserscheinungen gentilgesellschaftlicher Produktionsverhältnisse bei den germanischen Stämmen in den Jahrhunderten um die Zeitenwende

147

8

Inhalt

Joachim Hermann (Berlin) Allod und Feudum als Grundlagen des west- und mitteleuropäischen Feudalismus und der feudalen Staatsbildung 164 Sergej Sergeeviß Sirinskij (Moskau) Objektive Gesetzmäßigkeiten und subjektiver Faktor bei der Entstehung des altrussischen Staates 202 Bruno Widera (Berlin) Die Entstehung des russischen Staates Kiewer Bus

222

Irmgard Sellnow (Berlin) Bürgerliche Theorien über Staat und Staatsentstehung

235

Vorwort1

Die in diesem Band zusammengefaßten „Beiträge zur Entstehung des Staates" sind aus Referaten und Diskussionen hervorgegangen, die während eines Kolloquiums des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR im November 1970 gehalten •worden sind. Das Kolloquium war dem Gedenken des 150. Geburtstages von Friedrich Engels und des 100. Geburtstages von Wladimir Iljitsch Lenin gewidmet. An der Veranstaltung nahmen über 100 Wissenschaftler verschiedener Disziplinen teil, deren Forschungsgegenstand die vorkapitalistischen Gesellschaftsordnungen sind. Es kam Veranstaltern und Teilnehmern darauf an, die Ergebnisse von Forschungen zur Staatsentstehung über die verschiedensten Gebiete der Welt auf der Grundlage eines fast täglich und oftmals unerwartet anwachsenden Quellenmaterials zur Diskussion zu stellen. Die Frage des Staates und der Staatsmacht ist in der Gegenwart der Drehpunkt aller politischen Geschichte und war es seit der Herausbildung der Klassengesellschaft überhaupt. Der Staat ist nicht einfache Reflexion der sozialökonomischen Entwicklung der Gesellschaft, der Basis der Gesellschaft, also der objektiven Voraussetzungen und Grundlagen der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern Institutionalisierung des subjektiven Faktors der Gesellschaft — der Klassen und des Klassenkampfes. „Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittels seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klassen." 2 Der Staat, in den Ausbeutergesellschaften Machtorgan der herrschenden Klasse, spielte und spielt folglich eine höchst aktive Rolle in der Geschichte — eine revolutionäre Rolle in der Aufstiegsphase einer Gesellschaftsordnung, als 1

2

Auf der Grundlage der Ausführungen zur Eröffnung des Kolloquiums „Probleme der Staatsentstehung" am 17. und 18. November 1970 in Berlin sowie des Schlußwortes. F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: MarzEngels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 166f.

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Vorwort

Mittel zur Durchsetzung der sozialen Revolution gegenüber den Überresten der politisch überwundenen alten Gesellschaft. Der Staat verkörpert aber auch die reaktionärsten Züge und Bestrebungen der herrschenden Klasse, setzt sie in brutale Gewalt um gegenüber den unterdrückten, aufstrebenden Klassen und gegenüber den Elementen einer neuen Gesellschaftsordnung, die im Schöße der alten sich zu bilden beginnen, und gegenüber revolutionären Klassen. Die bestimmenden Wirkungen, die vom Staat als der wichtigsten Institution des gesellschaftlichen Überbaus auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie der Ideologie, der Kultur- und Kunstentwicklung, der Denk- und Lebensweise der Gesellschaft ausgehen, sind daher darauf gerichtet, die gesellschaftliche Bewegung und Entwicklung im Interesse der herrschenden Klasse zu leiten, zu kanalisieren oder wenigstens die Herrschaft dieser Klasse zu stabilisieren. Der Staat steht mithin im Zentrum der Entwicklung der Gesellschaft bis in unserer Zeit, und die Verschleierung seines wahren Wesens war eines der Hauptanliegen der herrschenden Ausbeuterklassen der Vergangenheit und ist es in der Gegenwart stärker denn jemals zuvor. Lenin betrachtete „die Frage des Staates (als) eine der verwickeisten und schwierigsten . . . und von den bürgerlichen Gelehrten, Schriftstellern und Philosophen wohl am schlimmsten verwirrte . . ." 1 . Diese Kompliziertheit veranlaßte F. Engels u. a. nach den praktischen Erfahrungen der Pariser Kommune, den Klassenkämpfen der siebziger und achtziger Jahre im neugeschaffenen Bismarckreich unter dem Sozialistengesetz und unter den Bedingungen der bonapartistischen Sozialgesetzgebung Bismarcks zu einer zusammenhängenden, tiefgreifenden historischen Untersuchung über das Wesen des Staates in seinem Buch über den „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" im Jahre 1884. „Für unsere Gesamtanschauung wird das Ding, denke ich, besondere Wichtigkeit haben . . .", schrieb F. Engels an Kautsky am 20. 4. 1884.2 W. I. Lenin bezeichnete gerade unter dem Gesichtspunkt der Analyse der Staatsfrage dieses Buch von F. Engels als „eines der grundlegenden Werke des modernen Sozialismus"3. J e klarer die revolutionären Klassen in der Geschichte die Frage des Staates, seinem wahren Wesen entsprechend, behandelten, d. h. die bisher herrschenden Klassen politisch entmachteten und ihren eigenen Staat errichteten, um so tiefgreifender und wegweisender für die menschliche Geschichte wurde in der Regel ihre Revolution. J e größer die Utopie und Unkenntnis in der Staatsfrage, um so verkrüppelter, oftmals mit Niederlagen endend, verliefen die revolutionären Erhebungen der objektiv zur Herrschaft berufenen Klassen. Die zentrale Bedeutung der Staatsfrage in der proletarischen Revolution veranlaßte W. I. Lenin, im Revolutionsjahr 1917 in Vorbereitung der Großen » W. I. Lenin, Über den Staat, in: Werke Bd. 29, Berlin 1970, 460. 2 Marx-Engels, Werke Bd. 36, Berlin 1967, 142. 3 Lenin, Über den Staat, 463.

Vorwort

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Sozialistischen Oktoberrevolution das Werk „Staat und Revolution" auszuarbeiten, die Ergebnisse der Arbeiten von Marx und Engels über Geschichte und Wesen des Staates dem kämpfenden Proletariat in Erinnerung zu bringen und für die Fortführung der bürgerlich-demokratischen Revolution in die proletarische Revolution weiterzuentwickeln. Unter den Bedingungen der Gegenwart, in der die Zahl der Völker ständig zunimmt, die den Weg des antiimperialistischen Kampfes und der sozialistischen Revolution, ausgehend von verschiedenen Traditionen und unter verschiedenen Bedingungen, beschritten haben, ist die Erkenntnis des Wesens des Staates durch die revolutionäre Weltbewegung eine dringende Aufgabe. Die verschiedenen Beiträge des Bandes setzen sich die Herausarbeitung der Genesis des Staates, seiner Organe und seiner Bedeutung im Übergang zur Klassengesellschaft in den verschiedenen Gebieten der Erde und unter verschiedensten historischen Bedingungen sowie die Bestimmung der Rolle des Staates für den Geschichtsprozeß der frühen Klassengesellschaften zum Ziel. Sie versuchen, neue Erkenntnisse aus der Untersuchung des historisch-konkreten Geschichtsprozesses und in der historischen Verallgemeinerung vorzulegen. Dieses Anliegen schließt ein, daß sich die Autoren bewußt der Kritik und der Diskussion ihrer Auffassungen aussetzen. Für Lenin galt die Frage des Staates als „eine so fundamentale Frage der gesamten Politik", daß „jeder Mensch, der sie ernsthaft durchdenken will . . . , mehrmals an sie herantreten" 1 muß. Die „Beiträge zur Entstehung des Staates" wollen in diesem Sinne verstanden sein. Joachim Herrmann

1

Lenin, Über den Staat, 461.

Marx, Engels und Lenin zu dem Problem der Staatsentstehung von

W E B N E B SELLNOW

(Berlin)

Das Problem der Staatsentwicklung hat fast ständig im Mittelpunkt der wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen gestanden. Die Wichtigkeit, die man der Entstehung des Staates beimaß, wurde von den verschiedenen Klassen verschieden gewertet. Die Völker des alten Orients hatten in den Stiftern des Staates und des Rechts den Göttern verwandte Heroen gesehen. Die katholische Kirche lehrte, daß der Staat seine Legitimation von Gott erhalten habe, und unterschied sich damit kaum von den archaischen Theodizeen. Demgegenüber waren die philosophischen Denker der antiken Staaten bestrebt, eine rationale Erklärung für die Entstehung der Staaten zu finden; und ebenso gab es viele katholische Denker des Mittelalters, die dem Glauben zuwider auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Erklärung waren. Aber alle diese Versuche mußten notwendigerweise an den historisch bedingten Grenzen der Erkenntnistheorie, der Erkenntnismöglichkeit und der begrenzten Erfahrung Halt machen. Die Stufenleiter ihrer Ergebnisse wurde zu notwendigen Sprossen in der Vorgeschichte der Wissenschaft des dialektischen und historischen Materialismus. Die Klassiker des dialektischen und historischen Materialismus haben, wie die Klassiker der bürgerlichen Philosophie, auf den engen Zusammenhang hingewiesen, der zwischen der Geschichts- und Gesellschaftserkenntnis und der praktischen und historischen Staatswissenschaft besteht. Hegel hatte sein ganzes gewaltiges Lehrgebäude im Staate enden lassen. Er ließ die ganze Menschheitsgeschichte in seinen als notwendig und vernünftig gedachten Idealstaat einmünden. Später, nach der Kapitalisierung der größten Staaten der Erde, verzichtete die offizielle Gesellschaftswissenschaft auf die Frage nach der Legitimation des Staates und damit auch nach der historischen Begründung und der Zukunft des Staates. Die Existenz des bürgerlichen Staates genügte dem Positivismus vollauf, um seinen Ausbau und seine praktische Politik durchzusetzen. Die Empirie schien über die Geschichte zu siegen. Dieser Zustand in der Geschichtsbetrachtung dauerte jedoch nicht lange an. Mit der Existenz des bürgerlichen Staates erschien der unabweisbare Gegner: das Proletariat. Dieses Proletariat mußte den historischen Charakter des bürger-

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W E B N E B SELLNOW

liehen Staates nachweisen, wenn es diesen Staat zerstören wollte; und dieser Nachweis mußte aus der Geschichte entnommen werden. Damit war von selbst die Frage nach der Entstehung des Staates abermals in den Vordergrund gerückt. So kam es, daß Marx und Engels inmitten der heftigsten Klassenkämpfe ihre Studien über die Entstehung der Gesellschaft und des Staates bis zu einer neuen Geschichtsauffassung, dem historischen Materialismus, vorantrieben, um die historische Entwicklung der unterdrückten Klassen, und hier besonders der Arbeiterklasse, sowie die unumgängliche Auflösung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und ihres Staates zu beweisen. Wir müssen uns nun fragen, warum wir unseren jetzigen Diskussionen um die Staatsentstehung eine solche Bedeutung beimessen und warum die Lösung dieser Frage so wichtig ist, ob dieses oder jenes historische Moment, dieses oder jenes historische Faktum für die Erkenntnis der Staatsentstehung noch wesentliches beizutragen vermag. Untersuchungen zur Entstehung von Staaten setzen ein System von Erkenntnisgruppen voraus. Neben der Ethnologie, der Archäologie, der Linguistik und vielen anderen Spezialwissenschaften wird aber allzu häufig dieses System der Erkenntnistheorie nicht zur Anwendung gebracht. So werden z. B. Logik, Dialektik und Methodologie der Geschichtswissenschaft als bekannt vorausgesetzt und mit dem zu untersuchenden Gegenstand zusammen nicht weiter entwickelt oder mechanistisch angewendet, jedoch wird dabei nicht beachtet, daß z. B. die bewußte Anwendung logischer Prinzipien nicht nur die Geschichtswissenschaft bereichert, sondern auch die Logik selbst. Die Schwierigkeit beginnt schon mit der Anwendung der Begriffe. Die Begriffe „Staat", „Recht", „Religion", „Eigentum" usw. werden manchmal ohne genaue Prüfung der historischen Epochen oder Erscheinungen verwendet, womit die größten Irrtümer verbunden sein müssen, bevor die eigentliche Untersuchung überhaupt begonnen hat. Marx schrieb einmal, daß die englischen Ökonomen wiederholt das Werkzeug für eine Maschine und die Maschine für ein zusammengesetztes Werkzeug gehalten hatten. Hinzu kam noch, daß sie als Kriterium für die Werkzeuge den Menschen als Bewegungskraft und" für die Maschine Naturkräfte wie Tier, Wasser, Wind usw. annahmen, was überraschenderweise einen mit Ochsen bespannten Pflug des Sklavenzeitalters als eine Maschine und den Rundwebstuhl, der von der Hand eines Arbeiters betrieben wurde, als ein bloßes Werkzeug klassifizierte. Dieser gleiche Webstuhl aber würde sich in dem Augenblicke, wo er mit Dampf bewegt wurde, in eine Maschine verwandeln.i Hätten die englischen Denker die Begriffe der Ökonomie mit historischen Entwicklungsgesetzen verbunden und dann in eine logische Bestimmung gebracht, wäre ihnen eine solche nur mechanisch-materialistische Begriffsbestimmung nicht unterlaufen, dann wäre ihr Ausgangspunkt, nämlich die Physik, in ein System von Prinzipien und Begriffen einbezogen worden. 1

Marx-Engels, Werke Bd. 23, Berlin 1962, 391-392.

Marx, Engels und Lenin zu dem Problem der Staatsentstehung

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Besonders Lenin war es, der auf Logik und Dialektik hinwies. Er hat die Dialektik als eine Lehre „von der Entwicklung in ihrer vollständigsten, tiefgehenden und von Einseitigkeit freiesten Gestalt" bezeichnet und als „die Lehre von der Relativität des menschlichen Wissens, das uns eine Widerspiegelung der sich ewig entwickelnden Materie gibt" 1 . Um einen Gegenstand wirklich zu erkennen, setzte Lenin an anderer Stelle dieses Problem fort, „muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und .Vermittlungen' erfassen und erforschen", außerdem aber verlange die dialektische Logik die Betrachtung der Gegenstände in ihrer Entwicklung und Veränderung. Das dritte Kriterium Lenins, das bei der Behandlung gerade historischer Begebenheiten, wie es die Entstehungsgeschichte des Staates darstellt, besonders zu beachten ist, besteht in der möglichst vollständigen Definition des Gegenstandes oder der historischen Vorgänge. Nach Lenin sollte in dieser Definition die „ganze menschliche Praxis", was in diesem Falle eine Zusammenfassung möglichst aller materiellen und geistigen institutionellen Fakten und Einrichtungen bedeutet, enthalten sein, um die praktische Determination des Zusammenhanges eines Gegenstandes mit seinen Zwecken und Bedürfnissen aufzuklären. Lenin hatte seine Dialektik in folgenden Punkten zusammengefaßt: Sie ist Bewegung des Lebens und des Geistes; sie enthält das „Zusammenfallen der Begriffe des Subjekts", d. h. des Menschen mit der Realität und bildet den „Objektivismus in höchster Potenz" 2 . Die Dialektik der Geschichte hat zudem noch einen spezifischen Aspekt. Sind in der Naturwissenschaft Regelmäßigkeiten der zeitlichen Abläufe zu beobachten und ist daher das Problem der Gesetzmäßigkeit und Klassifizierbarkeit der Ordnungen leichter verifizierbar, so fällt dieses typische Merkmal für die Geschichtswissenschaft fort. Friedrich Engels ging auf diese Frage einmal näher ein. „In der Geschichte der Gesellschaft dagegen", schrieb er, „sind die Wiederholungen der Zustände die Ausnahme, nicht die Regel, sobald wir über die Urzustände der Menschen, das sogenannte Steinalter, hinausgehen; und wo solche Wiederholungen vorkommen, da ereignen sie sich nie genau unter denselben Umständen. So das Vorkommen des ursprünglichen Gemeineigentums am Boden bei den sogenannten Kulturvölkern und die Form seiner Auflösung" 3 . Diesen Umstand der Geschichte, nämlich die UnWiederholbarkeit der gleichen historischen Erscheinungen, haben die klassischen Vertreter des Agnostizismus und des Skeptizismus, besonders Kant und Hume, zum Ausgangspunkt ihrer Begründung von der Nichterkennbarkeit der Geschichte genommen. Kant hatte, von der Relativität der Erkenntnis der Wahrheit ausgehend, nur die absolute Wahrheit als unerkennbares Ding an sich formuliert, während die englischen Skeptiker von Locke bis Hume entweder nicht über die Erfahrung oder nicht über die relative Wahrheit hinausgehen wollten. » Lenin. Werke Bd. 19, Berlin 1968, 4-5. Lenin, Werke Bd. 38, Berlin 1970, 221. 3 Marx-Engels, Werke Bd. 20, Beriin 1962, 83. 1

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WEENKB SELLNOW

Kant verzichtete auf die absolute Wahrheit und der Skeptiker Hume auf die objektive. Lenin hat aber, Marz und Engels folgend, gerade auf der Anerkennung der objektiven in der relativen Wahrheit bestanden. Er forderte dies innerhalb der Erkenntnistheorie, aber auch für die Dialektik der Geschichte. Er sah ein besonderes Kennzeichen des Reformismus innerhalb der Arbeiterbewegung darin, die Kriterien der Wahrheit in der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung zu leugnen1. Nach dem heutigen Stande der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften zu urteilen, wird auch hier die Planbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklung mehr und mehr anerkannt. Jedoch geschieht dies weniger aus Gründen einer verbesserten Einsicht in die theoretischen Ergebnisse des historischen Materialismus und der Anerkennung der historischen Gesetzmäßigkeit, sondern aus der Situation ihrer eigenen kapitalistischen Gesellschaft heraus. Die Vergesellschaftung der Produktion hat einen solchen Grad erreicht, daß ohne eine systematische Ordnung in Baum und Zeit die wirtschaftlichen und politischen Bewegungen sich nicht mehr durchführen lassen. Diesem Umstand folgend muß in der Praxis von der Regulierbarkeit der Entwicklung ausgegangen werden, wobei sich aber die bürgerliche Geschichtswissenschaft immer noch auf einem Stande vor Hegel befindet, der diese Einsicht in die Dialektik bereits vor 150 Jahren nicht aus spontanem Druck, sondern durch wissenschaftliche Einsicht gewonnen hatte. Um so mehr gehen nun heute die Auseinandersetzungen um die Triebkräfte der historischen Entwicklung weiter. Lenin bemerkte schon, daß die bürgerliche Wissenschaft ökonomische, politische und moralische Faktoren für die Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung ins Feld führt. Heute, unter der Bedingung der technischen Revolution, der Einbeziehung der Kybernetik und und neuer technischer Errungenschaften, werden die Entwicklungstendenzen einseitig aus diesen Bereichen entnommen, um aus der Regelmäßigkeit technischer Vorgänge gesellschaftliche Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Bekanntlich liegen hier einige der theoretischen Begründungen der Konvergenztheorie. Die einseitige Hervorhebung der Produktivkräfte oder Produktionsmittel ohne die Anerkennung der Wirksamkeit und Priorität der Produktionsverhältnisse für die gesellschaftliche Entwicklung führt in der Untersuchung des Staates zu einem Auseinanderreißen der wichtigsten Faktoren der Produktionsweise und im Gefolge davon zu einer Verschiebung des Verhältnisses von Basis und Überbau in der Weise, daß Staat und Recht unmittelbares Ergebnis technisch-materieller Entwicklungstendenzen werden, wobei die Klassenbeziehungen völlig ignoriert werden — eine theoretische Position also, die schon vor 70 Jahren von den Katheder Sozialisten eingenommen wurde. Gerade diese bürgerlichen Theoretiker gaben vor, von der Wirtschaft auszugehen, wobei sie aus dem Begriff „Wirtschaft" absichtlich die Eigentums' Lenin, Werke Bd. 33, Berlin 1966, 463.

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beziehungen herausließen, um so aus der Wirtschaft einen technologischen Funktionalismus zu machen. Lenin hatte schon in seinen ersten Arbeiten um 1895, also zur Zeit der Kathedersozialisten, dem entgegengehalten, daß die Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung das „Ergebnis eines bestimmten Systems von Produktionsverhältnissen" darstellen. Die Lehre von den Produktionsverhältnissen als Basis der gesellschaftlichen Entwicklung ist zugleich die Lehre von den Widersprüchen und Klassenkämpfen als letztlich treibendem Element der gesellschaftlichen Entwicklung. Lenin stellte einmal fest, daß die ökonomische Struktur der Gesellschaft, d. h. das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsmitteln zu den Produktionsverhältnissen, den Inhalt darstellt, während das innere Gefüge der Politik und die Ideologie die entsprechende Form dieser ökonomischen Struktur ausdrückt; und er wies ferner darauf hin, daß die konkrete Orientierung in der historischen Untersuchung nicht nur bei einer „Einschätzung der Klassen" bleiben könne, sondern auch die Institutionen zu berücksichtigen habe.1 Die entscheidendste und wichtigste Institution, die es unmittelbar mit den Produktionsverhältnissen, den Klassen, dem Staat und dem Recht zu tun hat, ist ohne Zweifel das Eigentum. Entscheidende gesellschaftliche Widersprüche, selbst solche zwischen den herrschenden Klassen, gingen von Eigentumsverhältnissen aus oder aber endeten mit Eigentums Veränderungen. Der Übergang von der klassenlosen zur Klassengesellschaft und von einer Form der Klassengesellschaft zu einer anderen Form ist zugleich die Geschichte des Entstehens und Vergehens des Privateigentums. „Die Grundlage des Privateigentums bildet die im Entstehen begriffene Spezialisierung der gesellschaftlichen Arbeit und die Veräußerung der Produkte auf dem Markt" 2 , schrieb Lenin zu dieser Frage. Die materielle Vereinzelung der Warenproduzenten fand ihren Ausdruck in der Institution des Privateigentums. 3 „Das Privateigentum", schrieben Marx und Engels zum gleichen Problem, „entfremdet nicht nur die Individualität der Menschen, sondern auch die der Dinge" 4 . Das Verhältnis, das sich zwischen den Eigentümern sowohl untereinander als auch gegenüber den Nichteigentümern herausbildete und das letztlich in Klassen seinen Niederschlag fand, dieses Verhältnis wird das Eigentumsverhältnis genannt. 5 Das Eigentum, und insbesondere das Privateigentum, trat in seinen frühesten Formen keineswegs als eine Institution auf, die dem gentilgesellschaftlichen Gemeinwesen diametral entgegenstand. Es gab vielmehr sehr viele objektive Momente, wie z. B. die Spezialisierung der Handfertigkeiten und der Werkzeuge, die Teilung der Berufe, die Verfestigung von Nutzungsland und Gütern usw., die Lenin, Werke Lenin, Werke 3 Ebenda. « Marx-Engels, 5 Lenin, Werke 1 2

2

Bd. 24, Berlin 1959, 14. Bd. 1, Berlin 1961, 145. Werke Bd. 3, Berlin 1958, 212. Bd. 30, Berlin 1972, 449.

Staatsentstchung

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eine bestimmte Höhe der Produktion bedingten. Das separierte Eigentum bildete sodann eine dauernde ökonomische Grundlage innerhalb der verschiedensten Formen des Gemeinwesens, „wie sie ihrerseits bestimmte Formen des Gemeinwesens zur Voraussetzung haben". Die Umbildung von persönlichem Eigentum in Privateigentum konnte nach Marx nur durch Usurpation geschehen sein1, wobei nicht unbedingt an eine blutige Okkupation gedacht werden muß. In den meisten Fällen waren in der betreffenden Zeitspanne z. B. die tributalen Abgaben nicht durch gemeinsames Übereinkommen, sondern durch direkte oder indirekte Gewalt beschlossen und eingetrieben worden. Das Entstehen von Privateigentum mußte auf gesellschaftlichen Grundlagen beruhen, die den gentilen Verhältnissen entsprachen. Die Entwicklung der Werkzeuge und der gesellschaftlichen Kooperation in der Arbeit, bei der Jagd, im Fischfang, in der Errichtung der Wohnstätten usw. hatten mit Notwendigkeit die Herausbildung spezifischer Verhältnisse nach sich gezogen, die in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung geregelt wurden. Lenin schrieb dazu, daß in diesen Verhältnissen, die ja der Bedürfnisbefriedigung der gentilen Menschen dienten, die Erklärung „für alle Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens, der menschlichen Bestrebungen, Ideen und Gesetze" zu suchen sei2. Die Entwicklung der Produktivkräfte erzeugte eben solche Verhältnisse, die nach und nach sich fest verankerten und deren Separation die ganze Gesellschaft in Interessengruppen mit gesonderten materiellen Grundlagen zerschnitt. Wenn solche Verhältnisse und Einrichtungen beständig blieben und fest verankert wurden, dann, so schrieb Engels, „stellt sich das Bedürfnis ein, die täglich wiederkehrenden Akte der Produktion, der Verteilung und des Austausches der Produkte unter einer gemeinsamen Regel zu fassen, dafür zu sorgen, daß der einzelne sich den gemeinsamen Bedingungen der Produktion und des Austausches unterwirft". 3 Diese Regeln, die sich hier unter den Augen der Gesellschaft herausbildeten, wurden gemäß der Evolution der Produktion verändert, modifiziert und letztlich neu bestimmt. Solange die gesamte Gesellschaft auch ein Gesamtbedürfnis innerhalb dieser Verhältnisse fand, solange bedurften diese Regeln weder einer Legitimation noch einer speziellen Sanktion. Bei der langsamen Entwicklung der urgesellschaftlichen Verhältnisse wurden diese Regeln so sehr von dem gesellschaftlichen Bewußtsein aufgenommen und getragen, daß die Datierung dieses Anfanges der Regeln heute nicht mehr nachweisbar ist. Die ältesten Völker hatten den Beginn solcher Regeln häufig in magische und übernatürliche Fernen gerückt und sich nur noch in ihren Riten der Urheber erinnert. Diese Beziehungen, die sich in dieser Zeit herausbildeten, wurden deshalb in Regeln gefaßt, weil sie sich innerhalb der Gesellschaft zu Verhältnissen entwickelten. Diese Verhältnisse stellen Beziehungen von unterschiedlichen Inter» Marx-Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1958, 348. a Lenin, Werke Bd. 2, Berlin 1970, 8. 3 Marx-Engels, Werke Bd. 18, Berlin 1962, 276.

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essengruppen mit einer relativen Selbständigkeit dar. Die Kontinuität der Verselbständigung war eine Voraussetzung für die Notwendigkeit ihrer Regelung. Die gentile Gesellschaftsform konnte diese Regelung nur solange in der traditionalen Weise vornehmen, wie die Gruppierungen selbst mit der Gentilordnung übereinstimmten. Nun blieben diese Verhältnisse nicht auf der traditionalen Gesellschaftsform stehen. Die Entstehung von Privateigentum bewirkte, daß sich aus gentilen Verhältnissen politische Verhältnisse entwickelten; politische Verhältnisse deshalb, weil die Spaltung der alten Gemeinschaft zugleich ihre Auflösung bedeutete. Der aufkommende Widerspruch in den alten Verhältnissen änderte nicht nur den Charakter dieser Verhältnisse, sondern auch die Organisationsform. Die -Verhältnisse wurden politischer Natur, weil der Widerspruch unter den Interessengruppen die Gesellschaft in ihrer entscheidendsten Sphäre, nämlich in der gesellschaftlichen Produktion, traf und die Umwandlung der Gruppen in Klassen nach sich zog. Solange nun die entstandenen Klassen noch innerhalb der alten Gentilordnung wirkten, reichten die alten Normierungen aus. Die neue Klasse der Privateigentümer muß am Anfang natürlich an Zahl und Einfluß gering gewesen sein und wird noch in der Verwendung des Mehrprodukts zumindest zum Teil älteren gentilen Bedürfnissen gedient haben. Sehr häufig war die Möglichkeit, das Mehrprodukt produktiv anzuwenden, überhaupt nicht gegeben, und folglich diente es der individuellen Konsumtion und der gentilen Repräsentation nach außen und innen. Dennoch war der Beginn der Ausbeutung entweder durch Anwendung von wirtschaftlich abhängigen Gentilgenossen in der Produktion, durch Auferlegung tributaler Abgaben oder durch Erwerbung von Beute an Menschen und Grund und Boden usw. gegeben, und die damit entstehenden Verhältnisse waren nun nicht mehr lange mit den Normen gentiler Prägung zu vereinbaren. Da die Masse der Gentilgenossen die Sanktion der neuen Verhältnisse infolge vorangegangener struktureller Auflösung nicht verhindern konnte, wurde es auch möglich, die alten traditionalen Normen durch positive Normen zu ersetzen. Unter dem Begriff „positive Normen oder Gesetze" darf nicht der moralische Begriff im Gegensatz zu „negativ" verstanden werden. Dieser Begriff ist aus der Rechtsterminologie entnommen und besagt, daß diese Normen von einer gesetzgebenden Körperschaft oder einem Gesetzgeber stammen, meistens in einem System von Rechten enthalten sind, sich an einen namentlich genannten Personenkreis wenden und eine bestimmte Dauer besitzen. Da solche positiven Normen durchgesetzt werden sollen und müssen, gibt es einen Apparat, der jeden Verletzer dieser Normen mit Sanktionen bedroht und bestraft. In der Gentilgesellschaft gab es vor ihrer Verfallzeit keinen besonderen stabilen Apparat, der die traditionalen Normen durchsetzte. Diese traditionalen Normen waren von der Gemeinschaft anerkannt und wurden bei Verletzung durch die Gemeinschaft exekutiert. Es kam dabei vor, daß zur Schlichtung von Streitigkeiten ein Gremium gewählt oder ausgesucht wurde, das Urteile im

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Sinne der traditionalen Ordnung aussprach. Es kam auch vor, daß zur Exekution von Urteilen zeitweilig besondere Männer ausgewählt und mit Machtvollkommenheiten versehen wurden. Aber alle diese Gentilmitglieder, die in dieser Art von Gerichten und Polizeidiensten tätig wurden, blieben bis zur Auflösung dieser Gentilformationen nur sporadische Erscheinungen und traten nach dem speziellen Fall wieder in die Masse der Gentilmitglieder zurück. Anders war es in der Zeit der Auflösung der Gentilgesellschaft. Weder die Widersprüche noch das Privateigentum blieben sporadischer Natur. Im Gegenteil. einmal ins Leben gerufen, begannen sie sich zu verfestigen. Da es zumeist mit einer besonderen Erbregelung und der Dauernutzung von Land, Wasser, Früchten usw. begann, lief die Herausbildung des Privateigentums mit der Heraussonderung der Einzelfamilie parallel. So kam die Umgestaltung von traditionalen Normen zu gentilpolitischen Normen, die das Privateigentum und alle mit ihm im Zusammenhang stehenden Verhältnisse begünstigten, keineswegs überraschend und keineswegs unbemerkt. Und genauso führte die Gesellschaft von nun an Institutionen ein, die diese Normen ausarbeiteten, die die Widersprüche mittels dieser gentilpolitischen Normen schlichteten und durch besondere Helfer zur Anwendung brachten. Diese Institutionen wurden zu gentilpolitischen Institutionen und bildeten die notwendigen Zwischenstufen zur Herausbildung des Staates. Die Umbildung der gentilen, auf blutsverwandtschaftlichen Beziehungen beruhenden Gesellschaft zur politischen Gesellschaft, die durch sachlich bedingte Widersprüche sowie diesen Widersprüchen angepaßte gesellschaftliche Organisationsformen charakterisiert ist, wurde nicht minder auch durch historische Gegebenheiten, wie z. B . durch interethnische Beziehungen, Dauer und Stabilität ethnischer Verbände (z. B . bei Inselvölkern), freie oder unfreie Lebensweise (Kolonialismus) usf. mitbestimmt. Aus allen diesen Gründen und Ursachen entwickelten sich die Institutionen des Staates und des Rechts nicht gleichzeitig und auch nicht gleichmäßig, sondern ungleich und in verschiedenen Formen und Erscheinungen. Da die bisherige Entwicklung immer mit dem Hauptzweck, nämlich der Sicherung des Lebens der gentilen Gemeinschaft, Hand in Hand gegangen war, so traten auch die neugebildeten Institutionen des Staates und des Rechts sowohl als Vollzieher gesamtgesellschaftlicher Belange als auch als Erweiterer gesellschaftlicher Interessen auf. In seiner Polemik gegen Bulganow wies Lenin mit allem Nachdruck den Rousseauschen paradiesischen Zustand zurück 1 und verwies gerade auf die ökonomische Lage der Gentilzeit. Die Hauptschwierigkeit in der Beurteilung des Überganges zum Staat bildet die Einschätzung der Macht oder Gewalt. Die bürgerliche Wissenschaft hatte zwei Hauptrichtungen hervorgebracht. Die eine Richtung sah in der Urgemeinschaft einen harmonischen Edelzustand, die andere von vornherein einen patriarchalischen Staatsverband. Die erste Richtung schob die Entwicklung zum Staat 1

Lenin, Werke Bd. 5, Berlin 1966, 105.

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auf die psychische Entartung der Menschen, die andere ging von dem Ordnungsprinzip aus und ließ den Staat aus der väterlichen Gewalt der Familien hervorgehen. Beide Richtungen gingen von der Existenz von Klassenstaaten als dem Normalzustand aus. Nach der ersten bürgerlichen Ansicht wurde der Staat notwendig, um den Verfall der Gesellschaft aufzuhalten, nach der zweiten, um ihn nicht eintreten zu lassen. Später haben die bürgerlichen Ethnologen die Entstehung des Staates sehr wohl mit der Existenz des Privateigentums in Verbindung gebracht, aber dann die Untersuchung nicht auf die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung gestützt. Sie hatten das Privateigentum mit der These von der Präformation der monogamen Ehe an den Anfang gestellt. Nun ist es aber eine nicht zu bestreitende Tatsache, daß es in jeder Gesellschaftsform, und auch in der gentilen, eine öffentliche Gewalt gegeben hatte. Lenin schrieb einmal, wie wichtig „die Herrschaft der Sitten", die Autorität, Achtung und Macht, die die „Ältesten der Geschlechterverbände" besaßen, in dieser Zeit •waren.1 Diese öffentliche Gentilgewalt bildete sich unter dem Einfluß des entstehenden Privateigentums und ihrer klassenmäßigen Repräsentanten in eine Privatgewalt, eine Klassengewalt um. Es waren die neuen Verhältnisse innerhalb der gesellschaftlichen Produktion, die eine Änderung der Machtverhältnisse nach sich zogen. Die neuen Produktions- und Eigentumsverhältnisse bedingten neue Machtverhältnisse. Lenin, auf Marx fußend, hat auch auf diesen Qualitätswechsel der Macht hingewiesen. Es ist also nicht das Kennzeichen des Staates, daß er eine Gewalt zur Seite hat. „Zwangsgewalt", schrieb Lenin, „gibt es in jeder menschlichen Gesellschaft, in der Gentilverfassung so gut wie in der Familie; einen Staat jedoch hat es hier nicht gegeben"2. Es gibt natürlich keinen Staat ohne Gewalt, aber nicht jede Gewalt ist mit der Staatsgewalt gleichzusetzen oder zieht sie zwangsläufig nach sich. Da es nicht die Natur des Menschen ist, die einen Staat notwendig macht, und sich andererseits die öffentliche Gewalt auch nicht von selbst umgestaltet, muß die Notwendigkeit des Staates eben dort liegen, wo auch die Notwendigkeit für die bisherige öffentliche Gewalt lag, nämlich in der Produktion und ihren Verhältnissen. Die gentile Gewalt war nicht notwendig, um eine sogenannte Ordnung zu erhalten, sondern die gentile Ordnung war notwendig, um die materielle Sicherheit der Gemeinschaft zu gewährleisten. Änderte sich die materielle Basis der Gemeinschaft, so änderte sich auch die Lebensweise und -Ordnung und damit der Inhalt und die Form der Gewalt. Es lohnt sich, hier ein Zitat aus einem Brief von Karl Marx an Annenkow aus dem Jahre 1846 zu bringen. Seinerzeit schrieb Marx: „Was ist die Gesellschaft, welche immer auch ihre Form sei? Das Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen. Steht es dem Menschen 1

Lenin, Werke Bd. 29, Berlin 1970, 464. 2 Lenin, Werke Bd. 1, Berlin 1961, 434.

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frei, diese oder jene Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. Setzen Sie einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus, und Sie erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs (commerce) und der Konsumtion. Setzen Sie bestimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des Verkehrs und der Konsumtion voraus, und Sie erhalten eine entsprechende soziale Ordnung, eine entsprechende Organisation der Familie, der Stände oder der Klassen, mit einem Wort, eine entsprechende Gesellschaft (société civile). Setzen Sie eine solche Gesellschaft voraus, und Sie erhalten eine entsprechende politische Ordnung (état politique), die nur der offizielle Ausdruck der Gesellschaft ist" i. Um also die Staatsorganisation stabilisieren zu können, bedarf es einer ganzen Reihe vorgebildeter gesellschaftlicher Zustände, Bewegungen und Einrichtungen. Selbstverständlich wurde hier und dort, besonders unter dem Einfluß höher entwickelter Nachbarn oder eines kolonialen Einflusses, der> Versuch unternommen, den Staat zu bilden, ohne daß die nötigen Voraussetzungen bereits vorhanden waren. Aber die Geschichte lehrt den baldigen Verfall solcher Staaten und die Wiederherstellung entwicklungsbedingter Einrichtungen. Bei der Entstehung von Staaten mußte auf jeden Fall eine Klassenscheidung vorhanden sein. Lenin äußerte sich dazu in folgender Weise : „Kennzeichen des Staates ist also das Vorhandensein einer besonderen Klasse von Personen, in deren Händen sich die Macht konzentriert. Eine Gemeinschaft, in der alle ihre Mitglieder der Reihe nach der ,Organisation der Ordnung' vorständen, würde natürlich niemand als Staat bezeichnen 1 können"2. Diese Klassenentwicklung ist aber nicht auf eine reine Willensbildung oder eine bloße Zusammenfassung von Menschen zurückzuführen, sondern auf die Ökonomie der Gesellschaft. Marx, Engels und Lenin haben sich übereinstimmend über diese Entwicklungszusammenhänge immer wieder geäußert und versucht, gerade hier der bürgerlichen Theorie gegenüber den materialistischen Standpunkt durchzusetzen. Die Herausbildung von prästaatlichen Institutionen begann fast ebenso unauffällig wie die von Privateigentum. Das Privateigentum trat über das Familieneigentum, das persönliche Eigentum und die Berechtigung einzelner Personen der Familien zur Nutzung von Gemeineigentum seinen Weg an. Die Evolution der Arbeitsteilung, zunächst mit der einfachen Form der Bearbeitung desselben Stück Landes anfangend und gefolgt von der langsamen Separierung der einzelnen Familienverbände, führte im Laufe der Entwicklung unmittelbar zur Dauernutzung von Grund und Boden und damit auch zur Intensivierung des Bodenbaues und der Herausbildung besonderer interfamiliarer Formen der Zusammenarbeit sowie zu neuen Formen der Stammeskooperation. Diese Entwicklung vurde durch die Ausbreitung von Handel und Handwerk noch weiter gefördert ; daraus ergab sich die Notwendigkeit, die Frage der produktiven Konsumtion neu zu regeln. Das konnte die Gesamtbewirtschaftung von Wasser, 1 2

Marx-Engels, Werke Bd. 27, Berlin 1963, 452. Lenin, Werke Bd. 1, Berlin 1961, 434.

Marx, Engels und Lenin zu dem Problem der Staatsentstehung

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Land, Wäldern und Weiden betreffen, aber auch den Bau von Verkehrswegen und -mittein, den Handel mit jeweils bestimmter Produktion, die Verteilung von Kriegsbeute usw. Die Gruppe von Menschen, die sich mit solchen Aufgaben befaßte, tat dies am Anfang sowohl mit der Zustimmung der Lokalgemeinschaft als auch mit völliger Legitimation aller Mitglieder des Stammesverbandes. Mit der Existenz des Privateigentums, unabhängig davon, ob der Ausgangspunkt die Vorherrschaft einer besonders hervorgehobenen Familie, eine besonders günstige Verkehrslage oder das Vorkommen von Erden, Metallen oder Hölzern auf ihrem Grund und Boden war, begann sogleich eine Monopolisierung in Produktion und Handel. So bildete sich auch die prästaatliche Organisation, ganz gleich, ob es sich um Funktionen der Wirtschaft, der Ideologie oder der Politik handelte, zu einer Monopolinstitution um, deren Absetzung und Beeinflussung durch die Masse der Stammesangehörigen nach und nach unmöglich wurde. Diesen Zeitraum der historischen Entwicklung haben sowohl Marx und Engels als auch Lenin wie folgt dargestellt. Marx schrieb: „Die bisherigen Produktionsverhältnisse der Individuen müssen sich ebenfalls als politische und rechtliche Verhältnisse ausdrücken. Innerhalb der Teilung der Arbeit müssen diese Verhältnisse gegenüber den Individuen sich verselbständigen" An anderer Stelle stellte Marx fest: „Daß man in der Tat unter ,Staat' die Regierungsmaschine versteht oder den Staat, soweit er durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eigenen Organismus bildet . . ." 2 . Engels bemerkte dazu: „Wir sahen, daß ein wesentliches Kennzeichen des Staates in einer von der Masse des Volks unterschiedenen öffentlichen Gewalt besteht" 3 . Lenin formulierte folgendes: „Wenn wir die sogenannten religiösen Lehren, Spitzfindigkeiten, philosophischen Konstruktionen, die mannigfaltigsten Meinungen, die die bürgerlichen Gelehrten austüftelten, beiseite lassen und der Sache wirklich auf den Grund gehen, so sehen wir, daß der Staat auf nichts anderes hinausläuft als eben auf einen solchen, aus der menschlichen Gesellschaft herausgehobenen Begierungsapparat. Mit dem Aufkommen einer solchen besonderen Gruppe von Menschen, die nur damit beschäftigt ist zu regieren und die zum Regieren einen besonderen Zwangsapparat, einen Apparat zur Unterwerfung des Willens anderer unter die Gewalt benötigt — Gefängnisse, besondere Formationen von Menschen, das Heer usw. —, taucht der Staat auf" 4 . Es wurde schon gesagt, daß bereits präformative Einrichtungen verschiedentlich Staats- und Rechtscharakter trugen. Diese Einrichtungen waren jedoch noch immer in der Gesamtverfassung der Gentilgemeinschaft tätig. Obwohl sie schon einen Staatscharakter trugen, stellten sie dennoch noch nicht den Staat selbst dar. Gewiß bildeten sie nicht mehr Organisationen der Gentilgemeinschaft, 1 2 ^

Marx-Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1958, 347. Marx-Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, 29. Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 115. Lenin, Werke Bd. 29, Berlin 1970, 456.

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auch dann nicht, wenn sie der Form nach traditionaler Herkunft waren. Sie entsprachen jedoch deshalb noch nicht Staatsorganisationen, weil sie entweder nur vereinzelt oder nur sporadisch tätig wurden. Man könnte sie deshalb als gentilpolitische Einrichtungen bezeichnen, während die alten Einrichtungen gentiltraditionale Einrichtungen darstellten. Diese gentilpolitischen Institutionen unterschieden sich von den staatlichen Institutionen in mehrfacher Hinsicht. Zum ersten mußten diese letzteren Einrichtungen ausschließlich Instrumente der Klasse der Privateigentümer, zweitens positiv gesetzt sein und drittens ein System von Einrichtungen bilden, die sowohl die Ökonomie als auch die Politik und Ideologie in den gesellschaftsentscheidenden Positionen beherrschten. Die Widersprüche zwischen den Klassen mußten den Stand der Unüberwindbarkeit erreicht haben. Erst von dieser Epoche an kann man von einem Staat sprechen. Der Inhalt des Staates besteht von nun an ausschließlich in der Aufrechterhaltung des Privateigentums und der Sicherung des Akkumulationsradius auf erhöhter Reproduktionsleiter, der Aufrechterhaltung des Klassenwiderspruchs und der Ausbeutung. Hierzu haben Marx, Engels und Lenin gleichfalls ihre Ansichten niedergelegt. Engels schrieb: „Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaume zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflkt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch zur politisch herrschenden Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse" 1 . Lenin, bezugnehmend auf Engels' „Ursprung der Familie" und auf die Beziehung von Staat und Klassen hinweisend, stellte fest: „Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann undinwiefern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind" -. Und an anderer Stelle fügte Lenin hinzu: „Die Geschichte zeigt, daß der Staat als besonderer Apparat der Zwangsanwendung gegen Menschen erst dort und dann entstanden, wo und wann die Teilung der Gesellschaft in Klassen in Erscheinung trat — also eine Teilung in Gruppen von Menschen, von denen die einen sich ständig die Arbeit der andern aneignen können, wo der eine den andern ausbeutet"3. Diesen Ausbeutungszustand aufrechtzuerhalten und die Klassen- und Produktionsverhältnisse zu stabilisieren, bedurfte der Staat eines vorgebildeten Instruments. Dieses wichtige Instrument sowohl zur Aufrechterhaltung der Klassenordnung als auch des gesamten gesellschaftlichen Verkehrs war das Recht. Das Recht ist eine Zwangsnorm, aber nicht jede Zwangsnorm ist zugleich eine Rechtsnorm. Der Zwang ist nicht die Haupteigenschaft des Rechts. Das Charakteristikum des Klassenrechts besteht in der Normierung zum Schutze des Eigentums und damit der Produktionsverhältnisse. Das Eigentum selbst ist 1 2

Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 166-167. Lenin, Werke Bd. 25, Berlin 1960, 399. Lenin. Werke Bd. 29, Berlin 1970, 465.

Marx, Engels und Lenin zu dem Problem der Staatsentstehung

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ein Verhältnis von Menschengruppen untereinander. Es setzt diese Menschengruppen in ein bestimmtes Verhältnis zu Sachen und Leistungen. Die Gegenstände selbst, um die es sich hier handelt, sind klassenneutral. Der Grund und Boden, der Pflug oder ein kompliziertes Werkzeug konnten in der privaten oder der gesellschaftlichen Produktion ausgenutzt oder tätig werden. Wird das Produkt dieser Tätigkeit zur Ware, dann geht es in die gesellschaftlichen Widersprüche ein, weil es als Privateigentum auf dem Markt erscheint und von den Gesetzen der Warenproduktion beherrscht wird. Das Privateigentum an einer Sache besteht in einem gesellschaftlichen Verhältnis deshalb, weil seine Anerkennung durch Gesetze sanktioniert wird, d. h. weil die Nichteigentümer gezwungen werden, das Privateigentum als solches anzuerkennen und der Staat eine allgemeine Prävention gegen alle Nichteigentümer über die Gesetze, hinter denen die Staatsgewalt steht, erläßt. Das Privateigentum setzt Privateigentümer und Besitzlose voraus. Diese Beziehungen zwischen diesen beiden Klassen werden u. a. über das Recht ausgedrückt. Jeder Schritt, den das Privateigentum innerhalb der Welt der Privateigentümer geht, wird über das Privat- oder Zivilrecht geregelt. Jeder Schritt, den das Privateigentum als gesellschaftliches Verhältnis gegen die Besitzlosen geht, wird über das Staatsrecht geregelt, und jede Verletzung des Privateigentums setzt das Strafrecht in Tätigkeit. Vom Recht kann also nur gesprochen werden, wenn der Staat existiert, der in der Lage ist, die positive Gesetzgebung durch Gewalt durchzusetzen. Um es gleich zu sagen: die Verletzung der Gesetze hebt das Recht und den Rechtscharakter dieser Normativität nicht auf. Die gentilen Normen konnten daher erst Rechtsnormen werden, als der Klassencharakter der Normativität erreicht, ein System von rechtlichen Verbindlichkeiten gegeben und die Symbiose zwischen den Klassen der Privateigentümer und dem Staat sowie den Gesetzen ein allgemeines, stabiles, wirksames und die Gesellschaft bestimmendes Ganzes wurde. Waren diese Elemente verbunden, trat die Klassengesellschaft ins Leben. Sie trat in verschiedenen Formen und nach sehr verschiedenen und komplizierten Zwischengliedern auf und bestimmte von nun an den Weg der Geschichte. Mit der Entstehung des Staates waren die gentilen Organisationsformen aber keineswegs von der Bildfläche verschwunden. Sie bestanden in ihrer Organisation, mit ihrer Ideologie und mit ihren Traditionen weiter. Ihre gesellschaftliche Bedeutung war indessen nach zwei Seiten hin völlig verändert. Erstens war die Grundlage der Gentilgemeinschaft nicht mehr die Grundlage der neuen Staatsgesellschaft, weil nicht das Gemeineigentum, sondern das Privateigentum bestimmend wurde und damit die Produktion selbst sich verändert hatte. Zweitens ging von der alten Gentilverfassung nicht mehr die gesellschaftsentwickelnde Dynamik aus, denn diese wurde von den sozialen Kräften der neuen Gesellschaftsformation in Bewegung gesetzt. Die unterdrückte Klasse, worunter sich auch der größte Teil der ehemaligen Gentilangehörigen befand, blieb zwar Produzent der materiellen Güter, war aber nicht Aneigner und Verwerter des

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Mehrproduktes, das sich in den Händen des Staates beziehungsweise der herrschenden Klasse befand. Gerade weil die alten Formen der Gentilgesellschaft noch vorhanden waren, mußte der Staat die antagonistischen Widersprüche im Zaume 'halten. Auch war es nicht sogleich zu einer Trennung der gentilen Organisationen von den neuen Staatsorganisationen gekommen. Die Frage der formalen Trennung ist überhaupt nicht das Kennzeichen und nicht das Kernproblem dieser Entwicklungsstufe, sondern die Tatsache der Ausbeutung durch das Staats- und Gesellschaftsprinzip. Der Schnittpunkt liegt nicht in der Abgrenzung der antagonistischen Organisationen, sondern in den veränderten Distributions- und Ausbeutungsmethoden. Diese konnten sowohl unmittelbar durch Gewaltorgane, durch rigorose Kontributionen und Abgaben als auch durch die älteren Formen der Opfer, Geschenke, Dotationen, freiwilligen Dienste usw. praktiziert werden. Deshalb bleibt die Frage nach der Verwertung des Mehrproduktes, die Frage nach der Form der gesellschaftlichen Produktion, den Formen der privaten Aneignung, den Zwecken und Zielen der Staatsmacht und des Rechts und letztlich den Absichten und Wirkungen der religiösen und ideellen Vorstellungen der Hauptgesichtspunkt bei der Beurteilung des Schnittpunktes der Staats- und Rechtsentstehung in den konkreten Fällen.

Zu einigen Schlußfolgerungen aus den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels zur Entstehung des Staates im Alten Orient v o n BURCHARD BRENTJES ( H a l l e )

Die Entstehung des Staates im Alten Orient ist insofern von besonderer Bedeutung, als nach unserem derzeitigen Wissen im Stromtal von Euphrat und Tigris erstmals der Übergang der Menschheit von der Urgesellschaft zur Klassengesellschaft erfolgte — und erstmals der Staat entstand. Dieser Vorgang vollzog sich verhältnismäßig parallel bei den Sumerern und Elamitern im 4. Jahrtausend und kam in den ersten Jahrhunderten des 3. Jahrtausends zum Abschluß. Er ging in Nordmesopotamien, in Syrien und Palästina, Ägypten, Kleinasien, Südturkmenien und Indien um jeweils 200—300 Jahre nach den Sumerern vor sich, und der Prozeß erhielt je nach den lokalen Voraussetzungen andere Schattierungen und Färbungen — eine Tatsache, die sich noch stärker bei jenen Völkern ausprägte, die als „Barbaren" im Laufe der Geschichte in schon klassengesellschaftliche Gebiete eindrangen, nun zum Bestandteil einer Klassengesellschaft wurden und den Staat ausbildeten, kurz, die die historischen Entwicklungen, zu denen die Südmesopotamier drei Jahrtausende Zeit gehabt hatten, in wenigen Jahren oder Jahrzehnten nachvollziehen mußten. Daß ihre Antwort auf diese historische Provokation je nach ihrem eigenen Entwicklungsstand verschieden ausfiel, wird nicht verwundern. Da sich dieser Vorgang der Entstehung der Klassengesellschaft und des Staates in Asien und Afrika sowie die Einbeziehung bisher urgesellschaftlicher Gruppen bis in unsere Tage erstrecken und somit über 5000 Jahre und Hunderte von Übergangsformen erfassen, sind sowohl das Studium der Einzelform und seiner Resultate wie die allgemeine historische Gesetzmäßigkeit zu berücksichtigen, wenn man sowohl dem konkreten Fall wie der Gesamtgeschichte gerecht werden will. Das Studium der Übergangsform ist um so wichtiger, als es uns nicht nur eben diese Übergangsform, sondern auch zum Teil das Wesen und die Form der sich daraus ergebenden Klassengesellschaft verständlich macht. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung der konkreten Bedingungen des Übergangs von der Urgesellschaft zur Klassengesellschaft haben uns schon Marx und Engels gelehrt. Karl Marx unterschied in seiner Arbeit „Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen" neben einer „naturwüchsigen Form", zu der er die „meisten asiatischen Grundformen" rechnet — also nicht nur einer Grundform in Asien —, eine auf dem Parzelleneigentum beruhende

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Form, zu der er außer Griechen und Römern auch solche Stockorientalen wie die Juden zählt 1 , und eine germanische Form — wobei er betonte, daß die „verschiedenen äußerlichen, klimatischen, geographischen, physischen etc. Bedingungen sowohl wie von ihrer besonderen Naturanlage abhängen — ihrem Stammcharakter — wie mehr oder minder diese ursprüngliche Gemeinschaft modifiziert wird" 2. Friedrich Engels untersuchte leider in seinem „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" orientalische Verhältnisse nicht — überließ sie uns, die wir ja auch unterdessen ungleich mehr Material über den Orient besitzen als er. Wir können daher aus seinem letztgenannten Werk keine Analyse direkt übernehmen, da er hier vor allem Indianer, Griechen, Römer und Germanen untersuchte, müssen aber seine Grunderkenntnisse, seine Arbeitsmethode studieren und auf die altorientalischen Verhältnisse anwenden. Wenn wir von diesem Standpunkt an den „Ursprung" herangehen, finden wir Entscheidendes, um unsere Aufgaben zu lösen. Im I X . Abschnitt gibt Engels die historische Definition des Staates: „Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungene Macht; ebensowenig ist er „die Wirklichkeit der sittlichen Idee", „das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft", wie Hegel behauptet. E r ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der „Ordnung" halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat" 3 . Und dann folgen zwei Merkmale, deren erstes wir in Lenins „Staat und Revolution" nicht finden: „Gegenüber der alten Gentilorganisation kennzeichnet sich der Staat erstens durch die Einteilung der Staatsangehörigen nach dem Gebiet . . .", und erst dann folgt der von Lenin betonte Gedanke: „Das zweite ist die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung. Diese besondre, öffentliche Gewalt ist nötig, weil eine selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung unmöglich geworden seit der Spaltung in Klassen"''. Für Lenin, der die Revolution gegen den Machtapparat „Staat" vorbereitete, stand der andere Aspekt, die „Einteilung nach dem Gebiet", gar nicht zur Diskussion. Diese Seite des Staates bleibt j a auch in der klassenlosen Gesellschaft K . Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen. Berlin 1952, 11. F . Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Berlin 1946, C. 3 Ebenda, 143. Ebenda, 143. 1

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erhalten, für die „die über der Gesellschaft stehende Macht" zur Dämpfung der Klassengegensätze längst überflüssig geworden ist. — Aber für uns, die wir als Historiker den Übergang von der gentil organisierten klassenlosen Urgesellschaft zum regional organisierten Staat der Klassengesellschaft studieren wollen, sind beide Aspekte wichtig, müssen wir doch, um die Entstehung der Klassengesellschaft und des Staates zu belegen, die Organisation der Menschen nach dem Gebiet und die Existenz einer besonderen bewaffneten Macht nachweisen. Friedrich Engels hat drei Hauptformen der Staatsentstehung unterschieden, wobei er, wie schon gesagt, auf eine Analyse orientalischer Staatsbildungen verzichtete. E r schrieb: „Die drei Hauptformen, in denen der Staat sich auf den Ruinen der Gentilverfassung erhebt, haben wir oben im Einzelnen betrachtet. Athen bietet die reinste, klassischste F o r m : hier entspringt der Staat direkt und vorherrschend aus den Klassengegensätzen, die sich innerhalb der Gentilgesellschaft selbst entwickeln. In Rom wird die Gentilgesellschaft eine geschlossene Aristokratie inmitten einer zahlreichen, außer ihr stehenden, rechtlosen, aber pflichtenschuldigen Plebs; der Sieg der Plebs sprengt die alte Geschlechtsverfassung und errichtet auf ihren Trümmern den Staat, worin Gentilaristokratie und Plebs bald beide gänzlich aufgehn. Bei den deutschen Überwindern des Römerreichs endlich entspringt der Staat direkt aus der Eroberung großer fremder Gebiete, die zu beherrschen die Gentilverfassung keine Mittel bietet"'. Drei Hauptformen in knapp 1000 Jahren, die zudem eng miteinander verbunden waren, das ist m. E . eine Engeische Feststellung, die von vornherein für den Riesenraum von Korea bis Guinea und den fünf bis sechsfachen Zeitraum einfach ausschließt, daß es dort nur eine Form des Übergangs gegeben habe, ja, die geradezu verlangt, nach den verschiedenen Hauptformen und ihren Derivaten zu suchen, um der Geschichte und der Methode des historischen Materialismus gerecht zu werden. Schon ein allgemeiner Überblick über die drei großen Stromtalkulturen des 3. Jahrtausends v. u. Z. läßt weitgehende Unterschiede erkennen, die zum größten Teil aus den unterschiedlichen Bedingungen des Übergangs ihrer Träger zur Klassengesellschaft und zum Staat resultieren. I n Mesopotamien ist die Lebensform der Menschen, in der sich der Übergang von der Urgemeinschaft zur Klassengesellschaft vollzieht, die Stadt — und das Ergebnis sind die vielen gleichartigen sumerischen Stadtstaaten, die erst im letzten Drittel des Jahrtausends ihre Unabhängigkeit verlieren. In Ägypten herrschte die als" Staat organisierte Ausbeuterklasse über die Vielzahl der Dörfer, schuf die Residenz als ihre Zentrale — viele kleine Residenzen als Sitz der staatlich-organisierten Ausbeuter, so daß Ägyptens Staat als Großstaat existierte oder nicht existierte. I n Indien blühte jene uns noch am wenigsten verständliche Induskultur, die zwei Großstädte mit gesonderten Residenzen über viele Dörfer herrschen sah. i Ebenda, 142.

