Axiome der Dämmerung: Eine Poetik des Lichts bei Boris Pasternak 9783412218652, 9783412225032

168 64 4MB

German Pages [478] Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Axiome der Dämmerung: Eine Poetik des Lichts bei Boris Pasternak
 9783412218652, 9783412225032

Citation preview

BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HARDER (†) und HANS ROTHE Herausgegeben von DANIEL BUNČIĆ, ROLAND MARTI, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY

Reihe A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN Begründet von REINHOLD OLESCH (†)

Band 82

Axiome der Dämmerung Eine Poetik des Lichts bei Boris Pasternak von

Christian Zehnder

2015 BÖH LAU V E R L A G K Ö L N W E IMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und des Hochschulrats der Universität Freiburg/Schweiz.

Christian Zehnder ist Assistent am Institut für Slavistik der Universität Freiburg/Schweiz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Boris Pasternak in Tschistopol, Winter 1941/42 (Foto: Vladimir Avdeev, aus der Sammlung der Familie Pasternak)

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22503-2

Inhalt Vorbemerkung .................................................................................................................. 7 Einleitung Zur schriftlichen Belebung des Lichts und Pasternaks „Axiomen der Dämmerung“..................................................................................................................... 9 1. Kapitel Das Licht als Fluchtpunkt des Inkarnationsproblems im russischen Symbolismus ..................................................................................................................... 77 2. Kapitel Mitleid mit der Dämmerung. Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts ........................................................................................................................... 120 3. Kapitel Die Epiphanie des Licht-Regens. Zur Sophiologisierung des Lichts in Sestra moja – žizn’ / Meine Schwester – das Leben .................................................... 166 4. Kapitel Von der Unaufgeklärtheit zur Mischung aus Unwissen und Leuchten. Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse....................................... 213 5. Kapitel Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie. Spektorskij und Ochrannaja gramota / Schutzbrief ................................................................................ 241 6. Kapitel Finstere Wellen, lichte Zukunft. Pasternaks sozialismusnahe Lyrik und das Paradox einer organischen Technik....................................................................... 303 7. Kapitel „Originelle“ Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid. Der Roman Doktor Živago.................................................................................................................... 345

8. Kapitel und Schluss Lichtpoetik als Metaphysik. Verinhaltlichung und „erfüllte“ Zukunft in Ljudi i položenija / Menschen und Standorte und Kogda razguljaetsja / Wenn es aufklart................................................................................................................ 403 Literaturverzeichnis......................................................................................................... 445 Index ................................................................................................................................... 470

Vorbemerkung „Axiome der Dämmerung“, der Titel der vorliegenden Untersuchung, ist ein zusammengezogenes Zitat aus einem frühen Prosafragment Boris Pasternaks („Byla vesennjaja noč’…“ / „Es war eine Frühlingsnacht…“, 1911). Er steht für die Spannung zwischen dem streng-begrifflichen und einem unbegrifflichen, quasi absichtslosen Denken, die den Philosophiestudenten und angehenden Dichter Pasternak beschäftigte. Wie sich diese Spannung in einer Poetik des Lichts entfaltet und eine ‚andere‘, man könnte sagen: eine konkrete Metaphysik herausbildet – das ist das Thema der nachfolgenden Kapitel. Bei der Untersuchung handelt es sich um eine überarbeitete Fassung der Arbeit Pasternak und die Poetik des Lichts, die im Dezember 2011 an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg/CH als Dissertation verteidigt wurde. Ein allgemeiner Teil zum Selbstverständnis der russischen Wortkultur als ‚Licht-Geschehen‘ wurde stark gekürzt; Fragen der Visualiät wurde, vor allem in der Einleitung, mehr Platz eingeräumt. Wichtige Publikationen zu Pasternak und verbundenen Gegenständen, die im Zeitraum von 2010 bis im Frühjahr 2013 erschienen, konnten noch eingearbeitet oder zumindest in Fußnoten erwähnt werden. Herzlich danken möchte ich an erster Stelle dem Betreuer der Arbeit, Prof. Dr. Jens Herlth (Freiburg), für die zahlreichen wertvollen Hinweise und kritischen Anmerkungen, für sein Vertrauen und seine Geduld – und dafür, dass das Gespräch anhält. Das Zweitgutachten hat Prof. Dr. Thomas Grob (Basel) erstellt. Auch ihm bin ich dankbar für wichtige Hinweise. Die Fragestellung der Arbeit ist ein Produkt meiner Zeit in München: Prof. Dr. Aage Hansen-Löve machte mich nachhaltig auf den russischen ‚Lichtsymbolismus‘ aufmerksam, Prof. Dr. Johanna Renate Döring weckte mein Interesse für Pasternak neu und ermunterte mich, bei Pasternak zu bleiben, und sie las später akribisch die ersten Fassungen der Studie. Auch ihnen beiden, meinen Münchner Lehrern, gilt mein herzlicher Dank. Für verschiedenste Hinweise in Gesprächen und Briefen danke ich Pëtr Pasternak (Moskau) Prof. Dr. Peter Alberg Jensen (Stockholm), Prof. Dr. Oleg Kling (Moskau), Prof. Dr. Leonid Heller (Lausanne), Prof. Dr. Filip Karfík (Freiburg), Dr. Ilja Kukuj (München), Dr. Regula Zwahlen (Freiburg) und – für die Gespräche über Bergson, Levinas, Blanchot, Jankélévitch – Jan Holzheu (Bern). Auch möchte ich Prof. Dr. Dr. h.  c. Rolf Fieguth (Freiburg), Prof. Dr. Yannis Kakridis (Bern), Prof. Dr. Edward Świderski (Freiburg) sowie PD Dr. Daniel Henseler (Freiburg) danken: Sie haben mich in die Slavistik eingeführt. Den Herausgebern, insbesondere Prof. Dr. Bodo Zelinsky (Köln), danke ich für die freundliche Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte“. Und mein herzlichster Dank für alles gilt meinen Eltern und meiner Familie.

Einleitung Zur schriftlichen Belebung des Lichts und Pasternaks „Axiomen der Dämmerung“ Il y a les expériences lumineuses de saint Jean de la Croix, des héséchiastes, et il y a aussi celles des néo-platoniciens et de Plotin et de tous les mystiques. Il y a le buisson de Moïse, il y a le feu de Jupiter. Hélas! il ne suffit pas qu’on en parle, il ne suffit pas d’en avoir entendu parler. Si on ne la ressent pas, cette lumière, elle n’est qu’une pauvre, dérisoire lumière littéraire. Eugène Ionesco, Journal en miettes

Licht ist nie ein Gegenstand, und doch ist es etwas. Mit dieser Beobachtung könnte man die Bedeutung des Lichts für die Kunst, genauer, für die Literatur in einem allerersten Schritt umreißen. Licht ist das unspezifischste Mittel – noch unspezifischer wäre nur die Leere –, das der Literatur zur Verfügung steht, und zugleich scheint es prädestiniert, die intimsten Zustände und Erlebnisse, d.h. in gewisser Weise gerade das Singuläre zum Ausdruck zu bringen. So kann etwa konventionellerweise eine Epoche in der Geschichte einer Zivilisation ebenso in Begriffen des Lichts charakterisiert werden (zum Beispiel das ‚helle‘ Kiewer Russland) wie ein einziger Augenblick im Leben eines einzelnen Menschen bzw. einer literarischen Figur – eine religiöse oder quasi-religiöse Erleuchtung, ein „Photismos“1. Falls das Licht tatsächlich als das umfassendste aller literarischen Motive gelten kann – und daher besser als eine ‚Grundkraft‘ bezeichnet würde –, so heißt das keineswegs, dass es damit schon erschöpfend abgesteckt wäre. Denn was ist eine solche Grundkraft? Unter welchen Bedingungen wird sie wirksam? In einer kulturgeschichtlichen Perspektive entfaltet das Licht unter Umständen in hohem Maße eine Spezifik, die es zu einem schwer verständlichen, jedenfalls erläuterungsbedürftigen Diskurselement machen kann,2 trotz seiner ‚Einfachheit‘. Es gehört nicht zum Thema der vorliegenden Untersuchung, die Frage nach einem spezifisch „russi1 Vgl. James, William: The Varieties of Religious Experience [1902]. Cambridge, Mass./London 1985, 204. 2 Vgl. Zajonc, Arthur: Catching the Light. The Entwined History of Light and Mind. New York/ Oxford 1993, 8/9: „Different ages and different peoples have been drawn to one or another of light’s parts. As I studied, it seemed to me that the characteristics of a culture are mirrored in the image of light it has crafted. Each, in its own way, attempted to uncover light’s nature and meanings, and so authored a tale of light. In the telling of that story, the culture reveals as much about itself, about the light of its people’s minds, as about nature’s light.“

10 Einleitung

schen“ Licht zu stellen.3 Boris Pasternak (1890–1960), um dessen Schreiben es hier gehen wird, ist unbedingt in einem gesamteuropäischen und nicht bloß russisch-sowjetischen Kontext zu sehen. Gleichwohl treten in der russischen Kultur des späten 19. und 20. Jahrhunderts gewisse Konstanten einer Licht-Verständigung auf, die nicht ohne Weiteres allgemein evident sind. Es ist deshalb angezeigt, mit einigen Überlegungen zum Licht als Medium der (literarischen) Kulturosophie4, d.h. der kulturellen Selbstreflexion oder Selbststereotypisierung durch Licht zu beginnen.

Verklärung als ästhetisches Paradigma und kulturosophischer Indikator Die russische Literatur hat sich, mit auffallender Konstanz, immer wieder in Begriffen des Lichts ihrer selbst zu vergewissern versucht. Auf dem Spiel steht jeweils eine Bestimmung des ‚Wesens‘ der Literatur im Verhältnis zum ‚wirklichen Leben‘, dessen organischer Teil sie sein oder dereinst werden soll. Das Licht wird zum Indikator dessen, was die Literatur im Kern ausmache und was sie zugleich mit ihrer Außenwelt verbinde. So beschrieb der Religionsphilosoph und Biograph Vladimir Solov’evs, der Fürst Evgenij Trubeckoj, 1914 alle schriftstellerische Tätigkeit in Russland als Suche nach dem Taborlicht: Вслед за подвижниками искали Фаворского света великие русские писатели. […] Чистое отвлеченное умозрение, равно как и отрешенное от жизни «искусство для искусства», у нас никогда не пользовались популярностью. […] Наше творчество, художественное и философское, всегда жаждало истины не отвлеченной, а действенной; величайшее, что есть в нашей литературе, было создано во имя идеала целостной жизни. Сознательно или бессознательно, величайшие представители русского народного гения всегда искали этого света, изнутри исцеляющего и преображающего жизнь как духовную, так и телесную.5 3 Eine solche Spezifik suggerierte zuletzt der Titel von Natascha Drubeks Studie Russisches Licht. Von der Ikone zum frühen sowjetischen Kino. Wien/Köln/Weimar 2012. Er verweist allerdings ironisch auf einen Typ elektrischer Lampen, die von einem russischen Ingenieur, Pavel Jabločkov, erfunden worden waren (ebd., 9). So changiert das „светотворчество“  / „Lichtschaffen“, das Drubek vorstellt, ständig zwischen internationaler Technikgeschichte und der Tradition russischer Ikonenmalerei bzw. Lichttheologie und führt so auch die Problematik des Diskurses um ein spezifisch „russisches“ Licht vor Augen. Vgl. dazu meine (Ch. Z.) Rezension in: Wiener Slawistischer Almanach 71 (2013), 389–402. 4 Zum Begriff der Kulturosophie siehe Grübel, Rainer/Smirnov, Igor: „Die Geschichte der russischen Kulturosophie im 19. und frühen 20. Jahrhundert“, in: Hansen-Löve, Aage (Hrsg.): „Mein Rußland“. Literarische Konzeptualisierungen und kulturelle Projektionen. Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 44. München 1997, 5–18. 5 Trubeckoj, Evgenij: „Svet Favorskij i preobraženie uma. Po povodu knigi svjaščennika P. A. Florenskogo ‚Stolp i utverždenie Istiny‘“, in: P. A. Florenskij: Pro et contra. Ličnost’ i tvorčestvo Pavla Florenskogo v ocenke russkich myslitelej i issledovatelej. Sankt-Peterburg 1996, 285–

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

11

Im Gefolge der Asketen suchten das Taborlicht auch die großen russischen Schriftsteller. […] Rein abstrakte Spekulation ebenso wie das vom Leben abgelöste „l’art pour l’art“ haben sich bei uns nie großer Beliebtheit erfreut. […] Unser künstlerisches und philosophisches Schaffen dürstete nie nach abstrakter, sondern stets nach wirkender Wahrheit; das Höchste, was es in unserer Literatur gibt, wurde im Namen des Ideals vom ganzen Leben geschaffen. Bewusst oder unbewusst, haben die größten Vertreter des russischen Volksgenius immer dieses Licht gesucht, welches das Leben, das geistige ebenso wie das körperliche, von innen her heilt und verwandelt.

Für eine derart maximalistische Bestimmung der Literatur muss man nicht unbedingt bei einem von Solov’evs Theurgie und über zwei Jahrzehnten Symbolismus geprägten Autor wie Trubeckoj suchen gehen. Der Literaturwissenschaftler Dmitrij Segal, Spezialist für russische Lyrik das 20. Jahrhunderts, schrieb 1977 in einem Essay über Boris Pasternak: „Literarische Werke sind [in Russland] nicht Etüden, Untersuchungen des sozialen Lebens oder des inneren Lebens des Menschen, sondern selbst unabdingbare Bestandteile des lebendigen Lebens.“6 Segal könnte damit auf Pasternaks Bemerkung im kurzen Traktat „Neskol’ko položenij“ („Einige Grundsätze“, 1918, 1922) anspielen: „Книга – живое существо.“7 / „Das Buch ist ein lebendiges Wesen.“ Auch an eine Stelle im Gedicht „Kavkaz byl ves’ kak na ladoni…“ („Der Kaukasus lag ganz wie auf der Hand …“, 1931) könnte er gedacht haben: „Я вместо жизни виршеписца  / Повел бы жизнь самих поэм.“8 „Ich würde statt des Lebens eines Verseschmiedes / Das Leben der Gedichte selbst führen.“ Segals Satz führt mit seiner Behauptung eines nicht-instrumentalisierbaren Eigenlebens der Kunst mitten in unsere Problematik. Ganz wie bei Trubeckoj wird hier auf eine dritte Position zwischen einer politisch-tendenziösen und einer vom Leben „abgetrennten“ Literatur abgezielt, eine dritte Kunst, die allein dadurch schon in die Wirklichkeit eingreift, dass sie deren ‚organischer Teil‘ wäre. Diese Denkfigur ist früher oder später, so meine Hypothese, immer mit Lichtmetaphorik oder, wie bei Trubeckoj, sogar mit einer kohärenten religiösen Licht-Theorie verbunden. So 315, hier 287 (Hervorhebungen im Orig.). – Im Folgenden werden alle russischen Primärtexte im Original zitiert und mit einer deutschen Übersetzung versehen, falls sinnvoll einer exisierenden. Andernfalls, wie hier, stammen die Übersetzungen von mir – Ch. Z. Russische Sekundärliteratur wird in der Regel nur in meiner Übersetzung zitiert. 6 Segal, Dmitrij: „Pro domo sua. O Borise Pasternake“ [1977], in: ders.: Literatura kak ochrannaja gramota. Moskva 2006, 677–749, hier 682 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 7 Pasternak, Boris: „Neskol’ko položenij“, in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij s priloženijami v odinnadcati tomach. Tom V. Moskva 2004, 23–27, hier 25. Alle Werke Pasternaks werden im Folgenden, sofern nicht anders vermerkt, nach dieser elfbändigen Ausgabe (Moskva 2003– 2005) mit der Abkürzung PSS unter Angabe der Bandnummer oder, wo es sich um einen längeren Text handelt, mit einem Kurztitel zitiert. Angaben zu Publikationsjahren und -orten beziehen sich ebenfalls auf diese Ausgabe. – Mit Kurztiteln werden auch alle anderen Texte (außer Gedichten) von der zweiten Zitation an bezeichnet. 8 PSS, II, 56.

12 Einleitung

schrieb der Priester, Theologe und Essayist Aleksandr Šmeman 1961 aus Anlass von Pasternaks Tod: „В нем [«Докторе Живаго»] снова просветлело искусство, стало не только отражать свет или тьму жизни, но в мире и жизни само стало источником света и тепла.“9 „In ihm [dem Roman Doktor Živago] erleuchtet die Kunst wieder, sie hat angefangen, das Licht oder Dunkel des Lebens nicht bloß wiederzuspiegeln, sondern sie ist in der Welt und im Leben selbst zu einer Quelle von Licht und Wärme geworden.“ In einer literaturgeschichtlichen und meta-philologischen Perspektive stellt sich die Frage: Haben solche Texte den Anspruch, das Selbstverständnis russischer Schriftsteller bzw. ihres Publikums objektiv darzustellen, oder schreiben sie einen bestehenden, längst für sich existierenden Diskurs fort (von welchem Trubeckojs Text nur eine Spitze wäre) oder interferiert die Beschreibungsebene der Essays mit dem literarischen Material selbst, so dass gar nicht trennscharf unterschieden kann? Die vorliegende Untersuchung soll zu einem Teil, sofern sie nicht nur von Pasternaks Texten (Gedichten, Erzählungen, Essays, Briefen, Fragmenten und dem Roman Doktor Živago) ‚selbst‘ handelt, genau diesen Fragen nachgehen. Dafür verwende ich einen möglichst offenen Begriff vom Licht. Er wird zu entwickeln sein aus poetologischen Motiv- und Rhetorikstudien, philosophischer Metaphorologie und mystischer Lichttheologie ebenso wie aus Elementen der Mediengeschichte und moderner ästhetischer Theorie. So werden durch den Licht-Fokus einerseits bestimmte Aspekte des literaturkritisch-essayistischen Diskurses über den Dichter Pasternak zusammenhängend lesbar, andererseits aber, und vor allem, soll eine Relektüre seines Werks möglich werden: namentlich die Rekonstruktion einer ‚anderen‘ metaphysischen Poetik. Bleiben wir aber vorerst bei der ‚lichten‘ Selbstbestimmung des Literarischen. Das Licht erweist sich in der russischen Schriftkultur als flottierendes, äußerst schwer persönlich oder auch institutionell zuschreibbares Element. Wenn Boris Pasternak in einem halb essayistisch, halb akademisch geführten Diskurs so oft als Lichtfigur auftritt, steht dahinter zweifellos eine lange Tradition von Dichter-Konzeptualisierungen. Hier ein frei gewähltes Beispiel dafür, wie Dichter ‚illuminierend‘ über andere Dichter schreiben. Am 6. August 1826 schrieb Petr Vjazemskij über den Tod Nikolaj Karamzins: Он [Карамзин] был каким-то животворящим, лучезарным средоточием круга нашего, всего отечества. Смерть Наполеона в современной истории, смерть Байрона в мире поэзии, смерть Карамзина в русском быту оставила по себе бездну пустоты, которую нам завалить уже не придется.10 9 Šmeman, Aleksandr: „Pasternak“, in: ders.: Sobranie statej 1947–1983. 2-e izdanie. Moskva 2011, 823–827, hier 826 (Hervorhebung im Orig.). 10 Vjazemskij, Petr: Zapisnye knižki (1813–1848). Moskva 1963, 135 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

13

Er [Karamzin] war so etwas wie das lebensspendende, lichtstrahlende Epizentrum unseres Kreises, unseres Vaterlandes. Der Tod Napoleons in der jüngeren Geschichte, der Tod Byrons in der Welt der Poesie, der Tod Karamzins im russischen Alltagsleben hinterließen eine klaffende Leere, die wir auch nicht mehr werden schließen können.

Der Dichter bzw. hier der universalistische homme de lettres Karamzin als nährende Sonne, deren Erlöschen zu einem kulturellen Vakuum führt – diese Figur ist bestens bekannt durch Vladimir Odoevskijs Nekrolog auf Aleksandr Puškin von 1837. Die ersten Zeilen daraus lauten: Солнце нашей поэзии закатилось! Пушкин скончался во цвете лет; в середине своего великого поприща!.. Более говорить о сем не имеем силы, да и не нужно; всякое русское сердце знает всю цену этой невозвратимой потери и всякое русское сердце будет растерзано.11 Die Sonne unserer Poesie ist untergegangen! Puškin ist hingeschieden in der Blüte seiner Jahre; im Zenit seiner großen Schaffenskraft!.. Darüber mehr zu sagen haben wir keine Kraft, und es ist auch nicht nötig; jedes russische Herz kennt den ganzen Preis dieses unwiederbringlichen Verlusts und jedes russische Herz wird davon zerrissen sein.

Durch Licht-Arrangements können literarische Werke oder ihre Totalität als Nationalliteratur ins ‚lebendige Leben‘, in eine Gemeinschaft, in die Geschichte und, ja, in die Heilsgeschichte eingebettet, eben ‚organisch‘ integriert werden. Und wo immer dies passiert, liegt eine schillernde Mischung von Faktoren vor. Gegeben ist eine – oft schon konventionalisierte – poetische Lichtmotivik, doch so gut wie immer entspricht (oder widerspricht) ihr eine religiöse/kulturelle/politische Axiologie seitens des lesenden Publikums, die ganz selbstverständlich ebenso mit Begriffen des Lichts verfährt. Trubeckojs oben zitierte Maximalbestimmung der Literatur als „Suche nach dem Taborlicht“ ist, wie man einwenden könnte, für eine relativ begrenzte Periode der russischen Literatur repräsentativ, nämlich den Symbolismus und dessen spekulative Kunsttheorie. Sie illustriert aber zugleich einen für die Poetik des Lichts12 in der russischen Kultur allgemein nicht zu übersehenden Zug: die paradigmatische Funktion des „Преображение Господне“  / der Verklärung oder wörtlich: „Verwandlung des Herrn“.13 Licht ist im Paradigma der Verklärung zum einen immer 11 Literaturye pribavlenija k „Russkomu Invalidu“ (1937, Nr. 5), zit. nach, Veresaev, Vikentij: Puškin v žizni. 2. Moskva 1936, 442. 12 Ich werde diesen Begriff grundsätzlich in Bezug auf Texte verwenden, in denen sich Lichtphänomene in einer Weise verdichten, dass ihnen offensichtlich mehr als dekorative, rein rhetorische Funktion zukommt. 13 Vgl. dazu Mt 17, 2 (ähnlich wie Lk 9, 28–36, und Mk 9, 2–10): „Und er wurde vor ihren Augen verwandelt [μεταμορφώθη]; sein Gesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden blendend weiß wie das Licht.“ Zur besonderen Bedeutung der Verklärung des Herrn für die (russische) Orthodoxie vgl. Onasch, Konrad: „Verklärung Christi“, in: ders.: Lexikon

14 Einleitung

mehr als ein Lebensspender im biologischen Sinne, zum andern aber auch mehr als ein Analogon menschlichen Vernunftpotentials. Es ist das Vorbild für das ‚wahre Leben‘ und strahlt in die ‚verfinsterte Welt‘ ein, um ihr Anteil zu geben am Göttlichen, das empirisch unerreichbar und gegenständlich unabbildbar ist. Wenn es im Epilog von Pasternaks Doktor Živago heißt, aus der (abstrakten) russischen Aufklärung sei unausweichlich die (blutige) russische Revolution geworden,14 so steht dahinter implizit als Gegenbild eben die Vorstellung von einer Verklärung durch Licht, die nicht objektivierbar und also nicht pervertierbar ist. Denn Verklärung kann, anders als Aufklärung, von keinem „disponierenden Denken“ (Horkheimer/ Adorno15), verfügbar gemacht werden. Nun ist immer wieder auf das intime Band zwischen Aufklärungsmetaphorik („просвещение“, wörtl. Durchlichtung) und orthodoxer Lichtmystik hingewiesen worden.16 So beschreibt der durchaus mystisch gestimmte Nikolaj Gogol’ in einem der letzten Briefe seiner Vybrannye mesta iz perepiski s druz’jami (Ausgewählte Stellen aus der Korrespondenz mit Freunden, 1847), wie Russland in der Aufklärung als „отблеск […] европейских наук“ / „Widerschein der europäischen Wissenschaften“ erstrahlt und wie das „восхищенье от света, внесенного в Россию“  / die „Begeisterung über das nach Russland importierte Licht“ zum Merkmal der russischen Dichtung schlechthin geworden sei. Und er kommt zum Schluss: „С этих пор стремленье к свету стало нашим элементом, шестым чувством русского человека […].“17 / „Seither ist das Streben nach dem Licht zu unserem Element, zum sechsten Sinn des russischen Menschen geworden.“

14 15 16 17

Liturgie und Kunst der Ostkirche. Berlin/München 1993, 373/374, hier 374: „Vor allem das Lichtthema [der Verklärung Christi] ist für die gesamte Orthodoxie von erheblicher Relevanz geworden, weil es im Hesychasmus des Athos im 14./15. Jahrhundert theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich wirksam wurde. Es entspricht dem kosmischen Aspekt des Metamorphosis-Gedankens, wenn die russisch-orthodoxe Kirche am 6. August Weintrauben und andere Erstlingsfrüchte des Feldes durch Segnungen auszeichnet.“ – Aus der Bibel wird hier und im Folgenden nach der Einheitsübersetzung zitiert. Doktor Živago, PSS, IV, 513. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: „Begriff der Aufklärung“, in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam 1947, 13–57, hier 25. Siehe zuletzt Levitt, Marcus C.: The Visual Dominant in Eighteenth-Century Russia. DeKalb, Illinois, 2011, 7, 21 und passim. Gogol’, Nikolaj: „V čem že nakonec suščestvo russkoj poėzii i v čem ee osobennost’“ [„Worin besteht nun letztenden Endes das Wesen der russischen Poesie und worin ihre Besonderheit“], in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Tom vos’moj. Stat’i. Moskva 1952, 369–409, hier 370. Susanne Frank sieht hierin eine affirmative historiosophische Beurteilung; die Rechristianisierung der Aufklärung sei nach Gogol’ in der russischen Dichtung bereits geleistet, da die Strenge der Wissenschaften bei ihrem Import mit mystischer Begeisterung überformt worden sei. Vgl. Frank, Susi: Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’ und die longinsche Tradition. München 1999, 235. Gerade die Betonung der „Neuheit“ des importierten „светоносное начало“ / „Lichtträger-Prinzips“ deutet indes auch auf eine Reserve Gogol’s hin: Indem er

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

15

Ein Einwand gegen das Kurzschließen von Verklärung und Aufklärung jedoch, auf dem Gogol’ in einem früheren Brief, überschrieben „Prosveščenie“ / „Aufklärung“, insistiert hatte, lässt sich so leicht nicht von der Hand weisen: Wer ist denn der Träger der „Durchlichtung“, sofern diese als geistiges Abstraktum einerseits und andererseits physikalisch-technisch aufgefasst wird? Für Gogol’ ist der eigentliche Licht-Import die Aufhebung des natürlichen Menschen durch die christliche Taufe, seine Erneuerung zu einem ‚ganzen‘ Menschen. Jede rationalisierende oder zivilisatorische Auslegung des Begriffs erscheint dagegen als Fragmentierung, unzulässige Dekontextualisierung, Usurpation: Мы повторяем теперь еще бессмысленно слово «Просвещение». Даже и не задумались над тем, откуда пришло это слово и что оно значит. Слова этого нет ни на каком языке; оно только у нас. Просветить не значит научить, или наставить, или образовать, или даже осветить, но всего насквозь высветлить человека во всех его силах, а не в одном уме, пронести всю природу его сквозь какой-то очистительный огонь. Слово это взято из нашей церкви, которая уже почти тысячу лет его произносит, несмотря на все мраки и невежественные тьмы, отовсюду ее окружавшие, и знает, зачем произносит.18 Wir wiederholen noch immer sinnlos das Wort „Aufklärung“. Wir haben uns nicht einmal Gedanken darüber gemacht, woher dieses Wort auf uns gekommen ist und was es genau meint. Dieses Wort gibt es in keiner Sprache; nur bei uns. Aufklären [durchlichten] heißt nicht belehren, oder zur Vernunft bringen, oder ausbilden, oder sogar beleuchten, sondern den Menschen ganz und gar ausleuchten in all seinen Potenzen, nicht lediglich im Geiste, seine ganze Natur durch ein reinigendes Feuer hindurchschicken. Dieses Wort ist aus unserer Kirche entnommen, die es schon fast tausend Jahre ausspricht, ungeachtet der Finsternisse und Dunkelheiten der Unwissenheit, die sie von überallher umgeben, und sie weiß, wozu sie es ausspricht.

Verfolgt man die Polemik um den Begriff im 20. Jahrhundert weiter, wird die Aktualität von Gogol’s Sorge um den Träger der Aufklärung besonders deutlich. Julia Bekman Chadaga zeigt,19 dass in der fortgesetzten russischen Aufklärung, als welche sich die sozialistische Revolution Lenins und Stalins verstand,20 letztlich die zugleich dem vorneuzeitlichen folkloristischen und kirchlichen Schrifttum das „sichtbare“ Licht abspricht, suggeriert er die „nüchterne“, nicht auf Äußerlichkeit angelegte Überlegenheit dieses Schrifttums gegenüber dem ‚aufklärerischen‘. 18 Gogol’: „Prosveščenie“, in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij, VIII, 283–286, hier 285/286. Просвещение / Durchlichtung meinte in der Tradition der russisch-orthodoxen Kirche tatsächlich die Taufe von Heiden. Vgl. Levitt: The Visual Dominant in Eighteenth-Century Russia, 9. 19 Bekman Chadaga, Julia: „Light in Captivity: Spectacular Glass and Soviet Power in the 1920s and 1930s“, in: Slavic Review 66, 1 (2007), 82–105, hier 84. 20 Vgl. Kotkin, Stephen: „Introduction. Understanding the Russian Revolution“, in: ders.: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization. Berkeley/Los Angeles 1995, 1–25, besonders 6–9. Zur sowjetischen „Aufklärung“ im Zusammenhang mit Stalins Erstem Fünfjahresplan siehe auch Clark, Katerina: The Soviet Novel. History as Ritual. Chicago/London 1981, 93– 98.

16 Einleitung

Rhetorik der Sowjetmacht selbst oder die Materie Träger sind (das zum Strahlen gebrachte Glas der Glühbirnen, die roten Sterne auf dem Kreml usw.), nicht aber Personen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Frage Jurij Olešas, des Autors von Zavist’ (Der Neid, 1926), „[п]очему же электрическая лампа не внесла никакого порядка в человеческую душу […], как об этом говорят марксисты“21 / „warum die elektrische Lampe keinerlei Ordnung in die menschliche Seele gebracht [habe] […], wie darüber die Marxisten sprechen“, nicht nur als vorsichtige politische Kritik, sondern auch als treffende Analyse: Die sozialistische Aufklärung, hier in Form der Leninschen Elektrifizierung, soll gar nicht auf die „Seele“ einwirken. Sie kann deshalb auch nicht als ‚Übersetzung‘ des alten Verklärungs-Paradigmas verstanden werden. In seinen Studien zur Diskursgeschichte der Visualität hat Michel Foucault im Aufklärungszeitalter den Übergang von platonisch grundierter Kontemplation zum Paradigma der „Domination“ angesetzt. Die Ungerichtetheit der Kontemplation werde abgelöst von einem Blick, der durch die Licht-Ausrichtung der Aufklärung „hegemonialen“ und dann zunehmend erhaben-gewalttätigen Charakter annehme – zum ersten Mal in der Bekämpfung der ‚dunklen‘ Kräfte durch die Französische Revolution.22 So beschreibt Foucault die Bruchlinien, die von der antik-mittelalterlichen „Vision“ zur modernen „Supravision“ bzw. zum okularzentristischen „Panoptikum“ der Macht führen.23 In der vorliegenden Untersuchung wird dieses Begriffsinstrumentarium Foucaults nicht im Vordergrund stehen, da es zwar sehr wohl auf das totalitäre Projekt des Leninismus-Stalinismus anwendbar ist (wie u. a. Bekman Chadaga zeigt), jedoch das sozusagen mystisch verfremdete Licht, das unsichtbar, unerkennbar, sogar dunkel konzipiert ist, unmöglich abdecken kann. Es liegt in der Natur von Foucaults Prämisse, dass, sobald „Licht“ gesagt wird, auch von Visualität die Rede ist. Die platonische Theorie, Ausgangspunkt von Foucaults Genealogie, stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar. Wie ich noch weiter ausführen werde, halte ich in Bezug auf die Literatur und ihre Ästhetik indes gerade jenen hierdurch ausscheidenden Lichttyp für besonders bedenkenswert: den verdunkelten. Verweilen wir zunächst noch bei dem Gedanken eines ‚unverfügbaren‘ Lichts. Zu einer solchen Unverfügbarkeit steht selbst Trubeckojs Grundbegriff des „Su21 Tagebucheintrag vom 5. Mai 1930. Oleša, Jurij: Kniga proščanija. Moskva 1999, 38/39. Vgl. Bekman Chadaga: „Light in Captivity“, 95/96. Bekman Chadaga verweist (ebd., 91) auf Gaston Bachelards Beobachtung im Essay La flamme d’une chandelle (Paris 1961, 3), wonach sich elektrisches Licht im Gegensatz zum Schein einer Kerze schlicht nicht kontemplieren lasse. Vgl. dazu auch Schivelbusch, Wolfgang: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. München/Wien 1983, 12–17. 22 Vgl. Flynn, Thomas R.: „Foucault and the Eclipse of Vision“, in: Levin, David Michael: Modernity and the Hegemony of Vision. Berkeley/Los Angeles/London 1993, 273–286, hier 275/276. 23 Ebd., 281–283.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

17

chens“ und „Dürstens“ nach Licht letztlich im Widerspruch. Denn konsequenterweise müsste man sagen: Sobald man das Taborlicht sucht und nach ihm dürstet oder es sogar in „Flammen“ aufgehen sieht (wie Sergej Bulgakov24), hat man es schon verloren. Demgegenüber gehen im engeren Sinne theologische Denker wie Vladimir Lossky und Georges Florovsky weniger von der Verfinsterung der Welt aus (die es „theurgisch“ bzw. bei Bulgakov „sophiurgisch“25 auszutreiben gelte), als von einer mystischen Verfinsterung im Gottesbegriff selbst. In der Traditionslinie des Kirchenlehrers aus dem 6. Jahrhundert (Pseudo-)Dionysius Areopagita und der negativen Mystik26 gilt die Quelle des göttlichen Lichts als in einem so ausgezeichneten Sinne unergründlich und unerkennbar, dass sie aus der Sicht des Menschen in „göttliche Finsternis“ (θεῖον σκότος) umschlägt.27 Da Gott für die negative Theologie nicht in einem menschlichen Sinne ‚existiert‘,28 ist es auch nicht möglich, das Taborlicht wie bei Trubeckoj zu suchen. Das Schauen des Taborlichts oder, mit dem Ausdruck des byzantinischen Theologen Gregorios Palamas (gest. 1359), die Partizipation an den göttlichen „Energien“ (ἐνέργειαι), ist Teilhabe am Licht trotz der Einsicht, dass dieses unfassbar sei. Vladimir Jankélévitch schreibt mit Verweis auf den griechischen Kirchenvater Gregor von Nyssa: „[…] la vraie vision de Dieu consiste à voir qu’il est invisible […].“29 Hans Urs von Balthasar hält dieses Paradox 24 Bulgakov, Sergej: Svet nevečernij. Sozercanija i umozrenija [1917]. Moskva 1994, 334. 25 Vgl. Glatzer Rosenthal, Bernice: „The Nature and Function of Sophia in Sergei Bulgakov’s Prerevolutionary Thought“, in: Deutsch Kornblatt, Judith/Gustafson, Richard (Hrsg.): Russian Religious Thought. Madison 1996, 154–175, hier 166. 26 Zum Begriff „negative Mystik“ vgl. Turner, Denys: The Darkness of God. Negativity in Christian Mysticism. Cambridge 1995. 27 Vgl. dazu die übergroße schwarze Mandorla (Aura), die in der Ikonenmalerei die göttliche „Herrlichkeit“ (Слава) Christi darstellt. Beispiele dafür sind die Ikonen zum Преображение Господне / Verklärung des Herrn und zum Успение Богоматери / Entschlafen der Gottesmutter. Uspenskij, Leonid/Lossky, Wladimir: Der Sinn der Ikonen. Bern/Olten 1952, 210– 216. 28 Dionysius Areopagita schreibt in seiner Mystischen Theologie: „Man muß ihm […] sowohl alle Eigenschaften der Dinge zuschreiben und […] von ihm aussagen – ist er doch ihrer aller Ursache –, als auch und noch viel mehr ihm diese sämtlich absprechen – ist er doch allem Sein gegenüber jenseitig. Man muß sich dabei (allerdings) vor der irrigen Annahme hüten, diese Verneinungen seien (einfachhin) das Gegenteil jener Bejahungen. Vielmehr muß man ihn (den göttlichen Urgrund) dem allem weit vorausliegend denken, jenseits all dessen, was ihm etwa entzogen werden möchte, der doch sowohl jede Verneinung wie jede Bejahung übersteigt.“ Pseudo-Dionysius Areopagita: Über die mystische Theologie [De mystica theologia], in: ders.: Über die mystische Theologie und Briefe. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Adolf Martin Ritter. Stuttgart 1994, 74–80, hier 75 [I, 1]. Zu Dionysius allgemein siehe Suchla, Beate: Dionysius Areopagita. Leben – Werk – Wirkung. Freiburg/Basel/Wien 2008. 29 Jankélévitch, Vladimir: Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien. 2. La méconnaissance. Le malentendu. Paris 1980, 171.

18 Einleitung

wie folgt fest: Gott sei bei Dionysius Areopagita „jedem seiner Geschöpfe nah und inwendig“, indem er „allem unendlich entrückt“ sei.30 Oder, so formuliert es der bereits erwähnte Vladimir Lossky: „Dieu n’est pas un objet.“31 In wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive ist vom Licht als Inbegriff des „Erfahrungsverlusts“, der „Unanschaulichkeit“ und „Unvorstellbarkeit“ der Welt die Rede, die das Licht in der Moderne als Medium der Sinnstiftung obsolet gemacht haben.32 Die Entdeckung unsichtbarer Bereiche des Lichts und des bis heute rätselhaften Wellen-Teilchen-Dualismus33 oder auch Gustave Le Bons um die Jahrhundertwende weit verbreitete parawissenschaftliche Theorie des „schwarzen Lichts“34 lassen das Licht – traditionellerweise Emblem der Einheitsstiftung und absoluten Schönheit – geradezu zum Symptom des Zerfalls der vertrauten Wirklichkeit werden. Im Zusammenhang mit diesem vielfach historisch, diskursanalytisch, technikgeschichtlich und medienwissenschaftlich beschriebenen Sachverhalt darf ein Aspekt nicht übersehen werden: Das mystische und/oder ästhetische ‚Interesse‘ am Licht wird von diesen modernen Desillusionierungen überraschenderweise gar nicht grundlegend beeinträchtigt. Denn in der Logik der Verklärung war das Licht gar nie ein Instrument einer zuverlässigen Durchdringung der objektiven Welt gewesen. Zu sagen, „aus der Sonne von Jesu Verklärung“ sei „alles Dunkle und Zerstörerische vertrieben“35, und so die „vernichtende Sonne“ der Moderne gegen die „christlich-platonische Kultur“ (Dietmar Voss36) auszuspielen, ist schlicht zu pauschal. Jacques Derrida hat darauf hingewiesen: Die Desillusionierung war von An30 Balthasar, Hans Urs von: Kosmische Liturgie. Das Weltbild Maximus’ des Bekenners. Zweite, völlig veränderte Auflage. Einsiedeln 1964, 76. Dies ist auch der Grundgedanke in Jean-Luc Marions Abhandlung L’idole et la distance. Cinq études. Paris 1977, in der er Dionysius Areopagita für seine anti-ontologische Philosophie aktualisiert. 31 Lossky, Vladimir: „La notion des ‘analogies’ chez Denys le pseudo-Aréopagite“, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge. Cinquième année. Paris 1930, 279–309, hier 280. 32 Vgl. Rieger, Stefan: „Licht und Mensch. Eine Geschichte der Wandlungen“, in: Engell, Lorenz/Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph (Hrsg.): Licht und Leitung. Weimar 2002, 61–72, hier 63. 33 Vgl. Perkowitz, Sidney: Empire of Light. A History of Discovery in Science and Art. New York 1996, 11. 34 Mit dem Begriff „lumière noire“ (später „énergie intra-atomique“) bezeichnete der Sozialpsychologe und Amateurphysiker Gustave Le Bon (1841–1931) jene hochenergetische Strahlung, die seiner Theorie zufolge eine kontinuierliche Auflösung der Materie durch Zerfall der Atome bewirkt und dabei die sichtbare Welt hervorbringt. Vgl. Le Bon, Gustave: L’évolution de la matière. Paris 1905, hier 5–18. Zur Rezeption der Theorie in der russischen Moderne vgl. Sigej, Sergej/Kukuj, Il’ja: „‚Černyj svet‘: F. Sologub – G. Lebon – A. Kručenych“ (Vortragsmanuskript, 2011). 35 Voss, Dietmar: „Das Licht und die Worte. Aspekte des Kosmischen in der ästhetischen Moderne“, in: Akzente 1 (2013), 77–95, hier 93. 36 Ebd., 82/83.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

19

fang an da. Im strahlenden Licht der Wahrheit kommt es, so Derrida, bei Platon von Anfang an zu einer unsichtbaren Verdoppelung in eine Tag- und eine Nachtseite des Lichts: […] le soleil platonicien, déjà, n’éclairait-il pas le soleil visible et l’ex-cédence ne se jouait-elle pas dans la méta-phore de ces deux soleils? Le Bien n’était-il pas la source – nécessairement nocturne – de toute lumière? Lumière (au delà) de la lumière. Le cœur de la lumière est noir, on l’a souvent remarqué.“37

Dieser, wie man sagen könnte, ‚unreine‘, nicht-nur-visuelle Lichtbegriff, den sich die Philosophie, die Mystik und die Kunst zu teilen scheinen, wäre auch von Goethes Projekt zu unterscheiden, gegen Newtons Optik die „Reinheit“, d.h. Ursprünglichkeit des weißen Lichts gegenüber den Spektralfarben nachzuweisen.38 Zu Eckermann soll Goethe 1824 gesagt haben: „Ich erkannte das Licht in seiner Reinheit und Wahrheit, und ich hielt es meines Amtes, dafür zu streiten.“39 Dagegen hätten, wie man sich vorstellen kann, nicht nur Naturwissenschaftler nach Newton etwas einzuwenden gehabt, sondern auch die anti-empirischen Denker des Lichts: Licht kann gar nicht in seiner „Reinheit und Wahrheit“ erkannt werden. Könnte es das, wäre es nicht mehr geheimnisvoll, es wäre nicht mehr das Licht. Scheinbar selbstverständlich dieser Logik folgend, vergleicht der Philologe und Kunsthistoriker Andrej Šemšurin (1872–1939) die futuristische Zerlegung der Wörter in ihre Buchstaben bei Aleksej Kručenych mit dem Zerfall der Atome nach Gustave Le Bon und bezeichnet Kručenychs Unterfangen zugleich als „so etwas ähnliches wie das ‚Taborlicht‘“40, weil es genau wie dieses für die gewöhnliche 37 Derrida, Jacques: „Violence et métaphysique. Essai sur la pensée d’Emmanuel Lévinas (première partie)“, in: Revue de Métaphysique et de Morale 3 (1964), 322–354, hier 330. 38 Vgl. dazu Schöne, Albrecht: „Leiden des Lichts“, in: ders.: Goethes Farbentheologie. München 1987, 63–67. 39 Zit. nach ebd., 22. 40 „И вот я хочу выделить не важную часть комплекса и выделяю ее: пусть она доминирует. Получается что-то вроде «фаворского света», и публике остается только завидовать тем, кто наделен способностью его видеть.“ / „Da will ich also einen unwichtigen Teil des Komplexes hervorheben und hebe ihn hervor: möge er dominant werden. Das Resultat ist so etwas ähnliches wie das ‚Taborlicht‘, und dem Publikum bleibt nichts anders übrig, als jene zu beneiden, die die Fähigkeit besitzen, ihn zu sehen.“ Brief von Šemšurin an Kručenych vom September 1915, in: Sigej, Sergej/Weststeijn, Willem: „Kručenych i Chlebnikov v Amsterdamskoj časti archiva N.  I.  Chardžieva“, in: Russian Literature LXV 1–3 (2009), 15–109, hier 22. Renate Lachmann spricht im Zusammenhang mit den hesychastischen TaborlichtVisionen sogar von „Licht-Leere“. Lachmann, Renate: „Schweigen und Reden in der altrussischen Kultur“, in: von Moos, Peter (Hrsg.): Zwischen Babel und Pfingsten. Sprachdifferenzen und Gesprächsverständigung in der Vormoderne (8.–16. Jahrhundert). Akten der 3. deutschfranzösischen Tagung des Arbeitskreises „Gesellschaft und individuelle Kommunikation in der Vormoderne“. Münster 2008, 591–609, hier 609. – Die Assoziation von anti-mimeti-

20 Einleitung

menschliche Wahrnehmung unsichtbar bleibe. Und Boris Groys konnte noch 1979 in der Sowjetunion das Taborlicht zu einer Spezifik der russischen Avantgardekunst erklären: „In Russland […] ist es unmöglich, ein ordentliches abstraktes Bild zu malen, ohne sich auf das Taborlicht zu berufen.“41 Das Licht wird also nicht erst in der Moderne zu einer undurchsichtigen Kraft. In der Moderne wird lediglich das Bewusstsein von der Undurchsichtigkeit von neuem und oft außerhalb des Bereichs der Religion virulent. Gerade weil sie so ‚anders‘ ist, wird diese Kraft in die physische und rationale Wirklichkeit (auch von Kunstwerken) projiziert. Erst wo, nach dem Lexikon der russischen Sprache, свет im Sinne von „Licht“ ist, kann auch свет im Sinne von „Welt“ sein – das ist sowohl in Bezug auf sichtbares wie auf unsichtbares Licht zutreffend. Das Argument lautet: Ohne Sonnenlicht gibt es kein natürliches Leben, doch das natürliche Leben wiederum bleibt ein indifferentes Faktum, solange kein Geheimnis hinzutritt und ihm durch seine Andersheit den Status von etwas ‚Lebendigen‘ verleiht. Damit sind wir wieder bei Trubeckojs Taborlicht der Literatur. Ohne das Licht des Wortes ist kein Sprachkunstwerk denkbar. Doch ohne eine sich einmischende Dämmerung bliebe es, das Kunstwerk, ein Ding unter anderen (auf die Konzepte ‚Licht des Wortes‘ und ‚Dämmerung‘ werde ich in dieser Einführung noch ausführlich eingehen).

Licht als Energie: ‚Okularphobie‘ statt Bildlichkeit. Von Blumenberg zu Lichačev Martin Jay hat das moderne philosophische Denken in Frankreich als „essentially ocularphobic discourse“42 bezeichnet, der mit Henri Bergson beginne und über Autoren wie Maurice Blanchot, Emmanuel Levinas, Jacques Derrida bis zu Michel Foucault und anderen zu verfolgen sei.43 Mir geht es darum, einige Argumente und scher Kunst mit dem Taborlicht ist im westlichen Diskurs eher unwahrscheinlich. Häufig ist in der Moderne als Gegenentwurf zur „Hegemonie“ des Verstehens der Multiperspektivismus, nicht zuletzt in der Erzähltechnik. Vgl. Jacobs, Karen: „Introduction. Modernism and the Body as Afterimage“, in: dies.: The Eye’s Mind. Literary Modernism and Visual Culture. Ithaca/London 2001, 1–44, hier 7–9. 41 Grojs, Boris: „Moskovskij romantičeskij konceptualizm“, in: ders.: Utopija i obmen. 1. Stil’ Stalin. 2. O novom. 3. Stat’i. Moskva 1993, 260–274, hier 262. Zur zentralen Rolle des Taborlichts im Frühwerk des Moskauer Konzeptualisten Il’ja Kabakov siehe Landolt, Emanuel/ Maiatsky, Michail: „Une philosophie dans les marges. Le cas du conceptualisme moscovite“, in: Cahiers du Monde russe 53, 4 (2012), 571–592, hier 583/584. 42 Jay, Martin: Downcast Eyes. The Denigration of Vision in twentieth-century French Thought. Berkeley/Los Angeles/London 1993, 15. 43 In Russland bzw. in russischer Sprache hat sich vor allem Michail Jampol’skij um das Nachdenken über die Visualität verdient gemacht. Siehe u.a. Jampol’skij, Michail: Nabljudatel’. Očerki istorii videnija. Sankt-Peterburg 20122.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

21

Einsichten dieses Diskurses für die Poetologie fruchtbar zu machen, genauer, für Boris Pasternak und seine Epoche, da mir die philosophisch-ästhetischen, religiösen, ethischen und politischen Implikationen dieses kritisch-modernen Denkens auf verblüffende Weise manchen Intuitionen Pasternaks zu gleichen scheinen. Grundlage eines solchen Transfers ist Pasternaks Bekanntschaft mit der Philosophie Bergsons, auch mit der Husserlschen Phänomenologie, vor allem aber seine intensive Beschäftigung mit dem Neukantianismus Hermann Cohens. Wenn ich Pasternaks Poesie und Prosa namentlich mit Emmanuel Levinas’ ‚okularphoben‘ Schriften konfrontieren werde, so wird dabei Cohens Denken das Bindeglied, das Gemeinsame des Vergleichs sein. Levinas, Blanchot oder der Heidegger-Schüler Hans Jonas haben das Licht und den ihm zugeordneten Sehsinn immer wieder als distanzierend beschrieben. Durch das Licht distanziere das Subjekt die Welt und mache sie sich so erst zu eigen. Levinas schreibt: „L’existence dans le monde en tant que lumière – qui rend possible le désir – est […], au sein de l’être, la possibilité de se détacher de l’être.“44 Bei Maurice Blanchot heißt es ganz ähnlich: „Voir, c’est se servir de la séparation, non pas comme médiatrice, mais comme un moyen d’immédiation, comme im-médiatrice.“45 Und Hans Jonas schreibt in seiner Studie über die menschlichen Sinne: „[…] sight is the only sense in which the advantage lies not in proximity but in distance: the best view is by no means the closest view; to get the proper view we get the proper distance  […].“46 Grundsätzlich konvergieren diese Einschätzungen mit Foucaults Thesen zur Visualität, lassen jedoch dadurch, dass sie nicht, jedenfalls nicht primär politisch fokussiert sind, mehr Raum für eine (poetische) Transformation des Licht-Strahlens und der Distanznahme in etwas anderes: in eine neue Annäherung. Rücken an Rücken zu Foucault steht Hans Blumenberg mit seiner bis heute sehr breit und nachgerade selbstverständlich rezipierten begriffsgeschichtlichen Unterscheidung zwischen Lichtmetaphorik und Lichtmetaphysik. Blumenberg geht es ebenfalls um die Engführung von Leuchten und Sehen, nur wird der Faktor der (aufgeklärten) Distanznahme bei dem deutschen Gelehrten positiv und nicht wie 44 Lévinas, Emmanuel: „La lumière“, in: ders.: De l’existence à l’existant [1947]. Seconde édition augmentée. Paris 1978, 71–80, 79. 45 Blanchot, Maurice: „Parler, ce n’est pas voir“, in: ders.: L’entretien infini. Paris 1969, 35–45, hier 39. 46 Jonas, Hans: „The Nobility of Sight: A Study in the Phenomenology of the Senses“, in: ders.: The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology. New York 1966, 135–156, hier 149. Äußerst präsent in dem Diskurs um Sichtbarkeit, Distanzierung, Instrumentalisierung ist Martin Heidegger. Die Kritik am neuzeitlichen Denken ist bei Heidegger immer auch eine Kritik an der ‚Verbildlichung‘ der Welt. Vgl. Heidegger, Martin: „Die Zeit des Weltbildes“ [1938], in: ders.: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970. Band 5. Holzwege. Frankfurt a. M. 1977, 75–96, hier 94: „Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild. Das Wort Bild bedeutet jetzt: das Gebild des vorstellenden Herstellens.“

22 Einleitung

bei seinen französischen Zeitgenossen als gefährliches Machtspiel gewertet. Blumenbergs an den Existenzial-Theologen Rudolf Bultmann anschließende Dichotomie funktioniert folgendermaßen: Lichtmetaphorik, die Fähigkeit, die Welt „im Lichte des Geistes“ zu sehen, schlägt in Lichtmetaphysik um, wenn das Licht nicht mehr das „Worin“ der Erkenntnis ist, sondern zum primären Ziel der Schau wird. Der Mensch steht dann nicht mehr „im Licht“ einer intelligiblen Welt, er wendet seinen Blick von den Erscheinungen ab, um in ein verabsolutiertes transzendentes Licht zu blicken und sich von ihm blenden zu lassen. Den Gipfelpunkt dieser Bewegung verortet Blumenberg bei Dionysius Areopagita: „Absolutes Licht und absolute Finsternis fallen zusammen. Konsequent wird der Areopagite aller Mystik die Formel vom θεῖον σκότος vorprägen.“47 Oder sehr ähnlich, rund ein Jahrzehnt früher, bei Bultmann: Das Licht der Gottheit erleuchtet nicht die Welt, sondern ist der direkte Gegenstand der Schau. Was wird noch geschaut? Nichts mehr als das Licht selbst, das ohne Schatten ist, in dem es deshalb keine Schatten mehr gibt, sondern nur die unterschiedslose Flut des Leuchtens, in der alles eins ist.48

Was Blumenberg betrifft, so differenziert er für die Spätantike bezeichnenderweise nicht zwischen Gnosis und Neuplatonismus bzw. deren jeweils heidnischen und christlichen Ausprägungen. Bei seiner Subsumierung sämtlicher Strömungen der spätantiken Lichtmetaphysik unter den Begriff der „Lichtflucht“49 (ausgenommen Augustinus) wird allerdings das Konzept einer Verwandlung durch Licht ausgeklammert und damit die Vorstellung, dass Licht, so jenseitig es auch aufgefasst wird, dennoch mit der Welt etwas zu tun haben und an ihr „Anteil nehmen“ könne. Ich denke, dass eine literarische Poetik des Lichts eher bei dem de-metaphorisierenden, also buchstäblichen Verständnis als an dem von Blumenberg favorisierten „Im47 Blumenberg, Hans: „Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung“, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M. 2001, 139–171, hier 145. Das neuzeitliche/aufklärerische „Verfügen“ über das Licht bewertet freilich auch Blumenberg in seinem Durchgang kritisch (ganz im Einklang mit Horkheimer/Adorno). Ebd., 167–171. Vgl. zu Blumenbergs Licht-Metaphorologie Stoellger, Philipp: Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont. Tübingen 2000, 70–80. Stoellger geht u.a. auf Derridas Gegenposition ein, wonach die Geistmetaphysik kein Verfallsprodukt darstelle, sondern schon im „metaphorischen“ Stadium enthalten sei. Ebd., 75/76. – Fließender als Blumenberg (und ohne Polemik gegen den das spätantike Denken) präsentiert den Übergang zwischen Lichtmetaphorik und Lichtmetaphysik Werner Beierwaltes’ Dissertation: Lux intelligibilis. Untersuchung zur Lichtmetaphysik der Griechen. München 1957. 48 Bultmann, Rudolf: „Zur Geschichte der Lichtsymbolik im Altertum“, in: Philologus 97 (1948), 1–36, hier 32. 49 Von „Flucht ins Licht“ spricht ebenfalls schon Bultmann. Ebd., 35.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

23

Licht-Stehen“ der Lichtmetaphorik50 anschließen sollte – einfach deshalb, weil Literatur nicht in erster Linie ein Erkenntnisinstrument, genauer: weil ihre Erkenntnisweise grundsätzlich keine gezielte, sondern eine absichtslose ist. Wie aber lässt sich dies theoretisch umschreiben? Gewisse Ansätze einer nicht-metaphorischen Konzeptualisierung des Lichts sind in den literaturgeschichtlichen Arbeiten des russischen Mediävisten Dmitrij Lichačev zu beobachten. In Lichačevs Beschreibungen von Lichtphänomenen in der mittelalterlichen russischen Literatur steht weniger die Horizontbildung durch Licht im Vordergrund, als vielmehr die Annahme einer unperspektivischen Kraft, einer „totalisierende[n] Energie“ (Voss51), die die ganze Welt eines Textes und letztlich den Text selbst erst hervorbringe. Als würde er eine Gegendarstellung zu Blumenbergs Studien schreiben, versucht Lichačev, die mystische Lichttheologie des Dionysius Areopagita und des Gregorios Palamas als literaturgeschichtliche Metasprache geltend zu machen. So hat Lichačev die seither zu einem Mythos der slavistischen Mediävistik gewordene These aufgestellt, der Hesychasmus, jene mystische Strömung des ostchristlichen Mönchtums, habe auch eine spezifisch „mystische“ Schreibweise hervorgebracht. Der Erzbischof von Thessaloniki Gregorios Palamas, der in der Polemik mit dem skeptischen Barlaam von Kalabrien52 erfolgreich die Unkörperlichkeit des Taborlichts verteidigte, indem er zwischen den „energetischen“ Mitteilungen (der ungeschaffenen Gnade) und dem unerkennbaren, unmitteilbaren Wesen (οὐσία) Gottes unterschied,53 wird so gewissermaßen zum Theoretiker der Literatur. Lichačev 50 Eine modellhafte Anwendung von Blumenbergs Lichtmetaphorologie auf neuzeitliche Literatur findet sich bei Pfeiffer, Helmut: „Metapher und Totalität. Zum Verhältnis von Raum und Wirklichkeitsbegriff in Victor Hugos Misérables“, in: Poetica 11 (1979), 149–175, hier 162–167. Pfeiffer spricht von der „ungebrochene[n] normative[n] Geltung der Metaphorik des Lichts“ bei Victor Hugo, was ihm erlaubt, Les Misérables als vor- bzw. antimodernen Roman zu klassifizieren. Ebd., 163. Blumenbergs Begriff der Lichtmetaphysik klammert Pfeiffer aus. – Eine ‚lebensweltlich‘ argumentierende, aber letztlich sehr ähnlich wie bei Blumenberg verlaufende Unterscheidung schlägt Gernot Böhme vor: zwischen Helle („Atmosphäre“) und Licht („Gegenstand“). Vgl. die Kapitel „Licht als Atmosphäre“ und „Licht sehen“ in Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Berlin 20137, 134–142, 143–158. 51 Voss: „Das Licht und die Worte“, 79. 52 Barlaam argumentierte gegen die Lichtvisionen der hesychastischen Mönche naturalistisch: „Das Licht, das auf dem Tabor glänzte, war nicht unzugänglich, war nicht das wahre Licht der Gottheit; es ist nicht nur nicht vortrefflicher als die Engel, sondern auch niedriger als unser Denken. Alle unsere Ideen und unser Philosophieren sind besser als dieses Licht, das vermittels der Luft bis in unsere Augen gelangt.“ Zit. nach Onasch, Konrad: Das Problem des Lichtes in der Ikonenmalerei Andrej Rublevs. Zur 600-Jahrfeier des großen russischen Malers. Berlin 1962, 26. 53 Vgl. Lossky, Vladimir: „La théologie de la lumière chez Saint Grégoire Palamas“, in: ders.: A l’image et à la ressemblance de Dieu. Paris 1967, 39–65, hier 50–52. Gegen die palamitische Distinktion und ihre Fortschreibung u.a. bei Lossky sind vor allem von westlicher Seite Einwände vorgebracht worden. Die Unterscheidung von Essenz und Energie reifiziere die

24 Einleitung

weitete den Begriff des Hesychasmus54 stark aus und interpretierte diesen als kulturbildende Bewegung, die in die verschiedensten Felder ausgegriffen habe – zunächst in Byzanz, dann im südslavischen Raum, und ab dem 14. Jahrhundert in Russland. Nach Lichačev gibt es einen hesychastischen Stil in der Literatur genauso wie einen Hesychasmus der Ikonenmalerei (vor allem bei Andrej Rublev). Er verbindet mit dem Namen ein ganzes Weltgefühl, eine neu erschlossene „Emotionalität“ der Geistlichkeit des 14./15. Jahrhunderts, und geht so weit, von dieser hesychastischen Bewegung als einer russischen Vor-Renaissance („предвозрождение“) zu sprechen. Besonders interessant ist in unserem Zusammenhang Lichačevs Versuch, dem sog. плетение словес (Weben der Wörter), das in der russischen Philologie bis in die 1950er Jahre als vernachlässigbarer Manierismus galt,55 in den Rang einer mystischen Ausdrucksform zu erheben. Als Angelpunkt dient ihm die palamitische Theologie mit ihrem Grundsatz der Unerkennbarkeit und Unaussprechlichkeit Gottes. Neu ist bei den Hesychasten nach Lichačev das Vertrauen in das „energetische“ Potential der Literatur (und der Ikonenmalerei), Unbenennbares gleichwohl zu benennen.56 Was bei den Mönchen die Krümmung des Körpers, die exzentrische Nabelschau, das Aufsagen des Jesusgebets im Herzen und schließlich die Lichtvision war,57 das sei für den Schriftsteller das emotional aufgeladene Verweben der Wörter zu einer höheren Einheit: Geistige Zustände des Menschen wurden in Literatur und Malerei auch früher dargestellt, doch nun verbanden sie sich mit Emotionen, mit mystischen Erlebnissen einzelner, oft abgeschieden lebender Personen. Die Lehre des Gregorios Palamas von der alles begrenzenden Unerkennbarkeit der Gottheit für den Verstand und von der Unmöglichkeit, die Gottheit in Worte zu fassen, fand ihre Entsprechung in der Literatur, im Stil des „Wortwebens“, in den gewöhnlichen Vorworten der Autoren, in denen sie über die Unmöglichkeit sprachen, in Worten die ganze Heiligkeit jener Themen auszudrücken, die sie sich vornahmen; sie beklagten sich, über keine „himmlische Sprache“ zu verfügen. Die Unmöglichkeit der Gotteserkenntnis durch den Geist bedeutete jedoch keineswegs die Unmöglichkeit, mit Gott in Verbindung zu treten. Im Gegenteil, Theologie, Malerei und Literatur strebten namentlich nach Kommu-

54 55 56 57

Grenze des menschlichen Erkennens zu einer Grenze im Gottesbegriff selbst. Auf diesen Einwand reagierten orthodoxe Denker wiederum mit dem Hinweis, dass die orthodoxe Theologie umgekehrt die scholastische Vorstellung von der „Einheit“ Gottes immer schon skeptisch betrachte. Vgl. Nichols, Aidan: „John Meyendorff and neo-Palamism“, in: ders.: Light from the East. Authors and Themes in Orthodox Theology. London 1995, 41–56, hier 50–56. Vgl. für einen Überblick über den politischen Kontext des Hesychasmus in Russland Billington, James: „The Muscovite Ideology“, in: ders.: The Icon and the Axe. An Interpretative History of Russian Culture. New York 1970, 47–77. Vgl. Børtnes, Jostein: Visions of Glory. Studies in Early Russian Hagiography. English Translation Jostein Børtnes and Paul L. Nielsen. Oslo/New Jersey 1988, 89/90. Zum paradoxen Verhältnis von Rhetorik und Schweigen in den Heiligenviten vgl. Lachmann: „Schweigen und Reden in der altrussischen Kultur“, 596–602. Zu den ekstatischen Aspekten des Hesychasmus ebd., 598/599.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

25

nikation mit dem Göttlichen und suchten es in emotionalen und irrationalen Sphären, im Bereich persönlicher Gefühle, mystischer Erleuchtungen, im Bereich des Augenblicklichen, Unwiederholbaren, zutiefst Individuellen, Dynamischen, im unkörperlichen Licht und der göttlichen Energie, die alles Existierende verknüpft.58

Für historisch-kritische Einwände bot diese emphatische Sichtweise breite Angriffsfläche. Eine der westlichen Renaissance vergleichbare Vor-Renaissance, so ein häufiger Einwand, habe im ostslavischen Raum nie stattgefunden.59 Auch aus dem Selbstverständnis des Hesychasmus erscheint der Entwurf einer gesteigerten Individualität und Emotionalität der Mönche problematisch, da die ostchristliche Mystik weniger eine ekstatische als eine betont „nüchterne“ war. Andererseits hatte etwas früher als Lichačev der in Fragen der Orthodoxie skrupulöse Vladimir Lossky mit vergleichbarer Begeisterung geschrieben, dass das geschaffene Universum im Lichte der göttlichen Energien (also nach der palamitischen Lehre) nicht mehr wie ein „aspect pâle et chétif d’une mauvaise réplique de Dieu“, sondern als ein „être absolument nouveau“ erscheine.60 Ob dies dem historischen Phänomen des Hesychasmus gerecht wird, ist zweitrangig. Was mich hier interessiert, ist der Umstand, dass das Licht in Lichačevs literarischem (oder auch Losskys existenziellem) Hesychasmus entbildlicht, zu einer ungegenständlichen Energie wird, die sich nicht visuell definieren lässt – es sei denn in einer subtilen Ikonentheologie. Weitergeführt wurde Lichačevs ‚mystischer‘ Lektürestil von dem Schriftsteller und Essayisten Andrej Sinjavskij in seiner russischen Kulturgeschichte Ivan-durak (Ivan der Dumme, 1991). Diese öffnet mit einem Kapitel über die „световая природа прекрасного“ / „Lichtnatur des Schönen“, in dem der Glaube des russischen Volksmärchens an die strahlende Schönheit skizziert wird. Licht markiere, so Sinjavskijs Argument, im Märchen den Punkt, an dem die „Möglichkeiten der Sprache“ versagten: „[…] свет поет и стреляет, потакая желанию сказки превзойти себя и все-таки высказать то, о чем не дано «ни в сказке сказать, ни пером описать».“61 „[…] das Licht singt und schießt hervor – so nachsichtig ist es mit dem Wunsch des Märchens, über sich hinauszugehen und trotz allem zu sagen, was weder in der ‚Sage gesagt, noch von der Feder beschrieben‘ werden kann.“ Diese Personifizierung des Märchens als Kleinkind steht in direktem Zusammenhang mit Sinjavskijs Vorstellung von einem ganz wie bei Lichačev energetischen, die Märchenwelt hervorbringenden „Morse-Kode“62 aus Licht. 58 Lichačev, Dmitrij: Razvitie russkoj literatury X–XVII vekov. Ėpochi i stili [1962], in: ders.: Izbrannye raboty v trech tomach. Tom 1. Leningrad 1987, 102–158, hier 124/125 [das Kapitel „Predvozroždenie v literature“]. 59 Vgl. die Darstellung der Debatte bei Børtnes: Visions of Glory, 94–103. 60 Lossky, Vladimir: Essai sur la Théologie mystique de l’Église d’Orient. Paris 1944, 91. 61 Sinjavskij, Andrej: Ivan-durak. Očerk russkoj narodnoj very. Moskva 2001, 18. 62 Ebd., 12.

26 Einleitung

Ob man nun Trubeckojs Suche nach dem Taborlicht, Lichačevs energetisches Wortweben oder Sinjavskijs Morse-Kode des Lichts nimmt – es geht dabei immer um eine unperspektivierte ‚Lebendigkeit‘ des Literarischen. Das Licht wird zum lebendigen Platzhalter für die Sprachlosigkeit. Dies wiederum ist nur möglich mit einem Licht, das sich nicht in purer Offenheit, Durchsichtigkeit, Brillanz erschöpft, sondern irgendwie schwarz gefiltert ist (Derrida),63 sich als göttliche Finsternis zeigt (Dionysius Areopagita), von Unergründlichkeit durchwoben wird (Palamas) oder, in Jean-Luc Marions Terminologie, wenn das Sichtbare mit Unsichtbarem „saturiert“ ist.64 Es ist bestimmt kein Zufall, dass sowohl Lichačev wie auch Sinjavskij große Bewunderer von Pasternak waren und diesen in einer Reihe von Vorworten in Begriffen des ‚Energetischen‘ und ‚Dynamischen‘ dem sowjetischen Publikum vorstellten.65 Nun fragt sich aber, was bei einer derart positiven Aufladung des Lichts von der mystischen Negativität noch übrig bleibt. Interessanterweise hat Sergej Averincev in einem kurzen Essay Pasternak heuristisch die via positiva und Osip Mandel’štam die via negativa der theologischen Tradition zugewiesen: Pasternaks Gedichte vermittelten den Eindruck von sprachlich-formaler „Dichte“ („густота“), jene Mandel’štams den Eindruck von „Dünnheit“ („разреженность“).66 Die metapoetische Metapher der „Dichte“ ist dem „Weben“ nicht unverwandt und legt wie dieses keinen der beiden theologischen Wege eindeutig nahe. Wortreichtum ist nicht notwendig ein „positiver“ Weg, genauso wie Wortkargheit nicht unbedingt „Negativität“ bedeuten muss. Das zeigt Boris Gasparov, wenn er die ‚dichte‘ Virtuosität des frühen Pasternak als Suche nach einem „wortlosen“ bzw. „vorsprachlichen“ Zustand bezeichnet67 – was wiederum ziemlich exakt der Einebnung der Sprache durch das „Wortweben“ nach Lichačev entspricht. Klar ist: Diese nicht-metaphorischen, absoluten Beschreibungen sind grundsätzlich unvereinbar mit dem Aufklärungsbegriff, der Licht als Metapher für das Vermögen zu Abstraktion, Analogiebildung, Wahrheit auffasst. Damit kommen wir zurück zu Pasternak. In seinem Memoirentext Ochrannaja gramota (Schutzbrief, 63 Levinas spricht in Bezug auf Maurice Blanchots literarische Ästhetik von „noire lumière“ und von „lumière qui défait le monde“. Lévinas, Emmanuel: „Le regard du poète“ [1956], in: ders.: Sur Maurice Blanchot. Monpellier 1975, 7–26, hier 23. 64 Marion, Jean-Luc: Dieu sans l’être. Hors-texte. Paris 1982, 28. 65 Siehe u.a. Sinjavskij, Andrej: „Poėzija Pasternaka“, in: Pasternak, Boris: Stichotvorenija i poėmy. Moskva/Leningrad 1965, 9–62; Lichačev, Dmitrij: „Boris Leonidovič Pasternak“, in: Pasternak, Boris: Izbrannoe v dvuch tomach. Tom pervyj. Stichotvorenija i poėmy. Moskva 1985, 3–28. 66 Averincev, Sergej: „Pasternak i Mandel’štam: opyt sopostavlenija“, in: Izvestija Akademii nauk SSSR. Serija literatury i jazyka, 49, 3 (1990), 213–217, hier 214. 67 Gasparov, Boris: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki (Filosofija. Muzyka. Byt). Moskva 2013, 50.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

27

1931) schreibt er, dass Kunst, die „nur die Wahrheit sagte“ – also rational qua Lichtmetaphorik umformulierbar wäre –, notwendig am Leben vorbeizielen müsste: Что делает честный человек, когда говорит только правду? За говореньем правды проходит время, этим временем жизнь уходит вперед. Его правда отстает, она обманывает. Так ли надо, чтобы всегда и везде говорил человек? […] По-русски врать значит скорее нести лишнее, чем обманывать. В таком смысле и врет искусство. Его образ обнимает жизнь, а не ищет зрителя. Его истины не изобразительны, а способны к вечному развитью.68 Was tut ein ehrlicher Mensch, wenn er nichts als die Wahrheit sagt? Bei dem Die-Wahrheit-Sagen vergeht die Zeit, mit dieser Zeit geht das Leben fort nach vorn. Seine Wahrheit bleibt zurück, sie trügt. Ist es so nötig, daß der Mensch immer und überall spricht? […] Auf russisch lügen heißt eher etwas dazudichten als betrügen. In diesem Sinn lügt die Kunst auch. Ihr Bild umfaßt das Leben und sucht nicht den Betrachter. Ihre Wahrheiten sind nicht Ausdruck, sondern zu einer ewigen Entwicklung fähig.69

Zentrale Züge von Pasternaks künstlerischer Metaphysik versammeln sich in dieser Stelle. Das „Leben“ soll weder angeschaut noch abgebildet werden, sondern „umarmt“ und „unendlich entwickelt“ durch ein „Bild“, das aber nicht visuell sein und keinem Betrachter ausgestellt sein will – das insofern auch kein Bild mehr ist. Und so handelt Ochrannaja gramota im Ganzen von einem Licht, das mehr und mehr von einer unsichtbaren „Kraft“ überschrieben wird. Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem unvorsichtigen „Daherreden“ („нести лишнее“) – das mit dem Verb врать tatsächlich auch gemeint wird – und der „Umarmung“, jener Annäherung, die dem reinen Licht der Wahrheit entgegensteht.70 In diesem Sinne ist Pasternak ein „okularphober“ Dichter und Denker der Moderne. Mit Antoine Compagnon könnte man ihn außerdem (wenn auch sehr pauschal) als „Antimodernen“ bezeich-

68 Ochrannaja gramota, PSS, III, 148–238, hier 178 (Hervorhebung im Orig.). Vgl. zu dieser oft zitierten Stelle Mallac, Guy de: „Ėstetičeskie vozzrenija Pasternaka“, in: Aucouturier, Michel (Hrsg.): Boris Pasternak, 1890–1960. Colloque de Cérisy-la-Salle (11–14 septembre 1975). Paris 1979, 63–80, hier 72. 69 Der Schutzbrief [übers. v. Elke Erb], in: Pasternak, Boris: Prosa und Essays. Berlin/Weimar 1991, 233–361, hier 277. 70 Bemerkenswert, wie nah dieser Position aus Ochrannaja gramota Geoffrey Hartman in seiner emphatischen Studie The Unmediated Vision (1954) kommt: „Art […] has this advantage over the other modes of knowledge: it, alone, is in the service of no one, not even of truth. For truth, even when sought for its own sake, will surely destroy in the searcher his consciousness of human responsibilities. Abstraction is never less that total. Great poetry, however, is written by men who have chosen to stay bound by experience, who would not–or could not–free themselves by an act of knowledge from the immediacy of good and evil.“ Hartman, Geoffrey H.: The Unmediated Vision. An Interpretation of Wordsworth, Hopkins, Rilke, and Valéry. New York 1966, xi.

28 Einleitung

nen, als einen, der an der Instrumentalität des Denkens überhaupt zweifelt.71 Ebenfalls zutreffend wäre in dieser Perspektive Isaiah Berlins Etikett des romantischen „Counter-Enlightenment“, eines antiklassifikatorischen, organizistischen, intuitivistischen Denkens.72 Solche Zuschreibungen haben alle einen sachlichen Kern und werden sich in dieser Studie des Öfteren bewahrheiten. Zugleich haben sie sich stets an mindestens zwei konträren Faktoren zu messen: einerseits an Pasternaks so gründlicher Beschäftigung mit dem rationalistischen Neukantianismus Hermann Cohens – und andererseits an seinem ambivalenten, aber doch nie ganz widerrufenen Bekenntnis zum Aufklärungsprojekt der Russischen Revolution.

Wort – Licht – Leben: Zur Poetologisierung des Johannesprologs Lassen wir diese tatsächlich komplexen Fragen zunächst noch offen. Sicher kann man sagen, dass die Hypothese vom Vorrang des „Lebens“ vor der Erkenntnis nicht notwendig zu einer irrationalistischen oder, mit Blumenberg, „weltflüchtigen“ Ästhetik führen muss. Zumindest kann diese Hypothese kaum bewertet werden ohne Blick auf einen in der (russischen) Schriftkultur der Moderne allgegenwärtigen Topos: die Verknüpfung des Lichts mit dem Logos (Слово), also den Topos, wonach „sagen“ einhergehe mit „leuchten“. Einige Bemerkungen hierzu sind unabdingbar. Dieser Grundzug der Poetologie ist in der europäischen Kultur zu einem guten Teil aus dem Prolog des Johannesevangeliums zu erklären,73 verlässt allerdings die Grenzen der Theologie äußerst leicht – gerade in der Moderne. Man kann von einer Imprägnierung durch die platonisch-johanneische Logosspekulation sprechen, die explizit ebenso wie latent oder in säkularisierender Distanzierung bzw. Negation wirksam sein kann.74 Was aber ist mit der Engführung von Licht und Logos, von Leuchten und Sagen überhaupt gemeint, und inwiefern fällt sie in unser Thema? Beginnen wir mit einem Beispiel. Der religiöse Denker und Privatgelehrte Mitrofan 71 Compagnon, Antoine: Les antimodernes. De Joseph de Maistre à Roland Barthes. Paris 2005, 47. 72 Berlin, Isaiah: „The Counter-Enlightenment“, in: ders.: Against the Current. Essays in the History of Ideas. Oxford 1989, 1–24, hier 17–19. 73 Was den Vorrang des Johannesevangeliums in der Orthodoxie betrifft, so hat sie mit der entscheidenden Bedeutung des Johannesprologs für die Christologie zu tun. Vgl. Felmy, Karl Christian: Die orthodoxe Theologie der Gegenwart. Eine Einführung. Darmstadt 1990, 10. 74 Sergej Trubeckoj, Bruder des schon mehrfach erwähnten Evgenij Trubeckoj, publizierte 1906 eine philologisch-philosophische Studie, die die „hellenistische“ Logosspekulation des orthodoxen Christentums gegen ihre protestantischen Kritiker – allen voran Adolf Harnack – ins Recht setzten sollte. Trubeckoj, Sergej: Učenie o Logose v ego istorii. Filosofsko-istoričeskoe issledovanie. Sobranie sočinenij. T. 4. Moskva 1906, 1. Trubeckoj betont den Ausgleich zwischen Spekulation (умозрение) und Erfahrung (опыт), den die antike Lehre vom Logos in der johanneischen Inkarnationstheologie erfahren habe. Ebd., 9/10, 160.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

29

Lodyženskij (1852?–1917) eröffnete 1915 seine mystisch-okkulten Reflexionen Svet nezrimyj / Unsichtbares Licht mit den Sätzen: Кто из нас не читал откровений Евангелия об Логосе? Кто не помнит начертанных там слов? «В начале было Слово (Λόγος) и Слово было у Бога. Все через Него (Слово) начало быть. В Нем была жизнь и жизнь была свет человеков». И кто из нас не старался постигнуть глубокий смысл этих изречений? Первое, что невольно отпечатлевается в мысли нашей после прочтения этих изречений, это то, что под Логосом здесь разумеется сила, – сила, зиждущая вселенную, и притом сила, творящая в человеке «свет». Какой свет?75 Wer von uns hat nicht die Offenbarungen des Evangeliums vom Logos gelesen? Wer erinnert sich nicht an die dort aufgezeichneten Worte? „Am Anfang war das Wort (Λόγος) und das Wort war bei Gott. Alles ist durch es (das Wort) geworden. In Ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen“. Und wer von uns hat nicht versucht, den tiefen Sinn dieser Aussagen zu ergründen? Das Erste, was unweigerlich einen Abdruck in unserem Geist hinterläßt, ist dies: dass unter dem Logos hier eine Kraft verstanden wird – eine Kraft, die das Universum bewahrt, und dabei ist es eine Kraft, die im Menschen ein „Licht“ erschafft. Was für ein Licht ist das?

Es geht hier zunächst um die im Johannesprolog aufgestellte Reihung Gott – Logos – Leben – Licht – Welt – Mensch. In seiner Abhandlung versucht Lodyženskij die Frage nach dem Licht, das sich offenbar in einer Mittlerposition befindet, mit immer neuen Beispielen von Lichtvisionen zu beantworten, wie sie in der Philokalie (Dobrotoljubie) nachzulesen sind.76 Seine Explikation des Logos als „Kraft“ lenkt allerdings vom entscheidenden Vorgang im Johannesprolog eher ab: vom Vorgang der Belebung des Lichts. Im Artikel „Lumière“ aus dem Dictionnaire de spiritualité, der in den meisten begriffsgeschichtlichen Bibliographien zum Licht figuriert, heißt es zum johanneischen Lichtverständnis prägnant: La lumière est christophanie. La lumière, symbole d’une réalité divine entrevenue, est maintenant une personne: Jésus. On passe ainsi du plan du symbole et des images au plan existentiel de l’expérience d’une rencontre avec Quelqu’un: le Verbe de Dieu fait chair.77 75 Lodyženskij, Mitrofan: Mističeskaja trilogija. Tom II. Svet nezrimyj. Petrograd 1915, 1 (Hervorhebungen im Orig.) 76 Zur Geschichte der Philokalie in Russland vgl. Lachmann: „Schweigen und Reden in der altrussischen Kultur“, 602. 77 „Lumière“, in: Dictionnaire de spiritualité, ascétique et mystique, doctrine et histoire. Tome IX. Paris 1976, 1142–1183, hier 1145. Vgl. dazu auch Joh 8, 12: „Ich bin das Licht der Welt [φῶς τοῦ κόσμου]. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens [φῶς τῆς ζωῆς] haben.“ Mit dem „Christus des Glaubens“ identifiziert wurde der „Logos der Philosophen“ auf der Basis des Johannesprologs bei den anti-gnostischen Kirchenvätern. Vgl. Harnack, Adolf: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Erster Band. Die Entstehung des kirchlichen Dogmas. Vierte, neu durchgearbeitete und vermehrte Auflage. Tübingen 1909, 699. Wie übrigens David Chidester zeigt, war das „Strahlen“ des Wortes im

30 Einleitung

Wenn das Licht zu einer Person und entsprechend das Symbolische zu einer belebten Realität wird, so ereignet sich, in Blumenbergs Begrifflichkeit, der Sprung von der Lichtmetaphorik in die Lichtmetaphysik. Gerade der Umstand der Personalisierung des Lichts kann jedoch mit Blumenbergs Begrifflichkeit nicht restlos erfasst werden. Zwar sind die theologischen Folgen dieser Personalisierung nicht das Thema der vorliegenden Studie. Doch die Belebung ist auch in poetologischem Zusammenhang von eminenter Bedeutung, da sie eine unerhörte Erhebung, ja Heiligung der Sprache möglich macht. Wenn das göttliche Wort Licht ist und das Licht eine Person, so kann auch das menschliche Wort „Licht“ werden. Eine derartige Ausdehnung des Johannesprologs ist in so manchen metapoetischen Gedichten zu beobachten, sehr explizit etwa in Nikolaj Gumilevs „Slovo“ („Das Wort“, 1921): Но забыли мы, что осиянно Только слово средь земных тревог И в Евангелии от Иоанна Сказано, что слово это Бог.78 Aber wir vergaßen, dass leuchtend Unter irdischen Kümmernissen nur das Wort ist, und im Evangelium nach Johannes steht, dass das Wort Gott ist.

Nur das dichterische Wort ist hell leuchtend in der Finsternis der Welt – und qua Johannesprolog genießt es quasi göttlichen Status. Die vollständige Topik Wort – Licht  – Leben findet sich in einem ebenfalls „Slovo“ überschriebenem Gedicht Arsenij Tarkovskijs von 1945: Слово только оболочка, Пленка, звук пустой, но в нем Бьется розовая точка, Странным светится огнем, Бьется жилка, вьется живчик, А тебе и дела нет, Что в сорочке твой счастливчик Появляется на свет.79

frühen Christentum nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Am Konzil von Nizäa bestritt Arius die Kontinuität zwischen Vater und Sohn und damit auch die leuchtende Ausstrahlung des Logos. Gegen Arius betonte Athanasius die Kontinuität zwischen Vater und Sohn, also auch die Aussendung des Lichts durch den Logos. Chidester, David: Word and Light. Seeing, Hearing, and Religious Discourse. Urbana/Chicago 1992, 43–50. 78 Gumilev, Nikolaj: Ognennyj stolp. Peterburg 1921, 17. 79 Tarkovskij, Arsenij: Stichotvorenija. Poėmy. Perevody (1929–1979). Moskva 1982, 54.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

31

Das Wort ist nur Hülle, Ein Häutchen, ein leerer Klang, doch in ihm Pulsiert ein rosaroter Punkt, Der wie ein fremdes Feuer leuchtet, Ein Äderchen pulsiert und schlingt sich, Und was kümmert es dich, Dass in einem Hemd dein Günstling Auf der Welt, im Licht erscheint.

Das Wort ist eine „Haut“, die ein „pulsierendes“ inneres Licht umschließt, und der Dichter, der „Günstling“ des Wortes, kommt erst dann „zur Welt“, wenn dieses Licht in ihm aufleuchtet. Er ist, wie das Wort, nur ein Hülle für das „Licht des Lebens“; er ist das Wort (mit einem Hemd als Hülle). – Ein Beispiel für die Anziehung zwischen Licht und Leben auf der Sujetebene eines Prosatextes wäre die Povest’ „K žizni“ („Zum Leben“, 1908) von Vikentij Veresaev, dem Autor der populären Dostoevskij-/Tolstoj-Nietzsche-Studie Živaja žizn’ (Das lebendige Leben, 1910). In „K žizni“ tritt die Wortwurzel свет- nahezu ebenso oft wie das mantrahafte жизн-/ жив- auf, nämlich je über hundertmal.80 In der Philosophie schließlich kommt die Heiligung der Sprache durch die Licht-/Logostheologie bei Sergej Bulgakov pointiert zum Ausdruck: Der Logos findet in bezug auf die unaussprechliche […], für den Gedanken und das Wort transzendente Wesenheit seinen Ausdruck in dem Worte. Das Wort bedeutet in bezug auf die Substanz dasjenige, was geäußert, ausgesprochen, aus der unaussprechlichen Tiefe des Daseins ans Licht erhoben ist, wovon der Schleier des Dunkels abgezogen ist, wobei sich in dem Lichte die Mannigfaltigkeit, die Relation und die individuellen Züge offenbaren, das Antlitz des Seins sich zeigt und sein Wort, seine Wörter erschallen.81

80 Veresaev, Vikentij: „K žizni“, in: ders.: Sobranije sočinenij v pjati tomach. Tom 4. Moskva 1961, 3–118. Zum möglichen Einfluss von Versaevs Živaja žizn’ auf Pasternak vgl. Fateeva, Natal’ja: Poėt i proza. Kniga o Pasternake. Moskva 2003, 117/118. 81 Bulgakov, Sergius: „Was ist das Wort?“, in: Festschrift Th. G. Masaryk zum 80. Geburtstage. Bonn 1930, 25–70, hier 43. Vgl. zur Verschiebung zwischen göttlichem Logos und menschlicher Sprache Cassedy, Steven: „Icon and Logos. The Role of Orthodox Theology in Modern Language Theory and Literary Criticism“, in: Hughes, Robert/Paperno, Irina (Hrsg.): Christianity and the Eastern Slavs. Vol. II. Russian Culture in Modern Times. Berkeley/Los Angeles/London 1994, 311–324, hier 314/315: „Words behave like icons or like the Logos, and a great many Russian thinkers will wittingly or unwittingly exploit the natural confusion between the word slovo in its everyday sense as a unit of discourse and the word Slovo in its sense as the Word of God.“ Diese Einschätzung trifft übrigens auch auf die Sprachphilosophie Hans Georg Gadamers zu, für die der Johannesprolog eine der Hauptquellen ist. Vgl. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1960, 395/396, 457/458.

32 Einleitung

Die letzte Konsequenz der Logosspekulation ist bei Bulgakov und anderen russischen Religionsphilosophen die aus kirchlicher Sicht häretische Auffassung, wonach Gott ganz in seinem Namen enthalten sei.82 Und auch hier liegt eine Ausdehnung von Theologie auf die Sprache im Allgemeinen und auf die Dichtung im Besonderen nahe. So heißt es bei Bulgakov weiter in johanneischer Logik (die sich in diesem Fall nicht von archaischer Sprachmagie unterscheidet): „‚Es leuchtet‘ ist zu gleicher Zeit auch die von der leuchtenden Kraft des Kosmos gesättigte Idee des Leuchtens […].“83 Die Dichtung kann unter den Voraussetzungen eines solchen Denkens geradezu zu einem sakralen Ereignis werden. Aage Hansen-Löve hat für dieses Phänomen die Formel vom „russischen Logozentrismus“ geprägt und den Johannesprolog als „Manifest einer Onomatopoetik“ bezeichnet, „die den Anfang des verbalen Textes […] parallel setzt zum Anfang des Welttextes, der in Genesis 1 aus dem Schöpfungswort entfaltet wird“84. Weniger stark betont wird von Hansen-Löve, dass zu diesem Manifest auch die Inkarnation des Wortes gehört – „…und er ist Fleisch geworden [σὰρξ ἐγένετο] und hat unter uns gewohnt“ ( Joh 1, 14). Im Extremfall wird nicht nur die (dichterische) Sprache johanneisch überformt, sondern die Fleischwerdung des Logos soll vom und am Dichter wiederholt/nachgeholt werden. Es heißt ja, dass der Logos, das wahre Leben, in der Finsternis der Welt leuchtet, und dass die Finsternis ihn nicht angenommen habe (ἡ σκοτία αὐτὸ οὐ κατέλαβεν, Joh 1, 5).85 An dieser Diagnose ändert die Inkarnation in poetologischer Hinsicht zunächst wenig. Denn einer der Hauptgründe, weshalb der Johannesprolog in einem säkularen Kontext überhaupt immer wieder fortgeschrieben wurde, ist gerade die Intuition, dass die Fleischwerdung noch nicht ‚wirklich‘ stattgefunden habe oder so weit zurückliege, dass sie schon beinahe ‚nicht mehr wahr‘ 82 Vgl. zur dramatischen Kontroverse um das имяслaвие (den Namensglauben) der russischen Mönche auf dem Athos (1912/1913) im Zusammenhang mit der modernen orthodoxen Sprach- und Namensphilosophie Prat, Naftali: „Orthodox Philosophy and Language in Russia“, in: Studies in Soviet Thought 20 (1979), 2–21, hier 2. 83 Bulgakov: „Was ist das Wort?“, 44 (Hervorhebung im Orig.). Siehe dazu zuletzt auch Teresa Obolevitchs Losev-Studie Od onomatodoksji do estetyki. Aleksego Łosiewa koncepcja symbolu. Studium historyczno-filozoficzne. Kraków 2011. 84 Hansen-Löve, Aage: „Am Anfang war… das Wort. Zum Logozentrismus – à la russe“, in: Mülder-Bach, Inka/Schumacher, Eckhard (Hrsg.): Am Anfang war… Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne. München 2008, 71–90, hier 72. Für eine westliche Perspektive vgl. Gardner, Thomas: John in the Company of Poets. The Gospel in Literary Imagination. Waco, Texas, 2011, 13–17 85 Vgl. Bremer, Dieter: „Licht als universelles Darstellungsmedium“, in: Archiv für Begriffsgeschichte XVII, 2 (1974), 185–206, hier 195: „In der christlichen Metaphysik ist der Zusammenhang von Mensch (Seele), Welt, Wort und Licht theozentrisch an der Wort-Licht-Beziehung orientiert, dergegenüber Mensch und Welt durch den Charakter der unvollkommenen Rezeption gekennzeichnet sind […].“

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

33

sei und unter modernen Vorzeichen erneuert werden müsse. Eine neue, poetische Inkarnation tue not, wenn die Sprache, das Denken, das Leben der Zivilisation, wie Charles Taylor es ausdrückt, „exkarniert“ nurmehr in der Luft hängen.86 Taylor widmet in seiner großen Studie A Secular Age (2007) ein Kapitel jenen Dichtern, die aus Überdruss an der Moderne zum Christentum (zurück-)konvertierten. Und sein Erklärungsansatz solcher Konversionen taugt auch dann, wenn keine oder wie bei Pasternak eine nur schwer fassbare konfessionelle Konversion bekannt ist. Die Poesie – romantisch verstanden – hat nach Taylor selbst quasi konvertitischen Charakter; Sprache werde in ihr zu einem „Ereignis mit performativer Kraft“, statt routinemäßig instrumentell weiterverwendet zu werden.87 Diese Sicht mutet interessanterweise zutiefst formalistisch an und erinnert an Viktor Šklovskijs Entautomatisierungs-Postulat. Es ist freilich entscheidend, bei der modernen Inkarnation nicht nur an die Sprache, sondern an auch an den Dichter selbst zu denken, der aus dem Johannesprolog unter Umständen einen demiurgischen „Monolog“ macht88 und das Licht in seiner Person zur „Verlebendigung“ zu zwingen versucht.89 Das жизнетворчество  / Lebenschaffen der zweiten Symbolistengeneration90 kann demnach auch so verstanden werden: als Programm, das Logos-„Manifest“ des Johannes nicht bloß in der Poesie, sondern auch im Leben real werden zu lassen.

Zur Pasternak-Hagiographie: Der Dichter als Lichtträger und -bringer Es sind nicht nur die Dichter oder ihre Freunde, sondern oft Publizisten und Wissenschaftler, die neue Lichtträger und -überbringer konstruieren. In dieser Hinsicht entbehrt Pasternaks Fall nicht einer gewissen Ironie: Der Autor von Sestra moja – žizn’ / Meine Schwester – das Leben, von Ochrannaja gramota und Doktor Živago ist nach Puškin – der „Sonne“ der russischen Poesie – vielleicht der am meisten mit Licht und Leuchten assoziierte russische Dichter, und dies obwohl er in seinen Texten so viel Energie darauf verwendet hat, sich mit seiner (literarischen) Persönlichkeit und seinem lyrischen Helden als ein „weak subject“91 im Schatten, ja auf Vgl. Taylor, Charles: A Secular Age. Cambridge, Mass./London 2007, 746. Ebd., 756–758. Ebd., 760. Zum Begriff „Verlebendigung“ vgl. Langer, Gudrun: Kunst – Wissenschaft – Utopie. Die „Überwindung der Kulturkrise“ bei V. Ivanov, A. Blok, A. Belyj und V. Chlebnikov. Frankfurt a. M. 1990, 21. 90 Siehe Schahadat, Schamma: Das Leben zur Kunst machen. Lebenskunst in Russland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. München 2004, 39. 91 Gasparov, Boris: „Poetry of the Silver Age“, in: Dobrenko, Evgeny/Balina, Marina (Hrsg.): The Cambridge Companion to Twentieth-Century Russian Literature. Cambridge 2011, 1–20, 86 87 88 89

34 Einleitung

der Flucht vor dem Licht zu positionieren. Dieser Widerspruch muss unbedingt mitreflektiert werden, wenn man sich die umfangreiche ‚hagiographische‘ Literatur zu Pasternak vor Augen führt. Verschiedene Autoren haben sich einen Reim zu machen versucht auf die – nicht nur poetologische – Selbstherabsetzung Pasternaks. Igor’ Smirnov hat sie als „Exaltiertheit“, als „strategischen Plan“ und bewusste Herstellung eines Vakuums gedeutet, das der Künstler dann mit seiner „kriegerischen, grenzenlosen Kreativität“ ausfüllen würde.92 Aleksandr Žolkovskij lehnt es dagegen ab, bei Pasternak von einer „Politik des Selbst“, also von einer strategischen Grundeinstellung des Künstlersubjekts zu sprechen (wie er es in Bezug auf Anna Achmatova tut).93 Boris Gasparov spricht von einer „Anti-Strategie“ (gegenüber dem logischen Denken) im Pasternakschen Schreiben.94 Man kann sagen: Bei seiner tatsächlich zuweilen exaltierten Tendenz, das Licht von sich zu weisen, handelt es sich um den Versuch, möglichst jedes Bewusstsein vom eigenen Tun einzudämmen. Anti-strategisch ist diese Haltung insofern, als sie bewusst unbewusst oder, mit einer Formulierung Geoffrey Hartmans, „will removed from willfulness“95 zu sein versucht. Dies ist genau der Grund, weshalb Gasparov vorschlägt, Pasternaks Schreiben „jenseits der Poetik“ anzusiedeln oder den Begriff der Poetik hier wenigstens in Anführungszeichen zu setzen.96 Meine Frage wird nun sein, wie sich dazu die zahlreichen Erinnerungstexte verhalten, die Pasternak buchstäblich mit einer Aureole darstellen. Am Ursprung dieser Formation steht Marina Cvetaevas Berliner Rezension zum Gedichtbuch Sestra moja – žizn’ mit dem Titel „Svetovoj liven’. Poėzija večnoj mužestvennosti“ / „Licht-Regen. Poesie der ewigen Mannhaftigkeit“ (1922).97 Bis heute ist Cvetaevas Essay zweifellos die meistzitierte Referenz zu Pasternaks Lyrik, und ihr Entwurf einer Licht-Metaphorologie avant la lettre – mit all ihrem Changieren zwischen Objekt- und Beschreibungsebene, nach Blumenberg: dem Kippen von der Metaphorik in die Metaphysik – steht in mancherlei Hinsicht am Anfang meiner Untersuchung. Man kann „Svetovoj liven’“ geradezu als blinden Fleck der bis heute hier 17/18. 92 Smirnov, Igor’: „Pro ėtu knigu“, in: Fateeva: Poėt i proza, 5–7, hier 6. 93 Zholkovsky, Alexander: „The obverse of Stalinism: Akhmatova’s self-serving charisma of Selflessness“, in: Engelstein, Laura/Sandler, Stephanie (Hrsg.): Self and Story in Russian History. Ithaca/London 2000, 46–68, hier 68. 94 Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 45. 95 Hartman: The Unmediated Vision, 155. 96 Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 12. Zuvor schon in Gasparov, Boris: „Gradus ad Parnassum (samosoveršenstvovanie kak kategorija tvorčeskogo mira Pasternaka)“, in: Wiener Slawistischer Almanach 29 (1992), 75–105, hier 100. 97 Cvetaeva, Marina: „Svetovoj liven’. Poėzija večnoj mužestvennosti“, in: dies.: Sobranie sočinenij v semi tomach. Tom 5. Avtobiografičeskaja proza, stat’i, ėsse, perevody. Moskva 1994, 231–245. Vgl. zur Einordnung Ciepiela, Catherine: The Same Solitude. Boris Pasternak and Marina Tsvetaeva. Ithaca/London 2006, 76–79.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

35

nicht systematisch entwickelten Problemstellung ‚Pasternak und die Poetik des Lichts‘ bezeichnen. Wie ein Substitut der akademischen Beschäftigung dominiert Cvetaevas ‚spontaner‘ Essay die Forschungslage, die sich denn auch größtenteils auf gelegentliche Fußnoten oder, etwas überspitzt ausgedrückt, auf Vorwort-Rhetorik beschränkt. Erstaunlich selten ist darüber nachgedacht worden, wie sehr Cvetaeva die Beschäftigung mit Pasternak und sein Image unter der gebildeten Leserschaft geprägt hat. Das Konzept des „Licht-Regens“ – bei Cvetaeva zunächst eine Textmetapher – hat sich allem Anschein nach auf das Bild des Autors übertragen und haftet ihm seither unveräußerlich an. Dabei war es charakteristisch gewesen für Cvetaevas Text, den Dichter ungeachtet ihrer an Verliebtheit grenzenden Begeisterung98 an keiner Stelle mit dem Licht gleichzusetzen. Nicht lange nach der Publikation von „Svetovoj liven’“ beklagte sie sich in einem Brief an Pasternak, mit ihm seien keine „imaginäre Treffen“ möglich wie mit anderen ihr bekannten Dichtern, da er sich hinter seinem Schatten verstecke: А с Вами – удивительная вещь: я не мыслю себе Вашего дня. […] Вы у меня в жизни не умещаетесь, очевидно – простите за смелость! – Вы в ней не […] живете. Вас нужно искать, следить где-то еще. […] Вы точно вместо себя посылаете в жизнь свою тень, давая ей все полномочия.99 Mit Ihnen aber ist es eine erstaunliche Sache: Ich kann mir Ihren Tag nicht denken. […] Ich bringe Sie nicht bei mir im Leben unter, offensichtlich – entschuldigen Sie meine Kühnheit! – leben Sie nicht in meinem Leben. Man muss Sie suchen, Ihnen woanders nachspüren. […] Es ist, als würden Sie an Ihrer Stelle Ihren Schatten ins Leben hinausschicken, ausgestattet mit sämtlichen Vollmachten.

Cvetaeva liefert mit ihrer intimen Bemerkung eine treffende Beschreibung von Pasternaks Poetologie. Bezogen auf sein „schwaches Subjekt“ (Gasparov), stellt sich aber interessanterweise selbst der polemische Blick eines Vladislav Chodasevič als deskriptiv stimmig, geradezu hermeneutisch tiefsinnig heraus. Chodasevič schrieb 1928 (in einer Rezension zu Cvetaevas Poem Posle Rossii / Außerhalb Russlands): „Читая Пастернака, за него по человечеству радуешься: слава Богу, что все это так темно: если туман Пастернака развеять – станет видно, что за туманом

98 Vgl. dazu den Band Ril’ke, Rajner Marija/Pasternak, Boris/Cvetaeva, Marina: Pis’ma 1926 goda. Podgotovka tekstov, sostavlenie, predislovie, perevody, kommentarii K.  M.  Azadovskogo, E. B. Pasternaka, E. V. Pasternak. Moskva 1990 (dt. Briefwechsel. Herausgegeben von Jewgenij Pasternak, Jelena Pasternak und Konstantin M. Asadowskij. Aus dem Russischen übertragen von Heddy Pross-Weerth. Frankfurt a. M. 1983). 99 Brief an Boris Pasternak vom 19. November 1922, in: Cvetaeva: Sobranie sočinenij v semi tomach, 6, 226 (Hervorhebungen im Orig.)

36 Einleitung

ничего или никого нет.“100 „Beim Lesen von Pasternak freust du dich im menschlichen Sinne für ihn: Gott sei Dank, dass das alles so dunkel ist; lichtet man Pasternaks Nebel, so wird sichbar, dass hinter dem Nebel nichts oder niemand ist.“ Doch nebem dem Vorwurf der ‚Dunkelheit‘, der bis heute an Pasternaks Gedichte getragen wird und dabei selten die Konkretheit von Chodasevičs Äußerung hat, ist zweifellos das Bild vom ‚lichten‘ Pasternak prägend geworden. Zehn Jahre nach Cvetaevas Rezension, 1932, lesen wir im Tagebuch des Dichters, Übersetzers und Philologen Kornej Čukovskij: „[Пастернак] Пришел и поднял температуру на 100˚. При Пастернакe невозможны никакие пошлые разговоры, он весь напряженный, радостный, источающий свет.“101 „Er [Pasternak] kam und ließ die Temperatur auf hundert Grad ansteigen. In Pasternaks Gegenwart sind keine abgeschmackten Gespräche denkbar, er ist ganz und gar angespannt, freudenvoll, Licht verströmend […].“ Hier schickt Pasternak nicht seinen Schatten aus, er ist totale Gegenwart und sein Dichter-Wort ist Licht – ganz nach dem oben entwickelten johanneischen Modell. Ob es tatsächlich die Suggestivität von Cvetaevas Essay ist, die hier nachwirkt, lässt sich nicht mit Sicherheit belegen. Interessant ist, dass Čukovskijs Tochter Lidija Čukovskaja noch einmal fünfzehn Jahre später, 1947, anlässlich einer Privatlesung aus dem damals entstehenden Roman Doktor Živago sehr ähnlich wie ihr Vater im Tagebuch festhält: „Потом он [Пастернак] начал читать. / Будто все окна открыли, будто я вступила в какую-то новую, легкую и светлую жизнь.“102 „Dann begann er [Pasternak] zu lesen. / Als wären alle Fenster geöffnet worden, als hätte ich ein neues, leichtes und lichtes Leben betreten.“ Die Charakterisierung des Schreibens als ‚Fensteröffnen‘ und ‚Lichteinlassen‘ erinnert übrigens wiederum an die Puškin-Topik, wie sie von Pasternak selbst im Roman aufgerufen wird. Živago hält in seinem Tagebuch fest: „В стихотворение [Пушкина], точно через окно в комнату, врывались с улицы свет и воздух, шум жизни, вещи, сущности.“103 „In das Gedicht [Puškins], wie durch ein Fenster in ein Zimmer, drangen von der Straße Licht und Luft, die Geräusche des Lebens, Dinge, Substanzen.“ Was das Stilideal des späten Pasternak betrifft, erfüllt sich in Čukovskajas Charakterisierung insofern auch ein Kalkül des Autors. Ein geradezu soteriologisches Licht strahlt Pasternak für den Dichter Nikolaj Stefanovič (1912–1979) aus, der ihm in den fünfziger Jahren seine Gedichte zuschickte und ihm enthusiastische Briefe schrieb. In Stefanovičs Briefen kommt es 100 Zit. nach Malmstad, Džon: „Edinstvo protivopoložnostej. Istorija vzaimootnošenij Chodaseviča i Pasternaka“, in: Literaturnoe obozrenie 2 (1990), 51–59, hier 56 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Für den Hinweis auf diese Stelle danke ich Anastasia. 101 Čukovskij, Kornej: Dnevniki, Eintrag zum 24. Februar 1932, zit. nach Pasternak: PSS, XI, 299. 102 Čukovskaja, Lidija; Dnevnik, 5./6. April 1947, zit. nach Pasternak: PSS, XI, 414. 103 Doktor Živago, 283.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

37

unverkennbar zu einer Rückprojektion der – alles in allem eher spärlichen – Lichtphänomene aus den Doktor Živago-Gedichten auf Pasternak. Zwei Beispiele: Во время болезни моей, во всю эту трудную зиму – были со мной Ваши стихи, Ваш роман, Ваша фотография, как опора, как защита от зла, как талисман, и источник света и здоровья.104 Während meiner Krankheit, in diesem ganzen so schweren Winter, waren Ihre Gedichte bei mir, Ihr Roman, Ihre Fotografie, wie eine Stütze, wie ein Schutz vor dem Bösen, wie ein Talisman und eine Quelle von Licht und Gesundheit. А поэтому не только все люди, но и звезды, и облака, и деревья должны радоваться и праздновать светлый и спасительный день Вашего появления на земле.105 Und darum sollten nicht nur alle Menschen, sondern auch Sterne, Wolken und Bäume sich freuen und den lichten und rettenden Tag Ihres Erscheinens auf Erden feiern.

An Pasternaks zurückhaltenden Reaktionen auf Stefanovičs Briefe kann man ablesen, dass sie – unabhängig von der Frage, ob sie ihm schmeichelten – zu wenig seine ästhetischen Ansichten spiegelten. Nichtsdestoweniger wirft Stefanovič in seiner Lobpreisung ein wichtiges Problem auf. In Arbeiten zum Licht in der bildenden Kunst wird oft zwischen zwei grundlegend verschiedenen Lichttypen unterschieden, zwischen dem „Eigenlicht“ und dem „Beleuchtungslicht“ eines Bildes.106 Im ersten Fall leuchtet das Bild „aus sich“ heraus, im zweiten Fall werden eine oder mehrere Lichtquellen lokalisiert, die das Sujet innerhalb der Darstellung beleuchten. Entsprechend könnte man sagen, dass Stefanovič das Eigenlicht von Pasternaks Werk hervorhebt. Doch unter welchen Bedingungen lässt sich sinnvoll vom Bildlicht eines Textes sprechen (neben der von Stefanovič erwähnten „Fotografie“ Pasternaks)? Wie wir gesehen haben, kann man es ganz sicher unter einer Bedingung: dass das Literarische vorgängig vom johanneischen Logos und seinem „Licht des Lebens“ überformt worden ist.

104 Brief vom 27. März 1952, in: Vybor 7 (1989), 275. 105 Brief vom 8. Februar 1957, ebd., 282 (mehr dazu im Kapitel über Doktor Živago). 106 Die Unterscheidung stammt von Schöne, Wolfgang: Über das Licht in der Malerei. Berlin 1954, 12/13. Ihr entspricht die biblische Unterscheidung zwischen dem Urlicht der Schöpfung und dem ‚motivierten‘ Licht der erst am vierten Tag erschaffenen Gestirne, vgl. dazu Blumenberg: „Licht als Metapher der Wahrheit“, 154: „Der Anknüpfungspunkt für die christliche Rezeption von Lichtmetaphorik und Lichtmetaphysik lag in der eigentümlichen Trennung, die der biblische Schöpfungsbericht zwischen dem Ursprung des ‚Lichts‘ am ersten Tage und dem der ‚Leuchten‘ am vierten Tage vornimmt. Hier bot sich ein zwangloser, kaum zu verfehlender Einlaß für den Gedanken eines kosmisch nicht lokalisierbaren, allem Seienden vorgängigen Lichts. Von diesem Ansatz her nahm die unübersehbar reiche ‚Lichtsprache‘ der christlichen Tradition ihren Ausgang.“

38 Einleitung

Einer der kühnsten Beiträge unter den Glorifizierungen Pasternaks als eines selbstleuchtenden Wesens stammt von dem nach Frankreich emigrierten Schriftsteller Evgenij Ternovskij: Поэт [Пастернак] – весь в движении, не стареет его походка, иней серебрит брови и ресницы его моложавого лица. Я вижу его в упоительно солнечное февральское утро, молодо поднимающимся на крыльцо. В зимнем кристальном воздухе его голос гулко протяжен. Он длится, как баховский контрапункт. Его зрачки, цвета дымчатого кварца, освещенные изнутри радужным лучом – никогда не видел таких глаз! – могли бы принадлежать пророку.107 Der Dichter [Pasternak] ist ganz in Bewegung, sein Gang altert nicht, von Reif versilbert sind die Augenbrauen und Wimpern seines junggebliebenen Gesichts. Ich sehe ihn an einem trunken machenden sonnigen Februarmorgen, als er sich jugendlich zum Haus begibt. In der winterlich kristallenen Luft ist seine Stimme hallend gedehnt. Er dehnt sich wie der Bach’sche Kontrapunkt. Seine Pupillen – von der Farbe eines matten Quarz, inwendig beleuchtet von einem Regenbogenstrahl, nie sah ich solche Augen! – hätten die eines Propheten sein können.

Der Kult des Licht bringenden (und Klang gewordenen) Dichters nimmt hier kitschige, aber mehr noch phantastische Züge an, ist dieses „prophetische“ Wesen Pasternak doch schwerlich real vorstellbar. Nicht auszuschließen ist, dass in Ternovskijs Beschreibung die winterlich-glitzernde Ästhetik der Doktor Živago-Verfilmung von David Lean (1965) hineinspielt. Weniger künstlich, obwohl gleichfalls stilisierend, ist das Gedenken bei Pasternaks Sohn. Auf der ersten Seite des Sammelbandes zur großen Pasternak-Konferenz in Cérisy-la-Salle von 1975 (publ. 1979) ist ein Gedicht abgedruckt, von dessen Autor Evgenij Pasternak lediglich die Initialen angegeben werden. Das Motto ist der westkirchlichen Totenmesse entnommen: „Requiem aeternam dona eis, Domine, / Et lux perpetua luceat eis“ (und evoziert einen gewissen Kontrast zur orthodoxen „Вечная память“ / dem „ewigen Gedenken“ in Doktor Živago108). Das Gedicht selbst ist in der Manier von Boris Pasternaks Naturlyrik verfasst, wobei Züge seines frühen und späten Werks zusammengebracht werden: Да будет свет – лиловый полдень леса. Мачтовых сосен бронзовый отвес Стоит опорой синему навесу. Прозрачно звонок в эту осень лес!

107 Ternovskij, Evgenij/Lebedev, Andrej: „Vstreči na rju Dankerk. Kniga interv’ju“, in: Novyj mir 2 (2010), 7–62, hier 10. 108 Doktor Živago, 6.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

39

Неяркий свет, как сумрак мирозданья, Ничем не обусловленного дня, Который завершится в урагане, Или затмится синеву храня.109 Es werde Licht – violetter Mittag im Walde. Der Fichtenmaste bronzenes Senkblei Steht wie ein Schutz vor dem blauen Felsen. Durchsichtig der Klang des Waldes im Herbst! Still das Licht – wie der Dämmer des Alls – Dieses durch nichts bedingten Tages, Der sich in einem Sturm vollenden wird, Oder sich verdunkelt und sein Blau bewahrt.

Das Lichtschauspiel ist hier ungleich stärker abgelöst vom Dichter, dem es gewidmet ist, als in den Texten der Čukovskijs, Stefanovičs und Ternovskijs. Überhaupt kommt das Gedicht ohne Subjekt aus; der Betrachter geht auf in der Betrachtung, wie es typisch ist für die späte Lyrik Boris Pasternaks. Und schließlich folgt Evgenij Pasternaks Gedenkgedicht in einem bestimmten Punkt konsequenter dem Modell von Cvetaevas Essay als die meisten anderen Gedenktexte: Es berücksichtigt den Aspekt der Abdunkelung, der Anreicherung des Lichts mit einer ‚bewahrenden‘ Dunkelheit. Eine Welle von Pasternak-Memoiren brachte das Jubiläum 1990, als mit einer Reihe von Editionen und Konferenzen Pasternaks hundertster Geburtstag und, implizit, auch die Auflösung der sowjetischen Kultur gefeiert wurde. Der Dichter Gennadij Ajgi, dessen Mentor Pasternak in den fünfziger Jahren gewesen war, sagte 1990 in einem Interview: Ich bin überzeugt, daß Pasternak einen Einfluß auf mich ausgeübt hat als Persönlichkeit, durch den Charme seiner Persönlichkeit. Ich habe ihn verehrt. Er glaubte an Gott. Er war eine herrliche, lichte, ungewöhnliche, geniale Persönlichkeit. Er hat mich als Lichtgestalt beeinflußt.110

In Ajgis Einschätzung treten das für Pasternak charakteristische Hadern mit sich selbst und seine häufigen Selbstbezichtigungen gänzlich hinter seiner „leuchtenden Persönlichkeit“ (светлая личность) zurück. Pasternak nimmt genau jene Rolle eines „Lichtspenders“ ein, welche er in seiner Ästhetik, in einem Großteil seiner Lyrik und Prosa sowie in seiner umfangreichen Korrespondenz von sich gewiesen 109 Kurz vor Evgenij Pasternaks Tod 2012 unter dem Titel „Rekviem“ neu abgedruckt in: Pasternak, Evgenij: Odinočestvo. Stichi. Moskva 2012, 141–149. 110 Ajgi, Gennadij: „Der Wind ist der Atem des Schöpfers. Gespräch mit Branka Bogavac und Léon Robel“ [orig. serbisch], in: ders.: Blätter in den Wind. Gespräche, Reden, Essays. Ausgewählte Werke. Band II. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Wien-Lana 1998, 93–115, hier 102/103.

40 Einleitung

hatte. Denn „genial“ kann ein Mensch nach Pasternak nur durch außerordentliche Empfänglichkeit sein, also weniger durch ein „Geben“ von etwas, als durch eine ausgeprägte Passivität. Ajgi mag das deshalb so dezidiert anders dargestellt haben, weil er selbst durchaus wörtlich als Schattengestalt, als Dichter des ‚Passiven‘ eingestuft werden wollte.111 Das Klischee des „lichten“ Pasternak ist dafür eine geeignete Kontrastfolie. Ebenfalls anlässlich des Jubiläums von 1990 beschreibt der religiöse Philosoph, Kritiker, Dichter und Dissident Georgij Pomeranc Pasternaks „höchsten Zustand“ als Eintritt in den „Rublevschen Kreis“, in die stille Kommunikation der drei Engel aus Andrej Rublevs Trinitätsikone. Er scheint damit Lichačevs Idee des „literarischen Hesychasmus“ wieder aufzugreifen; schon Lichačev hatte ja in der Stille (ἡσυχία) von Rublevs Ikonenmalerei das Muster für eine „abstrakt-emotionale“ Schreibweise gesehen. Pomeranc führt aus: В жизни обыкновенных людей возможно только приближение к рублевскому кругу […]. Гении золотого и серебряного веков, даже самые светлые, чаще пребывают на других уровнях. […] Светлые поэтические гении обычно подымаются до преддверия рублевского круга и мгновениями в него заглядывают. Но их преимущественная сфера ниже, там, гдe стержень отрешенности утрачен и страсти ведут к помрачению. […] очевидной справедливости в этом действии благодати нет. Пастернаку оно было дано, может быть, за его «вечное детство», за сохранение архаического чувства сопричастности.112 Im Leben gewöhnlicher Menschen ist lediglich eine Annäherung an den Rublevschen Kreis möglich […]. Die Genies des Goldenen und des Silbernen Zeitalters, sogar die leuchtendsten, verharren meistens auf anderen Stufen. […] Leuchtende poetische Genies erheben sich normalerweise bis in den Vorraum des Rublevschen Kreises und vermögen zuweilen ein Blick hineinzuwerfen. Aber ihre vorrangige Sphäre liegt tiefer, dort, wo der Kern der Entsagung verwirkt ist und Leidenschaften zu Verfinsterung führen. […] eine nachvollziehbare Gerechtigkeit ist in diesem Gnadengeschehen nicht auszumachen. Pasternak wurde es zuteil, vielleicht dank seiner „ewigen Kindheit“, dank seiner Bewahrung des archaischen Gefühls der Teilhaftigkeit am Leben.

Nach Pomeranc ist Pasternak in einem fundamentalen Sinne „etwas gegeben“, er ist also weniger eine „Lichtquelle“, als ein ausgezeichneter, nämlich „begnadeter“ Empfänger von Licht. Die Disposition hierzu habe Pasternak durch seine mythische „Kindlichkeit“. Offenbar vermischen sich hier zwei Muster der Pasternak-Rezeption. Während das Bild von der Eingeweihtheit in den „Rublevschen Kreis“ in erster Linie an eine zentrale Eigenschaft der Titelfigur von Doktor Živago erinnert 111 Vgl. Zehnder, Christian: „Segnung durch Licht: Gennadij Ajgis ‚Svečenie‘“, in: Wiener Slawistischer Almanach 66 (2010), 293–309, hier vor allem 398–304. 112 Pomeranc, Georgij: „Neslychannaja prostota“, in: Literaturnoe obozrenie 2 (1990), 19–24, hier 23.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

41

– ursprüngliche Verklärtheit –, wirkt die anschließende Erklärung dieses Umstands wie eine Variation von früheren Aussprüchen über Pasternaks Kindlichkeit.113 Von einer ähnlichen Mischung aus Eingeweihtheit in die Geheimnisse des göttlichen Logos und einer „ewigen Jugend“ Pasternaks sprach 1990 auch die Dichterin Junna Moric: Пастернак был безупречно молод не только за счет артистизма и озаренности, – он абсолютно владел всеми жизненными энергиями, знал все способы их добычи, распространения и очищения. Было много ему дано откровений от Логоса.114 Pasternak war schadlos jung nicht nur dank seiner Artistik und seiner Erleuchtetheit – er verfügte über absolut alle Energien des Lebens, kannte alle Arten ihrer Gewinnung, Verbreitung und Reinigung. Manche Offenbarung war ihm vom Logos auf den Weg gegeben.

Versuchen wir das Gemeinsame dieser quasi-hagiographischen Produktion zu benennen. In allen Beispielen besteht eine grundsätzliche Ambivalenz: Sprechen sie mehr das Werk Pasternaks oder mehr seine Person an? Das bleibt unentscheidbar. Der springende Punkt scheint gerade zu sein, dass das Medium Licht den Dichter so eng an das Werk und das Werk so eng an den Künstler anbindet, dass eine solche Differenzierung gar nicht mehr möglich ist. Die „Kraft“ des Lichts in den zitierten Texten geht sogar noch weiter. Es lässt nicht nur den Künstler mit seinem Werk eins werden, es scheint ihn auch von der Sorge ums „Machen“ des Werks zu befreien: Pasternak empfängt und spendet Licht, ohne etwas zu tun. Führt man die Licht-Topik zu Pasternak auf Marina Cvetaevas Essay zurück, so begreift man ihr Konzept der „Cветопись“ / „Lichtschrift“ letztlich – tatsächlich in Analogie zur Ikonenmalerei – so, dass das Licht kein metaphorisches Instrument in der Hand des Dichters ist, sondern eine Instanz, die das künstlerische Schaffen an Stelle des Dichters ausführt. Das Verhältnis von Licht und Poetik in dem Begriff „Poetik des Lichts“ dreht sich dann um: Der Genitiv ist kein objectivus mehr, er wird zum subjectivus: Statt die Poetik das Licht, generiert das Licht die Poetik.115 113 Vgl. vor allem die letzte Strophe von Anna Achmatovas Gedicht „Boris Pasternak“ (1936): „Он награжден каким-то вечным детством, / Той щедростью и зоркостью светил, / И вся земля была его наследством, /А он ее со всеми разделил.“ „Er ist begabt mit einer ewigen Kindheit, / Jener Großzügigkeit und Weitsicht der Gestirne, / Und die ganze Erde war sein Erbe, / Und er hat sie mit allen geteilt.“ Achmatova, Anna: Sobranie sočinenij v šesti tomach. 1. Stichotvorenija 1904–1941. Moskva 1998, 427. 114 Moric, Junna: „‚Katorga, kakaja blagodat’!‘ Boris Pasternak – ispytanie žizneljubiem“, in: Losev, Lev (Hrsg.): Boris Pasternak, 1890–1990. Northfield, Vermont, 1991, 263–275, hier 266. 115 Natascha Drubek beschreibt das russische Kino gegen die Auffassung der Formalisten („Filmsprache“) in Anlehnung an die Ikonenmalerei als Schreiben des Lichts (eben „светопись“) und plädiert so für eine „andere Ordnung des Lichts“. Drubek: Russisches Licht, 50–56. In unserem Fall scheint dieser Begriff einiges Potential hinsichtlich der Dichter-Ha-

42 Einleitung

Pasternak mit Levinas, Jankélévitch, Cvetaeva: Lichtflucht und verschobene Inkarnation Pasternak hat, wie bereits erwähnt, auf einen solchen Status seiner Kunst nicht prätendiert. Für ihn stellt sich grundsätzlich das Problem anders. Die Poetik des Lichts kristallisiert sich nicht an einem ‚reinen‘ Licht, sondern entlang der Frage, ob Licht überhaupt einzufangen sei. In der Sprache des Johannesprologs heißt das: Pasternak übernimmt in seinem Kunstdenken weder das „Licht der Welt“ (die Lichtnatur des Logos), noch folgt er Johannes in der Auffassung von der „Verfinsterung“ der Welt. Die Finsternis ist bei Pasternak nicht der Gegenbegriff zum Licht. Vielmehr erweist sich das Dunkle als ein Träger, als Stoff, als Bereich der Empfänglichkeit (восприимчивость), ohne den das Licht gar nicht ‚sein‘ könnte. Dies ist der Punkt, an dem Emmanuel Levinas – Denker eines „dunklen Lichts“ des Kunstwerks116 – für meine Überlegungen aktuell wird. Um das bislang wenig beachtete Phänomen der Lichtscheue und die damit verbundene Aufwertung der Dämmerung in Pasternaks ersten Prosafragmenten herauszuarbeiten und zu beschreiben, werde ich mich auf Levinas’ Ästhetik der Abdunkelung und sein ethisches Unbehagen an der Lichtwelt beziehen. Levinas erlaubt in mehrerlei Hinsicht einen neuen Blick auf Pasternak. Zunächst hilft er auf einer ganz allgemeinen Ebene, Pasternaks postsymbolistische Position zu entwickeln, um die es hier geht: Verschiedentlich hat Levinas aus jüdischer Sicht seine Skepsis gegenüber dem christlichen Begriff der Inkarnation geäußert, und andererseits ist von ihm das Diktum überliefert, die christliche Idee der Kenosis (der Selbstentleerung Gottes117) teile er voll und ganz.118 Diese paradoxe Haltung, Kenosis ohne Inkarnation und also ohne Subjekt zu denken, vor allem aber ohne Aussicht auf Erhöhung zur „Herrlichkeit“, beschreibt erstaunlich treffend die Poetologie des frühen Pasternak. Anders als Vladimir Solov’ev und die „jüngeren“ Symbolisten Andrej Belyj, Aleksandr Blok und Vjačeslav Ivanov steht Pasternak der giographie zu haben: Das Licht befreit Pasternak in den vorgestellten Auszügen vom Handwerklich-Sprachlichen, ja vom ‚Literarischen‘, indem es sein Werk mühe- und sorglos ‚von selbst‘ entstehen lässt. 116 Bruns, Gerald L.: „The concept of art and poetry in Emmanuel Levinas’s writings“, in: Critchely, Simon/Bernasconi, Robert (Hrsg.): The Cambridge Companion to Levinas. Cambridge 2002, 206–233, hier 220. Jay klassifiziert Levinas als hochgradig okularphoben und damit anti-„aufklärerischen“ Denker. Jay: Downcast Eyes, 560, 589. 117 Nach Phil 2, 5–11. 118 Vgl. Vinokur, Val: The Trace of Judaism. Dostoevsky, Babel, Mandelstam, Levinas. Evanston, Illinois, 2008, 8, 134/135. Ausführlich zu Levinas’ Zustimmung zum Kenosis-Denken und seiner gleichzeitigen Kritik an der christlichen Inkarnationstheologie siehe Madragule Badi, Jean-Bertrand: Inkarnation in der Perspektive des jüdisch-christlichen Dialogs. Mit einem Vorwort von Michael Wyschogrod. Paderborn/München/Wien/Zürich 2006, 129–135 und 263–270.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

43

„Verlebendigung“ des Lichts nach dem Muster des Johannesprologs kritisch gegenüber. Genauer: Das Problem der Inkarnation beschäftigt ihn sehr wohl, er versucht diese jedoch übersubjektiv zu konzipieren. Was das „Kenotische“ betrifft, so bietet es sich geradezu an, die Flucht vor dem Licht in Pasternaks Werk mit diesem Begriff zu fassen. Doch die Störung in der ‚Heilsökonomie‘, die durch die Anfechtung des Inkarnationsgeschehens entsteht, macht auch die Rede von der Kenosis streng genommen obsolet.119 Zweitens gibt es bei Levinas und Pasternak eine Parallelität – und Gegenläufigkeit – hinsichtlich ihrer Infragestellung der Kunst. Es ist viel darüber geschrieben worden, dass Levinas der Kunst philosophische und ethische Indifferenz vorwarf.120 Andererseits sieht er das Verdienst der modernen (abstrakten) Kunst darin, dass sie nicht repräsentativ, nicht „intentional“ beschaffen sei, sondern vielmehr ein rein materielles, unpersönliches „es gibt“ („il y a“) zeige. Die Kunst markiere so einen Nullpunkt von Bewusstsein, der nach Levinas notwenig von einer „philosophischen Kritik“ transzendiert werden muss.121 Ein Spannungsverhältnis zwischen philosophisch-ethischem Anspruch und einer scheinbar auf die Faktur reduzierten ‚reinen‘ Kunst findet sich sehr ähnlich beim jungen Pasternak: Seine Vertiefung in die Philosophie Cohens – seinerseits nicht nur ein radikaler Rationalist, sondern auch Pionier der modernen jüdischen Philosophie des „Anderen“122 – war der Versuch, dem Romantischen, Musikalischen, ‚Dionysischen‘, dem Verantwortungslosen, abzuschwören. Andererseits wird die neukantianische Philosophie des puren, „Ursprünge“ setzenden Denkens bei Pasternak zum Modell einer autoreflexiven, keinen Inhalt außer ihrer selbst präsentierenden Poesie – einer bewusst konstruierten Verantwortungslosigkeit, wie man sagen könnte. Insofern greifen die beiden Pole von Levinas’ Ästhetik (Verantwortung und reines „il y a“) ein Dilemma auf, wie es für Pasternaks philosophische Jahre (1910–1913) und insbesondere sein Marburger 119 In den allermeisten Beispielen, die Dirk Uffelmann auf den rund 1000 Seiten seiner Studie zur Kenotik in Russland anführt, ist die „Entleerung“ strikt personenbezogen. Vgl. Uffelmann, Dirk: Der erniedrigte Christus. Metaphern und Metonymien in der russischen Kultur und Literatur. Köln/Weimar/Wien 2010. Vgl. dazu meine (Ch. Z.) Rezension in: Wiener Slawistischer Almanach 68 (2011), 349–362. 120 Siehe Wogenstein, Sebastian: Horizonte der Moderne. Tragödie und Judentum von Cohen bis Lévinas. Heidelberg 2011, 208–217. Wogenstein zeigt, dass Levinas’ Skepsis gegenüber der Kunst auch als Gegenposition zu Heideggers Hinwendung zur Dichtung in den 30er Jahren zu verstehen ist. 121 Siehe Bruns: „The concept of art and poetry in Emmanuel Levinas’s writings“, 211, 219. 122 Leora Batnitzky unterstreicht Levinas’ Nähe und zugleich deutliche Distanz zu Cohen. Vgl. Batnitzky, Leora: „An Irrationalist Rationalism: Levinas’s Transformation of Hermann Cohen“, in: dies.: Leo Strauss and Emmanuel Levinas. Philosophy and the Politics of Revelation. Cambridge 2006, 75–93, hier 76. Im Unterschied zum Neukantianer Cohen versucht Levinas in seiner Philosophie das autoritative Gebot bzw. Gebieten des „Anderen“ im Sinne des Dekalogs aufrechtzuerhalten. Vgl. ebd., 89.

44 Einleitung

Abenteuer (Frühling/Sommer 1912) geradezu prägend war. Der Unterschied der Positionen von Pasternak und Levinas wiederum wird bei der Lektüre von Ochrannaja gramota deutlich, teilweise auch bereits in der ornamentalen Prosa Pasternaks aus seinen Studienjahren: Die „philosophische Kritik“, die nach Levinas der Kunst erst eine ethische Dimension verleihen kann, wird beim russischen Dichter von der Kunst selbst geleistet. Das Kunstwerk ist für beide eine „dunkle Sphäre“, doch für Pasternak muss sich diese Sphäre selbst aufhellen können. Kurzum: Poesie und philosophische Reflexion sind für ihn kein Widerspruch, sondern sie bilden gemeinsam die einzig „wahre“ Kunst. 1911 lesen wir bei Pasternak: „[…] в сумерки душа замечает повсюду аксиомы.“123 „[…] in der Dämmerung entdeckt die Seele allenthalben Axiome.“ Der Satz wird von einem Patienten geäußert, der aus einem Sanatorium entlassen werden möchte. Ein solches Aufspüren von „Axiomen“ (während) der Dämmerung markiert bei Pasternak aber auch den Anfang der Poesie. Nicht die rationalistisch-klassizistische „Sonne“124 Hermann Cohens, sondern eben die Dämmerung wird für Pasternak zum Ausgangszustand. Gleichzeitig ist die Dämmerung allerdings eine Sphäre des Denkens, verstanden als ein unfreiwillig-beiläufiges statt wissenschaftlich („sonnenhaft“) suchendes Entdecken von „Axiomen“ des Lebens.125 Eine dritte bemerkenswerte Konvergenz hat mit den Weiblichkeitskulten des russischen Dichters und des litauisch-französischen Philosophen zu tun. Levinas’ Ästhetik und Ethik der Abdunkelung ist selbst poetisch verfasst und teilt mit Pasternaks Schreiben einen nachgerade obsessiven metaphorischen Fluchtpunkt: das „Weibliche“ als das schlechthin Geheimnisvolle. Bei Levinas wird das Denken des Weiblichen zum Prüfstein des Bezugs zum Unendlichen. So wie das Weibliche als

123 Pasternak: „Byla vesennjaja noč’…“ [1911], PSS, III, 467–473, hier 469. 124 Siehe die Ausführungen zu Friedrich Schillers Sonnen-Metaphorik in Cohen, Hermann: Ästhetik des reinen Gefühls. 3. Auflage. Einleitung von Gerd Wolandt. Erster Band. Hildesheim/Zürich/New York 2005, 375–387. 125 Erst während der Durchsicht der vorliegenden Arbeit ist Elena Glazov-Corrigans Monographie Art after Philosophy. Boris Pasternak’s Early Prose. Columbus 2013, erschienen, in der Pasternaks Unbehagen am (Sonnen-)Licht ein ganzes Kapitel („Arguing with the Sun in ‘The Mark of Apelles’“ (ebd., 71–112) gewidmet ist. Viele Einsichten meiner Untersuchung – oft nur schon die Auswahl der Textstellen – decken sich auf verblüffende Weise mit jenen von Glazov-Corrigan. So spricht sie von „Pasternak’s opposition to the tradition of light metaphysics (and physics)“ (ebd., 86). Ein besonderer Akzent liegt dabei auf der Transformation, der Pasternak Platons Ideenlehre und Sonnen-Metaphysik unterzieht, u.a. in einem unrealisierten Dissertationsvorhaben (ebd., 87–92). Weniger stark ist bei Glazov-Corrigan der Akzent auf der Frage, wie die Philosophie sich in der Kunst sozusagen verliert und unbegrifflich weiterexistiert. Während Glazov-Corrigans Kapitel in erster Linie der Herkunft der Poesie aus der „lichten“ Philosophie nachgeht, beschäftigt sich die vorliegende Studie eher mit der Möglichkeit einer Metaphysik gewordenen Poesie.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

45

etwas ganz „Anderes“ statt als defektive Männlichkeit verstanden werden müsse,126 so könnten auch das Unendliche, die Zukunft, Gott nicht deduziert werden aus dem (männlichen) Geiste. Ausgesprochen ähnlich hatte Pasternak das Dunkle mit dem Weiblichen verknüpft, das er der Sphäre des „männlichen“ Sehens genau wie später Levinas entrückt. Entsprechend ist Pasternak, wie Levinas, von feministischer Seite zum Teil in den höchsten Tönen gelobt (vor allem für die okularphobe Povest’ Detstvo Ljuvers) und zugleich harsch kritisiert worden für ein letztlich doch ur-patriarchales Verständnis des Weiblichen.127 Schließlich ist ein vierter Bereich zu nennen, in dem es zwischen Pasternak und Levinas schlagende Parallelen gibt: das Schreiben und Konzipieren von Nähe. Wenn Licht Inbegriff der Distanzierung ist, so wird Abdunkelung zum Paradigma einer spezifischen Nähe.128 Und während das Geistige mit Identifikationen und Kongruenzen operiert, beschreitet das Sinnlich-Poetische nach Levinas und Pasternak den Weg einer unabschließbaren Approximation, die stets vor Gleichheits-Behauptungen zurückschreckt. So heißt es bei Levinas nur vordergründig kryptisch: „La proximité des choses est poésie […].“129 Von einer „лирика вещей“130  / „Lyrik der Dinge“ hatte – in der Nachfolge Rainer Maria Rilkes – schon der zwanzigjährige Pasternak geschrieben. Ich werde auf den zentralen Aspekt des Annäherungs-Paradigmas in dieser Einleitung noch ausführlich zu sprechen kommen. Zunächst ist Pasternaks Poetologie des Lichts ausführlicher zu entwerfen. Natürlich gibt es bei Pasternak Licht. Die Frage ist bloß, unter welchen Umständen es sich zeigen kann. Hier möchte ich nach der ‚Abdunkelung‘ einen weiteren, stärker zeitlichen Begriff in die Beschreibungssprache einführen, nämlich Vladimir Jankélévitchs Begriff der Gelegenheit (occasion). Unter diesem Gesichtspunkt benötigt das Licht, wie nach Jankélévitch das Sein, eine zeitlich und örtlich umschriebene Gelegenheit, die es aus seinem rein „pneumatischen“ (mit Levinas könnte man sagen: selbstgenügsamen) Sein heraustreten lässt: 126 Vgl. Sandford, Stella: „Levinas, feminism and the feminine“, in: Critchely/Bernasconi: The Cambridge Companion to Levinas, 139–160, hier 144, sowie Jay: Downcast Eyes, 559. 127 Vgl. Sandford: „Levinas, feminism and the feminine“, 157, und Greber, Erika: „Subjektgenese, Kreativität und Geschlecht. Zu Pasternaks Detstvo Ljuvers“, in: Hansen-Löve, Aage (Hrsg.): Psychopoetik. Tagungsbeiträge München 1991. Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 31. Wien 1992, 347–397, hier 379/380. 128 Bruns: „The concept of art and poetry in Emmanuel Levinas’s writings“, 207, nennt die Nähe „something like an alternative to visuality“. 129 Lévinas, Emmanuel: „Langage et Proximité“, in: ders.: En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger. Réimpression conforme à la première édition suivie d’essais nouveaux. Paris 1967, 217–236, hier 228. 130 „Zakaz dramy. Nedialogičeskie dramy i nedramatičeskie dialogi“ [1910], PSS, III, 457–466, hier 460.

46 Einleitung […] l’être […] est cause-de-soi, mais ce pouvoir de réalisation indéterminé se dissoudrait dans le vide si aucune matière ne lui était offerte : la cause indéterminée a donc besoin, à son tour, des causes occasionnelles qui la limiteront et, la limitant, donneront au pouvoir-être la possibilité effective de s’exercer. Ce que l’occasion offre ainsi à la cause en peine, à la cause pneumatique et désincarnée, ce sont les deux coordonnées de la date et du lieu […].131

Genau hier setzte konzeptuell Pasternaks Abgrenzung vom Symbolismus an. Der Fehler der Symbolisten war es nach Pasternak gewesen, dass ihr „глубокомыслие […] переступало все границы осуществимости в трех измерениях“132 / „ihr Tiefsinn alle Grenzen der Realisierbarkeit in den drei Dimensionen überschritt“– dass sie also künstlerische und quasi religiöse Setzungen vornahmen, die, mit Jankélévitch, von keiner reellen Gelegenheit begleitet waren. Das Göttliche, die „transkategoriale Welt“, wie es zuletzt Boris Gasparov ausgedrückt hat, oder eben das „pneumatische“ Sein, ist nur auf indirektem, „diffusem“ Weg zu erreichen.133 Eine solche wenn nicht diffuse, so doch gleitende Gelegenheit, in der das Licht ‚sein‘ kann, ist in Pasternaks Schreiben die gegenseitige Durchdringung von Licht und Regen, wie Marina Cvetaeva sie bewundernswert genau im Begriff des „lichten Regens“, des „световой ливень“ beschrieben hat. Durch die Relativierung des Lichts und die Aufwertung des Dunklen entschärft sich so zugleich das Problem der erschwerten Visualität. Der dunkle, empfängliche Stoff des Wassers134 macht das Licht paradoxerweise gerade dadurch zu etwas Wirklicherem, dass er ihm seine reine Visualität nimmt; er macht es zu einem Ereignis (russ. событие, wörtl.: Zusammensein), das ‚von selbst‘ geschieht und nicht den visuellen Ansprüchen eines Beobachters genügen muss. Kritik am Okularzentrismus, (neo-)sophiologischer Kult des ‚weiblich‘ Dunklen und Lebensphilosophie nähern sich gegenseitig an und kommen in der Mythopoetik des Licht-Regens zusammen. Martin Jay nennt das Denken Henri Bergsons, einer der prägenden Figuren der Lebensphilosophie um die Jahrhundertwende, die „erste frontale Attacke auf den Okularzentrismus“135. Beobachtung – die „kinematographische“ Wissenschaft, 131 Jankélévitch, Vladimir: Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien. 1. La manière et l’occasion. Paris 1980, 115. 132 Vgl. „Černyj bokal“ [1915, publ. 1916 im zweiten Sammelband der futuristischen Vereinigung „Centrifuga“], PSS, V, 12–16, hier 15. 133 Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 56. Vgl. dazu Michail Bachtins Diktum, „sogar Gott“ anerkenne die Notwendigkeit, einen Platz in Raum und Zeit einzunehmen. Groys, Boris: „Špet und die Entsubjektivierung des Bewußtseins in der russischen Philosophie (Solov’ev, Askol’dov, Bachtin)“, in: Deppermann, Maria (Hrsg.): Russisches Denken im europäischen Dialog. Innsbruck/Wien 1998, 122–150, hier 140/141. 134 Zur Weiblichkeit des Regens bei Pasternak vgl. Fateeva: Poėt i proza, 269. Zur mythisch-weiblichen Kodierung des Wassers allgemein vgl. Bachelard, Gaston: „L’eau maternelle et l’eau féminine“, in: ders.: L’eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière [1941]. Paris 1981, 155–180. 135 Jay: Downcast Eyes, 186.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

47

wie Bergson sagt – ist nicht imstande, dem Leben als „freiem“ Geschehen in seiner „Neuheit“ gerecht zu werden.136 Das Neue ist nie ableitbar aus dem Alten, unmöglich „projizierbar“ von einem außenstehenden Zuschauer her. Denn es zeichnet sich durch Unvorhersehbarkeit (imprévisibilité) aus.137 Sein Eintreten lässt sich auf keine Prädisposition zurückführen. Wirklichkeit und Möglichkeit entstehen „du même coup lorsqu’il s’agit d’une forme véritablement neuve, inventée par l’art ou par la nature!“138 Pasternak, kann man ohne Zweifel sagen, entwirft das Erscheinen des Lichts als Ereignis im Sinne Bergsons, als Emergenz von etwas Unvorhersehbarem, an keiner Potentialität Berechenbarem. Während Bergsons Ereignis, das „wahrhaftig Neue“, später nicht zuletzt von Emmanuel Levinas noch radikalisiert wurde zu einem schlechterdings utopischen „Anderen“, das geheimnisvoll auf die Gegenwart zurückstrahlt,139 deutet sich in Pasternaks ästhetischem Vitalismus140 ein Kompromiss an. Das Neue und Alte, das Andere und das Selbe, das Einmalige und die Gewohnheit sollten zusammenfinden. Das Moment der Unkontrollierbarkeit des Neuen bleibt bestehen; hinzu tritt jedoch ein spezifisch sophiologischer Bezug zum ‚Uralten‘. Anders gesagt: Bei Pasternak kehrt sich der Vektor um. Das „ganz Andere“ scheint nicht wie in Levinas’ messianistisch gewendetem Bergsonismus aus der unbekannten Zukunft, sondern es glimmt von der fernen Vergangenheit, vom Anfang 136 Vgl. ebd., 200/201. 137 Bergson, Henri: L’évolution créatrice [1908]. Œuvres complètes. 2. Genève 1945, 23/24. Vgl. auch Jay: Downcast Eyes, 197/198. 138 Bergson, Henri: „Introduction (première partie)“, in: ders.: La pensée et le mouvant. Essais et conférences. 15e éd. Paris 2005, 1–23, hier 14. 139 Vgl. zu Levinas’ Übernahme und Radikalisierung des Bergsonschen Denkens Liebsch, Burkhard: „Ereignis – Erfahrung – Erzählung. Spuren einer anderen Ereignis-Geschichte: Henri Bergson, Emmanuel Levinas, Paul Ricœur“, in: Rölli, Marc (Hrsg.): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze. München 2004, 183–207, hier 183–190; Batnitzky: „An Irrationalist Rationalism: Levinas’s Transformation of Hermann Cohen“, 78; Jay: Downcast Eyes, 550; Pöggeler, Otto: „Bergson und die Phänomenologie der Zeit“, in: Adams, Bernhard/ Boehlke, Hans-Kurt/Gründer, Karlfried/Koch, Hans-Albrecht (Hrsg.): Aratro Corona Messoria. Beiträge zur europäischen Wissensüberlieferung. Festgabe für Günther Pflug zum 20. April 1988. Bonn 1988, 153–169, hier 166/167. 140 Vgl. zu Pasternaks Bergsonismus u.a. Terras, Victor: „Boris Pasternak and Time“, in: Canadian Slavic Studies/Revue canadienne d’études slaves 2, 1 (1968), 264–270, hier 265, 269, und das Kapitel „Pasternak and Modern“ in Rudova, Larissa: Pasternak’s Short Fiction and the Cultural Vanguard. New York/Bern/Berlin/Frankfurt a.  M/Paris/Wien 1994, 113– 148, hier 122, 127. Über Bergsons Präsenz im intellektuellen Leben vor dem Ersten Weltkrieg in Russland schreibt Pasternak freilich sehr distanziert: „Большая часть увлекалась Бергсоном.“ „Einem großen Teil [der Studenten] hatte es Bergson angetan.“ Ochrannaja gramota, 164. Vgl. zum russischen Bergsonismus Fink, Hilary: Bergson and Russian Modernism. 1900–1930. Evanston, Illinois, 1999.

48 Einleitung

her.141 Diese sophiologische Grundfigur, in wesentlichen Punkten jener von Sergej Bulgakov verwandt,142 ist weniger ‚typisch russisch‘, als es zunächst scheinen mag. Wie viele andere europäische Autoren, Künstler, Intellektuelle seiner Zeit bietet Pasternak das „Weibliche“ gegen den „männlichen“ Beherrschungswillen und Fortschrittsglauben der Moderne auf, um ein vormodernes Ideal von „Fülle“ wenn nicht wiederherzustellen, so doch zu suggerieren.143 Die moderne sophiologische oder mit Bulgakovs Begriff: „sophiurgische“ Poetik ist so auch eine Krisenpoetik. Die Ausstrahlung des wahrhaft Neuen, des ganz Anderen und des Neu-Alten zeigt überall in ähnliche Richtung: Die uninspirierte, „männlich“ organisierte Gegenwart soll „erneuert“ und die Welt im Zeichen des Weiblichen „neu geboren“ werden.144 Nach Per-Arne Bodin ist das sophiologische Weibliche bei Pasternak in erster Linie ein Verbindungsprinzip der Wirklichkeitsebenen,145 und dies ist genau die Rolle, die das Element des Regens im Licht-Regen spielt. Das Problem, das heute die Medientheorie am Licht beschäftigt, seine Angewiesenheit auf ein Medium,146 141 Vgl. das Fragment „Zakaz dramy“, 461/462: „[…] и если бы кто-нибудь меня спросил строго и внезапно, на каком основании живете вы?.. / [О, я указал бы ему на эту землю, меблированную чудесным толпами неодушевленного. И на прошлое.“ „[…] und falls jemand mich streng und unvermittelt fragte: Auf welcher Grundlage leben Sie?.. / [Oh, ich würde ihn auf diese Erde, möbliert mit wunderbaren Massen von Unbeseeltem, verweisen. Und auf das Vergangene.“ Roman Jakobson stellte später in seinen Prager „Randbemerkungen“, ohne dieses Fragment kennen zu können, scharfsinnig Pasternaks „Hang zur Vergangenheit“ fest. Jakobson, Roman: „Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak“, in: Slavische Rundschau 7 (1935), 357–374, hier 374. 142 Vgl. Nichols, Aidan: „Sergei Bulgakov and Sophiology“, in: ders.: Light from the East, 57– 73. 143 Vgl. Felski, Rita: The Gender of Modernity. Cambridge, Mass., 1995, 91; Izenberg, Gerald N.: Modernism and Masculinity. Mann, Wedekind, Kandinsky through World War  I. Chicago/London 2000, 13/14. 144 Schlagend sind die Parallelen dieser Ästhetik zur modern-antimodernen Aufwertung der Willensschwäche, des Unabsichtlichen, zum Lob der Weiblichkeit und allgemein zum Paradox einer passiven Kreativität bei dem Philosophen/Essayisten/Publizisten Vasilij Rozanov. Vgl. Grübel, Rainer Georg: „Das ungewisse ‚Letzte Wort‘. Rozanovs Bio-Graphie“, in: ders.: An den Grenzen der Moderne. Vasilij Rozanovs Denken und Schreiben. München 2003, 39–72, hier 50–52. Auf mögliche weiter reichende Verbindungslinien zu Rozanov werde ich leider nicht eingehen können. 145 Bodin, Per-Arne: „Boris Pasternak and the Christian Tradition“, in: Forum for Modern Language Studies 26, 4 (1990), 382–401, hier 386–395. Und so ist es bereits für die jüngeren Symbolisten, vgl. Cioran, Samuel D.: The Apocalyptic Symbolism of Andrej Belyj. The Hague/ Paris 1973, 109. 146 Vgl. Engell, Lorenz/Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph: „Editorial“, in: dies.: Licht und Leitung, 5–7, hier 6: „Eben jene Differenz, die die Kulturgeschichte und die Physik am Licht zum Vorschein bringen […], prägt sich auf dem Feld der speziellen mediengeschichtlichen Gegenstände in dem Umstand aus, dass es unmöglich ist, das Licht ohne Leitung zu denken.“

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

49

wird von Pasternak sophiologisch aufgelöst.147 Die Sophia, ob sie nun in dunklen Stoffen der organischen Welt oder in konkreter weiblicher Inkarnation auftritt, ist wie das Negativ im fotografischen Bild: „l’absence, le vide“, „ce néant au cœur de l’image“, wie Jean Baudrillard es in seinem letzten Essay zu Lebzeiten ausdrückte.148 Zur Fotografie gehört eine Skiagrafie (Schattenschrift). Durch den Wegfall des Negativs und der klassischen Lichtempfindlichkeit im Zuge der Digitalisierung gerät die Fotografie, so Baudrillard, in eine ausweglose Krise, nämlich in den Zustand einer reinen, indifferenten Positivität. Diese Denkfigur trägt zweifellos Züge der Okularphobie der französischen Philosophie – und passt bestens zu Pasternaks Ästhetik. Modellhaft werde ich das an dem Fotografie-Gedicht „Groza, momental’naja navek“ / „Gewitter, momenthaft für immer“ aus Pasternaks Sestra moja – žizn’ zu zeigen versuchen. Was Baudrillards Krisendiagnose freilich abgeht, ist eine mythopoetisch-metaphysisch, eben sophiologisch begründete Hoffnung, wie sie Pasternaks Position auszeichnet. Die sophiologische Negativität ist am Ende doch wieder eine leuchtende. Zum medialen „Negativ“ prädestiniert die Sophia eine Eigenschaft, die ihr schon im Weisheitsbuch des Alten Testaments zugeschrieben wird: Die Sophia ist zwar das Andere des lichtstrahlenden Logos – Salomo sagt von ihr: „Ich […] zog ihren Besitz dem Lichte vor“149 –, befindet sich aber zugleich jenseits des fatalen Gegensatzes von Licht und Dunkelheit.150 Sie bildet zu nichts den Gegenpol, sie bietet sich – wie Jankélévitchs „Gelegenheit“ – allem sie Umgebenden wahllos an. An Pasternaks Äußerungen zur Poesie fällt auf, dass sie in den meisten Fällen nicht von der Sprache, vom Wort, vom Logos ausgehen, sondern von einem vorsprachlichen Element, eben einem Negativ, das der Offenheit und der Unfassbarkeit der Sophia recht nahe kommt. In einem Brief von 1913 schreibt er: Партеру предвечного Слова вольно думать, что его потрясение вызвано нашей игрою – жизнью, созерцаемой и постигаемой им. Между тем зрительский экстаз Слова (искусство) вызван тем, к чему у него нет никакого доступа: бессловесной иррациональной материей, к которой мы пригвождаем его око […].“151 147 Zur Sophiologie als Medientheorie und zu Sophia als „metaphysischem Staub“ (Pavel Florenskij) bzw. Film-„Schleier“ siehe das Kapitel „Sophiologie im Kino: Herabgestiegene Sterne und filmische Spitzenschleier“ bei Drubek: Russisches Licht, 352–359. 148 Baudrillard, Jean: Pourquoi tout n’a-t-il pas déjà disparu?. Édition revue et corrigée. Paris 2008, 38–55, hier 41. 149 Weisheit 7, 10. 150 Vgl. Weisheit 7, 29/30. Einen begriffsgeschichtlichen Überblick zur alttestamentlichen und christianisierten Sophia inkl. der russischen Sophiologie gibt Averincev, Sergej: „Sofija“, in: ders.: Sofija-Logos. Slovar’. Kiev 2001, 161–163. In der Weisheit Salomos wird die Sophia u.a. als „heilig“, „zart“, „ohne Sorge“, „alles vermögend“ und „beweglicher als alle Bewegung“ bezeichnet (Weisheit 7, 22/23). 151 Brief an Sergej Bobrov vom 2. August 1913, PSS, VII, 151 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Vgl. dazu auch Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 49.

50 Einleitung Dem Parterre des überzeitlichen Logos sei es unbenommen zu meinen, dass seine Bewegtheit durch unser Spiel hervorgerufen wird – durch das Leben, von ihm betrachtet und erfasst. Indessen wird die visuelle Ekstase des Wortes (die Kunst) durch etwas hervorgerufen, wozu sie selbst schlicht keinen Zugang hat: durch die wortlose irrationale Materie, auf die wir sein [des Logos, der Kunst] Auge festnageln […].

Freilich ist diese „wortlose irrationale Lebensmaterie“ nicht mehr die Sophia der „klassischen“ russischen Religionsphilosophie von Vladimir Solov’ev bis Aleksej Losev, sondern eine post-symbolistische, in der die strenge Komplementarität von Sophia und Logos aus dem Gleichgewicht geraten ist. Die „visuelle Ekstase des Wortes“ ist sekundär geworden, deswegen aber nicht obsolet. Sie ist nur auf Gedeih und Verderb von der Nähe eines ihr zugeneigten Negativs abhängig.

Lektüremodell: Eine Phänomenologie der Nähe. Mit Bergson und Jakobson zu Pasternak Es ist weder möglich noch wünschenswert, in einer literarischen Ästhetik die Visualität auszublenden. Es geht mir vielmehr darum, wie Levinas in seinem Essay „Langage et Proximité“ die Frage zu stellen, was passiert, wenn die Visualität verbunden wird mit Berührung152 – wenn Annäherung und Nachbarschaft als Gegengewichte gesetzt werden zur visuellen Distanzierung.153 Pasternak schreibt einmal an Cvetaeva, er müsse ihre Briefzeilen „глядеть глазами“ / „mit Augen erspähen“, „[а] прочитав их, испытываешь чувство, точно сопровождал их ход, закрыв глаза“154 / „[d]och sobald sie gelesen sind, empfindest du ein Gefühl, als hättest du ihren Fortgang mit geschlossenen Augen begleitet“. Dieses „Begleiten“ mit zuerst kurz offenen, dann fest geschlossenen Augen kann uns hier als Motto dienen. Boris Gasparov charakterisiert Pasternaks Poetik mit jener Formel, unter welche Manfred Frank in seiner großen Studie die Metaphysik und Ästhetik der deutschen Frühromantik gestellt hatte: unendliche Annäherung.155 Anzumerken ist dazu, dass Pasternak nahezu perfekt deutsch sprach und schrieb. Wie beim Frühromantiker 152 Vgl. Davies, Paul: „The Face and the Caress. Levinas’s Ethical Alterations of Sensibility“, in: Levin: Modernity and the Hegemony of Vision, 252–272, hier 256, 269–271. 153 Lévinas: „Langage et Proximité“, 227. Zu einer „Hermeneutik der Nähe“ zwischen Philosophie und Poesie siehe auch Ziarek, Krzysztof: Inflected Language: Toward a Hermeneutics of Nearness. Heidegger, Levinas, Stevens, Celan. Albany 1994. Erwähnt werden muss hier auch die schlichte Grundthese von Michail Jampol’skijs Studie O blizkom / Über das Nahe: Je näher man ein Objekt heranrückt, desto weniger gut sichtbar ist es. Siehe Jampol’skij, Michail: O blizkom (Očerki nemimetičeskogo zrenija). Moskva 2001. 154 Brief an Marina Cvetaeva vom 12. Mai 1929, PSS, VIII, 316. 155 Gasparov, Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 56/57. Siehe Frank, Manfred: „Unendliche Annäherung“. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a. M. 1997.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

51

Novalis äußert sich die Obsession mit der Nähe bei Pasternak im Interesse an der mathematischen Infinitesimalrechnung.156 Doch ganz grundsätzlich ist die Annäherung beim russischen Dichter eine Gegentendenz zur machtvollen Distanzierung, letztlich der Versuch, Machtlosigkeit positiv zu denken, als „powerlessness which alters“, wie Joseph Libertson die Figur der „Proximität“ im modernen französischen Denken umreißt.157 Die Option für die Nähe ist nicht zuletzt eine Stellungnahme gegen die Operation des Vergleichens. Das ist besonders schön zu sehen im Antagonismus zwischen Pavel Antipov (Strel’nikov) und Jurij Živago, der Titelfigur von Pasternaks Roman. Es heißt zwar, Antipov sei ein sehr „begabter“ Mensch, doch unter Umständen sei seine Begabung lediglich jene der „Nachahmung“ gewesen, wie es für die Menschen zur Zeit der Revolution überhaupt üblich gewesen sei.158 Živago dagegen, als er sich einmal fragt, ob er mit der Geliebten Lara nicht seine Frau Tonja betrüge, wird vom Erzähler sogleich freigesprochen mit dem Argument: „Нет, он никого не выбирал, не сравнивал.“159 „Nein, er wählte und verglich niemanden.“ Moralisch verwerflich ist demnach weniger Živagos Lebenswandel, solange dieser ‚lebensnah‘, im Reinen mit dem Lebensfluss ist. Gefährlich sind vielmehr die moralischen Bedenken selbst, denn sie implizieren einen abstrakten Vergleich zweier vollkommen verschiedener Frauen. Mit dem gleichen Argument hatte Vladimir Lossky im französischen Exil so widerspenstig die geläufige Idee der imitatio Christi verworfen. Lossky behauptete ganz einfach: „La voie de l’imitation du Christ n’est jamais pratiquée dans la vie spirituelle de L’Église d’Orient“, da sie eine „attitude extérieure vis-à-vis du Christ“ bedeute.160 Gegen die Nachahmungsstruktur stellt Lossky die Annäherung: „Pour connaître Dieu, il faut s’approcher de Lui.“161 Nichts anderes behauptet – in Bezug auf seinen Gegenstand – Roman Jakobson, wenn er den „Metonymiker“ Pasternak und dessen „Berührungsassoziationen“ über Majakovskijs „Assoziationen nach Ähnlichkeit und Gegensatz“ stellt.162 Damit wiederum erweist sich der russische Formalist als überraschend bergsonistisch. Bergson hatte von der „contiguité indivisible“, vom „contacte“ und „même coïncidence“ der Zustände und Worte im „flux de la vie intérieure“ gesprochen.163 156 Vgl. Evans-Romaine, Karen: „Pasternak and Novalis“, in: dies.: Boris Pasternak and the German Romanticism. München 1997, 43–163, hier 55. 157 Libertson, Joseph: Proximity. Levinas, Blanchot, Bataille and Communication. The Hague/ Boston/London 1982, 7. 158 Doktor Živago, 248. 159 Ebd., 302. 160 Lossky: Essai sur la Théologie mystique de l’Église d’Orient, 242. 161 Ebd., 37. 162 Jakobson: „Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak“, 363. 163 Bergson, Henri: „Introduction (deuxième partie)“, in: ders.: La pensée et le mouvant, 25–98, hier 27.

52 Einleitung

Wenn Jakobson Pasternaks Poetik aus dem Begriff der Metonymie entwickelt und sie von der Metaphorik abgrenzt, so aktualisiert er damit einen Kerngedanken aus Pasternaks polemischem Essay „Vassermanova reakcija“ von 1914.164 Pasternak hatte dort programmatisch gegen einen „научно-описательный“ / „wissenschaftlich-beschreibenden“ Typ von Metaphern argumentiert, der nicht durch Nähe und Nachbarschaft gerechtfertigt sei, sondern auf Grund abstrakter Analogien zustande komme.165 Für Pasternak geht es um die Befreiung der Dinge von Analogien – oder umgekehrt: der Analogien von den Dingen – und damit letztlich um den Verzicht auf Identität. Denn wie er schon in seinen Studentenheften notiert, „[к]аждое впечатление [не похоже] само на себя“ / „ist jeder Eindruck sich selbst [unähnlich]“.166 Anders als Bergson betont Jakobson nicht die Unteilbarkeit der Kontiguität, sondern ihre „Zufälligkeit“, von der über ein Jahrzehnt früher bereits sein Formalistenkollege Jurij Tynjanov gesprochen hatte. In Tynjanovs „Promežutok“  / „Zwischenzeit“ findet sich die Formulierung: „[…] запас образов у Пастернака особый, взятый по случайному признаку, вещи в нем связаны как-то очень не тесно, они – только соседи, они близки лишь по смежности […].“167 „[…] Pasternaks Vorrat an Bildern ist speziell, ausgewählt nach einem zufälligen Merkmal, die Dinge sind in ihm irgendwie besonders lose, sie sind nur Nachbarn und sind sich nah allein durch Berührung […].“ Jakobson erwähnt dann in diesem Zusammenhang das Konzept der „Austauschbarkeit der Bilder“ aus Pasternaks Ochrannaja gramota.168 Dass sich Zufälligkeit und Austauschbarkeit freilich beide über eine spezifische Nähe begründen, steht bei Jakobson noch weniger als bei Tynjanov im Vordergrund. Auch deshalb kritisiert Gasparov an den „Randbemerkungen“, sie vernachlässigten die „motivationale Energie“ des Metonymismus: Pasternaks künst164 Pasternak hatte die Dichotomie zwischen Metapher und Metonymie in seinem Philosophiestudium bei David Hume angetroffen. Glazov-Corrigan: Art after Philosophy, 8/9. Siehe Glazov-Corrigans ausgezeichnete Darstellung zu Pasternak, Jakobson und der Problematik des „Metonymischen“ ebd., 43–70. – Pasternak bekam Jakobsons Prager Essay später zu lesen und war davon angetan. Auch ein gewisser Einfluss der Dichotomie auf Doktor Živago ist denkbar. Vgl. dazu Livingstone, Angela: „‘Integral Errors’: remarks on the writing of Doctor Zhivago“, in: Essays in Poetics 13, 2 (1988), 83–93. 165 „Vassermanova reakcija“, PSS, V, 6–11, hier 11. 166 Fleishman, Lazar/Harder, Hans-Bernd/Dorzweiler, Sergej (Hrsg.): Boris Pasternaks Lehrjahre. Neopublikovannye filosofskie konspekty i zametki Borisa Pasternaka. Tom 1. Stanford 1996, 228 (eckige Klammern im Orig.). Vgl. dazu Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 46. 167 Tynjanov, Jurij: „Promežutok“ [1924], in: ders.: Archaisty i novatory. Leningrad 1929 [Reprint Ann Arbor, Mich., 1985], 541–580, hier 566; Jakobson: „Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak“, 368. 168 Ochrannaja gramota, 204.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

53

lerische Metaphysik (der Annäherung).169 Tatsächlich zeichnet sich bei Pasternak, gerade in Bezug auf das Licht, ein Vorrang der Nähe vor allen anderen Kategorien ab.170 Dass die Zufälligkeit nicht unbedingt der zentrale Faktor in Pasternaks Berührungsassoziationen ist, zeigt sich auch an seinem schon erwähnten Interesse für die Infinitesimalrechnung, wie er sie bei Hermann Cohen kennengelernt hatte. In Cohens neukantianischem System wird die auf Leibniz zurückgehende Infinitesimalrechnung zum Paradigma der Philosophie überhaupt. Die sogenannten „unendlich kleinen Größen“ der mathematischen Analysis seien die einzigen „Gegebenheiten“, auf die sich die Wissenschaft berufen könne.171 Das Denken ist nach Cohens rationalistischer Wissenschaftsphilosophie imstande, nach dem Modell des Unendlichkleinen sich selbst und alles, „was als Sein gelten darf “, aus dem Nichts zu erzeugen.172 Cohen will so der noch bei Kant selbstverständlichen Abhängigkeit des Denkens von „Daten“ der Sinneswelt ein Ende machen. In seinem apodiktischen Stil, den Pasternak in Ochrannaja gramota zuweilen zu parodieren scheint, schreibt er: „Es ist nur sensualistisches Mißverständnis des Unendlichkleinen, wenn man nach einem anderen Mittel der Realität verlangt; wenn man, im Besitze der Infinitesimal-Rechnung, ein Mittel der Realität vermißt.“173 Es stellt sich die Frage, inwiefern ein angehender Dichter aus einem solchen philosophischen Programm Gewinn schlagen soll; ja wie Pasternak in einem Brief aus Marburg schreiben konnte, dass er, falls er sich denn ernsthaft der Poesie zuwende, diese „философу 169 Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 13, 47/48. 170 Erika Greber betont an Pasternaks Kontiguitätsmetaphern, wie er sie in „Vassermanova reakcija“ entwickelt, die Eigenschaften ‚Äußerlichkeit‘ und ‚Entferntheit‘. Den poetischen Akt der Annäherung beschreibt sie entsprechend als „concettistisch“: „Pasternak konzipiert einen Gegensatz von Metaphern, die über eine innere ‚Annäherung durch Ähnlichkeit‘ (Similarität, schodstvo) zustandekommen, und Metaphern, die dagegen durch eine ‚Annäherung von außen‘ (Angrenzung, Kontuguität, smežnost’) entstehen; und seine eigenen Metaphern sind nicht ‚Similaritätsmetaphern‘ der ersten Art, sondern metonymische Metaphern, genauer: ‚Kontiguitätsmetaphern‘ – Metaphern, die […] nach dem concettistischen Prinzip des ingeniös Weithergeholten (nämlich des auf der Kontiguitätsachse ‚von außen‘ Weithergeholten) gebildet sind.“ Greber, Erika: „Das Erinnern des Erinnerns. Die mnemonische Ästhetik Boris Pasternaks“, in: Poetica 24 (1992), 356–393, hier 359. Das Spezifische an den Lichtphänomenen in Pasternaks Texten ist freilich, dass sie sich grundsätzlich selbst nahebringen, sich selbst herantragen – oder ausbleiben. Die Rede von bereits gebildeten Metaphern ist so gesehen in unserem Zusammenhang überhaupt zu vermeiden; ich werde die Lichtphänomene in erster Linie als Ereignisse behandeln, die Metaphern bilden können, aber nicht müssen. 171 Vgl. Philonenko, Alexis: L’école de Marbourg. Cohen – Natorp – Cassirer. Paris 1989, 57/58. 172 Cohen, Hermann: Logik der reinen Erkenntnis [1902]. 4. Auflage. Einleitung von Helmut Holzhey. Hildesheim/New York 1997, 81. Vgl. Dufour, Éric: Hermann Cohen. Introduction au néokantisme de Marbourg. Paris 2001, 41. 173 Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, 134.

54 Einleitung

инфинитезимальной методы“ / „dem Philosophen der infinitesimalen Methode widmen“ würde.174 Noch zwei Jahre später in „Vassermanova reakcija“ bezeichnete er den Kern eines poetischen Textes als „интеграл бесконечной функции“175 / „Integral einer unendlichen Funktion“. Nach Elena Glazov-Corrigan triumphiert beim jungen Pasternak Leibniz über Kant, d.h. die naturphilosophisch-organischen Elemente von Leibniz’ Monadologie über den (neu-)kantianischen Kritizismus. In Pasternaks „растительное мышление“176 / „vegetativem Denken“, dem in Ochrannaja gramota seine akademischen Ambitionen Tribut zollen, „spinne“ sich Leibniz’ Philosophie fort, während Kant und Cohen zurückgelassen würden. Dabei wird die Dynamik der infinitesimalen Methode nach Glazov-Corrigan vom „vegetativen Denken“ übernommen; die Verästelungen (sie zieht hier auch Deleuzes/Guattaris Rhizom-Begriff heran) des poetischen Denkens ersetzten lediglich die numerische Approximation des Integrals durch eine „organische“.177 Die infinitesimale Methode ist indessen mehr als eine Metapher des poetischen Verwebens der Wörter. Sie gibt auch das Modell von Pasternaks poetischer Welt im Verhältnis zu ihrem Schöpfer vor. 1910 schrieb er in einem Brief an seine Cousine Ol’ga Frejdenberg von einem „спокойное величественное «рядом»“ / einem „ruhigen majestätischen ‚Neben‘“, von „это странное «рядом»“ / „diesem seltsamen ‚Neben‘“ und vom „минование мимо жизни, природы“178 / dem „Vorbeigehen am Leben, an der Natur“. Man könnte hier ein „knapp“ hinzufügen. Die Idee ist es, möglichst knapp an Leben und Natur vorbeizuzielen, um diese nicht zu behelligen und gerade so Eindrücke von ihnen zu konservieren. In demselben langen Brief an Frejdenberg skizziert Pasternak einen Text über einen Komponisten (Pasternak, Sohn einer Konzertpianistin und Bewunderer Skrjabins, war lange Zeit überzeugt gewesen, er würde Komponist werden179). Da heißt es über das literarische Einfangen des Moments der Inspiration: „[…] зарегистрировать, отметить навсегда все вокруг: пляшущие мысли, состояние просветления; обстановку, имя, все, чем можно отметить, пометить даже этот миг.“180 „Registrieren, alles rundherum für immer markieren: die tanzenden Gedanken, den Zustand der Erleuchtung; die Situation, den Namen, alles, womit man sogar diesen Augenblick markieren kann.“ 174 Brief an Aleksandr Štich vom 26. Juni/8. Juli 1912, PSS, VII, 118. 175 „Vassermanova reakcija“, 10. 176 Ochrannaja gramota, 183. Vgl. dazu zuletzt Döring, Johanna Renate: „Boris Pasternak (1890–1960). ‚Kultur‘-Asket und Dichter-Philosoph“, in: dies.: Von Puschkin bis Sorokin. Zwanzig russische Autoren im Porträt. Wien/Köln/Weimar 2013, 191–206, hier 198. 177 Glazov-Corrigan: Art after Philosophy, 22, 28. 178 Brief an Ol’ga Frejdenberg vom 28. Juli 1910, PSS, VII, 58 (Hervorhebung im Orig.). 179 Siehe Barnes, Christopher: Boris Pasternak. A Literary Biography. Volume 1. 1890–1928. Cambridge 1989, 81–84. 180 PSS, VII, 60.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

55

Wir kommen mit dieser Passage zum Thema der Licht-Trägerschaft des Künstlers zurück. Der „Zustand der Erleuchtung“ steht auf einer Ebene mit den „tanzenden Gedanken“, der Situation, dem Namen (wessen?) und allerlei anderem rundherum. Eine symbolistische Licht-Werdung des Künstlers hingegen bleibt aus. Pasternaks ausgeprägte Skrupel gegenüber Gleichsetzungen, seine Skepsis gegenüber der Herstellung von Kongruenz verschiedener Dinge oder Essenzen tangiert damit auch das Licht, den metaphorischen Identifikationsfaktor schlechthin. Die Aufwertung der Nähe bei gleichzeitigem bewusstem ‚Vorbeizielen‘ hat von moderner Rationalismuskritik mehr als von einem naiven, quasi „kindlichen“ Glauben. Gasparov betont allerdings zu Recht, dass Pasternak zu einer solchen Haltung auf einem subtilen Umweg über das kritizistische Philosophieren gelangt war und letzteres als Korrektiv gegen „vulgären Sensualismus“ ebenso wie allzu metaphysischen „Spiritualismus“ stets beibehielt.181 Was bedeutet das für die Lyrik? Ein naheliegendes Beispiel ist die Rolle der Sonne im Gedichtband Sestra moja – žizn’. Es fällt auf, dass nichts in diesen Gedichten mit der Sonne verglichen, nichts an ihre Stelle gesetzt wird (werden darf ) – ganz anders als etwa in Majakovskijs zeitnahem Sonnengedicht „Neobyčajnoe priključenie, byvšee s Vladimirom Majakovskim letom na dače“ („Ungewöhnliches Abenteuer, das sich sommers mit Vladimir Majakovskij auf der Datscha ereignete“, 1920), in dem der Dichter sich als zweite Sonne behauptet.182 Hier bestätigt sich Jakobsons Dichotomie der „Randbemerkungen“: Während sich Majakovskij zur Sonne in „Analogie“ setzt, besteht für Pasternak die einzig zulässige Art der Begegnung mit ihr darin, sich ihr anzunähern.183 Ein solches Verhältnis 181 Vgl. Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 54, 62. An der Moskauer Universität fühlte Pasternak sich unaufgehoben zwischen „отживш[ая] метафизик[а]“  / „überlebter Metaphysik“ und „неоперивше[е]ся просвещенств[о]“ /„nichtgestütztem Aufklärertum“. Ochrannaja gramota, 164. 182 Majakovskij, Vladimir: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Tom vtoroj. 1917–1921. Moskva 1956, 35–38. 183 Diesen indirekten Zugang zur Sonne hat Pasternaks Jugendfreund Sergej Durylin sehr schön in seinen Memoiren V svoem uglu / In der eigenen Ecke festgehalten – und ihn dort schon 1928 mit der metonymischen Figur des pars pro toto verbunden. Durylin erinnert sich an eines der Reliquimini-Fragmente von 1910 über eine vermeintlich lebendige Eidechse auf einem Trottoir mitten in Moskau: „Весна, но он [Реликвимини] не замечает весны. Тепло и солнечно, но у него в душе не тепло и не солнечно, а, может быть, месячно […]. И вдруг – на сером асфальте тротуара видит маленькую, живую, зеленую ящерицу […]. И Реликвимини увидал по ящерице, что весна: он солнце увидел на ее спинке – и поднял голову: / – Весна! […] Весна по ящерице, pars pro toto, – меня поразило тогда в отрывке Бориса […].“ „Es ist Frühling, doch er [Reliquimini] bemerkt den Frühling nicht. Es ist warm und sonnig, doch ihm ist nicht warm und nicht sonnig zumute, sondern, sagen wir, mondiglich […]. Und plötzlich, auf dem grauen Asphalt des Trottoirs, sieht er eine kleine, echte, grüne Eidechse […]. Und Reliquimini erkannte an der Eidechse, dass Frühling war: Er sah die Sonne auf ihrem Rücken – hob den Kopf: ‚Es ist Frühling!‘ […] Frühling gemäß einer Eidechse, als pars pro toto – das verblüffte mich damals an dem Fragment von Boris […].“

56 Einleitung

zur Natur – Annäherung statt Abstraktion – war im 19. Jahrhundert von Aleksandr Afanas’ev für die slavische Folklore geltend gemacht worden. Zum folkloristisch-anthropomorphen Verständnis der Sonne (ihrem „Auf-“ und „Untergang“, „Lächeln“ etc.) schreibt Afanas’ev, sich der Denkfigur der Approximierung bedienend: Всякое явление, созерцаемое в природе, делалось понятным и доступным человеку только чрез сближение с своими собственными ощущениями и действиями, и как эти последние были выражением его воли, то отсюда он естественно должен был заключить о бытии другой воли (подобной – человеческой), кроющейся в силах природы. Иной образ мышления, который мог бы указать ему в природе те бездушные стихии, какие мы видим в ней, был невозможен; ибо требует для себя уже готового отвлеченного языка, который бы не властвовал над фантазией, а был бы покорным орудием в устах человека.184 Jede in der Natur zu beobachtende Erscheinung wurde dem Menschen allein durch Annäherung an seine eigenen Gefühle und Handlungen verständlich, und da letztere Ausdruck seines Willens waren, musste er selbstverständlich auch auf die Existenz eines anderen Willens schließen (eines ähnlichen: menschlichen), der sich in den Potenzen der Natur verbarg. Eine andere Auffassung, die ihm in der Natur jene seelenlosen Elemente suggeriert hätte, welche wir in ihr sehen, war undenkbar; denn eine solche erfordert eine schon bereitstehende abstrakte Sprache, die keine Macht über die Phantasie ausübte, sondern ein gefügiges Instrument im Munde des Menschen wäre.

Wie verträgt sich aber der Anthropomorphismus der Sonne mit dem Konzept des Licht-Regens, das den Dichter als Subjekt doch gerade aus dem Licht-Geschehen herauslösen soll? Diesen Einwand hat Marina Cvetaeva im Sinne, wenn sie anders als Afanas’ev die Tendenz zur „Vermenschlichung“ einem objektivierenden Naturverständnis zurechnet und Pasternak stattdessen als „лунатическое существо“  / „lunatisches Wesen“ bezeichnet, das durch seine unendliche Annäherung an den (Licht-)Regen den aufgeklärten Leser in eine fast bedrohliche Unmittelbarkeit mit der Natur führe: „Между Пастернаком и предметом – ничего, оттого его дождь – слишком близок […].“185 „Zwischen Pasternak und dem Gegenstand ist – nichts, (Eintrag vom 16. Oktober 1928) Durylin, Sergej: V svoem uglu. K 120-letiju S. N. Durylina, 1886–1954. Moskva 2006, 747. 184 Afanas’ev, Aleksandr: Poėtičeskie vozzrenija slavjan na prirodu [1865]. V trech tomach. Tom I. Moskva 1994, 58/59 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Zu Pasternaks ausgeprägtem Interesse an Afanas’ev vgl. Borisov, Vadim/Pasternak, Evgenij: „Materialy k tvorčeskoj istorii romana B. Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, in: Novyj mir 6 (1988), 204–248, hier 242; Ivanov, Vjačeslav Vs.: „O knige Pasternaka ‚Sestra moja – žizn’‘ [fragment]“, in: Moskovich, Wolf/ Fraenkel, Jonathan/Levin, Victor/Shvarzband, Samuel (Hrsg.): Russian Literature and History. In Honour of Professor Ilya Serman. Jerusalem 1989, 83–89, hier 87; sowie Evgenij und Elena Pasternaks Kommentar in Doktor Živago, 705. 185 Cvetaeva, Marina: „Ėpos i lirika v sovremennoj Rossii. Vladimir Majakovskij i Boris Pasternak“ [1932], in: dies.: Sobranie sočinenij v semi tomach, 5, 375–396, hier 387 (Hervorhebung im Orig.).

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

57

deshalb ist sein Regen – zu nah.“ Die Dichterperson bei Pasternak verzichtet bewusst darauf, durch poetische Verfahren „wie die Sonne zu werden“ (so der Symbolist Konstantin Bal’mont im Gedichtband Budem kak solnce, 1902186) und willigt, durchaus wörtlich, in ein Schattendasein ein.187 Dies ist der schon diskutierte kenotische Impuls ohne Anspruch auf Erhöhung, also, wenn man so will: Pasternaks einseitiges Christentum. David Bethea hat wohl nicht Unrecht mit seinem Aperçu, dass Pasternak, das Kind säkularer jüdischer Eltern, „in this limited sense […] a son of Judaism“ geblieben sei.188 Boris Gasparov hat die Gleichgültigkeit gegenüber der Erhöhung so formuliert: Pasternak kenne „keinen Selbsterhaltungstrieb“189. Wenn der Licht-Regen „zu nah“ rückt (Cvetaeva) und der Dichter ihn sich ereignen lässt, so ergibt sich, gleichsam als Überschuss, wohl doch eine anthropomorphe Ähnlichkeit mit ihm, wie von Afanas’ev beschrieben.190 In diesem Vorgang zeigt sich die von Cvetaeva nicht beachtete Paradoxie, dass das Zustandekommen einer 186 Das konventionalisierte Motiv des „Sonne-Werdens“ ist auch in den Gedichten Vadim Šeršenevičs, des Futuristen, gegen den sich die Polemik in „Vassermanova reakcija“ wendet, anzutreffen. Vgl. „О carica poceluev! Lože bračnoe cvetami…“ / „O Herrscherin der Küsse! Das Ehebett von Blumen…“ (1911): „Будь, как Солнце, ярким светом и, как Солнце, будь зовущей!“ / „Sei wie die Sonne aus grellem Licht und wie die Sonne rufend!“ Šeršenevič, Vadim: Listy imažinista. Jaroslavl’ 1997, 47. 187 Anders formuliert: Der Dichter kann nach Pasternak die Gabe des Lichts nur annehmen, wenn er sich selbst zur „Opfergabe“ macht. Zur Typologie von „apollinischer“ Gabe und „dionysischem“ Opfer sowie ihrer Verschränkung zur „Opfergabe“ in der russischen Moderne vgl. Grübel, Rainer: „Gabe und Opfer. Axiologische Perspektiven in der russischen Kultur der Moderne“, in: ders./Kohler, Gun-Britt (Hrsg.): Gabe und Opfer in der russischen Literatur und Kultur der Moderne. Oldenburg 2006, 1–81. – Im Zusammenhang mit der Schattenfigur wäre auch das Problem des „dunklen Stils“ in Pasternaks Frühwerk zu diskutieren (das in dieser Untersuchung nicht im Vordergrund stehen wird). Vgl. dazu u.a. Döring, Johanna Renate: Die Lyrik Pasternaks in den Jahren 1928–1934. München 1973, 62/63; Carlzohn, Jessica: Entangled Figures. Five Poems from Temy i variacii by Boris Pasternak. Lund 2009, 27–31; Jensen, Peter Alberg: „‚Mir, kotoryj stal sam ne svoj‘ v ėstetike molodogo Pasternaka“, in: Lunde, Ingunn/Paulsen, Martin (Hrsg.): From Poets to Padonki. Linguistic Authority and Norm Negotiation in Modern Russian Culture. Bergen 2009, 184– 193, hier 185. 188 Bethea, David: „Doctor Zhivago: The Revolution and the Red Crosse Knight“, in: ders.: The Shape of Apocalypse in Modern Russian Fiction. Princeton 1989, 230–268, hier 268. 189 Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 101. Das Argumentieren gegen den natürlichen Selbsterhaltungstrieb ist übrigens ein stets wiederkehrendes Motiv des religiösen Denkens bei Pasternaks Vorbild Lev Tolstoj. Vgl. z. B. das Tagebuch von 1895, Tolstoj, Lev: Polnoe sobranie sočinenij v 90 tomach. T. 53. Moskva 1953, 51 und passim. 190 Eine treffende Bezeichnung für diesen nicht archaisch-naiven, aber doch irgendwie gläubigen Zugang wäre Wolfram Hogrebes Begriff des „minimalen Animismus“ der Welt- und Kunsterfahrung. Siehe Hogrebe, Wolfram: „Protodeixis. Was zeigt sich zuerst?“, in: Boehm, Gottfried/Egenhofer, Sebastian/Spies, Christian (Hrsg.): Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren. München 2010, 375–385, hier 380.

58 Einleitung

Gelegenheit zwar metaphorisch als eine ‚Gnadengabe‘ verstanden werden kann, dass aber andererseits der Künstler diese Gelegenheit zugleich selbst hervorbringt. Jankélévitch veranschaulicht dies am besonders gut auf Pasternak zutreffenden Beispiel eines (impressionistischen) Malers, der unverhofft Zeuge eines Sonnenuntergangs wird: En fait, l’occasion est une grâce qu’il faut parfois aider sournoisement et qui n’est donc pas tout à fait gracieuse. […] Il y a donc dans l’occasionnalité une sorte de causalité réciproque : c’est l’occasion qui active le génie créateur, mais c’est pour le génie créateur que la rencontre, au lieu d’être une occurrence morte, devient une occasion féconde et riche de sens. Par exemple les teintes d’un coucher de soleil imprévu sont une aubaine gratuite pour le peintre : le peintre se saisit donc de ses pinceaux « à l’improvisade », dans l’espoir de cueillir au vol la minute heureuse ; mais en sens inverse le peintre suscite littéralement le coucher de soleil qui l’inspirera […].191

Der Maler lässt sich von einem Sonnenuntergang überraschen, obwohl er ihn bis zu einem gewissen Grad erst mit seiner Aufmerksamkeit ausgelöst hat. Ein solches für Pasternaks Ästhetik zentrales Spannungsverhältnis soll übrigens schon für sein Verhalten als Kind charakteristisch gewesen sein. Wie er in seiner zweiten Autobiographie von 1956 andeutet und wie sein Bruder Aleksandr später wiederholte, konnte der kleine Pasternak die unbedeutendsten Zwischenfälle im Alltag, darunter Niederlagen bei Spielen, als „providentiell“ auffassen, eben als Gelegenheiten, um untröstlich traurig zu werden, sich zurückzuziehen und mit niemandem mehr ein Wort zu reden.192 In einem Brief Pasternaks von 1931 verbindet sich das Warten auf Gelegenheiten – hier „мгновенный луч“ / „Augenblicks-Strahl“ genannt – mit den Figuren des „unbewussten“ Lebens, der Selbstopferung und der Idee einer „femininen“ Inkarnation. Die Briefpassage liest sich wie ein Zwischenfazit der einleitenden Überlegungen. Sie sollen daher ausführlich zitiert werden: Я люблю жизнь не как блюдо, уверенно и спокойно выбранное из других и наиболее вкусное, но как наиболее незаслуженный и удивительный эпизод большого одинокого путешествия, начало и конец которого утрачены и недоступны сознанью. Все высокое и прекрасное действует на меня так, точно оно прямо ко мне и адресуется, и без моего ответного порыва ушло бы из двухтысячного зала несчастным. За его мгновенный луч я должен заплатить мгновенной преданностью, и когда эта высота и прелесть воплощается в женщине или в женском, хотя бы в духе, хотя бы на расстояньи, – эта преданность может меня завести далеко.193 191 Jankélévitch: Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien, 1, 128/129. 192 Vgl. Raevskaja-Ch’juz, Ol’ga: „O samoubijstve Majakovskogo v Ochrannoj gramote Pasternaka“, in: Fleishman, Lazar (Hrsg.): Boris Pasternak and His Times. Selected papers from the Second International Symposium on Pasternak. Berkeley 1989, 141–152, hier 146. 193 Brief an Raisa Lomonosova vom 23. März 1931, PSS, VIII, 486.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

59

Ich liebe das Leben nicht wie eine Mahlzeit, sicher und ruhig ausgewählt aus anderen als die köstlichste, sondern wie die allerunverdienteste und staunenswerteste Episode einer großen einsamen Reise, deren Anfang und Ende verloren und dem Bewusstsein unzugänglich sind. Alles Hohe und Schöne wirkt auf mich so, als wäre es direkt an mich andressiert und als müsste es ohne meine antwortende Leidenschaft einen Saal von Zweitausend unglücklich wieder verlassen. Für den Augenblicks-Strahl [des Hohen und Schönen] muss ich mit augenblicklicher Ergebenheit bezahlen, und wenn diese Höhe und dieser Reiz Fleisch annimmt in einer Frau oder im Femininen, und sei es geistig, sei es aus der Entfernung, – dann kann mich diese Ergebenheit weit hinweg tragen.

Das Ästhetische als Warten auf Gelegenheiten, sich zu unterwerfen… In diesem Sinne könnte der Begriff der „sakrifiziellen Autorschaft“ passend sein, den zuletzt Karin Peters für die (französische) Moderne entwickelte.194 Allerdings bleibt Pasternaks Figur, durch freiwillige Unterwerfung bzw. „antwortendes“ Verschwinden eine Licht-Epiphanie freizusetzen, mit der Opfer-Topik einer rituellen Enthauptung, wie sie sich bei Georges Bataille, Peters’ zentraler Referenz, findet, inkommensurabel. Neben der „obszöne[n] Körperlichkeit“195 von Batailles Autor-Opfer muss Pasternaks Ergebenheit (gegenüber dem „Femininen“) als grundsätzlich noch – oder wieder – platonisch erscheinen.

Zur Grundthese: Licht als Medium einer diesseitigen Metaphysik Der Licht-Regen, unverhofftes Aufeinandertreffen von Licht und Wasser, ist ein sich selbst genügendes, realisiertes Symbol.196 Es macht den bei Hans Blumenberg so markanten Gegensatz zwischen Metaphorik (übertragener Bedeutung des Lichts) und Metaphysik (buchstäblicher Bedeutung des Lichts) scheinbar hinfällig. Zwar wird das Licht durch seine „Verlebendigung“ zu einem geschichtlichen Ereignis, wie Blumenberg es für den neuplatonischen und gnostischen Mythos von Fall und Erlösung des Lichts beschreibt,197 und ist kein überzeitlicher „Raum“ der Metaphorik mehr, in dem sich die Wahrheit zeigen kann. Gleichwohl würde ich das flüchtige Ereignis des Licht-Regens nicht lediglich als verglühend-vorüberfließenden Moment verstehen wollen – ebenso wie die „nur im Moment ihres Erscheinens 194 Peters, Karin: Der gespenstische Souverän. Opfer und Autorschaft im 20.  Jahrhundert. München 2013, 13–45 und passim. 195 Ebd., 292. 196 Vgl. Erlich, Victor: „The concept of the Poet in Pasternak“, in: The Slavonic and East European Review 37, 89 (1959), 325–335, hier 329: „The image does not point beyond itself, does not serve as a proxy for any recognizable human situation. In ‘После дождя’, Сестра моя – жизнь, and many other rain-soaked poems of Pasternak, the ‘shower’ is a source of delight, the focus of lyrical excitement, but not its emblem.“ 197 Blumenberg: „Licht als Metapher der Wahrheit“, 153.

60 Einleitung

wirksame Kraft“ aus Ochrannaja gramota198 oder, bei Jankélévitch, die Illumination, die nur „während des Bruchteils einer infinitesimalen Sekunde“199 leuchtet. Gesucht wird bei Pasternak eine flüchtige Aufzeichnung des Ewigen. Es geht ihm, wie er programmatisch verlautbart, um einen „импрессионизм […] вечного“200 / „Impressionismus des Ewigen“, in subtiler Distanzierung vom konventionellen, sensualistischen Impressionismus und seinen Lichtspielen.201 Ich denke, dass die Licht-Epiphanie bei Pasternaks die Grundlage bildet für ein anderes, realistischeres, weniger weltflüchtiges Verständnis von Lichtmetaphysik als bei Blumenberg.202 Weshalb leuchten so oft an zentralen Stellen Lichter auf, sei es die Sonne, seien es Blitze, Kerzen, der Schein einer Stadt, eines Lampenschirms oder schließlich eine ganze handelnde Figur? Bei Lev Tolstoj, Pasternaks künstlerischem Vorbild, geht jeweils in Momenten der Konversion eines Helden ein Licht auf, ein „Photismos“ in William James’ Sinne. In Pasternaks Werk gibt es selten solche Konversionen, Momente plötzlichen Umdenkens, schlagartiger Verwandlung. Ich meine, dass die allgemeinste Bedeutung des immer wieder zu beobachtenden Aufleuchtens von Lichtern bei Pasternak die ist, dass etwas geschieht, das bleiben soll. Umgekehrt formuliert: Wenn es zutrifft, dass „die zentrale Intuition von Pasternaks ganzem Werk […] die Intuition von der Unsterblichkeit des Lebens“ ist (Vadim Borisov/Evgenij Pasternak203), dann kann man dies, so meine Vermutung, an den Lichtphänomenen seiner Texte festmachen. Es wäre auch nicht abwegig, hier von Pasternaks ‚Lebenstext‘ her zu argumentieren: Momente absoluten, euphorischen Glücks, schreibt er einmal an Cvetaeva, kehrten in seinem Leben deshalb je mehrere

198 „сил[а], деятельн[ая] лишь в момент явленья“, Ochrannaja gramota, 187. 199 Jankélévitch, Vladimir: Philosophie première. Introduction à une philosophie du « presque ». Paris 1954, 171. 200 „Černyj bokal“, 14 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 201 Ein konventioneller Impressionismus wurde nicht zuletzt von seinem Vater Leonid Pasternak, dem bekannten Maler und Akademie-Professor, vertreten. Siehe Barnes: Boris Pasternak, I, 17–19. 202 Zugleich wäre das Konzept des Licht-Regens von der Epiphanie im Verständnis Karl Heinz Bohrers abzugrenzen. Zwar liegt durch das Merkmal plötzlichen Aufscheinens eine wesentliche Gemeinsamkeit vor, doch während das Licht bei Pasternak immer als etwas von außen Kommendes konzipiert ist, beharren Bohrers Analysen zur modernen Romanliteratur ( James Joyce, Marcel Proust, Robert Musil) auf der subjektiven Konstituiertheit der Epiphanie. Vgl. Bohrer, Karl Heinz: „Utopie des ‚Augenblicks‘ und Fiktionalität. Die Subjektivierung von Zeit in der modernen Literatur“, in: ders.: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Mit einem Nachwort von 1998. Frankfurt a. M. 1998, 180–218, hier 195–210. 203 Borisov/Pasternak, Evg.: „Materialy k tvorčeskoj istorii romana B. Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, 216.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

61

Male wieder, da „Zustände der Erleuchtung offensichtlich der Wiedererinnerung bedürfen“ („состоянья просветленья, видно, нуждаются в напоминаньи“204). Im symbolischen Raum der Literatur reicht streng genommen ein einmaliges Aufleuchten, obwohl auch Lichter in Texten, beispielsweise die berühmte Kerze in Doktor Živago, leitmotivisch wiederholt, „wiedererinnert“ werden. Meine These lautet also: Die Ereignisse haben bei Pasternak ihr Gedächtnis: das Licht. Zweifellos liegt, wenn das so ist, eine „Verdinglichung“ vor, wie sie nach Blumenberg die Lichtmetaphysik auszeichnete. Verdinglicht würde das allegorische ‚Gedächtnislicht‘205 der Rhetorik: Nicht die Rede des Erzählers oder seiner Figuren ist es, die zurückliegende Ereignisse beleucht, sondern das belebte Licht der Ereignisse selbst. Man könnte vom „Eigenlicht“ des Lebens in Pasternaks Texten sprechen. So wird übrigens die meist als futuristische Provokation gelesene Kunstdefinition aus „Černyj bokal“ verständlicher: „В искусстве видим мы своеобразное extemporale, задача коего заключается в том единственно, чтобы оно было исполнено блестяще.“206 / „In der Kunst sehen wir ein eigentümliches extemporale, dessen Aufgabe einzig und allein darin besteht, dass es brillant ausgeführt wird.“ Versteht man dieses „исполнено блестяще“ wörtlich, so meint es: Kunst befasst sich mit „aus der Zeit“ (ex-temporale) gegriffenen Gelegenheiten, und die müssen „glänzend ausgefüllt“ sein, d.h. von sich selbst aus leuchten. Selbst wenn diese etymologische Lesart strapazierend ist, macht sie immerhin darauf aufmerksam, dass Pasternak noch da, wo er in seinen ästhetischen Frühschriften rein ‚manieristisch‘ (bei Jankélévitch der Gegenbegriff zu ‚occasionell‘) argumentiert, unmittelbar in metaphysische Kategorien wie hier die Fülle übersetzbar ist. Das eigentlich Metaphysische an Pasternaks Poetik des Lichts wäre also, dass sie sich für die Begegnungen zwischen Figuren und die sie umgebenden Landschaften und Dinge in einem Text nicht so sehr auf Grund ihrer jeweiligen Pragmatik interessiert, als unter dem Blickwinkel, dass sie überhaupt erscheinen und entsprechend: da gewesen sein werden. Der Autor von Doktor Živago äußert sich in dieser Hinsicht unmissverständlich. Zunächst habe er, schreibt er in einem Brief an Jacqueline de Proyart von 1959, in seinem Roman die Einzelheiten abgearbeitet. Der Kern liege jedoch anderswo: „Когда эта работа была выполнена, оставалось еще одно, что надо было также охарактеризовать и описать. Что именно? Реальность как таковую, реальность как явление или философскую категорию: факт существования некой реальности.“207 / „Nachdem diese Arbeit getan war, blieb noch etwas, das auch charakterisiert und beschrieben werden wollte. Was 204 Brief an Marina Cvetaeva vom 12. Mai 1929, PSS, VIII, 316. 205 Für eine Pasternak-Lektüre im Lichte der Rhetorik siehe die Arbeiten von Erika Greber. Eine Zusammenfassung ihrer Studien gibt Greber in: „The art of memory in Boris Pasternak’s aesthetics“, in: Russian Literature XLII (1997), 25–46. 206 „Černyj bokal“, 15. 207 Brief an Jacqueline de Proyart vom 20. Mai 1959, PSS, X, 489.

62 Einleitung

nämlich? Die Realität als solche, die Realität als Erscheinung oder philosophische Kategorie: das Faktum der Existenz einer Realität überhaupt.“ Das Leben, schreibt er ähnlich an den Verleger Kurt Wolff, bestehe nicht nur aus unzähligen Einzelbewegungen, sondern vor allem aus einer „stürmischen“ Gesamtbewegung, als „unteilbarer Gesamterscheinung der Welt“ („неделимое явление мира в целом“)208. Man kann in Bezug auf den Pasternak der vierziger und fünfziger Jahre von einer metaphysischen Poetik sprechen, von einem Schreiben, das sich für die vielfältigen und kontingenten Erscheinungsformen der Realität vor allem insofern interessiert, als an ihnen allen eine gemeinsame „Seite“ aufgespürt werden kann – dass sie überhaupt real sind, dass sie überhaupt Teil jenes „Stroms“ der Realität sind. Gegenüber Wolff erklärt er weiter: „Стиль моего письма, моя поэтика посвящены усилению и передаче этой стороны действительности, ее общего потока, перед всеми мелкими подробностями.“209 / „Der Stil meines Schreibens, meine Poetik sind der Verstärkung, der Wiedergabe dieser Seite der Wirklichkeit gewidmet, ihrem allgemeinen Strom, vor allen winzigen Details.“ So wird, das ist eine der Grundthesen der vorliegenden Untersuchung, die Poetik bei Pasternak philosophisiert.210 Einiges ist über die Beschäftigung des russischen Dichters mit Gottfried Wilhelm Leibniz geschrieben worden, namentlich mit der infinitesimalen Methode und der Monadologie des deutschen Philosophen und Mathematikers. Wenn ich richtig sehe, ist indes Leibniz’ wohl bekanntester Satz, seine Definition der Metaphysik, in diesem Zusammenhang noch gar nicht berücksichtigt worden: „[…] pourquoi il y a plus tôt quelque chose, que rien.“211 Entsprechend diesem Satz transferiert Pasternak das Staunen über die Welt nicht in ihren Einzelerscheinungen, sondern in ihrem „Überhaupt-Erscheinen“ von der (Leibnizschen) Philosophie in die Dichtung. Bei Jankélévitch finden sich exakte Umschreibungen dieses Staunens: Er spricht von einem „Charme“ der „Quodität“ (quoddité, ‚Dassheit‘212), vom „Mysterium der Empirie“ („le fait de l’empirie est un profond mystère“), von der „lichten Übernatürlichkeit“ („surnaturalité limpide“) der Natürlichkeit213 usw. Nicht von ungefähr kommt es beim Umkreisen der „Realität als solcher“ in der Sprache des französi208 Brief an Kurt Wolff vom 12. Mai 1959, PSS, X, 482. 209 Ebd. 210 Den Begriff der „Philosophisierung“ der Literatur stammt aus Danto, Arthur C.: „Philosophizing Literature“, in: ders.: The Philosophical Disenfranchisement of Art. New York 1986, 163–186. 211 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Principes de la nature et de la grâce fondés en raison [1714], in: ders.: Monadologie und andere metaphysische Schriften. Französisch–Deutsch. Herausgegeben, übersetzt, mit Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Ulrich Johannes Schneider. Hamburg 2002, 152–173, hier 162 (Hervorhebung im Original). 212 Jankélévitch: Philosophie première, 154. 213 Ebd., 29.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

63

schen Denkers immer wieder zu flüchtigen, aber umso gleißenderen Illuminationen. Der Schluss liegt nahe: Das Medium des vor- oder übersprachlichen „Charmes“ ist das Licht. Es führt, um einen weiteren Kernbegriff Jankélévitchs heranzuziehen, das dereinstige Gewesen-Sein („Avoir-été“214) des Lebens vor Augen. Entscheidend für diese „staunende“, aber immer immanente Metaphysik ist nicht, was alles geschieht und wie, sondern dass es überhaupt geschieht und in Zukunft geschehen sein wird, weiter „leuchten“ wird als ein „Avoir-été“ oder, mit einem Gedichttitel Pasternaks, als ein „имелось“215 / „Gehabt-Haben [einer Gelegenheit]“. Dies gilt bei Pasternak auch für das Schöpferische im engeren Sinne. Wie er immer wieder betont, sind für ihn nicht Einzelfragen der Poetik das Entscheidende an der Kunst, sondern deren Hervorgehen überhaupt. Richtig verstanden, schreibt Pasternak in Ochrannaja gramota, habe er dies erstmals in Marburg, also eben in jener Zeit, als er beschloss, seine Beschäftigung mit der Philosophie aufzugeben und fortan Dichter zu sein: Существует психология творчества, проблемы поэтики. Между тем изо всего искусства именно его происхожденье переживается всего непосредственнее, и о нем не приходится строить догадок. Мы перестаем узнавать действительность. Она предстает в какой-то новой категории. Категория эта кажется нам ее собственным, а не нашим, состояньем. Помимо этого состоянья все на свете названо. Не названо и ново только оно. Мы пробуем его назвать. Получается искусство. Самое ясное, запоминающееся и важное в искусстве есть его возникновенье, и лучшие произведенья мира, повествуя о наиразличнейшем, на самом деле рассказывают о своем рожденьи.216 Es existiert eine Psychologie des Schöpferischen, des Problems der Poetik. Jedoch wird von aller Kunst am unmittelbarsten ihr Ursprung erlebt, und über ihn muß man nicht Mutmaßungen konstruieren. Wir hören auf, die Wirklichkeit zu erkennen. Sie ersteht in einer bestimmten neuen Kategorie. Diese Kategorie scheint uns ihr eigener, nicht aber unser Zustand zu sein. Außerhalb dieses Zustandes ist die ganze Welt benannt. Nicht benannt und neu ist nur er. Wir versuchen, ihn zu benennen. Das Ergebnis ist die Kunst. Das Klarste, Einprägsamste und Wichtigste der Kunst ist ihre Entstehung, und die besten Hervorbringungen der Welt, mit allerunterschiedlichstem Inhalt, erzählen in Wirklichkeit von ihrer Geburt.217

Zunächst wird hier nichts anderes formuliert als die „Idee der Autoreflexivität der Kunst“ (Erika Greber218), jenes Phänomen, dass moderne Texte sich selbst zum 214 Jankélévitch: Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien, 1, 146: „[…] le pur fait d’Avoir-été, du moins, est une quoddité indestructible.“ 215 Aus Sestra moja – žizn’, PSS, I, 158. 216 Ochrannaja gramota, 185. 217 Der Schutzbrief, 286. 218 Greber: „Das Erinnern des Erinnerns“, 365.

64 Einleitung

Gegenstand haben oder, wie Arthur C. Danto schreibt, ihre eigene Idee zu verkörpern versuchen.219 Wie kann aber etwas so Abstraktes wie die Autoreflexivität das „Klarste, Eingängigste und Wichtigste“ an der Kunst sein? Wir müssen bei dieser Definition einen Schritt zurück machen von der Frage nach der Beschaffenheit und Machart des Kunstwerks zur Frage nach seinem „Aufscheinen“ überhaupt. Dafür spricht schon die untechnische Wortwahl („Herkunft“, „Geburt“): Der Inhalt eines Kunstwerks ist seine eigene, zu einem Zustand ausgedehnte Originalität – im wörtlichen Sinne von Ursprünglichkeit.220 Eine derartige, etymologische Begriffsverwendung von „Originalität“ lässt sich über das ganze Werk Pasternaks verfolgen. 1921 schrieb er an den Kritiker Vjačeslav Polonskij, er habe „раньше других и пока, кажется, […] единственно, осознал с болезненностью тот тупик, в который эта наша эра оригинальности в кавычках заводит“221 / „früher als die anderen und bisher, scheint es, […] allein so schmerzhaft begriffen, dass die Ära der Originalität in Anführungszeichen in eine Sackgasse führt.“ Nicht die Originalität, sondern die „Anführungszeichen“ sind das Problem der Krise der Literatur, die Pasternak diagnostiziert. Wie er in demselben Brief weiter auseinandersetzt, schwebt ihm vor, „что буду писать, как пишут письма, […] воздерживаясь от технических эффектов, фабрикуемых вне его [читателя] поля зренья и подаваемых ему в готовом виде,

219 Danto: „Philosophizing Literature“, 181. In Bezug auf die Lyrik spricht Bodo Zelinsky prägnant von Selbstdefinitionen der Poesie bei Pasternak. Siehe Zelinsky, Bodo: „Selbstdefinitionen der Poesie bei Pasternak“, in: Zeitschrift für slavische Philologie 38 (1975), 268–278. 220 Eine ‚Quelle‘ der Passage könnte der Brief Goethes an Carl Friedrich Zelter vom 4. August 1803 sein: „Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen.“ Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden. Band II. Hamburg 1964, 454. – Angela Livingstone schreibt, die Faszination für das Setzen von Ursprüngen sei der Grund gewesen für Pasternaks Interesse an Cohens „reinem Denken“, ebenso wie an Goethes „Urpflanze“. Livingstone, Angela: „Pasternak and Faust“, in: Forum for Modern Language Studies XXVI, 4 (1990), 353–369, hier 364. Zur Ursprungs-Fixation vgl. auch Sicher, Efraim: „The father, the son and Holy Russia: Boris Pasternak, Hermann Cohen and the religion of ‘Doctor Zhivago’“, in: ders.: Jews in Russian Literature after the October Revolution. Writers and Artists between Hope and Apostasy. Cambridge 1995, 139–164, hier 139, 161, 163. – Hannah Arendt entwickelte in The Human Condition (1958) eine Philosophie der „Natalität“, die in unserem Zusammenhang durchaus einschlägig wäre, auf die ich aber nicht weiter eingehen kann. Ludger Lütkehaus schreibt dazu – stark lichtmetaphorisch: „Im Lichte dieser potenzierten Initialität wird die Philosophie der Geburt zu ihrer [der Menschen] Feier: Die Aureole des Anfangs liegt auf allen, die nun nicht mehr die Sterblichen, sondern die Geborenen sind.“ Lütkehaus, Ludger: Natalität. Philosophie der Geburt. Kusterdingen 2006, 62. Zur wahren „Gebürtlichkeit“ (ebd., 9) gehört allerdings nach Pasternak gerade auch die Sterblichkeit, wie die Lektüre von Doktor Živago zeigen wird. 221 Brief an Vjačeslav Polonskij vom Sommer 1921, PSS, VII, 371 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

65

гипнотически“222 / „zu schreiben, wie man Briefe schreibt […], auf technische Effekte verzichtend, welche außerhalb seines [des Lesers] Gesichtsfeld liegen und ihm in gefertigter Form serviert werden“. Kurz: Künstlerische Prosa soll, wie ein Brief, nur „sagen“, was sie auch von Grund auf zeigen kann, sie soll nur in dem Maße „originell“ sein, wie sie selbst, mit Cohens Begriff, ursprünglich ist. Schließlich lesen wir in dem Brief den oftmals unerläutert zitierten Satz: „Я таким образом решил дематерьялизовать прозу…“223 „Auf diese Weise, habe ich mir vorgenommen, werde ich die Prosa entmaterialisieren…“ Was heißt es, das Schreiben zu „entmaterialisieren“, oder umgekehrt gefragt: Was wäre denn ein materieller Text? Ich denke, der Text selbst bleibt dabei quasi-materiell, so wie es auch das „Wortweben“ und wohl sogar Pasternaks „vegetatives Denken“ sind. Dematerialisiert wird der Text insofern, als er auf Kosten der „technischen Effekte“ um eine neue Dimension erweitert wird: jene des Zeigens auf die eigene „Geburt“ (mit dem Ausdruck aus Ochrannaja gramota). Das Moment der Originalität ist noch in Doktor Živago entscheidend. Zwar strebt der Dichter Živago nach einer unsichtbar wirkenden, äußerlich unerkennbaren, unter einem unscheinbaren Prosastil versteckten Originalität.224 Gleichwohl schreibt er, wie Pasternak, zunächst vor allem Gedichte, die er, gnädiger mit sich selbst als sein Autor, im Rückblick nicht für überflüssig hält, und zwar „за их энергию и оригинальность“  / „dank ihrer Energie und Originalität“.225 Die Begründung für diese Milde ist ganz in der Kontinuität von Ochrannaja gramota gehalten. Es heißt in Doktor Živago weiter: „Эти два качества, энергии и оригинальности, Юра считал представителями реальности в искусствах, во всем остальном беспредметных, праздных и ненужных.“226 „In diesen beiden Eigenschaften, Energie und Originalität, sah er die Vertreter der Realität in den Künsten, die er ansonsten für gegenstandslos, müßig und überflüssig hielt.“ Texte dürften in einem „merklichen“ Stil verfasst sein, sofern sie etwas von der „Energie“ des Lebens transportierten (in Ochrannaja gramota ist es die „сила“ / „Kraft“), sofern sie ihre Originalität beweisen, also „von ihrer eigenen Geburt erzählen“ können. In einer solchen Perspektive weist Pasternaks Ästhetik eine Reihe verblüffender Gemeinsamkeiten mit der Kunstphilosophie Martin Heideggers auf. Heidegger spricht vom „Hervorgebrachtsein“ bzw. „Hervorkommen“, das in jedem Kunstwerk 222 Ebd. 223 Ebd. (meine Hervorhebung – Ch. Z.) 224 „Всю жизнь мечтал он об оригинальности сглаженной и приглушенной […].“ „Sein Leben lang hatte er von einer geglätteten und zurückgenommenen Originalität geträumt […].“ Doktor Živago, 438. 225 Ebd., 67. 226 Ebd. (Doktor Shiwago. Roman. Deutsch von Thomas Reschke. Frankfurt a. M. 200312, 91, modifiziert).

66 Einleitung

den wesentlichen Teil der Botschaft ausmache.227 Auch wird das „Dass-sein“ eines Kunstwerks beim deutschen Philosophen mit Licht in Verbindung gebracht. Heidegger schreibt: „Je wesentlicher das Werk sich öffnet, umso leuchtender wird die Einzigkeit dessen, daß es ist und nicht vielmehr nicht ist.“228 Unweigerlich ist man hier an die Grundfrage der Metaphysik nach Leibniz erinnert (man kann davon ausgehen, dass wiederum Jankélévitch ohne Heidegger nicht auf die „quoddité“ gekommen wäre). Und schließlich kennt Heideggers Begriff vom Licht bzw. der „Welt“ sehr ähnlich wie bei Pasternak ein dunkles Komplement: die „Erde“ bzw. die „Verbergung“, wobei es aber, im Unterschied zu Pasternak, zu keiner gegenseitigen Durchdringung der beiden kommt. Das Licht bleibt bei Heidegger unbelebt, „wie das Nichts“229, und das Kunstwerk „einsam“230. Zu analogen Schlüssen kommt Angela Livingstone, die Pasternaks Kunstdenken mit jenem von Maurice Blanchot vergleicht. Auf der einen Seite macht sie schlagende Parallelen zwischen Ochrannaja gramota und Blanchots L’espace littéraire (1955) aus, was das „Hervorgehen“ (origine, commencement, point de départ), also das Kunstwerk als Setzung eines Neuanfangs betrifft.231 Livingstone bezieht sich auf folgende Stelle aus Blanchots Essay: „Le point central de l’œuvre est l’œuvre comme origine […].“232 Weitere können herangezogen werden. Ganz ähnlich wie bei Pasternak in Ochrannaja gramota „sagt“ das Werk bei Blanchot im Grunde nicht anderes als dies – dass es ist: „Ce qu’elle [l’œuvre] dit, c’est exclusivement cela: qu’elle est – rien de plus.“233 Überdies denkt Blanchot das Werk wie Heidegger als ein Aufleuchten, durch das es sich zugleich verbirgt: „L’œuvre n’est œuvre que si elle est l’unité déchirée, toujours en lutte et jamais apaisée, et elle n’est cette intimité déchirée que si elle se fait lumière de par l’obscur, épanouissement de ce qui demeure renfermé.“234 In diesem Punkt scheint Blanchot unmittelbar von Heideggers Kunstwerk-Aufsatz und der Wechselfigur von Aufdecken und Verbergen inspiriert zu sein. In Pasternaks sophiologischem Licht-Regen-Paradigma ist gerade das dunkle Element einheitsstiftend, und dadurch, dass der Licht-Regen noch immer empfangen werden muss, kann das Künstlersubjekt nie ganz durch das Werk neutralisiert, 227 Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes [1935/1936]. Mit einer Einführung von Hans-Georg Gadamer. Stuttgart 1970, 72/73. 228 Ebd., 74. 229 Ebd., 56. 230 Ebd., 74/75. 231 Livingston, Anžela: „Značenie mesta v pasternakovskoj teorii vdochnovenija (v otnošenii ego rannej prozy)“, in: Ljubov’ prostranstva… Poėtika mesta v tvorčestve Borisa Pasternaka. K pjatidesjatiletiju prisuždenija Pasternaku Nobelevskoj premii 23 oktjabrja 1958 goda. Moskva 2008, 131–138, hier 133/134. 232 Blanchot, Maurice: L’espace littéraire. Paris 1955, 133. 233 Ebd., 12. 234 Ebd., 239.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

67

anonymisiert, annihiliert werden, wie dies bei Heidegger, Blanchot und anderen Zeitgenossen Pasternaks der Fall ist.235 Pasternaks Metaphysik des Kunstwerks ist deshalb keine „einsame“ (Heidegger) und „zerrissene“ (Blanchot), weil in ihr die Kategorien der Abdunkelung, der Annäherung und des lichten Erscheinens, wenn kein harmonisches Ineinander, so doch eine gewisse Gleichzeitigkeit erreichen. Pasternaks lyrisches und, allgemeiner, künstlerisches Subjekt ist zwar stets ein gefährdetes, doch das letzte Wort scheint nicht die düstere Depersonalisierung, sondern ein stark von der (deutschen) Romantik geprägter Glaube an die erwähnte „unendliche Annäherung“ zu haben.236 Lazar’ Flejšman schreibt einmal: „Offen bleibt die Frage: Inwiefern war das Verschwinden der Philosophie aus dem Horizont des angehenden Dichters [Pasternak] spurlos?“237 Die Antwort liegt nach allem bisher Gesagten auf der Hand: Das Verschwinden war alles andere als spurlos. Flejšman meint, dass der Abschied von Marburg erst mit der Fertigstellung von Ochrannaja gramota, im Gedichtband Vtoroe roždenie (Zweite Geburt, 1932) vollzogen worden sei. Offensichtlich ist dabei, dass es ein „Ende“ der Philosophie in Pasternaks Werk nie gegeben hat. Der Bruch, der in Ochrannaja gramota thematisiert wird, ist ein Bruch mit der Philosophie, insofern diese noch „über“ etwas spricht, noch nicht unmittelbar geworden ist: „Конец, конец! Конец философии, то есть какой бы то ни было мысли о ней.“238 „Schluß, Schluß! Schluß mit der Philosophie, das heißt mit jedem wie auch immer gearteten Gedanken an sie“. Vielmehr soll die Kunst wie bei den deutschen Romantikern ein „poëtisches Nachdenken“ (Novalis239) rund um das Leben werden. Wenn 235 Zur „Depersonalisierung“ des Künstlers bei verschiedenen russischen Denkern der Moderne und bei Heidegger vgl. Groys: „Špet und die Entsubjektivierung des Bewußtseins in der russischen Philosophie“, 136/137. 236 Vgl. zur romantischen Verbindungslinie noch immer am überzeugendsten Terras, Victor: „Boris Pasternak and Romantic Aesthetics“, in: Papers on Language and Literature 3 (1967), 42–56. 237 Flejšman, Lazar’: „Nakanune Poėzii: Marburg v žizni i v ‚Ochrannoj gramote‘ Pasternaka“ [1991], in: ders.: Ot Puškina k Pasternaku. Izbrannye raboty po poėtike i istorii russkoj literatury. Moskva 2006, 380–399, hier 396. 238 Ochrannaja gramota, 184 (Der Schutzbrief, 285/286; meine Hervorhebung – Ch. Z.). 239 Der Ausdruck stammt aus Novalis’ Fragmenten von 1800 und bezieht sich auf die Idee einer poetischen Metaphysik des Gewöhnlichen: „Auch Geschäftsarbeiten kann man poëtisch behandeln. Es gehört ein tiefes poëtisches Nachdenken dazu, um diese Verwandlung vorzunehmen. Die Alten haben dies herrlich verstanden. Wie poëtisch beschreiben die Kräuter, Maschinen, Häuser, Geräthschaften etc.“ Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. v. Paul Kluckhohn (†) und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Dritter Band. Das philosophische Werk II. Hrsg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Dritte, von den Herausgebern durchgesehene und revidierte Auflage. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1983, 654. Vgl. dazu Haering, Theo-

68 Einleitung

man freilich zugibt, dass die Philosophie immer schon zum Teil „poetisch“ ist, da es Metaphern gewesen sind, die dem Denken einst zur Abstraktion verhalfen,240 so erscheint die Re-integration der Philosophie in die Poesie, wie Pasternak sie unternimmt, als höchst paradox: Die Poesie ist gerade jene Sphäre, in der die Philosophie von ihrer metaphorisch-abstrakten Übertragenheit wieder befreit und unmittelbar „sprechend“ werden soll. Möglich ist dies deshalb, weil Pasternak die Metapher nicht so sehr über Ähnlichkeit, als vielmehr über Nachbarschaft definiert – als Metonymie. Meine These lautet daher: Die Philosophie lernt von der Poesie hier nicht die (metaphorische) Abstraktion, sondern die Annäherung. Michel Aucouturier hat in Pasternaks „philosophisierter“ Poesie/Prosa eine Gemeinsamkeit mit Marcel Proust und der Welt von À la recherche du temps perdu gesehen. Aucouturier spricht sogar von einem „quasi-scientific approach“, der Pasternak und Proust verbinde, und vergleicht ihren Intuitivismus/Bergsonismus sowie, ansatzweise, ihre literarischen Licht-Epiphanien.241 In diesem Zusammenhang ist es lohnend, überdies Gilles Deleuzes Proust-Studie heranzuziehen. Nach Deleuze erweist sich Prousts Ablehnung der Philosophie in À la recherche du temps perdu (vor allem im letzten Band, Le temps retrouvé, 1927) selbst als „éminemment philosophique“, da in Prousts Kunst Dinge und Ereignisse des Lebens in immaterielle „essences“ verwandelt würden. Und dazu wäre die Philosophie mit ihrer begrifflichen Fixiertheit (ihren Gedanken „über“) gar nicht imstande.242 Deleuze versteht die „essences“ aus Le temps retrouvé so: „Le monde enveloppé de l’essence est toujours un commencement du Monde en général, un commencement de l’univers, un commencement radical absolu.“243 Die Nähe zu Pasternaks Ästhetik der „Originalität“, umschrieben mit Jankélévitchs „Charme der Quodität“, liegt auf der Hand. Und sie wird noch nachvollziehbarer, wenn man sie auf den folgenden Brief des zwanzigjährigen Pasternak bezieht, in dem der metaphysische Begriff der Essenz (эссенция, wohl auch im Sinne von ‚Duft‘ lesbar) bereits poetologisch gewendet auftaucht:

240 241 242

243

dor: Novalis als Philosoph. Stuttgart 1954, 187. Zur Romantik des Alltäglichen bei Pasternak vgl. Terras: „Boris Pasternak and Romantic Aesthetics“, 46/47. So die Grundthese von Steiner, George: The Poetry of Thought. New York 2011. Aucouturier, Michel: „Pasternak and Proust“, in: Forum for Modern Language Studies XXVI, 4 (1990), 342–352, hier 344/345. Deleuze, Gilles: Proust et les signes [1964]. Paris 2010, 122: „Il se peut que la critique de la philosophie, telle que Proust la mène, soit éminemment philosophique.“ – In Bezug auf Pasternak hat die Idee eines „philosophischen Zustands“ ohne Philosophie – in impliziter Polemik gegen die philosophiegeschichtlichen Pasternak-Studien von Flejšman u.a. – Ol’ga Sedakova geäußert. Sedakova, Ol’ga: „Simvol i sila. Getevskaja mysl’ v ‚Doktore Živago‘“, in: Kontinent 139 (2009), 371–434, hier 414. Deleuze: Proust et les signes, 57.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

69

Эстетическое, религиозное эротическое (платоновски) – все это придет только «например». Итак, теория. Но я хочу облечь ее в жизнь. И это будет один человек и один день, рассвет, прогулка и город – но сильная эссенция, что-то вроде года, окрашивающего микроскопическое; […] для этого целые охапки дней будут положены под пресс; я мечтаю об этой эссенции. Я хочу писать летом большой рассказ, мне кажется, я могу.244 Das Ästhetische, das religiöse Erotische (platonisch), all das kann nur „beispielsweise“ ankommen. Na gut, in der Theorie. Aber ich will sie in Leben kleiden. Und das wird ein Mensch und ein Tag, eine Morgendämmerung, ein Spaziergang und eine Stadt sein – aber eine starke Essenz, so etwas wie ein Jahr, durch welches das Mikroskopische gefärbt wird; […] zu diesem Zweck werden ganze Tage unter die Presse gelegt werden; ich träume von solch einer Essenz. Ich will diesen Sommer eine große Erzählung schreiben, mir scheint, das schaffe ich.

Der Traum von einer diesseitigen künstlerischen Metaphysik245 „starker Essenzen“ nimmt u.a. in Sestra moja – žizn’, Ochrannaja gramota, Doktor Živago und Pasternaks letzten Gedichten, Kogda razguljaetsja, Gestalt an. Diese Tendenz zu einer metaphysischen Poetik lässt sich überraschenderweise an Pasternaks Verwendung der diffusen utopischen Begriffsprägung der ‚lichten Zukunft‘ (светлое будущее) ablesen.246 Zwischen 1920 und 1945 unternahm der zeitweilig (1932–1935) „erste sowjetische Dichter“ verschiedene Versuche, sich den kommunistischen Mythos der lichten Zukunft zu eigen zu machen. Noch 1937, im Jahr des Großen Terrors, richtete er nebst eigenständigen und riskanten Bemerkungen folgende Worte an die Vorsitzenden des Schriftstellerverbands: „[…] если даже суждено нам, горя, 244 Brief an Sergej Durylin vom Juni 1910, Pasternak, PSS, VII, 43/44. 245 Fiona Björling spricht von einer „säkularisierten Spiritualität“, die zugunsten der geschichtlichen Einbettung auf eine „transzendente Welt“ verzichte. Björling, Fiona: „Blind leaps of passion and other strategies to outwit inevitability. On Pasternak and the legacy from the turn of the 19th to the 20th century“, in: dies. (Hrsg.): On the Verge. Russian Thought Between the Nineteenth and the Twentieth Centuries. Lund 2001, 131–149, hier 147. Dass Pasternak eine Ästhetik ohne religiöse Postulate vorschwebt, untersteht keinen Zweifeln. Gleichwohl scheint mir der Begriff der Säkularisierung zu schwach und unbestimmt zu sein. Mit Blick auf Pasternaks Sophiologie könnte man in Anlehnung an Sergej Bulgakovs Filosofija chozjajstva (Philosophie der Wirtschaft, 1912) vielleicht von einer ‚ökonomisierten‘ Religiosität sprechen. Dies würde außerdem gut zur vielbesagten ‚домашность‘  / Häuslichkeit von Pasternaks Schreiben passen. Vgl. Bulgakov, Sergej: Filosofija chozjajstva, in: ders.: Sočinenija v dvuch tomach. Tom 1. Filosofija chozjajstva. Tragedija filosofii. Moskva 1993, 47–308, hier 154 (Hervorhebung im Orig.): „Человеческое творчество – в знании, в хозяйстве, в культуре, в искусстве – софийно.“ „Die menschliche Kreativität – im Wissen, in der Ökonomie, in der Kultur, in der Kunst – ist sophianisch.“ 246 Die Metapher in ihrer modernen sozialistischen Aufladung geht auf die Rhetorik der Französischen Revolution zurück, vgl. Starobinski, Jean: „Reflections on some symbols of the revolution“, in: Yale French Studies 40 (1968), 47–61, hier 51: „The metaphors of light overcoming darkness, of life reborn from death, of a world brought back to its beginning are images which dominated everywhere around 1789.“

70 Einleitung

сгореть в общей катастрофе, то и тогда достаточно будет векового посмертного нашего свеченья на благо будущего, чтобы благословить время, так нами распоряжающееся.“247 „[…] selbst wenn es unser Schicksal sein sollte, brennend in einer allgemeinen Katastrophe zu verbrennen, wird unser jahrhundertelanges posthumes Glühen zum Wohle der Zukunft doch genügen, um die Zeit zu lobpreisen, die über uns verfügt.“ Genau mit dem kommunistischen Postulat der Selbstopferung im Namen einer anonymen Sache rechnet aber später Pasternaks Roman Doktor Živago ab. Dabei wandelt sich auch das Zukunftskonzept. Die ‚lichte Zukunft‘ kippt auf eigentümliche Weise in eine Gegenwartskategorie um, in einen Modus des Scheinens, der das gegenwärtige Leben aus einer Perspektive der Nachzeitigkeit als Gewesen-Sein (mit Jankélévitch: als „avoir-été“) sichtbar macht. In der christianisierten Sprache von Doktor Živago äußert sich diese Bewegung darin, dass die Auferstehung (Светлое Воскресение) an den Anfang gesetzt und mit Weihnachten (Рождество) zu einem Fest zusammengezogen wird. Die Auferstehung – in der Theologie das Zukunftsereignis schlechthin – wird zur Epiphanie des Ursprungs des Lebens und der „Originalität“ der Kunst. Ausgehend von Cvetaevas Begriff des Licht-Regens lässt sich eine nicht-verdinglichende poetische Lichtmetaphysik rekonstruieren,248 deren konstante Signatur, mit einem typischen Ausdruck des Pasternak-Essayismus, die „Sonne der Dankbarkeit“ (Viktor Erofeev249) ist. Die von Pasternak beschworene Dankbarkeit gegenüber dem Leben entspricht einer empfangenden Haltung des Künstlers. Das Licht wiederum ist der Inbegriff einer Gabe von außen, gerade weil es materiell nicht festzumachen ist. Es ist nicht eine Gabe unter vielen, es ist Vergewisserung des ganzen Lebens als Gabe. In einem Brief an den amerikanischen Dichter Stephen Spender schrieb Pasternak 1959: „[…] я всегда воспринимал целое – реальность как таковую – как полученное послание или неожиданное пришествие, и всегда старался воспроизвести этот характер прицельно посланного, который, как мне казалось, я находил в природе явлений.“250 „[…] ich nahm das Ganze 247 „Obrаščenie v Prezidium Sojuza pisatelej“ [ Januar 1937], PSS, V, 239. 248 Isaiah Berlin sprach schon mehrere Jahre vor dem Erscheinen von Doktor Živago von einem „metaphysischen Gefühl“ Pasternaks: „Pasternak’s verse is in the first place a vehicle of metaphysical emotion which melts the barriers between personal experience and ‘brute’ creation.“ Berlin, Isaiah: „The Energy of Pasternak“ [1950], in: Erlich, Victor (Hrsg.): Pasternak. A Collection of Critical Essays. Englewood Cliffs, NJ, 1978, 39–42, hier 39/40. 249 Viktor Erofeev über Pasternak in einem Radioprogramm mit dem Titel „Solnce v russkoj kul’ture“, in: Radio Svoboda 06.09.2008, http://www.svobodanews.ru/content/transcript/464192.html (Zugriff: 07.01.2011). Auch hier stellt sich, wie im Verhältnis zwischen „Licht“ und „Schreiben“ in den hagiographischen Texten zu Pasternak, die – unbeantwortbare – Frage, ob es sich bei dem Genitiv („благодарности“) um einen subjectivus oder einen objectivus handelt. Dem Licht gelingt es immer wieder, die Verhältnisse zwischen Empfangen und Hervorbringen zu verwischen. 250 Brief an Stephen Spender vom 22. August 1959, PSS, X, 523/524.

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

71

– die Realität als solche – stets als erhaltene Botschaft oder als unerwartete Ankunft, und ich bemühte mich stets, diesen Charakter des treffsicher Gesandten wiederzugeben, den ich, wie mir schien, in der Natur der Erscheinungen vorfand.“ Par excellence ist es das Licht-Ereignis, das dem Dichter-Subjekt die Welt auf die hier beschriebene Weise „gibt“. In dem Brief an Spender wird außerdem Pasternaks auffallende Indifferenz hinsichtlich der Herkunft dieses Lichts und allgemein seine Distanz zur Theologie, dem ‚Reden über Gott‘, verständlich.251 Eine aktive „Suche nach dem Taborlicht“ (Sergej Trubeckoj) könnte die Idee vom absoluten Gabencharakter des Lebens nur verringern. „Une « opinion » sur le Saint-Esprit“, schrieb Pasternak 1959 an seine französische Übersetzerin Jacqueline de Proyart, « ne vaut rien auprès de sa propre présence dans une œuvre d’art […].“252 So, wie wir eingangs die Verklärung/Verwandlung als Indikator einer spekulativen Wortkultur betrachtet haben, so können wir jetzt sagen: Die „unerwartete Ankunft“ des Lichts ist ein zuverlässiger Indikator von Pasternaks künstlerischer Metaphysik. Und diese künstlerische Metaphysik kann, wie gezeigt, entfaltet werden anhand der Kategorien: Abdunkelung, Annäherung, „Charme“ des Ganzen.

Zur Methode: Mehr Ereignisprotokoll als Ortsbestimmung in einem Koordinatensystem Wie aus den bisherigen Überlegungen klar wird, ist es längst nicht immer möglich, Lichtphänomene als Form und Inhalt der Literatur von ihrer Funktion im Diskurs über Literatur scharf zu trennen. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Blick in einen Pasternak-Essay Michail Ėpštejns. Ėpštejn stellt Pasternak als jüdischen Licht-Mystiker vor. Zitate aus Gedichten verwandeln sich dabei fortwährend in Beschreibungskategorien, so dass ein eigentliches wissenschaftlich-poetisches Changieren entsteht: Вся поэзия Пастернака есть мелькание таких искр: […] блуждание точек святости в кругах вещества, световые вспышки мельчайших долей повседневности. Уловление этих искр, перенесение их в собственное сердце, слияние их в теплоте веры – вот в чем призвание цадика. И в поэзии Пастернака, насквозь хасидской, бесконечно роятся эти

251 1942 schrieb Pasternak an einem Drama, das den Titel „Ėtot svet“ (Diese Welt/Dieses Licht) tragen sollte. In einem Brief an seine Frau erläutert er diesen explizit anti-transzendent: „Драма называется «Этот свет» (В противоположность «тому»).“ „Das Drama heißt ‚Diese Welt‘ (in Entgegensetzung zur ‚jenseitigen‘).“ Brief an Zinaida Pasternak vom 16. September 1942, PSS, IX, 312. 252 Brief vom 2. Mai 1959, PSS, X, 472, bzw. französisch bei Proyart, Jacqueline de: Pasternak. Paris 1964, 41 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

72 Einleitung духовные искры мироздания, словно отлетающие от какого-то незримого костра, чтобы снова слиться в сердце поэта.253 Pasternaks ganze Poesie ist ein Aufblinken solcher Funken: […] ein Umherirren von Punkten der Heiligkeit in den Kreisen des Stoffes, Lichtblitze kleinster Teilchen des Alltags. Im Aufspüren dieser Funken liegt die Berufung des Zaddik. Und in Pasternaks durch und durch chassidischer Poesie schwärmen unendlich diese geistigen Funken des Weltalls, die gleichsam von einem unsichtbaren Feuer ausfliegen, um neuerlich im Herzen des Dichters zusammenzufließen.

Was ist hier Zitat? Was ist Beschreibung? Was Interpretation? Das muss letztlich offen bleiben. Über literarische Texte wurde und wird in philologischen, philosophischen, literaturkritischen, publizistisch-journalistischen und politischen Zusammenhängen wiederum in Begriffen des Lichts geschrieben, und das unabhängig davon, wie explizit präsent das Licht im besprochenen Text ist. Im Fall von Pasternak hat das Licht aus den Texten – potenziert durchs Cvetaevas „Svetovoj liven’“ – in einem signifikanten Ausmaß auf das Bild seiner Dichterperson zurückgewirkt. Solche ‚Flimmer‘-Effekte sind unvermeidlich,254 Versuche miuziöser Unterscheidung von Objekt- und Beschreibungsebene oft müßig. Das naheliegendste Beispiel für die Gefahr einer solchen Unschärfe ist die vorliegende Arbeit selbst. Gleichwohl oder gerade deshalb werde ich immer wieder versuchen, eine mögliche Trennlinie zwischen Zitat, Beschreibung, Interpretation, literarischer Wertung und quasi-religiöser Heiligung durch Licht zu markieren. Im Zentrum der Rezeption von Pasternaks Werk standen Motive wie Leben, Kraft, Liebe, Glück, Weiblichkeit, Mitleid (mit den Frauen), Hingabe, Selbstopfer, Wunder, Verwandlung, Unsterblichkeit, Ewigkeit, Dankbarkeit, Fülle, Vertrauen, Schönheit, (All-)Einheit, Synthese, Zukunft, Gedächtnis. Ein Grundsatz dieser Studie wird sein, diese und weitere poetische, lebensphilosophische, religiöse, politische, erotische Motive nicht als ‚Funktionen‘ eines poetischen Systems zu begreifen, sondern danach zu fragen, was durch sie indiziert sein könnte. Meine vorläufige Antwort lautet: Es ist eine metaphysische Poetik, die den Rahmen bildet, in

253 Ėpštejn, Michail: „Pasternak i chasidizm“, in: ders.: Slovo i molčanie. Metafizika russkoj literatury. Moskva 2006, 360–368, hier 364. Vgl. zu den „göttlichen[n] Strahlungen, glimmende[n] göttliche[n] Funken in allen Wesen und Dingen“ nach dem Chassidismus Buber, Martin: „Einleitung“, in ders.: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 1949, 15–110, hier 19. Durchaus passend zu Pasternaks Licht der Nähe, heißt es bei Buber über den Zaddik, er habe inspirierte „Stunden, in denen seine Stirn aufstrahlt, als hätte das Urlicht sie berührt.“ Ebd., 29 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 254 Vgl. dazu Grübel, Rainer: „The ‘Vanished Picture’, ‘Living eyes’, and a ‘Fallen Angel’. Metaphysics of Light in Gogol’s ‘The portrait’“, in: Wiener Slawistischer Almanach 45 (2000), 5–26, hier 16: „What is most intriguing about the concept of light is its potential to serve as the expression of the mode of expressing and of what is being expressed.“

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

73

dem die meisten der genannten Motive auftauchen und signifikant werden. Und oft bringen Licht-Ereignisse sie zur Erscheinung. Entscheidend ist dabei die Verknüpfung mit dem „Lebens“-Konzept. Pasternak verstand sich als „Beschützer“ und „Rächer“ der „Ehre“ des Lebens, in der Kunst.255 Dieser Anspruch darf nicht unterschätzt werden. Das Aufzeichnen von Lichtphänomenen als Ereignissen des so emphatisch aufgeladenen Lebens soll auch helfen, die statische Opposition von Zeit und Raum zu relativieren, wie sie von der Pasternak-Philologie zuweilen konstruiert wird.256 Mit Boris Gasparov verstehe ich den Begriff „Poetik“ hier in Anführungszeichen (ohne sie jedes Mal zu setzen). Es wird nicht darum gehen, in den Texten den Platz von Licht und Dunkel zu finden und deren Additionen, Subtraktionen, Multiplikationen oder Divisionen innerhalb der poetischen Welt festzuhalten. Die Licht-Erscheinungen in Pasternaks Texten, so der Grundgedanke, sind nicht als markierte oder unmarkierte Invarianten zu lesen, sondern, wie in dieser Einleitung beschrieben, als Ereignisse, Gelegenheiten, Annäherungen. Was den ‚totalen‘ Anspruch von Pasternaks Kunst betrifft, so ist es unumgänglich, sich in eine – zuweilen noch so verklausurierte – metaphysische Haltung hineinzuversetzen. Die „Funken“ (Ėpštejn) in seinen Texten erscheinen dann nicht lediglich als Metaphern für Momentaufnahmen, Einzelstimmungen und Ideen, sondern quasi als Durchgänge, unmittelbare Verbindungen mit dem „Ganzen“, dem immanenten „Wunder“, der Pasternakschen „Originalität“.

255 Vgl. den Brief an Ol’ga Frejdenberg vom 30. November 1948: „Часто жизнь со мной рядом бывала революционирующе, возмущающе мрачна и несправедлива, что делало меня чем-то вроде мстителя за нее или защитником ее чести, воинствующе усердным и проницательным, и приносило мне имя и делало меня счастливым, хотя, в сущности говоря, я только страдал за них [sic], расплачивался за них [sic].“ „Oft war das Leben um mich herum revolutionierend, empörend düster und ungerecht, was mich zu einer Art Rächer [des Lebens] und einem Verteidiger seiner Ehre gemacht hat, kriegerisch unnachgiebig und wachsam, und mir meinen Namen eingebracht und mich glücklich gemacht hat, obwohl ich, im Wesentlichen, nur für sie [sic] gelitten, für sie bezahlt habe.“ PSS, IX, 552. 256 Dies ist gerade in vielen neueren russischen/ukrainischen Dissertationen der Fall, wobei ein besonderes Interesse dem „Raum“ gilt. Vgl. u.a. Kim, En Suk: Chudožestvennoe prostranstvo v lirike B. Pasternaka. Kand.-Diss. Moskva 2001; Megir’janc, Tat’jana: Koncept „gorod“ v tvorčestve B.  Pasternaka. Kand.-Diss. Voronež 2002; Maslova, Anna: Poėtika chronotopa v rannem tvorčestve B. L. Pasternaka. Kand.-Diss. Kirov 2003; Šarmar, Svetlana: Vzaimodejstvie leksiko-semantičeskich polej cveta i sveta v lirike B.  L.  Pasternaka. Kand.-Diss. Moskva 2005; Markovič, Janina: Kategorii vremeni i prostranstva v romane B. Pasternaka „Doktor Živago“. Kand.-Diss. Poltava 2006; Kotukova, Elena: Konceptosfera tvorčestva v rannej proze B. Pasternaka. Aksiologija chudožestvennogo prostranstva. Kand.-Diss. Magnitogorsk 2009.