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Wie sind diese Unterschiede zu verstehen ? Natürlich können hier nur die allgemeinen Züge verfolgt werden. Die s u m e r i s c h e Staatsentstehung wird durch folgende Merkmale bestimmt: Sie vollzieht sich auf der Basis der in den Bergländern Vorderasiens bereits ausgebildeten „militärischen Demokratie" mit vollzogener Arbeitsteilung in Bauern, Hirten und Handwerker sowie mit bereits entwickelter sozialer Differenzierung, die eine Häuptlingsschicht hervorhob. Die Herausbildung der „militärischen Demokratie" in den Bergländern Vorderasiens läßt sich an den Fundorten Chatal-Hüyük (voll entfaltete Urgesellschaft um 6500 v. u. Z.), Hacilar I I (Dorf mit Arbeitsteilung in Handwerker und Bauern um 5250 v. u. Z.) und Mersin X V I (eine Festung mit gleichgestellten Bauernsoldaten, Häusern und einem Palast um 4500 v. u. Z.) studieren. Die sumerische Staatsentstehung hatte die Irrigation Südmesopotamiens zur Voraussetzung, da die ab 5500 v. u. Z. erfolgende Besiedlung der Gebiete unterhalb der 200 mm Isohyete nur mit Be- bzw. Entwässerungsackerbau möglich war. Dieser Bewässerungsackerbau war nur unter dem Aufwand größerer geistiger Arbeit bei der Produktionsvorbereitung und -Organisation möglich, da das Hochwasser von Euphrat und Tigris die Unkundigen vernichtete. Er schuf zugleich mit dem bewässerten Boden ein hocheffektives Produktionsmittel, das dem Boden des Berglandes weit überlegen war. Die Überbesiedlung der Bergzonen und die hohe Produktivität des Stromlandes, dessen Fruchtbarkeit für eine gewisse Zeit nur durch die Arbeitskräfte begrenzt wurde, ließ vielerlei Gruppen zuwandern und die Einwohnerzahl rasch ansteigen. Bevölkerungsmischung und -Zuwachs erforderten eine regionale Organisierung. Die Priester wurden als Träger des zur Produktion notwendigen Wissens zu Organisatoren. Die Tempel fungierten als Gemeindespeicher, Produktionsleitung und Organisationszentrum, logischerweise auch als geistiges Zentrum, als Kultort. Sie werden zu Zentren der Siedlungen. Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gemeinschaften standen unter Leitung der Priester und führten in der Regel zur Vereinigung der Siedlungen, zur Vermehrung der Zahl der Tempel und zur Unterordnung der Gefangenen unter die Priester. Aus dem Gemeineigentum des Stammes am Boden wird das fiktive Eigentum des Stammgottes am Boden, das an die zur Kultgemeinde gehörenden Mitglieder auf Zeit als Besitz verteilt wird. Diese Verteilung geschieht mehr und mehr nach Klassengesichtspunkten, so daß zum Hauptklassengesetz der Gegensatz zwischen Parzellenbesitzern und meist auch Handwerkern und Großgrundbesitzern wird, die zugleich die Gemeindefunktionen in ihrer Hand vereinigen. Daneben entwickelt sich der Klassengegensatz zwischen Sklaven und Großgrundbesitzern, der nicht zum beherrschenden Element wird. Der Staat als Machtorgan entwickelt sich in Südmesopotamien als Machtorgan der herrschenden Klasse (u. a. Priester) gegen die Masse der Stadtbewohner und kommt in einer Befestigung der Tempel innerhalb der Städte, in der Aufstellung bewaffneter Organe und im Auftreten des Gefesselten, Geblendeten usw. in der

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Kunst zum Ausdruck. Erst in dem schon entwickelten Staat trennen sich die religiösen und weltlichen Funktionen, neben den Tempel tritt der Palast. Archäologisch sind diese Grundzüge in etwa folgenden Etappen faßbar: Besiedlung des nördlichen Mesopotamiens oberhalb der 200 mm Isohyete, d. h. auf der Grundlage des Regenfeldbaues, ab etwa 5800 v. u. Z., Ausbildung sozial differenzierter Arbeitsteilung organisierter Gesellschaften in der Halaf- und Samarra-Kultur bis etwa 5000. Vordringen in das südwestmesopotamische Stromtal ab etwa 5500 v. u. Z. Mit verschiedenen Keramiktypen werden verschiedene Gruppen erkennbar, die alle etwa gleichzeitig den Bewässerungsackerbau meistern. Entstehung von Ansiedlungen, als deren Kern Tempel herausragen. In Eridu ist das Aufsteigen des Tempels von einer kleinen Hütte (um 5000) zur befestigten Anlage um 3500 v. u. Z. und zur Festung um 3000 v. u. Z. gut zu verfolgen. Die Unterordnung des Handwerks unter die Tempel ist seit etwa 4000 v. u. Z. zu beobachten. Der Abschluß der Staatsbildung in Südmesopotamien ist um 3000 v. u. Z. erfolgt. Die Tempel von Uruk und Eridu sind nun innerhalb der Städte befestigt. Auf Staatssymbolen und Herrschersiegeln demonstriert die herrschende Klasse ihre Macht über Menschen, indem sie die Blendung Gefangener durch Bewaffnete vor einem Priester, den Priester als Kontrolleur der Produktion sowie die eigene Gesellschaft in drei Stufen, angedeutet dürch unterschiedliche Kleidung, darstellt. Der in der Susiana und in Südmesopotamien zu beobachtende Abbruch der meisten Dörfer und die Konzentration der Bevölkerung in den Städten erfolgte um 2900—2800 v. u. Z., die Trennung von Palast und Tempel in Kisch um 2600 v. u. Z. Durch Kaufurkunden ist das Aufkommen des Privateigentums an Grund und Boden ab 2600 v. u. Z. belegt. Die Staatsentstehung in Sumer vollzog sich also in einem zweitausendjährigen Prozeß, der weitgehend durch den Bewässerungsackerbau und die daraus resultierende lebensnotwendige, beherrschende Rolle der geistig-technischen Leitung der Produktion bedingt war. Schon in Nordmesopotamien, oberhalb der 200 mm Isohyete, fehlt diese Rolle der Priesterschaft — und mit ihr auch die Beschleunigung der Entwicklung durch den produktiveren Bewässerungsackerbau. Hier dominiert seit der Halafzeit (5500—5000) der „Palast", d. h. also der Häuptling, der sich den Kult unterordnet, wie z. B. in Arpachiyah zu sehen ist. Das beste Beispiel der langsameren und auch anders gerichteten Entwicklung Nordmesopotamiens in den hier zur Debatte stehenden Jahrtausenden ist Tepe Gawra, das nach einer glänzenden Periode der Halafzeit eine Stagnation der Kultur erlebt, in der es zudem durch Eroberung mehrfach die Bevölkerung wechselt und in der allmählich Häuptlingssitz und Tempel nebeneinander aufwachsen. Das erste befestigte Gebäude ist ein Rundturm mit Beratungs-, Kultund Wohnräumen in der Schicht X I A. Es fehlt auch jene Konzentration der Gesellschaft auf ein Zentrum wie im Süden; so lassen sich in der Schicht X I I mehrere Großbauten — ich möchte sie Adelshäuser liennen — zwischen vielen ärmlichen Bauten nachweisen.

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Erst etwa 200 Jahre nach den südmesopotamischen Staaten läßt sich in der Schicht I X der Palast als befestigte Anlage mit einem eigenartigen tiefen Keller und verstärkten Mauern — m. E. das älteste Verließ, das älteste Gefängnis, das wir haben — erkennen. Daneben, völlig getrennt, steht der Tempel. Hier in Nordmesopotamien ging die Staatswerdung offenbar im Stamm vor sich — ähnlich wie in Syrien oder Palästina, wo wir ja schon aus dem 8. Jahrtausend v. u. Z. befestigte Großsiedlungen wie Jericho kennen, hinter dessen steinerner Stadtmauer mit 8 m breiten Türmen schon damals 2000—3000 Menschen Platz hatten. Aber die ständigen Bevölkerungsbewegungen vom 8. bis 4. Jahrtausend v. u. Z. schienen hier bis in den Beginn des 3. Jahrtausends die Staatsbildung verhindert zu haben; wer sich von Feinden oder Ausbeutern bedroht sah, floh südwärts und ging nach Afrika. Noch im späten 3. Jahrtausend v. u. Z. fungierten in Palästina wie in Khirbet Kerak die Tempel als Gemeindespeicher. In Ä g y p t e n wurden andere historische Voraussetzungen und ökonomische Grundsätze wirksam: Die Erschließung des Niltals verlangte ursprünglich keine Irrigation, sondern nur die Beobachtung der Ausdehnung und Dauer der Überschwemmung —, ein bei der natürlichen Enge des Tals wesentlich einfacher zu beobachtender Prozeß. Die Besiedlung des Stromtals erfolgte in mehreren Wellen von Asien her, nachdem dort bereits die Zeit der „militärischen Demokratie" ihren Höhepunkt längst überschritten hatte, während die Neusiedler auf der Alifangsstufe der agrarischen Stammesorganisation standen (ab 4500 v. u. Z.). Die bis in das frühe 3. Jahrtausend passierbare Sahara ließ bedrohte Gruppen abziehen —, ein hemmender Faktor, den auch seit etwa 3500 v. u. Z. ansteigender Einfli ß aus Vorderasien nicht ausglich. Nach 2900 v. u. Z. unterwarf eine mit vorderasiatischem Kulturgut und Erfahrungen angereicherte Volksgruppe die Bauernstämme und zwang sie zur Auslieferung eines Teils des Mehrproduktes. Für die prinzipielle Erkenntnis ist es unwesentlich, ob es sich bei den sich als Staat konstituierenden Fremden um mit asiatischem Gut angereicherte Libyer oder um Südmesopotamier handelte. Ich halte sogar eine mehrfache und daher gemischte Überschichtung für wahrscheinlich. Die Staatsbildung ähnelt der von Engels beschriebenen „deutschen" Staatsbildung, bei der nach seinen Worten „der Staat direkt aus der Eroberung großer, fremder Gebiete" entspringt, während die sumerische Staatsbildung eher der attischen Form entspricht, und ich habe sie an anderer Stelle 1 mit der Reform Solons verglichen. Archäologisch läßt sich diese Entwicklung u. a. durch folgende Denkmäler erfassen: In den noch späturgemeinschaftlichen Kulturen der Negade II—Zeit tritt u. a. der Messergriff von Djebel el-Arak auf, der auf der einen Seite eine Menschenjagd und den Kampf mesopotamischer gegen ägyptische Boote und auf der anderen den triumphierenden mesopotamischen Priesterfürsten zeigt. Eines der ersten Denkmäler ägyptischer Staatlichkeit stellt die Narmerpalette dar. 1

B. Brentjes, Von Schanidar bis Akkad. Leipzig-Jena-Berlin 1968, 169f.

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Unter ihren beherrschenden Motiven ist der Schlangendrache vorderasiatischer Herkunft. In Ägypten fehlen die Mesopotamien charakterisierenden Städte. Staatliche Zentren bilden die Residenzen, wie sie uns z. B. in Gestalt der einen Palastkomplexe nachbildenden Anlage der Stufenpyramide von Sakkara bekannt ist. Die Königsgräber der ersten Dynastien im Stil mesopotamischer Tempel (Uruk IV) enthalten Darstellungen von Gefangenen und Unterjochten. Auch M e s o p o t a m i e n hat Überschichtungen durch Fremdstämme erlebt. Selbst die Sumerer ernteten anscheinend, was andere vor ihnen gesät hatten. Die Regel war in Mesopotamien jedoch die Infiltration späturgemeinschaftlicher bzw. frühstaatlicher Völker in staatliche Organisationen, die sich je nach den Bedingungen vollzog. Die zu Beginn des 2. Jahrtausends einwandernden Amurru rissen die Herrschaft z. B. in Babylon an sich, nachdem sie jahrzehntelang als Saisonarbeiter, Söldner usw. ins Land gekommen waren. Offenbar nicht in geschlossenen Stammesgruppen ankommend — wie einige Jahrhunderte nach ihnen die Kassiten — gingen sie in der akkadischen Bevölkerung auf. Als geschlossenen Sippenverbänden gelang es den Kassiten, die Akkader zu unterwerfen. Sie bildeten die Grundherrenschicht, die den Boden mit allen Produzenten als Sippeneigentum besaß. Wollte z. B. der König Land in Privateigentum vergeben, mußte er es von den Sippenvorstehern der Grundbesitzer kaufen und konnte es dann mit den ansässigen Bauern verschenken. Eine dritte Form ist die Staatsbildung der P e r s e r und Meder, die die ökonomische Struktur der unterworfenen Gebiete unberührt ließen, den Verwaltungsapparat aus Aramäern und Elamitern bildeten, den Machtapparat aber den Persern und Medern vorbehielten. Nur Angehörige der beiden Stämme konnten leitende Staats- und Armeefunktionen innehaben, und sie allein verfügten über den Großgrundbesitz. Die persische Staatsbildung ähnelt damit der frührömischen Entwicklung, von der Friedrich Engels schrieb, hier „wird die Gentilgesellschaft eine geschlossene Aristokratie inmitten einer zahlreichen, außer ihr stehenden, rechtlosen, aber pflichtenschuldigen Plebs" 1 — nur daß bei den Persern statt der Plebs geschlossene Völkerschaften standen und Perser und Meder eine geschlossene Aristokratie bildeten. Archäologisch deutlich wird diese Überschichtung u. a. durch das Nebeneinander von Kult- und Residenzstädten wie Persepolis und straff gegliederten Wohnstädten von der Struktur Babylons. Es könnten noch weitere Formen aufgeführt werden, die sich in ihren Besonderheiten gleichfalls erklären lassen, wie die eigenartige Staatsverfassung der Elamiter mit einem mutterrechtlich organisierten Staat, die Burgen-Staatlichkeit Mykenes oder die Palaststadt der Kreter, so daß wir zu einer Vielzahl konkreter Staatsbildungen und dementsprechend differenzierter Ausgangsstrukturen der alten Klassengesellschaft kommen, zwischen denen zum Teil größere Unterschiede bestehen als zwischen den drei von Engels genannten Haupt» F. Engels, a. a. O., 142. 3 StaatBentstehung

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BURCHABD BREMTJES

formen, der attischen, der römischen und der germanischen, die damit ihre Sonderstellung verlieren und sich einpassen in den Strom des weltgeschichtlichen Übergangs von der auf der Basis des Sammeins und der Jagd entwikkelten Urgesellschaft zu der auf der Basis des Ackerbaus entwickelten vorkapitalistischen Klassengesellschaft. Für uns ergeben sich hieraus einige konkrete Schlußfolgerungen: 1. Die Phase der „militärischen Demokratie" ist in ihrer inneren Entwicklung und ihren Besonderheiten regional zu erfassen. 2. Nicht das Auftreten von Arbeitsteilung, Unterdrückung, Sklaven und Klassenspaltung allein erweist die Existenz des Staates. Erinnert sei an Friedrich Engels' Schlußvermerk zum Abschnitt IV im „Ursprung der Familie": „Wir sehn also in der griechischen Verfassung der Heldenzeit die alte Gentilorganisation noch in lebendiger Kraft, aber auch schon den Anfang ihrer Untergrabung : Vaterrecht mit Vererbung des Vermögens an die Kinder, wodurch die Reichtumsanhäufung in der Familie begünstigt und die Familie eine Macht wurde gegenüber der Gens; Rückwirkung der Reichtumsverschiedenheit auf die Verfassung, vermittelst Bildung der ersten Ansätze zu einem erblichen Adel und Königtum; Sklaverei, zunächst noch bloß von Kriegsgefangenen, aber schon die Aussicht eröffnend auf Versklavung der eignen Stammes- und selbst Gentilgenossen ; der alte Krieg von Stamm gegen Stamm bereits ausartend in systematische Räuberei zu Land und zur See, um Vieh, Sklaven, Schätze zu erobern, in regelrechte Erwerbsquelle; kurz, Reichtum gepriesen und geachtet als höchstes Gut, und die alten Gentilordnungen gemißbraucht, um den gewaltsamen Raub von Reichtümern zu rechtfertigen. Es fehlte nur noch eins: eine Einrichtung, die die neuerworbenen Reichtümer der einzelnen nicht nur gegen die kommunistischen Traditionen der Gentilordnung sicherstellte, die nicht nur das früher so geringgeschätzte Privateigentum heiligte, und diese Heiligung für den höchsten Zweck aller menschlichen Gemeinschaft erklärte, sondern die auch die nacheinander sich entwickelnden neuen Formen der Eigentumserwerbung, also der stets beschleunigten Vermehrung des Reichtums mit dem Stempel allgemein gesellschaftlicher Anerkennung versah; eine Einrichtung, die nicht nur die aufkommende Spaltung der Gesellschaft in Klassen verewigte, sondern auch das Recht der besitzenden Klasse auf Ausbeutung der nichtbesitzenden, und die Herrschaft jener über diese. Und diese Einrichtung kam. Der Staat wurde erfunden"1. 3. Erst der Nachweis der „Einteilung der Staatsangehörigen nach dem Gebiet" und der „Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung"2 erlaubt, von der Existenz des Staates zu sprechen. Daß sich diese Elemente historisch, d. h. in bestimmten Fristen, herausbilden und nicht wie Athena dem Schädel des Zeus auf einmal und abgeschlossen entspringen, ist selbstverständlich. 1

Ebenda, 84.

2 Ebenda, 142.

Marx und Engels zur Entstehung des Staates im Alten Orient

85

4. Wenn der Staat wie in Athen oder in den sumerischen Städten „direkt und vorherrschend aus den Klassengegensätzen, die sich innerhalb der Gentilgesellschaft selbst entwickeln", resultiert, geht seine Ausbildung allmählich, Schritt für Schritt, aber in klarer, sozial bestimmter Form vor sich. 5. „Entspringt der Staat" hingegen „direkt aus der Eroberung großer fremder Gebiete, die zu beherrschen die Gentilverfassung keine Mittel bietet", wie es Engels bei den Germanen schildert und wie es sich in abgewandelter Form bei der Staatsentstehung der Ägypter, der Chou und der Hethiter vollzog, ist der Staat als „besondere öffentliche Gewalt" schwerer zu erweisen, sondern entsteht aus dem sich als Machtorgan gegen die Unterdrückten als ,Staat' organisierenden Heerbann der Unterdrücker. Es gelten hier vielfach in verschiedenen Formen die Engelsschen Bemerkungen zur „Staatsbildung der Deutschen": „Weil aber mit dieser Eroberung weder ernstlicher Kampf mit der alten Bevölkerung verbunden ist noch eine fortgeschrittenere Arbeitsteilung, weil die ökonomische Entwicklungsstufe der Eroberten und die der Eroberer fast dieselbe ist, die ökonomische Basis der Gesellschaft also die alte bleibt, deshalb kann sich die Gentilverfassung lange Jahrhunderte hindurch in veränderter, territorialer Gestalt als Markverfassung forterhalten und selbst in den späteren Adels- und Patriziergeschlechtern, ja selbst in Bauerngeschlechtern wie in Dithmarschen eine Zeitlang im abgeschwächter Form verjüngen" 1 . Am nächsten kommen diesem germanischen Beispiel das chouzeitliche China, dann - die Hethiter des Alten Reiches, weniger schon das frühzeitliche Ägypten und eventuell Sparta. Diese aus der „Eroberung großer fremder Gebiete" resultierende Staatlichkeit tritt rascher in Erscheinung, ist stabiler, aber auch zur Stagnation tendierend. 6. Kulturell bedeutender und für die Menschheitsentwicklung fruchtbarer ist der sumerisch-attische Weg der Stadt, da er im Prozeß der inneren Kämpfe um die Ausbildung der neuen Ordnung zum Durchdenken und Formulieren der Verhältnisse zwingt. Als oberster Grundsatz muß jedoch über allen Studien zur Staatsentstehung die eindeutige Erkenntnis W. I. Lenins im Anschluß an die Engelsschen Ausführungen stehen: „Hier ist mit voller Klarheit der Grundgedanke des Marxismus über die historische Rolle und die Bedeutung des Staates zum Ausdruck gebracht. Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können" 2 . Nicht die Existenz eines Adels oder besserer Waffen in der Hand eines Teils des Volkes machen den Staat aus, sondern die Existenz unversöhnlicher Klassengegensätze und ihr Produkt, bestimmt, sie zu dämpfen, nämlich der Staat als Machtorgan einer herrschenden Klasse gegen eine ausgebeutete und unterdrückte muß erwiesen werden. 1 Ebenda, 142. W. I. Lenin, Staat und Revolution. In: Ausgewählte Werke in 2 Bänden. Bd. 2. Moskau 1947, 161.

2

3*

Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien v o n HORST KLENGEL ( B e r l i n )

Seit mehr als einem Jahrhundert haben archäologische und philologische Forschungen in ständig wachsendem Maße unsere Kenntnisse über die Geschichte der Völkerschaften, die im orientalischen Altertum an Euphrat und Tigris lebten, erweitert. Sie haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß heute ein im wesentlichen gesichertes, wenn auch in manchen zeitlichen und räumlichen Bereichen noch lückenhaftes Bild gezeichnet werden kann. Dabei drang die Forschung in immer weiter zurückliegende Perioden vor und bezog die vorschriftliche Zeit Mesopotamiens, also den Zeitraum vor dem ausgehenden 4. Jahrtausend, in ihre Arbeit ein. Gerade während der letzten Jahrzehnte hat die vorderasiatische Archäologie der Untersuchung der prähistorischen und frühgeschichtlichen Entwicklung besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das damit stark vermehrte Material machte es möglich, nicht nur die materielle Kultur Mesopotamiens in vorstaatlicher Zeit klarer zu erfassen, sondern auch einige Rückschlüsse auf den entsprechenden gesellschaftlichen Überbau zu ziehen. In diesem Zusammenhang ist die Herausbildung der Klassengesellschaft und des Staates von besonderer Bedeutung. Wie bereits W. Sellnow in seinem Beitrag gezeigt hat, haben die Klassiker des Marxismus-Leninismus in ihren Arbeiten wiederholt auf diese welthistorisch relevante Problematik hingewiesen. 1 Eine wichtige Rolle spielte dabei die Frage der politischen Gewalt und ihr Verhältnis zur Gesellschaft. Dabei war es ihnen zu ihrer Zeit jedoch noch nicht möglich, diese Probleme auch am Beispiel Mesopotamiens darzustellen; hierfür fehlte es damals an den quellenmäßigen Voraussetzungen. Die Aufgabe, das aus der archäologischen und philologischen Tatsachenforschung seitdem zur Verfügung gestellte historisch verwertbare Material mit den von Marx, Engels und Lenin erkannten Gesetzmäßigkeiten in der gesellschaftlichen Entwicklung zu vergleichen und mit den Methoden der marxistischen Geschichtswissenschaft auch die Frage der Entstehung des Staates in Mesopotamien zu untersuchen, blieb späteren Generationen vorbehalten. 2 Dabei sind vor allem durch die sowje1 2

Siehe oben S. 1 3 - 2 6 . Vgl. zur Problematik zuletzt E. Hoffmann, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 16 (1968), 1272 f.

Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien

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tische Geschichtsforschung erste wesentliche Resultate erzielt worden.1 In den meisten Darstellungen der mesopotamischen Frühzeit wird allerdings der Staatsentstehung als einem Prozeß entweder keine Beachtung geschenkt oder aber nur auf die bereits „klassisch" gewordene Untersuchung von Th. Jacobsen, Early Political Development in Mesopotamia2, verwiesen. Die Frage der Staatsentstehung in Mesopotamien — hier als Bereich zwischen dem iranischen Hochland im Osten und der syrisch-arabischen Wüstensteppe im Westen verstanden — kommt insofern eine überregionale Bedeutung zu, als sich hier, soweit wir bislang sehen können, dieser Prozeß zum ersten Male vollzog. Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Erwägungen erscheint es notwendig, das zur Verfügung stehende Material kurz zu charakterisieren: a) Der archäologische Befund, d. h. das nicht-inschriftliche Material. Diese Quellen gestatten oft Rückschlüsse nicht nur auf den Stand der Entwicklung der Produktivkräfte, auf Bevölkerungsdichte und Siedlungsweise, sondern auch auf die jeweiligen Produktionsverhältnisse. Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, daß sich Veränderungen im Überbau im archäologischen Befund nur bedingt und unter bestimmten Voraussetzungen widerspiegeln; der Interpretation bleibt ein häufig allzu breiter Raum überlassen. b) Die inschriftlichen Zeugnisse. Diese setzen in Mesopotamien zunächst in Form einer piktographischen Fixierung ökonomischer Vorgänge am Ende des 4. Jahrtausends ein.3 Sie gewinnen jedoch erst im zweiten Viertel des 3. Jahrtausends an Aussagekraft und stellen dann weitgehend Feldkaufurkunden dar/' Aus der Frühdynastisch-III-Zeit (etwa 26./25. Jahrhundert) steht schließlich ein umfangreiches inschriftliches Material zur Verfügung, darunter auch Königsinschriften.5 Diese inschriftlichen Zeugnisse sind für die Frage der Staatsentstehung in zweierlei Hinsicht auswertbar: einmal als Dokumente ihrer eigenen Abfassungszeit, zum anderen als Reflexion älterer Zustände; in letzterem Fall bleibt allerdings unsicher, wie weit diese frühen Verhältnisse zurückdatiert 1

Hervorzuheben sind vor allem die Arbeiten von I. M. Diakonoff, vgl. insbesondere seine Untersuchungen über die Entstehung des despotischen Staates in Mesopotamien [1956] (in: Ancient Mesopotamia, Moskau 1969, 173ff.) sowie die Gesellschaftsstruktur im Vorderen Orient bis zur Mitte des 2. Jahrtausends v. u. Z. (BeCTHHK HpeBiieii HCTOpiw 4/1967, 13if.; 3/1968, 3ff.; 4/1968, 3ff.). Vgl. ferner A . I. Tjumenev, in: Ancient Mesopotamia, 70 ff.

2 Zeitschrift für Assyriologie, N F 18 (1957), 91 ff. U r u k (Südmesopotamien), Schicht I V a ; s. A . Palkenstein, Archaische Texte aus U r u k . Berlin 1936. A n einer Lesung dieser bislang ältesten Inschriften wird gegenwärtig von verschiedenen Seiten gearbeitet, vgl. etwa A . A . BattMaH, nepe«Hea3naTCKiiii cöopmiK II.

MocKBa 1966, 3 ff. 4

Vgl. zuletzt die Bearbeitungen

von

D . 0 . Edzard,

Sumerische

Rechtsurkunden

des

I I I . Jahrtausends. München 1968, Anhang S. 167-198. 5

Besonders gut bekannt sind auf Grund dieser Inschriften die Verhältnisse im südmesopotamischen L a g a s ; vgl. etwa H. M . ßbHKOHOB, OömecTBeHHuii h rocyjjapcTBeHHbiö cTpoii HpeBHero ,ü,BypeHi>H, Illyiaep. MocKBa 1959. Tontafelarchive fanden sich an mehreren Orten Mittel- und Südmesopotamiens wie U r , Suruppak, U m m a , Lagas, Nippur, Ki§ und A d a b .

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HOBST K L E N G E L

werden dürfen. Zu dieser Quellengruppe können auch die sumerischen literarischen Überlieferungen wie Mythen, Epen und Götterlieder gerechnet werden, die uns zwar erst in einer späteren Niederschrift vorliegen, deren Entstehung jedoch bis in die hier zu behandelnde Zeit zurückverlegt werden kann. 1 DieVerwertbarkeit der Textzeugnisse für das Problem der Staatsentwicklung wird jedoch nicht nur durch chronologische Schwierigkeiten eingeschränkt, sondern auch dadurch, daß Darstellungsweise und Terminologie dieser Quellen mit einer oft nicht nur schwer verständlichen, sondern auch nicht immer klar erfaßbaren Weltbetrachtung verbunden sind. Ihre Übertragung in unsere eigenen Kategorien und ihre Nutzbarmachung für moderne Fragestellungen sind daher oft sehr kompliziert, und es erscheint Zurückhaltung geboten, um nicht zu voreiligen Schlußfolgerungen zu gelangen. 2 c) Das ethnologische Vergleichsmaterial. Ausgehend von den Gesetzmäßigkeiten in der gesellschaftlichen Entwicklung sowie davon, daß sich diese Gesetzmäßigkeiten zeitlich oft sehr unterschiedlich durchsetzen, können sozialökonomische Prozesse aus rezenterer Zeit als Analogien dienen und bei der Interpretation primären Quellenmaterials herangezogen werden. Zu berücksichtigen sind dabei jedoch Unterschiede in den Faktoren, die die miteinander verglichenen Vorgänge bestimmten, wie etwa in den ökologischen Bedingungen, in der Entwicklung der Produktivkräfte, im Grad der Beeinflussung durch höherentwickelte Gesellschaften usw. Dieses ethnologische Material kann demnach unter bestimmten Bedingungen zum besseren Verständnis von Vorgängen beitragen, die sich in weit zurückliegenden Perioden vollzogen, vermag die Primärquellen jedoch nicht zu ersetzen. Dieser knappe Überblick dürfte bereits erkennen lassen, daß das zur Verfügung stehende Material nicht ausreicht, um den Prozeß der Staatsentstehung in Mesopotamien in seinen einzelnen Etappen und allen Aspekten fundiert darzustellen. Im folgenden sollen daher nur einige Erwägungen angestellt werden, bei denen im gegebenen Rahmen ohnehin auf die Darstellung von Details verzichtet werden muß. Unter den Voraussetzungen für die Herausbildung des Staates wäre zunächst die Erzeugung eines kontinuierlichen und höheren Mehrprodukts zu nennen. Dabei kommt einem Prozeß besondere Bedeutung zu, der in der wissenschaftlichen Literatur oft als „neolithische Revolution" bezeichnet wird.3 Es handelt 1

2

3

Diese literarischen Texte bilden die wesentliche Grundlage für die eingangs erwähnte Arbeit von Th. Jacobsen (s. S. 37 Anm. 2). Auch hier sollte das Prinzip gelten, alles in seinem Zusammenhang und nicht isoliert zu betrachten; die willkürliche Auswahl von einzelnen Textzeugnissen kann kaum als Stütze einer These dienen. Es handelt sich um einen Vorgang, der in seinem Ergebnis zu einer durchgreifenden Veränderung der menschlichen Gesellschaft führte, nicht aber eine Revolution im Sinne einer plötzlichen und gewaltsamen Umgestaltung darstellte. Eine Untersuchung der Problematik auf der Grundlage der jüngsten archäologischen Entdeckungen s. bei B . M. Maccon,

Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien

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sich dabei um den Übergang von der Aneignung fertiger Naturprodukte durch Sammeln, Jagen und Fischfang zur eigentlichen Nahrungsproduktion durch Ackerbau und Viehzucht. Dieser Prozeß hat sich in Vorderasien bereits sehr früh vollzogen und ist auf Grund eines ständig anwachsenden archäologischen Materials etwa seit dem 9. Jahrtausend zu verfolgen. 1 Was Mesopotamien betrifft, so entstanden die frühesten Ackerbauersiedlungen in seinem östlichen Randgebiet, in den Gebirgen und deren Vorland, wo ein ausreichendes jährliches Niederschlagsmittel Regenfeldbau gestattete. Dem Übergang zur landwirtschaftlichen Produktion kamen in Vorderasien auch insofern günstige Umweltbedingungen entgegen, als hier eine Kombination von domestizierbaren Tieren und kultivier baren Pflanzen vorhanden war; die natürliche Selektion wurde offenbar durch eine bewußte Selektion seitens der Menschen gefördert. 2 Die Entdeckung von Getreideresten in Sanidar im nördlichen Iraq, die nach C^Untersuchungen wohl dem 9. Jahrtausend zugehören, weist auf die Nutzung von Wildgetreide. 3 In Karim Sahir fanden sich in einer Freilandsiedlung Mahlsteine, sichelartige Steinklingen, Beile und andere Feuersteinartefakte/ 1 Hausgrundrisse fehlen noch; wahrscheinlich kann ohnehin noch nicht mit einer ständigen Seßhaftigkeit gerechnet werden. Siedlungsplätze wie Garmo östlich von Kerkük, dann auch Hassüna südlich von Mösul zeigen dagegen bereits Grundrisse von Lehmhäusern mit mehreren Räumen, und die Dicke der Siedlungsschichten und ihre große Zahl könnten darauf deuten, daß diese Plätze längere Zeit hindurch immer wieder oder sogar ständig bewohnt wurden. 5 Angebaut wurden Emmer und zweizeilige Gerste, und die Funde von Knochen verschiedener Tiere — darunter von Schafen, Ziegen und Schweinen — verweisen auf Viehzucht. In Hassüna, das im Gegensatz zu Garmo bereits eine bemalte Keramik kannte, wurde das geerntete Getreide in gerillten Tonplatten ausgehülst, in Zisternen gelagert, mit Basaltsteinen zerrieben und dann verbacken. In hölzerne Sicheln wurden Mikrolithen eingesetzt, und vielleicht existierte bereits eine Vorform des Pfluges, wie die Ausgräber aus schaufeiförmig gearbeiteten Feuersteinen schließen möchten. In Teil es-Sawwan bei Sämarrä (6. Jahrtausend) wurden nicht nur die Überreste von Weizen, sondern Bonpocti HCTopHH 6 (1970), 73ff. — Einige Fragen der prähistorischen Entwicklung Vorderasiens konnte ich mit Dr. S. Fröhlich diskutieren, dem dafür an diesr - Stelle gedankt sei. 1 Vgl. vor allem R. M. Adams, The Evolution of Urban Society. Chicago 1965, sowie J. Mellaart, The Earliest Settlements in Western Asia, from the 9th to the End of the 5th Millenium B. C. Cambridge 1967; s. ferner den Überblick bei A. Falkenstein, Fischer Weltgeschichte 2 (1965), 22 ff. sowie B. Brentjes, Von Schanidar bis Akkad. Leipzig-JenaBerlin 1968. 2 Zu den Kulturpflanzen s. jetzt F. H. JlHcnqwHa, C o B e T C K a n apxeojiorHH 3/1970, 53 ff. 3 Zu Sanidar s. R. S. Solecki, Sumer 8 (1952), 127ff.; ders., Sumer 9 (1953), 60ff.; ders., Sumer 14 (1958), 104ff; ferner Sumer 17 (1961), 124f. '• R. J. Braidwood, Sumer 7(1951), 99ff.; R. J. Braidwood-B. Howe, Prehistoric Investigations in Iraqi Kurdistan. Chicago 1960. * Vgl. S. Lloyd - F. Safar, Journal of Near Eastern Studies 4 (1945), 255ff.

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HOEST KLENGEL

auch von Rindern entdeckt, und hier, im Flußtal des mittleren Tigris, scheint es sogar schon Ansätze einer primitiven künstlichen Bewässerung gegeben zu haben.1 In dieser Zeit, die auch an einer Reihe weiterer Plätze dokumentiert ist, tauchen die ersten Stempelsiegel auf, die zur Kennzeichnung von Gruppen- oder persönlichem Eigentum dienten.2 Diese frühe Entwicklungsstufe der mesopotamischen Gesellschaft, die hier nur knapp hinsichtlich eines Wachstums der Produktivkräfte sowie des Übergangs von der schweifenden zur ortsgebundenen Lebensweise skizziert worden ist, beruhte im wesentlichen auf einer kombinierten Ackerbau-Viehzuchtwirtschaft. Die Viehzucht bildete eine notwendige Ergänzung zum Ackerbau, der wegen des möglicherweise ausbleibenden Regens allerdings noch keine zuverlässige ökonomische Basis zu bilden vermochte. Im Viehzüchternomadentum wurde dieser Wirtschaftszweig die eigentliche Grundlage, doch ist die erste gesellschaftliche Arbeitsteilung, die zwischen Ackerbau und Viehzucht, offenbar nicht sofort und mit der Konsequenz vollzogen worden, daß sich ein reines Hirtennomadentum ausgesondert hätte. Es handelte sich vielmehr um das Dominieren der Viehzucht bei Fortbestehen eines wenigstens periodischen Bodenbaus. Das vollnomadische Beduinentum ist erst das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses, nicht sein Ausgangspunkt. Durch die mit dem Weidewechsel verbundene Viehzucht vermochten der Produktion Bereiche erschlossen zu werden, die dem Ackerbau unzugänglich waren. Die Weidegebiete wurden in die Erzeugung des Mehrprodukts einbezogen, zugleich aber gewiß neue Bereiche entdeckt, in denen Ackerbau getrieben werden konnte. Die Viehzucht bot zudem die erste Möglichkeit einer Schatz- und Eigentumsbildung, der Entstehung eines individuellen Eigentums an Herdentieren bei Gemeineigentum an Weide und Wasser. Ohne den Kontakt mit dem seßhaften Bodenbau zu verlieren, durchlief das Viehzüchtertum in der Folgezeit eine langsamere Entwicklung als die seßhafte Landwirtschaft der Dorfgemeinden. Die begrenzten Möglichkeiten zn einer erweiterten Reproduktion und die durch das Nomadenleben im Steppengebiet oder Buschland festere gentile Struktur verhinderten trotz einer sozialen Differenzierung den Übergang zum Staat. Dieser erfolgte nicht allein später als bei den Seßhaften, sondern auch nur in enger Verbindung mit ihnen. Für die Frage nach der Entstehung des Staates im frühen Mesopotamien ist der Viehzüchternomadismus daher von untergeordneter Bedeutung.3 Die Weiterentwicklung der kombinierten Ackerbau-Viehzuchtwirtschaft in Mesopotamien über das von Garmo und Hassüna repräsentierte erste Stadium 1 F. El Wailly, Sumer 19 (1963), 1 ff.; F. El Wailly - B. Abu es-Soof, Sumer 21 (1965), 17fT.; G. Wahida, Sumer 23 (1967), 167ff.; B. Abu al-Soof, Sumer 24 (1968), 3ff. 2 Vgl. B. Abu al-Soof, Sumer 24 (1968), 14, Taf. XIV 3, ferner E . Porada, in: R. W. Ehrich, Chronologies in Old World Archaeology. Chicago 1966, 140ff. 3 Zur Entstehung des Nomaden-und Beduinentums in Vorderasien vgl. zuletzt (mit Lit.) J . Henninger, Über Lebensraum und Lebensform der Frühsemiten. Köln-Opladen 1968, sowie H. Klengel, Zwischen Zelt und Palast. Die Begegnung von Seßhaften und Nomaden im alten Vorderasien. Leipzig 1972.

Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien

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hinaus läßt sich anhand einer ganzen Reihe von Fundplätzen verfolgen. Sie werden gewöhnlich der Kultur von Sämarrä am mittleren Tigris oder von Teil Halaf im Zuflußgebiet des Habür zugewiesen. 1 Angebaut wurden vor allem Weizen, Gerste und Flachs, gehalten wurden Schafe, Ziegen und auch die anspruchsvolleren Rinder. Die Ackerbauern erschlossen sich zu dieser Zeit immer weitere Räume Mesopotamiens. Dabei wurden allmählich auch jene Gebiete mit einbezogen, deren agrarische Nutzung die Fähigkeit des Menschen voraussetzte, das Land durch Anlegung von Kanälen zu ent- und bewässern. Insbesondere wurden nunmehr die unterhalb der 200-Millimeter-Isohyete gelegenen Sumpfgebiete und Trockenböden des südlichen Mesopotamien der Landwirtschaft erschlossen. In den Regenfeldbaugebieten war das Mehrprodukt noch begrenzt und von einer ganzen Reihe natürlicher Faktoren abhängig, vor allem von Schwankungen in der Intensität und im Rhythmus der Niederschläge. Das Problem des Überlebens wurde hier gegebenenfalls durch einen Ortswechsel oder den Wechsel des dominierenden Wirtschaftszweiges gelöst. Diese Ausweichmöglichkeit dürfte sich negativ auf das Wachstumstempo der Produktivkräfte ausgewirkt haben. Die Verlagerung des Zentrums der historischen Progression aus den Regenfeldbaugebieten in den Irrigationsbereich, wie sie sich im archäologischen Befund ab etwa 5000 abzeichnet 2 , führte dagegen zu einer starken Beschleunigung sowohl der ökonomischen als auch gesellschaftlichen Entwicklung. Die Ausgrabungen an nordmesopotamischen Ruinenplätzen wie Teil Halaf, Teil Arpatsije sowie vor allem Tepe Gawra 3 haben erkennen lassen, daß sich hier der sozialökonomische Fortschritt zwar in gleicher Richtung vollzog, jedoch etwas langsamer als im Irrigationsbereich. Im Zusammenhang mit dem Bewässerungsbodenbau führten Intensität, Kollektivität und Kontinuität der Arbeit zu einem wesentlich höheren Mehrprodukt. Die dabei geforderte Kommandogewalt, die diese Arbeiten leitete und koordinierte, wurde anfangs noch von den Institutionen der einzelnen Gemeinwesen ausgeübt/' Die Weiterentwicklung der Produktivkräfte dürfte in erster Linie im Fortschritt der Erfahrungen des Menschen sowie der Irrigationstechnik zu suchen sein. Forschungen in dem erst später als das südliche Mesopotamien in die Bewässerungslandwirtschaft einbezogenen Dijäla-Gebiet östlich von Baghdäd haben gezeigt, Vgl. vor allem E . Herzfeld, Die Ausgrabungen von Samarra V. Berlin 1930; H. Schmidt. Teil Halaf I. Berlin 1943. 2 Vgl. jetzt dazu die Ubersichten bei R. M. Adams, The Evolution of Urban Society. Chicago 1965, sowie M. E . L. Mallowan, The Development of Cities from al-'Ubaid to tlie E n d of Uruk 5. Cambridge 1967. Zur Bedeutung der Irrigation für die'Steigerung der Erträge — die Gerste mutierte zu 6zeiliger Form — s. H. Helbaek, Iraq 22 (i960), 186ff. ) M. E . L . Mallowan - J . G. Rose, Iraq 2 (1935), 1 ff. (Arpatsije); E . A. Speiser. Excavations at Tepe Gawra I. Philadelphia 1935; A. J . Tobler, Excavations at Tepe Gawra II. Philadelphia-London 1935. 4 Damit soll betont werden, daß die Notwendigkeit einer Kooperation in der Bewässerungswirtschaft nicht a priori eine Staatsgewalt erforderte. Die Äußerung von Marx in seiner Arbeit über die britische Herrschaft in Indien: „Die unbedingte Notwendigkeit einer

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daß man hier zunächst weitgehend natürliche Wasserläufe nutzte, dann aber immer länger werdende Kanäle abzweigte. 1 Zudem kann angenommen werden, daß der Pflug, der durch Piktogramme erst für das Ende des 4. Jahrtausends sicher nachgewiesen ist, ein wesentlich höheres Alter hat. 2 Diese Bedingungen begünstigten die Entstehung der Klassengesellschaft und des Staates. Sie waren die Ursache dafür, daß der Staat zuerst im Bewässerungsfeldbaugebiet und erst später in den übrigen Bereichen Mesopotamiens entstand. Wir können uns daher im folgenden auf dieses Gebiet konzentrieren.3 Die Erschließung des südlichen Mesopotamien für den seßhaften Ackerbau wird archäologisch vor allem in den Kulturen von Eridu und el-Obed faßbar, die an einer Reihe von Plätzen durch lange Schichtenfolgen eine dauerhafte Besiedlung erkennen lassen.4 Voraussetzung war einerseits ein höheres Maß an Naturbeherrschung, zum anderen aber wohl eine steigende Bevölkerungszahl, die die zwar effektive, jedoch arbeitsaufwendige Kultivierung der Sumpf- oder Trockenböden Südmesopotamiens notwendig machte. Es entstanden lokale Bewässerungssysteme, die sich an Wasserläufen aufreihten und jeweils mehrere Ansiedlungen (Dorfgemeinden?) einbezogen. 5 Zentren solcher Irrigationssysteme 0 waren städtische Siedlungen, wie sie teils durch Ausgrabungen untersucht, teils durch siedlungsgeographische Erkundungen festgestellt worden sind. 7 Das Anwachsen sowohl der Zahl als auch der Größe dieser Städte im sparsamen und gemeinschaftlichen Verwendung des Wassers, die im Okzident, z. B. in Flandern und Italien, zu freiwilligem Zusammenschluß privater Unternehmungen führte, machte im Orient, wo die Zivilisation zu niedrig und die territoriale Ausdehnung zu groß war, um freiwillige Verbände ins Leben zu rufen, das Eingreifen einer zentralisierenden Staatsgewalt erforderlich" (Marx-Engels, Werke Bd. 9, Berlin 1960, 129) trifft voll auf die spätere Entwicklung auch Mesopotamiens zu, bezieht sich aber deutlich nicht auf kleine lokale Bewässerungssysteme. 1 R. M. Adams, Land Behind Baghdad. Chicago-London 1965, 33—45. 2 Zum Pflug s. zuletzt A. Salonen, Agricultura Mesopotamica. Helsinki 1968\ 37—107. ;1 Um Mißverständnisse auszuschließen, sei darauf hingewiesen, daß hier nicht davon ausgegangen wird, daß nur die Bewässerungswirtschaft zur Entstehung des Staates führte, sondern daß sie vielmehr die Ursache dafür war, daß sich der gesellschaftliche Differenzierungsprozeß beschleunigte und früher als im Regenfeldbaugebiet zum Staat führte. Es wurde damit auch nicht ausgeschlossen, daß andernorts bestimmte natürliche Bedingungen gleichfalls die Staatsentstehung begünstigten. « Vgl. etwa N. al-Asil - S. Lloyd - F. Safar, Sumer 3 (1947), 84ff!; S. Lloyd - F.Safar, Sumer 4 (1948), 115ff.; F. Safar, Sumer 5 (1949), 159ff. (Eridu); H. R. Hall - C. L. Woolley, Ur Excavations I : AI - 'Ubaid. Oxford 1927; C. L. Woolley, The Antiquaries Journal 4 (1924), 329ff. (el-Obed). Vgl. S. Lloyd, Iraq 22 (1960), 23ff. sowie J . Oates, Iraq 22 (1960), 32 ff. 5

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Vgl. die Untersuchung des Dijäla-Gebietes, s. R. M. Adams, Land Behind Baghdad. Chicago-London 1965, Karten. Die Untersuchungen im Dljäla-Gebiet (s. Anm. 5) haben gezeigt, daß diese „Zentren" nicht notwendigerweise auch geographisch im Zentrum liegen mußten. Vgl. jetzt vor allem R. M. Adams —H. J . Nissen, The Uruk Countryside. Chicago 1972.

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südlichen Mesopotamien hat dem Zeitraum von etwa 5000 bis etwa 3000 die Bezeichnung einer Periode der „städtischen Revolution" (V. G. Childe) eingetragen oder besser: der Evolution städtischer Zentren, der Urbanisation. 1 Als Beispiel für das Größenwachstum dieser Siedlungen kann die Ortschaft an der Stelle des Teil Uqair, die mit etwa 7 Hektar die bislang größte bekannte Siedlung der Obed-Zeit darstellt, mit dem frühdynastischen Uruk verglichen werden, das 435 Hektar umfaßte. 2 Für die Entstehung des Staates hat die Urbanisation als solche nur eine sekundäre Bedeutung besessen. Wesentlich war die soziale Differenzierung in der Gesamtgesellschaft, die unter den neuen Bedingungen, der Erzielung eines höheren Mehrproduktes, rasche Fortschritte machte. Aber es wäre unrichtig, die Rolle der Stadt bei der Herausbildung der Klassengesellschaft und des Staates in Mesopotamien gering einzuschätzen. Die Stadt wurde nicht nur Träger der kulturellen Entwicklung, sondern auch Zentrum der Akkumulation und Distribution, Vermittler zwischen den einzelnen Produzentenkollektiven, Stätte der Spezialisierung und ökonomischen Verselbständigung von Handwerk und Handel. In den Städten dürften ferner die gentilen Bindungen gegenüber denen des Zusammenwohnens oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht rascher zurückgetreten sein als in den dörflichen Gemeinden. I n Verbindung mit dem Kultzentrum entstanden Großwirtschaften, die in der Lage waren, neu entwickelte Gerätschaften — wie etwa den Pflug oder Werkzeuge aus Metall — sowie Erkenntnisse in der Bewässerungstechnik in der Praxis einzusetzen. Schließlich war in der Stadt auch jene Schicht konzentriert, die wir als die „Gebildeten" dieser Zeit ansprechen können und die durch ihre Leitung und Lenkung des Gemeinwesens ebenfalls produktiv waren. Importe wie Silex aus Arabien, Obsidian aus Armenien oder Anätolien, Asphalt aus Hit oder Kerkük sind in den zur Obed-Kultur gehörenden städtischen Siedlungen ausgegraben worden, und man geht wohl nicht fehl, die Anwendung dieser Materialien in erster Linie auf die Städte zu beschränken. Daß der Handel den Persischen Golf mit einbezog, kann aus dem Fund eines Segelbootmodells aus Ton in Eridu geschlossen werden, das ein seetüchtiges Fahrzeug darstellt. 3 Der archäologische Befund der auf die Obed-Zeit folgenden Uruk-Periode, benannt nach dem südmesopotamischen Uruk/Warka, in dem die Forschungen 1

Der Urbanisation war im Jahre 1958 in Chicago ein Symposiüm des Oriental Institute gewidmet, s. C. H. Kraeling — R. M. Adams (Ed.), City Invincible. Chicago 1960. Als Kennzeichen einer „Stadt" gegenüber einem „Dorf" usw. kann nicht die Ummauerung, das Vorhandensein eines Marktes oder die Größe dienen, sondern der Umstand, daß diese Siedlung das Zentrum für eine Reihe weiterer Siedlungen darstellte. Diese Stellung als Zentrum, gewöhnlich verbunden mit einem gemeinsamen Kultplatz bzw. Tempel, bedingte dann wiederum ein Wachstum der Siedlung sowie auch meist die Existenz eines Marktes. * Vgl. A. Palkenstein, Cahiers d'Histoire Mondiale I 4 (1954), 787. Zu Teil Uqair s. S. Lloyd - F. Safar, Journal of Near Eastern Studies 2 (1943), 131 ff. 1 Vgl. A. Falkenstein, Cahiers d'Histoire Mondiale 14 (1954), 787 sowie S. L l o y d - F . Safar, Sumer4 (1948), 118 pl. V.

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nicht nur ein besonders umfangreiches, sondern auch stratigraphisch gut abgegrenztes Material aus den Schichten VI—IV erbracht haben, führt bereits in das ausgehende 4. Jahrtausend. 1 Die Tongefäße dieser Zeit sind großenteils auf der Scheibe gedreht, die Bauten wuchsen zu monumentalen Formen, und das gesteigerte und komplizierter gewordene Wirtschaftsleben machte eine Schrift erforderlich, deren bislang früheste Beispiele in Uruk IV a entdeckt wurden. Neben Ton und Rohr begann Kupfer eine immer größere Rolle als Rohstoff zu spielen. Aus der nachfolgenden sogenannten „frühdynastischen Zeit" (bis etwa 2350) ist das archäologische Material, das an den verschiedenen Plätzen Mesopotamiens ergraben wurde und für eine Beurteilung des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte und der materiellen Kultur herangezogen werden kann, so umfangreich, daß in diesem Rahmen eine Darstellung kaum möglich und sinnvoll wäre. Hervorzuheben sind die Entwicklung der Metalltechnik, das Wachstum der Tempel und das erste Auftreten von Anlagen, die wir als Paläste ansprechen dürfen, ferner die Ummauerung der städtischen Zentren.2 Es sind das Befunde, zu deren Verständnis man die Entwicklung berücksichtigen muß, die sich im politischen Bereich vollzogen hat. Die Herausbildung einer gegenüber der Gesellschaft verselbständigten politischen Gewalt erfolgte während der zerfallenden Urgesellschaft notwendigerweise in Auseinandersetzung mit den gentilen Traditionen und Institutionen. Dieser Prozeß begann zunächst in den einzelnen Gemeinwesen und erhielt dann bei dem mehr oder weniger gewaltsamen Zusammenschluß mehrerer Gemeinwesen eine neue Qualität. F. Engels hat im „Antidühring" diesen Vorgang wie folgt dargestellt: „In jedem solchen Gemeinwesen bestehen von Anfang an gewisse gemeinsame Interessen, deren Wahrung einzelnen, wenn auch unter Aufsicht der Gesamtheit, übertragen werden muß: Entscheidungen von Streitigkeiten, Repression von Übergriffen einzelner über ihre Berechtigung hinaus, Aufsicht über Gewässer, besonders in den heißen Ländern, endlich . . . religiöse Funktionen. Sie sind selbstredend mit einer gewissen Machtvollkommenheit ausgerüstet und die Anfänge der Staatsgewalt. Allmählich steigern sich die Produktivkräfte; die dichtere Bevölkerung schafft hier gemeinsame, dort widerstreitende Interessen zwischen den einzelnen Gemeinwesen, deren Gruppierung zu größeren Ganzen wiederum eine neue Arbeitsteilung, die Schaffung von Organen zur Wahrung der gemeinsamen, zur Abwehr der widerstreitenden Interessen hervorruft. Diese Organe, die schon als Vertreter der gemeinsamen Interessen der ganzen Gruppe jedem einzelnen Gemeinwesen gegenüber eine besondere, unter Umständen sogar gegensätzliche Stellung haben, verselb1



Vgl. die vorläufigen Berichte von J. Jordan, A. Nöldeke, E. Heinrich und H. J. Lenzen über die Ausgrabungen in Uruk-Warka, Bd. Iff. 2 Ein guter Überblick findet sich bei M. E. L. Mallowan, The Early Dynastie Period. Cambridge 1968. Zur historischen Entwicklung vgl. C. J. Gadd, The Cities of Babylonia. Cambridge 1964, sowie D. 0 . Edzard, Fischer Weltgeschichte 2 (1965), 57-90.

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ständigen sich bald noch mehr, teils durch die in einer Welt, wo alles naturwüchsig hergeht, fast selbstverständlich eintretende Erblichkeit der Amtsführung, teils durch ihre mit der Vermehrung der Konflikte mit anderen Gruppen wachsende Unentbehrlichkeit. Wie diese Verselbständigung der gesellschaftlichen Funktion gegenüber der Gesellschaft mit der Zeit sich bis zur Herrschaft über die Gesellschaft steigern konnte . .., wieweit sie sich bei dieser Verwandlung schließlich auch der Gewalt bediente, wie endlich die einzelnen herrschenden Personen sich zur herrschenden Klasse zusammenfügten, darauf brauchen wir hier nicht einzugehen. Es kommt hier nur darauf an, festzustellen, daß der politischen Herrschaft überall eine gesellschaftliche Amtstätigkeit zugrunde lag, und die politische Herrschaft hat auch dann nur auf die Dauer bestanden, wenn sie diese ihre gesellschaftliche Amtstätigkeit vollzog."1 Diese Gesetzmäßigkeit in der gesellschaftlichen Entwicklung beim Übergang zur Klassengesellschaft und zum Staat, wie sie hier von F. Engels klar formuliert worden ist, kann auch für das frühe Mesopotamien übernommen werden, von dem man zu der Zeit, in der Engels die zitierten Zeilen niederschrieb (1877), noch so gut wie nichts wußte. Daß das zur Verfügung stehende Quellenmaterial auch heute noch nicht gestattet, diesen Prozeß lückenlos und beweiskräftig zu belegen, wurde bereits eingangs betont. Die Resultate der Untersuchungen, die Th. Jacobsen im wesentlichen auf Grund der literarischen Überlieferung vornahm2, stehen zu dieser Verallgemeinerung eines gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses jedenfalls nicht in Widerspruch. Im folgenden soll versucht werden, einige Erwägungen zu bestimmten Aspekten dieses Prozesses anzustellen. Was die „Verfassung" der frühen Gemeinwesen Mesopotamiens betrifft, so kann sie auf Grund ihrer Widerspiegelung in der sumerischen Mythologie sowie des Fortlebens einiger ihrer Bestandteile in historischer Zeit etwa wie folgt skizziert werden: Es existierte eine „Versammlung", bestehend aus den freien männlichen (waffenfähigen, d. h. erwachsenen) Gemeindemitgliedern. Diese Versammlung hatte zunächst real, später wenigstens formell die höchste Gewalt inne, konnte diese aber auch — besonders in Notsituationen und bei kriegerischen Unternehmungen — an eine Einzelperson delegieren. Die Versammlung entschied über Krieg und Frieden und alle Angelegenheiten von Bedeutung. Sie repräsentierte die Gemeinschaft, ohne die der einzelne nicht existieren konnte. Ein Rat der „Ältesten", wie er im inschriftlichen Material historischer Zeit oft bezeugt ist 3 , spielte eine Rolle bei der Entscheidungsvorbereitung sowie als Leitung der. Gemeindeangelegenheiten zwischen den Versammlungen. In letzterer Funktion wurde der Rat allmählich von einer Einzelperson zurückgedrängt, dem Anführer o. ä. Dieser wurde zunächst nur zeitweilig berufen, strebte aber danach, sein Amt erblich und permanent zu machen. Der Prozeß der Staatsentstehung ist eng mit der Konzentration politischer Gewalt in den » Marx-Engels, Werke Bd. 20, Berlin 1968, 166 f. Vgl. dazu auch 169 f. 2 Zeitschrift für Assyriologie, NF 18 (1957), 91 ff. a Vgl. H. Klengel, Orientalia NS 29 (1960), 357 ff.

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Händen dieses Anführers verbunden, die durch eine Reihe von Faktoren begünstigt wurde. Der wichtigste dieser Faktoren war die mit dem Wachstum der Produktivkräfte verbundene Steigerung der Arbeitserträge, die wiederum ein Anwachsen der Bevölkerungszahl herbeiführte. Es kam dadurch allmählich zu einem engeren Kontakt zwischen den einzelnen Gemeinwesen, wobei zu betonen ist, daß in Mesopotamien sowohl im Bereich des Bewässerungsfeldbaus als auch des Regenfeldbaus zunächst noch genügend Landreserve vorhanden war, die dem Ackerbau erschlossen werden konnte. Die wachsende Bevölkerungszahl führte daher nur nach einem längeren Prozeß der Ausdehnung der Gemeindeländereien zu verstärkten Reibungen mit den Nachbargemeinden; wir können einige dieser Auseinandersetzungen dann im Inschriftenmaterial der frühdynastischen Zeit erkennen. 1 „Die Erde an sich - so sehr sie Hindernisse darbieten mag, um sie zu bearbeiten, sich, wirklich anzueignen — bietet kein Hindernis dar. sich zu ihr als der unorganischen Natur des lebendigen Individuums, seiner Werkstätte, dem Arbeitsmittel, Arbeitsobjekt und Lebensmittel des Subjekts zu verhalten. 1 Die Schwierigkeiten, die das Gemeinwesen trifft, können nur von anderen Gemeinwesen herrühren, die entweder den Grund und Boden schon okkupiert haben oder die Gemeinde in ihrer Okkupation beunruhigen. Der Krieg ist daher die große Gesamtaufgabe, die große gemeinschaftliche Arbeit, die erheischt ist, sei es um die objektiven Bedingungen des lebendigen Daseins zu okkupieren, sei es um die Okkupation derselben zu beschützen und zu verewigen." 2 Die Leitung der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Nachbargemeinden wurde einem Anführer übertragen, der wohl einerseits dazu besonders befähigt war, andererseits — wenn wir hier eine Analogie zu rezenteren Beispielen zugrunde legen dürfen, die die Völkerkunde geliefert hat — einer angesehenen und wohlhabenden Familie entstammte. 3 E s ist anzunehmen, wenn auch nicht zu beweisen, daß diesem militärischen Anführer größere Anteile aus der Beute zufielen. Der gewaltsame Zusammenschluß mehrerer Gemeinwesen oder Kooperationssysteme ermöglichte es dem Anführer, sich aus dem Verband einer Gemeinde zu lösen und als übergeordnete Instanz in dieser neuen Einheit eine permanente Funktion auszuüben. Die Entfremdung der politischen Gewalt gegenüber der Gemeinde, deren Beauftragung sie ihren Ursprung verdankte, wurde dadurch gefördert — auch wenn der Anführer Besitzer des Produktionsmittels Boden zunächst nur als Mitglied einer bestimmten Gemeinde war. Der äußere Widerspruch zu anderen Gemeinden oder- Stämmen war ein Faktor, der es dem militärischen Anführer erleichterte, aus einem auf Zeit gewählten Heerführer zu einem erblichen Herrscher zu werden. Das Hervor1

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Bekanntestes Beispiel sind die wiederholten Kämpfe zwischen Umma und Lagas, s. dazu zuletzt C. J . Gadd, The Cities of Babylonia. Cambridge 1964, sowie D. O. Edzard, Fischer Weltgeschichte 2 (1965), 83 f. K. Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen. Berlin 1952, 9. Vgl. auch Th. Jacobsen, Zeitschrift für Assyriologie, N F 18 (1957), lOOff. - Wenn dabei von Wohlhabenheit gesprochen wird, so impliziert das nicht a priori eine Durchbrechung des Gemeineigentums am Produktionsmittel Boden; vgl. dazu noch unten.

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treten der Anführer zeigt sich um etwa 3000 in den bildlichen Darstellungen auf Rollsiegeln1, und noch vor der Mitte des 3. Jahrtausends treten Herrscher mit eigenen Inschriften als früheste historische Persönlichkeiten auf.2 Ihre eigenen Mittel sowie die Kriegsbeute ermöglichten es ihnen vielleicht, eine besondere Gefolgschaft zu halten. 3 .Die Zunahme der kriegerischen Auseinandersetzungen spiegelt sich im archäologischen Befund des frühdynastischen Mesopotamien vor allem in der beginnenden Ummauerung der städtischen Zentren wider. Bekanntestes Beispiel dafür ist die große Stadtmauer von Uruk, deren Bau im Gilgames-Epos einen literarischen Widerhall gefunden hat. 4 Die Leitung der militärischen Unternehmungen war jedoch nur ein Moment,, das die Herausbildung und vor allem die Verselbständigung der politischen Gewalt begünstigte. Diese Seite allein vermag noch nicht zu erklären, warum es zur Überwindung des Stadiums der zerfallenden Urgesellschaft kam, das wir als „militärische Demokratie" bezeichnen können. 5 Die Leitung der Produktion des Lebensunterhaltes, wahrgenommen zunächst vom Ältestenrat allein, erforderte mit wachsender Ausdehnung und Effektivität der Produktion einen höheren Arbeitsaufwand. Das war insbesondere im mesopotamischen Süden mit seiner Bewässerungslandwirtschaft der Fall, wo die einzelnen Arbeitsphasen, vor allem die Zuführung des Wassers, eine kontinuierliche Koordinierung erforderten. Gegenüber der Leitung kriegerischer Aktionen war das ein ständiges 'Erfordernis ; mit der Vergrößerung der Kooperationseinheiten oder ihrem gewaltsamen Zusammenschluß mit anderen wuchs die Kompliziertheit der ökonomischen Aktivitäten und deren Organisation. Sie konnten kaum noch von dem Ältestenrat der einzelnen Gemeinwesen wahrgenommen werden, sondern forderten eine 1 Vgl. allgemein A. Falkenstein, Fischer Weltgeschichte 2 (1965), 42. Bislang älteste Original-Inschrift eines Herrschers Mesopotamiens ist die des Mebaragesi von Kiä, s. D. 0 . Edzard, Zeitschrift für Assyriologie, NF 19 (1959), 9ff. (28./27. Jahrhundert). 3 Vgl. Th. Jacobsen, a. a. O. 4 Umwallungen gab es bereits bei neolithischen Zentren der Regenfeldbaugebiete wie Qatal Hüyük in Anatolien, Ugarit/Räs Samrä in Nordsyrien, Jericho in Palästina sowie Teil es-Sawwan nahe Sämarrä am mittleren Tigris. Die Art der Befestigungen zeigt, daß sie nicht zum Schutz gegen wilde Tiere dienten, sondern gegen feindliche Menschengruppen. Für sich allein stellt die Umwallung bzw. Ummauerung einer Siedlung keinen Hinweis auf die Existenz einer staatlichen Autorität dar. 5 Der Begriff „militärische Demokratie" bedürfte hinsichtlich seiner Anwendung auf die mesopotamische Frühzeit noch einer genaueren Überprüfung und zeitlichen Abgrenzung. Er bezeichnet den Überbau der letzten Phase der zerfallenden Urgesellschaft und überdeckt sich etwa mit der von Th. Jacobsen dargestellten „primitiven Demokratie" sowie der von W. Sellnow (S. 19f.) charakterisierten „gentilpolitischen" Entwicklungsstufe, ohne daß eine völlige Gleichsetzung mit diesen Begriffen möglich ist. Wenn wir die Zeit der „militärischen Demokratie" bis zum voll ausgebildeten Staat, d. h. in Mesopotamien der Monarchie, hin ausdehnen (vgl. dazu auch I. M. Diakonoff, in: Ancient Mesopotamia, 185), würde dabei die von Th. Jacobsen beschriebene „primitive Monarchie" (a. a. O., 112ff.) mit eingeschlossen sein.

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Zentralisierung sowie einen mit dieser zentralen Institution verbundenen Apparat. Der erhöhte Arbeitsaufwand für die Leitungstätigkeit machte die Freistellung der damit von der Gemeinde beauftragten Personen von der unmittelbaren Produktion notwendig. Für diesen zusätzlichen Aufwand — wohl auch für die Repräsentanz der Gemeinde sowie die Gewährung des Asyl- und Gastrechts — konnte dem Leiter aus dem gesellschaftlichen Mehrprodukt ein besonderer Anteil zugewiesen werden. Diese Abgabe, die auch für die Durchführung größerer Vorhaben, wie etwa Kanalbauten, verwendet werden sollte und gewiß auch wurde, stellte kein Ausbeutungsverhältnis dar, sondern entsprach den Interessen der Gemeinschaft. Sie wurde erst im Laufe der weiteren Entwicklung in ein Ausbeutungsverhältnis umgeformt, wenn ein immer größerer Teil der höher werdenden Abgaben nicht in die gesellschaftliche Reproduktion floß, sondern der privaten Konsumtion oder Akkumulation des Leiters und der mit ihm verbundenen Personen zugeführt wurde. Je größer das Mehrprodukt war, desto lohnender wurde die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und um so mehr strebte die herrschende Schicht danach, die Verfügungsgewalt über dieses Mehrprodukt zu erhalten. Dabei entwickelte sich einerseits eine Ausbeutung seitens des Staates, andererseits eine Ausbeutung durch Einzelpersonen, die sich mittels eines ökonomischen Zwanges das von Abhängigen und Sklaven erarbeitete Mehrprodukt aneigneten. Es war das ein Prozeß, den wir aus den Quellen nur hinsichtlich seiner Ergebnisse, nicht aber seines Verlaufes kennen. Der Anführer und die — mit ihm teilweise verbundene — Aristokratie, die sich in den Gemeinden herausgebildet hatte, wurden in ihrem Bestreben, sich einen immer größeren Anteil am gesellschaftlichen Mehrprodukt zu sichern, durch das noch existierende Gemeineigentum gehindert. Da die Existenz dieses Gemeineigentums die Anwendung des ökonomischen Zwanges einschränkte, gewann die außerökonomische Gewalt bei der Erlangung dieses größeren Anteils am Mehrprodukt besondere Bedeutung. Die Entstehung des Staates in Mesopotamien, ein komplizierter und vielschichtiger Prozeß von längerer Dauer, wird nur verständlich, wenn die Entwicklung auf dem Gebiet der Ideologie berücksichtigt wird. Die Durchbrechung der gentilen Traditionen auch in diesem Bereich war eine Voraussetzung für die Entstehung der gegenüber der Gesellschaft verselbständigten politischen Gewalt und den Übergang zum Staat. Die Gleichberechtigung innerhalb einer Kultgemeinde mußte überwunden werden und eine Einzelperson oder Personengruppe sich als Repräsentant der Gemeinde im Kult und „erster Diener" der Götter etablieren. Diese Entwicklung läßt sich im Quellenmaterial des frühen Mesopotamien nicht genauer verfolgen. Königsinschriften sowie bildliche Darstellungen der frühdynastischen Zeit deuten auf den Anspruch des Herrschers, das von ihm regierte Gemeinwesen auch gegenüber der Gottheit zu repräsentieren und zugleich der zu sein, durch den sich der göttliche Wille offenbarte. Er vermochte dadurch seiner eigenen Befehlsgewalt den Anschein des Vollzugs göttlicher Weisungen zu geben und auch die Verfügung über jenen Teil des gesellschaftlicher? Mehrprodukts zu gewinnen, der den

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Göttern zum Opfer dargebracht wurde. Die entstandene Ordnung wurde als „heilig" nicht nur deklariert, sondern gewiß auch so verstanden, und Dienst am Herrscher war zugleich Dienst zum Wohl der Gemeinschaft. Der Umstand, daß in der Frühdynastisch-II- und -HI-Periode „Gefolgschaftsbestattungen" in Mesopotamien nachweisbar sind 1 , zeigt deutlich, daß es dem Anführer der vorstaatlichen Zeit gelungen war, auch auf religiösem Gebiet eine besondere Stellung zu okkupieren. Der archäologische Befund einschließlich der frühdynastischen Periode Mesopotamiens macht insbesondere das Wachstum der Tempel augenfällig. 2 Sie zeugen einerseits von der Vergrößerung der Kultgemeinden und deren höherem Mehrprodukt und lassen außerdem eine einheitliche Planung und Leitung dieser für den Gott gedachten kollektiven Arbeitsleistung vermuten. Das bislang klarste Beispiel haben hier die Ausgrabungen im südmesopotamischen Eridu geliefert, die die Entwicklung des Tempels ab etwa 5000 über viele Schichten hinweg verfolgen lassen. Das von einem Doppelwall umgebene Tempeloval von Hafägi, das in frühdynastischer Zeit errichtet wurde, umschloß ein Areal von 8000 Quadratmetern; insgesamt mußten für die Anlage etwa 64000 m 3 Erde ausgehoben werden — eine Leistung, die nur durch das koordinierte Zusammenwirken vieler Arbeitskräfte möglich war. Der große Hof des Heiligtums konnte mit seinen 56 x 38 m zahlreiche Gläubige aufnehmen, während das Allerheiligste nur wenigen Personen Platz gewährte. 3 Das kann zusammen mit den inschriftlichen Nachrichten aus frühdynastischer Zeit sowie auch bildlichen Darstellungen als ein Hinweis darauf gewertet werden, daß die ursprüngliche Gleichheit innerhalb der kultischen Gemeinschaft zerbrochen war. Die Priesterschaft vermochte sich zu verselbständigen und ihre Position sowohl ideologisch als auch ökonomisch auszubauen. Ihr kam dabei zunutze, daß sie die „gebildete" Schicht dieser Zeit repräsentierte, deren Kenntnisse auch im Produktionsprozeß benötigt wurden. Die Entwicklung der Produktivkräfte und — damit verbunden — die kontinuierliche Erzeugung eines erhöhten Mehrproduktes, die beginnende Verselbständigung einer politischen Gewalt gegenüber der Gesellschaft sowie auch Veränderungen im religiös-kultischen Bereich, wie sie kurz skizziert wurden, waren Voraussetzungen für die endgültige Durchbrechung und Ablösung der urgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Dieser Prozeß vollzog sich in den einzelnen Bereichen Mesopotamiens zeitlich unterschiedlich und auch mit verschiedenen Ausprägungen, in denen jeweils der eine oder andere Aspekt stärker hervortrat. In den historisch progressivsten Gebieten, denen mit künstlicher Dazu überblicksweise zuletzt M. E. L. Mallowan, The Early Dynastie Period. Cambridge 1968, 42 f. 2 Vgl. die Übersicht bei H. J . Lenzen, Zeitschrift für Assyriologie, NF 17 (1955), Iff. :< Vgl. P. Delougaz, The Temple Oval at Khafajah. Chicago 1940; M. E. L. Mallowan, The 1

Early Dynastie Period. Cambridge 1968, 28 f. 4

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Bewässerung, war er spätestens am Ende der frühdynastischen Zeit abgeschlossen, also etwa um die Mitte des 3. Jahrtausends; Relikte der urgesellschaftlichen Ordnung haben auch später noch fortbestanden und sogar durch die Zuwanderung von gentil organisierten Gruppen immer wieder eine Stützung erfahren. Der Staat entstand in dem Maße, in dem es die mit der Leitung der Produktion, der Kriege und des Kultes beauftragte Schicht vermochte, die objektiven Bedingungen und Möglichkeiten zu nutzen, sich in eine herrschende Klasse umzuwandeln und die zur Sicherung ihrer Herrschaft notwendigen Organe zu schaffen. Erst auf der Grundlage veränderter Eigentumsverhältnisse konnten sich die einzelnen Elemente des Staates zu einem System verbinden. Die Entstehung von Klassen — bestimmt jeweils durch ihren Platz in dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß und ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln, vor allem dem Boden — sowie andererseits des Staates als gegenüber der Gesellschaft verselbständigte politische Gewalt und Machtinstrument der herrschenden Klasse ist als ein dialektisches Verhältnis aufzufassen, bei dem Fragen nach Prioritäten schwer zu beantworten sind. Das ursprüngliche Gemeineigentum, von dem wir auch bei einer Betrachtung der Eigentumsverhältnisse im frühen Vorderasien ausgehen dürfen, ist in einem langwährenden, sich jedoch beschleunigenden Prozeß zersetzt worden. Diese Entwicklung läßt sich in den Quellen, die aus Mesopotamien zur Verfügung stehen, erst in ihrer letzten Phase klarer erfassen, beim Übergang zur altorientalischen Klassengesellschaft. Vielleicht darf man annehmen, daß die Herausbildung eines Eigentumsverhältnisses gegenüber dem Herdenvieh auch auf die Beziehungen zum Boden als wichtigstem Mittel der Produktion nicht ohne Einfluß geblieben ist. 1 Die Nutzung bestimmter Bodenparzellen durch einzelne Gruppen der Gemeinschaft über einen längeren Zeitraum hin scheint zunächst zum individuellen Eigentum an Boden geführt zu haben; es wurde jedoch durch das noch existierende Gemeineigentum vermittelt und eingeschränkt. Die Veräußerlichkeit von Boden wurde damit nicht ausgeschlossen; gerade die ältesten bislang lesbaren mesopotamischen Schrifturkunden (1. Hälfte des 3. Jahrtausends) stellen Kaufverträge über Felder dar.2 Aus diesen Urkunden wird zugleich eine soziale Differenzierung deutlich, wie sie auf Grund des archäologischen Befundes sowie von Analogien aus den Verhältnissen bei Nomadenstämmen neuerer Zeit auch für die Perioden vor dem Einsetzen von Schriftquellen angenommen werden darf. 3 Die ungleichmäßige Verteilung des gesell» 1

Es ist wohl kein Zufall, daß in den frühen Urkunden Eigentumsrechte an Boden eher für das enger mit der (Nomaden-)Viehzucht verbundene mittlere als für das südliche Mesopotamien nachweisbar werden. 2 D. O. Edzard, Sumerische Rechtsurkunden des III. Jahrtausends. München 1968, 167-198. 3 Für den archäologischen Befund mit seinen Unterschieden in Hausbau und Grabausstattung vgl. den Überblick bei M. E. L. Mallowan, The Development of Cities. Cambridge 1967, sowie ders., The Early Dynastie Period. Cambridge 1968. Für die Situation bei Beduinenstämmen im Übergang zur Seßhaftigkeit vgl. zuletzt L. Stein, Die Sammar-

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schaftlich produzierten Mehrproduktes an die einzelnen Mitglieder der Gemeinwesen, die mit Leitungsfunktionen betraut waren, wirkte ihrerseits wieder auf die Eigentumsverhältnisse an Boden zurück. Es bildete sich ein Sondereigent um des Anführers und der Aristokratie heraus, offenbar einerseits durch Inanspruchnahme der Landreserve der Gemeinde, andererseits durch besondere Landzuweisungen aus dem bereits agrarisch genutzen Land. 1 Diese Felder kamen zu jenen hinzu, die die einzelnen Familien bereits als Mitglieder der Gemeinde besaßen. Wie die altsumerischen Urkunden bezeugen, vermochten Wohlhabende, darunter auch der Herrscher selbst, ihren Landbesitz durch Feldkäufe zu erweitern. 2 So trat allmählich ein mit der werdenden Staatsgewalt verbundenes Eigentum dem Gemeineigentum gegenüber, das in sich selbst aber bereits nicht mehr einheitlich war, sondern sich zu einem immer größer werdenden Teil aus dem Eigentum von kleinen Produzenten zusammensetzte. Für die Bearbeitung dieses Eigentums des Anführers und der Aristokratie reichten die in den eigenen Familien oder Sippen verfügbaren Arbeitskräfte nicht mehr aus. Da andererseits, soweit wir sehen können, Sklaven zwar schon existierten, jedoch noch nicht in größerem Umfang in der unmittelbaren landwirtschaftlichen Produktion eingesetzt wurden, 3 mußte die sich herausbildende herrschende Klasse versuchen, Arbeitskräfte durch ökonomischen oder aber außerökonomischen Zwang zu gewinnen. Auf die Rolle, die der außerökonomische Zwang bei der Vergrößerung des'Anteils am Mehrprodukt spielte, ist bereits hingewiesen worden; hier müssen wir nun auf die Durchbrechung urgesellschaftlicher Traditionen in der Ideologie, d. h. der Religion, zurückkommen. Es wurde bereits erwähnt, daß der Anführer, der im folgenden als Herrscher bezeichnet werden soll und kann, auch Kompetenzen auf dem religiös-kultischen Gebiet f ü r sich in Anspruch nahm. Als Vertreter des Gemeinwesens gegenüber der Gottheit einerseits und Stellvertreter der Gottheit gegenüber der Gemeinde andererseits repräsentierte er in seiner Person die Gemeinschaft. Er wurde die „zusammenfassende Einheit", die „als der höhere Eigentümer oder als der einzige Eigentümer erscheint, die wirklichen Gemeinden daher nur als erbliche Besitzer." 4 Diese Rolle des Herrschers als „höhere Einheit" ermöglichte die Ver-

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Öerba. Berlin 1967, 127—186. — A. A.BaöMaH in: nepeaHea3HaTCKiiü cöopHHK II. MocKBa 1966, 9f., möchte eine ungleichmäßige Verteilung von Boden auch den piktographischen Urkunden des frühen 3. Jahrtausends entnehmen. Zum Inhalt der Urkunden aus frühdynastischer Zeit vgl. den Überblick bei D. O. Edzard, Fischer Weltgeschichte 2 (1965), 78 ff. So M. M. JlbHKOHOB, BeCTHHKflpeBHeitHCTOpHH 4/1968, 3ff. D. O. Edzard, a. a. O. Neben Feldkäufen handelt es sich in den hier interessierenden Urkunden aus frühdynastischer Zeit vor allem um Hauskäufe. Sklaven waren anfangs wohl ausschließlich fremdstämmige Gefangene. Sie werden in den Keilschrifttexten durch die Kombination der Zeichen „Fremdland" und „Mann" bzw. „Frau" bezeichnet. Zur Darstellung von Gefangenen auf Siegeln aus Uruk IV s. H. J. Lenzen, Zeitschrift für Assyriologie, NF 15 (1950), 9, Abb. 4 u. 5. K. Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen. Berlin 1952, 7.



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fügung über einen größeren Teil des Mehrproduktes, der in Form von Abgaben eingezogen wurde. „Das Surplusprodukt — das übrigens legal bestimmt wird infolge der wirklichen Aneignung durch Arbeit — gehört damit von selbst dieser höchsten Einheit." 1 Sie wird ferner zur Legitimation der Heranziehung von Arbeitskräften nicht nur zu den gemeinsamen, „öffentlichen" Arbeiten gedient haben, sondern auch für die Bestellung von Feldern der sich ausdehnenden eigenen Wirtschaft des Tempels bzw. Herrschers.2 Das Königtum selbst war „vom Himmel herabgekommen", wie es in der sumerischen Königsliste heißt, die damit gewiß eine verbreitete Vorstellung widerspiegelt.3 Wie die Urkunden bereits aus der frühdynastischen Zeit bezeugen, bedeutet die Rolle des Herrschers als fiktiver Obereigentümer jedoch nicht, daß er das auch in der Realität war, d. h. daß er sich zum gesamten Grund und Boden seines Bereiches als wirklicher Eigentümer verhielt/1 Das Tempel- bzw. Königsland machte vielmehr nur einen Teil des bewirtschafteten Bodens aus. Die zuvor skizzierte Entwicklung, die zur Herausbildung und Festigung einer vom König repräsentierten Staatsgewalt führte, ist nicht reibungslos verlaufen. Sie mußte sich vielmehr gegen den Widerstand durchsetzen, der ihr einerseits von den Dorfgemeinden und ihrer Aristokratie, andererseits -in wachsendem Maße von der Priesterschaft der großen Tempel entgegengestellt wurde. In diesen Auseinandersetzungen wurde der Herrscher von mehreren Faktoren begünstigt: Einmal entsprach die von ihm angestrebte Zentralisierung der Gewalt und Kontrolle der Entwicklungstendenz der Produktivkräfte, insbesondere im Bereich des Bewässerungsbodenbaus. Sodann traten ihm die Dorfgemeinden und auch die Priesterschaft offenbar nicht geschlossen entgegen, sondern ein Teil ihrer Vertreter verbündete sich mit dem Herrscher, um ihre eigenen Sonderinteressen mit Hilfe der in den Händen des Königs bereits konzentrierten politischen Macht zu realisieren. Ferner vermochte der Herrscher seine Rolle als „höhere Einheit" auszunutzen, als Repräsentant der Gemeinschaft sowie als Anführer in den immer häufiger werdenden und größere Ausmaße annehmenden militärischen Auseinandersetzungen. Im Kampf gegen die alte Aristokratie, die mit der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung „demokratischer" Verhältnisse de facto reaktionäre Ziele verfolgte, dürfte sich der König 1

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Ebenda. Eine Rolle spielte bei der Durchsetzung des politischen Machtanspruchs des Herrschers auch die Vorstellung vom Hirten und seiner Herde, vgl. dazu I. Seibert, Hirt— Herde-König. Berlin 1969, 2 - 6 . Die Verköstigung der Arbeitskräfte wurde seitens des Tempels übernommen; vgl. die Verpflegungsliste aus Uruk I I I bei A. Falkenstein, Archaische Texte aus Uruk. Leipzig 1936, 48. Th. Jacobsen, The Sumerian King List. Chicago 1939, Kol. I 1. So auch H. M.flbHKOHOB,BecTHHK ApeBHCö nc'ropnn 4/1967, 22. Die schwierige Frage nach dem „Eigentum" im Altertum, vor allem im Alten Vorderen Orient, ist zuletzt von B. A. MeHaöfle, in: BonpöcwflpeBHeü McropnH (KaBKa3CK0-BjTH)KHeB0CT0iHtift cöopHHK III). TCHJIHCH 1970, 31 ff., diskutiert worden.

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mit den breiten Schichten der einfachen Bevölkerung verbündet haben.' Da diese alte Aristokratie sich im wesentlichen, was die Ausübung politischer Macht betraf, auf ihre Repräsentanz in den „demokratischen" Institutionen, vor allem dem Ältestenrat, gestützt haben dürfte, mußte der Herrscher versuchen, diesen Institutionen ihre Befugnisse zu nehmen bzw. sie auf unwesentliche Kompetenzen einzuschränken. Ein Zwischenstadium in dieser Auseinandersetzung wird in einer literarischen Überlieferung Mesopotamiens angezeigt, der sumerischen Erzählung von Gilgames und Aka 2 : Gilgames von Uruk wurde demnach von Aka, dem Herrscher von Kis, zur Unterwerfung aufgefordert. Gilgames brachte die Angelegenheit vor die Ältesten Uruks, die ihm rieten, der Forderung des Gegners zu entsprechen. Da Gilgames selbst für die bewaffnete Auseinandersetzung war, legte er die Frage, ob Unterwerfung oder Krieg vorzuziehen sei, einem anderen Gremium vor, der Versammlung der waffenfähigen Männer; diese stimmten ihm zu, und der Kampf gegen Aka wurde aufgenommen. Die epische Erzählung zeigt einerseits Ältestenrat und Volksversammlung — die hier ebensowenig wie anderenorts eine Versammlung des gesamten Volkes darstellte — noch in Funktion. Sie werden aber vom König einberufen und von ihm gegeneinander ausgespielt; der König vermag sich über den Rat der Ältesten hinwegzusetzen. Zugleich wird nunmehr betont, daß der König sein Amt nicht einer Wahl durch die „demokratischen" Institutionen verdankte, sondern den Göttern selbst. 3 Da das Königtum, wie es in der bereits erwähnten sumerischen Königsliste heißt, „vom Himmel herab" gekommen war, oblag es auch allein den Göttern, dieses Amt zu besetzen. Ein Frevel gegenüber dem Königtum war damit zugleich zur Sünde wider die Götter und ihren Ratschluß erklärt. Diese ideologische Stütze einer Herrschaft bedurfte der Anerkennung und Propagierung durch die Priesterschaft, und es kam für den König darauf an, sich die Mitwirkung der Priesterschaft zu sichern bzw. diese seinem Willen zu unterwerfen. Der König wurde in seinem Bestreben, sich gegenüber den Gemeinden und ihren Organen zu verselbständigen, von der Entwicklung begünstigt, die innerhalb der Gemeinden vor sich ging. E s handelte sich im wesentlichen um die Zersetzung der Dorfgemeinden, um ihre Umwandlung aus einem kollektiven Eigentümer von Boden in ein Kollektiv von Eigentümern/' Dieser Prozeß, dessen Ergebnis dann in der altbylonischen Zeit (etwa 1. Hälfte des 2. Jahrtausends) deutlich in den Keilschrifttexten faßbar wird, kann in diesem Rahmen nicht dargestellt werden; es muß hier genügen, die Tendenz der Entwicklung anzudeuten und auf ihre Bedeutung für die Verselbständigung der politischen Gewalt des Herrschers hinzuweisen. Sie kam dem König insofern entgegen, als 1 2

3 4

Vgl. auch I. M. Diakonoff, in: Ancient Mesopotamia, 192. Übersetzung bei S. N. Krämer, in: Ancient Near Eastern Texts Relating to the Old Testament, edited by J . B. Pritchard (2nd edition). Princeton 1955, 44—47; zur Interpretation vgl. Th. Jacobsen, Zeitschrift für Assyriologie N F 18 (1957), l l ö f f . Th. Jacobsen, a. a. 0., 116. H. M. FLBHKOHOB, BCCTHHK «pennelt iieropiiH 3/1968, 5.

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HORST K L E N G E L

er als „oberste Einheit" in diese neuen Eigentumsverhältnisse leichter eingreifen konnte, um seine eigene Wirtschaft zu erweitern und seinen Grundbesitz auszudehnen. Für die Auseinandersetzung des Herrschers mit der Priesterschaft oder besser der Aristokratie der Tempel gibt es Hinweise sowohl im archäologischen Befund als auch in der inschriftlichen Überlieferung. In der späteren frühdynastischen Periode wird eine räumliche Trennung und gegenseitige Abgrenzung von Tempel und Palast sichtbar; die frühesten Palastbauten lassen sich bisher in Eridu, Kis und Mari erkennen1. In den Inschriften hat diese Auseinandersetzung ihre deutlichste Widerspiegelung in den „Reformen" des Urukagina/'Uruinimgina (um 2360) gefunden; sie zeigen eine zeitweilige Zurückdrängung der ökonomischen und politischen Macht des Herrschers2, der versucht hatte, Tempelland in Königsland umzuwandeln. Diese Erscheinungen sind vor dem Hintergrund des Kampfes um die Verfügungsgewalt über das ständig wachsende Mehrprodukt sowie um den Boden als Hauptproduktionsmittel zu betrachten. Der König mußte versuchen, zur Stützung und Weiterentwicklung seiner politischen Macht seine eigene Wirtschaft (das „große Haus", sumerisch e.gal) auszudehnen. Je mehr sich die Möglichkeit verringerte, diese Expansion der königlichen Hauswirtschaft auf Kosten des „Reserve"-Landes vorzunehmen, das noch nicht in eine individuelle Nutzung übergegangen war, desto mehr mußte sie danach streben, Tempelland in Königsland umzuwandeln. Dieser Prozeß wurde durch machtpolitische Veränderungen, die zum Teil mit dem Zustrom von Nomadengruppen ins mesopotamische Kulturland in Verbindung standen, zweifellos gefördert. Er wurde ferner begünstigt durch die Rolle, die der König als oberster Repräsentant der Gemeinschaft auch gegenüber der Gottheit, als oberster Kultfunktionär, spielte. In der Zeit, die der frühdynastischen Periode unmittelbar folgte, setzte sich das Königtum ökonomisch, politisch und auch ideologisch durch. Die Staatsmacht bedurfte, als sich die von ihr beherrschten politischen Einheiten vergrößerten, in wachsendem Maße eines eigenen Apparates. Während sich der Staat noch formte und sich antagonistische Klassen ausprägten, vollzog sich innerhalb der politisch führenden Schicht der herrschenden Klasse ein Umbildungsprozeß. Die alte Aristokratie wurde weitgehend durch Personen ersetzt, die durch den König beamtet worden waren und ihre Machtposition der Verbindung mit dem Herrscher verdankten, nicht gentilen Traditionen oder einem unabhängig vom Herrscher erworbenen Vermögen. Das bedeutet nicht, daß diese neue Führung der herrschenden Klasse sich nicht aus der alten rekrutieren konnte; wesentlich ist der inhaltliche Wandel. Die erwähnte Beauftragung durch die Gesellschaft, d. h. die Gemeinde oder den Stamm, wurde hier nunmehr ersetzt durch eine Beauftragung seitens des Herrschers. 1 Vgl. D. O. Edzard, Fischer Weltgeschichte 2 (1965), 77; M. E. L. Mallowan, The Early Dynastie Period. Cambridge 1968. 6. 2 Zur Interpretation in diesem Sinnt s. I. M. Diakonoff, in: Ancient Mesopotamia, 190.

Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien

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Der Staat ist in Mesopotamien also innerhalb eines Entwicklungsprozesses entstanden, der in seinen Anfängen zeitlich schwer zu fixieren ist; es wurde bereits betont, daß hier zwischen den einzelnen Bereichen Mesopotamiens, vor . allem zwischen denen mit Irrigation und denen mit Regenfeldbau, differenziert werden muß. Aus einem frühen Stadium der Herausbildung einer staatlichen Gewalt hat sich dann vor allem in der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends der Staat in seiner vollentwickelten Form ausgeprägt, war dann aber auch weiterhin Umbildungen unterworfen, die hier nicht mehr Gegenstand der Darstellung sein können. Während der sogenannten frühdynastischen Zeit müssen sich die Gegensätze zwischen den Klassen so weit verschärft haben, daß sie auch durch ideologische Verhüllungen, d. h. vor allem religiöse Verbrämungen, nicht mehr überbrückt werden konnten. Die Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze führte einerseits zur Entstehung des Staates, während andererseits „das Bestehen des Staates beweist, daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind."1 Diese Feststellung ist für das frühe Mesopotamien auch insofern von Bedeutung, als die Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze, konkret widergespiegelt im Kampf der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter, im archäologischen und inschriftlichen Material dieser Zeit nur in schwachen Ansätzen erkennbar wird. Sie reichen nicht aus, um ein klares Bild vom Stand der Entwicklung und von den Formen dieser Auseinandersetzungen zu erhalten. Hier gewinnt erst das Quellenmaterial, das für spätere Perioden mesopotamischer Geschichte vorliegt, an Aussagekraft. » W. I. Lenin, Werke Bd. 25, Berlin 1960, 399.

Zum Problem der Staatsentstehung in China v o n THOMAS THILO ( B e r l i n )

1.

Das Problem der Staatsentstehung in China hat trotz seiner großen Bedeutung und trotz seines zwangsläufigen Auftauchens in allgemeinen Darstellungen der alten chinesischen Geschichte bis heute keine spezielle Untersuchung erfahren.1 Es gehört zweifellos zu den schwierigsten und unklarsten der Sinologie. Daran haben auch die vielen neuen Erkenntnisse, die die chinesische Altertumsforschung in den letzten Jahrzehnten erbracht hat, nichts zu ändern vermocht. Wenn im folgenden versucht wird, den Stand unserer Kenntnisse über dieses Problem kurz zu umreißen und auf einige Aspekte hinzuweisen, die bei seiner Behandlung eine Rolle spielen, so geschieht das im vollen Bewußtsein der Kompliziertheit dieses Problems und des hypothetischen Charakters der meisten Aussagen dazu.2 Gerade für China hat die Frage nach der Entstehung des Staates sehr große Bedeutung, da die Geschichte der chinesischen Gesellschaft in hohem Grade durch das Eingreifen des Staates in die verschiedensten Lebensbereic-he, durch ein im Vergleich zu anderen Ländern äußerst großes Gewicht der staatlichen Zentralgewalt gekennzeichnet ist. Dieser Tatsache hat unter den älteren bürgerlichen Sinologen vor allem Otto Franke Rechnung zu tragen versucht. Er hat seine großangelegte fünfbändige „Geschichte des chinesischen Reiches" vornehmlich als eine Geschichte des chinesischen Staates aufgefaßt.3 Die Schwierigkeiten, die er bei der Behandlung der Entstehung des Staates hatte 4 , sind heute keinesfalls geringer; auch heute noch sind wir in großem Maße auf Hypothesen angewiesen. Doch unsere Hypothesen unterscheiden sich grundsätzlich von denen Frankes. Franke betrachtete als Ausgangspunkt der EntDie Arbeit von H. G. Creel, The Origins of Statecraft in China. Vol. I : The Western C'liou Empire. Chicago u. London 1970, ist mir nicht zugänglich. Aus ihrem Titel geht nicht hervor, ob sie sich mit dem hier behandelten Problem befaßt. 2 Herrn G. Schmitt bin ich für zahlreiche hier verwertete Hinweise zu Dank verpflichtet. O. Franke, Geschichte des chinesischen Reiches. Eine Darstellung seiner Entstehung, seines Wesens und seiner Entwicklung bis zur neuesten Zeit Bd. 1. Das Altertum und das Werden des konfuzianischen Staates. Berlin 1930, X X . « Ebenda, ß l - 9 3 . 1

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stehung des Staates den „Staatsgedanken", der „seine Wurzel in der Betrachtung des Kosmos, insonderheit des gestirnten Himmels und der ihm gegenüberliegenden Erde" hat. 1 Dieser „Staatsgedanke" wurde in der Dynastie der Xia zum ersten Male verwirklicht ; unter den Shang wird „das Staatswesen auf den Linien weiter entwickelt, wie sie der kosmische Gedanke unter den Hia ( = Xia) vorgezeichnet hatte . . ., dieser Gedanke wird sogar immer mehr die Scheidelinie von Kulturvolk und Barbarentum, er ist durch seinen stark religiösen Einschlag die werbende Kraft für das Reich gewesen."2 Mit dieser idealistischen Auffassung, es handele sich um eine „durch fremde Einflüsse zu Stande gekommene Theorie, an die man die wirklichen Verhältnisse anzupassen versucht und die man allmählich durch die erwähnte ,Politisierung' der alten Mythen und Legenden zu festigen strebt", 3 wird das wirkliche Verhältnis von Basis und Überbau in sein Gegenteil verkehrt. Der idealistische Ausgangspunkt hat die Bedeutung der Frankeschen Arbeit, der zweifellos umfangreichsten bürgerlichen Darstellung der chinesischen Geschichte, die in den letzten Jahrzehnten erschienen ist, erheblich geschmälert. So sind auch seine Theorien vom „Staatsgedanken" ohne spürbaren Einfluß geblieben. In den jüngeren bürgerlichen Darstellungen der chinesischen Geschichte, die nach dem Erscheinen von Frankes Arbeit publiziert worden sind, 4 wird das Problem der Entstehung des Staates als solches meist umgangen; bestenfalls wird angedeutet, daß man über die Entstehung des Staates der Xia oder der Shang nichts Sicheres wisse. Diese Arbeiten gehen weniger von theoretischen, sich aus den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten weltgeschichtlicher Entwicklung ergebenden Fragestellungen aus als vielmehr von dem, was durch archäologisches oder tradiertes schriftliches Quellenmaterial mehr oder weniger direkt belegbar ist. Die theoretisch begründete Frage nach der Entstehung des Staates wird nicht als Frage nach einem Prozeß gestellt, der sich aus vielen einzelnen Entwicklungen zusammensetzt und der zu dem überaus komplizierten System gesellschaftlicher Verhältnisse führt, das uns als „Staat" entgegentritt. Solch ein Prozeß kann nur erschlossen werden, wenn man die einzelnen Entwicklungen einer2 Ebenda, 91. :i Ebenda, 82. i Ebenda, 79. * Z . B. H. G. Creel, The Birth of China. London 1936; ders., Studies in Early Chinese Culture. Baltimore 1937; W.Eberhard, Chinas Geschichte. Bern 1948; W. Eichhorn, Kulturgeschichte Chinas. Eine Einführung. Stuttgart 1964 ( = Urban-Bücher 76); H. Franke und R . Trauzettel, Das chinesische Kaiserreich. Frankfurt/Main-Hamburg 1968 (== Fischer Weltgeschichte Bd. 19) ; A. F . P. Hulsewé, China im Altertum. I n : PropyläenWeltgeschichte Bd. 2. Hochkulturen des mittleren und östlichen Asiens. Berlin—Frankfurt—Wien 1962, 479-571; H. Maspero, L a Chine Antique. Nouvelle Édition. Paris 1955; H. Maspéro und É . Balâzs, Histoire et institutions de la Chine ancienne des origines au X I I e siècle après J.-C. Texte révisé par P. Demiéville. Paris 1967; J . Needham, Science and Civilization in China. Vol. 1. Introductory Orientations. Cambridge 1954, 73—149; E . 0 . Reischauer und J . K . Fairbank, E a s t Asia. The Gréât Tradition. Boston 1958; daneben gibt es noch zahlreiche andere Arbeiten.

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seits für sich, dann aber auch als Teil des großen Prozesses der Staatsentstehung untersucht. In Geschichtsdarstellungen, die sich auf die Beschreibung dessen beschränken, was aus den Quellen direkt belegbar ist, wird man daher im allgemeinen kaum Erörterungen über die Entstehung des Staates erwarten können, da sich die Quellen ihrer Natur gemäß höchstens auf die einzelnen Entwicklungen, nicht aber auf den aus diesen zusammengesetzten Gesamtprozeß beziehen. In marxistischen Darstellungen der alten Geschichte Chinas wird die aus den grundlegenden Ausführungen von Engels und Lenin 1 abgeleitete Frage nach der Entstehung des Staates vor allem im Zusammenhang mit dem Problem des Beginns der Klassengesellschaft in China berührt. Beide Fragen sind zweifellos eng miteinander verbunden, wenn auch nicht identisch. Die Ausführungen zur Staatsentstehung in Darstellungen der altchinesischen Geschichte von marxistischen chinesischen Gelehrten 2 kranken im allgemeinen daran, daß auf Grund einiger weniger „Belege" vorschnelle Schlußfolgerungen gezogen werden. Die Problematik der Quellen wird dabei oft ebensowenig berücksichtigt wie die Kompliziertheit des Gegenstandes. Diese Arbeiten wirken zumeist nicht recht überzeugend. Dennoch ist einiges von dem Material, das sich in diesen Darstellungen findet, auch für unsere Erörterung der Problematik von Nutzen. In der sowjetischen sinologischen Literatur existierten längere Zeit hindurch schematisierende Auffassungen über das Entstehen der Klassengesellschaft und des Staates in China3, bis Ende der 50er Jahre eine neue Phase der Behandlung dieser Probleme begann. Diesen neueren Arbeiten, in denen auch die Ergebnisse der chinesischen Altertumsforschung berücksichtigt werden, verdanken wir schon sehr wesentliche Erkenntnisse. 4 Unter den Gründen, die für das Fehlen einer gesonderten Untersuchung des Problems der Staatsentstehung durch marxistische Wissenschaftler angeführt werden können, ist auf chinesischer Seite vor allem die einseitige 1

F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. In: MarxEngels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 25—173; ders., Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. In: Marx-Engels, Werke Bd. 20, Berlin 1968,1-303; W. I. Lenin, Staat und Revolution. In: W. I. Lenin, Werke Bd. 25, Berlin 1960, 393-507. 2 Z. B. Fan Wenlan, Zhongguo tongshi jianbian (Abriß der chinesischen Geschichte) Bd. 1. Revidierte Ausgabe Peking 1949; ders., ^peBHHH HCTopHH KiiTan OT nepBoötmrooömiiHHoro CTpoH AO 06pa30BaHHH neHTpajiH30BaHH0ro $eoAajibHoro rocy^apcTBa ( = russ. Übersetzung des vorhergehenden Werkes). MocKBa 1958; Lü Zhenyu, Jianming Zhongguo tongshi (Kurzgefaßte chinesische Geschichte). Peking 1955; Wang Yuzhe, Zhongguo shanggu shigang (Historischer Abriß des chinesischen Altertums). Shanghai 1959. Vgl. 10. M. CeMeHeB, COBETCKHE HCTOPHKH O CTAHOBJIEHHH KJiaccoBoro oßmeeraa B HPEBHEM Kmae. In: Hapoßti ABHH H A $ P H K H 1/1966,151 f. * Vgl. R. Felber, Neue sowjetische Arbeiten zur Geschichte des älteren China. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 15 (1967), H. 5, 875—882; weiterhin den sehr kritischen Artikel von CeMeHeB, a. a. O., 151—161.

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Konzentration auf den Streit um die Periodisierung zu nennen.1 Die sowjetischen Spezialisten der altchinesischen Geschichte, insbesondere M. V. Krjukov, haben sich demgegenüber spezielleren Fragen, besonders solchen der Sozial.struktur, zugewandt in der richtigen Erkenntnis, daß man vor der Behandlung solch allgemeiner Fragen wie der Periodisierung noch viele konkrete Probleme untersuchen und lösen müsse.2 Daher ist es auch verständlich, daß sie sich mit einem solch umfassenden Problem wie dem der Staatsentstehung noch nicht in einer umfangreicheren speziellen Untersuchung auseinandergesetzt haben. Eine solche wird zunächst durch die Quellenlage erschwert. Die Quellen, auf die wir uns bei unseren Überlegungen zur Staatsentstehung in China stützen, kann man in 3 Gruppen teilen, von denen jede auf ihre Weise problematisch ist. Als erste seien die archäologischen Quellen genannt. 3 Die Grabungen, die nach der Gründung der Volksrepublik China, d. h. nach 1949, in allen Teilen des Landes durchgeführt wurden und über die wir bis zum Zeitpunkt des Beginns der sogenannten „Kulturrevolution" wenn auch nicht vollkommen, so doch relativ gut informiert sind, haben das Bild der chinesischen Vor- und Frühgeschichte, das uns die Grabungen aus der Zeit vor 1949 vermittelt hatten, ganz erheblich vervollkommnet und zum Teil auch korrigiert. Bei den Ergebnissen dieser neueren Grabungen ist aber zu berücksichtigen, daß fast nur an solchen Stellen gearbeitet wurde, wo irgendwelche Bauten oder Anlagen errichtet werden sollten und wo daher zuvor die Bodendenkmäler geborgen werden mußten. Nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten vorgenommene Grabungen hat es nur an ganz wenigen Stellen, z. B . im Gebiet der alten Hauptstädte Chang'an und Luoyang, gegeben. Zudem weiß man, daß der Boden Chinas noch allenthalben voll von Resten der Vorzeit ist, die nur gehoben zu werden brauchten. Die überlieferte Literatur enthält viele Hinweise auf Stellen, an denen sich Grabungen zweifellos lohnen würden. Daher ist das Bild, das uns die Archäologie bietet, sowohl zufällig als auch vorläufig. Der Wert unserer Schlußfolgerungen wird also entsprechend begrenzt sein. Hinzu kommt noch, daß keine absoluten Datierungen vorliegen und wir nur mit relativen Daten arbeiten können. 4 1

Vgl. Zhongguo gudaishi fenqi wenti taolunji (Sammelband zur Diskussion über die Periodisierung der alten Geschichte Chinas, hrsg. von der Redaktion der Zeitschrift Lishi yanjiu). Peking 1957; Jiang Quan, Zur Frage der Periodisierung der Sklaverei und des Feudalismus in der Geschichte Chinas. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 7 (1959), Sonderheft „Neue chinesische Geschichtswissenschaft"; M.B.KpiOKOB, OopMbi coiuiajibHOK opraHH3aiCKOM KwTae. I n : BeCTiniK «peBiieii iiCTopim 2/1961, 21 f . ; Felber, Bemerkungen . . . (s. S. 5 9 Anm. 1), 4 7 4 f .

5 Staataentstehung

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des Reiches wurde teils von den „Fürsten" der Stämme, teils von „Beamten" ausgeübt, die Einteilung des Reiches nach territorialen Gesichtspunkten war zumindest so weit fortgeschritten, daß es eine feste Residenz gab und die unterworfenen Stämme mehr, oder weniger fest umrissene Siedlungsgebiete besaßen. Wir dürfen annehmen, daß das Territorium des Reiches — wie in den späteren Perioden chinesischer Geschichte — als dem Wang auf Grund seiner politischen und religiösen Stellung zukommend, d. h. ihm gehörend, betrachtet wurde. 3.

Aufschlüsse über den Prozeß, der dieses gesellschaftliche System hervorgebracht hat, kann uns mangels direkter Quellen nur die Interpretation der Ergebnisse der prähistorischen Archäologie und des in den tradierten Quellen enthaltenen, zum größten Teil vermutlich mythologischen Materials geben. Dabei sind wir, wie bereits angedeutet, in hohem Grade auf Hypothesen angewiesen. Somit kann es sich z. Z. zunächst nur darum handeln, ein abstraktes Modell dieser Vorgänge zu entwerfen, nicht aber um eine konkrete „Geschichte der Staatsentstehung". Es gibt eine ganze Reihe von Aspekten, die in einem solchen Modell berücksichtigt werden müßten. An erster Stelle steht dabei die Entwicklung der Produktivkräfte, die so weit vorangeschritten sein mußte, daß die kontinuierliche Erzeugung eines Mehrproduktes möglich wurde. Ein Blick auf die Ergebnisse der prähistorischen Archäologie zeigt uns, daß die Produktivkräfte am Ende des Neolithikums und zu Beginn der Bronzezeit in Nordchina bereits eine beachtliche Höhe erreicht hatten. 1 Das späte Neolithikum tritt uns in dem hier behandelten Gebiet am Mittelund Unterlauf des Huanghe in den Funden der Longshan-Kultur entgegen. Die ökonomische Basis dieser Kultur ist durch die Verwendung von geschliffenen Steingeräten und von Geräten aus Muscheln, Knochen und Holz für die Bodenbearbeitung, den Anbau von Hirse, Weizen und — in den südlichen Gebieten — Reis sowie durch die Zucht von Schweinen, Hunden, Rindern, Schafen, stellenweise auch Pferden und Hühnern, gekennzeichnet. Sie weist vor allem eine hochentwickelte Keramikherstellung auf, für die die Töpferscheibe verwendet wurde und zu deren bemerkenswertesten Produkten überaus feine, dünnwandige, glänzend schwarze Gefäße gehören, die sogenannte „Eierschalenkeramik". Der hohe Stand dieser Technik hat die chinesischen Archäologen bewogen, hier bereits von einer Spezialisierung dieses Produktionszweiges zu sprechen. 1

Vgl. Cheng Te-k'un, Archaeology in China. Vol. I : Prehistorio China. Cambridge 1959, 87—110; ders., Archaeology in China. Vol.II (s.S. Gl Anm.7); XinZhongguo de kaogu shouhuo (s. S. 59 Anm. 3), 14-21 und 43—50; Chang Kwang-chih, The Archaeology of Aneient China (s. S. 61 Anm. 7), 7 7 - 1 0 9 und 130-174.

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Diese Kultur steht mit der Vor-Anyang-Periode der Shang-Kultur in genetischer Beziehung. Beide weisen feste Siedlungen auf, die z. T. von Mauern umgeben waren. Lebenswichtig war der Zugang zum Wasser: Die Siedlungen liegen stets in der Nähe von Flußläufen. Dies bedeutete aber für die Menschen jener Zeiten auch eine große Gefahr, da die Flüsse nach jedem größeren Regen über die Ufer treten oder ihr Bett verändern konnten. Wir sind berechtigt zu vermuten, daß man bereits vor der Anyang-Periode gelernt hatte, sich vor diesen unregelmäßigen Überschwemmungen zu schützen. Diesem Zweck dürften u. a. Umwallungen der Siedlungen gedient haben, vielleicht auch die Anlage von Entwässerungsgräben, wie sie in der Shang-Hauptstadt bei Anyang gefunden wurden. Der Kampf mit dem Hochwasser muß in jener Zeit eine gewaltige Bedeutung gehabt haben, und so nimmt es nicht Wunder, wenn ihm auch in der Mythologie in der Gestalt des Großen Yu ein Denkmal gesetzt wurde. Ihm wird vor allem, das Verdienst zugeschrieben, statt des früher üblichen Eindämmens die Methode des Ableitens des Wassers angewandt zu haben, die ihm im Gegensatz zu seinen Vorgängern zum Erfolg verhalf. 1 Die zunehmende Fertigkeit im Kampf mit dem Hochwasser hatte nicht nur für die Steigerung der Produktivität, sondern auch f ü r die Dauer der Benutzung der Siedlungen große Bedeutung. Der in den Quellen erwähnte mehrfache Wechsel der Residenz durch die Shang-Herrscher hängt u. U. — wie schon mehrfach vermutet — mit den Verheerungen durch Hochwasser zusammen ; feste Siedlungen und ein festes und sicheres Regierungszentrum sind natürlich für die Etablierung einer Staatsgewalt eine wichtige Voraussetzung. Die Entwicklung der Produktivkräfte führte schließlich zur Entdeckung der Metallbearbeitung, d. h. zur Herstellung und Verwendung von Bronzegeräten. Nach den neueren Ergebnissen der Archäologie scheint die Technik der Bronzeherstellung in China selbständig gefunden worden zu sein. 2 Wenn auch die Bronzegeräte nicht für die landwirtschaftliche Produktion benutzt wurden, so bedeuteten der Besitz von Bronzewaffen doch große militärische Macht und die Verwendung bronzener Ritualgefäße Reichtum und größere magische Macht. 3 Die Entwicklung der Produktivkräfte verlief im einzelnen zwangsläufig ungleichmäßig, so daß die verschiedenen Stämme der prähistorischen Zeit 1 Zur Bedeutung der Sicherung vor Hochwasser und der Überlieferungen um Yu vgl. K p i c K O B , M b H C K a a u n B H J T H 3 a m t n . . . (s. S. 62 Anm. 1 ) und Xu Xusheng, Zhongguo gushi de chuanshuo shidai („Das mythologische Zeitalter der alten Geschichte Chinas"). Erweiterte Auflage Peking 1960,128—162 (mit Quellenangaben). Die Mythen um den Kampf mit dem Hochwasser und die Leistungen von Yu dürften wegen ihrer spezifisch chinesischen Gestalt kaum ein bloßer Teil des weltweit verbreiteten Sintflutmythos sein, wie Kaizuka Shigeki in seiner Arbeit Chügoku no rekishi. Jö (Geschichte Chinas Bd. 1). Tokyo 1964 ( = Iwanami shinsho 534), 53 behauptet. * Vgl. Cheng Te-k'un, Archaeology in China. Vol. II (s. S. 61 Anm. 7). 157 und 161 f.; 3

Chang Kwang-chih, The Archaeology of Ancient China (s. S. 61 Anm. 7), 140f. Vgl. Xu Xusheng, Zhongguo gushi de chuanshuo shidai (s. S. 67 Anm. 1), 126f.