74 Einleitung

Übersicht Im ersten Kapitel, „Das Licht als Fluchtpunkt des Inkarnationspostulats im russischen Symbolismus“, werden Grundmodelle des Licht-Symbolismus in Russland um die Jahrhundertwende vorgestellt. Im Zentrum der symbolistischen Illuminationen, so die These, steht immer ein konkretes Inkarnationspostulat, also das Streben nach (sophiologischer) „Verlebendigung“ des Transzendenten. Vladimir Solov’ev wird mit seinen philosophisch-mystischen Traktaten und Gedichten, die oft direkte Reaktionen auf die zeitgenössische Kultur der ‚Dekadenz‘ darstellten, zum Patron der Formation der „jüngeren“ Symbolisten Aleksandr Blok, Andrej Belyj, Vjačeslav Ivanov. Der Symbolismus der 1900er Jahre liefert so auch ein Beispiel für die Konvertierung philosophischer Ideen in Poesie. Anhand einer Reihe von Gedichtlektüren soll in diesem Kapitel gezeigt werden, welche Elemente des Symbolismus für Pasternak attraktiv waren und zu welchen er (früher oder später) auf Distanz gehen würde. Das zweite Kapitel, „Mitleid mit der Dämmerung: Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts“, versucht aus den Prosafragmenten des Studenten Pasternak einen Begriff der Abdunkelung – eben „Axiome der Dämmerung“ – zu gewinnen, ohne die anschließend unmöglich von einer Poetik des Lichts gesprochen werden könnte. Die Dämmerung wird zum Medium einer postsymbolistischen Sophiologie. Um die Inkompatibilität von Pasternaks frühem Schreiben mit dem symbolistischen Okular- und Logozentrismus zu unterstreichen, zeichne ich es in diesem Kapitel in den Kategorien von Emmanuel Levinas’ Schattenästhetik nach. Als ein weiteres Bindeglied zwischen Pasternak und Levinas stellt sich dabei Michail Bachtins Kategorie der ‚Sophianizität‘ heraus. Zugleich diskutiere ich in einem Exkurs kontrastiv Aleksej Kručenychs kubo-futuristische Oper Pobeda nad solncem / Sieg über die Sonne. Pasternak frühes Schreiben soll so grundsätzlich als moderne Krisenpoetik lesbar werden, deren Horizont ein ‚anderer‘ Kult des Weiblichen ist. Im dritten Kapitel, „Die Epiphanie des Licht-Regens: Zur Sophiologisierung des Lichts in Sestra moja – žizn’ / Meine Schwester – das Leben“, wird die Levinas-Spur in einer Serie minuziöser Lektüren in Richtung einer mythopoetischen Aufhellung der bisherigen Schattenwelt verlassen. Das in der Einleitung skizzierte Licht-Drama wird in den Gedichten von Sestra moja – žizn’ grandios in Szene gesetzt. Dabei zeigt sich allerdings, dass Epiphanien bei Pasternak stets mit einem Opfer erkauft werden müssen. Und die Flüchtigkeit dieser Epiphanien wird selbst dort betont, wo sie als Bilder der Revolution oder eines revolutionären Mythos zu lesen sind (so in den „Dramatičeskie otryvki“ / „Dramatischen Fragmenten“ aus dem Umfeld von Sestra moja – žizn’). Bei aller scheinbaren Annäherung an den Sonnenkult des Symbolismus sind die Gedichte durch den Verzicht des lyrischen Helden auf ‚Herrlichkeit‘ denkbar weit von den symbolistischen Erhöhungen entfernt – und passen erstaunlich gut in den anonymen Rahmen eines modernen Kunstwerk-Begriffs. Mit

Pasternaks „Axiome der Dämmerung“

75

Levinas teilt Pasternak ein Unbehagen an der Selbstgenügsamkeit der quasi-magischen Kunstwelt. Immer wieder zeigt sich schon in Sestra moja – žizn’ der Drang, vom berückenden „Rhythmus“ der Poesie zum „Leben“ vorzustoßen. Im vierten Kapitel, „Von der Unaufgeklärtheit zur Mischung aus Unwissen und Licht: Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse“, werden die ethischen Dimensionen der Mythopoetik von Sestra moja – žizn’ thematisiert. Levinas’ Theorie, die im dritten Kapitel mit dem Aufscheinen der Sonne in den Hintergrund tritt, wird wieder aktuell. Das ‚pure‘ Licht bedarf in Pasternaks Erzählungen nicht bloß einer Abdunkelung. Es muss auch ein „Gesicht“ (visage) annehmen, wie es aus Levinas späterer Ethik bekannt ist. Ganz wie bei Levinas darf dieser Prozess immer nur „unbewusst“ ablaufen. Dies wird an den Erzählungen Detstvo Ljuvers, „Pi’sma iz Tuly“ / „Briefe aus Tula“ und „Vozdušnye puti“ / „Luftwege“ vorgeführt. Das fünfte Kapitel, „Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie: Spektorskij und Ochrannaja gramota  / Schutzbrief“, werden Aspekte von Pasternaks Schreiben in den 1920er und frühen 30er Jahren besprochen. Im Versroman Spektorskij begegnet dem Helden ein flackerndes Licht aus der Zukunft, und sein angedeutetes Verschwinden ist nicht mehr eine Folge der „Gelegenheiten“ flüchtiger Illuminationen, sondern der kommenden politischen Ordnung. Diesem sehr dezenten Zukunftslicht werden in einem Exkurs der solare Urkommunismus der Bewohner von Čevengur aus dem gleichnamigen Roman Andrej Platonovs sowie die Kritik am Okularzentrismus in Kazimir Malevičs suprematistischer (Anti-)Philosophie gegenübergestellt. Den Hauptteil des Kapitels bildet die Auseinandersetzung mit Ochrannaja gramota und der dort entworfenen „schöpferischen Ästhetik“, die bereits in der Einleitung eine wichtige Rolle gespielt hat. Dieser Memoirentext beschreibt den Prozess einer Konvertierung akademischer Philosophie in Poesie, indem er den durchsichtigen „Lichtstrahl“ der Wissenschaft mit dem „Kraftstrahl“ der Kunst überschreibt. Dabei wird, so meine These, Hermann Cohens Ästhetik der Unsichtbarkeit durch die abwesende Figur Rainer Maria Rilkes konkretisiert, im Grunde neu besetzt und umkodiert. In den ersten Jahren der stalinistischen Gleichschaltung positioniert sich Ochrannaja gramota so über eine erneuerte Ästhetik greller Opakheit und Abdunkelung. Im sechsten Kapitel, „Finstere Wellen, lichte Zukunft: Pasternaks sozialismusnahe Lyrik und das Paradox einer organischen Technik“, wird das Spannungsfeld zwischen Pasternaks Anpassung an die „neue Realität“ der 30er Jahre und den zunehmend organizistischen Tendenzen seines Schreibens und Denkens entfaltet. Besonders herausgearbeitet wird der paradoxe Umstand, dass die Opposition zum sozialistischen Mainstream zugleich eine unheimliche Nähe zu Stalin konstruiert. So wie nach 1930 Pasternaks poetischer Stil „einfacher“ wird, so „verdünnen“ sich auch die Illuminationen. Die Saturierung des Lichts mit einem Negativ tritt zurück hinter der „Luft“ und den „Weiten“ des Sozialismus, aber eben auch des „Volkes“. Diese Entwicklung stelle ich in einem ausführlichen Vergleich der Lichtstrahlen-„Archi-

76 Einleitung

tektur“ von Osip Mandel’štams späten Gedichten gegenüber. Parallel gelesen werden zumal Pasternaks Stichi o vojne / Gedichte vom Krieg und Mandel’štams Stichi o neizvestnom soldate / Gedichte vom unbekannten Soldaten. Das siebte Kapitel, „‚Originelle‘ Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid: Der Roman Doktor Živago“, arbeitet den Verklärungsbegriff des späten Pasternak heraus und damit das, was als sein idiosynkratisches Christentum bekannt ist. Živago ist das Idealbild eines Dichters, wie es in verschiedenen Essays Marina Cvetaevas über Pasternak gezeichnet worden war: eines Dichters „ohne Geschichte“, der „von allem Anfang“ an vollkommen ist. In Anlehnung an Vladmir Losskys Verklärungstheologie werden Živagos Licht-Epiphanien als uranfänglicher bzw. „origineller“ Zustand verstanden, der dann allerdings von den Revolutionswirren bedroht wird. Lara, jene „Sophia im Exil“ und Geliebte Živagos, hat im ‚Heilsplan‘ des Romans die Funktion, das von Živago verstrahlte Licht feminin aufzufangen – ganz nach der Logik des Licht-Regens, weshalb ihr Erscheinen auch ein „Wasserzeichen“ hinterlässt. Doch die Synthese ist in dem Drama nicht von Dauer. Die These dieses Kapitels besteht darin, dass Živagos Mission gerade in ihrem Scheitern erfolgreich ist: Sie liegt in der Originalität seines Aufleuchtens selbst, darin, einmal geleuchtet, Licht veräußert und so ein Exempel für die „Neuheit“ des Lebens statuiert zu haben. Im achten und letzten Kapitel, „Poetik des Lichts als Metaphysik: Verinhaltlichung und ‚erfüllte‘ Zukunft in Ljudi i položenija / Menschen und Standorte und Kogda razguljaetsja / Wenn es aufklart“, geht es zunächst darum, Pasternaks „Vereinfachung“ des Stils, das zentrale Problem seiner zweiten Autobiographie, in ihrer metaphysischen Tragweite aufzuweisen. Die ständige Rede vom „Inhalt“ spannt jeweils einen leeren Rahmen auf, der anschließend mit Licht erfüllt werden kann und muss. Dieses Modell der Erfüllung – statischer als jenes der gegenseitigen Durchdringung – verfolge ich weiter in den letzten Gedichten Pasternaks. Ausführliche Relektüren insbesondere der Balladen „V bol’nice“ und „Vakchanalija“ zeigen, dass die überspitzte Eindimensionalität von Ljudi i položenija nicht das letzte (philosophische) Wort in Pasternaks Werk war. Eine eminent zeitliche Dimension, also mit Jankélévitch die Frage nach der Gelegenheit, kehrt zurück in das Leitmotiv der Erfüllung. Als bereits „erfüllt“ erscheint in Kogda razguljaetsja interessanterweise auch die Zukunft. Dabei, so die These am Schluss meiner Untersuchung, wird die Formel von der ‚lichten Zukunft‘ ihres utopischen Sinnes benommen, um sich in ihr Gegenteil zu verkehren: Sie ist dann vielmehr ein Blick auf die Gegenwart, sogar auf die Vergangenheit, auf alles ‚Einstige‘. Die Idee einer Erneuerung des Ursprungs steht über allem. Auch das kann man eine (archaisierende) Utopie nennen. Aber Pasternaks Illuminationen sind streng diesseitig, mehr noch: alltäglich.

1. Kapitel Das Licht als Fluchtpunkt des Inkarnationsproblems im russischen Symbolismus Der frühe, ‚dekadente‘ Symbolismus in Russland (von Ende der 1880er Jahre bis 1900) war von einem negativen Lichtbegriff geprägt gewesen, wie Aage Hansen-Löve im ersten Band seiner Motivstudien ausführlich belegt hat.1 In einem Großteil der Lyrik jener Jahre wird die Sonne als ursprüngliche Lebensspenderin abgewertet und vom Mond, dessen Leuchten ein „kraftloses“ Reflexionsphänomen ist, verdrängt. In literaturgeschichtlicher Hinsicht kann man darin eine Reaktion auf das utilitaristische Kunstideal des Realismus sehen: Der Sonne und den Glaspalästen des Aufklärungsprogramms eines Nikolaj Černyševskij wird im Frühsymbolismus die hermetische Mondwelt entgegengestellt. Das realistische Widerspiegelungspostulat sieht sich ad absurdum geführt: In der Dekadenz wird die Wirklichkeit – der zu „spiegelnde“ Gegenstand des Realismus – selbst zur schattenhaften Widerspiegelung von etwas Unbekanntem, unendlich weit Entferntem.2

Abkoppelung vom Logos: Zum Licht im ‚dekadenten‘ Symbolismus Nicht nur von der utilitaristischen Ästhetik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auch von der „leer“ gewordenen christlichen Tradition distanzieren sich die älteren Symbolisten: Der Logos der johanneischen Theologie hat seine Strahlkraft eingebüßt. Statt Menschen, Natur und Dinge der Welt zu durchleuchten, ist er zu etwas Nebulösem, sich Verhüllendem geworden. „[…] das energetische Ur- und Schöpfungswort“, schreibt Hansen-Löve, „hat sich zu einem kraftlosen und sinnleeren Reden erschöpft […].“3 Die Abkoppelung des Wortes von seinen (heilsgeschichtlichen) 1 Hansen-Löve, Aage: Der Russische Symbolismus. System und Entfaltung der poetischen Motive. 1. Band: Diabolischer Symbolismus. Wien 1989. 2 Ebd., 75, 68. 3 Ebd., 74, 253. – Vladimir Solov’ev stößt sich in seinen Rezensionen zu den Anthologien der Russischen Symbolisten insbesondere an der „Sinnlosigkeit“. Als Denker des Logos und der Sophia kann und will er das Auseinanderklaffen von Wort und Sinn nicht akzeptieren: „[…] если бы даже я был одушевлен самою адскою злобой, то все-таки мне было бы невозможно исказить смысл этих стихотворений – по совершенному отсутствию в них всякого смысла.“ „ […] wäre ich selbst von der höllischsten Bosheit beseelt, so wäre es mir dennoch unmöglich, den Sinn dieser Gedichte zu suchen – auf Grund der vollkommenen Abwesenheit jedes Sinnes in ihnen.“ „Russkie simvolisty“ [1895], in: Sobranie sočinenij Vladimira Sergeeviča Solov’eva. Tom sed’moj (1892–1897). S.-Peterburg 1911–1913 [Reprint Bruxelles 1966], 159–170, hier 166 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

78

Licht als Fluchtpunkt

Bezügen wird in der Dekadenz zu einem hoch elaborierten poetischen Unterfangen. Ein emblematischer Text dieser Formation ist das Gedicht „Drugu“ („Einem Freund“, 1885) eines der ersten Symbolisten in Russland, Nikolaj Minskijs: Как бледная луна румяный день сменяет И на уснувший мир струит холодный свет, Так страстная печаль свой мертвый луч роняет В ту грудь, где солнца веры нет.4 Wie der blasse Mond den purpurnen Tag ablöst Und auf die schlafende Welt sein kaltes Licht strömt, So wirft die leidenschaftliche Traurigkeit ihren toten Strahl In jene Brust, in der kein Glaube an die Sonne wohnt.

Hinter der negativen Poetik des Lichts des Frühsymbolismus stehen die epochalen kulturkritischen Schriften Friedrich Nietzsches.5 Vor allem drei Stränge von Nietzsches Denken sind hervorzuheben: erstens der Begriff des „Apollinischen“ als einer „Erlösung durch Schein“, einer wirkungslosen, bloß geräumten „Verklärung“,6 zweitens die Loskettung der „Erde von ihrer Sonne“ und der damit verbundene Fall in eine „leere Nacht“7 und drittens das Konzept der „ewigen Wiederkehr“, also die fatalistische Affirmation der Zwecklosigkeit des Seins.8 4 Minskij, Nikolaj/Dobroljubov, Aleksandr: Stichotvorenija i poėmy. Sankt-Peterburg 2005, 140 (meine Hervorhebungen, Ch. Z.). 5 Für einen Überblick über die frühe russische Nietzsche-Rezeption vgl. Lane, Ann: „Nietzsche Comes to Russia: Popularization and Protest in the 1890s“, in: Glatzer Rosenthal, Bernice (Hrsg.): Nietzsche in Russia. Princeton 1986, 51–68. Zum Problem der Visualität bei Nietzsche vgl. Shapiro, Gary: „In the Shadows of Philosophy. Nietzsche and the Question of Vision“, in: Levin: Modernity and the Hegemony of Vision, 124–142, hier 131/132, 135, 140. 6 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1873], in: ders.: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870– 1873. Kritische Studienausgabe. Band 1. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999, 27–40, hier 39. 7 „Wohin ist Gott? rief er [der tolle Mensch], ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“ Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft [1882], in: ders.: Kritische Studienausgabe, Band 3, 480/481 [Aphorismus 125] (Hervorhebung im Orig.). 8 „Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ‚die ewige

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

79

Während in der Lyrik der neunziger Jahre das Abfallen vom Sonnenlicht im Sinne von Nietzsches Szenario tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, ist die Theoriebildung der frühen russischen Symbolisten interessanterweise wesentlich positiver und kann schwerlich als nihilistisch bezeichnet werden. So geht Dmitrij Merežkovskijs programmatische Äußerung zum Symbolismus im Vortrag „O pričinach upadka i o novych tečenijach sovremennoj russkoj literatury“ („Über die Gründe des Zerfalls und über die neuen Strömungen der zeitgenössischen russischen Literatur“, 1892) zwar von der Unaussprechlichkeit der Wahrheit aus, bestreitet aber nicht, dass es „hinter“ den Dingen eine Wahrheit gebe. So lautet Merežkovskijs berühmte Grundformel für die neue literarische Schule: „Символизм делает самый стиль, самое художественное вещество поэзии одухотворенным, прозрачным, насквозь просвечивающим, как тонкие стенки алебастровой амфоры, в которой зажжено пламя.“9 „Der Symbolismus vergeistigt den Stil, das künstlerische Material der Poesie selbst, und macht es durchsichtig, ganz und gar durchscheinend, wie die feinen Wände einer Alabasteramphore, in der eine Flamme entzündet ist.“ Die klassizistische Formstrenge des französisch inspirierten Symbolismus wäre also kein „Schleier“, der die Wahrheit im Sinne Nietzsches endlos aufschiebt, sondern eine „Wand“, durch die das Wesen der Dinge hindurchschimmert und erahnbar wird. Die Erlangung der Durchsichtigkeit (прозрачность) hat in Merežkovskijs Verlautbarung Vorrang vor dem in der Lyrik der neunziger Jahre vorherrschenden trügerischen Schein (призрачность). Man kann also sagen: Der frühe Symbolismus „hasst“ zwar grundsätzlich die Sonne,10 ist dabei aber keineswegs okularphob. Er trotzt dem Sonnenlicht mehr, als vor ihm zu fliehen, und verwendet das ‚Seherische‘ durchaus positiv besetzt weiter. Eine Art frühsymbolistischer Weisheitslehre entwickelte Nikolaj Minskij in einer Monographie mit dem überraschenden Titel Pri svete sovesti. Mysli i mečty o celi žizni (Im Lichte des Gewissens. Gedanken und Träume über das Ziel des Lebens, 1889). Er begründet darin den „Meonismus“ (мэонизм, gr. Lehre vom Nichtsein), der mit einem destruktiven Nihilismus jedoch ebenfalls wenig gemein hat. Ausgangspunkt ist, wie der Titel anzeigt, die durchaus antidekadente und antinihilistische Kategorie des Gewissens. Wie in Lev Tolstojs Schriften ist das Gewissen hier das „innere“ Licht des Menschen, das dann aufleuchtet, wenn der Mensch zur Einsicht kommt, dass sein bisheriges Streben eitel war, und seine scheinbar hehren Ziele als Mittel zur Befriedigung des eigenen Egoismus entlarvt. Minskijs Theoriegebilde geht also von der gleichen Diagnose aus wie Tolstojs Selbstbezichtigung in Wiederkehr‘. […] Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ‚Sinnlose‘) ewig!“ Ders.: Kritische Studienausgabe, Band 12, 213. 9 Merežkovskij, Dmitrij: „O pričinach upadka i o novych tečenijach sovremennoj russkoj literatury“, in: ders.: L. Tolstoj i Dostoevskij. Večnye sputniki. Moskva 1995, 522–560, hier 538. 10 Vgl. Schmid, Ulrich: Fedor Sologub. Werk und Kontext. Bern/Berlin/Frankfurt a.  M./New York/Paris/Wien 1995, 159.

80

Licht als Fluchtpunkt

Ispoved’ (Beichte, 1882), und das bis in gewisse Einzelheiten der Kirchenkritik.11 Die Konsequenzen sind gleichwohl andere. Wo es Tolstoj darum geht, die „Leere“ des Lebens mit einer tätigen Moral auszufüllen und so zu auszutreiben, macht Minskij Gebrauch von einem logischen Kunstgriff: Er reifiziert die unerreichten oder bisher stets nur pervertiert verwirklichten „Ideale“ (wie Einheit, Liebe, Freiheit) zu „Meonen“, zu Einheiten des Nichtseins. Minskij definiert: „[…] мэоны суть понятия о чем-то совершенно несуществующем.“12 „[…] Meonen sind Begriffe von etwas vollkommen Inexistentem.“ Auch Gott wird zu einem Meon, zu einem Nichts. Dadurch aber, dass die Ideale zu „nichts“ erklärt werden, werden sie als Ideale erst in ihr Recht gesetzt, und sie beginnen – zu leuchten: „Свет […] мэонизма […] служит последней плотиной против темных, вечно нам угрожающих волн пессимизма.“13 „Das Licht […] des Meonismus […] dient als letzter Staudamm gegen die ewig uns bedrohenden dunklen Wellen des Pessimismus.“ Dem Meonismus zufolge ist es besser, ans Nichts zu glauben als an eine falsche, immer schon profanierte Fülle. Dieses leuchtende Nichts ist so gesehen selbst über Nietzsches „Mord an der Sonne“ erhaben.

Inkarnation, Verklärung, All-Einheit: Solov’evs Logik des Lichts Für Vladimir Solov’ev, den mystisch-hermetisch-christlichen Philosophen und Dichter, ist das Skandalöse an der Dekadenz – auch an ihrer so gemäßigten Ausformung in Minskijs Meonismus – die Dissoziierung von geistiger und körperlicher Welt. Aus ebendiesem Grund unterzog Solov’ev auch die von ihm bewunderte antike Gnosis letztlich doch einer grundsätzlichen Kritik.14 Seine Konstruktion einer synthetischen religiösen Weltsicht ist immer auch vor dem Hintergrund der Dekadenz und ihrer diabolischen Anziehungskraft zu sehen. Konzeptuell lässt sich Solov’evs antidekadente Logik des Lichts in drei Hauptpostulate fassen. Erstens: Das „Ideal“ soll dauerhaft „Fleisch annehmen“ (воплощение) und in Form von Licht der materiellen Welt eingeprägt werden. Zweitens: Dieser Vorgang bedeutet eine (Rück-)Verwandlung von Materie in Geist – Verklärung (преображение), durch die das zuvor zu Stoff verdichtete Licht in einen Zustand reinen Leuchtens gehoben

11 Vgl. „N. Minskij“, in: Vengerov, Semen (Hrsg.): Russkaja literatura XX veka. Moskva 1914– 1916 [Nachdruck München 1972], 357–363, hier 385/386. 12 Minskij, Nikolaj: Pri svete sovesti. Mysli i mečty o celi žizni. S.-Peterburg 1890, 214 (Hervorhebung im Orig.). 13 Ebd., 366. 14 Vgl. Solov’ev, Vladimir: „Valentin i Valentiniane“, in: Ėnciklopedičeskij slovar’. T. V. Izd. F. A. Brokgauz, I. A. Efron. Sankt-Peterburg 1891, 406–409.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

81

wird, ohne dass die gewonnene Leiblichkeit wieder augehoben würde.15 Drittens: Im Licht verwirklicht sich das eschatologische Postulat der „positiven All-Einheit“ (положительное всеединство): Dank seiner Ubiquität ist das Licht metaphysisch-religiös ebenso wie physikalisch und poetisch der beste, weil evidenteste Ausdruck der All-Einheit. Aus Sicht der orthodoxen Theologie hat Solov’ev die Begriffe Inkarnation und Transfiguration in unzulässiger Weise dekontextualisiert, indem er sie von Christus loslöste und aus ihnen prozessuale Konzepte machte. Georges Florovsky merkt kritisch an, dass Solov’ev viel öfter vom Begriff des „Gottmenschentums“ als von der Person des „Gottmenschen“ handelt, weshalb „in seinem System vom Erlöser nur ein blasser Schatten“ zurückbleibe.16 In jüngerer Zeit ist Ivan Esaulov auf diese Kritik zurückgekommen. Aus Solov’evs Gottmenschentum sei, so Esaulov, nicht nur die symbolistische Lebenskunst (жизнетворчество) hervorgegangen. In seinem unpersönlichen Transfigurationsbegriff habe außerdem die revolutionäre Umbau-Idee eine theoretische Grundlegung gefunden.17 Der Vorwurf an Solov’ev lautet also: Die ursprünglich von der Person Christi unablösbaren Eigenschaften Fleischwerdung und Verklärung verkehrten sich in eine Ermächtigung der Menschheit, die Erde umzubauen. In der russischen Moderne findet nach Esaulov eine radikale Abkehr vom „ontologischen Prinzip des Hesychasmus“ zugunsten eines religiösen, ästhetischen und politischen „Gnostizismus“ statt.18 Der Hesychasmus – der sich nach dem ungeschaffenen, unsichtbaren Taborlicht ausrichtete – wird hier summarisch als Kampfbegriff gegen jede Art von konstruktivem Zugriff auf die Welt aufgeboten. Solov’evs prozessual gedachte All-Einheit und die kommunistische Nivellierung der Gesellschaft erscheinen dann als wesensgleich.19 In einer solchen Sicht werden mehrere Aspekte ausgeblendet. Zeichnet man Solov’evs Lichtspekulationen im Einzelnen nach, ergibt sich ein weit differenziertes Bild. Zunächst, das ist nicht unwichtig, werden die Ausführungen zu Inkarnation, Transfiguration und All-Einheit in den Čtenija o bogočelovečestve (Vorlesungen über das Gottmenschentum, 1870) und etwa im Aufsatz „Krasota v prirode“ („Das Na15 Anhand der komplementären Vorgänge Inkarnation und Transfiguration fasst auch Paperno Solov’evs Ästhetik. Vgl. Paperno, Irina: „The Meaning of Art: Symbolist Theories“, in: dies./ Grossman, Joan Delaney: Creating Life. The Aesthetic Utopia of Russian Modernism. Stanford 1994, 13–23, hier 13. 16 Florovskij, Georgij: Puti russkogo bogoslovija. Vtoroe izdanie, s predisloviem prot. I. Mejendorfa i indeksom imen. Paris 1981, 317. 17 Esaulov, Ivan: Paschal’nost’ russkoj slovesnosti. Moskva 2004, 31, 41. 18 Ebd., 132. 19 Auch Boris Groys vergleicht Solov’evs Lehre mit der Sowjetphilosophie und kommt zum Schluss, dass der sophiologische Weiblichkeitskult und der historische Materialismus in Russland gleichursprünglich seien. Groys, Boris: „Weisheit als weibliches Weltprinzip. Die russische Sophiologie des Wladimir Solowjow“, in: Assmann, Aleida (Hrsg.): Weisheit. Archäologie der literarischen Kommuniktion III. München 1991, 345–354, hier 346/347.

82

Licht als Fluchtpunkt

turschöne“, 1889) extensiv mit Gedichten der (Spät-)Romantiker Fedor Tjutčev, Afanasij Fet und Aleksej K. Tolstoj illustriert. Eher als von Illustrationen wäre sogar von einer gegenseitigen Durchdringung der Philosophie mit der Dichtung zu sprechen. Nach Solov’ev ist der romantische Dichter qua Inspiration in besonderem Maße befähigt, das Problem der Fleischwerdung in Sprache zu bringen und ein Exempel für das „воплощение идеала“ / die „Inkarnation des Ideals“ zu geben (7. Vorlesung über das Gottmenschentum). Er zitiert in diesem Zusammenhang A. Tolstojs Gedicht „Menja, vo mrake i pyli…“ („In der Finsternis und im Staub…“, 1851 od. 1852), das von der Einweihung des Dichters in den „ewigen Logos“ handelt: И вещим сердцем понял я, Что всё рождённое от Слова, Лучи любви кругом лия, К нему вернуться жаждет снова; И жизни каждая струя, Любви покорная закону, Стремится силой бытия Неудержимо к Божью лону; И всюду звук, и всюду свет, И всем мирам одно начало, И ничего в природе нет, Что бы любовью не дышало.20 Mit ahnendem Herzen begriff ich, Dass alles aus dem Wort geboren wird, Ringsherum Strahlen der Liebe ausgießend, Dürstet alles danach, zu ihm zurückzukehren; Und jeder Strom des Lebens, Gefügig dem Gesetz des Liebe, Strebt mit der Kraft des Seins Unaufhaltsam zurück in Gottes Schoß; Und überall ist Klang, und überall Licht, Und alle Welten haben einen Ursprung, Und nichts ist in der Natur, Das nicht Liebe atmete.

Allein in diesen Versen finden sich die eingangs genannten drei Hauptpostulate Solov’evs wieder: Die Wendung „всё рождённое от Слова“ kann als Umschreibung des Schöpfungsaktes nach Joh 1, 3 und damit der Fleischwerdung verstanden werden, das „Dürsten“ der Schöpfung nach Rückkehr zu Gott als Sehnsucht nach Rückverwandlung (преображение). Und dann ist auch die Rede von der All-Einheit, die in Form von übernatürlichem Licht alle Seinsbereiche durchziehe. Bei 20 Tolstoj, Aleksej K.: Polnoe sobranie stichotvorenij i poėm. Sankt-Peterburg 2006, 82.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

83

Solov’ev werden Gedichte dazu verwendet, die Notwendigkeit zu demonstrieren, an der Realisierung des Ideals aktiv zu arbeiten. In der 9. Vorlesung zitiert er Fets „Izmučen žizn’ju, kovarstvom nadeždy…“ („Erschöpft vom Leben, der Hinterlist der Hoffnung…“, 1864?), das von der ausbleibenden Fleischwerdung des Ideals handelt: И неподвижно на огненных розах Живой алтарь мирозданья курится, В его дыму, как в творческих грезах, Вся сила дрожит и вся вечность снится. И всё, что мчится по безднам эфира, И всякий луч, плоской и безплотный, – Твой только отблеск, о солнце мира, И только сон, только сон мимолетный.21 Und unbeweglich auf feurigen Rosen Glimmt der lebendige Altar des Weltalls, In seinem Rauch, wie in Schöpferträumereien, Zittert alle Kraft, und alle Ewigkeit erscheint. Und alles, was über die Abgründe des Äthers schwebt, Und jeder Strahl, flach und körperlos, – Ist nur Dein Widerschein, o Sonne der Welt, Und nur ein Traum, ein flüchtiger Traum.

Das Licht bleibt in diesem Gedicht Afanasij Fets „flach“ und „körperlos“. Hier kommt die pessimistische Seite der Romantik zum Ausdruck, an die Minskij mit seinem Meonismus anknüpfte. Solov’ev seinerseits strebt stets danach, eine solche Wirkungs- und Spurlosigkeit effektiv zu überwinden. Deshalb greift er, wenn auch verschlüsselt, sogar auf die durch die Symbolisten desavouierte Wirkungsästhetik Černyševskijs zurück.22 Vernachlässigt wird in der Reduktion von Solov’evs Lehre auf einen abstrakten Materialismus des Weiteren die Rolle des johanneischen Logos.23 Die Sophia, für deren Konzeptualisierung Solov’ev vor allem bekannt wurde, ist für sich genommen nach dem russischen Philosophen ein ursprüngliches Nichts, ein dunkler Abgrund. Nur der Logos könne die Sophia „aufhellen“, ihr die Schwere nehmen und sie erhöhen. Das Ziel ist dabei nicht, ein Nebeneinander von Sophia und Logos zu 21 Fet, Afanasij: Stichotvorenija. Sankt-Peterburg 2001, 248 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 22 Vgl. Paperno: „The Meaning of Art: Symbolist Theories“, 15. 23 Vgl. Hansen-Löve, Aage: Der Russische Symbolismus. System und Entfaltung der poetischen Motive. 2. Band: Mythopoetischer Symbolismus. 1. Kosmische Symbolik. Wien 1998, 339: „Das komplementäre Gegenstück zur aus der Finsternis und aus dem Chaos stammenden Anima bildet bei Solov’ev die Lichtnatur des Johanneischen Christus […].“

84

Licht als Fluchtpunkt

erreichen. Es geht Solov’ev um ihre endgültige Vereinigung. In „Krasota v prirode“ schreibt er noch ganz physikalisch: Где весомое вещество преобразуется в светоносные тела, где неистовое стремление к осязательному животному акту превращается в ряд стройных и мерных звуков, – там мы имеем красоту в природе. […] Вещество есть косность и непроницаемость бытия – прямая противоположность идее, как положительной всепроницаемости или всеединству. Лишь в свете вещество освобождается от своей косности и непроницаемости, и таким образом видимый мир впервые расчленяется на две противоположные полярности. Свет или его невесомый носитель – эфир – есть первичная реальность идеи в ее противоположности весомому веществу, и в этом смысле он есть первое начало красоты в природе.24 Wo ein wägbarer Stoff in lichttragende Körper umgestaltet wird, wo der unbändige Drang zum fühlbaren animalischen Akt sich in eine Reihe harmonischer und rhythmischer Töne verwandelt – da haben wir die Schönheit in der Natur. […] Stoff ist Trägheit und Undurchdringlichkeit des Seins – das direkte Gegenteil der Idee, als der positiven völligen Alldurchdringlichkeit oder All-Einheit. Nur im Licht befreit sich der Stoff von seiner Trägheit und Undurchdringlichkeit; und auf diese Weise gliedert sich die sichtbare Welt zum ersten Mal in zwei polare Gegensätze. Das Licht oder sein unwägbarer Träger – der Äther – ist die primäre Realität der Idee in ihrer Gegensätzlichkeit zum wägbaren Stoff, und in diesem Sinn ist es das erste Prinzip der Schönheit der Natur.25

Schönheit in der Natur entsteht da, wo Materie dauerhaft zum „Lichtträger“ wird. Einfache Lichtspiele wie die Widerspiegelung von Strahlen durch Glas fallen nicht darunter, denn die anorganische Natur ist nicht fähig, dauerhaft Leben in sich aufzunehmen. Inkarnation ist also angewiesen auf eine organische Disposition der Materie. Sie muss das sophiologische Kriterium der absoluten Empfänglichkeit erfüllen, um Träger einer „merklichen Wirkung“ („заметно[е] воздeйстви[е]“26) in der Natur, kurz: zu einem schönen Ereignis zu werden. Das Licht zieht sich bei Solov’ev wie ein Band durch die belebten Erscheinungen der Natur und wird daher als „физический выразитель“  / „physischer Transporter“ des „мировое всеединство“27 / der „All-Einheit der Welt“ bezeichnet, einer All-Einheit, die, wie gesagt, bereits im ursprünglichen Chaos angelegt sein muss. Ansonsten bleibt sie nach Solov’ev ein substanzloses Spiel beliebiger, trügerischer Korrespondenzen. Die nächste Etappe besteht im Sprung vom Naturschönen zum Kunstschönen. In der Schrift „Obščij smysl iskusstva“ („Der allgemeine Sinn der Kunst“, 1890) 24 Solov’ev: „Krasota v prirode“, in: Sobranie sočinenij Vladimira Sergeeviča Solov’eva, VI, 33–74, hier 42, 46 (Hervorhebungen im Orig.). 25 Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Sołowjew. Herausgegeben von Wladimir Szyłkarski. Siebenter Band. Erkenntnislehre. Ästhetik. Philosophie der Liebe. Freiburg i. Br. 1953, 17–167, hier 129, 134/135. 26 Solov’ev: „Krasota v prirode“, 40. 27 Ebd., 47/48.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

85

kommt Solov’ev auf sein Argument aus den Čtenija o bogočelovečestve zurück, dass der Künstler für die Fleischwerdung der Idee und „ihre wirkliche Präsenz in der Materie“ („действительное ее присутствие в материи“28) in besonderer Weise berufen sei. Nach der Umwandlung von physischem Licht in natürliche Organismen und der Bündelung von geistigem Licht zu Erkenntnis folgt in der aufsteigenden Folge von Verkörperungen im Weltprozess das künstlerische Schaffen. Das erlangte begriffliche Wissen der Menschheit müsse in Form von Kunstwerken fixiert werden, wodurch die Wirklichkeit auf eine höhere Stufe gehoben werde: Для своей настоящей реализации добро и истина должны стать творческою силою в субъекте, преобразующею, а не отражающею только действительность. Как в мире физическом свет превращается в жизнь, становится организующим началом растений и животных, чтобы не отражаться только от тел, но воплощаться в них, так и свет разума не может ограничиться одним познанием, а должен осознанный смысл жизни художественно воплощать в новой, более ему соответствующей действительности.29 Um wirklich realisiert zu werden, müssen das Gute und die Wahrheit zu einer schöpferischen Kraft im Subjekt werden, welche die Wirklichkeit umgestaltet und nicht nur widerspiegelt. Wie in der physischen Welt das Licht sich in Leben verwandelt, organisierendes Prinzip der Pflanzen und Tiere wird, um sich nicht nur in den Körpern widerzuspiegeln, sondern sich in ihnen zu verkörpern – so kann sich auch das Licht der Vernunft nicht auf die Erkenntnis allein beschränken, sondern muß den erkannten Sinn des Lebens künstlerisch in einer neuen, ihm mehr entsprechenden Wirklichkeit verkörpern.30

Die Kunst fügt der bisherigen Abfolge von Verkörperungen eine neue Perspektive hinzu: die Perspektive der Rückverwandlung von Materie in deren „окончательн[ое] состояни[е]“  / „endgültigen Zustand“ „в свете будущего мира“  / „im Lichte der kommenden Welt“.31 Kunst schöpft die Wirklichkeit unter einer apokalyptischen Perspektive neu, sie zeigt die Dinge im Leuchten ihrer eschatologischen Bestimmung, dem Zustand der Verklärung.32 Nun stellt sich die Frage, welche Kunst dieser Anforderung gerecht werden kann, und Solov’ev macht deutlich, dass er nicht die bisherige „große“ Kunst im Sinn hat (die er mit Hegel für vergangen hält). So habe etwa die Verklärung in Goethes Faust keinen nennenswerten Einfluss auf den Lauf 28 Solov’ev: „Obščij smysl iskusstva“,in: Sobranie sočinenij Vladimira Sergeeviča Solov’eva, VI, 75–90, hier 81. 29 Ebd., 79. 30 Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Sołowjew, VII, 169–189, hier 176. 31 Solov’ev: „Obščij smysl iskusstva“, 85 (Hervorhebung im Orig.). 32 Kunst ist „schön nur durch ihre Teilhabe an der Inkarnation des Erlösers und ihrer Entstofflichung im Heilsgeschehen – also unter einer apokalyptischen Perspektive.“ Hansen-Löve, Aage: „Zur Typologie des Erhabenen in der russischen Moderne“, in: Poetica 23 (1991), 166–216, hier 211.

86

Licht als Fluchtpunkt

der Welt gehabt.33 Vollkommene Kunst – hervorgebracht aus dem johanneischen Logos – müsse real wirken: Совершенное искусство в своей окончательной задаче должно воплотить абсолютный идеал не в одном воображении, а и в самом деле, – должно одухотворить, пресуществить нашу действительную жизнь. Если скажут, что такая задача выходит за пределы искусства, то спрашивается: кто установил эти пределы?“34 Die endgültige Aufgabe der vollkommenen Kunst ist es, das absolute Ideal nicht nur in der Vorstellung, sondern auch in der Tat selbst zu verwirklichen, – sie muß unser tatsächliches Leben durchgeistigen, verwandeln. Wenn man sagen würde, daß eine solche Aufgabe über die Grenzen der Kunst hinausgeht, so fragt es sich: wer hat diese Grenzen festgesetzt?35

Solov’ev begründet hier (im Fragemodus) sein Postulat der „theurgischen“ Kunst, die allerdings nicht das letzte Wort in seinem Lichtdenken ist. Denn wie er am Schluss von „Obščij smysl iskusstva“ einräumt, ist Kunst immer ein Medium der Fixierung und Verewigung, nicht aber der ursprünglichen Hervorbringung der „Idee“.36 Den Abschluss in Solov’evs Licht-System bildet Smysl ljubvi (Der Sinn der Liebe, 1892–1894). Dieser Traktat ist wie die Čtenija o bogočelovečestve wieder im engeren Sinne sophio-logisch. Die Überlegungen zum Natur- und Kunstschönen der beiden vorhergehenden Traktate werden spekulativ auf eine prozessuale Schöpfungslehre und Liebesmystik hin überschritten. Solov’ev unternimmt den Versuch, den „Sinn“ der Liebe zwischen Mann und Frau aus einem innergöttlichen Liebesverhältnis abzuleiten. Gott wird in zwei Einheiten differenziert, in ein aktuales, ihm eigenes Sein und ein ihm eigenes Anderes („различая от себя свое другое“). Diese andere Einheit in Gott sei das Ewigweibliche – das nach Solov’ev im Faust zu abstrakt geblieben war. Es sei zugleich die „вечная пустота“ / „ewige Leere“ und ein „чистое ничто“ / „reines Nichts“.37 Da sie aber doch zu Gott gehöre, sei die Leere immer schon von der vollkommenen Fülle aufgehoben. Wie ein Stempel präge der Logos der sophianischen Materie seine ideale Form ein, erhelle und verkläre sie. Der Sinn der innergöttlichen Unterscheidung ist also die Geburt der Liebe. Dieses Argument ist ganz Schelling verpflichtet, in dessen Freiheitsschrift (1809) es heißt: „Der Ungrund teilt sich […] in die zwei gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines sein konnten, durch die Liebe eins werden, d.h. er teilt sich nur, damit Leben und Lieben sei und persönliche 33 Solov’ev: „Obščij smysl iskusstva“, 89/90. 34 Ebd., 90. Solov’ev greift hier seine Überlegungen zu Dostoevskij (1881–1883) wieder auf. Bereits in der ersten Dostoevskij-Rede stellte er die Frage nach der verklärenden „realen Kraft“ der Kunst. „Pervaja reč’“, in: Sobranie sočinenij Vladimira Sergeeviča Solov’eva, III, 188–198, hier 189. 35 Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Sołowjew, VII, 188/189. 36 Solov’ev: „Obščij smysl iskusstva“, 90. 37 Ders.: Smysl ljubvi, in: Sobranie sočinenij Vladimira Sergeeviča Solov’eva, VII, 1–60, hier 45.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

87

Existenz.“38 Vollkommen ist die sophio-logische Liebe in Gott deshalb, weil beide Beteiligten in genau gleichem Maße gewinnen – das niedrige Wesen wird zu etwas ‚Wirklichem‘ (Transfiguration), und das höhere Wesen realisiert erst durch Selbstmitteilung seine Perfektion, die zuvor noch unfassbar war (Inkarnation).39 Der Sinn der Liebe zwischen Mann und Frau besteht nach Solov’ev nun darin, diese innergöttliche Liebesbeziehung konkret nachzuahmen. Der Mann soll Logos, die Frau Sophia werden – so schafften sie ein lebendiges und vollständiges Abbild Gottes auf Erden: Полная же реализация, превращение индивидуального женского существа в неотделимый от своего лучезарного источника луч вечной Божественной женственности, будет действительным, не субъективным только, а и объективным воссоединением индивидуального человека с Богом, восстановлением в нем живого и бессмертного образа Божия.40 Die volle Realisierung aber, die Verwandlung des individuellen weiblichen Wesens in einen von seiner hellstrahlenden Quelle untrennbaren Strahl der ewigen göttlichen Weiblichkeit, wird eine wirkliche, nicht nur subjektive, sondern auch objektive Wiedervereinigung des individuellen Menschen mit Gott, die Wiederherstellung des lebendigen und unsterblichen Ebenbildes Gottes in ihm sein.41

In Smysl ljubvi löst die Idee einer „schöpferischen“ Liebe das Kunstschaffen ab. Es ist die Liebe, die Solov’ev für die wahre Theurgie hält. Die Liebe erscheint als das wahre „Kunstwerk“, in dem der Mann die Frau verklärt und die Frau den Mann Fleisch annehmen lässt. Der Traktat stellt so die extreme Gegenposition zur Dekadenz der 1890er Jahre dar: Symbolismus wird nicht mehr als Erahnen von unergründlichen Korrespondenzen aufgefasst, sondern als praktische Vermählung von Himmel und Erde. Die sehr reservierte Haltung gegenüber Solov’ev von orthodoxer Seite dürfte von der ambivalenten Stellung herrühren, die Christus in diesen sophiologischen Spekulationen einnimmt. Obwohl die Sophia und der Logos immer als Paar auftreten, wird der Logos oft offensichtlich unbestimmt belassen. Hansen-Löve spricht von einer „verborgene[n] Inkonsistenz“ des johanneischen Christus bei Solov’ev,42 dies in erster Linie im Zusammenhang mit dem lyrischen Werk des Philosophen. Hansen-Löve beschreibt die Diskrepanz zwischen dem bruchlos funktionierenden System in den theoretischen Schriften und der Ambivalenz der 38 Schelling, F. W. J.: Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung und Anmerkungen von Horst Fuhrmanns. Stuttgart 2003, 129. Vgl. zur russischen Rezeption von Schellings Freiheitsschrift Vajskopf, Michail: Sjužet Gogolja. Morfologija. Ideologija. Kontekst. Moskva 1993, 159/160. 39 Solov’ev: Smysl ljubvi, 45. 40 Ebd., 45/46. 41 Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Sołowjew, VII, 201–272, hier 254. 42 Hansen-Löve: Der Russische Symbolismus, II, 339.

88

Licht als Fluchtpunkt

Gedichte Solov’evs.43 Die Frage ist also gar nicht so sehr, wie „gnostisch“ Solov’evs Weltsicht ist. Entscheidend ist die Tatsache, dass die in den Traktaten postulierte Fleischwerdung der Idee und Verklärung der Materie in seiner Lyrik ausbleiben. Das Ich des verliebten Dichters füllt die Rolle des Logos bestenfalls passiv aus, und auf der anderen Seite leuchtet Sophia meist nur vorübergehend. Das beste Beispiel dafür liefert der Text „Tri svidanija“ („Drei Begegnungen“, 1898). Das kurze Poem ist eigentlich Solov’evs sophiologischer Vermächtnistext. Die Sophia erscheint hier nicht in spekulativer Form eines Weltprinzips, auch nicht in allegorischer Gestalt wie in vielen seiner Sophiengedichte seit den 1870er Jahren, sondern als die konkrete Liebe seines Lebens. Das unterstreicht Solov’ev durch die zeitliche und örtliche Einbettung der drei Begegnungen in seine Biographie (Moskau 1862, London 1875, Ägypten 1876). Erstaunlich ist daher, dass es sich in Wirklichkeit um ein leichtes Scherzgedicht handeln soll. In einer Fußnote zu der Dichtung heißt es: „Осенний вечер и глухой лес внушили мне воспроизвести в шутливых стихах самое значительное из того, что до сих пор случилось со мною в жизни.“44 „Ein Herbstabend und der tiefe Wald suggerierten mir, in scherzhaften Versen das Bedeutsamste wiederzugeben, was bisher in meinem Leben geschehen ist.“ Die Stelle, an welcher der mystische Stoff ins Lächerliche zu kippen droht, ist genau der in der Theorie so aktive, strahlende Logos. Der Held von „Tri svidanija“ ist ein passiver Held, dem die Dinge bloß widerfahren. Sophia, der Theorie nach reines weibliches „Nichts“, absolute Passivität, wird im Gegenzug zu seiner Herrin. Am deutlichsten ist dies in der dritten, ägyptischen Begegnung. Kurz vor Sonnenaufgang erscheint die Sophia dem Ich in der Wüste vor Kairo zum letzten Mal: И в пурпуре небесного блистанья Очами, полными лазурного огня, Глядела ты, как первое сиянье Всемирного и творческого дня. […] Все видел я, и все одно лишь было – Один лишь образ женской красоты… Безмерное в его размер входило, – Передо мной, во мне – одна лишь ты.45

43 Vgl. Minc, Zara: Blok i russkij simvolizm. Izbrannye trudy v trech knigach. 3. Poėtika russkogo simvolizma. Sankt-Peterburg 2004, 276/277; sowie, im Zusammenhang mit Tzvetan Todorovs Phantastiktheorie, Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt a. M. 2002, 89–91. 44 Solov’ev, Vladimir: „Tri svidanija“, in: ders.: Stichotvorenija i šutočnye p’esy. Moskva 1922 [Reprint München 1968], 170–179, hier 179. 45 Ebd., 177.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

89

Und im Purpur des himmlischen Glanzes Mit Augen, voll azurblauen Feuers, Schautest du wie das erste Leuchten Des kosmischen und schöpferischen Tages. […] Alles sah ich, und alles war nur eines – Nur ein Bild der weiblichen Schönheit… Das Maßlose wurde von ihm aufgefangen, – Vor mir, in mir – warst nur du allein.

Was von der Begegnung bleibt, ist ein „Glanz“. Zur Verklärung konnte es nicht kommen. Denn unter Verklärung versteht Solov’ev in seinen Trakten die volle Präsenz des Logos in der Sophia. In „Tri svidanija“ ist es genau umgekehrt: Sophia erfüllt für einen Augenblick die entleerte Logos-Gestalt des Dichters, kann aber auf Grund der theoretischen Defizienz dieser Konstellation nur einen azurnen Lichtblick und keine Erhöhung für ihn erwirken.

Poesie als „Lichtsammeln“ bei Andrej Belyj Am Anfang der zweiten Phase des Symbolismus steht die affirmative Lektüre ebendieses sophiologischen Kurzpoems, Vladimir Solo’vevs „Tri svidanija“, durch die nachfolgende Dichtergeneration.46 Zugleich grenzen sich die zur Jahrhundertwende Zwanzigjährigen polemisch gegen den vermeintlichen Vorboten des neuen solaren Mythos, den „älteren“ Symbolisten Konstantin Bal’mont ab. Im Gedicht „Ja v ėtot mir prišel, čtob videt’ solnce…“ / „Ich bin in diese Welt gekommen, um die Sonne zu sehen…“ aus der Sammlung Budem kak solnce (1902) hatte Bal’mont programmatisch in Umkehrung des Mond-Paradigmas der neunziger Jahre den Sonnenkult ausgerufen: Я в этот мир пришел, чтоб видеть Солнце И синий кругозор. Я в этот мир пришел, чтоб видеть Солнце И выси гор. […] Я в этот мир пришел, чтоб видеть Солнце, А если день погас, 46 Vgl. Viktor Žirmunskijs Charakterisierung in „Preodolevšie simvolizm“ („Die den Symbolismus überwanden“, 1916): „Die Symbolisten der zweiten Generation waren Mystiker. Ihr Lehrer war Vladimir Solov’ev, sowohl als religiöser Denker wie als Lyriker; als ihre überzeitlichen Mitstreiter können die deutschen Romantiker bezeichnet werden.“ Žirmunskij, Viktor: „Preodolevšie simvolizm“, in: ders.: Poėtika russkoj poėzii. Sankt-Peterburg 2001, 364–404, hier 365.

90

Licht als Fluchtpunkt Я буду петь… Я буду петь о Солнце В предсмертный час!47 Ich bin in diese Welt gekommen, um die Sonne zu sehen Und den blauen Horizont. Ich bin in diese Welt gekommen, um die Sonne zu sehen Und die Höhen der Berge. […] Ich bin in diese Welt gekommen, um die Sonne zu sehen, Und wenn der Tag erloschen ist, Werde ich singen… Ich werde singen von der Sonne In der Stunde meines Todes!

Für den jungen Andrej Belyj ist die Hinwendung Bal’monts zur Sonne jedoch nichts anderes als eine trügerische Perpetuierung der ästhetizistischen Dekadenz. Er schreibt: „Бальмонт – сияющее зеркало эстетизма.“48 „Bal’mont ist ein glänzender Spiegel des Ästhetizismus.“ Sein Hauptvorwurf an Bal’mont lautet, dass die Sonne im Artifizialismus verbleibe, statt der Kunst eine wirkliche Außenwelt zu eröffnen: „«Я в этот мир пришел, чтоб видеть солнце». И верят ему. А я – я не верю. Сам он зажег эти солнца, чтобы осветить мрак небытия.“49 „‚Ich bin in diese Welt gekommen, um die Sonne zu sehen.‘ Und man glaubt ihm. Ich – glaube ihm nicht. Er selbst hat diese Sonnen entzündet, um die Finsternis des Nichtseins auszuleuchten.“ In der Terminologie Nikolaj Minskijs kann man diesen Vorwurf so wiedergeben: Bal’monts Sonne ist ein „Meon“, das vom Dichter geradezu pragmatisch als Platzhalter gegen existenzielle Verzweiflung gesetzt wird. Belyjs Kritik an Bal’mont verläuft demnach analog zu Solov’evs Kritik an Minskij. Der Dichter der Dekadenz verfehle den Sinn des Lichtsymbolismus, wenn er die Sonne als etwas Fernes anrufe, das mit dem eigentlichen Problem, der Last der unbeseelten körperlichen Existenz, nichts zu tun habe. Noch einmal Belyj über Bal’mont: И пространства души уплыли в пространства: не соединил эти пространства в живом соединении, в символе. И тело осталось телом, пустой оболочкой […]. Бальмонт не 47 Bal’mont, Konstantin: Izbrannoe. Stichotvorenija, perevody, stat’i. Moskva 1980, 120. 48 Belyj, Andrej: „Bal’mont“ [1904/1907], in: ders.: Simvolizm kak miroponimanie. Moskva 1994, 402–408, hier 403. Ähnlich noch in den Memoiren Načalo veka (1933): „«Будем как Солнце» – нас книга дразнила; в ней – блеск овладенья приемами, краски, эффекты; и – ритм; все же «испанец», срывающий платья, казался подделкой под собственный замысел: под золотистый тон солнца.“ „‚Budem kak solnce‘ – uns nervte dieses Buch; darin ist alles Glanz der Beherrschung von Verfahren, Farbe, Effekt; und – Rhythmus; und gleichwohl schien der ‚Spanier‘, als er sein Kleid fallen ließ, eine Imitation seiner eigenen Phantasie zu sein: des goldenen Tons der Sonne.“ Ders.: Načalo veka. Podgotovka teksta i kommentarii A. V. Lavrova. Moskva 1990, 239. 49 Ders.: „Bal’mont“, 405. Vgl. das Kapitel „Dekadentstvo i ėstetizm kak vnutrennie problemy simvolizma“ bei Ermilova, Elena: Teorija i obraznyj mir russkogo simvolizma. Moskva 1989, 19–28, hier 21, 25.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

91

соединил мировое с земным. Наоборот: разъединил. И осталась только эмпирика, да мировой круговорот, о котором он говорит: «Яйцевидные атомы мчатся».50 Und die Räume der Seele verschwammen in den Räumen: er verband diese Räume in keiner lebendigen Einheit, einem Symbol. Und der Körper blieb Körper, leere Hülle […]. Bal’mont verband nicht das Weltall mit dem Irdischen. Im Gegenteil: er trennte sie voneinander. Und es blieb einzig die Empirie übrig, und der Kreislauf des Weltalls, von dem er sagt: „Eierförmige Atome fliegen umher.“

Für Belyj ist Dichtung, wenn sie sich mit dem „отражение“ / Widerspiegeln zufrieden gibt, statt nach „преображение“ / Verwandlung zu streben, nicht einmal symbolistisch, sondern naturalistisch, richtungslos, gleichgültig – das genaue Gegenteil der von Solov’ev konzipierten eschatologischen Kunst. Bei Belyj wird das strahlende Licht deshalb virulent, weil es das Problem einer als hinfällig empfundenen Körperlichkeit lösen soll. Im Februar 1901 hält er mit seinem engsten Freund, Sergej Solov’ev, einem Neffen des 1900 verstorbenen Philosophen, fest: „[…] наши ожидания какого-то преображения светом максимальны; мне начинает казаться, что мы уже на рубеже, гдe кончается история […].“51 „[…] unsere Erwartungen einer Verwandlung durch Licht sind maximal; mir will scheinen, dass wir bereits an der Grenze sind, an der die Geschichte endet […].“ Diese großen Erwartungen manifestieren sich zunächst in zwei Qualitäten, die der Bal’montschen Sonnenlyrik abgingen. Einmal ist Belyjs Gedichtbuch Zoloto v lazuri (Gold in Azur, 1904) geprägt von einem ausgesprochen dynamischen Streben (стремительность) nach der Sonne – überblendet mit der argonautischen Fahrt zum Goldenen Flies: «За солнцем, за солнцем, свободу любя, умчимся в эфир голубой!..»52 „Nach der Sonne, nach der Sonne, in Liebe zur Freiheit, werfen wir uns in den Äther, den blauen!..“ Солнцем сердце зажжено. Солнце – к вечному стремительность. Солнце – вечное окно в золотую ослепительность.53 50 Belyj: „Bal’mont“, 406. 51 Zit. nach Lavrov, Aleksandr: Andrej Belyj v 1900-e gody. Žizn’ i literaturnaja dejatel’nost’. Moskva 1995, 66/67. 52 Belyj, Andrej: „Zolotoe runo, 2“ [1903], in: ders.: Stichotvorenija i poėmy. Tom 1. Sankt-Peterburg 2006, 81. 53 Ders.: „Solnce“ [1903], in: ebd., 82. Das Gedicht ist Bal’mont gewidmet, es kann also als poetisches Gegenmanifest zu Budem kak solnce gelesen werden.

92

Licht als Fluchtpunkt Von der Sonne ist das Herz entzündet. Die Sonne ist Streben nach dem Ewigen. Die Sonne ist ein ewiges Fenster in die goldene Blendung.

Die zweite auffallende Qualität ist das Pathos der „солнечность“  / „Sonnenhaftigkeit“. Die Sonne rückt derart ins Zentrum der Aufmerksamkeit, dass sich ihre Strahlen zu einem Stoff, zu einer nährenden Flüssigkeit verdichten und die ganze Welt „sonnenhaft“ machen (sollen). In einem Brief an den Publizisten Ėmilij Metner schreibt Belyj 1903: Будем же собирать солнечность, чтобы построить свои корабли! Эмилий Карлович, – распластанные золотые языки лижут торчащие из воды камни; солнечные струи пробивают стекла наших жилищ; вот они ударились о потолок и стены… Вот все засияло кругом… Собирайте, собирайте это сияние! Черпайте ведрами эту льющуюся светозарность! Каждая капля способна родить море света. Аргонавты да помолятся за нас!54 Sammeln wir also Sonnenhaftigkeit, um unsere Schiffe zu bauen! Emilij Karlovič, –ausgebreitete goldene Zungen lecken die aus dem Wasser stoßenden Steine; Sonnenströme zerschlagen die Scheiben unserer Wohnungen; schon haben sie sich an Decke und Wänden überschlagen… Schon hat alles ringsherum aufgeleuchtet… Sammeln Sie, sammeln Sie dieses Strahlen! Schöpfen Sie mit Kesseln diese sich ergießende Licht-Überhelle! Jeder Tropfen ist imstande, ein Meer von Licht zu gebären. Mögen die Argonauten für uns beten!

Sonnenlicht und Meerwasser vereinen sich zu einer Materie, aus der die „neue Welt“ geboren werden soll. Wie in Solov’evs Begegnungen mit der Sophia wird Gold mit Azur ‚legiert‘ („Вдруг золотой лазурью всё полнó“55  / „Auf einmal ist alles von goldenem Azur erfüllt“), allerdings nicht zu einem unkörperlichen mystischen Glanz. Denn der Himmel soll real in das Meer eintauchen und zu einer sinnlich 54 19. April 1903, zit. nach Lavrov: Andrej Belyj v 1900-e gody, 117. Auch in der Erzählung „Argonavty“ („Die Argonauten“, 1904) ist von der flüssigen „Sonnhaftigkeit“ die Rede: „[…] солнечность заливала вечерние комнаты.“ „[…] die Sonnenhaftigkeit hat unsere abendlichen Zimmer überschwemmt.“ Belyj, Andrej: Simfonii. Vstupitel’naja stat’ja, sostavlenie, podgotovka teksta i primečanija A. V. Lavrova. Leningrad 1991, 450–455, hier 451. Allerdings steht der Evidenz dieser flüssigen „солнечность“ in der Erzählung entgegen, dass die Pilgerschaft zum Goldenen Vlies stark karnevalesk gebrochen ist, in die Leere führt und im Grunde scheitert. Vgl. zum Argonautenmythos Belyjs und seiner Freunde Lavrov, Alexander: „Andrei Bely and the Argonauts’ Mythmaking“, in: Paperno/Grossman: Creating Life, 83–121. – Pavel Florenskij, der spätere Priester und Universalgelehrte, der bei Belyjs Vater Nikolaj Bugaev in Moskau Mathematik studierte, teilte Belyj 1904 in einem Brief seine Vision von einer „светл[ая] скатерть“, einem „Licht-Tuch“, mit, das aus dem dunklen Meer aufsteige und die Menschheit in sich einwickle. Brief Pavel Florenskijs an Andrej Belyj vom 18. Juli 1904, in: Kontekst. Literaturno-teoretičeskie issledovanija (1991), 31–34, hier 32. 55 Solov’ev: „Tri svidajija“, 128.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

93

erfahrbaren Wirklichkeit werden.56 In Solov’evs Lyrik ist die Inkarnation von Licht, die er selbst von der Kunst einforderte, ausgeblieben. Belyj arbeitet nach dem Tod des Philosophen an dessen Postulat weiter und verteidigt es gegen „falsche“ Einlösungen (wie jene Bal’monts). Diese Arbeit am Licht ist eine schöpferische, deshalb kann er die neuen Symbolisten auch mit Bienen vergleichen: „Дети Солнца сквозь бездонную тьму хотят ринуться к Солнцу. Как бархатные пчелы, что собирают медовое золото, они берегут в сердцах запасы солнечного блеска.“57 „Die Kinder der Sonne wollen sich durch die bodenlose Dunkelheit zur Sonne hochschwingen. Wie samtene Bienen, die Honiggold sammeln, speichern sie in ihren Herzen Vorräte sonnenhaften Glanzes.“ Die personifizierte Sophia tritt bei Belyj im Vergleich zu Solov’ev stark zurück. Das wird bezeichnenderweise besonders deutlich in einem Gedicht an Aleksandr Blok.58 Der Held ist hier ein weit über die Erde erhobener „erleuchteter Bräutigam“: Из-за дальних вершин показался жених озаренный. И стоял он один, высоко над землей вознесенный.59 Aus fernen Höhen erschien ein erleuchteter Bräutigam. Und er stand alleine, hoch über die Erde erhaben.

Der Erleuchtete ist frei und stark wie in Solov’evs System der „lichtspendende“ Logos. Seiner Energiegeladenheit wird alles untergeordnet, sogar die christliche Bildlichkeit aus der Apokalypse des Johannes. Am Schluss des Gedichts nämlich steht der Erleuchtete, „основатель и бог жизни новой“  / „Gründer und Gott eines neuen Lebens“, als „венчанный телец“ da, als der mit einer Sonnenscheibe 56 Im Zusammenhang dieser dynamischen Licht-Aufnahme könnten die Begriffe aufschlussreich sein, mit denen Gilles Deleuze das Element des Wassers in Filmen von Jean Renoir und anderen französischen Regisseuren beschreibt. Deleuze bezeichnet strömendes Wasser als Medium („milieu“), das für die Rhythmisierung des Filmbildes und -klanges von besonderer Bedeutung sei: „[…] l’eau est le milieu par excellence où l’on peut extraire le mouvement de la chose mue, ou la mobilité du mouvement lui-même : d’où l’importance optique et sonore de l’eau dans le recherches rythmiques.“ Deleuze, Gilles: Cinéma 1. L’image-mouvement. Paris 1983, 112/113. 57 Belyj: „Svetovaja skazka“ [1904], in: ders.: Simfonii, 467–473, hier 467. 58 Vgl. Thomson, Boris: „Blok and Belyi: Divergent Readings of the Poetry of Vladimir Solov’ev“, in: McMillin, Arnold (Hrsg.): Symbolism and After. Essays on Russian Poetry in Honour of Georgette Donchin. Bristol 1992, 39–60, hier 51: „For Belyi the figure of Sophia tends to be subsumed in that of Christ. For Blok the figure of Christ is secondary to that of Sophia.“ 59 Belyj, „Bloku, 2“, in: ders.: Stichotvorenija i poėmy, I, 168.

94

Licht als Fluchtpunkt

gekrönte Apisstier aus der altägyptischen Mythologie.60 Während Solov’ev aus der Verklärung einen ästhetischen Grundbegriff gemacht hatte, ohne sie in der eigenen Lyrik zur Entfaltung bringen zu können, verwendet Belyj die Überlegungen zum „преображение светом“ / zur „Verwandlung durch Licht“ als Material für eine maximale energetische Aufladung der Kunst und des Künstlers. In dem an Blok gerichteten Gedicht wird diese Energie total, so dass der implizierte weibliche Teil (am Anfang eine Braut, am Schluss eine Kuh) vollends implizit wird. Das Anlegen eines Speichers von ungegenständlicher „солнечность“ muss so lange fortgeführt werden, bis irgendwann die Grenze zu einem „neuen Leben“ überschritten ist.61 So tritt die evidente Sonnenhaftigkeit an die Stelle des kraftlos gewordenen und von Zweifeln zernagten Gottesglaubens. Es geht hier also, mit Evgenij Trubeckojs Ausdruck, nicht um ein „Suchen“, sondern um das gezielte „Erfinden“ von literarischem Taborlicht. Das Gedicht „Vo chrame“ („Im Gotteshaus“, 1903) setzt mit einer düsteren Szenerie im Innern einer Kirche ein, der Held versucht vor den Ikonen zu den alten orthodoxen Heiligen zu beten. Alles wird anders, als die Sonne durch ein Fenster in die Kirche bricht. Schlagartig fallen die Strahlen über die erstarrte Tradition her und lassen sie aufleuchten: Забил поток лучей расплавленных в окно… Все просветилось вдруг, все солнцем зажжено: И «Свете тихий» с клироса воззвали, и лики золотом пунцовым заблистали. Восторгом солнечным зажженный иерей, повитый ладаном, выходит из дверей.62 Ein Strom von vergossenen Strahlen schlug durch das Fenster… Alles war plötzlich erleuchtet, alles von der Sonne angefacht: Und „Svete tichij“ wurde vom Kliros her gerufen, und die Antlitze erstrahlten in purpurnem Gold. Der in sonnenhafter Begeisterung entbrannte Priester, von Weihrauch umwickelt, tritt aus dem Tor.

Die Antlitze der Heiligen auf den Ikonen werden neu verklärt, der Priester wird mit neuem Enthusiasmus erfüllt. Das „stille“ Licht der orthodoxen Demut (des Hymnus Svete tichij) wird hier, zunächst fast unmerklich, von dem neuen, ‚einfal60 Ebd., 169. Zum Apisstier vgl. Bonnet, Hans: Reallexikon der ägyptischen Religionsgeschichte. 3., unv. Auflage. Berlin 2000, 48, 50. 61 Nach Hansen-Löve nimmt Belyj mit seiner Energetik die Ungegenständlichkeit Kandinskijs und Malevičs vorweg. Der Russische Symbolismus, II, 333. 62 Belyj: Stichotvorenija i poėmy, I, 94 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

95

lenden‘ Licht abgelöst.63 In Gedichten Belyjs aus demselben Jahr ist jedoch bereits die (Selbst-)Parodierung eines solchen grenzenlosen Sonnenkults angelegt. Ein drastisches Beispiel dafür ist „Na gorach“ („Auf den Bergen“, 1903). Wie in dem Gedicht vom erleuchteten Bräutigam befindet sich der Held in schwindelerregenden Höhen allein über der Erde, wird dort aber von einer zweiten männlichen Gestalt eingeholt, einem buckligen Greis. Während dieser Greis närrisch tanzt und in Zungen redet, wirft er eine Ananas in den Himmel, die in hohem Bogen tropfend ins Tal fällt. Die Menschen auf der Erde halten die fliegende Ananas für die untergehende Sonne, ihren Saft für goldene Lichtfontänen: „«Это – диск пламезарного солнца»…“64 „‚Das ist die Scheibe der flammenhellen Sonne…‘“ Am Schluss überschüttet der Sprecher den Greis mit Strömen von Wein; über den Bergen entsteht ein Abendrot. In der Literatur zu „Na gorach“ besteht keine Einigkeit über den Sinn der Ananas.65 Im Zusammenhang mit der „Sonnenhaftigkeit“ und dem energetischen Logos wird indes klar, dass es sich auch hier um einen Sonnenspeicher handelt, um eine Verbindung aus Licht und Flüssigkeit. Zum anderen verweist das Gedicht mit der karnevalesken Inszenierung kosmischer Ereignisse auf den ambivalenten Abgrund, den Solov’ev der zweiten Symbolistengeneration zusammen mit einer erhitzten Endzeiterwartung vererbt hatte. Wie Hansen-Löve schreibt, reicht der Philosoph, Dichter und Mystiker den inkonsistenten Logos an seine Nachfolger weiter wie eine „Zeitbombe“.66 Belyj demaskiert nun seinen Sonnenkult als Spiel mit einer Ananas und wendet die von ihm geübte Kritik an Bal’mont so gegen sein eigenes Glaubensbekenntnis. Eines der Hauptanliegen Andrej Belyjs ist es auch in seinen zahlreichen theoretischen Essays, den Zusammenhang von Fleischwerdung, Verklärung und symbolistischer Kunst plausibel zu machen. So schreibt er: „То, что утверждается Символом, есть единство Слова и Плоти.“67 „Durch das Symbol wird die Einheit von Wort und Fleisch behauptet.“ Was Solov’ev in Smysl ljubvi vor allem in Bezug auf die Sophia ausgeführt hatte, entwickelt Belyj in seinem frühen Aufsatz „Svjaščennye cveta“ („Geheiligte Farben“, 1903) in Bezug auf Christus. Viel expliziter als Solov’ev identifiziert er hier sein „Ideal“ mit der zweiten göttlichen Hypostase. So wie Gott Fleisch geworden ist in seinem Sohn, so solle Christus im theurgischen Künstler ein zweites Mal Fleisch annehmen: 63 Zur Überbietung des ‚ausfließenden‘ Lichts (Neuplatonismus) durch ein ‚stoßendes‘ Licht bei Augustinus vgl. Blumenberg: „Licht als Metapher der Wahrheit“, 158/159. 64 Belyj: Stichotvorenija i poėmy, I, 130. 65 Einen Überblick über verschiedene Interpretationen gibt Abašev, Vladimir: „Ananas na russkoj počve: O stichotvorenii Andreja Belogo ‚Na gorach‘“, in: Russian Literature LI (2002), 121–143. 66 Hansen-Löve: Der Russische Symbolismus, II, 339. 67 Belyj: „Ėmblematika smysla“, [1910], in: ders.: Simvolizm kak miroponimanie, 25–89, hier 53.

96

Licht als Fluchtpunkt Христос – воплощенная вечность – наш полновременный день. Приканчивается символизм, начинается воплощение. Мы должны воплощать Христа, как и Христос воплотился. Второй реальностью реальна наша любовь к Христу. «Истинно, истинно говорю вам: Я есмь хлеб Жизни… Ядущий Мою Плоть и поющий Мою Кровь во Мне пребывает и Я в нем.» Это и есть воплощение, теургия, так что мы, дети, имеем надежду стать такими, как он. И как в преображении любовью постигаем Его, так во всякую преображенную любовь воплощается Он.68 Christus – die fleischgewordene Ewigkeit – ist unser Tag der erfüllten Zeit. Der Symbolismus kommt zu einem Ende, die Fleischwerdung beginnt. Wir müssen Christus fleischwerden lassen, so wie auch Christus Fleisch annahm. Wie eine zweite Realität ist unsere Liebe zu Christus real. „Amen, amen, ich sage euch: Ich bin das Brot des Lebens… Wer Meinen Leib isst und Mein Blut trinkt, der bleibt in Mir und Ich in ihm.“ Genau das ist Fleischwerdung, Theurgie, so dass wir, die Kinder, Hoffnung haben können, so zu werden wie er. Und wie wir uns Ihm in der Verwandlung durch Liebe annähern, so nimmt Er in jeder verklärten Liebe Fleisch an.

Ungeachtet der hochtheologischen Terminologie entwickelt Belyj hier nur metaphorisch eine Lehre der Nachahmung Christi. Wenn es in diesem „gläubigen“ Text auch heißt, „[н]ужно вступить во мрак, чтобы выйти из него“69 / „[m]an muss in die Finsternis eintreten, um aus ihr herauszutreten“, so geht es dabei weniger um eine kenotische Idee, als darum, beim Durchschreiten des theurgischen Programms keine Stufe auszulassen.70 Zunächst lässt der Symbolist das Wort „Fleisch werden“ in seiner Kunst, er organisiert mit Hilfe poetischer Techniken und mythologischer Bilder das chaotische Leben und gibt ihm so eine Struktur (diesen Prozess hat Solov’ev in „Krasota v prirode“ als Beseelung der Natur beschrieben). Wenn er gewissenhaft und uneigennützig an der Fixierung von Bildern arbeitet, so tritt er ins nächste Stadium des Symbolismus ein, in dem das erschaffene Kunstwerk auf seinen Künstler zurückzuwirken beginnt.71 Dies hat man sich so vorzustellen: Schöpfertum bedeutet nichts anderes als Lichtsammeln, während Künstlersein in eschatologischer Perspektive meint, sich von der angesammelten „Sonnenhaftigkeit“ vollständig durchdringen zu lassen. So soll der Künstler durch die Religionskunst von einem natürlichen Wesen und trübsinnigen Intelligenzija-Angehörigen zu einem „Kind der Sonne“ werden. Damit wird der Aspekt der Rückverwandlung der Materie aus Solov’evs „Obščij smysl iskusstva“ auf die Person des Künstlers übertragen.72 Im Lichte von Belyjs Essays stellt sich die Frage nach der sophiologischen Prägung dieses spekulativen Kunstdenkens neu. In „Apokalipsis v russkoj poėzii“ („Die Apo68 Ders.: „Svjaščennye cveta“ [1903], in: ebd., 201–209, hier 208 (Hervorhebung im Orig.). 69 Ebd., 202. 70 Vgl. Cassedy, Steven: „Bely the Thinker“, in: Malmstad, John (Hrsg.): Andrey Bely. Spirit of Symbolism. Ithaca/London 1987, 313–335, hier 320. 71 Belyj: „Smysl iskusstva“ [1904], in: ders.: Simvolizm kak miroponimanie, 106–130, hier 122. Eine systematisierte Fassung der aufsteigenden Stufenfolge im Symbolismus gibt Belyj in „Ėmblematika smysla“, 79. 72 Ders.: „Simvolizm kak miroponimanie“ [1904], in: ebd., 244–254, hier 253.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

97

kalypse in der russischen Poesie“, 1905) betrachtet Belyj die ganze russische Poesie unter einem „weiblichen“ Gesichtspunkt. Das ist vor dem Hintergrund seiner Texte aus den Jahren 1903/1904, in denen der Logos die Sophia weitgehend absorbiert, nicht selbstverständlich. Die Rede ist allerdings nicht von einer passiven Weiblichkeit, sondern von der apokalyptischen „Жена, облеченная в Солнце“  / dem „Weib im Sonnenkleid“ aus Solov’evs Petrarca-Übertragungen.73 Durch die Anrufung des Sonnenweibs habe Solov’ev der russischen Poesie ihre endgültige Bestimmung gegeben. Diese bestehe darin, die „цельность“ / „Ganzheit“ Puškins und den „демонизм“ / „Dämonismus“ Lermontovs miteinander zu versöhnen.74 Das Sonnenweib steige herab und helfe, die Erde mit dem Himmel zu einem „Neuen Jerusalem umzubauen“.75 Erste Anzeichen davon sieht Belyj in Solov’evs Poem „Tri svidanija“. Bemerkenswert an dem Essay ist, dass in der Figur der „Жена, облеченная в Солнце“ die Sonne – üblicherweise männlich konzipiert76 – zu einem weiblichen Element wird. Dies belegt die Formulierung: „муза Русской Поэзии, оказавшаяся Солнцем“ / „die Muse der Russischen Poesie, die als Sonne erschienen ist“.77 So wie durch das Postulat der Inkarnation aus der Sonne die weibliche „Sonnenhaftigkeit“ wird, so nimmt das Lichtkleid durch die Verbindung mit dem schönen Körper der Frau weibliche Qualität an. Ab 1905 verkehrt sich der apokalyptische Sonnenkult Belyjs in einen bedrückenden Zustand der enttäuschten Erwartungen. Die geplante Verwandlung der Künstlerperson durch Kurzschluss mit seiner Licht-Kunst ist ausgeblieben. Stattdessen verkündet er 1907 im Gedicht „Druz’jam“ / „Meinen Freunden“, dass er, als Kind der Sonne, gestorben sei. Statt sich von der Sonne durchleuchten zu lassen und ihr gleich zu werden, sei er von ihren „Pfeilen“ erlegt worden: Золотому блеску верил, А умер от солнечных стрел. Думой века измерил, А жизнь прожить не сумел.78 73 „Iz Petrarki“ (1883), vgl. dazu Davidson, Pamela: The Poetic Imagination of Vyacheslav Ivanov. A Russian Symbolist’s Perception of Dante. Cambridge/New York/New Rochelle/Melbourne/ Sydney 1989, 67–69, und Cioran: The Apocalyptic Symbolism of Andrej Belyj, 92–111. 74 Belyj: „Apokalipsis v russkoj poėzii“, in: ders.: Simvolizm kak miroponimanie, 408–417, hier 411, 414, 416. 75 Ebd., 417. 76 Charles Baudelaire bezeichnet die Sonne im Gedicht „Le Soleil“ aus den Fleurs du Mal als „père nourricier“, als „nährenden Vater“. Baudelaire, Charles: Œuvres complètes. I. Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois. Paris 1975, 83. 77 Belyj: „Apokalipsis v russkoj poėzii“, 416. Vgl. zu Sonne und Weiblichkeit ausführlich das Kapitel „Mat’, žena, sestra, doč’? Ob’’ekt vlečenij Andreja Belogo“ in Spivak, Monika: Andrej Belyj – Mistik i sovetskij pisatel’. Moskva 2006, 290–316. 78 Belyj: Stichotvorenija i poėmy, I, 264. Das Gedicht ist vor allem dadurch bekannt, dass Belyj 1934 tatsächlich an den Folgen eines Sonnenstichs gestorben ist. Vgl. dazu Spivak: Andrej Belyj – Mistik i sovetskij pisatel’, 454–471. In den Nachrufen von Marina Cvetaeva, Vladislav

98

Licht als Fluchtpunkt Dem goldenen Glanze glaubte ich, Und starb von Sonnenpfeilen. Sinnend vermaß ich die Zeiten, Und vermochte nicht mein Leben zu leben.

In gewisser Weise kehrt hier, existenziell gewendet, die Lichtscheu der älteren Symbolisten wieder. Ausgerechnet die Grundoperation des „Lichtsammelns“, die Verwandlung von verstreutem Sonnenlicht in geronnenes Gold hat nicht funktioniert. Mit der in der Einleitung verwendeten fotografischen Metapher könnte man dieses Scheitern so formulieren: Im entworfenen ‚Lichtbild‘ ist die Rolle des Negativs, des Gegengewichts zum Bild unterschätzt worden. Es ist nicht der Weg durch die Abdunkelung, durch die „Abwesenheit“ (Baudrillard) gegangen worden. Oder, um dies wiederum in die Sprache von Solov’evs Sophiologie zurückzuübersetzen: Belyj hat sich auf seine poetische Christologie fixiert und dabei die ‚weibliche‘ Erdung vergessen. Der jüngere Symbolist Belyj unterscheidet sich von einem älteren Symbolisten wie Minskij aber doch dadurch, dass er sich der großen Enttäuschung nicht lustvoll hinzugeben bereit ist. Nachdem das Subjekt seines Frühwerks „gestorben“ ist, soll ein wahreres, lebendigeres Ich zum Vorschein kommen. Für dieses ist die Legierung von Gold und Azur nicht verloren, sie ist lediglich noch nicht realisiert. An der eschatologischen Ausrichtung der Kunst ändert sich insofern nichts:79 Улыбаюсь я, распятый – Тьмой распятый в блеске дня. […] Гуще тени. Ярче звуки. И потоки тьмы. […] Плачу. Мне жалко Света дневного.80 Chodasevič u.a. interessiert vor allem das Prophetische des Gedichts, die Retrospektive des Lichtsymbolismus spielt kaum eine Rolle. 79 Vgl. die aus der Vorbemerkung zum Gedichtband Urna: „В «Урне» я собираю свой собственный пепел, чтобы он не заслонял света моему живому «я». Мертвое «я» заключаю в «Урну», и другое, живое «я» пробуждается во мне к истинному. Еще «Золото в лазури» далеко от меня… в будущем. Закатная лазурь запятнана прахом и дымом: и только ночная синева омывает росами прах… К утру, быть может, лазурь очистится…“ „In der ‚Urne‘ sammle ich meine eigene Asche, damit sie meinem ‚Ich‘ nicht das Licht versperre. Mein totes ‚Ich‘ schließe ich ein in die ‚Urne‘, und das andere, lebendige ‚Ich‘ erwacht in mir und wird zum wahrhaftigen. ‚Gold im Azur‘ ist nach wie vor weit von mir entfernt… in der Zukunft. Das Azur des Sonnenuntergangs ist befleckt von Staub und Rauch: und nur ein nächtliches Blau wäscht mit Tauströmen den Staub weg… Gegen morgen, wer weiß, wird das Azur gereingt sein…“ Belyj: „Vmesto predislovija“ [1909], in: ders.: Stichotvorenija i poėmy, I, 297. 80 Ders.: „Uspokoenie“ [„Beruhigung“, 1905], aus Pepel, in: ebd., 292.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

99

Ich lächle, gekreuzigt – Von Dunkelheit gekreuzigt im Glanz des Tages. […] Die Schatten werden dichter. Greller die Klänge. Ströme von Dunkel. […] Ich weine. Leid tut es mir Um das Licht des Tages.

Anstelle der Ströme von Licht fließen Ströme von Dunkelheit, und es ist nicht mehr von „argonautischem“, „wachsendem“ Höherstreben die Rede, sondern von „Kreuzigung“, also Zerlegung durch die Finsternis. Nichtsdestoweniger hält Belyj am Grundsatz seines Frühwerks fest: „Мы знаем: свет есть.“81 „Wir wissen: das Licht/die Welt existiert.“ Dem Symbolisten „tut es leid“, dass er nur noch Nacht um sich erblickt, obwohl er weiß, dass es Tag ist. Er bleibt in der Krise und nach ihrer ungeschönten Diagnostizierung Okularzentrist, genauer, er versucht es zu bleiben. Medial gesehen war eine Möglichkeit zur Überwindung des gescheiterten poetischen Lichtkults die noch junge Filmkunst. 1907 – mitten in der Krise des Symbolismus nach der gescheiterten Revolution von 1905 – schreibt Belyj einen begeisterten Text über den Kinobesuch. Er preist das Kino als Ort einer „neuen sobornost’“82; einsame, enttäuschte Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten der Gesellschaft hätten beim Kinobesuch ein gemeinsames, reales Kunsterlebnis ohne den falschen Glanz der Theaterwelt. Das Kino reinige die Menschen und erleuchte sie.83 Es bringe ihnen den Glauben ans Licht zurück, den sie – nicht weniger als Belyj selbst – in der Moderne verloren hatten: „Быть может, одинокие, разочарованные люди только потому и верят в Cвет, вопреки всему, что они ходят в «Cинематограф». Синематограф возвращает им любовь к жизни.“84 / „Womöglich glauben die einsamen, enttäuschten Menschen nur deshalb ans Licht, allen Widerständen zum Trotz, weil sie in den ‚Cinematographen‘ gehen. Der Cinematograph bringt ihnen die Liebe zum Leben zurück.“ Man kann das so verstehen: Das Kino bringt den Glauben ans Licht zurück, weil es die Illusion (Projektion) mit einem authentischen Gemeinschaftserlebnis verbindet, wie es in der ‚atomisierten‘ Gesellschaft sonst nicht mehr vorkommt. Man kann aber auch weiter gehen und 81 Ders.: „Ibsen i Dostoevskij“ [1904], in: ders.: Simvolizm kak miroponimanie, 195–200, hier 200. 82 Drubek-Meyer, Natascha: „‚Himmlische Zeichen‘: Kino-Symbolismus und symbolistisches Kino (Andrej Belyj und Evgenij Bauėr)“, in: Grübel, Rainer/Schmid, Wolf (Hrsg.): Wortkunst, Erzählkunst, Bildkunst: Festschrift für Aage A. Hansen-Löve. München 2008, 153–175, hier 158. 83 „И вот в человеке совершается мистерия очищения, просветления.“ Belyj, Andrej: „Sinematograf “, in: Vesy 7 (1907), 50–53, hier 50/51. 84 Ebd., 50.

100

Licht als Fluchtpunkt

im Sinne von Gilles Deleuzes Filmtheorie diesen „Glauben“ von der Transzendenz ablösen. Übersetzt man nämlich „свет“ hier statt als Licht mit Welt, so ergibt sich folgende Lesart: Das Kino gibt den Menschen zuallererst den Glauben an die Wirklichkeit, an die Existenz einer Wirklichkeit überhaupt zurück, zu der sie jede Verbindung verloren haben. Das Licht (des Kinos) wäre so nicht mehr Medium einer bestimmten Ästhetik, sondern letztlich der „quoddité unique“ ( Jankélévitch), wie ich sie im Einleitungskapitel für die metaphysische Poetik Pasternaks entwickelt habe. Deleuze schreibt: Le fait moderne, c’est que nous ne croyons plus en ce monde. Nous ne croyons plus aux événements qui nous arrivent, l’amour, la mort, comme s’ils ne nous concernaient qu’à moitié. […] C’est le lien de l’homme et du monde qui est rompu. Dès lors, c’est ce lien qui doit devenir objet de croyance : il est l’impossible qui ne peut pas être redonné que dans une foi. La croyance ne s’adresse plus à un monde autre, ou transformé. L’homme est dans le monde comme dans une situation optique et sonore pure. La réaction dont l’homme est dépossédé ne peut être remplacée que par la croyance. Seule la croyance au monde peut relier l’homme à ce qu’il voit et entend. Il faut que le cinéma filme, non pas le monde, mais la croyance à ce monde, notre seul lien. On s’est souvient interrogé sur la nature de l’illusion cinématographique. Nous redonner croyance au monde, tel est le pouvoir du cinéma moderne […].85

Diesen Verlust der Welt und das Entgleiten der „Ereignisse, der Liebe, des Todes“ – mit Jankélévitch: der Gelegenheiten des Lebens – hatten die frühen Symbolisten mit dem Begriff der „призрачность“ bezeichnet. In seinen ersten Gedichten setzte Belyj der „призрачность“ der Welt den optimistischen Grundsatz entgegen: „Мы знаем: свет есть“, obwohl er daran von Anfang an seine Zweifel gehegt hatte. Deleuzes Gedanke einer „atheistischen Religiosität“ des Kinos kommt, wie es scheint, diesem Problembewusstsein sehr nahe: Ob man свет nun als Licht oder als Welt übersetzt – das Streben nach göttlichem Licht kann kein Selbstzweck sein. Es wird zu einem Umweg, um den Zuschauern zu dem Glauben zu verhelfen, dass es überhaupt eine Realität und einen Kontakt mit ihr gibt. Deleuzes Satz „Notre croyance ne peut avoir d’autre objet que « la chair »“86 ist so gesehen eine andere Formel für Solov’evs Postulat der „Fleischwerdung des Ideals“ oder, mit Belyjs Akzentuierung, des „Sammelns von Licht“. Die Lektüre einiger Texte Andrej Belyjs aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat vor allem ein Problem aufgeworfen: die überbordende Sehnsucht nach ‚mehr Realität‘. Die symbolistische Poesie in ihrer anti-dekadenten Spielart tritt mit dem durchaus messianischen Anspruch auf, die Energie zu bündeln, die benötigt wird, um eine „neue Welt“ zu schaffen. Mit dem Licht geschieht dabei eine bemerkenswerte Transformation: Es wird vom Fixationspunkt allen Strebens schlechthin zum Symptom der Krise. 85 Deleuze, Gilles: Cinéma 2. L’image-temps. Paris 1985, 223. 86 Ebd., 225.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

101

Aleksandr Bloks sophiologisches Licht und sein Verlöschen Bei Aleksandr Blok, einige Jahre lang Belyjs Weggefährte in der „Erwartung einer Verwandlung durch Licht“, stellt sich das Inkarnationsproblem vielleicht noch grundsätzlicher. In seinem Essay „Kraski i slova“ („Farben und Worte“, 1905) fragt Blok, wie Kunst, d.h. Malerei und Literatur, überhaupt etwas „sagen“ könne, und kommt zu einer bemerkenswerten Diagnose: „Живопись не боится слов. Она говорит: я – сама природа. А писатель говорит кисло и вяло: я должен преобразить мертвую материю.“87 / „Die Malerei fürchtet sich nicht vor Worten. Sie sagt: Ich bin die Natur selbst. Aber der Schriftsteller sagt sauer und schlampig: Ich muss die tote Materie verklären.“ Die Literatur hat demnach ein grundsätzliches Repräsentationsproblem. Sie kann ihre Wahrheit nicht unmittelbar zeigen, wie die Malerei, sondern ist gezwungen, über sie zu „reden“. Dass Blok von Anfang an alle seine Hoffnung in die Sophia – statt wie Belyj in den Logos – legt, kann man genau in diesem Zusammenhang sehen. Die bei Solov’ev angelegte Schwäche des Logos dramatisiert sich bei Blok dahingehend, dass die Sophia in Gestalt der „Wunderschönen Dame“ zur einzigen und ausschließlichen Lichtquelle wird. Die reine Passivität, die im System von Smysl ljubvi noch charakteristisch war für die Sophia, verschiebt sich in Bloks frühen Gedichten vollends auf die Seite des lyrischen Subjekts. Der Held in den Stichi o Prekrasnoj Dame (Verse von der Wunderschönen Dame) tut nichts anderes, als auf seine Geliebte und ihr Licht zu warten: „И молча жду, – тоскуя и любя.“88 „Und ich warte auf dich – sehnsuchtsvoll und liebend.“ Die Sophia ist hier nicht wie in der Religionsphilosophie eine mediale Instanz zwischen Geist und Materie. Sie wird zur bedingungslosen Herrin, während umgekehrt der Liebende bereit ist, sich zum reinen Medium ihrer Ankunft auf Erden zu degradieren.89 87 Blok, Aleksandr: „Kraski i slova“, in: ders.: Sočinenija v dvuch tomach. Tom II. Očerki, stat’i i reči, iz dnevnikov i zapisnych knižek, pis’ma. Moskva 1955, 7–12, hier 11. 88 Ders.: „Predčuvstvuju Tebja. Goda prochodjat mimo…“ [„Ich ahne Dich voraus. Die Jahre gehen vorüber…“, 1900], in: ders.: Sočinenija v dvuch tomach, I, 37. 89 „[…] надо воплощать Красоту, пока не воплотится Бог.“ „[…] man muss die Schönheit fleischwerden lassen, solange Gott noch nicht Fleisch geworden ist.“ Zit. nach Igoševa, Tat’jana: „Religioznoe preobraženie v kontekste ‚Stichov o Prekrasnoj Dame‘ A.  Bloka“, in: Izvestija Akademii nauk. Serija literatury i jazyka 63, 4 (2004), 54–61, hier 56. Vgl. auch den Schluss von Žirmunskijs „Preodolevšie simvolizm“, in dem er überraschenderweise Blok auf Grund der ‚inkarnatorischen‘ Dynamik dezidiert über seine Helden, die ‚diesseitsbezogenen‘ Akmeisten (die jungen Achmatova, Mandel’štam und Gumilev), stellt: „[…] selbst wenn Aleksandr Blok die Kunst des expressiven Wortes in weniger vollkommener Form als die jüngeren Akmeisten beherrscht hätte, wäre er doch immer noch der unermesslich viel bedeutendere Dichter als diese, denn er vermittelt eine Vorahnung noch nicht ganz inkarnierter und nicht-inkarnierbarer Welten von enormer Anspannung und unermesslicher Ausdehnung.“ Žirmunskij: „Preodolevšie simvolizm“, 403/404.

102

Licht als Fluchtpunkt

Doch die Fixierung der Sophia in ihrer himmlischen Schönheit gelingt jeweils nur für kurze Zeitspannen. Sobald sie sich nach einer Begegnung wieder zurückzieht, verschwindet mit ihr auch die Lichtquelle und die erfüllende Sehnsucht. Der Wunsch, das Sophienbild der Schönheit Gestalt annehmen zu lassen und es in das irdische Leben zu integrieren, führt zu dem, was man das Glaubensproblem in Bloks früher Lyrik nennen könnte: Wann ist eine konkrete Frau – man darf an Bloks spätere Frau Ljubov’ Mendeleeva denken – die wahrhaftige Verkörperung der Sophia? Und umgekehrt: Welche Idealvorstellungen von der Wunderschönen Dame sind mehr als Phantasmen, sind real vorfindbar? Diese doppelte Frage stellt sich seit Bloks ersten Gedichten, und es zeigt sich bald, dass sie schwerlich aufgelöst werden kann. So macht es etwa das Sonett „Ne ty l’ v moich mečtach…“ („Gingst nicht du in meinen Träumen…“, 1901) systematisch unmöglich zu entscheiden, an welcher Stelle das Ich von einer realen Begegnung auf Idealvorstellungen zurückschließt und wo es Traumbilder für die Wirklichkeit hält. Das deutlich erahnbare Unbehagen an dieser Willkür der Liebesannäherung wird dadurch überspielt und aufgeschoben, dass das Changieren zwischen Traumvisionen und realen Blicken beim Flanieren zum eigentlichen poetischen Prinzip erhoben wird: Не ты ль в моих мечтах, певучая, прошла Над берегом Невы и за чертой столицы? Не ты ли тайный страх сердечный совлекла С отвагою мужей и с нежностью девицы? Ты песнью без конца растаяла в снегах И раннюю весну созвучно повторила. Ты шла звездою мне, но шла в дневных лучах И камни площадей и улиц освятила. Тебя пою, о, да! Но просиял твой свет И вдруг исчез – в далекие туманы. Я направляю взор в таинственные страны,– Тебя не вижу я, и долго бога нет. Но верю, ты взойдешь, и вспыхнет сумрак алый, Смыкая тайный круг, в движеньи запоздалый.90 Gingst nicht du in meinen Träumen, singend, vorüber An dem Ufer der Neva und jenseits der Stadt? Nahmst nicht du geheime Angst des Herzens hinweg Mit Männermut und Mädchenzartheit?

90 Blok: Sočinenija v dvuch tomach, I, 41.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

103

Ein Lied, schmolzest du ohne Ende im Schnee, Und brachtest den Anfang des Frühlings zurück. Du kamst, ein Stern, auf mich zu, doch in Strahlen des Tages, Und leuchtetest den Steinen der Plätze und Straßen. Dich besinge ich, o ja! Doch aufschien dein Licht Und ist plötzlich verschwunden – in ferne Nebel. Ich richte den Blick in geheimnisvolle Länder, – Ich sehe dich nicht, und lange Zeit ist Gott nicht mehr. Doch glaube ich, du wirst aufgehen, und rotes Dunkel birst, Schließend den geheimnisvollen Kreis, der in Bewegung erstarrt.

Die Dame lässt ihr Licht aufstrahlen und zieht es plötzlich wieder zurück, und sobald ihr Glänzen und damit die Evidenz einer höheren Schönheit erlischt, verschwindet auch Gott aus dem Leben des Liebenden. Die Substitution der christlichen Heilserwartung durch die Sehnsucht nach der Sophia bekommt hier ihren höchsten Ausdruck. Der Glaube, den das Ich dennoch immer wieder beteuert, ist deshalb auch kein Glaube an Gott, sondern ein Glaube daran, dass die „Schönheit die Welt erretten“ wird. Das wird umso augenfälliger, wenn der Sehnsüchtige Kirchen betritt, um vor einer Gottesmutterikone stehend die Wunderschöne Dame zu erwarten. Das Flackern der Ikonenlampen ist zugleich jenes Flimmern zwischen abgeleiteter und vorgefundener Schönheit. Während die geliebte Dame nicht erscheint, wächst im Liebenden der Glaube daran, dass sie in der Gottesmutterikone, vor der er steht und die er „anbetet“, bereits präsent sei und ihn anschaue.91 Anders als in Belyjs gleichzeitig entstehenden Gedichten über das Streben nach der Sonne und das Ansammeln von Licht wird in Bloks Erwartung das Zwielicht zunächst sogar bejaht. Dieser Zustand gleicht einem Schlaf/Traum (сон). Erst die ersehnte Begegnung kann bewirken, dass der Liebende zum Leben erwacht.92 Am Ende des Zyklus Stichi o Prekrasnoj Dame beginnt sich das zuvor so unbestimmte Ich im Bild der Sophia zu spiegeln, die Sehnsucht nach der reinen und endgültigen Liebesbegegnung verwandelt sich in Angst und Schrecken vor der Wirklichkeit. Zuletzt wirft die Sophia keinen Schleier himmlischer Schönheit mehr über die Phänomene des Alltags, sondern wird zum überall lauernden „Abdruck“ eines intimen Erschreckens vor der Wirklichkeit:

91 „Vchožu ja v temnye chramy…“ [„Geh’ ich in dunkle Gotteshäuser…“, 1902], in: ebd., 73. In der Anrede „Милая – Ты“ / „Liebste – Du“ ist es vollends unmöglich auszumachen, in welcher Richtung die Gleichsetzung vorgenommen wird: von der Ikone zur Geliebten oder von der Geliebten zur Ikone. 92 Ders.: „Budet den’, slovno mig vesel’ja…“ [„Der Tag wird wie ein Augenblick der Fröhlichkeit…“, 1902], in: ebd., 73/74.

104

Licht als Fluchtpunkt Мне страшно с Тобой встречаться. Страшнее Тебя не встречать. Я стал всему удивляться, На всем уловил печать.93 Ich erschrecke, Dich zu treffen. Schrecklicher als Dich zu treffen, niemand. Über alles fing ich an zu staunen, Auf allem zeigte sich ein Abdruck.

Das Gefühl der Weiblichkeit der Welt, das Solov’evs Subjekt in der Wüste vor Kairo durchströmte, steigert sich zu einer paranoiden Sensibilität. Die Verfinsterungsdynamik von Bloks Lyrik kann an der Bewegung des anthologischen Gedichts „Devuška pela v cerkovnom chore…“ („Ein Mädchen sang im Kirchenchor…“, 1905) dargestellt werden. Das Dunkel füllt hier zwar noch nicht alles aus, aber der Lichtstrahl verspricht keine reinigende Verwandlung mehr. Die Sophienfigur – das angebetete „Du“ aus den Stichi o Prekrasnoj Dame – zieht sich in einen Chor zurück und steht mit dem Sprecher des Gedichts weder aktuell noch potentiell in Kontakt. Es gibt keine Annäherung mehr. Festgehalten wird, sehr kontemplativ, der flüchtige Vorgang, wie sich aus dem Kirchenchor die Stimme einer einzelnen Sängerin hervorhebt und wie gleichzeitig ein Lichtstrahl durch ein Fenster auf sie fällt: Девушка пела в церковном хоре О всех усталых в чужом краю, О всех кораблях, ушедших в море, О всех, забывших радость свою. Так пел ее голос, летящий в купол, И луч сиял на белом плече, И каждый из мрака смотрел и слушал, Как белое платье пело в луче.94 Im Kirchenchor war ein Mädchen zu hören, Es sang von den Müden in fernem Land, Es sang von den Schiffen auf hohen Meeren, Von allen, zu denen kein Glück mehr fand. Das Lied schien sich hoch in die Kuppel zu schwingen, Hell war die weiße Schulter bestrahlt, Und alles im Dunkel lauschte dem Singen Und schaute gebannt auf die weiße Gestalt.95 93 Ders.: „Mne strašno s toboj vstrečat’sja…“ [1902], in: ebd., 75. 94 Ebd., 154. 95 Übers. v. Annemarie Bostroem, in: Block, Alexander: Ausgewählte Werke. 1. Gedichte. Poeme. München 1978, 86.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

105

Der zweite Teil des Gedichts handelt von der unmittelbaren Wirkung dieser Begegnung der Mädchenstimme mit dem Lichtstrahl. Die Anwesenden in der Kirche lassen sich von dem synästhetischen Vorgang verführen, sie fangen an zu glauben, dass die gesungenen Worte (offenbar Fürbitten für die Teilnehmer des Russisch-Japanischen Kriegs) magisch auf die Realität Einfluss nehmen könnten: И всем казалось, что радость будет, Что в тихой заводи все корабли, Что на чужбине усталые люди Светлую жизнь себе обрели. И голос был сладок, и луч был тонок, И только высоко, у царских врат, Причастный тайнам, – плакал ребенок О том, что никто не придет назад.96 Es war, als sei allen Freude beschieden, Als ruhten die Schiffe in stiller Bucht, Als hätten auch in der Fremde die Müden Das Gute gefunden, das sie gesucht. Süß war die Stimme, das Licht war lind, Nur hoch auf der Tür, die zum Altar führt, Der Geheimnisse kundig, weinte das Kind, Darüber, daß keiner zurückkehren wird.97

Die Betrachtung verwandelt sich im zweiten Teil in eine (metapoetische) Entlarvung. Die Anwesenden lassen sich genauso wie Bloks lyrischer Held in den Jahren zuvor von der Evidenz der Schönheit blenden. Der implizierte Kommentar des unbeteiligten Betrachters lautet also: Das Zusammenspiel von Mädchenstimme und Lichtstrahl ist zufällig, nicht mehr als ein schöner Moment, der mit dem Lauf der Welt und ihren Gesetzen nichts zu tun hat. Eingeweiht zu sein in die Geheimnisse (wie eine Christus-Ikone in der Ikonostase) heißt nicht mehr, an Geheimnisse zu glauben und ihre Offenbarung zu erwarten, sondern: so wachsam und nüchtern zu sein wie nur möglich. Genau an diesem Übergang, an dem Bloks Sophiologie von einer amour fou in Verzweiflung umschlägt, macht Samson Brojtman den Einsatz von Pasternaks postsymbolistischer, ‚sophianischer‘ Poetik fest. Das Grundlegende an Pasternaks Modifikation besteht nach Brojtman darin, einerseits das Licht nicht als ein unerreichbares Ideal zu setzen und andererseits die Dunkelheit nicht als Bedrohung, sondern als Medium des Lebens zu definieren. Darauf komme ich im nächsten Kapitel zu sprechen. 96 Blok: Sočinenija v dvuch tomach, I, 154. 97 Block: Ausgewählte Werke, 1, 86.

106

Licht als Fluchtpunkt

Marina Cvetaeva bemerkt einmal, Bloks Verfinsterung sei frei gewählt gewesen. Finsternis bei Blok sei nicht das Fehlen von Licht, dem nostalgisch nachgetrauert werde, sondern „Schwärze als Anwesenheit“.98 Belyjs Projekt, Sonnenlicht in Sonnen-Stoff umzuwandeln und zu „vermehren“, wendet sich bei Blok ins Gegenteil, wird aber unter negativem Vorzeichen weiterverfolgt. 1909 schrieb Belyj in kritischer Rückschau auf die Jahre von Zoloto v lazuri, der Symbolismus müsse nicht notwendigerweise das Licht heller machen, er könne auch die Finsternis vertiefen. Das scheint sich auf Bloks Entwicklung zu beziehen: Das Hauptpostulat des Symbolismus ist nicht mehr notwendigerweise Verwandlung durch Licht, sondern eine untrügliche Klärung der Wirklichkeit, Austreibung des lauwarmen Mittelwegs.99 Dadurch verändert sich gegenüber Bloks frühen Gedichten die Rolle des Schlaf-/ Traumzustands. Wo in den Stichi o Prekrasnoj Dame der Glaube an die Erweckung zum Leben durch die reale Begegnung mit der Sophia im Zentrum stand, da stellt sich in der Krise der Zustand eines tiefen und lähmenden Schlafs ein. Das erhabene Bild der Dame in ihren Lichtstrahlen („лучезарность“) verschwindet zwar nicht,100 es erscheint nur jetzt in einer ganz und gar unerreichbaren Ferne.101 Im Zusammenhang dieses ausweglosen Tiefschlafs ist jenes neue Programm zu sehen, das Blok 1910 mit den Schlüsselwörtern „ученичество, самоуглубление, пристальность

98 „Блок оборвался, потому что Блок – чего, и если у Блока – черно, то это черно – чего, весь плюс черноты, чернота, как присутствие, наличность, данность. В комнате, из которой унесли свет – темно, но ночь, в которую ты вышел из комнаты, есть сама чернота, она. […] И Блок, не выйдя с лампой в ночь – мудрец, такой же мудрец, как Диоген, вышедший с фонарем – днем, в белый день – с фонарем. Один света прибавил, другой – тьмы. Блок, отдавши себя ночи, растворивший себя в ней – прав. Он к черноте прибавил, он ее сгустил, усугубил, углубил, учернил, он сделал ночь еще черней […].“ „Blok riss ab, weil Blok – etwas ist, und wenn es bei Blok schwarz wird, so ist dieses schwarz etwas, ein ganzer Überschuss an Schwarz, Schwarz als Anwesenheit, Gegenwart, Gegebenheit. In einem Zimmer, aus dem das Licht entfernt wurde, ist es schwarz, doch die Nacht, in die du aus dem Zimmer heraustrittst, ist die Schwärze selbst, sie. Und Blok, ohne Leuchte in die Nacht hinaustretend, ist ein Weiser, so weise wie Diogenes, der mit einer Leuchte hinausging – am Tag, am helllichten Tag – mit einer Leuchte. Der eine hat Licht hinzugefügt, der andere Dunkelheit. Blok, indem er sich der Nacht hingab, machte die Nacht noch schwärzer […].“ „Plennyj duch (moja vstreča s Andreem Belym)“ [1934], in: Cvetaeva: Sobranie sočinenij, 4, 221–270, hier 237 (Hevorhebungen im Orig.). 99 Belyj: „Simvolizm“ [1909], in: ders.: Simvolizm kak miroponimanie, 255–259, hier 256. 100 „Может быть, мы сами и погибнем, но останется заря той первой любви.“ „Es mag sein, dass wir selbst umkommen, aber die Morgenröte jener ersten Liebe wird bleiben.“ Blok: „O sovremennom sostojanii russkogo simvolizma (Po povodu doklada V. I. Ivanova)“ [„Über den gegenwärtigen Zustand des russischen Symbolismus (aus Anlass des Vortrags von V. I. Ivanov“, 1910], in: Blok: Sočinenija v dvuch tomach, II, 147–158, hier 157 (Hervorhebung im Orig.). 101 Ders.: „Kogda zamrut otčajan’e i zloba…“ [„Wenn Verzweiflung und Groll ersterben…“1908], in: Blok: Sočinenija v dvuch tomach, I, 294/295.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

107

взгляда и духовная диэта“102 / „Gelehrigkeit, Vertiefung ins Selbst, Aufmerksamkeit des Blickes und geistige Diät“ umschreibt. Im Prolog zum unvollendeten Poem Vozmezdie (Vergeltung, 1910–1921) führt er dieses Programm aus. Der Künstler müsse dem Leben als einer Gegebenheit („данность“) begegnen. Seine Aufgabe bestehe nur darin, die trügerische Vermengung von Licht und Dunkel zu entwirren: Но ты, художник, твердо веруй В начала и концы. Ты знай, Где стерегут нас ад и рай. Тебе дано бесстрастной мерой Измерить всё, что видишь ты. Твой взгляд – да будет тверд и ясен. Сотри случайные черты – И ты увидишь: мир прекрасен. Познай, где свет, – поймешь, где тьма. Пускай же всё пройдет неспешно, Что в мире свято, что в нем грешно, Сквозь жар души, сквозь хлад ума.103 Du aber, Künstler, glaube, daß, Was einst begonnen, auch muß enden: Was Paradies und Hölle senden – Du mußt es wissen, kennst das Maß, Mit dem du wertest, was geschehn, Und prüfen kannst du mit den Augen, Was Zufall ist – du hast gesehn: Die Welt – sie kann zur Schönheit taugen! Wenn du das Licht erkennst, versteh Auch wo das Dunkel herrscht, und fühle: Der Schmerz und des Verstandes Kühle Durch auch der Welten Weh.104

Ähnlich wie Belyj in seinen Selbstbezichtigungen hatte Blok 1910 festgestellt: „[…] я уже сделал собственную жизнь искусством […].“105 „[…] ich machte sogar schon mein eigenes Leben zur Kunst […].“ Das Verheerende an diesem Lebenschaffen war für Blok eben die Verkennung des Lebens als „Gegebenheit“ gewesen. Dabei hatte Blok das von Belyj formulierte Projekt, den Künstler durch Schöpfertum zum Kunstwerk zu erheben, wörtlicher genommen als Belyj, in dessen Werk das hermetisch-sublimierende Moment stets stärker präsent ist. In Bloks Konzept der „geistigen Diät“ soll das „жизнетворчество“ in „жизнесозерцание“, 102 103 104 105

Ders.: „O sovremennom sostojanii russkogo simvolizma“, 158. Ders.: Vozmezdie, in: ders.: Sočinenija v dvuch tomach, I, 476–522, hier 482. Übers. v. Heinz Czechowski, in: Block: Ausgewählte Werke, I, 217–234, hier 217. Blok: „O sovremennom sostojanii russkogo simvolizma“, 151.

108

Licht als Fluchtpunkt

Lebenschaffen in Lebensbetrachtung umgewandelt werden. Der Realsymbolismus mit seiner Ablehnung der Dekadenz bleibt bestehen, aber er schickt sich nun bewusst in eine Zwischenzeit, in eine Zeit der Neuauslotung. Das scheint Cvetaeva im Sinn zu haben, wenn sie von Bloks „weiser Entscheidung“ für die Finsternis spricht. Doch auch die Entwirrung von Licht und Dunkelheit gestaltet sich problematisch. Ein Gedicht von 1912, „Skvoz’ seryj dym ot kraju i do kraju…“ / „Durch grauen Dunst von Rand zu Rand…“, signalisiert in dieser Hinsicht eine weitere Vertiefung der Krise. Die Annahme der Schwärze, die Verdunkelung des Halbdunkels, hat ihre kathartische Wirkung verfehlt. Als „Anwesenheit, Gegenwart, Gegebenheit“ (Cvetaeva) erweist sich paradoxerweise wiederum nur ein Schein-Licht. Die Schwärze bleibt vermengt mit dem Bereich des ‚Lauwarmen‘. Die alltägliche Düsternis des Lebens und ein am Horizont aufleuchtendes rötlich-graues Licht sind Ansichten ein und derselben Ausweglosigkeit: Сквозь серый дым от краю и до краю Багряный свет Зовёт, зовёт к неслыханному раю, Но рая – нет. О чём в сей мгле безумной, красно-серой, Колокола – О чём гласят с несбыточною верой? Ведь мгла – всё мгла. И чем он громче спорит с мглою будней, Сей праздный звон, Тем кажется железней, непробудней Мой мертвый сон.“106 Purpurnes Licht Ruft, ruft in ein unerhörtes Paradies, Doch das Paradies – gibt es nicht. Wovon in diesem wahnsinnigen Dunkel, rot-grau, Die Glocken – Wovon künden sie mit unerfüllbarem Glauben? Denn das Dunkel ist – noch Dunkel. Und je lauter er streitet mit dem Alltagsdunkel, Dieser leere Glockenklang, Je eiserner will scheinen, je pausenloser Mein toter Schlaf.

106 Ders.: Sočinenija v dvuch tomach, I, 377.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

109

Blok sah nicht nur „kein Licht mehr für sich“107, es gelang ihm auch nicht, in der „geistigen Diät“ wirksam die Finsternis zu verdichten. Dennoch ist die Idee, die Finsternis um jeden Preis anzunehmen und sie zu durchleben, in Bloks Werk bis zuletzt präsent. Noch in der Streitschrift „Krušenie gumanizma“ („Der Sturz des Humanismus“, 1919) hält der Dichter gegen das Halb-Dunkel („полумрак“) und das Halb-Hell („полусвет“) die Finsternis, als Kampfbegriff gegen die Tendenz der europäischen Zivilisation, alle Lebensbereiche (hohe und niedrige, zentrale und marginale) einer „geschmacklosen Diffusion“ („безвкусн[ый] раствор“) zu unterziehen.108 Das Wachsamkeits-Postulat aus Vozmezdie fasst Blok hier neu in der Formel „жадно жить и действовать в открывшейся эпохе вихрей и бурь“109 / „gierig leben und handeln in der aufgegangenen Epoche der Wirbelwinde und Stürme“. In Vozmezdie befindet sich der Protagonist am Schluss in einem nächtlichen Schneesturm und erinnert sich auf einmal an seine glückliche Kindheit. In „Krušenie gumanizma“ hat sich der Sturm zur Revolution ausgeweitet, und die Verbindung zu früher, zur „Morgenröte jener ersten Liebe“ ist endgültig abgebrochen, wiewohl sie zweifellos das „Ideal“ bleibt. Wie lässt sich also die Krise der Inkarnation in Bloks poetischer Sophiologie auf einen Begriff bringen? Die Antwort könnte so lauten: Es gelingt nicht – einmal vorausgesetzt, dass die Krise nicht ohnehin Teil des Programms ist –, die angebetete, stets nur flüchtig erscheinende Sophia auch zu einem poetologischen Prinzip, zum „Negativ“ des Lichts zu machen. Die Sophia ist bei Blok entweder die Wunderschöne Dame, oder sie zieht sich in die von Cvetaeva diagnostizierte „Schwärze“ zurück, während das Dichtersubjekt wie eine leere Hülle zurückbleibt. Die Sophia bleibt bei Blok eine Fremde, und damit bleibt auch das Licht etwas Fremdes.

„Vergrabung von Licht“ und „Postulat der Auferstehung“ bei Vjačeslav Ivanov Beim ältesten unter den „jüngeren“ Symbolisten, Vjačeslav Ivanov, gibt es verglichen mit Andrej Belyjs und Aleksandr Bloks schöpferischen Dramen von Anfang an im Grunde nur Gewissheiten. Er litt nicht unter dem quälenden Bewusstsein, dass die Literatur die Verwandlung, die sie bewirken wollte, nicht „auszusprechen“ fähig war. Das wird sehr schön sichtbar aus einer Bemerkung des jungen Boris Pasternak. In einem Brief an einen Dichterfreund von 1914 begründet Pasternak seine grundsätzliche Distanz zu Ivanovs Realsymbolismus:

107 Turkov, Andrej: Aleksandr Blok. Moskva 1969, 63/64. 108 Blok: „Krušenie gumanizma“, in: ders.: Sočinenija v dvuch tomach, II, 305–327, hier 318. 109 Ebd., 327 (Hervorhebung im Orig.).

110

Licht als Fluchtpunkt

Вяч. Иванов […] не чувствует элементарных вещей в поэзии, – ее корня и наиболее острого – метафоры, требуя от метафоры… тожества! Метафора, по его словам […] должна быть «символом», т. e. реалистическим (не в художественном, а в «мистическом» смысле) раскрытием предмета. Каково? Вот тебе символисты! Это просто-напросто антипоэты.110 Vjač. Ivanov […] spürt die elementarsten Dinge in der Poesie nicht – ihre Wurzel und ihre höchste Kulmination – die Metapher, wenn er von der Metapher fordert… Identität! Die Metapher muss nach seinen Worten […] ein „Symbol“ sein, d.h. eine realistische (nicht im künstlerischen, sondern „mystischen“ Sinne) Offenbarung des Gegenstandes. Wie bitte? Da hast du sie, die Symbolisten! Das sind ganz einfach Antipoeten.

Zwischen den Positionen Ivanovs und Pasternaks verläuft die Frontlinie zwischen Symbolismus und Postsymbolismus. Für Pasternak lebt die Poesie geradezu von dem bleibenden Rest, den die Metapher (oder Metonymie) von ihrem Signifikat immer noch trennt, von der Unmöglichkeit einer restlosen Offenbarung. An die Stelle der Identität tritt, wie Pasternak in seinen Studienheften notiert, die „идея […] свободы от закона тождества, [так сказ]“111 / „Freiheit vom Gesetz der Identität, sozusagen“, mit anderen Worten: das Prinzip der unendlichen Annäherung. Das ist bei Ivanov anders. Die Kunst hat in der Ästhetik des Realsymbolisten die Fähigkeit, das von ihre „Gasagte“ auch quasi-sakramental zu offenbaren. Abgesehen davon, dass Ivanovs Glaube an das Symbol ungebrochener war als bei Blok und Belyj, ist sein Schreiben auch deshalb weniger anfällig für schöpferische „Krisen“, weil er das Postulat der Licht-Inkarnation bereits in seinen frühen Gedichtbüchern (Kormčie zvezdy / Leitsterne, 1903, Prozračnost’ / Durchsichtigkeit, 1904) sehr bewusst mit der Kategorie des Opfers (жертва) verband. Die Opfertode von Dionysos und Christus bilden bei Ivanov eine synkretistische Einheit112 und dienen in seiner Lyrik und Essayistik als Modell dafür, wie göttliches Licht in die kreatürliche Welt einstrahlen kann. Auch in diesem Akzent auf der Kreatürlichkeit liegt eine nicht unwesentliche Differenz zu Solov’evs Begriff der unverklärten Materie als Nichts ebenso wie zu Belyjs und Bloks böser Ahnung, die Fleischwerdung Gottes habe noch gar nicht stattgefunden. Valerij Brjusov, Wortführer des Symbolismus in der 1890er Jahren, sieht/ hört bei Ivanovs Gedichten ein besonders „stilles Licht“ am Werke: „Поэзия Вяч. Иванова светит более тихим, более ровным, более неподвижным светом

110 Brief vom 14. Juli 1914 an Aleksandr Štich, Pasternak: PSS, VII, 191 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 111 Fleishman/Harder/Dorzweiler: Boris Pasternaks philosophische Lehrjahre, II, 135. Vgl. Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 46. 112 Vgl. dazu Vestbruk, Filip: Vjačeslav Ivanov. Filologičeskie i filosofskie idei o dionisijstve. München 2009, 198/199.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

111

полного дня, смягчаемым смуглой зеленью окружающих кипарисов.“113 „Die Poesie Vjač. Ivanovs leuchtet im stilleren, ebenmäßigeren, unbeweglicheren Licht des hellen Tages, gedämpft vom Dunkelgrün der ihn umgebenden Zypressen.“ Für Ivanov ist es kein Widerspruch, das Symbol als „солнечн[ый] луч“114 / „Sonnenstrahl“ und zugleich als „плоть тайны“115  / „Fleisch des Geheimnisses“ zu definieren. Denn die materielle Wirklichkeit ist für ihn in gewissem Maße immer schon verklärt, eben weil sie kreatürlich, nicht als Endprodukt eines Emanationsprozesses aufgefasst wird. Das heißt zwar nicht, dass bei Ivanov Solov’evs naturalistischer Verklärungsbegriff aus „Krasota v prirode“ gänzlich wegfiele.116 Es ist jedoch immer das Bestreben zu beobachten, von Solov’evs hermetischer Allegorik wegzukommen, die ‚sterile‘ Durchsichtigkeit (прозрачность) personal aufzuladen und ihre indifferenten Strahlen zu „schreienden“ zu machen. So ist einmal vom „[о]тветный крик твоих лучей“  / vom „antwortenden Schrei deiner Strahlen“117 die Rede. Ivanov ist insofern jener unter Solov’evs Adepten, der durch die „Zeitbombe“ (Hansen-Löve) des inkonsistenten johanneischen Logos am wenigsten gefährdet war.118 Das lässt sich schon an der Tatsache ablesen, dass 113 Brjusov, Valerij: „Zoloto v lazuri i prozračnost’“ [1904], in: ders.: Sobranie sočinenij v semi tomach. Tom šestoj. Stat’i i recenzii 1893–1924. Iz knigi „Dalekie i blizkie“. Miscellanea. Moskva 1975, 300/301, hier 300. 114 „Подобно солнечному лучу, символ прорезывает все планы бытия и все сферы сознания […].“ „Gleich dem Sonnenstrahl durchschneidet das Symbol sämtliche Seinsschichten und Bewusstseinssphären […].“ „Dve stichii v sovremennom simvolizme“ [1908], in: Ivanov, Vjačeslav: Sobranie sočinenij, II. Bruxelles 1974, 536–561, hier 537. Vgl. auch die Formeln „слово-пламя“  / „Flammenwort“ und „слово-свет“  / „Lichtwort“. „Mysli o simvolizme“ [„Gedanken über den Symbolismus“, 1912], in: ebd., 604–612, hier 610. 115 „[…] cимвол – плоть тайны, и символизм истинный – прозрение на плоть, проникновение в тайну плоти, ею же стало Слово.“ „[…] das Symbol ist das Fleisch des Geheimnisses, und der wahrhaftige Symbolismus ist freie Durchsicht auf das Fleisch, ein Durchdringen zum Geheimnis des Fleisches. Fleisch aber geworden ist das Wort.“ Ders.: „Ėstetika i ispovedanie“, in: ebd., 566–572, hier 569. 116 Vgl. etwa den Zyklus „Carstvo Prozračnosti“ (I, „Almaz“) / „Das Reich der Durchsichtigkeit“ (I, „Diamant“): „Когда, сердца пронзив, Прозрачность / Исполнит солнцем темных нас, / Мы возблестим, как угля мрачность, / Преображенная в алмаз.“ „Wenn, die Herzen durchdringend, die Durchsichtigkeit / Uns, die Dunklen, mit Sonne erfüllen wird, / Werden wir aufleuchten wie die Finsternis der Kohle, / Zu Diamant verwandelt.“ Ders.: Sobranie sočinenij, I, 754. 117 Ebd. 118 So sah es auch das ‚gebrannte Kind‘ Andrej Belyj. Ivanov sei unterwegs zu einem Licht, das ihm aufgegangen sei, ohne sich dabei als Stellvertreter desselben zu begreifen: „Солнце Эммауса озолотило […] его душу; озлащенная, она таит неведомый свет; Иванов вновь и вновь возвращается на дорогу: дальше, все дальше бредет одинокий путник к ему забрежжившему сиянию.“ „Die Sonne von Emmaus hat […] seine Seele vergoldet; vergoldet, birgt sie ein unbekanntes Licht in sich; Ivanov begibt sich stets von neuem auf den Weg: weiter, immer weiter irrt der einsame Wanderer zu dem Glanz, der ihm aufgeschimmert ist.“

112

Licht als Fluchtpunkt

sich das Subjekt seiner Lyrik und meist auch seiner Essays aus einem chorischen Wir zusammensetzt: Die Stelle des Logos ist nicht mehr gefährlich vakant. In den meisten Gedichten gibt es kein Ich, das individuell danach streben würde, an sich selbst die Inkarnation des Logos nachzuvollziehen. Die Lebenskunst des Symbolisten spielt sich unter dem Vorzeichen ab, dass alles schon vollbracht ist. Ivanovs Verhältnis zur Sprache ist das eines weisen Priesters und weniger das eines neuen Messias. Eine zentrale Idee der Ästhetik und Poetik Ivanovs ist, wie bereits angedeutet, die des Licht-Opfers. Nach dem Vorbild des Johannesprologs scheint der göttliche Lichtstrahl in die Dunkelheit, doch wo im Johannesprolog die undankbare Reaktion der Welt hervorgehoben wird, da stößt der Lichtstrahl in Ivanovs Gedichten auf fruchtbaren Boden. So in den Gedichten der großen, zweibändigen Sammlung Cor ardens (1911/1912): Пусть голод пленниц-душ неутолим: Все ж ночью вешней колокол пасхальный, Как белый луч, в тюрьме сердец страдальной Затеплит Новый Иерусалим.119 Ist der Hunger der gefangenen Seelen auch unstillbar: Und doch – in einer Frühlingsnacht die Osterglocke, Wie ein weißer Strahl, im Leidenskerker der Herzen Entfacht das Neue Jerusalem.

Das eschatologische Ziel, die Vermählung von Himmel und Erde, kann nur erreicht werden, wenn der himmlische Part bereit ist, auf seine Herrlichkeit zu verzichten, sich in die Erde herabzulassen und durch sie hindurchzugehen. Die Argumentation bewegt sich hier hochgradig synkretistisch zwischen Neuem Testament, griechischem Dionysoskult, Neuplatonismus, deutscher Romantik, Slavophilie, Dostoevskijs Romanwerk und Solov’evs Traktaten. Aber immer geht es Ivanov um die finale, alle Verwerfungen aufhebende Vereinigung durch ein Opfer. Gott hat sich selbst zu einem „Nichts“ gemacht, um in der Auferstehung die Schöpfung emporzuheben: И женщин белых восклицанья В бреду благовестят – про что?.. Но с помаваньем отрицанья, Качая мглой, встает Ничто…

Belyj, Andrej: „Vjačeslav Ivanov. Siluėt“, in: ders.: Arabeski. München 1969 [Nachdruck der Ausgabe Moskau 1911], 469–474, hier 474. 119 Ivanov: „I. S. N. Bulgakovu“, in: ders.: Sobranie sočinenij, II, 265.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

113

И Кто-то, странный, по дороге К нам пристает и говорит О жертвенном, о мертвом Боге… И сердце – дышит и горит…120 Und der weißen Frauen Rufe Künden im Fieber – wovon?.. Doch mit dem Schwanken der Verneinung, Das Dunkel wiegend, ersteht das Nichts… Und Jemand, Seltsamer, auf dem Weg Lässt nicht von uns und spricht Vom sich opfernden, vom toten Gott… Und das Herz – atmet und brennt…

Die „Sonne von Emmaus“ konnte sinnbildlich werden für Ivanovs Lyrik, weil zu dem Zustand der Jünger nach der Kreuzigung und Grablegung Christi das Trauern genauso gehört wie „brennende“ Vorahnung. Hierin ist das Emmaus-Licht vielleicht vergleichbar mit dem anziehenden Glanz der Wunderschönen Dame in Bloks frühen Gedichten. Entscheidend ist bei Ivanov jedoch die Botschaft, dass die Auferstehung schon stattgefunden habe, auch wenn das außer dem Dichter und den „weißen Frauen“ noch niemand erkennt. Ivanovs ganze Poetik ist in diesem Sinne grundiert von der Emmaus-Sonne, einer harmonisierenden Verbindung aus qualvoller Unruhe und Heilsgewissheit. In der Schrift O russkoj idee (Über die russische Idee, 1909) gibt Ivanov dem Konzept des Licht-Opfers eine geschichtsphilosophische Ausrichtung, indem er seine Symboltheorie auf das russische „Volk“ anwendet. Das amorphe Volk wird anstelle der abstrakten Seinsebenen zum konkreten Material der realsymbolistischen Energetik: Божественное ниспосылает свет свой в темное вещество, чтобы и оно было проникнуто светом. Из плана в план божественного всеединства, из одной иерархии творения в другую нисходит Логос, и свет во тьме светится, и тьма его не объемлет. Здесь тайна Второй Ипостаси, тайна Сына. «Семя не оживет, если не умрет». «Vis eius integra, si versa fuerit in terram»: целою сохранится сила его, если обратится в землю. Эти таинственные заветы кажутся мне начертанными на челе народа нашего, как его мистическое имя: «уподобление Христу» – энергия его энергий […].121 Das Göttliche schickt sein Licht in das Dunkel-Stoffliche, damit auch es von Licht durchdrungen werde. Von einer Schicht zum nächsten in der göttlichen All-Einheit, von einer Hierarchie der Schöpfung zur nächsten steigt der Logos herab, und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht ergriffen. Hier ist das Geheimnis der Zweiten Hypostase, das Geheimnis des Sohnes. „Das Weizenkorn wird Leben, wenn es stirbt“. „Vis eius integra, si versa 120 Ders.: „Put’ v Ėmmaus“ [„Der Weg nach Emmaus“], in: ebd., 264. 121 Ders.: O russkoj idee, in: ders.: Sobranie sočinenij, III, 321–338, hier 333.

114

Licht als Fluchtpunkt

fuerit in terram“: Seine Kraft bleibt ganz erhalten, wenn sie sich in die Erde wendet. Diese geheimnisvollen Vermächtnisse scheinen mir auf der Stirn unseres Volkes eingeschrieben zu sein, wie sein mystischer Name: „Anähnlichung an Christus“ – Energie seiner Energien […].

Der praktische Anspruch von O russkoj idee verlangt es, dass der von oben kommenden Kraft ein ausführendes Subjekt zugeordnet wird. Diese Kraft setzt Ivanov in Anlehnung an Solov’evs Idée russe (1888) mit der russischen Intelligenzija gleich. Dabei handelt es sich weder um ein Projekt der Aufklärung der Massen noch um politische Usurpation. Die Pointe kommt durch buchstäbliche Lektüre zustande; Ivanov übersetzt die hermetische Quelle („Vis eius integra, si versa fuerit in terram“ / „Seine Kraft wäre vollständig, wenn sie zur Erde gesandt würde“, Hermes Trismegistos122) so, dass sich der Strahl tatsächlich in die Erde („в землю“) versenkt, während das lateinische in terram zunächst lediglich eine Richtung anzeigt (also „на землю“). Das Motiv für diese radikalisierende Übersetzung liegt auf der Hand: Ivanov hält am Postulat der Licht-Inkarnation fest, das ihm im übertragenen Verständnis zu abstrakt bliebe. Das Licht soll tatsächlich vergraben, es soll zu Erde werden – mit dem Ziel einer gemeinsamen Auferstehung von Volk und Intelligenzija.123 Ivanovs ästhetische Grundannahme, dass Symbolismus immer eine Beziehung meine („символизм означает отношение“124) und dass diese Beziehung nur durch Opfer zustande kommen könne, wird nun also (neo-)slavophil ausgeweitet: Общий склад русской души таков, что христианская идея составляет, можно сказать, ее природу. Она выражает центральное в христианской идее – категорический императив нисхождения и погребения Света и категорический постулат воскресения. Ее типические уклоны и заблуждения – только извращения ее основной природы, ее опасность – неправое упреждение отдачи своего света и самоубийственная смерть – тогда, когда умирающий еще недостоин умереть, чтобы воскреснуть. Если народ наш называли «богоносцем», то Бог явлен ему прежде всего в лике Христа; и народ наш – именно «Христоносец», Христофор.125 122 Vgl. Vladimir Solov’evs gleichnamiges Gedicht von 1876. Solov’ev: Stichotvorenija i šutočnye p’esy, 67 123 Mythopoetisch betrachtet, geht es auch hier um einen dionysischen „‚descensus‘ des Schöpfergottes (des solaren Ich-Bewusstseins) in die tellurische, unterweltliche Dunkelheit, in die desintegrierende, auflösende Welt des Unbewussten und der rauschhaften Ekstase, aus deren mystisch-erotischer Glut die Gottheit selbst wieder komplett wird […].“ Hansen-Löve, Aage: „Grundzüge einer Thanatopoetik. Russische Beispiele von Puškin bis Čechov“, in: Wiener Slawistischer Almanach 60 (2007), 7–78, hier 17/18. 124 Ivanov: „Mysli o simvolizme“, 609. Vgl. dazu Ermilova: Teorija i obraznyj mir russkogo simvolizma, 39–58. 125 Ivanov: O russkoj idee, 336. – Pavel Florenskij begründet seine Lehre vom Antinomismus des Glaubens analog als Selbstopfer des menschlichen Verstands. Vgl. Florenskij, Pavel: Stolp i utverždenie Istiny. Tom 1 (I). Moskva 1990, 65. Zuletzt hat die These von der „Kenotik“ der russischen Kultur Dirk Uffelmann vertreten in seiner umfangreichen Studie Der erniedrigte Christus, vor allem 253–591.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

115

Die allgemeine Beschaffenheit der russischen Seele ist so, dass die christliche Idee, so kann man sagen, ihre Natur ausmacht. Sie drückt das Zentrale an der christlichen Idee aus – den kategorischen Imperativ des Hinabsteigens und der Vergrabung von Licht und das kategorische Postulat der Auferstehung. Ihre typischen Neigungen und Verirrungen sind lediglich Verkehrungen ihrer eigentlichen Natur, ihre Gefährdung – die überstürzte Preisgabe ihres Lichts und selbstmörderischer Tod – während doch der Sterbende noch nicht würdig ist zu sterben, um aufzuerstehen. Wenn unser Volk „Gottesträger“ genannt worden ist, so heißt das, dass ihm Gott vor allem im Antlitz Christi offenbar ist; und unser Volk ist genau – „Christusträger“, Christophorus.

In seiner Essayistik kam Ivanov vom „живо[й] символ“126 / „lebendigen Symbol“ Intelligenzija–Volk bald wieder ab und definierte die symbolistische Beziehung fortan rezeptionsästhetisch als eine Begegnung des „niedersteigenden“ Künstlers mit dem „emporsteigenden“ Leser.127 Das Konzept des Selbstopfers der Intelligenzija128 mag insofern ein letztlich noch dekadentes Zwischenspiel, eine Anwandlung des Überdrusses an der Kultur gewesen sein. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass ausgerechnet der erste Theoretiker der russischen Dekadenz, Nikolaj Minskij, fast zeitgleich mit Ivanov (1908) auf das Problem des Ekels der russischen Intelligenzija vor sich selbst („taedium sui“) zu sprechen kam. Es gebe, schreibt Minskij, bei russischen Schriftstellern allgemein zwei Spielarten, sich zum Licht zu verhalten. In der ersten sei das Streben nach Licht egoistisch motiviert: Der „духовный интеллигент“ / „geistbeseelte Intellektuelle“ wolle um jeden Preis ins ewige Leben eingehen, ohne sich Gedanken zu machen über den Verbleib der übrigen Bevölkerung im „Dunkeln“.129 Diese Variante schreibt Minskij Dmitrij Merežkovskij zu. Die zweite Möglichkeit ist nach Minskij die von Ivanov beschriebene: der freiwillige „Verzicht auf Licht“ ohne Rücksicht auf Verluste. Diese Variante sieht Minskij in den Werken und Biographien Dostoevskijs und Tolstojs verkörpert: Разве Достоевский не погрузился добровольно в тьму наших «исконных начал», лишь бы быть вместе с народом во мраке суеверия и рабства, чем отдельно от него в свете разума и свободы. Разве Толстой добровольно не ушел в тьму неделания и непротивления, чтобы быть вместе с народом во мраке невежества, чем отдельно от него 126 Ivanov: O russkoj idee, 327 (Hervorhebung im Orig.). Die Vereinigung zu einer solchen messianischen Einheit wiederholt sich dann im russischen Marxismus zwischen Intelligenzija und Proletariat. Vgl. Halfin, Igal: From Darkness to Light. Class, Consciousness, and Salvation in Revolutionary Russia. Pittsburgh 2000, 115–121. 127 „[…] человек должен восходить, а художник нисходить.“ „[…] der Mensch soll emporsteigen, der Künstler aber niedersteigen.“ Ivanov: „O granicach iskusstva“ [„Über die Grenzen der Kunst“, 1913], in: ders.: Sobranie sočinenij, II, 627–651, hier 635. 128 Vgl. zum Topos der „Opferhaltung der russischen Intelligenzija“ Grübel: „Gabe und Opfer“, 6. 129 Minskij, Nikolaj: „Absoljutnaja reakcija. Leonid Andreev i Merežkovskij“, in: D. S. Merežkovskij: Pro et contra. Ličnost’ i tvorčestvo Dmitrija Merežkovskogo v ocenke sovremennikov. Sankt-Peterburg 2001, 171–196, hier 179.

116

Licht als Fluchtpunkt

в свете культуры. […] психологическая сущность и тут и там одинакова: добровольный отказ от света, от разума, от культуры из любви к тем, кто пребывает во тьме.130 Hat Dostoevskij sich denn nicht freiwillig in die Dunkelheit unserer „Uranfänge“ vertieft, nur um um jeden Preis mit dem Volk in der Finsternis des Aberglaubens und der Sklaverei zu verweilen, statt getrennt von ihm im Lichte des Verstandes und der Freiheit? Ist denn Tolstoj nicht freiwillig in die Dunkelheit des Nicht-Tuns und des Sich-nicht-Wehrens gegangen, um mit dem Volk zusammen zu sein in der Finsternis der Unwissenheit, statt getrennt von ihm im Lichte der Kultur. […] die psychologische Substanz ist hier wie dort dieselbe: freiwilliger Verzicht auf Licht, auf den Verstand, auf die Kultur, aus Liebe zu jenen, die in der Dunkelheit verbleiben.

Ivanovs Hauptinteresse, die Eschatologie der gemeinsamen Auferstehung, spielt bei Minskij bezeichnenderweise keine Rolle. Damit steht er, wie bereits mit dem Egoismuskonzept in Pri svete sovesti, Tolstoj wohl näher als Dostoevskij, an dem Ivanov sich orientiert. Auffallend ist, dass das explizite Reden über Opferbereitschaft und Selbstopfer wie eine Absicherung gegen den in der Moderne ständig und überall drohenden Fall in den „Abgrund“ wirken kann. Poetologisch bzw. medial gesehen ist dies keine Überraschung: Die dunkle, „nichts wissende“ Erde und das amorphe „Volk“ sind ein besonders geeignetes Negativ für das symbolistische Licht-Ereignis. Die Künstlerfigur, bei Belyj und Blok stets gefährdet, kann, wenn der Symbolismus so restlos und auch organisch aufgeht wie bei Ivanov, in einer außenstehenden Stellung verharren. Gleichwohl gibt es auch persönliche Noten in Ivanovs Werk. In seinen Liebesgedichten beklagt er den Tod seiner zweiten Frau, der Dichterin Lidija Zinov’eva-Annibal, die er Mitte der 1890er Jahre geheiratet hatte und mit der er gemeinsam zur Orthodoxie konvertiert war.131 Das Gedichtbuch Cor Ardens ist Zinov’eva-Annibal gewidmet: „ТОЙ, ЧТО, СГОРЕВ НА ЗЕМЛЕ МОИМ ПЛАМЕНЕЮЩИМ СЕРДЦЕМ, СТАЛА ИЗ ПЛАМЕНИ СВЕТ В ХРАМИНЕ ГОСТЯ ЗЕМЛИ.“132 „JENER, WELCHE, VERBRANNT AUF ERDEN MIT MEINEM FLAMMENDEN HERZEN, VON EINER FLAMME ZU LICHT IM TEMPEL DES ERDENGASTES WURDE.“ Ivanovs Gedichte auf den Tod seiner Frau handeln von der endgültigen Vereinigung mit ihr. Auch in diesem Zusammenhang

130 Ebd., 180 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 131 Vgl. Davidson: The Poetic Imagination of Vjacheslav Ivanov, 101–110, und Bird, Robert: The Russian Prospero. The Creative Universe of Viacheslav Ivanov. Madison, Wisconsin, 2006, 21–26. 132 Ivanov: Sobranie sočinenij, II, 225 (Majuskeln im Orig.). Im Vergleich zur Liebeslyrik und dem Liebesdrama Bloks fällt auf: Ivanov ‚besingt‘ mit seinen Canzonen und Sonetten einen realen Verlust, während Blok mit Ljubov’ Mendeleeva zunächst zwar unglücklich verheiratet war, sie jedoch bis zu seinem Tod nicht verlieren sollte. Vgl. Pyman, Avril: A History of Russian Symbolism. Cambridge 1994, 290–292.

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

117

verwendet er die Denkfigur des Licht-Opfers bzw. arbeitet diese hier erst ganz aus. So heißt es in einem der Gedichte: Кто в Жизни – Смерть, и в Смерти – Воскресенье. Был свет твое успенье; И милый рот, сожженный, произнес: «Свет светлый веет: родился Христос.»133 Wer im Leben – Tod ist, und im Tode – Auferstehung. Dein Entschlafen war Licht; Und der liebe Mund, verbrannt, sprach aus: „Lichtes Licht weht um: Christus ist geboren.“

Interessant ist, dass gerade in diesem existenziellen Zusammenhang die identifikatorischen Metaphern (wie Pasternak sie in dem erwähnten Brief an A. Štich beschreibt) eine so zentrale Rolle spielen und mit einer solchen Gewissheit behauptet werden. Sämtliche Gedichte des „Venok sonetov“ / „Sonettenkranz“ aus Cor Ardens thematisieren die Zweieinigkeit, die durch den Verlust der Frau erst richtig eingetreten sei. Das äußerliche Zusammenleben erscheint in diesem Licht als nur vorübergehender Aufenthalt in den „Laubhütten“134 unterhalb des Berges Tabor: Бредя в лучах, не зрели мы убора Нетленных слав окрест, – одна тюрьма Была двоим усталых вежд дрема Под кущами единого Фавора. Но ты во храм сияющий вошла; А я один остался у притвора, В кромешной тьме… И нет в устах укора, – Но все тобой светла моя хвала! Одних Осанн мы два согласных хора; Мечты одной два трепетных крыла.135 Irrend in den Strahlen, sahen wir nicht die Gefilde Des Kleides unverweslicher Glorien, – nur ein Gefängnis War den beiden der Schlummer müder Augen Unter den Laubhütten des einen Tabor.

133 Ivanov: Ljubov’ i smert’. Kancony i sonety, posvjaščennye imeni Lidii Dimitrevny Zinov’evojAnnibal († 17 oktjabrja 1907 G.), „6“, in: ders.: Sobranie sočinenij, II, 399. 134 Zum Zusammenhang zwischen dem jüdischen Laubhüttenfest und der Verklärung des Herrn am Berg Tabor vgl. Balthasar, Hans Urs von: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Band III, 2. Theologie, Teil 2. Neuer Bund. Einsiedeln 1969, 317–323. 135 Ivanov: „Venok sonetov“ (VII), in: ders.: Sobranie sočinenij, II, 415.

118

Licht als Fluchtpunkt Doch du tratst in den strahlenden Tempel; Und ich blieb allein zurück in der Vorhalle, Im dichten Dunkel… Und ohne Vorwurf auf den Lippen, Doch immer noch ist licht von dir mein Lob! Von einem Hosanna sind wir zwei einstimmige Chöre; Von einem Traum zwei zitternde Flügel.

Solange die beiden Liebenden die Taborlicht-Strahlen nur erahnt hatten, solange konnten sie nur „erschöpfte Seher“ sein. Das aber hieße in allegorischer Lektüre: Ihr Symbolismus musste so lange aufschiebend und letztlich noch ‚dekadent‘ bleiben, wie in ihrem Leben kein Grenzereignis, eben kein Todesfall eingetreten war. Zwar lebt und dichtet Ivanovs Sprecher nach dem Tod seiner Frau weiterhin in der „Finsternis“ der Welt, doch als Beglaubigung seines Lebens und Schreibens leuchtet ihm nunmehr das jenseitige Licht der Verstorbenen.136 Anders als Blok und Belyj hat Ivanov die von ihm gesuchte Fixierung der symbolistischen Schönheit gefunden, was freilich auch damit zusammenhängen mag, dass er bald darauf Zinov’eva-Annibals – von ihm adoptierte – Tochter Vera Švarsalon heiratete.137 Der Kult des bleibenden Lichts der Verstorbenen und die symbolistische Beglaubigung des Lebens aus dem Jenseits werden so auch von biographischer Kontinuität getragen. * In diesen Umrissen möchte ich das Porträt der jüngeren Symbolisten, der Nachfolger Solov’evs, belassen. In den Fallgeschichten zur Ästhetik und Poetik des Lichts von Andrej Belyj, Aleksandr Blok und Vjačeslav Ivanov habe ich zu zeigen versucht, wie das Postulat der Inkarnation in der nachrealistischen Epoche mit einem regelrechten Lichtspektakel in Szene gesetzt wird. Der Postsymbolimus übernimmt von diesem Spektakel, so die Hypothese für das nächste Kapitel, vor allem die Energetik, das ungegenständliche Potential. So hat Pasternak in Ochrannaja gramota seine jugendliche Faszination für Belyj und Blok auf eine eigentümliche „Kraft“ zurückgeführt: „Глубина и прелесть Белого и Блока не могли не открыться мне. Их влияние своеобразно сочеталось с силой, превосходившей простое невежество.“138 / „Die Tiefe und der Reiz Belyjs und Bloks konnten mir nicht verborgen bleiben. Ihr Einfluss verband sich auf eigentümliche Weise mit einer Kraft, die schlichtes Unwissen überstieg.“ Von wessen Kraft 136 Vgl. Wachtel, Michael: „Viacheslav Ivanov: From Aesthetic Theory to Biographical Practice“, in: Paperno/Grossman: Creating Life, 151–166, hier 154/155. 137 Vgl. Davidson: The Poetic Imagination of Viacheslav Ivanov, 120–123. 138 Ochrannaja gramota, 159 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

Das Inkarnationspostulat im russischen Symbolismus

119

hier die Rede ist, bleibt auch nach mehrmaligem Lesen offen. Sicher ist Pasternaks Verhältnis zu den Symbolisten kein triviales. Gerade deshalb ist es plausibel, ihn mit Roman Jakobson als „Bindeglied zwischen dem Symbolismus und der nachfolgenden Schule“139 zu bezeichnen. Die Frage des zweiten Kapitels wird nun sein, wie der junge Pasternak auf den die Logos-Gläubigkeit, den ‚Okularzentrismus‘ und die zuweilen garadezu paranoide Sophiologie der Symbolisten reagierte.

139 Jakobson: „Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak“, 359.

2. Kapitel Mitleid mit der Dämmerung Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts Nehmen wir die Rede von der buchstäblichen „Originalität“ ernst: Womit fing Pasternak an? Darüber wird seit etwa Mitte der 1970er Jahre diskutiert. In der Literatur zu den ersten Prosaversuchen aus Pasternaks Studienjahren lassen sich gewisse Haupttendenzen ausmachen. Hier zunächst eine Auslegeordnung dieser Tendenzen: Ein Ansatz leitet die in ornamentaler Prosa verfassten poetologischen Überlegungen unmittelbar aus Pasternaks Studium der Philosophie, genauer, aus seiner Beschäftigung mit der Phänomenologie Edmund Husserls und deren russischer Variante, der Schule Gustav Špets, ab.1 Ein zweiter Ansatz sieht in den Texten (neo-)romantische, aus dem „Geiste der Musik geborene“ Fragmente, oder der Universalpoesie der deutschen Frühromantik, besonders Novalis nachempfundene Reflexionen.2 Ein dritter Ansatz betont die Prägung durch die von Vater Leonid Pasternak vermittelte visuelle Kunst, die akademisch-impressionistische Malerei.3 Ein vierter hebt Pasternaks direkte Abhängigkeit vom russischen Symbolismus hervor, und zwar einmal streng genetisch, einmal eher typologisch.4 Ein fünfter schließlich sieht in den Texten vor allem eine Selbstthematisierung künstlerischer Kreativität und des Zustands der Inspiration.5 1 Vgl. Flejšman, Lazar’: „K charakteristike rannego Pasternaka“ [1975], in: ders.: Ot Puškina k Pasternaku, 348–379; Han [Chan], Anna: „Osnovnye predposylki filosofii tvorčestva B. Pasternaka v svete ego rannego ėstetičeskogo samoopredelenija“, in: Acta universitatis Szegediensis de Attila József nominatae. Dissertationes slavicae XIX. Szeged 1988, 39–134; Dennes, Maryse: Husserl – Heidegger. Influence de leur œuvre en Russie. Paris/Montréal 1998, 172– 181. 2 Vgl. Ljunggren [ Junggren], Anna: Juvenilia B. Pasternaka. 6 fragmentov o Relikvimini. Stockholm 1984; Jensen, Peter Alberg: „Geburt des Dichters aus dem Geiste der Musik“, in: Grübel, Rainer (Hrsg.): Russische Literatur an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Oldenburger Symposium. Amsterdam 1993, 411–431; Evans-Romaine: „Pasternak and Novalis“, 46–70. 3 Vgl. Simpličio, Daša di: „B.  Pasternak i živopis’“, in: Fleishman: Pasternak and His Times, 195–211. 4 Vgl. Kling, Oleg: „Pasternak i simvolizm“, in: Voprosy literatury 2 (2002), 25–59 [vgl. dazu auch Kazmirčuk, Ol’ga: Tvorčestvo rannego Pasternaka i poėtika simvolizma. Kand.-Diss. Moskva 2003]; Brojtman, Samson: „Rannij Pasternak i postsimvolizm (k voprosu o kriterijach definicii ‚postsimvolizma‘)“ [2003], in: http://postsymbolism.ru/joomla/index.php? option=com_docman&task=doc_view&gid=34 (Zugriff: 04.01.2011). 5 Vgl. Livingstone, Angela: „Introduction“, in: dies.: The Marsh of Gold. Pasternak’s Writings on Inspiration and Creation. Texts by Boris Pasternak, selected, translated, edited, introduced

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

121

Gemeinsam ist den Erklärungsversuchen, dass sie weitgehend darauf verzichten, bei der Rekonstruktion der Anfänge von Pasternaks Schreiben den, wir werden es sehen, so naheliegenden Indikator Licht/Schatten zu berücksichtigen.6 Ein möglicher Grund dafür ist folgender: Die Licht-Perspektive auf Pasternak birgt die Gefahr, als Extrapolation von Cvetaevas essayistischem, mythopoetischem Fokus des Licht-Regens wahrgenommen zu werden. Demgegenüber ist es das Anliegen der oben genannten Beiträge, Pasternaks Anfänge aus ihrer inneren Logik (bzw. seiner Biographie) heraus zu erklären. Es spricht in der Tat einiges dafür, dass die Umgehung des Faktors Licht als Reaktion auf die suggestive Wirkung von Cvetaevas Essay zu verstehen ist. Cvetaeva bezeichnet Pasternak als „поэт светлóт“ / „Dichter der Helligkeiten“, in Abhebung von den Dichtern der „Dunkelheiten“ („темнóт“).7 Sie tut dies allerdings allein auf der Grundlage des Gedichtbuchs Sestra moja – žizn’. Dass Pasternak davor, in seinen ersten Texten, einmal selbst ein „Dichter der Dunkelheiten“ gewesen sein könnte, verneint Cvetaeva zwar nicht, jedoch erscheint diese Möglichkeit, nimmt man ihren Essay über Pasternaks „светопись“ / „Lichtschrift“ zum Maßstab, als unwahrscheinlich. Daher meine Annahme: Cvetaevas Beschreibungsmuster wird in der Literatur zum frühen Pasternak umgangen, nachdem aber die Grundthese der Dichterin (Pasternak als „Dichter der Helligkeiten“) von der Wissenschaft schon bis zu einem gewissen Grade verinnerlicht worden ist.8 Am Anfang der Auseinandersetzung mit Pasternak muss insofern ein bewusster Umgang mit Cvetaevas Lesefolie stehen. Nur dann kann auch deren analytisches, mehr-als-essayistisches Potential ausgeschöpft werden. Ich komme darauf im dritten Kapitel zurück.

and provided with commentaries and notes by Angela Livingstone. Boston 2010, 1–12; Gorelik, Ljudmila: Rannjaja proza Pasternaka: Mif o tvorenii. Smolensk 2000. 6 Ganz anders ist das in Elena Glazov-Corrigans schon mehrfach erwähnter neuer Studie Art after Philosophy. Boris Pasternak’s Early Prose, auf die hier leider nur am Rande Hinweise gegeben werden können. In ihrem Unterkapitel „Poetry born in darkness: Toward an unwritten philosophical aesthetics“ geht Glazov-Corrigan auf Reliquimini und die Abdunkelung ein und entwickelt das Ringen mit der Sonne in einer Lektüre von Ochrannaja gramota, ebd., 73–87. Sie schreibt: „[…] Pasternak’s hero Reliquimini is invariably surrounded by dusk, sunset, and darkness, while sunshine is always a rare occasion, never directly named.“ Ebd., 74. Die in der vorliegenden Untersuchung zentrale Verbindungslinie zwischen Abdunkelung und Weiblichkeitskult gehört allerdings nicht zu Glazov-Corrigans Problemstellung. 7 Cvetaeva: „Svetovoj liven’. Poėzija večnoj mužestvennosti“, 235 (Hervorhebung im Orig.). 8 Wenn etwa Dáša di Simplicio das Licht als Pasternaks „konstantestes Motiv“ bezeichnet und besonders auf seine Dynamisierung hinweist, so kann man darin eine derartige Rückprojektion von Cvetaevas These auf Pasternaks Frühwerk sehen. Simplicio: „B. Pasternak i živopis’“, 204.

122

Mitleid mit der Dämmerung

Reliquimini und die Abblendung des Lichts Pasternaks seit 1977 nach und nach veröffentlichte9 Fragmente über den Komponisten/Dichter/Künstler Reliquimini10 (die Urform des „Schwamm-Helden“11 bzw. „metonymous hero“12) sind von einer auffallenden Fixierung auf ein Phänomen der Verdunkelung geprägt: die Dämmerung (сумерки). Am ehesten tragen Oleg Klings Studie „Pasternak i simvolizm“ und Evans-Romaines Untersuchung zu Pasternak und Novalis dem gehäuften Auftreten der Dämmerung in den Fragmenten über Reliquimini und in Pasternaks Gedichten von 1910 bis 1912 Rechnung. Die Dämmerung wird bei Kling als Signatur der Verbindung zur romantisch-symbolistischen Tradition (Evgenij Baratynskij, Charles Baudelaire, Valerij Brjusov), bei Evans-Romaine als Vehikel eines Stellenvergleichs mit Novalis abgehandelt, ohne letztlich als eigenständige Grundfigur in Betracht gezogen zu werden.13 Anders verhält es sich mit Samson Brojtmans Erklärungsansatz: Seine These, wonach Pasternaks Verhältnis zum Symbolismus an der Übernahme und Transformation der poetischen Sophiologie ablesbar sei, begründet Brojtman zwar nicht mit der An- oder Abwe9 Die erste auszugsweise Publikation stammt von Evgenij Pasternak: „Iz rannich prozaičeskich opytov B. Pasternaka“, in: Pamjatniki kul’tury: Novye otkrytija. 1976. Moskva 1977, 106–111. Die erste umfangreiche Untersuchung zu den Reliquimini-Fragmenten liefert Ljunggrens Monographie Juvenilia B. Pasternaka. In jüngerer Vergangenheit widmete Ljudmila Gorelik den Fragmenten eine größere Arbeit. Gorelik: Rannjaja proza Pasternaka. 10 Reliquimini ist vom lateinischen Verb reliquor („in Schuld stehen“) oder relinquo („zurücklassen“) abgleitet. Pasternaks damals engster Freund, Sergej Durylin, schreibt über die Figur Reliquimini: „Герой был странен не менее своей фамилии, а фамилия – ей особенно доволен был Борис – была классическая: прямо из 5-й гимназии. Есть такой неприятный для гимназистов неправильный глагол: reliquor, relictus sum, reliquari. Если начать спрягать это reliquor, то второе лицо множественного числа настоящего времени будет глагол reliquimini.“ „Der Held war nicht weniger seltsam als sein Familienname, dieser Name aber – Boris war mit ihm besonders zufrieden – war klassisch: geradezu aus der fünften Gymnasialklasse. Es gibt ein für Gymnasiasten so unangenehmes unregelmässiges Verb: reliquor, relictus sum, reliquari. Wenn man anfängt, dieses reliquor zu konjugieren, so lautet die zweite Person Plural der Gegenwart reliquimini.“ Durylin, Sergej: „Iz avtobiografičeskich zapisej ‚V svoem uglu‘“, in: Vospominanija o Borise Pasternake. Moskva 1993, 54–58, hier 56. 11 Ljunggren: Juvenilia B. Pasternaka, 64. 12 Aucouturier, Michel: „The Metonymous Hero or The Beginnings of Pasternak the Novellist“, in: Books Abroad 44, 2 (1970), 222–227. 13 Kling: „Pasternak i simvolizm“, 32, 40/41. Baudelaire kann man freilich je nach Text auch als Dichter der Sonne bezeichnen. Entsprechend ist der Begriff der Dämmerung bei ihm anders als in den Reliquimini-Fragmenten morbid gefärbt. Vgl. etwa das Gedicht „Le coucher du soleil romantique“ (1862), in dem der Dämmerung „[u]ne odeur de tombeau“ anhaftet. Baudelaire: Œuvres complètes, 149. Dass die russische Romantik, Baratynskij eingerechnet, letztlich noch sehr stark dem Sonnenparadigma der Aufklärung verpflichtet ist, zeigt HansenLöve: Der Russische Symbolismus, II, 232/233.

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

123

senheit von Lichtfiguren. Sie kann aber dahingehend gestützt und weitergeführt werden. Der springende Punkt von Pasternaks Anfängen sei, so Brojtman, seine ‚ewig-weiblich‘ geprägte Sicht der Dinge – auch der Kunst. Wie ich meine, ist es gerade die mantrahaft wiederkehrende Dämmerung in Reliquimini-Fragmenten, die die spezifisch Pasternaksche (Neo-)Sophiologie Gestalt annehmen lässt und vom Sophienkult des Licht-Symbolismus unterscheidbar macht. Cvetaeva spricht keineswegs bloß wortspielerisch von der „вечная Мужественность“ / „ewigen Mannhaftigkeit“ des Lichts. Sie tut es unter bewusster Ausblendung des weiblichen Komplements, des dunklen „Ewigweiblichen“, das in Form der „сумерки“ / „Dämmerung“ die Reliquimini-Fragmente wie ein Faden durchzieht. Reliquimini hält seinen Freunden und Bekannten (u.a. dem Erzähler) auf der Straße extemporierte Vorträge über das Wesen des Schöpferischen, das für ihn durch eine intime Verwandtschaft mit der Dämmerung verbunden ist. Der Dämmerung „nah“ sind in verschiedenen Fragmenten außerdem die unbeseelten Gegenstände des Alltags, die sich nach der Zuwendung eines Dichters „sehnen“. Durchaus überzeugend sind die Parallelen, die Evans-Romaine zwischen Pasternaks Dämmerungs-Figur und dem „Lied des Pilgers“ aus Heinrich von Ofterdingen, den Hymnen an die Nacht und einigen Blütenstaub-Fragmenten von Novalis zieht. Novalis’ Lob der Dunkelheit ist vor allem deshalb eine bessere Spur als die Spätromantik und der Frühsymbolismus, weil es grundsätzlich keine dämonischen Untertöne hat. Nimmt man etwa folgende Stelle aus den Hymnen an die Nacht: „Wie arm und kindisch dünkt mir das Licht nun – wie erfreulich und gesegnet des Tages Abschied“,14 so ist dieser begeisterte Ton tatsächlich ähnlich wie bei Reliquimini. Besonders aufschlussreich ist Evans-Romaines Hinweis auf Novalis’ großes Interesse an unbelebten Dingen15 (wenn es auch bei Pasternak direkter von Rainer Maria Rilkes Dinggedichten inspiriert ist16). Ein Problem an Evans-Romaines Lektüre ist die Unvereinbarkeit von Pasternak mit Novalis in einem ganz bestimmten Punkt: in der Verinnerlichung. Evans-Romaine zitiert ausgiebig aus den „Lehrlingen zu Sais“, um Novalis’ pietistische Figur des „inneren“ Lichts17 für Pasternak fruchtbar zu machen. Gerade ein inneres Licht ist allerdings bei dem angehenden russischen Dichter nirgends zu finden, und auch in Sestra moja – žizn’, Ochrannaja gramota, Doktor Živago, um nur drei der wichtigsten späteren Texte zu nennen, bleibt das Licht stets etwas Äußeres. 14 Novalis: Schriften, I, 133. Vgl. Evans-Romaine: „Pasternak and Novalis“, 48/49. 15 Ebd., 50/51. Novalis: Schriften, III, 577 (Hervorhebung im Orig.): „Eine wahrhafte Liebe zu einer leblosen Sache ist wol denkbar […].“ 16 Vgl. Livingstone, Angela: „Pasternak i Ril’ke“, in: Aucouturier: Boris Pasternak, 1890–1960, 332–449, hier 437. 17 Evans-Romaine: „Pasternak and Novalis“, 70. Novalis: „Die Lehrlinge zu Sais“, in: ders.: Schriften, I, 79–109, hier 82.

124

Mitleid mit der Dämmerung

Da alle Anlehnungen der Reliquimini-Fragmente an Modelle irgendwo auf einen Widerspruch stoßen, sollte der erste Schritt eine möglichst immanente Lektüre sein. Beginnen wir mit einer Stelle aus dem Fragment „Uže temneet…“  / „Schon dunkelt es…“ von 1910: Да, и вот представь себе всю эту религиозную революцию сумерек, когда даже те линии, которые сдерживали фанатизм дня, перестают быть гранями, когда и боготворимые линии изламываются, множатся, гнутся и вдруг сами начинают плыть, сами становятся на колени, сами хотят перебирать какие-нибудь четки, льнуть к алтарю, биться об ограду, и вот вздувается все, что ты видишь, как какое-то одухотворенное половодье, и вот тебе сумерки – целая поднявшаяся степь кочевников, какой-то поход призраков, пятен, клочков, и они обнимаются, плачут, бичуют себя – и это какая-то скорбь того единственного безбожия, когда […] есть целые площади поющих и нет того, кого поставить в звательном падеже, потому что все линии, ах, это надоело тебе, все линии, звательные падежи цветов склонились, перестали быть собою, стали порывом, и вот нет таких чистых точеных рук, которые приняли бы встречное исступление.18 Ja, und nun stell dir diese ganze religiöse Revolution der Dämmerung vor, wenn sogar jene Linien, die vom Fanatismus des Tages festgehalten wurden, aufhören Grenzen zu sein, wenn die vergötterten Linien gebrochen werden, sich vermehren, sich biegen und plötzlich selbst zu schwimmen beginnen, selbst sich hinknien, selbst irgendeinen Rosenkranz sich durch die Hand flirren lassen, zum Altar, über die Abschrankung drängen, und dann bläht sich alles auf, was du siehst, wie eine beseelte Überschwemmung, und hier hast du die Dämmerung – eine ganze sich erhebende Steppe von Nomaden, ein Aufbruch von Gespenstern, Flecken, Fetzen, und sie umarmen sich, weinen, geißeln sich – und das ist eine Art Verzweiflung über jene einzigartige Gottlosigkeit, wenn […] es ganze Plätze von Singenden gibt, aber keinen, den man im Vokativ nennen könnte, weil alle Linien, ach, das langweilt dich alles, alle Linien, die Vokative der Farben sich gebeugt, aufgehört haben, sie selbst zu sein, zum Aufbruch wurden, und da gibt es keine sauberen eleganten Hände mehr, die die entgegenkommende Ekstase auffangen würden.

Nur die Dämmerung könne, so Reliquimini, den profanen „Fanatismus des Tages“ wirksam eindämmen: In ihrer „religiösen Revolution“ würden die „vergötterten Linien“, die Ordnung und die Grenzen der Tagwelt, ins Wanken geraten. Die vergötterten Linien – die bisher verbindlichen Normen des Lebens und so auch der Sprache19 – lösen sich in der „Überschwemmung“ der Dämmerung und der ausufernden Satzperioden auf, die Linien müssen von ihrem bisherigen, „göttlichen“ Status Abschied nehmen. Sie verlieren die Orientierung, die sie selbst einmal ver-

18 „Uže temneet…“ [1910], PSS, III, 420–429, hier 426. 19 Zur Befreiung von den Normen als Ausgang aus der konventionalisierten Sprache vgl. Jensen, „‚Mir, kotoryj stal sam ne svoj‘“, 184.

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

125

körperten. Dieser Zustand der Entgrenzung durch die Dämmerung eröffnet einen anarchischen Zustand, ein Intervall der „Gottlosigkeit“.20 Es bleibt indessen nicht bei der „religiösen Revolution“. Nachdem die gewohnten Formen und Beziehungen durch das Chaos der Dämmerung befreit worden sind, verlangen sie ihrerseits nach etwas Höherem, das ihrer Ekstase eine neue Begrenzung gibt. Die bisherigen Normen, so Reliquimini, seien selbst wiederum angewiesen auf einen Gott, dem sie sich unterordnen, und eine höhere Liebe, der sie sich hingeben können. Diesen Gott, diese Liebe könne aber nur der Künstler bringen, und zwar nicht durch einen triumphal-demiurgischen Akt, sondern durch seine umso größere Hingabe: […] к нам, художникам, если мы совсем чисты, приходит забывшаяся жизнь […] и наступают в жизни тоже такие сумерки, когда все это линейное, то есть высшее, подчиняющее и святое, само хочет линий над собой, вокруг себя, потому что само тянется […] это значит, что жизнь была в рамках, и рамы были неизменными, неподвижными; но и они заразились жизнью, стали ею und dann muss man die Götter, die Liebe, alle Rahmen die Leben geworden umrahmen, […] и вот лирик, не понимая этого так рассудочно, сочувствует сумеркам, и что же такое творчество, как не сострадание сумеркам, и вот бросается художник и с какой-то вдохновенной пантомимой показывает вам, как подгнили все святые клетки, и он молит, – обнесите сумерки Богом, видите, формы раскололись, они стали содержанием и за это терпят боль содержания, смотрите, жизнь залила судьбу, и судьба как случай плывет, плывет, дайте судьбе новую судьбу […].21 […] zu uns, den Künstlern, wenn wir ganz rein sind, kommt das selbstvergessene Leben […], und es stellt sich im Leben auch manchmal eine solche Dämmerung ein, in der all dies Lineare, d.h. Höhere, Verfügende und Heilige selbst Linien über sich wünscht, um sich herum, weil es sich selbst hinzieht […], d.h. dass das Leben in einem Rahmen war, und der Rahmen war unveränderlich, unverrückbar; aber auch der wurde mit Leben angesteckt, er [der Rahmen] wurde es [Leben] und dann muss man die Götter, die Liebe, alle Rahmen die Leben geworden umrahmen [im Orig. deutsch], […] und hier hat der Lyriker, von all dem verstandesmäßig nichts verstehend, mit der Dämmerung Mitgefühl, und was ist denn Kreativität, wenn nicht Mitleid mit der Dämmerung, und da schmeißt sich der Künstler hin und zeigt euch mit einer Art inspirierter Pantomime, wie alle heiligen Käfige faul geworden sind, und er bittet, – umreißt die Dämmerung mit Gott, seht ihr, die Formen sind zersprungen, sie sind Inhalt geworden und erleiden dafür die Schmerzen des Inhalts, seht, das Leben hat das Schicksal ausgegossen, und das Schicksal schwimmt wie der Zufall, es schwimmt, gebt dem Schicksal ein neues Schicksal […].

20 Zur Dämmerung als „Geschehen“ siehe Böhme, Gernot: „Das Bild der Dämmerung“, in: ders.: Theorie des Bildes. München 1999, 95–109, hier 97. Zur Seinsweise der Dämmerung schreibt Böhme treffend, sie sei „kein Etwas, und sie erscheint auch nicht. Sie ist eher eine Erscheinungsweise, ein Modus des Erscheinens.“ Ebd., 109. 21 „Uže temneet…“, 427 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

126

Mitleid mit der Dämmerung

Es ist die Aufgabe des Künstlers (Dichters), diesem herrenlos gewordenen Leben seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen, sich seiner in, paradox ausgedrückt, schöpferischem Mitleid anzunehmen. Und so kann auch der nackte, dunkle Rücken einer Frau neben einer Sessellehne in dem liebenden Dichter schmerzhaftes Mitleid hervorrufen, wie im Fragment „Kogda Relikvimini vspominalos’ detstvo…“ / „Wenn Reliquimini sich an die Kindheit erinnerte…“, ebenfalls von 1910: И он безудержно сострадал. Кому? Своей девушке? Ее спине? Непредупрежденному дереву? Он вздрогнул, когда дернулся поплавок в ночи и там выловили какой-то влажный выскальзывающий сигнал. И он спросил себя, не сострадает ли он, может быть, этой застигнутой окном дали? Нужно было сейчас же понять, какой загадке сострадает он?22 Und er litt unaufhaltsam mit. Mit wem? Mit seinem Mädchen? Mit ihrem Rücken? Mit dem ungewarnten Holz? Er erzitterte, als der Schwimmzapfen in der Nacht absank und man dort ein nasses glitschig-entgleitendes Signal fing. Und er fragte sich, ob er nicht womöglich mit dieser fensterverschnürten Ferne Mitleid hatte? War es denn jetzt [überhaupt] nötig zu verstehen, mit welchem Rätsel er Mitleid hatte?

Mitleid ist, wie schon in der vorhergehenden Passage betont wird, etwas Irrationales. Es ersetzt geradezu das Verstehen. So wird es bei Pasternak zur Voraussetzung eines jeden künstlerischen Aktes (das betrifft die Zeit vor Marburg, gilt jedoch weitgehend auch für die „philosophische“ Phase und danach). Aber war nicht bei den theurgisch-sophiologischen Symbolisten die Situation im Grunde ähnlich? Ein dunkles, abgründig-weibliches Element, und sei es der sprachlose Rücken einer Frau, rückt doch hier wie dort ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Lösung lautete bei Solov’ev und seinen Adepten so: Ein strahlender männlicher Part steigt zu dem chaotischen Element hinab und erlöst es durch Verklärung – oder scheitert. Beim Postsymbolisten Pasternak ist das anders. Mitleid mit der Dämmerung heißt nicht Verwandlung qua Lichtnatur des Logos. Im Gegenteil, die Dämmerung soll gerade nicht durchlichtet werden. Die Aufgabe des Dichters besteht lediglich darin, der Dämmerung eine Form zu geben, in der diese sich als solche verewigen kann.23 Das wiederum bedeutet, dass er ihr einen „Umriss“ – mit Jankélévitch: eine Gelegenheit – geben muss, einen Umriss, um dessentwillen und dem zuliebe die Entfesselung im Reich der Dämmerung vonstatten gehen und dank dem sie wieder „zu sich“ kommen kann: Сумерки, понимаете ли вы, что сумерки это какое-то тысячное бездомное волнение, сбившееся и потерявшее себя, и лирик должен разместить сумерки, и вдруг листья клена на асфальте копошатся, копошатся, как множество сумерек, и асфальт – это такая 22 „Kogda Relikvimini vspominalos’ detstvo…“ [1910], PSS, III, 436–446, hier 442. 23 Gernot Böhme schreibt, ein (fotografisches) Bild der Dämmerung müsse „quasi randlos“ sein. Böhme: „Das Bild der Dämmerung“, 105.

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

127

даль, и должен быть какой-нибудь бесцветный стягивающий очерк, для которого они бы дрожали, горели, и вот я бросился очертя голову, чтобы очертить вокруг листьев Бога, очертание для пятен, покой для исступления.24 Die Dämmerung, versteht ihr, dass die Dämmerung eine tausendfache bodenlose Erregung ist, die aus der Form gefallen ist und sich verloren hat, und der Lyriker muss die Dämmerung anordnen, und plötzlich wirbeln die Blätter des Ahorns auf dem Asphalt durcheinander, wirbeln durcheinander, wie eine Vielzahl von Dämmerungen, und der Asphalt – was ist das für eine Weite, und es muss eine solch farblose einengende Skizze geben, um derentwillen die Blätter es für würdig erachten zu zittern, zu brennen, und da schmiss ich mich kopflos hin, um rund um die Blätter Gott zu skizzieren, Umrisse für die Flecken, Ruhe für die Ekstase.

An anderer Stelle notiert Pasternak in derselben Zeit: „Поэт – субъективность – бессмертие. Он повод.“25 „Der Dichter ist Subjektivität, ist Unsterblichkeit. Er ist ein Anlass.“ Und 1913 heißt es in den Thesen zu seinem im Zirkel Musaget gehaltenen Vortrag „Simvolizm i bessmertie“ / „Symbolismus und Unsterblichkeit“: „[…] поэт никогда не существо – но условие для качества.“26 „[…] der Dichter ist nie ein Lebewesen, sondern die Bedingung für eine Qualität“. Der Dichter als „Anlass“ und „Bedingung“ für statt als Demiurg von etwas: diese Volte in Pasternaks Konzeption der Dichtung – mit Oskar Walzel könnte man von „Entichung“ und „Entpersönlichung“ des Subjekts sprechen27 – wurde in der Literatur ausführlich behandelt.28 Dazu gehört bei Pasternak die Transformation des Neukantianismus 24 „Uže temneet…“, 428. 25 Zit. nach Pasternak, Boris: Ob iskusstve. „Ochrannaja gramota“ i zametki o chudožestvennom tvorčestve. Sostavlenie i primečanija E. B. i E. V. Pasternak. Vstupitel’naja stat’ja V. F. Asmusa. Moskva 1990, 382. 26 „Simvolizm i bessmertie. Tezisy“, PSS, V, 318–319, hier 318. 27 Vgl. Combe, Dominique: „Le référence dédoublé. Le sujet lyrique entre fiction et autobiographie“, in: Rabaté, Dominique (Hrsg.): Figures du sujet lyrique. Paris 1996, 39–63, hier 47/48. 28 Zu nennen sind einerseits Flejšmans und Anna Hans schon erwähnte Arbeiten zu Pasternaks ‚künstlerischer Phänomenologie‘ (insbesondere der „Selbstoffenbarung des Seins“, Flejšman: „K charakteristike rannego Pasternaka“, 352), andererseits verschiedene Studien zu Pasternaks ‚Antiromantismus‘. Für einen Überblick über Pasternaks idiosynkratisches Romantikverständnis vgl. Paramonov, Boris: „Pasternak protiv romantizma. K ponimaniju problemy“, in: Losev: Boris Pasternak, 1890–1990, 11–25. – Konzis ist die Zusammenfassung der Desubjektivierung bei Locher, Jan Peter: „Ist Boris Pasternak ein Dichter der Avantgarde?“, in: Riggenbach, Heinrich (Hrsg.): Colloquium Slavicum Basilense. Gedenkschrift für Hildegard Schroeder. Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas 1981, 407–441, hier 418 (Hervorhebung im Orig.): „[…] das lyrische Ich [erscheint], ganz anders als bei den Symbolisten, gemindert […], d.h. zu einem Phänomen reduziert, das selbst nichts tut, von dem kein Willensakt ausgeht, keine Vision emaniert: es ist eine Entität neben anderen, mit Objektqualität, und erleidet Geschehen.“ Ähnlich zuletzt wieder Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 22. Nicht zu verwechseln ist Pasternaks ‚Antiromantismus‘ übrigens mit der Kritik, die etwa zeitgleich Carl Schmitt an der Romantik übte. Zwar gibt es auch bei Pasternak eine Distanzierung von

128

Mitleid mit der Dämmerung

von einer streng-philosophischen Beschäftigung in eine Strategie des Dichters, den Zustand „unpersönlicher Subjektivität“29 zu erreichen, ja, wie er 1911 an seine Mutter schrieb, das Leben zu „interpretieren“ statt zu erleben: „[…] я не люблю жить, я люблю истолковывать.“30 „[…] ich liebe es nicht zu leben, ich liebe es auszudeuten.“ Es ist nun aber bemerkenswert, dass Pasternak die Konzeption des „passiv aktiven“31 Dichters in seinen frühen Texten ausgerechnet als „Sich-Hinschmeißen“ an die Dämmerung formuliert. In gewisser Weise verdankt die Dämmerung ihr Aufkommen also dem Dichter – so wie der Sonnenuntergang in Jankélévitchs Beispiel aus der Einleitung „nicht nur gnadenhaft“ ist, sondern vom Maler mitkreiert wird. Der Dichter ist die Bedingung für die Freisetzung der Dämmerung als „Qualität“, er ist exakt dies: „условие для качества.“ Zugleich hält Reliquimini in einem anderen Fragment, „Zakaz dramy. Nedialogičeskie dramy i nedramatičeskie dialogi“ („Dramenauftrag. Nichtdialogische Dramen und nichtdramatische Dialoge“, 1910), fest, dass „Lyrismus“ allein nicht imstande sei, die Dämmerung zu erlösen: „Лиризм, чистый, нагой, вознесенный, лиризм, который никогда не искупит сумерек, пришедших просить прощения, и нуждающихся в лирике вещей.“32 „Lyrismus, rein, nackt, erhaben, jener Lyrismus, der niemals die Dämmerung erlösen wird, welche um Vergebung bittet, welche einen Lyrismus der Dinge benötigt.“ Die Kunst allein reicht nicht, um die bedürftige Dämmerung mit Gott zu „umrahmen“ – es brauche dazu die bereits erwähnte Lyrik der Dinge. Die Kunst macht die „Lyrik“ in deren Dynamik sichtbar, ohne sie zu erfinden. Diese noch durchaus realsymbolistische Sicht des Verhältnisses von Wirklichkeit und Kunst wiederholt Pasternak später in Ochrannaja gramota. Die „Kraft“ des Lebens, wird es dort heißen, sei eine Gegebenheit, doch ohne das „mitleidige“ Zuhilfeeilen der Kunst mit ihrem beweglicheren „Anderssagen“ bliebe diese Gegebenheit unsichtbar und un-entfaltet: „[…] ничем, кроме движущегося языка образов […], не выразить себя силе, факту силы, силе, деятельной лишь в момент явленья. / Прямая речь чувства иносказательна, и ее нечем заменить.“33

29 30 31 32 33

der romantischen „Wendung zum Subjektiven“ (K.  H. Bohrer). Andererseits entspricht in Pasternaks Kritik nichts jenem „Occasionalismus“, den Schmitt den Romantikern vorwarf. Im Gegenteil, Pasternak ist, falls man den Begriff unpolemisch, neutral verwenden will, selbst ein hochgradig „occasionalistischer“ Dichter – wozu die Verwendung von Vladimir Jankélévitchs „Gelegenheits“-Begriff in Bezug auf seine Poetik des Lichts passt. Vgl. dazu Bohrer, Karl Heinz: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt a. M. 1989, 286. Fleishman, Lazar/Harder, Hans-Bernd/Dorzweiler: „Vvedenie“, in: dies.: Boris Pasternaks philosophische Lehrjahre, I, 11–138, hier 68. Brief vom 17. Mai 1911, PSS, VII, 81. Vgl. Pasternak, Elena: „Boris Pasternak i Aleksandr Štich“, in: Rossija/Russia 8 (1993), 191–230, hier 195. Vgl. Brojtman: „Rannij Pasternak i postsimvolizm“. „Zakaz dramy“, 460 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Ochrannaja gramota, 187 (Der Schutzbrief, 289, modifiziert).

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

129

„[…] mit nichts außer der sich bewegenden Sprache der Bilder […], kann sich die Kraft ausdrücken, der Fakt der Kraft, die Kraft, die nur dauert im Moment der Erscheinung. / Die direkte Rede des Gefühls ist allegorisch, und sie ist mit nichts zu ersetzen.“

Revidierte, postsymbolistische Sophiologie Pasternaks Dämmerung ist ein solcher „anderssagender“, also allegorischer Ausdruck für die „bedürftige Wirklichkeit“ und zugleich für die erforderte „passive Aktivität“ des Künstlers. Er ist entscheidend, wenn es darum geht, die von Brojtman feststellte Verschiebung von der symbolistischen hin zu einer postsymbolistischen Sophiologie zu konkretisieren. Bei Aleksandr Blok ist die Sophia (die Wunderschöne Dame) die Angebetete des Dichters und als solche Gegenstand einer nie oder nie ganz erfüllbaren Sehnsucht. Bei Pasternak, so Brojtman, werde die Sophia zur „Schwester“ oder sogar „Zwillingsschwester“ des Dichters,34 und das Verhältnis sei nicht mehr das einer amour fou, sondern eines von geschwisterlicher Zuwendung.35 So heißt es in dem Text über das Mädchen mit dem entblößten Rücken: „Да, излишняя была любовь. Ведь они стали братом и сестрой и продолжали бежать без погони, продолжали любить без любви и быть предсердиями друг 34 „[…] man muss von einer ästhetischen und ‚kategorialen‘ Wende sprechen, die bei Pasternak gegenüber seinen Vorgängern stattgefunden hat. Sie bestand in der Modifizierung der Position des ‚Ich‘ gegenüber dem Sophien-Prinzip: darin, dass er im Blick auf ‚Sie‘ die umgekehrte Perspektive einnahm, im Wechsel zu einem inneren Blickpunkt auf sie, darin, dass er im Leben und in der Ästhetik einen aktiv-passiven Status des ‚Ich‘ entdeckte; und schließlich im Verzicht auf das Konventionalisiert-Poetische und darin, dass er von der Kunst einen direkten und substanziellen Sinn und über den Sinn erhabene Aktivität forderte (Liebe). Keines dieser Momente war für sich genommen antisymbolistisch […] – es geht hier nur um die Vollständigkeit der Realisierung – darum, das möglichst ganz umzusetzen, was sie [die Symbolisten] gewollt hatten, aber nicht umzusetzen vermocht hatten.“ Brojtman: „Rannij Pasternak i postsimvolizm“. Lange vor Brojtman hatte Igor’ Smirnov Pasternaks Postsymbolismus als „Immanentisierung“ des Programms der jüngeren Symbolisten beschrieben. Vgl. Smirnov, Igor’: Poroždenie interteksta. Ėlementy intertekstual’nogo analiza s primerami iz tvorčestva B. L. Pasternaka. Vtoroe izdanie. Sankt-Peterburg 19952, 26. Brojtman übernimmt Smirnovs Beschreibung einerseits, andererseits betont er wesentlich stärker die Intention, mit der die Immanentisierung einhergeht: die Idee des Schöpfertums als Erleiden. 35 Vgl. das Gedicht „Prostranstva tuč – dekabr’skaja ruda…“ („Räume der Wolken – Erz des Dezember…“, 1911/1912): „И как обычай, знает каждый зрячий: / Что сумерки без гула и отдачи / Взломают душу, словно полый зал.“ „Und wie der Brauch weiß jeder Sehende: / Dass die Dämmerung ohne Widerhall und Hingabe / Die Seele bricht, wie ein hohler Saal.“ PSS, II, 292. Eine ‚reine‘ Dämmerung wäre wie ein „hohler Saal“; der Künstler muss ihr deshalb Konturen geben und sie so mit Sinn ausfüllen.

130

Mitleid mit der Dämmerung

друга. Братом и сестрой стали они. Или двумя сестрами.“36 „Ja, die Liebe war überflüssig. Denn sie wurden Bruder und Schwester und rannten weiter, ohne einander zu verfolgen, fuhren fort, ohne Liebe zu lieben und füreinander Herzkammern zu sein. Bruder und Schwester wurden sie. Oder zwei Schwestern.“ Blok sah in der Wunderschönen Dame das absolute Licht, und als sie ausblieb, musste ihr Licht in eine real gegenwärtige Schwärze umschlagen (wie im vorhergehenden Kapitel mit Cvetaeva beschrieben). Dagegen rückt Pasternak in seiner modifizierten Sophiologie die Dämmerung, jenen unentschiedenen Zustand zwischen Helligkeit und Finsternis, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die „Schwester“ Dämmerung hat bei Reliquimini verschiedene Hypostasen, in „Zakaz dramy“ etwa die unbestimmte weibliche Substanz Andželika, mit der er gemeinsam die Welt als „Kind“ hervorbringen soll, oder Fanera, eine Personifikation des ihn umgebenden sophianisch-passiven Möbelholzes und ironisches Substitut der Venera (russ. für Venus), die er im Traum mit seinem Klavierspiel zum Tanzen bringt.37 Während Reliquimini in der Wohnung schläft, rufen die unbelebten Gegenstände ihm im Traum zu: […] ну ты такой смешной у нас, ты так топил своим сном, как если б ждал ты кого оттуда, из хлопьев, с мoроза, как если б ждал ты сестры или почтальона, который сказал бы тебе, что: «нет, Реликвимини, я знаю свет лучше вас, смею вас уверить, что никакой такой сестры нет на свете […].38 […] du bist uns aber ein Lustiger, du hast mit deinem Schlaf so eingeheizt, wie wenn du jemanden von dort erwartet hättest, aus den Flocken, aus dem Frost, wie wenn du die Schwester oder den Postboten erwartet hättest, der dir gesagt hätte: „Nein, Reliquimini, ich kenne die Welt/das Licht besser als Sie, ich erdreiste mich Sie zu versichern, dass es keine solche Schwester gibt auf der Welt/im Licht […].“

Die durchaus ernst gemeinte Pointe an dieser sophiologischen Burleske liegt in der Versicherung des Postboten. Versteht man „свет“ hier als Licht der Tagwelt, so ergibt sich die Aussage, dass es im Leben sehr wohl eine Schwester Fanera gäbe – nicht aber, solange noch der „Fanatismus des Tages“ herrscht. Zuerst müsste sich eine „religiöse Revolution der Dämmerung“ einstellen. Um mit dem Leben ‚intim‘ zu werden und mehr als seine Oberfläche zu sehen, muss der Dichter in einem ersten Schritt das Licht abdunkeln. Der Sophianismus der Dämmerung ist bei Pasternak sowohl lebensphilosophisch wie auch medial notwendige Bedingung der Kunst. Die mediale Seite der Sophiologie macht Pasternak in einer seiner Reflexionen zur Filmkunst stark. 1913 schrieb er an seinen Freund Sergej Bobrov:

36 „Kogda Relikvimini vspominalos’ detstvo…“, 442. 37 Vgl. Gorelik: Rannjaja proza Pasternaka, 13–16. 38 „Zakaz dramy“, 465.

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

131

[…] кинематографический фильм фотографирует второстепенный естественный элемент, а никак не драматическое в драме. […] И вот я обращаюсь к главному, на мой взгляд, преимуществу кинематографа. […] Драматичнее всего сцена; сама сцена, момент борения подмостков с зрительным залом, или реальности идеи с темным простором, в котором разменивается, в котором получает свое осуществление замышленная ценность идеи.39 […] der kinematographische Film fotografiert ein sekundäres natürliches Element, mitnichten aber das Dramatische am Drama. […] und damit wende ich mich dem meines Erachtens wichtigsten Vorzug des Kinematographen zu. […] Am dramatischsten ist [hier] die Bühne; die Bühne selbst, das Moment des Kampfes der Bühnenbretter mit dem Zuschauerraum, oder [des Kampfes] der Realität einer Idee mit dem dunklen Raum, in welchem der geplante Wert einer Idee sich verschwendet, in dem er seine Realisierung erreicht.

Der Film verlagert also das Drama des Theaters von den Personen – von der aristotelischen „Nachahmung/Darstellung einer Handlung“40 – auf das Medium (die „Bühne“) selbst, indem er die lichte „Idee“ mit dem „dunklen Raum“ reagieren lässt. Mit dem Raum scheint Pasternak in Analogie zur Theatersituation den Zuschauerraum zu meinen. Er könnte mit der Vermengung von Licht und Dunkel aber auch den eigentlichen Filmstreifen, das Negativ, im Sinn haben. In der Kinematographie kommt eine Vermischung der Idee mit etwas „Abwesendem“ (Baudrillard) qua Projektion von selbst zustande. Die Literatur ist diesbezüglich auf Imagination angewiesen. Als „Negativ“ der Idee kann ihr dabei das Konzept des Sophianismus dienen. Pasternaks Brief an Bobrov kommentierend, schreibt Igor’ Smirnov, der Kinematographie komme gegenüber ihrem Drama (ihrem Inhalt) eine ähnliche Rolle zu wie der negativen Theologie gegenüber objektivierenden Gottesbildern.41 Smirnov führt dies nicht weiter aus, man kann sich indes vorstellen, dass er mit negativer Theologie in diesem Fall nicht den negativen Diskurs meint, sondern die göttliche Finsternis aus dem Alten Testament („Er hüllte sich in Finsternis“, Ps 17/18, 12), die bei Dionysius Areopagita zum ,Negativ‘ der Theologie wurde. Wenn man Pasternaks Aussage über das Kino und Smirnovs Kommentar auf die Poetik zurück übeträgt, so könnte man die Abdunkelung in Pasternaks frühen Texten als Suche nach einem Negativ des Schreibens bezeichnen. Und zugleich ist in dieser Suche, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird, eine Modifikation des symbolistischen Weiblichkeitskults zu sehen. Gerade in ihrer „Bedürftigkeit“ ist Reliquimini die Dämmerung im wörtlichen Sinne sympathisch. Sie bittet, wie wir gesehen haben, auf den Knien um einen 39 Brief an Sergej Bobrov vom 2.–8. August 1913, PSS, VII, 150. 40 μίμησις πράξεως, 1449b 24. Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 19942, 18. 41 Smirnov, Igor’: „Dve neizvestnye stat’i Pasternaka o kinematografe?“, in: Zvezda 2 (2007), in: http://magazines.russ.ru/zvezda/2007/2/sm11.html (Zugriff: 29.06.2011).

132

Mitleid mit der Dämmerung

neuen Gott, um neue Konturen des Wahren, Guten und Schönen. Der Dichter kann diese Konturen nicht herstellen. Umso mehr will er in der Nähe der Dämmerung sein und sich ihr, wenn auch vorübergehend, angleichen. Sie soll nicht ausgetrieben und in eine stabile Tagwelt übergeführt werden, denn die „Lyrik der Dinge“ könnte in der Tagwelt nicht zur Entfaltung kommen. Der Dichter unternimmt insofern lediglich die notwendigen Maßnahmen, um der Dämmerung zu Dauerhaftigkeit zu verhelfen. Reliquimini fasst seine Haltung einmal sogar in eine versifikatorische Metapher: Die Tagwelt kenne nur betonte, männliche Silben. Und er fragt: Wer, wenn nicht der Dichter, könnte die fehlenden unbetonten, weiblichen Silben hinzufügen? Nur das Hinzukommen eines weiblichen Elements lockerte die Faktizität der Tatsachen. Dieses Element, die unbetonte Silbe aus der Verslehre, wird in „Prežde vsego mne chočetsja govorit’ o toj byli…“ („Vor allem möchte ich über jenes Ereignis sprechen…“, 1912) wiederum mit der Dämmerung bezeichnet: „Действительность давала лишь тяжелый слог, первую половину стопы, – какая-то певучая осмысленность требовала второй части, вечера, сумерек, в которых бы ослабла быль или ее повязки.“42 „Die Wirklichkeit bot nur die schwere Silbe, die erste Hälfte des Versfußes, – eine gewisse gesangliche Sinnhaftigkeit erforderte einen zweiten Teil, einen Abend, eine Dämmerung, in der die Tatsache oder deren Binde sich abschwächte.“ Kunst ist also ein Ereignis der Effeminierung der ‚harten‘ Fakten. Und weiter heißt es: „Жаждой неударяемого хаоса, тоскующей волей – быть женственной бывает проникнута быль […], когда она – на пороге вдохновения.“43 „Von Durst nach unbetontem Chaos, von sehnsüchtigem Willen, weiblich zu werden, pflegt die Tatsache durchdrungen zu sein […], wenn sie an der Schwelle zur Inspiration steht.“ Die Aufgabe des Künstlers ist es nicht einmal, sich selbst zu verweiblichen, sondern lediglich zu erkennen, wann die Tatsachen und ihre Konturen das Verlangen signalisieren, „unbetont“ und der Dämmerung ähnlich zu werden. Nimmt man die Metapher der unbetonten, „weiblichen“ Silben ernst, so liefert sie auch eine Erklärung dafür, weshalb Pasternak sich in allen Phasen seines lyrischen Werks immer wieder daktylischer, also gar doppelt-weiblicher Versendungen bediente.44 Der Zusammenhang zwischen post-

42 „Prežde vsego mne chočetsja govorit’ o toj byli…“, PSS, III, 510–512, hier 511 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 43 Ebd., 512. 44 Doktor Živago bringt die daktylischen Versendungen und Reime in seinem Tagebuch dann mit der poetisch-volkstümlichen „Umgangssprache“ Nikolaj Nekrasovs in Verbindung: „Так позднее ритмы говорящей России, распевы ее разговорной речи были выражены в величинах длительности Некрасовским трехдольником и Некрасовской дактилической рифмой».“ „So fanden später die Rhythmen des sprechenden Russland, die Klänge seiner Umgangssprache Ausdruck in den Größenordnungen von Nekrassows dreihebigen Verszeilen und seinen daktylischen Reimen“. Doktor Živago, 283 (Doktor Shiwago, 390).

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

133

symbolistischer Sophiologie, Abdunkelung des Tages und Poetologie wird an dieser Stelle besonders deutlich.45 Oleg Kling erwähnt im Zusammenhang mit Pasternaks Prosafragmenten Valerij Brjusovs Manifest „Ključi tajn“ („Die Schlüssel zu den Geheimnissen“, 1904), in dem der Hauptvertreter des frühen russischen Symbolismus ein überraschend romantisches Dichtungsverständnis formuliert. Brjusov sieht die Aufgabe der Kunst darin, mystische „Lichtblicke“ des Künstlers festzuhalten. Die Kunst sei der lichthafte „Schlüssel“46 zum dunklen Urgrund des Seins, den Brjusov ganz in der Tradition von Fedor Tjutčev und Afansij Fet versteht: Но мы не замкнуты безнадежно в этой «голубой тюрьме» – пользуясь образом Фета. Из нее есть выходы на волю, есть просветы. Эти просветы – те мгновения экстаза, сверхчувственной интуиции, которые дают иные постижения мировых явлений, глубже проникающие за их внешнюю кору, в их сердцевину. Исконная задача искусства и состоит в том, чтобы запечатлеть эти мгновения прозрения, вдохновения. Искусство начинается в тот миг, когда художник пытается уяснить самому себе свои темные, тайные чувствования. Где нет этого уяснения, нет художественного творчества. Где нет этой тайности в чувстве – нет искусства. Для кого все в мире просто, понятно, постижимо, тот не может быть художником. Искусство только там, где дерзновение за грань, где порывание за пределы познаваемого […].47 Doch wir sind nicht hoffnungslos in diesem „blauen Gefängnis“ eingesperrt – um ein Bild von Fet zu verwenden. Es gibt einen Ausweg in die Freiheit, es gibt Lichtblicke [Aufhellungen]. Diese Lichtblicke – diese Augenblicke der Ekstase, der übersinnlichen Intuition, die die Erscheinungen der Welt anders erfahrbar werden lassen, da sie tiefer in ihre äußere Hülle 45 Eine andere, lacanianisch-feministische Sicht auf Pasternaks Verweiblichung vertritt Erika Greber. Im Unterschied zu Brojtman, der die „Sophianizität“ („софийность“) mit Bachtin für ein Medium der Dialogizität hält (darauf komme ich weiter unten zurück), geht Greber davon aus, dass Pasternak mit seinem „Gynozentrismus“ doch letztlich männliche Phantasmen ausagiere, was bei ihr bis zur Hypothese einer sublimierten Homosexualität reicht. Greber: „Subjektgenese, Kreativität und Geschlecht. Zu Pasternaks Detstvo Ljuvers“, 376. Während Brojtmans Lektüre wenig Distanz zu Pasternak entwickelt und die Formel der gelingenden Blok-Korrektur bei ihm wohl zu bruchlos aufgeht, spricht gegen Grebers Dekonstruktion von Pasternaks Sophiologie wiederum das Licht selbst. Vernachlässigt wird, wie überhaupt in vielen Arbeiten zum frühen Pasternak, der Umstand, dass sein lyrisches Subjekt über das (männliche) Licht tatsächlich nicht verfügt. Das Konzept des erleidenden, glanz-losen, sich opfernden Dichters kann zwar als Konstruktion betrachtet werden. Dennoch tangiert es einen Kern, ohne den Pasternaks Werk schlicht nicht gelesen werden kann. In dieser Prämisse folge ich Brojman. 46 Nicht zu vergessen der alte Wortsinn von ключ (Quelle), der von Tjutčev in „Silentium!“ (1830?) aufgerufen wird: „Взрывая, возмутишь ключи, / – Питайся ими – и молчи.“ „Aufscheuchend, trübst du die Quelle, / – Nähre dich von ihr – und schweig.“ Tjutčev, Fedor: Polnoe sobranie sočinenij i pis’ma v šesti tomach. Tom pervyj. Stichotvorenija 1813–1849. Moskva 2002, 123. 47 Brjusov, Valerij: „Ključi tajn“, in: ders.: Sobranie sočinenij v semi tomach, VI, 78–93, hier 92.

134

Mitleid mit der Dämmerung

eindringen, in ihr Herzstück. Die ursprüngliche Aufgabe der Kunst besteht darin, diese Augenblicke des Durchblicks, der Inspiration einzufangen. Kunst beginnt genau dann, wenn der Künstler versucht, sich klar zu werden über seine dunklen, geheimen Gefühle. Wo keine solche Klärung ist, ist kein künstlerisches Schaffen. Wo dieses Geheime im Gefühl fehlt – da ist keine Kunst. Wem in der Welt alles einfach, verständlich, zugänglich ist, der kann nicht Künstler sein. Kunst ist nur dort, wo ein Überschreiten der Grenze, wo die Kühnheit ist, die Grenzen des Erkennbaren zu überspringen […].

Nicht zur Sprache kommt bei Kling die Tatsache, dass Reliquimini diese romantisch-symbolistische Position Brjusovs mehr negiert, als sie positiv fortzuschreiben. Zwar fasst Pasternak die Dämmerung durchaus (neo-)romantisch als Reich der Entgrenzung auf. Während aber bei Brjusov die Entgrenzung Selbstzweck bleibt, ist sie bei Pasternak erst das Problem, das sich dem betrachtenden Künstler stellt und dessen er sich annehmen muss, wenn er wirklich Künstler werden will. Das Ziel ist nicht, mit dem „Schlüssel der Poesie“ ins Geheimnis des Seelengrundes vorzudringen, sondern der Dämmerung, die eine äußere Realität ist, einen Rahmen zu geben, damit sie sich nicht ‚verliere‘. Bei Brjusov sucht der Künstler die Ekstase, bei Pasternak findet er sie vor, sobald er nur die Augen öffnet, und er macht sich zum Ziel, sie neu zu arrangieren und einer neuen Ruhe zuzuführen, ohne sie als Dämmerung aufzuheben. Brjusovs neoromantische Haltung von „Ključi tajn“ nimmt in den Reliquimini-Fragmenten interessanterweise der Ich-Erzähler ein. Als Reliquimini einmal einen Monolog über seinen Gottesbegriff hält – die Idee, dass Gott „Begrenzung“ sei –, ist der Erzähler nicht im Stande, ihm zu folgen: „А я недоумевая спрашиваю: «Но или есть Бог или его нет, и ведь он вовсе не линия, и вот во всей этой хаотичности сумерек и может проявляться Бог, единство этих сумерек, и причем тут Бог вообще».“48 „Doch ich frage verwundert: ‚Aber Entweder gibt es Gott oder es gibt ihn nicht, und wenn schon, ist er sicher keine Linie, und hier in dieser ganzen Chaoshaftigkeit der Dämmerung soll sich Gott offenbaren, Einheit der Dämmerung, und was hat Gott überhaupt damit zu tun.‘“ Die Stimme des Ich hält an einer konventionalisierten romantischen Auffassung vom pulsierend-kreativen Chaos fest, während Reliquimini dem Wunsch nach All-Vereinigung die Distinktheit voraussetzende Idee des Mitleids entgegenhält.49 Plausibler als die Brjusov-Spur wäre die Assoziation mit Ivan Konevskoj. In seinem Vorwort zu Bliznec v tučach (Der Zwilling in Wolken, 1914) verglich Nikolaj 48 „Uže temneet…“, 426. 49 Das Mitleid scheint im Zusammenhang der Poetologie so unerwartet zu sein, dass Pasternak auch von einem engen Gefährten, dem Dichter Konstantin Loks (1889–1956), eher Brjusovs Position zugeschrieben wird: „Слова [Пастернака] лезли откуда-то из темного хаоса первичного, только что созданного мира […].“ „Die Worte [Pasternaks] krochen irgendwoher aus dem dunklen Chaos der ursprünglichen, soeben erst erschaffenen Welt hervor.“ Loks, Konstantin: „Povest’ ob odnom desjatiletii (1907–1917)“, in: Vospominanija o Borise Pasternake, 34–53, hier 39.

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

135

Aseev die Gedichte seines Freundes Pasternak mit den schwer kategorisierbaren Gedichten des früh verstorbenen Symbolisten.50 Abgesehen von Konevskojs lyrischem Ton, ist es der poetologische Konflikt zwischen Tag- und Nachtwelt, der einen solchen Vergleich sinnvoll erscheinen lässt. Reliquiminis Programm, die Dämmerung „mit Gott zu umrahmen“, kommt Konevskojs Versuch einer Rehabilitierung der klaren Tagwelt-Konturen tatsächlich sehr nah. So heißt es in einem Gedicht, überschrieben mit dem deutschen Titel „Starres Ich“ (1896): Проснулся я средь ночи. Что за мрак? Со всех сторон гнетущая та цельность, В которой тонет образов раздельность: Все – хаоса единовластный зрак.51 Ich erwachte mitten in der Nacht: Was für eine Finsternis! Von allen Seiten diese beengende Ganzheit In der der Bilder Unterscheidbarkeit verschwindet: Alles ist – des Chaos alleinherrschender Blick.

Das chaotische, dunkle Element ist bei Konevskoj, ähnlich wie bei Pasternak, ein Bereich, bei dem die Dichtung nicht stehen bleiben darf. Wenn das Subjekt in dem Gedicht weiter sagt, es wolle „sein Antlitz jenem Element nicht preisgeben“ („Мой лик, стихии той себя не сдав“52), so wird der Abstand gleichwohl sichtbar: Reliquimini will ja nicht sein Gesicht retten, er will der Dämmerung ermöglichen, ein Gesicht anzunehmen. Pasternaks Konzeption des Dichters als „Anlass“ zeugt von einem Postsymbolismus, wie man ihn für Konevskoj bestimmt noch nicht in Anschlag bringen kann. Umgekehrt dominiert bei Konevskoj eine geradezu aufklärerisch positive Auffassung der Sonne, der blendenden Lichtstrahlen, des Morgens und des Tages,53 die den Reliquimini-Fragmenten gänzlich abgeht. Während also Konevskojs Gedichte in den 1890er Jahren den Tag aufwerteten, ohne die Nacht abzuwerten, um damit zuletzt wieder zu einer ‚dekadenten‘ Indifferenz zu gelangen, 50 Vgl. Pasternak, Evgenij: Boris Pasternak. Biografija. Moskva 19972, 177. Vgl. auch Bobrov, Sergej: „О B. L. Pasternake“, in: Vospominanija o Borise Pasternake, 59–66, hier 60: „Ужасно любили Коневского, а за него даже и Брюсова (который уже от нас как-то отходил, оттертый с переднего плана мучительной красотой мертвенно прекрасного Блока).“ „Wir liebten Konevskoj schrecklich, und wegen ihm sogar Brjusov (der sich irgendwie schon wieder von uns entfernte, in den Hintergrund gedrängt von der qualvollen Schönheit des morbid wunderbar-schönen Blok).“ Zur wichtigen Rolle Konevskojs noch zur Zeit der futuristischen Phase Pasternaks (1914–1916) vgl. Kazakova, Svetlana Ja.: „Tvorčeskaja istorija ob’’edinenija ‘Centrifuga’ (zametki o rannich poėtičeskich vzaimosvjazjach B. Pasternaka, N. Aseeva i S. Bobrova“, in: Russian Literature XXVII (1990), 459–482, hier 476. 51 Konevskoj, Ivan: Stichotvorenija i poėmy. Sankt-Peterburg/Moskva 2008, 87. 52 Ebd. 53 Siehe Grossman, Joan Delaney: „‘Son of the Sun’: Mikhailovskoe“, in: ders.: Ivan Konevskoi. “Wise Child” of Russian Symbolism. Boston 2010, 27–30.

136

Mitleid mit der Dämmerung

gilt die Aufmerksamkeit in den Reliquimini-Fragmenten weder der Nacht noch dem Tag, sondern eben dem Übergangszustand der Dämmerung, in dem sich eine Wertordnung des Lebens, das Göttliche als „контур, в котором обращаются ваши радости и горести“54 / als „Kontur, in der sich eure Freuden und Leiden abspielen“, erst noch abzeichnen muss.

Pasternaks Dämmerungs- und Levinas’ Schattenästhetik. Versuch einer Parallellektüre Man könnte in dieser Weise weiter nach Vorbildern und Schablonen suchen und eventuell sogar eine Verwandtschaft von Reliquiminis Dämmerung mit der Figur des Licht-Opfers Vjačeslav Ivanovs, der Personifizierung alles Allzu-Symbolistischen für Pasternak, ausmachen. Doch konziser würde die Beschreibung dadurch nicht werden. Peter Alberg Jensen weist auf die Inkommensurabilität dieser Fragmente eines Zwanzigjährigen im Umfeld der modernen, (spät-)symbolistischen russischen Prosa hin; es lasse sich unter Pasternaks Zeitgenossen keiner ausmachen, der in der Musikalisierung der Prosa so weit gegangen sei.55 Diese Einschätzung bestätigt sich auch hinsichtlich ihrer seltsamen Visualität. Da sich Pasternaks Schreiben über die Dämmerung – dieses eigentlich so typische Motiv des Fin de siècle – allem Anschein nach nur bedingt in die russische Lyrik und Prosa um 1910 einreihen lässt, halte ich es für angezeigt, die Frage nach der Dämmerungs-Allegorie und der Geste des Mitleids aus etwas mehr Distanz noch einmal neu zu stellen. Es geht mir darum, die Dämmerung nicht nur als Ereignis zu lesen, das auf der Sujet-Ebene noch immer neben dem Tag steht, sondern sie als Kategorie der Verdunkelung des Lichts überhaupt, als Einwand gegen den Okularzentrismus zu erproben. Ich werde mich dabei auf Emmanuel Levinas beziehen (und indirekt auch auf Maurice Blanchot, dem Levinas in ästhetischen Fragen vieles verdankt56), besonders auf den Aufsatz „La réalité et son ombre“ (1948) und den längeren Essay Le temps et l’autre (1948). Eine Vorbemerkung ist hier nötig. Wie in der Einleitung angesprochen, hegt Levinas in seinem frühen Werk (vor allem der 1940er Jahre), am dezidiertesten in „La réalité et son ombre“, einen ethisch begründeten Verdacht gegen die Kunst und ihre suggestive, berückende Parallelwelt.57 Obwohl Pasternak bald nach seinem Marburg-Abenteuer ein sehr ähnliches Unbehagen an der Suggestion „fertiger“ Texte umzutreiben 54 „Uže temneet…“, 426. 55 Jensen: „Geburt des Dichters aus dem Geiste der Musik“, 413. 56 Das legt er in seinem hommageartigen Text über Blanchot unausgesprochen offen. Vgl. Lévinas: „Le regard du poète“, 12: „L’œuvre d’art, le poème se situe pour Blanchot en dehors du royaume du Jour.“ 57 Vgl. dazu Robbins, Jill: Altered Reading. Levinas and Literature. Chicago/London 1999, 39/40; McCaffery, Steve: „The Scandal of Sincerity. Toward a Levinasian Poetics“, in: ders.:

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

137

begann – man denke an den Vorsatz von 1920, nur noch „zu schreiben, wie man Briefe schreibt“ –, ist dies nicht die Seite, die ich in Bezug auf Reliquimini stark machen möchte. Ich werde stattdessen Levinas’ polemisch motivierte Phänomenologie des Kunstwerks von „La réalité et son ombre“ zusammen mit den ‚feministischen‘58 Passagen zum Widerstand gegen das Licht und zur emphatischen Passivität aus Le temps et l’autre lesen. Dies erscheint in einer größeren Perspektive von Levinas’ Werk durchaus sinnvoll. Denn später, zumal in der Abhandlung Totalité et infini. Essai sur l’extériorité (1961), revidiert Levinas negative Begriffe aus seiner Ästhetik der 40er Jahre und deutet sie positiv um. Jill Robbins schreibt dazu: „[…] one must note that in later works […] these very terms–loss of agency, passivity, loss of initiative–are positively inflected, are given, precisely, an ethical force.“59 Die Hypothese lautet, mit anderen Worten: Levinas’ hochmetaphorisches Denken ermöglicht es, den Zusammenhang von Abdunkelung, Weiblichkeit und Poetologie, den ich für die frühen Fragmente Pasternaks entwickelt habe, in seiner ‚okularphoben‘ Dimension zu erfassen – und damit die Verschiebungen gegenüber der symbolistischen, solov’evschen Sophiologie noch deutlicher zu machen. Wie für Pasternak ist die Kunst für Levinas ihrem Wesen nach allegorisch: Sie ersetzt das Sein durch ein Bild. Es kommt zur ‚Desinkarnation‘ des Seins durch das Bild. Der Zweck des Bildes ist aber nicht, das Sein, an dessen Stelle es tritt, zu fixieren, sondern das Sein und dessen „œuvre triomphale d’être“60 zu verlassen und im Bild eine andere Wahrheit bzw. die „non-vérité de l’être“61 zur Sprache kommen zu lassen. Das Allegorische der Kunst markiert also, wiederum wie bei Pasternak, weniger einen Verlust gegenüber dem Sein, als dass es einen Aspekt des Wirklichen aufzeigt, der ohne das allegorische Handeln unbemerkt bliebe. Während in Ochrannaja gramota die Allegorie von der „Kraft“ (сила) in Bewegung gebracht wird, ist sie in Levinas’ Essays und, wie es scheint, in Pasternaks Reliquimini-Fragmenten, das Medium eines passiven Schattens („schwach“ bei Levinas, „bedürftig“ bei Pasternak), eines Schattens, der gleichwohl ‚wahrer‘ ist als das sich im Licht konstituierende Sein. Die Allegorie ist kein Schatten im Sinne eines blassen Abbilds (wie in der Mimesis-Theorie Platons, Politeia X), sondern sie verweist auf eine der Wirklichkeit innewohnende Schattenseite. Ihr Anderssagen signalisiert eine Alterität innerhalb der Identität des erscheinenden Seins. In „La réalité et son ombre“ heißt es:

58 59 60 61

Prior to Meaning. The Protosemantic and Poetics. Evanston, Illinois, 2001, 204–229, hier 214/215. Vgl. Sandford: „Levinas, feminism and the feminine“, 141. Robbins: Altered Reading. Levinas and Literature, 52. Lévinas, Emmanuel: „La réalité et son ombre“, in: ders.: Les imprévus de l’histoire. Paris 1994, 123–144, hier 136. Ebd., 126 (Hervorhebung im Orig.).

138

Mitleid mit der Dämmerung

L’allégorie n’est pas un simple auxiliaire de la pensée, une façon de rendre concrète et populaire une abstraction pour esprits enfantins, le symbole des pauvres. C’est un commerce ambigu avec la réalité ou celle-ci ne se réfère pas à elle-même, mais à son reflet, à son ombre. L’allégorie représente, par conséquent, ce qui dans l’objet lui-même le double. L’image, peut-on dire, est l’allégorie de l’être.62

Kunst bezieht sich, so Levinas, auf das ‚andere Gesicht‘ des Seins, und das Zutagefördern dieses Gesichts ist weder eine Schöpfung noch eine Offenbarung. Denn wie Pasternak, der die Sphäre des Lyrischen als „вместилище переносного смысла“63 / „Empfangsort des übertragenen Sinnes“ bezeichnet, definiert Levinas die Kunst als passive Tätigkeit. Die Allegorie kommt von sich aus zum Künstler (so wie die Dämmerung in „Uže temneet…“ zu Reliquimini): L’idée de l’ombre ou de reflet à laquelle nous avons recours – d’une doublure essentielle de la réalité par son image, d’une ambiguïté « en deçà » – s’étend à la lumière elle-même, à la pensée, à la vie intérieure. La réalité tout entière porte sur sa face sa propre allégorie en dehors de sa révélation et de sa vérité. L’art, en utilisant l’image, ne reflète pas seulement, mais accomplit la vérité.64

In Pasternaks „Kogda Relikvimini vspominalos’ detstvo…“ ist es die Ekstase der Dämmerung, die eine „Verdoppelung“ auslöst und eine „diesseitige Ambivalenz“ in allem erkennbar macht. Die Dinge verlieren ihre Identität, d.h. jenes Übereinstimmen mit sich selbst, das ihnen die Tagwelt garantiert hatte. Wenn Reliquimini den Drang verspürt, die früheren, unpassend gewordenen Namen der Dinge mit „Vergleichen“ zu ersetzen, so nicht, um ex negativo ihre Identität wieder zu schärfen, wie es konventionellerweise Vergleiche tun, sondern um in ihre „neue“ Sprache einzustimmen. Denn die Dinge sind selbst zu „Vergleichen“ geworden. Die Realität hat ein allegorisches, licht-fremdes Gesicht angenommen: К проникновениям веры или богопознания не вело это вовсе, но приводило к жажде перечисления всех этих отдельных предметов, которые все время изменяли себе, то есть лились мелодией и носили незаслуженно постоянные имена. Называя, хотелось освобождать их от слов. В сравнениях хотелось излить свою опьяненность ими. В сравнениях. Не потому что они становились на что-нибудь похожи, а потому что переставали походить на себя.65 Man wurde deshalb keineswegs von Glauben oder Gotteserkenntnis durchdrungen, sondern vielmehr vom Drang, all diese einzelnen Gegenstände aufzuzählen, die sich fortwährend betrogen, das heißt die wie eine Melodie dahinflossen und ungerechtfertigterweise feste Namen trugen. Sie benennend, hätte man sie von Worten befreien wollen. Man hätte sein Trunken62 Ebd., 134. 63 „Černyj bokal“, 16. „Вместилище“ ist übrigens das russische Wort für den quasi sophianischen Begriff der χώρα (dt. ‚Rezeptakel‘) aus Platons Timaios. 64 Lévinas: „La réalité et son ombre“, 135 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 65 „Kogda Relikvimini vspominalos’ detstvo…“, 438 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

139

sein von ihnen in Vergleichen ausgießen wollen. In Vergleichen. Nicht weil sie [die Gegenstände] etwas anderem ähnlich geworden wären, sondern weil sie aufgehört hatten, sich selbst ähnlich zu sehen.

Was zweifellos grundverschieden ist in den beiden kontextuell und epochal doch recht weit auseinander liegenden Entwürfen, ist das Verhältnis zu der sich abzeichnenden „Allegorie“ der Realität. Levinas hält eher das Unheimliche an dem „neuen Gesicht“ fest. Pasternak (sein alter ego Reliquimini) dagegen ist „trunken“ von der neuen, dunklen „Lyrik der Dinge“ – die auch der ‚dunkle Stil‘ seiner Lyrik werden soll. Ich möchte allerdings zunächst auf den gemeinsamen Stein des Anstoßes in beiden Entwürfen abheben: Das Sich-Hinwenden zum Schatten hat bei Levinas ganz wie in den frühen Texten Pasternaks mit einem Unbehagen an der Brillanz des Lichts zu tun. Weder dieser noch jener teilt die Überzeugung eines Pavel Florenskij, wonach das Licht ein Modell für den Ausgang aus dem Solipsismus des modernen Menschen liefere. Florenskij beschreibt das Licht als Inbegriff von Selbstsein und Selbstüberschreitung.66 Gerade die Fähigkeit zum Aus-sich-hinaus-Treten spricht Levinas dem Licht ab, da es die Sphäre des Bewusstseins und der „Intentionalität“ schlechthin sei – und als solches stets nur scheinbar im Stande, sich selbst zu überschreiten. Licht vermittle dem Subjekt den Eindruck, eine Außenwelt vor sich zu haben, doch zugleich mache es das Subjekt zum „Herrn“, gleichsam zum Besitzer dieser Außenwelt. Im Medium Licht erscheine sie dem Subjekt als dessen eigene Konstitutionsleistung. Levinas schreibt in Le temps et l’autre: L’intentionalité de la conscience permet de distinguer le moi des choses, mais ne fait pas disparaître le solipsisme puisque son élément, la lumière, nous rend maître du monde extérieur, mais est incapable de nous y découvrir un pair. […] L’objectivité de la lumière, c’est la subjectivité elle-même. Tout objet peut être dit en termes de conscience, c’est-à-dire être mis en lumière.67

Das Licht vermittelt ein immer schon subjektiv angeeignetes Gegenüber, so dass die angestrebte Begegnung anders als in Florenskijs Theo- und Anthropologie der

66 Vgl. den „Vierten Brief “ in Florenskijs orthodoxer Dogmatik. Florenskij, Pavel: „Svet Istiny“, in: ders.: Stolp i utverždenie Istiny, 1 (I), 70–108, hier 88: „Свет – Истина, и эта Истина непременно выявляет себя; вид ее перехода на другого – любовь […].“ „Licht ist Wahrheit, und diese Wahrheit offenbart sich in jedem Falle selbst; die Weise ihres Hinüberschreitens zum Anderen ist – Liebe.“ Levinas’ Ethik des „Antlitzes“ (visage) ist interessanterweise Florenskijs Denken, vor allem seiner Ikonentheologie, gar nicht so fremd. Vgl. Vinokur: The Trace of Judaism. Dostoevsky, Babel, Mandelstam, Levinas, 7. Paul Davies sieht denn im Antlitz auch weniger einen Bruch mit der Visualität, als eine Versöhnung mit ihr (wie man es von der Ikone durchaus sagen kann). Vgl. Davies: „The Face and the Caress. Levinas’s Ethical Alterations of Sensibility“, 269–271. 67 Lévinas, Emmanuel: Le temps et l’autre, Paris 19914, 48.

140

Mitleid mit der Dämmerung

Liebe ausbleibt. Die vom Licht gestiftete „alltägliche Transzendenz“68 wirft den Menschen nach Levinas stets von neuem auf den immergleichen Punkt seines „herrscherischen“ Bewusstseins zurück.69 Diese Vernunftkritik ist in doppelter Hinsicht der Kritik verwandt, die Pasternak am triumphalistischen Selbstverständnis dessen übte, was er ‚Romantismus‘ nannte.70 Die Herrlichkeit der Konturen des Lebens gerät in eine Krise, wenn die Dämmerung aufkommt. Doch die Krise kann nur bedeutsam und überhaupt bemerkbar werden, wenn ein Künstler sich der Dämmerung annimmt. Levinas lehnt den Begriff des Mitleids zwar ab, da er ihm zu sehr ein Subjekt/Objekt-Schema aufrechterhält.71 Er spricht zunächst nur von einer bestimmten Vertrautheit des Künstlers mit dem Dunklen: „Dira-t-on alors que l’artiste connaît et exprime l’obscurité même du réel?“72 Indem sie zum Licht auf Distanz gehen und sich dem Dunklen annähern, rücken Levinas und Pasternak vom „männlichen“ Prinzip ab und nehmen einen Standpunkt des „Weiblichen“ ein. Boris Gasparov spricht von Pasternaks „Flucht zum weiblichen Prinzip“73. Der russische Dichter fasst das Weibliche ganz allgemein und traditionell als Empfänglichkeit, die jedoch, ähnlich wie in Bulgakovs Sophiologie, zugleich weltbildendes Prinzip ist74 und die er so gegen eine 68 Ebd., 49. 69 Verschiedene Anzeichen sprechen, wie in der Einleitung angedeutet, dafür, in der (Neo-)Sophiologie auch eine Reaktion auf die Krise der Modernität (soziale Atomisierung, Anonymisierung, Industrialisierung, drohende Kriege usw.) zu sehen. Als erste interpretierte Anna Han Pasternaks frühe Ästhetik im Kontext des epochalen Krisenbewusstseins. Han: „Osnovnye predposylki filosofii tvorčestva B. Pasternaka v svete ego rannego ėstetičeskogo samoopredelenija“, 43. Von einem ausgeprägten Krisenbewusstsein – im Zusammenhang mit Pasternaks Abwertung des Lichts in Ochrannaja gramota – spricht auch Björling, vgl. „Blind leaps of passion“, 143: „The generation born into and reared through this period was influenced by the prevailing atmosphere of disintegration […].“ Zur Utopie des Weiblichen bei fast allen russischen Religionsphilosophen in der Moderne vgl. Rjabov, Oleg: „Filosofija ženstvennosti serebrjanogo veka“, in: ders.: Russkaja filosofija ženstvennosti (XI–XX veka). Ivanovo 1999, 121–213. Besonders hervorheben kann man hier die Verbindung der neuen, nach-aufklärerischen „Nacht“ mit dem „Weiblichen“ in Nikolaj Berdjaevs kulturkritischem Essay „Novoe srednevekov’e“ / „Das neue Mittelalter“ (1924). Berdjaev, Nikolaj: „Novoe srednevekov’e“, in: ders.: Filosofija tvorčestva, kul’tury i iskusstva. 1. Moskva 1994, 407–437, hier 435/436. Für eine westeuropäische Perspektive des Problems vgl. Buci-Glucksmann, Christine: Walter Benjamin und die Utopie des Weiblichen. Hamburg 1984. 70 Den Begriff des Triumphalismus (des Symbolismus und der nachfolgenden Avantgarde) verwendet Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 85. 71 Lévinas: „La réalité et son ombre“, 129. 72 Ebd., 126. 73 Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 43. 74 Vgl. Glatzer Rosenthal: „The Nature and Function of Sophia in Sergei Bulgakov’s Prerevolutionary Thought“, 171: „Woman is by nature passively receptive; she is birth-giving but not initiating. Her strength is her weakness.“ Noch in einer frühen Fassung von Pasternaks Detstvo

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

141

demiurgische Ästhetik des Hervorbringens in Stellung bringen kann.75 Levinas’ Auffassung vom Weiblichen hat mit der Pasternakschen viel gemeinsam,76 ist aber noch widerständiger gegen das Licht. Das Weibliche sei jenes Ereignis, das sich dem Licht gänzlich verschließe. Es sei frei vom Streben nach „Besitz“ des Seins und der Macht über das Sein, da es sich außerhalb der „Ökonomie des männlichen Blicks“77 befinde: Ce qui m’importe dans cette notion du féminin, ce n’est pas seulement l’inconnaissable, mais un mode d’être qui consiste à se dérober à la lumière. Le féminin est dans l’existence un événement différent de celui de la transcendance spatiale ou de l’expression qui vont vers la lumière. La façon d’exister du féminin est de se cacher, et ce fait de se cacher est précisément la pudeur.78

So wie das Weibliche kein Vermögen sei, so sei die erotische Begegnung auch keine Vereinigung. Es geht nach Levinas nicht darum, einen passiven Part mit einem aktiven Part zu einer höheren Einheit zu verschmelzen (wie es in der Liebesphilosophie Vladimir Solov’evs der Fall ist). Anders gesagt: Das Ziel ist nicht Verklärung. Denn das bedeutete letztlich wieder nur die Integration in ein souveränes Bewusstsein und damit den Verlust des Du als Du. Ziel ist der Kontakt mit der absoluten Alterität des Geheimnisses, das kein Geheimnis mehr wäre, falls man es sich durch Aufhebung aneignen könnte.79 Mit der Folie der Flucht vor dem Licht als Theorie der Alterität ist auch Pasternaks Konzept des „Mitleids mit der Dämmerung“ beschreibbar. Der Künst-

75

76 77 78 79

Ljuvers (1918) heißt es genau in diesem Sinne, dass sich mit der Sophienfigur Ženja Ljuvers stets von neuem die Schöpfung der alten Welt vollziehe: „С девочкой снова и снова, в который уже во вселенной раз, сызнова, по старому плану, творился старый мир.“ „Mit dem Mädchen vollzog sich immer von neuem, zum wievielten Mal bereits um Universum, nach dem alten Plan, die Schöpfung der alten Welt.“ PSS, III, 515 (Hervorhebung im Orig.). Vgl. Pasternaks späteren Aphorismus über den Dichter als „Schwamm“ (russ. weiblich): „Современные течения вообразили, что искусство как фонтан, тогда, как оно – губка. Они решили, что искусство должно бить, тогда как оно должно всасывать и насыщаться.“ „Die zeitgenössischen Strömungen stellten sich vor, dass die Kunst eine Fontäne sei, während sie [in Wirklichkeit] ein Schwamm ist. Sie meinten, Kunst müsse schlagen, während sie [in Wirklichkeit] aufsaugen und sich sättigen muss.“ „Neskol’ko položenij“, 24. – Walter Koschmal hat das Konzept des „passiven Genies“ bezeichnenderweise scheinbar selbstverständlich an einer Dichterin, Marina Cvetaeva, vorgeführt. Koschmal, Walter: „Der passive Autor – ein russisches Dichterkonzept (Marina Cvetaeva)“, in: Grübel/Kohler: Gabe und Opfer, 369–390, hier 382–384. Die Passivität als „spezifisch russische“ Qualität des Genies wird bei Koschmal aus der Grammatik der russischen Sprache abgeleitet, während die Sophiologie in seiner Argumentation keine Rolle spielt. Ein allzu traditionelles Bild des Weiblichen konnte man ihm jedenfalls auch vorwerfen. Vgl. Sandford: „Levinas, feminism and the feminine“. Jay: Downcast Eyes, 559. Lévinas: Le temps et l’autre, 79 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Ebd., 81.

142

Mitleid mit der Dämmerung

ler soll der Dämmerung einen „Rahmen“ geben, um sie als Gegenüber erfahrbar zu machen, ohne sie mit seinem Licht verwandeln zu wollen. Denn das wäre, mit Levinas gesprochen, schon wieder ein „Kampf “ mit ihr.80 So kritisiert Reliquimini ein Kunstverständnis, das „mit Fackeln“, also mit männlich-aggressivem Licht an den dunklen „колодец“  / „Brunnenschacht“ des Ästhetischen herantrete, diesen sprenge und seine unsichtbare Fülle zerstöre.81 Und nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs bringt Pasternak das Licht explizit mit den Gewalttaten des Krieges, den „ослепительные снопы «последних известий»“82 / „blendenden Lichtbündeln der ‚neuesten Nachrichten‘“ in Verbindung, die um jeden Preis vom dunklen Bereich der Kunst ferngehalten werden müssten. Ein weiteres bemerkenswertes Überschneidungsfeld zwischen Levinas und Pasternak sind die Figuren des Rhythmus und des Tanzes. In „Simvolizm i bessmertie“ beschreibt Pasternak den Rhythmus als Anwesenheitschiffre des ansonsten abwesenden und individuell irrelevanten Dichters im Kunstwerk. Der Rhythmus ist sozusagen die Hinterlassenschaft des de-individualisierten Dichters: „Значение единственного символа музыки – ритма − находится в поэзии. Содержание 80 Im Gedicht „Vesenneju poroju l’da…“ („In des Eises, in der Tränen Lenz…“, 1932) aus Vtoroe roždenie wird Pasternak den Dichter als „Spur des weiblichen Schicksals“ bezeichnen: „И так как с малых детских лет / Я ранен женской долей, / И след поэта только след / Ее путей, не боле, / И так как я лишь ей задет / И ей у нас раздолье, / То весь я рад сойти на нет / В революцьонной воле.“ „Und da von Kinderjahren an / Vom Frauenlos ich krank war. / Und Spur des Dichters seiner Bahn / Spur einzig ist, nichts andres, / Da kaum verletzt davon ich kam, / Und dies ein weites Land ist, / Bin einzugehn bereit ich ganz / Im Revolutionsgedanken.“ PSS, II, 88 (übers. v. Stefan Döring, in: Pasternak, Boris: Gedichte und Poeme. Berlin 1996, 317). Vgl. dazu Ivanov, Vjačeslav Vs.: „O teme ženščiny u Pasternaka“, in: „Byt’ znamenitym nekrasivo…“. Pasternakovskie čtenija. Vypusk 1. Moskva 1992, 43–54. Ivanov gibt einen Überblick über Pasternaks „Mitleid mit den Frauen“ und zeigt an biographischen Zeugnissen und verschiedenen Gedichten, dass dieses Mitleid bis zur „Selbstidentifikation“ mit den Frauen reicht, ohne es allerdings in den Kontext des (post-)sophiologischen Kunstdenkens zu stellen. Explizit als „Prinzip der Poetik“ (statt als „Thema“) behandelt Josip Užarević das Weibliche bei Pasternak. Užarević, Josip: „Ženskoe načalo v lirike Borisa Pasternaka“, in: Fleishman, Lazar (Hrsg.): Eternity’s Hostage. Selected papers from the Stanford International Conference on Boris Pasternak, May, 2004. Vol. I. Stanford 2006, 174–192, hier 175. Damit ist vor allem die Aufwertung der Passivität gemeint, vgl. ebd., 189 (Hervorhebung im Orig.): „[…] man kann von der Kraft der Schwäche (Leidensbereitschaft) sprechen.“ Gasparov spricht vom eingeschlagenen „Weg der Schwäche“. Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 46. 81 „Uže temneet…“, 425. Ironischerweise veranstalteten die Marburger Studenten zu Ehren ihres Professors Hermann Cohen zur Emeritierung im Sommer 1912 einen Fackelumzug vor dessen Haus, worüber der Gaststudent Pasternak, seinerseits im Begriff, dem wissenschaftlichen „Licht“ der Cohenschen Philosophie den Rücken zu kehren, sich irritiert zeigte. Vgl. Fleishman/Harder/Dorzweiler: „Vvedenie“, 114. 82 „Černyj bokal“, 16.

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

143

поэзии – есть поэт как бессмертие. Ритм символизирует собою поэта.“83 „Die Bedeutung des einzigen Symbols der Musik, des Rhythmus, kann in der Poesie gefunden werden. Der Inhalt der Poesie ist der Dichter als Unsterblichkeit. Der Rhythmus symbolisiert den Dichter.“ Mit dem gleichen Motiv führt Levinas den Rhythmus in seine real-allegorische Ästhetik ein. Er sei ein Zustand der „Getragenheit“, der sich weder für Subjektivität noch für Objektivität, weder für das Bewusste noch für das Unbewusste entscheide. Er sei „renversement du pouvoir en participation“.84 Genau diese Überführung in einen Zustand, den Levinas mit dem Begriff der participation des Anthropologen Lucien Lévy-Bruhl bezeichnet, wird in „La réalité et son ombre“ negativ bewertet, gar als anonymisierende „Hexerei“: Le rythme représente la situation unique ou l’on ne puisse parler de consentement, d’assomption, d’initiative, de liberté – parce que le sujet en est saisi et emporté. Il fait partie de sa propre représentation. Pas même malgré lui, car dans le rythme il n’y a plus de soi, mais comme un passage de soi à l’anonymat. C’est cela l’ensorcellement ou l’incantation de la poésie et de la musique. Un mode d’être auquel ne s’appliquent ni la forme de conscience, puisque le moi s’y dépouille de sa prérogative d’assomption, de son pouvoir; ni la forme de l’inconscient, puisque toute la situation et toutes ses articulations, dans une obscure clarté, sont présentes. Rêve éveillé.85

Wie Victor Terras vorschlug, kann Lévy-Bruhls Begriff der „participation“ auf Pasternaks Ästhetik durchaus positiv angewendet werden,86 wobei hier angesichts der Kenosis ohne Hintergedanken, als die ich Pasternaks Passivität konzipiert habe, Vorsicht am Platz ist. Jedenfalls funktioniert die Integration des Anderen sicher nicht bruchlos als „Bezauberung“: Sie bedingt ein Opfer (dazu mehr im nächsten Kapitel). Wie bei Pasternak, etwa im Tanz der Fanera zu Reliquiminis Klavierspiel in „Zakaz dramy“, ist der Inbegriff der rhythmischen Teilnahme bei Levinas der Tanz, und durch die Tanz-Allegorie ergibt sich eine interessante Verbindung zu Michail Bachtin. Nahezu sämtliche Begriffe der hier dargestellten Theorie der Abdunke83 „Simvolizm i bessmertie“, 318. 84 Lévinas: „La réalité et son ombre“, 129. 85 Ebd., 128 (Hervorhebung im Orig.). Zum Begriff Lévy-Bruhls vgl. Robbins: Altered Reading. Levinas and Literature, 119. Levinas hat in Interviews sein Philosophieren auf nächtliches Wachliegen als Kind zurückgeführt, vgl. Milner, Max: „Levinas: de l’ombre au visage“, in: ders.: L’envers du visible. Essai sur l’ombre. Paris 2005, 363–373. Zur Rolle der Schlaflosigkeit bei der Entdeckung des anonymen „Il y a“ („Es gibt“) vgl. Purcell, Michael: Levinas and Theology. Cambridge/New York 2006, 89/90. Die Affinität zur dunklen Helligkeit bzw. leeren Fülle kann auch im Fall von Pasternak mit dem Zustand der Schlaflosigkeit in Zusammenhang gebracht werden. In „Prostranstva tuč – dekabr’skaja ruda…“ ist von „тень бессонного подростка“ / „Schatten des schlaflosen Heranwachsenden“ die Rede. PSS, II, 292. In „Marburg“ heißt es: „Чего же я трушу? Bедь я, как грамматику, / Бессонницу знаю.“ „Was zögere ich denn feige? Ich kenne doch wie die Grammatik / die Schlaflosigkeit.“ PSS, I, 112. 86 Terras: „Boris Pasternak and Romantic Aesthetics“, 49.

144

Mitleid mit der Dämmerung

lung, der Alterität des Weiblichen, des Rhythmus etc. tauchen in Bachtins Abhandlung Avtor i geroj v ėstetičeskoj dejatel’nosti (Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, erste Hälfte der 1920er Jahre) konzentriert an einer Stelle auf. In unserem Zusammenhang besonders bemerkenswert ist die zentrale Rolle der Weiblichkeit, der „софийность“ / „Sophianizität“: Поскольку я оправданно приобщаюсь к миру другости, я бываю в нем пассивно активен. Ясный образ такой пассивной активности – пляска. В пляске сливается моя внешность, только другим видимая и для других существующая, с моей внутренней самоощущающейся органической активностью; в пляске все внутреннее во мне стремится выйти наружу, совпасть с внешностью, в пляске я наиболее оплотневаю в бытии, приобщаюсь бытию других; пляшет во мне моя наличность (утвержденная ценностно извне), моя софийность, другой пляшет во мне.87 Soweit ich mich rechtmäßig der Welt des Andersseins anschließe, verweile ich in ihr in Bezug auf die Aktivität passiv. Ein klares Bild einer solchen passiven Aktivität liefert der Tanz. Beim Tanzen verschmilzt mein Äußeres, das nur für die Anderen sichtbar und existent ist, mit meiner inneren selbstempfindenden organischen Aktivität. Im Tanz strebt mein ganzes Inneres nach außen, strebt es danach, mit dem Äußeren identisch zu werden. Im Tanz ruhe ich am meisten im Sein, schließe ich mich dem Sein der Anderen an. In mir tanzt mein Vorhandensein (wertmäßig bestätigt von außen), meine Sophianizität, der Andere tanzt in mir.88

Wie aus der Stelle hervorgeht, beziehen sich sowohl die „Sophianizität“ wie die „passive Aktivität“, mit denen Brojtman Pasternaks poetologische Grundhaltung charakterisiert, auf die Begrifflichkeit des jungen Bachtin. Brojtman bringt Bachtin und Pasternak auch in anderen Studien89 in ein enges, allerdings oft unausgesprochenes Verhältnis. Diese Art der impliziten Setzung von Bachtins Theorie nicht nur in Brojtmans Arbeiten wäre Gegenstand einer gesonderten Untersuchung. Was mich indes hier vor allem interessiert, ist die geistige Nähe hinsichtlich der Verdunkelung zwischen Pasternak und Levinas, die durch Bachtins (postsymbolistischen) Sophienkult zusätzlich profiliert werden kann. Wie später bei Levinas ist der Fluchtpunkt des Philosophierens bei Bachtin der Gedanke der Andersheit.90 Und die „Sophiani87 Bachtin, Michail: Avtor i geroj v ėstetičeskoj dejatel’nosti, in: ders.: Sobranie sočinenij. T. 1. Filosofskaja ėstetika 1920-ch godov. Moskva 2003, 69–263, hier 205 (Hervorhebungen im Orig.). 88 Bachtin, Michail: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit. Herausgegeben von Rainer Grübel, Edward Kowalski und Ulrich Schmid, aus dem Russischen von Hans-Günter Hilbert, Rainer Grübel, Alexander Haardt und Ulrich Schmid. Frankfurt a. M. 2008, 199 (Hervorhebungen im Orig.; modifiziert). 89 Vgl. vor allem Brojtman, Samson: Poėtika knigi Borisa Pasternaka „Sestra moja – žizn’“. Moskva 2007. 90 Vgl. Ponzio, Augusto: Scrittura dialogo alterità. Tra Bachtin e Lévinas. Firenze 1994, 79–88. Levinas hat mehrfach die klassische russische Literatur (vor allem Puškin, Lermontov, Dostoevskij und Tolstoj) als wichtige Einflüsse für sein Denken genannt. Siehe auch Eskin, Michael: Ethics and Dialogue in the Works of Levinas, Bakhtin, Mandel’shtam, and Celan.