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sich nicht nur ethnisch, sondern auch hinsichtlich des Standes der Produktivkräfte unterschieden haben dürften. Aus dem Material der Mythologie ist die Existenz einer großen Zahl von Stämmen vermutet worden, die in drei Stammesbünden zusammengefaßt waren und miteinander langwierige kriegerische Auseinandersetzungen hatten. 1 Auch die Archäologie läßt eine größere Zahl ethnischer Gruppen am Ende des Neolithikums vermuten. Die LongshanKultur tritt in einer Vielzahl von lokalen Variationen auf, die sich nach dem gegenwärtigen Forschungsstand in vier Typen zusammenfassen lassen. 2 Die Beziehungen zwischen diesen vier Typen sind noch unklar; insbesondere ist unsicher, ob es sich hierbei um zeitlich oder räumlich verschiedene Ausprägungen ein und derselben Kultur handelt oder ob es sich um jeweils selbständige Kulturen handelt, die nur lose miteinander verbunden waren. Dennoch ist die gesellschaftliche Entwicklungsstufe der vier Typen im wesentlichen die gleiche: ein auffallend höherer Stand der Produktivkräfte als in den voraufgehenden Perioden, beginnende gesellschaftliche Arbeitsteilung und eine offenbar veränderte Sozialstruktur, die von den chinesischen Wissenschaftlern als beginnendes patriarchalisches System bezeichnet wird. Stellenweise finden sich Anfänge einer sozialen Schichtung. 3 Leider liegen noch keine brauchbaren Berichte über die Siedlungen der Longshan-Kultur vor, aber einige interessante Erscheinungen, die Schlüsse auf die Sozialstruktur erlauben, traten z. B . bei Grabfunden eines dieser vier Kultur-Typen zutage, wo man auffällige Unterschiede in der Grabausstattung, sowohl was die Größe der Gräber als auch was die Beigaben betrifft, fand. Die Menge der Beigaben beträgt z. B. in einem großen Grab 160 Stück, während andere, kleine Gräber völlig ohne Beigaben sind. 4 Über die zeitliche Stellung dieser Funde und über deren Zuordnung zu einem der vier Typen gibt es noch unterschiedliche Meinungen. Von den chinesischen Archäologen ist der Versuch gemacht worden, innerhalb der vier Typen der Longshan-Kultur nach Anzeichen zu suchen, die eine Identifizierung eines dieser Typen mit der aus den überlieferten Quellen bekannten „Xia-Dynastie" erlauben. 5 Diese „Dynastie" soll nach der Tradition vor der Shang-Dynastie geherrscht haben. Über sie sind einige Überlieferungen erhalten, so z. B. eine Liste der Herrscher im 2. Kapitel des „Shiji". Trotz verschiedener Untersuchungen vor allem in den traditionell den Xia zugeschriebenen Gebieten in Henan ist es bisher aber nicht gelungen, diese Dynastie mit einer der neolithischen Kulturen zu identifizieren. Da aber die für die Shang-Dynastie überlieferten Angaben durch die Funde von Anyang im wesentlichen bestätigt wurden, besteht kein Grund, prinzipiell die Möglichkeit eines wahren Kerns in den Überlieferungen über die Xia zu verneinen. Man Ebenda, 3 7 - 1 2 7 . Vgl. Xin Zhongguo de kaogu shouhuo (s. fS. 59 Anm. 3), 15—21. Vgl. Chang Kwang-chih, The Archaeology of Ancient China (s. S. 61 Anm. 7), 93 und 95. Vgl. Xin Zhongguo de kaogu shouhuo (s. S. 59 Anm. 3), 19f. 5 Ebenda, 43 f. 1

2

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muß jedoch berücksichtigen, daß die Darstellung in den historischen Quellen von späteren Vorstellungen ausgeht und die Verhältnisse der Frühzeit in den Begriffen der späteren Zeit beschreibt, d. h. aus einer möglicherweise lokal begrenzten Stammesherrschaft eine „Dynastie" im Sinne der späteren Geschichte macht. Von großer Bedeutung ist für unser Problem, daß die Überlieferung für die Zeit vor den Xia berichtet, daß der jeweilige Herrscher den Geeignetsten aus seinen Untergebenen auswählte und vor seinem Tode diesem die Macht übergab. Auch Yu, der Vater des Begründers der „Xia-Dynastie", dem die Tradition übermenschliche Leistungen beim Kampf gegen das Hochwasser zuschreibt, hatte zunächst einen als Herrscher besonders Geeigneten zum Nachfolger ausersehen. Dann aber errang sein Sohn Qi nach komplizierten und langwierigen Auseinandersetzungen mit anderen Sippen den Thron. Von da an blieb die Thronfolge erblich, das Machtmonopol einer Sippe. Die Erblichkeit der Stellung eines Herrschers war mit der Entwicklung entsprechender ideologischer und religiöser Formen verbunden. In der LongshanKultur finden wir bereits die Verwendung von Schulterblattknochen von Schweinen, Rindern und Schafen zu Orakelzwecken. Tönerne Phalli wurden häufig gefunden und lassen sich rückschließend auf Grund von späteren Materialien als Zeichen eines Ahnenkults identifizieren. Da die ältesten uns bekannten schriftlichen Zeugnisse, die Orakelinschriften, die große Bedeutung der Schrift für religiöse Praktiken belegen, ist zu vermuten, daß schon bei der Erfindung der Schrift neben wirtschaftlichen Gründen auch religiöse Zwecke eine Rolle gespielt haben. Die für die Shang-Zeit bezeugte Erhebung der Sippenahnen des Herrschers in einen gottähnlichen Status, die diesen zugeschriebene transzendente Macht und das Vorrecht der Nachkommen auf direkte Kommunikation mit den Ahnen durch Opfer und Orakel dürften ebenfalls ihre Wurzeln in der der Shang-Zeit vorhergehenden Periode gehabt haben. Entscheidend dürfte aber für die Entstehung der erblichen Stellung eines Führers einerseits die sich auch im Mythos um Yu andeutende Rolle der betreffenden Sippe im wirtschaftlichen Bereich — hier bei der Bekämpfung des Hochwassers —, andererseits die führende Stellung und ständige Bewährung in den permanenten Kriegen mit anderen Stämmen gewesen sein. Beide Sphären des gesellschaftlichen Lebens jener Zeit gaben den Führern die Kommandogewalt über Organisation und Einsatz einer großen Menge von Personen und vermutlich auch Vorrechte beim Genuß der Ergebnisse der von ihnen geleiteten Aktionen. . Die Produktion und Aneignung eines Mehrprodukts schuf auch die Möglichkeit, benachbarte Stämme nicht mehr einfach zu vertreiben oder zu vernichten, sondern sie sich zu unterwerfen und auszubeuten. Wenn der Übergang zur Ausbeutung fremder Stämme in den Quellen auch nicht faßbar ist, so muß man doch auf Grund späterer historischer Zustände einen solchen Übergang annehmen. Unterschiede in der ökonomischen Entwicklung zwischen den

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verschiedenen Stämmen, z. B. der Besitz von Bronzewaffen, hatten hierbei gewaltige Bedeutung. Der ökonomisch und militärisch stärkste Stamm wurde Sieger und errichtete eine Oberhoheit über die unterworfenen Stämme. Wie wir aus den zahlreichen Orakelinschriften über Strafexpeditionen gegen abtrünnige Stämme entnehmen dürfen, war dies ein sehr langwieriger Prozeß mit vielen Rückschlägen. Vermutlich war auch das, was in den späteren Quellen als „Xia-Dynastie" auftaucht, einer dieser sich gegenseitig bekriegenden Stämme. Die Shang sollen den Xia zunächst botmäßig gewesen sein und sich dann gegen sie erhoben haben. In der Shang-Zeit finden wir dann einen Zustand vor, wo der Wang eine große Zahl solcher fremden Stämme unterworfen, ihre Führer mit Titeln ausgestattet hat, die Ausdruck ihrer Botmäßigkeit sind, von ihnen Tribute erhält und mit ihrer Hilfe sein Territorium weiter vergrößert. Bei der gewaltsamen Unterwerfung fremder Stämme trat zunächst wohl der ganze erobernde Stamm als Ausbeuter auf. Er bediente sich vermutlich (wie auch die Könige der Shang) der führenden Personen der unterworfenen Stämme, die — sofern sie „guten Willen" zeigten — in ihren Positionen belassen und als lokale Machthaber anerkannt wurden, um die neue Herrschaft zu sichern. Dabei dürfte sich bei diesen Führern der eroberten Stämme eine Wandlung vollzogen haben, in deren Verlauf sie von Führern des Kampfes gegen die fremden Eroberer zu Mitgliedern der herrschenden Klasse wurden, die die gleichen Klasseninteressen hatten wie die Eroberer. Durch die sich nach der Eroberung vollziehende Integration in das Wirtschaftssystem, die zweifellos nicht nur Tributlieferungen betraf, sondern z. B. auch die Einbeziehung in die Arbeiten zur Flußregulierung im Rahmen einer koordinierten großen Kooperation, dürfte sich auch bei den Unterschichten der Eroberer wie der Eroberten eine Angleichung vollzogen haben, wenn wir auch darüber nichts Sicheres wissen. Auch nach der Eroberung gehörte der Boden weiterhin den bäuerlichen Gemeinden, die ihn bebauten. Das Mehrprodukt, das unter den neuen Bedingungen durch verbesserte Möglichkeiten zur großen Kooperation, Verminderung der kriegerischen Auseinandersetzungen usw. vielleicht sogar eine Steigerung erfahren hatte, wurde nun aber nicht mehr nur von der herrschenden Gruppe des eigenen Stammes abgeschöpft, sondern mußte zu einem Teil an den Eroberer abgeführt werden. Dieser war als Führer des siegreichen Stammes Herr über das ganze Territorium. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, hier die Quelle des in den Texten der Zhou-Zeit eindeutig belegten Obereigentums des Königs am Grund und Boden zu finden. Neben diesen Hinweisen auf allgemeine Aspekte seien aber noch gewisse Besonderheiten genannt, die bei dem Prozeß der Staatsentstehung in China eine Rolle gespielt haben dürften und die dem entstehenden Staat ein eigenes Gepräge gaben, das ihn von anderen, etwa denen Vorderasiens, unterscheidet.

Zum Problem der Staatsentstehung in China

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Zu diesen sind u. a. die Seßhaftigkeit und die Ausrichtung der Gesellschaftsstruktur auf den Ackerbau zu zählen. Weiterhin haben wir es hier — im Unterschied etwa zu Mesopotamien — nicht mit Stadtstaaten zu tun, sondern mit einem großen, von verschiedenen Stämmen besiedelten Territorium, das eine relativ gleichmäßige hohe ökonomische Entwicklungsstufe aufweist und das durch Eroberung nach und nach unter eine einzige politische Macht gebracht wird. Hier dürften auch die Wurzeln der späteren chinesischen Ideologie der unumschränkten Macht des obersten Herrschers zu suchen sein, dem alle Untertanen bedingungslos „unterworfen" sind. Auch die führenden Sippen der eroberten und eingegliederten Stämme sind, obwohl zur herrschenden Klasse zu rechnen, Unterworfene des obersten Herrschers. Seine Position ist durch die Ideologie, die ihn als Beauftragten der obersten Gottheit darstellt, mit überweltlichen, transzendenten Zügen ausgestattet. Zweifellos hielten sich noch lange Zeit hindurch urgesellschaftliche Traditionen, die im Verlauf der weiteren Entwicklung teils überwunden, wie etwa die Sippenstruktur, teils aber in veränderter Form beibehalten wurden, wie etwa der Ahnenkult. Es ist jedoch auffallend, daß sich in den chinesischen Quellen zur ShangZeit keine eindeutigen Hinweise auf die Existenz einer Volksversammlung finden, durch die der Herrscher hätte in seinen Handlungen eingeschränkt oder kontrolliert werden können. Aus den Ansprachen einiger Herrscher, die uns das in sehr viel späterer Zeit niedergeschriebene Shujing überliefert, kann man zumindest nicht ersehen, daß diejenigen, an die sich die Reden richteten (wer immer es gewesen sein mag; am ehesten scheint die Vermutung begründet, es habe sich um führende Vertreter von Adelssippen gehandelt), irgendeinen tatsächlichen Einfluß auf die Entscheidungen des Herrschers gehabt hätten. Die Orakelinschriften geben uns ebenfalls keine Hinweise auf derartige Institutionen. 1 Es scheint so, als sei die Phase der militärischen Demokratie bereits sehr früh überwunden worden, so daß sich — im Gegensatz zu anderen Teilen Chinas 2 — in den uns überlieferten Quellen über das hier behandelte Gebiet keine verläßlichen Hinweise auf Einrichtungen jener Zeit mehr finden. Will man der Überlieferung glauben und den Übergang zur Erblichkeit der führenden Stellung mit dem Beginn der „Xia-Dynastie" annehmen, so kommt man zu dem Schluß, daß so wichtige Elemente der militärischen Demokratie wie z. B. die „Auswahl der Tüchtigsten", d. h. ein Wahlkönigtum, bereits in sehr früher Zeit, viele Jahrhunderte vor dem Einsetzen schriftlicher Quellen, verschwunden waren. Dies sind zweifellos nur einige der Aspekte, die in einem Modell des Prozesses der Staatsentstehung in China berücksichtigt werden müßten. Fast alle hier angedeuteten Entwicklungen verdienen noch gesonderte eingehende Unter1 1

Vgl. KpwKOB, P o s H rocy#apcTBO . . . (s. S. 65 Anm. 2), 21. Vgl. E. Schwarz, Uber Spätformen der Militärischen Demokratie und gentilgesellschaftlicher Verhältnisse im Chu-Staat. Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 10 (1969), 479-485.

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suchung, bevor man ein solches Modell als wissenschaftlich gesichert ansehen kann. Zudem sollte man berücksichtigen, daß es noch Jahrhunderte gedauert hat, bis in China der bürokratisch verwaltete Territorialstaat seine volle Ausbildung erlangte. Die Entwicklung vor und in der Shang-Zeit hat aber als qualitativer Sprung von der Urgesellschaft zur Klassengesellschaft, als erster Ansatz zur Schaffung von Machtorganen einer herrschenden Klasse eine große Bedeutung in der Entwicklung auf dieses Ziel hin.

Über den Beginn des altindischen Staates von

WALTER RÜBEN

(Berlin)

Der Staat begann in Indien 1 im Chalkolithikum um 3000 v. u. Z., im Indusgebiet ungefähr gleichzeitig und vermutlich in genetischem Zusammenhang mit dem Staat in Sumer, und hatte wohl auch ähnlichen Charakter, d. h. er war eine indische Variante des altorientalischen Staates. Seine Geschichte ist noch ziemlich unbekannt. Er zerfiel um 2000. Relativ reiches Material gibt es dagegen über die Entstehung des nächsten, des eisenzeitlichen Staates im Gangesgebiet in den Jahrhunderten nach 1000 v. u. Z. Er entwickelte sich aus der zerfallenden Urgesellschaft sowohl der dort ansässigen Dravida (der heutigen Uraon) und Munda (u. a. der heutigen Santal) als auch der als Eroberer einbrechenden Ärya. Sie alle hatten die Stufe der militärischen Demokratie erreicht. Einigermaßen ausreichend greifbar ist uns einstweilen aber nur die der Ärya. Bei allen hatte sich privates Eigentum zu entwickeln begonnen, wenn es auch durch gentile Bindungen noch sehr eingeschränkt war. Ausbeutung und gesellschaftliche Differenzierung gingen mit ersten Formen priesterlichen und kriegerischen Adels einher. Auf den im Gangestal neu entstehenden Staat wirkte aber auch der zerfallene der Indusgesellschaft mehr oder weniger ein. Hier sei vor allem die Herausbildung des Regierungsapparates behandelt. Die mit ihren Pferdestreitwagen nach Indien erobernd einbrechenden Ärya lebten in ihrer I. Periode etwa 500 Jahre lang halbnomadisch im Panjab. Sie betrieben Rinderhaltung und Pflugbau von Gerste. Ihre damalige Gesellschaft ist im Rgveda widergespiegelt. Entsprechend dem zeitweiligen Nomadisieren und dem Kampf der arischen Stämme um Weiden, Ackerland und Beute, vor allem an Herden, waren die arischen Stämme militärisch organisiert. Ein Dorf, soweit man von einem solchen bei der nur zeitweisen Seßhaftigkeit sprechen kann, stand als noch einigermaßen erhaltene gentile militärische Einheit unter einem Dorfführer, der vielleicht schon der reichste Bauer oder Herdenbesitzer war. Der Dorf1

Die folgende Darstellung stützt sich auf W. Rüben, Die gesellschaftliche Entwicklung des alten Indien, insbesondere B d . I I : Die Entwicklung von Staat und Recht. Berlin 1968.

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WALTEE RUBEN

führer unterstand im Kriege dem König, dem Heerführer; im Frieden war der Dorfführer vermutlich ein sehr unabhängiger primus inter pares unter den anderen Herdenbesitzern seines Dorfes. Er war kein Beamter und hatte keine staatliche Funktion, etwa als Eintreiber von Steuern für den König. Es gab Privateigentum und damit Arme und Reiche, vor allem, was das Vieh betraf, weniger den Boden, denn bei der nur zeitweiligen Seßhaftwerdung nahm sich vermutlich jede Familie von dem eroberten, nur dünn besiedelten Steppenboden für ihren Gersteanbau nach ihren Kräften. Es gab demgemäß noch keine antagonistischen Widersprüche zwischen den armen und reichen BauernHerdenbesitzern, den Priestern und dem König samt seinen Leuten. Private Ausbeutung Ärmerer, Abhängiger, durch Reichere spielte schon eine gewisse Rolle, staatliche Ausbeutung durch Steuern existierte aber noch nicht. Wohl leistete jeder Ärya, d. h. jede Familie der Bauern-Herdenbesitzer, dem König eine Abgabe, ein „Opfer" (bali). Bali bedeutet zugleich die Gabe an die Götter, die die Ärya ebenso zu unterhalten hatten wie ihren König. Der König hatte nämlich die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten wie die Götter die kosmische Ordnung; dafür bedurften sie beide der Unterhaltung durch die Ärya. Darauf wiederum beruhte angeblich die Überlegenheit der Ärya über ihre Feinde, insbesondere die Barbaren, die Nichtärya. Diese Abgabe war aber weder für Götter noch für Könige der Höhe oder dem Termin nach festgelegt, sie war freiwillig, nur durch Sitte und Moral vorgeschrieben, nicht durch staatliches gesetztes Recht. Es gibt keinen Hinweis, daß der König mit einem Macht apparat die Durchsetzung dieser Moral und Sitte als positives Recht erzwungen hätte. Die Einzelheiten des Einziehens dieser Abgaben sind noch weitgehend unbekannt; der König erhielt sie anscheinend durch seine Boten, von ihm geschickte Abhängige, Vorläufer von Beamten oder Männern des späteren Despoten. Sie führten ihm außerdem Personen vor, die er zu sprechen wünschte, und überbrachten nach einer Textstelle auch Muster an Handwerker, damit diese für den König solche Dinge herstellten. Die Abgaben und die Beuteanteile des Königs wurden in seinem Schatzhaus bzw. Speicher aufbewahrt und von einem anderen Manne des Königs vermutlich zusammen mit dem privaten Eigentum vor allem an Herden verwaltet. Von königlichem Boden ist nicht die Rede, obgleich der König Äcker gehabt haben dürfte wie jeder wohlhabende Ärya. Aber er hat keine private oder staatliche große Landwirtschaft mit Sklaven oder sonstigen Abhängigen betrieben. Die Vorräte im Speicher und Schatzhaus wurden u. a. für Gastmähler des königlichen Hofes verwendet, an dem ausgewählte reiche Herdenbesitzer teilnahmen, die sich zu einer Art Gefolgschaft des Königs und Kriegsführers entwickelten. Solche Gastmähler und Gefolgschaften dienten wohl gleichzeitig der Beratung politischer Fragen. Es gab drei Termini für Versammlungen, die wir noch nicht unterscheiden können; vielleicht gehörten dazu Dorf- und Heeres- bzw. Stammesversammlungen. Die beiden letztgenannten Versammlungen dienten wohl u. a. einer Rechtsprechung. Diese wird damals noch im Grunde, wie es in der Urgesellschaft

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vor deren Zerfall üblich gewesen war, nach traditionellen Sitten, Tabus und Weisheitssprüchen von den jeweils versammelten Familienvätern als gentilpolitischer Rechtsinstitution, nicht von Juristen, gehandhabt worden sein; vielleicht haben Priester als angebliche Kenner der traditionellen Ordnung der Gesellschaft, die gleichzeitig die des Kosmos war, dabei schon eine besondere Rolle gespielt. Als eigentlicher Hüter dieser Ordnung galt der Heerfiihrer-König, der für sie — z. B. für Regen — kultisch verantwortlich war. Seine Funktion im Frieden war ferner vor allem die des Richters, soweit sich nicht noch jeder Familienvater selber sein Recht verschaffte, wie es in der Gentilgesellschaft mit Blutrache oder Bestrafung von Ehebrechern üblich gewesen war. Als Richter hatte der König seine Späher, die überall die Einhaltung der mikro-makrokosmischen Ordnung beobachteten und dem König Verstöße meldeten. Schon in der militärischen Demokratie des Rgveda kann man vermutlich drei Arten der Durchsetzung des Rechts durch die Familienväter, durch den König als Richter und durch die Priester als Sühner unterscheiden, die Keime sozusagen eines privaten, staatlichen und priesterlichen Rechts, die sich im indischen Staat der folgenden Perioden weiterentwickelt haben. Weil der König auch für die magische Erhaltung der kosmischen Ordnung verantwortlich war, hatte er seinen Hofpriester für das Vollziehen gewisser Riten neben sich. Daneben verfügte er über seine Späher für die Erhaltung des Rechts, der mikrokosmischen Ordnung, und seine Boten für das Einholen der Abgaben, die auch als Gesandte an Könige anderer Stämme dienten. Er hatte als Abhängige ferner seinen Wagenlenker, seine Barden, vielleicht Handwerker wie den Wagenbauer, Hirten und vermutlich Knechte für die Landwirtschaft, für seinen Speicher, seinen Hof, die Küche und die Gastmähler. Er besaß Sklavinnen aus Kriegsbeute und sicher auch Sklaven patriarchalischer Art. Er war ein großer Herdenbesitzer mit mehreren Äckern, ein primus inier pares der Ärya; er war vor allem der Kriegsführer und als solcher Befehlshaber der Dorfführer. Ferner fungierte der König als Führer seines Stammes, manchmal eines Stammesbundes, im Kriege und bei der Wanderung, war aber kein Herrscher eines Territorialstaates. Eine Entwicklung dieser Gesellschaft in dem halben Jahrtausend im Panjab ist noch nicht beobachtet worden. Der Zerfall der arischen Urgesellschaft schritt langsam voran. In der nächsten, der II. Periode von etwa 1000 bis 550 v. u. Z. wanderten Könige dieser Art bzw. Adlige, Besitzer großer Herden mit ihren Gefolgschaften oder wandernde Adelssippen, aber nicht mehr Stämme, weiter nach Osten in das Gangesgebiet, wurden dort seßhaft und bildeten mit den einheimischen Munda und Dravida Völkerschaften. Diese gentilen Vorärya lebten mit ihrem Bewässerungsanbau von Reis in einer Dorfgemeinde, die als Urform der typisch indischen Dorfgemeinde damals schon Nachbarngemeinde war. Sie wurden von den Ärya unterworfen, ihr Reisanbau wurde mit dem Gersteanbau der erobernden Ärya und dem Weizenanbau der Indusgesellschaft zu einer komplizierten Landwirtschaft vereinigt, die dann zunehmend die Grundlage des indischen eisen-

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zeitlichen Staates bildete. Sie lieferte ständig ein derart hohes Mehrprodukt, daß Ausbeutung möglich wurde. Es gab bei den Ärya und Vorärya privates Eigentum an Produktionsmitteln, das bei den arischen Halbnomaden an Vieh und Produktionsinstrumenten, weniger an Boden relativ ausgeprägt war. Es gab die Teilung der Arbeit des Bauern, Hirten, Handwerkers und Händlers. Es gab den Beginn des Gegensatzes von Kopfarbeit der Priester und Könige (die sich auf die Regierungstätigkeit umstellten) und Handarbeit der anderen, ja, es gab seit etwa 600 v.u.Z. den Gegensatz zwischen Stadt und Dorf. Die Stadt war vor allem Sitz des Regierungsapparates mit seiner Kopfarbeit. Die Massen der Produzenten, die Bauern und Handwerker, wurden die Ausgebeuteten; die zum Kriegeradel aufrückenden reichen Herdenbesitzer und die zum Priesteradel aufsteigenden Priester wurden die Stände der Ausbeuter in der staatlichen, auf nichtökonomischem Zwang beruhenden Ausbeutung. Diese beiden Adelsschichten bildeten als die reichsten Herdenbesitzer, als die ökonomisch Herrschenden auch die politisch herrschende Klasse mit dem König als ihrer Spitze. Sie waren zugleich die Oberschicht des Regierungsapparates. Eigentum an Boden wurde wie Eigentum überhaupt den Unterworfenen schlechthin abgesprochen, aber auch nicht für die Ärya, weder für deren Hirten-Bauern (Vaisya) noch für deren Kriegeradel, als privates Eigentum ausdrücklich in Anspruch genommen; offenbar legte das beginnende positive Recht auf Probleme des Grundeigentums wenig Gewicht; wichtig war für die Ausbeuter nur, daß die Unterworfenen den Boden bearbeiteten, man ihnen aber den Ertrag ihrer Arbeit nehmen konnte. Die sich entwickelnde Gangesgesellschaft war eine neue indische Variante der altorientalischen Klassengesellschaft. Die Dorfgemeinde der Vorärya, nicht der Ärya, wurde ihrem Wesen nach die feste Grundlage des Despotismus als Staatsform. Der Gegensatz der Massen der Produzenten, der Bauern und Handwerker, als potentiell rechtloser Untertanen, sozusagen als latenter Sklaven des Despoten, zu diesem bzw. zum Staat oder zu der adligen Ausbeuterklasse war der typisch altorientalische Grundwiderspruch. Diese Entwicklung der zerfallenden Urgesellschaft zur altorientalischen Klassengesellschaft war gesetzmäßig und damals ein Fortschritt. Die Dorfgemeinde blieb bis heute im Wesen unverändert, mit ihr erhielten die Volksmassen gentile Bindungen mancher Art lebendig. Sie hatten kein Interesse am Übergang zur Klassengesellschaft, aber ihre Produktionsleistung machte die Ausbeutung möglich, und diese wiederum ermöglichte den Ausbeutern, eine ständige Steigerung der Produktion zu erzwingen. Die Keime der neuen Gesellschaftsformation waren in der alten, u. a. in der Nachbarngemeinde, langsam herangereift. Die arischen Eroberer spielten die Rolle der Auslöser des Neuen. Welchen Platz die Adelsschichten der Dravida und Munda dabei einnahmen, ist noch nicht deutlich genug erkennbar; sie verschmolzen offenbar mit denen der Ärya in den beiden Adelsgeschlechtern der „Sonne" und des „Mondes" und im Brahmanenstand. Weder vorarischer noch arischer Adel fungierte

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als Organisator der Bewässerungsanlagen; beide wuchsen nicht aus solcher urgesellschaftlich notwendigen Funktion in ihre Regierungsfunktion in Klassengesellschaft und Staat hinein, wie es doch sonst im alten Orient die Regel war. Bei unserer besseren Kenntnis der arischen Quellen tritt vor allem der Übergang von der rgvedischen zur Gangesgesellschaft hervor, der vom Heerführer der Ärya im Panjab zum Despoten im Gangesgebiet. Das Ausbeuten bezeichneten die Priester damals brutal als „Fressen" des Volkes. Aufstände wurden von ihnen erwähnt, Klassenkämpfe nahmen also manchmal scharfe Formen an. Umfangreiche priesterliehe, theologische Texte, die Brähmanas und Upanishaden, sind — abgesehen von Keramik — die einzigen uns erhaltenen Zeugnisse der damaligen Gesellschaft. Die Priester wurden die Ideologen des beginnenden despotischen Staates. Die Brahmanen erhielten als Priester und Theologen vom Despoten das Privileg der damals keimhaft für den neuen Staat beginnenden Rechtsetzung und Rechtsprechung. Sie lehrten, die Gesellschaft als eine von vier Ständen, dreier arischer, der der Brahmanen, Ksatriyas und Vaisyas, und des nichtarischen, der unterworfenen Voräryas, der Öüdras, also eines Lehr-, eines Wehrstandes und zweier Nährstände zu verstehen und verdeckten damit die Klassengegensätze. Der damals beginnende altindische Despotismus brauchte die sich als Stand organisierenden Priester und Theologen als seine Ideologen — weitgehend ähnlich den feudalen Europäern zum Unterschied von den antiken Griechen. Auch jene glaubten im Gegensatz zu den Griechen an den priesterlichen Lehrstand als den höchsten über dem Wehr- und Nährstand. Die Brahmanen sind in anderer Weise den Leviten der Israeliten und den Mobeden der Iranier, den Priestern des alten Orients überhaupt, an die Seite zu stellen. In den Texten dieser Brahmanen finden sich auch traditionelle, mehr oder weniger übereinstimmende Listen der Männer und Frauen, die zum Hofstaat des Königs gehörten, der sogenannten „Juwelen" 1 . Als solche werden der Kronprinz, der Bruder, die Hauptfrau und ein paar Nebenfrauen des Königs aufgezählt. Als erster solcher Mann des Königs galt diesen Theologen natürlich der Hofpriester. Ihm folgte als nächster der Heerführer. Diese Rangfolge offenbart eine wichtige Neuerung: Der König führte das Heer nicht mehr selber, sondern regierte. Wohl aber galt der Dorfführer in dieser Liste weiter als Mann des Königs, nicht etwa des Heerführers; dieser sollte offenbar nicht allzu mächtig werden. Der Dorfführer war jetzt aber auch im Frieden ein Mann des Königs, d. h. der Staat beanspruchte jetzt, den Dorfschulzen, der doch nur der erste der Bauern seiner Dorfgemeinde war, als Beamten auszunutzen. Weitere Männer des Königs waren sein Wagenlenker, sein Barde, sein Fleischzerleger und Austeiler bei den königlichen Gastmählern des Adels, der Würfelwerfer bei den Würfelspielen dieses Hofstaates, der Zimmermann 1

Ebenda, 52ff.; Klaus Mylius, Indien in mittelvedischer Zeit. Habil.-Schrift Leipzig 1967 (Manuskript), 397ff.; K. P. Jayaswal, Hindu Polity. 3. Aufl. Bangalore 1955, 196ff.; vgl. 188: auf sie als „Königsmacher" ist bereits in AV III, 5, 6—7 hingewiesen.

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und der Wagenbauer des Königs, der traditionelle Bote und ein anderer, nichtarischer Bote. Unklar ist, ob gewisse Termini als „Richter" und als „Dorfrichter" zu übersetzen sind. Späher finden sich in dieser Liste nicht, wohl aber werden gelegentlich religiöse Entsühner in der Umgebung des Königs erwähnt. Dieser königliche Hofstaat ähnelt weitgehend noch der Gefolgschaft des rgvedischen Kriegsführers, nur ist der Heerführer jetzt ein Mann des Königs. Aber er ist kein Kriegsminister; Minister werden überhaupt in dieser Literatur nicht erwähnt. Der König beriet sich vermutlich bei seinen Gastmählern und besonderen Anlässen mit den ersten seiner Männer — den Prinzen, seinen Brüdern, dem Hofpriester und dem Heerführer — über politische Fragen. Die alten Heeres- oder Stammesversammlungen existierten im territorialen Staat nicht mehr. I n Hofversammlungen wurde anscheinend nur über theologische und dann über philosophische Fragen diskutiert. Der Despotismus mit seinen priesterlichen Ideologen begann erst keimhaft, öffentliche Arbeiten, wie Bau von Bewässerungsanlagen, Straßen oder Festungen bzw. Palästen oder Tempeln, gab es noch nicht. Städtebau begann erst gegen Ende der Periode. Zur damaligen Entwicklung der Steuer und des Finanzwesens über die rgvedische Gesellschaft hinaus ist noch nicht viel zu sagen. Ähnlich steht es mit dem Rechtswesen. Die theologischen dogmatischen Texte bezeugen nur sporadische juristische Gedanken. — Vom Einfall der Ärya nach Indien bis zum Ende dieser Periode waren an die 1000 Jahre vergangen. Vor allem in den letzten drei Generationen begann dann etwas wichtiges Neues: die Erlösungsreligion des Hinduismus und die Philosophie in den Upanishaden; man möchte annehmen, daß sich damals auch der Staat entsprechend entwickelt hat. Das Entstehen der Erlösungsreligion bezeugt auf jeden Fall, daß damals die Ausbeutung der Sudras ähnlich hart war wie die der Sklaven bei den Griechen zur gleichen Zeit. In der nächsten, der I I I . Periode von etwa 550 bis 350, entwickelte sich der Staat weitgehend in zwei Formen. In den dezentralisierten Staaten, den sogenannten Aristokratien, bildeten Tausende von stadtsässigen kleinsten „ K ö nigen", d. h. Adligen, jeder mit vermutlich nur wenigen Dorfgemeinden, mit je einem Speicherverwalter und Heerführer, die herrschende Schicht. Sie schufen sich eine kleine Exekutive für Krieg und Frieden; ihr Staat brauchte zwar weder für gemeinsame Steuereinziehungen aller Adligen noch für Heeresverwaltung einen ausgebildeten Regierungsapparat, wohl aber für ein oberstes Gericht. Anders verhielt es sich mit den unter einem Despoten zentralisierten Despotien. Die führende unter ihnen, Magadha, entwickelte sich allmählich zu hoher Zentralisierung bis zu einem Großreich, das fast ganz Indien umfaßte. Ihre Theoretiker, die Staatslehrer, stellten eine Liste von 18 sogenannten „würdigen Männern" (tlrtha) 1 zusammen, die den Beamtenapparat bildeten: 1

R ü b e n , a. a. 0 . , 124; F . W i l h e l m , D i e achtzehn W ü r d e n t r ä g e r . Zeitschrift der D e u t s c h e n Morgenländischen Gesellschaft 1969, S u p p l . I , 8 9 4 - 8 9 7 ; R ü b e n , a. a. O., 203.

Uber den Beginn des altindischen Staates

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die Ratgeber, vom Despoten aus den besten aller Beamten ausgewählt, den Hofpriester, den Heerführer (diese beiden in Fortführung der Liste der „Juwelen" als religiöser und militärischer Stützen des Thrones), den Kronprinzen, den Torhüter, den Palastwächter, weiter den Schatzverwalter, den Steuereinnehmer und den Bergwerksleiter als drei Finanzbeamte, zwei Arten Richter, mehrere Arten Truppenkommandeure von Festungen und Grenzabschnitten und die sogenannten Aufseher, die als Leiter der Zweige der staatlichen Wirtschaft aufzufassen sind. Wenn wir auch noch nicht alle Bezeichnungen dieser Liste der „würdigen Männer" verstehen, so zeigt sie doch, daß sich der Staat mit seiner Staatswirtschaft, seinem Finanz-, Gerichts- und Heereswesen aus dem keimhaften Zustand der I I . Periode bedeutend entwickelt hatte. Verschwunden ist der Dorfführer, offenbar weil das neue stehende Heer als Machtinstrument des Staates gegen die Volksmassen den militärischen Dorfschulzen der zerfallenden Gentilgesellschaft nicht mehr verwenden konnte. Weggefallen sind auch diejenigen „Juwelen", die ihre Funktionen bei den königlichen Gastmählern der I I . Periode gehabt hatten. Der Despotenhof kannte solche aristokratischen Versammlungen nicht mehr. Diese Liste der 18 „würdigen Männer" wurde dann in der IV. Periode in dem Staatslehrbuch Kau talyas, das den Staat der Mauryas um 300 v . u . Z . widerspiegelt, die Grundlage einer Gehaltsliste aller vom Staat „zu Unterhaltenden", d. h. der Beamten. Noch vor den Hofpriester und den Heerführer sind dort die Opferpriester und Lehrer des Despoten gestellt. Hinzugekommen sind weiter eine Fülle von kleineren Beamten mit niedrigeren Gehältern, wie die Hüter der Material- und Elefantenwälder, der Arzt, Pferdedresseur, Astrologe, Wahrsager, die sogenannten Leute des Hofpriesters, weiter die Rechner, Schreiber usw. und schließlich die Gaukler, Fein- und Grobhandwerker bis zu den „Bergwerksgräbern", die nicht mehr zum Regierungsapparat gehören. Die Fülle der „Aufseher" wird von Kautalya im Abschnitt über die staatliche Wirtschaft ausführlich geschildert. In der Gehaltsliste erscheinen weiter die Königin und der Wagenlenker, die schon in der Liste der „Juwelen" aufgezählt worden waren. Es werden aber auch drei Arten von Boten, d. h. Gesandten des Despoten, und eine ganze Reihe von Spitzeln und Geheimagenten aufgezählt. Sie alle waren spezialisierte Nachfolger der Boten und Späher der rgvedischen vorstaatlichen Gesellschaft, die aber unter den „Juwelen" und „würdigen Männern" aus irgendeinem Grunde nicht genannt worden waren. Diese Beamten waren nicht in Ressorts von Fachministern gegliedert, denn es gab immer noch keine Ministerien oder Minister. Der Despotismus wollte offenbar die Zusammenballung der Macht in den Händen eines Kriegs-, Finanz-, Wirtschafts-, Innen-, Außen- oder Justizministers vermeiden. Auch dem Heerführer stellten Beamte einzelner Truppenarten ein Heer nur für den Kriegsfall zur Verfügung; viele Beamte, u. a. der Wirtschaft, hatten für ihr Gebiet Polizeifunktionen, so daß eine allgemeine, zentralisierte Polizei nicht benötigt wurde. Es gab auch keinen Ministerrat, sondern der Despot wählte

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sich aus den Beamten die nach seiner Ansicht „besten" für jeweilige Beratungen; er war als Despot an ihre Meinung nicht gebunden. An diesem Staatsaufbau hat der große Mauryakönig Asoka nicht gerüttelt, obgleich er als frommer Buddhist besondere Moralbeamte einführte. Auch die Eroberer — die Griechen, Saka, Pahlava und Kushan — haben ihn in den folgenden Jahrhunderten nicht geändert. Erst unter den Guptas sind zwischen 300 und 500 u. Z. einige Neuerungen festzustellen: erstens eine Art Außenminister als ein Beamter für Krieg und Frieden, wie er in Inschriften genannt wird, zweitens eine Art Provinzeinteilung des Großreichs unter Gouverneuren, die, wie manche Forscher nach einigen Inschriften meinen, mehr oder weniger den Charakter von Feudalherren annahmen. I m dritten Viertel des 5. Jh. erscheint zuerst in südindischen Inschriften der Titel sämanta, den man mit „Feudalherr" zu übersetzen pflegt. 1 In der hochbedeutenden Dichtung dieser Gupta-Pteriode ist vor 500 u. Z. von dieser Neuerung ebensowenig zu spüren wie in der Rechts- und Staatslehre dieser Jahrhunderte. Kälidäsa verwendete z. B. in Raghuvamsa X V I I , 68 noch den alten Fachausdruck „würdiger Mann".2 Das Problem eines indischen Feudalismus bedarf auch in dieser Hinsicht noch einer eingehenden Untersuchung. Die alten Inder wurden sich des Übergangs von der Urgesellschaft zur Klassengesellschaft und zum Staat sofort, wenn auch natürlich nicht mit einer wissenschaftlichen Soziologie, bewußt. Konservative Brahmanen stellten es als Theologen aus der Sicht der erfolgreichen arischen Eroberer so dar, als wenn man einen Oberherrn vor allem als Kriegsführer benötigt hätte, als handelte es sich immer noch um Urgesellschaft. Die Volksmassen aber litten unter der neuen Ausbeutung, und ihnen erklärten diese Ideologen der neuen herrschenden Klasse unter Verwendung des damals aus Kleinasien übernommenen Vierweltaltermythus, daß die Menschen ihrer Natur nach langsam immer schlechter geworden wären, bis nach dem Übergang von einem einstigen paradiesischen (urgesellschaftlichen) zum jetzigen, schlimmsten Zeitalter eines Tages ein Heiland kommen und das paradiesische wiederherstellen würde, so daß ein Zyklus von solchen vier Weltaltern ewig dem anderen folge. Unmittelbar nach dem Entstehen des Staates entwickelte sich in Indien ferner eine Staats- und eine Rechtslehre. Damit hob sich die Gangesgesellschaft weit über die Indusgesellschaft empor. Dasselbe wird auch von dem Staat der Maurya-Gupta gegenüber den älteren Staaten der altorientalischen Klassengesellschaft wie dem der Indusgesellschaft oder Sumer gelten, wenn es auch noch nicht im einzelnen nachweisbar ist. Daß es sich hierbei um den Übergang zum Staat handelte, haben sowjetische Indologen als erste 3 erkannt und Indologen der D D R und einige indische Kommunisten übernommen und 1

R. Sh. Sharma, Indien Feudalism: c. 300-1200. University of Calcutta 1965, 24 f.

2

Rüben, a. a. 0., 202 Anm. 14; 272 Anm. 80; Wilhelm, a. a. 0., 897: noch im 10. Jh.

3

S. u. a. in deutsch: Geschichte Indiens. Große Sowjet-Enzyklopädie. Berlin 1954, 44 (in russisch 1953 2. Aufl.): im 10.-7. Jh. Entstehung einer Reihe kleiner staaten.

Sklavenhalter-

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fortgeführt.1 Die übrige Indologie sah zwar ein Zunehmen der Macht des Königs, stand aber allgemein auf dem Standpunkt, der nur einmal mit vermutlich antimarxistischer Absicht ausgesprochen wurde, daß es immer Staaten gegeben habe.2 1

2

W. Ruben, Einführung in die Indienkunde. Berlin 1954, 112ff.; s. o. S. 73 Anm. 1; Weltgeschichte in Daten. Berlin 1965, 185f.; Mylius, a. a. 0., 367ff. - D. D. Kosambi, The Culture and Civilisation of Ancient India in Historical Outline. London 1965, 96 ff.: From tribe to society, new classes, private property, universal monarchy, dictatorial absolute monarchy, new social stage und andere Begriffe ohne Systematik. — Debiprasad Chattopadhyaya, Lokayata. New Delhi 1959, 125ff.: Ubergang vom Stamm zum Staat um 3000 v. u. Z.; 469ff.: zu Buddhas Zeit. W. Bau, Staat und Gesellschaft im alten Indien. Wiesbaden 1957, Iff. — Jayaswal, a. a. O., 183, spricht schon beim RV von monarchy, bei der II. Periode nur von einem „great change" (197), B. Keith (Cambridge History of India 1,1922,130) vom Wachsen der Macht und Erblichkeit des Königs, danach R. C. Majumdar (An Advanced History of India. London 1953, 44) vom Ausbau des Verwaltungsapparates. — A. L. Basham, The Wonder that was India. London 1954: kleine Königtümer; die ihren Stammescharakter gänzlich verloren hatten (ohne dies verständlich zu machen). — R. Thapar u. P. Spear, Indien. Zürich 1965, 39: Entstehen der Idee des Königtums; Stammeshäuptling wird König; 40: Einführung eines rudimentären Verwaltungssystems; 41: Arier kamen mit drei Klassen nach Indien. — A. T. Embree u. F. Wilhelm, Indien. Frankfurt a. M. 1967: Wilhelm spricht 37 f. bald von Staaten, bald von Stämmen.

6 Staatsentätehung

Die Bedeutung der sogenannten . Richterzeit für die Staatsentstehung bei den Hebräern v o n HEINZ KREISSIG (Berlin)

Die Zeit, die im sogenannten Richterbuch des Alten Testaments (sptym) behandelt wird, umfaßt die Ereignisse nach der Seßhaftwerdung der Hebräer in Kanaan und Jordanien (der sogenannten Landnahme), d. h. etwa die beiden letzten Jahrhunderte des* 2. Jahrtausend v. u. Z., gehört also archäologisch gesehen in Eisen I Palästinas 1 . Um die Frage zu beantworten, ob diese Gesellschaft schon in einem Staat bzw. in Staaten lebte oder nicht, wenn aber noch nicht, welche Etappe wir auf dem Wege dieser Gesellschaft zur Staatswerdung vor uns haben, müssen wir ihre soziale Situation untersuchen. Die Darstellung des Buches Josua, wonach die Hebräer nach dem „Auszug aus Ägypten" und einer 40-jährigen Wüstenwanderung Kanaan in einem Feldzug unter Jehösu'a, dem Sohn Nün's, erobert hätten, gehört nach heute allgemeiner Anschauung ins Reich der ätiologischen Sagen. Offenbar sind die hebräischen Stämme zu verschiedenen Zeiten und unterschiedlichen Bedingungen von Osten und Süden her nach Kanaan eingesickert und haben dort zu siedeln begonnen. Selbstverständlich dürfen im Verlaufe dieses Prozesses auch kriegerische Auseinandersetzungen mit den verstreuten kanaanäischen Stadtstaaten nicht ausgeschlossen werden. Da wir aber auf die spätere tendenziöse Berichterstattung der Hebräer angewiesen sind, bleibt unsere Kenntnis dieser Vorgänge vorläufig im Dunkeln. Bei der Untersuchung der sozialen Situation der Hebräer nach Beendigung der Wanderbewegung gilt es festzuhalten, daß die Darstellung des Verhältnisses zwischen hebräischer und kanaanäischer Bevölkerung den gleichen Tendenzen unterworfen ist. Sie versucht glauben zu machen, daß eine kanaanäische Bevölkerung, wenn überhaupt, nur als besiegte, abhängige Bevölkerung existiert. Tatsächlich gibt es aber autonome kanaanäische Städte bis in die Regierungszeit Davids hinein. Unsere Quelle, das Buch Sptym, ist — mit Ausnahme des zeitgenössischen Deborah-Liedes — etwa 200 Jahre nach den geschilderten Ereignissen entstanden, weist einige spätere Glossen auf und ist deuteronomistisch überarbeitet. Es geht aber auf z. T. sehr alte mündliche Traditionen zurück. Eine vielleicht zeitgenössische Quelle, das i M. Noth, Die Welt des Alten Testaments. 4. Aufl. Berlin 1962, 110.

Richterzeit und Staatsentstehung bei den Hebräern

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sogenannte, Bundesbuch, das in das Buch Exodus eingegangen ist, scheint wenigstens zum Teil ein kanaanäisches Stadtrecht gewesen zu sein und ist insofern nur mit Vorsicht für die Hebräer der Vorkönigszeit zu gebrauchen i. Ganz kurz vorweggenommen sei der Versuch einer Darstellung der kanaanäischen Gesellschaft, wie die Hebräer sie vorfanden. Die Kanaanäer im Landesinneren lebten in autonomen Stadtstaaten. Die Städte waren mit einer Mauer umgeben und hatten in der Mitte einen „Turm", also ein besonders befestigtes Zentrum. Die Stadt war Sitz der aristokratischen Führung, zumeist eines Despoten und einer bevorrechtigten, zum Herrscher in Beziehung stehenden Schicht von Wördenträgern und teilweise auch Fernhandelskaufleuten. Das umliegende Land war Eigentum dieser Herren; die erblich auf ihrem Anwesen sitzenden Bauern befanden sich in außerökonomischer Abhängigkeit. Die mit den archäologischen Funden übereinstimmende hebräische Quelle für diese Lage, das Buch Josua, nennt die Vorsteher dieser Städte melek, was mit „König" wohl annähernd richtig wiedergegeben wird, spricht aber auch von Königsstädten (Jericho, Jerusalem, Hebron u. a.) im Gegensatz zu solchen, die — wie gib e< on — keinen König hatten. Hier in Gibeon hatten josbe gib e 'on, die Bewohner der Stadt, mit Josua Frieden geschlossen. Sie scheint also in einer demokratischen Form der „höheren Einheit" regiert worden zu sein, von den z e qenim, den Ältesten (Jos. 9, 3. 10; 10, 1—3). Interessanterweise wird von Gibeon noch betont, daß alle Männer gibborim waren, d. h. waffenfähig. Das könnte bedeuten, daß hier das Land zwar familiär genutzt, aber noch formales Gemeindeeigentum war; anders wäre diese Betonung ziemlich sinnlos, da ja auch die abhängigen Bauern Kriegsdienst zu leisten hatten. Für sie wird aber niemals der Ausdruck gibborim gebraucht, mit dem die Vorstellung des „gewaltig", auch „überlegen sein" verbunden ist 2 . Nach Beendigung der sogenannten Landnahme, über deren einzelne Etappen wir, wie gesagt, so schlecht unterrichtet sind, daß ich es für müßig erachte, den existierenden Hypothesen hier eine weitere — unbeweisbare — hinzuzufügen, stellt sich die Situation der Hebräer folgendermaßen dar: Räumlich gesehen wohnen die Hebräer in Stämmen beieinander. Das von einem Stamm (matte oder sebet) besiedelte Gebiet wird als nah a lä bezeichnet, so daß sich die Zusammensetzung nah a lat matte ergibt (Jos. 15, 20). nah a lä, deutsch gewöhnlich als „Erbbesitz" wiedergegeben, ist jedoch auch das Erbeigentum des einzelnen. So wurde Josua in nah a latö, s e i n e m Erbeigentum, beigesetzt (Jud. 2, 9). Und dafür, daß das Stammesland — wahrscheinlich 1

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A . A l t , Die Ursprünge des israelitischen Rechts, in: Kleine Schriften zur Geschichte Israels. Berlin 1962, 146-190, bes. 163; G. von Rad, Theologie des Alten Testaments I. Unveränd. Nachdruck der 4. Aufl. Berlin 1963,43 f.; H. Ringgren, Israelitische Religion. Stuttgart 1963, 41. Vgl. hierzu G. Wallis, Geschichte und Überlieferung. Gedänken über alttestamentliche Darstellungen der Frühgeschichte Israels und der Anfänge seines Königtums. Berlin 1968, 46; M. Noth, Geschichte Israels. 5. unveränd. Aufl. Berlin 1961, 132.

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ohne Zwischenstufe — in Familieneigentum überging, haben wir eine Reihe von Zeugnissen. Der Judäer Kaleb schenkt seiner Tochter Aksa ein Stück Land mit Wasserquellen in der Negeb (Jud. 1, 14f.; daß Kaleb vermutlich keine historische Persönlichkeit ist, besagt insofern nichts, als jedenfalls die Möglichkeit einer solchen Handlung vorausgesetzt wird); Goal und seine Brüder besitzen Weinberge (Jud. 9, 27); in der Geschichte von Jephta verweigern die Brüder diesem das Erbe an Grund und Boden (Jud. 11,2); im Bundesbuch gibt es sowohl Eigentümer von Vieh (Ex. 20, 29), von Zisternen (Ex. 20, 33) als auch von Feldern (Ex. 22, 5). Es geht hier unübersehbar um Erbeigentum in der Familie. Aber zwischen Stamm und Familie gibt es eine Zwischenformation. In der Zeit der Wanderung war diese Formation die mispahä, gewöhnlich als Geschlecht oder Sippe wiedergegeben, und wahrscheinlich stand sie vor der „Landnahme" überhaupt anstelle des sebet. Die mispahä existiert auch weiterhin. Nachweisbar ist sie als militärische Einheit der Tausendschaft, 'elep. Als Gideon vor dem Auftrag erschrickt, die Hebräer gegen die Midianiter zu führen, sagt er: 'alpl haddal bim e nassi — meine Täusendschaft ist die geringste im Stamm Manasse. Die Tausendschaft ist also — ohne daß man die Zahl hierbei strapazieren dürfte — identisch mit der mispahä. Aber daneben hat sich eine andere Formation entwickelt, die lokaler Art und nicht identisch mit der Sippe ist, diese aber an Bedeutung bereits weit übersteigt: die in einer Stadt oder einem Dorf zusammenwohnende Gemeinde. Sie wird zwar immer von Familien ein und desselben Stammes gebildet, aber nicht von Familien derselben Sippe. Im Gegenteil haben wir Zeugnisse, daß einzelne Familien von einer in die andere Stadt umsiedeln, wie Goal, der nach Sichern zieht (Jud. 9, 26), daß in einer Stadt Angehörige verschiedener mispahöt leben, so ebenfalls in Sichern die Sippe der Mutter Abimeleks neben anderen ba' a le se^em. Die soziale Organisationsform aber — und das ist das wichtigste in diesem Zusammenhang — ist die lokale Gemeinde und nicht mehr die mispahä! Es gibt keine Führer oder Ältesten der Sippe, sondern nur „höhere Einheiten" der Städte: Oberste (sarim) und Älteste (z«qenim) von Sukkot (Jud. 8, 14), sarim von Penuel (Jud. 8, 8), von Sichern (Jud. 9, 30), von Gilead (Jud. 10, 18), wo auch Älteste bezeugt sind (Jud. 11, 8). Mit der Seßhaftwerdung hat also die Sippe fast ohne Übergang ihre Bedeutung verloren zugunsten der lokalen Ansiedlung, bei der auf Sippen keine Rücksicht genommen wurde. Selbst als militärische Einheit scheint die Bedeutung der Sippe etwas zweifelhaft, wenn wir hören, daß z. B. einzelne hebräische Städte — und nicht Sippen oder Tausendschaften — Gideon und seinem gesamthebräischen Heere die Unterstützung verweigern (Jud. 8, 6fF.). — Schauen wir uns also den Sozialaufbau einer hebräischen Gemeinde an. Wir finden für sie die Begriffe 'Ir und hawwä. 'ir ist die Stadt, hawwä das Dorf, eigentlich „da, ,wo man lebt", bei den Nomaden z. B. das Zeltdorf. Wir sahen bereits, daß es in den Städten Oberste und Älteste gibt: sarim und zeqenim, die zweifellos nicht identisch sind, wie die Behandlung der Begriffe

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in Jud. 8, 14 erweist: wajjiktob 'elayw et-sare sukköt w e 'et-z e qeneha. Aber damit sind die Möglichkeiten der sozialen Gliederung nicht erschöpft. Der Stamm Juda, der im gleichnamigen Gebirge siedelte, gab nach der Legende dem Kaleb, einem Feldherrn Josuas, die kanaanäische Stadt Hebron, wajjitnü, sie gaben, kann nur in dem Sinne verstanden werden, daß Kaleb in einer despotischen Form der „höheren Einheit" die Stadt beherrschte (dabei ist zu beachten, daß der Begriff „Despot" hier durchaus in seinem ursprünglichen, keineswegs nur pejorativen Sinn gebraucht wird). Als solcher Oberherr — seinen Titel erfahren wir nicht — vergibt er Land an Stammesangehörige weiter. Das Land, das er als Herr von Hebron zu vergeben hat, reicht aber bis in die Negeb, ist also ein Territorium von beachtlichem Ausmaß. In diesem Gebiet werden sogar weitere Städte unterworfen. Ähnliches wird in einer ätiologischen Sage von den Söhnen des Jair aus Gilead berichtet: Die 30 Söhne Jairs besaßen 30 Städte, die man hawwöt Jairs (am besten vielleicht mit „Wohnorte" zu übersetzen) nannte. Diese Benennung der Städte nach dem Vater scheint mir folgende Vorstellung zu beweisen: Wie Kaleb hatte Jair ein Territorium als Despot zugeteilt erhalten, das er weiter vergab (übrigens wie Kaleb auch zunächst an seine Nachkommen); die Herren der einzelnen Orte blieben aber von Jair abhängig, so daß dessen Name bei den hawwöt verblieb. Diese Situation dürfte sich in Gilead besonders deshalb leicht erhalten haben, weil die „Städte" in dem relativ dünn besiedelten Gebiet die Größe heutiger Dörfer kaum überschritten haben werden. Wir haben also auch in Gilead einen Einzelherrscher über ein Territorium sowie ihm untergeordnete Herren einzelner Städte. Für sie alle ist keine „Amtsbezeichnung" überliefert, es ist auch gar nicht sicher, ob es überhaupt solche gegeben hat. sar, hör, rös, ba'al und andere Begriffe werden nicht deutlich unterschieden, sondern allgemein für die bevorrechtigte Schicht gebraucht, die vermutlich ihre Vorrechte noch aus der Zeit der Wanderung ableitete, sie nun aber bereits in privilegiertem Landeigentum vergegenständlicht hatte. — Natürlich ist Jair wie Kaleb ein Stammesheros und keine historische Person. Aber solche Sagen entstehen nur auf der Basis der Umwelt und widerspiegeln so reale Situationen (vgl. Nu. 32, 41). Wir haben also zumindest in bestimmten Gegenden oder wenigstens bei den Stämmen Juda und Manasse eine Art hierarchischer Gliederung nach oben vor uns. Die Basis bilden aber weder Sippe noch Stamm, sondern das Territorium. Weitaus schwieriger ist es, aus den Quellen das Verhältnis zwischen der privilegierten Klasse und der breiten Masse der Bevölkerung herauszulesen. Als Israel stark geworden war, machte es die Kanaanäer fronpflichtig, heißt es in einer späteren Glosse zum Richterbuch (Jud. 1, 28), die dieses Verhältnis im großen und ganzen richtig — wenn auch im Rahmen eines längeren Prozesses — wiedergibt. Wie aber sieht es in bezug auf die hebräischen Bauern aus? Genau besehen, gibt es nur eine Stelle, die hierüber etwas aussagt. Wenn auch die Erzählung über den Ephraimiten Micha nicht ursächlich zum Richterbuch gehörig erscheint, so schildert sie doch Ereignisse der gleichen Zeit und

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dürfte auch nicht viel jünger sein. Nachdem die Daniten dem Mann Micha — er wird immer nur mit 'is bezeichnet, war also offenbar nicht von adliger Abstammung — sein Heiligtum weggenommen und sich entfernt hatten, geschah folgendes (Jud. 18, 2 2 ) : „die Männer, die in den Häusern (wohnten), die bei dem Hause Michas (standen), wurden zusammengerufen". Das Verb, auf das es hier ankommt, ist in der vorliegenden Form niz' a qü. Luther übersetzt sehr schön „wurden zuhauf gerufen", während die Zürcher Bibel die Bedeutung verwischt und sagt: sie taten sich zusammen. niz' a qü ist aber die Niphal-Form von z'q „schreien, rufen". Die Männer lassen sich also rufen, d. h. sie werden gerufen, sie werden aufgeboten, und zwar von Micha. Wenn nun auch das noch als Nachbarschaftshilfe ausgelegt werden könnte, dann zweifellos nicht mehr die Frage der Daniten an Micha: mä-l c ljä kl niz' a qta — was willst du, daß du zusammenberufen ( = aufgeboten) hast? Micha selbst hat die Männer aufgeboten; die in den Häusern bei seinem Hause wohnten, waren von ihm abhängig. (Gestützt wird diese Annahme weiter dadurch, daß die im Deutschen beiläufige Formulierung „bei dem Hause Michas" wiedergegeben wird mit 'im-bet mi^ä. 'im hat aber im Gegensatz zu dem allgemeinen b e die Bedeutung von „im Besitz von", „innerhalb v o n " gleich dem lateinischen penes. Das Grundwort ' m m heißt „sich zusammenschließen". Die b e i dem Hause Michas Wohnenden sind also die dort Zusammengeschlossenen, die Häuser b e i dem Hause Michas sind im Eigentum von Micha.) Offenbar verfügt auch Micha über ein kleines Gebiet, das er oder einer seiner Vorfahren für irgendwelche Verdienste erhalten hatte, samt den dort siedelnden Bauern, die zu seinen Abhängigen wurden. I c h meine, daß wir diesen Status auch für die hebräischen Bauern in den Gebieten annehmen dürfen, von denen die Erzählungen über J a i r und seine Söhne und über K a l e b berichten. Sicher ist diese Abhängigkeit noch patriarchalisch aufzufassen, doch gibt eine Beobachtung zu denken. Die in den kanaanäischen Städten vorgefundenen migdal oder millo' — mit Burg und Turm sicher sehr ungenau übersetzt, millo' ist wörtlich die „Aufschüttung" — werden von den Hebräern ebenfalls benutzt, und in ihnen sitzen die ba' a lim, die Bevorrechteten der Stadt (Jud. 9, 6). Sollten sie sich außerhalb doch nicht ganz sicher fühlen? Zumindest dürfte das gegenüber ihren kanaanäischen Untergebenen der Fall gewesen sein. Daß von einem gewissen Solidaritätsgefühl der kanaanäischen und hebräischen Abhängigen nichts berichtet wird, ist natürlich nicht verwunderlich, und man sollte es nicht ohne weiteres ausschließen. Ungewiß ist, wie man die 'abdim Gideons (Jud. 6, 27) einordnen soll. Sklave kann man zwar immer mit 'ebed wiedergeben, aber nicht jeder 'ebed ist Sklave. Wir haben also im Hebräischen dasselbe Dilemma vor uns wie im Griechischen und Late'nischen: das meistgebrauchte Wort — 'ebed, dov?.og, servus — umfaßt sowohl Sklaven wie auch nichtversklavte Abhängige, die vor allem an eine Person, nicht so sehr an ein Produktionsmittel, gebunden sind. Das gleiche gilt übrigens für na'ar, das hebräische Äquivalent zu nalg. Da es unwahrscheinlich ist, daß Gideon das heimliche Opfer mit nichthebräischen Sklaven