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

145

zität“, die im Tanz innerlich-äußerlich und passiv-aktiv zum Vorschein komme, ist ein Zustand, in dem das Andere als Anderes erfahrbar werde. Das widerspricht zwar Levinas’ abwertendem Bild des Tanzes, passt aber wiederum zu seiner Figur des „Femininen“. Das Verhältnis des „Selben“ zum sophianischen „Anderen“ spiegelt sich überdies in Bachtins Theorie des „чужое слово“ / „fremden Wortes“. Bachtin fasst das Wort wie der von ihm bewunderte Vjačeslav Ivanov als „луч света“ / „Lichtstrahl“ auf. Doch „lebendig“ werde dieser Lichtstrahl erst, wenn er sich auf dem vermeintlich geraden Weg zum bezeichneten Gegenstand an der „сред[а] чужих слов“  / dem „Umfeld fremder Wörter“ breche.91 Das Postulat einer Abdunkelung als Belebung bildet so gesehen eine Voraussetzung von Bachtins Sprachdenken genauso wie von Pasternaks Poetik. Die größte Überschneidung zwischen Bachtin, Levinas und Pasternak findet sich bei allen nicht zu übersehenden Differenzen92 in der Überzeugung, dass inOxford 2000; sowie zuletzt Haardt, Alexander: „Verantwortlichsein als Antworten auf den Anspruch des Anderen – ein Thema in zwei Variationen bei Michail Bachtin und Emmanuel Lévinas“, in: ders./Plotnikov Nikolaj (Hrsg.): Das normative Menschenbild in der russischen Philosophie. Wien/Zürich/Berlin/Münster 2011, 63–74. 91 „Если мы представим себе интенцию, то есть направленность на предмет, такого слова в виде луча, то живая и неповторимая игра цветов и света в гранях построяемого им образа объясняется преломлением луча-слова не в самом предмете […], а его преломлением в той среде чужих слов, оценок и акцентов, через которую проходит луч, направляясь к предмету: окружающая предмет социальная атмосфера слова заставляет играть грани его образа.“ „Wenn wir uns die Intention, d.h. die Ausrichtung auf den Gegenstand eines solchen Wortes in der Art eines Strahls vorstellen, dann wird das lebendige und unwiederholbare Spiel der Farben und des Lichts in den Facetten des von ihm erbauten Bildes nicht durch die Beleuchtung des Wort-Strahls im Gegenstand selbst […] erklärt, sondern als seine Brechung in jener Sphäre fremder Wörter, Wendungen und Akzente, durch die der Strahl fällt, da er sich auf den Gegenstand richtet: die den Gegenstand umgebende soziale Atmosphäre läßt die Facetten seines Bildes spielen.“ Bachtin, Michail: Slovo v romane, in: ders.: Voprosy literatury i ėstetiki. Issledovanija raznych let. Moskva 1975, 72–233, hier 90/91 (Hervorhebung im Orig.; Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes. Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Grübel, aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt a. M. 1979, 170). 92 Bachtins „пляска“ ist zweifellos dionysischer gedacht als Levinas’ „danse“. Überdies lässt sich allgemein sagen, dass Bachtin stärker an den Kategorien Innerlichkeit/Äußerlichkeit festhält als der französische Philosoph, der diese Unterscheidung in seinem Begriff des „Antlitzes“ zu überwinden versucht. Was Pasternak betrifft, so steht er hier Bachtin sicher näher als Levinas. Die Anwendung von Nietzsches Dichotomie Apollinisch/Dionysisch auf Pasternak ist gleichwohl von beschränkter Produktivität, denn sowohl das Apollinische, der „Schein“, wie auch das „Vergraben von Licht“, das Dionysische, können die Spezifik von Pasternaks Poetologie der Dämmerung nicht ganz wiedergeben. Ljudmila Gorelik widmet dem Problem der Nietzsche-Rezeption in der frühen Prosa Pasternaks ein ganzes Kapitel. Plausibel führt sie zunächst Reliquiminis Schlaf in „Zakaz dramy“ auf den apollinischen Traum und andererseits

146

Mitleid mit der Dämmerung

nerhalb ihrer modernen Theorien des effeminierten Kunstwerks keine tätige Umwandlung gedacht werden kann. In der passiven Aktivität von Bachtins „пляска“ ebenso wie von Pasternaks und Levinas’ „Rhythmus“ kann überhaupt nichts hervorgebracht, synthetisiert oder, wie Bachtin schreibt, „bereichert“ werden, denn in der neo-sophiologischen Welt ist alles immer schon da. Noch einmal Bachtin: Пассивная активность обусловлена уже данными, наличными силами, предопределена бытием; она не обогащает бытия тем, что изнутри самого бытия принципиально недостижимо, она не меняет смыслового облика бытия. Пассивная активность ничего не преобразует формально.93 Die passive Aktivität ist durch bereits gegebene, vorhandene Kräfte bedingt, durch das Sein vorbestimmt. Sie bereichert das Sein nicht durch dasjenige, was aus dem Sein heraus prinzipiell nicht erreichbar ist, sie verändert in Bezug auf den Sinn das Antlitz des Seins nicht. Die passive Aktivität gestaltet bezogen auf die Form nichts um.94

Die Welt der Kunst ist nach Bachtin eine Welt der traumwandlerischen Klarheit, in der die Teilnehmer nicht verschwimmen, sondern ‚gegeben‘ sind und individuiert bleiben. Sehr ähnlich charakterisiert Levinas in Le temps et l’autre die erotische Begegnung. Die involvierten Personen würden auf geheimnisvolle Art sie selbst bleiben, obwohl sie die Kontrolle über sich verlieren: „L’amour n’est pas une possibilité, il n’est pas dû à notre initiative, il est sans raison, il nous envahit et nous blesse et cependant le je survit en lui.“95 Im Sinne einer höheren Balance zwischen Chaos und Konturierung ist auch Reliquiminis Ausruf bei Pasternak: „Обнесите сумерки Богом!“ zu verstehen. den dabei einsetzenden Tanz der Fanera, der Sophienfigur aus Möbelholz, auf die dionysische Ekstase zurück, stellt dann aber fest: „Der Unterschied zu Nietzsche besteht hier darin, dass bei Pasternak die Wirklichkeit selbst über die Eigenschaft verfügt, sich neu zu erschaffen. Und der Künstler ist berufen, ihr bei der Verwirklichung dieses objektiven Bedürfnisses behilflich zu sein. Die Rolle des Künstlers ist dabei eine aufopfernde. Die Schöpfung ist das Resultat des sich umschöpfenden Lebens des Künstlers.“ Gorelik: Rannjaja proza Pasternaka, 18. Was sich mit Nietzsches Begriffspaar demnach nicht erklären lässt, ist gerade Pasternaks Figur der Dämmerung, d.h. der Allegorie gewordenen Wirklichkeit, wie Levinas sie zu konzipieren erlaubt. Selbstredend ist auch Nietzsches „Anti-Mitleids-Reflex“ (Hansen-Löve), der die russische Moderne kennzeichnet, ein Merkmal, das denkbar schlecht zu Pasternaks Position passt. Vgl. zu Nietzsche und dem Mitleid Hansen-Löve, Aage: „Der frühe russische Realismus und seine Avantgarde. Einige Thesen“, in: Fleishman, Lazar/Gölz, Christine/Hansen-Löve, Aage (Hrsg.): Analysieren als Deuten. Wolf Schmid zum 60. Geburtstag. Hamburg 2004, 365–405, hier 394. Reliquiminis nur bedingt personal ausgeprägtes Mitleid wiederum ist nicht zu verwechseln mit dem auf ethischer Identifikation beruhenden Mitleid, wie Hansen-Löve es hier für den Realismus geltend macht. 93 Bachtin: Avtor i geroj, 205. 94 Ders.: Autor und Held, 199. 95 Lévinas: Le temps et l’autre, 82 (Hervorhebung im Orig.).

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

147

Immer wieder bezieht Levinas Stellung gegen die verräumlichende Tendenz des Lichts. Das Licht des Bewusstseins eigne sich die Außenwelt quasi territorial an, im Zuge seiner Ausleuchtung mache es den zeitlichen Aspekt des Seins hinfällig. Es ist die Weiblichkeit, die in ihrer „Flucht“ vor dem Licht96 die zeitliche Perspektive, einen Kontakt mit dem Anderen, mit der Zukunft eröffne. Der Kunst traut Levinas diesen Schritt vom Raum in die Zeit nur bedingt zu.97 Kunstwerke verharrten in einem ambivalenten Zustand des „Intervalls“ – so nennt Levinas die Perpetuierung der Verdunkelung durch ein Kunstwerk. Gemeint ist damit die ‚Einsperrung‘ von Figuren in einen Augenblick, der einerseits ewige Gegenwart hat, andererseits dieser Gegenwart beraubt ist, weil er niemals in Zukunft wird übergehen können. Die in der Kunst festgehaltenen Momente dauern zwar ewig an – man denke an Pasternaks Gedichttitel „Groza, momental’naja navek“ –, doch die Handlung, in der sie sich befinden, wird nie mehr auch nur um den Bruchteil einer Sekunde fortschreiten. In diesem Sinne spricht Levinas von einem „Leben ohne Leben“ („vie sans vie“) und von einer „monströsen“ Art der Dauer, die im dunklen „Zwischenreich“ der Kunst umgesetzt werde.98 Die Eigenschaft der Zwischenzeitlichkeit ist auch für die Dämmerung in den Reliquimini-Fragmenten charakteristisch. Sie ist ein chaotisches Übergangsstadium, das dank dem Mitleid des Künstlers sozusagen über die Zeit gerettet, allerdings nicht „eingesperrt“ werden soll. Die zeitliche Dimension der Dämmerungsfigur ist besonders für die Diskussion von Interesse, die um die Rolle von Räumlichkeit und Zeitlichkeit bis heute in der Pasternak-Literatur geführt wird. Eine Grundposition betrachtet Pasternak diesbezüglich im Kontext des „Simultanismus“ der modernen Kunst.99 Pasternak wird als Vertreter eines Bergsonismus in der Kunst vorgestellt, dessen Schlüsselbegriffe Dynamisierung des Raumes, élan vital, Antilinearität sind.100 96 Vgl. Derrida, Jacques: Adieu à Emmanuel Lévinas. Paris 1997, 76. 97 Vgl. Esterbauer, Reinhold: „Das Bild als Antlitz? Zur Gotteserfahrung und der Kunst beim späten Levinas“, in: Wohlmuth, Josef (Hrsg.): Emmanuel Levinas. Eine Herausforderung für die christliche Theologie. Paderborn 1998, 13–23, hier vor allem 13–15; sowie Wall, Thomas Carl: „The Allegory of Being“, in: ders.: Radical Passivity. Levinas, Blanchot, and Agamben. New York 1999, 13–30. 98 Lévinas: „La réalité et son ombre“, 139, 143. 99 Vgl. Han, Anna: „Zametki k probleme simul’tanizma v poėzii i v živopisi“, in: Russian Literature LVI (2004), 121–168; Rudova: Pasternak’s Short Fiction and the Cultural Vanguard, 120–122. 100 Vgl. Han: „Zametki k probleme simul’tanizma“, 125: „[Die Vorstellung vom physischen Raum] wird ersetzt durch die Erfahrung eines ewig werdenden dynamischen Raumes, als dessen Beweger sich ein rhythmisches Pulsieren erweist, ähnlich dem ‚Herzschlag‘ eines lebendigen Organismus. Gerade dank der ‚Temporalisierung‘ des Raumes, dem Anschieben des élan vital, des Durchbrechens des Lebens in den dreidimensionalen Raum, kann der Hang des Raumes zur Zerstäubung, Atomisierung überwunden werden, und es wird eine Integration verschiedener räumlicher Punkte zu einem Ganzen möglich.“

148

Mitleid mit der Dämmerung

Eine andere Grundposition (vertreten namentlich von Peter Alberg Jensen) geht umgekehrt von einer tragischen Abwesenheit, Unerreichbarkeit der Zeit und der Geschichte im Leben und Werk Pasternaks aus.101 In Anwendung von Søren Kierkegaards Begriff des „ästhetischen Stadiums“ interpretiert Jensen Pasternaks Leben und Werk als Dilemma zwischen geglückten Augenblicken und einem nicht zu erlangenden zeitlichen „Sinnganzen“. In der Lyrik habe sich dieses Dilemma nur deshalb weniger empfindlich gezeigt, weil der Dichter dort von Augenblick zu Augenblick leben könne und die Zeit in immer neuen Epiphanien wahrzunehmen vermöge. Das Gefühl von der Abwesenheit einer zusammenhängenden Zeit ist nach Jensen indes der entscheidende Grund sowohl für Pasternaks existenzielle Krisen wie auch für die stets wiederkehrende Unzufriedenheit mit seiner stets noch „lyrischen“ Prosa.102 Die Reliquimini-Fragmente interpretiert Jensen als gescheiterte Versuche, eine „reine Prosa“ nach dem Vorbild der „reinen Sinnlichkeit“ von Musik zu erreichen. Gerade hinsichtlich der von Jensen so überzeugend diagnostizierten Zeitproblematik kann es hilfreich sein, die Dämmerung als zeitlichen Übergangsbegriff ernst zu nehmen. Reliquimini spricht ja weder von der bergsonschen durée noch von der Flüchtigkeit des Augenblicks, sondern von einer „religiösen Revolution der Dämmerung“ und vom „Mitleid“ mit dieser Dämmerung. In gewissem Sinne bringt die Dämmerung gerade die Zeit ins Spiel, während der „Fanatismus des Tages“ (oder mit Blanchot: das „Reich des Tages“) vorwiegend räumlich strukturiert ist – so wie umgekehrt die weibliche Flucht vor dem Licht bei Levinas einen Ausgang in die Zukunft verspricht. Interessant ist, dass das Mitleid des Dichters nach Reliquimini darin besteht, die Dämmerung räumlich neu zu begrenzen. Dabei erfährt der Dichter, indem er sich zu ihr hinwendet und sich ihr angleicht – in seiner schrittweisen Effeminierung – erst ein Gefühl der zeitlichen Offenheit bzw. Denkbarkeit eines nicht-determinierten Ereignisses, wie Bergson es in L’évolution créatrice beschrieben hatte.

Vom „ortlosen“ Licht zur Epiphanie Als problematisch an einer solchen Parallellektüre von Pasternaks frühen Texten mit Levinas’ Ästhetik des Schattens erweist sich der Umstand, dass Levinas die Kunst nicht von ihrem Schöpfer her denkt. Er konzipiert sie metaphorisch als „Skulptur“, die sich letztlich selbst modelliert und fatalerweise zur jener Verdunke101 „Als lyrisches Genie war Pasternak mit ‚seiner Zeit‘ im Sinne von unmittelbarer Umgebung eins. Aber eben deswegen war er von der Zeit im Sinne von Kontinuität, d.h. sinnhaftem Zusammenhang seiner lyrischen Augenblicke ausgeschlossen, – worüber der Mensch Pasternak allmählich verzweifelte. Dieses Dilemma hat Pasternaks Leben und Werk zutiefst geprägt.“ Jensen, Peter Alberg: „Boris Pasternak als Ästhetiker im Sinne Søren Kierkegaards“, in: Hansen-Löve: Psychopoetik, 399–437, hier 423. 102 Ebd., 420.

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

149

lung gelangt, die ihr die „Allegorie“ vorgibt. Pasternak geht dagegen, ungeachtet seiner anti-subjektivistischen Volten, immer vom Schöpfer aus. Auch wenn er in den Jahren 1910–1916 die Einsicht umkreist, dass Kunst unabhängig von ihrem jeweiligen Gegenstand allegorisch das „Negativ“103 der Wirklichkeit zur Geltung bringe, könnte Pasternak sich mit dem, was Levinas als „Intervall“ und „Leben ohne Leben“ bezeichnet, nicht zufriedengeben. Das hat auch mit seiner prozessualen Schaffensweise zu tun: Figuren und Ereignisse müssen hier nicht ewig im Kunstwerk eingeschlossen sein. Es besteht grundsätzlich jederzeit die Möglichkeit, scheinbar fertige Werke wieder zu verwerfen und neu zu beginnen. Jensen wertet diese Dynamik des Immer-wieder-neu-Beginnens vor allem als Ausdruck von „Krisen“ im Schriftstellerleben Pasternaks. Boris Gasparov liest aus demselben Phänomen eine Logik des „gradus ad Parnassum“ heraus, womit eine wesentlich optimistischere Sicht der Pasternakschen Unzufriedenheit mit sich impliziert ist: eine Perspektive der stetigen „Vervollkommnung“.104 Pasternak verwendet Reliquiminis Begriff der Dämmerung in seinem Kunstdenken, wie erwähnt, nach 1912 nicht systematisch weiter. Doch bleiben in seinen Texten vor 1917 Phänomene der Verdunkelung bei weitem prominenter als Licht-Epiphanien. Für die Sonne gibt es, so heißt es an mehreren Stellen in den Reliquimini-Fragmenten, ganz einfach „keinen Platz“105, obwohl sich Hinweise darauf finden, dass Pasternak einen Platz für sie sucht. Zwei aufschlussreiche Beispiel hierfür sind die zu Lebzeiten unveröffentlichten Gedichte „Kak čitat’ mne! Oplyli slova…“ („Wie sollte ich lesen! Die Worte verschwammen…“, 1911) und „Bescvetnyj dožd’… kak gibnuščij patricij…“ („Der farblose Regen… Wie ein sterbender Patri103 Bezeichnend für das Unbehagen am „Leben ohne Leben“ ist das Fragment über Reliquiminis Tod: „В трамвае плакал и закатывался ребенок, может быть, электрическим светом отравили его. Реликвимини ничего не видел, – ему было странно на душе; он понял, что начался отлив, что в будущем – все бескровно; – ему вдруг стало жутко – от этой жизни, которая, как негатив, запечатлела белое прошлое черной чертой; в дальний угол его оцепенения забился крик ребенка.“ „In der Straßenbahn weinte und schüttelte sich ein Kind, womöglich war es mit elektrischem Licht vergiftet worden. Reliquimini sah nichts davon – ihm war seltsam zumute; er verstand, dass die Flut begonnen hatte, dass in Zukunft – alles blutleer sein würde; – plötzlich hatte er einen Schrecken – vor diesem Leben, das, wie ein Negativ, die weiße Zukunft in schwarzen Umrissen abbildete; in der entfernten Ecke seines Schockes schlug ein Schrei des Kindes an.“ „Smert’ [Purvita] Relikvimini“ [1912], PSS, III, 487 (meine Hervorhebungen – Ch. Z.). 104 Gasparov: „Gradus ad Parnassum“. Vgl. dazu Pasternaks Essay über Kleist: „Практика того же, что мы называем творчеством, […] есть «ряд возобнoвляемых начинаний» […].“ „Die Praxis dessen, was wir das Schöpferische nennen, […] ist eine ‚Reihe sich erneuernder Anfänge‘ […].“ „G. fon Klejst. Ob asketike v kul’ture“ [1911], PSS, V, 294–303, hier 300. 105 Vgl. „Verojatno, ja rasskazyvaju skazku…“ [„Wahrscheinlich erzähle ich ein Märchen…“, 1910], PSS, III, 447/448, hier 447: „Свет не находил себе места, он не переступал за порог ночи […].“ „Das Licht fand keinen Platz für sich, es schaffte es nicht, über die Schwelle der Nacht zu springen […].“

150

Mitleid mit der Dämmerung

zier…“, 1912). Im ersten, das in verschiedenen fragmentarischen Versionen vorliegt, beklagt sich der lyrische Held darüber, dass die Kerzen – offensichtlich flackernd im Durchzug – nicht genügend Licht spenden, damit er sein Buch lesen kann: Как читать мне! Оплыли слова. Ах откуда, откуда сквожу я? В плошках строк разбираю едва, Гонит мною страницу чужую106 Wie sollte ich lesen! Die Worte verschwammen. Ach woher, woher werde ich durchweht? In den Leuchten entziffre ich kaum die Zeilen, Durch mich wird eine fremde Seite gejagt

Statt zu leuchten, wie es sich für (poetische) Worte gehörte, „verschwimmen“ sie. Leuchten und Fließen bleiben sich fremd. Im zweiten der beiden Gedichte stellt der angehende Dichter dann explizit die Frage nach einer Vereinigung der Elemente Regen und Sonne und konzipiert so die Verbindung aus ливень und свет, mit der Cvetaeva in ihrem Essay von 1922 Pasternaks Poetik charakterisieren wird. Doch die Sonne muss in dem frühen Gedicht neben dem konkreten Regen „ortlos“ bleiben: Ах, дождь и солнце… странные собратья! Один на месте, а другой без места… Один с землею в пылкости объятья, А где другого спетая невеста?107 Ach, Regen und Sonne… seltsame Gebrüder! Einer ist an Ort und Stelle, der andere ortlos… Einer mit der Erde in hitzigen Umarmungen, Wo aber ist des anderen besungene Braut?

Der Regen findet seine „Braut“ in der Erde, die Sonne mit ihren Strahlen jedoch bleibt unfassbar und wartet vergeblich auf Vereinigung mit einem komplementären Element. Es bietet sich geradezu an, die Frage nach der „спетая невеста“ so zu beantworten: Die „besungene Braut“ der Sonne verbirgt sich in niemand anderem als dem Dichter selbst. Pasternak hat sich ja eigentümlich oft als weiblich bezeichnet.108 Der Dichter würde so zu einem weiblich-passiven Wesen, das sich der „ewi106 PSS, II, 286. Vgl. den Kommentar ebd., 486. 107 Ebd., 294. 108 Vgl. den Brief an Ol’ga Frejdenberg vom 23. Juli 1910: „Мне совсем нестерпимо, когда я вспоминаю о том, […] что я в этом чувстве также женственен, т. е. зависим, как и ты; и что ты в нем также деятельна, сознательна и лирически-мужественна, как я.“ „Mir ist es ganz und gar unerträglich, wenn ich daran erinnert werde, […] dass ich in diesem Gefühl genauso weiblich bin, d.h. abhängig, wie Du; und dass Du darin genauso tätig, bewusst und lyrisch-mannhaft bist wie ich.“ PSS, VII, 54. Zur „Männlichkeit“ von Frejdenbergs Welt

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

151

gen Mannhaftigkeit“ (Cvetaeva) des Lichts anbietet und hingibt, um von ihr aktualisiert zu werden.109 Das wiederum würde der Logik von Vjačeslav Ivanovs Essays O russkoj idee oder „Drevnij užas“ („Terror Antiquus“, 1909)110 entsprechen – jedoch unter Vertauschung der Subjekte: Der Dichter bzw. Vertreter der Intelligenzija würde, anstatt Licht zu spenden, die Rolle der empfangenden Erde einnehmen. Bei dieser Vertauschung aber verliert das Licht seine autoritative Werthaftigkeit und hat daher konsequenterweise „keinen Platz“ mehr. In dem Maße, wie es keinen klaren Urheber mehr hat, findet es auch keinen Empfänger mehr, der bereit wäre, sich von diesem unfassbaren Licht affizieren zu lassen. Schon 1907 hatte Pasternak in einem Brief an seine Eltern Bedenken gegenüber greller, in diesem Fall künstlicher Garten-Illumination geäußert. Vor der guten Gesellschaft hat er zwar lobende Worte übrig, in dem Brief begründet er aber, warum (Sankt Petersburg, Rationalismus etc.) für den zwanzigjährigen Pasternak vgl. Fleishman/ Harder/Dorzweiler: „Vvedenie“, 51. Greber weist darauf hin, dass sich Pasternak über das ‚Weibliche in ihm‘ meistens negativ oder sogar verzweifelt äußert. „Subjektgenese, Kreativität und Geschlecht“, 382. Offenbar verstand Pasternak das Weibliche im Unterschied zu Levinas nie als Utopie der Alterität, sondern als Gegebenheit, die zu durchleben seine Aufgabe als Künstler sei. So ließe sich auch erklären, weshalb sein von Frejdenberg angeregtes Vorhaben, sich nur noch der Philosophie zu widmen, zu einer Identitätskrise und schließlich zum Bruch mit der Philosophie führte. Kurz vor seiner Abreise aus Marburg schrieb er an Aleksandr Štich: „Я ставлю крест над философией. […] У меня нет будущего. Я могу сказать цельнее и ближе к действительности: весь мир, из которого я вышел, все, что есть женственного, исключено для меня.“ „Ich hänge die Philosophie an den Nagel. […] Ich habe keine Zukunft. Ich kann es noch vollständiger und der Wirklichkeit näher sagen: Die ganze Welt, aus der ich herkomme, alles, was es gibt an Weiblichem, ist [hier] ausgeschlossen für mich.“ Brief an Aleksandr Štich vom 4./17. Juli 1912 aus Marburg, PSS, VII, 124/125 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). In einem Brief vom 3. August desselben Jahres ebenfalls an Štich beschreibt er, wie sein Vater ihn nach der enttäuschenden Begegnung mit Cohen von den philosophischen Plänen abbringen wollte, und Pasternak zitiert folgendermaßen seinen Vater: „[…] отправляйся al piacere в литературную богему или к черту, но не стать же тебе в самом деле этим синтетическим жидом, за тридевять земель отстоящим от сумерек и легенд искусства…“ „Schließ dich al piacere der literarischen Boheme an oder geh’ zum Teufel, aber du willst doch nicht tatsächlich so ein synthetischer Jude werden, sieben Berge weit entfernt von der Dämmerung und den Legenden der Kunst…“ Ebd., 132 (meine Hervorhebungen – Ch. Z.). 109 Eine solche Antwort auf die Frage aus „Bescvetnyj dožd’… kak gibnuščij patricij…“ deutet Pasternak in dem Gedicht „Lesnoe“ („Wäldlich“, 1913) an: „Я – уст безвестных разговор, / Как слух, подхвачен городами; / Ко мне, что к стертой анаграмме, / Подносит утро луч в упор.“ „Ich bin – Gespräch unbekannter Lippen, / Wie das Gehör, erfasst von Städten; / zu mir, wie zu einem verwischten Anagramm, / Bringt der Morgen seinen Strahl ganz nah.“ PSS, I, 327. Der Sprecher verfügt nicht über das Licht des Logos und erscheint als „verwischtes Anagramm“, das vom Licht (des Morgens) anvisiert werden muss, um leserlich zu werden. 110 Vgl. Hansen-Löve: „Zur Typologie des Erhabenen in der russischen Moderne“, 187–189.

152

Mitleid mit der Dämmerung

ihm die scheinbar wunderbare Illumination missfällt. Sie passe in ihrer Aufdringlichkeit nicht zum „altehrwürdigen“ Haus: У Давыдовых была чудная иллюминация и фейерверк. Мы стояли с бабушкой в начале Давыдовской аллеи и все видели. Я говорю «чудная» иллюминация, – то же самое я говорил всем, с которыми по этому поводу приходилось говорить, но в сущности мне она не особенно понравилась – своей назойливой пестротой, до такой степени не гармонировавшей с грустным и величавым спокойствием этой усыпальницы аристократии. Только лунный свет, как тоже что-то прошлое, великое и отжившее, как Todesahnung, родственен этому дому и консонирует с ним в таком грустном, белом, минорном сочетании. Adagio un poco fieramente.111 Bei den Davydovs gab es eine wunderbare Illumination und ein Feuerwerk. Ich stand mit Großmutter am Anfang der Davydov-Allee und sah alles. Ich sage „wunderbare“ Illumination – das Gleiche sagte ich allen [anderen], mit denen ich darüber sprechen musste, doch im Grunde hat sie mir nicht besonders gefallen – wegen ihrer aufdringlichen Grellheit, die so überhaupt nicht harmonierte mit der traurigen, altehrwürdigen Ruhe dieser aristokratischen Verschlafenheit. Allein das Mondlicht, als etwas ebenfalls Vergangenes, Großes und Überlebtes, wie eine Todesahnung [im Orig. deutsch], ist diesem Haus verwandt und konsoniert mit ihm in einer traurigen, weißen Moll-Verbindung. Adagio un poco fieramente.

Das Problem ist schon hier, dass das männlich kodierte Licht rücksichtslos leuchtet und die Befindlichkeit seiner Empfänger (der Gäste, des Hauses) verfehlt. Diese Beschreibung des Siebzehnjährigen lässt sich auch in Reliquiminis Sprache der Dämmerung wiedergeben: Der zukünftige Dichter, damals noch ganz der Musik, dem Komponieren verschrieben, leidet mit dem alt und schwach gewordenen Haus mit. Das tut er nicht wie die künstliche Illumination durch Aufhellung, sondern dadurch, dass er das Haus in die ihm angemessene Sprache der Musik kleidet. Der Dichter/Komponist bringt die unartikulierte „Lyrik der Dinge“ zum Vorschein: „Adagio un poco fieramente“. Dabei ist Grellheit in Pasternaks frühen Texten nicht das Hauptmerkmal des Lichts. Die schiere Ort- und Funktionslosigkeit des Lichts drängt sich an manchen Stellen so in den Vordergrund, dass es als „грязный“112  / „schmutzig“, als „бледный“ / „blass“, „мутный“ / „trüb“ und „бескровный“ / „blutleer“ bezeichnet wird.113 Die hereinbrechende Dunkelheit muss die „солнечная грязь“114 / „den Sonnenschmutz“ von den Pflastersteinen abwaschen. Dem elektrischen Licht bleibt die Luft weg: „[…] задыхаются дуговые лампы […].“115 „[…] Bogenlampen ersticken […].“ Das Gaslicht ist moribund: „[…] возились полосы газового света – белые, Brief an die Eltern vom 13. Juli 1907, PSS, VII, 26. „Bescvetnyj dožd’… kak gibnuščij patricij…“, PSS, II, 295. „[…] cвечи как мутное-мутное наводнение […]“. „Zakaz dramy“, 459. „Zvuki v ėtich ulicach protjažnye…“ [„Die Geräusche in diesen Straßen sind langgezogen...“, 1911], PSS, III, 478/479, hier 478. 115 „Zakaz dramy“, 557.

111 112 113 114

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

153

выветрившиеся, обглоданные, как кости.“116 „Streifen von Gaslicht irrten umher – weiß, verwittert, ausgehungert wie Knochen.“ In einem Fragment bleibt das Licht „irgendwie unten hängen“ („свет как-то застрял внизу“117), in einem anderen ist von „пустой стоячий полусвет“118 / „leer stehenden Halblicht“ die Rede. Der Schein der Sonne ist zu schwach, um bis zu den Menschen zu gelangen, und die von ihr geworfenen Schatten wenden sich gegen die Sonne, drängen diese gleichsam in noch weitere Ferne: „Закатное солнце остается поодаль, в конце пунцовых улиц, настигающих пешеходов и повозки, оно остается, а вооруженные длинными тенями люди, животные и предметы все уходят от солнца […].“119 „Die untergehende Sonne bleibt in der Ferne, am Ende der purpurnen Straßen, die die Fußgänger und Kutschen verfolgten. Sie bleibt stehen, die mit langen Schatten bewehrten Menschen, Tiere und Gegenstände aber laufen alle von der Sonne weg […].“ An anderer Stelle finden die Sonnenstrahlen zusammen, um quasi kirchlich eines „tiefen Schattens“ zu gedenken. Doch sie sind zu schwach, um den Schatten zu erreichen: „Потом какие-то прощеные лучи скорбно и бескровно, каким-то гашеным свечением силились вспомнить ту большую незабвенную низину, которая была перед ними обмокнута в глубокую тень.“120 „Danach kamen irgendwie schuldbewusste Strahlen trauernd und blutleer, mit einem ausgelöschten Glühen zusammen, um jenes unvergesslichen Tieflandes zu gedenken, das in einen tiefen, nassen Schatten getaucht vor ihnen lag.“ Das Licht ist ausgesprochen kraftlos und liegt buchstäblich am Boden umher. Dadurch kann es zwar hin und wieder flüchig einen Platz einnehmen, vermischt sich aber nirgends mit (dunklem) Wasser zu einer neuen „Sonnenhaftigkeit“ im Sinne der Mythopoetik eines Andrej Belyj. Besonders augenfällig ist diese gegenseitige Fremdheit der Elemente, wenn die Sonne das Wasser, statt mit ihm zu reagieren, „zerschneidet“.121 Nach den Reliquimini-Jahren 1910–1912, dem Marburger Intermezzo und dem Studienabschluss in Moskau (1913) erscheint die Sonne in „Ėdem“ / „Eden“, dem Eröffnungsgedicht von Pasternaks erstem Gedichtband Bliznec v tučach, als „Zwi-

116 „Vot kakaja u menja komnata…“ [„So ein Zimmer habe ich…“, 1910], PSS, III, 448/449. 117 „Myš’“ [„Die Maus“, 1910], ebd., 450–455, hier 454. 118 „Ust’e sudochodnoj reki…“ [„Die Zunge des befahrbaren Flusses“, 1911], ebd., 475–477, hier 477. 119 „Zvuki v ėtich ulicach protjažnye…“, 479. 120 „Relikvimini byl na meste uže…“ [„Reliquimini war schon da…“, 1910], ebd., 435 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Der Ausdruck „Прощеные лучи“ scheint von dem kirchlichen Feiertag „Прощеное воскресенье“ abgeleitet zu sein, dem letzten Sonntag vor der großen Fastenzeit. 121 „Лужи оказались подрезанными утренним солнцепеком […].“ „Pfützen schienen vom morgendlichen Sonnenbrennen zerschnitten […].“ „Kogda Relikvimini vspominalos’ detstvo…“, 440.

154

Mitleid mit der Dämmerung

schenraum toter Lippen“: „И солнце – мертвых губ пробел […].“122 Das heißt nicht, dass die Sonne für tot erklärt würde. Doch sie bleibt eben eine Leerstelle, die am Tod nichts ändern kann. Mehr noch, das Licht selbst nimmt die Eigenschaft der „Bedürftigkeit“ an, die Reliquimini zuvor so sehr zur Dämmerung hingezogen hatte. Aber jenes in Mitleidenschaft gezogene Licht ist keine Sphäre von chaotischer Fülle und Offenheit wie die Dämmerung, keine dunkel lockende χώρα. Es ist kalt, leer, fleischlos, wie in der posthum veröffentlichten Istorija odnoj kontroktavy (Geschichte einer Kontra-Oktave, 1916/1917). Am Anfang dieser Erzählung heißt es: Когда [поcле богослужения] отбушевало платье последней прихожанки, под сводами стало холодно и бессмысленно пусто: внутренность бездушной церкви уподобилась стеклянному колоколу огромного воздушного насоса, через узкие клапаны долгих окон на спинки скамей и на завитки лепных украшений лились охлажденные потоки белого, обеспложенного полдня; их всасывало сюда пустотой огромного помещения; они были похожи на колонны, поваленные набок, и упирались всею массой своего света в деревянные бордюры широких сидений, чтобы не поскользнуться на каменном полу и не рухнуть на пыльные доски пюпитров.123 Als das letzte Kleider-Rauschen [nach dem Gottesdienst] verweht war, wurde es kalt unter den Gewölbebogen und sinnlos leer: das Innere der unbeseelten, öden Kirche glich nun der Glasglocke einer ungeheuren Saugpumpe; durch die engen Ventile der hohen, schmalen Fenster flossen über Banklehnen und Stuckschnörkel die erkalteten Lichtströme eines weißen unfruchtbar gewordenen Mittags, angesaugt von der Leere des weiten Raumes; wie schräg geneigte Säulen legten sie sich mit der ganzen Masse ihres Lichts auf das Schnitzwerk der

122 PSS, I, 326. Einem Brief an seinen Freund Konstantin Loks vom 11. Januar 1914 legt Pasternak eine begonnene Übersetzung des poetischen Freundschaftsschreibens „To John Hamilton Reynolds“ (1818) von John Keats, dem englischen Romantiker, bei. In den Versen ist u.a. von einem Schatten die Rede, der dem Adressaten „eine dreifache Morgenröte“ werden möge: „О ты, с единой книгой из лучей, / Что тьму заветную питали, ночь за ночью, / Да будет тень тебе тройной зарей… / Не требуй знания – нет знанья у меня […].“ „O du, der du einzig ein Buch aus Strahlen bei dir hast, / die die heiß ersehnte Dunkelheit nährten, Nacht um Nacht, / Möge dir der Schatten eine dreifache Morgenröte werden… / Fordere kein Wissen von mir – ich habe keines […].“ PSS, VI, 544 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Interessant ist, dass Pasternak diesen Schatten dem Original hinzugefügt hat. Dafür unterschlägt seine Übersetzung Phöbus Apollon, den Sonnengott, dessen Abwesenheit während der Winterzeit in Keats’ Gedicht angesprochen wird: „O thou whose only book has been the light / Of supreme darkness which thou feddest on / Night after night, when Phoebus was away; / To thee the Spring shall be a triple morn. / O fret not after knowledge–I have none […].“ Keats, John: Selected Letters of John Keats. Revisited edition, ed. by Grant F. Scott. Cambridge, Mass./London 2002, 93/94 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Man kann also auch von dieser frühen Übersetzungsskizze Pasternaks sagen, dass der Schatten die Sonne verdrängt. 123 Istorija odnoj kontroktavy, PSS, III, 350–377, hier 350.

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

155

breiten Bänke, um nicht auf dem Steinfußboden auszugleiten oder an den staubigen Pulten zu zerschellen.124

Die Leere des Lichts in Istorija odnoj kontroktavy steht ganz im Gegensatz zu Reliquiminis bemitleidenswerter Dämmerung. In seiner kalten Blässe wird das Licht vollends zur Signatur des Todes. Der Tod „leuchtet“ dem in der Orgel des Vaters tragisch verunglückten Kind danach die ganze Nacht ins Gesicht. Die Mutter erschrickt über die konzentrierte Ausstrahlung dieses „sinnlosen“ Lichts: Всю ночь лицо его освещалось бледным светом смерти. Смерть как будто нарочно светила матери так, чтобы пучок лучей из ее омерзительной плошки падал только на крошечное личико ребенка. Лицо это было единственною бледною вещью во всей комнате. Оно сразу бросалось в глаза и ужасало своей белизной.125 Die ganze Nacht hatte das fahle Licht des Todes sein Gesicht erhellt. Wie absichtlich hatte der Tod so für die Mutter geleuchtet, daß ein Lichtbündel aus dem häßlichen Öllämpchen auf nichts anderes als auf das winzige Gesicht des Kindes fiel. Dieses Gesicht war das einzige helle Ding im ganzen Zimmer. Es warf sich einem förmlich in die Augen und erschreckte durch seine Blässe.126

Beziehen wir diese Situation zurück auf die Reliquimini-Fragmente. Das „Licht des Todes“, kann man sagen, konturiert in Istorija odnoj kontroktavy das leblose Kindergesicht – so wie bei Pasternak der Dichter zuvor die Dämmerung neu hatte konturieren wollen. In beiden Fällen bedeutet Konturierung eine Alternative zum Postulat der „Verwandlung durch Licht“ (Andrej Belyj). Denn weder die Dämmerung der jugendlichen Fragmente noch die Nacht aus Istorija odnoj kontroktavy werden vom Licht ausgeleuchtet. Doch Reliquiminis Losung „Umreißt die Dämmerung mit Gott!“, der in gewisser Weise auch der deutsche Romantiker Knauer mit seiner Orgelkunst folgte, erweist sich als schwächer als das gebündelte Licht des Todes. Das Mitleid mit der Dämmerung, das ohne das Licht der Verstandeswelt auskommen wollte, wird in Istorija odnoj kontroktavy von realer Leere eingeholt. Kurz: Keiner der beiden Ansätze hat eine dauerhafte Bedeutung zu entfalten vermocht. Die Dämmerung konnte nicht fixiert werden. Das Licht des Todes bleibt „leer“. Angesichts dessen ist es nur logisch, dass nach den frühen, radikalen Versuchen einer negativen Poetik des Lichts bei Pasternak die Idee einer Offenbarung durch Licht aktuell werde. Nur unter welchen Voraussetzungen? In der ersten Version des Gedichts „Marburg“ (1916) wird die Sonne mit „erkaltendem Rückenspeck“ verglichen – ein Vergleich, welcher der futuristischen 124 Pasternak, Boris: Die Geschichte einer Kontra-Oktave. Mit einem Nachwort von Jewgenij Pasternak, aus dem Russischen von Heddy Pross-Weerth. Frankfurt a. M. 19933, 7. 125 Istorija odnoj kontroktavy, 356. 126 Die Geschichte einer Kontra-Oktave, 19/20, modifiziert.

156

Mitleid mit der Dämmerung

Polemik in Pobeda nad solncem (Der Sieg über die Sonne, 1913) nicht unverwandt ist. Auf die ‚Fettleibigkeit‘ der Sonne und ihre ‚Einsperrung‘ in dem futuristischen Spektakel komme ich am Ende dieses Kapitels noch zu sprechen. In Pasternaks „Marburg“ beginnt nach Untergang der Tagessonne allerdings eine „neue Sonne“ aufzugehen: Достаточно тягостно солнце мне днем, Что стынет, как сало в тарелке из олова, Но ночь занимает весь дом соловьем И дом превращается в арфу Эолову.127 Eine ziemliche Last ist mir tags die Sonne, Die abkühlt wie Speck auf einem Zinnteller, Doch die Nacht besetzt das ganze Haus mit Nachtigallen Und das Haus verwandelt sich in eine Äolusharfe.

Die Konkretisierung dieser neuen, in der Nacht aufgehenden Sonne erfolgt erst in der zweiten Version von „Marburg“ (1928), wobei sie dort, in Pasternaks Rückblick auf sein frühes Werk, nicht einmal mehr das Element der Nacht benötigt, um zu erscheinen. Sie leuchtet am helllichten Tag an der Stelle auf, an der schon die „alte Sonne“ geschienen hatte: «Научишься шагом, а после хоть в бег», – Твердил он [инстинкт], и новое солнце с зенита Смотрело, как сызнова учат ходьбе Туземца планеты на новой планиде.128 „Lernst schrittweis, dann schneller und schneller im Lauf “, – Und neu sah die Sonne vom Himmel hernieder, Sah zu, wie von neuem ein Erdenbewohner Das Laufen erlernte auf anderem Stern.129

127 PSS, I, 377. Siehe zum Vergleich der Sonne mit einem Stück Rückenspeck das Pasternak gewidmete Gedicht „Lira lir. Oratorija“ („Die Lyra der Lyren. Oratorium“, 1913) von Sergej Bobrov, in dem von „[з]олота текучего прозрачный жир“ / „[f ]ließenden Goldes durchsichtigem Fett“ die Rede ist. Bobrov, Sergej: Lira lir. Moskva 1917, 34. Übrigens findet sich die metaphorische Verbindung von Licht und Fett auch bei Vadim Šeršenevič, jenem Futuristen/Imaginisten, dem Pasternak im Essay „Vassermanova reakcija“ Effekthascherei der Vergleiche vorgeworfen hatte. Vgl. das Gedicht „Princip rastekajuščegosja zvuka“ („Das Prinzip des zerfließenden Klanges“, 1918): „Жир солнца по крыше, как по бутербродам / Жидкое, жаркое масло, тек…“ „Das Fett der Sonne floss über Dächer, wie über geschmierte Brote / flüssige, heiße Butter.“ Šeršenevič: Listy imažinista, 248. 128 PSS, I, 110. 129 Pasternak, Boris: Initialen der Leidenschaft. Gedichte. Frankfurt a. M. 1971, 10.

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

157

Neu ist hier verglichen mit den Obsessionen Reliquiminis die Idee, dass Licht überhaupt erscheinen kann. Damit verlässt Pasternak das Feld einer Poetologie, derzufolge es in der Kunst grundsätzlich um Abdunkelung geht. In einem Brief von Ende 1916 an seine Eltern beschreibt er, wie er sich die Epiphanie des Lichts, den Aufgang einer neuen Epoche des Lichts vorstelle. Auffallend ist die Ablehnung des „Lichtblicks“ oder Hoffnungsschimmers, der nach Brjusov das Wesen der Kunst ausmachte. Das Licht müsse, so Pasternak in dem Brief, augenblicklich und evident aufleuchten, nicht lediglich in ‚genialen Momenten‘ des Künstlers. Statt aus der verdunkelten Welt abgeleitet zu werden, müsse es von außen, von ‚sich selbst her‘ kommen: […] я не ищу просвета в длящемся еще сейчас мраке потому, что мрак его выделить не в состоянии. Зато я знаю, что просвета не будет потому, что будет сразу свет. Искать его сейчас в том, что нам известно, нет возможности и смысла: он сам ищет и нащупывает нас и завтра или послезавтра нас собою обольет.130 […] ich suche eine Aufhellung deshalb nicht in der noch anhaltenden Finsternis, weil die Finsternis nicht imstande ist, diese [die Aufhellung] hervorzukehren. Dafür weiß ich, dass es [gar] keine Aufhellung geben wird, denn es wird auf einmal Licht sein. Es jetzt in dem zu suchen, was uns bekannt ist, ist unmöglich und sinnlos: Es selbst sucht uns und tastest sich an uns heran, um uns morgen oder übermorgen mit sich zu übergießen.

Berücksichtigt man den Zeitpunkt und das Umfeld des Briefes, so handelt es sich um eine gesellschaftlich-politische Vision (mit „Finsternis“ wird auf den Krieg angespielt131); jedenfalls ist die Äußerung nicht im engeren Sinne poetologisch gemeint. Dennoch funktioniert sie nach der Logik und Dynamik von Pasternaks Poetologie: Etwas kann nicht abgeleitet werden aus dem Bekannten, es hat sich von selbst einzustellen, in einem unvorhersehbaren, ‚freien‘ Ereignis (Bergson). Unter dieser Perspektive werde ich im dritten Kapitel das Gedichtbuch Sestra moja – žizn’ lesen.

Exkurs. Sieg über die Sonne: Die futuristische Polemik gegen die Verweiblichung des Lichts In den Jahren zwischen 1910 und 1916, in denen sich Pasternak zunächst scheinbar ganz gegen die Musik und für die Philosophie, anschließend gegen die Philosophie 130 Brief vom 9. Dezember 1916, PSS, VII, 290 (Hervorhebung im Orig.). Vgl. die kursorische Erwähnung dieser Stelle in Lazar’ Flejšmans Vorwort zur elfbändigen Pasternak-Ausgabe: „Svobodnaja sub’’ektivnost’“ / „Freie Subjektivität“, PSS, I, 5–60, hier 19. 131 Im August 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, war in Russland eine Sonnenfinsternis zu sehen, die Pasternak auf der Datscha der Familie Baltrušajtis (der Familie des Symbolisten Jurgis Baltrušajtis) miterlebte. Die Sonnenfinsternis wurde danach als Fanal des Krieges gedeutet. Vgl. dazu Sergeeva-Kljatis, Anna/Lekmanov, Oleg: „‚Agitprofsožeskij lubok‘. Iz real’nogo kommentarija k Pasternaku“, in: Novyj mir 6 (2010), 155–162, hier 155/156.

158

Mitleid mit der Dämmerung

und ganz für die Poesie, für einen „Impressionismus des Ewigen“ entschied – und in Wirklichkeit all die verworfenen Künste und Tätigkeiten in seinem Schreiben „aufbewahrte“132 –, in diesen Jahren formierte sich in Russland der Futurismus. Pasternak schloss sich 1913 der spät-symbolistischen Gruppierung „Lirika“ um den Dichter Sergej Bobrov an. Als diese sich 1914 in „Centrifuga“ umbenannte und einen gemäßigt futuristischen Kurs ausrief, war Pasternak unmittelbar, durchaus auch ‚literaturpolitisch‘ involviert.133 Betrachtet man das Schicksal der Sonne in den Gedichten seiner Mitstreiter um das Jahr 1913, namentlich Sergej Bobrov und Nikolaj Aseev, so bietet sich ein mit Pasternak durchaus kompatibles Bild. In Bobrovs Spätsymbolismus ist die Poesie etwas Schattenhaftes, von einer gefühllosen Sonne Gejagtes.134 Das statische Schatten-Licht-Gefüge erinnert ausgesprochen stark an den frühen, dekadenten Symbolismus. Ein Beispiel: Im Gedicht „Fantasmagorija“ („Phantasmagorie“, 1913) von Nikolaj Aseev wird die Sonne als unschöpferische, „zermalmende“ Kraft dargestellt: Летаргией бульварного вальса усыпленные лица подернув, в электрическом небе качался повернувшийся солнечный жернов […]. Die von der Lethargie des Boulevard-Walzers eingeschläferten Gesichter benebelnd, schaukelte im elektrischen Himmel der sich drehende Mühlstein der Sonne.135

132 Vgl. Gasparov: „Gradus ad Parnassum“, 87, 101. 133 Zu Pasternaks eigener Retrospektive siehe Ochrannaja gramota, 214/215. Lazar’ Flejšman hat die „futuristische Biographie“ Pasternaks (1914–1916), die vor allem mit den Manifesten „Vassermanova reakcija“ und „Černyj bokal“, mit dem Gedichtband Poverch bar’erov sowie zahlreichen verschlüsselten Polemiken im literarischen Leben verbunden ist, vorbildlich aufgearbeitet. Flejšman, Lazar’: „Fragmenty ‚futurističeskoj‘ biografii Pasternaka“ [1979], in: ders.: Ot Puškina k Pasternaku, 544–585, und ders.: „‚Černyj bokal‘ Pasternaka v kontekste literaturnoj bor’by“ [1995], ebd., 586–620. Als Futurist sui generis wurde Pasternak von Jurij Tynjanov (1929) und von Vladimir Markov (1954) charakterisiert. Vgl. dazu die Darstellung bei Hughes, Olga: „Pasternak and Futurism“, in: dies.: The Poetic World of Boris Pasternak. Princeton/London 1974, 42–56. 134 Vgl. das Gedicht „Sud’ba sticha“ („Das Schicksal des Verses“, 1913): „Каждый стих, отплывая, тонет / В разгневанных полдневных парах, / Полдень луч распаленный гонит и стонет, / Испаряя маленький прах.“ „Jeder Vers, verschwimmend, versinkt / In den Dämpfen des erzürnten Mittags, / Der Mittag jagt den entbrannten Strahl und stöhnt, / Seinen kleinen Staub verdampfen lassend.“ Bobrov: Lira lir, 33. Außerdem das Pasternak gewidmete „Den’skoe metanie“ („Tages-Umherirren“, 1913), in dem das angesprochene „Du“ – Pasternak – in das Schattenreich des Dichters tritt. Ebd., 4. 135 Aseev, Nikolaj: Stichotvorenija i poėmy. Leningrad 1967, 73.

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

159

Die nahe Verwandtschaft mit dem negativen Sonnenbegriff des jungen Pasternak ist offensichtlich. Allerdings wird bei Bobrov und Aseev, anders als bei ihrem Freund Pasternak, weniger die „Ortlosigkeit“ der Sonne beklagt, als ihr sinnlos kreisendes Störwerk. Im Rückblick kann man sagen, dass das Potential einer Epiphanie im Modell des (noch) abwesenden Lichts größer war als im Modell seiner bedrückend-aufdringlichen Präsenz. Dabei orientiert sich das poetische Vokabular der Mitstreiter von „Lirika“ bzw. „Centrifuga“, Pasternak eingeschlossen, jeweils noch am Koordinatensystem des Symbolismus, mal an dem frühen, ‚dekadenten‘, mal an dem jüngeren‚ inkarnatorischen. Ich möchte nun die Frage stellen, wie sich zu diesem Bild der 1913 in Pobeda nad solncem inszenierte „Sieg über die Sonne“ verhält. Anzunehmen ist, dass in Aleksej Kručenychs Oper anders als bei Bobrov, Aseev und Pasternak nicht lediglich die Entfernung/Entfremdung von der Sonne benannt wird, sondern dass es um eine Destruktion des gesamten Koordinatensystems geht, wie die Futuristen es in der Hochkultur vorfanden.136 Siege über die Sonne hatte es zwar im russischen Fin de siècle schon zwei gegeben: einen ersten in der Frühphase des Symbolismus, als die Schattenwelt gegen die Sonne ausgespielt worden war, und einen zweiten in den künstlerischen ‚Glaubenskrisen‘ der Visionäre Andrej Belyj und Aleksandr Blok. Jedoch zeichnet diese beiden Etappen aus, dass sie innerhalb der symbolistischen Logik verblieben. Der Dichter der Dekadenz zog sich in den Schatten zurück, weil er für die Sonne zu „müde“ und zu „schwach“ war. Belyj und Blok ihrerseits hielten in ihren Krisenschriften ausdrücklich am Sonnenideal fest. Schuld an der Verfinsterung war eine böse Verstrickung von Kunst und Leben, nicht die „versprochene Sonne“ gewesen. Selbst der Philosoph Nikolaj Berdjaev – bei seinem Herunterholen der „objektiven“ Sonne dem futuristischen Triumph wesentlich näher – räumt ein, dass der Mensch ohne Sonnenkraft nicht leben könne. Sein Postulat der Verinnerlichung ändert nichts an dem Wert, der dem Sonnenlicht zugeschrieben wird.137 Über die Futuristen urteilt Berdjaev 1918, fünf Jahre nach der Aufführung von Pobeda nad solncem, in seinem Essay „Krizis iskusstva“ / „Die Krise der Kunst“: „[…]

136 Vgl. Gubanova, Galina: „Deti solnca i deti dochloj luny“, in: Simvolizm v avangarde. Moskva 2003, 233–244, hier 234: „Die Mythologeme des Symbolismus werden von den Futuristen [Zukünftlern] mit umgekehrtem Vorzeichen wahrgenommen.“ 137 Vgl. Berdjaev, Nikolaj: Smysl tvorčestva [1914], in: ders.: Filosofija svobody. Smysl tvorčestva. Moskva 1989, 254–580, hier 312: „Утеряв свою солнечность, человек впал в солнцепоклонство и огнепоклонство, сделал себе бога из внешнего солнца. Апокалиптический образ Жены, облеченной в Солнце, и есть образ возвращения Солнца внутрь человека.“ „Nachdem er seine Sonnenhaftigkeit verloren hatte, verfiel der Mensch in Sonnenanbeterei und Feueranbeterei, machte sich einen Gott aus der äußeren Sonne. Das apokalyptische Bild des in Sonne gekleideten Weibes ist ein Bild für die Rückkehr der Sonne ins Innere des Menschen.“ Überdeutlich sind Berdjaevs begriffliche Allusionen an Andrej Belyj.

160

Mitleid mit der Dämmerung

футуристы в слепоте идут к зияющей пустоте […].“138 „[…] die Futuristen begeben sich blind in die klaffende Leere […].“ So verbleibt Berdjaev in der alten Axiologie, derzufolge die Leere ein Symptom von Mangel an Licht ist. Gerade am Konzept der Leere wird aber die Umwertung des Lichts in Pobeda nad solncem sichtbar. Nach ins Werk gesetzter Einsperrung der Sonne heißt es in Kručenychs Libretto: – глубока ли пустота? – проветривает весь город. Всем стало легко дышать и многие не знают что с собой делать от чрезвычайной легкости. Некоторые пытались утопиться, слабые сходили с ума, говоря: ведь мы можем стать страшными и сильными. Это них тяготило.139 – Die Leere ist tief ? – Sie durchweht die ganze Stadt. Allen wurde leicht zu atmen, und viele wissen nicht, was sie mit sich tun sollen vor unwahrscheinlicher Leichtigkeit. Einige versuchten sich zu ertränken, die Schwachen haben den Verstand verloren, sie sagten: wir können doch schrecklich und stark werden.140

Die Leere – also die totale Abwesenheit von Sonnenlicht – weht als befreiender Wind durch die Stadt. Exakt das, was Pavel Florenskij in jenen Jahren als niederdrückende und vernichtende Macht beschreib,141 gilt in Pobeda nad solncem als Überwindung der Schwerkraft. Man müsse ein „Feigling“ (трус) sein, um in der sich ausbreitenden Leere den Mut zu verlieren. Für die „Kräftlinge“ (силачи) des Spektakels ist die Leere jener voraussetzungslose Raum, in dem sie ihre Kraft uneingeschränkt entfalten können. 138 Berdjaev, Nikolaj: „Krizis iskusstva“, in: ders.: Filosofija tvorčestva, kul’tury i iskusstva. 2. Moskva 1994, 399–419, hier 412. 139 Pobeda nad solncem. Opera A. Kručenych, muzyka M. Matjušina, in: Erbslöh, Gisela: „Pobeda nad solncem“. Ein futuristisches Drama von A. Kručenych. Übersetzung und Kommentar (mit einem Nachdruck der Originalausgabe). München 1976, 17. 140 Ebd., 52. 141 Vgl. die Albtraum-Schilderung bei Florenskij: Stolp i utverždenie Istiny, 1 (I), 205/206: „Беспросветная тьма, почти вещественно-густая, окружала меня. Какие-то силы увлекли меня на край, и я почувствовал, что это – край бытия Божия, что вне его – абсолютное Ничто. Я хотел вскрикнуть и – не мог. Я знал, что еще одно мгновение, и я буду извергнут во тьму внешнюю. Тьма начала вливаться во все существо мое. Самосознание наполовину было утеряно, и я знал, что это – абсолютное, метафизическое уничтожение.“ „Lichtloses Dunkel, fast stofflich-verdichtet, umgab mich. Irgendwelche Kräfte zogen mich an den Rand, und ich spürte, dass dies der Rand des Göttlichen Seins sei, dass hinter ihm – das absolute Nichts beginnen würde. Ich wollte schreien und – konnte nicht. Ich wusste, dass noch ein Augenblick fehlte, und ich würde in die äußere Dunkelheit geworfen. Die Dunkelheit begann in mein ganzes Wesen einzufließen. Mein Selbstbewusstsein war zur Hälfte verloren, und ich wusste, dass dies – die absolute, metaphysische Vernichtung wäre.“

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

161

Noch bei Friedrich Nietzsche trat, wie wir im Zusammenhang mit dem frühen Symbolismus gesehen haben, nach der „Loskettung der Erde von ihrer Sonne“ Orientierungslosigkeit ein. Nach der Ausrufung des „Mordes an der Sonne“ stellte der „tolle Mensch“ die Frage: „Haucht uns nicht der leere Raum an?“ Boris Groys’ These, wonach Pobeda nad solncem nichts anderes sei als eine Inszenierung von Nietzsches Diagnose,142 trifft offensichtlich den Kern des Problems: Die bei Nietzsche noch mit Besorgnis gestellte Frage wird in der futuristischen Oper von den „Feiglingen“ aufgegriffen („глубока ли пустота?“), um dann – unter Beibehaltung von Nietzsches Metaphorik – von den „Kräftlingen“ affirmativ beantwortet zu werden: „проветривает весь город.“ In den Feiglingen sind also jene Vertreter der Dekadenzkultur (wohl auch Nietzsche selbst) zu erkennen, die zu ‚erschlafft‘ waren, um aus dem befreienden Ereignis des Todes der Sonne die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Die Oper ist aber vor allem auch ein Manifest gegen die symbolistische Kunst, und die Sonne wird nicht zuletzt als Symbol des Symbolismus in all ihren Facetten entleert. Zunächst geht es darum, dem Schönen, Wahren und Guten, für das die Sonne stand, seinen unbedingten Wert abzusprechen. Dem Schönheitsideal wird die Quelle (seine platonische Basis) entzogen,143 was den Einsturz der ganzen darüber konstruierten sublimen Hochkultur zur Folge hat. Damit verbunden ist die paradigmatische Ersetzung der symbolistischen Durchsichtigkeit (прозрачность) mit Dunkelheit: – Мы вольные Разбитое солнце… Здравствует тьма!144 – Wir sind frei, Zerschlagen ist die Sonne Es lebe die Dunkelheit!145 Ликом мы темные Свет наш внутри146 142 Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. München/Wien 1988, 72: „Das […] Mysterium Der Sieg über die Sonne, in dem zum erstenmal das Schwarze Quadrat auftaucht, rekonstruiert das Ereignis des ‚Mordes an der Sonne‘ und den Eintritt einer mystischen Nacht, in der dann die künstliche Sonne einer neuen Kultur, einer neuen technischen Welt entzündet wird.“ 143 Vgl. Michail Matjušins Aussage: „[…] вся победа над солнцем есть победа над привычным понятием о солнце как «красоте».“ „[…] der ganze Sieg über die Sonne ist ein Sieg über die überkommene Auffassung von der Sonne als ‚Schönheit‘.“ Zit. nach Erbslöh: „Pobeda nad solncem“, 71. 144 Pobeda nad solncem, 15. 145 Ebd., 50. 146 Ebd., 16. Vgl. dazu Le Bons Begriff des „schwarzen Lichts“. Sigej/Kukuj: „‚Černyj svet‘: F. Sologub – G. Lebon – A. Kručenych“.

162

Mitleid mit der Dämmerung Von Angesicht sind wir dunkel, Unser Licht ist in uns147

Bedenkt man, dass Dmitrij Merežkovskij die symbolistische Durchsichtigkeit als glasklaren Stil begründet hatte, so wird umso deutlicher, dass die Abkehr von der Idee des Durchschimmerns zuerst auf der Ebene der poetischen Sprache vollzogen werden muss. Die Sprache ist kein Medium der (säkularisierten) johanneischen Lichtnatur des Wortes mehr. Die Aussage „Ликом мы темные“ ist insofern eine Verlautbarung der selbstwertig gewordenen Wörter: eine Deklaration des Sieges des futuristischen „слово-вещь“ / „Wort-Dings“ über den symbolistischen „слово-луч“ / „Wort-Strahl“.148 Der im Zusammenhang mit Pasternak interessanteste Zug der anti-symbolistischen Polemik sind die durchgängig weiblichen Assoziationen der Sonne, dieses „kulturübergreifenden Symbols männlicher Macht und Autorität“149. In der Tat: Der untergehende Licht-Symbolismus wird in Kručenychs Text ungeachtet der meist männlichen Kodierung des Lichts bei Solov’ev und seinen Schülern als „weibisches“ Phänomen dargestellt, das von einer „männlichen“ Epoche abgelöst werden müsse.150 Man kann von einem eigentlichen anti-sophiologischen Subtext in Pobeda nad solncem sprechen. Bekämpft wird eine Weltsicht, in der das Sonnenlicht stets durch ein weibliches Medium hindurch ‚gelesen‘ wird (durch die Sophia bei Solov’ev, durch die Wunderschöne Dame bei Blok, durch Wasserströme bei Belyj, durch die Erde bei Ivanov etc.): Солнце ты страсти рожало И жгло воспаленным лучем Задернем пыльным покрывалом Заколотим в бетонный дом!151 147 Pobeda nad solncem, 51. 148 Vgl. dazu Jurij Striedters Studie „Transparenz und Verfremdung. Zur Theorie des poetischen Bildes in der russischen Moderne“, in: Iser, Wolfgang (Hrsg.): Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Kolloquium Köln 1964 (Poetik und Hermeneutik II). München 1966, 263–296, hier 278: „Während für die an der Flamme interessierten Symbolisten die Transparenz der ‚Alabasterwände‘ ausschlaggebend war […], ist für ihre primär […] an der ‚poetischen Substanz‘ interessierten Gegner die Fähigkeit der Wand entscheidend, Widerstand zu leisten.“ Zur Demaskierung des Wortes im futuristischen Theater im Unterschied zur Demaskierung des Menschen im symbolistischen Theater vgl. Schahadat: Das Leben zur Kunst machen, 105. 149 Voss: „Das Licht und die Worte“, 85. 150 Vgl. Kručenych, Aleksej: Naš vychod. Avtobiografija dičajšego. Naš vychod. Živoj Majakovskij. Moskva 1996, 64: „Все делалось с целью подготовить мужественную эпоху, на смену женоподобным Аполлонам и замызганным Афродитам.“ „Wir unternahmen alles mit dem Ziel, eine kühne [wörtl.: mannhafte] Epoche vorzubereiten, eine Ablösung der weibergleichen Apollos und fleckenübersäten Aphroditen.“ 151 Pobeda nad solncem, 5.

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

163

Sonne, du hast Leidenschaften geboren Und hast mit geschwollenem Strahl gebrannt. Wir werden dich bedecken mit staubiger Decke, Wir werden dich in ein Haus von Beton einsperren.152 – Мы вырвали солнце со свежими корнями Они пропахли арифметикой жирные Вот оно смотрите153 – Wir haben die Sonne mit frischen Wurzeln herausgerissen. Sie rochen nach Arithmetik, fettig. Da ist sie, seht.154

Hier lässt sich eine weitere Wende in der Inkarnationsdramatik der russischen Moderne beobachten. Der sophiologisch geprägte Lichtsymbolismus konnte und wollte Körper nur als Verkörperungen von ‚Höherem‘ denken. Körper gab es nur wirklich, insofern es Licht gab. Den Endpunkt dieser Sichtweise markiert wohl Florenskijs auf die Ikonen projizierter Symbolismus.155 In Pobeda nad solncem erscheint nur mehr das Gemisch aus Licht und Körper (aus „Arithmetik“ und „Fett“!) als schwächliche Unentschiedenheit. Mehr noch: Die Inkarnation und die mit ihm verbundene adventistisch-apokalyptische Erwartungshaltung des Symbolismus erweisen sich überhaupt als Scheinproblem. Um eine neue Kunst und eine neue Welt hervorzubringen, müsse lediglich die Energie richtig kanalisiert werden, die in den Dingen selbst stecke: „Свет наш внутри“. Zum Widerruf der bürgerlich-religiösen Passivität der Kunst gehört die Absage an die Verletzlichkeit und Hypersensibilität des Künstlers. Andrej Belyj glaubte so sehr an die Schönheit, dass er an ihr hatte „sterben“ müssen. Diese opfermäßige Ohnmacht der Kunst schalten die Autoren von Pobeda nad solncem aus, indem sie, auch hier, die Perspektive umdrehen: In der Aufführung der Oper wurden nach dem Sieg über die Sonne die Scheinwerfer direkt ins Publikum gerichtet. Dieses elektrische Licht hat sich vom platonischen Ursprung (dem Guten) genauso wie von jeglichen sophiologisch-weiblichen Konnotationen befreit.156 Die Kunst führt kein „Ideenschauspiel“ (Hansen-Löve) mehr auf, sie wird selbst zum „силач“ / „Kräftling“ – zur reinen Energie, deren vorrangige Funktion die aggressive Blendung ist. Pobeda nad solncem fordert in einem spektakulären Akt die Ablösung der Licht-Kontemplation durch Observation und Domination – wie man es mit Michel 152 153 154 155 156

Ebd., 41/42 (modifiziert). Ebd., 15. Ebd., 50. Vgl. Florenskij, Pavel: Ikonostas [1922]. Moskva 1994, 136/137, 139, 144. Vgl. dazu Gubanova: „Deti solnca i deti dochloj luny“, 241, sowie den Kommentar in: Groys, Boris/Hansen-Löve, Aage (Hrsg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde. Frankfurt a. M. 2005, 84/85.

164

Mitleid mit der Dämmerung

Foucaults Modell recht genau umschreiben kann. Wieder wird die Visualität nicht als solche überwunden, sondern lediglich von ihren bisherigen sprachlichen, kulturellen, religiösen Trägern befreit. Trotz der Verdunkelung der Stadt und der Opakisierung des Wortes nimmt am Ende wieder ein Licht-Paradigma Überhand: eben jenes der technischen Blendung. Wir wissen nicht, wie Pasternak auf die Oper Kručenychs, Matjušins und Chlebnikovs reagierte, das zusammen mit Vladimir Majakovskijs Tragödie Vladimir Majakovskij in Sankt Petersburg uraufgeführt worden war (einmal abgesehen von dem bekannten Umstand, dass die Vereinigung „Lirika“ / „Centrifuga“ einen viel stärker traditionsverbundenen Futurismus als die Kubofuturisten anstrebte). Ich möchte das Kapitel daher mit einem Gedankenexperiment abschließen: Wie hätte sich Boris Pasternak zu den performativen Thesen der Oper positioniert? Die Vermutung ist folgende: Er hätte versucht, gegenüber den „mannhaften“ Scheinwerfern die Ehre der als dekadent und „feige“ kompromittierten Weiblichkeit zu retten. Um nichts anderes war Pasternak letztlich ja in seinem Schreiben bemüht. In einem Prosafragment von 1912 über einen „strengen Denker“ namens Sugrobskij – ein ‚kritizistisches‘ alter ego Pasternaks in seiner neukantianischen Phase – heißt es: „Его [Сугробского] выводы, когда он размышлял, отличались ясностью. Вечная женственность, не будучи переплетенной в полотно или кожу, вечная женственность в разговоре казалась ему скучною вечностью.“157 „Seine [Sugrobskijs] Folgerungen, wenn er nachdachte, zeichneten sich durch Klarheit aus. Das Ewigweibliche, falls nicht eingewoben in ein Tuch oder eine Haut, das Ewigweibliche im Diskurs schien ihm eine langweilige Ewigkeit.“ Das implizierte Argument ist klar. Das „Ewigweibliche“ ist sehr wohl eine interessante Ewigkeit, wenn sie nur nicht zu sehr offengelegt und diskutiert wird.158 Zum Ewigweiblichen gehört eine gewisse Verborgenheit und Dunkelheit, ansonsten wird es „langweilig“, vielleicht auch obszön. Und so verstanden, würde es sich gar nicht den Verhöhnungen durch die neuen „Kräftlinge“ aus Pobeda nad solncem aussetzen.159 157 „Vozduch moroznoj noči černym naletom…“ [„Die Luft der frostigen Nacht mit schwarzem Anflug…“, 1912], PSS, III, 505–510, hier 509. 158 Vgl. dazu Vasilij Rozanovs symptomatische Rede von „та «Вечная Женственность», мировая женственность, о которой начали теперь говорить повсюду“ / „jener ‚Ewigen Weiblichkeit‘, jener Welt-Weiblichkeit, von der in letzter Zeit alle zu reden begonnen haben“. Rozanov, Vasilij: Ljudi lunnogo sveta. Metafizika christianstva [1911]. Reprintnoe vosproizvedenie vtorogo izdanija 1913 goda. Moskva 1990, 31. 159 Als sich Sergej Durylin in seinen Memoiren (im Eintrag vom 16.10.1928) an Pasternaks Reliquimini-Fragmente von 1910 erinnert, notiert er: „Они [отрывки] казались какими-то осколками ненаписанных симфоний Андрея Белого, но с бóльшей мужественностью. Белый женствен, Борис – мужествен.“ „Sie [die Fragmente] wirkten wie Splitter nichtgeschriebener Sinfonien Andrej Belyjs, aber mit mehr Mannhaftigkeit. Belyj ist weiblich, Boris – mannhaft.“ Durylin: V svoem uglu, 746. Man könnte diese Aussage so verstehen: Pasternaks ‚Medialisierung‘ der Sophiologie lässt das Ewigweibliche gegenüber dem Symbolismus

Die Anfänge von Pasternaks Poetik des Lichts

165

Bemerkenswert ist, wie nah die Idee des „Einwebens in ein Tuch oder eine Haut“ dem „zart gewobenen Netz“ und dem „Lichttuch“ aus dem Brief Florenskijs an Belyj von 1904 kommt (zitiert im ersten Kapitel). Das Licht muss nach Florenskij und Belyj – und eben auch nach Pasternak – irgendwie inkarniert oder, neutraler formuliert, medialisiert werden. So könnte also Pasternaks Alternative zu Pobeda nad solncem lauten: Statt die Sonne „einzusperren“, sie in Beton einzumauern und die Welt so vollständig opak zu machen, ginge es darum, eine Abdunkelung, ein noch durchlässiges Negativ, eine Dämmerung zu finden, in der die „alte“, natürliche Welt bewahrt werden könnte. 1915, in einem Brief an Aleksandr Štich, wiederholt Pasternak die Einschätzung aus dem zitierten Fragment über den strengen Denker Sugrobskij. Er versucht sich zu erklären, wie er in 1912 Marburg durch die Verliebtheit und den Überdruss am Akademischen doch wieder auf das „Ewigweibliche“ hatte zurückkommen können. Er schreibt: „Если я и писал тогда о женственности, то только потому, что сильно заблуждался: я не знал, что приступ страсти благороднее всяких до неузнаваемости разукрашенных слов о ней.“160 „Wenn ich auch damals über die Weiblichkeit schrieb, so nur deshalb, weil ich mich so sehr verirrt hatte: Ich wusste nicht, dass ein Anfall von Leidenschaft edler ist als jegliche bis zur Unkenntlichkeit schön gemachten Worte über sie [die Leidenschaft].“ Und er fügt ironisch hinzu: Das „Weibliche“ sei ein Wort des alten Goethe [aus dem Zweiten Teil des Faust], nichts für Kinder und Jugendliche.161 Hier wiederholt sich Pasternaks immer wiederkehrende bergsonistische Einsicht, wonach das Leben „selbst“ in jedem Fall edler sei als alle erdenklichen Aussagen „über“ es. Und gleichwohl gibt es keine Kunst ohne Abstand zum Leben – das wusste Pasternak sehr wohl. Das Problem ist: Wie lässt sich das verhasste „über“ in ein „mit“ transformieren? Die Fragestellung in dritten Kapitel lautet dementsprechend wie folgt: Was für ein (ewig-)weiblicher Träger wird benötigt, damit es in der Kunst zu einer Licht-Epiphanie kommen kann?

diskreter, impliziter werden. So liest auch Brojtman Marina Cvetaevas Rede von der „ewigen Mannhaftigkeit“ der Lyrik Pasternaks (siehe dazu das nächste Kapitel). 160 Brief vom 6. Februar 1915 an Aleksandr Štich, PSS, VII, 199. Vgl. dazu Pasternak, Elena: „Boris Pasternak i Aleksandr Štich“, 221. 161 PSS, VII, 199.

3. Kapitel Die Epiphanie des Licht-Regens Zur Sophiologisierung des Lichts in Sestra moja – žizn’ / Meine Schwester – das Leben Marina Cvetaeva präsentiert in ihrem Essay „Svetovoj liven’. Poėzija večnoj mužestvennosti“ Licht und Wasser als Pasternaks „Lehrer“. Die Einschätzung wurde von Pasternak weder bejaht noch zurückgewiesen; in seinem ersten Brief an Cvetaeva nach Erscheinen der Rezension (in der Zeitschrift Ėpopeja, Berlin 1922) bedankt er sich mehrmals umwunden für „Ваш[а] обо мне стать[я]“ / „Ihren Artikel über mich“, ohne inhaltlich darauf einzugehen.1 – In diesem Kapitel, einer Schritt-fürSchritt-Lektüre von Sestra moja – žizn’2, werde ich Cvetaevas Begriff des Licht-Regens als Beschreibungskategorie verwenden und dabei die Frage stellen: Inwiefern kann aus Lichtphänomenen/-epiphanien von Texten eine Diskussion über deren Poetologie und Ästhetik entfaltet werden? Die beiden Elemente, Licht und Regen, verbinde, so Cvetaeva, eine „freundschaftliche“ Beziehung, die sich im Slavischen sogar sprachmagisch begründen lasse; der Regen sei in der Sonne wie eine „Gabe“ enthalten, da im Nomen дождь der Imperativ der 3. Pers. Sing. des Verbs дать anklinge. Von einer derartigen kunst-etymologischen Verwobenheit mache Pasternak in Sestra moja – žizn’ Gebrauch: „Даждь Бог – чего? – Дождя! В самом имени славянского солнца уже просьба о дожде. Больше: дождь в нем уже как бы дарован. Как дружно! Как кратко! (Ваши учителя, Пастернак!)“3 „Möge Gott geben [regnen] – was? – Regen! Im Namen der slavischen Sonne selbst steckt bereits die Bitte um Regen. Mehr noch: der Regen ist in ihm [dem Namen] gleichsam schon mitgeschenkt. Wie freundschaftlich! Wie kurz! (Ihre Lehrer, Pasternak!)“

Cvetaevas Begriff des Licht-Regens und sein sophiologisches Potential Cvetaeva macht zuallererst eine zentrale Intuition von Pasternak geltend: dass mit dem Licht allein, mit dem Licht in seiner reinen ‚Männlichkeit‘ nichts anzufan1 Brief an Marina Cvetaeva vom 12. November 1922, PSS, VII, 409. 2 Der Zyklus wurde 1920 fertiggestellt und 1922 in Berlin und 1923 auch in Moskau bei Zinovij Gržebin publiziert. 3 Cvetaeva: „Svetovoj liven’“, 241. Zur Synthese von (Sonnen-)Licht und (Regen-)Wasser in der slavischen Folklore vgl. Afanas’ev: Poėtičeskie vozzrenija slavjan na prirodu, II, besonders 123–131, 287–292.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 167

gen sei. Unter diesem Blickwinkel stellt sich die Frage, warum sie dem Essay ausgerechnet den Untertitel „Poesie der ewigen Mannhaftigkeit“ beigegeben hat. Samson Brojtman, der Pasternaks Werk in seinen Studien als postsymbolistisch und zugleich neo-sophiologisch liest, sieht in der Unterstreichung der Mannhaftigkeit einen untrüglichen Hinweis auf ein sophianisch-weibliches ‚Gegenüber‘ von Pasternaks Schreiben.4 Viktor Franks Essay „Vodjanoj znak (poėtičeskoe mirovozzrenie Pasternaka)“ („Das Wasserzeichen (Pasternaks poetische Weltsicht)“, 1962) kann man als religiöse Explizierung dieses bei Cvetaeva nur allusiv präsenten Gegenübers verstehen. Frank spricht von einer invertierten, poetischen „Mystik“ Pasternaks: Während eine (abendländische) Mystikerin wie Teresa von Avila die Bildlichkeit von „fließendem“ Licht verwende, um der unaussprechlichen Gotteserfahrung eine Sprache zu geben, gehe Pasternak vom sinnlich erfassten Regen, Platzregen, Gewitter (дождь, ливень, гроза) aus, um hiervon auf den göttlichen („lichten“) Ursprung der belebten Natur zurückzuschließen.5 Das Wasser erscheint so, ganz ähnlich wie in den frühen Texten Andrej Belyjs, als Element der Inkarnation des ansonsten allzu-fernen und allzu-puren Geheimnisses. Zur Erläuterung seiner Lektüre zitiert Frank eine Stelle aus Pasternaks Povest’ (1929): „Вода, как стихия, по самой природе предназначенная воплощать однообразные, навязчиво-могучие движения […].“6 „Das Wasser, als Element, [ist] von Natur aus prädestiniert, monotone, aufdringlich-machtvolle Bewegungen zu inkarnieren […].“ 4 Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka „Sestra moja – žizn’“, 12. Nach Brojtman verweist die Wendung „Поэзия вечной мужественности“ sogar präzis auf Nikolaj Nedobrovos Essay über Achmatova („Anna Achmatova“) von 1915, in dem Nedobrovo behauptet, erst durch eine „weibliche“ Poetik nehme das in der traditionellen Kultur unfassbar bleibende, weil dominierende „Männliche“ Konturen an. Indem nun Cvetaeva von der „Mannhaftigkeit“ der Lyrik Pasternaks spreche, apostrophiere sie ihn eo ipso als „weiblichen“ Dichter. Ebd. 5 Frank, Viktor: „Vodjanoj znak (poėtičeskoe mirovozzrenie Pasternaka)“, in: Sbornik statej, posvjaščennych tvorčestvu B. L. Pasternaka. München 1962, 240–252. Man könnte hier neben Teresa von Avila auch an Mechtild von Magdeburg und ihr Fließendes Licht der Gottheit denken. 6 Ebd., 240. Der Dichter Sergej aus Povest’ erinnert sich hier an sein Liebesleben und seine schöpferischen Anfänge vor dem Ersten Weltkrieg. Frank zitiert die Stelle frei, im Original lautet sie: „«Тут начинается дождь», – вывел Сережа на краю восьмого листочка и перенес писанье с почтовой бумаги на писчую. Это был первый черновой набросок из тех, что пишутся один или два раза в жизни, ночь напролет, в один присест. Они по необходимости изобилуют водой, как стихией, по самой природе предназначенной воплощать однообразные, навязчиво-могучие движенья. Ничего, кроме самой общей мысли, еще не оформленной, в такие первые вечера не оседает на записи, лишенной живых подробностей, и только естественность, с какой рождается эта идея из пережитых обстоятельств, бывает поразительна. […] Местами он выводил слова, которых нет в языке. Он оставлял их временно на бумаге, с тем чтобы потом они навели его на более непосредственные протоки дождевой воды в разговорную речь, образовавшуюся от общенья восторга с обиходом.“ „‚Nun beginnt es zu regnen‘, schrieb Serjosha auf den Rand des

168

Die Epiphanie des Licht-Regens

Cvetaevas und Franks Befund, dass das Licht namentlich in Verbindung mit Wasser Eingang in Pasternaks Poetik finde und dass um 1917 in seinem Werk ein Licht-Regen einsetze, ist zweifellos zutreffend. Keine Beachtung gefunden hat bisher die Frage, wie sich dieser Licht-Regen zum „Mitleid mit der Dämmerung“ aus Pasternaks ersten Prosafragmenten verhält (Cvetaeva und auch Frank konnten die Reliquimini-Texte nicht bekannt sein). In der Literatur ist mehrfach darauf hingewiesen worden, wie prominent in Sestra moja – žizn’ das Wort „ночь“ / Nacht auftritt – als kontrastive Szenerie für das Escheinen von Licht.7 Tatsächlich ist augenfällig, dass das Konzept einer nicht-ausleuchtenden „Umrahmung“ der Dämmerung in Sestra moja – žizn’ kaum noch eine Rolle spielt. Es überwiegen dichte Finsternis auf der einen und äußerst grelle Lichtphänomene auf der anderen Seite. Freilich ist anzunehmen, dass das Verhältnis der beiden ein mehr als bloß kontrastives ist. Vladimir Jankélévitch schreibt über (philosophische) Licht-Epiphanien und durchaus im Sinne von Sestra moja – žizn’: „La source de la lumière elle-même n’est pas lumineuse, mais obscure !“8 Nach Maurice Blanchot ist ein Kunstwerk stets eine „évidence qui n’illumine qu’au nom de la nuit“9. Einfacher gesagt: Licht und Dunkel wechseln sich nicht bloß quasi digital ab, sondern stehen miteinander in einer inneren Verbindung. Auch hier kann eine Beobachtung aus Cvetaevas Essay als Ausgangspunkt dienen. Sie bringt die Finsternis mit dem romantischen „Hang zum Abgrund“ in Verachten Blatts und übertrug das Geschriebene vom Briefbogen auf Schreibpapier. Es war die erste Skizze, eine, wie man sie einmal oder zweimal im Leben schreibt, in einer Nacht, einer Sitzung. Wasser muß darin reichlich vorkommen, als Element, das seiner Natur nach zur Verkörperung von einförmigen, aufdringlich-mächtigen Bewegungen vorbestimmt ist. Nichts, außer dem allgemeinsten, noch ungeformten Gedanken, schlägt sich an solchen ersten Abenden in der Aufzeichnung nieder, die bar lebendiger Details ist, und nur die Natürlichkeit, mit der diese Idee aus den erlebten Umständen geboren wird, ist staunenswert. […] Hier und da setzte er Worte, die es in der Sprache nicht gibt. Er ließ sie vorläufig stehen, sie sollten ihn später darauf bringen, wie das Regenwasser unmittelbarer hineinfinden konnte in die Umgangssprache, die sich aus dem Umgang der Begeisterung mit dem Alltag gebildet hatte.“ PSS, III, 98–147, hier 135 (Novelle [übers. v. Eckhard Thiele], in: Pasternak: Prosa und Essays, 164–232, hier 215). Für eine allegorische Lektüre dieser Stelle als Kommentar zu Pasternaks dichterischen Anfängen spricht die „sophiurgische“ (S. Bulgakov) Verursprünglichung des weiblichen Elements (vgl. die grammatische Effeminierung des Namens Sergej zu Sereža), die Betonung der schöpferischen Unmittelbarkeit und allgemein das eigentümliche Bestreben des Dichters, seine ‚Macht‘ an den ihn umgebenden sprachlichen und real-symbolistischen Vorgang abzutreten. 7 Vgl. dazu das Kapitel „Licht im Dunkeln“ in Meyer, Angelika: „Sestra moja – žizn’“ von Boris Pasternak. Analyse und Interpretation. München 1987, 113–117. Vgl. auch Pasternak, Evg.: Biografija, 274: Den biographischen Hintergrund des Nacht-Motivs von Sestra moja – žizn’ bilden Pasternaks nächtliche Spaziergänge mit seiner damaligen Geliebten Elena Vinograd. 8 Jankélévitch: Philosophie première, 170 (Hervorhebung im Orig.). 9 Blanchot: L’espace littéraire, 240.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 169

bindung, der durch die ungewöhnliche Widmung des Gedichtbuchs an Lermontov, den vor Jahrzehnten verstorbenen Romantiker, gegeben sei. Die Erleuchtung sei eine Erleuchtung des „dunklen Grundes“: „Книга посвящена Лермонтову. (Брату?). Осиянность – омраченности. Тяготение естественное: общая тяга к пропасти: пропасть. Пастернак и Лермонтов. Родные и врозь идущие, как два крыла.“10 „Das Buch ist Lermontov gewidmet. (Dem Bruder?) Erleuchtetheit – der Verfinsterung. Eine natürliche Tendenz: gemeinsamer Hang zum Abgrund: Abgrund. Pasternak und Lermontov. Verwandt und auseinander gehend, wie zwei Flügel.“ Nun stellt sich die Frage, wo und wie diese Verfinsterung bei Pasternak zu situieren ist. In den Reliquimini-Fragmenten markiert die Dämmerung (genau genommen eine Vorstufe der Verfinsterung) den Zustand, in dem die Wirklichkeit selbst „allegorisch“ wird und mit „einem Rosenkranz in der Hand“ flehend vor den Künstler tritt, während dieser weder als helle noch als dunkle Instanz, sondern vielmehr schlicht als eine ‚Nahestehender‘ ausgewiesen wird. Die vermeintliche Paradoxie von Sestra moja – žizn’ besteht darin, dass hier zwar der in Pasternaks Brief an seine Eltern vom Dezember 1916 erwähnte Licht-Regen einsetzt, zugleich aber auch erstmals das dunkle Element (ночь, тень, мрак, тьма, мгла etc.) zu einer Eigenschaft seines lyrischen Subjekts wird. Voraussetzung für den Licht-Regen wäre also nicht nur, dass die Synthese von Sonne und Wasser von selbst zustande kommt, sondern überdies, dass der Dichter bereit ist, die Verfinsterung zu verinnerlichen und sich, was sein Subjekt betrifft, gegen das Licht zu entscheiden.

Der verdunkelte Dichter und die (revolutionäre) Gabe des Licht-Regens Die Redimensionierung von Pasternaks Poetik des Lichts wird schon im Eröffnungsgedicht „Pamjati Demona“ / „Zum Gedächtnis des Dämons“ angedeutet. Es beschreibt, wie sich der Dämon aus Lermontovs gleichnamigem Poem nachts von seinem Opfer Tamara kommend in sein Versteck zurückzieht. Er will oder kann keine Tränen vergießen, und er zeigt kein Interesse daran, die leidenden Menschen zu heilen, an denen sein nächtlicher Flug vorbeiführt. Besorgt ist er dagegen, ganz Ästhet, um die Glätte der Grabesplatte, unter der er sich versteckt. Der Schatten, der er ist, muss sich im engen Verließ nicht einmal krümmen, er bleibt Schatten, wo immer er sich befindet – so wie ein böses altes Weib trotz ihres Buckels ungekrümmt, d.h. „ungebrochen böse“ bleibt. Auch das Licht vor der Grabesplatte fühlt nicht mit der vom Dämon manipulierten Umgebung mit. Der flackernde Kerzenschein und der schüttere Flötenklang versäumen, sich beim Dämon nach der allein zurückgelassenen Tamara zu erkundigen: 10 Cvetaeva: „Svetovoj liven’“, 234.

170

Die Epiphanie des Licht-Regens Как горбунья дурна, Под решеткою тень не кривлялась. У лампады зурна, Чуть дыша, о княжне не справлялась.11 Wie eine Bucklige häßlich ist, so Krümmte sich der Schatten unter dem Gitter nicht zusammen. Bei dem ewigen Licht die Surna [dudelsackähnliches Instr.], Kaum atmend, erkundigte sich nicht nach der Fürstin.12

Wie das Auffunkeln der Haare des Dämons („Но сверканье рвалось“  / „Doch das Blinken explodierte“) und schließlich seine angekündigte Wiederkehr („Спи, подруга, – лавиной вернуся“ / „Schlaf, Freundin, ich kehre als Lawine zurück“) im zweiten Teil des Gedichts zu interpretieren seien, ist in der Literatur viel diskutiert worden. Klärende Antwort wurde dabei keine gefunden.13 Offenkundig ist, dass der Dichter, der in der Konzeption Reliquiminis noch ein Betrachter von Schatten war, hier selbst zu einem dämonischen Schattenwesen wird, dem jedes Mitleid mit der Dämmerung fern liegt. Lermontovs „дух изгнанья“14  / „Geist der Verbannung“, den das Subjekt von Sestra moja – žizn’ im ersten Gedicht als Maske wählt, ist zu Mitleid unfähig, mehr noch, er sucht Tamara heim, um von ihr liebendes Erbarmen mit seiner ‚Nichtigkeit‘ zu fordern: „Твоей любви я жду как дара.“15 „Auf deine Liebe erwarte ich wie auf eine Gabe.“ Dafür verspricht der Dämon ihr, sie mit dem „purpurnen Strahl des Sonnenuntergangs […] zu umwickeln“.16 Die Vorstellung des „Umwickelns“ (обвить) mag verwandt sein mit Reliquiminis „Umrahmung“, doch ist sie in Lermontovs Text stark dämonisch grundiert. Sie enthält neben dem Versprechen von Glorie auch die Vorankündigung von Tamaras Tod. Sein tödlicher Kuss wird in Pasternaks „Pamjati Demona“ zwar ausgeblendet, und die Ankündigungen am Schluss des Gedichts gelten der Vorbereitung des nächsten Treffens mit Tamara (das nicht stattfinden wird, da danach die eigentliche Liebesgeschichte von Sestra moja – žizn’ beginnt17). Gleichwohl, das ist festzuhalten, geht das Gedicht11 PSS, I, 114. 12 Alle Übersetzung von Sestra moja – žizn’ im Folgenden nach Meyer: „Sestra moja – žizn’“, hier 165. 13 Vgl. zusammenfassend Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 166–172. 14 Lermontov, Michail: „Demon“, in: ders.: Sobranie sočinenij v četyrech tomach. Tom vtoroj. Poėmy i povesti v stichach. Moskva 1958, 81–112, hier 81. 15 Ebd., 104. 16 „Лучом румяного заката / Твой стан, как лентой, обовью […].“ Ebd., 105. 17 Das heißt wohl nicht, dass der Dämon damit schon überwunden wäre, wie etwa Gasparov (Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 191) meint. Vollends verkürzend ist Vjačeslav Vs. Ivanovs Einschätzung: „[…] im Buch Sestra moja – Žizn’ sehen wir nichts außer dem Glück der unerhörten Liebe des Dichters, das Glück des Lebens […].“ Ivanov, Vjačeslav Vs.: „O knige Pasternaka ‚Sestra moja – žizn’‘“, 85. – Die narrative Dimension von Sestra moja – žizn’ als einer Liebesgeschichte in Gedichten wurde am vollständigsten von Katherine O’Connor re-

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 171

buch poetologisch aus dem „ungekrümmten Schatten“ des Dämons hervor. Die Nacht als Szenerie und der Schatten als Seinsweise des Helden stehen am Anfang von Sestra moja – žizn’, nicht der Licht-Regen.18 Das zweite Eröffnungsgedicht „Pro ėti stichi“  / „Über diese Verse“ bildet das positive Gegenstück zur Dämonie des ersten. Während die Wiederkehr in „Pamjati Demona“ am Ende aussteht und so als Ankündigung des Zyklus gelesen werden kann, ist „Pro ėti stichi“ nur noch stärker prospektiv: Es handelt davon, wie diese Verse, die vermeintlich bereits dastehen, entstehen werden.19 Das sich selbst vorwegnehmende Gedicht abstrahiert vom Schatten des vorhergehenden und macht die Licht-Kunst zu seinem Protagonisten – was durch den Umstand verdeutlicht wird, dass sowohl das Subjekt („Я“) wie das Objekt („эти стихи“) konsequent ausgespart werden.20 Die (angekündigte) Poetik des Lichts wird die Verse des lyrischen Subjekts auf „Trottoiren zermahlen“ und zur Hälfte mit Glas, zur Hälfte mit Sonne vermischen, um das Gemisch den unbeheizten Ecken der Wohnung „zu lesen“ zu geben: На тротуарах истолку С стеклом и солнцем пополам, Зимой открою потолку И дам читать сырым углам.21 Auf Trottoirs zerstampfe ich sie, Mit Glas und Sonne zur Hälfte. Im Winter eröffne ich sie der Zimmerdecke Und gebe sie den feuchten Winkeln zu lesen.22

18

19 20 21 22

konstruiert: O’Connor, Katherine: Boris Pasternak’s My Sister-Life. The Illusion of Narrative. Ardis, Ann Arbor, 1988. Brojtman weist auf die Verbindung von Schuld und Leiden in der Dämon-Figur Pasternaks hin: „[…] der Dämon, der traditionell als […] überweltliche Energie aufgefasst wird, tritt in dem Gedicht in Verbindung mit der Weltseele, die auf Grund seiner Schuld leidet, und ist seinerseits ein leidendes Subjekt, d.h. er nimmt eine Position ein, die in Sestra moja – žizn’ jedes Mal von neuem geboren werden wird.“ Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 170 (Hervorhebung im Orig.). Brojtman spricht von „durch und durch metareflexiver Poesie“. Ebd., 190. Man könnte das Gedicht freilich auch performativ nennen. Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 185, bezeichnet es als „deiktisch“. Mit Ausnahme von zwei expliziten Nennungen des Ich in den letzten beiden Strophen. Zum ‚Subjekt‘ wird damit der Text selbst, siehe Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 187. PSS, I, 115. Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 167.

172

Die Epiphanie des Licht-Regens

Liest man das Glas als Eisschicht auf winterlichen Trottoirs,23 so wird der Sinn dieses quasi „alchemistischen“24 Gemischs klar: Die vermeintlich fertigen Verse müssen noch einmal auseinanderdividiert werden und durch die stoffliche Verbindung mit Eis und Sonne wirkliches Leben annehmen.25 Anders gesagt, die Verse werden aufhören, nur technisch-subjektiv angeordnete, äußerlich funkelnde Sprache zu sein, wenn sie mit Wasser und Licht reagieren. Und offensichtlich sind das Eis und die Sonne nur ein anderer Aggregatzustand dessen, was im Sommer der Licht-Regen gewesen ist/sein wird. Die Lyrik versucht sich hier wieder an das ‚leuchtende‘ Wort anzuschließen, auf das sie sich nicht verlassen konnte, solange sich kein Medium für das Leuchten gefunden hatte. An dieser Stelle klärt sich auch ein zentraler, vielleicht der entscheidende Grund für die Referenz an Lermontov auf. Wie der Dichter in Lermontovs „Ne ver’ sebe“ („Glaub nicht dir selbst“, 1839) sich ermahnt, die Eindrücke seines Lebens nicht dem „abgemessenen Vers“ und dem „gefrorenen Wort“, also der literarischen Konventionalität anzuvertrauen,26 so handelt Pasternaks Gedicht vom Bestreben, die eigene Bedingtheit (das „Eis“) zu verlassen und durch die Verbindung 23 Anders Gasparov (Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 186), der das Glas wörtlich liest und den Dichter daher von Anfang am Fenster situiert. 24 Tynjanov: „Promežutok“ 563. 25 So geschah es nach einem vielzitierten Zeugnis Pasternaks mit dem Gedichtbuch Sestra moja – žizn’ selbst – es soll aus einer spontanen Überschreibung der vorangehenden Sammlung Poverch bar’erov entstanden sein: „Когда я заканчивал «Поверх барьеров», девушка, в которую я был влюблен, попросила меня подарить ей эту книгу. Я чувствовал, что это нельзя – я увлекался в то время кубизмом, а она была сырая, неиспорченная, – и я тогда поверх этой книги стал писать для нее другую – так родилась «Сестра моя жизнь», она так и не узнала об этой подмене».“ „Als ich gerade Poverch bar’erov fertigstellte, bat mich das Mädchen, in das ich verliebt war, ihr dieses Buch zu schenken. Ich spürte, dass das nicht anging – ich hatte mich in jener Zeit in den Kubismus vertieft, sie jedoch war unreif, unverdorben, – und so schrieb ich dann über dieses Buch für sie ein anderes – so entstand Sestra moja – žizn’, – und sie erfuhr auch gar nichts von diesem geheimen Tausch.“ Zit. nach Pasternak, Evg.: Biografija, 273. 26 „Случится ли тебе в заветный, чудный миг / Отрыть в душе, давно безмолвной, / Еще неведомый и девственный родник, / Простых и сладких звуков полный, – / Не вслушивайся в них, не предавайся им, / Набрось на них покров забвенья: / Стихом размеренным и словом ледяным / Не передашь ты их значенья.“ „Entspringt dereinst in einem heilgen Augenblick / Im Herzen, das so lang geschwiegen, / Ein bisher nie gekanntes, jungfräuliches Glück, / Mit schlichtem Ton dich einzuwiegen, / So lausch nicht diesem Quell, entzieh dich seiner Macht, / Umhüll dein Glück mit dem Vergessen: / In eisig-kalter, abgemeßner Verse Pracht / Läßt so Bedeutungsschweres sich nicht pressen.“ Lermontov: Sobranie sočinenij, I, 28 (übers. v. Barbara Heitkam, in: Lermontow, Michail: Gedichte und Poeme. Berlin 1987, 126). Jahrzehnte später schrieb Pasternak im Rückblick auf seine LermontovReferenzen: „В Лермонтове слышна независимая исповедальная нота последующей интеллектуальной традиции нашего века в поэзии и прозе […].“ „Bei Lermontov ist die unabhängige konfessionale Note der nachmaligen intellektuellen Tradition unsers Jahrhunderts in der Poesie und Prosa herauszuhören.“ Brief an Eugene M. Kayden vom 22. August

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 173

mit dem Licht „Teil der Wirklichkeit“ (Dmitrij Segal) zu werden. In der dritten Strophe werden die Verse von einem Schneesturm durcheinandergewirbelt, der, wie ihr Arrangeur vermutet, noch lange andauern wird. Doch plötzlich erinnert er sich: Буран не месяц будет месть, Концы, начала заметет. Внезапно вспомню: солнце есть; Увижу: свет давно не тот.27 Der Schneesturm wird nicht nur einen Monat dauern, Der Enden und Anfänge verweht. Plötzlich erinnere ich mich: Die Sonne existiert. Ich sehe: Das Licht ist längst nicht mehr so.28

Warum muss er sich eigens daran erinnern, dass die Sonne „existiert“, nachdem er sie doch am Anfang des Gedichts schon ausdrücklich, wie nach einem Rezept, in die Verse eingewoben hatte? War das etwa noch gar kein „awakening to a world of sunshine“, wie Nils Åke Nilsson vielleicht zu optimistisch meint?29 Gerade der alchemistische Rezepturcharakter des Anfangs scheint Gegenstand einer neuerlichen Selbstbezichtigung zu werden. Der Dichter hat sich so sehr in sein Gemisch aus Versen, Licht und Wasser hineingesteigert, dass er nun auf einmal erstaunt ist, außerhalb seines Lichts noch ein natürliches vorzufinden, nämlich jenes der Januarsonne, das nun beinahe so unverbunden, so unaufgehoben erscheint wie jenes in den ersten Texten Pasternaks. Wohl auch deshalb kann Jerzy Faryno behaupten, die Sonne scheine nur „innerhalb“ des Gedichts, ein Erwachen zur „Sonnenwelt“ finde lediglich in der Kunst statt.30 Das wiederum scheint mir wenig befriedigend. Denn gerade die Legitimität einer derartigen kunst-internen Sonne wird in dem Gedicht angezweifelt. Die Infragestellung der Licht-Kunst durch das tatsächliche Aufklaren am Himmel hat sehr wohl eine externe Folge, nämlich die, dass sich das Verhältnis des Helden zu seiner Geliebten klärt: Галчонком глянет Рождество, И разгулявшийся денек Прояснит много из того, Что мне и милой невдомек.31

27 28 29 30 31

1958, PSS, X, 380. Vgl. dazu Ėtkind, Efim: „Pasternak i Lermontov. K probleme poėtičeskoj ličnosti“, in: Losev: Boris Pasternak, 1890–1990, 107–122, hier 113/114. PSS, I, 115. Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 167. Nilsson, Nils Åke: „‘It is the World’s Midday’: Pasternak’s Poem ‘Sparrow Hills’“, in: Russian Literature XXXI (1992), 27–36, hier 27. Faryno, Jerzy: „K probleme koda liriki Pasternaka“, in: Russian Literature VI (1978), 69–101, hier 74. PSS, I, 115.

174

Die Epiphanie des Licht-Regens Wie ein Dohlenjunges blickt Weihnachten, Und ein verbummelter Tag Eröffnet viel von dem, Was mir und der Liebsten nicht in den Sinn kommt.32

Wäre er nicht durch das Aufscheinen der winterlichen Sonne von der poetischen Arbeit am gleißenden Licht abgelenkt worden, er hätte noch länger der Vorstellung nachgehangen, dass er und seine Geliebte immer zusammengehören. Die Poetik des Licht-Regens ist ja das Unterfangen einer – nie ganz eintretenden – Synthese33, in deren Rahmen für eine womöglich angezeigte Trennung der Liebenden kein Platz ist. Daher wird ein Hinweis von außen benötigt. Die Sonne überrascht den Dichter so plötzlich, um ihn daran zu erinnern, dass das Synthetisieren der Elemente keiner Eigenleistung entspringen bzw. vom Künstler nicht als solche wahrgenommen werden dürfe, falls das Unterfangen der Kunst glücken solle. Interessanterweise charakterisiert das Zerschlagen von Eis im wenig später entstehenden Gedicht „Russkaja revoljucija“ („Die Russische Revolution“, 1918), das nicht Teil von Sestra moja – žizn’ wurde, die Revolution, genauer die Februarrevolution (nach altem Stil: Märzrevolution). Diese wird hier in der Du-Form als in Russland ankommende „Ausländerin“ (иностранка) angesprochen: Как было хорошо дышать тобою в марте И слышать на дворе, со снегом и хвоëй На солнце, поутру, вне лиц, имен и партий Ломающее лед дыхание твое!34 Wie gut war es, dich zu atmen im März Und zu hören im Hof, mit Schnee und Tannennadeln In der Sonne, des Morgens, ohne Gestalten, Namen und Parteien, Deinen eiszerschlagenden Atem!

Im Lichte von „Russkaja revoljucija“ kann man das Memento „солнце есть“ aus „Pro ėti stichi“ auch politisch als Erinnerung an die „изо всех великих революций Светлейшая“35 / lichteste aller Revolutionen“ lesen. Der Topos der „lichten“ Revolution ist bei Pasternak wo nicht offen negativ so doch meistens ambivalent belegt und erfordert hier einen Exkurs. In einem 1917 verfassten Text über die Französische Revolution mit dem Titel „Dramatičeskie otryvki“ /„Dramatische Fragmente“ erscheint die „Sonne der Revolution“ ( Jean Starobinski) als sterblich, 32 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 167, modifiziert. 33 Vgl. die Bestimmung der Kunst als stets von neuem aufgeschobene Synthese („ненаступание синтеза“) beim ganz jungen Pasternak. „G. fon Klejst“, 300. 34 PSS, II, 224. 35 Ebd. Zu dem mal mehr, mal weniger evidenten Parallelismus zwischen Liebeseuphorie und politischem Umsturz vgl. die Beiträge in Fleishman, Lazar (Hrsg.): Poetry and Revolution. Boris Pasternak’s My Sister Life. Stanford 1999.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 175

von einem unerbittlich raschen Alterungsprozess bedroht. Bei dem Text handelt es sich um einen Dialog zwischen den befreundeten militanten Revolutionären Robespierre und Saint-Just, die 1794 selbst unter der Guillotine starben. Robespierre ist bei Pasternak ein fortschrittsgläubiger Rationalist, Saint-Just ein zweifelnder Romantiker – nach Michel Aucouturier das Sprachrohr Pasternaks.36 Saint-Just quält eine böse Vorahnung, dass das ekstatisch-revolutionäre Licht der Zukunft nur eine flüchtige Episode gewesen sein würde. Zu seiner Geliebten sagt er, in einer Sprache, die jener von Pasternaks Sestra moja – žizn’ schon sehr nah kommt: Таков Париж. Но не всегда таков Он был и будет. Этот день, что светит Кустам и зданьям на пути к моей Душе, как освещают путь в подвалы, Не вечно будет бурным фонарем, Бросающим все вещи в жар порядка, Но век пройдет, и этот теплый луч Как уголь почернеет, и в архивах Пытливость поднесет свечу к тому, Что нынче нас слепит, живит и греет, И то, что ныне ясность мудреца, Потомству станет бредом сумасшедших. Он станет мраком, он сойдет с ума, Он этот день, и бог, и свет, и разум.37 So ist Paris. Doch nicht zu jeder Zeit War es und wird es so sein. Dieser Tag, leuchtend den Sträuchern und Häusern auf dem Weg zu meiner Seele, wie der beleuchtete Weg in einen Keller, Wird nicht ewig wie eine stürmische Laterne leuchten, Die alle Dinge in die Glut der Ordnung wirft, Bloß hundert Jahre müssen vergehen, und dieser warme Strahl Wird wie Kohle schwarz sein, und in Archiven Wird Wissbegierde ihre Kerze erheben zu dem, Was uns jetzt blind macht, belebt und wärmt, Und was jetzt Klarsicht ist des Weisen, 36 Aucouturier, Michel: „Pasternak et la Révolution française“, in: Cahiers du Monde russe et soviétique 30, 3/4 (1989), 181–191, hier 183/184. Die Aufwertung Saint-Justs und die Identifikation mit ihm ist erstaunlich. In Friedrich Nietzsches Gedicht „Saint-Just“ (1862), das Pasternak gekannt haben könnte, wird der Revolutionär als „teuflisch“ bezeichnet. Nietzsches Gedicht zeichnet übrigens eine ausgeklügelte Lichtmetaphorik aus, die sich jedoch nicht auf die politischen/kosmischen Ereignisse, sondern auf Saint-Justs Rhetorik bezieht. Siehe Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Gedichte. Mit einem Nachwort von Ralph-Rainer Wuthenow. Zürich 1999, 28. 37 PSS, II, 213

176

Die Epiphanie des Licht-Regens Wird für die Nachwelt das Delirium Verrückter. Er [der Weise] wird Finsternis werden, den Verstand verlieren, Er, dieser Tag, und Gott, und das Licht, und der Verstand.

Saint-Just ahnt nicht nur voraus, dass das Naturereignis, als das er wie Pasternak die Revolution gern sähe,38 von flüchtiger Dauer sein wird, er ist auch überzeugt, dass die blendenden Lichteffekte der triumphierenden Aufklärung in Schwärze und Wahnsinn umschlagen.39 Er skizziert also en passant eine Dialektik der Aufklärung im Sinne Adornos und Horkheimers, mitsamt der rousseauistisch-utopischen Postulierung eines friedlichen Urzustands der Natur, der unwiederbringlich verloren ist.40 Robespierres abstrakt-revolutionärer Fortschrittsidee stellt Saint-Just die Vision eines real absterbenden Universums (eines „verkohlenden“ Lichts) gegenüber.41 Ein solch kosmischer Pessimismus wird noch mehr als zehn Jahre nach „Dramatičeskie otryvki“ Pasternaks Ochrannaja gramota zugrunde liegen. Er wird dort allerdings von einer anderen, quasi bergsonistischen Zeit konterkariert werden.42 Der Zusammenhang von Naturschwärmerei, Verliebtheit und Poesie mit der zeitgenössischen politischen Dynamik in Pasternaks Texten von 1917/1918 sollte, wie ich meine, nicht so sehr in einer eigentlichen Affinität gesucht werden, als vielmehr in einem gemeinsamen pessimistischen Impuls. Das wird an einer Stelle von „Dramatičeskie otryvki“ augenfällig, in der Saint-Justs Rede vollends in die anthropomorphisierende Sprache von Sestra moja – žizn’ kippt:

38 Vgl. den Brief an Valerij Brjusov vom 15. August 1922, in dem Pasternak von einem Gespräch mit Lev Trockij berichtet. Er habe zu Trockij gesagt, das Stadium der Revolution, das dem Herzen und der Poesie am nächsten liege, sei ihr „Morgen“ und ihr „Ausbruch“ („утро революции и ее взрыв“). PSS, VII, 398 (Hervorhebung im Orig.). 39 Vgl. Aucouturier: „Pasternak et la Révolution française“, 190. 40 Siehe Horkheimer/Adorno: „Begriff der Aufklärung“. 41 Vgl. Aucouturier: „Pasternak et la Révolution française“, 189. 42 Vgl. Ochrannaja gramota, 209/210 (Der Schutzbrief, 321): „На свете есть смерть и предвиденье. Нам мила неизвестность, наперед известное страшно, и всякая страсть есть слепой отскок в сторону от накатывающей неотвратимости. Живым видам негде было бы существовать и повторяться, если бы страсти некуда было прыгать с той общей дороги, по которой катится общее время, каковое есть время постепенного разрушенья вселенной.“ „Es gibt auf der Welt den Tod und die Vorsehung. Wir mögen das Unbekannte, im voraus Bekanntes ist uns schrecklich, und jede Leidenschaft ist ein blinder Absprung zur Seite von der anrollenden Unabwendbarkeit. Die lebenden Arten hätten keinen Platz, zu existieren und sich zu wiederholen, wenn die Leidenschaften nicht irgendwohin springen könnten von jener allgemeinen Bahn, in der die allgemeine Zeit rollt, welche die Zeit der allmählichen Zerstörung des Weltalls ist.“

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 177 Не во все часы В Париже рукоплещут липы грому, И гневаются тучи, и, прозрев, Моргает небо молньями и ливнем.43 Nicht zu allen Stunden Werden in Paris die Linden frenetisch dem Donner applaudieren, Und die Wolken zürnen, und, dank neuem Augenlicht, Der Himmel mit Blitzen und Platzregen blinzeln.

Betont wird durch den Licht-Regen (Blitze und Platzregen) hier nicht die wonnevolle Ekstase, sondern deren Flüchtigkeit. Und genau so ist es mit dem Licht-Regen und dem Liebesglück in Sestra moja – žizn’. Man kann durchaus von einer „revolutionären“ Dimension des Gedichtbuches sprechen, allerdings ist zu präzisieren: Die reale, „blind“ machende Revolution wird dabei von der poetischen überschrieben. Saint-Justs düsteres Szenario, seine Dialektik der Aufklärung, wird in Sestra moja – žizn’ von der kosmisch-politischen Sphäre in die weniger gefährliche und hoffnungsvollere Sphäre des Kosmisch-Poetischen verschoben. Bei Pasternak ist nicht die Poesie revolutionär, sondern das Revolutionäre immer schon poetisch. Kommen wir zurück zu „Pro ėti stichi“. In seinen letzten Strophen wirft das Gedicht das Problem der Wechselwirkung zwischen Poetik/Ereignis des Lichts und Zeitlichkeit auf. Beim Synthetisieren der Verse mit Wasser und Licht ist der Dichter in eine kleine Ewigkeit eingegangen. Im Alltagsleben könnten tausend Jahre vergangen sein, während er „mit Lord Byron rauchte“, „mit Edgar Allan Poe trank“ und das „Leben in Wermut ertränkte“: В кашне, ладонью заслонясь, Сквозь фортку крикну детворе: Какое, милые, у нас Тысячелетье на дворе?44 Im Schal, schützend die Hand vorhaltend, Rufe ich durch das Klappfenster einer Kinderschar zu: – Ihr Lieben, welches Jahrtausend Haben wir draußen gerade?45

Der lyrische Modus des Licht-Regens hebt das Zeitgefühl auf. Es wurde verschiedentlich festgestellt, dass Pasternaks (frühe) Lyrik eine stärkere „Tendenz zum

43 PSS, II, 214. 44 PSS, I, 115. 45 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 167 (modifiziert – Ch. Z.).

178

Die Epiphanie des Licht-Regens

Raum“ als zur Zeit habe.46 Und wiederum ist es Cvetaeva, die in ihrem Essay den Zusammenhang zwischen Verräumlichung und Poetik des Lichts als Erste aufgezeigt hat. Sie charakterisiert Pasternaks „светопись“ / „Lichtschreiben“ als männlich-räumlich: Кстати, о световом в поэзии Пастернака. – Светопись: так бы я назвала. Поэт светлóт, (как иные, например, темнóт.) Свет. Вечная Мужественность. – Свет в пространстве, свет в движении, световые прóрези (сквозняки), световые взрывы, – какие-то световые пиршества. Захлестнут и залит. И не солнцем только: всем, что излучает, – а для него, Пастернака, от всего идут лучи.47 Übrigens, zum Lichten in Pasternaks Poesie. – Lichtschreiben: so würde ich das nennen. Der Dichter der Helligkeiten, (so wie andere, zum Beispiel, der Dunkelheiten.) Licht. Ewige Mannhaftigkeit. – Licht im Raum, Licht in Bewegung, Licht, lichte Einschnitte (Durchzüge), lichte Explosionen, – ja Licht-Gelage. Überschwemmt und übergossen. Und nicht von der Sonne allein: von allem, was ausstrahlt, – und für ihn, Pasternak, gehen von allem Strahlen aus.

Cvetaeva meint, wenn sie von der „ewigen Mannhaftigkeit“ des Lichts spricht, ein weibliches Anderes mit – im Unterschied etwa zu Emmanuel Levinas, der dem Licht eine solipsistische „Männlichkeit“ zuschreibt. Weil Cvetaeva bei Pasternak das Moment der Verdunkelung mit berücksichtigt, kann sie gegenüber seinem „Lichtschreiben“ affirmativ sein, ohne ihm Selbstherrlichkeit unterstellen zu müssen. Pasternak sei so hingebungsvoll, dass er sich jederzeit, auch mitten in der Erleuchtung, im dunklen Grund verlieren könne: „[…] исконный соблазн таких душ – несомненно – во всей осиянности: Гибель.“48 „[…] die älteste Versuchung für solche Seelen ist – zweifellos – in aller Erleuchtung: das Sterben.“ Der Begriff „светопись“ ist bei Cvetaeva keine Bezeichnung für ein über die Welt verfügendes Bewusstsein. Er steht für das Nachvollziehen (und Mit-Auslösen) eines kosmischen Geschehens, eines kosmischen „Durchzugs“ von Licht in der poetischen Welt. Die „Licht-Gelage“ erinnern insofern mehr an Levinas’ Auffassung der Kunst als „in46 Vgl. Al’fonsov, Vladimir: Poėzija Borisa Pasternaka. Sankt-Peterburg 20012, 77: „Für […] Pasternak war die Bereitschaft, die Welt anzunehmen, grundlegend und unbedingt. Und es handelt sich dabei keineswegs um eine abstrakt-spekulative Idee. Der Reichtum der Welt ist durchaus gegenständlich, ‚detailreich‘ und wird Schritt für Schritt erfasst. Deshalb ist es für Pasternak angemessener, die Welt mehr im Raum als in der Zeit zu denken: Im Raum ist die Welt auf einmal und ganz da, in gegenseitiger Durchdringung von Details und Ganzem.“ Genau das, was Al’fonsov hier so emphatisch beschreibt – Pasternaks ‚Liebe zum Raum‘ – erscheint bei Jensen als Symptom der Unfähigkeit des Ästhetikers Pasternak, in die Zeitlichkeit des Lebens einzutreten. Vgl. Jensen: „Boris Pasternak als Ästhetiker im Sinne Søren Kierkegaards“, 422–424. 47 Cvetaeva: „Svetovoj liven’“, 235 (Hervorhebung im Orig.). 48 Ebd., 239.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 179

cantation“49 und die ihr zugeordneten Rhythmus und Tanz, als an eine all-subjektive Aneignung der Welt. Folgt man Cvetaevas Bild, so kann man sagen: Pasternak bleibt seiner abdunkelnden Kunstauffassung verpflichtet, füllt diese aber paradoxerweise mit Licht und Glorie aus – ein Szenario, das in Levinas’ Ästhetik ausgeschlossen wäre. Kunst ist bei dem französisch-litauischen Philosopen notwendig mit der Verdunkelung des erscheinenden Seins verbunden, Kunst ist für Levinas Verdunkelung des Seins. Bei Pasternak ist das deshalb anders, weil die „Sophianizität“ (Bachtin) bei ihm konkreter zu sein scheint als in Levinas’ ungreifbar bleibendem Konzept des lichtscheuen „Femininen“. Bei Pasternak ist das Weibliche nicht nur das ganz Andere. Es ist ein Zustand, den sein lyrisches Subjekt – passiv-aktiver Arrangeur der „ewigen Mannhaftigkeit“ des Lichts – latent in sich trägt. Freilich eröffnet sich in Levinas’ späterem Denken dann eine Möglichkeit, Licht-Kunst zu konzeptualisieren: Die unausweichliche „Desinkarnation“, der die Kunst nach „La réalité et son ombre“ unterliegt, wird in Levinas’ Aufsatz „Langage et proximité“ von einer neuen Obsession abgelöst: jener der Nähe, der Berührung (toucher) und der Liebkosung (caresse). Okularphobe Abdunkelung, die erwartete Epiphanie des Lichts ebenso wie das metonymische Suchen nach maximaler „Kontiguität“ (R. Jakobson) können auf diese Weise miteinander verbunden werden. Genau in dieser Breite möchte ich den Begriff des Licht-Regens hier auch verstanden wissen. „Sestra moja – žizn’ i segodnja v razlive…“ / „Meine Schwester – das Leben, und heute im Regenschwall…“, das Titelgedicht des Bandes, handelt, in euphorischen 4-hebigen Amphibrachen, von der Anwesenheit der „Schwester Leben“50 und von der Abwesenheit der Geliebten während einer Zugfahrt. Die vornehmen „люди в 49 Mit einer Metapher aus Pasternaks „Zerkalo“ / „Der Spiegel“ könnte man von „mesmeristischer“ Suggestivität sprechen. Auf dieses Gedicht werde ich gleich zu sprechen kommen. 50 Aleksandr Žolkovskij bringt die Apostrophierung des Lebens als Schwester einerseits mit der Geschwisterlichkeit des heiligen Franziskus gegenüber der Natur (Sonne als Bruder, Mond als Schwester) in Verbindung – Pasternaks Freund Sergej Durlylin hatte die Fioretti di San Francesco 1913 ins Russische übersetzt –, andererseits mit der Weisheitsliteratur des Alten Testaments („Sprich zur Weisheit: Du bist meine Schwester!“, Sprüche 7, 4). Žolkovskij, Aleksandr: „O zaglavnom trope knigi ‚Sestra moja – žizn’‘“, in: Fleishman: Poetry and Revolution, 26–65, hier 26–29. Zuletzt nannte Žolkovskij auch Hölderlins „Diotima“ als mögliche Quelle des Schwester-Leben-Motivs. Ders.: „Otkuda ėta Diotima? (Zametki o ‚Lete‘ Pasternaka)“, in: Fleishman: Eternity’s Hostage, I, 239–261, hier 239–241: „Diotima! edles Leben! / Schwester, heilig mir verwandt!“ Zit. nach ebd., 239. Zuvor hatten Johanna Renate Döring und Igor’ Smirnov Aleksandr Dobroljubovs Gedicht „Zaključil ja s toboj zavet…“ („Ich schloss mit dir einen Bund“, 1907) als Quelle genannt. Dëring-Smirnova, Iochanna R./ Smirnov, Igor’ P.: Očerki po istoričeskoj tipologii kul’tury: …  realizm (…), postsimvolizm (avangard). Salzburg 1982, 139/140. Namentlich geht es um die folgenden Verse: „Вдруг упал я ниц лицом до земли / Пред тобою, сестра моя жизнь!“ „Plötzlich fiel ich mit dem Gesicht

180

Die Epiphanie des Licht-Regens

брелоках“ / „Leute mit Berlocken“ sind verstimmt über den Ausbruch des Maigewitters, in dem das Leben ungefragt die Welt übergießt („Расшиблась весенним дождем обо всех“ / „Ergoss sich als Frühlingsregen über alle“). Der sehnsüchtige Held lässt sich auf einen Streit mit den vornehmen Leuten ein und gibt zu, dass die älteren unter ihnen wohl ihre Gründe hätten für die Ablehnung des frei waltenden Lebens. Das ganze Gedicht ist aber als Verteidigungsschrift zugunsten dieses im Licht-Regen erscheinenden Lebens verfasst. Der Held macht sich selbst zum Anlass des Maigewitters, er versteckt sich hinter ihm und liefert ihm vor den pikierten Bürgern gute „Gründe“, die freilich aus einer Verstandesperspektive lachhaft wirken: У старших на это свои есть резоны. Бесспорно, бесспорно смешон твой резон, Что в грóзу лиловы глаза и газоны И пахнет сырой резедой горизонт.51 Die Älteren haben dafür ihre Gründe. Doch fraglos, fraglos lächerlich ist dein Grund, Daß im Gewitter lila sind Augen und Rosen Und der Horizont nach feuchtem Reseda duftet.52

Das berühmt gewordene ‚Argument‘, im Mai sei der Fahrplan der Kamyšinsker Linie, wenn man ihn im Zugabteil lese, „грандиозней святого писанья“ / „grandioser als die Heilige Schrift“, setzt die Verteidigungsrede für das Leben fort. Es geht hier um folgende Situation: Die Bibel wird, wenn schon, von Gebildeten in Ruhe zu Hause gelesen, das Studium des Fahrplans dagegen – so zufällig und beiläufig es sein mag – findet vom Leben umgeben statt. Das Argument könnte noch weiter gehen. Nach einer Beobachtung Jurij Lotmans klingt in „расписание“ der Wortsinn des Verbs расписать (bzw. des Substantivs роспись) mit, der für die Ausmalung von Kirchen verwendet wird.53 Damit käme über Umwege das Licht wieder ins Spiel; mit dem Fahrplan wäre dann die „Ausmalung“ des Coupés durch die in den Zug scheinende und das Leben hereintragende Abendsonne gemeint. Der Held macht sich zum passiven Auslöser, zur Gelegenheit ( Jankélévitch) eines neuen Geschehens, indem er gerade nicht das Buch der Bücher studiert, sondern einen für sich genommen nichtssagenden Fahrplan. Der Fahrplan würde so zur noch einmal „grandioseren“ Ausmalung durch die Sonne, die nach dem Gewitter aufscheint.54

51 52 53 54

auf die Erde nieder / Vor dir, meine Schwester das Leben!“ Zit. nach ebd. (meine Hervorhebung – Ch. Z.). PSS, I, 116. Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 169. Vgl. Lotman, Jurij: Struktura chudožestvennogo teksta. Moskva 1970, 116/117, 372. Vgl. den Paralleltext zur Figur der Frühlingsgewitter-Ausmalung in Pasternaks „Neskol’ko položenij“: „Безумье – доверяться здравому смыслу. Безумье – сомневаться в нем. Безумье – глядеть вперед. Безумье – жить не глядючи. / – Но заводить порою глаза и при быстро

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 181

Ein eigentlicher Perspektivwechsel gegenüber der Dämmerungs-Figur von Pasternaks frühen Fragmenten wird in der folgenden Strophe des Gedichts sichtbar: С матрацев глядят, не моя ли платформа, И солнце, садясь, соболезнует мне.55 Von den Matratzen blicken sie, ob nicht das meine Plattform ist, Und die Sonne spricht mir, während sie untergeht, ihr Mitgefühl aus.

Die Coupé-Nachbarn helfen dem Liebenden herauszufinden, ob er bereits in seinem Zielort angekommen ist, und die untergehende Sonne leidet mit ihm, sie hat Mitgefühl mit ihm wie nach einem Verlust (соболезнование meint eigentlich Beileid). Offenkundig nimmt der Dichter selbst hier die Rolle der leidenden, orientierungslosen Dämmerung an. Nicht mehr die Dämmerung kommt flehend zu ihm, um ihn um eine „göttliche Umrahmung“ zu bitten, sondern der Liebende identifiziert sich ganz mit ihr. Das Mitleid geht nunmehr von der Sonne aus. Durch die unmittelbare Nähe zum Gewitter wird eigens die Gutartigkeit des Sonnenlichts verbrieft: So wie sich der Frühlingsregen über das Land ergoss, so zeigt die Sonne nun ‚spontan‘ Mitgefühl mit dem sehnsüchtigen Liebenden. Sie schaut vor ihrem Untergang in das staubige Abteil und scheint ihm ins Gesicht. Es ist eine flach einfallende Abendsonne, die in „Sestra moja – žizn’ i segodnja v razlive…“ aufleuchtet; sie ist mit der Dämmerung also mindestens metonymisch noch eng verbunden. Ähnlich wie in „Pro ėti stichi“, wo die Sonne an Weihnachten wie ein Memento in den Horizont des Dichters zurückkehrt, handelt es sich auch hier, beim ihrem „Beileid“, um einen zurückhaltenden, keinen brillanten Auftritt. Man muss das eher schwache Licht jedoch im Zusammenhang mit dem womöglich heftigen Gewitter sehen, mit dem gemeinsam es den Licht-Regen bildet. Die mitleidende Abendsonne ist so gesehen nur die sanftere Seite des peitschenden Gewitters. Cvetaeva schreibt wiederum aufschlussreich: „Пастернак поэт наибольшей пронзаемости, следовательно – пронзительности. Всё в него ударяет. […] Удар. подымающейся температуре крови слышать, как мах за махом, напоминая конвульсии молний на пыльных потолках и гипсах, начинает ширять и шуметь по сознанью отраженная стенопись какой-то нездешней, несущейся мимо и вечно весенней грозы, это уж чистое, это во всяком случае – чистейшее безумье!“ „Narrheit – dem gesunden Menschenverstand zu vertrauen. Narrheit – an ihm zu zweifeln. Narrheit, nach vorn zu blicken. Narrheit, zu leben, ohne zu schauen. – Doch zuweilen die Augen wandern zu lassen und bei rasch ansteigender Bluttemperatur zu hören, wie Schlag auf Schlag, erinnernd an die Konvulsionen von Blitzen auf staubigen Decken und Gipsen, die gespiegelte Wandmalerei eines Gewitters, das, nicht von hier und ewig im Frühling, vorüberjagt, über das Bewußtsein zu zucken und zu lärmen beginnt, das ist schon reine, das ist in jedem Fall – die allerreinste Narrheit!“ „Neskol’ko položenij“, 27 (übers. v. Elke Erb, in: Pasternak: Prosa und Essays, 566–571, hier 571, modifiziert). 55 PSS, I, 117.

182

Die Epiphanie des Licht-Regens

– Отдача. И молниеносность этой отдачи, утысячеренность: тысячегрудое эхо всех его Кавказов.“56 „Pasternak ist ein Dichter von größter Durchdringbarkeit, und daher – Eindringlichkeit. Alles bei ihm schlägt […]. Schlag. – Hingabe. Und das Blitz-Gleißen dieser Hingabe, Vertausendfachung: tausendschichtiges Echo seiner Kaukasusse.“ Die Abendsonne wäre, mit Cvetaeva, der „hingebungsvolle“ Effekt des Gewitters, über das sich die braven Bürger aus den ersten beiden Strophen beschwerten. In dem Vorgang spielt zweifellos ein Moment der Entschädigung mit: Der Held wird hier von der Sonne erreicht, weil er sich von Anfang an vom Naturgeschehen hat affizieren lassen und diesem Naturgeschehen in seiner Person eine Gelegenheit gab zu geschehen.57 Oder, noch einmal mit Pasternaks eigenem Begriff: Er ist der Natur zum Anlass geworden. Cvetaeva schreibt weiter: „Разгадка: пронзаемость. Так дает пронзить себя листу, лучу, – что уже не он, а: лист, луч.“58 „Die Enträtselung: Durchdringbarkeit. Er überlässt es dem Blatt, dem Strahl so sehr, ihn zu durchdringen, – dass er gar nicht mehr er ist, sondern: ein Blatt, ein Strahl.“ Das ist der besagte Perspektivwechsel: Der Dichter wendet sich nicht mehr von einer außenstehenden Position dem Schatten zu. Er ordnet sich neu selbst als Schattenwesen dem Licht unter, damit es, das Licht, sich in Szene setzen kann. Nur unter dieser Voraussetzung ist es bei Pasternaks möglich, dass die Sonne anfängt, mit dem Dichter/Helden mitzuleiden. Das Mitleid der Sonne ist, wie man auch sagen könnte, ein Überschuss seiner Opferbereitschaft.59 56 Cvetaeva: „Svetovoj liven’“, 234. 57 Die „occasion“ kann nur wirksam werden, wenn der Dichter sie passiv-aktiv empfängt. Indem er sie wahrnimmt, macht er sich so gesehen, obwohl sie von außen kommt, zu ihrer „sekundären Ursache“. Jankélévitch schreibt dazu: „[…] comme l’acte poétique consiste dans une certaine mutualité de corrélation et dans le va-et-vient qui s’établit entre la création et la contre-expression, entre le rayonnement du sens et le contrecoup des signes, ainsi l’occasion est l’origine d’une onde de retour qui reflue sur la causalité efférente et descendante ; dans cette relation bilatérale, à la fois « poétique » et « pathique », la cause devient secondairement effet tandis que l’effet devient cause subalterne.“ Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien, 1, 115/116. 58 Cvetaeva: „Svetovoj liven’“, 241. 59 Dass sich die Poetik des Licht-Regens in Analogie zur Idee der Gnade verstehen lässt, macht eine Stelle bei Hans Urs von Balthasar deutlich: „Kräfte wachsen ihm [dem ‚Begnadeten‘] an, wo er über keine mehr zu verfügen meinte, Flügel können ihn tragen, und was ihm zur Verwaltung anvertraut wird, ist mehr, als was er sich zuschreiben kann: er kann es deshalb auch nur als ein verwunderlich Fremdes, ihm unbegreiflich in die Hände Gespieltes weiterverteilen. Ganzheitliches strömt und strahlt durch die Fragmente hin, desto ungehemmter, je schlichter diese sich ihres Stückwerks bewußt sind.“ Balthasar, Hans Urs von: Das Ganze im Fragment. Aspekte der Geschichtstheologie. Einsiedeln 1963, 122. Das „Verwalten“ und „Weiterverteilen“ von etwas „verwunderlich Fremdem“ kann als präzise Beschreibung von Pasternaks ‚ökonomisierter‘ Religiosität gelten. Gestützt wird die Analogie überdies durch die Metaphorik des „Strömens“ und „Strahlens“.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 183

Eine eigentliche Programmatik der hartnäckigen Nachgiebigkeit beinhaltet das in noch höherem Maße metapoetische Gedicht „Zerkalo“.60 Ein Trumeau, ein Pfeilerspiegel im Salon, „rennt“ – womöglich mit seinen einklappbaren Flügeln – dem taumelnden Garten aktiv entgegen, um passiv dessen Ereignisse aufzeichnen zu können: В трюмо испаряется чашка какао, Качается тюль, и – прямой Дорожкою в сад, в бурелом и хаос К качелям бежит трюмо. Там сосны враскачку воздух сáднят Смолой; там по маете Очки по траве растерял палисадник, Там книгу читает Тень.61 Im Trumeau verdampft eine Tasse Kakao, Wiegt sich der Tüll, und – auf geradem Weg in den Garten, zu Windbruch und Chaos, Läuft das Trumeau zur Schaukel. Dort reizen Kiefern heftig die Luft Mit Harz; dort verlor bei ermüdender Arbeit Der umzäunte Vorgarten auf dem Rasen die Brille, Dort liest der Schatten ein Buch.62

Dort, wo das Leben ist, „reizt“ das Harz der Kiefern die Luft. Versteht man Harz hier ähnlich wie Honig als einen symbolischen Lichtspeicher, so kann man daraus schließen, dass über dem Garten kein reines, kein ‚dünnes‘ Tageslicht herrscht, sondern auch hier: ein Licht, das sich bereits mit einem weiblichen Träger verbunden hat.63 Wie ist in diesem Zusammenhang der lesende Schatten (groß geschrieben: „Тень“) zu verstehen? Wenn man die Schattenhaftigkeit des Helden der vorangegangenen Gedichte bedenkt, so muss man darin letztlich eine Maske des Dichters 60 Vgl. Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 237 (Hervorherbung im Orig.): „Uns präsentiert sich die äußerste Form des pasternakschen Ideals – nicht selbstbehauptender Aktivität, sondern ‚weiblicher‘ und ‚beseelter‘ Selbstzurücknahme, Nachgiebigkeit, wachsamer Aufmerksamkeit auf alle [möglichen] Anfragen von außen und Entsprechungen.“ 61 PSS, I, 118. Al’fonsov spricht von „я-трюмо“ / „Ich-Trumeau“ auf der einen und von „жизньсад“ / „Lebensgarten“ auf der anderen Seite. Zit. nach Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 229. 62 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 171. 63 Dieser Syntheseprozess wird zwar als „Reizung“ beschrieben, allerdings klingt in dem Verb саднить eindeutig auch das Nomen сад an. Insofern wird die Luft auch mit dem Inhalt des Gartens erfüllt.

184

Die Epiphanie des Licht-Regens

sehen.64 Schatten entsteht zunächst deshalb, weil nach dem Gewitter die Sonne wieder in den Garten scheint. Da der Vorgarten („палисадник“) seine „Brille verloren“ hat, darf der neu geworfene Schatten diese Brille nun verwenden, um besser im romantischen Buch der Natur lesen zu können: So wie die Sonne in „Sestra moja – žizn’ i segodnja v razlive…“ den Helden in seiner unerfüllten Sehnsucht bemitleidet, so wirft ihm die Natur in „Zerkalo“ zwischen Gewitter und Aufklaren eine Brille, d.h. eine Lesehilfe zu, mit der er im Chaos die belebten Details entziffern kann. Die Konturierung, die Pasternak in seinen frühen Fragmenten der Dämmerung hatte geben wollen, wird hier genau umgekehrt der – ihrerseits „bedürftig“ gewordenen – Schattenfigur des Dichters zuteil. Boris Gasparov liest das Gedicht mit der Spiegelmetapher aus dem 1.  Korintherbrief des Apostels Paulus: Jetzt schauen wir durch einen Spiegel [δι᾽ἐσόπτρου] und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht [πρόσωπον πρὸς πρόσωπον]. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin. Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.65

„Zerkalo“ handelt nach Gasparov davon, dass der Held jetzt noch nicht unmittelbar an das Leben: den Garten herankomme, so wie bei Paulus der Mensch im Diesseits nur zu bruchstückhafter und vermittelter Erkenntnis befähigt ist. Und tatsächlich heißt es in dem Gedicht, der Spiegel (der Kunst) zerspringe bei allem noch so wuchtigen Andrängen des Gartens nicht: Огромный сад тормошится в зале В трюмо – и не бьет стекла! Казалось бы, всё коллодий залил С комода до шума в стволах.66 Der riesige Garten zappelt im Saale Im Trumeau – und zerbricht nicht das Glas! Es scheint, alles sei mit Kollodium überflutet, Von der Kommode bis zum Rauschen in den Stämmen.67

64 Vgl. Schulz, Jean Marie: „Pasternak’s ‘Zerkalo’“, in: Russian Literature XIII (1983), 81–100, hier 84. Da Schulz den größeren Kontext der schattenhaften Dichterfigur bei Pasternak nicht berücksichtigt, erscheint diese Variante bei ihm nur als eine unter vielen. 65 1. Kor 13, 12/13. Gasparov, Boris: „Byt kak kategorija poėtiki Pasternaka (k interpretacii stichotvorenija ‚Zerkalo‘)“, in: Polivanov, Konstantin/Shevelenko, Irina/Ustinov, Andrey (Hrsg.): Themes and Variations – Temy i variacii. In Honor of Lazar Fleishman. Stanford 1995, 56–69, hier 67. 66 PSS, I, 118. 67 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 171.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 185

Die Kunst kann Natur und Kultur nie ganz in Einklang bringen. Sie ist wie eine Lackschicht (eben ein „Kollodium“-Film), die ein Bild vom Leben möglich macht – und mit dem unreinen Reim зале–залил auch den Raum mitkonstituiert –, indem sie ihm zugleich ein wenig von seiner Lebendigkeit wegnimmt und es auf Distanz hält. Brojtman relativiert diese Lesart Gasparovs, indem er auf die entscheidende Rolle der Liebe im 1. Korintherbrief hinweist, wie sie auch in „Zerkalo“ durch das Nachbargedicht „Devočka“ / „Das Mädchen“ gegeben sei. „Zerkalo“ handle insofern nicht lediglich vom Verbleiben im Sekundären.68 Dem kann hinzugefügt werden, dass es bei Pasternak, so sehr er auch als Dichter der Unmittelbarkeit gilt, nie zu einer vollends unmittelbaren Begegnung mit der Welt „von Angesicht zu Angesicht“, zu einer „unmediated vision“ (Geoffrey H. Hartman69) kommt, da es in seiner Ästhetik kein reines Licht und damit auch keine widerstandslose Visualität geben kann. Entweder das Licht erscheint in einer bereits sekundären Verbindung, oder es muss „ortlos“ blieben. Und so ist es auch in „Zerkalo“. Das Kollodium auf dem Spiegel ist ein solches Medium, das eine gewisse, nämlich „hypnotische“ (5. Str.) Sicht der Welt erlaubt. Dem Wind (6. Str.) freilich wird die Fähigkeit zugeschrieben, das „andrängende Leben“ und sein im Spiegel der Kunst „gebrochenes“ Abbild zusammenzuführen: Несметный мир семенит в месмеризме, И только ветру связать, Что ломится в жизнь и ломается в призме, И радо играть в слезах.70 Unzählige Welt trippelt im Mesmerismus, Und nur dem Wind ist gegeben zu binden, Was sich ins Leben drängt und sich im Prisma bricht Und froh ist, in Tränen zu spielen.71

Der Wind nimmt die mit Harz erfüllte Luft aus der zweiten Strophe wieder auf. Es scheint auch hier ein sophianisch-sekundäres Gemisch aus Licht und Flüssigkeit zu sein, das den Zusammenhang der verschiedenen Lebensbereiche garantiert.72 Der vielleicht direkteste Kontakt zwischen Kunst und Leben entsteht dort, wo der Künstler als „Schatten“ im Garten ein Buch liest: Er ist nicht bloß in der Kunst (im 68 Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 224. 69 Vgl. die titelgebende Formel von Geoffrey H. Hartmans klassischer Studie The Unmediated Vision. An Interpretation of Wordsworth, Hopkins, Rilke, and Valéry. 70 PSS, I, 118 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 71 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 173 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 72 Im Ausdruck „радо играть в слезах“ ist ansatzweise das Wort радуга (Regenbogen) anagrammatisiert, worin man einen weiteren Hinweis auf die Verbindung der Tränen mit dem Licht sehen kann. Vgl. Junggren [Ljunggren], Anna: „‚Sad‘ i ‚Ja sam‘: Smysl i kompozicija stichotvorenija ‚Zerkalo‘“, in: Fleishman: Pasternak and His Times, 224–237, hier 229.

186

Die Epiphanie des Licht-Regens

Spiegel), er ist auch im Leben (im Garten) zugegen – allerdings nur, weil er bereit ist, sich mit der ‚flachen‘ Rolle eines Schattens begnügen. Nur unter dieser Bedingung wird ihm vom Leben die Lesehilfe zugeworfen, die er benötigt, um über das Ereignis des Licht-Regens zu schreiben. Die Anlage von „Dožd’“  / „Regen“, dem letzten Gedicht der Abteilung Ne vremja l’ pticam pet’ / Ist es nicht Zeit für die Vögel zu singen, ist ähnlich wie jene von „Zerkalo“: Aus einem Interieur wird das Naturgeschehen vor dem Fenster betrachtet. Ein starker Regen bewirkt eine jähe Verdunkelung mitten am Tag („Осанна тьме египетской!“  / „Hosanna der ägyptischen Finsternis!“) und dringt an das Fenster des Zimmers, in dem sich der Held mit seiner Geliebten aufhält. Der Regen wird als „эпиграф […] к любви“ / „Epigraph […] zur Liebe“ angesprochen – er soll das im Zimmer herrschende Halbdunkel zerreißen, und er zerreißt es, indem er eine wirkliche und reinigende Finsternis herbeiführt. Allerdings ist der Regen mit der Finsternis nicht identisch. Denn er soll helfen, die von ihm heraufbeschworene Nacht zu „kämmen“, d.h. zu ordnen: – Ночь в полдень, ливень, – гребень ей! На щебне, взмок – возьми!73 Nacht um Mittag, der Regenguß – ein Kamm für sie! Auf dem Kies, durchnäßt – nimm!74

Der Regenguss ist in der anbrechenden „ägyptischen Finsternis“ kein chaotisches, sondern – als hinuntergefallener, durchnässter Kamm – geradezu ein strukturierendes Element.75 Das überraschende Bild vom Regen-Kamm wird möglich, weil ливень bei Pasternak nie einfach eine Urgewalt meint. Er ist eine vermittelte Energie, die aber trotz ihrer Vermitteltheit mehr ist als ein sekundäres Phänomen. Im Pasternakschen Regenguss ist das Licht „mitgeschenkt“, so wie umgekehrt im Licht der Regen. Das ist, wie ich meine, Cvetaevas große Einsicht. Ein Vergleich mit den göttlichen Energien des Hesychasmus ist hier durchaus angebracht. So wie nach Gregorios Palamas die Teilhabe an den göttlichen Energien letztlich nicht durch Leistung erwirkt werden kann,76 so ist auch der Licht-Regen, wie ich ihn von Cvetaeva ausgehend verstehe, eine Gnadengabe, die ‚wahres‘ Leben überbringt, ohne das dahinter stehende Geheimnis aufzudecken. Das Wasser ist die energetische Erschei73 PSS, I, 121. 74 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 177. 75 Bereits in dem Prosafragment „Verba I. Žizn’“ („Weide I. Leben“, 1912) ist die Rede von „пунцовые полосы света на ковре, расчесанные ножками стульев“  / „purpurnen Lichtstreifen auf dem Teppich, gekämmt von Stuhlbeinen.“ PSS, III, 500/501, hier 501 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 76 Vgl. Kapriev, Georgi: Philosophie in Byzanz. Würzburg 2005, 301–303.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 187

nungsform des wesentlichen, aber letztlich im Hintergrund bleibenden Lichts.77 Ein offenes Geheimnis ist noch immer ein Geheimnis. Was im Hesychasmus die Verborgenheit des ‚Innenlebens‘ Gottes ist, das ist in Pasternaks Schreiben die Unmöglichkeit, Licht in Reinform zu offenbaren. Dabei ist das Kriterium kein Apophatismus, sondern eine postsymbolistisch medialisierte Sophiologie. Freilich soll selbst Vladimir Lossky, bekannt als unbeugsamer Gegner der Sophiologie,78 vor seinem Tod zugegeben haben, dass Sergej Bulgakovs Lehre von der Sophia einer Grundintuition folge, die vom palamitischen Apophatismus so weit nicht entfernt sei.79 Denn in beiden Fällen geht es um die Idee, bei aller Unerkennbarkeit Gottes die Schöpfung als etwas Neues, Frisches, „Energetisches“ zu denken.80 Dass sowohl die Sophiologie als auch der Palamismus für das Kunstdenken attraktiv sind, kann angesichts dessen nicht überraschen; man denke nur an Dmitrij Lichačevs Konstruktion einer hesychastischen Poetik. Die Analogie von Pasternaks „Dožd’“ mit Elementen der Mystik ließe sich hinsichtlich der „ägyptischen Finsternis“ sogar noch weiterziehen. Eine hesychastische Lichtvision kann nur zustande kommen, wenn der Asket bereit ist, der Unerkennbarkeit Gottes zuzustimmen. So verhält es sich in gewisser Weise auch in „Dožd’“. Die „Kämmung“ des Dunkels durch den Regenguss kommt gerade in dem Maße zustande, wie in dem Gedicht die Finsternis dichter und dichter wird. Das Licht hingegen bleibt ungenannt.81 Es „übergießt“ den Helden, wie in Pasternaks Brief vom Dezember 1916 beschrieben, „mit sich selbst“. Zu einer Verwandlung durch Licht kommt es in „Dožd’“ nicht. Die Wirkung des Regens spielt sich vor allem draußen im Garten, vor dem Fenster ab, und der Held und die Geliebte rennen erst in der letzten Strophe hinaus, um die Reinigung und Entstaubung zu begutachten. Der sich ausbreitende Geruch „nach Entlassung aus tausend Spitälern“82 beschreibt ebenfalls eine Wirkung in der Natur, nicht im Helden. Gleichwohl erfährt letzterer vonseiten des Licht-Regens Aufmerksamkeit. Wie in „Sestra moja – žizn’ i segodnja v razlive…“ wird das Mitleid nun dem Helden 77 Wie der Essay von Viktor Frank zeigt, lässt das Wasser als ‚energetische Erscheinungsform‘ des Essenziellen allerdings wenn schon mehr an die westliche als an die östliche Mystik denken. 78 Vgl. Losskij, Vladimir: Spor o Sofii [1936]. Stat’i raznych let. Moskva 1996, 7–79. Lossky legt hier seine Sicht dar, wonach die moderne Sophiologie, insbesondere jene Sergej Bulgakovs, gegen das Trinitätsdogma und gegen den orthodoxen Grundsatz der Unerkennbarkeit Gottes verstießen, weshalb er sie letztlich als „Gnostizismus“ einstuft. 79 Vgl. Clément, Olivier: Orient-Occident. Deux Passeurs : Vladimir Lossky et Paul Evdokimov. Genève 1985, 93. 80 Siehe dazu die Weisheit Salomos 7, 27: „Sie [die Sophia] ist nur eine und vermag doch alles; ohne sich zu ändern, erneuert sie alles.“ 81 Vgl. dazu auch Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 252. 82 „И вдруг пахнуло выпиской / Из тысячи больниц.“ PSS, I, 121.

188

Die Epiphanie des Licht-Regens

zuteil. Der Kamm, könnte man sagen, ist eine Wiederaufnahme von Reliquiminis „Umrahmung“ der Dämmerung unter umgekehrten Vorzeichen. Die Dämmerung ist zur zur Grundverfassung des Helden/Dichters geworden. In „Ne trogat’“ / „Nicht berühren“ aus der darauf folgenden Abteilung von Gedichten Kniga stepi / Buch der Steppe spricht der Held wieder aus einer Position der Finsternis und tritt einem nicht benannten frisch gestrichenen Objekt gegenüber. Gemeint scheint damit die ganze Welt (свет) zu sein:83 «Не трогать, свежевыкрашен», – Душа не береглась, И память – в пятнах икр и щек, И рук, и губ, и глаз.84 „Nicht berühren, frisch gestrichen“ – Die Seele nahm sich nicht in Acht, Und das Gedächtnis hat nun Flecken von Waden, Wangen, Händen, Lippen und Augen.85

Die ganze Welt ist dank dem Gefühl der Liebe „frisch gestrichen“. Der Verliebte (bzw. seine Seele) schont sich nicht, er lässt sich von der frisch gestrichenen Welt berühren und bekleckst sich dabei mit Waden-, Wangen-, Hand-, Lippen- und Augenabdrücken. Da er so „dunkel“ ist, erscheinen die Abdrücke des erneuerten Lebens auf ihm als weiße Flecken. In der zweiten und dritten Strophe wird die Verwandlung der Welt durch die Liebe dann in einer Licht-Kalauerpoetik entfaltet, es setzt eine Verwandlung des Wortes selbst ein: „свет“ verwandelt sich von einer Bezeichnung für die Welt in den Namen des Lichts. Die neue Ausmalung der Welt erweist sich als Aufleuchten ‚wahren‘ Lichts: Я больше всех удач и бед За то тебя любил, Что пожелтелый белый свет С тобой – белей белил.86 Mehr als für alles Glück und Leid Habe ich dich dafür geliebt, Daß die vergilbte weiße Welt Mir dir – in hellerem Weiß erstrahlte.87

83 84 85 86 87

Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 267. PSS, I, 123. Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 179. PSS, I, 123. Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 181.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 189

Bei „Ne trogat’“ handelt es sich im buchstäblichen Sinne um das, was Cvetaeva „светопись“ nennt. Das „Lichtschreiben“ findet in zwei Schritten statt: Zunächst zeigt sich dem Helden/Dichter die „frisch gestrichene“ Welt und er nimmt sie an. Seine Aufgabe ist es dann vorzuführen, dass sie aus Licht gemacht ist. Die künstlerische Tätigkeit leitet sich hier also direkt aus der Wirklichkeit her. Sie ist ein Notieren des sich zeigenden Lichts. In „Ne trogat’“ wird zudem der Umstand besonders deutlich, dass bei Pasternak Inkarnation, die ich als Zentrum des symbolistischen Kunstdenkens entwickelt habe, nur in einem sehr eng abgesteckten Rahmen stattfinden kann und soll. Zwar kommt es zu einer neuen „Verlebendigung“ von Licht, doch der Träger ist nicht mehr wie in den Postulaten Solov’evs und seiner Adepten der Künstler-Held. Die Verlebendigung beschränkt sich auf die flüchtige, vorüberfließende gegenseitige Durchdringung des Lichts mit einem „weiblichen“ Element, meist dem Regen (im Fall dieses Gedichts der Feuchtigkeit weißer Malerfarbe). Eine Inkarnation von Licht im Künstler – zumal die von Andrej Belyj angestrebte Logos-Werdung – bleibt bei Pasternak folgerichtig aus.88 Das Künstlersubjekt zahlt einen hohen Preis – es nimmt sich vom erhofft triumphalen Verwandlungsgeschehen aus und fällt immer von neuem auf die Position einer Schattengestalt, eines „finsteren“ Wesens zurück: И мгла моя, мой друг, божусь, Он станет как-нибудь Белей, чем бред, чем абажур, Чем белый бинт на лбу!89 So auch mein Dunkel, mein Freund, ich schwör’s, Die Welt wird irgendwie Leuchtender weiß als Fieber, als ein Lampenschirm, Als ein weißes Band auf der Stirn.90

„Он“ im zweiten Vers bezieht sich auf „белый свет“ / „die weiße Welt“ aus der vorangehenden Strophe. Die Wendung „И мгла моя“ / „So auch mein Dunkel“ ist in den Prozess der Verwandlung der Welt zu Licht einbezogen, steht aber syntaktisch un-angeschlossen da. Offenbar ist dies eine Finsternis, die nicht überwunden wird. Gleichwohl scheint der Held durch seinen Schwur („божусь“) Einfluss auf die Aufhellung in den letzten beiden Versen zu nehmen. Gerade hier, wo er sich von neuem 88 Einer bruchlosen Rückführung der Liebesgeschichte und Mythopoetik von Sestra moja – žizn’ auf den „poetischen Frauenkult“ Solov’evs, der jüngeren Symbolisten und der deutschen Frühromantiker, wie Vjač. Vs. Ivanov sie vornimmt, ist daher zu widersprechen. Vgl. Vjač. Vs. Ivanov: „O knige Pasternaka ‚Sestra moja – žizn’‘“, 85. 89 PSS, I, 123. 90 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 181.

190

Die Epiphanie des Licht-Regens

in die Finsternis schickt,91 wird er quasi zum Exegeten; er erklärt der Geliebten die wahre Beschaffenheit des Lichts. Ein Lampenschirm ist zwar etwas inwendig Erleuchtetes, dafür aber von Dunkelheit Umgebenes. Die Kopfbandage ist umgekehrt nach innen hin (durch die Berührung mit der Stirn) finster und von außen hell angeschienen. In beiden Fällen aber hat die Weiße eine empirische Herkunft. Das Licht der Liebe, von dem der Held spricht, ist dagegen so, dass es sich nicht mehr in eine Tag- und eine Nachtseite unterteilen lässt. So wird das Programm des als sensuelle „Liebkosung“ (Levinas) realisierten Licht-Regens hier auf ein ortloses Licht hin überschritten.92 Doch schon in „Balašov“, dem übernächsten Gedicht, ist das Licht wieder in Regen eingebunden.93

Der Licht-Regen als Licht-Opfer Eine variierte Form des Licht-Regens entwickelt sich in „Svistki milicionerov“  / „Trillerpfeifen der Milizionäre“ aus der Gedichtabteilung Razvlečenija ljubimoj  / Zerstreuungen für die Liebste. Die Ich-Position bleibt ganz unbesetzt. Der Held nimmt anders als in den bisher beschriebenen Gedichten nicht einmal die Rolle eines im Schatten Verbleibenden ein. Das Ich ist, mit der Formulierung aus Pasternaks „Simvolizm i bessmertie“, nur als „Anlass einer Qualität“ gegenwärtig, als komprimierte Aufmerksamkeit gegenüber einem Pfiff in der anbrechenden Morgendämmerung. Die Rolle des finsteren Wesens wird von der Geliebten eingenommen: И вдруг, – из садов, где твой Лишь глаз ночевал, из милого Душе твоей мрака, плотвой Свисток расплескавшийся выловлен.94 Und plötzlich – aus den Gärten, wo nur Dein Auge genächtigt hat, aus der Deiner Seele lieben Dunkelheit – wurde wie eine Plötze Das um sich spritzende Pfeifchen gefischt.95 91 Vgl. dazu Ėtkind: „Pasternak i Lermontov“, 118: „[…] hier geht es um die für Pasternaks Poesie so typische Dunkelheit, oder Finsternis, und diese Finsternis wird sich aufhellen […].“ Eine solche äußere, sozusagen schwarz-weiße Beschreibung der Lichtverhältnisse, wie sie in der Pasternak-Literatur nicht selten zu finden ist, sagt freilich wenig aus über die Logik, die den Hell-/Dunkel-Motiven zugrunde liegt. 92 Vgl. Faryno, Jerzy: Poėtika Pasternaka („Putevye zapiski“ – „Ochrannaja gramota“). Wien 1989, 131. 93 PSS, I, 124 (Übers. Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 181, 183). 94 PSS, I, 129. 95 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 189.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 191

Aus der ihrer „Seele lieben“ Finsternis wird wie ein Fisch aus dem Wasser eine Trillerpfeife gefischt. Die darauf folgende Strophe beschreibt, wie der bisher nur im Titel angedeutete Milizionär die Pfeife ergreift. „Nach Fischesart“ („[п]о-рыбьи“) zappelt sie in seiner Hand. In der zweitletzten Strophe wird die so in einen leidenden Fisch verwandelte Trillerpfeife als „Tupfer“ über den Zaun geworfen und verendet am Schluss jämmerlich im Staub: Трепещущего серебра Пронзительная горошина, Как утро, бодряще мокра, Звездой за забор переброшена. И там, где тускнеет восток Чахоткою летнего Тиволи, Валяется дохлый свисток, В пыли агонической вывалян.96 Der von zitterndem Silber Schillernde Tupfer ist, Wie der Morgen, belebend naß, Wie ein Stern wurde er über den Zaun geworfen. Und dort, wo der Osten matt wird Von der Schwindsucht des sommerlichen Tivoli, wälzt sich das verendende Pfeifchen, Im agonischen Staub herumgewälzt.97

Bei dem lieblos in den Staub geworfenen Tupfer handelt es sich offensichtlich nicht mehr um die Trillerpfeife, sondern, metonymisch, um den vom Milizionär abgegebenen Pfiff. Nun ist bemerkenswert, dass der Pfiff nicht in akustischen Begriffen, sondern wiederum in der Figuralität des Licht-Regens umschrieben wird. Er klingt wie flackerndes Silber, leuchtet hell auf wie ein Stern, und er ist andererseits „belebend nass“.98 Dieser mikrokosmische Licht-Regen in Form eines Pfiffes vergeht jedoch sogleich wieder und findet keinen Empfänger außer dem „agonischen Staub“, in dem er liegen bleibt. Das Licht kann von keinem Träger dauerhaft aufgenommen werden. Es kommt wieder zu keiner Verwandlung. 96 PSS, I, 129. 97 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 191. 98 Vgl. zur gegenseitigen Durchdringung von Sternenlicht und Feuchtigkeit auch „Opredelenie poėzii“ / „Definition der Poesie“: „Всë, что ночи так важно сыскать / На глубоких купаленных доньях, / И звезду донести до садка / На трепещущих мокрых ладонях.“ „Alles, was der Nacht so wichtig ist, ausfindig zu machen / In den tiefen Badegründen, / Und einen Stern zu tragen zur Reuse / Auf den zitternden, feuchten Handflächen.“ PSS, I, 131 (Meyer, „Sestra moja – žizn’“, 193).

192

Die Epiphanie des Licht-Regens

Damit ist das Drama von „Svistki milicionerov“ noch nicht erschöpfend nacherzählt. Zunächst muss man sagen, dass sehr wohl eine Verwandlung stattfindet, eine „Verwandlung der Wirklichkeit“, wie sie in der Pasternak-Literatur oft beschrieben worden ist. Damit ist ein Phänomen poetischer Metamorphose gemeint, das, technisch gesehen, durch den Instrumental zustande kommt. Die Trillerpfeife verwandelt sich qua Instrumentalkonstruktion in einen Fisch („плотвой выловлен“: als Rotauge herausgezogen). Derartige grammatisch generierte Metamorphosen bzw. realisierte Vergleiche finden sich in Sestra moja – žizn’ überaus häufig.99 Was für ein Status kommt diesen Verwandlungen zu? In „Svistki milicionerov“ endet die Metamorphose nicht mehr als einen Augenblick später im „Staub der Agonie“.100 Ihre Qualität scheint in erster Linie eine symbolische zu sein: die Passivität, das Erleiden als solches. Die Qualität des Erleidens verbindet das marginale Ding, die Trillerpfeife, mit dem Ausgeliefertsein eines zappelnden Fisches. Dieses wiederum lässt, so Brojtman, an die Opferbereitschaft Christi101 denken (wobei dann die Milizionäre mit den römischen Soldaten zu assoziieren wären). Wenn die rein erleidende Größe des Pfiffes „leuchtend nass“ erscheint, so rückt der Licht-Regen in den Zusammenhang des poetischen Opferdiskurses, wie ich ihn im ersten Kapitel mit Vjačeslav Ivanov angesprochen habe.102 Tatsächlich kann man sagen: Der Licht-Regen wird in „Svistki milicionerov“ als Opfer dargebracht. Wo befindet sich indessen das Subjekt? Beim Symbolisten Ivanov positioniert es sich jeweils oder sehr oft durch eine in Wir-Form vorgetragene Auferstehungserwartung. In Pasternaks „Svistki milicionerov“ stellt es sich in den Dienst eines gewöhnlich unbemerkten Details, ja es versteckt sich dahinter und bleibt deshalb ungenannt. Einmal abgesehen davon, dass an die Stelle der bedürftigen Dämmerung ein hilfloser Fisch tritt, könnte das Gedicht auch immer noch im Zeichen von Reliquiminis Mitleid gelesen werden. Da der Pfiff, das reine Erleiden,103 als Licht-Regen realisiert 99 Vgl. Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 314. 100 Vgl. Cvetaevas: „[…] в чем дело? – ни в чем! Прошло!“ „[…] was geht vor sich? – nichts! Ist schon vorüber!“ „Svetovoj liven’“, 234. 101 Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 315. Das griechische Wort für Fisch, ἰχθύς, dient im frühen Christentum als Chiffre des Glaubensbekenntnisses: „Jesus Christus Gottes Sohn Erlöser“. 102 Nils Åke Nilsson ordnet den Gedichten von Sestra moja – žizn’ die Ekstase, den Gedichten Jurij Živagos das (Selbst-)Opfer zu. Nilsson, Nils Ake: „Life as Ecstasy and Sacrifice: Two Poems by Boris Pasternak“ [1959], in: Erlich: Pasternak. A Collection of Critical Essays, 51–67. Die Licht-Regen-Lektüre zeigt allerdings, dass schon die Ekstase nicht ohne Opfer auskommt. 103 Vgl. dazu das Stöhnen in „Popytka dušu razlučit’…“ / „Der Versuch, die Seele zu lösen…“: „Как в неге прояснялась мысль! / Безукоризненно. Как стон. / Как пеной, в полночь, с трех сторон / Внезапно озаренный мыс.“ „Wie in der Wonne sich der Gedanke klärte! / Untadelig. Wie ein Stöhnen. / Wie im Schaum um Mitternacht, ein von drei Seiten / Plötzlich erhelltes Kap.“ PSS, I, 147 (Meyer, „Sestra moja – žizn’“, 219, modifiziert).

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 193

ist, müsste man hier aber konsequenterweise umgekehrt von Mitleid mit dem (geopferten) Licht sprechen. Ich verstehe „Svistki milicionerov“ als Versuch des lyrischen Helden, den Licht-Regen nicht wie in der Mehrzahl der anderen Gedichte passiv zu empfangen, sondern aktiv in ihn einzugehen und seine Flüchtigkeit mit anzunehmen. So wird neuerlich die zeitliche Begrenztheit der Licht-Epiphanie demonstriert. In manchen Gedichten des Buches überwiegt das Zeigen auf die Gnadenhaftigkeit des Licht-Regens – in „Svistki milicionerov“ wird seine extreme Flüchtigkeit betont.104 Das Gedicht ist so auch exemplarisch für die Pasternaksche Kenosis ohne Heilsabsicht (wir erinnern uns an Levinas’ Zustimmung zur christlichen Selbstentleerung und seine Skepsis gegenüber einer personalen Inkarnation). Eine solche Form der Kenosis ist zweifellos inkommensurabel mit einer Ökonomie der Erniedrigung und Erhöhung, wie sie Ivanov vorschwebt.105 Die poetische Auseinandersetzung mit der schattenhaften Rolle des Dichters, dem Konzept des Licht-Opfers und allgemein mit dem Verhältnis zwischen Naturgeschehen und Schöpfertum wird in der Gedichtabteilung Zanjat’e filosofiej  / Philosophiestunde fortgesetzt. In „Bolezni zemli“ / „Krankheiten der Erde“ wird der 104 Im Licht-Opfer bei Ivanov geht es immer um das Versprechen einer anschließenden Auferstehung (daher wie bei Dostoevskij in Brat’ja Karamazovy die zentrale Bedeutung des Gleichnisses vom Weizenkorn, Joh 12, 24). Bei Pasternak gibt es ein solches Versprechen nicht. So wie Jurij Živago später sagen wird, dass bereits die Geburt des Menschen seine Auferstehung sei, so liegt in Sestra moja – žizn’ das wesentliche Ereignis – das unverhoffte Zusammentreffen und die gegenseitige Durchdringung von Licht und Regen – jeweils schon zurück. 105 Vgl. Uffelmann: Der erniedrigte Christus. Pasternak gehört zu den Autoren, die in Uffelmanns breit gefächerter und reich dokumentierter Studie nicht erwähnt werden, interessanterweise weitgehend auch Vjačeslav Ivanov. Kenotisch grundiert ist übrigens fast zeitgleich mit Sestra moja – žizn’ das Licht in Osip Mandel’štams „Skrjabin i christianstvo“ („Skrjabin und das Christentum“, 1917). Daraus eine zentrale Stelle: „[Смерть] служит как бы источником […] творчества, его телеологической причиной. Если сорвать покров времени с этой творческой жизни, она будет свободно вытекать из своей причины – смерти, располагаясь вокруг нее, как вокруг своего солнца, и поглощая его свет.“ „[Der Tod] dient gleichsam als Quelle […] des Schöpferischen, als dessen Zweckursache. Wenn man den Schleier der Zeit von diesem schöpferischen Leben nimmt, so wird es frei aus seinem Grunde emanieren – dem Tod, der sich um es herum sammelt wie um seine Sonne, und ihr Licht absorbieren.“ Mandel’štam, Osip: „Skrjabin i christianstvo“, in: ders.: Sobranie sočinenij v četyrech tomach. Tom pervyj. Stichi i proza 1906-1921. Moskva 1993, 201–205, hier 201. Vgl. dazu im Kontext einer russischen ‚Thanatopoetik‘ Kissel, Wolfgang: Der Kult des toten Dichters und die russische Moderne. Puškin – Blok – Majakovskij. Köln/Weimar/ Wien 2004, 82–86. Zu den Kon- und Divergenzen mit Vjačeslav Ivanovs Essay „Vzgljad Skrjabina na iskusstvo“ (1915) vgl. Terras, Victor: „The Black Sun: Orphic Imagery in the Poetry of Osip Mandelstam“, in: The Slavic and East European Journal 45, 1 (2001), 45–60, hier 51–57. Vgl. zuletzt auch Vajman, Naum: „Obraz černogo solnca“, in: ders.: Černoe solnce Mandel’štama. Moskva 2013, 30–46.

194

Die Epiphanie des Licht-Regens

Ausbruch eines ‚pathologischen‘, die Erde verlachenden Gewitters heraufbeschworen, welches in der zweiten Gedichthälfte eintritt. Nachdem eine Symptomatik des tollwütigen Gewitters aufgestellt ist, folgt in der letzten Strophe die „philosophische“ Pointe: Die Kunst und die „Krankheiten der Erde“ sind gleichursprünglich. Der Schmerz und das Leiden des passiven Schöpfertums werden dem Schmerz und dem Leiden der Erde unter den Einwirkungen der entfesselten Natur angenähert: Чьи стихи настолько нашумели, Что и гром их болью изумлен? Надо быть в бреду по меньшей мере, Чтобы дать согласье быть землей.106 Wessen Verse haben so viel Lärm gemacht, Daß selbst der Donner über ihren Schmerz erstaunt ist? Man muß zumindest im Fieberwahn sein, Um sein Einverständnis zu geben, die Erde zu sein.107

Die Kunst identifiziert sich mit der rein passiven Seite des Krankheitsbildes der Natur – sie „gibt ihr Einverständnis, die Erde zu sein“. Verse (стихи) schreiben heißt, sich dem dunklen, unbewussten Element (стихия) der Erde anzugleichen. „Bolezni zemli“ schließt insofern an „Svistki milicionerov“ an, als es buchstäblich die Perspektive des „Staubes der Agonie“ einnimmt. Der selbstquälerische Versuch, Teil des Licht-Regens zu werden, wird in „Bolezni zemli“ noch radikalisiert. Das Dichtersubjekt willigt ein, in das blinde Element der Erde einzugehen. Brojtman nennt dieses Gedicht denn auch den „radikalsten Ausdruck der passiv-sophianischen Grundeinstellung“108. Was heißt das? Pasternak stellt sich offener als jemals zuvor auf den Standpunkt der ‚weiblichen‘ Lichtscheu. Er geht sogar hinter die Alternative zurück, die in seinem Gedicht „Bescvetnyj dožd’… kak gibnuščij patricij…“ von 1912 entwickelt ist. Für die Frage, wer die „besungene Braut“ der Sonne werden könnte, scheint sich der Autor von „Bolezni zemli“ gar nicht mehr zu interessieren. Seine ganze Aufmerksamkeit richtet sich, mit der Formulierung aus dem frühen Gedicht, auf die „leidenschaftlichen Umarmungen“ von Regen und Erde („в пылкости объятья“), da sich die Perspektive des Licht-Regens ohnehin nur spontan ergeben kann. Der einzige verfügbare Zustand für den Dichter ist der passive. Ivanovs Opferdiskurs wirkt bei Pasternak also wenn dann im Modus der vollständigen Inversion weiter.109 106 107 108 109

PSS, I, 133. Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 197. Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 353/354. Cvetaeva diskutiert das Problem, ob der Dichter von Sestra moja – žizn’ überhaupt denke, und kommt zum Schluss: „О Пастернаке и мысли. Думает? Нет. Есть мысль? Да. Но вне его волевого жеста: это она в нем работает, роет подземные ходы, и вдруг – световым взрывом – наружу. Откровение. Озарение.“ „Zu Pasternak und dem Denken. Denkt er?

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 195

Im Gedicht „Naša groza“  / „Unser Gewitter“ findet unter Beibehaltung der Opferproblematik eine erneute Verschiebung statt. Der Held ist hier nicht damit beschäftigt, „die Erde zu sein“. Im Gegenteil, er nimmt nun die tätige Rolle des Gewitters ein, also des Krankheitserregers, dessen Opfer er in „Bolezni zemli“ geworden ist. Das Gewitter wird zu einem heidnischen Priester („жрец“) und bringt die unschuldige Natur als Opfer dar. Er verbrennt sie und hüllt sie in Rauch. Der Rollentausch hat zunächst damit zu tun, dass „Naša groza“ ein Liebesgedicht ist und der Held der Geliebten ein „Spiel“ bieten will („О, верь игре моей“, 7. Str.). Die erleidende Position der verbrannten Erde verschiebt sich auf die Geliebte. So wie das Gewitter den Flieder „verbrennt“, so entfacht der Dichter in seiner Geliebten das Feuer der Leidenschaft. Das von ihm veranstaltete Liebesspiel wird zur Opferhandlung: Поверила? Теперь, теперь Приблизь лицо, и, в озареньи Святого лета твоего, Раздую я в пожар его!110 Du glaubst nun? Jetzt, jetzt Nähere das Gesicht, und in der Erleuchtung Deines heiligen Sommers Werde ich es zum Brennen anblasen!111

Einerseits bestätigt diese Strophe das skizzierte Bild, andererseits lässt sie es auch als allzu schematisch erscheinen. Sie zeigt, dass der Dichter-Priester offenbar gar nicht im Besitz des Licht-Regens ist, denn sonst müsste er sein Ritual nicht in der Erleuchtung ihres „heiligen Sommers“ vollziehen. Wäre er tatsächlich der aktive und sie der passive Part, so wäre er nicht auf das Licht ihres Sommers angewiesen.112 Er ist zwar im Besitz eines bestimmten Feuers und erscheint der Geliebten als Feuer-Gewitter (auch eine Form des Licht-Regens), doch er hängt deswegen nicht weniger von einem ihm äußerlichen Licht ab. Gegenüber letzterem ist er, obwohl er das in seiner verführerischen Rede zu vertuschen sucht, im Grunde genauso in der schwachen Position wie zuvor. Brojtman sieht nebst der Opferung der Geliebten in „Naša groza“ ein Selbstopfer des Priesters im Gange. Der Priester opfere ihre schneeige Weiße, indem er Nein. Gibt es bei ihm Denken? Ja. Aber außerhalb seines Willensgestus: Es ist das Denken, das in ihm arbeitet, unterirdische Gänge gräbt, und plötzlich – mit einer Lichtexplosion – nach außen. Offenbarung. Erleuchtung.“ Cvetaeva: „Svetovoj liven’“, 244. Nach Cvetaeva gelingt es Pasternak also, erdhafte Verbergung und strahlende Offenbarung zu versöhnen. 110 PSS, I, 134/135. 111 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 199 (modifiziert). 112 Vgl. das zweitletzte Gedicht von Sestra moja – žizn’, „Posleslov’e“, in dem der Held die Hauptrolle in der Liebesgeschichte dem Sommer zuschreibt. PSS, I, 160/161.

196

Die Epiphanie des Licht-Regens

sie mit seiner gefährlichen Leidenschaft anstecke. Das heiße zugleich, dass er ihr das Feuer seines Gewitters, seiner Liebe, seiner Verse113 zum Opfer bringe. Interessanter scheint mir ein anderer Punkt: Die Aufopferung des Dichters, so Brojtman, gehe am Ende so weit, dass er seine Euphorie gar nicht zu Papier bringe, sondern sie als Liebe unmittelbar an die Geliebte weitergebe. Dennoch, muss man einwenden, ist das Gedicht an dieser Stelle, wo es dem Wortlaut nach auf seine Niederschrift verzichtet, ein zu Papier gebrachter Text. Sieht man im Licht einen Gradmesser der Euphorien und Krisen von Sestra moja – žizn’, so kann nicht einsichtig gemacht werden, wie der Dichter die Rolle des dominierenden Opferpriesters handelnd ausfüllen sollte. Das Licht gehört ihm ja gerade nicht. Bei der Verführung der Geliebten beschränkt sich seine Leistung auf das „Anblasen“ ihres Gesichts. Er kommt also auch in seiner scheinbar so aktiven Rolle im Grunde nicht über die passive Qualität der Trillerpfeife in „Svistki milicionerov“ hinaus. Nur dass „Naša groza“ ein ansehnliches Resultat hat: Die Geliebte steht mit geröteten Wangen vor ihm. Der Held hingegen steht nach getanem Werk mit leeren Händen da. Er ist noch immer bestenfalls das Medium der ihm äußerlichen Erleuchtung.

Das Problem der Gleichgültigkeit der Natur Die Krisensymptome beginnen sich zu häufen. In „Vorob’evy gory“  / „Die Sperlingsberge“ scheint sich die zuvor in „Opredelenie poėzii“ angedeutete Befürchtung zu bewahrheiten, dass die Natur vielleicht doch „kein Gesicht“ habe, dass die anthropomorphe Beseelung eine Täuschung114 gewesen sein könnte: Я слыхал про старость. Страшны прорицанья! Рук к звездам не вскинет ни один бурун. Говорят – не веришь. На лугах лица нет, У прудов нет сердца, Бога нет в бору.115 Ich habe vom Altern gehört. Schreckliche Prophezeiungen! Zum Himmel hebt die Hände nicht ein einziger Wirbelsturm. Sagt man – du glaubst es nicht. Die Wiesen haben kein Gesicht, Die Teiche haben kein Herz, Gott ist nicht im Nadelwald.116

113 „огонь грозы-любви-стихов“, Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 371. 114 Vgl. „Opredelenie poėzii“: „Этим звездам к лицу б хохотать, / Ан вселенная – место глухое.“ „Diesen Sternen stünde es zu Gesicht zu lachen, / Doch das Weltall ist ein tauber Ort.“ PSS, I, 132 (Meyer, „Sestra moja – žizn’“, 195). 115 PSS, I, 136/137. 116 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 203, modifiziert.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 197

Die Gerüchte von der Gleichgültigkeit der Natur117 drohen die Stimmung des Helden zu trüben, als er mit seiner Geliebten am hochsommerlichen Pfingsttag (orth. „Троица“, Dreifaltigkeit) über die Moskauer Sperlingsberge flaniert (und das Gedicht ist auch in seinen 6-hebigen Trochäen ,flanierend‘).118 Doch bevor er in Nachdenklichkeit versinken kann, verflüchtigen sich die Befürchtungen wieder und verwandeln sich in „siedendes Weiß“. Die Natur tritt von sich aus den Gegenbeweis an. Selbst wenn sie kein Gesicht haben sollte, ist sie jedenfalls nicht gleichgültig, wie es zuvor schon in „Opredelenie tvorčestva“ / „Definition des Schaffens“ aus der Abteilung Zanjat’e filosofiej heißt: И сады, и пруды, и ограды, И кипящее белыми воплями Мирозданье – лишь страсти разряды, Человеческим сердцем накопленной.119 Und Gärten, und Teiche und Zäune, Und das mit weißen Klageschreien siedende Weltall – sind nur Entladungen der Leidenschaft, Die vom menschlichen Herzen angehäuft ist.120

117 Al’fonsov: Poėzija Borisa Pasternaka, 97. – Diese Gerüchte sind im motivischen Umkreis von Tjutčevs Gedicht „Ne to, čto mnite vy, priroda… („Nicht das, was ihr behauptet, ist die Natur…“, 1836) anzusiedeln. Tjutčev beklagt die mechanistische Naturauffassung seiner Zeitgenossen, die die Natur für gesichts- und sprachlos halten. Bezeichnenderweise lautet einer seiner Hauptvorwürfe, dass für sie das Licht der Sonne und der Sterne unbelebt sei: „Они не видят и не слышат, / Живут в сем мире, как впотьмах! / Для них и солнцы, знать, не дышат, / И жизни нет в морских волнах! // Лучи к ним в душу не сходили, / Весна в груди их не цвела, / При них леса не говорили, / И ночь в звездaх нема была!“ „Sie sehen nicht und hören nicht, / Sie leben in dieser Welt wie im Finstern! / Für sie haben zum Beispiel Sonnen keinen Atem, / Und Leben ist keines in den Wellen des Meeres! // Strahlen sind keine bis in ihre Seelen gelangt, / Frühling hat keiner in ihrer Brust geblüht, / In ihrer Gegenwart haben Wälder kein Wort gesagt, / Und eine Sternennacht war für sie stumm.“ Tjutčev: Polnoe sobranie sočinenij, I, 169/170. Die Differenz zu Tjutčevs romantischem Animismus liegt freilich darin, dass Pasternak nicht den Anspruch formuliert, die Sonne bei sich in der „Seele“ bzw. in der „Brust“ zu haben. Im Gegenteil, nach Pasternak kann die Belebung, wie gezeigt, nur unter der Bedingung gelingen, dass der Dichter das Licht nicht auf seiner Seite glaubt. – Die Möglichkeit, die Erfahrung der „Gleichgültigkeit“ der natürlichen Welt durch den Mythos – statt durch Technik – zu verarbeiten und eventuell zu überwinden, wird diskutiert bei Kołakowski, Leszek: „Fenomen obojętności świata“, in: ders.: Obecność mitu [1972]. Kraków 1981, 71–83. 118 Die Kirche auf den Sperlingsbergen ist nach der Dreifaltigkeit benannt. Vgl. Bodin: „Boris Pasternak and the Christian Tradition“, 388. 119 PSS, I, 133. 120 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 197.

198

Die Epiphanie des Licht-Regens

Wenn dann in „Vorob’evy gory“ im Weiteren der Glaube an die Beseeltheit der Natur zurückkehrt und die Fichten sogar anfangen „Gottesdienst zu halten“121, so ist doch bemerkenswert, dass es ausgerechnet ein abgedunkelter Ort wie das Dickicht eines Wäldchens ist, das diesen Glauben einfordert und rechtfertigt: Просевая полдень, Тройцын день, гулянье, Просит роща верить: мир всегда таков. Так задуман чащей, так внушен поляне, Так на нас, на ситцы пролит с облаков.122 Das Wäldchen bittet, Mittag, Pfingsttag, Spaziergang verstreuend, Zu glauben: Die Welt ist immer so. So ist sie vom Wäldchen ausgedacht, so der Lichtung eingeflüstert, So auf uns, auf den Baumwollstoff aus den Wolken herabgegossen.123

Der lichte Pfingsttag wird vom schattigen Wäldchen ausgestreut! So wie sich die Welt an diesem Mittag präsentiert, so wurde sie vom Dickicht „ausgedacht“ und der Lichtung eingeflüstert. Am Ursprung des auf die Spazierenden ausgegossenen Lichts steht also nicht das Licht (oder gar das „Licht von Licht“ aus dem Credo), sondern Abdunkelung. Dies lässt Al’fonsov unberücksichtigt, wenn er das Gedicht als eine Bewegung „hin zur Erleuchtung“ beschreibt.124 Brojtman substituiert in seiner sophiozentrischen Pasternak-Interpretation die „Ausdenkerin“ der Welt spekulativ, aber durchaus plausibel durch die Baumeisterin der Schöpfung, die göttliche Weisheit aus dem Alten Testament.125 Wenn die Sophia zu einer aktiven, kosmogonischen Kraft wird und nicht mehr nur etwas Lichtscheu-„Weibliches“ ist, muss das dunkle Element, das sonst, wie wir gesehen haben, den Dichter charakterisiert, wieder in die Außenwelt getragen werden.126 Offen bleibt die Frage, in welchem Verhältnis die Weisheit aus der letzten Strophe zur Geliebten des Helden steht. 121 Vgl. Nilsson: „‘It is the World’s Midday’: Pasternak’s Poem ‘Sparrow Hills’“, 31. – An Pfingsten werden in Russland die Kirchen mit jungen Birken geschmückt. Ein gewisser liturgischer Zusammenhang ist hier insofern konkret gegeben. Vgl. Bodin: „Boris Pasternak and the Christian Tradition“, 388. 122 PSS, I, 137. 123 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 203, modifiziert. 124 Al’fonsov: Poėzija Borisa Pasternaka, 98. 125 Siehe Sprichwörter 8, 30, und Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 394. Brojtman setzt heuristisch das hebräische Wort für Weisheit hokmah ein, das wie чащa zweisilbig ist. 126 Eine Ausnahme bildet das Gedicht „Ljubimaja – žut’! Kogda ljubit poėt…“, das zu den wenigen klar „dämonischen“ gehört (vgl. ebd., 540). Hier identifiziert sich der liebende Dichter nicht nur mit der Erde, sondern auch explizit mit dem „Chaos des Dickichts“ (das dem Dichter in „Vorob’evy gory“ als sophianische Instanz vorausliegt). Vgl. die letzte Strophe: „И всем, чем дышалось оврагам векá, / Всей тьмой ботанической ризницы / Пахнёт по тифозной тоске тюфяка, / И хаосом зарослей брызнется.“ „Und der Duft von allem, was die Schluchten in Ewigkeiten atmeten, / Der Duft aller Finsternis der botanischen Sa-

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 199

Die „strömenden“ Küsse des ersten und der Heiliggeist-Regen des letzten Verses des Gedichts scheinen durch eine Vorstellung des Erfüllens127 verbunden zu sein. Dies wirkt umso plausibler, als die Brust des Helden von „Naša groza“ her ja noch entleert ist und eine Erfüllung mit frischem Atem benötigt. Wenn es in „Vorob’evy gory“ zu einer Verwandlung kommt, so höchstens im Sinne einer solchen Überwindung von Leere. Auch da bleibt es indes ein hervorstechendes Merkmal von Pasternaks Poetik des Lichts, dass sie an die symbolistische Konzeption von Licht/Schatten und Männlich/Weiblich anschließt, indem sie deren Wertigkeiten genau vertauscht. Nicht das Licht des Heiligen Geistes muss die bedürftige Sophia verklären, sie von ihrem „weiblichen Nichts“ (Solo’vev) befreien, sondern umgekehrt: Die Sophia in Gestalt des Walddickichts vermittelt dem reinen Licht die Idee der Fülle, damit es zum Regen werden und sich „ausgießen“ kann.

Krisenpoetik: Die Dissoziierung von Licht und Regen Im anschließenden Gedicht „Mein Liebchen, was willst du noch mehr?“ stehen die beiden Liebenden bereits unmittelbar vor der Trennung. Der große Sommer ist vorbei. Der Held versucht, sein „Liebchen“ zur Vernunft zu bringen und bittet sie, „keine Gläser zu zerschlagen“. Er ruft ihr die Kommunion mit der Natur in Erinnerung (wie sie in „Vorob’evy gory“ noch einmal glückte). Doch dann hält abrupt der Herbst Einzug: Год сгорел на керосине Залетевшей в лампу мошкой. Вон, зарею серо-синей Встал он сонный, встал намокший. Он глядит в окно, как в дужку, Старый, страшный состраданьем. От него мокра подушка, Он зарыл в нее рыданья.128 Das Jahr verbrannte in Kerosin Wie eine in die Lampe geflogene Mücke. Da stand es als graublaue Dämmerung Schläfrig wieder auf, stand auf, durchnäßt.

kristei / Zieht hin über die Typhusschwermut des Lagers / Und spritzt hervor als Chaos der Dickichte.“ PSS, I, 156 (Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 235). 127 Vgl. das Gedicht „Poėzija“ aus Temy i variacii, PSS, I, 205. 128 PSS, I, 138.

200

Die Epiphanie des Licht-Regens Es schaut zum Fenster herein, wie durch einen kleinen Bogen, Alt, schrecklich, durch sein Mitleid. Von ihm ist das Kopfkissen naß, Dort hat es seine Weinkrämpfe vergraben.129

Der Liebessommer wird mit dem Bild der im Licht verbrennenden Mücke als Täuschung entlarvt. Übrig bleibt eine schläfrige, herbstliche Dämmerung, personifiziert von einem Greis, der durch das Fenster zum desillusionierten Helden hereinschaut.130 Da die sommerliche Sonne nicht mehr scheint, leidet die Dämmerung, in Gestalt des Greises, nun mit dem Helden mit. Warum er in seinem Mitleid aber „furchtbar“ ist, liegt auf der Hand: Der ‚dämmerige‘ Alte ist eine selbstironische Maskierung des Ich, und insofern ist das Mitleid nichts als Selbstmitleid des Helden. Der Held ist die herbstliche Dämmerung und er sieht sich gezwungen, sich in lächerlichem, kraftlosem Selbstmitleid zu ergehen. In den letzten Strophen von „Mein Liebchen, was willst du noch mehr?“ wird die Identifikation des weinerlichen Leidenden mit dem nass-grauen, weinenden Herbst fortgesetzt. Und vor diesem Hintergrund leuchtet noch einmal die Geliebte auf: Лес навис в свинцовых пасмах, Сед и пасмурен репейник, Он – в слезах, а ты – прекрасна, Вся как день, как нетерпенье!131 Der Wald hing herab in bleigrauen Strähnen, Grau und düster ist die Klette, Sie ist – voll Tränen, aber du bist wunderschön, Ganz wie der Tag, wie die Ungeduld!132

„Нетерпенье“ ist hier wohl etymologisch als Nicht-Leiden zu verstehen, im Kontrast zum Leiden des Helden. Dieses Lob funktioniert jedoch nur noch im Bewusstsein der Vergeblichkeit.133 Zuletzt wendet sich der Held noch einmal gegen 129 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 205. 130 Vgl. den möglichen Bezug zu Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ aus dem West-östlichem Divan (1819): „Keine Ferne macht dich schwierig, / Kommst geflogen und gebannt, / Und zuletzt, des Lichts begierig, / Bist du, Schmetterling, verbrannt. // Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.“ Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band II. Gedichte und Epen. Hamburg 19522, 19. Bei Pasternak scheint es der Sommer zu sein, der dem „Stirb und werde!“ folgt, der lyrische Held hingegen – das ist die Pointe – will gerade ein „trüber Gast“ bleiben. 131 PSS, I, 138. 132 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 205. 133 Vgl. „Popytka dušu razlučit’…“ aus dem letzten Drittel von Sestra moja – žizn’: „Я их [названья Ржакса и Мучкап], как будто это ты, / Как будто это ты сама, / Люблю всей

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 201

sich selbst und gegen seine Personifizierung in der weinenden Natur, indem er sich einredet, es habe nie ein glücklicheres Paar gegeben: Что он плачет, старый олух? Иль видал каких счастливей? Иль подсолнечники в селах Гаснут – солнца – в пыль и в ливень?134 Was weint er, der alte Dummkopf ? Sah er etwa irgendwelche glücklicheren Tage? Verlöschen etwa die Sonnenblumen in den Dörfern – Sonnen – in Staub und Regenguß?135

Die Sonnen-Blumen verlöschen nicht, wenn sie in den Regen geraten und in den Staub fallen. Ich verstehe diesen Schluss so: Als die Geliebte in der Erinnerung zum verstaubt-verweinten Helden zurückkommt, hat ihr Leuchten nicht abgenommen. In der retrospektiven Vereinigung der beiden kommt es noch einmal zum Licht-Regen, wobei die Geliebte die männliche Rolle des Lichtbringers spielt, er die weibliche des Regengusses. So kann man sagen, dass in „Mein Liebchen, was willst du noch mehr?“ der Licht-Regen nicht mehr als originelles, allem vorangehendes Ereignis gegeben ist, sondern als Resultat einer retrospektiven Beschäftigung.136 Die Krise des Licht-Regens – die Auseinanderdividierung von Licht und Regen – verschärft sich in „Muchi mučkapskoj čajnoj“ / „Fliegen eines Teehauses in Mučkap“ aus der Gedichtgruppe Popytka dušu razlučit’. Das „Liebchen“ nennt den Helden hier zu Beginn einen „Räuber“, und der begibt sich aufgewühlt in ein Teehaus.137 Dort wischt er die Sonne des Tages von sich und spült die „Hitze des Verbrechens“, dessen die Geliebte ihn bezichtigt hat, mit schwarzem Tee herunter:

134 135 136

137

силою тщеты, / До помрачения ума. // Как ночь, уставшую сиять […].“ „Ich liebe sie [die Namen Ržaksa und Mučkap], als wärst du’s, / Als wärest es du selbst, / Mit aller Kraft der Vergeblichkeit, / Bis zur Verdunkelung des Verstandes.“ PSS, I, 146 (meine Hervorhebung – Ch. Z.; Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 219, modifiziert). PSS, I, 138. Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 205, modifiziert. Vgl. die dritte Strophe des Gedichts, wo das Licht und der Regen nicht zum Licht-Regen synthetisiert auftreten und, als voneinander getrennte Phänomene, mehr eine Bedrohung als einen Segen darstellen: „Может молния ударить, – / Вспыхнет мокрою кабинкой. / Или всех щенят раздарят. / Дождь крыло пробьет дробинкой.“ „Vielleicht wird ein Blitz einschlagen, – / Wird aufflammen in der nassen Kajüte. / Oder man wird alle Hundewelpen verschenken. / Der Regen wird den Gebäudeflügel mit Schrotkörnchen durchlöchern.“ PSS, I, 137 (Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 205). Zur minuziösen Rekonstruktion der Handlung vgl. Gasparov, Michail/Podgaeckaja, Irina: „Sestra moja – zhizn’“ Borisa Pasternaka. Sverka ponimanija. Moskva 2008, 44–50.

202

Die Epiphanie des Licht-Regens Солнце, словно кровь с ножа, Смыл – и стал необычаен. Словно преступленья жар Заливает черным чаем.138 Er hat die Sonne, wie Blut von einem Messer, Abgewaschen – und ist ungewöhnlich geworden. Die Glut, wie die eines Verbrechens, Begießt er mit schwarzem Tee.139

Hier werden, darüber sind sich die Kommentatoren einig,140 parallel zwei Vorgänge mitgeteilt: zum einen das Teetrinken des Helden, das seine Aufgebrachtheit lindern soll, zum andern die Verdunkelung der Sonne vor dem Fenster und die Anballung eines abendlichen Gewitters. Auffallend ist dabei der negative, durch den Vergleich mit Blut gebildete Sonnenbegriff. Das Licht erscheint zwar verflüssigt wie im Licht-Regen, aber offensichtlich unter unguten, nämlich blutigen oder ‚kranken‘ Voraussetzungen. Und doch gelingt es dem Helden, mit Hilfe von schwarzem Tee seine hitzige Stimmung abzudunkeln. Der Tee erweist sich als – ebenfalls flüssiges – Mittel gegen die trügerische Sonne der zerrütteten Liebe. Der Vorzug des dunklen Getränks aus Kraut scheint gerade zu sein, dass es nicht ‚von oben‘ kommt, sondern aus der lichtscheuen Erde. Nachdem der Held den Tee ausgetrunken hat, geschieht etwas Bemerkenswertes. Von draußen drängt sich Mohn durchs Fenster sehnsüchtig an sein Tischchen: Пыльный мак паршивым пащенком Никнет в жажде берегущей К дню, в душе его кипящему, К дикой, терпкой Божьей гуще.141 Staubiger Mohn neigt sich wie ein räudiger Welpe In bewahrendem Verlangen Hin zum Tag, der in seiner Seele brodelt, Zum wilden, herben, göttlichen Dickicht.142

Der Tee hat die Hitze des Tages und des Liebessommers nicht restlos wegspülen können. Sie bleibt auf dem Grund der Seele des Helden gespeichert. Zugleich ist auf dem Grund des ausgetrunkenen Glases das Teekraut übrig geblieben als „Dickicht“. So kommt es auch in „Muchi mučkapskoj čajnoj“ zu einer positiven Wende 138 139 140 141 142

PSS, I, 144. Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 215. Vgl. Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 449/450. PSS, I, 144. Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 215.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 203

in der Krise. Es gibt zwar keinen Licht-Regen mehr, dafür aber einen Speicher von Licht auf dem Grund der Seele und einen zweiten in Gestalt des „göttlichen Dickichts“ im leeren Glas. Es ist offenkundig, dass die „Божья гуща“ des Teekrauts mikrokosmisch die synonyme sophianische „чаща“ des Wäldchens aus „Vorob’evy gory“ wieder aufnimmt. Um die Rolle dieses seltsamen Dickichts einschätzen zu können, muss man auch die Sehnsucht des staubigen Mohns vor dem Fenster berücksichtigen. Der Mohn neigt sich zum Teekraut vor „in bewahrendem Verlangen“. Dieses Verlangen zu bewahren wiederum entspricht der Vorstellung von einer Umrahmung der Dämmerung durch den Künstler. Der Held hat jetzt, als sich die Trennung von der Geliebten abzeichnet, im Dunkel seiner Seele einen Lichtspeicher angelegt, dessen Gegenwert das im Glas liegende Teekraut ist. Doch als wäre diese komplementäre Anlage zu schematisch, wird sie vom einschläfernden Mohn noch einmal eingeklammert. Durch den Vergleich mit einem „räudigen Welpen“ wird der Mohn zu einer passiv-aktiven Figur, wie sie sich bei Pasternak seit seinen frühen Fragmenten immer wieder finden. Nachdem der Held die Sonne von sich abgewaschen und wie eine Signatur das Teekraut zurückgelassen hat, verschiebt sich in einem dritten Schritt die Perspektive in den schattenhaften Mohn, da dieser dem passiven Aktivismus des Helden am nächsten liegt. Aus dem Mitleid des Dichters mit der Dämmerung (Reliquimini in den Fragmenten) wird schlechterdings ein Mitleid der Dämmerung mit dem Dichter, mit dem Ich, das dabei ist, die Liebe in Liebesdichtung und das Licht des Sommers in eine Schreibweise zu transformieren.143 In den Gedichten, die vom Ende der Beziehung handeln, wird die Auftrennung des Licht-Regens nachgerade zum Hauptmerkmal. In „Dik priem byl, dik prichod…“ / „Harsch war der Empfang, harsch die Ankunft…“ schaut die Geliebte schweigend an die Decke, „[к]ак воды набрала в рот“144 / „als hätte sie Wasser im Mund“, worauf der Held zu ihr sagt: Нет, не нá дверь, не в пробой, Если на сердце запрет, Но на весь одной тобой Немутимо белый свет.145 Nein, nicht vor die Tür, nicht vor die Bresche, Wenn vor dem Herzen ein Verbot ist, Dann häng’ es vor die ganze, allein durch dich Untrübbar leuchtende Welt.146 143 Die radikale Position eines Mitleids der Dämmerung mit dem Licht führt auch die parallel zu Sestra moja – žizn’ entstehende Erzählung Detstvo Ljuvers (1917/1918) vor (dazu das vierte Kapitel). 144 PSS, I, 145 (Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 217). 145 PSS, I, 145/146. 146 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 219.

204

Die Epiphanie des Licht-Regens

„Белый свет“ hat hier den gleichen doppelten Wortsinn wie in „Ne trogat’“: Nur durch die Geliebte ist die Welt „weiß“ wie im Märchen. Zugleich ist auch das Licht nur durch sie untrübbar weiß. Das Problem ist gar nicht, dass die Geliebte das von ihm geforderte Verbot tatsächlich verhängen würde, sondern, nach der Logik des Gedichts und des Zyklus, dass sie das Wasser im Mund zurückhält und es nicht mehr frei mit dem weißen Licht (reimend mit „Verbot“: запрет–свет) reagieren lässt. So dividiert sich alles auseinander: die Liebe zwischen den beiden und die Elemente, in deren Synthese sich ihre Liebe ereignet haben soll. Verstreut wiederholt sich diese Struktur auf der Rückfahrt des Helden nach Moskau in „Kak usypitel’na žizn’!..“ / „Wie ermüdend ist das Leben!..“.147 Vor Tagesanbruch entzündet jemand an den Gleisen ein Feuerzeug (eine Reminiszenz an das Aufleuchten der Trillerpfeife in „Svistki milicionerov“). Doch die Zigaretten, die mit der „Sonde“ des Feuers angezündet werden, sind „тупы[е]“ / „stumpf “, eine Menge von Ingenieuren und Intelligenzlern schaut zu (dies im Gegensatz zur intimen Beobachtungssituation in „Svistki milicionerov“) und an den Mänteln glüht der Staub auf („пыльники“, Staubmäntel). Das Unbehagliche dieser Szene lässt sich auf einen einfachen Begriff bringen: die Abwesenheit eines flüssigen Elements, das die durchdringende Feuer-„Sonde“ auffangen könnte. Später, um den Mittag, entstehen im Abteil „Strände“ von Brosamen, und verschütteter, stark gezuckerter Tee trocknet an und klebt fest. Diese Anordnung wird mit einem Ödem verglichen. Das Motiv des im Mund zurückgehaltenen Wassers aus „Dik priem byl, dik prichod…“ wiederholt sich so als Krankheitsbild. Auch hier ist das Problem der gestörte gegenseitige Ausgleich zwischen Licht und dem flüssigen Element. In derselben Strophe kündigt sich zwar ein Gewitter an, doch es „steckt“ in einem Wald wie eine „hineingehauene Axt“ („как всаженный топор“) fest. Es ist nur mehr eine gewaltsame Drohung. Die freundliche, fast ausgewogene Flüchtigkeit, das begeisternde en passant des Regengusses in den Gedichten der ersten Hälfte von Sestra moja – žizn’ geht ihm ab. Dann ist noch einmal von „озарение“ die Rede. Doch diese Erleuchtung bezieht sich nur noch auf Basare, auf nächtliche Hutfedern und die Finsternis. Von all dem bleibt allein der „Вопль полдня“148 / das „Geschrei des Mittags“ übrig. Erleuchtung gibt es nur noch im feuchten Element der Nacht und kann nicht in die Trockenheit der sengenden Hitze hinübergerettet werden. Das anschließende Gedicht über die Ankunft in der Moskauer Wohnung „U sebja doma“ / „Bei sich zu Hause“ relativiert die krankhafte Loslösung der Elemente und Personen wieder etwas. Es erhebt sich über den quasi naturalistischen Bewusst147 PSS, I, 147–150. 148 „Базары, озаренья / Ночных эспри и мглы, / А днем в сухой спирее / Вопль полдня и пилы.“ „Die Basare, Erleuchtung / Nächtlicher Hutfedern und Nebel, / Aber des Tags im trockenen Spriäenstock / Das Jammergeschrei des Mittags und der Säge.“ Ebd., 148 (Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 223).

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 205

seinsstrom von „Kak usypitel’na žizn’!..“ – so wie sich die ganze Szenerie über die Dächer der Stadt erhebt: Жар на семи холмах, Голуби в тлелом сенце. С солнца спадает чалма: Время менять полотенце (Мокнет на днище ведра). И намотать на купол.149 Hitze auf den sieben Hügeln, Tauben im glühenden Dach. Von der Sonne fällt ein Turban herab: Zeit, das Handtuch zu wechseln (Es weicht ein auf dem Boden des Eimers) Und es auf die Kuppel zu wickeln.150

Auf der Zugreise flatterten die Handtücher durch den Wagen – zu Hause liegt ein Handtuch auf dem Grund des Eimers und weicht ein. In statischer, ja träger Form kehrt damit das Flüssige in die Lyrik zurück. Draußen leuchtet die Kuppel von einer der unzähligen Moskauer Kirchen unter der Sonne wie ein „Turban“ aus Licht. Der phantastisch anmutende Einfall des Heimkehrenden, das durchnässte Handtuch aus dem Eimer um die Kuppel zu wickeln, bringt in Wirklichkeit sehr folgerichtig das Licht und das flüssige Element wieder näher zusammen.151 Dies bedeutet freilich nicht, dass noch einmal ein Licht-Regen einsetzen würde. Der aus dem Wachschlaf geborene Einfall ist der einer neuen Abdunkelung des Lichts. Das versöhnliche Hinzutun von Nässe zum gleißenden Licht ist eher ein Nebeneffekt davon. Die Abdunkelung kommt zwar nicht zustande und die Stadt fällt dem Helden, während er einzuschlafen verschucht, „грязный, гремучий“152 / „schmutzig und dröhnend“ ins Bett. Gleichwohl „weht zum ersten Mal nach der langen Steppe wieder Gesund-

149 PSS, I, 151. 150 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 227. 151 In der (ost-)slavischen Kultur ist полотенце nicht nur ein Alltags-, sondern in noch höherem Maße ein Kultgegenstand. So wurde im Alten Russland ein Handtuch vor das Fenster gehängt, wenn jemand im Haus verstorben war; es symbolisierte den Weg des Verstorbenen „на тот свет“ / ins (Licht des) Jenseits. Vgl. Slavjanskie drevnosti. Ėtnolingvističeskij slovar’ pod obščej redakciej N. I. Tolstogo. Tom 4. Moskva 2009, 147–150, hier 148. In Pasternaks Allusion erscheint diese Symbolik ironischerweise gerade umgekehrt: Das ‚pneumatische‘ Licht der goldenen Kuppel ist schon da, und das durchnässte Handtuch symbolisiert eher den Weg dieses Lichts aus dem Jenseits ins Diesseits. 152 PSS, I, 151 (Meyer, „Sestra moja – žizn’“, 227).

206

Die Epiphanie des Licht-Regens

heit“ („за долгую степь / Веет впервые здоровьем“153). Unerschöpflich sei der Vorrat an „schwarzen Namen“, die ihn an die Zeit mit seiner Geliebten erinnern: Черных имен духоты Не исчерпать. Звезды, плацкарты, мосты, Спать!154 Die Schwüle schwarzer Namen Kann man nicht erschöpfen. Sterne, Platzkarten, Brücken, – Schlafen!155

Die Dinge, die sie bezeichnen, sind so hell, dass ihre Namen schwarz werden! Die Verhüllung des Lichts gelingt im Bereich der Erinnerung also doch noch. Die – in der Schlaflosigkeit entstehende – Dichtung legt der blendenden Liebe des vergangenen Sommers in „bewahrendem Durst“ wie der staubige Mohn aus „Muchi mučkapskoj čajnoj“ ein Tuch um.

Licht als Medium der Retrospektive Das Zurückschauen oder, nimmt man die „schwarzen Namen“ ernst, ein Zurückschauen ‚nicht mit den Augen‘ wird nun zum zentralen Inhalt das Licht-Dramas von Pasternaks Buch. Das bereits mehrfach erwähnte Gedicht „Groza, momental’naja navek“ handelt vom nächtlichen Gewitter, mit dem der Sommer zu Ende ging. Es ist wie alle Gedichte der letzten beiden Abteilungen im Modus der „Postperzeption“156 verfasst. Die Strophen 1 und 2 beschreiben den Donner und die Blitze des Gewitters, in den Strophen 3 und 4 ergießt sich der Regen über das Land. Dabei wird auch die Verbindung zur nachträglichen Situation des Schreibens von Sestra moja – žizn’ hergestellt. Bereits mit dem ersten Vers setzt eine Verschiebung der Perspektive ein: Nicht der im Zug wegfahrende Held verabschiedet sich von seiner Geliebten und der südrussischen Landschaft und ihren Kleinstädten, sondern der Sommer von der Haltestelle. Und noch offenkundiger wird die Subjekt/Objekt-Verschiebung, wenn der Donner Erinnerungsfotos von der Abschiedsszene macht:

153 154 155 156

PSS, I, 151 Ebd. Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 227. Vgl. Brojtman: Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 528 und passim.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 207 А затем прощалось лето С полустанком. Снявши шапку, Сто слепящих фотографий Ночью снял на память гром.157 Und hierauf verabschiedete sich der Sommer Von der Eisenbahnstation. Die Mütze zog der Donner und machte Des Nachts hundert Blitzlichtphotos zur Erinnerung.158

Die zweite Strophe führt aus, wie der Donner in seiner Rolle als Fotograf „eine Handvoll“ Blitze einsammelt, mit deren Licht er den Ort für die Erinnerungsbilder ausleuchtet: Меркла кисть сирени. B это Время он, нарвав охапку Молний, с поля ими трафил Озарить управский дом.159 Es gefror die Fliederrispe. Währenddessen Hatte er eine Armvoll Blitze gepflückt Und machte sich daran, vom Felde her mit ihnen Das Amtshaus zu erleuchten.160

Das Interessante an dem zunächst phantastischen Anthropomorphismus ist seine metapoetische Dimension. Wenn Marina Cvetaeva das Unterfangen von Sestra moja – žizn’ als „Lichtschreiben“ bezeichnet, so nicht zuletzt deshalb, weil diese poetologische Umschreibung in „Groza, momental’naja navek“ schon angelegt ist. „Светопись“ ist ja nichts anderes als eine wörtliche Übersetzung von Fotografie. Und der Doppelsinn des Begriffs ist hier sehr schön zu beobachten: Einerseits erklärt sich die Verwandlung eines Naturphänomens (des Donners) in den Fotografen durch das Postulat, dass die Natur selbst einen „Licht-Morsekode“ (Andrej Sinjavskij) besitze, der aus ihren vielfältigen Erscheinungen ein zusammenhängendes und energiegeladenes Ganzes macht. Andererseits bezieht sich „Lichtschreiben“ auf die Qualität der Bilder/Schriften, die nach der Natur künstlerisch hervorgebracht werden. In ihrer Interpretation von „Groza, momental’naja navek“ betont Olga Hasty vor allem den zweiten dieser beiden Aspekte. Mit den „blendenden Fotografien“ in der ersten Strophe sei nicht so sehr die blendende Wirkung des Blitzlichts aus der Sicht des Fotografierten, als vielmehr eine Charakterisierung der gemachten 157 158 159 160

PSS, I, 155. Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 233. PSS, I, 155. Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 233.

208

Die Epiphanie des Licht-Regens

Bilder als blendender, brillanter Kunstwerke gemeint.161 Daraus ergibt sich ein markanter Kontrast zur Abdunkelung. Während nach Levinas in der Kunst sogar das Licht notwendig dunkel wird, impliziert Pasternaks „Groza, momental’naja navek“ gerade die entgegengesetzte Position: In der Kunst leuchtet sogar die Dunkelheit – die Dunkelheit, die in Sestra moja – žizn’ bezeichnenderweise nirgends dauerhaft aufgehellt wird. Wie sich in den bisherigen Lektüren immer wieder gezeigt hat, ist ein Differenzkriterium zwischen den Abdunkelungskonzepten Pasternaks und Levinas’ die Dynamik des Licht-Regens. Dies veranschaulicht der zweite Teil von „Groza, momental’naja navek“. Ein Hinweis auf die Kunst („Kohlestift“ und „Zeichnung“) erfolgt in dem Gedicht erst im Zusammenhang mit dem Gewitterausbruch. Solange kein Regen dazugekommen ist, hat nach Pasternak der Bereich der Kunst noch gar nicht angefangen. Lesen wir die dritte Strophe: И когда по кровле зданья Разлилась волна злорадства И, как уголь по рисунку, Грянул ливень всем плетнем,162 Und als sich über das Dach des Gebäudes Eine Welle von Schadenfreude ergoß Und, wie Kohle über die Skizze, Ein dichtverflochtener Platzregen einsetzte,163

…und halten hier mitten in der Satzkonstruktion inne. Das Gewitter ergießt sich über das Land, wie unter der Hand eines Zeichners die Kohle über das Blatt Papier rieselt. Auch der Regen hat also seine Schrift, und zwar keine Lichtschrift (Fotografie), sondern eine Schrift aus Kohlenstaub, kurz, eine Schattenschrift (Skiagraphie), so dass sich nun eine Lichtschrift des Donners und eine Schattenschrift des Regens widersprüchlich, eventuell gar dichotomisch gegenüberstehen. Jedenfalls verläuft die in der vierten und letzten Strophe erfolgende Auflösung dieses Widerspruchs keineswegs glatt. Mit dem Hinzukommen der „Schattenschrift“ des Regens setzt nämlich keine Verdunkelung, sondern erst recht totale Ausleuchtung ein: Стал мигать обвал сознанья: Вот, казалось, озарятся Даже те углы рассудка, Где теперь светло, как днем!164

161 Hasty, Olga P.: „Representing Ephemerality: Pasternak’s ‚Гроза, моментальная навек‘“, in: Fleishman: Eternity’s Hostage, I, 116–132, hier 124. 162 PSS, I, 155. 163 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 233, modifiziert. 164 PSS, I, 155.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 209 Begann die Lawine des Bewußtseins zu zwinkern: Da werden, so schien es, Auch die Ecken des Verstandes erleuchtet, Wo es jetzt taghell ist.165

Die totale Ausleuchtung muss zugleich Verdunkelung sein. Die Ausleuchtung, um die es in der Kunst geht, ist eine „Lawine“166 des Bewusstseins, also eine Zerstäubung desselben. Ausgeleuchtet werden ja Verstandesbereiche, die eigentlich bereits zu Bewusstsein gekommen sind.167 Hier ist Pasternaks „Schattenschrift“ Levinas’ Schatten oder sogar Dionysius Areopagitas und Gregorios Palamas’ „überheller Finsternis“ sehr nah: Die wahre Aufklärung ist ein Springen hinter die lichte Welt des Bewusstseins zurück, sie ist Abdunkelung. Letztlich fügt sich „Groza, momental’naja navek“ erstaunlich gut in das Muster ein, dem der einschläfernd-bewahrende Mohn in „Muchi mučkapskoj čajnoj“ oder die Verhüllung der leuchtenden Kuppel mit einem Handtuch in „U sebja doma“ folgen. Der Künstler verklärt die Wirklichkeit nicht, sondern er dunkelt sie ab, was heißt: Er wendet sich der dunklen Seite der lichten „alltäglichen Transzendenz“ (Levinas) zu. Indem Pasternak das Licht (hier den Blitz) zum Inhalt seiner Poesie und die Foto-grafie zu seiner Technik macht, ermöglicht er das Aufscheinen einer Dunkelheit, die heller ist als der Tag. Kommen wir zu einem letzten Text im Durchgang durch Pasternaks Lyrikband. Das Herbstgedicht „Davaj ronjat’ slova…“ / „Lassen wir die Worte fallen…“ ist ganz außerhalb des großen Sommers 1917 in dessen „Jenseits“168 angesiedelt, es kennt keine unmittelbare Involviertheit eines Helden und einer Heldin in das Geschehen mehr und trägt eine distanziertere Betrachtung der Welt und des Lebens vor. Was seine Anlage betrifft, so stellt „Davaj ronjat’ slova…“ eine Rückkehr in die Kulturlandschaft des Gartens aus der ersten Hälfte von Sestra moja – žizn’ dar. Doch der Garten gerät nicht mehr durch sommerliche Regengüsse ins Taumeln, er bleibt „herbstlich still“. Während die dynamische Natur und das mensch165 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 233. 166 Vgl. die Lawine im Schlussvers des ersten Gedichts „Pamjati Demona“. 167 Brojtman versteht den letzten Vers „Где теперь светло, как днем“ so: Während das Gewitter stattfand, schien es nur, dass eine totale Ausleuchtung stattfinden würde („Вот, казалось, озарятся“), jetzt aber, nach der Niederschrift von „Groza, momental’naja navek“, sei diese Helligkeit dank der Kunst eingetreten. Poėtika knigi Borisa Pasternaka, 529. Diese Lesart wird, so schlüssig sie ist, doch der Skiagraphie zu wenig gerecht, die Sestra moja – žizn’ vom ersten bis zum letzten Gedicht durchzieht: Die Lichtschrift ist auch oder sogar vor allem eine Schattenschrift. Der „helllichte Tag“ im letzten Vers ist somit nicht das positive Resultat des Fotografierens, sondern vielmehr der Bereich, von dem sich die ‚wahre Aufklärung‘ der Kunst zu distanzieren scheint. 168 Vgl. Brojtmans Bemerkung, das Gedicht sei in Bezug auf den Zyklus „transzendent“. Ebd., 534.

210

Die Epiphanie des Licht-Regens

liche Leiden zuvor immer wieder als Krankheitsbilder dargestellt wurden, ist jetzt die Vergänglichkeit des Lebens in ihren unspektakulären Details das Thema. Die Frage des Du (womit nicht mehr zwingend die Geliebte gemeint ist) lautet: Wer verfügt eigentlich, dass es Herbst wird – und wozu? Diese kindlich-metaphysische Fragestellung lehnt der Sprecher/Betrachter ab: Statt die Natur teleologisch auszudeuten („толковать“), müsse man mit ihrer Großzügigkeit Schritt halten und die Wörter wie ein herbstlicher Garten „ausstreuen“, sie preisgeben, ohne nach Ursprung und Sinn der Phänomene zu fragen. Die nachfolgenden Strophen sind dann nichts anderes als jene zu Beginn suggerierten „zerstreuten, großzügigen“ Wörter, die den Details des Herbstes nachzugehen versuchen, ohne sie zu deuten. Die Details hängen dabei mit den übrigen Gedichten durchaus zusammen. So lautet die erste – nicht beantwortete – Frage: Woher kommt eigentlich der Tau auf der Flora, und woher die Lichtstrahlen? [Не надо толковать,] Кто иглы заслезил И хлынул через жерди На ноты, к этажерке Сквозь шлюзы жалюзи.169 [Man braucht nicht zu erklären,] Wer Nadeln weinte Und sich durch die Zaunstangen ergoß Auf die Noten, durch die Schleusen Der Jalousie auf das Bücherbrett.170

Offensichtlich wird hier, wieder in einer mikrokosmischen Variation, die Frage nach der Herkunft des Licht-Regens (nicht) gestellt. Die Sonne „strömt“ durch die „Schleuse“ der Jalousie in das Interieur (auf die Noten am Klavier), man könnte hinzufügen: auf das Interieur des Gedichts, auf seine Noten, d.h. auf die Verse. Ihr ‚Komponist‘ aber verwahrt sich wie in allen anderen Gedichten, nur hier ganz explizit dagegen, den Licht-Regen oder -Strom auf einen bestimmten Ursprung zurückzuführen. Denn entweder er ist ein freies, sich nicht weiter erklärendes Geschenk, dann ist er annehmbar, oder aber es gibt ihn gar nicht. Wie kann die Natur so kunstvoll in ihren Details (Beispiel: die vollendete Gestalt eines Ahornblattes, 5. Str.) und zugleich so schutzlos dem Vergehen geweiht sein (Beispiel: das „Leiden“ der Astern und Dalien, 6. Str.)? Dadurch, dass die kindlich-metaphysischen Fragen – obwohl unverträglich mit dem ‚großzügigen‘ Weltbild des Sprechers – ausführlich zitiert werden, entsteht am Ende unversehens doch so etwas wie eine Theodizee: 169 PSS, I, 157. 170 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 237.

Zur Sophiologisierung des Lichts in Meine Schwester – das Leben 211 Ты спросишь, кто велит? – Всесильный Бог деталей, Всесильный Бог любви, Ягайлов и Ядвиг. Не знаю, решена ль Загадка зги загробной, Но жизнь, как тишина Осенняя, – подробна.171 Du fragst, wer dies befiehlt? – Der allmächtige Gott der Details, Der allmächtige Gott der Liebe Von Jagailos und Jadwigas. Ich weiß nicht, ob das Rätsel Des Todesdunkels gelöst ist, Aber das Leben ist, wie die herbstliche Stille, – Detailliert.172

Dass überhaupt etwas sei, verfüge der „allmächtige Gott der Details“. Die Frage lautete: Wozu gibt es all die Details in der Natur und im Leben? Und die tautologische Antwort lautet: Weil das der Gott der Details so will. Der Sprecher gibt allerdings noch eine zweite Antwort: der „allmächtige Gott der Liebe“.173 Diese zweite Antwort bezieht sich auf die Frage nach dem Leiden, genauer darauf, warum die Details alle stets wieder vergehen müssten. „Weil Gott ein Gott der Liebe ist!“ Damit kommt der Opferdiskurs wieder ins Spiel. Alle in „Davaj ronjat’ slova…“ angedeuteten Gaben Gottes, auch der Licht-Regen, sind Opfer um der „Detailliertheit“ des Lebens willen. Die Opfergaben haben ihren Sinn in sich, nicht in einer eventuellen jenseitigen Wiederkehr. Man könnte mit Vladimir Jankélévitch sagen: Der einzige Sinn, den der Sprecher/Betrachter den Details des Lebens zuzuschreiben bereit ist, ist der ihrer „quoddité unique“174 – der Sinn, einmal gewesen zu sein. Das auf „Davaj ronjat’ slova…“ folgende Gedicht heißt übrigens „Imelos’“, auch übersetzbar mit Jankélévitchs „avoir-été“ / „Gewesen-Sein“. Wären die Details nicht endlich, so wären sie streng genommen keine Details, sie hätten gar nie „statt-gefunden“ und wären in einer un-umschriebenen, im Grunde wertlosen Einheit verblieben. Deshalb ist der Gott der Vergänglichkeit ein Gott der Liebe. 171 PSS, I, 157. 172 Meyer: „Sestra moja – žizn’“, 237. 173 Nach Bodin stehen der König Jagiełło und die Litauerin Jadwiga nicht nur für große Liebe und harmonische Zusammenführung, sondern auch für Litauens (späte) Konversion vom Heidentum zum Christentum. Bodin: „Boris Pasternak and the Christian Tradition“, 389. 174 Jankélévitch: Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien, 144.

212

Die Epiphanie des Licht-Regens

Im Publikationsjahr von Sestra moja – žizn’ schrieb Pasternak an Cvetaeva schwer zugänglich über „seine“ Liebe: Я больше всего на свете (и может быть это единственная моя любовь) люблю правду жизни в том ее виде, какой она на одно мгновенье естественно принимает у самого жерла художественных форм, чтобы в следующее же в них исчезнуть.175 Am meisten von allem auf der Welt (und womöglich ist das meine einzige Liebe) liebe ich die Wahrheit des Lebens in jener Gestalt, die sie für einen Augenblick und ganz natürlich direkt bei einer Öffnung der künstlerischen Formen übernimmt, um schon im nächsten [Augenblick] wieder in diesen [Formen] zu verschwinden.

Was heißt das und was hat es mit „Davaj ronjat’ slova…“ zu tun? Pasternak beschreibt hier die „Wahrheit des Lebens“ als eine Epiphanie, die wie eine „Öffnung“ (жерло) im virtuos-künstlerischen Tun, in einer spontanen Lücke der Formgebung zustande komme. Die Epiphanie in unmittelbarer Nähe des Kunstwerks muss aber sogleich wieder vergehen, um der „einzigen Liebe“ Pasternaks würdig zu sein. Jankélévitch formuliert diese Idee bewundernswert einfach: „[…] c’est la disparition même qui fait l’apparition.“176 Alle Details des Lebens sind nur „momentan“, das aber „für immer“ („моментально навек“). In Pasternaks Licht-Regen-Dynamik wird das Leben nicht poetisch in einen höheren Status der Ewigkeit erhoben, vielmehr wird es festgehalten als in alle Ewigkeit momentan. Sub specie aeternitatis hat der Regen dem Licht eher etwas weggenommen als hinzugefügt. Er hat es seiner Souveränität beraubt. Dafür hat er ihm beigebracht zu vergehen (wörtlich: vorüberzufließen), ohne notwendig auferstehen zu müssen, um gültig, „wahr“ zu bleiben. Ich möchte dieses Kapitel mit einem kurzen Blick auf Rilke schließen.177 Rilke, Pasternaks Künstler-Vorbild, geht noch ein wenig weiter: Er sieht im Vergänglichsein das einzige „heilvolle“ Werk des Menschen. Verschwinden ist für Rilke Auferstehung. Auch das ist ein Beispiel für eine Kenotik, die keine Belohnung wünscht. Nur sagen muss es jemand, und das ist bei Rilke genauso wie bei Pasternak trotz allem der Dichter, so sehr er sich als Subjekt auch zu annihilieren bestrebt ist.

175 Brief an Marina Cvetaeva vom 12. November 1922, PSS, VII, 409. 176 Jankélévitch: Philosophie première, 172. 177 Vgl. das Kapitel „Rilke et l’exigence de la mort“ in Blanchots L’espace littéraire, 121–166, hier 144, 150.

4. Kapitel Von der Unaufgeklärtheit zur Mischung aus Unwissen und Leuchten Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse Wenn Marina Cvetaeva Pasternak als „Dichter der Helligkeiten“ bezeichnet, so tut sie dies nicht nur ohne Rücksicht auf Pasternaks Frühwerk, sondern auch auf die Erzählungen, die parallel zu Sestra moja – žizn’ entstanden (1918). Zwar sind diese Erzählungen, namentlich Detstvo Ljuvers / Ljuvers Kindheit und „Pis’ma iz Tuly“ / „Briefe aus Tula“1, in hohem Maße von Lichtmotivik durchwirkt, doch das Licht steht hier noch stärker als in Pasternaks Gedichten in einem engen Zusammenspiel mit Phänomenen der Abdunkelung. In Sestra moja – žizn’ kommt es immer wieder plötzlich zu Umschlägen von Finsternis in gleißende Helligkeit. In Detstvo Ljuvers ist das tendenziell gerade umgekehrt. Das alles andere als spärliche, in fast allen Szenen explizit dargestellte Licht2 (Sonnenlicht, weißes Tageslicht, Lampenlicht etc.) erfährt in der Filterung oder Maskierung durch die Protagonistin Ženja Ljuvers und den ihr verbundenen Erzähler eine Abdunkelung, die mit Emmanuel Levinas’ Figur des dunklen „Femininen“ und seiner Formel „se dérober à la lumière“ (Le temps et l’autre) recht exakt umschrieben werden kann. Im Folgenden werde ich Detstvo Ljuvers, „Pis’ma iz Tuly“ sowie eine etwas spätere Erzählung, „Vozdušnye puti“  / „Luftwege“ (1924) unter Rücksicht auf die Epiphanien von Sestra moja – žizn’ diskutieren. Dabei werde ich besonders das Problem ansprechen, inwiefern Pasternaks Ereignis-Metaphysik in der Prosa ethische Dimensionen annimmt und inwiefern so die Parallellektüre mit Levinas wieder aufgenommen werden kann.

Verdunkelte Sicht als Perspektive der Erzählprosa: Detstvo Ljuvers Eine Formulierung von Fiona Björling3 weiterführend, kann man sagen, dass am Ursprung der Poetik des Lichts von Detstvo Ljuvers eine ähnliche Demetaphorisie1 Detstvo Ljuvers wurde im Almanach Naši dni, „Pis’ma iz Tuly“ im Almanach Šipovnik publiziert (beide 1922). 2 Vgl. dazu Zehnder [Cender], Christian: „Ėksplicitnoe i implicitnoe osveščenie v ‚Detstve Ljuvers‘ (Pasternak i Levinas)“, in: Tekst i podtekst: Poėtika ėksplicitnogo i implicitnogo: Materialy meždunarodnoj naučnoj konferencii (IRA im V.V. Vinogradova RAN, 20-22 maja 2010 g.). Moskva 2011, 264–270. 3 „Ženja is in all senses an unenlightened child.“ Björling, Fiona: „Child Perspective: Tradition and Experiment. An Analysis of ›Detstvo Ljuvers‹ by Boris Pasternak“, in: Nilsson, Nils Åke (Hrsg.): Studies in 20th Century Russian Prose. Stockholm 1982, 130–155, hier 145.

214

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

rung der Aufklärung steht wie in Nikolaj Gogol’s Brief über den Begriff der Aufklärung (просвещение, angesprochen in der Einleitung). Zunächst ist Ženja ein ‚unaufgeklärtes‘ Mädchen in dem Sinne, dass sie nicht versteht, wie ihr geschieht, als sie zum ersten Mal menstruiert. In der Axiologie der Abdunkelung aber heißt das: Sie ist frei vom rationalistischen Licht des Wissens, durch das sich die Erwachsenen (die Eltern, die Gouvernante, auch die gleichaltrige Liza4) auszeichnen. Rationalistisch ist am Licht des Wissens bei Pasternak wie bei Gogol’ die analogisierende, also vergleichende Struktur. Gogol’s Demetaphorisierung des Begriffs war insofern eine Befreiung der ‚Aufklärung‘ aus ihrer verstandesmäßigen Funktionalisierung. Eine Briefpassage über den Begriff der Aufklärung hat auch Pasternak verfasst (1926 an Cvetaeva). Diese längere Stelle beschreibt Aufklärung als vorübergehenden Verlust, als Fragmentierung einer kindlichen Ur-Einheit, die anschließend in einer „neuen Physik“ wieder mit dunklen Elementen des „Unwissens“ überlagert werden müsse, um neuerlich zu etwas Ganzem zu werden. Pasternak schreibt, auf diese neu entdeckte, erwachsene Einfachheit abzielend: Я предвосхищаю встречу с тобой как счастье предельной простоты, какой не бывает даже в детстве со своими, а только в детском одиночестве, когда самостоятельно построенная физика неведенья не взорвана непрошеным просвещеньем. Мы-то с тобой знаем (как мало людей наблюдает себя и жизнь в час этого детского взрыва), мы знаем, что и просвещенье разлетается вдребезги в общем взрыве. Потом строят из общих и смешанных обломков вторую физику, навсегда свою, зацементировав бессмертием. Нов и смешан матерьял, замысел стар и первозданен, как до взрыва.5 Ich lebe dem Wiedersehen mit dir wie einem Glück von maximaler Einfachheit entgegen, wie es nicht einmal in der Kindheit mit den Nächsten vorkommt, höchstens in der kindlichen Einsamkeit, solange die selbstständig erbaute Physik des Unwissens nicht zerbrochen ist durch ungebetene Aufklärung. Du und ich wissen doch (wie wenige Menschen beobachten sich und das Leben in der Stunde dieser kindlichen Explosion), wir wissen, dass auch die Aufklärung in tausend Splitter auffliegt in der allgemeinen Explosion. Danach erbaut man sich aus allgemeinen und vermischten Splittern eine zweite Physik, eine für immer eigene, indem man sie mit Unsterblichkeit zementiert. Neu und vermischt ist das Material, die Absicht ist alt und uranfänglich wie vor der Explosion.

Um bei der konzeptuellen Verwandtschaft mit Gogol’s religiöser Revision der Aufklärung zu bleiben, könnte man sagen: Aus dunklen und lichten Bruchstücken wird 4 Vgl. die Stelle: „– Я знаю («ничего ты не знаешь», подумала Лиза). «Я знаю, – повторила Женя, – я не про то спрашиваю. А про то, чувствуешь ли ты, что вот сделаешь шаг и родишь вдруг, ну вот…»“ „‚Ich weiß.‘ (Gar nichts weißt du, dachte Lisa.) ‚Ich weiß‘, wiederholte Shenja. ‚Danach frage ich nicht. Sondern danach, ob du fühlst, daß du einen Schritt machen wirst… und auf einmal gebierst du, nun ja…‘“ Detstvo Ljuvers, PSS, III, 34–85, hier 80 (Shenja Lüvers’ Kindheit [übers. v. Marga und Roland Erb], in: Pasternak: Prosa und Essays, 57–134, hier 126). 5 Brief an Marina Cvetaeva vom 27. März 1926, PSS, VII, 627 (Hervorhebungen im Orig.).

Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse

215

eine Art Neujungfräulichkeit gebildet, die dem blinden Fleck der Aufklärung, ihrer neutralen Gesichtslosigkeit, eine unumstößlich „zementierte“ Unsterblichkeit gegenüberstellt. Ich werde darauf im Zusammenhang mit der Frage zurückkommen, ob sich der poetische Licht-Regen – der ein solches „neues Gemisch“ aus Dunkel und Hell zu sein scheint – auch für die Prosa Pasternaks verwendet lässt. Im Essay „Vassermanova reakcija“ von 1914 hatte der junge Pasternak programmatisch die „потребность в сближении“ / das „Bedürfnis nach Annäherung“ über die distanzierende Operation konventioneller bzw. effekthascherischer Metaphernbildung gestellt. Er warf dort Vadim Šeršenevič vor, Metaphern auf Grund von Ähnlichkeitsbeziehungen zu konstruieren statt auf Grund von Berührung, Anziehung und gegenseitiger Durchdringung.6 Der quasi wissenschaftlich-objektivierend festgestellten Ähnlichkeitsbeziehung fehle es an emotionaler Notwendigkeit und innerer Dramatik, es fehle ihr an wahrem Leben, da sie sich – hier verwendet Pasternak bereits einen der Kernbegriffe von Viktor Šklovskijs „Iskusstvo kak priem“ („Kunst als Verfahren“, 1916) – auf „ökonomische“ Handhabbarkeit beschränke.7 6 „Факт сходства, реже ассоциативная связь по сходству и никогда не по смежности – вот происхождение метафор Шершеневича. Между тем только явлениям смежности и присуща та черта принудительности и душевного драматизма, которая может быть оправдана метафорически. Самостоятельная потребность в сближении по сходству просто немыслима. Зато такое, и только такое сближение может быть затребовано извне. Неужели Шершеневич не знает, что непроницаемое в своей окраске слово не может заимствовать окраски от сравниваемого, что окрашивает представление только болезненная необходимость в сближении, та чересполосность, которая царит в лирически нагнетенном сознании. […] Образ мыслей Шершеневича – научно-описательный.“ „Die Tatsache der Ähnlichkeit, seltener die assoziative Verbindung auf Grund von Ähnlichkeit, nie aber auf Grund von Kontiguität – das ist die Herkunft von Šeršenevičs Metaphern. Dabei ist nur Erscheinungen der Kontiguität jener Einschlag von Zwang und seelischem Dramatismus eigen, der überhaupt metaphorisch gerechtfertigt werden kann. Ein selbstgenügsames Bedürfnis an Annäherung auf Grund von Ähnlichkeit ist schlicht undenkbar. Dafür kann eine solche und nur eine solche Annäherung von außen her erfordert werden. Weiß Šeršenevič etwa wirklich nicht, dass das in seiner Färbung opake Wort keine Färbungen übernehmen kann vom zu Vergleichenden, dass die Vorstellung nur von der schmerzhaften Unumgänglichkeit der Annäherung, jener Ziseliertheit eingefärbt werden kann, welche im lyrisch besessenen Bewusstsein herrscht. […] Das Bild der Gedanken Šeršenevičs ist wissenschaftlich-beschreibend.“ „Vassermanova reakcija“, 11. Zum Kult der Technologie und der Gewalt bei Šeršenevič vgl. Barnes, Christopher: „Boris Pasternak i revoljucija 1917 goda“, in: Aucouturier: Boris Pasternak, 1890–1960, 315–327, hier 321. 7 Zur formalistischen Rezeption von Detstvo Ljuvers vgl. Grob, Thomas: Daniil Charms’ unkindliche Kindheit. Ein literarisches Paradigma der Spätavantgarde im Kontext der russischen Moderne. Bern/Berlin/Frankfurt a.  M./New York/Paris/Wien 1994, 308–312. In Jurij Tynjanovs Studie „Promežutok“ (1924) erscheint die Erzählung als Musterbeispiel der Verfremdungstechnik, bei Jakobson wird sie für den Aufweis der „absoluten Metonymität“ Pasternaks verwendet. – Mit den Kategorien des Neu-Sehens oder der metonymischen Zufälligkeit ist es schwierig, Detstvo Ljuvers als Erzählung über eine Begegnung zu lesen. Das

216

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

Mit ihrer Welt-Abdunkelung steht die Protagonistin Ženja Ljuvers in der Reihe von Pasternaks polemischen Äußerungen zu Metapher und Aufklärung. So wie Ženja ein Medium der Verdunkelung ist, so ist sie auch verschwiegene Trägerin dieser Polemik. Als das kleine Mädchen zum ersten Mal in Erwägung zieht, dass zwei Menschen einander „gleichen“ können, sogar so weit entfernte Wesen wie ihre Mutter und die Frau des Hausmeisters, folgt ein nicht weiter ausgeführter Kommentar: „Женя усмехнулась одной мысли о сравнимости.“8 „Ženja musste allein bei dem Gedanken an die Vergleichbarkeit lachen.“ Der Gedanke erscheint, ganz im Sinne von „Vassermanova reakcija“, so lange als lächerlich, wie er nicht emotional, sondern nur hypothetisch erfahren wird. Am Ende von Detstvo Ljuvers kommt die 1914 reklamierte innere Dramatik des Bildes zustande – Ženja erfährt die Ähnlichkeit zwischen ihr und der ihr bisher so fremden Mutter gefühlsmäßig, als Nähe: Внезапная мысль осенила ее. Она вдруг почувствовала, что страшно похожа на маму. Это чувство соединилось с ощущением живой безошибочности, властной сделать домысел фактом, если этого нет еще налицо, уподобить ее матери одною силой потрясающе сладкого состояния. Чувство это было пронизывающее, острое до стона. Это было ощущение женщины, изнутри или внутренне видящей свою внешность и прелесть. Женя не могла отдать себе в нем отчета. Она его испытывала впервые. В одном она не ошиблась. […] Она вышла к Дефендовым пьяная от слез и просветленная, и вошла не своей, изменившейся походкой, широкой, мечтательно разбросанной и новой.9 Ein überraschender Gedanke durchzuckte sie. Sie spürte auf einmal, daß sie Mama schrecklich ähnlich war. Dieses Gefühl verband sich mit der Empfindung einer lebhaften Untrüglichkeit, fähig, die Vermutung zur Tatsache zu machen, wenn es diese auch noch nicht gab, und sie allein durch die Kraft dieses erschütternd-süßen Zustandes der Mutter ähnlich werden zu lassen. Das Gefühl war so durchdringend und schneidend, daß sie aufstöhnte. Es war die Empfindung einer Frau, die aus dem Innern oder im Innern selbst ihre äußere Gestalt und Anmut erblickt. Shenja konnte sich nicht klar darüber werden. Sie erlebte dies zum ersten Mal. Doch in einem täuschte sie sich nicht. […] Sie ging hinüber zu den Defendows, von Tränen berauscht und aufgehellt, und sie kam nicht mit ihrem eigenen, kam mit verändertem Schritt, der weit ausholend, träumerisch und neu war.10

Nach der fast systematischen Abdunkelung sämtlicher vermeintlich hellen Lebensbereiche im Laufe der Erzählung stellt sich eine „Durchdringung“ und „Untrüglichkeit“ ein – fügen wir die „Zementierung“ aus dem zitierten Brief hinzu –, wie Gogol’ sie aus dem alten Begriff der Aufklärung herausgehört hatte. Nur dass die Durchdringung und Untrüglichkeit in Pasternaks Erzählung keineswegs kirchlich Medium, in dem diese Begegnung stattfindet, ist die Verdunkelung, weshalb ich meine, dass eine Analyse derselben hier ein grundlegender Interpretationsschritt ist. 8 Detstvo Ljuvers, 56. 9 Ebd., 79 (Hervorhebungen im Orig.). 10 Shenja Lüvers’ Kindheit, 124/125.

Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse

217

aufgeladen werden, eher schon mit einer Tolstojschen Religiosität des Gewissens.11 (Die Erzählung „Pis’ma iz Tuly“ wird Gelegenheit geben, auf Tolstojs Präsenz in Pasternaks früher Prosa zurückzukommen.12) Zunächst ist es angezeigt, einige Aspekte der Verdunkelung hervorzuheben. Die Geschichte von Ženjas Nicht-Aufklärung und von ihrer unbewussten Erkundung der Wirklichkeit spielt sich vor dem Hintergrund dessen ab, was Pasternak noch als Student um 1910 „Fanatismus des Tages“ („Uže temneet…“) genannt hatte. Lange Tage in „совершенно пустых, торжественно безлюдных комнатах“13 / „vollkommen leeren, feierlich menschenleeren Zimmern“ bestimmen die Kindheit Ženjas und ihres Bruders. Das diffus-blendende Tageslicht in den Räumen des Hauses der Familie Ljuvers verkörpert die „nackte“ Strenge, die die Kinder umgibt: „«Ноги, ноги оботрите!» – из конца в конец носил голый, светлый коридор.“14 „‚Die Füße, tretet euch die Füße ab!‘ – so wehte es der nackte, helle Korridor von einem Ende zum andern.“ Die leere Helligkeit steht für die Pedanterie der Kindermädchen, ist aber auch Ausdruck der Abwesenheit des Vaters, des Geschäftsmanns, und der Distanziertheit der Mutter. Das ‚typische‘ Element des Vaters, dessen Gedeck abends meist unbenutzt bleibt, ist wohl nicht von ungefähr „aufgebrachtes“ Mineralwasser, „сердитая минеральная вода“15 – eine nicht ganz, aber fast qualitätslose Flüssigkeit. Die Mutter vermittelt den Kindern bestenfalls das Gefühl einer „Art heimischer Elektrizität“16, die wie das Mineralwasser Ausdruck einer seelenlosen Gegenwart ist. Die vertraute „Elektrizität“ der Mutter tritt bei einem der wenigen 11 Vgl. Barnes: Boris Pasternak, I, 272. Flejšman zeigt, dass wohl sogar mehr jüdische, d.h. talmudistische als christliche Religiosität in Detstvo Ljuvers eingegangen ist. Flejšman, Lazar’: „Boris Pasternak i christianstvo“ [1995], in: ders.: Ot Puškina k Pasternaku, 731–742, hier 732/733. 12 Siehe Pasternak, Evgenij: „‚Novaja faza christianstva‘. Značenie propovedi L’va Tolstogo v duchovnom mire Borisa Pasternaka“, in: Literaturnoe obozrenie 2 (1990), 25–29, hier 25. 13 Detstvo Ljuvers, 35. 14 Ebd., 42 (Shenja Lüvers’ Kindheit, 68). 15 Detstvo Ljuvers, 42. Allgemein ist auffallend, dass Durchsichtigkeit (прозрачность) – eines der ästhetischen Ideale des Symbolismus – in der poetischen Axiologie Pasternaks eine negative Markierung hat. Sie scheint für einseitige, ‚krankhafte‘ Zustände nicht gelingender Synthesen zu stehen. Vgl. dazu etwa Detstvo Ljuvers, 52; „Pis’ma iz Tuly“, PSS, III, 26–33, hier 27, sowie die Gedichte „S tech dnej stal nad nedrami parka sdvigat’sja…“ / „Seit jenen Tagen begann über den Tiefen des Parks sich zu bewegen…“ und „Vesna byla prosto toboj…“ / „Der Frühling war einfach du…“ aus Temy i variacii (1922), PSS, I, 207/208; 209/210. In Sestra moja – žizn’ finden sich bezeichnenderweise keine Belege für die Durchsichtigkeit. 16 „[…] холодные поучения англичанки не могли заменить присутствия матери, наполнявшей дом сладкой тягостностью запальчивости и упорства, как каким-то родным электричеством.“ „[…] die frostigen Ermahnungen der Engländerin konnten nicht die Gegenwart der Mutter ersetzen, die das Haus mit der süßen Bürde des Aufbrausens und der Starrköpfigkeit wie mit einer Art von heimischer Elektrizität erfüllte.“ Detstvo Ljuvers, 35 (Shenja Lüvers’ Kindheit, 59).