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bringt, muß man auf jeden Fall die Existenz von Hebräern annehmen, die bereits ganz von Produktionsmitteln getrennt sind, wobei es dahingestellt bleiben muß, ob sie als Sklaven oder in Tagelohn oder in einem der Leibeigenschaft vergleichbaren Status arbeiten. Zusammengefaßt erhalten wir in einem hebräischen Stamm also folgende Ordnung: Stamm

Gebieter über ein Territorium

Gebieter über eine Stadt

Amphiktyonie

Despot oder Oberste oder Älteste von Städten

oder

oder Oberste und Älteste einer Stadt

Eigentümer von Land

Eigentümer von Land

Lintereigentümer von Land

Eigentumslose

lintereigentümer von Land

Eigchtumslosc

Die mispahä, die Sippe, findet in diesem sozialen Schema keinen Baum mehr. Die Familie, im Hebräischen bet-'ab, Haus des Vaters, findet sich in allen Stufen, einschließlich der Untereigentümer, der Abhängigen, die ja erblich auf ihrem Boden sitzen. Beschlüsse der Stämme — das ist zu ergänzen — scheinen (es gibt keine Aussage darüber) von den Häuptern der Territorien und Städte gefaßt worden zu sein. Zwar gibt es auch eine Versammlung aller Hebräer, qahal c am ha'elohlm (Jud. 20, 2), aber auch da führen wohl die pinnöt kal-ha 'am, die Ecksteine des Volkes, also die Anführer, das Wort, und außerdem handelt es sich bei der einzigen Quellenstelle um eine Heeresversammlung in einem legendären Zusammenhang. Immerhin führt uns diese Frage nun zu einer Erscheinung dieser Zeit, die mit dem Begriff sößet verbunden ist, einem Begriff, der mit „Richter" zweifellos fehlübersetzt ist — wobei aber sogar die Möglichkeit besteht, daß die Kompilatoren des sogenannten Richterbuches bereits in Unkenntnis der historischen Sachlage zwei Funktionen gewissermaßen auf einen Nenner gebracht haben,

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die nichts miteinander zu tun haben. Die Vorstellung von 12 Richtern, die auf Josua gefolgt seien, hat Bernhard Stade schon vor nahezu 100 Jahren für unhaltbar erklärt 1 . Heute sieht man überwiegend nur in den sogenannten kleinen Richtern, von denen das Richterbuch nicht viel mehr erzählt, als wie viele Jahre sie gerichtet haben, die eigentlichen söptim. Ihr Richteramt bestand wohl in der Auslegung der Kultgesetze der hebräischen Amphiktyonie; denn das weltliche Richteramt lag in den Händen der Ältesten in den lokalen Gemeinden. Diese Richter interessieren uns im gegebenen Zusammenhang kaum, wohl aber die sogenannten großen Richter. Sie werden heute in der Literatur meist als charismatische Führer bezeichnet2 — eine richtige Auslegung, die uns aber nicht viel weiterhilft. Feststeht allein so viel, daß in Zeit äußerer Not sich einige (oder alle?) Stämme einem Mann und seiner Führung unterordneten. Auf welche Weise er in das Amt des qa9in, des Anführers, gelangt, auf dem Wege der Wahl, der Berufung (durch welches Gremium?), womöglich der Usurpation, wissen wir nicht. Nach der Erzählung wurde Jephta von den Ältesten von Gilead gebeten, und das Volk, ha'am, machte ihn zum Oberhaupt, lerö's üleqa9ln. Aber Jephta war nur der Anführer von Gilead im Kampf gegen die Ammoniter, von den anderen Stämmen ist keine Rede — im Gegenteil, er kämpfte sogar gegen Ephraim. Die ganze Erzählung ist legendarisch und verworren. Barak jedoch führte ein Heer aus mehreren Stämmen, und Gideon sowie seine Söhne herrschten über „ganz Israel". Gideon, der nicht nur relativ viele 'abdlm, sondern auch einen großen Harem besaß, also trotz seiner Bescheidenheit ein großer Grundherr war, führte die Hebräer gegen die Midianiter und besiegte sie. Aus der Kriegsbeute erhielt er allen Goldschmuck, den die Hebräer erbeutet hatten (Jud. 8, 24—26). Danach sagten die Israeliten zu ihm: Herrsche über uns, du und dein Sohn und der Sohn deines Sohnes (Jud. 8, 22). Nach der Erzählung des Richterbuches soll Gideon zwar die Herrschaft abgelehnt haben, doch gibt es genug Anzeichen dafür, daß das Königtum der Hebräer in Gideon einen ersten Repräsentanten vor Saul gehabt hat, wenn auch nur im Rahmen des Stammesverbandes Joseph. Gideon stellte in seiner Heimatstadt Ophra ein Heiligenbild, ein Ephod, auf, d. h. Gideon setzte dem zentralen Heiligtum der hebräischen Amphiktyonie, der sogenannten Lade, ein eigenes Heiligtum entgegen, und „ganz Israel", sagt der spätere Verfasser des Richterbuches, trieb dort. Abgötterei. Zum zweiten, und das ist wichtiger, gelten nach Gideon seine Söhne (es sollen 70 gewesen sein) als die Herrscher, obwohl Gideon noch viele Jahre nach seinem Midianitersieg gelebt hat. Zum dritten trägt ein Sohn Gideons von einer Nebenfrau aus Sichern den redenden Namen '»bimelefc, und das heißt „mein Vater ist König". Dieser Abimelek nun läßt sich in Sichern von den dortigen ba' a lim und kal-bet millo', den Bewohnern des Millo, zum König machen: wajjamlifcü Jet-'ab!melefc lemele^. Hier wird 1 1

B. Stade, Geschichte des Volkes Israel. Berlin 1881, 66. Noth, Geschichte, 97.

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erstmalig für einen Hebräer das Wort melelj = König gebraucht, während für Gideon und seine Söhne das allgemeine msl = herrschen verwendet wurde. Doch läßt der Kontext vermuten, daß sich Abimelek als Nachfolger Gideons wie auch seiner eigenen ermordeten Brüder betrachtete. Es ist zwar kaum anzunehmen, daß Abimelek über mehr geherrscht hat als über einige Städte des Stammes Manasse, bevor er gestürzt wurde, doch ist wichtig, daß wir in der Familie Gideons ein ausgeprägtes Königtum vorfinden. Abimelek setzte z. B. einen paqid über Sichern, während er in Ophra residierte (Jud. 9, 28). Die Bedeutung von paqid — die Zürcher Bibel übersetzt „Vogt" — wird deutlich, wenn man es auf den Stamm pqd zurückführt, der neben „beaufsichtigen" aüch „mustern, ausheben" beinhaltet. Gerade in diesem Sinne hat die L X X hier sniaxonog. Abimelek stützte sich als erster hebräischer Fürst auf eine Söldnertruppe, und er ließ sich von dem Geld der Grundherren von Sichern aushalten. Am Ende der „Richterzeit" steht das Königtum Sauls, das aus dem Krieg gegen die Philister erwächst. Aber ich glaube gezeigt zu haben, daß die Tendenzen dahin über einen längeren Zeitraum gingen. Am Anfang stand die lokale Gemeinde, autonom in einem Stammes verband, dessen Bedeutung in Friedenszeiten nicht über Kultfragen hinausging. Die Entwicklung des Grundeigentums führte zur Territorienbildung unter einem Despoten. Die Grundlage hierfür war zweifellos eine Form des Bewässerungsbodenbaus. Die Bedeutung, die in den Quellen wiederholt Zisternen beigemessen wird, macht diese Annahme zur Gewißheit. Während Zisternen nach den Geboten des Bundesbuches im Privatbesitz waren, dürfte die Bewässerung der Felder nur auf dem Wege möglich gewesen sein, wie sie heute noch im Hauran beobachtet werden kann: durch die Stauung der Gebirgsbäche, die ja normalerweise das ganze Jahr über Wasser führten und aus den Becken auf die Felder geleitet werden konnten. Die Verteilung des Wassers — ganz besonders in den häufigen, Dürrejahren — erforderte die Organisation und Leitung einer höheren Einheit. Hat nun eine solche Art der Despotie ohnehin die Tendenz zur Vergrößerung ihres Territoriums zum Zusammenschluß mehrerer Territorien, so machte die Notwendigkeit der Verteidigung gegen die Nachbarn im Osten — zum großen Teil halbseßhafte Viehzüchtervölker — diesen Prozeß unumgänglich. Der Kampf gegen die infolge ihrer Eisenwaffen und Kriegswagen technisch überlegenen Philister bildete den letzten Anstoß für das Gesamtkönigtum der hebräischen Stämme. Nun sind Königtum und Staat auch in diesem frühesten Entwicklungsstand einer Klassengesellschaft, auf dem sich die Hebräer zu jener Zeit befanden, nicht identisch. Kriterien des Staates, der nach Lenin „dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können", entsteht 1 , gibt es im Gegensatz zur Gentilordnung im wesentlichen i Lenin, Werke Bd. 25. Berlin 1960, 399.

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zwei: 1. die Einteilung der Gesellschaftsmitglieder nach dem Gebiet. 2. die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst organisierenden Bevölkerung, einer öffentlichen Gewalt, die sich von der Masse des Volkes unterscheidet und sich ihr mehr und mehr entfremdet1. Betrachten wir die sogenannte Richterzeit der Hebräer unter diesen Gesichtspunkten, kommen wir m. E. in bezug auf die Staatsentstehung zu folgenden Ergebnissen: Die in die Zeit der gentil organisierten Gesellschaft der Wanderungszeit zurückreichende soziale Differenzierung hat sich nach der Seßhaftwerdung zu Klassen entwickelt. „ . . . nach ihrem . . . Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum . . , " 2 können wir unterscheiden eine Klasse privilegierter Bodeneigentümer — dazu gehören die „Despoten" kleinerer Territorien, die sarlm, horim und ähnliche bevorrechtigte Schichten, die in den Städten wohnen — und eine Klasse von Untereigentümern, bestehend aus Kanaanäern und Hebräern, die erblichen Familienbesitz haben, von den obengenannten jedoch insofern abhängig sind, als sie das Mehrprodukt erarbeiten und damit die Existenz jener andern Klasse überhaupt möglich machen. Zum dritten gibt es eine Schicht Eigentumsloser, die in Schuldsklaven und Tagelöhner unterteilt werden können, wobei die Quellen im einzelnen eine sichere Unterscheidung nicht gewährleisten (Ex. 20, 2). Männliche Sklaven außerhalb der Schuldsklaverei sind abgesehen von einer ziemlich sagenhaften freiwilligen Sklaverei nicht nachweisbar, dagegen Sklavinnen (Ex. 20, 7). Die Klausel des Bundesbuches, wonach Schuldsklaven nach 6 Jahren freizulassen sind, beweist, daß auch die herrschende Klasse kein Interesse an einer Beseitigung des Bauerntums und seiner Überführung in eine allgemeine Sklaverei hatte. Einer solchen Tendenz standen die Interessen der auf Bodenbewässerungsbau basierenden Produktion und der Verteidigung entgegen. Wenn ich vorhin von einer im allgemeinen „patriarchalischen" Form der Abhängigkeit sprach, so widerspricht das nicht der Unversöhnlichkeit des Klassenantagonismus. Tatsächlich wird diese im Verlauf der hebräischen Geschichte sehr schnell sichtbar. Gemeint ist, daß die gentile Tradition das Bewußtsein für die neue Situation bei den abhängigen Bauern noch hemmte, insofern der Klassenkampf sich nur in einer Spannung, aber noch nicht in Auseinandersetzungen kundtat. Mein Hinweis auf das Wohnen der bevorrechtigten Familien im migdal von Sichern kann jedoch — wenn auch keinesfalls mit Sicherheit — auch auf das Vorhandensein solcher Auseinandersetzungen gedeutet werden. Die Voraussetzung, ja die Notwendigkeit, den Staat als Organ der Unterdrückung der einen Klasse durch die andere zu schaffen, ist also gegeben. 1 2

Marx-Engels, Werke Bd. 21. Berlin 1962, 115 und 165. Lenin, Werke Bd. 29. Berlin 1970, 410.

Richterzeit und Staatsentstehung bei den Hebräern

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Ich hoffe gezeigt zu haben, daß das Jahrhundert vor dem fertigen Staat der Hebräer im Königtum Sauls ein einziger Prozeß ist, diesen Staat zu schaffen. Die Einteilung der Gemeinschaftsmitglieder nach dem Gebiet statt nach der Gentilordnung ist bereits im Zuge der „Landnahme" perfekt geworden. Die Einrichtung einer öffentlichen, sich der Gesellschaft entfremdenden Macht ist in nuce in den kleinen Despoten, aber auch in den sarim der Städte gegeben lind in mehr als einer Keimform in dem Königtum Gideons und Abimeleks sichtbar. Ein latenter Widerstand gegen die Bildung kleiner Einzelstaaten bestand auf der einen Seite im Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Stämme und in der Amphiktyonie und auf der andern Seite in der Notwendigkeit der gemeinsamen Verteidigung gegen die Nachbarn. Diese Komponenten haben bewirkt, daß schließlich der Zusammenschluß aller Hebräer in e i n e m staatlichen Gebilde Wirklichkeit wurde. Die Auffassung Otto Eißfeldts, wonach nur die Auseinandersetzungen mit den Nachbarn, besonders den Philistern, den Staat (im Königtum Sauls) geschaffen haben 1 , ist entschieden abzulehnen. Die Geschichte aller Stämme vor einer Staatsbildung ist eine Geschichte von Kämpfen mit Nachbarstämmen um Weiden, vorübergehende Siedlungsgebiete, Quellen usw. Erst die Klassenbildung im Innern auf der Basis der differenzierten Eigentumsbildung macht den Staat notwendig. Der Krieg kann dabei wesentliche Impulse geben, aber nicht zum allein entscheidenden Faktor werden. Ich möchte also abschließend die sogenannte Richterzeit — eine, wie wir gesehen haben, absolut unzutreffende Bezeichnung für diese Periode — definieren als den Prozeß der Staatsbildung bei den Hebräern, und ich glaube, daß die Ausdrucksformen dieses Prozesses bei den Hebräern nichts Einmaliges oder Besonderes darstellen, sondern im Prinzip die gleichen wie in allen Gebieten der altorientalischen Produktionsweise gewesen sind. 1

0. Eißfeldt, The Hebrew Kingdom. Cambridge Ancient History II 34. Cambridge 1965,34.

Die Herausbildung des Staates in der minoischen Periode — Möglichkeiten und Tendenzen1 von

HEINZ GEISS

(Berlin)

Zu Beginn seien einige Bemerkungen über Art und Beurteilung der inschriftlichen Quellen gestattet, die — soweit möglich — über die archäologischen Zeugnisse hinaus für unsere Untersuchungen herangezogen werden sollen; denn sie dürften nicht unwichtig sein für das Verständnis der nachfolgenden Ausführungen. Gegen Ende der Zeit der Jüngeren Paläste — in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts v. u. Z. also — haben wir auf Kreta zwar in den Linear B-Tafeln reiches Quellenmaterial, doch wird die Ventrissche Entzifferung dieser Schrift bis jetzt noch nicht allgemein als gesichert angesehen. 2 Auf Grund dieser Tatsache kann man die Entwicklungen in diesem halben Jahrhundert entweder mit Anerkennung der Entzifferung 3 oder ohne diese beurteilen. In unseren Untersuchungen gehen wir generell davon aus, daß uns die Bedeutung der Texte im einzelnen noch unklar ist und wir uns daher hauptsächlich auf deutbare Ideogramme verlassen müssen; in bestimmten Fällen wird jedoch auch auf Interpretationen, die auf der Entzifferung basieren, hingewiesen. Zu Beginn der Jüngeren Paläste dagegen finden wir ebenfalls bereits zahlreiche Tontafeln, deren Inschriften jedoch in Linear A-Schrift geschrieben sind4 und wofür eine Entzifferung (trotz zahlreicher Versuche) bis jetzt noch aussteht. Für die Zeit der Älteren Paläste besitzen wir auch schon inschriftliche 1

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Die Herausbildung des Staates auf dem griechischen Festland in der mykenischen Periode wird gesondert behandelt. Nach Ansicht einer Reihe von Forschern bieten die bisher mit dieser Entzifferung gewonnenen Ergebnisse kein ermutigendes Bild, da sich der weitaus größte Teil der Texte noch immer hartnäckig jeglicher Interpretation entzieht und die übrigen Deutungen, die sich häufig nur auf einzelne Wörter beziehen, ebenfalls Anlaß zu mehr oder minder großen Zweifeln geben. Uber den gegenwärtigen Stand dieser Problematik sei u. a. auf A. Heubeck, Aus der Welt der frühgriechischen Lineartafeln. Göttingen 1966, und W. Ekschmitt, Die Kontroverse um Linear B. München 1969, verwiesen. Zur Textinterpretation auf Grundlage der Entzifferung vgl. u. a. L. R. Palmer, The interpretation of Mycenaean Greek texts. Oxford 1963. Die überwiegende Zahl stammt aus Phaistos. — Die bis 1961 bekannt gewordenen Texte sind ediert bei W. C. Brice, Inscriptions in the Linear Script of Class A. Oxford 1961.

Die Herausbildung des Staates in der minoischen Periode

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Zeugnisse sowohl in kretischer Hieroglyphenschrift 1 als auch bereits in der frühen Form der Linear A-Schrift 2 , für die jedoch ebenfalls noch keine Entzifferung vorliegt. Die Verwendung des inschriftlichen Materials dieser Zeit bereitet somit nicht wenig Schwierigkeiten, und so dürfte es denn — auch unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Frage nach der Herausbildung des Staates in diesem Raum bisher nur wenig Beachtung zuteil wurde und somit die vorhandenen Quellen kaum entsprechend aufbereitet sind — angebracht sein, aus dem zur Verfügung stehenden Material nur sehr vorsichtige Folgerungen zu ziehen. Die eben geschilderte Quellensituation insgesamt läßt es außerdem geraten erscheinen, bei unseren Untersuchungen den Weg vom relativ Bekannten zum Unbekannteren zu gehen, also mit der letzten großen Entwicklungsphase auf Kreta, der Zeit der Jüngeren Paläste (ca. 1700 bis ca. 1400 v.u.Z. = Mittelminoisch III bis einschließlich Spätminoisch II) 3 , zu beginnen. Hier tritt uns vor allem der Palast von Knossos in seiner höchsten Entfaltung entgegen, und alle Begleitumstände lassen erkennen, daß dieser Palast ein Zentrum darstellte, in dem viele gesellschaftliche und kulturelle Fäden — Avenn nicht gar alle — der Insel zusammenliefen. Damit erhebt sich zugleich die wichtige Frage, ob der Palast von Knossos zu dieser Zeit das einzige Zentrum Kretas war oder ob es gleichzeitig noch andere, mehr oder weniger ebenso bedeutende Paläste, also unabhängige Zentren gewisser Macht, gab. Der archäologische Befund ergibt, daß lediglich im letzten Abschnitt dieser Phase, also nach 1500 v. u. Z., gewisse Wahrscheinlichkeiten für solch eine überragende Stellung des Palastes von Knossos bestehen, da nach einer großen Erdbebenkatastrophe als Folge des Vulkanausbruches auf Thera gegen Ende des 16. Jahrhunderts die großen Zentren im Osten der Insel, Mallia und Kato Zakro4, zerstört und nicht wieder aufgebaut worden waren. Über den Fortbestand von Phaistos mit dem nahegelegenen Hagia Triada sowie dem bisher noch kaum ausgegrabenen Kydonia (dem modernen Khania) 5 bestehen gegenwärtig noch Unklarheiten. 6 Es wäre demnach damit zu rechnen, daß auch 1 2

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Zusammenstellung aller Funde bei A. J. Evans, Scripta Minoa I. Oxford 1909. Vgl. G. Pugliese Carratelli, Nuove Epigrafi Minoiche di Festo. Annuario della Scuola Archeologica di Atene 3 5 - 3 6 (1957-58), 363-388. Die hier und im folgenden gegebenen Zeitangaben basieren im großen und ganzen auf den Datierungen von A. J. Evans. Dies schien uns vertretbar — obwohl die Periodeneinteilungen seinerzeit ziemlich schematisch vorgenommen worden sind —, da sich die Forscher bis heute noch nicht auf eine andere, allgemein verbindliche Einteilung geeinigt haben (z. Z. existieren mindestens acht verschiedene Chronologien). Vgl. S. Hood, The home of the heroes. London 1967, 99, 107 und N. Piaton, First excavations at Kato Zakro: Part I. The Illustrated London News, 29. Febr. 1964, 312ff. Vgl. S. Hood, a. a. O., 109. Vgl. S. Hood, ebenda: „But the palace of Phaistos may haveeontinued in use; and massive foundations of a palace-like building were sunk deep into the ruins of the destroyed palace at the nearby Hagia Triada."

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nach der großen Katastrophe Knossos, dessen Palast dabei offenbar weniger in Mitleidenschaft gezogen worden war, nicht alleiniger Machthaber war, sondern daß vielmehr Verhältnisse bestanden, die denen- vor dieser großen Katastrophe nicht unähnlich waren.1 Zu dieser Zeit waren nach den Erdbebenzerstörungen um 1700 v. u. Z". zwar neben Knossos auch die Paläste von Phaistos (dem früheren Konkurrenten von Knossos) und Hagia Triada sowie von Mallia 2 wieder aufgebaut 3 , doch ist Knossos hierbei Phaistos überlegen, und man gewinnt den Eindruck, als ob die Adelsschicht von Knossos „die Initiative zur Wiederherstellung der kretischen Macht ergriffen hätte''4, wobei dann zum Bau des Neuen Palastes auch die anderen Paläste einen — wie auch immer gearteten — Beitrag geleistet hätten. Wie dem auch sei, über das tatsächliche Verhältnis der Palastherren zueinander sagt das nicht viel aus, und so muß die Frage, ob es sich hier um einen Zusammenschluß unter der Oberhoheit von Knossos gehandelt haben kann oder ob die Herren der einzelnen Paläste ihre Selbständigkeit mehr oder weniger voll behielten, vorläufig unbeantwortet bleiben — wenn auch das Straßennetz, das alle Zentren miteinander verband5 und in Knossos mündete, eine gewisse Vormachtstellung von Knossos anzudeuten scheint. 6 Diese Annahme gewinnt noch an Wahrscheinlichkeit, wenn man sie unter dem Aspekt der Sicherung des „Überseehandels" betrachtet. Jeder einzelne der Palastherren wird wohl kaum in der Lage gewesen sein, die Handelsrouten zur See entsprechend abzusichern. Eine solche Zusammenfassung der Macht in den Händen von Knossos jedoch dürfte es gewesen sein, die den Griechen in ihrer Erinnerung bewahrt blieb und die z. B. Thukydides folgendermaßen charakterisierte7: „Von den Persönlichkeiten der Überlieferung ist Minos der erste, der über eine Flotte verfügte und den größten Teil des heutigen griechischen Meeres beherrschte. Seine Macht erstreckte sich auf die Kykladen 8 ; auf den meisten dieser Inseln gründete er die ersten Kolonien . . . Soweit er konnte, säuberte er die Meere 1

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Vgl. S. Hood, ebenda: „Crete may therefore have retained something of the same character as it had before the catastrophe, with large palaces at the chief cities . . ." In diese Zeit fällt auch die Entstehung des Palastes von Kato Zakro, vgl. N. Piaton, Unique and beautiful objects from Kato Zakro: Part II. Illustrated London News, 7. März 1964, 351. S. Marinatos (Kreta und das mykenische Hellas. München 1959, 31 f.) ist der Ansicht, daß dieser Wiederaufbau sich erst im 16. Jahrhundert v. u. Z. vollzogen habe. S. Marinatos, a. a. O., 32. H. E. L. Mellersh, Minoan Crete. New York 1967, 37, und R. F. Willetts, Everyday life in Ancient Crete. London-New York 1969, 46, 138. S. Marinatos, a. a. 0., 32, geht etwas weiter: „Das wäre in der Tat der Anfang der kretischen Vereinigung und der Alleinherrschaft des knossischen ,Minos' in Kreta . . . Die beiden anderen Paläste . . . beweisen allerdings einen hohen Grad von Selbständigkeit, so daß die Alleinherrschaft zumindest in der ersten Phase keine absolute gewesen sein wird." Thuk. I, 4 - . Die Stelle ist frei übersetzt. Vgl. auch Herodot 1, 171.

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von Piraten; was nur zu begreiflich ist, denn auf diese Weise sicherte er sich seine Einkünfte." Gerade dieser letzte Satz des Thukydides dürfte als durchaus legitimes Anliegen des Herren von Knossos anzusehen sein, denn wie sollte der Außenhandel florieren, wenn die Handelsstraßen — in diesem Falle die Seewege — unsicher waren? Doch wird aus dem Zitat des griechischen Historikers nicht nur die Seemacht Kreta deutlich, sondern vor allem die Handelsmacht, die diese Insel darstellte. Wie sahen nun die Ressourcen der Herren von Knossos — und derer anderer Paläste — aus, die es zu sichern galt, und welche ökonomischen Voraussetzungen waren vorhanden, um solch blühende Handelsverbindungen einschließlich der Gründung von Faktoreien in Übersee (ob es wirklich Kolonien waren, scheint zumindest fraglich) 1 aufbauen zu können? Da die für eine solche ausgedehnte Handelstätigkeit unerläßliche straffe Organisation staatliche Machtmittel voraussetzt, soll versucht worden, zunächst die dafür notwendigen materiellen Grundlagen der herrschenden Klasse aufzuzeigen, verbunden mit der Frage, in welchem Maße ein staatliches Monopol für den Handel, und zwar Außen- wie auch Binnenhandel, vorhanden war — in der Hoffnung, daß das vorhandene Quellenmaterial brauchbare Unterlagen liefern kann. Beginnen wir mit der materiellen Grundlage der herrschenden Klasse Kretas, die uns zu diesem Zeitpunkt voll ausgebildet — darauf deuten alle Anzeichen hin — entgegentritt. Sie dürfte aus dem jeweiligen Fürsten oder König 2 und einer offenbar sehr wohlhabenden Adelsschicht bestanden haben, die offensichtlich aus dem ländlichen Grundbesitz hervorgegangen war. Mit diesem ländlichen Grundbesitz ist zugleich eine der materiellen Grundlagen erfaßt, nämlich die daraus resultierenden Erzeugnisse der Landwirtschaft. Es gibt zahlreiche kleine dörfliche Siedlungen3 — leider wissen wir hier noch sehr wenige Einzelheiten —, die offenbar in einer Art Verwaltungsbezirk zusammengefaßt sind, in deren Mittelpunkt sich ein sogenanntes „Herrenhaus" befand. Diese „Herrenhäuser" lagen durchschnittlich ca. 15 km voneinander entfernt und waren vermutlich auch Sitz eines höheren Beamten (mit weltlicher und wohl auch geistlicher Funktion)/ 1 Außerdem dienten sie offenbar auch als Erfassungsstelle für die landwirtschaftlichen Produkte, wie die großen Magazine und der Reichtum an Vorratspithoi andeuten. 5 Schwerpunkt dieser Landwirtschaft und damit eine der Hauptquellen für den Wohlstand (doch wohl vor allem der herrschenden Klasse) muß die Viehzucht gewesen sein, wobei die Schafe gegenüber den übrigen Hausvieharten Anders z. B. F . Matz, Kreta und Frühes Griechenland. 3. Aufl. Baden-Baden 1965, 157f., und S. Hood, a. a. 0 . , 74f. 2 Die Art seiner Stellung kennen wir nicht; die Frage nach der Möglichkeit eines Priesterkönigtunis muß erst noch untersucht werden. Vgl. S. Hood, a. a. O., 85. '' Vgl. S. Marinatos, a. a. 0 . , 37f. 5 Vielleicht handelte es sich auch um Staatsdomänen? 1

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weitaus dominieren.1 Die auf den Tontafeln genannten Herdengrößen sind erstaunlich: Werden im Durchschnitt zwischen 100 und 200 Tiere notiert, so finden wir auch Summen, die die Zahl 2000 weit übersteigen, ja, auf einem Fragment sind sogar 19000 Schafe verzeichnet — Zahlen also, die sich wohl nur auf jährliche Abgaben beziehen können. Leider sagen all diese Listen nicht aus, inwieweit einzelne Bauern Abgaben in dieser Höhe leisteten oder ob es allein Abgaben eines „Verwaltungsbezirkes", der bereits, erwähnten „Herrenhäuser", an den Palast gewesen sind. Über die Erzeugnisse des Ackerbaus dagegen erhalten wir nur karge Auskünfte: Neben Weizen, Gerste (Wein ist nur selten erwähnt) scheinen noch besonders Feigen und vor allem Oliven (meist als öl abgeliefert) kultiviert worden zu sein. — Eine Besonderheit stellt in diesem Zusammenhang das Herrenhaus von Vathypetron2 dar, von dem der größte Teil der Bauten in eine landwirtschaftliche und gewerbliche Anlage umgestaltet wurde3 — mit Oliven- und Weinpressen sowie einem Handwerkertrakt, einschließlich eines Brennofens für Keramik. Damit haben wir zugleich das Stichwort für eine weitere materielle Grundlage: das Handwerk. Wie die zahlreichen Funde, besonders an Keramik und Metallerzeugnissen — unter denen die der Goldschmiedekunst besonders hervorragen — sowie der Glyptik, eindeutig beweisen, war das Handwerk in seinen Differenzierungen nicht nur voll entwickelt, sondern es stand auch in höchster Blüte. Die weitgehende Differenzierung ließe sich auch aus den bisher vorliegenden Interpretationen der Linear B-Tafeln auf Grund der Ventrisschen Entzifferung entnehmen4 — allerdings muten einige hieraus erschlossene Berufe etwas seltsam an. Im Gegensatz zur sonst weitgehenden Zentralisierung in den Palästen waren die Handwerker offenbar größtenteils entfernt von diesen Zentren angesiedelt, wie neben dem eben erwähnten Vathypetron auch die Grabungen in Gournia, der einzigen vollständig ausgegrabenen Stadt, zeigen, in der nach Ausweis der vielen in situ gefundenen Werkzeuge ein weiteres Handwerkerzentrum gelegen haben muß.5 In welchem Maße Sklaven an der Erarbeitung des Mehrproduktes in diesen Produktionszweigen beteiligt waren, ist schwer festzustellen. Hier wären wir allein auf die Entzifferungsergebnisse angewiesen, doch auch dann sind — im Gegensatz zu Pylos — für Knossos nur wenige Belege für die Existenz von Sklaven bekannt, von denen die Mehrheit in Zusammenhang mit der Viehwirtschaft steht, während wir nicht wissen, ob Sklaven auch bei den Hand1

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Vgl. M. Ventris und J . Chadwick, Documents in Mycenaean Greek. Cambridge 1956, 201 ff.; L. R. Palmer, a. a.O., 177ff., und A. Heubeck, a. a. O., 74ff. Vgl. S. Marinatos, a. a. O., 38. Wohl erstmalig auf europäischem Boden. Vgl. M. Ventris und J . Chadwick, a. a. O., 133 fF.; L. R. Palmer, Minoans and Mycenaeans. London 1961, 102ff. und ders., The interpretation of Mycenaean Greek texts, 137ff. Über Heleia ist leider zu wenig bekannt, da nur noch eine gepflasterte Ladenstraße zu sehen ist — doch scheint es, daß diese Stadt der Bedeutung von Gournia nicht nachstand (Vgl. R. Bryans, Kreta. München 1970, 134).

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werkern beschäftigt waren. 1 Feststehen dürfte jedoch, daß Sklaven in Kreta nicht Grundlage der Produktion sind und daher — wie in der altorientalischen Produktionsweise — auch nicht die Produktionsverhältnisse bestimmen. Es kann sich lediglich um patriarchalische Sklaverei (evtl. gekaufte?) gehandelt haben. 2 Die Erzeugnisse dieser Produzenten sind die ökonomische Basis der herrschenden Klasse — die kaum nennenswerte Metallgewinnung (vornehmlich von Kupfer in den Asterousi-Bergen) 3 wird vermutlich nicht den Eigenbedarf gedeckt haben 4 —, und so werden sie auch, teilweise sicherlich über die oben erwähnten „Landgüter" bzw. „Herrenhäuser", an den Palast abgeliefert und dort registriert. Die uns erhaltenen Tontafeln — sowohl in der Linearschrift A als auch in B — geben ein lebendiges Bild von der Akribie, mit der dies geschieht, wobei für den Eindruck gleichgültig ist, ob diese Schriften entziffert sind oder nicht. Die in den riesigen Magazinen bzw. den Vorratspithoi des Palastes gespeicherten Güter stehen nun dem Herren dieses Palastes zur weiteren Verfügung, und er ist es auch, der ganz offensichtlich die Organisation des Handels insgesamt in den Händen hat. Allerdings ist hierbei noch nicht geklärt, in welchem Umfang die Adelsschicht (die ja auch die Hofgesellschaft bildete) 5 an diesem Handelsmonopol beteiligt war. Eine Betätigung als Kaufmann, wie es z. B. vermutlich die gleiche Klasse später in Mykenai tat, erscheint nicht ausgeschlossen, auch wenn der kretische Adel seine Ressourcen wahrscheinlich vor allem aus der landwirtschaftlichen Produktion zog, entweder direkt oder indirekt, indem er seinen Grundbesitz unter Einziehung entsprechender Naturalabgaben — also durch Parzellierung — verpachtete. Entsprechende Aufzeichnungen auf den Knossos-Tafeln fehlen leider (im Gegensatz zu denen des griechischen Festlandes). Aus den Vieh-Tafeln ließe sich möglicherweise auf Grund von jeweils verhältnismäßig niedrigen Zahlenangaben schließen, daß es sich hier um Erzeugnisse einzelner Bauern wirtschaften handelte, von denen wir nur vermuten können, daß sie teilweise auch freien Bauern gehört haben. — Alles Material deutet darauf hin, daß ein festgefügtes Herrschaftssystem alle Ressourcen des Landes zentral straff zusammenfaßte und auf dieser Basis das staatliche Monopol sowohl des Binnen- als auch des Außenhandels innehatte. Daß gerade der Außenhandel in großem Maßstab betrieben wurde, zeigen nicht nur die zahllosen, über die ganze Ägäis — ja sogar bis Sizilien — verstreuten Funde minoischer Erzeugnisse, sondern auch die minoischen Handelsfaktoreien auf Kythera, den Kykladen (Keos, Phylakopi auf Melos und Thera), auf Rhodos und in Kleinasien, z. B. in Milet. Vgl. L. R. Palmer, Mycenaeans and Minoans, 105 und 116. Vgl. R. F. Willetts, a. a. O., 43, 102. 3 Vgl. S. Hood, a. a. 0., 60. 4 Dazu noch R. F. Willetts, a. a. 0., 99. 5 Vgl. F. Matz, a. a. 0., 150. 1

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Staatsentstehung

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Daß ein derartiges Handelsimperium nicht nur ein ausgebautes Straßennetz im Landesinneren braucht (das vorhanden war, wie wir gesehen haben), sondern auch nur mit einer dominierenden Flotte funktionieren kann, bedarf wohl kaum besonderer Erwähnung. Gerade hier aber beginnen die Schwierigkeiten: Die antiken Schriftsteller erwähnen zwar übereinstimmend die Seemacht des Minos, doch außer auf — wenn auch verhältnismäßig vielen — Siegeln treten uns keinerlei Darstellungen dieser Seemacht entgegen. Dabei muß man nicht nur aus den eben angeführten Gründen mit ihrer Existenz rechnen, sondern auch deswegen, weil keine uns bekannte kretische Siedlung einschließlich der Paläste Befestigungsanlagen kennt, auch nicht die unmittelbar am Meer gelegenen, wie Amnisos und das bereits erwähnte Gournia. Einen solchen Zustand aber — auf dem griechischen Festland undenkbar — kann man sich eigentlich nur leisten, wenn durch eine entsprechende Flotte — die die Gewässer um Kreta abzusichern in der Lage ist — keinerlei Gefahr von See her droht. 1 Trotz allem hat es den Anschein, als ob die Kreter — ganz im Gegensatz zu Mykenai — mit militärischen Dingen nicht viel im Sinn gehabt haben, wenn man den uns erhaltenen künstlerischen Zeugnissen trauen darf. Nirgends finden wir Darstellungen von Kriegern oder kriegerischen Szenen; eine Ausnahme bildet lediglich das Freskofragment „Captain of the Blacks", bei dem eine Figur mit rötlicher Hautfarbe an der Spitze einer offenbar schwarzhäutigen Truppe einherläuft. (Die sogenannte „Prinzenvase" wird wegen ihrer unsicheren Deutung hier nicht herangezogen.) Diesem dergestalt unkriegerischen Eindruck widersprechen jedoch die zahlreichen sogenannten „armoury tablets" aus den Linear B-Archiven von Knossos. 2 Hier werden nicht nur Pfeile, Speere sowie Brustpanzer und Helme registriert, sondern erstaunlicherweise auch Streitwagen in verschiedenen Fertigungsstadien (ihre Zahl übersteigt vierhundert) einschließlich weiterer Wagenräder und der dazugehörigen Pferde — wobei immer noch offenbleibt, wie man auf dieser so gebirgigen Insel Streitwagen (und noch dazu in dieser Menge) überhaupt verwenden konnte. 3 1

Zu diesem Problem bietet H. E. L. Mellersh (a. a. O., 29) eine nicht uninteressante Variante: „. . .it does not have to be imagined that the Minoan kings, though they were . . . at the head of a thalassocracy, did as that word implies completely ,rule the waves' . . . and the Minoans . . . are not likely to have possessed an invincible and militant,fleet' as did . . . the Athens of Pericles . . . The Minoan sailor . . . was not likely to have been the member of a Minoan ,navy'. Even when putting down other natioiis' piracy he probably had professional soldiers on board, as was the sailors' usual practice almost up to Nelson's time". Fraglich ist jedoch hierbei, wie derart bewaffnete Kauffahrteischiffe in der Lage waren, die Gewässer um Kreta so wirksam zu schützen, wie es offenbar der Fall gewesen ist. Ungeklärt bliebe auch die Herkunft der notwendigen Soldaten, denn auch dafür besitzen wir ja praktisch keinerlei Hinweise. 2 Vgl. M. Ventris und J. Chadwick, a. a. O., 360-372, 379 ff., und L. R. Palmer, The interpretation of Mycenaean Greek texts, 314ff. und 331 ff. — Für die Linear A-Texte haben wir keinerlei Parallelen. 3 A. Heubeck (a. a. 0., 81) meint dazu: „Die Parallele zu den gleichzeitigen Verhältnissen im Hethiter- und Ägypterland . . . läßt uns im Wagen in allererster Linie ein Kriegs-

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Dem aus all diesen Funden resultierenden Widerspruch ist bisher von der Forschung — abgesehen von Vermutungen — nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. 1 Ob allerdings ohne neue Funde hier weitere Klärung zu bringen ist, muß wohl dahingestellt bleiben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann jedenfalls die Frage nach einer kretischen Flotte sowie nach einem kretischen Heer nicht beantwortet werden; denn bei dem oben erwähnten Fresko z. B. könnte es sich ebensogut um eine Art von Palast wache gehandelt haben. Welcher Art war nun dieses gesellschaftliche Gebilde, dessen Grundzüge zu skizzieren hier versucht wurde? Die allgemeinen Merkmale eines Staates dürften gegeben sein: Wir haben privates Eigentum an den Produktionsmitteln (an Grund und Boden sowie vermutlich auch an Bodenschätzen, Z . B . K u p f e r m i n e n usw.), auch wenn dessen Umfang uns unbekannt ist; allerdings kennen wir nicht die Stellung der unmittelbaren Produzenten (Bauern, Handwerker usw.) zu diesen offensichtlich auftretenden Privateigentümern. Wir haben ausgebildete Klassen — Bauern, Handwerker und (wenn auch in geringem Umfange) Sklaven. Bei der herrschenden Klasse kann nicht geklärt werden, ob der Herr von Knossos sowie die Herren der Paläste von Mallia (einschließlich Hagia Triada), Phaistos und K a t o Zakro 2 die einzigen Kaufleute Kretas waren oder ob sich Mitglieder des Adels auf eigene Rechnung an diesem Handel beteiligen konnten, auch wenn sie z. B. nur die Handelsschiffe stellten. Wir haben eine Regierung, vermutlich ein Königtum 3 , dessen besondere Merkmale wir allerdings nicht kennen 4 , und wir haben einen allem Anschein nach gut funktionierenden Verwaltungsapparat (der die Aneignung des Mehrproduktes organisiert und offenbar auch einen Teil der Verpflegung zentral lenkt) 3 , mitte] erblicken. Wie in jenen Ländern ließen sich auch in den Ebenen von Kreta . . . die massierten Wagengeschwader wirkungsvoll im Kampf einsetzen." Abgesehen davon, daß derartige Einsatzmöglichkeiten auf Kreta unwahrscheinlich erscheinen, erhebt sich doch die entscheidende Frage, gegen wen auf der Insel diese Wagen eingesetzt werden sollten. Solange uns für diesen Fragenkomplex kein weiteres Material zur Verfügung steht, müssen wir uns wohl oder übel mit einem „non liquet" begnügen. 1 R. F. Willets (a. a. O., 138) bemerkt dazu: „There is evidence to indicate that. . . Minoan society in the later Bronze Age. . . was beginning to assume certain characteristics which included a marked turn in the direction of militarism . . ." und S. Hood (a. a. O., 113) schreibt (allerdings nur über die 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts): „A war-minded and militaristic spirit pervades the age. This element of militarism . . . at Knossos has also been regarded as indicating the presence of conquerors from the mainland. But a military - flavour is apparent throughout the declining world of the Near East of the time." 2 Deren Hafen der wohl wichtigste Umschlagplatz Kretas für den Export und Import von und nach dem Nahen Osten wie auch Ägypten war. 3 Vglv S. Hood, a. a. O., 81: „. . . indeed it may have been the queen, not the king, who sat on the stone chair in the Throne Room . . ." 4 Vgl. S. Hood a. a. O., 84: „. . . but of the system of government in Crete, apart from the kingship implied by the palaces, nothing certain is known." 5 Ob dies nur für den jeweiligen Palast zutrifft oder auch etwa für bestimmte Gruppen von Produzenten (Handwerker o. ä.), läßt sich nicht sagen. 7*

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ermöglicht durch das Vorhandensein einer dafür brauchbaren Schrift. Konnten wir das Bestehen einer Armee nicht mit Sicherheit feststellen, so ließen doch alle Indizien auf die Existenz einer Flotte schließen, die offensichtlich stark genug war, die kretische Insel hinreichend zu schützen. 1 Über Gerichte, Gefängnisse sowie polizeiähnliche Formationen läßt sich mangels entsprechender Quellen nichts aussagen, und ebensowenig haben wir Nachrichten über irgendwelche beratende bzw. gesetzgebende Organe (Rat der Alten oder Volksversammlung). 2 Wenn wir den Charakter dieses Staates nach unseren bisherigen Kenntnissen und im Vergleich mit seiner Umwelt zu definieren versuchen, so scheint dieser nach allem, was bisher hier dargelegt wurde, den Produktionsverhältnissen der sogenannten altorientalischen Produktionsweise ziemlich nahe gestanden zu haben. 3 Auf einen Punkt soll noch hingewiesen werden: All diese, uns oft in Erstaunen versetzende Pracht der Paläste, der sogenannten „Herrenhäuser" und wohl auch mancher „Bürgerhäuser" in den städtischen Zentren dürfte vermutlich in ziemlichem Gegensatz zu den Verhältnissen auf dem Lande gestanden haben (wenn auch nach S. Marinatos'' das Lebensniveau ganz allgemein gesehen offenbar vergleichsweise höher war als in neueren Zeiten in einigen Gebieten des Orients). Demgegenüber haben aber Pendleburys Untersuchungen auf der Hochebene von Lassithi und Karphi ein eher ärmliches und primitives Bild für die ländlichen Verhältnisse entworfen. 5 Solche Zustände und die Tatsache, daß die herrschende Klasse sich das Mehrprodukt der Bauern und Handwerker wie doch wohl auch den Handelsgewinn angeeignet hat, dürften im Laufe der Zeit zu einem Widerspruch geführt haben. Hier nun muß nochmals darauf verwiesen werden, daß alle Paläste dieser Zeit keinerlei Spuren von Befestigungen aufweisen, obwohl sie teilweise mitten in den um sie herumgewachsenen städtischen Siedlungen lagen 6 , die teilweise nicht klein waren. 7 Mit einer ernsthaften Auseinandersetzung scheint man also nicht 1

Anders M. I. Finley (Early Greece: The Bronze and Archaic Ages. London 1970, 39): „There can bo no dispute either about the wealth and power of Cnossus or about Minoan seamanship . . . However, the further step to a wide-ranging maritime empire, in the usual sense of that word, is neither simple nor self-evident, and it can be argued that the whole notion is very weakly based"; und 41: „Yet another puzzle is presented to us by the openess of the Cretan palaces . . . Minoan thalassocracy cannot be the explanation, often as it may be proposed." Den Beweis für die letztere Behauptung bleibt der Verf. dann leider schuldig. 2 Hierzu jedoch der Hinweis bei S. Hood, a. a. 0., 84: „.. .a series of basement rooms by the palace of Mallia have been interpreted as a meeting place for a council of deputies or elders." •s Vgl. dazu Weltgeschichte Bd. 1. Berlin 1961, 488. — Für ein endgültiges Urteil, soweit dies überhaupt bei der Quellenlage möglich ist, über den Charakter dieses Staates sind jedoch noch weit ?re Untersuchungen notwendig. 4 S. Marinatos, a. a. O., 18 und 38. 5 Vgl. auch 0. Reverdin, Kreta. Luzern 1960, 74. " So ganz besonders Kato Zakro, wo der Palast am Ausgang eines Tales zwischen den beiden Teilen der Stadt lag; vgl. N. Piaton, a. a. O., 313. 7 A. J. Evans schätzte z. B. die Einwohnerzahl von Knossos auf ca. 80000—100000.

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gerechnet zu haben. Über die weitere Entwicklung, die aus diesem Grundwiderspruch resultiert hätte, ist uns leider nichts überliefert, da dieser durch die plötzliche und völlige Vernichtung der verbliebenen Paläste — die überraschend gekommen sein muß und über deren Ursachen wir nichts wissen — ein abruptes Ende gesetzt wurde. In der vorausgehenden Phase der „Älteren Paläste" (ca. Ende des 21. Jahrhunderts bis ca. 1700 v. u. Z. = Mittelminoisch I und II) begegnen wir nun doch veränderten Verhältnissen, aber auch den Anfängen dessen, was wir in der späteren Phase in voller Blüte sehen. In der frühminoischen Zeit, in der der Übergang zur Metallbearbeitung erfolgt war, gab es bereits ein ausreichendes Mehrprodukt an Nahrungsmitteln, um eine Spezialisierung auf verschiedene Handwerkszweige zu ermöglichen. 1 In diesem Stadium scheint der Ostteil der Insel die Führung übernommen zu haben, wobei vermutlich zwei Faktoren eine Rolle spielten: die beginnende Ausbeutung heimischer Kupferadern sowie die Handelsverbindungen mit der Ägäis, mit Syrien, Ägypten und Libyen. 2 Mit dieser ökonomischen Entwicklung ging ein Anwachsen der Bevölkerung einher, und so entstanden wohlhabende Gemeinwesen z. B. in Palaikastro, Pseira, Mochlos und Gournia. Gegen Ende des 3. Jahrtausends v. u. Z. steht dann Kreta in seiner gesellschaftlichen Entwicklung am Übergang von der überkommenen Gentilgesellschaft zu einem organisierten Königtum in der Form von Palastherren — wobei uns die Funde leider keine weiteren Einzelheiten über dieses Übergangsstadium zu vermitteln vermögen. Dieser tiefgreifende Umschwung scheint übrigens verhältnismäßig rasch vonstatten gegangen zu sein. 3 War man bereits vorher dazu übergegangen, große Gebäude aus Stein zu errichten, die schon aus mehreren Etagen bestanden, so entstanden jetzt, zu Beginn des zweiten Jahrtausends, die ersten großen Paläste in Knossos, Phaistos und Mallia. Ob zwischen den einzelnen Herren der Paläste — die ihren jeweiligen Bezirk wohl straff zusammengefaßt hatten — irgendein Abhängigkeitsverhältnis bestanden hat, wissen wir nicht; manche Forscher neigen dazu, für diese Zeit eine Art Staatenbund anzunehmen/' An eine Art Oberhoheit von Knossos innerhalb eines solchen Bundes zu denken, erscheint fragwürdig 5 , da 1

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Abgesehen von diesem Mehrprodukt als notwendiger Voraussetzung dafür erforderte die Metallbearbeitung bereits von sich aus eine entsprechende Spezialisierung; Vgl. M. I. Finley, a. a. 0., 8. Vgl. R. F. Willetts, a. a. O., 35, 99 und 102. Cum grano salis erinnert dieser Vorgang an das plötzliche Aufblühen der SchachtgräberKultur rund 500 Jahre später auf dem griechischen Festland — hier wie dort geht keine unmittelbare Einwanderung fremder Stämme voraus (auch wenn man im Verlauf der frühminoischen Periode überhaupt mit neuen Einwanderern rechnet). So z. B. S. Hood, a. a. O., 53. Anders S. Hood, a. a. O., 54: „Over the cities Knossos no doubt enjoyed some sort of hegemony, or shared a hegemony with other large centres like Phaistos and Kydonia as legends hint."

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die Grabungen der letzten Zeit gezeigt haben, daß zumindest die Paläste von Phaistos und Knossos ebenbürtig nebeneinander bestanden - ja, Phaistos scheint sogar das mächtigste Zentrum der Kamares-Kultur ( = Mittelminoisch II, ca. 1850 bis ca. 1700 v. u. Z.) gewesen zu sein. 1 Die seit frühminoischen Zeiten — wie bereits erwähnt - bestehenden Handelsverbindungen zur Ägäis, zu Vorderasien und Ägypten werden immer stärker intensiviert, und das erfordert schließlich entsprechende Organisationsformen. So ist es eigentlich nur folgerichtig, wenn um diese Zeit auch die ersten schriftlichen Zeugnisse auftauchen: zunächst solche in kretischen Hieroglyphen mit ihrer dann mehr linearen Form und wenig später bereits in der sogenannten Protolinearen 2 , einer Früh- oder Vorform der späteren Linearschrift A. Daß mit diesen Schriften bereits Buchungen der verschiedensten Art niedergeschrieben sind (die wir leider nicht lesen können), dürfte unter solchen ökonomischen Gegebenheiten nur natürlich sein. 3 Auf Grund solch intensiver Handelsbeziehungen und auch der Tatsache, daß in dieser Phase ebenfalls keine Befestigungen zu erkennen sind, nimmt man allgemein an, daß bereits um diese Zeit eine kretische Flotte das Ägäische Meer beherrscht hat/' Eine solche Tatsache wäre allerdings ein schwer erklärbares Phänomen, wenn man für diese Zeit mit einer wie auch immer gearteten Konföderation rechnet. Wie dem auch sei, es bleibt erstaunlich, daß es Kreta bereits kurz nach dem Übergang zur Palastwirtschaft gelang, seinen Außenhandel in diesem Ausmaß aufzubauen. Ganz offensichtlich haben die Herren der in Kreta neu entstandenen Paläste — wie auch immer sie untereinander verbunden gewesen sein mögen — die „Gunst der Stunde" genutzt, da die damalige Welt sich mitten in einem großen Umbruch befand: Um das 21. Jahrhundert v. u. Z. begannen die großen Wanderungsbewegungen, deren Ausläufer einmal zum griechischen Festland gelangten, zum anderen auf Kleinasien übergriffen (wo dann u. a. das Hethiterreich entstand) und schließlich auch Ägypten zu Anfang des 18. Jahrhunderts erreichten. Dies bedeutete aber, daß diejenigen Reiche, die an einem ausgedehnten Überseehandel interessiert gewesen wären, für geraume Zeit mit ihren eigenen Problemen so beschäftigt waren, daß sie Kretas Handelsexpansion nicht verhindern konnten. Über die gesellschaftliche und ökonomische Struktur dieser Zeit geben die zur Verfügung stehenden Funde keine definitiven Auskünfte; selbst eine Entzifferung der vorhandenen protolinearen Schrift wie der kretischen Hieroglyphen könnte hier nicht weiterhelfen. Des öfteren wird die Auffassung vertreten, daß es damals bereits eine beträchtliche Menge von Sklaven gegeben habe, 5 1 2

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Vgl. S. Marinatos, a. a. 0., 12. Gefunden 1953 von D. Levi bei Nachgrabungen in Phaistos und von ihm ins beginnende zweite Jahrtausend v. u. Z. datiert. Bemerkenswert jedoch ist, daß bereits hier das Dezimalsystem verwendet wird. So u. a. F. Matz, a. a. 0., 77. Was dann zur Bezeichnung „frühe Sklavenhalterstaaten" führt; vgl. Weltgeschichte Bd. 1. Berlin 1961, 469.

Die Herausbildung des Staates in der minoischen Periode

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da anders die großen Palastbauten nicht hätten durchgeführt werden können. 1 Dem wird allerdings entgegengehalten, daß dies ein enormes landwirtschaftliches Mehrprodukt voraussetzen würde 2 ; man könne eher an eine Art von Verpflichtung zu Dienstleistungen für diese Vorhaben denken. An Sklaverei wird daher lediglich die patriarchalische Form vorausgesetzt. Auf Grund der vorhandenen Indizien können wir annehmen, daß sich zu Anfang des zweiten Jahrtausends bereits eine Klassengesellschaft herauszukristallisieren beginnt, wir also für diese Zeit den Beginn der Herausbildung des Staates 3 ansetzen dürfen. 1 Vgl. Weltgeschichte Bd. 1. Berlin 1961, 474. 2 So u. a. R. F. Willetts, a. a. O., 43. -1 Neue Funde werden vielleicht für diese so überaus wichtige Frage weiteres Material liefern.

Beginn und Entwicklung der mykenischen Staaten v o n GABRIELE BOCKISCH u n d H E I N Z GEISS ( B e r l i n )

1. Die frühesten

Siedlungen

Während auf Kreta die ältesten Siedlungsschichten noch ungenügend erforscht sind, ist auf dem griechischen Festland eine ausgedehnte neolithische Kultur in ihren Entwicklungsphasen gesichert, deren hauptsächliche Fundorte in Thessalien, der fruchtbaren und wasserreichen Ebene zwischen Larissa und Volo, liegen.1 Durch die Verbreitung des Bodenbaus und der Viehzucht, die das griechische Festland im 6. Jahrtausend erreichte, begann sich auch hier die Arbeitsteilung in Feldbauern, Viehzüchter, Jäger und Fischer durchzusetzen. Da fast alle neolithischen Haustiere und Kulturpflanzen keine auf dem europäischen Kontinent beheimatete Ausgangsform besitzen, dürfte diese Entwicklung nicht autochthon, sondern vom Vorderen Orient aus veranlaßt worden sein. Zwar ist die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in den neolithischen und frühbronzezeitlichen Kulturen des griechischen Festlandes ungeklärt, doch scheint ein Zusammenhang mit der ältesten Bevölkerung Anatoliens und Kleinasiens zu bestehen, was wiederum für eine Wanderungsbewegung bzw. schrittweise Ausdehnung der dortigen Feldbauern und Viehzüchter in die von Jägern und Sammlern besiedelten Gebiete des griechischen Festlandes sprechen würde.2 Die ersten nachweisbaren Siedlungen innerhalb der sich entfaltenden bäuerlichen neolithischen Kultur Thessaliens bestanden aus runden Hütten mit geflochtenen Zweigen und Lehmbewurf. Nach ihrer Größe zu urteilen, waren sie für eine Sippe bestimmt. Der Anbau von Getreide und Hülsenfrüchten 1

VI. Milojßi R. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit. München 1961, 110. 6 Vgl. z. B. R. Dahrendorf (a. a. 0., 202), der meint: „Wenn zwei Bewerber sich um eine Position bemühen, liegt also ebenso ein Konflikt vor, wie wenn zwei Parteien an die Macht streben, zwei Arbeitsmarktpartner um die Verteilung der Profite ringen, zwei Mannschaften um die Meisterschaft spielen, zwei kriminelle Gangs sich ein Terr&in streitig machen, zwei Nationen einander auf dem Schlachtfeld begegnen, zwei Personen einander nicht ertragen können . . ."