218

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

Ereignisse im ersten Teil in Erscheinung, als die Tochter mit Puder das Blut ihrer ersten Menstruation auf dem Bärenfell zu kaschieren versucht. Auf den empörten Ausruf des Kindermädchens, Ženja würde sich ja pudern, weint das Mädchen laut los. Die Mutter ihrerseits beschließt, sich nicht dem Mitleid mit dem Mädchen hinzugeben, obwohl die Tränen der Tochter sie quälen. Unmittelbar danach ist vom „пустой взгляд“ / „leeren Blick“ der Mutter die Rede.17 Den schamhaften Tränen Ženjas wird die Kontrolliertheit der Mutter gegenübergestellt. Von den Reliquimini-Fragmenten des jungen Pasternak her könnte man dies so verstehen: Ženja, die sich in einem permanenten Dämmerzustand befindet, wird das Mitleid mit der Dämmerung verwehrt. Dafür wird es dem Mädchen vonseiten des Erzählers zuteil. Seine Nähe zu Ženja geht so weit, dass man an manchen Stellen nicht entscheiden kann, ob nun er oder das Mädchen spricht und denkt.18 Er setzt sein Mehrwissen nicht verfügend, „wissenschaftlich-beschreibend“ ein,19 sondern in mitleidender Beteiligung. Das Mädchen selbst bleibt dabei, wie Cvetaeva anmerkt, weitgehend ausgespart.20 Es wird entobjektiviert. Mit ihrer Mitleidlosigkeit bewirkt die aufgeklärte Mutter in Ženja eine umso größere Entfernung von der Helligkeit. Im unaufgeklärten Zustand der Menstruation (der „Physik des Unwissens“) verdunkelt sich in ihren Augen die Welt. Die Lampen im Haus hören auf zu leuchten, sie werden von einer sie umschließenden „Wassersucht“ verschluckt: „Лампы только оттеняли пустоту вечернего воздуха. Они не давали света, но набухали изнутри, как больные плоды, от той мутной и светлой водянки, которая раздувала их одутловатые колпаки. Они отсутствовали.“21 „Die Lampen tönten die Leere der abendlichen Luft nur ab. Sie gaben kein Licht, sondern schwollen von innen her an wie kranke Früchte, von jenem glanzlosen, hellen Wasser, das ihre gedunsenen Glocken blähte. Sie waren abwesend.“ Nach Björling steht genau dieser Blick wie durch ein geschwärztes Glas am

17 Detstvo Ljuvers, 40. 18 Vgl. Björling: „Child Perspective“, 151. 19 Das bedeutet nicht, dass die Poetik von Detstvo Ljuvers unbegrifflich wäre, doch Begriffe dienen hier nicht der Beschreibung, sondern umgekehrt dazu, die Aufmerksamkeit der Menschen vom Leben abzulenken, damit das Leben ungestört und frei ‚walten‘ kann. Detstvo Ljuvers, 37. Dieses Motiv verdankt Pasternak Rilke. Vgl. Livingstone: „Pasternak i Ril’ke“, 433–435. 20 „В его гениальной повести о четырнадцатилетней девочке все дано, кроме данной девочки, цельной девочки, то есть дано все пастернаковское прозрение (и присвоение) всего, что есть душа.“ „In seiner genialen Povest’ über ein vierzehnjähriges Mädchen ist alles da, außer dem besagten Mädchen, dem ganzen Mädchen, das heißt da ist die ganze Pasternaksche Durchsicht (und Aneignung) von allem, was Seele ist.“ Cvetaeva: „Ėpos i lirika v sovremennoj Rossii“, 381. 21 Detstvo Ljuvers, 38 (Shenja Lüvers’ Kindheit, 63).

Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse

219

Anfang eines kreativen Erwachens von Ženja.22 Dass die Abdunkelung der Sicht in der Erzählung einhergeht mit dem Blick dessen, der die Erzählung hervorbringt, wird in der Beschreibung des Umzugs der Familie Ljuvers von Perm’ nach Ekaterinburg besonders deutlich. Ženja sitzt während der Zugreise lange am Fenster, erblickt plötzlich das Uralgebirge und macht – mit der Stimme des Erzählers – die unmerklichen, unendlich langsamen Bewegungen und Verschiebungen des Gebirgs aus: Горная панорама раздалась, и все растет и ширится. Одни стали черны, другие освежены, те помрачены, эти помрачают. Они сходятся и расходятся, спускаются и совершают восхожденья. Все это производится по какому-то медлительному кругу, как вращенье звезд, с бережной сдержанностью гигантов, на волосок от катастрофы, с заботою о целости земли. Этими сложными передвижениями заправляет ровный, великий гул, недоступный человеческому уху и всевидящий. Он окидывает их орлиным оком, немой и темный, он делает им смотр. Так строится, строится и перестраивается Урал.23 Das Gebirgspanorama hat sich ausgedehnt und wächst immer weiter und entfaltet sich. Einige der Berge sind schwarz, andere strahlend frisch, jene dort überschattet, diese tauchen in Schatten ein. Sie rücken zusammen und treten auseinander, sie senken sich hinab und vollziehen den Aufstieg. Dies alles geschieht in einer verhaltenen Kreisbewegung, der Drehung der Sterne gleich, mit der behutsamen Zurückhaltung von Giganten, um Haaresbreite an der Katastrophe vorbei, in der Sorge um die Unversehrtheit der Erde. Über diesen komplizierten Verschiebungen waltet ein erhabenes, gemessenes, dem Menschenohr unverständliches, allesschauendes Grollen. Es lässt sein Adlerauge über sie hinschweifen, finster und stumm wohnt es der Truppenparade bei. So nimmt der Ural Gestalt um Gestalt an und gruppiert sich um.24

Ein dunkler Blick steuert und beaufsichtigt die unbemerkten Bewegungen des Massivs wie ein göttliches Auge. Dieses Wachen über die sprachlosen Berge erinnert durchaus noch an Reliquiminis Mitleid mit der Dämmerung. Allerdings ist das Mitleid hier von einer künstlerischen Attitüde zu einem allgemeinen Prinzip geworden, das selbst sprachlos und dunkel ist. Bei dem dunklen Blick geht es ebenfalls um das Festhalten von Ereignissen, doch sowohl der Prozess wie das Ergebnis des Vorgangs sind über das Licht „erhaben“. Ženjas Unaufgeklärtheit wird auf Grund ihrer Affinität zum dunklen Blick als Wertmaßstab der Erzählung kenntlich gemacht. Roman Jakobson formuliert das in seinen „Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak“ so: „Mit dieser Haltung des Knabenalters gegen die Erscheinung stimmt Pasternaks Haltung vollkommen überein.“25 Als die „überströmende“ und „durchtränkende“ Sonne des Sommers in das Zugcoupé leuchtet,26 entscheidet sich 22 „What causes Ženja to be creative is not that she sees the world for the first time, but that she sees the world through a glass darkly.“ Björling: „Child Perspective”, 146. 23 Detstvo Ljuvers, 46. 24 Shenja Lüvers’ Kindheit, 74/75. 25 Jakobson: „Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak“, 361 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 26 „[…] пропитано и залито все купе.“ Detstvo Ljuvers, 45. Ähnlich auch ebd., 53/54.

220

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

das Mädchen intuitiv gegen ihr Licht. Sie bleibt – hierin dem lyrischen Subjekt von Sestra moja – žizn’ verwandt – ein Schattenwesen.27 Das Hauptereignis von Detstvo Ljuvers ist Ženjas Begegnung mit einem „Außenstehenden“ („посторонний“). Verschiedentlich wurde darauf hingewiesen, dass sie den Außenstehenden zum ersten Mal sieht, als sie in den Hof hinunter geht, um Lermontovs Demon zu lesen.28 Genau dieser Text ist es, in dessen Namen sich der Held im ersten Gedicht von Sestra moja – žizn’ zu einem Schattenwesen macht.29 Elena Glazov-Corrigan stellt die These auf, in Detstvo Ljuvers sei es Lermontov selbst, der dem Mädchen in Gestalt des Außenstehenden gegenübertritt, und die entscheidende Frage sei, wie Ženja sich zu dessen todbringendem Dämon verhalte: ob sie ihm entsage oder nicht.30 Ohne sich hier bereits auf eine Lesart festzulegen, kann man feststellen, dass abgesehen von den einzelnen Akteuren auch die ganze Situation abgedunkelt ist. Ženja entdeckt zunächst durch einen an den Hof grenzenden Garten ein dunkles Sträßchen: Кустов в чужом саду не было, и вековые деревья, унеся в высоту, к листве, как в какую-то ночь, свои нижние сучья, снизу оголяли сад, хоть он и стоял в постоянном полумраке, воздушном и торжественном, и никогда из него не выходил. […] они позволяли хорошо видеть ту пустынную, малоезжую улочку, на которую выходил чужой сад тою стороной. […] Вынесенная мрачным садом с этого света на тот, глухая улочка светилась так, как освещаются происшествия во сне; то есть очень ярко, очень кропотливо и очень бесшумно, будто солнце там, надев очки, шарило в курослепе.31 27 Greber interpretiert die Verdunkelung in Detstvo Ljuvers allgemein als gnostischen Mythos von der Gefallenheit der Welt und im Einzelnen als Folge von Ženjas pubertären sexuellen Phantasmen. Greber: „Subjektgenese, Kreativität und Geschlecht“, 363–367. Für die ‚gnostische‘ Poetik, die Greber minuziös aus dem Text herausliest, sei es charakteristisch, dass sie sich von der Verdunkelung „durch autoreflexive Bewusstmachung“ selbst befreie. Ebd., 369. Was am Ende positiv bleibt, ist nach Greber denn auch nicht die scheinbare Begegnung mit einem Außenstehenden, sondern Ženjas erwachendes androgynes Bewusstsein. Ebd., 373. 28 Zuletzt Jensen, Peter Alberg: „Ot Liriki k Istorii: Pojavlenie ‚tret’ego lica‘ v Detstve Ljuvers Borisa Pasternaka“ in: Fleishman, Lazar/Mc Lean, Hugh (Hrsg.): A Century’s Perspective. Essays on Russian Literature in Honor of Olga Raevsky Hughes and Robert P. Hughes. Stanford 2006, 279–306, hier 298/299. Weder Jensen noch Gasparov („Gradus ad Parnassum“, 94) gehen darauf ein, dass die Erwähnung Lermontovs auch einen Zusammenhang mit Sestra moja – žizn’ herstellt. 29 Ein anderes Merkmal, das Ženja mit dem Subjekt von Sestra moja – žizn’ verbindet, ist ihr Hang zur Erde: „«А где же земля?» ахнуло у ней в душе.“ „‚Wo aber ist die Erde?‘ seufzte es in ihrer Seele.“ Detstvo Ljuvers, 45. 30 Glazov, Elena: „The Status of the Concepts of ‘Event’ and ‘Action’ in Pasternak’s Detstvo Ljuvers“, in: Wiener Slawistischer Almanach 27 (1991), 137–158, hier 150, 154. 31 Detstvo Ljuvers, 54. Vgl. die ähnlichen Lichtverhältnisse in „Neskučnyj sad, 4. V lesu“ / „Neskučnyj sad, 4. Im Wald“: „В лесу клубился кафедральный мрак.“ „Im Wald häufte sich Kathedralendunkelheit an.“ – „Был полон лес мерцаньем кропотливым […].“ „Von mühseligem Flimmern voll war der Wald.“ PSS, I, 192.

Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse

221

Sträucher gab es nicht in dem fremden Garten, und die jahrhundertealten Bäume legten, da sie die unteren Äste nach oben, ins Laub, geschickt hatten, unten den Garten bloß, obwohl er in gleichbleibendem Halbdunkel lag, luftig und feierlich, und niemals daraus hervortrat. […] sie [gaben] den Blick auf die öde, kaum befahrene Straße frei, welcher der fremde Garten auf jener Seite zugewandt war. […] Die durch den düsteren Garten von dieser in jene Welt hinausgetragene stille Straße leuchtete, wie Ereignisse im Traum angestrahlt werden, das heißt sehr grell, peinlich genau und sehr geräuschlos, als durchstöberte die Sonne, nachdem sie sich eine Brille aufgesetzt hatte, dort den Hahnenfuß.32

Eine abgeblendete Grelle, ein maskiertes Licht, eine gefiltert scheinende Sonne breitet sich aus. Die eigentliche Begegnung mit dem Außenstehenden findet erst eine Weile später, kurz vor Sonnenuntergang statt, als Ženja in den Hof zu ihrem Buch zurückkehrt. In der zitierten Stelle geht es also um die Atmosphäre, in der sich das beiläufige Erscheinen Cvetkovs vorbereitet. Das Halbdunkel des Gartens „trägt“ das Sträßchen, wie es wörtlich heißt, „ins Jenseits hinaus“, und dieses Jenseits ist verfinstert und hell erleuchtet zugleich, wie Ereignisse im Traum. Ein Ereignis findet hier jedoch, wie erwähnt, noch nicht statt. Ženja, könnte man sagen, begegnet dem Prozess der Abdunkelung als solchem, ähnlich wie schon auf der Zugreise beim Betrachten der „Bewegungen“ des Gebirgsmassivs, doch nunmehr aus der Nähe. Diese Szene schließt nicht nur an „Pamjati Demona“ aus Sestra moja – žizn’, sondern auch an „Groza, momental’naja navek“ an: Letzteres Gedicht beinhaltet, wie wir im dritten Kapitel gesehen haben, ein „Lichtschreiben“ ebenso wie ein „Schattenschreiben“, Fotografie ebenso wie Skiagraphie, die zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Ähnlich verhält es sich mit der abgedunkelten Grellheit des „jenseitigen“ Sträßchens in Detstvo Ljuvers. Neu ist hier indessen der Aspekt der Begegnung mit dem Anderen. Und dies ist, wie Peter Alberg Jensen (mit Bachtin) argumentiert, ein Fortschritt gegenüber der nur epiphanischen, monologisierenden Lyrik Pasternaks.33 Warum ist aber gerade die Begegnung mit dem Anderen auf vorgängige Verdunkelung angewiesen? Eine plausible Antwort auf diese Frage wäre jene von Levinas: Solange das Subjekt „im Licht“ steht, ist es der Meinung, es würde über die Außenwelt und so auch über den Anderen verfügen, alles ihm Begegnende wäre ‚seins‘. Deshalb muss es zuerst in den Zustand eines „rêve éveillé“ („La réalité et son ombre“) eintreten oder, mit einem ähnlich oxymoralen Ausdruck aus Detstvo Ljuvers, einer „ленив[ая] акуратность“ / „trägen Sorgfalt“,34 um überhaupt etwas außer sich selbst wahrnehmen zu können. 32 Shenja Lüvers’ Kindheit, 87, modifiziert. 33 Jensen: „Ot Liriki k Istorii“, 280. 34 Detstvo Ljuvers, 45. Dass die Abdunkelung nicht nur Ženja, sondern auch das Erzählen überhaupt umfasst, belegt schön eine Stelle, in welcher der Hauslehrer Ženja von seinen belgischen Vorfahren erzählt: „Так хорошо разъяснил девочке все этот человек. […] Налет бездушья, потрясающий налет наглядности сошел с картины белых палаток; роты потускнели и стали собранием отдельных людей в солдатском платье, которых стало

222

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

Die entscheidende Phase ihres Heranreifens durchlebt Ženja in ihrer mehrere Wochen anhaltenden Erkrankung an den Masern, einem sich über alles ausbreitenden Schwäche- und Leeregefühl.35 Während im ersten Teil der Povest’ die Leere zur Charakterisierung der kontrollierten Erwachsenenwelt dient, beginnt sich Ženja in ihrer Krankheit unfreiwillig in die „Leere“ zu vertiefen – einen Krisenzustand, durch den ihr Erwachsenwerden ganz offenbar hindurchführen muss: Начав, например, с какого-нибудь эпизода на одеяле, чувство слабости принималось наслаивать на него ряды постепенно росших пустот […]. Или оно мучило больную глубинами, которые спускались без конца, выдав с самого же начала, с первой штуки в паркете свою бездонность, и пускало кровать ко дну тихо-тихо; и с кроватью – девочку. Ее голова попадала в положение куска сахара, брошенного в пучину пресного, потрясающе-пустого хаоса, и растворялась, и расструивалась в нем.36 So begann das Schwächegefühl zum Beispiel, ausgehend von irgendeinem Ereignis auf der Bettdecke, Reihen allmählich wachsender Hohlräume auf sie zu schichten […]. Oder es peinigte die Kranke mit Tiefen, die sich endlos hinabsenkten und von Anfang an, mit der ersten Platte des Parketts ihre Bodenlosigkeit verrieten, und ließ das Bett sacht, sehr sacht auf den Grund sinken, und mit dem Bett auch das Mädchen. Ihr Kopf kam in die Lage eines Zuckerwürfels, der in den Strudel eines faden, erschütternd leeren Chaos geschleudert ist und sich darin auflöst und zerrinnt.37 жалко в ту самую минуту, как введенный в них смысл одушевил их, возвысил, сделал близкими и обесцветил.“ „So gut verstand es dieser Mann, dem Mädchen alles begreiflich zu machen. […] Der Anflug von Gefühllosigkeit, der überwältigende Anflug der bloßen Anschaulichkeit fiel ab von dem Bild der weißen Zelte; die Kompanien verloren ihren Glanz und wurden eine Anhäufung einzelner Menschen im Soldatenrock, die einem im gleichen Augenblick Mitleid einzuflößen begannen, als sie von einem in sie eingeführten Sinn beseelt, erhoben, zu Nahestehenden gemacht und ihrer Farbe beraubt wurden.“ Ebd., 61 (Shenja Lüvers’ Kindheit, 97/98). Die Beseelung des Gegenstandes und die Annäherung an ihn entstehen auf Kosten eines anschaulichen Gesamtbildes, durch „Entfärbung“ statt durch Brillanz. 35 „Чувство слабости сказывалось во всем.“ „Ein Gefühl der Schwäche zeigte sich in allem.“ Detstvo Ljuvers, 67. In der Schwächung durch die Krankheit ist zweifellos eine drastische Form dessen zu sehen, was Pasternak weibliche „страдательность“ / „Passivität“ nennt. Diese ist für Pasternak sowohl ein Hauptmuster der Lebensführung als auch Grundprinzip seiner Poetik. Vgl. den Brief an Cvetaeva vom 11. Juli 1926: „Во мне пропасть женских черт. Я чересчур много сторон знаю в том, что называют страдательностью. Для меня это не одно слово, означающее один недостаток; для меня это больше, чем целый мир. Целый действительный мир, т. е. действительность сведена мною (во вкусе, в болевом отзыве и в опыте) именно к этой страдательности, и в романе у меня героиня, а не герой – не случайно.“ „In mir ist ein Abgrund weiblicher Züge. Ich kenne allzu viele Seiten dessen, was man Passivität nennt. Für mich ist das nicht nur ein Wort, das einen Mangel bezeichnet; für mich ist das mehr als die ganze Welt. Die ganze wirkliche Welt, d.h. die Wirklichkeit führe ich (geschmacklich, in schmerzhafter Antwort und in der Erfahrung) eben auf diese Passivität zurück, und mein Roman handelt von einer Heldin, keinem Helden – nicht zufällig.“ PSS, VII, 732/733. 36 Detstvo Ljuvers, 67/68. 37 Shenja Lüvers’ Kindheit, 107.

Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse

223

Die Leere nimmt an diesem Punkt ohne Absicht Ženjas unversehens Tiefendimension an. Zugleich mischt sich Flüssigkeit in sie, wodurch das Motiv des reinen Wassers der Erwachsenenwelt konterkariert wird.38 Ženja entzieht die Leere dem Licht, wie es im ersten Teil beschrieben wird, und führt sie dem ihr näheren Bereich der Dämmerung zu – den „[п]устынные, осунувшиеся сумерки“39 / „der öde[n], hohlwangige[n] Dämmerung“. So kann ihre Genesung mit der Bemerkung kommentiert werden, in ihrem Zimmer habe sich das „распределение света“40  / die „Anordnung des Lichts“ geändert. Wieder setzt also ein Licht-Regen ein, jedoch ein ganz anderer als in Sestra moja – žizn’. Dort ist er vor allem in den ersten zwei Dritteln des Buches gegenwärtig, er kommt von ‚außen‘, der Held empfängt ihn wie eine Gnadengabe. Wo der Geschenkcharakter gestört ist und sich das Licht und der Regen auseinanderzudividieren beginnen, wird der Held ohnmächtig. Am Ende bleibt ihm lediglich das aporetische Beharren auf seiner buchstäblichen Schattenhaftigkeit. Bei der Heldin von Detstvo Ljuvers ist die Schattenhaftigkeit, wie wir gesehen haben, keineswegs weniger ausgeprägt. Im Gegenteil, sie dehnt sich in der Prosa auf den Blick aus, so dass die ganze Welt traumhaft abgedunkelt erscheint. Andererseits beginnt Ženja an dem Punkt, an dem sie am schwächsten ist und im „leeren Chaos zerrinnt“, verantwortungsvoll zu handeln: Sie wird zur Mitleidenden. Sie empfindet Mitleid ausgerechnet mit ihrer schwangeren Mutter, die ihr zuvor aus pädagogischen Erwägungen das Mitleid verweigert hatte: „И что-то в ней перевернулось, дав волю слезам в тот самый миг, как мать вышла у ней в воспоминаниях: страдающей, оставшейся стоять в веренице вчерашних фактов, как в толпе провожающих и крутимой там, позади, поездом времени, уносящим Женю.“41 „Und es kehrte sich etwas in ihr um und ließ den Tränen genau in dem Augenblick freien Lauf, als die Mutter in ihrer Erinnerung auftauchte: als die Leidende, die in der Reihe der gestrigen Tatsachen stehen geblieben war wie in einer Gruppe Geleitender, und die dort, weit hinter ihr, herumgewirbelt wurde vom Zug der Zeit, der Shenja mit sich forttrug.“ Ženjas Mitleid kommt aus der Schwäche, der Leere, dem Chaos, der Dämmerung, kann aber erst konkret werden, als sich der neue Licht-Regen einstellt – eine unverhoffte Verbindung aus dem Licht ihres Gewissens und dem Fließen ihrer Tränen.42 Das Licht des Gewissens wird vom Außenstehenden Cvetkov ‚dargestellt‘; sie glaubt ihn mit einer Kerze am 38 Zum Motiv des nichtssagenden reinen Wassers vgl. auch die Stelle: „В кастрюлях кипятилась пустая вода.“ „In den Pfannen kochte leeres Wasser.“ Detstvo Ljuvers, 77. 39 Ebd., 69 (Shenja Lüvers’ Kindheit, 110). 40 Detstvo Ljuvers, 68. 41 Ebd., 78 (Shenja Lüvers’ Kindheit, 124). 42 In dem kurzen ästhetischen Traktat „Neskol’ko položenij“ aus demselben Jahr (1922) heißt es zu Kunst, Gewissen, Leuchten: „Книга есть кубический кусок горячей, дымящейся совести – и больше ничего.“ „Das Buch ist ein kubisches Stück glühendes, rauchendes Gewissen – und sonst nichts.“ „Neskol’ko položenij“, 24 („Einige Grundsätze“, 567).

224

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

Fenster zu sehen,43 während er zu diesem Zeitpunkt in Wirklichkeit gar nicht mehr lebt. Er kommt bei einem Unfall ums Leben. Bei demselben Unfall verliert Ženjas schwangere Mutter, die in der Kutsche sitzt, ihr Kind. Die Verspätung dieses Aufleuchtens Cvetkovs (in Ženjas Wahrnehmung) muss jedoch nicht als Halluzination verstanden werden. Sie kann auch ein Hinweis auf den nachzeitigen Charakter sein, auf die bleibende Wirkung seines Erscheinens. Obwohl Cvetkov ihrer Familie Unglück gebracht hat, verdankt Ženja seinem beiläufigen Erscheinen und Verschwinden, symbolisiert durch die Kerze, das Aufleuchten eines „Lichtes“ in ihr. Die Folge dieses Aufleuchtens ist ein kaum zu stillendes Weinen Ženjas. Ihre anfänglich lange zurückgehaltenen Tränen bezeugen das Erwachen eines Verantwortungs-, genauer, Schuldgefühls.44 Ohne die Tränen wäre Ženja in der Leere verblieben, die sie während ihrer Bettlägerigkeit durchschritten hat. Nun kann sie sich nicht einmal ihre Tränen abwischen, da ihre Hände voll sind – nichts festhaltend: „Женя стояла у окна и плакала беззвучно; слезы текли, и она их не утирала: руки у ней были заняты, хотя она ничего в них не держала. Они были у ней выпрямлены, энергически, порывисто и упрямо.“45 „Shenja stand am Fenster und weinte lautlos: die Tränen rannen ihr herab, und sie wischte sie nicht ab: Ihre Hände waren beschäftigt, obwohl sie nichts darin hielt. Sie waren energisch, jäh und eigensinnig gestreckt.“ Zwar hält sie nach dem Auftauchen und Verschwinden des Außenstehenden tatsächlich nichts in den Händen. Und doch sind ihre Hände nicht mehr „leer“. Sie sind nun, so ungewollt die Begegnung mit der „dritten Person“ auch war, in ständiger Erwartung einer Begegnung aus der Nähe, nicht zuletzt mit der Mutter.46 43 Detstvo Ljuvers, 81/82. 44 Man hat den Eindruck, die Begegnung mit Cvetkov sei gerade deshalb eine wirkliche, weil sie so zufällig, überflüssig, ja unwahrscheinlich ist: „А плакала Женя оттого, что считала себя во всем виноватой. Ведь ввела его в жизнь семьи она в тот день, когда, заметив его за чужим садом, и заметив без нужды, без пользы, без смысла, стала затем встречать его на каждом шагу, постоянно, прямо и косвенно и даже, как это случилось в последний раз, наперекор возможности.“ „Shenja aber weinte deshalb, weil sie sich an allem schuldig glaubte. Hatte sie ihn doch in das Leben der Familie eingeführt, an jenem Tag, als sie ihm, den sie jenseits des fremden Gartens bemerkt und den sie ohne Notwendigkeit, ohne Nutzen und ohne Sinn bemerkt hatte, auf Schritt und Tritt, ständig, unmittelbar und indirekt zu begegnen begann, und, wie es beim letzten Mal geschah, sogar jeder Wahrscheinlichkeit zum Trotz.“ Ebd., 85 (Shenja Lüvers’ Kindheit, 134, Hervorhebung in der Übers.). Fiona Björling sieht Ženjas erwachtes Verantwortungsgefühl vor allem darin, dass sie ihre Weiblichkeit an- und ihr dereinstiges Muttersein vorwegnimmt, nachdem sie symbolisch zur Mörderin ihres ungeborenen Bruders geworden ist. So ließe sich auch plausibel erklären, weshalb sie erst hier die große Ähnlichkeit zwischen sich und ihrer Mutter entdeckt. Björling: „Child Perspective“, 149. 45 Detstvo Ljuvers, 79. 46 Greber liest die Annäherung an den Fremden Cvetkov als Umkehrung von Nietzsches polemischem Begriff der „Fernstenliebe“. Greber, Erika: Intertextualität und Interpretierbarkeit des Texts. Zur frühen Prosa Boris Pasternaks. München 1989, 73–77.

Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse

225

Die Abdunkelung der Welt wird dadurch nicht aufgehoben. Ženja ist am Ende kein aufgeklärteres, mit hellerem Bewusstsein begabtes Wesen. Ihre Entwicklung liegt darin, dass sie sich bewusst für das Nichtbewusste, gegen die instrumentelle Rationalität entscheidet, so wie Pasternak selbst sich bewusst für das „vegetative Denken“ (mit dem Ausdruck aus Ochrannaja gramota) entschieden hatte, als er 1912 Marburg und damit den Neukantianismus verließ.47 Im Fazit von Detstvo Ljuvers wird eigens betont, dass der tiefe Eindruck, den die Begegnung mit einem ihr im Grunde gleichgültigen Menschen hervorrief, außerhalb von Ženjas Bewusstsein liege: Впечатление, скрывавшееся за всем, было неизгладимо. Оно отличалось большею, чем он [репетитор] думал, глубиной… Оно лежало вне ведения девочки, потому что было жизненно важно и значительно, и значение его заключалось в том, что в ее жизнь впервые вошел другой человек, третье лицо, совершенно безразличное, без имени или со случайным, не вызывающее ненависти и не вселяющее любви, но то, которое имеют в виду заповеди, обращаясь к именам и сознаниям, когда говорят: не убий, не крадь и все прочее. «Не делай ты, особенный и живой, – говорят они – этому, туманному и общему, того, чего себе, особенному и живому, не желаешь».48 Der Eindruck, der sich hinter all dem verbarg, war unauslöschlich. Er zeichnete sich durch größere Tiefe aus, als er [der Repetitor] glaubte… Er [der Eindruck] lag jenseits der Verfügbarkeit des Mädchens, weil er lebenswichtig und bedeutend war, und seine Bedeutung lag darin, daß zum ersten Mal ein anderer Mensch in ihr Leben trat, ein völlig gleichgültiger Dritter ohne oder mit einem zufälligen Namen, der weder Haß hervorrief noch Liebe einflößte, sondern das, was die Gebote meinen, wenn sie, an unseren Namen und unser Bewußtsein gewandt, sagen: Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, und all das andere. „Du, ein Besonderer und Lebendiger“, sprechen sie, „tue diesem Verschwommenen und Allgemeinen nicht an, was du dir, dem Besonderen und Lebendigen, selbst nicht wünschst.“49 47 Vgl. Gasparov: „Gradus ad Parnassum“, 95. Gasparov führt in diesem Zusammenhang einen Brief Pasternaks an Aleksandr Štich vom 6./19. Juli 1912 über die Professorenschaft von Marburg an: „Да, они не существуют; они не спрягаются в страдательном. Они не падают в творчестве. Это скоты интеллектуализма.“ „Ja, sie existieren nicht; sie lassen sich nicht im Passiv deklinieren. Sie fallen nicht im Schöpferischen. Das ist intellektualistisches Vieh.“ PSS, VII, 129. Für Pasternak besteht das Schöpferische darin, dass der Künstler sich „passiv deklinieren“ lässt. Philosophisch gesehen hat seine Abkehr von der Marburger Schule also mit der aktiven, verabsolutierenden Bewusstseinskonzeption bei Cohen zu tun, mit der Pasternaks Pathos der „passiven“ Erkenntnis unvereinbar blieb. Vgl. Flejšman: „Nakanune Poėzii, 382. – Smirnov und Döring gehen so weit anzunehmen, Pasternaks in Ochrannaja gramota dargestellte Reise von Marburg nach Berlin sei allegorisch als ‚Konversion‘ von Kant zu Schelling zu lesen (in Berlin hatte Schelling 1841/1842 seine Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung und die Idee der „Unvordenklichkeit des Seins“ gehalten). Smirnov, Igor/Döring-Smirnov, Johanna Renate: „Nachwort. Gesamtkunstwerk Doktor Shiwago“, in: Pasternak, Boris: Doktor Shiwago. Roman, aus dem Russischen von Thomas Reschke. Düsseldorf/ Zürich 1997, 739–764, hier 749. 48 Detstvo Ljuvers, 85 (Hervorhebungen im Orig.). 49 Shenja Lüvers’ Kindheit, 133/134.

226

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

Das Licht, das ihr zusammen mit den Tränen aufging, ist kein Licht der Durchdringung und Aneignung. Es ist ein Licht des Gewissens. Von der ‚Aufklärung‘ aber wird demonstrativ nur der Sentimentalismus mit seinem Kult der Tränen aktualisiert.50 Andernfalls könnte das Licht nach Pasternak gar nicht „lebenswichtig und bedeutsam“ geworden sein: Würde es sich um das ‚rationale‘ Licht handeln, so hätte gar keine Begegnung stattgefunden, sondern bestenfalls eine Modifikation des eigenen, in sich gefangenen Verstandes.51 Die Unbewusstheit des Mädchens, wenn man sie auf die Kunst bezieht, wie Pasternak es in früheren Varianten des Textes in noch höherem Maße tut, macht aus der Begegnung eine Allegorie für die „Unfreiheit“ der schöpferischen Einbildung, des in dieser Studie immer wieder erwähnten Hervorbringens durch Erleiden.52 Dabei nehmen die Parallelen zwischen Pasternak und Levinas, die sich zunächst auf bestimmte ästhetische Prämissen beschränkten, eine ethische Reichweite an. Ich schlage vor, den Schluss von Detstvo Ljuvers noch einmal im Lichte oder, diese Formulierung sei hier erlaubt, im Schat50 Vgl. dazu Soboth, Christian: „Tränen des Auges, Tränen des Herzens. Anatomien des Weinens in Pietismus, Aufklärung und Empfindsamkeit“, in: Helm, Jürgen/Stukenbrock, Karin (Hrsg.): Anatomie. Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2003, 293–315, hier 310. 51 Björling schreibt: „Ženja’s passage from child to woman is undertaken without knowledge. She has no understanding and is frightened by her first menstruation, her mother’s pregnancy etc. With physical maturity comes her ability to emphasize with the Other. This is her womanly equivalent to creativity. But the process takes place without self-understanding. Pasternak attributes to nature or life a design which must remain mysterious if it is to work.“ „Blind leaps of passion“, 137/138. Zu Ženjas Nicht-Erkennen des ‚Anderen‘ Cvetkov auch Han [Chan], Anna: „Ot vnešnej do vnutrennej perspektivy vídenija: analiz povesti Borisa Pasternaka ‚Detstvo Ljuvers‘“ [2005], in: Pasternakovskij sbornik. Stat’i i publikacii. I. Moskva 2011, 29–57, hier 57. Zur Rolle unbewusster Selbstaufgabe in religiösen Konversionen vgl. James: The Varieties of Religious Experience, 169–177. 52 Vgl. die verworfene, weil offenbar zu explizit sophiologisch-spekulative Stelle: „Воображение девочки было космогонично фатально. Оно было крепостной, подневольной частью ее духа, потому что когда с человеком вместе вновь собирается мир из своих частей и составов, то, как и в тот немыслимый, мифически – первый раз, так и в этот, у строящегося мира, а с тем вместе и у человека опять никакой своей воли нет. Он весь опять – в свежей, как бы дебютирующей вновь среди хаоса, увлеченно-упорной и вдохновенно-уверенной воле Божьей.“ „Die Vorstellungskraft des Mädchens war kosmogonisch fatal. Sie [die Einbildungskraft] war ein gefangener, unfreier Teil ihres Geistes, weil, wenn zusammen mit einem Menschen die Welt sich neu aus ihren Teilen und Bestandteilen sammelt, dann, wie bei jenem unvordenklichen, mythischen ersten Mal, so auch in diesem, die erbauende Welt und damit auch der Mensch wieder nicht die geringste Entscheidungsfreiheit hat. Sie ist wieder ganz in der frischen, sozusagen neu im Chaos debütierenden, abstrakt-nachdrücklichen und inspiriert-versicherten göttlichen Verfügungsgewalt.“ Frühe Fassungen von Detstvo Ljuvers, PSS, III, 515 (Hervorhebungen im Orig.). Die sophiologischen Verweise der Stelle beziehen sich auf Sprichwörter 8, 30, und Weisheit 7, 27.

Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse

227

ten von Levinas’ bekanntestem Text, Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, zu lesen.53 Die parallele Grundfigur ist folgende: Die einzige Transzendenz, die nie in den Solipsismus der Totalität umschlägt, liegt in der Beziehung zum Anderen. Das „Selbe“ kann über den Anderen nie ganz verfügen, er bleibt ihm stets noch unendlich fremd. Es kann mit ihm nie eine bruchlose Totalität eingehen – der Andere wird von ihm nie ganz aufgehellt werden.54 In Ženjas Leben tritt zum ersten Mal ein Anderer, der als Anderer aber „nebulös und allgemein“ bleibt, und sie wird von ihm geistig gefangen genommen. Er verfolgt sie „auf Schritt und Tritt“. Ein derartiger Freiheitsverlust durch Begegnung ist nach Levinas nachgerade die Definition des Ethischen. Der französisch-litauische Philosoph hat immer wieder gegen Hermann Cohen und Martin Buber darauf insistiert, dass eine Ich-Du-Beziehung nichts Symmetrisches sei. Nicht bloß zur Provokation hat Levinas die „Verfolgung“ (persécution) zu einem zentralen Begriff seiner Ethik gemacht.55 Sehr Ähnliches lässt sich über Pasternaks Ethik in Detstvo Ljuvers sagen. Wäre der Andere nicht allein durch seine Erscheinung irgendwie übermächtig und für Ženjas Bewusstsein unkontrollierbar, so wäre er kein Anderer mehr. Cvetkov ist schwach (er hinkt56), er ist vom Tod bedroht (gerät wegen seines Gebrechens in einen Unfall). Umso mehr geht von ihm eine Stimme aus, ein „Gebot“, wie der Erzähler schreibt. Genau in diesem Sinne sagte Levinas, gleichsam den Schlusskommentar von Detstvo Ljuvers weiterführend, in einem Interview: Le « visage » dans sa nudité est la faiblesse d’un être unique exposé à la mort, mais en même temps l’énoncé d’un impératif qui m’oblige à ne pas le laisser seul. Cette obligation, c’est la première parole de Dieu. […] La divinité de Dieu se joue dans l’humain. Dieu descend dans le « visage » de l’autre. Reconnaître Dieu, c’est entendre son commandement : « Tu ne tueras point » qui n’est pas seulement l’interdit de l’assassinat mais est appel à une responsabilité

53 Greber diskutiert in diesem Zusammenhang Hermann Cohens Philosophie des „anderen Menschen“ und erwähnt en passant Levinas. Greber: Intertextualität und Interpretierbarkeit des Texts, 90–92, 99. Zu Cohens Einfluss auf Levinas vgl. Batnitzky: „An Irrationalist Rationalism: Levinas’s Transformation of Hermann Cohen“, 75. Levinas, so Batnitzky, nennt Cohen explizit allerdings nur einziges Mal. 54 Lévinas, Emmanuel: Totalité et infini. Essai sur l’extériorité. Deuxième édition. La Haye 1965, 14. 55 Vgl. Batnitzky: „An Irrationalist Rationalism: Levinas’s Transformation of Hermann Cohen“, 87. 56 Man darf nicht vergessen, dass dieses Gebrechen auch eine persönliche Signatur Pasternaks ist, der seit seinem Reitunfall in der Kindheit hinkte. Vgl. Raevsky-Hughes, Olga: „O samoubijstve Majakovskogo v Ochrannoj gramote Pasternaka“, 146. Wenn also Ženja das ideale Medium von Pasternaks Dichtungsverständnis ist, so wäre Cvetkov ein ambivalentes Selbstporträt von Pasternak selbst, der durch seine Aufopferung – als solche verstand er den Sturz vom Pferd – das Schattenwesen Ženja erleuchtet, ohne es deswegen ‚aufzuklären‘.

228

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

incessante à l’égard d’autrui – être unique – comme si j’étais élu à cette responsabilité qui me donne, à moi aussi, la possibilité de me reconnaître unique, irremplaçable et de dire « je ».57

Wie in Pasternaks Text erwachsen das Verantwortungsgefühl und die einzige Möglichkeit, zu sich selbst zu kommen, aus der Begegnung mit dem Anderen. Bemerkenswert ist, dass letztere in beiden Fällen über die Rede (discours) – und nicht den lichten Logos – vermittelt wird.58 Die Erscheinungsform des Anderen ist nach Levinas sogar dann die Rede, wenn dieser Andere sprachlos ist, wie der hinkende Außenstehende bei Pasternak. Levinas schreibt: „Le prochain me frappe avant de me frapper comme si je l’avais entendu avant qu’il ne parle.“59 Dazu passt eine Beobachtung Peter Alberg Jensens. Er verbindet Detstvo Ljuvers mit folgender Stelle über das Wesen der Prosa aus Pasternaks „Neskol’ko položenij“: „Чутьем, по своей одухотворенности, проза ищет и находит человека в категории речи, а если век его лишен, то на память воссоздает его, и подкидывает, и потом, для блага человечества, делает вид, что нашла его среди современности.“60 „Mit dem Gespür, dank ihrer Beseeltheit, sucht und findet die Prosa den Menschen in der Kategorie der Rede, und wenn er [der Mensch] der Epoche fehlt, erschafft sie ihn dem Gedächtnis neu, schiebt ihn unter, und tut zum Wohle der Menschheit so, als habe sie ihn in der Mitwelt gefunden.“ Jensen zeigt, dass das Auftauchen des Fremden in der Povest’ tatsächlich in allen Aspekten mit Texten verbunden ist, so auch und vor allem der programmatische Kommentar am Schluss, in dem es heißt, der Fremde trete in Ženjas Leben wie die „Stimme“ der Zehn Gebote.61 Man kann natürlich fragen, inwiefern die Lektüre von Lermontovs Demon, Hans Christian Andersens Märchen einerseits und andererseits die Zehn Gebote gemeinsam als der „Kategorie der Rede“ zugehörig betrachtet werden können. Durchaus denkbar ist eine solche Klammer dann, wenn man eine Tendenz von der Kunst zur Ethik annimmt, genauer, von der Kunst als symbolischer Opferung (des Außenstehenden62) hin zum Anspruch, dass die dargestellte Begegnung mehr 57 Lévinas, Emmanuel: „De l’utilité des insomnies (Entretien avec Bertrand Révillon)“, in: ders.: Les imprévus de l’histoire, 199–202, hier 201/202. Levinas spricht auch von der „révélation du tiers“. Totalité et infini, 282. 58 Ebd., 10. Vgl. dazu das Unterkapitel „Ethics as Language“ in Eskin: Ethics and Dialogue, 32– 39. 59 Lévinas, Emmanuel: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. La Haye 1974, 112. 60 „Neskol’ko položenij“, 26 („Einige Grundsätze“, 570). 61 Jensen: „Ot Liriki k Istorii“, 298–300. 62 Vgl. zum Tod Cvetkovs als Bedingung für die „Geburt der Prosa“ Glazov-Corrigan, Elena: „A Reappraisal of Shakespeare’s Hamlet: In Defense of Pasternak’s Doctor Zhivago“, in: Forum for Modern Language Studies XXVI, 4 (1990), 219–238, hier 235. Glazov-Corrigan beobachtet in Detstvo Ljuvers eine Bewegung von metonymischen Berührungsketten hin zu metaphorischen Strukturen und damit eine „emergence of cosciousness“. Glazov-Corrigan, Art af-

Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse

229

als Fiktion sei oder, mit dem Ausdruck, den Pasternak 1921 anlässlich von Detstvo Ljuvers verwendete: mehr als künstlerische „Hypnose“. Exakt an diesem anvisierten Übergang leuchtet das Licht auf, in einem fiktiven Rahmen zwar, aber doch mit unbestreitbarer Evidenz, da er durch die Abdunkelung minuziös vorbereitet und durch Ženjas Leiden ‚getragen‘ wird. So wird von neuem das Problem der Sophiologie als Medium der Kunst aufgeworfen. Es gibt in Pasternaks Ästhetik und Poetologie der Abdunkelung unbestreitbar eine gewisse Notwendigkeit der Versündigung in den Sophienfiguren (hier mit Ženja Ljuvers, später in noch höherem Maße mit Lara Antipova) und insofern, wie von Erika Greber festgestellt, eine „gnostische“ Tendenz,63 die vor allem auf Vladimir Solov’evs und Aleksandr Bloks Sophiologie und deren Vorbild, die Valentinianische Gnosis64, zurückzuführen ist. So heißt es in einer früheren Fassung von Detstvo Ljuvers, das Mädchen fühle sich in der „[н]евылазность существованья“ / „Unentrinnbarkeit der Existenz“ eingesperrt.65 Freilich werden, wie ich mit meiner Lektüre zeigen möchte, aus den gnostischen Motiven letztlich anti-gnostische Konsequenzen gezogen: Der Ausweg aus dem poetisch formulierten Problem der Gefallenheit ist keine erlösende Erkenntnis (γνώσις), Anwendung eines geheimen Wissens oder ein „Vordringen“, wie es an derselben Stelle über Ženjas Bruder heißt66, sondern die Verabsolutierung einer im Grunde erkenntnislosen Begegnung zum ethischen Selbstzweck.67 Für eine solche Sicht spricht außerdem, dass Ženja sich am Schluss weigert, mit dem Hauslehrer weiter den dämonischen Lermontov zu lesen.

63

64

65 66

67

ter Philosophy, 10. Dabei darf nicht vergessen werden, dass in dem Text die Nicht-Bewusstheit das letzte Wort hat. Vgl. dazu Paramonovs Beobachtung, dass die gewalttätige Erniedrigung und das Bluten bei Pasternak zur Existenz der Frau notwendig dazugehöre, dass andererseits aber ebendiese Gewalt immer wieder als Hauptmotiv für die sozialistische Revolution und deren moralische Rechtfertigung angegeben wird. Paramonov: „Pasternak protiv romantizma“, 20/21. Zum Eingesperrtsein der gefallenen Sophia und ihrer Trauer über die Dunkelheit und Leere im Mythos der Valentinianischen Gnosis vgl. Jonas, Hans: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Christian Wiese. Frankfurt a. M. 1999, 225–227. Frühe Fassungen von Detstvo Ljuvers, PSS, III, 515 (Hervorhebung im Orig.). „Для мальчика тайна была словом, которым он злоутреблял и под которым понимал заманчивость, позыв к действиям и разоблаченьям. […] Для мальчика тайна была тем местом, куда надо залезть.“ „Für den Knaben war ‚Geheimnis‘ ein Wort, das er missbrauchte und unter dem er etwas Trügerisches verstand, eine Aufforderung zu Handlungen und Entlarvungen. […] Für den Knaben war das Geheimnis jener Ort, in den man hineinkriechen musste.“ Ebd. Das gilt später ganz ähnlich für Laras Begegnung mit Doktor Živago. Vgl. Smirnov, Igor’: „Misterija vstreči v ‚Doktore Živago‘“, in: ders.: Tekstomachija. Kak literatura otzyvaetsja na filosofiju. Sankt-Peterburg 2010, 151–163, hier 163. Boris Gasparov hatte bereits in den achtziger Jahren von einer verschwiegenen/schweigsamen Kommunikation gesprochen, die im Roman Doktor Živago transportiert werde. Gasparov, Boris: „Vremennoj kontrapunkt kak

230

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

Mit der „Stimme“ der Gebote bei Pasternak steht Levinas’ Ansicht im Einklang, dass der Andere dem Selben als sprachliche Mitteilung, als „Unterweisung“ gegenübertrete.68 Sprachlich verfasst sind nach Levinas selbst stumme Gesten des Anderen. Das „Hören“ der Unterweisung durch die „gebietende“ Rede des Anderen unterscheidet er von einer beobachtend-objektivierenden Rekonstruktion des Anderen und seines Verhaltens.69 Dies wiederum entspricht der in Detstvo Ljuvers entfalteten Sicht, wonach der vom Fremden hervorgerufene Eindruck unbewusst habe bleiben müssen, um „lebenswichtig und bedeutsam zu werden“. Das einzige Bewusstsein, das der Erzähler Ženja und sich zugesteht, ist jenes der eigenen Schuld vor dem Anderen. Das – schuldlose – Licht muss als unbewusste Grundierung im Hintergrund bleiben. Man könnte es so sagen: Von der Bedeutung gibt es bei Pasternak keine Wissenschaft.70 In diesem Punkt weicht die Anlage von Detstvo Ljuvers merklich von der klassischen Phänomenologie ab. Und in Levinas’ kritischer Weiterführung der Husserlschen Phänomenologie ist nicht von ungefähr die Theorie der Bedeutung ein entscheidender Streitpunkt: Bedeutung werde, so Levinas, nicht intentional im Rahmen eines „Horizontes“ konstituiert, sondern sie werde „gesagt“ (dite).71 Man kann insofern Boris Gasparov Recht geben, wenn er schreibt, Cohens „abstrakter Universalismus“ des Denkens sei für Pasternak selbst nach seinem Abschied von der Philosophie wichtiger und prägender geblieben als Husserls phänomenologischer Antipsychologismus. Denn Cohens „reines Wissen“ verdankt sich keiner subjektiven Aktivität, es ist intentionslos und quasi frei schwebend, während Husserls Methode stets in höchstem Maße die subjektive Konstitution eines Horizontes impliziert.72

68 69 70 71

72

formoobrazujuščij princip romana Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, in: Fleishman: Pasternak and His Times, 315–358, hier 340. „Le visage est une présence vivante, il est expression. La vie de l’expression consiste à défaire la forme où l’étant, s’exposant comme thème, se dissimule par là même. Le visage parle. La manifestation du visage est déjà discours.“ Lévinas: Totalité et infini, 37. Ebd., 38/39. Vgl. dazu McCaffery: „The Scandal of Sincerity. Toward a Levinasian Poetics“, 211: „[…] Levinasian language […] is not a system of signs. For Levinas, all semiotic systems are dependent and secondary.“ Lévinas: Totalité et infini, 37. Vgl. auch ebd., 38: „[La signification] est, par excellence, la présence de l’extériorité.“ Vgl. zur Abgrenzung des Levinasschen Denkens von der phänomenologischen Konstitution Tischner, Józef: Spór o istnienie człowieka. Kraków 1998, 253. Sehr nah an Pasternaks Position ist hingegen die modifizierte Phänomenologie Gustav Špets, seines einstigen Professors an der Moskauer Universität. Špet kritisierte das transzendentale Ich in Husserls Theorie und postulierte ein „ichlose[s]“, „eigentümerlose[s]“ Bewusstsein. Vgl. Groys: „Špet und die Entsubjektivierung des Bewußtseins in der russischen Philosophie“, 123, 126/127. Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 33/34.

Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse

231

Die Levinas-Lektüre trägt nicht lediglich zur näheren Einkreisung der bisher in der Pasternak-Literatur noch zu wenig beachteten Abdunkelung bei. Sie hilft ganz konkret, das unscheinbare Aufleuchten am Ende von Detstvo Ljuvers zu konzeptualisieren, nämlich nicht als „Aufklärung“, sondern als Aufleuchten von Gewissen, Verantwortung, Verfolgtsein. Die Unterschiede sollen hier gleichwohl nicht eingeebnet werden: Bei Pasternak steht das Licht nie nur für den Solipsismus der Vernunft. In der gegenseitigen Durchdringung mit dem Element Wasser – sei es mit dem ‚kosmischen‘ Regen, sei es mit den ‚ethischen‘ Tränen – traut Pasternak dem Licht zu, die Einheit des Lebens in gewissen Augenblicken epiphanisch aufscheinen zu lassen. Seine postsymbolistische Sophiologie, wie sie sich im Realsymbol des Licht-Regens zeigt, markiert eine unaufhebbare Differenz zu Levinas’ Denken der Exteriorität. Das gilt auch für das Mitleid: Bei Pasternak einer der zentralen Begriffe der Poetologie, hat Mitleid bei dem französischen Philosophen keinen Platz, da es für ihn noch immer eine souveräne Handlung und damit im Grunde der Versuch wäre, Transzendenz durch Totalität zu ersetzen.73

Erzwungener Licht-Regen: „Pis’ma iz Tuly“ Was in Detstvo Ljuvers mit der Religiosität des Gewissens anklingt, steht in der anderen Erzählung aus dem Jahr 1918, „Pis’ma iz Tuly“, ganz im Zentrum: die Referenz an Lev Tolstoj.74 Der Held dieser Erzählung schreibt am Bahnhof von Tula Briefe an seine Geliebte. Während er eine Truppe von „schamlosen“, affektierten Schauspielern beobachtet, die sich für die Dreharbeiten zu einem Film in Tula aufhält, wird ihm auf einmal bewusst, dass er sich „на территории совести“75 / „auf dem Territorium des Gewissens“ befindet, unweit von dem Landgut Jasnaja Poljana, das auch knapp ein Jahrzehnt nach Tolstojs Tod die „магнитные стрелки“76 / „,ma73 Levinas stellt die Sprache, wohlgemerkt, höher als die Kunst (die Kunst gleicht er in Totalité et infini der Wissenschaft an!): „L’œuvre du langage est tout autre : elle consiste à entrer en rapport avec une nudité dégagée de toute forme, mais ayant un sens par elle-même, […] signifiant avant que nous ne projetions la lumière sur elle, n’apparaissant pas comme privation sur le fond d’une ambivalence de valeurs – (comme bien ou mal, comme beauté ou laideur) – mais comme valeur toujours positive.“ Totalité et infini, 47 (erste Hervorhebung von mir – Ch. Z., zweite im Orig.). 74 Während Pasternak Tolstoj in seinem Frühwerk als Korrektiv gegen den Modernismus (Symbolismus und Avantgarde) verwendete, wurde er für ihn in der sowjetischen Literaturpolitik der 1930er Jahre zu einem Symbol des Nonkonformismus. Vgl. Aucouturier, Michel: „Pasternak témoin de l’actualité de Tolstoï“, in: Tolstoï aujourd’hui. Colloque international Tolstoï tenu à Paris du 10 au 13 octobre 1978, à l’occasion du cent-cinquantième anniversaire de la naissance de Léon Tolstoï. Paris 1980, 277–284, hier 280. 75 „Pis’ma iz Tuly“, 29 (Hervorhebung im Orig.). 76 Ebd., 29.

232

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

gnetischen Pfeile“ von dessen Leben, Werk und Sittlichkeit aussende. Verglichen mit Detstvo Ljuvers, fällt in „Pis’ma iz Tuly“ zum einen die starke Verräumlichung oder eben Territorialisierung des Gewissens auf, zum andern seine russisch-nationale Definition: „Была ночь на всем протяжении сырой русской совести.“77 „Das Dunkel der Nacht lag über dem ganzen Bereich des unfertigen [feuchten] russischen Gewissens.“ Während das Gewissen in Ženja Ljuvers eine sehr schwache und unsichere Situierung hat, wird es in „Pis’ma iz Tuly“ vermessen wie ein Landgut. Gleichwohl ist das Ringen um Exteriorität, wie ich es mit Levinas beschrieben habe,78 auch in „Pis’ma iz Tuly“ ein Hauptmoment. Den zweiten, allerdings nicht abgeschickten Brief an seine Geliebte schreibt der Held in der dritten Person, um zu verdeutlichen, dass er in den schamlosen Schauspielern in Wahrheit sich selbst beobachtet: „[…] «поэт» наблюдает себя на безобразничающих актерах […].“79 „[…] der ‚Dichter‘ beobachtet sich selbst in den herumflegelnden Schauspielern […].“ Doch die Modifizierung der Perspektive – die in Detstvo Ljuvers durch den mehr oder weniger realen, mehr oder weniger unwahrscheinlichen Eintritt einer „dritten Person“ zustande kommt – scheint hier auf die Grammatik, d.h. auf die Sprachkunst beschränkt und wirkungslos zu bleiben. Am schlechten („fauligen“) Gewissen ändert sich nichts: „Ничто не изменилось на всем пространстве совести, пока писались эти строки. От нее несло гнилостностью и глиной.“80 „Nichts hatte sich geändert auf dem ganzen Gefilde des Gewissens, während diese Zeilen geschrieben wurden. Es wehte von ihm ein Geruch nach Fäulnis und Lehm.“ Der Unterschied zum Erscheinen der dritten Person in Detstvo Ljuvers ist evident: Es liegt anders als im Fall von Ženja nicht „außerhalb des Wissens“. Der Held ist aktiv darum bemüht, es hervorzubringen. Es fehlt also der unwahrscheinliche Geschenkcharakter. So sehr er sich anstrengt, gut zu tun, bleibt ihm diese Gabe doch verweigert. Er ist derart darauf fixiert, dass er sogar vergisst, an wen er eigentlich schreibt: Он думал о своем искусстве и о том, как ему выйти на правильную дорогу. Он забыл, с кем ехал, кого проводил, кому писал. Он предположил, что все начнется, когда он перестанет слышать себя и в душе настанет полная физическая тишина. Не ибсеновская, но акустическая.“81 Er dachte über seine Kunst nach und darüber, wie er den richtigen Weg finden sollte. Er vergaß, mit wem er gefahren war, wen er verabschiedet hatte. Er nahm an, daß alles beginnen 77 Ebd., 30 („Briefe aus Tula“ [übers. v. Hans Loose und Oskar Törne], in: Pasternak: Prosa und Essays, 45–46, hier 41). 78 Glazov-Corrigan sieht in „Pis’ma iz Tuly“ eine Entwicklung von der kantischen Individualethik zu Hermann Cohens Philosophie des Nächsten oder Anderen. Vgl. Glazov-Corrigan: Art after Philosophy, 9. 79 „Pis’ma iz Tuly“, 29 („Briefe aus Tula“, 39). 80 „Pis’ma iz Tuly“, 30 („Briefe aus Tula“, 41). 81 „Pis’ma iz Tuly“, 30 (Hervorhebung im Orig.).

Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse

233

wird, wenn er sich selbst zu hören aufhört, und daß in seiner Seele vollständige physische Stille eintreten wird. Keine Ibsensche, sondern akustische Stille.82

Seine moralisch-ästhetische Reflexivität nimmt ihn derart ein, dass ihm der Andere, die Adressatin des Briefes, unwirklich wird. „Pis’ma iz Tuly“ ist damit, so meine These, in erster Linie das Dokument einer scheiternden Rückbesinnung auf Tolstoj, was Evgenij Pasternaks einschlägiger Beitrag zum Thema, der Aufsatz „Novaja faza christianstva“ / „Eine neue Phase des Christentums“, nicht vermuten lässt. Er zeigt anhand zahlreicher Textbelege, dass Tolstoj in Pasternaks künstlerischer Biographie das geistige Vorbild war. Eine parallele Lektüre von Detstvo Ljuvers und „Pis’ma iz Tuly“ zeigt nun klar, dass Moral für Pasternak etwas Nicht-Bewusstes sein muss, um befreiend zu wirken. In diesem Punkt bleibt sein (Kunst-)Denken mit Tolstojs voluntaristischer Moral letztlich unvereinbar.83 Was dem jungen Dichter in „Pis’ma iz Tuly“ fehlt, ist ein Licht-Regen im gnadenhaften Sinne von Sestra moja – žizn’ oder auch in seiner ethischen Gestalt von Detstvo Ljuvers. Die territoriale Sichtweise, könnte man mit Jankélévitch sagen, ist zu einseitig, um überhaupt eine Gelegenheit für ein solches Zusammentreffen zuzulassen. Das Problem ist aber nicht allein, dass die befreienden Tränen ausbleiben. Ebenso wenig hat er einen Sinn für das Licht, denn sein Element ist das Feuer. Entsprechend stellt er sich das Gewissen in seinen Briefen als etwas „Versengendes“ vor: Терзай, терзай меня, ночь, не все еще, пали дотла, гори, гори ясно, светло, прорвавшее засыпь, забытое, гневное огненное слово “совесть”. (Под ним черта, продравшая местами бумагу.) О, гори, бешеный нефтяной язык, озаривший полночи. Завелся такой пошиб в жизни, отчего не стало на земле положений, где бы мог человек согреть душу огнем стыда; стыд подмок повсеместно и не горит. Ложь и путаное беспутство. Так тридцать уже лет живут и мочут стыд все необыкновенные, стар и мал, и уже перекинулось на мир, на безвестных. В первый, в первый раз с далеких детских лет я сгораю (зачеркнуто все)».84 Peinige mich, peinige mich, Nacht, nicht genug, versenge mich zu Asche, brenne, brenne hell und klar, aus dem Schutt hervorgebrochenes, vergessenes, zorniges, feuriges Wort ‚Gewissen‘“ (unterstrichen, so daß stellenweise das Papier zerrissen ist) „Oh, brenne, lodernde Zunge aus Öl, die du die Sohle der Nacht erhellt hast.

82 „Briefe aus Tula“, 42, modifiziert. 83 Dabei darf nicht vergessen werden, dass es bei Tolstoj den Aspekt der unbewussten Wahl des richtigen Weges auch gibt. Doch von seiner Rationalismuskritik gelangte Tolstoj, so Aucouturier, nicht zu einem „personalen Symbolismus“ (wie Pasternak in Detstvo Ljuvers), sondern zu einem „moralischen Allegorismus“, dem es aus Pasternaks Perspektive an einem passiven, gnadenbedürftigen Moment mangele. Vgl. Aucouturier: „Pasternak témoin de l’actualité de Tolstoï“, 282/283. 84 „Pis’ma iz Tuly“, 28.

234

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

Es hat sich eine Art zu leben breitgemacht, die auf der Erde keinen Platz mehr läßt, wo der Mensch seine Seele am Feuer der Scham wärmen könnte; die Scham ist durch und durch feucht geworden, und sie brennt nicht. Lüge und verworrene Zügellosigkeit. So leben sie nun schon dreißig Jahre lang, alle die Nichtgewöhnlichen, und wahren nicht ihre Scham, alt und jung, und schon hat es auf die große Gemeinde übergegriffen, auf die Namenlosen. Zum erstenmal seit den fernen Jahren der Kindheit brenne ich“ (alles durchgestrichen)85

In seiner Unruhe schwebt ihm vor, die in der Dekadenzkultur „feucht“ gewordene Schamhaftigkeit mit dem Feuer seines brennenden Gewissens zu erretten.86 Das Modell von Detstvo Ljuvers, nach dem das erwachende Gewissen und die intakte Scham in Tränen zum Ausdruck kommen, wird von dem jungen Dichter genau umgedreht. Er ist insofern eine allzu-voluntaristische Gegenfigur zur passiv-aktiven Ženja Ljuvers. Den Übergang zu einer glückenden Verbindung von Licht (hier dem Gewissen) und Wasser (dem Element ,Leben‘87) bildet eine Stelle, an der sich die Erzählung vom erhitzten Briefschreiber abwendet: „Так он думал. По телу его пробежала дрожь. Серел восток, и на лицо всей, еще в глубокую ночь погруженной совести выпадала быстрая, растерянная роса. Пора было подумать о билете.“88 „So dachte er. Seinen Körper überlief ein Frösteln. Der Osten graute, und auf das Gesicht des ganzen, noch in tiefer Nacht versunkenen Gewissens trat rascher, zerfahrener Tau. Es war Zeit, an die Fahrkarte zu denken.“ Nachdem das Gewis85 „Briefe aus Tula“, 39, modifiziert. 86 In der Kritik an den schamlosen Schauspielern spiegelt sich nach Larissa Rudova (Understanding Pasternak. South Carolina 1997, 51/52) Pasternaks Unbehagen an der futuristischen Boheme und seine Einflussangst in Bezug auf den ‚Romantiker‘ Majakovskij. Falls eine solche Anspielung auf Majakovskij in „Pis’ma iz Tuly“ tatsächlich gegeben ist, so hat Pasternak diese in Ochrannaja gramota teilweise widerrufen: „[…] пружиной его [Маяковского] беззастенчивости была дикая застенчивость, а под его притворной волей крылось феноменально мнительное и склонное к беспричинной угрюмости безволье. […] никто, как он, не знал всей пошлости самородного огня, не разъяряемого исподволь холодною водой, и того, что страсти, достаточной для продолженья рода, для творчества недостаточно […].“ „[…] die Triebfeder seiner [von Majakovskijs] Unverschämtheit [war] eine ungeheure Verschämtheit, und unter seiner vorgespiegelten Willensstärke verbarg sich eine phänomenal misstrauische und zu grundloser Verdüsterung geneigte Willenlosigkeit. […] niemand kannte wie er die ganze Banalität urwüchsigen Feuers, das nicht mit kaltem Wasser nach und nach in Wut zu bringen war, und niemand wußte wie er, daß eine Leidenschaft, ausreichend zur Fortpflanzung der Gattung, nicht ausreicht für das Werk […].“ Ochrannaja gramota, 216 (Der Schutzbrief, 331/332). Moralisch steht Majakovskij nach diesem Kommentar sowohl über den Schauspielern wie auch über dem Tolstoj-Adepten, der unfähig ist, sein inneres „Feuer“ mit dem wirklichen Leben irgendwie reagieren zu lassen. 87 Vermittelt über Vikentij Veresaevs bergsonistische Tolstoj-Lektüre in Živaja žizn’, war Tolstoj durchaus auch ein Gewährsmann für den Vitalismus. Vgl. Aucouturier: „Pasternak témoin de l’actualité de Tolstoï“, 281. 88 „Pis’ma iz Tuly“, 30 („Briefe aus Tula“, 42).

Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse

235

sen zuerst mit der russischen Erde, dann mit dem inneren Feuer eines zweifelnden Intellektuellen identifiziert wurde, fallen dem Dichter nun beiläufig plötzlich Tautropfen auf das Gewissen. Erst als er an Äußerliches (an seine Fahrkarte) zu denken beginnt, scheinen die Stränge des Lebens von selbst ineinander zu greifen und ein „Gesicht“ herauszubilden.89 Zu der aus Detstvo Ljuvers bekannten Form des Licht-Regens kommt es im zweiten Teil von „Pis’ma iz Tuly“. Ein alter Schauspieler sitzt, während der junge Dichter abreist, in der Nähe in einem Hotelzimmer, ratlos über die Schauspieler, die er wie der junge Dichter den Tag über beobachtet hat. Doch anders als dieser reagiert er nicht mit Empörung – und sein Versuch, aus sich herauszutreten, scheint zu glücken. In seiner „потребность в трагической человеческой речи“90 / seinem „Verlangen nach tragischer menschlicher Rede“ beginnt er im Licht einer Kerze seine verstorbene Frau schauspielerisch darzustellen und mit ihrer Stimme zu sprechen: „Старик встал. Он преобразился. […] Вдруг он выпрямился и бодро прошелся назад, не своим, чужим шагом. По-видимому, он играл.“91 „Der Greis stand auf. Er war verwandelt. […] Plötzlich richtete er sich auf und schlenderte zurück, rüstig, mit einem Schritt, der ihm nicht eigen war. Ganz offensichtlich, er spielte.“ Die authentische Schauspielkunst, hier die tragische Rede im Gegensatz zur ‚entleerten‘ Rede der Filmschauspieler, lässt ihn die Liebe zu seiner Frau noch einmal erleben. So postulathaft dieser Kontrast zwischen echter und unechter Kunst für sich genommen ist – durch das Licht-Regen-Arrangement wird er evident gemacht. Der Greis bricht angesichts der Szene, die er vor sich selbst aufführt,92 in Tränen aus. Für eine Stunde kann er die Vergangenheit im Weinen festhalten. Doch sobald der Fluss der Tränen versiegt ist und die Kerze auf dem Tisch einsam weiterbrennt, ist es um die Ganzheit der Erinnerung auch schon geschehen. Das Bild von der Jugend verschwindet spurlos, der alte Schauspieler legt sich ermattet schlafen: „Он в течение часа консервировал в слезах, как в спирту, свою молодость, и когда у него не стало слез, все распалось, унеслось, исчезло. Он сразу потускнел и будто запылился. И тогда, вздыхая, как виноватый, и позевывая, стал укладываться спать.“93 „Eine Stunde lang konservierte er in Tränen, wie in Spiritus, seine Jugend, und als er keine Tränen mehr hatte, fiel alles auseinander, verflog, verschwand. Er war mit Staub bedeckt. Und danach begann er, seufzend, wie ein Schuldiger, und gähnend sich zum Schlafen einzurichten.“ Den Tränen des alten Schauspielers ist 89 Boris Buchštab beschreibt die Verbindung von Tautropfen und Gewissen formalistisch als „овеществление“. Buchštab, Boris: „Pasternak. Kritičeskoe issledovanie“ [1928], in: ders.: Fet i drugie. Izbrannye raboty. Sankt-Peterburg 2000, 281–347, hier 342. 90 „Pis’ma iz Tuly“, 31. 91 Ebd., 32 („Briefe aus Tula“, 44/45). 92 „Это было уже слишком. Он увидал обоих. Ее и себя.“ „Das war bereits zuviel. Er sah die beiden vor sich. Sie und sich.“ „Pis’ma iz Tuly“, 32 („Briefe aus Tula“, 45). 93 „Pis’ma iz Tuly“, 33 („Briefe aus Tula“, 46).

236

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

ähnlich wie den Tränen Ženjas ein Kommentar des Autors beigestellt: „Он тоже, как главное лицо, искал физической тишины. В рассказе только он один нашел ее, заставив своими устами говорить постороннего.“94 „Auch er suchte, wie die Hauptperson [der junge Dichter], physische Stille. In der Erzählung ist er es allein, der sie fand, indem er einen Fremden durch seinen Mund sprechen ließ.“ Dem alten Schauspieler ist es gelungen, einen Licht-Regen zu erzwingen. Der Preis seiner Anstrengung ist das unmittelbar darauf folgende „Verstauben“.95 Ženjas Begegnung mit einem außenstehenden Menschen scheint, obwohl auch sie sich zum Schluss ausgeweint hat, doch die größere Wirkung zu entfalten. Denn sie hat ihn nicht bloß „durch ihre Lippen sprechen lassen“; sie hat als „Medium“96 zu einer höchst unwahrscheinlichen Begegnung beigetragen, zu einem, wie man sagen könnte, moralischen Ereignis. Sie hat sich nicht allein einer Sprache bedient (wie der Alte der tragischen Rede), sondern sich erleidend so verhalten, dass sie die Gebote oder, mit Levinas, die „Unterweisung“ durch ein Antlitz zum Sprechen brachte. Verglichen damit hat die Wende im zweiten Teil von „Pis’ma iz Tuly“ mehr von einem Rettungsversuch der Kunst. Der alte Schauspieler steckt sich mit seiner eigenen Kunst an. Er wendet die Tolstojsche Ästhetik der „Ansteckung“ (заражение)97 mit Erfolg auf sich selbst an und beweist so einerseits ihre Gültigkeit, andererseits ihre Begrenztheit: Er muss ohne Publikum spielen, um echt zu sein. Außerdem kann der flüchtige künstlerische Zustand nicht wirksam aufbewahrt werden. Was das Aufleuchten des ‚wahren‘ Lichts betrifft, wie es aus Tolstojs Texten bekannt ist,98 weist Pasternaks Position klar in eine andere Richtung. Bei Tolstoj ist das Aufleuchten mit Einsicht und bewusster Umkehr verbunden. Die Voraussetzung für gelingende Kunst ist für ihn daher eine untrügliche Scheidung von Gut und Böse. Ein Künstler kann noch so groß sein – nimmt er keine eindeutigen moralischen Distinktionen vor, ist sein Werk nach Tolstoj wertlos. Mit dieser Argumentation gelangt er zu seiner berühmt gewordenen Ablehnung Shakespeares.99 Bei Pasternak, 94 „Pis’ma iz Tuly“, 33 („Briefe aus Tula“, 46). 95 Vgl. das Verstauben der Trillerpfeife in „Svistki Milicionerov“ aus Sestra moja – žizn’, nachdem der (mikrokosmische) Licht-Regen erschöpft ist. 96 Jensen: „Ot Liriki k Istorii“, 281. 97 „Ansteckung“ ist der Grundbegriff, den Tolstoj in Čto takoe iskusstvo? (Was ist Kunst?, 1898) allen denkbaren Ansätzen von l’art pour l’art entgegenstellt. 98 Vgl. etwa Tolstojs Beicht-Text Ispoved’: „И сильнее чем когда-нибудь всё осветилось во мне и вокруг меня, и свет этот уже не покидал меня.“ „Und stärker als jemals zuvor wurde alles in mir und um mich herum erleuchtet, und dieses Licht hat mich nicht mehr verlassen.“ Tolstoj, Lev: Polnoe sobranie sočinenij, T. 23, 1–59, hier 46; sowie die Erzählung Smert’ Ivana Il’iča (Der Tod des Ivan Il’ič, 1886): „Вместо смерти был свет.“ „Anstelle des Todes war Licht.“ in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij, T. 26, 61–113, hier 113. 99 Vgl. ders.: „O Šekspire i o drame (kritičeskij očerk)“ [1904, publ. 1906], in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij, T. 35, 216–272, hier 272.

Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse

237

in dessen passiven Helden sich von frühesten Texten bis hin zu Doktor Živago die „бездейственность“100  / Tatenlosigkeit der Shakespeareschen Hamlet-Figur affirmativ als Opferbereitschaft fortschreibt, kann moralische Umkehr nur unbewusst stattfinden. Sie ist in seiner Poetologie auf die Gegenwart eines Licht-Regens angewiesen. Zwar wird der Moment und die Art und Weise dieses Zusammentreffens von Sonne/Kerzenlicht mit Regen/Tränen jeweils notwendigerweise vom Autor arrangiert. Allerdings ist der Dichter (oder Erzähler) in Pasternaks Verständnis ein im Grunde übersubjektiver „Anlass“ für die Freisetzung von Qualitäten – und damit für das unwahrscheinliche Aufeinandertreffen von Wirklichkeitsausschnitten.

Verkehrung des Licht-Regens: „Vozdušnye puti“ Eine dritte Variation der sophiologischen Text-, Wirklichkeits- und Liebesformel von Sestra moja – žizn’ findet sich in „Vozdušnye puti“ / „Luftwege“ von 1924 (publ. in Russkij sovremennik). In dieser Erzählung suchen eine Frau namens Lelja und ihr Mann zusammen mit einem Familienfreund, dem Marineoffizier Polivanov, in der Umgebung einer Datscha ihr vermeintlich verschollenes Kind Toša. Fünfzehn Jahre später, zur Zeit des Bürgerkriegs um 1920, sucht Lelja das Präsidium des örtlichen Sowjets in Petrograd auf, um sich nach Tošas Schicksal im Krieg zu erkundigen. Im zuständigen Funktionär erkennt sie Polivanov, ihren einstigen Geliebten und offenbar leiblichen Vater ihres Sohnes. Sie erfährt, dass Toša im Bürgerkrieg umgekommen ist, und fällt in Polivanovs Büro in Ohnmacht. Larissa Rudova hat beobachtet, dass in den ersten beiden, vor der Revolution spielenden Teilen von „Vozdušnye puti“ Licht und Helligkeit dominieren und dass sie im dritten Teil, nach der Revolution, in Finsternis umschlagen.101 Nach Rudova bezeichnet dieser Umschlag den Übergang von einer psychologischen zu einer äußeren Wirklichkeit, d.h. vom nur eingebildeten, befürchteten zum realen Verschwinden des Sohnes Toša. Allerdings stellt sich die Frage, was genau es für eine 100 Vgl. die ähnliche Tendenz bei Vygotskij, Lev: „Tragedija o Gamlete, prince Datskom U. Šekspira“, in: ders.: Psichologija iskusstva. Analiz ėstetičeskoj reakcii [1925]. 5 izdanie, zanovo sverennoe s originalom, ispravlennoe i dopolnennoe. Moskva 1997, 198–236. 101 „The change of spatial relations is achieved through changes in the imagery as the light and transparent colours of the first two parts of the story fade and darken. At the beginning the characters wear white clothes, the station is filled with ‘the bright splashing of skies and sails and sailor shirts’, the earth is covered by sparkling rain drops, the garden is washed by the white light, and the trees are painted white. In the third part, however, the palette is predominantly dark […]. What happens is the translation of a psychological reality into an external progression toward darkness in which the sense of direction disappears and normal temporal and spatial perceptions become distorted and confused.“ Rudova: Understanding Pasternak, 61/62.

238

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

Helligkeit war, die mit dem Krieg verloren ging. Denn eine einheitliche Semantik lässt sich diesbezüglich gar nicht ausmachen. Das strahlende Weiß der Sommerbekleidung der Suchenden im Umkreis der Datscha oder die im Garten befindliche weiße Malerfarbe stehen der Finsternis des dritten Teils nicht nach einem Modell von Potentialität und Aktualität gegenüber. Das sieht man in folgender Garten-Beschreibung aus dem ersten Teil: Но вот стало светать дружнее. Сад весь наполнился сырым белым светом. Тесней всего свет этот льнул к оштукатуренной стене, к усыпанным хрящом дорожкам и к стволам тех фруктовых деревьев, которые были обмазаны каким-то купоросным, беловатым, как известь, составом. И вот, с таким же мертвенным налетом на лице, по саду проплелась только что вернувшаяся с поля мать ребенка.102 Nun aber tagte [lichtete] es allenthalben. Den ganzen Garten füllte feuchtes weißes Licht. Am engsten schmiegte sich dieses Licht an die stuckverzierte Mauer, an die kiesbestreuten Wege und an die Stämme jener Obstbäume, die mit einer vitriolhaltigen, kalkähnlich weißlichen Masse bestrichen worden waren. Und das Gesicht ebenso totenweiß überhaucht, schleppte sich dann, von den Fluren eben zurückgekehrt, die Mutter des Kindes durch den Garten.103

Offensichtlich werden hier zwei verschiedene Arten von Weiß unterschieden. Das eine ist das mit Feuchtigkeit „erfüllte“ Weiß der Dämmerung, das andere jenes der geweißten Baumstämme, denen sich die Dämmerung ohne Wirkung annähert, da es wie das Gesicht der heraneilenden Mutter weiß wie der Tod ist. Was ist sein Mangel? Es ist zu ‚rein‘, es stößt sich von der Vermischung mit der Feuchtigkeit ab und kann deshalb nicht „дружнее“ / „freundlicher“ sein, anders als das weiße Leuchten der Dämmerung.104 In der Logik des Licht-Regens geschieht der Umschlag vom zweiten zum dritten Teil subtiler als von Rudova beschrieben: Nicht die unbestimmte Fläche der weißen Dinge aus den ersten beiden Teilen verfinstert sich im 102 „Vozdušnye puti“, PSS, III, 86–97, hier 91. 103 „Luftwege“ [übers. v. Werner Creutziger], in: Pasternak: Prosa und Essays, 146–163, hier 153, modifiziert. 104 Diese Semantik hatte das reine Weiß schon in Istorija odnoj kontroktavy (1916/1917). In den ersten beiden Teilen von „Vozdušnye puti“ gibt es übrigens auch „freundliche“, nicht-dämonische Dunkelheiten, so etwa die „Nacht aus Wasser“: „Когда, наконец, польет и обе пары рельсов полетят вдоль косых плетней, спасаясь от черной водяной ночи, спущенной на них; когда, бушующая, впопыхах она на бегу прокричит вам, чтобы вы ее не боялись, что ее зовут ливнем, любовью и еще как-то […].“ „Wenn dann endlich der Regen herabgestürzt ist und beide Gleispaare die schiefen Zäune entlang davongeschossen sind, fliehend von der schwarzen Wassernacht, die da auf sie niederbricht; wenn sie, die Tosende, Hastende, im Hasten euch zugerufen hat, ihr sollt sie nicht fürchten, sie heiße Regenguß, sie heiße Liebe und sonstwie […].“ „Vozdušnye puti“, 86/87 („Luftwege“, 147, modifiziert). Vgl. dazu das Gedicht „Dožd’“ mit dem Vers „Осанна тьме египетской!“ aus Sestra moja – žizn’.

Pasternaks Erzählungen und ihre Licht-Regen-Ereignisse

239

dritten Teil zum „абсолютный мрак“105 / zur „absoluten Finsternis“, sondern der in den ersten beiden Teilen nicht erblickte Licht-Regen (anders gesagt: das ignorierte Sophianische) kehrt im dritten Teil in pervertierter Form wieder – als verschwimmende, „ölige“ Finsternis im Büro, in dem Lelja durch den einstigen Geliebten, den ranghohen Polivanov, vom Schicksal ihres (und seines) Sohnes Toša erfährt. Auf den letzten Seiten der Erzählung wird wohl nicht zufällig dreimal die Wendung „при свете масла“106 wiederholt. Das „Licht der Öllampe“ wird zum Signal einer Verflüssigung der Finsternis – eines Licht-Regens unter verkehrten Vorzeichen. Entsprechend wird die Ohnmacht der verzweifelten Mutter als Verflüssigung, d.h. als Verschmelzung mit schrecklicher, undurchdringlicher Schwärze107 dargestellt: Он [Поливанов] оглянулся кругом. Лели в комнате не было. Он испытывал страшную ломоту в глазницах, и когда обводил взглядом комнату, она плыла перед ним сплошными сталактитами, ручьями. Он хотел собрать кожу на переносице, но вместо этого провел рукой по глазам, и от этого движения сталактиты заплясали и стали расплываться. Ему легче было бы, если бы спазмы их не были так часты и беззвучны. Потом он нашел ее. Она громадною неразбившеюся куклой лежала между тумбочкой стола и стулом на том самом слое опилок и сора […].108 Er [Polivanov] blickte sich um. Ljolja war nicht im Zimmer. Ein schrecklicher Schmerz zuckte in seinen Achselhöhlen, und als er den Blick suchend durchs Zimmer schickte, da verschwamm es vor ihm, da sah er eine Wand von Stalaktiten, da sah er Bäche. Er wollte die Haut über der Nasenwurzel zusammenschieben, statt dessen fuhr er mit der Hand über die Augen, und das bewirkte, daß die Stalaktiten tanzten und mehr und mehr zerflossen. Ihm wäre leichter gewesen, wenn diese Gebilde nicht so in Krämpfen gezuckt hätten, so schnell und so lautlos. Dann entdeckte er die Frau. Wie eine riesige, im Fallen heil gebliebene Puppe lag sie zwischen dem Fußteil des Tisches und einem Stuhl, auf jener selben Sägespan- und Schmutzschicht […].109

Für die These vom pervertierten Licht-Regen als Symbol der Schuldverstrickung, die der Krieg darstellt, spricht nicht zuletzt die Erzählperspektive von „Vozdušnye puti“. Leljas Verfließen mit der Finsternis wird aus der Sicht des Funktionärs und leiblichen Vaters des gefallenen Toša dargestellt. Das war auf Grund der bisherigen erzählerischen Fokalisierung auf Lelja schwerlich zu erwarten. So aber markiert Pasternak durch einen doppelten Kunstgriff – die Verkehrung des Licht-Regens und die Aneignung der Perspektive des unfreiwilligen Täters – die Schuldverstrickung als etwas, das ihn, den Autor, als bedrohliche Möglichkeit des Bösen unmittelbar betrifft. Wir erinnern uns: Ein fast bis zur Mystik getriebenes Tragen von Schuld 105 „Vozdušnye puti“, 95. 106 Ebd., 95/96. 107 Vgl. dazu die sich verdichtende Schwärze im „Geenna“-Kapitel aus Florenskijs Stolp i utverždenie Istiny. 108 „Vozdušnye puti“, 97. 109 „Luftwege“, 162/163, modifiziert.

240

Unaufgeklärtheit, Unwissen und Licht

prägte bereits den Schluss von Detstvo Ljuvers, wobei dort die Vermischung der Stimmen Ženjas und des Erzählers bedeutend weiter geht und im Gegensatz zu „Vozušnye puti“ ein positives Resultat hervorbringt: ein aufleuchtendes Licht, eine leise Epiphanie. Die Form der Selbstanklage, wie sie die perspektivische Annäherung an Polivanov suggeriert, greift Pasternak später in Doktor Živago wieder auf, wenn er dem mordenden Revolutionär Strel’nikov jenes exaltierte Mitleid mit den Frauen zuschreibt, das er, Pasternak, bei den verschiedensten Gelegenheiten in Briefen, Gedichten und in autobiographischer Prosa als seine Signatur verwendet.110 So verdeutlichen Pasternaks Erzählungen aus den ersten Jahren nach der Revolution, dass das Realsymbol des Licht-Regens aus Sestra moja – žizn’ zwar ein ganzes axiologisches System der Weltbejahung in sich trägt, dass es aber dennoch oder gerade deshalb nicht stabil sein kann. Pasternaks (Dichter-)Figuren sind nie ‚Verkörperungen‘, sondern stets eher zufällige und ephemere Zeugen der Ideen, die seine Texte transportieren. Sein Postsymbolismus ist ein Schreiben wandernder Inkarnationen, ständig interferierend mit spontan inzenierten Selbstopferungen, „самосожжени[я]“111 / „Selbstverbrennungen“ ihrer Träger.

110 Zu Lelja und Polivanov als Prototypen von Lara und Antipov vgl. Rudova: Understanding Pasternak, 59. 111 So Saint-Justs Ausdruck in „Dramatičeskie otryvki“, 215.

5. Kapitel Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie Spektorskij und Ochrannaja gramota / Schutzbrief Nach dem Gedichtbuch Sestra moja – žizn’ und den Erzählungen von 1917/1918 wird bei Pasternak der Licht-Regen, diese Verbindung aus Beklagen des Ephemeren und metaphysischem Optimismus, in seiner ursprünglichen Form nicht mehr wiederhergestellt. Die Mythopoetik der Verflüssigung wird in ihrer verfinsterten Variante aus „Vozdušnye puti“ in bedrohliche Stalaktiten-Gebilde gegossen, wie ich es am Schluss des vierten Kapitels dargestellt habe. Ein gänzliches Ausbleiben glückender Synthesen zeichnet sich schon im „Vysokaja bolezn’“ („Hohe Krankheit“, 1923, publ. 1924 in LEF, 1928 verändert in Novyj mir) ab. Die Elemente Feuer und Eis stehen sich ohne wechselseitige Wirkung gegenüber, ganz zu schweigen vom Wasser, das hier und in späteren Texten Pasternaks der zwanziger Jahre oft nur noch verselbständigt, in Form von Überschwemmungen auftaucht. Feuer ist in „Vysokaja bolezn’“ ein distanziert dargestelltes „orgiastisches Element der Revolution“1. Es charakterisiert das Verhalten der Emporkömmlinge der politisch-sozialen Umwälzung. Doch erscheint auch der Revolutionsführer Lenin in „Funken“ und „Blitzen“: А сзади, в зареве легенд, Дурак, герой, интеллигент В огне декретов и реклам Горел во славу темной силы […].2 Und dahinter, im Feuerschein von Legenden Idiot, Held, Intellektueller Im Feuer der Dekrete und Reklamen Brannten zum Ruhm einer dunkeln Kraft. Чем мне закончить мой отрывок? Я помню, говорок его [Ленина] Пронзил мне искрами загривок, Как шорох молньи шаровой.3 Wie dieses Fragment beenden? Ich erinnere mich, sein [Lenins] Reden Durchdrang mir mit Funken den Nacken, Wie das Sausen eines Kugelblitzes. 1 Flejšman, Lazar’: „Pasternak i Lenin“, in: ders.: Ot Puškina k Pasternaku, 636–667, hier 647. 2 „Vysokaja bolezn’“, PSS, I, 252–260, hier 255. 3 Ebd., 259. Zu Lenins Rede über die Elektrifizierung 1920 an der Moskauer GouvernementsKonferenz vgl. Aucouturier: „Pasternak et la Révolution française“, 182.

242

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

„Eingefroren“ ist dagegen das Milieu des Autors von „Vysokaja bolezn’“. Die vorrevolutionäre bzw. vorfuturistische Lyra4 ist in Eis erstarrt und kann vom blinden Feuer der Revolution nicht erfasst und zu neuem Leben erweckt werden: „Мы были музыкой во льду.“5 „Wir waren Musik in Eis.“ Lazar’ Flejšman kommt zum Schluss, dass die Darstellung der Russischen Revolution in „Vysokaja bolezn’“ zwar keineswegs apologetisch, jedoch auch nicht ausschließlich negativ sei, und verweist auf die eigentümliche Verdoppelung der Sonne am Schluss des Poems:6 Везде ручьи вдоль рельс играли, И будущность была мутна. Сужался круг, редели сосны, Два солнца встретились в окне. Одно всходило из-за Тосна, Другое заходило в Дне.7 Überall spielten Bäche entlang der Gleise, Und die Zukunft war trüb. Der Kreis verengte, die Kiefern lichteten sich, Zwei Sonnen trafen sich im Fenster. Eine ging auf hinter Tosno, Die andere ging unter in Dno.

Mit der bolschewistischen Revolution ist eine Sonne unter- und zugleich eine neue aufgegangen, so Flejšmans allegorische Lektüre, mit der er Pasternaks ambivalente Haltung gegenüber dem Sowjetkommunismus überzeugend benennt.8 Immerhin heißt es, die „Funken“ von Lenins Reden hätten dem Autor den Nacken durchdrungen. Zu einem gewissen Auftauen des Eises kommt es also doch. Gleichwohl tritt am Ende von „Vysokaja bolezn’“ an die Stelle der gegenseitigen Durchdringung von 4 Vgl. das Gedicht „Ėdem“ aus dem Band Bliznec v tučach, der 1914 im Verlag Lirika erschienen war. 5 „Vysokaja bolezn’“, 255/256. 6 Flejšman: „Pasternak i Lenin“, 647. 7 „Vysokaja bolezn’“, 259. 8 Der proletarische Dichter Egor Nečaev hatte Lenin 1922 in einem Gedicht mit dem Titel „Velikomu voždju“  / „Dem großen Führer“ als „[в]тор[ое] солнце […] наших дней“  / „zweite Sonne unserer Tage“ besungen. Lenin v sovetskoj poėzii. Leningrad 1970, 100. Vgl. Bekman Chadaga: „Light in Captivity“, 86. Zur Elektrifizierung vgl. auch Stites, Richard: Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution. New York/Oxford 1989, 182: „Electricity, as in Lenin’s vision, was the source of great power. A single, invisible, clean, and ‘modern’ energy source, it was also the emblem of triumph over the dark forces of ignorance, superstition, religion, and disease. The use of architectural glass and the brightly colored worldscape are the almost inescapable fantasy features reminding us that Light means Right.“

Spektorskij und Schutzbrief 243

Licht und Wasser das zitierte unbestimmte Bild zweier sich wechselseitig neutralisierender Sonnen. In den Lektüren des fünften Kapitels werde ich zunächst den sich verschärfenden poetischen Konflikt mit dem Licht diskutieren. In einem zweiten Schritt werde ich eine mögliche Versöhnung mit dem Licht der neuen, kommunistischen Geschichtsphilosophie aufzeigen (mit einem Exkurs zum Licht des Sozialismus bei Andrej Platonov und zur ‚Okularphobie‘ von Kazimir Malevičs Suprematismus). Schließlich werde ich ausführlich auf die Quintessenz von Pasternaks Schaffen der 1920er Jahre zu sprechen kommen: die Aufzeichnungen Ochrannaja gramota, in denen er zu seinen philosophischen Anfängen und seiner jugendlichen Skepsis gegenüber dem Licht zurückkehrt.

Die ‚Gewalt‘ des puren Lichts Symptomatisch für das Nichtfunktionieren des Licht-Regens nach Sestra moja – žizn’, für die Krise der postsymbolistischen Poetik, ist Lejtenant Šmidt (Der Leutnant Schmidt, 1926/1927, publ. kapitelweise an verschiedenen Orten), Pasternaks zweites historisches Poem nach „Devjat’sot pjatyj god“ (Das Jahr neunzehnhundertfünf, 1926, in Buchform publ. 1927).9 Die letzten Strophen des Poems behandeln die Niederschlagung der Matrosenaufstands der Schwarzmeerflotte im November 1905, an deren Spitze sich der liberal-humanistische Leutnant Petr Šmidt ohne konkrete politische Ziele gestellt hatte.10 Besonders interessant ist in unserem Zusammenhang, dass die zum Tod Verurteilten dem Wortlaut bei der Niederschlagung des Aufstands bereits vom künstlichen, gerichteten Licht der militärischen Staatsgewalt getötet werden. Mit Levinas bezeichnet Jacques Derrida das Licht des unifizierenden Verstandes als „gewalttätig“, als „identité oppressive et lumineuse du Même“11. Pasternaks Lejtenant Šmidt charakterisiert in umgekehrter Richtung Staatsgewalt als tödliches Licht.12 Das, was David M. Levin die moderne „Hegemonie des Sehens“ nennt, wird in Pasternaks Poem auf geradezu schauerliche Art und Weise vorgeführt. Das Licht ist dabei aber nicht anorganisch-steril, sondern animalisch aufgeladen. Die Fenster erscheinen in der Nacht als aufgerissene Münder: „Округлясь, 9 Zu Pasternaks Arbeit mit den historischen Quellen (Briefen, Memoiren, Monographien) siehe die Stellenvergleiche bei Levin, Jurij: „Zametki o ‚Lejtenante Šmidte‘“, in: ders.: Izbrannye trudy. Poėtika. Semiotika. Moskva 1998, 174–208, hier 174–195. 10 Siehe Barnes: Boris Pasternak, I, 361/362, und Fleishman, Lazar: Boris Pasternak. The Poet and His Politics, Cambridge, Mass. 1990, 136/137. 11 Derrida: „Violence et métaphysique“, 329, 337. 12 Nach Pasternaks eigener Auskunft sind die letzten Kapitel des Poems unter dem Eindruck des Todes Rainer Maria Rilkes geschrieben. Vgl. den Kommentar in PSS, I, 451. Auf Rilke als ‚okularphobe‘ Referenz gehe ich in der Lektüre von Ochrannaja gramota ein.

244

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

дышали рты иллюминаторов.“13 „Sich rundend, atmeten die Münder der Schiffsfenster.“ Und die Strahlen der Scheinwerfer werden metonymisch selbst zu Tätern: Вдруг по тьме мурашками пробежал прожектор. «Прут» зевнул, втянув тысячеперстье лап. Свет повел ноздрями, пробираясь к жертвам. Заскрипели петли. Упал железный трап. Это канонерка пристала к люку угольному. Свет всадил с шипеньем внутрь свою иглу.14 Plötzlich lief ein Scheinwerfer wie Ameisen über das Dunkel. Die „Prut“ gähnte, als sie die Tausendfingrigkeit der Pfoten einzog. Das Licht zog die Nüstern hoch, zu den Opfern durchdringend. Es ächzten die Schlingen. Das eiserne Fallreep fiel. Jetzt drängte das Kanonenboot zur Seitenluke. Das Licht steckte fauchend seine Nadel hinein.

Schließlich werden die Streikenden von dem auf sie zueilenden Strahlenbündel „zerspalten“. So fallen sie den Henkern in die Hände: Но затем, не в силах более крепиться, Бросились к решетке, колясь о сноп лучей, И крича: «Не мучьте! Кончайте, кровопийцы!» – Потянулись с дрожью в руки палачей.15 Doch danach, nicht imstande, sich weiter zu halten, Warfen sie sich zum Gitter, zerspalten vom Strahlenbündel, Und rufend: „Quält uns nicht! Findet ein Ende, Blutsauger!“ – Fielen sie zitternd in die Hände der Henker.

Der Ausruf „Quält uns nicht!“ bezieht sich gleichermaßen auf die Strahlen des „Strahlenbündels“ wie auf die Hände der „Henker“. Die Animalisierung des Lichts wird weitergeführt, die Lichtstrahlen werden zu „Blutsaugern“.16 Das Wasser – als ‚weibliches‘ Element17 – tritt erst in der letzten Strophe dazu, als das Scheitern des Lejtenant Šmidt, ebd., 289–324, hier 324. Ebd. Ebd. Levins Vergleiche mit den Quellen zeigen, dass das Moment der ‚Täterschaft‘ des Lichts verglichen mit den Stellen aus Šmidts Briefen, die Pasternak in das Poem einarbeitet, eindeutig verstärkt wird. Vgl. Levin: „Zametki o ‚Lejtenante Šmidte‘“, 194/195. 17 Im Tod durch die aggressiven Lichtstrahlen wird der Held zum lichtscheuen weiblichen Wesen. Vgl. Ivanov, Vjačeslav Vs.: „Perevernutoe nebo. Zapisi o Pasternake. Prodolženie“, in: Zvezda 12 (2009), http://zvezdaspb.ru/index.php?page=8&nput=1319 (Zugriff: 17.10.2013): „‚Das mit Leiden übergossene‘ Bild der Frau war ein Moment, das ihn [Paster-

13 14 15 16

Spektorskij und Schutzbrief 245

Aufstands längst Tatsache ist. Und doch hat das Wasser, wenn auch zu spät, noch etwas beizutragen. Es löscht in Form der Tränen der zuschauenden Zwangsarbeiter den Scheinwerfer aus: Счет пошел на миги. Крик: «Прощай, товарищи!» – Породил содом. Прожектор побежал, Окунаясь в вопли, по люкам, лбам и наручням, И пропал, потушенный рыданьем каторжан.18 Das Zählen näherte sich der Null. Ein Schrei: „Adieu, Kameraden!“ – Rief Verderben hervor. Der Scheinwerfer fuhr vorbei, Ertrinkend in den Seufzern, über Luken, Stirnen und Griffen, Und verschwand, gelöscht vom Schluchzen der Zwangsarbeiter.

Die Hinrichtung kann nicht verhindert werden. Die Löschung des Lichts und seiner tödlichen „Nadelstiche“ fällt mit der Niederlage Šmidts zusammen. Der Gewalt wird so der „Stachel“ zwar genommen, aber ohne positiven Effekt. Was von der besänftigenden Licht-Wasser-Reaktion bleibt, ist nur noch ein Schlusspunkt, eine Besiegelung der Ohnmacht des passiv-aktiven Titelhelden. Die Ansätze zur Selbstopferung ohne Auferstehung, wie ich sie in den ersten drei Kapiteln beschrieben habe, werden im Rahmen dieses historischen Poems blutiger Ernst. Ein Unterschied zu den meisten frühen Texten Pasternaks19 besteht darin, dass das Licht in nak] mit seinem unterschätzten Helden, dem Leutnant Šmidt, eint. Dieses Verhältnis zur Frau (weit umfassender als ein liebendes Verständnis) war für Pasternak wohl überhaupt entscheidend.“ 18 Lejtenant Šmidt, 324. 19 Eine von außen besehen sehr ähnliche Auslieferung ans Licht wird im Dialog zwischen dem Dichter Heinrich Heine und Camilla, der Frau seines Gegenspielers, in der Erzählung „Apellesova čerta“ (1915) erwähnt. Die „Gefahr des Lichts“ bezeichnet hier indes den Übergang zwischen Kunst und Leben, den Heine und Camilla in ihrer geheimen theatralischen Unterredung austragen, ohne dass es um Leben und Tod geht: „Но отчего бы и не позволить мне побыть немного в полосе полного освещения? Ведь не я виной тому, что в жизни сильнее всего освещаются опасные места: мосты и переходы. Какая резкость! Все остальное погружено во мрак. На таком мосту, пускай это будут и подмостки, человек вспыхивает, озаренный тревожными огнями, как будто его выставили всем напоказ, обнесши его перилами, панорамой города, пропастями и сигнальными рефлекторами набережных […].“ „‚Ja, das ist wieder Theater. Doch warum sollte mir nicht erlaubt sein, ein wenig im vollen Rampenlicht zu stehen? Ich bin doch nicht der Anlaß dafür, daß die Gefahrenstellen im Leben – Brücken und Übergänge – am stärksten beleuchtet sind. Wie scharf sich da alles abzeichnet! Alles übrige ist in Finsternis getaucht. Auf einer solchen Brücke, und sei sie auch nur aus Bühnenbrettern, lodert der Mensch förmlich auf, von unruhigen Feuern bestrahlt, als würde man ihn, umgürtet von Balustraden, vom Panorama einer Stadt, von Abgründen und Signallampen an Uferhängen, aller Welt zur Schau stellen wollen…‘“ „Apellesova čerta“, PSS, III, 6–25, hier 15/16 („Die Apelleslinie“ [übers. v. Hans Loose und Oskar Törne], in: Pasternak: Prosa und Essays, 7–34, hier 20/21.

246

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

seiner puren Form hier nicht nur unbehaglich „ortlos“ bleibt, sondern eine effektive Gewalt verkörpert, die durch kein weibliches Element aufgefangen werden kann.20 Von dem unbestimmt bleibenden Versuch in „Vysokaja bolezn’“, die „Sonne Il’ičs“, also das okularzentristische Paradigma der jungen Sowjetunion aufzugreifen, ist in Leitenant Šmidt nichts zu spüren. Obwohl Šmidt eine positive Gestalt der sowjetischen Geschichtspolitik war und Pasternak sich mit seinem Poem über ihn zwischenzeitlich neu in die Literatur der zwanziger Jahre einschreiben konnte, erinnert doch gerade die Niederschlagung durch Blendung an das revolutionäre Licht-Paradigma. Sehr vorsichtig ausgedrückt: Die okularphobe Dimension des Schlusses von Leitenant Šmidt signalisiert eine eindeutige Distanz gegenüber gewalttätiger Staatlichkeit – sei es nun der vor- oder der nachrevolutionären. Das komplementäre Anzeichen der Auflösung des Licht-Regens ist die ungedämmte Überflutung mit Wasser. Alles droht in der „Flut“ der Revolution und des Bürgerkriegs zu „ertrinken“. Im Gedicht „Pamjati Rejsner“ („Dem Gedächnis Larisa Rejsners“, 1926) heißt es: „Года по горло погружались в воду […].“21 „Die Jahre tauchten bis zur Kehle ins Wasser […].“ Und in einer früheren Fassung desselben Gedichts, in direkter Fortschreibung der Eis-Metapher aus „Vysokaja bolezn’“: „Все падало, все торопилось в воду, / За поворотом превращалось в лед […].“22 „Alles fiel, alles eilte ins Wasser, / Hinter der Abbiegung verwandelte es sich in Eis.“ Offenbar traut Pasternak seinen eigenen Texten nicht zu, den festgestellten Mangel an Licht zu beheben. Über den Versroman Spektorskij (publ. 1925–1930 an verschiedenen Orten), in dem sich das Bild der „ertrinkenden“ Zeit wiederholt,23 schreibt er an Osip Mandel’štam, er sei „скучен и водянист“ / „langweilig und wässrig“.24 Der in Spektorskij geäußerte Befund der Überflutung wird in Pasternaks Kommentar zu einem negativen Urteil über den Text selbst. Seine Unzufriedenheit mit dem Versroman lässt sich verstehen als Klage über eine Situation, in der die verschiedenen Lebensbereiche künstlerisch nicht (mehr) synthetisierbar sind. Warum das so ist, liegt auf der Hand: Der ‚Empfänger‘ des Licht-Regens war ein letztlich noch romantisch-kreativer Dichter gewesen, so schattenhaft er in den Gedichten von Sestra moja – žizn’ auch maskiert ist.25 1926 bekundet Pasternak in einem Brief den Willen, dem Gefühl der ‚Wässrigkeit‘ beizukommen: „Это стремленье к тому, чтобы 20 Zu Šmidts Passivität im Zusammenhang mit dem Mitleidsdiskurs des russischen Realismus vgl. Fleishman: The Poet and His Politics, 136; und Barnes: Boris Pasternak, I, 362/363. 21 PSS, I, 226. 22 Ebd., 414. 23 „Прошли года. Прошли дожди событий, / Прошли, мрача Юпитера чело.“ „Die Jahre flohn. Die Schauer der Ereignisse / Verzogen sich, umdüsternd Jupiters Stirn.“ Spektorskij, PSS, II, 6–48, hier 37 (Spektorski. Roman in Versen [übers. v. Roland Erb], in: Pasternak: Gedichte und Poeme, 207–256, hier 244). 24 Brief an Osip Mandel’štam vom Mai 1925, PSS, VII, 559. 25 Vgl. Döring: Die Lyrik Pasternaks in den Jahren 1928–1934, 66/67.

Spektorskij und Schutzbrief 247

смутность темы рассеялась, чтобы расплывчатость чутья или тенденции насытилась формой, это и есть то, что заменяет мне теперь личную радость, личную боль. Личную честь, личную жизнь.“26 „Dieses Streben danach, dass die Wirrnis des Themas sich zerstreue, damit die Verschwommenheit/Zerflossenheit des Gefühls oder der Tendenz von Form gesättigt werde, ist genau das, was mir jetzt die persönliche Freude ersetzt, den persönlichen Schmerz. Die persönliche Ehre, das persönliche Leben.“ In einem anderen Brief aus jener Zeit äußert er die Hoffnung, dass das „wunderbare Kapitel“ („прекрасная глава“) der Russischen Revolution „осядет и просветлится в стиле“ / „sich setzen und sich im Stil durchlichten“ und schließlich den Namen „Социализм […] безо всяких кавычек“27 / „Sozialismus […] ohne jegliche Anführungszeichen“ verdienen werde. Mitte der zwanziger Jahre, als Mitglied des LEF (Левый фронт искусств  / Linke Front der Kunst) – bei aller Ambivalenz seines Anpassungswillens28 – steht Pasternak vor der Aufgabe, das vorrevolutionäre, hochkultivierte Individuum zu überwinden und das Erleben der Kunst und der Liebe zu entprivatisieren.29 Zugleich kommt ihm in jenen Jahren als „попутчик“ / „Wegbegleiter“ mit seinem intakten Gedächtnis an die einstige ‚Dekadenz‘-Kultur und seiner poetischen Virtuosität die Aufgabe zu, als eine Art Brücke zur Literaturtradition zu dienen.30

26 Brief an Žozefina Pasternak vom 6. Februar 1926, PSS, VII, 596 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 27 Brief an Marina Cvetaeva vom 23./24. Februar 1926, PSS, VII, 603 (Hervorhebung im Orig.). Pasternak pflegte in den 20er Jahren zu betonen, er sei Kommunist. Vgl. Fleishman: The Poet and His Politics, 115/116. 28 Vgl. Flejšman, Lazar’: Boris Pasternak v dvadcatye gody. Sankt-Peterburg 20032, 28–99 [die Kapitel 2–4], hier 33. Flejšman zeigt, dass schon in der „zutiefst ambivalenten“ Formel „Мы были музыкой во льду“ aus „Vysokaja bolezn’“ das ambivalente Verhältnis zum LEF vorgeprägt ist. 29 An den Redaktor Pavel Medvedev schrieb Pasternak: „Когда пять лет назад я принялся за нее [вещь], я назвал ее романом в стихах. Я глядел не только назад, но и вперед. Я ждал каких-то бытовых и общественных превращений, в результате которых была бы восстановлена возможность индивидуальной повести, т. е. фабулы об отдельных лицах, репрезентативно примерной и всякому понятной в ее личной узости, а не прикладной широте. В этом я обманулся […].“ „Als ich vor fünf Jahren mit ihm [diesem Text] anfing, nannte ich ihn Roman in Versen. Ich schaute nicht nur zurück, sondern auch nach vorn. Ich wartete auf Veränderungen im Leben und in der Gesellschaft, die am Ende ein individuelles Erzählen wieder möglich gemacht hätten, d.h. eine Fabel über Einzelpersonen, repräsentativbeispielhaft und jedem verständlich in seiner individuellen Beschränkung statt in manufakturhafter Breite. Darin habe ich mich geirrt […].“ Brief vom 6. November 1929, PSS, VIII, 355/356. 30 So argumentierte der Kritiker Abram Ležnev 1926. Vgl. dazu Maguire, Robert A.: Red Virgin Soil. Soviet Literature in the 1920’s. Evanston, Illinois, 20002, 245/246.

248

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

Das Projekt der Historisierung des Lichts Hinsichtlich des Lichts deutet sich zwischen 1926 und 1930 eine bisher nicht beachtete Übergangslösung in Pasternaks Schaffenskrise31 an. In einer Reihe von Gedichten und in der Einleitung zu Spektorskij finden sich nachgerade thesenartige Äußerungen zum Verhältnis von Licht und Schatten. Am prominentesten ist in diesem Zusammenhang eine Stelle aus „Kogda za liry labirint…“ (1928), der überarbeiteten Fassung des Gedichts „Ėdem“ aus Pasternaks Debüt Bliznec v tučach. Der personifizierte Garten Eden wendet sich mit folgenden Worten an den Ankömmling, den Dichter: Я – свет. Я тем и знаменит, Что сам бросаю тень.32 Ich bin Licht. Dafür auch bekannt, Dass selbst ich Schatten werfe.

Michail Gasparov und Konstantin Polivanov kommentieren diese Stelle als „Widerhall der Frage nach der Herkunft des Bösen in der Schöpfung“.33 Es ist allerdings nicht ohne Weiteres nachvollziehbar, was bei Pasternak die Basis einer wenn auch bloß als „Widerhall“ aufgerufenen Theodizee sein könnte. Seine Poetik des Lichts hatte sich ja dadurch ausgezeichnet, dass die Frage nach der Herkunft des Lichts und des Schattens zugunsten der Frage nach ihrer Präsenz zurückgestellt wurde. Der Licht-Regen war eine ‚göttliche Energie‘ gewesen, die die Erforschung der eigentlichen Quelle als zweitrangig erscheinen ließ. Andererseits ist durchaus bemerkenswert, dass „Kogda za liry labirint…“ eine dualistische Vorstellung des Lichts (des Guten) nahelegt, wie sie prominenterweise von Dmitrij Lichačev in Bezug auf die Sonne im Slovo o polku Igoreve / Igorlied (Ende 12. Jahrhundert) postuliert wird.34 31 Vgl. den Brief vom 1. März 1930 an die Eltern: „Я боюсь, что совершенно языком непобедимая тяжесть и еле преодолимый сердечный мрак так сильно сказались на мне, что от искусства у меня ничего не осталось […].“ „Ich befürchte, dass eine Schwere, gänzlich unbesiegbar durch Sprache, und eine kaum zu überwindende Herzensfinsternis mich so schwer getroffen haben, dass in mir von der Kunst nichts übriggeblieben ist […].“ Pasternak, Boris: Pis’ma k roditeljam i sestram. Kniga 1. Izdanie podgotovili E. B. Pasternak i E. V. Pasternak. Stanford 1998, 265. 32 PSS, I, 64. 33 Gasparov, Michail/Polivanov, Konstantin: „Bliznec v tučach“ Borisa Pasternaka. Opyt kommentarija. Moskva 2005, 49. 34 Siehe Lichačev, Dmitrij: „‚Svet‘ i ‚t’ma‘ v ‚Slove o polku Igoreve‘“, in: ders.: „Slovo o polku Igoreve“ i kul’tura ego vremeni [1978]. Leningrad 1985, 263–265, hier 264: „Gemäß seiner [Dionysius’] Lehre sendet Gott Licht aus, und so viel Gott von diesem Licht auch aussenden mag – die Energie Gottes ist unerschöpflich und seine Einheit kann nicht gestört werden. So ist es auch mit der Sonne. Aber Gott (und die Sonne) sendet nicht nur Licht aus, sondern

Spektorskij und Schutzbrief 249

Lichačev liest die Sonnenfinsternis, die den Feldzug des Fürsten Igor’ überschattet, durch das Prisma der „göttlichen Finsternis“ des Dionysius Areopagita. Er sieht also in Dionysius’ Begriff keine apophatische Formel, keine „métaphore dogmatique“ (Vladimir Lossky35), sondern eine von Gott selbst ausgesendete Finsternis. Wie Lichačev zu dieser riskanten Erklärung kommt, wäre eine Frage für sich. Ein Blick auf das Umfeld von Pasternaks Gedicht zeigt, dass eine dualistische Lesart nach Lichačevs Modell (wonach das Gute der Ursprung des Bösen wäre) nicht zwingend ist. Schon im Erinnerungsgedicht an die Revolutionärin und Schriftstellerin Larisa Rejsner hieß es freilich, dass das „Licht“ der Verstorbenen einen „Schatten“ aussende: Ширяй, как высь, над мыслями моими: Им хорошо в твоей большой тени.36 Breite aus dich wie ein Himmel, über meinen Gedanken: Ihnen geht es gut in deinem großen Schatten.

Zwei Dinge fallen hier auf. Erstens sendet die Verstorbene den Schatten nicht aktiv aus, und zweitens ist es kein Schatten des Bösen. Ich glaube vielmehr, dass hier von Entfernung die Rede ist. So auch in „Kogda za liry labirint…“: Das Gute strahlt sehr wohl Licht aus, doch die Erde ist so weit entfernt, dass es unterwegs schwächer wird und sich so gesehen in Schatten verwandelt. Der Schatten ist Licht, aber diesem haftet – im Kontrast zu Pasternaks Figur der Nähe – der Mangel der Entfernung an. Solcherart verdunkeltes Licht wird bei Pasternak um das Jahr 1930 offenbar zu einer wichtigen ästhetischen Kategorie. In einem Gedicht von 1929 dient es zur Charakterisierung des (weiblichen) künstlerischen Blicks Anna Achmatovas: Бывает глаз по-разному остер, По-разному бывает образ точен. Но самой страшной крепости раствор – Ночная даль под взглядом белой ночи.37

auch Dunkelheit. Von daher die Ausdrücke: ‚Licht göttlicher Finsternis‘, ‚Leuchten der göttlichen Finsternis‘.“ 35 Lossky, Vladimir : „Ténèbre et lumière dans la connaissance de Dieu“, in: ders.: A l’image et à la ressemblance de Dieu, 25–37, hier 37. 36 PSS, I, 227. 37 „Anne Achmatovoj“ [1929], PSS, I, 213. Vgl. zur Motivik der weißen Nacht Cvetaevas „Achmatovoj, 1“ (1916): „О, Муза плача, прекраснейшая из муз! / О ты, шальное исчадие ночи белой! / Ты черную насылаешь метель на Русь, / И вопли твои вонзаются в нас, как стрелы.“ „O Klagemuse, der Musen wunderbarste! / O du, tolles Kind der weißen Nacht! / Einen schwarzen Schneesturm sendest du über die Rus’, / Und deine Seufzer dringen in uns, wie Pfeile.“ Cvetaeva: Sobranie sočinenij v semi tomach, 1, 303.

250

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie Das Auge sieht verschieden scharf, Verschieden klar sind die Gestalten. Die schlimmste Festung tut sich auf, Wenn weiße Nächte Fernblick halten.38

Achmatovas Blick ist nach diesem Gedicht ein Blick, der die Voraussetzungen der Licht-Entfernung bereits verinnerlicht hat und sein vermindertes Weiße-Nächte-Licht auf die nächtliche Finsternis überträgt. Erinnern wir uns an Pasternaks frühe Fragmente. Der Unterschied zu Reliquiminis Dämmerung wäre hier der, dass es nicht mehr um die „Bewahrung“ eines Zustands der Entgrenzung geht, sondern um den Einlass einer aus der Ferne durchschimmernden Helle. Die neue, an Achmatova veranschaulichte Dämmerung hat nicht die Aufgabe, den „Fanatismus des Tages“ abzudunkeln, sondern umgekehrt: die „schlimme Festung“ der verfinsterten Epoche aufzuhellen. Und mit dieser Transformation ist eine weitere verbunden. Es kommt eine geschichtliche, genauer, eine geschichtsphilosophische Dimension in die Ästhetik: Die Entfernung des Lichts ist nicht nur räumlich, sie ist auch zeitlich zu verstehen. Nimmt man den Grundsatz von Sestra moja – žizn’: солнце есть / die Sonne existiert und die Feststellung aus „Vysokaja bolezn’“: будущность была мутна / die Zukunft war trübe zusammen, so ergibt sich eine ganz bestimmte Perspektive auf jenes Licht, das seit der Revolution in der politischen Rhetorik virulent geworden war – светлое будущее / die lichte Zukunft.39 Das ferne Schimmern wird bei Pasternak allmählich zu einem Licht der Zukunft. Doch die ist noch so fern, dass die Gegenwart finster und die Kunst schattenhaft sein müssen. Eine solche Sicht wäre mit den Gedichten „Pamjati Rejsner“, „Kogda za liry labirint…“ und „Anne Achmatovoj“ wohl noch nicht hinreichend zu begründen. Es lässt sich jedoch beobachten, wie sich die Andeutungen in der Einleitung zu Spektorskij verdichten. Pasternak bezieht die ‚Übergangslösung‘ hier explizit auf sein Schreiben, was in den drei gewidmeten Gedichten nicht der Fall gewesen war. Bemerkenswert ist gleichwohl, dass der Schreibanlass auch jetzt betont weiblich ist. Der Autor des Versromans erklärt, er habe sich mit Sergej Spektorskij, einem „человек […] без заслуг“ / „Menschen ohne Verdienst“, nur deshalb zu beschäftigen begonnen, weil er mit einer ihn, den Autor, interessierenden Dichterin, Marija Il’ina, befreundet gewesen sei.40 Seine Argumentation, weshalb er über Spektorskij trotz dessen Verdienstlosigkeit zu schreiben begann, lautet wie folgt: 38 „Für Anna Achmatowa“ [übers. v. Richard Pietraß], in: Pasternak: Gedichte und Poeme, 181. 39 Vgl. Pasternaks Brief an die Eltern vom 12. Januar 1929: „А я не могу его [Государство] не слушаться. Я его не боюсь, но уважаю, потому что скорее верю в его будущее, чем свое.“ „Aber ich kann ihm [dem Staat] nicht nicht gehorchen. Ich fürchte mich nicht vor ihm, sondern achte ihn hoch, denn ich glaube eher an seine Gegenwart als an meine.“ Pasternak: Pis’ma k roditeljam i sestram, I, 203. 40 Spektorskij, 8.

Spektorskij und Schutzbrief 251 Я б за героя не дал ничего И рассуждать о нем не скоро б начал, Но я писал про короб лучевой, B котором он передо мной маячил.41 Ich hätte für den Helden nichts getan, Nicht darüber nachzudenken angefangen. Doch schrieb ich über jenen Strahlenkorb, In dem er vage vor mir schimmerte.42

Er schrieb also über einen „Strahlenkorb“, und Spektorskij wurde lediglich dadurch zum Protagonisten des Textes, dass er sich zufällig darin abzuzeichnen begann. Was ist mit „короб лучевой“ gemeint? In Anna Sergeeva-Kljatis’ Kommentar heißt es dazu: „Der Strahlenkorb ist offensichtlich das Korpus selbst des Apparats. Der Autor gleicht sich einem Fotografen an, der ein glaubwürdiges Bild von der Wirklichkeit festhalten will, von welcher Spektorskij einer der Helden ist.“43 Was hier unberücksichtigt bleibt: Er verwendet den Fotoapparat nicht, er schreibt über ihn, so wie in den nachfolgenden Strophe über die Finsternis und in der übernächsten darüber, wie nachts die Straßenlaternen leuchten: Про мглу в мерцаньи плошки погребной, Которой ошибают прозы дебри, Когда нам ставит волосы копной Известье о неведомом шедевре. Про то, как ночью, от норы к норе, Дрожа, протягиваются в далекость Зонты косых московских фонарей С тоской дождя, попавшею в их фокус.44 Über das Dunkel, wenn ein Talglicht blakt. Nach dem das Labyrinth der Prosa duftet, Wenn sich die Haare sträuben unversehens Bei unbekannten Meisterwerkes Nennung. Darüber, wie von einer Höhle nachts Zur andern in den Fernen Moskaus sich Laternenschirme auseinanderreihn; Des Regens Schwermut fällt auf ihren Schwerpunkt.45

41 Ebd. 42 Spektorski, 211. 43 Sergeeva-Kljatis, Anna: „Spektorskij“ Borisa Pasternaka. Zamysel i realizacija. Moskva 2007, 109 (Hervorhebung im Orig.). 44 Spektorskij, 8 (meine Hervorhebungen – Ch. Z.). 45 Spektorski, 211/212.