Zur Rolle der Volksmassen im Prozeß der Staatsentstehung

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tativen Unterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaftsformationen berücksichtigt. So kann man am Ende den gesellschaftlichen Widersprüchen ihre Funktion als vorwärtstreibendes Element der historischen Entwicklung absprechen und sie in das jeweils gegebene gesellschaftliche System als zugehörigen Strukturbestandteil einordnen. Für die Staatsentstehung heißt dies, die neue Qualität gesellschaftlicher Beziehungen, wie sie sich in der Ausbildung einer Klassengesellschaft dokumentiert, völlig zu eliminieren und statt dessen die dabei empirisch feststellbaren gesellschaftlichen Widersprüche einer zeitund qualitätslosen Kategorie des „Konfliktes" zuzuordnen. Vom Standpunkt der marxistisch-leninistischen Theorie ist das hier vorgestellte Beispiel der Zulu für den Prozeß des Überganges von der Urgesellschaft zum Staat in folgenden Punkten von allgemeinem Interesse: 1. Voraussetzung für den bei den Zulu feststellbaren Prozeß des Übergangs von der Urgemeinschaftsordnung zum Staat war ein relativ konstant erzeugbares Mehrprodukt, das die soziale Differenzierung im Innern ihres Gemeinwesens erlaubte, die weitgehende Freistellung einer Anzahl von Kriegern von der unmittelbaren Produktion ermöglichte und angesichts einer ähnlichen Entwicklung der Produktivität der Arbeit bei den Nachbarstämmen den nahezu permanenten Krieg im wahren Sinne des Wortes zum Erwerbszweig werden ließ. 2. Der offene Kampf um die Verteilung des gesellschaftlichen Mehrproduktes setzte zuerst z w i s c h e n den verschiedenen Gemeinwesen ein. Da die Aneignung des Mehrproduktes auf dem Wege des Raubkrieges vor allem in den Anfangsphasen noch eine Bereicherung für mehr oder weniger alle Stammesmitglieder erbrachte oder zumindest die Möglichkeit dafür zu eröffnen schien, wurden die Kriege zunächst mit voller Billigung der Allgemeinheit geführt, wurden die gesellschaftlichen Institutionen den Bedingungen des Krieges angepaßt. 3. Die Geschichte des Zulu-Gemeinwesens zeigte sehr deutlich, daß die Aneignung des Mehrproduktes vorwiegend auf der Basis des Raubkrieges keine ausreichende Grundlage für die Herausbildung eines stabilen Staates war und sein konnte. Die Ursache für die im Laufe der Zeit mehr und mehr unglücklich verlaufenden Kriegszüge bestand in der Tatsache, daß es in der näheren Nachbarschaft nichts mehr zu rauben gab. Wenn die neue und noch junge soziale Oberschicht ihre bevorrechtete wirtschaftliche Position behaupten wollte, ging dies nur über die verstärkte Ausbeutung des eigenen Volkes. 4. Die qualitativen Veränderungen in den Institutionen und den Eigentumsverhältnissen wurden der breiten Masse der Stammesgenossen erst in einem späteren Stadium der Entwicklung bewußt. Im Falle der Zulu geschah dies, als sich bei ihrem König despotische Züge zeigten und die Kriegszüge anfingen, einen unglücklichen Verlauf zu nehmen. Inzwischen waren jedoch die neuen politischen Machtverhältnisse so fest verankert, daß es zu keiner Wiederherstellung der ursprünglichen Verhältnisse kommen, konnte, sondern lediglich zu einem Wechsel der Personen in der Führung des Gemeinwesens. Der Abbau 10

Staatsentstehimg

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der demokratischen Institutionen der Gentil- bzw. Stammesverfassung beraubte die Masse der Mitglieder des Gemeinwesens der Möglichkeit, ihren Willen durchzusetzen. 5. Damit war jedoch noch keineswegs eine völlige Unterwerfung der Masse der Stammesmitglieder unter den Willen der sich herausbildenden herrschenden Klasse gegeben. Noch hatten die ersteren uneingeschränkten Zugang zum Grund und Boden, und noch befand sich die Produktion sowohl der Organisation als auch der Verwertung nach zum großen Teil in ihren Händen. Aus diesem Grunde mußte auch die Politik in der Führung des Gemeinwesens auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen. Deshalb wurden die Volksmassen — auch bei unausgereiften Klassenverhältnissen — zu aktiven Mitgestaltern der neuen politischen Verhältnisse. 6. Die Ausbildung von Klassen- und Ausbeutungsverhältnissen im Übergang von der Urgemeinschaftsordnung zum Staat stellte die davon Betroffenen vor gänzlich neue Probleme. Mangelnde Erfahrungen, oft unter der Hülle traditioneller Formen verborgene neue Qualitäten und nicht zuletzt der mit der Staatsbildung zunächst objektiv vorhandene Fortschritt verhinderten den offenen Ausbruch gesellschaftlicher Widersprüche. Auch der Klassenkampf hat eine Geschichte gehabt; er eröffnete von Stufe zu Stufe neue Möglichkeiten und führte dabei die Volksmassen schrittweise zu neuen Erkenntnissen.

Auflösungserscheinungen gentilgesellschaftlicher Produktionsverhältnisse bei den germanischen Stämmen in den Jahrhunderten um die Zeitenwende von

BRUNO KRÜGER

(Berlin)

Die ackerbauende Betriebsweise stellte nach K. Marx im Rahmen der Entwicklung der Produktion die letzte Produktionsstufe des Stammeseigentums, also der noch klassenlosen Gentilgesellschaft mit speziellen Formen des Gemeineigentums der naturwüchsigen Stammesgemeinschaft, d a r I n ihr entwickelte sich die Ackerbaugemeinde mit ihren spezifischen Gemeineigentumsverhältnissen an Grund und Boden sowie Haus und Hof bei gleichzeitiger Auflösung der alten Blutverwandtschaftsverhältnisse und Entwicklung neuer, das Privateigentum fördernder Bedingungen durch Fortschritt in der Produktion. Sie stellt damit eine Übergangsphase zur Klassengesellschaft dar, die auf dem Privateigentum beruht. Sie hob das Gemeineigentum an Grund und Boden auf und sprengte gleichzeitig die Gentilgemeinde und den Stamm als Organisationsformen der gentil- bzw. frühgeschichtlichen Entwicklungsphase. In der politischsozialen Struktur entwickelte und festigte sich die militärische Demokratie als Herrschaftsform, die in die Klassengesellschaft überleitet 2 . Die Klärung der Entwicklungsverhältnisse in der Auflösungsphase der Gentilgesellschaft muß demnach von den Formen des Eigentums bzw. von der Realisierung der gemeineigentümlichen Grundverhältnisse und ihrer Veränderung, von der Teilung der Arbeit entsprechend der Entwicklungsstufe der Produktion und von der sich davon ableitenden gesellschaftlichen Gliederung mit ihren Strukturen und Funktionen ausgehen; das heißt, es müssen diejenigen Faktoren des gesellschaftlichen Lebens erfaßt, analysiert und hinsichtlich ihrer Wirkung bestimmt werden, die in der militärdemokratischen Gesellschaft zur Auflösung der gentilen Stammesgesellschaft und. damit zur frühfeudalen Gesellschaft führten. Das gegenwärtig vorliegende Quellenmaterial der in Frage kommenden Wissenschaftsdisziplinen bietet trotz seines zahlenmäßig nicht geringen Umfanges zur Lösung der vorstehend genannten Aufgabenstellung nicht nur unterschiedliche Ausgangspunkte, sondern ist auch hinsichtlich seines vordergründigen 1 2

K. Marx, Brief an V. I. Sassulitsch. In: Marx-Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, 387. R. Günther, Herausbildung und Systemcharakter der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 17 (1969), 198.

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Aussagewertes so unterschiedlich gruppiert, daß Aussagen zu Eigentumsverhältnissen, zur Produktion, zur sozialen Gliederung und gesellschaftlichen Differenzierung zunächst durchgängig nicht möglich sind. Dieser Tatbestand darf u. a. auch auf die jeweilige Forschungsintensität im Bereich der Forschungsinstitutionen sowie auf die bisherige Auswahl der Grabungsobjekte zurückgeführt werden. Insbesondere trifft das für die spezielle Siedlungsforschung zu, deren Forschungsgegenstand vorrangig geeignet ist, zu Fragen der Produktion der materiellen Güter, zum Entwicklungsstand der Produktivkräfte, zur jeweils herrschenden Produktionsweise und den in ihr enthaltenen Produktionsverhältnissen mit ihren Eigentumsformen und den sich daraus ergebenden sozialen Differenzierungen Auskunft zu geben. Trotz dieser stark forschungsgeschichtlich bedingten unterschiedlichen Ausgangsposition für die Klärung des Zerfalls der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse stehen aber bereits genügend aussagefähige Quellen zur Verfügung, um Erscheinungsformen des beginnenden Zerfalls der Gentilgesellschaft auch bei den germanischen Stämmen auf dem späteren deutschen Gebiet nach ihrem historischen Ablauf für die Jahrhunderte um den Beginn unserer Zeitrechnung zu ordnen und zu charakterisieren. Das mit Hilfe der archäologischen Quellen gegenwärtig nachweisbare Siedlungsbild blieb hinsichtlich seiner äußeren, auf die Gesamtverbreitung bezogenen Grenzen in der vorrömischen Eisenzeit lange konstant. Erst in der jüngeren Phase dieses Zeitabschnittes der germanischen Entwicklung und in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung wird dieses Siedlungsgebiet wesentlich erweitert, in einer Zeit also, in der sich nach dem gegenwärtigen Forschungsstand der sozialökonomische Umbruch im Rahmen der noch gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse vollzieht. Es zeigt sich weiterhin, daß das Gesamtsiedlungsbild vor allem in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung durch häufig naturräumlich begrenzte Siedlungskonzentrationen charakterisiert wird, deren Ausdehnung Forschungsgegenstand für die Frage nach der hier eventuell zugrunde liegenden politischen Gliederung war und gegenwärtig verstärkt ist. 1 Wieweit innerhalb solch begrenzter Siedlungsareale bei Außerachtlassung von in ihnen liegenden Siedlungskernen eine Siedlungsstetigkeit einerseits und eine Erweiterung derselben andererseits bei eventuell gleichzeitiger Assimilierung bzw. Überschichtung von Nachbarsiedlungsgebieten, die den sozialökonomischen und letztlich auch politischen Entwicklungsgang widerspiegeln, 1

Caesar, Bell. gall. 6, 23: „Es gilt für die Stämme als höchster Ruhm, möglichst weite Landstriche in ihrem Umkreis zu verwüsten und dort Ödland zu haben. Sie halten es für einen Beweis von Tapferkeit, wenn die Kachbarn, aus ihrem Land vertrieben, das Feld räumen und niemand wagt, sich in der Nähe anzusiedeln." — Tacitus, Germ. 40: „Dann folgen die Reudigner, Avionen, Anglier, Varianen, Eudosen, Suardonen und Nuithonen, die durch Flüsse und Wälder geschützt sind."

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nachgewiesen werden können, ist nach wie vor ein methodisches Problem. Seine Lösung würde aber Möglichkeiten für eine ausführlichere Beantwortung der Fragen nach den überregionalen Beziehungen zwischen den in diesen Siedlungsgebieten lebenden Bevölkerungsgruppen (eventuell Stammesgebieten?) bieten. Die Frage, ob sich eine ökonomisch unterschiedliche und sozial differenzierte Entwicklung vor allem in der Anfangsphase des sozialökonomischen Umbruchs in einzelnen Siedlungskomplexen immer zeigen muß, darf bereits jetzt dahingehend beantwortet werden, daß sie sich hier ausdrücken kann, wobei ihre Wirkung zunächst wohl nur im Rahmen mehrerer Siedlungsgruppen zum Ausdruck gekommen sein wird. Häufig ist in diesem Zusammenhang auf die nachgewiesene Kurzlebigkeit und die damit zusammenhängende Verlagerung von germanischen Siedlungen aufmerksam gemacht worden, die einer sozialen Schichtung und der sieh daraus entwickelnden Klassenbildung keine Basis geboten haben 1 . Geht man jedoch vom jeweiligen Stand der Produktivkräfte und der herrschenden Produktionsverhältnisse aus, in denen sie wirkten, dann handelt es sich auch hier gleichermaßen um eine Ausdrucksform dieses Entwicklungsstandes, dem Veränderungen der sozialökonomischen Basis im Sinne des Themas zugrunde gelegen haben. Sowohl für das letzte Jahrhundert v. u. Z. als auch für den unmittelbar darauf folgenden Zeitabschnitt sind durch Ausgrabungen insbesondere im weiteren Nord- und Ostseeküstengebiet relativ kleine Siedlungen freigelegt worden — es handelt sich in der Regel um Einzelhöfe bzw. Hofgruppen von Weilerform —, die hinsichtlich der zu erschließenden Größe der Besitzverhältnisse keine gliedernden Merkmale für bereits vorhanden gewesene soziale Unterschiede aufzuweisen hatten. 2 Der Entwicklungsstand der bäuerlichen Produktion läßt in den Bewohnern solcher Siedlungen Bevölkerungsgruppen vermuten, die in der Gesamtstruktur des gesellschaftlichen Lebens noch die Gentilgesellschaft voll repräsentierten, in der die Arbeitsteilung und der Austausch im Innern gegenüber der ursprünglichen, das heißt natürlichen, Arbeitsteilung noch nicht faßbar gesellschaftsverändernd wirkten. Wieweit dieses zahlenmäßig geringe Quellenmaterial, das für das spezielle Siedlungswesen jenes Zeitabschnittes vorliegt, als repräsentativ angesehen werden kann, muß vor allem bei alleiniger Berücksichtigung der Siedlungsfunde nach wie vor offenbleiben. Die Größe der in diesen Siedlungen tätigen Produktionskollektive kann nur indirekt erschlossen und mit Wahrscheinlichkeitszahlen angegeben werden, zumal auch Unterstützungswerte hierzu durch Zahlen aus den zugehörigen Bestattungsplätzen nicht gegeben sind, weil bisher die geschlossene Unter1

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G. Kossaek, Zur Frage der Dauer germanischer Siedlungen in der römischen Kaiserzeit. Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 91 (1966), 29. Durch Caesar, Bell. gall. 6, 22—23, wissen wir, daß z. B. bei den Sueben das Land auch in den von ihnen eingenommenen gallischen Gebieten nach der Gentilverfassung aufgeteilt wurde und sie nach gentibus cognationibusque organisiert waren.

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suchung von Siedlung und dazugehörigem Gräberfeld noch aussteht. 1 Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß in den einzelnen Hof- und Siedlungskomplexen Familien lebten, die als ökonomische Einheit, in lockeren Hofverbänden organisiert, einen nicht unbedeutenden Faktor bei der Auflösung des Gemeineigentums und der Tendenz zur Entstehung von Privateigentum an Grund und Boden dargestellt haben. Viehzucht und Ackerbau waren die Hauptproduktionszweige der wirtschaftlichen Basis. Obwohl eine Rangfolge, auf den einzelnen Siedlungsplatz bezogen, wegen der jeweils örtlichen Bedingungen kaum mit Sicherheit aufgestellt werden kann, darf doch bei Berücksichtigung der allgemeinen Wirtschaftssituation der Viehhaltung und Viehzucht das Primat eingeräumt werden. Spezielle Betriebsformen für den Ackerbau sind auch bis heute nicht bekannt. Es ist aber anzunehmen, daß innerhalb der für diese Zeit noch vorauszusetzenden Feld-Gras-Wirtschaft ein Wechsel von Anbau und Brache vorgenommen wurde, der nicht mit der späteren Dreifelderwirtschaft verglichen werden kann. Das schloß die ständige Bindung des Besitzers an eine bestimmte Flur zwar nicht aus, sie erschwerte sie aber noch insofern, als zeitweilig zunächst nur ein vorübergehender Besitz an bestimmten Ackerfluren möglich war. Die Frage nach der Größe der Siedlungen wird indirekt auch durch die Größe der Gräberfelder aus dieser Zeit beantwortet. Sie spiegeln für das letzte Jahrhundert v. u. Z. und für das 1. J h . u. Z. für weite germanische Siedlungsgebiete kleinere Siedlungen wider und geben von ihrem Quellenbestand her auch nur wenige Hinweise auf einen bereits faßbaren sozialen Differenzierungsprozeß. Mit dem stärkeren Auftreten von Waffengräbern seit dem letzten Jahrhundert v. u. Z. kommen neue Elemente in den Bereich der Deutungspflicht, deren Erscheinungsursachen vor allem in dieser Phase der gesellschaftlichen Entwicklung nicht allein unter dem Aspekt einer beginnenden Veränderung im Beigabenritus zu sehen sind. Sie setzen in dieser Zeit ein und sind insbesondere in Skandinavien und im norddeutschen Gebiet, hier vor allem im Elberaum, verstärkt nachzuweisen.2 Ein eventuell ritualer Ausgangspunkt 1

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Auf die methodische Seite der Klärung solcher Fragen auf der Grundlage der durch die Körperbestattung bedingten vollständig erhaltenen Skelette bzw. auswertbaren Skeletteile hat H. Ullrich, Interpretation morphologisch-metrischer Ähnlichkeiten an ur- und frühgeschichtlichen Skeletten in verwandtschaftlicher Hinsicht. Zeitschrift für Archäologie 3 (1969), 48, neuerdings ausführlich hingewiesen. „Derartige Untersuchungen werden zugleich die Möglichkeit geben, in bisher unerforschte Gebiete vorzudringen, deren Erschließung für den Anthropologen und Prähistoriker gleichermaßen von Interesse und Bedeutung ist." M. Jahn. Zur Bewaffnung der Germanen in der älteren Eisenzeit. Mannus-Bibliothek 16 (1916), 6 hat bereits auf diesen Tatbestand aufmerksam gemacht. „Mit dem Beginn der Spätlatenezeit setzen die reichen Waffenfunde in den germanischen Gräberfeldern ein. Im Gegensatz :-.u den vorhergehenden Perioden steht uns mit einem Schlage ein erdrückendes Material zur Verfügung." S. auch T. Capelle, Studien über elbgermanische Gräberfelder in der ausgehenden Latenezeit und der älteren römischen Kaiserzeit. Hildesheim 1971.

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für die Waffenbeigabe in den Gräbern wird demnach vordergründig kaum in Betracht kommen. Bemerkenswert ist, daß dagegen sowohl im thüringischen Raum als auch im Gebiet zwischen Niederrhein und Mittelweser bisher nur wenig Waffengräber nachgewiesen sind, die in diese Zeit gehören.1 Zu den Waffengräbern gesellen sich in ihrem Hauptverbreitungsgebiet seit der jüngeren vorrömischen Eisenzeit auch einige zum Teil reich ausgestattete Wagengräber2, in denen sehr wahrscheinlich besondere Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens bestattet worden sind. Dem steht scheinbar die vereinzelt geäußerte Ansicht entgegen, daß sich, ausgehend von den WafFengräbern in der Elbemündung zu Beginn unserer Zeitrechnung Schwierigkeiten ergeben, mit Hilfe der Waffenbeigaben soziale Differenzierungen zu erkennen. Um von diesen zunächst an der Oberfläche des geschichtlichen Verlaufes zu beobachtenden Fakten und äußeren Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Lebens zu den ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten des geschichtlichen Prozesses vorzustoßen, ist es aber unabdingbar, bei der Erklärung und Koordinierung von den hinter ihnen zunächst verborgenen Prozessen auszugehen. Dazu gehört auch die Frage, ob die gesellschaftliche Entwicklung in dieser Zeit bereits so weit fortgeschritten war, daß Erscheinungsformen der sozialen Differenzierungen auch im Bereich der Bestattungen und der zu ihnen gehörenden Beigabenformen, hier insbesondere auf die unvermittelt stark auftretende Sitte der Waffenbeigaben bezogen, relevant sind. Es ist vor allem das letzte Jahrhundert v. u. Z., das durch stärkere Verlagerungen der Siedlungen auch mit dem Charakter von Wanderungen gekennzeichnet ist. „Diese Auszüge der Germanen", schrieb schon F. Engels 3 , „bilden den ersten Akt jener Völkerwanderung, die, dreihundert Jahre lang durch römischen Widerstand aufgehalten, gegen Ende des dritten Jahrhunderts unwiderstehlich über die beiden Grenzströme brach, Süd- und Nordeuropa überflutete und erst mit der Eroberung Italiens durch die Langobarden 568 ihr Ende erreichte . . . Es waren buchstäblich Wanderungen von Völkern. Ganze Volksstämme oder doch starke Bruchteile derselben machten sich auf die Reise, mit Weib und Kind, mit Hab und Gut." Wenngleich die uns überlieferten Zahlenangaben, die vereinzelt auf Wandergruppen in einer Stärke von mehreren einhunderttausend Menschen hinweisen, 1

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Für den Raum zwischen Niederrhein und mittlerer Weser ist durch die Arbeit von K. Wilhelmi, Beiträge zur einheimischen Kultur der jüngeren vorrömischen Eisen- und der älteren römischen Kaiserzeit zwischen Niederrhein und Mittelweser. Bodenaltertümer Westfalens i l (1967), 55—59, auf die geringe Waffenbeigabe in den Gräbern aus der Zeit vom letzten Jahrhundert v. u. Z. bis zum Ende des 2. Jh. u. Z. hingewiesen worden. Siehe hierzu auch R. Hachmann, Zur Gesellschaftsordnung der Germanen um Christi Geburt. Archaeologia Geographica 5 (1956), 7—24. K . Raddatz, Das Wagengrab der jüngeren vorrömischen Eisenzeit von Husby, Kr. Flensburg. Neumünster 1967, 44. F. Engels, Zur Urgeschichte der Deutschen. In: Marx-Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, 430.

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sehr kritisch zu beurteilen sind, geben sie doch zunächst einmal Anhaltspunkte, deren Überprüfung vor allem auch vom Siedlungsgebiet, das Ausgang für die Wanderungen war, und von der politischen Situation her gesehen, die z. B. auch die Organisation eines solchen Vorganges betrifft, Einblick in den Gesamtvorgang geben kann. Leider ist es bis heute nicht bzw. nur in Ansätzen gelungen, vom archäologischen Quellenmaterial her gesehen, Ausgangsgebiete von Wanderungen für diesen Zeitabschnitt nachzuweisen. Die Ursachen hierfür mögen einerseits in der Spezifik des archäologischen Quellenmaterials, zum anderen aber auch in der Ungewißheit über das Verhältnis von ursprünglicher Bevölkerungszahl und der der abgewanderten Gruppen liegen. Auf den Gesamtprozeß der Wanderungen bezogen kann aber festgestellt werden, daß ethnisch indifferente Ursachen und Gründe für solche historischen Erscheinungen vorgelegen haben müssen, deren Wirkungsgrad der jeweiligen historischen Situation entsprechend verschiedenartig gewesen ist. Demzufolge ist der Begriff „Völkerwanderungszeit", jetzt speziell auf den europäischen Raum bezogen, mehr und mehr zu einer chronologischen Angelegenheit geworden, der ihr Wesen mit allen erforderlichen Merkmalen des gesamten Entwicklungsprozesses im Sinne von Periodisierungsfixpunkten der gesellschaftlichen Entwicklung nicht entspricht. Erst die Frage, ob die Wanderungen, von ihrer zunächst einheitlichen Bestimmung her gesehen, auch einheitliche Ursachen und Anlässe hatten oder ob ihnen bei Berücksichtigung der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse verschiedenartige Anlässe, aber nicht auch Ziele zugrunde lagen, wird der Gesamtproblematik gerecht. Allgemeine Vermutungen, wie etwa Landmangel und damit verbundene Ernährungsschwierigkeiten, Hinweise auf die angeblich besondere kriegerische Veranlagung der Germanen, die häufig auf entsprechende Nachrichten der antiken Geschichtsschreibung zurückgehen, oder aber auch die gedanklich hier eng anschließenden. Äußerungen über die Verdrängung von schwächeren Bevölkerungsgruppen durch stärkere, die sogenannte Theorie der Wanderungswelle, werden nur wenig weiterhelfen und nicht zur endgültigen Klärung dieses Prozesses führen. Die beiden letzten, Jahr hunderte vor Beginn unserer Zeitrechnung sind n. a. für die germanische Geschichte dadurch gekennzeichnet, daß sowohl Kimbern und Teutonen, Wandalen und Langobarden als auch Goten und Burgunden sowie Elbgermanen ursprüngliche Siedlungsgebiete verlassen. Hinzu kommt eine Ausdehnung des allgemeinen germanischen Siedlungsgebietes nach Süden in den böhmischen Baum hinein, des weiteren die Besiedlung der Wetterau und der Nachweis von Resten germanischer Provenienz auf dem Balkan. Diese, den wesentlichsten Bestandteil darstellenden Wanderungsprozesse unmittelbar vor Beginn unserer Zeitrechnung gehen in ihrer Mehrzahl von den Nord- und Ostseeküstengebieten aus und werden, durch schriftliche Quellen direkt bzw. indirekt belegt, auf wirtschaftliche Ursachen im Sinne immer größer werdender Schwierigkeiten bei der Beschaffung der notwendigen Unterhaltungsmöglichkeiten für die Bevölkerung zurückgeführt.

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So werden vor allem Naturkatastrophen wie Sturmfluten und Meeresspiegeltransgressionen als Ursachen für die Verschlechterung der Lebensbedingungen erwähnt die nicht nur eine Verringerung des Lebensraumes zur Folge hatten, sondern auch zur Verarmung bestimmter Ackergebiete führten, so daß die notwendige Ertragshöhe in Anbetracht der extensiven landwirtschaftlichen Tätigkeit für die Ernährung nicht mehr gesichert war. Die Verschlechterung der naturräumlichen Lebensbedingungen im weiträumigen Küstengebiet — wieweit eine solche auch das Binnenland betroffen hat, bedarf noch der näheren Untersuchung — ist für diese Entwicklungsphase sicher mit eine Hauptursache gewesen, das Land zu verlassen. Die Schilderung der Wanderzüge und die wenigen Hinweise auf den Losentscheid 2 , der zur Auswanderung bestimmter Bevölkerungsteile angewendet wurde, werden aus diesen Bedingungen erklärlich und führen zu der Gesamteinschätzung, daß es sich hier primär nicht um Eroberungszüge mit dem Ziel der Unterdrückung und des Raubes gehandelt haben kann. Weder das archäologische Quellenmaterial noch die schriftliche Überlieferung lassen, von der sozialökonomischen Seite her gesehen, gegenwärtig eine stichhaltige andere Begründung als möglich erscheinen. Daß zumindest die Sueben noch um diese Zeit gemeinsamen Landbau betrieben, ohne bereits Privateigentum oder Sondereigentum an Grund und Boden zu besitzen, ist durch Caesars Germanenexkurs belegt. Desgleichen ist durch ihn überliefert, daß der Besitz des einzelnen dem der mächtigsten gleicht. Im Rahmen der noch gentilgesellschaftlichen Verfassung, die in dieser Phase bereits der der militärischen Demokratie entsprach, war neben dem Rat der Vorsteher noch die Volksversammlung existent, an deren Spitze der Stammesvorsteher stand. Wir werden sowohl Ariovist als auch Marbod in dieser Funktion zu beurteilen, gleichzeitig damit jedoch zu fragen haben, wieweit ihre Tätigkeit auch im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben bei der Organisation der Wande1

Strabo 2, 102 c berichtet, daß Poseidonius die Auswanderung der Kimbern und der mit ihnen verwandten Völker auf eine Meeresflut zurückführt, die nicht auf einmal erfolgte. Strabo selbst (7, 292f.) wollte in dieser Erscheinung den Gezeitenwechsel sehen, der seiner Meinung nach nicht zur Abwanderung gezwungen hat. Auch Florus 1, 38, 1 (aus Livius) führt die Abwanderung der Kimbern, Teutonen und Tigurner auf Überschwemmungen zurück, die jene zur Suche nach neuen Wohngebieten veranlaßten. Paulus Festus gibt u. a. als Grund der Einwanderung germanischer Bevölkerungsteile in Gallien ebenfalls Überschwemmungen in deren Heimatgebiet an. Nach Plutarch, Marius 2, war es die Landnot — die sicher mit der naturbedingten Verschlechterung der Lebensmöglichkeiten zu erklären ist —, die zur Auswanderung zwang. Siehe hierzu auch die Zusammenstellung entsprechender Nachrichten bei W. Capelle, Das alte Germanien. Die Nachrichten der griechischen und römischen Schriftsteller. Jena 1937, 19—142.

- F ü r die Winniler berichtet Paulus Diaconus in seiner Langobardengeschichte (1, 2—3), daß ein Drittel durch Losentscheid das Land verlassen hat. Auch Auswanderung der Goten ist nach der Gutasage durch Losentscheid vollzogen worden (s. B. Nerman, Die Völkerwanderungszeit Gotlands. Stockholm 1935, 129).

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rungen 1 und den damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen zur Auflösung der noch bestehenden gentilen Gesellschaftsverhältnisse beigetragen hat. Auch die überlieferte territorial-politische Gliederung der Sueben in Gaue, aus denen jährlich 1000 Mann für das Heer zu stellen waren, entsprach dem Stand der gesellschaftlichen Entwicklung, in der die Stämme ein sich selbst schützendes „Volk in Waffen" waren. Bei Berücksichtigung aller bisher bekannten Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Entwicklung diesem Zeit ist der Ansicht von H. Mottek 2 zuzustimmen, der in seiner Wirtschaftsgeschichte Deutschlands die Landnahme des Ariovist als Volkskrieg einschätzt, der nicht primär mit dem Ziel des Raubes und der Unterdrückung geführt wurde. Auch das unvermittelte Auftreten von Waffenbeigaben in den Gräbern eben in dieser Zeit weist auf indirekte Zusammenhänge mit den vorstehend geschilderten gesellschaftlichen Verhältnissen hin und kann letztlich nur aus ihnen erklärt werden, zumal keine Veränderungen im allgemeinen Bestattungsritus, sondern nur in der Sitte der Grabbeigaben zu beobachten sind. Damit würde sich auch die geäußerte Schwierigkeit erklären, mit Hilfe der Waffenbeigaben aus dieser und der unmittelbar darauf folgenden Zeit gut erkennbare soziale Differenzierungen nachweisen zu können. Im engen Zusammenhang mit den größeren Verlagerungen von Bevölkerungsgruppen stehen die sogenannten binnenkolonisatorischen Vorgänge, die sich in den Gebieten von Dänemark, Schleswig-Holstein und Nordmecklenburg dadurch auszeichnen, daß ebenfalls noch im letzten Jahrhundert v. u. Z. eine stärkere Inbesitznahme schwererer Böden zu beobachten ist 3 . Es darf als sicher gelten, daß die weiter entwickelten Produktivkräfte, insbesondere die verstärkte Anwendung des Bodenwendepfluges seit Beginn unserer Zeitrechnung, die Verbesserung der Produktionsinstrumente für die Rodungstätigkeit — in engem Zusammenhang mit der erweiterten Erzverhüttung und Eisenverarbeitung stehend — und der sich daraus ergebende Landesausbau, die Hauptursachen für diese Vorgänge darstellten. Am Beispiel der Besiedlungsvorgänge im ostschleswigholsteinischen Jungmoränengebiet sahen westdeutsche Forscher in den letzten Jahren ebenfalls Möglichkeiten für soziale ÜberschichtungsVorgänge. Danach sei die dort ansässig gebliebene Bevölkerung mit vorwiegender Viehzucht nicht nur zu größerem Reichtum gekommen, sondern sie könnte gegenüber der stärker Ackerbau treibenden Bevölkerung im westlich anschließenden und den schlechteren Boden darstellenden Gebiet der Altmoräne auch hinsichtlich ihrer sozialen 1

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Im Wanderaufgebot des Ariovist erwähnt Caesar (Bell. gall. i, 51) Sueben, Haruder, Markomannen, Triboker, Vangionen, Nemeter und Eudusen. H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands Bd. I. Berlin 1968, 49f. H. Jankuhn, Vor- und Frühgeschichte vom Neolithikum bis zur Völkerwanderungszeit. Deutsche Agrargeschichte Bd. 1, Stuttgart 1969, 179.

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Stellung im Zuge der Siedlungsverlagerungen dieser Bevölkerungsteile eine Art Primat erlangt haben. 1 Trotz Berücksichtigung des unterschiedlichen Forschungsstandes werden in diesen Küsten- und küstennahen Landesteilen bereits in dieser Zeit Erscheinungsformen faßbar, die auf den Auflösungsprozeß der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse hinweisen. Im Rahmen des speziellen Siedlungswesens ist insbesondere der erste Nachweis von befestigten Siedlungen mit Burgcharakter in eben diesen Jungmoränengebieten (Borremose und Borrebjerg) bemerkenswert. Wenngleich es gegenwärtig noch nicht möglich ist, über die speziellen Bedingungen für die Anlage solcher Plätze Aussagen zu machen, dürfen sie doch ganz allgemein als ein Ausdruck der Siedlungsverlagerungen und der damit vorauszusetzenden Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen angesehen werden. Zu den wenigen befestigten Siedlungen dieser Zeit gehört auch die Anlage von Sievern, Kr. Wesermünde. Auch ihre Entstehungsursache ist im Rahmen der Besiedlung der Marschgebiete etwa seit dem Beginn unserer Zeitrechnung zu suchen. Bei der großen Gleichförmigkeit der Siedlungen hinsichtlich vorhandener Erschließungsmerkmale für eine bereits existierende soziale Differenzierung gewinnen solche Erscheinungen für die Darstellung der Entwicklungsbedingungen an Bedeutung; dazu gehört auch die bei Mariesminde in Norddänemark festgestellte Häusergruppierung im Rahmen der unmittelbar zu Beginn unserer Zeitrechnung angelegten Siedlung, in der nach R. Hachmann 2 wegen der fehlenden Stallteile wahrscheinlich sozial minderbemittelte Bevölkerungsteile lebten, deren soziales Verhältnis nur ganz allgemein und im Sinne einer Abhängigkeit von den anderen Bewohnern der Siedlung angenommen werden kann. Für die Auflösung der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ist die Veränderung der Eigentumsverhältnisse von ausschlaggebender Bedeutung. Der Nachweis von Sonderbesitz oder Sondereigentum am Hauptproduktionsmittel dieser Zeit gehört aber zu den methodisch schwierigsten Problemen, so daß z. B. unter anderem auch die in der Siedlung von Skörbaeck Hede durch die Ausgrabungen von G. Hatt 3 festgestellten, den jeweiligen Acker umgebenden Ackerraine zwar Privatbesitz von Grund und Boden andeuten, aber beweiskräftig allein noch nicht belegen können. Andererseits ist es durchaus möglich, daß diese vom archäologischen Material her zu fassende Entwicklung einen Beleg für die spätere Tacitusübermittlung (Germ. 26) darstellt, nach der die Ackerfläche nach Rang und Ansehen des einzelnen über längere Zeit aufgeteilt wurde. Bei Berücksichtigung aller Erscheinungsformen der sozialen Aufgliederung der Gesellschaft sind hier ebenfalls Ansatzpunkte gegeben, deren 1

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H. Jankuhn, Klima, Besiedlung und Wirtschaft im westlichen Ostseebecken. Archaeologia Geographica 3 (1952), 31—33; ders., ebenda, 134f., 179f. ; R. Hachmann, ebenda, 11. R. Hachmann, ebenda, 12. G. Hatt, Jernalders Bopladser i Himmerland. In: Aarbeger 1938 119—165.

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weitere Klärung für den Entwicklungsprozeß von Wichtigkeit ist; denn je tiefer die alte Gemeinschaft des Bodenbesitzes untergraben wird, desto rascher treibt bei gleichzeitiger Verdrängung der naturwüchsigen Arbeitsteilung das Gemeinwesen seiner Auflösung in ein Dorf von Parzellenbauern entgegen 1 . Zu diesen Erscheinungsformen gehört im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung auch die etwa seit Beginn unserer Zeitrechnung einsetzende handwerkliche Differenzierung. Wenngleich noch für weite Gebiete in der Eisenproduktion ein „dörfliches Handwerk" vorauszusetzen ist, das für den örtlichen Bedarf produzierte 2 , weisen die Untersuchungen von H. Hingst 3 für das Küstengebiet nicht nur auf eine bereits saisonweise Verhüttung von Eisenerz in den Gebieten der Erzvorkommen hin, sondern sie zeigen andererseits auch, daß Bevölkerungsteile über längere Zeit hinaus außerhalb der landwirtschaftlichen Produktion tätig gewesen sind. Dafür spricht auch der Nachweis von spezifischen Gräberfeldern in den erzführenden bzw. Verhüttungsgebieten sowie die wahrscheinlich eng auf die Tätigkeit bezogene Sitte der Schlackenbeigabe in den Gräbern/' Es sei vorausgeschickt, daß größere, sicher auch für den überregionalen Bedarf produzierende Verhüttungszentren erst im Verlaufe der Kaiserzeit, wie insbesondere in Südpolen, entstehen und damit eine weitere Spezialisierung und Arbeitsteilung belegen. Leider fehlt es immer noch an genügenden Quellen für die Stellung des Schmiedes im Rahmen der allgemeinen Produktion und im Sozialgefüge der Gesellschaft. Die nachgewiesenen Eisengegenstände setzen zwar eine Schmiedetätigkeit voraus, sie geben aber erst im Verlaufe der Kaiserzeit darüber hinaus Hinweise für eine Spezialisierung und soziale Beurteilung dieser Produzenten. Haus- und Schiffbau sowie die anderweitige Verarbeitung des Rohmaterials Holz deuten ebenfalls auf eine Spezialisierung im Rahmen dieser Tätigkeit hin, die zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung beitrug. Im Rahmen der landwirtschaftlichen Produktion hatte sich die Produktivität so weit entwickelt, daß „auf der Grundlage eines ausgedehnten Ackerbaues, z. T. bereits mit Bodenwendepflug und Felderdüngung betrieben, sowie umfangreicher Viehzucht mindestens seit den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung die Möglichkeiten zur Erzeugung eines ständigen Mehrproduktes und damit zur Herausbildung von Ausbeutungsverhältnissen" 5 bestanden. 1

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F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. In: MarxEngels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 150. R. Pleiner, Die Eisenverhüttung in der „Germania Magna" zur römischen Kaiserzeit. 45. Bericht der RGK (1965), 19. H. Hingst, Die urgeschichtliche Eisengewinnung in Schleswig-Holstein. Offa 11 (1952), 35; ders., Die vorrömische Eisenzeit. In: Geschichte Schleswig-Holsteins Bd. 2, Neumünster 1964, 222. Siehe hierzu auch die Ausführungen von H. Jankuhn, Vor- und Frühgeschichte, 160—166. J . Herrmann, Frühe klassengesellschaftliche Differenzierungen in Deutschland. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 14 (1966), 399.

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Sich entwickelndes Sondereigentum am Hauptproduktionsmittel, dem Boden, Privateigentum an Vieh, Verdrängung der ursprünglichen natürlichen Arbeitsteilung zugunsten der weiteren gesellschaftlichen Arbeitsteilung, verbunden mit dem Austausch im Innern bei Steigerung der Produktion, waren nicht nur wesentliche Ursachen für die Herausbildung und Festigung eines ungleichen Vermögensstandes und der damit zusammenhängenden sozialen Schichtung, sie boten auch objektive Möglichkeiten dazu. Es sind demzufolge Grundbedingungen für die Veränderung der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, die lediglich hinsichtlich ihrer Erscheinungsformen Unterschiede aufweisen können. In diese Entwicklung gehört auch der Prozeß der Siedlungsverlagerung, der bei gegebenen Bedingungen sehr wahrscheinlich die soziale Differenzierung gefördert hat. Die Einzelfamilie wird nach F. Engels in dieser Phase der Entwicklung die wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft. Wieweit sozial bevorzugte Personen bereits in dieser gesellschaftlichen Grundeinheit zur Wirkung kamen, ist vom derzeitigen Quellenmaterial nur schwer zu bestimmen. Man kann aber voraussetzen, daß dies der Fall war in den Verbänden, in denen sie organisiert war. Es ist besonders in den letzten Jahren versucht worden; die durch das schriftliche Material gegebenen Hinweise auf sozial höhergestellte Personen auch von der archäologischen Quelle stärker, als das bisher der Fall war, zu stützen. Daß dabei die Erscheinungsform an sich und weniger die Gründe, die dazu geführt haben, im Vordergrund der Betrachtungen standen, liegt sicher einmal in der Schwierigkeit der Erfassung des Gesamtproblems, häufig aber auch in der Zielsetzung, die der jeweiligen Untersuchung zugrunde gelegen hat. Das hierzu auswertbare archäologische Quellenmaterial stammt für die Frühphase solcher Erscheinungen ebenfalls vorwiegend aus den küstennahen Gebieten. So konzentrieren sich z. B. die reichen Mooropferfunde (Gundistrup, Brä, Hjortspring, Dejbjerg) in den bereits erwähnten Jungmoränenlandschaften, in denen nach dem derzeitigen Forschungsstand die Viehwirtschaft als Hauptproduktionszweig der landwirtschaftlichen Tätigkeit anzusehen ist. Der sich in diesen geopferten Gegenständen ausdrückende Reichtum muß mit als Ergebnis der guten wirtschaftlichen Bedingungen angesehen werden, die hier gegeben waren. Es darf angenommen werden, daß „die Opfernden keine kleinen Bauern gewesen" sein können. „Es waren entweder Personen, die ihren Lebensunterhalt nicht nur aus der landwirtschaftlichen Produktion bezogen oder die viel ertragreiches Land und zahlreiche Hilfskräfte besaßen." 1 Auch im Bereich des Bestattungswesens deutet sich etwa um den Beginn unserer Zeitrechnung im Gegensatz zu einer bisher relativ einheitlichen Ausstattung der Gräber eine Entwicklung an, in der sozial höhergestellte Personen mit Hilfe dieser Fundkategorie zu erschließen sind. Auf die in die jüngere vor1

H. Jankuhn, Klima, Besiedlung und Wirtschaft im westlichen Ostseebecken. Archaeologia Geographica 3 (1952), 31.

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BRUNO KRÜOER

römische Eisenzeit gehörenden Wagengräber, die sicher bevorzugten und wahrscheinlich auch bereits sozial höhergestellten Personen zugeordnet werden müssen, ist bereits hingewiesen worden. Ein nach wie vor nicht befriedigend gelöstes Problem stellen die Unterschiede in der Ausstattung der Waffengräber dieser Zeit dar. Ob die Sitte der Waffenbeigabe an sich, die in dieser Zeit — wie bereits ausgeführt — über weite Gebiete des germanischen Siedlungsraumes nachzuweisen ist, primär auf soziale Gründe zurückgeführt werden muß, ist bei Berücksichtigung der oben skizzierten gesamthistorischen Situation zumindest nach wie vor eine offene Frage. Erst ihre Beantwortung wird erweisen, ob vorhandene Unterschiede im Reichtum der Waffenbeigabe ebenfalls als Ausdruck sozialökonomischer Differenzierungsprozesse aufzufassen sind oder ob ihre Ursachen in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens liegen. Einen sicheren Beleg für sozial höhergestellte Personen stellen dagegen die Gräber des sogenannten Lübsow-Types dar, die, häufig als Fürstengräber bezeichnet, seit etwa dem Beginn unserer Zeitrechnung nachzuweisen sind. Sowohl die in der Regel gesonderte Lage dieser Gräber, in denen Männer und Frauen bestattet wurden, als auch die bevorzugte Form der sogenannten Körperbestattung zeigen zusammen mit den reichen Beigaben häufig importierter Gegenstände,1- daß hier bereits eine Adelsschicht repräsentiert wird, die im Rahmen des sich entwickelnden Sozialgefüges eine bedeutende Stellung eingenommen hat. Obwohl die auffallend gleichartige Ausstattung auf nicht näher zu definierende Beziehungen zwischen den Trägern der in diesen Gräbern zu erfassenden Schicht hinweist2, stellt sich gerade deshalb auch die Frage, ob wir es mit einer einheitlichen Adelsschicht zu tun haben. Bereits die weniger reich, aber ebenfalls mit römischen Importgegenständen ausgestatteten Brandgräber in den kaiserzeitlichen Gräberfeldern geben Anlaß zu einer verneinenden Antwort.3 Bis auf die Gräber von Hagenow und L§g Piekarski enthalten diese Gräber der Lübsow-Gruppe keine Waffen, obwohl die Mehrzahl von ihnen in Ge1

2

3

H. J . Eggers, Lübsow, ein germanischer Fürstensitz der älteren Kaiserzeit. Prähistorische Zeitschrift 34/35 (1949/50), 58-111. H. Jankuhn (Vor-und Frühgeschichte, 180) möchte hier Familienbeziehungen über weite Räume annehmen. Siehe hierzu u. a. W. A. v. Brunn, Neue Germanenfunde von Bornitz, Kr. Zeitz. Nachrichtenblatt für Deutsche Vorzeit 16 (1940), 251—253. J . Schneider, Ein Brandgrab der römischen Kaiserzeit von Kemnitz. Ausgrabungen und Funde 1 (1956), 27—30, sowie S. Krämer, Ergebnisse der Voruntersuchung auf dem kaiserzeitlichen Gräberfeld in Kemnitz, Kr. Potsdam-Land. Ausgrabungen und Funde 2 (1957), 172—177 und dies., Die Grabung auf dem kaiserzeitlichen Gräberfeld Kemnitz, Kr. Potsdam-Land. Ausgrabungen und Funde 4 (1959), 280—283, haben ebenfalls Grabausstattungen vorgelegt, die diesbezüglich zu deuten sind. Auch im neuerdings veröffentlichten Gräberfeld von Zauschwitz, Kr. Borna (E. Meyer, Das germanische Gräberfeld von Zauschwitz, Kr. Borna. Arbeitsund Forschungsbericht zur sächsischen Bodendenkmalpflege, Beiheft 6 (1969), 63, 111) scheinen die Grabausstattungen der Gräber 20 und 62 auf sozial höhergestellte Personen hinzuweisen.

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bieten liegen, in denen die Waffenbeigabe bekannt und üblich war. 1 Es wäre sicher interessant, wenn diese auffallende Erscheinung durch die zeitliche und lokale Kombination der Fürstengräber mit den vorhandenen Waffengräbern untersucht würde — das Verbreitungsgebiet der Waffengräber um Hagenow scheint sich hier besonders anzubieten —, um eventuell auch zum Nachweis der Gefolgsleute durch archäologische Quellen und damit zur Charakteisierung des Gefolgschaftswesens im allgemeinen beizutragen. Es scheint sich darüber hinaus anzudeuten, daß auch die Verbreitungsgebiete von Schlüssel und Schloß als indirekter Beleg für Besitzstand in ähnlicher Form auswertbar sind2. Nach wie vor steht der Nachweis und damit die Kenntnis über die Anlage und die Größe der Wohnplätze aus, in denen diese Personen gelebt haben. Trotzdem bietet auch die Entwicklung im Hausbau bzw. in der zu beobachtenden Größenveränderung der Hofanlagen Anhaltspunkte für sozial höhergestellte Personen bzw. Familien. Ohne eine Gesetzmäßigkeit andeuten zu wollen, ist immer dort, wo größere Siedlungskomplexe über mehrere Generationen hinaus nachgewiesen werden konnten, auch die Entwicklung zu einem Groß- bzw. Herrenhof im Rahmen des jeweiligen Siedlungsverbandes zu beobachten gewesen. Insbesondere sei hier die mehrfach zitierte Entwicklung auf der Feddersen Wierde 1 ei Bremerhaven erwähnt 3 , die deutlich die Herausgliederung eines Hofes seit dem 2. Jh. zeigt, dessen Größe und Abgrenzung einerseits und dessen Funktion im sozialökonomischen Bereich andererseits eindeutige Merkmale eines sogenannten Herrenhofes zeigen. Eine ähnliche Entwicklung vermittelt auch das Siedlungsbild der kaiserzeitlichen Siedlungen von Kablow, Kr. Königs Wusterhausen. 4 Neuerdings wurden, wenngleich weniger stark ausgeprägt, bei der Auswertung der kaiserzeitlichen Siedlungshorizonte von Tornow, Kr. Calau, gleiche Entwicklungstendenzen festgestellt 5 . Auch die Ausgrabungen in Fochteloo 6 und in Westik bei Kamen in Westfalen 7 1

Siehe hierzu die Verbreitungskarte der Lanzenspitzen der frühen römischen Kaiserzeit bei A. Leube, Gruppengliederung innerhalb der frühen Kaiserzeit im norddeutschen Tieflandgebiet. Zeitschrift für Archäologie 2 (1968), 278 Abb. 1, die im wesentlichen auch das Verbreitungsgebiet der Waffenbeigaben in den Gräbern angibt. 2 J. Herrmann, Archäologische Kulturen und sozialökonomische Gebiete. Ethnographischarchäologische Zeitschrift 6 (1965), 118-122. 3 W. Haarnagel, Die Ergebnisse der Grabung Feddersen Wierde im Jahre 1961. Germania 41 (1963), 280-317. '• G. Behm-Blancke, Zur sozialökonomischen Deutung germanischer Siedlungen' der Römischen Kaiserzeit auf deutschem Boden. In: Aus Ur- und Frühgeschichte, Berlin 1962, 67-70. 5 J. Herrmann, Der Beitrag der Ausgrabungen in Tornow, Kr. Calau, zur germanischen, und slawischen Siedlungs-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Zeitschrift für Archäologie 4 (1970), 69-72. 6 A. E. v. Giffen, Prähistorische Hausformen auf Sandböden in den Niederlanden. Germania 36 (1958), 51-71. 7 L. Bänfer, A. Stieren, Eine germanische Siedlung in Westick bei Kamen, Kr. Unna. Westfalen 21 (1936), 410-453.

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haben ergeben, daß bereits in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung mit der Herausbildung von Großhöfen auf der Grundlage sozialökonomischer Differenzierungen zu rechnen ist. Diese wenigen Beispiele zeigen, daß auch mit Hilfe der Siedlungsentwicklung der Aufgliederungsprozeß der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse nicht nur allgemein, sondern auch hinsichtlich seiner Abstufungen zu fassen ist. Sie zeigen darüber hinaus, daß häufig dort, wo eine Siedlungskonstanz über längere Zeit nachgewiesen werden kann, die Erscheinungsformen der einzelnen Entwicklungsetappen am klarsten sichtbar werden. Die derzeit bekannte geographische Verbreitung solcher Auflösungstendenzen, deren Beginn, vom archäologischen Quellengut ausgehend, um die Wende u. Z. faßbar einsetzt, erstreckt sich bei Außerachtlassung von Stammesgebieten über große Teile der Germania. Auch bei Berücksichtigung eines unterschiedlichen Forschungsstandes zum Gesamtproblem zeichnet sich aber anscheinend ab, daß sowohl die Gebiete der Nordsee- und Küstengermanen als auch die der Elbgermanen Entwiöklungsschwerpunkte waren, in denen auf der Grundlage einer schnelleren Entfaltung der Produkivtkräfte frühzeitig Bedingungen für die Aufgliederung der Gesellschaft gegeben waren. Die Entwicklung wurde im besonderen dadurch begünstigt, daß die in diesen Gebieten lebenden Germanen entweder keine oder nur geringe Auswirkungen der römischen Offensive der Jahre 12 v. u. Z. bis 16 u. Z. zu überwinden hatten, zum anderen im allgemeinen auch dadurch, daß nach den erfolgreichen Abwehrkämpfen und der Zurücknahme der römischen Truppen hinter den Rhein die selbständige sozialökonomische Entwicklung gesichert war. Es setzte eine Phase der relativen Ruhe ein, in der sich diese vollziehen konnte. Leider fehlt es immer noch an genügenden Ansatzpunkten für die Bewertung der sicher vorhanden gewesenen Einflüsse der fortgeschritteneren Sklavenhalterordnung auf diese Entwicklung. Der von R. Wol^giewicz 1 dargelegte Versuch, den römischen Import auch von den sozialökonomischen und politischen Verhältnissen her zu behandeln, ist deshalb sehr zu begrüßen und kann als Unterstützung der hier vorgetragenen Ansichten — z . B . was die Entwicklung im Siedlungsgebiet der Markomannen und deren Stellung bei der Vermittlung der römischen Einflüsse betrifft — angesehen werden. Die literarischen Quellen geben hierzu keine Auskunft. Auch in der immer noch besten Darstellung der innergermanischen Verhältnisse dieses Zeitraums durch Tacitus fehlen entsprechende Ausführungen. Die zahlreichen römischen Importgegenstände, die vor allem im 2. Jh. stärker in Germanien auftreten, beweisen einen erweiterten Austausch und verstärkte Handelsbeziehungen mit Rom. Andererseits ist bekannt, daß germanische Händler an den Grenzen des Reiches, z. T. selbst im römischen Gebiet, ihre Waren angeboten haben. Unmittelbar östlich des Limes sind Münzen als Äquivalent im Umlauf gewesen. Über den Handel und über den 1

R. Woi^giewicz, Der Zufluß römischer Importe in das Gebiet nördlich der mittleren Donau in der älteren Kaiserzeit. Zeitschrift für Archäologie 4 (1970), 222—249.

Auflösung der Gentilverhältnisse bei den Germanen

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Austausch sind sehr wahrscheinlich die wesentlichsten Einflüsse in das germanische Gebiet gelangt, dabei deutet sich mehr und mehr an, daß vor allem auch das elbgermanische Gebiet berührt worden ist. Die schriftlichen Quellen bieten andererseits aber die Möglichkeit, den durch das archäologische Quellenmaterial in der Regel bisher nur grob zu erkennenden Entwicklungsgang zu ergänzen bzw. zu vertiefen. Für die Entwicklung der Eigentumsformen ist der Bericht des Tacitus, daß die Verteilung des Ackers nach Bang und Ansehen vorgenommen wurde, besonders bedeutungsvoll. Damit war die ökonomische Stärkung der sozial höhergestellten Personen, die außerdem Abgaben der landwirtschaftlichen Produktion erhielten (Tacitus, Germ. 15), verbunden. Diese unterschiedliche Bodenzuteilung mit privaten Nutzungsrechten war zweifelsohne eine der wesentlichsten Ursachen für die Entstehung eines Großgrundbesitzes. Sie bot andererseits die ökonomische Voraussetzung für den Ausbau des Gefolgschaftswesens, womit ein gleichzeitiger Abbau der Einrichtungen der Gentilverfassung auf der Stufe der militärischen Demokratie einherging, die F. Engels als „die ausgebildetste Verfassung, die die Gentilordnung überhaupt entwickeln konnte", bezeichnet hat. 1 Die Rangstufenordnung in der Gefolgschaft (Tacitus, Germ. 13) im besonderen sowie die Erringung von Führungspositionen durch bewiesene Tapferkeit im allgemeinen (Tacitus, Germ. 7) sind Ausdruck für die Entwicklung und Stärkung des sogenannten militärischen Adels mit seinen vielfältigen Abstufungen. Neue ideologische Vorstellungen über ein jenseitiges Herren- und Kriegerparadies, wie sie z. B. im Wodankult zum Ausdruck kamen, gehen mit dieser Entwicklung einher und stehen im Gegensatz zum nach wie vor von den Bauern geübten traditionellen und auf die Produktion bezogenen Fruchtbarkeitskult (z. B. dem Nerthuskult). Kriege, in der Regel wohl vorwiegend noch Stammesauseinandersetzungen, führten sowohl zur ökonomischen als auch zur politischen Stärkung dieser sozial bevorzugten Schichten. Kriegsgefangene kamen als Sklaven in der landwirtschaftlichen Produktion zum Einsatz (Tacitus, Germ. 26) und wurden im Rahmen der noch gentilen Produktionsverhältnisse als „selbständig wirtschaftende, aber abgabepflichtige Bauern" 2 ausgebeutet. Aufbauend auf dieser wirtschaftlichen, sozialen und politischen Grundlage und von ihr ausgehend setzte seit etwa der Wende vom 2. zum 3. Jh. u. Z. der Prozeß der Bildung der Großstämme bei gleichzeitigem Abbau und Überwindung des eigentlichen Stammeswesens ein, wobei durch Überschichtungsvorgänge neue Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen wurden. Von der Gesamtverbreitung der gegenwärtig archäologisch faßbaren Erscheinungsformen dieses sozialökonomischen Umbruches der germanischen Gesellschaft in den hier behandelten Zeitabschnitten wird das sogenannte 1

F. Engels,. Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. In: MarxEngels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 140. 2 H. Mottek, a. a. O., 48. 11

Staatsentstehung

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BRUNO KRÜGER

rhein-weser-germanische Gebiet kaum nennenswert berührt 1 . Dies ist um so bemerkenswerter, als wir gerade durch die schriftliche Überlieferung Hinweise auf politisch führende Personen bei den Cheruskern (Segimerius, Inguimerus, Segestes, Arminius, Flavus), Amsivariern (Boiocalus) und Chatten (wahrscheinlich Adgandestrius) erhalten haben, die — wie bei Arminius bekannt — römisches Bürgerrecht besaßen und römische Ritter waren. Leider ist es der bisherigen Forschung nicht gelungen, die sozialökonomische Stellung dieser Personen beweiskräftig zu bewerten. Wieweit die durch Tacitus (Hist. 1, 23) erwähnten agros villasque der Bataver, die R . Wenskus 2 als erste Belege für die Grundherrschaft bei den Germanen ansehen möchte und die nach H. Dannenbauer 3 die Größe von Gütern hatten, für den gesamten Fragenkomplex der Auflösungserscheinungen gentilgesellschaftlicher Produktionsverhältnisse bei den Germanen, insbesondere auch zur ökonomischen Seite des Gefolgschaftswesens im rhein-weser-germanischen Gebiet im allgemeinen sowie auch bei den Cheruskern 4 im besonderen die weitere Untersuchungsrichtung zu bestimmen vermögen, wird erst die Forschung entscheiden können. Als Schlußfolgerung ergibt sich die Aufgabe, diese Gebiete stärker als bisher bei zukünftigen Analysen der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse zu beachten. Unter Berücksichtigung des derzeit vorhandenen Quellenmaterials zum vorstehend behandelten Themenkomplex kann zusammenfassend festgestellt werden, daß auf der Grundlage der gewachsenen Produktivkräfte und ihrer dialektischen Wechselwirkung auf die Steigerung der Produktion überhaupt bereits um den Beginn unserer Zeitrechnung sich der Übergang zur ständigen Erzeugung eines gesellschaftlichen Mehrproduktes auch bei den germanischen Stämmen vollzogen hat. Die Verbesserung der Produktionsinstrumente, insbesondere für die landwirtschaftliche Produktion, wirkte sich positiv auf eine größere Seßhaftigkeit der Produktionskollektive aus. In diesem Zusammenhang kam es zu einem verstärkten, wohl zum Teil auf Rodung beruhenden Landesausbau. Infolge der relativ geregelten Beziehungen zum römischen Reich flössen stärker als zuvor über die Austausch- und Handelsbeziehungen Einflüsse aus der römischen Sklavenhaltergesellschaft in die germanischen Gebiete ein und wurden vor allem von den sozial bereits höhergestellten Personen aufgenommen. Die Absonderung von Ackerland aus dem Gemeineigentum, der Übergang zu unterschiedlichen Besitzverhältnissen am Hauptproduktionsmittel, dem Grund und Boden, der Einsatz und die Ausbeutung von Sklaven auf Sonderbesitz sowie die sich daraus entwickelnde soziale Differenzierung in Schichten als Vorstufen der Klassen sind Ausdruck der Entwicklung von Die wenigen in Frage kommenden Fundplätze, insbesondere befestigte Anlagen, stehen wegen ihrer Unsicherheit in der ethnischen Zuordnung (s. R . Hachmann, a. a. O., 19) zunächst außerhalb der speziellen Berücksichtigung. 2 R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Köln-Graz 1961, 382. :< H. Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. Historisches Jahrbuch. 61 (1941), 16. '> H. v. Petrikovits, Arminius. Bonner Jahrbücher 166 (1966), 187. 1

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Vorformen neuer Produktionsverhältnisse und damit Ausdruck des Verfalls der Gentilordnung bei den germanischen Stämmen. Die in der sozialökonomischen Basis entstandenen Veränderungen fanden in kultischen Vorstellungen, die auf das Jenseits orientierten und den kriegerischen Charakter der Entwicklung widerspiegelten, ihre entsprechenden Überbauerscheinungen; denn gleichzeitig mit der Entstehung von Vorformen neuer Produktionsverhältnisse entwickelte sich als Machtinstrument der Gentilaristokratie das Gefolgschaftswesen, das entscheidend an der Überwindung des gentilgesellschaftlichen Stammeswesens mitgewirkt hat.

Allod und Feudum als Grundlagen des westund mitteleuropäischen Feudalismus und der feudalen Staatsbildung* von

JOACHIM H E B R M A N N

(Berlin)

Seit einigen Jahren nehmen Fragestellungen, die im Zusammenhang mit der Erforschung des Übergangs zum Feudalismus und der Herausbildung des Feudalismus stehen, einen breiten Raum in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft ein 1 . Die Diskussionen erstrecken sich auf den Verlauf dieser Geschichtsprozesse in den verschiedenen Teilen der Welt 2 und haben * Der Beitrag ist in Weiterführung der Untersuchungen über „Sozialökonomische Grundlagen und gesellschaftliche Triebkräfte für die Herausbildung des deutschen Feudalstaates" entstanden. Unter diesem Thema hatte Verf. auf dem in der Einleitung genannten Kolloquium gesprochen. (Vgl. die sich daraus herleitende Veröffentlichung in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 19 (1971), 752-789). Bei der Überarbeitung der Anmerkungen sowie bei der Zusammenstellung und kritischen Sichtung von Quellen war mir I. Böger behilflich, der ich auch an dieser Stelle f ü r die Mitarbeit danke. 1 Vgl. zuletzt das Grundsatzreferat von Z. V. Oudaltzova, E. V. Goutnova, La genèse du feodalisme dans les Pays d'Europe. (XIII. Congrès International des Sciences Historiques, Moscou 16—23 Août 1970.) Der Feudalismus wird hier (S. 1) folgendermaßen bestimmt: „Wir betrachten den Feudalismus als eine besondere ökonomische Gesellschaftsformation, die auf der feudalen Produktionsweise beruht. Ihre charakteristischen Züge sind: das Vorherrschen der Agrar- und Naturalwirtschaft, das Überwiegen des Großeigentums, das auf der Ausbeutung der Bauern beruht, die persönlich von den Eigentümern abhängig oder an den Boden, den sie bebauen, gebunden sind". Vgl. weiterhin die Sammelbände mit zahlreichen Beiträgen: üpoöjieMbi uo3HHKHopenHH $eoAa:iH3Ma y Hapofloß CCCP. MocKBa 1969; Haywuan ceccwn „HTO™ H 3aflann MyHeHHH reHeanca eoj;ajm3Ma B 3anafl,H0it Eßpone" (Cpejunie Bena. 31.1968); B. €>. üopiimeB, HLifi nepno« Kai< nepexoRHan CTa^HH. Cpejnme Bena 31 (1968), 45—65, bestimmt diese Gesellschaft als „vorfeudal" ; weder urgesellschaftliche noch feudale Strukturen seien für sie typisch. Als

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JOACHIM H E R R M A N N

läge ihres politischen Zusammenwirkens und ihrer militärischen Schlagkraft. Und diese wurde — wiederum besonders nach der Herausbildung der großen Stammesverbände der Franken, Alemannen, Sachsen und Thüringer — mindestens seit dem 3./4. Jh. eingesetzt, um die allodialen selbständigen Wirtschaften durch die Zuführung von Gefangenen in großem Stil zu stärken bzw. um neues Allodialland in entwickelten römischen Gebieten mitsamt Abhängigen zu erobern 1 . Dieser letzte Prozeß wurde entscheidend für die Auflösung der gentilen Gemeinde und für die Herausbildung von veräußerbarem Eigentum an adäquaten Begriff sieht er die Bezeichnung „Barbarengesellschaft" an. In der Diskussion vertrat B. A. Rybakov die Auffassung, daß man Teile dieser Periode zutreffender als „Militärische Demokratie" bezeichnen sollte, ansonsten gehöre die Übergangsperiode zum Feudalismus (S. 55). — Die Merkmale der Übergangsperiode zur Klassengesellschaft werden allenthalben diskutiert, wobei in der Regel jedoch — nicht zuletzt wohl infolge des Fehlens ausreichender schriftlicher Quellen — m. E . zu weitgehend von den Eigentumsverhältnissen und den real existierenden Produktionsverhältnissen abstrahiert wird. Die Diskussion reduziert sich so aber auf allgemeine Merkmale, die von den zweifellos weiterwirkenden traditionellen Formen der Gentilgesellschaft geprägt werden bzw. allgemeine Formen primitiver Abhängigkeit enthalten. Vgl. z. B. M. B. KpiOKOB, CoijHajibHan RH$$epeHUHauHH B HpeBHHM KHTae. I n : Pa3JiOJKeHHe pofloßoro CTpon H IIIIJI6HHH 6ypHtya3Htix HCTOPHKOB. Bonpocn HCTOPHH 12 (1953), 119; ders., RHE3«OBO HflHenpoBCKHiinyTb. In: Hoßoe B apxeo:iorHH. MocKBa 1972, 167. B. B. CeROB, Ce:ibCKHe nocejieHHH i;eHTpajiLHtix paft0H0B CMOJiencKoä 3ewjin. MocKBa 1960, 15, 83, 107, 113. M. K. Kaprep, ^peBHHö KneB Bd. 1, MocKBa 1958, 218.

Die Entstehung des russischen Staates Kiewer Rus

225

Über die von den Normannisten behauptete schwedische Kolonisation im Siedlungsbereich der Ostslawen ergaben die sowjetischen Ausgrabungen folgendes Bild, wobei zunächst die für die Normannisten günstigsten Ergebnisse angeführt werden sollen, nämlich die aus Staraja Ladoga 1 . Im Jahre 1957 wurde der Erdburgwall (Zemljanoe gorodiäce), auf dem sich schon im 7. Jahrhundert eine Siedlung befand, untersucht. Die Kulturschichten gehören in das 9. und 10. Jahrhundert. Hier kam „eine nicht geringe Anzahl von skandinavischen Sachen" zum Vorschein, darunter bronzene Fibeln. Die Wohnstätten und Wirtschaftsbaulichkeiten sind jedoch typisch slawisch, wobei sich allerdings die Wohnstätten zweier Kulturschichten voneinander unterscheiden. Während in der jüngeren Schicht nur kleine, fast quadratförmige Häuser mit einer Größe von 14,8 bis 22,0 und 24,0 qm entdeckt wurden, kamen in der älteren Schicht Behausungen von 42 bis 120 qm zum Vorschein. Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Schichten bestand darin, daß die Häuser in der Kulturschicht „d" dicht beieinander lagen, so daß sie Reihen bildeten, während sie in der Kulturschicht „e" verstreut waren und mit Viehhürden und Wirtschaftsbaulichkeiten gewissermaßen Wohnnester darstellten. Der schwedische Historiker und Archäologe H. Arbman hielt die großen Häuser aus der früheren Zeit für Wohnstätten normannischer Kolonisten, die kleineren der späteren Zeit für solche von Slawen. Da die Bauart des Blockbaus, die Bautechnik, das Baumaterial und dessen Bearbeitung sowie der architektonische Geschmack in beiden Bauphasen aber unverändert sind, handelt es sich um Bauten von Slawen, vielleicht auch von Ostseefinnen, nicht aber von Normannen. Die Größenunterschiede der Behausungen lassen sich nur auf eine inzwischen erfolgte Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung der slawischen Bewohner zurückführen. Im Laufe von einigen Jahrhunderten entwickelte sich aus der einstigen Großfamilie die Einzelfamilie, und diese Veränderung fand auch in der Hausform ihre Widerspiegelung'2. Die Ausgrabungsergebnisse aus der nördlichen Rus korrigieren die Mitteilungen der Nestor-Chronik in entscheidenden Aussagen über die Ankunft und Festsetzung der Normannen-Waräger. Während in der Nestor-Chronik zu lesen ist, daß sich der skandinavische „Rjurik in Novgorodniederließ" 3 , haben die sehr umfangreichen und 14 Jahre dauernden Ausgrabungen ergeben, daß 1

2

3

B. H. PaB^OHHKAC, H. H. JlnnyiiiKUH, 0 6 OTKPHTHH B Grapoii Jlaaore pyHHiecKOÄ HA^NNCH Ha RepeBe B 1950 rony. CKAHAWHABCKHÖ cßopmiK 4 (1959), 23—44; B. H. PaB^oHHKac, ZlpeBHettmaH Jlawora B CBeTe apxeoJiorniecKHx nccjieHOBamiil 1938—1950 r. r. KpaTKiie coo6meHHH o AOKJianax H nojieBbix nccjieaoBaHHHx HHcrmyTa HCTOPHH MaTepHaJibHoft KyjibTypti 41 (1951), 34—39; I\ II. FBO3JIHJIOB, PacKonKH B Grapoii Jlaaore. COBETCKA« apxeoaorHH 14 (1950), 139-169. B. II. PaBAOHHKac, M. M. JlnnyiUKHH, a. a. O., 27—34. Eine stärkere Einwirkung der Normannen, möglicherweise der Friesen, auf das Gebiet von Ladago räumen ein T. O. Kop3yxiiHa und O. II. IlaBHRaH, CnaHAHHaBCKHii cöopHHK 16 (1971), 123-144. R. Trautmann, a. a. O., 11.

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Staatsentstehung

226

BRUNO WIDERA

Novgorod im 9. Jahrhundert noch nicht bestand 1 . Das Ausgrabungsmaterial zeigt deutlich, daß Rjurik, selbst wenn er gelebt hat, was immer unwahrscheinlicher wird, zu dieser Zeit gar nicht in Novgorod gewesen sein kann. Er konnte auch der Nestor-Chronik zufolge im Jahre 879 in Novgorod seine Herrschaft nicht an Oleg abgetreten haben 2 . Ähnlich bestellt ist es um die Siedlung Beloozero, in der sich nach der Nestor-Chronik der Skandinavier Sineus festsetzte 3 , da auch sie auf Grund der archäologischen Grabungen nicht in die Mitte, sondern frühestens an das Ende des 9. Jahrhunderts datierbar ist, wobei noch hinzukommt, daß keinerlei skandinavisches Material zum Vorschein kam 4 . Die Ausgrabungsergebnisse an dem dritten in der NestorChronik erwähnten Ansiedlungsplatz der skandinavischen Waräger, Izborsk5, fielen ebenfalls negativ aus. 6 Im Lichte dieser archäologischen Resultate kann weder die Entstehung des altrussischen Großstaates in den 60er Jahren des 9. Jahrhunderts noch dessen Begründung durch die skandinavischen Normannen-Waräger erfolgt sein. Schließlich ist noch in Betracht zu ziehen, daß diese Geschehnisse in keinerlei anderen auf uns gekommenen schriftlichen Quellen bezeugt sind als ausschließlich in der Nestor-Chronik, aber diese ist ja von Nestor zwischen 1109 und 1111 geschrieben worden7. Es gibt überhaupt keine einzige zeitgenössische Quelle, in der die Entstehung des altrussischen Großstaates der Kiewer Rus verzeichnet ist. Nicht einmal der dafür kompetente, weil sehr gut informierte byzantinische Kaiser Konstantin Porphyrogennetos (905—959) hat darüber in seinen diesbezüglichen Werken De administrando und De ceremoniis irgendetwas überliefert. Etwas besser verhält es sich mit der historischen Glaubwürdigkeit des von dem Heerführer Oleg, der höchstwahrscheinlich skandinavischer Herkunft war, unternommenen Kriegszuges nach Kiew (882), weil diese historische Gestalt in zwei mit den byzantinischen Kaisern Leon und Alexandras geschlossenen Verträgen (907 und 911) auftritt 8 . Doch dieser Kriegszug und die mit ihm verA. B. ApijHxoBCKiift, ApxeojiorHiecKHe H3yieHHH Hoßropoffa. Tpy^bi HoBropoßCKOtt apxeonHrmecKoft aKcnejummi 1, MocKBa 1956, 42. 2 R. Trautmann, a. a. 0., 12. » Ebenda, 11. 1

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3 6

JI. A . ronyöeBa, MoriiJitHHK X — cepeAHHti X I B. Ha Bejioiu oaepe. CoBeTCKan apxeojioniH

1 (1961), 201-215. R. Trautmann, a. a. O., 11. T. M. TBOBÄHHOB, ApxeoJionmecKne pa6oTM B HaßopcKe B 1953 r. CooßmeHHH rocysapcTBeimoro 9pMHTa>Ka 6 (1954), 38; JI. A. rojiyöeßa, BenoosepcKan aucneffimiiH 1951 rosa. KpaTKHe cooömeHHH o «OKnanax H nojieBtix HCCJießOBaHHHX HHcraTyTa HCTOPHH MaTe-

7

8

pnajibHoü KyjiBTypu 79 (1960), 35, 42. C. JlHxaieB, PyccKHe neToniiCH. MocKBa 1947, 165; B. A. PhiSaKOB,flpeBHHHPycb. CKaaaHHH, 6UJIHHLI, jieTonHCH. MocKBa 1963, 280f. R. Trautmann, a. a. O., 17—19. Diese Verträge wurden lange Zeit nicht als authentisch, erachtet, weil sie nur in der Nestorchronik enthalten sind. F. Dölger hat sie aber in die von ihm herausgegebenen Begesten der Kaiserurkunden des Oströmischen Reiches Bd. 1, München 1924, 80 aufgenommen.

Die Entstehung des russischen Staates Kiewer Rus

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bundene Festsetzung Olegs in Kiew können nicht als die Begründung des altrussischen Großstaates mit Kiew als politischem Zentrum angesehen werden. Es gibt keinen Quellenbeleg darüber, daß Oleg seinen Kriegszug nach Kiew in der Absicht unternahm, von hier aus den Großstaat, wie er dann in Erscheinung trat, zu organisieren. Die Ereignisse, die zum Abschluß der Verträge mit Byzanz — in der Geschichtsschreibung als Griechenverträge bekannt — führten, deuten vielmehr darauf hin, daß dieses militärische Unternehmen als ein Beutezug gegen Byzanz gedacht und geplant war. Der Reichtum dieses Landes und seiner Hauptstadt Konstantinopel, von dem Kunde auch in die entfernten skandinavischen Gefilde gelangte, lockte den zweifellos unternehmungslustigen und abenteuerlüsternen Kriegeranführer so sehr, daß er das größte europäische Unternehmen wagte, das bis dahin in der Geschichte des skandinavischen Nordens ohnegleichen war. I n einem durchgängigen Marsch sollte die Riesenstrecke von 1500 km Luftlinie zurückgelegt werden, um in die luxuriöse Kaiserstadt am Bosporus zu gelangen und sie auszuplündern. Obwohl wir über die Motive und Pläne Olegs aus den schriftlichen Dokumenten nichts erfahren, kann angenommen werden, daß er möglicherweise nicht nur die Ausplünderung Konstantinopels, sondern sogar die Unterwerfung von Byzanz anstrebte. Die Stärke seines gesammelten Heeres wäre ein Hinweis darauf. Nestor berichtet nämlich, daß es nicht nur aus Warägern bestand, sondern auch durch Krieger der Ostseefinnen (Öuden und Vesen) und der Ilmen-Slawen (Slovenen und Krivicen) verstärkt war und während des Marsches noch durch weitere slawische Kontingente vergrößert wurde 1 . Doch je mehr Oleg sich dem Ziel näherte, muß er in Erfahrung gebracht haben, daß er sich in der Beurteilung der byzantinischen Machtpotenzen verrechnet hatte und daß es umfassenderer Vorbereitungen f ü r diesen Kriegszug bedürfe als der, die er getroffen hatte. Der Kiewer Raum und besonders die verkehrsgünstige Lage der Stadt mit ihrer Nähe zu Konstantinopel und der besseren Schiffbarkeit des unteren Dnepr boten sich zum längeren Aufenthalt geradezu an. Von hier aus konnte sich Oleg auch bessere Informationen über den Gegner beschaffen. Nestor berichtet, daß er hier tatsächlich die weitere Durchführung des Kriegszuges vorbereitete. Rücksichtslos beseitigte er alle Hindernisse, die ihn dabei hätten stören können. Die in Kiew residierenden Territorialfürsten Askold und Dir ließ er umbringen und errichtete eine Okkupationsherrschaft. E r brachte die Kiew benachbarten slawischen Stammesvereinigungen und deren Fürsten und Herzöge in ein Gefolgschaftsverhältnis mit Tributpflicht, brach ihren Widerstand, so den der rechts des Dnepr wohnenden Drevljanen, und entriß dem Chazarenreich die Tributherrschaft über die links des Dnepr wohnenden Ostslawen 2 . Die Durchführung dieser Maßnahmen konnte auch von den Ungarn gestört werden, die sich zu dieser Zeit auf ihrem Zug nach Pannonien befanden und im Kiewer Raum operierten 3 . Zu verhindern waren diese Maßnahmen von ihnen jedoch 1 3

2 R. Trautmann, a. a. O., 13. Ebenda. Ebenda, 14. Vgl. Geschichte Ungarns. Budapest 1971, 14.

15*

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nicht. In ihrer Fortsetzung nahm Oleg mit seinen Unterführern sogar die politische Organisierung eines größeren Territoriums vor. Doch die Errichtung eines Staatswesens ist aus diesen Maßnahmen zur Kriegsvorbereitung nicht abzuleiten. Tatsächlich brach Oleg im J a h r e 907 von Kiew mit einem großen Heer und einer starken Flotte gegen Byzanz auf. Der Feldzug verlief für Oleg erfolgreich, er brachte den Byzantinern große Verluste bei und kam bis in die unmittelbare Nähe von Konstantinopel. Um die Erstürmung und Plünderung der Stadt zu verhindern, zahlten die Byzantiner hohen Tribut und schlössen mit Oleg Frieden, dessen Bedingungen in einem Vertrag — dem ersten „Griechenvertrag" - festgelegt wurden. 1 Der Verlauf des Kriegszuges von Kiew bis vor die Tore der Kaiserstadt des Oströmischen Reiches macht deutlich, daß das eigentliche Ziel des gesamten militärischen Unternehmens die Unterwerfung, möglicherweise auch die Eroberung von Byzanz, und nicht die Schaffung eines Staates im gesamten Siedlungsbereich der Ostslawen war. Erst das Resultat des Kriegszuges dürften Oleg und seine Großen, soweit sie skandinavischer Abkunft waren, bewogen haben, nicht mehr in die nordische Heimat zurückzukehren, sondern beständig in Kiew zu bleiben und sieh die systematische politische Durchorganisierung des ihrer Botmäßigkeit unterworfenen Territoriums als Aufgabe zu stellen. Es ist jedoch nicht bekannt, wie sie durchgeführt wurde. Auch Nestor berichtet nichts Näheres darüber. Olegs Zeitgenossen in anderen Ländern, die die Ereignisse jener Zeit verzeichneten, haben wahrscheinlich nichts davon gewußt, so daß der Nachwelt keinerlei Kunde von dem, was zu seinen Lebzeiten in seinem Kiewer Herrschaftsbereich geschah, überliefert ist. Es ist aber anzunehmen, daß die von Oleg betriebene politische Organisierung des Herrschaftsbereiches über erste primitive Gelegenheitsmaßnahmen nicht hinausgegangen ist und seine Herrschaft in Kiew kaum als Staatsordnung eines größeren Territoriums bezeichnet werden kann. Die Nestor-Chronik darf daher nicht als quellenmäßige Originaldokumentation für die Behauptung dienen, der erste russische Großstaat sei von skandinavischen Heerführern oder Fürsten gegründet und benannt worden, denn aus dem Text der Chronik geht nicht klar hervor, wie und von wem das russische Land zuerst staatlich organisiert wurde. Dem Nachfolger Olegs, dem „Großfürsten" Igor, wie er in dem zwischen ihm und den byzantinischen Kaisern Romanos und Konstantinos geschlossenen Vertrag (945) tituliert wird 2 , kann entgegen den Behauptungen der Normannisten die Organisation oder gar die Gründung des altrussischen Großstaates der Kiewer Rus nach einer staatspolitischen Konzeption gleichfalls nicht zugeschrieben werden, da seine politischen Maßnahmen kaum über die Olegs hinausgirgen und ebenfalls nur Gelegenheitscharakter trugen. Auch seine Politik erschöpfte sich in Kriegen, vor allem gegen Byzanz und gegen die 1 Ebenda, 17—19. Von besonderer Wichtigkeit sind diejenigen Bestimmungen, die die Handelstätigkeit Olegs in Konstantinopel regeln. 2 Ebenda, 29.

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kaukasischen Länder. Zur Sicherung dieser Kriegszüge stellte er erhöhte Tributforderungen an die im Kiewer Raum sowie in den Nachbargebieten wohnenden Slawen und verlangte von ihnen auch Heeresfolge. Diesen lästigen Verpflichtungen suchten sich die slawischen Fürstentümer aber zu entziehen, was z. B . bei den Drevljanen zum offenen Widerstand führte, den Igor nur mit militärischer Gewalt brechen konnte. Von einer Unterdrückungsaktion nach Kiew heimkehrend, wurde er von einer Überfallabteilung der Drevljanen gestellt und im K a m p f getötet 1 . Seine Kriege und sein plötzlicher Tod hatten ihm eben nicht gestattet, seinen Herrschaftsbereich zu einem Staatswesen zu organisieren und zu sichern. Dennoch haben die Etablierungen Olegs und seines Nachfolgers Igor in Kiew verhindert, daß durch das in diesem Raum existierende Fürstentum der ostslawischen Poljanen oder des ihm westlich benachbarten Fürstentum der Drevljanen ein Großstaat der Ostslawen geschaffen wurde, wozu auf Grund der sozialökonomischen Entwicklungsreife alle politischen Voraussetzungen gegeben waren. Recht günstige Chancen dazu hatten die in Izkorosten residierenden Fürsten des Drevljanenlandes. Sofern die aus der gegebenen gesellschaftlichen Entwicklung der Ostslawen resultierende Entstehung des altrussischen Großstaates überhaupt mit der Politik hervorragender Persönlichkeiten in Verbindung gebracht werden kann, kommt hierfür die Nachfolgerin Igors, seine Gattin Olga, in Betracht. Ihre skandinavisch». Herkunft ist zweifelhaft, wahrscheinlich war sie Slawin, und Igor heiratete sie erst im russischen Land. Sollte sie jedoch Skandinavierin gewesen sein, hatte sie sich inzwischen der slawischen Umwelt assimiliert. Olga nahm von einer weiteren Kriegführung gegen Byzanz, Bulgarien und Chasarien Abstand und wandte sich lediglich der Ordnung der inneren Zustände des Kiewer Herrschaftsbereiches zu. Eine staatliche Organisierung der Rus setzte erst durch sie ein. J e t z t wurde die Rus nach staatspolitischen Überlegungen und Prinzipien ausgebaut. Zunächst machte Olga den politischen Aspirationen der Drevljanen ein Ende. Mit einer Strafexpedition rückte sie selbst in ihr L a n d ein, brandschatzte es und ließ die politische Führungsschicht hinrichten 2 . Nach dieser Aktion begann sie die staatliche Organisation ihres gesamten Herrschaftsbereiches. Sie ordnete das Abgabesystem und wandelte es in eine ständige Steuer um. In den slawischen Fürstentümern setzte sie Tribut- und Steuereinnehmer ein; sie erließ Anordnungen darüber, wie die Entrichtung der Abgaben vor sich gehen sollte, und errichtete Plätze, zu denen die Abgaben gebracht werden mußten. Deutlich tritt aus diesen Maßnahmen die Gestaltung einer Administration hervor. Olga selbst überzeugte sich vom Funktionieren dieses Verwaltungssystems, indem sie ganze Staatsgebiete bereiste und inspizierte. Wie Nestor zu berichten weiß, kam sie zu diesem Zweck sogar in das Novgoroder Land. Diese Reise zeigt, daß Olga auch den Norden der R u s in die Hoheit des von ihr organisierten Staates einbezog. In Pskov stand ihr Schlitten, woraus hervorgeht, daß sie ihre Staatsreisen auch im 1

Ebenda, 36.

2

Ebenda, 37 f.

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Winter machte. Sie übte also weitgehend selbst die legislative und exekutive Gewalt aus. In Kiew ließ sie eine steinerne Pfalz als ständige Residenz bauen. 1 Ihr staatspolitisches Denken und Handeln führte Olga schließlich zur Erkenntnis, daß die Staatsorganisation auch durch eine Ideologie gefestigt werden könnte und müßte. Zu ihrer Zeit war dies nur durch Einführung einer monound pantheistischen Religion zu erreichen. Da das Christentum in Europa die herrschende Religion war, bot es sich für ihr Bestreben an. Schließlich hat es vereinzelt in der Rus — auch in Kiew — Eingang gefunden2, so daß Olga keine Neuerung einzuführen brauchte und bei den Christianisierungsmaßnahmen auf die Unterstützung der in Kiew bestehenden Christengemeinde, zu der Persönlichkeiten ihres Hofes gehörten, rechnen konnte. Um die allgemeine Christianisierung der Bevölkerung in Gang zu bringen, ließ sie sich selbst taufen, wahrscheinlich in Konstantinopel 3 , wohin sie eine Reise zu Kaiser Konstantin Porphyrogennetos unternahm. Wenngleich sich dank ihres Beispiels das Christentum in der Rus ausweiten konnte, so erreichte Olga doch keine allgemeine Christianisierung des Landes. Selbst ihr eigener Sohn Svjatoslav lehnte es ab, sich taufen zu lassen 4 . Dennoch scheint der von ihr organisierte Staat auch ohne das ideologische Band einer offiziellen Religion genügend gefestigt gewesen zu sein. Olgas Sohn Svjatoslav übernahm aus den Händen seiner gealterten Mutter 5 ein gut funktionierendes Staatswesen, das sie im Verlauf von 20 Jahren aufgebaut hatte. Erst jetzt, (964 nach Nestor), genau 100 Jahre nach der von Nestor aufgezeichneten Ankunft der skandinavischen Recken in den ostslawischen Ländern, erscheint auf der historischen Bühne der erstmalig durch zeitgenössische Dokumente — Aufzeichnungen des byzantinischen Kaisers Konstantin Porphyrogennetos (im „Zeremonienbuch"), des Gesandten Otto I. Liutprand von Cremona in Konstantinopel, des Mönchs des Klosters St. Maximin in Trier — eindeutig bezeugte altrussische Großstaat, den die slawisierte, wenn nicht sogar autochton slawische Fürstin Olga auf den zu beiden Seiten des Dnepr liegenden Territorien von Kiew im Süden bis Novgorod und Pskov im Norden errichtet und institutionell organisiert hatte. Dieser Staat wies die wichtigsten und charakteristischsten Institutionen auf, wie Steuerwesen, Administration, Gerichtsbarkeit, feste Heeresorganisation, Diplomatie und beständige, in Kiew ansässige zentrale Staatsführung. In diesem Staat gab es einen Herrscher, eine ständige Residenz, eine Hofkanzlei, einen diplomatischen Dienst, einen Beamtenapparat. Svjatoslav interessierten die Verwaltung und der weitere institutionelle Ausbau des Staates nicht. Ihm genügte, daß sein bestehender Zusammenhalt 1 Ebenda, 3 7 - 4 0 . 2 Ebenda, 3 1 - 3 5 . Ebenda, 41 f. Das Wort Ilarions über Gesetz und Gnade. In: K. Rose, Grund und Quellort des russischen Geisteslebens. Berlin 1956, 178. 4 R. Trautmann, a. a. O., 42. 5 Ebenda, 43, 45. 3

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gewährleistet war und alles so funktionierte wie bisher. Zu diesem Zweck entsandte er seine Söhne als Statthalter in die einzelnen Staatsgebiete, vor allem dorthin, wo ihm die Staatseinheit nicht genügend gesichert zu sein schien. Oleg schickte er in das Land der immer noch aufsässigen Drevljanen. Das im Osten gelegene Land der Vjaticen entriß er der Tributpflichtigkeit der Chazaren und unterstellte es der Aufsicht Jaropolks. In das Novgoroder Land ging sein unehelicher Sohn Vladimir, der als Statthalter die nördliche Rus in die Kiewer Staatsorganisation integrieren sollte. Die Regierung in Kiew übertrug Svjatoslav ebenfalls seinem Sohn Jaropolk 1 . Er selbst sah seine Aufgabe darin, den Staat durch Krieg und Eroberungen territorial zum größten Reich Europas auszuweiten. Allerdings führte er den Krieg nicht um des Krieges willen. Seine Kriegszüge und Eroberungen lassen eine politische Konzeption erkennen, denn in der Aufeinanderfolge und Stoßrichtung seiner Feldzüge zeigt sich ein bestimmtes System. So vernichtete Svjatoslav Chazarien, zog in den Kaukasus, führte Krieg gegen Byzanz und eroberte schließlich Bulgarien. Perejaslavl an der Donau wollte er zur Residenz seines großen Reiches machen2, in dem der Rus nur die Position seines Stammlandes zugedacht war, das sein Sohn Jaropolk von Kiew aus zu verwalten und zu regieren hatte. So großartig und kühn die Reichskonzeption dieses Fürsten war und so konsequent und entschlossen sie auch verwirklicht werden sollte, sie erwies sich trotz aller günstigen geographischen Bedingungen — keine Hindernisse durch Gebirgsmassive, aber reich gegliedertes Gewässersystem, räumliche Weiten, die viele variable militärische Operationen ermöglichten — als militärisch und politisch nicht realisierbar, denn dazu reichten die vorhandenen materiellen und organisatorischen Potenzen des Kiewer Staates, die Svjatoslav offenbar überschätzte, nicht aus. Er übersah auch die Gefahr, die das Steppenvolk der Pecenegen bedeutete. Mit ihren ständigen Einfällen bedrohten sie — unterstützt von Byzanz — den Süden der Rus und gefährdeten von da aus die Existenz des Reiches. Die ungenügende Beachtung dieser Gefahr sollte Svjatoslav selbst schließlich zum Verhängnis werden. Als er nach dem Friedensschluß mit Byzanz mit einer kleinen Kriegerabteilung in das Kiewer Land heimzog, wurde er 972 an den Stromschnellen des Dnepr von einer Übermacht der Pecenegen überfallen und erschlagen3. Mit Svjatoslav wurden auch seine Reichspläne begraben. Keiner seiner Nachfolger im Kiewer Staat hat sie je wieder aufgegriffen. Nicht begraben war hingegen der Kiewer Staat. Obwohl Svjatoslavs Kriege sehr an den Potenzen dieses Staates zehrten, hatte er doch genügend Kräfte, sich zu behaupten. Jaropolk war nun der großfürstliche Nachfolger. Er verstärkte die Zentralisierung, wobei er auch nicht vor der Unterwerfung seiner in den anderen Teilen der Rus herrschenden Brüder zurückschreckte. Bezeichnenderweise wandte er sich zunächst gegen den im Drevljanenlande herrschenden Oleg. Kurzerhand rückte er mit einer Kriegerabteilung in das i Ebenda, 47.

2 Ebenda, 45, 46.

a

Ebenda, 51.

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Land ein und besetzte das inzwischen zur Hauptstadt gewordene Ovruc 1 , dessen große Bedeutung für den Binnenhandel sich bereits andeutete, denn schon zu dieser Zeit wurden hier aus den reichen Vorkommen des rosaroten Schiefers Spinnwirtel erzeugt, die seit dem Ende des 10. Jahrhunderts in alle Teile der Rus zur Ausfuhr gelangten. Bei diesen Kämpfen kam Oleg ums Leben. Nach der Ausschaltung dieses Widersachers griff Jaropolk nach Novgorod und sandte seine Beauftragten dorthin. So setzte er sich in den Besitz des gesamten Staatsterritoriums, dessen einzelne Gebiete er durch ihm ergebene Beamte — nicht mehr Verwandte — verwalten ließ2. Er selbst war nach Nestor der Alleinherrscher in der Rus 3 . Die Maßnahmen Jaropolks bezweckten eine weitere Konsolidierung des Kiewer Staatswesens. Schließlich knüpfte Jaropolk insofern auch an die Politik seiner Großmutter Olga an, als er sich um die Festigung des Christentums bemühte. Da seine griechische Gattin Christin war, ist anzunehmen, daß auch er sich zum Christentum bekannte. Dennoch scheint er bei seiner Staatspolitik nicht die Hilfe der byzantinischen Kirche in Anspruch genommen zu haben, denn Lampert von Hersfeld berichtet in den von ihm verfaßten Hersfelder Annalen, daß im Jahre 973 zu einem von Otto I. in Quedlinburg abgehaltenen Hoftag außer Vertretern aus Ungarn, Böhmen, Byzanz, Benevent, Dänemark, und Bulgarien auch Gesandte der Rus erschienen4. Man kann vermuten, daß Jaropolks Gesandte den Auftrag hatten, Verbindungen zur deutschen Reichskirche aufzunehmen, weil man in den offiziellen Kreisen in der Rus die Hegemonieansprüche der byzantinischen Kirche über die kleine Christengemeinde der Rus schon spürte und sie nicht zu dulden gewillt war. Zweifellos hatte sich das Christentum auch in der Ära Jaropolks weiterentwickelt, aber zur vorherrschenden Religion wurde es noch nicht. In ihm fanden der Staat und das Regime nur eine geringe Stütze. Dennoch müssen der Herrscher und sein Hof in Kiew diese Möglichkeiten erkannt haben. Immerhin erhob der Bruder Jaropolks, Vladimir, der im Jahre 980 die Herrschaft in Kiew an sich riß, das Christentum zur Staatsreligion. Sowohl die Nestor-Chronik als auch die Erste Novgoroder Chronik berichten, daß in den Jahren 988—990 auf Anordnung Vladimirs im ganzen Land Massentaufen stattfanden 5 . Der altrussische Großstaat Kiewer Rus entstand und prägte sich aus im Verlauf von knapp 50 Jahren, in der Zeit etwa zwischen 945 und 985. Sein Umfang war erheblich größer als der des Karolingischen und Ottonischen Reiches im Westen Europas. Innerhalb seiner Grenzen bildeten sich in vielen Zentren die wichtigsten staatlichen Institutionen mit entsprechendem Herrschaftsapparat heraus. Während der nächsten 30 bis 35 Jahre, etwa bis 1015/16, erfolgte nur eine weitere Konsolidierung des Staatswesens. Der Staatsapparat > Ebenda, 51. 2 Ebenda, 52. 3 Ebenda. Lampert von Hersfeld, Annalen. In: Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters Bd. 13, Berlin o. J . , 32. 5 R. Trautmann, a. a. O., 83f.; HOBropoflCKan nepBaH JieTonwcb. MocKBa 1950, 176; B. H. Tarameß, HCTOPHH PoccHKcKaH 1, MocKBa 1962, 113. 4

D i e E n t s t e h u n g des russischen Staates K i e w e r R u s

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wurde ausgebaut. Nunmehr erhielt der Staat zwei weitere sehr tragfähige Stützen, die Staatsreligion mit den kirchlichen Institutionen und das allgemeinverbindliche Gesetzbuch. Das Christentum als Staatsreligion führte Großfürst Vladimir ein, das erste allgemeine Gesetzbuch, die Russkaja Pravda, stellte sein Nachfolger, Großfürst Jaroslav der Weise, zusammen (1016)J. Es ergibt sich nun die Frage, auf und aus welcher sozial-ökonomischen Basis dieser altrussische Staat entstand. Eindeutig war das Staatswesen eingebettet in eine Klassengesellschaft, die sich in erster Linie bei den Ostslawen entwickelt hatte, die das überwiegende Ethnikum im riesigen Staatsterritorium bildeten. Weniger eindeutig bestimmbar ist die sozial-ökonomische Formation dieser Klassengesellschaft. Aus dem Griechenvertrag von 945 ist zu entnehmen, daß es in der Rus die Sklaverei gab 2, wenn ihre Form auch nicht erkennbar ist. Man könnte sie als Haussklaverei charakterisieren. Doch in dem gleichen — vielleicht auch im folgenden — Jahr führte Olga die Strafexpedition gegen die Drevljanen durch, wobei sie verfügte, daß die Gefangenen „zur Arbeit ihren Mannen" übergeben werden, woraus die Arbeitssklaverei ersichtlich ist 3 . Die Verwendung der Sklaven in der Produktion scheint jedoch nicht allgemein gewesen zu sein, denn für das Jahr 969 berichtet Nestor im Zusammenhang mit dem Plan des Fürsten Svjatoslav, sich in Perejaslavl an der Donau niederlassen zu wollen, daß dieser dort „Sklaven aus der Rus zu verkaufen gedachte" 4. Neuerdings hat der sowjetische Mediävist Ja. N . Scapov alle Erscheinungen dieser Sklaverei registriert und sie als ein System der „mittelalterlichen Sklaverei" bezeichnet 5 . Außer der Sklaverei bildeten sich in der Rus im 10. Jahrhundert jedoch auch feudale Abhängigkeitsverhältnisse heraus. Sie sind aber für diesen Zeitraum nur „schwer erkennbar" 6 . Ein dokumentarischer Beleg für Erscheinungen der Feudalordnung steht dem Historiker dennoch zur Verfügung. Es handelt sich um die Mitteilung Nestors über die Maßnahmen Olgas zum Staatsausbau, wonach sie die Ablieferung des obrok, der Produktenrente, anordnete 7 . Man möchte meinen, daß es sich hierbei nicht um eine neue, von Olga eingeführte Abgabe handelt; vielmehr regelte sie eine bereits praktizierte Zahlung, die diejenigen zu leisten hatten, deren ökonomische Freiheit bereits beschränkt war. Ein besonders bemerkenswertes und auffallendes Merkmal der Anordnungen Olgas ist, daß sie beiden gesellschaftlichen Ordnungen, der Sklaverei und dem Feudalismus, Rechnung trug. Die auf ökonomischer Ab1 2 3 5

HoBropoÄCKan nepßaa jieToimcb, 175. R. Trautmann, a. a. O., 31 f. 4 Ebenda, 46. Ebenda, 40. H. H. IIJanoB, O coljHaJibHO-BKOHOMHqecKHx ymiaRax B ^peBHeit Pye» XI-nepBoit noJioBHHbi X I I B. In: AKTyaJibHLienpoÖJieMu HCTopmi POCCHHanoxn $eoAanH3Ma. MocKBa 1970, 93.

6

H . B . HepenHHH, 50 jieT coBeTCKOit ncTopniecKott H a y n « H HeKOTopwe HTorn H3yieHHH

7

(¡»eonajibHoft anoxn HCTOPHH POCCHH. I N : HCTOPHH C C C P 6, MocKBa 1967, 86. R. Trautmann, a. a. O., 40. Der Autor übersetzt den altrbssischen Ausdruck oSpou mit „Zins."

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hängigkeit beruhenden gesellschaftlichen Formationen drücken sich auch in befestigten Höfen aus, die man bei archäologischen Forschungen in großer Anzahl auch für das 10. Jahrhundert erkannte und die in der sowjetischen archäologischen Literatur alsj/ororfis&i-zam&i-Burgschlösser bezeichnet werden. 1 Die Ausgrabungsergebnisse weisen darauf hin, daß sich die Klassengesellschaften in den südlichen Territorien der Rus — und zwar rechts des Dnepr — stärker als in den nördlichen Gebieten entwickelten. Doch wie sich auch die ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse ausgebildet haben mögen, der überwiegende Teil der Bauern und Handwerker war ökonomisch frei. Die Bauern lebten fast ausschließlich in der Territorialgemeinde 2 , in der mehr oder weniger noch Sippenverhältnisse eine Rolle spielten, wie aus den Darlegungen Nestors hervorgeht 3 . Die Angehörigen dieser Gemeinden, die überwiegend aus kleinen Siedlungen (jtoselki) bestanden, hatten ihre eigene, auf Besitz von Ackerland beruhende Individualwirtschaft 4 . In den nördlichen Gebieten, in der Waldzone, mag auf Grund des dort vorherrschenden RodeBrandsystems (podseka) die Gemeinwirtschaft und damit die Sippenordnung überwogen haben. Die Landgemeinden der mehr oder weniger entlegenen Gebiete waren nicht einmal der staatlichen Administration zugänglich — obgleich gerade Olga wirksame Maßnahmen in dieser Richtung traf —, so daß in weiten Gebieten des riesigen Staatsterritoriums noch Verhältnisse einer klassenlosen Gesellschaft weiterbestanden. Je stärker sich jedoch die Institutionen des Staates ausbildeten und in ihrer Funktion bewährten, desto eher konnten auch die freien gesellschaftlichen Beziehungen in Klassenverhältnisse umgewandelt werden. Diese Geschehnisse zeigen, daß der altrussische Staat im 10. Jahrhundert nicht von warägischen Fürsten gegründet wurde, sondern auf Grund der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung der Ostslawen und der Politik ihrer fürstlichen Repräsentanten, die auch Waräger in ihren Dienst nahmen, entstand. 1

B . ß . iJoBHteHOK, flpeBHbopycbKi rop(>AHiiia-3aMKH. ApxeoJiorin 13 (1961), 95—104.

2

M. H. JlHnyuiKHH, CjiaBHHe BOCTOHHOÜ EBponu HaKaHyHe 06pa30BamiH JJpeBHepvccKoro rocyp,apcTBa. MocKBa 1968, 154—169.

3

R. Trautmann, a. a. 0., 11.

4

H. H. JlHnyuiKHH, a. a. 0., 166 f.

Bürgerliche Theorien über Staat und Staatsentstehung von

IRMGARD SELLNOW

(Berlin)

Jeder Beitrag dieses Bandes beweist, von welch eminenter Bedeutung die Staatsentstehung für die hier behandelten Völker jeweils gewesen ist. Kein Wunder also, wenn der Staat im Laufe der Geschichte immer wieder Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen war und wenn sich um seine Existenzberechtigung, seine Aufgaben und Verantwortungen die Menschen ihre Gedanken machten und sie in ihre Theorien über die sinnvollste Ordnung des menschlichen Zusammenlebens einbezogen. Seit jeher haben sich diese Theorien je nach dem politisch-ideologischen Standort ihrer Urheber deutlich voneinander unterschieden. Die Einstellung zum Staat war und ist ein untrügliches Kriterium für die Klassenposition eines Philosophen, Juristen oder Historikers. Die Höhepunkte in den Auseinandersetzungen um den Staat fielen imnler mit Höhepunkten der Klassenauseinandersetzungen zusammen. Der beste Beweis dafür ist die europäische Aufklärung, als das Bürgertum sich anschickte, zum Kampf um die Macht im Staate anzutreten und diesen Kampf u. a. mit der Formulierung seiner Staatstheorien ideologisch vorbereitete. Es war die große Zeit naturrechtlicher Gedankengebäude, in denen der Staatspraxis feudaler Willkür — wenn auch mit verschiedenen Akzenten und Beweisführungen — durch die Theoretiker die Notwendigkeit eines vernünftig gestalteten und der bürgerlichen Produktion und Person alle notwendige Bewegungsfreiheit eröffnenden neuen Staatswesens entgegengesetzt wurde. Da sie in diesem ideologischen Kampf von der Natur des Menschen in Entgegnung zur historisch überholten und in Traditionen erstarrten feudalen Gesellschaft ausgingen, war in ihren Auseinandersetzungen die Frage nach den Ursprüngen der menschlichen Gesellschaft und des Staates mit eingeschlossen. In der Zeit der Aufklärung war die Proklamierung unveräußerlicher, angeborener und ewiger Rechte des Menschen eine revolutionäre Tat, die oft genug Verfolgung und Kerker für ihre mutigen Verkünder nach sich zog. Nicht zuletzt aber ist durch die wissenschaftlichen Leistungen jener Zeit, durch Männer wie Bodin, Pufendorf, Hobbes, Grotius, Rousseau, Ferguson und viele andere das menschliche Wissen über das Wesen des Staates und über die mutmaßlichen Ursachen für sein Entstehen erheblich erweitert worden.

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Nicht anders verhielt es sich in der nächsten großen historischen Umbruc-hsperiode, als das Proletariat begann, seine Ansprüche gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft geltend zu machen. Auch in diesem politischen Kampf spielten die Auseinandersetzungen um Ursprung und Wesen des Staates eine große Rolle. Während die bürgerlichen Staatstheorien des 19. Jh. mehr und mehr verflachten und sich unter positivistischem Einfluß damit begnügten, von der reinen Faktizität auszugehen, knüpften Marx und Engels an den höchsten Stand wissenschaftlicher Entwicklung, wie er zum Problem der Auflösung der Urgemeinschaftsordnung und der Herausbildung des Staates insbesondere durch Morgan erreicht worden war, an und entwickelten die damit geschaffenen Grundlagen mit Hilfe eigener ausgedehnter Quellenstudien weiter zu, einer neuen Theorie des Staates. Für die junge Arbeiterbewegung kam es nicht nur darauf an, die Tatsachen der Gegenwart zu kennen, sondern vielmehr Wege und Mittel einer Veränderung der Welt zu erkunden. Diese Erkenntnisse mußten auf wissenschaftlicher Basis beruhen, um in die Wirklichkeit unigesetzt werden zu können. Die Bewegungsgesetze der Gesellschaft aber ließen sich nur aus dem historischen Entwicklungsprozeß ableiten, und wenn die revolutionäre Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft auf der Tagesordnung stand, dann mußten zwangsläufig der Staat und seine historische Grundlegung in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Auf den von Marx und Engels gewonnenen Erkenntnissen konnte später Lenin aufbauen und mit der Ausarbeitung der Revolutionstheorie auch die Theorie des Staates erweitern und vertiefen. In allen Phasen der Ausarbeitung einer marxistischen Staatstheorie hatte die Frage nach der Beseitigung des bürgerlichen Staates die Klärung des historischen Ursprungs des Staates eingeschlossen. Anders verlief die Entwicklung in der bürgerlichen Theorienbildung. Hatte bereits der Positivismus das Interesse auf die Macht des Faktischen begrenzt, brachte die mit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution ausbrechende allgemeine Krise dieser Gesellschaft ein weiteres Absinken des theoretischen Niveaus mit sich. Vor allem erwies sich die bürgerliche Wissenschaft und mit ihr auch die Staatstheorie als völlig unfähig, den vor sich gehenden Prozeß des Niedergangs der bürgerlichen Gesellschaft zu begreifen. An die Stelle einer rationalen Analyse der Wirklichkeit trat daher der Irrationalismus und breitete sich in Form des Psychologismus verschiedener Schattierungen aus. Aus dem Unverständnis gegenüber der eigenen Zeit resultierte das Nichtbegreifen des gesamten historischen Entwicklungsprozesses. In dieser Situation mußten auch die Einsicht in das Wesen des Staates sowie die bestimmenden Faktoren in der Periode der Staatsentstehung mehr und mehr getrübt werden. Nach dem zweiten Weltkrieg kamen neue Schwerpunkte und Gesichtspunkte in der bürgerlichen Theorienbildung auf. Die Herausbildung des sozialistischen Weltsystems und die Erfolge der nationalen Befreiungsbewegungen in allen Teilen der Welt zeigten sehr deutlich, daß man der Anziehungskraft des Sozialismus ein eigenes, in die Zukunft weisendes Gesellschaftsmodell entgegensetzen mußte und mit Irrationalismus und Skeptizismus allein nicht mehr

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auskam. Mit deutlich erkennbarem Zweckoptimismus wurde nunmehr versucht, die künftige Perspektive der bürgerlichen Gesellschaft zu umreißen und als unzweifelhaft darzustellen. Dies ging nicht ohne intensive Auseinandersetzung mit dem Sozialismus, den man als historische Zufälligkeit und demzufolge nur als eine vorübergehende Erscheinung darzustellen sich bemühte. 1 Die heute für die bürgerliche Wissenschaft bedeutungsvollen Auffassungen über Wesen und Entstehung des Staates werden von der ganzen, soeben nur kurz geschilderten Entwicklung geprägt. So kommt es, daß neben der Widerspiegelung neuester ideologischer Strömungen nach wie vor ältere Auffassungen sich erhalten. So z. B. wird in der bürgerlichen Gesellschafts- und Staatstheorie bis in unsere Zeit die Naturrechtslehre vertreten, und zwar sowohl in ihrem religiösen als auch in ihrem weltlichen Zweig. Unter den weltlichen Vertretern dieser Lehre wären z. B. Mitteis, Coing, Wolzendorff und Barion zu nennen. Wie bereits die Naturrechtler des 17. und 18. J h . gehen auch ihre modernen Verfechter von der Annahme eines überzeitlichen und allgemeingültigen Staats- und Rechtsprinzips aus, das die gesamte Staats- und Rechtsentwicklung bestimmt haben soll. 2 Auf den Staat bezogen heißt dies, in ihm „eine höchste Form menschlichen Gemeinschaftslebens (zu sehen), zu der sich eine Gesamtheit von Menschen eines bestimmten Gebietes zusammenschließt, indem sie sich einer obersten Autorität zum Zwecke der Verwirklichung des Gemeinwohls unterstellt." 3 Bei diesem Ausgangspunkt kann es nicht verwundern, wenn der Klassencharakter des Staates von den Vertretern dieser Denkrichtung nicht gesehen wird. So z. B. sieht Mitteis in den ältesten Staaten „Träger des Volkswillens gegen die männermordenden und kulturzerstörenden Fehden der führenden Geschlechter" 4 und stellt damit das wirkliche Verhältnis zwischen Volksmassen und Adel in der frühen staatlich organisierten Gesellschaft auf den Kopf. Aber auch das Verhältnis zwischen objektiven und subjektiven Faktoren in der Geschichte wird von den Vertretern des modernen Naturrechts umgekehrt. So z. B. sieht Mitteis im Kampf der Arbeiterklasse um Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse eine Auseinandersetzung „im Namen des natürlichen Rechtes . . .; nicht die materielle Not allein war es, die dazu trieb, sondern auch und wohl in erster Linie das Gefühl für die Ungerechtigkeit, die in der Ausbeutung der Arbeitskraft als Ware lag." 5 Wenn es auch zweifellos mit der historischen Erfahrung übereinstimmt, wenn Mitteis weiterhin feststellt, „jeder Revolution muß eine Umwandlung der Geister vorausgehen" 6 , so bleibt 1 2

a 4

5 6

Vgl. hierzu H. Meißner, Konvergenztheorie und Realität. Berlin 1971, 17ff. Vgl. H. Mitteis, Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte (im folgenden zitiert: Rechtsgeschichte). Weimar 1947, 105. J . Barion, Recht - Staat - Gesellschaft. Krefeld 1949, 63. H. Mitteis, Über das Naturrecht. Berlin 1948, 41 ( = Vorträge und Schriften der DAW zu Berlin, Heft 26). Ebenda. H. Mitteis, Rechtsgeschichte, 124.

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aber immer noch zu fragen, aus welchen Bedingungen denn diese Umwandlung der Geister erwuchs. Eine Zurückfiihrung progressiver Ideen auf veränderte materielle Lebensbedingungen würde Mitteis ablehnen, sieht er doch auch in den Produktionsverhältnissen einen Ausdruck der „wirtschaftsethischen Gesamtstruktur". 1 Daher sind nach seiner Auffassung „Wirtschaft und Gesellschaft vom Geistigen her mitbestimmt, und die sie beherrschenden Rechtsnormen entstammen letztlich einem Aufbruch aus seelischen Tiefen, in die wir nur ahnend das Lot der Erkenntnis senken können." 2 Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu beweisen, daß nach naturrechtlicher Auffassung ein geistiges Prinzip die historische Bewegung in allen Perioden der Menschheitsgeschichte bewirkt hat. Von diesen allgemeinen Auffassungen über das Wesen von Staat und Gesellschaft ausgehend, kann man selbstverständlich zu keinen neuen, über die von den Naturrechtlern des 17. und 18. Jh. bereits errungenen Positionen hinausführenden Auffassungen zur Staatsentstehung gelangen. Wir finden daher bei den modernen Vertretern des Naturrechts die gleichen Grundauffassungen wie bereits in der Vergangenheit wieder. Wiederholt z . B . Barion die These von der Ableitung des Staates aus der „sozialen Natur des Menschen"3, hält Wolzendorff an der Auffassung des Vertrages als Erklärung für das Vorhandensein des Staates fest 4 . Die Gewalt, die auch die modernen Vertreter des Naturrechts im Prozeß der Staatsbildung nicht übersehen 5 , erhält aber durch die Funktion des Staates als Verwirklicher des Gemeinwohls gleichsam eine höhere Weihe. Zweifellos ist, von der bürgerlichen Klassenposition her gesehen, die naturrechtliche Theorie keine adäquate Grundlage für die politischen Auseinandersetzungen unserer Zeit. Ihre Vorstellungen liegen jedoch nicht außerhalb des bürgerlichen Klasseninteresses. Dies hat besonders .deutlich einmal Wolzendorff zum Ausdruck gebracht, als er schrieb: „Das Rechtsbedürfnis einer klaren Lösung des Problems des Arbeitszeitschutzes, der Lohnregulierung und dergleichen mehr hätte ebenfalls allgemeiner erkannt werden und schließlich hätte so auch das Grundproblem demokratisches Arbeitsrecht* heraustreten müssen. Dann würde das Bürgertum nicht nur manchen sozialistischen Forderungen der Revolution nicht so völlig verständnislos gegenüberstehen, sondern die Revolution würde auch sehr wichtiger Triebkräfte überhaupt entbehrt haben . . ." 6 Das bürgerliche Klasseninteresse spiegelt sich nicht nur in der Behandlung zeitgenössischer Probleme der Staatsfrage wider, sondern ebensosehr auch in der historischen Untersuchung. Im zuletzt genannten Zusammenhang wird der 1

Ebenda, 111. Vgl. hierzu auch K. Wolzendorff, Geist des Staatsrechts, Leipzig 1920, 42. H. Mitteis, Rechtsgeschichte und Gegenwart. Neue Justiz 1 (1947), 29. J. Barion, a. a. 0., 105. K. Wolzendorff, a. a. O., 26. 3 Ebenda, 62f.; H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie. Berlin 1950, 201; H. Mitteis, Rechtsgeschichte, 90. 6 K. Wolzendorff, a. a. O., 33. 2

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Staat zu einer Erscheinung, die entweder unausweichlich aus der Natur oder dem Willen des Menschen entsprang. Die Verschleierung seines Wesens in der Gegenwart führt also folgerichtig zur falschen Einschätzung auch jener Faktoren, die den Prozeß der Staatsentstehung bestimmt haben. Dennoch sei eines nicht übersehen: Die modernen Vertreter des Naturrechts haben von ihren älteren Vorbildern das Bemühen um die Auffindung allgemein wirksamer Gesetzmäßigkeiten herübergerettet. Zwar handelt es sich dabei um eine metaphysische Auffassung von Gesetzmäßigkeit, die außerdem im rein Geistigen angesiedelt ist. Dennoch haben die Naturrechtler nicht jene Entwicklung der bürgerlichen Wissenschaft mitgemacht, die in der Geschichte in jedem Falle lediglich eine Anhäufung von Zufälligkeiten sieht. In diese Auffassung vom sinnvollen Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung haben sie auch das Problem der Staatsentstehung eingebettet. Von größerer Bedeutung als in ihrer weltlichen Ausprägung aber ist die Naturrechtslehre heute in ihrer religiösen Variante, die ihrerseits u. a. Bestandteil der katholischen Soziallehre ist. In ihrer religiösen Gestalt ist die Naturrechtslehre, wie Kelsen mit vollem Recht herausgestellt hat, konsequenter als in der weltlichen, kommt doch jede Naturrechtslehre strenggenommen nicht ohne „die Annahme von der Natur innewohnenden Normen, und sohin durch die Annahme einer Immanenz der durch diese Normen konstituierten Werte in der Wirklichkeit der Natur im allgemeinen oder der Natur des Menschen im besonderen . . . " aus, wofür die Voraussetzung der Glaube an eine gerechte Gottheit sei, „deren Willen der von ihr geschaffenen Natur nicht nur transzendent, sondern auch immanent ist." 1 Diese Auffassung hat ein prominenter Vertreter des religiös fundierten Naturrechts, Nell-Breuning, selbst einmal mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: „Nicht ohne Grund spricht man von christlichem Naturrecht, weil nur das Christentum die Kenntnis und Achtung des Naturrechts gebracht hat und heute noch gewährleistet." 2 Damit gerät die religiös begründete Naturrechtsauffassung selbstverständlich von vornherein in die gleiche Lage wie der weltliche Zweig und setzt sich der Gefahr aus, über allgemeinste und völlig abstrakte, eventuell sogar über inhaltslose Kategorien nicht hinauszukommen. Katholische Sozialpolitiker wehren 1

2

H. Kelsen, Die Grundlagen der Naturrechtslehre. Das Naturrecht in der politischen Theorie, hrsg. v. F.-M. Schmölz. Wien 1963, 1, 6. Zitiert in: A. Süsterhenn, Politik aus christlicher Staatsauffassung. Christentum und demokratischer Sozialismus. München 1958, 71. Von dieser Grundposition kann die christliche Soziallehre trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten nicht abrücken. Zwar wird heute von Vertretern der katholischen Soziallehre verschiedentlich gegen eine „ungeschichtliche Konzeption des Naturrechtsdenkens" mit „extrem individualistischer Auffassung" Stellung genommen (vgl. z. B. W. Weber, Grundeigentum — Faktor einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 11 (1970), 110), ohne dapiit aber von der Auffassung, wonach der Mensch ewig natürliche Rechte besitzt, im Prinzip abzurücken (vgl. ebenda, 125).

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sich z. T. verzweifelt gegen einen solchen Vorwurf und erheben den Anspruch, das von ihnen vertretene Naturrecht sei „ein auf die jeweilige geschichtliche Situation angewandtes Naturrecht". 1 Prüfen wir also, inwieweit diesem Anspruch in bezug auf Staat und Staatsentstehung entsprochen wird. Wenn wir mit der Frage nach der Auffassung über das Wesen des Staates beginnen, so ergeben sich keine grundsätzlich neuen Gesichtspunkte gegenüber dem weltlichen Zweig der Naturrechtslehre. Auch hier finden wir die Version, nach der der Staat seine Erklärung in der sozialen Natur des Menschen hat. 2 Wie dieses Verhältnis zwischen einer stets gleichartigen natürlichen Grundlage des Staates und wechselnden historischen Bedingungen aussehen soll, hat Papst Pius X I I . 1955 in seiner Weihnachtsansprache ausgeführt: „Es gibt eine natürliche Ordnung, auch wenn ihre Formen sich mit der geschichtlichen und sozialen Entwicklung ändern. Die wesentlichen Dinge waren und sind noch immer die gleichen: die Familie und das Eigentum als Grundlage persönlicher Versorgung, sodann als ergänzende K r ä f t e der Sicherheit die örtlichen Behörden, die Berufsgemeinschaften und endlich der S t a a t . " 3 Was sich ändern kann, sind demnach lediglich die äußeren Formen und damit die unwesentliche Seite der gesellschaftlichen Entwicklung. Die naturrechtliche Grundlage führt also auch in diesem Falle dazu, die Erklärung für die Existenz des Staates in einem abstrakten, unhistorischen Faktor zu suchen. Im Gegensatz zu älteren Auffassungen, wie z. B. in der Wiener Schule der Völkerkunde, die mit der durch Urschöpfung entstandenen Familie zugleich den Staat begründet sehen wollte, ist jedoch die heutige Auffassung bei Vertretern des religiös fundierten Naturrechtes realistischer. Heute unterscheidet man zwischen vorstaatlichem und staatlichem Zustand 4 und sieht demzufolge in der Staatsgründung einen historischen Vorgang. Dabei sieht man sich aber einer Schwierigkeit gegenüber: Wenn der Staat einerseits historische Erscheinung ist, andererseits aber aus dem göttlichen Schöpfer willen hervorgegangen sein soll, dann muß es zwischen dem vorstaatlichen und dem staatlichen Zustand irgendeinen Faktor geben, der den Übergang von der einen zur anderen Entwicklungsstufe bewirkt hat. Dieken Faktor sehen die Anhänger des religiösen Naturrechts in der Willensfreiheit des Menschen. „Der konkrete Staat entsteht 1 2

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A. Süsterhenn, a. a. 0., 72. Vgl. z. B. H. Kipp, Mensch, Recht und Staat. Köln 1947, 36, 54, 58; J. Dabin, Der Staat oder Untersuchungen über das Politische. Neuwied — Berlin 1964, 189; O. v. NellBreuning, Einzelmensch und Gesellschaft. Heidelberg 1950, 29; ders., Die politische Gemeinschaft im Urteil des Zweiten Vatikanischen Konzils. Theologie und Philosophie 41 (1966), 358. In den meisten Fällen ist dabei an die Natur des Menschen im Sinne einer „Vervollkommnungsfähigkeit" gedacht. Es gibt jedoch auch die gegenteilige Auffassung, z. B. bei Dabin, der den Staat darauf zurückführt, daß sich das Volk angeblich „nicht selbst regieren" könne (J. Dabin, a. a. 0., 149). Zitiert bei A. Süsterhenn, a. a. 0., 70. O. v. Nell-Breuning, Die politische Gemeinschaft im Urteil des Zweiten Vatikanischen Konzils, 357.

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nur durch eine Willensübereinkunft von Menschen" l , womit jedoch die göttliche Einmischung in die irdischen Angelegenheiten nicht etwa als aufgehoben gelten soll. Im Gegenteil: „Ist die soziale vernünftige Natur des Menschen Ursache des Staates, so nur causa secunda im scholastischen Sinn. Die causa prima, die von keiner anderen Ursache abhängige und somit in jeder Beziehung selbständige, schlechthin erste Ursache auch des Staates ist der ewige lebendige Gott." 2 Wie aber t u t sich diese causa prima dem menschlichen Wollen kund? Dabin, der heute wohl bekannteste katholische Naturrechtler, hat dazu folgendes ausgeführt: „. . . der Wille des Individuums ist nicht von Rechts wegen gegen die Natur. Physisch ist der Mensch frei, er ist sogar frei, der Natur nicht zu folgen. In diesem Falle flieht er sich selbst . . ., und er flieht die Menschheit, läuft seinem Untergang entgegen . . . In der Geschichte der Menschheit, oder genauer gesagt der menschlichen Gemeinschaften, ist ein Augenblick eingetreten, in dem die Individuen, die Mitglieder dieser Gemeinschaften, das vage, unbestimmte Bedürfnis verspürten nach einem Wohl, das ihr unmittelbares besonderes Wohl übersteigt, das aber gleichzeitig fähig wäre, dieses zu garantieren und zu fördern . . . Der natürliche Impuls konnte, da er nur eine Möglichkeit bezeichnet, nicht genügen: es war nötig, daß er durch den ,menschlichen Fleiß' vervollständigt wurde, das heißt durch die Tat des Menschen, der die Zusammenführung der Mitglieder der Gesellschaft unter eine Macht zum Heil und Vorteil aller bewirkt, kurz, den Staat gründet. Nach dieser Auffassung ist also der Staat notwendig, und zwar entspringt er aus der von Gott gewollten Natur des Menschen. Aber diese Natur verwirklicht sich nicht im Selbstlauf oder automatisch, sie verwirklicht sich auch nicht durch direktes Eingreifen einer überirdischen Macht, sondern nur über den Willen des Menschen. Nur am Rande sei bemerkt, daß diese Version von der entscheidenden Bedeutung des menschlichen Willens mit der religiösen Grundlage dieser Theorie zusammenhängt, kann man doch ohnedem weder die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen begründen noch die These von der Erbsünde aufrechterhalten. Da sich also die Interpretation der Staatsentstehung diesen Notwendigkeiten unterordnen muß, verliert sie unausweichlich an historischer Aussagekraft. Sie wird im religiös fundierten Naturrecht auf den göttlichen Weltenplan oder auf ein unbestimmtes Gemeinwohlbedürfnis des Menschen zurückgeführt. Außerdem entrückt die Berufung auf Gott als der causa prima der Staatsentstehung diesen historischen Vorgang aus der rationalen Erkenntnis in das Reich des Glaubens; denn noch niemals haben kirchliche Autoritäten die Möglichkeit anerkannt, daß Gottes Ratschlüsse für 1

H. Kipp, a. a. 0., 84. Dabei soll — ganz im Sinne der aristotelischen Version — die Unzulänglichkeit der kleineren gesellschaftlichen Gebilde Anlaß und Anstoß zum staatlichen Zusammenschluß gewesen sein (0. v. Nell-Breuning, Die politische Gemeinschaft im Urteil des Zweiten Vatikanischen Konzils, 357). 2 H. Kipp, a. a. 0., 63f. 3 J. Dabin, a. a. O., 191. 16 Staatsentstehuoi?

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den menschlichen Verstand begreifbar sind. Auch dem Historiker bleibt hier kein Spielraum. Er kann lediglich Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung menschlicher Handlungen mit dem göttlichen Schöpferwillen konstatieren 1 , oder er stellt wie K u h n angesichts der Realität entsetzt fest: „Der Staat, wie er sich wirklich in der Geschichte zeigt, macht uns schaudern." 2 Manchmal mögen wohl die Vertreter dieser Richtung die Schwächen ihrer Position selbst erkennen. Auer z. B. rechtfertigt dies mit folgendem Argument: „(Das Naturrecht) ist der letzte Rahmen für ein Recht, das dem Menschen ermöglicht, seinem Wesen gerecht werden zu können. Widrigenfalls müßte der Mensch vom politischen Menschen zum kommunistischen denaturiert werden. Eine andere Wahl hätte er gar nicht, wenn wir je die Philosophie von Karl Marx ernst nehmen. Entweder bettet der Mensch seine ,forces propres' in dem so skizzierten Weltbild ein und läßt sie als gesellschaftlich-politische im Weltbild von Hegel — Marx beruhen oder er fragt weiter nach dem Sinn dieses Weltbildes." 3 Damit aber ist er bei Gott und der Anerkennung seiner Gebote, jedenfalls nach Auffassung von Auer. Die Alternative lautet also: Marxismus oder Naturrecht. Gedanken dieser Richtung stehen insbesondere bei den politisch engagierten Vertretern dieser Schule im engsten Zusammenhang mit ihrer Haltung zur Klassenfrage und zur sozialen Revolution. Die Existenz der Klassen in der Gesellschaft läßt sich angesichts allgemein bekannter Tatsachen kaum noch leugnen. Daher gehen die Anhänger des religiös fundierten Naturrechts heute von der sozialen Gliederung der Gesellschaft aus 4 , vermeiden es aber fast immer, auf die Gründe für die bestehenden sozialen Ungleichheiten, d. h. auf die Rolle des Privateigentums, einzugehen 5 . Entweder führen sie diese Un1

Dabin stellt daher folgerichtig fest: „. . . auf dem Gebiet menschlicher Institutionen ist die Idee die wesentliche Wirklichkeit, außerhalb derer die äußeren Manifestationen bedeutungslos sind" (a. a. O., 172). 2 H. Kuhn, Der Staat. München 1967, 364. 3 A. Auer, Elemente aus dem modernen Naturrecht für die demokratische Gesellschaftsordnung. Das Naturrecht in der politischen Theorie, hrsg. von F.-M. Schmölz. Wien 1963, 63. 4 Vgl. z. B. J. Dabin, a.a.O., 19; J. Messner, Das Gemeinwohl. Idee — Wirklichkeit — Aufgaben. Osnabrück 1968,165; O. v. Nell-Breuning, Einzelmensch und Gesellschaft, 82; ders., „Politische Theologie" - einst und jetzt. Stimmen der Zeit 100 (1970), 242; H. F. Zacher, Pluralität der Gesellschaft als Aufgabe. Stimmen der Zeit 100 (1970), 17; H. Kipp, a. a. O., 109. 5 Wenn auch in letzter Zeit von der naturrechtlichen Begründung und damit der Unantastbarkeit des Privateigentums verschiedentlich abgerückt worden ist (vgl. F. Beutter, Zur naturrechtlichen Argumentation in der Eigentumslehre. Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 11 (1970), 106f.; H. H. Götz, Anmerkungen zur Enzyklika „Populorum Progressio". Ordo 20 (1969), 28), so wird aber dennoch eine Forderung nach Aufhebung des Privateigentums abgelehnt. Statt dessen sollen die gesellschaftlichen Widersprüche durch „soziale Liebe" oder „Gemeinwohlliebe" überwunden werden (vgl. O. v. Nell-Breuning, Einzelmensch und Gesellschaft, 38; J. Dabin, a. a. O., 78).

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gleichheiten auf unterschiedliche menschliche F ä h i g k e i t e n u n d Charaktereigenschaften zurück 1 oder begnügen sich ganz einfach mit ihrer Konstatierung. Diese faktische Sanktion des B e s t e h e n d e n bringt aber in der heutigen Situation die Vertreter dieser Schule in große Schwierigkeiten u n d s e t z t e sie sogar der Gefahr aus, zur völligen Bedeutungslosigkeit herabzusinken. Politisch weiterblickende Anhänger der christlichen Soziallehre warnen daher: „Wenn die Kirche nicht jetzt, in der revolutionären Situation, die Herausforderung des positiven E n g a g e m e n t s erkennt, dann v e r p a ß t sie überhaupt die Chance, k ü n f t i g noch Einfluß haben zu können. Die R e v o l u t i o n findet auch ohne sie s t a t t . " 2 D i e s e Sorge u m den k ü n f t i g e n Einfluß sowie die Forderungen jener, die insbesondere in Lateinamerika mit den revolutionären Volksbewegungen verbunden sind 3 , haben schließlich auch d e n Klerus der katholischen Kirche bewogen, auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962) sowie in der E n z y k l i k a „Populorum progressio" v o m 26. 3. 1967, Ziffer 31 das R e c h t auf Widerstand gegen Unterdrückung u n d Mißbrauch der Staatsgewalt anzuerkennen. 4 Diese Neuorientierung bedeutet jedoch keineswegs eine veränderte Einstellung z u m Staat. E r soll auch in Zukunft eine unabdingbare N o t w e n d i g k e i t bleiben. 5 R e v o l u t i o n e n sollen also nichts am W e s e n der Gesellschaftsordnung 1 H . Kipp, a, a. 0., 109. H. Schultze, Gerechtigkeit Gottes als Motiv für Revolutionen. Zeitschrift für evangelische Ethik 13 (1969), 196. 3 Vgl. R. Weiler, Katholische Soziallehre und Revolution. Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 10 (1969), 197. '* Über die Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils und die darin zum Ausdruck gekommenen verschiedenen politischen und ideologischen Strömungen innerhalb der katholischen Kirche vgl. H. Maier, Soziologie der Päpste. Lehre und Wirkung der katholischen Sozialtheorie. Berlin 1965, 21 ff. Heute wird von Vertretern der christlichen Soziallehre oft von „Revolution" und einer „Theologie der Revolution" gesprochen. Der Begriff „Revolution" wird dabei in einem sehr weiten Sinn verstanden und ist auf jede tiefergehende Veränderung in der materiellen oder kulturellen Sphäre des gesellschaftlichen Lebens bezogen. Revolution im eigentlichen Sinne des Wortes wird daher lediglich als ein „Spezialfall der Gemeinwohlreform" (R. Weiler, a. a. 0., 227) gesehen. Daher lautet die Schlußfolgerung: „Es kann daher bei der Zulassung der Revolution niemals um die Anerkennung des revolutionären Prinzips als solchen gehen. Das Prinzip des Fortschritts in unserem Sinn kann an sich nur die evolutionäre Reform der Gesellschaft sein" (R. Weiler, a. a. 0., 229). Und wenn diese Reform die Widersprüche nicht löst: „Wer wahre Bürgerschaft in dieser Welt haben will, dessen Politeia muß das Reich Gottes sein" (R. Lindner, Gewaltfreiheit im sozialen Konflikt. Zeitschrift für evangelische Ethik 13 (1969), 108). 5 Als Kronzeuge für diese Auffassung sei J . Dabin zitiert: „Aber, mag man immer Revolution machen, die alten Strukturen zerstören und den Menschen .befreien', der sogenannte politische S t a a t . . ., den man abzuschaffen meint, wird nicht nur als .Übergang' weiterbestehen, bis die Segnungen der Revolution durch die Kraft dieses gegen seine früheren Inhaber gewendeten Apparates gesichert sind, sondern bis in alle Zukunft hinein . . . " (a. a. 0., 139). 2

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ändern können. Eine Anerkennung des historischen Charakters des Staates würde die naturrechtliche Grundlage der Staatstheorie dieser Schule völlig zerstören. Selbstverständlich ist dieses Festhalten an den naturrechtlichen Grundlagen ihrer Staatstheorie keine Frage der Logik oder abstrakt-theoretischer Überlegungen, sondern im Gegenteil unmittelbarer Ausdruck einer Klassenposition. Ganz besonders deutlich hat dies einmal W. Schweitzer ausgesprochen, als er schrieb: „Diese (Interessen-) Strukturen müssen in den Industrieländern auf friedlichem Wege verändert werden, da katastrophenartige Revolutionen ein hochindustrialisiertes Volk dem Ziel einer gerechten Ordnung nicht näherbringen, sondern es wirtschaftlich, sozial und politisch zurückwerfen würden." 1 Das politische Ziel besteht also in einem Auffangen revolutionärer Bewegungen und in ihrer Umwandlung in Reformbestrebungen. Die Parteinahme für die Klasseninteressen der Bourgeoisie beeinflußt also unmittelbar die Revolutions- und Staatstheorie des religiös fundierten Naturrechts. Da der Staat in Zukunft höchstens Reformen, aber keine revolutionären Umgestaltungen erfahren soll, muß er für Vergangenheit u n d Zukunft an abstrakte, metaphysische Prinzipien gebunden werden. So stehen wir am Ende bei der Betrachtung dieser Schule vor dem paradoxen Ergebnis, daß der Mensch zwar frei war, in den staatlichen Zustand einzutreten, aber nicht die Freiheit besitzen soll, diesem Zustand ein Ende zu bereiten. Eine weitere, in der heutigen bürgerlichen Ideologie wichtige Strömung wird vom Positivismus geprägt. Ihr kommt in der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus eine besonders hohe Bedeutung zu, da sie außerordentlich gut dazu geeignet ist, die Einzelwissenschaften voneinander zu trennen und dadurch zu verhindern, aus. ihren Erkenntnissen Bausteine für ein wissenschaftlich fundiertes allgemeines Weltbild zu gewinnen. 2 Positivistische Auffassungen zum Problem der Staatsentstehung sind zum großen Teil uninteressant, da sie sich häufig damit zufriedengeben, die Tatsachen einfach nur festzustellen. Ein sehr bekannter Staatstheoretiker der positivistischen Schule, Kjeilen, hat dies einmal folgendermaßen begründet: „Was die Zeit von unserer Wissenschaft verlangt, ist Klarheit über die Wirklichkeit, nicht etwa logische Konstruktion. Zu diesem Zwecke liegt nichts näher, als sich bei der Erfahrung im täglichen Leben und den allgemeinen Vorstellungen um uns herum R a t zu holen" 3 , d. h. an die Stelle theoretischer Durchdringung der Wirklichkeit die Reduzierung auf die Empirie vorzunehmen. Die Staatsentstehung wird auf „das reine Macht- und Willensleben" 4 zurückgeführt und im einzelnen weder näher begründet noch untersucht. 1

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W. Schweitzer, Thesen zum Thema „Revolution". Zeitschrift für evangelische Ethik 13 (1969), 230. Vgl. hierzu H. Horstmann, Zur weltanschaulich-ideologischen Funktion des Positivismus und der positivistischen Denkweise in der Wissenschaft. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 18 (1970), 1464 ff. R. Kjellen, Der Staat als Lebensform. Leipzig 1917, 7. Ebenda, 207.

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Der Positivismus hat seit seiner Begründung durch Comte eine ganze Reihe von Veränderungen erlebt und verschiedene Schattierungen ausgebildet. Unter den heutigen positivistischen Richtungen ist für das hier behandelte Thenia die Wertphilosophie von besonderem Interesse. Diese Schule zeichnet sich dadurch aus, daß sie „die Quelle und den Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht in der objektiven Realität (sucht), sondern im ,Wahrnehmungsgegebenen', in subjektiven ,Erlebnisströmen' "'.t Zwar wird die Wirklichkeit als objektiv existierend anerkannt, aber sie ist nicht Gegenstand der Untersuchung. Erforscht wird lediglich das Wertempfinden.Über die Staatsentstehung gehen die Meinungen der Anhänger dieser Richtung auseinander. Während Horneffer anzweifelt, ob „es überhaupt jemals in der Geschichte der Menschheit staatslose Zustände gegeben habe""', ist Jerusalem von dem historischen Vorgang der Staatsentstehung überzeugt. i Er führt jedoch diesen Vorgang in völliger Übereinstimmung mit der oben charakterisierten Ausgangsbasis ausschließlich auf subjektive Faktoren zurück, nämlich auf ein „System sinnhaften Verhaltens" 5 der Staatsbürger, wobei die Voraussetzung im Vorhandensein gewisser „Wertüberzeugungen", denen gegenüber es kein „neutrales Verhalten" geben könne 0 , gesehen wird. Der letzte Grund des staatlichen Daseins aber wird im „Geist der Rechtsgemeinschaft" 7 erblickt, die die „ k o n s t a n t e Basis des staatlichen Handelns" darstellt, „so daß (der Geist der Rechtsgemeinschaft) begrifFsnotwendig mit der Entstehung des Staates gleichfalls zur Entstehung gelangt und erst mit seinem Untergang verschwindet." 8 Wie wenig ein solches subjektivistisches Herangehen das Problem der Staatsentstehung zu klären vermag, zeigt sich mit aller Deutlichkeit am konkreten Beispiel. Jerusalem hat sich die Germanen als Demonstrationsobjekt gewählt. Ausgehend von der „germanischen Kulturgemeinschaft'' 9 und ihren einheitlichen Wertvorstellungen kommt er zu der Auffassung eines „germanischen Volksstaates", der ein Gemeinschaftssystem gewesen sei, auf dem Blutsverwandtschaftsprinzip beruht habe und durch das Gemeineigentum an Grund und Boden charakterisiert sei. 10 Mit dieser Interpretation wird klar, wie der subjektiv-idealistische Ausgangspunkt nicht nur das Wesen des Staates verhüllt, sondern darüber hinaus die Grenze zwischen Urgemeinschaftsordnung und 1

H. Horstmann, a. a. O., 1464. So z. B. führt F. VV. Jerusalem, Der Staat. Ein Beitrag zur Staatslehre. Jena 1935. (¡f., folgendes aus: „Man könnte das auch so formulieren, daß die Wirklichkeit sich als .Objektivität' darstellt, während der Wert das Subjekt erfüllt, es beherrscht, oder anders: dio Wirklichkeit ist uns ein Gegenständliches, der Wert dagegen ein Zuständliches, d. h. ein Moment, das uns besitzt, von dem wir erfüllt sind." ;! R. Horneffer, Die Entstehung des Staates. Eine staatsheoretische Untersuchung. Tübingen 1933, 1. F. W. Jerusalem, a. a. 0., 146f. r > Ebenda, 80. « Ebenda, 141. ' Ebenda. 10 8 Ebenda, 146 f. » Ebenda, 98. Ebenda, 82, 98, 100. 2

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Klassengesellschaft völlig verwischt. Die angeführten Merkmale eines germanischen „Volksstaates" gehören alle zum Wesen einer vorstaatlichen Gesellschaft. Die wertphilosophische Betrachtungsweise ist auch nicht in der Lage, den weiteren Fortgang historischer Entwicklung theoretisch zu erfassen. So z. B. muß sich Jerusalem damit begnügen, den Übergang vom germanischen „Volksstaat" zum „Gefolgschaftsstaat" durch die Auswirkungen einer Idee zu begründen, der „Idee der königlichen Gefolgschaft", wobei sich gegenüber dem vorangegangenen Zustand nichts Wesentliches geändert haben soll. 1 In diesem Falle muß man dem Autor zustimmen, handelt es sich doch bei diesem „Gefolgschaftsstaat" noch immer um einen Zustand, der v o r der Herausbildung des Staates lag, und demzufolge waren die Grundlagen der älteren Ordnung zumindest noch nicht restlos beseitigt. Mit der Herausbildung des Lehnsstaates wird schließlich die dritte und letzte Etappe germanischer Staatsentwicklung nach Jerusalem vollzogen. In diesem Zusammenhang verwahrt er sich ausdrücklich dagegen, die Ursachen für diese Entwicklung in „wirtschaftlichen Momenten" zu suchen, sondern führt sie — wie auch die älteren Veränderungen — auf das Streben jedes einzelnen Menschen „nach größerer Selbständigkeit . . . innerhalb der Formen des Gemeinschaftsstaates" zurück 2 und damit wiederum auf einen subjektiven Faktor. Aber damit nicht genug: Der Übergang zum Lehnsstaat war nach Meinung dieses Autors nicht mit wesentlichen Veränderungen in den sozialen Beziehungen verbunden 3 , so daß also die gesamte Entwicklung der Staatsbildung bei den Germanen angeblich eine gleitende Skala unwesentlicher Veränderungen war, und zwar auf einer ewig gleichbleibenden Grundlage menschlicher Eigenart. Hier kann man nur mit Engels antworten, daß es besonders schlimm in den historischen Wissenschaften um solche „ewigen Wahrheiten", bestellt ist. 4 Sie lassen dem subjektiven Ermessen freien Spielraum und reduzieren die Wahrheitsfindung auf die Formulierung eines subjektivistischen Wertempfindens. 5 Ein Erkenntniszuwachs zum Problem der Staatsentstehung ist von dieser Position aus sicher nicht zu gewinnen. Es wäre jedoch eine Fehlinterpretation, würde man in dieser Schule lediglich eine Zufallserscheinung erblicken. Wenn sie sich auch auf ältere Vorbilder — wie vor allem auf Dilthey oder Rickert — stützen kann, so ist es aber bezeichnend, wenn sich diese Denkrichtung in der Staats- und Rechtstheorie insbesondere zwischen den beiden Weltkriegen ausbreitete, zu einer Zeit also, als nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution der Glaube an die Unerschütterlichkeit der bestehenden Ordnung stark ins Schwanken gekommen war. Aber auch in der heutigen politischen Wirklichkeit finden diese Gedanken 1

Ebenda, 98, 113. 2 Ebenda, 119. Ebenda, 98. '* Marx-Enge),;, Werke Bd. 20. Berlin 1902, 82. '• Vgl. hierzu M. Tliom, Der Einfluß des ideologischen Faktors auf die Wahrheitskonzeptionen der vormarxistischen bürgerlichen Philosophie. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 19 (1971), 980.

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einen guten Nährboden. Auch heute vollzieht sich ein allgemeiner Umbruch, und die Zukunft erscheint manch einem ungewiß. Im Bestreben, zu einer „Überwindung der tatsächlichen Klassenkampfsituation durch Partnerschaft" beizutragen, wird der Klassencharakter des Staates vernebelt, indem man lediglich vom „Kulturstaat" spricht und ihn verstanden wissen möchte als einen „wertempfangenden, wertgebundenen, wertoffenen und Werten dienenden" Staat. 1 Ob auf Vergangenheit oder Zukunft bezogen, immer erscheint der Staat bei Vertretern dieser Schule als eine klassenindifferente Institution, die ihre Existenz herleitet aus den gemeinsamen „Wert Vorstellungen" ihrer Bürger. Auf diese Weise soll der Staat als ein unentbehrliches Kulturgut empfunden und als solches fest im Bewußtsein der Menschen verankert werden. Alle revolutionären Bewegungen der Vergangenheit beweisen jedoch, daß auf diese Weise der Austragung antagonistischer gesellschaftlicher Widersprüche kein Damm entgegengesetzt werden kann. Die für die bürgerliche Ideologie der Gegenwart wohl bedeutungsvollste Richtung wird von der Konvergenztheorie sowie einer ihrer Spielarten, der Konflikttheorie, repräsentiert. Im Unterschied von der vorher behandelten Richtung befaßt sie sich nicht mit subjektiven Wertvorstellungen, sondern mit der gesellschaftlichen Realität. Sie tut dies aber auf der Grundlage einer abstrakt verstandenen Rationalität und endet dabei ebenfalls sehr bald bei einer klassenindifferenten Auffassung von der Gesellschaft. 2 Wenn es sich bei Konvergenz- und Konflikttheorie auch um innerlich zusammengehörige bürgerliche Gesellschaftstheorien handelt, so ist es aber dennoch zweckmäßig, sie an dieser Stelle getrennt zu behandeln. Die Darstellung sei mit der Konvergenztheorie begonnen. Innerhalb der Anhänger dieser Richtung gibt es eine Vielzahl individueller Nuancen. Dennoch läßt sich ein einheitlicher Kerngedanke herausarbeiten, der in der Auffassung besteht, die Entwicklung der Gesellschaft sei in Vergangenheit und Zukunft einzig und allein von den Produktivkräften her bestimmt und daher spielten und spielen vor allem künftig die Eigentumsverhältnisse keine Rolle.3 Die Schlußfolgerung im Hinblick auf den Grundwiderspruch unserer Epoche lautet dann: Es gibt lediglich einen zeitlich begrenzten Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus; mit der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte werden sich auf Grund objektiver Notwendigkeiten die gesellschaftlichen Strukturen einander angleichen, und am Ende wird eine einheitliche Gesellschaftsordnung vorhanden sein. 4 1 A. Arndt, Sozialistische Staatspolitik — heute. Christentum und demokratischer Sozialismus. München 1958, 115, 118. - Vgl. hierzu H. Ley und M. Klein, Zur Kontinuität des Kampfes der marxistisch-leninistischen Partei gegen die bürgerliche Philosophie nach 1945. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 19 (1971), 612. 3 H. Meißner, a. a. 0., 23; O. Bergner und W. Jopke, Theoretische Probleme des ideologischen Klassenkampfes zwischen Sozialismus und Kapitalismus in der Gegenwart. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 16 (1968), 1428. 4 H. Meißner, a. a. 0., 45ff.; G. Kröber, Die Kategorie „Struktur" und der kategorische Strukturalismus. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 16 (1968). 1320f.

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Es ist offenkundig, wie sehr diese Konzeption darauf abzielt, für die kapitalistische Gesellschaftsordnung eine optimistische und damit, massenwirksame Prognose aufzustellen, dem Sozialismus die neue, höhere Qualität sozialökonomischer Entwicklung abzusprechen und damit den Grundwiderspruch unserer Epoche zu verfälschen. Diese Theorie ist also vor allem zukunftsorientiert. Aber wie bisher jede einflußreiche Gesellschaftstheorie, so hat auch diese Auswirkungen .auf andere Wissensgebiete, und so kommt es, daß sie auch in der Geschichtswissenschaft ihre Widerspiegelung findet. Für das Gebiet der alten Geschichte sei ein Beispiel herausgegriffen, das allerdings in seinen Ursprüngen schon etwas weiter zurückliegt. Es handelt sich dabei um die Untersuchungen Heichelheims über die Wirtschaftsgeschichte des Altertums, deren erste Auflage bereits 1938 erschienen ist. Wenn jedoch diese Arbeit im Jahre 1969 erneut aufgelegt worden ist, dann ausschließlich deshalb, weil sie ausgezeichnet dazu geeignet ist, die Konvergenztheorie historisch zu begründen. In den 30er Jahren wurden im übrigen auch von anderer Seite Elemente ausgebildet, die heute in die Konvergenztheorie eingegangen sind, so z. B. die von Berle und Means aufgestellte These einer Trennung zwischen Eigentum und Kontrolle der Produktionsmittel durch Industriemanager als „Beweis" für die schwindende gesellschaftliche Bedeutung des Privateigentums und damit auch für die angeblich sich vollziehende Annäherung ehemals antagonistischer Klassen. 1 Die Formulierung dieser Auffassungen war zu jener Zeit sicher kein Zufall, war doch in den 30er Jahren die allgemeine Krise des Imperialismus offenkundig geworden und hatte sich entgegen allen anderslautenden Prognosen die sozialistische Gesellschaftsordnung in der Sowjetunion siegreich durchgesetzt. Mit Theorien dieser Art sollte den Klassenwidersprüchen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft entgegengewirkt werden. Die Konvergenztheorie konnte sich jedoch erst in den 50er Jahren voll ausbilden. Zielten ältere Theorien darauf ab, eine Annäherung der Klassen innerhalb der bürgerlichen Nationen zu begründen, verfolgt die Konvergenztheorie ein umfassenderes Ziel: den Nachweis einer Annäherung von Kapitalismus und Sozialismus als Gesellschaftsordnungen. Damit ist diese Theorie eine unmittelbare Reaktion der bürgerlichen Ideologie auf die Entwicklung des Sozialismus zum Weltsystem. Indem sie eine Konvergenz der Gesellschaftsordnungen behauptet, leugnet sie den Grundwiderspruch unserer Epoche, der sich nach dem 2. Weltkrieg zu einem Widerspruch zwischen Imperialismus und Sozialismus ausgeweitet hat. Die Vertreter der Konvergenztheorie folgen dabei dem gleichen Grundschema wie in der Vergangenheit und erklären den für unsere Zeit bestimmenden Antagonismus lediglich zur vorübergehenden Erscheinung. Als neues, wesentliches Moment zur Begründung dieser Auffassung kommt die wissenschaftlich-technische Revolution hinzu, die eine sc'heinbare materialistische Erklärung darstellt und die die objektive Notwendigkeit einer Konvergenz der Gesellschaftsordnungen beweisen soll. Es 1

A. A. Berle und G. Means, The modern Cooperation and private property. New York 1932.

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wird noch zu zeigen sein, daß die Arbeit Heichelheims gerade zur historischen Untermauerung des zuletzt genannten Gesichtspunktes einen wichtigen Beitrag leistet. Zur allgemeinen historischen Vertiefung einer Konvergenz der Gesellschaftssysteme kann jedoch Heichelheim bei seiner Untersuchung historisch weit zurückliegender Perioden nur durch einen kühnen Brückenschlag eine Begründung beibringen. Gleich zu Beginn seiner Darlegungen stellt er fest: „Noch nie dagewesene Zusammenballungen von totalen Planstaaten über gewaltige Erdräume hin beginnen im politischen Sein unserer Welt, wenn Verfasser recht sieht, auf Grund der neuen Ideologien und Techniken hin zu entstehen, die wenig mehr mit Antike, dem Islam und dem christlichen Abendland unserer näheren Vergangenheit zu tun haben. Aus dem friedlichen und kriegerischen Agon der neuen Mächte dämmert für den Einsichtigen bereits die Idee eines neuen, fast allmächtig ordnenden Pharaonentunis über die ganze Welt herauf, eine Völker- und Klassenelend durch Ordnungen regulierende Welt Verwaltung." 1 Auch in der Zukunftsvision Heichelheims spielt also die Veränderung der Eigentumsverhältnisse keine Rolle, auch bei ihm erscheint — neben der Ideologie — die Technik als wichtigster Demiurg. Als Althistoriker denkt er jedoch in einer anderen Richtung als die mehr soziologisch orientierten und eine „nachindustrielle Gesellschaft" propagierenden übrigen Anhänger dieser Theorie. Bei Heichelheim erscheint im oben wiedergegebenen Zitat der Zukunftsstaat als eine ins Gigantische übersteigerte Wiederbelebung des altägyptischen Gesellschaftsmodells. 2 Offenkundig geht er aber dabei von der gleichen Position aus wie auch andere Vertreter dieser Schule und nimmt — allerdings auf der Basis eines noch größeren Formalismus — einige willkürlich herausgegriffene übereinstimmende Strukturelemente zum Anlaß, um Gesellschaften ganz verschiedener Entwicklungshöhe, lediglich quantitativ unterschieden, auf eine Stufe zu stellen. Das Ergebnis ist eine historische Variante der Konvergenztheorie, die aber die gleichen methodischen Grundlagen und Fehler wie die allgemein bekannte Form aufweist. In bezug auf die Staatsentstehung ist dieser Ausgangspunkt Heichelheims von weitreichender Konsequenz. Da er einzig und allein von der Technik als dem bewegenden Element der Geschichte ausgeht, sieht er den Einschnitt zwischen Urgemeinschaftsordnung und Staat im Übergang zu Bodenbau und Viehzucht. 3 Mit diesem Übergang ist nach seiner Auffassung eine „stabile soziale Klassenscheidung entstanden", die „bis zum Beginn des Münzgeldkapitalismus der Antike . . . so gut wie unverändert gedauert" habe' 1 . Xeue 1 2

s

F. M. Heichelheim, Wirtschaftsgeschichte des Altertums Bd. 1. Leiden 1969, 3. Es tut dem Prinzip keinen Abbruch, wenn Heichelheim an anderer Stelle seiner Arbeit die altorientalischen Stadtkulturen insgesamt als Ausgangspunkt und ihre Organisationsprinzipien als sich heute bereits ankündigende Strukturformen der künftigen Gesellschaft bezeichnet (vgl. F. M. Heichelheim, a. a. O., 108f.) Ebenda, 56. Ebenda.

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Klassenordnungen seien erst durch die Antike, den Islam und das mittelalterliche und moderne Europa hervorgebracht worden. Zu diesen Auffassungen ist zunächst einmal festzustellen, daß Heichelheim die Herausbildung des Staates in einem inneren Zusammenhang mit der Klassenbildung sieht. So realistisch diese Ansicht erscheinen mag, so trifft sie aber dennoch nicht den Kern der wirklichen Kausalität. Dies wird sofort deutlich, wenn man in der Arbeit Heichelheims nach den Ursachen für die Klassenbildung forscht. Man wird und kann auf diese Frage bei ihm keine Antwort finden. Würde der Autor nach diesen Ursachen forschen, müßte er notwendigerweise bei den Eigentumsverhältnissen mit seiner Analyse ansetzen. Aber gerade dies schließt die theoretische Grundlage Heichelheims aus. So bleibt die Anerkennung der Klassenspaltung im Prozeß der Staatsbildung nicht mehr als di^ Konstatierung einer Erscheinung ohne jeden Versuch, daraus eine theoretische Erkenntnis zu gewinnen. Aber dies ist nicht der einzige Einwand gegen die angeführten Auffassungen Heichelheims. Wichtiger noch ist der Zeitpunkt, an dem sich nach seiner Darstellung die Staatsentstehung vollzog. Die Entscheidung Heichelheims, diesen Zeitpunkt im Übergang zu Bodenbau und Viehzucht zu sehen, weist eine strenge innere Logik auf und befindet sich in völliger Übereinstimmung mit Grundthesen der Konvergenztheorie, geht sie doch von der tatsächlich mit dem Übergang zum Neolithikum erreichten neuen und höheren Qualität im Entwicklungsstand der Produktivkräfte aus. Wenn Heichelheim auch zweifellos recht hat, wenn er ausführt, daß damit die Grundlagen für die gesamte spätere Zivilisation geschaffen wurden1, so ist jedoch noch keineswegs sofort die Notwendigkeit für den Zerfall der Urgemeinschaftsordnung gegeben. Im Gegenteil, mit dem Übergang zu Bodenbau und Viehzucht erlebte diese sozialökonomische Formation zunächst einmal ihre Blütezeit. Die neuen Produktivkräfte ermöglichten eine Entwicklung auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, die aber zunächst noch im Rahmen der Urgemeinschaftsordnung vollzogen wurde. Daß diese Ordnung schließlich durch gesellschaftliche Arbeitsteilungen, Handel, Krieg und Raub allmählich untergraben wurde, sieht Heichelheim2, ohne jedoch die wichtigste Auswirkung, die Veränderung der Eigentumsverhältnisse, in die Betrachtung einzubeziehen. Daher erhält der Staat bei Heichelheim eine völlig unspezifische Funktion. Gestützt auf die Definitionen Jellinecks und Gierkes, Staatstheoretiker bzw. Rechtshistoriker des 19. Jh., sieht Heichelheim den Staat im Neolithikum deshalb als gegeben an, weil „seit dieser Zeit überall auf abgegrenzten Landgebieten menschliche Verbände (sitzen), die planmäßig nach einer bestimmten Ideologie organisiert und souverän in ihrer Herrschaft sind." 3 Mit diesen Merkmalen ist jedoch das Wesen des Staates nicht erfaßt. Für diese nichtssagende und von der wissenschaftlichen Erkenntnis längst überholte Bestimmung des Staates sind Jellineck und Gierke deshalb gute Kronzeugen, weil der erstere i Ebenda, 54 f.

2 Ebenda.

Ebenda, 57.

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lediglich von der „Macht des Faktischen" ausging und den Staat aus sich selbst, aus einem eigenen und besonderen Staatswillen, erklärte, und der andere in der Weltgeschichte eine Bewegung ohne qualitative Unterschiede, eine bloße Ausweitung und Differenzierung der gesellschaftlichen Organisationsformen erblickte. Diese positivistischen Konzeptionen lassen sich zwanglos in die Vorstellungen Heichelheims über die Staatsentstehung einbauen und mit seiner Grundthese von der Rolle der Produktivkräfte in der Geschichte vereinbaren. In völliger Übereinstimmung mit der auf zeitgenössische Probleme bezogenen Variante der Konvergenztheorie sieht also Heichelheim das wesentliche Element im Prozeß der Staatsentstehung in der Entwicklung der Produktivkräfte, nicht aber in der Veränderung der Produktionsverhältnisse. Nun wird kein Marxist die Bedeutung der Produktivkräfte in der Geschichte der Menschheit herabzumindern versuchen; eine Mechanik zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Veränderung der sozialökonomischen Verhältnisse wird er jedoch nicht voraussetzen, da sie aller bisherigen Erfahrung zuwiderläuft. Die Produktivkräfte haben immer nur bestimmte M ö g l i c h k e i t e n geschaffen, ihre Verwirklichung jedoch hing immer von einer Vielzahl im Einzelfalle unterschiedlicher Bedingungen ab. Vor allem aber haben die Produktivkräfte niemals unvermittelt auf den gesellschaftlichen und politischen Überbau, wozu bekanntlich der Staat gehört, gewirkt, sondern immer nur über die Basis. Wenn aber gerade diese Basis aus der Betrachtung ausgeklammert wird, dann ist die notwendige Folge 1. eine mechanistisch-materialistische Erklärung für die Entstehung des Staates, 2. eine falsche Einschätzung der wirklichen Funktion bzw. des Wesens des Staates und 3. eine unrichtige zeitliche Bestimmung für die Staatsentstehung und damit faktisch eine Verwischung der Zäsur zwischen klassenloser und staatlich organisierter Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Eine einflußreiche Gruppierung innerhalb der Anhänger der Konvergenztheorie wird von den Vertretern der Konflikttheorie gebildet. Die Ursache für die Entstehung dieser Richtung ist ebenfalls in den Problemen unseres heutigen gesellschaftlichen Lebens zu suchen. Wie schon der Name besagt, konzentrieren die Vertreter dieser Richtung ihr Interesse auf gesellschaftliche Konflikte und deren Lösung. Sie basieren dabei auf einer ganzen Reihe bekannter Thesen und Theorien, wie z. B . der Theorie von der Industriegesellschaft, der Auffassung von der pluralistischen bzw. offenen Gesellschaft und der revisionistischen These von der Sozialpartnerschaft. Ihr Grundanliegen besteht in der politischen Beherrschung (der „Kanalisierung" bzw. „Institutionalisierung") gesellschaftlicher Widersprüche. 1 Sie wollen den „Prozeß der revolutionären Zuspitzung 1

Vgl. z. B. R. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart. München 1961, 161 f., 199, 228; R. Lindner, a. a. O., 93f.; L. A. Coser, Theorie sozialer Konflikte. Neuwied — Berlin 1963, 95f.; R.Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft (im folgenden zitiert: Klassenkonflikt). Stuttgart 1957, 73,136. Zur marxistischen Charakterisierung dieser Theorie vgl. 0 . Bergner und W. Jopke, a. a. 0 . , 1430ff.

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in westlichen Gesellschaften zum Stillstand" bringen J , indem sie zur Verlängerung der spätbürgerlichen Gesellschaftsordnung praktikable soziologische Methoden und Konzepte zur Verfügung stellen. Theoretisch betrachtet besteht der Kern der Konflikttheorie in der Prämisse eines ewigen und qualitativ gleichbleibenden gesellschaftlichen Widerspruchs. Angeblich weise jede Gesellschaft Konflikte auf, und dies werde auch für alle Zukunft so bleiben, so daß „nicht der Konflikt ein abnormes Phänomen (ist), sondern das Fehlen von Konflikten" 3 . Dies ist nur insofern richtig, als der Widerspruch in jedem Falle tatsächlich die historische Bewegung bewirkt und bewirkt hat. Damit ist jedoch noch nichts über die Qualität dieser Widersprüche ausgesagt. Es gehörte mit zu den bedeutungsvollsten Erkenntnissen von Marx, Engels und Lenin, die Einheit der Menschheitsgeschichte theoretisch erfaßt zu haben. Sie wiesen jedoch nach, daß es sich dabei uni eine dialektische Einheit handelt, die sich in Form einer Triade von der Urgemeinschaftsordnung über verschiedene Stufen der Klassengesellschaft zum Kommunismus entwickelt. Einheit der Menschheitsgeschichte schließt also Entwicklung über qualitativ grundsätzlich unterschiedliche Gesellschaftsformationen ein. Auf den Widerspruch bezogen bedeutete dies die Unterscheidung zwischen antagonistischen und nichtantagonistischen Widersprüchen. Während die zuerst genannte Kategorie von WidersprLiehen Wesen und Bewegungsgesetze aller Formen der Klassengesellschaft beherrscht hat, bewirken in der klassenlosen Gesellschaft die nichtantagonistischen Widersprüche die historische Entwicklung. Wie hoch Engels den Umschlag von den nichtantagonistischen in die antagonistischen Widersprüche bewertete, hat er im „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" ausführlich dargelegt/ 1 Mit diesem Um1

2

3

R. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, 161. Vgl. auch 125: „Wo Konflikte anerkannt und geregelt werden, bleibt der Prozeß des Wandels als a l l m ä h l i c h e E n t w i c k l u n g erhalten" (Sperrung von der Verfasserin). Vgl. hierzu bes. R. Dahrendorf, Klassenkonflikt, 73f.; ders., Gesellschaft und Freiheit. 216; R. Lindner, a. a. O., 91 f.; L. A. Coser, a. a. O., 35. R. Lindner, a. a. O., 91. Dahrendorf, dem die Arbeiten der Klassiker des Marxismus-Leninismus gut bekannt sind, bezeichnet ihre Auffassungen zu dieser Frage als einen „Trick", der einzig und allein dazu dienen sollte, um die Notwendigkeit einer Abschaffung des Privateigentums zu begründen (Gesellschaft und Freiheit, 154). Der echte Trick wird jedoch von Dahrendorf und anderen Anhängern der Konflikttheorie verübt, wenn sie das Privateigentum als irrelevant für die Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse bezeichnen und statt dessen die Konflikte direkt aus den Herrschaftsverhältnissen ableiten. Die Lösung ist dann relativ einfach und verlangt lediglich eine sinnvolle „Autoritätsverteilung", wobei „Autorität" bzw. „Herrschaft" als „irreduzible Faktoren (begriffen werden), von denen die mit rechtlichem Privateigentum bezeichneten Sozialbeziehungen sich ableiten lassen" (R. Dahrendorf, Klassenkonflikt, 139 und 144). Und weiter heißt es bei Dahrendorf: „Die Kontrolle über Produktionsmittel ist nur ein S o n d e r f a l l der Herrschaft, ihre Verknüpfung mit juristischem Privateigentum ein p r i n z i p i e l l z u f ä l l i g e s P h ä n o m e n der industrialisierenden Gesellschaft Europas" (R. Dahrendorf, a. a. 0., 138 — Sperrungen

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schlag, der gleichbedeutend war mit der Entstehung von Privateigentum, Klassen und Staat, erhielt auch der gesellschaftliche Widerspruch eine neue Qualität, der im weiteren Verlauf der historischen Entwicklung den Klassenkampf zur Notwendigkeit werden ließ. Diesen Zusammenhang zwischen Klassenkampf und Privateigentum wollen jedoch die Vertreter der Konflikttheorie mit allen Mitteln leugnen, da sie sonst ihr Ziel, die „Kanalisierung" der Klassenkonflikte in der spätbürgerlichen Gesellschaft, nicht erreichen können. Der Klassenkampf wird daher bei Vertretern dieser Richtung zu einer Art Irrtum, der aus mangelhafter Erfahrung der Akteure geboren ist. Diese Auffassungen sind auch von Bedeutung sowohl für die allgemeine Staatstheorie als auch für die Auffassungen über die Entstehung des Staates. Zunächst einmal versucht Dahrendorf, der heute wohl am besten bekannte Vertreter dieser Richtung, den Staat seines Wesens zu entkleiden, indem er ihn mit anderen gesellschaftlichen Institutionen und Gruppierungen auf eine Stufe stellt. 1 Da es in jedem dieser Verbände „Klassenkonflikte" geben kann 2 , denen natürlich mit geeigneten Mitteln begegnet werden muß, verliert der Staat den Charakter eines besonderen Herrschaftsinstrumentes; er ist eine Institution neben anderen, und der Kampf um die Macht im Staat ist ein Konflikt neben anderen 3 . Nachdem die Konflikte zur ewigen Kategorie mit gleichbleibender Qualität erklärt und der Staat seines besonderen Charakters entkleidet worden sind, kann man ohne Schwierigkeiten das Problem der Staatsentstehung ins Reich der Fabel verweisen. Dahrendorf behauptet daher, „ . . . Gesellschaften ohne Herrschaft sind uns bisher nur in der Phantasie utopischer und ethnologischer Autoren bekannt . . Aus diesem Grunde fehlt ihm auch völlig der Zugang zum Verständnis der Auffassungen von Karl Marx, dem er wegen seiner Ausführungen über die (ursprüngliche und künftige) klassenlose Gesellschaft fehlende Logik vorwirft. „Entweder ist der Klassenkonflikt ein universelles soziales Phänomen — dann kann es keine klassenlose Gesellschaft geben . . . Oder es gibt eine klassenlose Gesellschaft - dann ist Marx' Klassentheorie eine durchaus unverbindliche Beschreibung eines einmaligen historischen Prozesses." 5 Für einen Anhänger der Konflikttheorie kann es angesichts dieser angeblichen Alternative nur eine Entscheidung geben: die These von der Ewigkeit des Konfliktes. Damit aber tritt der Staat gleichsam zurück ins Glied gesellschaftlicher Institutionen und wird nicht mehr als eine Besonderheit von der Verfasserin). Daher bietet er allen Ernstes der Arbeiterklasse an, für fehlendes Privateigentum an Produktionsmitteln sich durch die Möglichkeiten einer Autoritätsbeteiligung z. B. in einem Fußballklub entschädigen zu lassen (R. Dahrendorf a. a. O., 142). i Ebenda, 141. 2 Ebenda, 142. 3 „Der politische Staat und die industrielle Produktion sind zwei prinzipiell unabhängige Herrschaftsverbände . . ." (R. Dahrendorf, a. a. O., 146). 4 Ders., Gesellschaft und Freiheit, 216. 5 Ebenda, 148 f.

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registriert. Seine Entstehung ist für Vertreter der Konflikttheorie kein wissenschaftliches Problem. Es ist wahrhaftig ein weiter Weg von den revolutionären Gedanken der frühen bürgerlichen Philosophen und Historiker der Aufklärung bis zu den heutigen Auffassungen über Staat und Staatsentstehung. Die neue Entwicklung ist eindeutig durch den Versuch gekennzeichnet, die Existenz der bestehenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu verewigen und in diesem Zusammenhang das Herrschaftsinstrument, den bürgerlichen Staat, als unausweichliche Notwendigkeit für alle Zukunft nachzuweisen. Die Mittel und Methoden zu diesem Ziel sind im einzelnen unterschiedlich. Sie laufen jedoch im Prinzip immer' wieder auf einige Kernpunkte hinaus: Verfälschung bzw. Leugnung des Klassencharakters des Staates, Leugnung oder zumindest Unterschätzung der Eedeutung von Privateigentum und Klassenkampf sowie Negierung des historischen Charakters des Staates. Diese Versuche sind nicht neu; sie sind so alt wie der Sieg der bürgerlichen Gesellschaftsordnung über den Feudalismus. Demzufolge hatten sich die Theoretiker der Arbeiterbewegung immer damit auseinanderzusetzen. In diesen Auseinandersetzungen haben in Abhängigkeit von den Erfordernissen des politischen Kampfes jedoch jeweils spezifische Fragen im Vordergrund gestanden. Unter unseren heutigen Bedingungen geht es um die Untersuchung, in welcher Weise die sozialökonomischen Beziehungen innerhalb einer sozialistischen Gesellschaft Aufgaben und Funktionen des Staates verändern und ihnen einen neuen Charakter verleihen. In diese Problematik ist die Frage nach den Ursprüngen des Staates ebenso eingebettet wie die Auseinandersetzung mit bürgerlichen Staats- und Staatsentstehungstheorien.. Während die bürgerlichen Theorien den Staat entweder von seiner sozialökonomischen Grundlage zu lösen oder diese Grundlage ihrem Wesen nach mit einer unveränderlichen Qualität auszustatten sich bemühen (was beides letztlich auf dasselbe hinausläuft), muß es der marxistischen Theorie um den Nachweis dieses unlösbaren Zusammenhanges zwischen gesellschaftlicher Basis und Charakter des politischen Überbaues gehen. Löst man den Staat von seiner sozialökonomischen Grundlage, dann macht man ihn einerseits zur ewigen Kategorie und verwischt andererseits den grundlegenden Unterschied zwischen sozialistischem und kapitalistischem Staat. Die Beiträge dieses Bandes stellen ein Bemühen dar, das Problem der Staatsentstehung unter dem oben genannten Aspekt zu studieren und damit einen Beitrag zur historischen Begründung der marxistischen Staatstheorie zu leisten.

A . P . KASHDAN

Byzanz und seine Kultur Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von G. Janke 1973. Etwa 240 Seiten - 45 Abb. - 1 Karte - 8° - 19,50 M Bestell-Nr. 7522535

(¿064)

Der Autor, ein führender Repräsentant der sowjetischen Byzantinistik, beschreibt in seinem Werk eine der wichtigsten Epochen des Byzantinischen Reiches (10.—12. Jh.). Den Begriff Kultur versteht er dabei in einem positiven und weiten Sinn, der die gesamte schöpferische Tätigkeit der Gesellschaft umfaßt, angefangen von der materiellen Produktion'bis hin zu den religiösen und künstlerischen Vorstellungen. In der Einleitung erhält der Leser einen allgemeinen Überblick über Geographie, Politik, Wirtschaft und Kultur des Landes. Die sich daran anschließende Untersuchung der sozialen Verhältnisse nimmt einen breiten Raum ein, da vom Autor auf alle gesellschaftlich wichtigen Gruppierungen eingegangen wird. Die Frage nach den Machthabern des Byzantinistischen Reiches, ihrer Ideologie und deren Niederschlag in der Kunst wird in den folgenden Kapiteln untersucht. Abschließend werden noch einmal die Entwicklungstendenzen, betonter Traditionalismus neben neuen Ideen und Kräften, innerhalb der Gesellschaft des 10.—12. Jahrhunderts zusammengefaßt. Dieses Buch, das auch anhand von zahlreichen Abbildungen Einblick in das Leben der byzantinischen Gesellschaft gewährt, wird mit seiner gelungenen Verbindung von gediegener Wissenschaftlichkeit und allgemeinverständlicher, lebendiger Darstellung weite Leserkreise ansprechen.

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HEINZ KREISSIG

Die sozialökonomische Situation in Juda zur Achämenidenzeit (Schriften zur Geschichte und Kultur des Alten Orients)

1973. 132 Seiten - gr. 8° Bestell-Nr. 7522076

32,-M

(2146/7)

Der Autor versucht, in die sogenannten dunklen Jahrhunderte der persischen Herrschaft über J u d a (6.-4. J h . v. u. Z.) mehr Licht zu bringen, indem er die ökonomische Basis der judäischen Gesellschaft und ihre soziale Gliederung untersucht. Dabei zeigt sich, daß die Gesellschaftsstruktur jedoch von den im ganzen Vorderen Orient des Altertums typischen Eigentums- und Abhängigkeitsformen geprägt ist. Entsprechend den geographischen und historischen Besonderheiten treten die altorientalischen Formen hier in Varianten auf, die eingehend analysiert werden. Durch die Charakterisierung der Klassensituation wird mehr vom Profil dieser Epoche deutlich als durch die zumeist übliche Einteilung der judäischen Bevölkerung in Priester, Leviten und Laiengeschlechter.

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