252

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

Er schreibt über etwas Dunkles, nicht über das Licht. Und die Strahlen sind lediglich das, was bei diesem Vorgang aufleuchtet. Sie nähern sich dem dunklen Kameragehäuse von außen, so wie das Licht einer Grableuchte in der Dunkelheit flackert und wie sich Laternenlichter nach der Ferne „auseinanderreihen“. Der Autor weiß sich nicht mit dem fernsichtigen Blick einer Anna Achmatova begabt. Er positioniert sich ganz und gar außerhalb, hinter der Kamera, über die er schreibt. Es ist Spektorskij, der ‚Spiegelhafte‘, der ‚Gespenstische‘, der wie eine Grableuchte oder eine Straßenlaterne den Widerschein des fernen Lichts in die Dunkelkammer der Kamera lenkt und sie so zu einer Lichtkammer macht.46 Die Kamera ist also nicht nur eine metapoetische Metapher (Poesie als Foto-grafie). Vor allem eröffnet sie den Raum, in dem sich Pasternaks Krise abspielt. Während im Gedicht „Groza, momental’naja navek“ aus Sestra moja – žizn’ noch die Natur – der Donner unter Zuhilfenahme von Blitzen – als Fotograf vorgestellt wurde, tritt in Spektorskij der Autor in dieser Funktion auf, bleibt dabei aber äußerst blass. Im Mittelpunkt steht die Dunkelkammer der Kunst und der Wirklichkeit, die anders als in „Groza, momental’naja navek“ nicht von Blitzen ausgeleuchtet wird, sondern auf das schwache Aufblinken eines fernen Lichts wartet. Die historische Dimension dieses Aufblinkens wird durch die Erwähnung der „Prosa“ indiziert. Das in der Einleitung heraufbeschworene Halbdunkel der Kunst und der Wirklichkeit wird mit „прозы дебри“47 / „der Prosa Dickicht“ verglichen, wodurch die Verbindung zum Gedicht „Anne Achmatovoj“ explizit wird. Dort ist im Zusammenhang mit dem Blick der Dichterin von „[п]розы пристальной крупицы“48 / „Körnchen angespannter Prosa“ die Rede. „Prosa“ ist für Pasternak, wie Peter Alberg Jensen gezeigt hat, stets mehr als ein gattungstheoretischer Begriff, er bezeichnet metaphorisch das Ereignis des Eintritts in die Geschichte, im Unterschied zum „poetischen“ Verbleiben in je einzelnen Momenten, die räumlich verfasst sind. Jensen interpretiert den Eintritt einer „dritten Person“ in Detstvo Ljuvers als „prosaisches“ Ereignis in Pasternaks (und Bachtins) Sinne. Die Tatsache allerdings, dass der Autor den Außenstehenden gleich wieder sterben lässt, zeige Pasternaks Verbleiben in der „Poesie“ an. In den zwanziger Jahren versucht er diese von 46 Formal gesehen, ist Spektorskij, als Lichtträger, so etwas wie ein „positiver Held“ avant la lettre. Vgl. Sinjavskij, Andrej [Terc, Abram]: „Čto takoe socialističeskij realizm“, in: ders.: Fantastičeskij mir Abrama Terca. New York 1967, 401–446, hier 417: „Der positive Held ist nicht einfach ein guter Mensch, er ist ein Held, der vom Licht des alleridealsten Ideals erleuchtet ist, ein Modell, würdig der Nachahmung, ein ‚Menschen-Berg, von dessen Gipfel aus die Zukunft sichtbar wird‘ (so nannte Leonid Leonov seinen positiven Helden).“ Doch das Licht, das Spektorskij empfängt, leuchtet von so fern, und er reflektiert es so blass, dass sich die Andeutung des „Positiven“ leicht ins Gegenteil verkehrt. An Marina Cvetaeva schrieb Pasternak über Spektorskij am 5. März 1931: „Ты увидишь, это не совершенно пустое место.“ „Du wirst sehen, gänzlich eine Leerstelle ist es nicht.“ PSS, VIII, 479. 47 Spektorskij, 8. 48 PSS, I, 213.

Spektorskij und Schutzbrief 253

neuem zu überwinden.49 Doch „Absicht und Umsetzung“50 gehen in Spektorskij weit auseinander. Im letzten Teil (Kapitel 8 und 9), dem einzigen, mit dem sich Pasternak ausdrücklich zufrieden gab,51 wird Spektorskij zum ‚Spiegel‘ nicht des Abglanzes einer fernen Zukunft, sondern vielmehr der grausamen Gegenwart des revolutionären Russland. Besonders gut sichtbar wird der negative Bezug zur Einleitung an einer Stelle, die die Inventarisierung von bürgerlichem Privateigentum durch den Schriftstellerverband beschreibt, an der Spektorskij mitarbeitet: И, раменье убрав огнем осенним И пламенем – брусы оконных рам, Закат бросался к полкам и храненьям И как бы убывал по номерам. В румяный дух реберчатого теса Врывался визг отверток и клещей, И люди были тверды, как утесы, И лица были мертвы, как клише.52 Das Abendrot, das mit dem Licht des Herbstes Den Tannwald schmückte und mit einem Strahl Die Fensterrahmen, warf sich auf die Gestelle Und Waren: Schrumpfte nach Nummern des Inventars. Der Schraubenzieher und der Zangen Kreischen Drang in den Rosengeist vom Schnittholz ein Die Menschen waren hart wie Felsenklippen Und die Gesichter leblos, wie Klischees.53

Das Motiv von sich zu Schatten minderndem Licht ist zwar ebenfalls präsent – das schräg ins Zimmer einfallende Licht „schrumpft“ –, entscheidend ist hier aber, wie sich das Schrumpfen gestaltet. Letzteres beschreibt die auf den Vers „И как бы 49 Jensen: „Ot Liriki k Istorii“, 301. Die Hegelsche Basis (die Ästhetik) der Dichotomie PoesieProsa bleibt bei Pasternak implizit. 50 So der Untertitel von Sergeeva-Kljatis’ Publikation. Vgl. auch Rudova: Understanding Pasternak, 100: „Spektorskii thus becomes Pasternak’s fourth epic work that starts with the intention to celebrate the revolution and ends up challenging it.“ 51 „Из всей рукописи […] самое достойное (поэтически и по-человечески) место это страницы конца, посвященные тому, как восстает время на человека и обгоняет его. Это была очень трудная, очень неуловимая по своей широте тема, и я доволен ее разрешеньем.“ „Aus dem ganzen Manuskript […] die beste (poetisch und menschlich) Passage sind die Seiten am Ende, die davon handeln, wie sich die Zeit gegen den Menschen erhebt und ihn überholt. Das war ein sehr schwieriges, sehr schwer fassbares Thema, und ich bin zufrieden mit seiner Lösung.“ Brief an Pavel Medvedev vom 28. Nov. 1929, PSS, VIII, 363. 52 Spektorskij, 43. 53 Spektorski, 250.

254

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

убывал по номерам“ folgende Strophe: Der Abglanz des Lichts wird vom „Kreischen der Schraubenzieher und Zangen durchstoßen“. Das Licht wird von den neuen offiziellen Schriftstellern nicht etwa ‚entgegengenommen‘ und sorgsam aufgezeichnet, wie der Autor es mit seiner Spiegelgestalt Spektorskij zu tun gedachte, sondern es wird buchstäblich de-montiert. Das Resultat davon ist ausdrücklich festgehalten. Die Menschen sind „hart wie Felsenklippen“ und ihre Gesichter „leblos wie Klischees“. Wenn die Menschen derart verroht sind, was kann dann noch die zusammenhängende Geschichte einer Einzelperson sein? Auch hier wird – durch die Verwendung des Schlüsselworts быль (‚wahre Begebenheit‘) – die unfreiwillige Abkehr vom Standpunkt des Gedichts „Anne Achmatovoj“ deutlich. Dort heißt es, das Gesicht und der Blick der Dichterin brächten die ‚nackten‘ Ereignisse dazu, zu wahren Begebenheiten zu werden („Событья былью заставляет биться“54). Dergleichen schaffen der Blick des Autors und die Anwesenheit Spektorskijs bei Pasternak nicht. Damit es eine „wahre Begebenheit“ geben kann, so die Einsicht, werden „lebendige Personen“ benötigt. Spektorskij aber ist keine volle Person. Dieses Problem hängt mit der Poetik des Lichts eng zusammen. Spektorskij zeichnet sich in der Einleitung als eine potentiell leuchtende ‚Ikone‘ ab, doch im Haupttext zeigt sich, dass er kein (oder zu wenig) Licht aus der Ferne auffangen kann, das ihn zu einer Person, eventuell gar zu einem „positiven Helden“ (des Sozialismus) machen würde.55 Angesichts des blutigen Bürgerkriegs scheint es ausgeschlossen, dass der Himmel zu den Menschen „spricht“ und dass eine bruchstückhafte Gestalt56 wie Spektorskij einer Verwandlung teilhaftig werden kann. Die Poesie anredend, insistiert der Autor des Versromans: Недоуменьем меди орудийной Стесни дыханье и спроси чтеца: Неужто, жив в охвате той картины, Он верит в быль отдельного лица? И, значит, место мне укажет, где бы, Как манекен, не трогаясь никем, Не стало бы в те дни немое небо B потоках крови и шато д’икем? Оно не льнуло ни к каким Спекторским, Не жаждало ничьих метаморфоз, Куда бы их по рубрикам конторским Позднейший бард и цензор ни отнес.57 54 PSS, I, 213 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 55 Vgl. dazu Swift, Megan: „A Self-conscious Tale: Pasternak’s Povest’“, in: Canadian Slavonic Papers/Revue canadienne des slavistes XLII, 4 (2000), 481–489, hier 485. 56 Vgl. dazu die Verse aus „Pamjati Rejsner“: „Осмотришься, какой из нас не свалян / Из хлопьев и из недомолвок мглы?“ „Sieh dich um, wer von uns ist nicht zusammengeworfen / Aus Flocken und finsteren Ungesagtheiten?“ PSS, I, 226. 57 Spektorskij, 38/39 (meine Hervorhebungen – Ch. Z.).

Spektorskij und Schutzbrief 255 Mit der Verschämtheit des Geschützekupfers Bedräng den Leser, stelle ihn zur Red: Glaubt, lebend im Umfassen dieses Bildes, Er noch an die Geschichte der Person? Wird er mir folglich jene Stelle zeigen, Wo gleich der Kleiderpuppe, ungerührt, Nicht kalt geworden wäre der stumme Himmel Im Strom von Blut und Château d’Yquem? Er [der Himmel] hatte kein Interesse an Spektorskis, Begehrte eines andern Wandlung [Metamorphose] nicht, Gleichgültig, wo ihn in den Amtsrubriken Der letzte Leser-Zensor unterbringen mocht.58

Spektorskij kann nicht zu einer wahren Ikone, sei es der Revolution oder der Konterrevolution, werden. Und wollte die Kulturpolitik ihn dazu machen, wäre es nur unaufrichtig. Was sich von selbst nicht ergibt, so suggeriert es der Text, das lässt sich auch nicht durch den Staat oder eine neue, verstaatlichte Literatur herstellen.59 Das einzig Positive, was nach dieser Diagnose bleibt, ist ein gewisser Blick des „stummen“, nicht Anteil nehmenden Himmels: Оно [небо] росло стеклянною заставой И с обреченных не спускало глаз По вдохновенью, а не по уставу, Что единицу побеждает класс. Бывают дни: черно-лиловой шишкой Над потасовкой вскочит небосвод, И воздух тих по слишком буйной вспышке, И сани трутся об его испод.60 Er [der Himmel] wuchs empor zur Wachstation aus Glasen Und ließ nicht aus den Augen, die verdammt, Aus innrer Eingebung, nicht nach der Vorschrift, Daß von der Klasse der eine wird besiegt. Und manchmal wird zur lila-schwarzen Blase Über der Metzelei das Firmament, Die Luft ist still nach allzu wildem Blitzen, Der Schlitten reibt sich an des Himmels Rand.61 58 Spektorski, 245/246 (meine Hervorhebungen – Ch. Z.). 59 Immer dann, wenn Pasternak die Revolution positiv darstellt, erscheint sie, so Boris Gasparovs Beobachtung, nicht als menschliche Anstrengung, sondern als etwas rein Spontanes, „Anfangloses“ und damit gerade absolut „Originelles“. Gasparov: „Gradus ad Parnassum“, 89/90. 60 Spektorskij, 39. 61 Spektorski, 246.

256

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

Sogar die Inspiration wird aufseiten des nicht mehr leuchtenden Himmels verortet. Das Licht, in Gestalt eines „allzu wilden Blitzes“, wird dagegen zum Anzeichen blinder Gewalt, die der Himmel an gewissen Tagen mit seiner Stille bestenfalls verhüllen kann. In Spektorskij vollzieht sich eine dem Buch Sestra moja – žizn’ parallele Bewegung: So wie das gleißende Licht des Zyklus am Schluss im Gedicht „Davaj ronjat’ slova…“ einer betrachtend-metaphysischen Registrierung von Details weicht, so wird in dem Versroman das potentielle Licht aus der Einleitung zuletzt von einer vage umschriebenen, überindividuellen Instanz abgelöst. Sie lässt dem Wegsterben der Menschen eine Aufmerksamkeit zukommen, die nicht (mehr) in einer ‚Sprache des Lichts‘ vergewisserbar ist. Man kann hier auch an den eigentümlich abgedunkelten „Blick“ über dem Ural denken, dem das Mädchen Ženja in Detstvo Ljuvers bei der Zugfahrt nach Ekaterinburg begegnet. Gleichwohl darf nicht vergessen werden, dass sich in den ersten und mittleren Kapiteln von Spektorskij nicht weniger Beschreibungen von Lichtphänomenen finden als in anderen Texten von Pasternak. Dabei handelt es sich zumeist um örtliche Phänomene, die in ihrer Häufung keine bestimmte, direkt mit dem Protagonisten verbundene Beleuchtung hervorzubringen vermögen.62 Freilich gibt es eine Art Kommunikation zwischen Spektorskij und dem Licht, etwa wenn der Sonnenuntergang ihm „mit warmem Glacéleder den Körper zusammenzieht“ („жаркой лайкой стягивая тело“) und ihm die „Richtigkeit seines Schicksals bestätigt“ („На деле подтверждала правоту / Его судьбы“) – ein Kommentar, wie er in den letzten, so düsteren zwei Kapiteln nicht mehr denkbar wäre.63 Das „warme Leder“ des Lichts breitet sich in der Stadt aus. Während es in den Gärten das Laub „verklärt“ („Преображался, породнясь с листвою“64), wird das Licht in den Straßen von Eis überzogen, „Как будто солнце ставили на погреб“ / „als würde man die Sonne einkellern.“65 Man kann also sagen, dass das Licht in den Kapiteln über die vorrevolutionären Jahre zwischen einzelnen, stark dingbezogenen Verklärungsmomenten, dem Zerfließen in einem chaotischen „Fluidum“ („в растворенном 62 Einige Beispiele: „И солнца диск, едва проспавшись, сразу / Бросался к жженке и, круша сервиз, / Растягивался тут же возле вазы, / Нарезавшись до положенья риз.“ „Die Sonnenscheibe, aus ihrem Rausch erwachend, / Stürzte sich auf den Punsch, zerschlug das Geschirr / Und streckte sich aus behaglich neben der Vase, / Als sie betrunken war bis zur Bewußtlosigkeit.“ Spektorskij, 12 (Spektorski, 216). „Из сада к окнам стаскивали хворост / Четыре световые полосы.“ „Im Garten schleppten vier leuchtende Streifen / Gestrüpp zum Feuern nach den Fenstern hin.“ Spektorskij, 14 (Spektorski, 218). „Не то оркестра шум, не то оршада / Bисячей лампой к скатерти прибит.“ „Bald das Orchester, bald Getränkesprudeln, / Es staut sich zwischen Lampen und dem Tisch.“ Spektorskij, 17 (Spektorski, 221). „Пустые классы щурились на солнце.“ „Die [leeren] Klassenzimmer blinzelten im Sonnenlicht.“ Spektorskij, 30 (Spektorski, 236). 63 Spektorskij, 23. 64 Ebd., 24. 65 Ebd.

Spektorskij und Schutzbrief 257

виде“, „В таком флюиде“66) und einer an „Vysokaja bolezn’“ erinnernden „Vereisung“ changiert. Die dreifache Uneindeutigkeit mag mit eine Erklärung für Pasternaks Urteil in dem erwähnten Brief an Mandel’štam sein, der Text sei „langweilig und wässrig“. Eine Sonderstellung nimmt in diesem Zusammenhang das sechste Kapitel über Spektorskijs Liebesabenteuer mit der Dichterin Marija Il’ina ein. Und die offensichtliche Ähnlichkeit Il’inas mit Marina Cvetaeva67 ist mehr als ein biographisches Detail. Die im Zentrum des Kapitels stehende Liebesszene während eines nächtlichen Sommergewitters kann als Antwort Pasternaks auf Cvetatevas hymnische Rezension „Svetovoj liven’“ gelesen werden: Wie in Sestra moja – žizn’ offenbart sich die Liebe hier in strömendem Regen, wie im Gedicht „Dožd’“ überträgt sich das Naturereignis auf die Liebesszene im Haus.68 Auch eine Parallele zu „Groza, momental’naja navek“ liegt auf der Hand: Die Liebesszene, die sich später als Abschiedsszene herausstellt (Il’ina verlässt bald darauf das Land), wird vom Blitzlicht des Gewitters ausgeleuchtet und festgehalten. Die Analogie zur Foto-grafie, zum Licht-Schreiben, wird indes hier nicht gezogen.69 Wie die Einleitung zu Spektorskij suggeriert, ist seit Sestra moja – žizn’ eine Epoche angebrochen, in der ein individuelles „Licht-Schreiben“ (Cvetaeva) problematisch geworden ist. Die markanteste Verschiebung gegenüber Sestra moja – žizn’ und „Svetovoj liven’“ liegt aber in der Art und Weise des Liebesverhältnisses. Es wird mehrfach betont, die Liebe zwischen den Dichtern Sergej und Marija beruhe auf Gegenseitigkeit, während das geliebte Du aus Sestra moja – žizn’ für den Helden viel eher ein ‚sophianisches‘ Medium als ein ebenbürtiges Gegenüber ist. Sergej und Marija sind sich, wie Sergeeva-Kljatis es ausdrückt, „in vielen Punkten ähnlich und zugleich unendlich verschieden“70. Das wird dann am deutlichsten, als gegen Morgen die letzten Blitze „erzittern“ und die beiden sich vereinigen und für kurze Zeit in einen Zustand der Seligkeit versetzt werden:

66 67 68 69

Ebd., 23. Vgl. Ciepiela: The Same Solitude, 210–218. Vgl. dazu Sergeeva-Kljatis: „Spektorskij“ Borisa Pasternaka, 149/150. „Тогда в развале открывалась прелесть. / Перебегая по краям зеркал, / Меж блюд и мисок молнии вертелись, / А следом гром откормленный скакал.“ „Es tat sich kund in dem Verfall die Anmut. / Und über Spiegelränder laufend jäh, / Zuckten die Blitze zwischen Schalen, Schüsseln, / Der fettgefreßne Donner hinterdrein.“ Spektorskij, 33 (Spektorski, 239). Das Spiel mit „Groza, momental’naja navek“ wird im letzten Kapitel dadurch weitergeführt, dass Spektorskij bei den Inventarisierungsarbeiten plötzlich Fotografien von Marija Il’ina in die Hände fallen. 70 Sergeeva-Kljatis: „Spektorskij“ Borisa Pasternaka, 149. Deshalb heißt es auch, sie seien wie „мга и гам“.

258

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie Ломбардный хлам смотрел еще серее, Последних молний вздрагивала гроздь, И оба уносились в эмпиреи, Bзаимоокрылившись, то есть врозь.71 Der Leihhausplunder wirkte jetzt noch grauer, Es zuckten letzte Blitzes-Trauben auf, Die beiden sahn sich weit in Empyreen Erhoben, beide hatten Flügel angelegt.72

Sie haben sich „gegenseitig beflügelt“. Doch gerade dieser Umstand zeigt, dass sie zwei voneinander getrennte Wesen bleiben. Unmittelbar nach dieser Strophe folgt der Vers: „Теперь меж ними пропасти зияли.“73 / „Abgründe klafften nunmehr zwischen ihnen.“ Cvetaeva hatte in ihrer Rezension über Pasternaks Lermontovschen „Abgrund“ geschrieben. Nun öffnet sich zwischen Sergej und Marija ein Abgrund, den er, Spektorskij, keineswegs schon in sich trug. Die Abgründe zwischen ihnen resultieren aus einem Zuviel an Licht. In Sestra moja – žizn’ war nach Cvetaeva das Gegenteil geschehen: Der Licht-Regen leuchtete die Verfinsterung aus. Wenn die liebenden Dichter jetzt im Empyrion, dem Feuerhimmel aus der Divina Commedia, ankommen, so müssten sie nach Dantes Auffassung bereits zu Lichtwesen, zu transfigurierten Körpern geworden sein.74 Dergleichen hatte kein Text Pasternaks bisher behauptet, dafür war die Basis der Inkarnation stets zu schwach gewesen. Doch die Erwähnung des Feuerhimmels ist selbst dann bemerkenswert, wenn man ihn nicht wörtlich nimmt, sondern konventionell als Bild der Verliebtheit liest. Denn mit der in der Einleitung zu Spektorskij skizzierten Poetik eines ungefähren Lichts aus der fernen Zukunft ist ein Schweben im Feuerhimmel in jedem Fall schwer in Einklang zu bringen. Die Einleitung präsentiert eine finstere Gegenwart, die sich erst im Abglanz des fernen Lichts aufzuhellen verspricht. Versteht man das Empyrion nun als Teil dieser Logik, so erweist sich ex negativo seine geradezu politische Funktion. Die Botschaft von Sergejs und Marijas flüchtigem Schweben im Siebten Himmel (eben dem Empyrion) würde dann lauten: Die leuchtende Zukunft der Sowjetunion ist noch weiter entfernt und noch abstrakter als das Paradies aus Dantes Divina Commedia, weshalb eine reale Wirkung der kommunistischen Nachzeit auf 71 72 73 74

Spektorskij, 34. Spektorski, 240. Spektorskij, 34 (Spektorski, 240). Vgl. dazu Rutledge, Monica: „Dante, the Body and Light“, in: Dante Studies 113 (1995), 151–165. Ciepiela nennt verschiedene Kontexte des Flug-Motivs und bezeichnet es als für Pasternak untypisch. Auf den Begriff des Empyrion geht sie nicht ein. Ciepiela: The Same Solitude, 213. Das Empyrion-Motiv taucht (ebenfalls im Plural) in Cvetaevas Zyklus Provoda (Leitungen, 1923) auf, der an Pasternak gerichtet ist. Siehe Cvetaeva: Sobranie sočinenij v semi tomach, 2, 174.

Spektorskij und Schutzbrief 259

die Gegenwart notwendig ausbleiben muss. Gestützt würde eine solche Lesart von den desillusionierten Schlusskapiteln über den Bürgerkrieg und über den phantasielosen Zynismus der Intellektuellen nach der Revolution.

Exkurs. Endpunkte der Demetaphorisierung des Lichts bei Platonov Wie kann die lichte Zukunft, die von dem parteilosen, unzuverlässigen Kommunisten und „Wegbegleiter“ Pasternak nur sehr verstreut angesprochen wird, auf den Begriff gebracht werden? Einer der schonungslosesten Denker und Künstler dieses rhetorisch-politischen Lichttyps war Andrej Platonov. Ich schlage daher eine Lektüre einiger Texte Platonovs vor, die Entscheidendes zur Frage nach einer revolutionären Technisierung und Archaisierung beitragen können, wie sie auch seinen Freund Pasternak in den zwanziger und dreißiger Jahren umtrieb.75 Andrej Platonov hatte als junger Ingenieur den Zusammenhang zwischen Revolution und Licht entdeckt, und seinen Zugang zu dem Thema sollte von Anfang an eine stark antimetaphorische Tendenz auszeichnen. Technikbegeisterung und Lichtmetaphysik (in Hans Blumenbergs Verwendung) drohen so immer wieder in eins zu fallen. In einem Zeitungsartikel mit dem Titel „Svet i socializm“  / „Licht und Sozialismus“ von 1922 unterstreicht Platonov, die praktische Engführung von Licht und Revolution sei fern „от всяких поэтических словесных экспериментов“  / „von jeden poetischen Wort-Experimenten“.76 Sein Postulat lautet: „[…] из света надо отлить и выточить коммунизм.“77 „[…] aus Licht muss der Kommunismus gegossen und ausgewunden werden.“ Die technische Aufgabe bei diesem „Gießen“ und „Auswinden“ sei es, Licht in „gewöhnlichen elektrischen Strom“ zu verwandeln. Platonov konzipiert die Revolution also als Elektrifizierung von natürlichem Licht, deren Resultat der Neue Mensch sein werde, „существо, полное сознания, чуда и любви, коммунистическое искусство – это вселенская скульптура, планетная архитектура, и только тогда совершится совокупление человечества в одно физическое существо“78 / „ein Wesen, voller Bewusstsein, Wunderhaftigkeit und Liebe, die kommunistische Kunst – das ist eine Skulptur, eine planetarische Architektur, und erst dann wird sich die Vereinigung der Menschheit zu einem phy75 Die Freundschaft zwischen Pasternak und Platonov, die keine schriftlichen Spuren hinterlassen hat, wird rekonstruiert bei Proyart, Jacqueline de: „Boris Pasternak et Andrej Platonov. Autour d’une rencontre“, in: Revue des Etudes slaves LXXVIII/1 (2007), 79–89, hier 80/81: „[…] malgré la distance qui sépare leur formation culturelle et leur expérience de vie, la conception pasternakienne de l’univers n’est pas éloignée de la conception platonovienne.“ 76 Platonov, Andrej: „Svet i socializm“, in: ders.: Gosudarstvennyj žitel’. Proza. Rannie sočinenija. Pis’ma. Moskva 1988, 537–539, hier 538. 77 Ebd. 78 Ebd.

260

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

sischen Wesen vollziehen.“ Was im Avantgarde-Spektakel Pobeda nad solncem eine analytische Abfolge von Wegsperrung und Neukonstruktion des Sonnenlichts war, soll hier zu einem betont organischen Prozess der Verwandlung werden. Was die konkrete „technische Aufgabe“ des Projekts betrifft, so gibt es in dem Text eine Klammerbemerkung, die für das Verständnis des Licht-Sozialismus in Platonovs literarischem Werk zentral ist: „[…] мы не входим тут в ее детали […].“79 „[…] wir wollen hier nicht auf ihre Details eingehen […].“ Die Art und Weise der Umsetzung der Utopie muss offen bleiben – da diese zuletzt eben doch ein „poetisches Experiment“ ist. In Platonovs Erzählung „Potomki solnca“ („Die Nachfahren der Sonne“, 1922), die vom Umbau des Kosmos durch „Ultralicht“ (ультрасвет) handelt, spielen die Details der „technischen Aufgabe“ noch eine verhältnismässig große Rolle. Um die Erde einzuebnen und sie in ein „bewohnbares Haus“ zu verwandeln, benötigt der Ingenieur Vogulov mehr Energie, als die Erde bietet. Deshalb macht er sich im Sinne von „Svet i socializm“ die Elektrifizierung von natürlichem Licht zunutze: „[…] он изобрел фотоэлектромагнитный резонатор-трансформатор; прибор, превращающий световые электромагнитные волны в обыкновенный рабочий ток […].“80 „[…] er erfand einen photoelektromagnetischen Räsonator-Transformator, eine Vorrichtung, die elektromagnetische Lichtwellen in gewöhnlichen Arbeitsstrom umwandelte.“ Dank dieser Erfindung wird die Produktion und massenhafte Vermehrung von „Ultralicht“ möglich. Durch die industriell umgesetzte Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt sich aber auch der Lauf der Zeit. Das Leben der Menschen wird zu einem energetischen Bündel von äußerster Intensität komprimiert. Das neue, vergangenheits- und zukunftslose Leben tritt an die Stelle der bisherigen menschlichen Vorstellung von der Ewigkeit: Человечество жило как в урагане. День шел за тысячелетие по производству ценностей. Быстрая вихревая смена поколений выработала новый совершенный тип человека – свирепой энергии и озаренной гениальности. Микроб энергии делал ненужной вечность – довольно короткого мига, чтобы напиться жизнью досыта и почувствовать смерть, как исполнение радостного инстинкта.81 Die Menschheit lebte wie in einem Sturm. Ein Tag ersetzte hinsichtlich der Wertschöpfung ein Jahrtausend. Die schnelle, wirbelnde Ablösung der Generationen begründete einen vollkommen neuen Menschentyp – von rabiater Energie und erleuchteter Genialität. Eine Energiemikrobe machte die Ewigkeit überflüssig – es reichte schon ein kurzer Augenblick, um sich am Leben sattzutrinken und den Tod zu spüren, wie die Erfüllung eines freudigen Instinkts. 79 Ebd. 80 Platonov, Andrej: „Potomki solnca“, in: ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom pervyj. Stichotvorenija. Rasskazy i povesti 1918–1930. Očerki. Moskva 1998, 212–218, hier 217. 81 Ebd., 218.

Spektorskij und Schutzbrief 261

Genau im Moment des absoluten Triumphs der Technik und des Eintritts der Utopie stellt sich eine Reihe keineswegs neuer Stichworte ein (Erleuchtung, Genialität, Lebenstrunkenheit, Tod). Im Grunde geht es dem Ingenieur um alte Werte, bloß nicht mehr im Sinne kulturellen Aufschubs. Und so wie sich die phantastische Erzählung „Potomki solnca“ zu den alten Werten einschließlich der Liebe verhält, so kann sie auch auf Pavel Florenskijs ebenfalls 1922 erschienene Schrift Mnimosti v geometrii (Täuschungen in der Geometrie) bezogen werden. Das Reich der Über-Lichtgeschwindigkeit, in dem nach Florenskij die Zeit in umgekehrter Richtung fließt und die Körper sich „umstülpen“, ist bei dem Priester, Religionsphilosophen und Naturwissenschaftler eine unzweifelhafte Realität, gerade wie bei Dante der Lichthimmel.82 Florenskij definiert auch keine „technische Aufgabe“ zur Erreichung der Über-Lichtgeschwindigkeit. Er versucht lediglich eine technische Beschreibung des Jenseits zu geben, um seine Religionsphilosophie für die Epoche nach 1917 anschlussfähig zu machen. Platonovs Vogulov dagegen verwendet die Idee der Über-Lichtgeschwindigkeit für den operativen Umbau der Welt hier und jetzt: „не через несметные времена, а сейчас“  / „nicht in unabsehbaren Zeiten, sondern jetzt“.83 Später, in Platonovs Roman Čevengur. Putešestvie s otkrytym serdcem / Čevengur. Reise mit offenem Herzen (1927), wird die technische Vagheit des Licht-Kommunismus zum zentralen Prinzip, zum eigentlichen blinden Fleck der Utopie.84 Das einzige veritable Ereignis in der Geschichte der Stadt Čevengur ist die von den Revolutionären als „Wiederkunft Christi“ organisierte Ausrottung der Bourgeoisie. Sie wird im Roman bezeichnenderweise retrospektiv erzählt – Čevengur befindet sich 82 Florenskij, Pavel: Mnimosti v geometrii. Moskva 1922 [Nachruck München 1985], 50–53. 83 Platonov: „Potomki solnca“, 219. Vgl. zur Buchstäblichkeit als Prinzip der Poetik von Čevengur Zolotonosov, Michail: „‚Ložnoe solnce‘. ‚Čevengur‘ i ‚Kotlovan‘ v kontekste sovetskoj kul’tury 1920-ch godov“, in: Andrej Platonov. Mir tvorčestva. Moskva 1994, 246– 283, hier 252/253. 84 Vgl. dazu Nikita Struves Ratlosigkeit angesichts des Romans in einem Brief an Aleksandr Šmeman: „…Platonov ist diskussionslos ein bemerkenswerter Schriftsteller, der eine bisher ungehörte Sprache hat, doch meiner Ansicht nach kein genialer, da er einen ‚Schlag Wahnsinn‘ hat und eine krankhafte Wahrnehmung der Welt. Es ist in ihm auch eine Ungewissheit: Alles in seinem Weltgefühl setzt Glauben voraus, doch ob er an Gott glaubte oder nicht, ist unklar. Er glaubte nicht an den Tod, doch damit nahm er dem menschlichen Schicksal gleichsam seine Tragik. Um es ehrlich zu sagen, ich verstehe ‚Čevengur‘ eigentlich nicht.“ Šmeman, Aleksandr: Dnevniki 1973–1983. 3-e izdanie. Moskva 2009, 14 [Eintrag vom 9. März 1973; der zitierte Brief wird nicht näher datiert]. Zur Vagheit als Merkmal des revolutionären Licht-Diskurses vgl. Starobinski: „Reflections on some symbols of the revolution“, 52: „The sun-myth of the Revolution is one of these collective representations whose general and vague character is compensated for by a wide influence. Perhaps men grasped it in 1789 with so much intensity because its momentary rapture helped them escape the concrete problems of political organization.“

262

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

nach dem Verständnis seiner Bewohner bereits in einem nachgeschichtlichen Zustand. Für den Anbruch der lichten Zukunft war die Erschießung der ‚alten Menschen‘ alleinige Voraussetzung, denn, wie Kopenkin, einer der Protagonisten, sagt: „Нам буржуазия весь свет загораживала.“85 „Uns hat die Bourgeoisie das ganze Licht versperrt.“ Mit ihrem Besitz- und Gewinnstreben und ihrer aufklärerischen Allegorisierung des Lichts durch Wissenschaft hatte die Bourgeoisie die unmittelbare Verbindung zwischen Erde und Sonne aufgetrennt. Ist die Abwesenheit der Bourgeoisie aber einmal Tatsache, so können die Menschen für immer aufhören zu arbeiten. Die Sonne wird zum „всемирный […] пролетари[й]“86 / zum „weltumspannenden Proletarier“ und gibt den Menschen fortan alles, was sie zum Leben benötigen: […] солнечная система самостоятельно будет давать силу жизни коммунизму, лишь бы отсутствовал капитализм, всякая же работа и усердие изобретены эксплуататорами, чтобы сверх солнечных продуктов им оставалась ненормальная прибавка.“87 […] das Sonnensystem wird dem Kommunismus selbständig Lebenskraft geben, wenn nur der Kapitalismus wegbleibt, denn alle Arbeit und aller Fleiß wurden von den Ausbeutern erfunden, damit ihnen über die Produkte der Sonne hinaus noch ein nicht-normaler Zusatz bleibt. Солнце уже высоко взошло, и в Чевенгуре, должно быть, с утра наступил коммунизм.88 Die Sonne war bereits aufgegangen, und in Čevengur, schien es, war am frühen Morgen der Kommunismus angebrochen.

Die nachgeschichtliche Ideologie der Bewohner von Čevengur lässt sich auf einen einfachen Begriff bringen: Die lichte Zukunft ist keine Metapher mehr, sondern eine buchstäblich aufzufassende Realität. Die kommunistische Revolution ist nichts anderes als die Rückkehr zu einem radikal-archaischen Sonnenkult. In überraschender Parallele mit Walter Benjamins zeitgenössischem „Sürrealismus“-Aufsatz (1929) könnte man sagen: Gegen den bürgerlich-liberalen, zugleich aber auch gegen den offiziell-revolutionären Optimismus „organisieren“ die Čevengurer ihren Pessimismus, indem sie die „moralische Metapher“ aus der Politik aussondern und stattdessen „im Raum des politischen Handelns den hundertprozentigen Bildraum“ und 85 Platonov, Andrej: Čevengur, in: ders.: Sobranie sočinenij, II, 5–307, hier 106. Vgl. zur Ausrottung als Bedingung der Utopie Geller, Michail: Andrej Platonov v poiskach sčast’ja. Paris 1999, 239/240; sowie Starobinski: „Reflections on some symbols of the revolution“, 53: „The Revolutionary wishes to begin by a rapid and decisive act of destruction after which uninterrupted light would shine.“ Zur Übertragung von Starobinskis Kategorien auf die Russische Revolution siehe Bekman Chadaga: „Light in Captivity“, 82. 86 Platonov: Čevengur, 161. 87 Ebd., 212. 88 Ebd., 195.

Spektorskij und Schutzbrief 263

damit die „profane Erleuchtung“ entdecken.89 Eine Revolution des „Bildraums“ allein eröffnet einen Zugang zum „Saft des Lebens“: „[…] из солнечной середины неба сочилось питание всем людям […].“90 „[…]“ aus der sonnigen Mitte des Himmels saftete für alle Menschen Nahrung.“ Die Revolution wird als Befreiung der ursprünglichen einfachen Freundlichkeit der Natur betrachtet: „[…] природа отказалась угнетать человека трудом и сама дарит неимущему едоку все питательное и необходимое […].“91 „[…] die Natur weigert sich, den Menschen zu knechten mit Arbeit und gibt ihm, dem nichtshabenden Esser, alles Nährende und Unabdingbare […].“ An dieser Stelle wird die grundsätzliche Kompatibilität dieser sehr rousseauistischen Naturverbundenheit mit Pasternaks Annäherungsbewegung an die Natur deutlich, und zugleich der entscheidende Unterschied: Pasternaks Naturbegriff kennt keinen nachgeschichtlichen Stillstand. Im Gegenteil, er hält gerade die fortgesetzte Ereignishaftigkeit der Natur in ständigem Eigenschaften-Tausch mit dem Menschen fest.92 Formal sieht die Demetaphorisierung der Sonne wiederum Gogol’s Versuch einer Resakralisierung des Konzepts der Aufklärung ähnlich. Das ist nur schon daran abzulesen, dass etwa Nikita Struves und Aleksandr Šmemans Einwände93 gegen den 89 Benjamin, Walter: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, in: ders.: Passagen. Schriften zur französischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Gérard Raulet. Frankfurt a. M. 2007, 145–159, hier 158/159. 90 Platonov: Čevengur, 150. Vgl. dagegen die hochgradig sublim-metaphorische, nachgerade freimaurerisch anmutende Illuminationslehre des russischen Marxismus. Halfin: From Darkness to Light, 115–121, 424/425. „These luminary images betray the roots of Marxism in salvational spirituality. Universalist consciousness was frequently represented as the sun, which shone from the horizon–the end of the path of history.“ Ebd., 117. Die Bewohner von Čevengur führen nun die Sonne der Revolution von der Ebene des Bewusstseins zurück auf die Ebene des Seins bzw. des Nichts. 91 Platonov: Čevengur, 208. 92 Vgl. dazu Livingstone, Angela: „Unexpected Affinities between Doktor Zhivago and Chevengur“, in: Fleishman, Lazar (Hrsg.): V krugu Živago. Pasternakovskij sbornik. Stanford 2000, 184–205, hier 188. 93 Vgl. Aleksandr Šmemans Tagebuchnotiz: „Gestern Abend habe ich ‚Čevengur‘ zu Ende gelesen. Beim Lesen geisterte mir ständig die Achmatova-Zeile durch den Kopf: ‚noch leuchtet im Westen die irdische Sonne…‘ Doch hier haben wir eine Vertiefung in eine Welt, die im Wesentlichen ganz aus der bodenlosen Tiefe der Unwissenheit, des Vergessens, der Besessenheit durch unverdaute Mythen gewoben ist. So als hätte es in Russland nie etwas anderes gegeben als das freie Feld und die Hügel. Keine Geschichte, kein Christentum, keinen Logos. Und gezeigt, offenbart wird das erschütternd. Und dann kommt mir noch in den Sinn: ‚wenn das Licht, das in euch ist, Dunkelheit ist…‘. Alles geschieht in einer Art Verzauberung, einer seelischen Unfreiheit, jeder hält sich an irgendeinem Strohhalm fest… Ein erstaunlicher Rhythmus, eine erstaunliche Sprache, ein erstaunliches Buch.“ Šmeman: Dnevniki, 10 [Eintrag vom 18. Februar 1973]. Zur spezifisch utopischen Humorlosigkeit der Bewohner von Čevengur vgl. die Bemerkung: „[…] коммунизм дело нешуточное, он же светопреставление!“

264

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

Roman bis in den Wortlaut der Kritik aus Vissarion Belinskijs „Pis’mo k Gogolju“ („Brief an Gogol’“, 1847) gleichen. Auf eine Formel gebracht: Je buchstäblicher die Auffassung von der erlösenden Qualität des Lichts, desto schärfer die Diagnose des „мракобесие“  / „Dunkelmännertums“ von zivilisierter Seite.94 Inhaltlich hat das Sonnenlicht in Platonovs Roman mit dem Gogol’s „Свет Христов“ nichts zu tun. Gogol’ charakterisiert die demetaphorisierte Aufklärung als das Heilswirken der Kirche. In Čevengur geschieht eine andere Neubesetzung: Dem Licht kommt die Funktion zu, den Mangel zu gewährleisten, durch den allein sich der Kommunismus vor dem Kapitalismus auszeichnen könne. Die Wirkung des Sonnenlichts auf die Menschen bestehe gerade darin, nicht auf sie zu wirken, weil jede objektivierbare Wirkung bereits ein Schritt zurück in die Ausbeutungsstruktur der alten Welt wäre. Das zeigt eine Beschreibung der abgemagerten Bewohner von Čevengur: […] Чепурный и Копенкин оделись и направились берегом реки – по влажному травяному покрову. Чевенгур отсюда казался теплым краем – видны были освещенные солнцем босые люди, наслаждающиеся воздухом и свободой с непокрытыми головами.95 […] Čepurnyj und Kopenkin zogen sich an und gingen das Ufer entlang – über eine nasse Grasschicht. Čevengur schien von hier aus ein warmes Land zu sein – es waren von der Sonne beschienene barfüßige Menschen zu sehen, die das Atmen der Luft und unbedeckten Hauptes die Freiheit genossen.

Abstrahiert man hier einmal von dem revolutionären Kontext, so erinnert dieser Ausblick Čepurnyjs und Kopenkins wiederum von gar nicht so fern an das Lob der Magerkeit in den gemalten Gesichtern der Heiligen bei dem Protopopen Avvakum und dann wieder in Pavel Florenskijs Schrift Ikonostas.96 Während aber bei den Denkern der Ikone das Argument darauf abzielt, die Präsenz der unkörperlichen göttlichen Energien, der göttlichen Fülle in den Asketen hervorzuheben, geht es in Čevengur darum, mit Hilfe des Lichts gerade die Leere zu retten. Die „[…] der Kommunismus ist nichts zum Scherzen, denn er ist eine Offenbarung!“ Platonov: Čevengur, 202. 94 Belinskij, Vissarion: „Pis’mo k Gogolju“, in: ders.: Sobranie sočinenij v trech tomach. Tom III. Moskva 1948, 707–715, hier 709: „[…] апостол невежества, поборник обскурантизма и мракобесия, панегирист татарских нравов – что Вы делаете!“ „[…] Apostel der Unwissenheit, Verfechter des Obskurantismus und des Dunkelmännertums, Panegyriker tatarischer Sitten – was tun Sie nur?!“ 95 Platonov: Čevengur, 166. 96 Vgl. Avvakum: „Beseda pjataja (O vnešnej mudrosti)“, in: Žitie Protopopa Avvakuma im samim napisannoe i drugie ego sočinenija. Redakcija, vstupitel’naja stat’ja i kommentarij N. K. Gudzija. Moskva 1933, 215–219, hier 218: „[…] лице, и руцe, и нозe, и вся чювства тончава и измождала от поста […].“ „[…] die Antlitze, und Arme, und Beine, und alle Sinne verfeinert und ausgelaugt vom Fasten […].“ Nach Florenskij sind die Heiligen der Ikonen buchstäblich „aus Licht“ gemacht und deshalb über die lastende Körperlichkeit der westlichen (Renaissance-)Malerei erhaben. Vgl. Florenskij: Ikonostas, 136/137, 139, 144.

Spektorskij und Schutzbrief 265

alte Sonne brachte, so schon die Kritik der frühen Avantgarde an der bürgerlichen Kunst, fettleibig-schwüle Leidenschaften hervor („ты страсти рожало“, Pobeda nad solncem), nun tritt an die Stelle der Gefrässigkeit und der sexuellen Gier die Sonne des Kommunismus und erfüllt die Menschen mit einer neuen inneren Leere: Солнце еще не зашло, но его можно теперь разглядывать глазами – неутомимый круглый жар; его красной силы должно хватить на вечный коммунизм и на полное прекращение междоусобной суеты людей, которая означает смертную необходимость есть, тогда как целое небесное светило помимо людей работает над рoщением пищи.97 Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch man konnte sie nun mit den Augen anschauen – die unermüdliche runde Glut von roter Kraft musste ausreichen für den ewigen Kommunismus und die vollständige Aufhebung der bruderzwistlichen Eitelkeit der Menschen, welche die tödliche Notwendigkeit zu essen nach sich zieht, während das ganze himmlische Lichtgestirn an den Menschen vorbei am Aufziehen von Nahrung arbeitet.

„Potomki solnca“ schließt mit der Andeutung, dass das „Unmögliche“, die Liebe, erst in der neuen Welt verwirklicht werden könne. In Čevengur gibt es keine solche Vision mehr. Denn die Liebe hat sich als nicht revolutionierbar herausgestellt. Ihre asymmetrische Struktur kann nur durch gemeinsamen Mangel effektiv überwunden werden. Der Träger dieser wahrhaft revolutionären Leere zwischen den Menschen ist – das Licht. Zwar ist Čepurnyj, der Anführer der Čevengurer Revolutionäre, beim Anblick des ankommenden Lumpenproletariats auf den Hügeln um die Stadt erschüttert, doch die Schilderung aus Čepurnyjs Standpunkt erscheint zugleich schon als Kommentar zu dem radikalen Projekt der Čevengurer selbst: Равнодушно обитал пролетариат на том чевенгурском кургане и не обращал своих глаз на человека, который одиноко стоял на краю города со знаменем братства в руках. Над пустынной бесприютностью степи всходило вчерашнее утомленное солнце, и свет его был пуст, словно над чужой забвенной страной, где нет никого, кроме брошенных людей на кургане, жмущихся друг к другу не от любви и родственности, а из-за недостатка одежды.98 Seelenruhig lebte das Proletariat auf jenem čevengurischen Hügel und richtete seine Augen nicht auf den Menschen, der mit der Flagge der Brüderlichkeit einsam am Rande der Stadt stand. Über der öden Unwirtlichkeit der Steppe ging die abendliche erschöpfte Sonne auf, und ihr Licht war leer, wie über einem fremden vergessenen Land, wo niemand lebte, außer zerfallener Menschen auf einem Hügel, sich aneinander anschmiegend nicht aus Liebe und Verwandtschaft, sondern mangels Kleidung.

97 Platonov: Čevengur, 184. 98 Ebd., 209 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

266

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

Erst wenn zwischen den Menschen nichts ist,99 verschwenden sie ihre Kraft nicht mehr an die Sorge um Eigentum. Dann realisiert sich zwischen ihnen die „вещь […] дружбы“100 / das „Ding Freundschaft“. In Wirklichkeit ist diese neue Art der Freundschaft gerade nichts Dingliches. Sie ist ungegenständlich.101 Hier drängt sich ein Vergleich des utopischen Kommunismus mit der historischen Avantgarde, d.h. eine metapoetische Perspektivierung von Čevengur auf: Wie sich Kazimir Malevič in den zehner Jahren von der „schwarzen“ Negation wegbewegte und zur „weißen“ Negation gelangte, so schreiten die Bewohner von Čevengur von der aktiven Vernichtung der alten Welt zum passiven Praktizieren der zwischenmenschlichen Leere. Deshalb auch kann eine Beschreibung von Malevičs „weißem Suprematismus“ bei Felix Philipp Ingold wie eine Äußerung zu Čevengur klingen: Malevičs Entwurf einer „gegenstandslosen Welt“, wie sie im „weißen Suprematismus“ sich erfüllen (beziehungsweise wiederhergestellt werden) sollte, bleibt insofern spekulativ, als er eine von jedweder äußeren Bedingtheit – etwa der Notwendigkeit, sich ernähren, also arbeiten zu müssen – befreite Menschheit voraussetzt, welche beliebig über sich hinaus- oder hinter sich zurückzugehen vermöchte, um zuletzt nichts anderes als ihre vorgeschichtliche, durch keinerlei rationale Erkenntnis gefährdete Unschuld zu erlangen.102

Welche Rolle aber spielte das Licht im „weißen“ Suprematismus? Gehen wir dieser Frage kurz nach. Die Vorstellung, die Sonne „besiegen“ zu müssen, an der Malevič 1913 mit seinen ersten Schwarzen Quadraten für Pobeda nad solncem mitgewirkt hatte, transformierte der Maler und Theoretiker danach in sein zutiefst okularphobes Anliegen einer Überwindung des Kunst-Lichts überhaupt. Eine solche Überwindung durfte gemäß den Grundsätzen des Suprematismus nicht gewaltsam, etwa mit spektakulär-aggressiven Blendeffekten, ins Werk gesetzt werden. Denn eine Herunterholung und Einsperrung der Sonne wie in Pobeda nad solncem wäre an sich wieder eine objektivierende Tat, während es suprematistisch gesehen gar keine Tat mehr geben kann. Die raumgreifende und sich zeitlich konstituierende Welt sei eine „Lüge“, schreibt Malevič in Bog ne skinut. Iskusstvo. Cerkov’. Fabrika (Gott ist nicht gestürzt. Kunst. Kirche. Fabrik, 1922). In der Welt existiere nichts: „Все то же, что видим как будто отдельно, единично, ложь есть, все связано – и развязано, 99 So lautete im Grunde auch Pasternaks Ideal von der Revolution als Auflösung der Grenze zwischen Mensch und Natur. Vgl. Barnes: „Boris Pasternak i revoljucija 1917 goda“, 319. 100 Platonov: Čevengur, 184. 101 Diese Leere ist nicht mit der „Licht-Leere“ zu verwechseln, von der Lachmann in Bezug auf den Hesychasmus spricht – trotz offensichtlicher Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Ungegenständlichkeit. Vgl. Lachmann: „Schweigen und Reden in der altrussischen Kultur“, 594, 609. 102 Ingold, Felix Philipp: „Welt und Bild. Zur Begründung der suprematistischen Ästhetik bei Kazimir Malevič“, in: Boehm, Gottfried (Hrsg.): Was ist ein Bild?. München 19952, 367– 410, hier 397 (Hervorhebung im Orig.).

Spektorskij und Schutzbrief 267

но ничего не существует и потому нет и не может быть пределов и вещей, и потому безумна попытка достигнуть их.“103 „Alles das, was wir scheinbar getrennt sehen, einzeln, ist eine Lüge, alles ist verbunden – und entbunden, doch nichts existiert und daher gibt es keine und kann es keine Grenzen zwischen den Dingen geben, daher ist der Versuch, sie zu erfassen, wahnsinnig.“ Da es in der ursprünglichen Welt „nichts gibt“, sei es wahnhaft, auf sie wie auf ein „Etwas“ zugreifen zu wollen. Das einzige, was es gibt, sind die weder subjektiven noch objektiven „Erregungen“, die Malevič nicht zufällig mit einer Tautologie einführt: „Все вещи – признаки возбуждения, вводящие человека в возбуждение […].“104 „Alle Dinge sind Anzeichen von Erregung, die den Menschen in die Erregung einführen.“ Warum es im Suprematismus kein Licht mehr geben kann, sondern nur noch „Erregungen“, lässt sich auch hier im Vergleich mit Florenskijs Ikonentheologie verdeutlichen (Ikonostas stammt ebenfalls aus dem Jahr 1922). Zwar kommt die Ikone nach Florenskij genauso ohne Dinge aus und ist so gesehen ebenso ungegenständlich. Doch das Licht, aus dem die Ikone geschaffen ist, ist nach seiner Auffassung eine ‚gebende‘ Instanz: Es ist in sich ruhend und zugleich mitteilsam. Genau deshalb aber ist das Licht für Malevič nicht weniger dinglich als die materielle Welt: „Свет, с моей точки рассуждения, равен всем элементам материи, ибо все материалы равно одинаково выявляют явление, следовательно, одинаково освещают его.“105 „Licht, aus meinem Punkt der Argumentation, ist allen Elementen der Materie gleich, denn alle Materialien lassen die Erscheinung erscheinen, und beleuchten diese ergo gleichermaßen.“ Das Licht sei genauso ein illusorisches „Etwas“ wie die von ihm beleuchteten Dinge. Die suprematistischen Erregungen sind dagegen ursprünglich a-kommunikativ, was auch heißt, dass sie anders als das Licht keine innere Affinität zum philosophisch-theologischen Logos haben.106 Wenn man den Suprematismus ‚mystisch‘ nennen kann, dann nicht auf Grund seines Inhalts, sondern hinsichtlich der Struktur seiner Entwicklungsstufen. Malevičs Lehre schreitet von der Intuition der ursprünglichen Ungegenständlichkeit zur Ablehnung des Lichts als Inbegriff von Erkennen (познать) und Offenlegen (выявить). Das Licht wird von der Farbe abgelöst, die Farbe – weil zu sehr symbolisch aufgeladen – durch das Schwarz. Da der schwarzen Farbe jedoch potentiell noch ein Geheimnis innewohnt, wird sie in der höchsten, „supremen“ Phase von der weißen Farbe abgelöst, hinter der sich nichts mehr verbergen könne, wie Malevič 1924 in einem Text zur Ungegenständlichkeit zusammenfassend ausführt: 103 Malevič, Kazimir: Bog ne skinut. Iskusstvo. Cerkov’. Fabrika, in: ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Tom 1. Stat’i, manifesty, teoretičeskie sočinenija i drugie raboty. 1913–1929. Moskva 1995, 236–265, hier 239. 104 Ebd., 240. 105 Malevič: 1/42. Bespredmetnost’, in: ders.: Sobranie sočinenij, Tom 4, 68–134, hier 98. 106 Ders.: Bog ne skinut, 240.

268

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

Философия скептически относится ко всему человеческому мышлению и усилиям, она находит, что ничего нельзя выявить в мире, так как в нем «ничего» нет, и быть не может, и ничего не было. Устанавливается противное предметности – беспредметность, «ничто» противопоставляется «что», супрематизм отказывается что-либо познать через какой бы то ни было культурный уровень и какой бы ни был свет знания. Никакие выявления материалов ничего в мире не выявят, в мире нет ни темного, ни светлого, ни черного; солнечный диск как экран не может быть экраном выявления непонятного, нет черного диска, на котором бы было солнце ясным для сознания. Очевидно, развитие супрематизма через цвет вышло к черному и белому, в котором нужно видеть полное без-личие, без-образность, без-предметность, равновесие, безразличие, вне времени находящееся состояние; но черное стоит позади белого, в чем можно еще разуметь и тот порядок, что черное темно и тем, возможно, оставляет себе надежду какого-то выявления находящегося в нем неизвестно, которое заставляет человека хотя что-либо представлять, ожидать, но вслед идущий белый квадрат как бы указует, что все светло, и нет в этом диске ни одного пятна, ни различия, и ничто из него не выйдет в форме предмета.107 Die Philosophie verhält sich zu allem menschlichen Denken und Bestreben skeptisch, sie findet, dass in der Welt nichts zur Erscheinung zu bringen ist, da es in ihr „nichts“ gibt, und geben kann, und gegeben hat es auch nichts. Es wird das Entgegengesetzte zur Gegenständlichkeit festgehalten – die Ungegenständlichkeit, „nichts“ wird dem „Was“ entgegengehalten, der Suprematismus weigert sich, irgendetwas zu erkennen durch was auch immer für ein Niveau der Kultur hindurch und was auch immer für ein Licht des Wissens. Keine Hervorkehrungen von Materialien werden je etwas zur Erscheinung bringen, und in der Welt ist weder etwas Dunkles, noch etwas Helles, noch etwas Schwarzes; die Sonnenscheibe als Leinwand kann nicht eine Leinwand der Erscheinung des Unverständlichen sein, es gibt keine schwarze Scheibe, auf welcher die Sonne klar wäre für das Bewusstsein. Offensichtlich ist die Entwicklung des Suprematismus durch die Farbe zum Schwarz und Weiß gekommen, in dem man die vollkommene Gesichts-losigkeit sehen muss, Bild-losigkeit, Un-Gegenständlichkeit, Gleichgewicht, Unterschiedslosigkeit, einen außerhalb der Zeit befindlichen Zustand; doch das Schwarz steht hinter dem Weißen, denn man kann in ihm noch jene Ordnung verstehen, dass das Schwarz dunkel ist, und dadurch lässt es, womöglich, eine Hoffnung der Hervorkehrung dessen zurück, was sich in ihm an Unbekanntem befindet, welches den Menschen nötigt, sich irgendetwas vorzustellen, zu erwarten, doch das nachfolgende weiße Quadrat zeigt gleichsam an, dass alles hell ist, und in dieser Scheibe ist kein einziger Flecken, noch eine Unterscheidung, und nichts wird aus ihr hervortreten in Form eines Gegenstands.

107 Ders.: 1/42. Bespredmetnost’, 108/109. Vgl. dagegen die fundamental andere Auffassung der weißen Farbe als potentieller Fülle bei Vasilij Kandinskij um 1910: „Es ist ein Schweigen, welches nicht tot ist, sondern voller Möglichkeiten. Das Weiß klingt wie Schweigen, welches plötzlich verstanden werden kann. Es ist ein Nichts, welches jugendlich ist oder, noch genauer, ein Nichts, welches vor dem Anfang, vor der Geburt ist. So klang vielleicht die Erde zu den weißen Zeiten der Eisperiode.“ Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst. 4. Auflage. Mit einer Einführung von Max Bill. Bern-Bümpliz 1952, 96 (Hervorhebungen im Orig.).

Spektorskij und Schutzbrief 269

Diese gegenseitige Überbietung der Entwicklungsstufen funktioniert in der mystischen Theologie des Dionysius Areopagita tatsächlich ähnlich. Um Gott von der Erkennbarkeit zu befreien, die ihm der aristotelischen Seinslehre zufolge zukommt, umgibt ihn die areopagitische Lehre mit „überheller Finsternis“. Nicht-Sehen und Nicht-Wissen – das Griechische verwendet für sehen und wissen ganz okularzentrisch dasselbe Wort, οἴδα – stehen über jedem Sehen und Wissen von Gott, da Gott kein Gegenstand ist, der irgendwie erfasst werden könnte. Nun ist nach Dionysius die Rede von der Finsternis aber noch immer eine rationale Operation, insofern sie ein Mittel der Negation, eben eine „dogmatische Metapher“ (Vladimir Lossky) ist. Daher negiert der Areopagite am Ende selbst die Finsternis, und streng genommen kann erst an diesem Punkt der Weg der mystischen Vereinigung beginnen. Nach einer sehr ähnlichen Logik verneint Malevič retrospektiv das Schwarze Quadrat: Es verrate noch Spuren der Rationalität.108 Doch die Analogie hat nur bedingte Gültigkeit. Durch seine Ankunft im Nichts der weißen Farbe gelingt es dem Suprematismus, seine Utopie auch schon zu verwirklichen, wohingegen die areopagitische Mystik am Schluss kein anderes Mittel mehr hat und haben will als den unendlichen, unabschließbaren Weg der Vergöttlichung jenseits von Hell und Dunkel. Verglichen mit der futuristischen Verlautbarung von Pobeda nad solncem erscheint der Suprematismus als eine Bewegung, die die absolute Negation in eine „neue klassische Ruhe“ verwandeln wollte. Die „farblose, ungegenständliche Energie“ des Weiß garantiert das Verharren in der Negation bei gleichzeitiger Tilgung des technisch-rationalen Potentials des Bruchs von 1913.109 Klassisch ist an Malevičs „Ruhe“, dass sie an mehreren Punkten wenn auch sehr lose mit der orthodoxen Mystik der Stille verbunden bleibt. Neu ist die Tatsache, dass sie die Stelle von Gott 108 „[…] в супрематизме свет как тьма исчезает совсем, оставляя последнее для идейных просвещенцев, которые собрались одурманить и ослепить народ светом знания.“ „[…] im Suprematismus verschwindet das Licht ebenso wie die Dunkelheit vollständig und überwindet den letzten für ideelle Aufklärerianer, die sich angeschickt haben, mit dem Licht des Wissens das Volk aufzuhetzen und zu blenden.“ Malevič: 1/42. Bespredmetnost’, 99. 109 „[…] живопись как цветное вещество пришла в новое обстоятельство, где потеряла все свои цветные различия и стала энергией бесцветной, беспредметной. Не заключается ли в этом весь смысл всех смыслов учений о мире, и не увенчается ли весь смысл движения народов к этому беспредметному миру, наступит ли новый классический покой“ „[…] die Malerei als farbiger Stoff ist mit einer neuen Herausforderung konfrontiert, in der sie alle ihre farbigen Distinktionen verloren hat und farblose Energie geworden ist, ungegenständliche. Liegt nicht darin der ganze Sinn aller Sinne der Lehren von der Welt, und wird nicht der ganze Sinn der Bewegung der Völker gekrönt hin zu dieser ungegenständlichen Welt, tritt nicht in ihr die neue klassische Ruhe ein“. Ders.: 1/42. Bespredmetnost’, 133 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

270

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

nicht frei (von menschlichen Eingriffen) lässt, sondern sie besetzt mit dem suprematistischen Künstler selbst.110 Das Streben nach absoluter Ruhe ist, was in Platonovs Čevengur so sehr an den Suprematismus erinnert. Malevič seinerseits postuliert für Gott den absoluten Stillstand, weil jeder irgendwie noch aktive Zustand unvollkommen wäre und in der gegenständlichen Welt des „Was“ verbliebe (bei Platonov: der „bruderzwistlichen Eitelkeit“). So gesehen ist das Ideal der Bewohner von Čevengur, das Nichtstun, ein neuer Weg der Vergöttlichung: Копенкин уже спрашивал Чепурного – что же делать в Чевенгуре? И тот ответил: ничего, у нас нет нужды и занятий – будешь себе внутренне жить! У нас в Чевенгуре хорошо – мы мобилизовали солнце на вечную работу, а общество распустили навсегда!111 Kopenkin fragte Čepurnyj bereits, was man denn tun könne in Čevengur. Und dieser antwortete: nichts, bei uns gibt es an nichts Not und keine Beschäftigungen – in dir selbst lebst du jetzt! Bei uns in Čevengur ist es gut – wir haben die Sonne mobilisiert zu ewiger Arbeit, die Gesellschaft aber haben wir für immer aufgelöst! – У нас, товарищ, тут покой человеку: спешили одни буржуи, им жрать и угнетать надо было. А мы кушаем да дружим…112 – Bei uns hier, Genosse, wird dem Menschen Ruhe zuteil: nur die Bourgeois hasteten umher, sie mussten fressen und knechten. Wir aber essen und haben Freundschaft…

Aleksandr Dvanov, die Hauptfigur der ersten Hälfte des Romans, hält sich von Čevengur lange fern. Als er endlich ankommt, ist er von dem Ort auf geheimnisvolle Art angezogen: „Александр Дванов шел по улице и ничего еще не понимал – видел только, что в Чевенгуре хорошо.“113 „Aleksandr Dvanov ging durch die Straße und verstand noch nichts – er sah nur, dass es in Čevengur gut war.“ Und doch geht er am Schluss nach Hause zurück und folgt seinem Vater in den Tod. Es ist wohl kein Zufall, dass er (wie Platonov studierter Ingenieur) in Čevengur zuvor den Versuch unternimmt, eine „светов[ая] машин[а]“ / „Lichtmaschine“ zu konstruieren, die das Licht der Sonne in elektrischen Strom verwandeln sollte, wie 110 Vgl. dazu Hansen-Löves Kommentar: „Bei Malevič gibt es […] keinen Weg der Erleuchtung oder der Wandlungen vom Menschen zu Gott; für ihn geht es genau umgekehrt um das Evident-Werden des Menschen als Gott […].“ Malevič, Kazimir: Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik. Hrsg. und komm. von Aage. A. Hansen-Löve. München/Wien 2004, 317 (Hervorhebung im Orig.). 111 Platonov: Čevengur, 154. 112 Ebd., 156. Andrew Wachtel vergleicht Platonov und Malevič hinsichtlich der ‚Gesichtslosigkeit‘. Wachtel, Andrew: „Meaningful Voids: Facelessness in Platonov und Malevich“, in: Kelly, Catriona/Lovell, Stephen (Hrsg.): Russian Literature, Modernism and the Visual Arts. Cambridge 2000, 250–277. 113 Platonov: Čevengur, 239.

Spektorskij und Schutzbrief 271

in den erwähnten Texten „Svet i socializm“ und „Potomki solnca“. Dvanov ist der Erste, der auf die Idee kommt, das archaische Sonnensystem von Čevengur zu konkretisieren, also mit Details anzureichern, ihm eine Gelegenheit zu geben, wenn man so will. Doch sein Experiment muss scheitern. Das Scheitern wird nicht erklärt, es wird nur mit dem Kommentar „она [световая машина] не могла работать“114 / „sie [die Lichtmaschine] konnte nicht funktionieren“ versehen. In dem Kommentar drückt sich die Ahnung aus, dass das kompromisslos-buchstäbliche Licht oder mit Benjamins Ausdruck: der „hundertprozentige Bildraum“ von Čevengur gar nicht konkretisiert werden kann.

Überholung und Verdunkelung des Lichts im Namen der Liebe? Kommen wir zu Pasternaks Werk am Ende der zwanziger Jahre zurück. 1929/1930 schreibt er, nach der enttäuschenden Arbeit am Versroman Spektorskij, seine (Anti-) Autobiographie Ochrannaja gramota.115 Für unser Thema ist sie aus einem naheliegenden Grund ein Kerntext: Pasternak geht darin am weitesten in seinem Nachdenken über die Verbindungen zwischen Literatur, Philosophie und Licht. Zugleich realisiert sich das Nachdenken in der Kunstprosa von Ochrannaja gramota fortwährend selbst. 1926, nach Rainer Maria Rilkes Tod, hatte Pasternak einen Aufsatz über den Dichter schreiben wollen, der ihn geprägt hatte. Dazu kam es nie.116 Immerhin ist Ochrannaja gramota dem Andenken Rilkes gewidmet, außerdem sollte ein „posthumer Brief “ an ihn beigelegt werden. Im Grunde aber kann man den ganzen Text als Reaktion auf Rilke lesen. Dies fängt bei sehr grundlegenden Dingen an. So versteht Pasternak den Künstler, allen voran sich selbst, nicht als Individuum, sondern, wie Rilke über Auguste Rodin (1903) geschrieben hatte, als „Name unzähliger Dinge“117. Schon das betont Anti-Autobiographische in Ochrannaja gramota, das freimütige An-den-Fakten-vorbei-Schreiben, ist also eine Hommage an den 1926 verstorbenen Dichter. Darüber hinaus ist die Referenz im ästhetischen Hauptanliegen des Textes unverkennbar: in der „métamorphose du visible en invisible“ (Maurice Blanchot über Rilke).118 Auf diese hier nur angedeuteten Aspekte werde ich auf den nachfolgenden Seiten immer wieder zurückkommen. 114 Ebd., 285. 115 Der erste Teil wurde 1929 in der Zeitschrift Zvezda, der zweite und dritte 1931 in der Zeitschrift Krasnaja Nov’ publiziert. Eine Buchausgabe folgte im selben Jahr. 116 Vgl. den Brief an Marina Cvetaeva vom 8. September 1927: „Я все же хочу написать статью о Р […]. Намеренье безнадежное, но попытаюсь.“ „Ich will schon lange einen Artikel über Rilke schreiben […]. Hoffnungsloses Vorhaben, aber ich werde es versuchen.“ PSS, VIII, 78. 117 Hier zit. nach Nilsson: „Life as Ecstasy and Sacrifice. Two Poems by Boris Pasternak“, 64. 118 Blanchot: L’espace littéraire, 145.

272

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

Der Titel Ochrannaja gramota meint Geleit- oder Schutzbrief und ist eine offene Anspielung auf die Zertifikate, die in den ersten Jahren nach der Revolution zur Sicherung bedrohter Kulturgüter ausgestellt worden waren (wir erinnern uns an Sergej Spektorskijs Mithilfe bei der Inventarisierung einstigen bürgerlichen Privateigentums). Paul Sherman schreibt dazu: „The autobiographical work of this autobiography is to re-establish this vital faith in art and culture. The act of remembering its salutary presence and thereby affording it safe conduct to the present accomplishes this.“119 Nimmt man den Titel ernst und versteht den Text als einen ausgedehnten Schutzbrief, so ist jedes einzelne Detail in ihm unter der Rücksicht der Bedrohtheit und der Angewiesenheit auf Rettung zu lesen. In unserem Zusammenhang heißt das: Die Licht-/Kraft-Ästhetik wird von Pasternak nicht zuletzt deshalb skizziert (und vorgeführt), damit sie in der neuen Politik und kulturellen Gleichschaltung durch Stalin nicht verloren gehen kann. Es ist üblich, einzelne Stellen aus Ochrannaja gramota zur Illustration von Pasternaks Gedichten und Erzählungen heranzuziehen. In besonderem Maße ist dies der Fall beim in der Forschung sogenannten ästhetischen Traktat (im 7. Kapitel des 2. Teils), um den es hier in erster Linie gehen wird. Wenn beispielsweise Anna Sergeeva-Kljatis in ihrem Kommentar zu Spektorskij schreibt: „Der Autor betrachtet Spektorskij und seine Zeit vom Standpunkt der Kunst aus und beschreibt sie [Spektorskij und seine Zeit] nicht wie ein Dokumentarist, sondern wie ein Künstler“,120 so tut sie es mit Verweis auf Ochrannaja gramota II, 7. Pasternak nimmt hier anhand des Lichts eine keineswegs banale Unterscheidung zwischen Kunst und Wissenschaft vor. Dabei erläutert Sergeeva-Kljatis nicht, worin sich Spektorskijs Absage an den Dokumentarismus zeige. Nicht vergessen werden darf, dass der Autor in der Einleitung des Versromans festhält, er habe sich beim Schreiben „blind der Kraft des Objektivs untergeordnet“,121 was grundsätzlich gerade eine dokumentaristische Verlautbarung ist. Der Hintergrund für die so gesehen wenig plausible Parallele könnte Flejšmans These sein, wonach in Ochrannaja gramota ein Gegenent119 Sherman, Paul: „An Art of Life: Pasternak’s Autobiographies“, in: Salmagundi 14 (1970), 17–33, hier 27. 120 Sergeeva-Kljatis: „Spektorskij“ Borisa Pasternaka, 109. Der Bezugspunkt der FotografieSkepsis innerhalb der sowjetischen Ästhetik scheint der Intuitivismus des Kritikers Aleksandr Voronskij, des Chefredakteurs von Krasnaja nov’ / Rote Neuigkeit und Initiators der Literatenvereinigung Pereval / Übergang, zu sein. Voronskij hatte 1923 geschrieben: „Художник познает жизнь, но не копирует ее, не делает снимков; он не фотограф; он перевоплощает ее «всезрящими очами своего чувства».“ „Der Künstler erkennt das Leben, er kopiert es nicht, er macht keine Aufnahmen; er ist nicht Fotograf; er inkarniert es mit den ‚alles sehenden Augen seines Gefühls‘.“ Voronskij, Aleksandr: „Iskusstvo kak poznanie žizni i sovremennost’“ [„Kunst als Erkenntnis des Lebens und die Gegenwart“], in: ders.: Izbrannye stat’i o literature. Moskva 1982, 300–333, hier 303. Was mit Voronskij dabei nicht beschrieben werden kann, ist Pasternaks Aktualisierung des fotografischen Negativs. 121 „Я стал писать Спекторского в слепом / Повиновеньи силе объектива.“ Spektorskij, 8.

Spektorskij und Schutzbrief 273

wurf zur Theorie und Praxis der литература факта  / Literatur des Faktums zu sehen sei.122 Das Nicht-Faktische, man könnte auch sagen: das Real-Allegorische, wird für Pasternak durch Rilke verkörpert. Nach Flejšman beginnt die Polemik gegen die Faktografie schon auf der ersten Seite von Ochrannaja gramota, wo es über Pasternaks erste und einzige Begegnung mit Rilke heißt: „Хотя я знаю этот язык [немецкий] в совершенстве, но таким его никогда не слыхал. Поэтому тут, на людном перроне между двух звонков, этот иностранец кажется мне силуэтом среди тел, вымыслом в гуще невымышленности.“123 „Obwohl ich diese Sprache vollkommen beherrsche, habe ich sie so noch nie gehört. Deswegen erscheint mir dieser Ausländer hier, auf dem bevölkerten Perron, zwischen den beiden Abfahrtssignalen, wie eine Silhouette unter Körpern, wie eine Erfindung im Dickicht des Nichterfundenen.“ Rilkes ephemeres Aufscheinen in Pasternaks Kindheit, 1903 am Kursker Bahnhof in Moskau, mit Lou Andreas-Salomé auf dem Weg nach Jasnaja Poljana zu Tolstoj, wird zur Chiffre für das geheimnisvolle „Hervorgehen“ eines Kunstwerks schlechthin. Man kann darin, wie Larissa Rudova vorschlägt, einen konkreten Anklang an Rilkes Werk sehen, nämlich an die Erzählung „Die Letzten“ aus dem Zyklus Im Gespräch (1901), wo eine Figur sagt: „Diese Dinge also, Lied und Gedicht und Bild, sind anders als die anderen Dinge. Sehen Sie das gütig ein, bitte. Sie sind nicht. Sie werden jedes Mal wieder.“124 Schon auf der ersten Seite also formuliert Pasternak – mit Rilke – die Theorie des zweiten Teils von Ochrannaja gramota, die ich in der Einleitung diskutiert habe: dass in einem Kunstwerk nicht das Fertige zählt, sondern seine ‚Originalität‘, sein Hervorkommen zwischen den schon gemachten Fakten der Wirklichkeit.125 Bei einem Blick in Povest’ von 1929, einer Prosaversion von Spektorskij (weiter oben erwähnt im Zusammenhang mit Viktor Franks Aufsatz „Vodjanoj znak“ im Kapitel über den Licht-Regen), wird klar, dass mit der Diskussion über das Faktische und das Nicht-Faktische auch die Diskussion über das „Männliche“ und das „Weibliche“ weitergeführt wird. Sereža, der wie Rainer Maria Rilke das Weibliche in seinem Namen trägt, begegnet am Schluss von Povest’ dem „männlichen Geist 122 Flejšman: Boris Pasternak v dvadcatye gody, 199–212. 123 Ochrannaja gramota, 14 (Der Schutzbrief, 233, modifiziert). 124 Rilke, Rainer Maria: Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hrsg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band 3. Prosa und Dramen. Frankfurt a. M. 1996, 289–296, hier 294 (Hervorhebung im Orig.). Vgl. das Kapitel „Pasternak and Rilke“ in Rudova: Pasternaks’s Short Fiction, 43–78, hier 47. 125 Sprachphilosophisch kann man hier an Wilhelm von Humboldts berühmte Unterscheidung zwischen dem fertigen ἔργον und der tätigen ἐνέργεια denken. Diese war gerade in Russland durch die Arbeiten des Linguisten Aleksandr Potebnja sehr präsent. Vgl. Aarsleff, Hans: „The Context and Sense of Humboldt’s Statement that Language ‘ist kein werk (ergon), sondern eine tätigkeit (energeia)’“, in: Guimarães, Eduardo/Barros, Diana Luz Pessoa de (Hrsg.): History of Linguistics 2002. Selected Papers from the Ninth International Conference on the History of the Language Sciences. Amsterdam/Philadelphia 2007, 197–205.

274

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

des Faktums“: „[…] перед ним стояло нечто высокое, чуждое и всего Сережу с головы до ног обесценивавшее. Это был мужской дух факта, самый скромный и самый страшный из духов.“126 „[…] vor ihm [stand] etwas Hohes, Fremdes und Serjosha von Kopf bis Fuß Entwertendes. Es war der männliche Geist des Faktums, der bescheidenste und schrecklichste von allen.“ So handelt Ochrannaja gramota nicht nur von der Bedrohung der Kunst durch eine revolutionäre Fakten-Poetik. Der Text ist auch ein neuerliches Bekenntnis zur ‚Feminität‘ der Kunst, und das heißt zugleich: eine Erzählung von der Effeminierung der Philosophie durch den Dichter, eine Überschreibung der Durchsichtigkeit mit Opakheit. Die Bedeutung des Textes kann sich, wie Flejšman einräumt,127 nicht in einer noch so subtilen literaturpolitischen Adressierung erschöpfen. Dies einmal vorausgesetzt, ist in Betracht zu ziehen, dass der Autor-Erzähler die Polemik gegen die Literatur des Faktums gerade auch an sich selbst adressiert. Eine Lektüre des Mittelteils und mancher anderer Passagen zeigt, wie ein zentraler Bereich von Pasternaks Kunstdenken hier nicht lediglich zusammengefasst, neu illustriert und per „Schutzbrief “ aufbewahrt wird, sondern eine weitere grundlegende Wendung erfährt. Was das Licht betrifft, ist Ochrannaja gramota als Kommentar zur Kunst auch ein Dokument von Pasternaks ständiger schöpferischer Selbstdemontage, wie Boris Gasparov sie beschrieben hat. Auf keine der bisher herausgearbeiteten Positionen lässt sich die neu skizzierte Theorie restlos zurückführen: weder auf das „Mitleid mit der Dämmerung“, wie sie die Künstlerfigur Reliquimini in den ersten Texten Pasternaks entwickelt hatte, noch auf den mythopoetisch-sophiologischen Licht-Regen, noch auf die ‚Übergangslösung‘ eines in die Gegenwart hereinschimmernden Leuchtens des fernen Sozialismus. Denn einerseits wird in Ochrannaja gramota die Flüchtigkeit, die unaussprechliche Vergänglichkeit der Epiphanie bis zum Äußersten getrieben – dafür ist das Aufscheinen des „Ausländers“ Rilke ein erstes Beispiel –, andererseits aber wird sie durch die „Philosophisierung“ (Arthur C. Danto) der Kunst erstmals zu etwas Dauerhaftem. Ziel der Kunst ist nach Ochrannaja gramota das Festhalten von Verwandlung, Verwandlung als Zustand. So heißt es in dem Text zur Peripetie des Marburg-Abenteuers: „Меня окружили изменившиеся вещи. В существо действительности закралось что-то неиспытанное. Утро знало меня в лицо и явилось точно затем, чтобы быть при мне и меня никогда не оставить.“128 „Die Dinge, die mich umgaben, hatten sich verändert. Ins Innerste der Wirklichkeit hatte sich etwas nie Erfahrenes gestohlen. Der Morgen kannte mich von Angesicht und war allein deshalb erschienen, bei mir zu sein und mich niemals zu verlassen.“

126 Povest’, 146/147 (Novelle, 231, modifiziert). 127 Flejšman: Boris Pasternak v dvadcatye gody, 211. 128 Ochrannaja gramota, 181 (Hervorhebung im Orig.; Der Schutzbrief, 281).

Spektorskij und Schutzbrief 275

Den Eindruck einer solchen Neuheit aller Dinge hatte bereits Sestra moja – žizn’ vermittelt, jedoch ungleich viel spielerischer. Man könnte die Position provisorisch so benennen: Um 1929/1930, während unter Stalin der gewaltsame Eintritt in die lichte Zukunft beginnt, bringt Pasternak die Figur des Licht-Regens neu mit seiner jugendlichen Dämmerungs-Obsession zusammen. ‚Verklärung‘ kommt in Ochrannaja gramota nicht durch Licht zustande, sondern ausdrücklich durch Überbietung des Lichts. Licht steht – sehr ähnlich wie in Malevičs Suprematismus – nur noch als Naturding und visuelles Analogon rationaler Operationen zur Debatte. Es wird auf seine schematischsten Funktionen reduziert. Infolgedessen ist es für Pasternak, so meine These, nur mehr als ‚Grenzwert‘ der Kunst relevant.129 Auf die okularphobe Abwertung des Lichts wurde in jüngerer Vergangenheit von Angela Livingstone, der englischen Übersetzerin von Pasternaks Text, hingewiesen: „Okhrannaia gramota had always stayed in my memory as visually brilliant. Re-reading confirmed but also modified this impression.“130 Im Zusammenhang mit dem Kapitel II, 7 schreibt sie weiter: „[…] all references to sight in the main theoretical part […] are sight-negating.“131 So klar Livingstone die Abwertung des Visuellen gegenüber der unsichtbaren und überpersönlichen, auf Leibniz ebenso wie auf Goethe, Friedrich Schlegel, Novalis, Schelling, Nietzsche, Bergson und wiederum auf Rilke verweisenden „Kraft“132 betont, so wenig geht sie näher auf die Logik dieser Abwertung ein – auf ihre poetisch-wissenschaftskritische Absicht. Dies hat bis heute, wenn ich richtig sehe, nur Johanna Renate Döring getan.133 Zur Diskussion

129 So zuletzt auch Glazov-Corrigan: „The parallel with the sun is carefully maintained […].“ Art after Philosophy, 82. Die Poesie bleibe bei aller Überbietung des Lichts „measured alongside the potency of sun“. Ebd., 85. Glazov-Corrigan liest die Ästhetik von Ochrannaja gramota als „Streit“ mit der Sonnen-Bildlichkeit von Platons Philosophie. 130 Livingstone, Angela: „Re-reading ‘Okhrannia gramota’: Reflections on Pasternak’s use of visuality and his conception of inspiration“, in: Fleishman: Eternity’s Hostage, I, 262–284, hier 262. 131 Ebd., 272 (Hervorhebung im Orig.). 132 Vgl. Terras: „Boris Pasternak and Romantic Aesthetics“, 52/53. Zu Verbindungen mit Rilkes „Kraft“-Begriff Pavlova, Nina: „Ril’ke i Pasternak. Opyt sopostavlenija“, in: Pasternakovskij sbornik, I, 68–97, hier 75/76. Zum Kraft-Begriff der Leibnizschen Monade Dorzweiler, Sergej: „Boris Pasternak und Gottfried Wilhelm Leibniz“, in: Dorzweiler, Sergej/Harder, Hans-Bernd (Hrsg.): Pasternak-Studien I. Beiträge zum Internationalen Pasternak-Kongreß 1991 in Marburg. München 1993, 25–31, hier 29. – Angela Livingstone hebt die Nähe zu dem von Pasternak sehr geschätzten (und übersetzten) John Keats hervor, welcher dem Künstler lange vor Rilke eine eigene Identität abgesprochen hatte. Für die von Pasternak abgelehnte Position einer ‚schlecht‘ romantischen, von innen kommenden Inspiration würde dagegen William Wordsworth stehen. Livingston: „Značenie mesta v pasternakovskoj teorii vdochnovenija“, 132. 133 Döring: Die Lyrik Pasternaks in den Jahren 1928–1934, 32/33.

276

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

steht dabei vor allem die folgende Passage, in der Pasternak im Konjunktiv seine „schöpferische Ästhetik“ entwirft. Ich zitiere sie ausführlich: Если бы при знаньях, способностях и досуге я задумал теперь писать творческую эстетику, я построил бы ее на двух понятьях, на понятьях силы и символа. Я показал бы, что в отличье от науки, берущей природу в разрезе светового столба, искусство интересуется жизнью при прохожденьи сквозь нее луча силового. Понятье силы я взял бы в том же широчайшем смысле, в каком берет его теоретическая физика, с той только разницей, что речь шла бы не о принципе силы, а о ее голосе, о ее присутствии. Я пояснил бы, что в рамках самосознанья сила называется чувством.134 Wenn ich es jetzt, Kenntnisse, Fähigkeiten und Muße vorausgesetzt, unternähme, eine Ästhetik des Schöpferischen zu schreiben, baute ich sie auf zwei Begriffen auf – auf dem Begriff der Kraft und dem des Symbols. Ich zeigte, daß im Unterschied zur Wissenschaft, die die Natur im Schnitt der Lichtsäule erfaßt, die Kunst sich für das Leben beim Durchgang eines Kraftstrahls durch es hindurch interessiert. Den Begriff der Kraft faßte ich in dem weiten Sinn, in dem ihn die theoretische Physik faßt, nur mit dem Unterschied, daß nicht von dem Prinzip der Kraft die Rede wäre, sondern von ihrer Stimme, von ihrer Anwesenheit. Ich legte klar, daß im Rahmen des Selbstbewußtseins die Kraft Gefühl genannt wird.135

Dörings Lektüre setzt bei einer Kritik an Viktor Franks „allzu kurz zielende[r] Umschreibung“ dieser Stelle an. Frank hatte in seinem Essay „Vodjanoj znak“ den „световой столб“ / die „Lichtsäule“ der Wissenschaft als durchleuchtende Erfassung und den „силовой луч“  / den „Kraftstrahl“ der Kunst als das Leben verändernde Energie verstanden.136 Die Schwäche von Franks Dichotomisierung rational durchdringen vs. kreativ transfigurieren besteht nach Döring allein schon darin, dass dann Pasternaks Behauptung einer Nähe zwischen Kunst und „theoretischer Physik“ nicht plausibel erklärt werden könne. Es ist, als würde Frank die Passage durch die Brille des sowjetischen Bergsonianers Aleksandr Voronskij lesen, der die Vorgehensweisen von Wissenschaft und Kunst schematisch in der Dichtomie analysieren vs. synthetisieren unterscheidet. Voronskij hatte 1923 geschrieben: Искусство, как и наука, познает жизнь. У искусства, как и у науки, один и тот же предмет: жизнь, действительность. Но наука анализирует, искусство синтетизирует; наука отвлеченна, искусство конкретно; наука обращена к уму человека, искусство – к чувственной природе его. Наука познает жизнь с помощью понятий, искусство – с помощью образов, в форме живого чувственного созерцания.137

134 Ochrannaja gramota, 186 (Hervorhebung im Orig.). Die Ausführungen zum Symbol- und Metaphernbegriff folgen in dem Kapitel II, 7 anschließend an diese Stelle. Ich werde sie im Zusammenhang mit Pasternaks Problematisierung einer Poetik der „Fakten“ diskutieren. 135 Der Schutzbrief, 288, modifiziert. 136 Frank: „Vodjanoj znak“, 247. 137 Voronskij: „Iskusstvo kak poznanie žizni i sovremennost’“, 302.

Spektorskij und Schutzbrief 277 Die Kunst erkennt wie die Wissenschaft das Leben. Die Kunst hat auch ein und denselben Gegenstand wie die Wissenschaft: das Leben, die Wirklichkeit. Doch die Wissenschaft analysiert, die Kunst synthetisiert; die Wissenschaft ist abstrakt, die Kunst ist konkret; die Wissenschaft richtet sich an den Intellekt des Menschen, die Kunst – an dessen sinnliche Natur. Die Wissenschaft erkennt das Leben mit Hilfe von Begriffen, die Kunst – mit Hilfe von Bildern, in Form von lebendiger sinnlicher Anschauung.

Döring lässt anders als Frank (und Voronskij) in Pasternaks Bestimmung nur einen graduellen Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst gelten. Dieser bestehe darin, dass die Wissenschaft sich für die Analyse ihrer Wirklichkeitsabbildung interessiere, während die Kunst das Abbilden als Prozess betreibe. Hier liegt der Kern der Problematik: „в разрезе светового столба“ / „im Schnitt der Lichtsäule“ ist für Döring keine allgemeine polemische Apostrophierung der ‚zergliedernden‘ Wissenschaft, sondern die konkrete Benennung eines Verfahrens der modernen Physik, der spektralen Zerlegung des Lichts. Sie schreibt: Tatsächlich wird in der Naturwissenschaft unter einer Lichtsäule ein leuchtender Spalt verstanden, der mit optischen Mitteln bewirkt wurde. Es kann beispielsweise das Licht einer Lampe so auf einen Spalt eingeschränkt werden, daß die Farben des Lichtes mit der Schärfe des Spaltes ununterscheidbar werden. Das Licht eines leuchtenden Gegenstandes hat bei dieser Einschränkung einen Strahlenverlauf, der einem selbstleuchtenden Spalt entspricht. Wird nun hinter dem Spalt ein Spektrum erzeugt, indem der leuchtende Spalt durch ein Gitter hindurch auf einer Photoplatte abgebildet wird, erhält man ein Linien-(„Emissions“-)Spektrum […]. Die Emissionslinien, die Pasternak als die bei der Zerlegung der Lichtsäule (=spektrale Zerlegung des Lichts) Entstehenden erwähnt, werden untersucht, um aus ihnen den Atombau zu bestimmen.138

In Analogie zu diesem Verfahren befasse sich zunächst auch die Kunst mit der „Einschränkung“ von Licht auf einen „selbstleuchtenden Spalt“, der auf einer dahinterliegenden Fotoplatte abgebildet werde, interessiere sich aber in einem zweiten Schritt nicht für die Analyse der entstehenden Abbildung (die Bestimmung einer Atomstruktur), sondern für die entstehende Abbildung als solche (nach dem Muster von Roman Jakobsons „poetischer Funktion“). Dörings Kommentar leistet eine plausible Aufschlüsselung von Pasternaks bei rein metaphorischer Lesart verschwommen bleibender Affirmation der theoretischen Physik. Die Gefahr ist freilich, dass dadurch der aufgestellte Gegensatz zwischen „Lichtsäule“ (Wissenschaft) und „Kraftstrahl“ (Kunst) wieder eingeebnet wird, obwohl er in Ochrannaja gramota über den ästhetischen Traktat hinaus grundlegend ist. Im einen Fall ist ja doch von einem erzeugten Lichtspalt die Rede (den Döring erläutert), im anderen Fall von einem Kraftstrahl. Das Moment der Erzeugtheit, das die Methode der spektralen Zerlegung auszeichnet, fällt beim Kraftstrahl weg oder wird wenigstens nicht explizit mit genannt. Poetik des Lichts wird unter dem Begriff der „Einschränkung auf 138 Döring: Die Lyrik Pasternaks in den Jahren 1928–1934, 32.

278

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

einen Spalt“ jedenfalls zu einem komprimierenden, ja analytischen Verfahren – wie es nach Pasternak gerade für das Licht-„Zerschneiden“ der Wissenschaft charakteristisch ist und der Idee von einem durch das Leben „hindurchgehenden“ Kraftstrahl zuwiderläuft. Umso produktiver wäre eine physikalische Lektüre womöglich in Bezug auf die Einleitung von Spektorskij. Der Hauptheld könnte dann wörtlich als „Spektral“, als „Lichtspalt“ in der Wirklichkeit verstanden werden, der auf der dahinterliegenden Photoplatte (=короб лучевой  / Strahlenkammer) abgebildet wird. Zugleich lieferte Ochrannaja gramota so eine weitere Erklärung für Pasternaks Unzufriedenheit mit seinem Versroman: In Spektorskij gibt es zwar eine quasi-physikalische Versuchsanordnung für das Licht, aber ihr geht der alles durchdringende „Kraftstrahl“ ab.139 Wenige Jahre nach Döring schlug Michel Aucouturier einen anderen „Schlüssel“ zu der diskutierten Stelle vor. Die bei Döring im Mittelpunkt stehende Engführung mit der theoretischen Physik vernachlässigt Aucouturier, ähnlich wie Frank (und beruft sich bei seiner Lektüre tatsächlich auf den Intuitivisten Voronskij). Aucouturier macht die Opposition Licht vs. Kraft stark und nennt Bergsons Wissenschaftskritik als Quelle für die Abwertung des Lichts: „Licht“, im Gegensatz zur „Kraft“, bezeichnet hier die Welt visueller und, allgemeiner, räumlicher Wahrnehmungen. Unter diesen Worten ist leicht die traditionelle Unterscheidung zweier entgegengesetzter Formen der Wirklichkeitserfassung zu erkennen: durch äußere Vorstellungen […] und durch inneres Selbstgefühl […]. Den systematischsten Ausdruck hat diese Entgegensetzung in der Philosophie Bergsons gefunden […]: hier nimmt er die Form der Opposition Materie vs. Leben („élan vital“) an.140

Licht macht die Welt verfügbar. Indem es der Welt Sichtbarkeit gibt, verwandelt es sie in „Material“, während Bergsons élan vital und Pasternaks „Kraft“ keine räumlichen Repräsentationen seien, unanalysierbar, in keine einzelnen Punkte aufzutrennen. Problematisch an Aucouturiers Lektüre ist die Abwesenheit Hermann Cohens, jenes Antipoden der Lebensphilosophie,141 mit dem sich Pasternak in Ochrannaja gramota ausführlich auseinandersetzt und von dem er sich so umständlich verabschiedet. Der Dichterphilosoph und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson da139 Vgl. passend dazu die kritische Bewertung von Spektorskij durch Vladimir Vejdle: „Als [Pasternak] sich aber dem Darstellen und Erzählen zuwandte, suchte er auch dabei die Seele und die Essenz des Dargestellten, obwohl er diese Essenz zuweilen (in Spektorskij zum Beispiel) verlor und in eine unbeflügelte Gegenständlichkeit verfiel.“ Vejdle, Vladimir: „Zaveršenie puti“, in: Pasternak, Boris: Sočinenija. Stichi 1936-1959. Stichi dlja detej. Stichi 1912–1957, ne sobrannye v knigi avtora. Stat’i vystuplenija. Ann Arbor 1961, VII–XV, hier XIII. 140 Aucouturier, Michel: „Ob odnom ključe k Ochrannoj gramote“, in: ders.: Boris Pasternak, 1890–1960, 337–348, hier 340/341. 141 Vgl. Holzhey, Helmut/Röd, Wolfgang: Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. 2. Neukantianismus, Idealismus, Realismus, Phänomenologie. München 2004, 37.

Spektorskij und Schutzbrief 279

gegen, so sehr seine Präsenz in dem Text immer wieder zu spüren ist, wird lediglich im ersten Teil einmal erwähnt und ist ausdrücklich nicht die Präferenz des nach wissenschaftlicher Nüchternheit strebenden Philosophiestudenten Pasternak.142 Von Pasternaks Konvertierung – Aufhebung und Weiterverwendung – der Cohenschen Philosophie wird in diesem Kapitel noch die Rede sein. Außerhalb des Zusammenhangs von Wissenschaftsaneignung und -kritik findet sich der Gegensatz Licht vs. Kraft bereits im ersten (Moskauer) Teil von Ochrannaja gramota. Manchmal, heißt es im Kapitel I, 6, sei die Sonne in seiner (Pasternaks) Studienzeit von der Liebe „überholt“ worden: „Всего порывистее неслась любовь. Иногда, оказываясь в голове природы, она опережала солнце.“143 „Überstürzter als alles eilte die Liebe. Manchmal, wenn sie im Kopf der Natur erschien, überholte sie die Sonne.“ Die auf- und untergehende Sonne verkörpert das schwerfällige, gegenüber dem menschlichen Leben unempfindliche Kreisen der Jahreszeiten, ein unfehlbar-garantiertes, souveränes Vorauseilen.144 Die Liebe sei die Kraft, die als einzige diesen Kreislauf durchqueren könne.145 In den Sätzen, die auf den zitierten folgen, ist von der Liebe als „Pfeifen einer Schwermut“ die Rede: „Я часто слышал свист тоски, не с меня начавшейся.“146 „Ich hörte oft das Pfeifen einer Schwermut, die nicht in mir ihren Ursprung hatte.“ Da die Liebe, das „почти невозможное“147 / „Beinahe-Unmögliche“, den Wettstreit gegen die Sonne meistens verlor und weit hinter dieser zurückblieb, habe der angehende Dichter immer wieder zur ihr, der 142 Vgl. zum Changieren zwischen Cohen und Bergson in Ochrannaja gramota Zehnder, Christian: „Après Cohen et Bergson. La poésie comme métaphysique concrète dans Sauf-conduit de Pasternak“, in: Jaccard, Jean-Philippe/Podoroga, Ioulia (Hrsg.): «  Temps ressenti  » et « temps construit » dans les littératures russe et français au XXe siècle. Paris 2013, 37–54. 143 Ochrannaja gramota, 159 (Der Schutzbrief, 249, modifiziert). Die Über-Lichtgeschwindigkeit erinnert an die Relativitätstheorie Einsteins bzw. in unserem Zusammenhang an Pavel Florenskijs „ewiges Reich der Ideen“ oder an Andrej Platonovs „Ultra-Licht“. Für Pasternaks Liebe, die die Sonne überholt, sind solche Referenzen wohl aber nur bedingt aufschlussreich. 144 Fiona Björling spricht in diesem Zusammenhang von Pasternaks „existenzieller Angst vor einer deterministischen Weltsicht“. Björling: „Blind leaps of passion“, 144. 145 Eine denkbare Quelle des Bildes von der überholten Sonne und der mehr-als-evidenten Liebeskraft ist Tolstojs Tagebucheintrag vom 14. Oktober 1895, in dem er über das „Gesetz der Liebe“ nachdenkt und dann schreibt: „Всё это – предположения, но для меня не менее, но более достоверные, чем вращение земли вокруг солнца.“ „All dies sind Vermutungen, aber für mich [sind sie] nicht weniger, sondern in höherem Maße glaubwürdig als das Kreisen der Erde um die Sonne.“ Tolstoj: Polnoe sobranie sočinenij, T. 53, 63 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Man muss hier auch wieder an die Sophiologie und besonders an die Weisheit Salomos 7, 29 denken: „Sie [die Sophia] ist schöner als die Sonne und übertrifft jedes Sternbild. Sie ist strahlender als das Licht.“ 146 Ochrannaja gramota, 159 (Der Schutzbrief, 250). Dieses Pfeifen konkretisiert sich im Traktat des zweiten Teils als „Stimme“ der Kraft. 147 Ochrannaja gramota, 177 (Hervorhebung im Orig.).

280

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

„schwermütigen“ Liebe, zurückschauen müssen und dabei en passant die eigentlichen Anlässe der Kunst, die „unbeseelten Gegenstände“ entdeckt: В этой оглядке и заключалось то, что зовется вдохновеньем. К особенной яркости, ввиду дали своего отката, звали наиболее отечные, нетворческие части существованья. Еще сильнее действовали неодушевленные предметы. Это были натурщики натюрморта, отрасли, наиболее излюбленной художниками. Копясь в последнем отдалении живой вселенной и находясь в неподвижности, давали наиполнейшее понятие о движущемся целом, как всякий кажущийся нам контрастом предел. Их расположение обозначало границу, за которой удивленью и состраданью нечего делать. Там работала наука, отыскивая атомные основания реальности.148 Und dieser Blick zurück schloß auch ein, was man Inspiration nennt. Zu besonderer Leuchtkraft riefen, angesichts der Ferne ihres Verebbens, die angeschwollensten, unschöpferischsten Teile des Daseins. Noch stärker wirkten die unbelebten Gegenstände. Sie waren die Modelle des Stillebens, jenes von den Malern am meisten bevorzugten Genres. Sie häuften sich in der letzten Entfernung des lebenden Alls, befanden sich in der Unbeweglichkeit und gaben so den vollständigsten Begriff von seinem sich bewegenden Ganzen, gleich jeder uns als Kontrast erscheinenden Schranke. Ihre Disposition bestimmte die Grenze, hinter der Staunen und Mitleid nichts mehr zu tun hatten. Dort arbeitete die Wissenschaft, die nach den atomaren Grundlagen der Realität suchte.149

Angela Livingstone hat den Blick zurück („оглядк[а]“150) zu den unbelebten Dingen mit den poetologischen Orpheus-Mythen Rilkes und Blanchots verglichen und ist zu dem Schluss gekommen, dass in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und in L’espace littéraire die Bedrohtheit des Autors und seines Werks im Zentrum stehen, bei Pasternak hingegen die Sorge um das Schicksal der Dinge.151 Unbeseelte Gegenstände ziehen wie schon in seinen frühen Fragmenten die Hingabe des Dichters auf sich. Reliquimini hatte zwischen 1910 und 1912, in den Jahren vor seinem Gastsemester in Marburg, vom Schöpfertum als „Mitleid mit der Dämmerung“ gesprochen. Nun wird deutlich, wie aktuell diese Figur für Pasternak geblieben ist. Nach Ochrannaja gramota sind es im Verbund mit der Verliebtheit die herumlie148 149 150 151

Ebd., 160. Der Schutzbrief, 250. Ochrannaja gramota, 160. Livingstone: „Pasternak i Ril’ke“, 437, und dies., „Značenie mesta v pasternakovskoj teorii vdochnovenija“, 133/134. Siehe das Kapitel „Le regard d’Orphée“, 179–184, in Blanchots L’espace littéraire. Nach Blanchot opfert Orpheus mit seinem Blick zurück in die Unterwelt zu Eurydike nicht nur den Tag, sondern auch die abgemessene, vom Lied umgrenzte, domestizierte Nacht. Er setzt also alles aufs Spiel, sogar sein Künstlertum, und riskiert eine „éclipse“ des vermeintlich gesicherten Anfangspunkts, den er mit seinem Werk geschaffen hat. Ebd. 183/184. Livingstone ist Recht zu geben, wenn sie im Kontrast dazu den Optimismus der ‚Originalität‘ in Ochrannaja gramota hervorhebt. Nichtsdestoweniger ist Orpheus’ Opferbereitschaft Pasternaks revidierter Kenotik keineswegs so unähnlich.

Spektorskij und Schutzbrief 281

genden, ohnmächtigen Dinge des Alltags, die die Inspiration des Dichters wachrufen, indem sie – das ist ein anderer Akzent als jener der frühen Fragmente – nach „Grellheit“ (яркость) rufen.152 (Wie in diesem Kapitel noch deutlich werden wird, ist die Grellheit zwar evidentermaßen eine Licht-Kategorie, figuriert aber auf der Seite der tendenziell antivisuellen Kraft-Ästhetik.) Die Kunst interessiert sich für die Dinge, insofern sie über sie staunen und mit ihnen mitleiden kann, nicht aber für ihre Struktur, die in den Zuständigkeitsbereich der wissenschaftlichen Analyse fällt („Там работала наука“). Es ist interessant, dass die Sonne „im Kopf “ der Natur erscheint und die Wissenschaft mit ihrer atomaren Analyse sich an den „Schwanz“ der Natur gleichsam anhängt. Doch obwohl am anderen Ende des Modells angesiedelt, ist die Wissenschaft unmittelbar mit dem Sonnenlicht verbunden. Sie kanalisiert das Sonnenlicht, sie „komprimiert“ es auf einen Spalt (Döring). Wissenschaft verwertet das Licht am Ende der Kette also, Kunst hingegen besteht lediglich in einer sehnsüchtigen Teilhabe. Doch eine derartige Dichotomisierung von Wissenschaft und Kunst ist, wie Döring zu Recht gegen Frank einwendet, wohl noch zu schematisch. Eine interessante Möglichkeit, der Wissenschaft gleichwohl Rechnung zu tragen, hat Darlene Reddaway vorgeschlagen. Sie sieht in Ochrannaja gramota, besonders im Bild von der Liebe, die die Sonne überholt, vor allem eine Überbietung von Hermann Cohens streng kausalem Denken.153 Doch diese Überbietung ist nach Reddaway nicht einfach ein wissenschaftsfeindliches Plädoyer für eine irrationale Kunst, sondern sie folge selbst einem Paradigma der neuesten Physik, der Quantenmechanik. Im Lichte der Quanten interpretiert sie die Passage, wo Pasternak die Verliebtheit definiert: Sie mache aus jeder Fliege einen Elefanten.154 Um die Natur (die Sonne) einzuholen, benötige der Mensch/der Dichter die „Kraft“ der Liebe, die es ihm erlaube, 152 Über das Mitleid mit „leidenden“ Alltagsdingen und die „qualvolle“ Teilhabe an ihnen schreibt ausführlich Vladimir Toporov (in Bezug auf Innokentij Annenskij). Toporov, Vladimir: „Vešč’ v antropocentričeskoj perspektive (apologija Pljuščkina)“ [1986], in: ders.: Mif. Ritual. Simvol. Obraz. Issledovanija v oblasti mifopoėtičeskogo. Izbrannoe. Moskva 1995, 7–111, hier 32. Die Ausführungen können durchaus auf Ochrannaja gramota bezogen werden, mit dem Vorbehalt, dass bei Pasternak höchst selten ein einzelnes Ding in den Vordergrund rückt. Dinge sind bei Pasternak letztlich immer Anlässe für eine bestimmte, eben „mitleidende“ Haltung. 153 Reddaway, Darlene: „Pasternak, Spengler, and Quantum Mechanics: Constants, Variables, and Chains of Equations“, in: Russian Literature XXXI (1992), 37–70, hier 57, 62. 154 Ochrannaja gramota, 177. Nach Boris Gasparov wiederum beweist dieses Bild die Gleichursprünglichkeit der Verliebtheit mit der Ironie, wie sie der späte Friedrich Schlegel in seinen Philosophischen Vorlesungen insbesondere über Philosophie der Sprache und des Wortes (1828/1829, publ. 1830) konzipiert hatte. Wie die Ironie sei die Verliebtheit ein Anerkennen der eigenen Kleinheit (man denke an Pasternaks Fliegen-Bild) und gleichzeitiges Inkaufnehmen der eigenen Lächerlichkeit (man denke an die Vergrößerung zum Elefanten). Schlegel, Friedrich: „Dritte Vorlesung“, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe.

282

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

sich in a-kausalen Sprüngen zu bewegen. Und hier aktualisiert Pasternak nach Reddaway das von Cohen noch gar nicht berücksichtigte Paradigma der Quantensprünge.155 Damit wäre Pasternak in seiner Poetologie sogar ‚wissenschaftlicher‘ als Cohen in seiner Wissenschaftstheorie. Doch auch dieser Schlüssel zu Ochrannaja gramota reduziert die Problematik. Er hat den Preis, Cohens Denken ganz aus dem Horizont des Textes, der Sprünge der Liebe und der Kunst auszublenden. Der neukantianische Philosoph hat so nur noch die Funktion, ein Beispiel zu liefern, von dem sich der werdende Dichter bzw. der sich erinnernde Autor um 1930 abstoßen kann. Indessen ist Cohens Präsenz in Pasternaks „schöpferischer Ästhetik“ nicht zu unterschätzen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist die Obsession mit den Anfängen, die wörtlich genommene ‚Originalität‘, von Cohens Ursprungs-Setzung inspiriert. Und zweifellos verdankt sich das Approximations-Paradigma – seit Jakobsons „Randbemerkungen“ über den Metonymiker Pasternak ein Gemeinplatz – Cohens Philosophie des Infinitesimalen, der „unendlich kleinen Größen“. (Auf diese Aspekte bin ich in der Einleitung eingegangen). Doch die neukantianische Einflusssphäre ist noch deutlich größer. Offensichtlich wirken in Ochrannaja gramota zentrale Thesen aus Cohens Ästhetik des reinen Gefühls (1912) nach. Dieser ästhetische Traktat war zum Zeitpunkt von Pasternaks Reise nach Marburg das einzige Werk Cohens in der Hausbibliothek der Familie gewesen, bemerkenswerterweise ohne von Pasternak jemals erwähnt zu werden.156 Mehrere Konzepte aus der Ästhetik des reinen Gefühls sind in unserem Zusammenhang von Interesse: die Liebe als „Urquell der Kunst“157, das „reine Gefühl“ als „Absage alles Inhalts“158, die Überbietung der „Sichtbarkeit“ durch „Fühlbarkeit“159, Bewusstsein als „Denkgefühl“ statt „Denkbegriff“160, die „Vergleichung“ und „Verinnerlichung“ als Grundoperation der Poesie und der Kunst überhaupt161 und nicht zuletzt die paradigmatische Rolle der Sonnenmetapher (Schillers „Sonnenbahn der Sittlichkeit“ aus dem Gedicht „Die Künstler“, 1789)162. Wie soll diese Begriffskonstellation auf Ochrannaja gramota bezogen werden? Ich meine, dass sie sich zweiteilt. Die Liebe, das Gefühl und das Unbehagen an der Sichtbarkeit – Cohens okularphobe Seite – werden von Pasternak unmittelbar aufgenommen und fortgeschrieben, namentlich im zweiten Teil. Die Vergleichung, die Verinnerlichung

155 156 157 158 159 160 161 162

Herausgegeben von Ernst Behler. Zehnter Band. München/Paderborn/Wien/Zürich 1969, 357–379, hier 357/358. Vgl. Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 87/88. Reddaway: „Pasternak, Spengler, and Quantum Mechanics“, 58/59. Vgl. Fleishman/Harder/Dorzweiler: „Vvedenie“, 113. Cohen: Ästhetik des reinen Gefühls, 178 (Hervorhebung im Orig.). Ebd., 208. Ebd., 355 (Hervorhebung im Orig.). Ebd., 363 (Hervorhebung im Orig.). Ebd., 377, 382. Ebd., 376.

Spektorskij und Schutzbrief 283

und die (klassizistische) Sonne Cohens hingegen scheiden aus, da sie in der Argumentation von Ochrannaja gramota rationalistische Fremdkörper wären. Trotz seiner hohen antivisuellen Sensibilität greift Cohen alsbald wieder auf ein zutiefst okularzentristisches Paradigma zurück: die Sonnen-Metapher.163 So ist die Distanzierung vor allem darin zu sehen, dass in Pasternaks Text der Sonne dieser paradigmatische Wert für die Kunst immer wieder abgesprochen wird. Doch was genau ist die Funktion der Sonne in Cohens System? Durch den Vergleich geistiger Realitäten mit der Sonne, schreibt er, werde diese denaturalisiert und zum „Zentrum einer neuen Welt“164. Die vergleichende Operation der Metapher bewerkstelligt also nach Cohen eine Verinnerlichung, so dass es ihm am Ende weder um die Helden noch um die Sonne, sondern nur mehr um ein neues „reines Selbst“ geht: Die Metapher ist nicht eine Nebensache, aber durch sie ist die Sonne zur Nebensache geworden. Und doch ist nicht etwa der Bruder zur Hauptsache geworden; auch er ist nur Mittelsperson. Der erzielte Gegenstand ist das Selbst. Wir betreten feuertrunken das Heiligtum der Freude. Die Freude ist das Heiligtum des reinen Selbst. Das Selbst ist die Einheit, welche die Sprache der Poesie vollzieht.165

Genau diese Aufhebung bzw. Neukonstituierung der Welt in der Innerlichkeit ist es, von der Pasternak abweicht. Kunst ist für ihn nicht das Suchen und Finden des „Selbst“, sondern der freiwillige, „exaltierte“ (Igor’ Smirnov) Verlust eines solchen. Mein Vorschlag ist daher, den Abschied von Cohen im Zusammenhang mit der anderen zentralen, obwohl weitestgehend abwesenden Figur von Ochrannaja gramota zu lesen: mit Rilke. Denn da, wo Pasternak Cohen hinsichtlich der Visualität Inkonsequenz, womöglich naiven Rationalismus hätte vorwerfen können,166 da scheint Rilke zur entscheidenden Referenz zu werden. In dem schon mehrfach erwähnten Kapitel „Rilke et l’exigence de la mort“ aus L’espace littéraire, das von Livingstone in die Diskussion eingeführt wurde, beschreibt Maurice Blanchot, wie der Künstler nach Rilke den Dingen zum Verschwinden verhelfen müsse, um sie zu retten.167 Blanchot diskutiert auch den bekannten Belegtext für Rilkes Abwendung vom ‚Schauen‘, das Gedicht „Wendung“ (1914, mit einem Motto von Rudolf Kaßner: „Der Weg von der Innigkeit zur Größe geht durch das Opfer“). In freien Versen bekennt der Sprecher, bisher nur geschaut zu haben, ohne zu lieben. Mit Schrecken stellt er fest, dass er die Bilder, die er sich gemacht hat, noch gar nicht kenne. Und am Ende des Gedichts ermahnt er sich, das Lieben zu lernen: 163 Im Brief vom 23. Juni/5. Juli 1912 an die Eltern betont Pasternak, beim Bankett der Emeritierungsfeier zu Ehren von Cohen sei alles „светло“ / „hell“ gewesen. PSS, VII, 116. 164 Cohen: Ästhetik des reinen Gefühls, 384. 165 Ebd., 385/386. 166 Auf abfällige Kritik stieß Cohens Ästhetik übrigens auch bei engen Weggefährten wie Paul Natorp. Vgl. Fleishman/Harder/Dorzweiler: „Vvedenie“, 113/114. 167 Blanchot: L’espace littéraire, 155/156.

284

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie Denn des Anschauns, siehe, ist eine Grenze. Und die geschautere Welt will in der Liebe gedeihn. Werk des Gesichts ist getan, tue nun Herz-Werk an den Bildern in dir, jenen gefangenen; denn du überwältigtest sie: aber nun kennst du sie nicht. Siehe, innerer Mann, dein inneres Mädchen, dieses errungene aus tausend Naturen, dieses erst nur errungene, nie noch geliebte Geschöpf.168

Das Vorbild bei der Abwendung vom Schauen sind in Rilkes Gedicht „die minder, fraglicher Sichtbaren“169, die Frauen. Der Weg zur Liebe sei die Entdeckung eines „innere[n] Mädchens“, das den „innere[n] Mann“, das vorstellend-hervorbringende Denken, ersetzen, jedenfalls besänftigen solle. Eine sehr ähnliche Topik des sich entziehenden, „lichtscheuen“ Femininen haben wir bei Levinas angetroffen, und es ist wohl kein Zufall, dass Rilkes Gedicht bei Blanchot – Levinas’ Weggefährten – so prominent auftaucht. Nun ist Ochrannaja gramota zwar nicht der Text, in dem Pasternaks Selbst-Effeminierung am markantesten wäre. Die „Kraft“-Ästhetik, obwohl сила im Russischen feminin ist, scheint dem Weiblichkeitskult nicht zuträglich. So wie aber Rilke in dem Text nur sehr am Rande zur Erscheinung kommt, so ist auch die Angebetete des Helden (die abgekürzt genannte „V-ja“170), um es mit Rilkes Gedicht „Wendung“ auszudrücken, nur sehr „fraglich“ sichtbar. Man kann also sagen: Weiblichkeitskult und Kult des Abwesenden fallen zusammen. Mit Cohen allein, das ist klar, wäre dieses „weibliche“ Nicht-Erscheinen schwerlich einzufangen gewesen. Kommen wir zurück zum Verzicht auf eine akademische Karriere, wie er in Ochrannaja gramota dargestellt ist. Wenn es über die Arbeit des Philosophiestudenten am letzten Referat zu Ende des Marburger Semesters heißt: „Я переживал изученье науки сильнее, чем это требуется предметом. Какое-то растительное мышленье сидело во мне“171 / „Ich erlebte das Studium der Wissenschaft stärker, 168 Rilke: Werke, 2, Gedichte 1910 bis 1926, 101/102. Siehe Blanchot: L’espace littéraire, 148. 169 Rilke: Werke, 2, 101. 170 Gemeint ist die Kaufmannstochter Ida Vysockaja, mit der Pasternak seit Kindheit befreundet war, vgl. Barnes: Boris Pasternak, I, 133–135. 171 Ochrannaja gramota, 182/183 (Hervorhebung im Orig.; Der Schutzbrief, 283, modifiziert). Karen Evans-Romaine verbindet das „vegetative Denken“ Pasternaks mit Novalis’ Vorstellung, aus der Naturlehre müsse ein „organisches Gewächs“ (Novalis: Schriften, III, 574) werden. Evans-Romaine: „Pasternak and Novalis“, 65. Man kann hier auch darauf verweisen, dass Pasternaks Familienname im Russischen die Pflanze Pastinak meint, deren Wurzel als

Spektorskij und Schutzbrief 285

als es vom Gegenstand her erfordert ist. Eine Art vegetatives Denken saß in mir“, so ist damit ein Übergang von der Wissenschaft zur ‚Weisheit‘ angedeutet, von der souveränen, distanzierten Aneignung der Begriffe zu einem Dickicht von Assoziationen auf Grund von Nähe.172 Der angedeutete Übergang von der lichten Wissenschaft zur dunkleren Weisheit – man erinnere sich an das Wäldchen im Gedicht „Vorob’evy gory“ aus Sestra moja – žizn’ – konkretisiert sich, als es über die Rückreise von Berlin nach Marburg heißt: „По приезде я не узнал Марбурга. Гора выросла и втянулась, город исхудал и почернел.“173 „Bei der Ankunft erkannte ich Marburg nicht wieder. Der Berg war über sich hinausgewachsen und eingefallen, die Stadt abgemagert und schwarz geworden.“ Das Wiedererkennen überhaupt, Inbegriff der wissenschaftlichen Systematik/Klassifizierung, funktioniert nicht mehr. Marburg, das damalige europäische Zentrum der Wissenschaftstheorie, „magert ab“ und „wird schwarz“. Dafür eröffnet sich dem neugeborenen Dichter, ohne dass er etwas dafür getan hätte, das Leben: „Свежий лаконизм жизни открылся мне, перешел через дорогу, взял за руку и повел по тротуару.“174 „Der frische […] Lakonismus des Lebens […] kam über die Straße, nahm mich bei der Hand und führte mich über das Trottoir.“ Der bereits zitierte Ausruf „Конец, конец! Конец философии“  / „Schluss, Schluss! Schluss mit der Philosophie“ geschieht während der Dämmerung.175 Und die Gedichte, die der Autor/Held nun fieberhaft zu schreiben beginnt, sind ganz der dunklen Sphäre gewidmet: dem Meer, dem Regen, der Steinkohle im Harz.176 Sobald also der Bereich der Abstraktion verlassen wird, beginnt sich die Welt wieder zu verdunkeln. Sogar die Sonne scheint sich dieser Logik, der dämmrigen poetischen Weisheit, zu fügen, indem sie „черными кружочками прожигало пыльные листья“ / „in schwarzen Ringeln die staubigen Blätter [durchbrannte].“177 Damit hat das Denken aber nicht einfach aufgehört. Es ist nur eben „vegetativ“ geworden. Das zeigt sich schön in einer Passage über das Gedichteschreiben in einer Marburger Sommernacht. Die Beschreibung der Nacht ist zugleich ein Nachdenken über das Erproben von Metaphern. Ob Pasternak Cohens Ausführungen zur „Vergleichung“ und das entsprechende Sonnenbeispiel aus

172 173 174 175 176 177

rübenartiges Gemüse verwendet wird. Das Verzweigt-Vegetative in Pasternaks Ästhetik ist insofern schon wie eine Signatur in seinem Namen enthalten. Zur Verbindnung von Liebe, Leben und Weisheit in der Sophiologie siehe Jesus Sirach 4, 12: „Wer sie [die Weisheit] liebt, liebt das Leben […].“ Ochrannaja gramota, 183 (Der Schutzbrief, 284). Ochrannaja gramota, 182 (Der Schutzbrief, 281). Ochrannaja gramota, 184. Ebd., 187 (Der Schutzbrief, 290). Bevor Pasternak am 4. August aus Marburg abreiste, bestellte er sich aus Moskau Gedichtbände der Symbolisten Aleksandr Blok, Vjačeslav Ivanov, Valerij Brjusov und Fedor Sologub. Vgl. Fleishman/Harder/Dorzweiler: „Vvedenie“, 118. Ochrannaja gramota, 189 (meine Hervorhebung – Ch. Z.; Der Schutzbrief, 292).

286

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

der Ästhetik des reinen Gefühls überhaupt gelesen hatte oder nicht, die Passage wirkt wie eine direkte – abschlägige – Antwort darauf: Однажды я особенно увлекся. Была ночь из тех, что с трудом добираются до ближайшего забора и, выбившись из сил, в угаре усталости свешиваются над землей. Полнейшее безветрие. Единственный признак жизни – это именно черный профиль неба, бессильно прислонившегося к плетню. […] С чем только не сравнимо небо в такую ночь! Крупные звезды – как званый вечер, Млечный Путь – как большое общество. Но еще больше напоминает меловая мазня диагонально протянутых пространств ночную садовую грядку. Тут гелиотроп и матиолы. Их вечером поливали и свалили набок. Цветы и звезды так сближены, что. похоже, и небо попало под лейку, и теперь звезд и белокрапчатой травки не расцепить.178 Einmal riß es mich besonders hin. Es war eine jener Nächte, die mit Mühe bis zum nächsten Zaun gelangen und sich, entkräftet, in einem Rausch von Müdigkeit über der Erde herabhängen lassen. Völlige Windstille. Das einzige Zeichen des Lebens – eben dieses schwarze Profil des Himmels, der sich kraftlos ans Zaungeflecht lehnt. […] Womit ist denn der Himmel nicht in einer solchen Nacht zu vergleichen? Die großen Sterne – ein Abend in kleinem Kreis, die Milchstraße – eine große Gesellschaft. Doch noch mehr erinnert die kreidige Kleckserei der sich diagonal erstreckenden Flächen an das nächtliche Gartenbeet. Das sind Heliotrop und Mathiolen. Sie sind am Abend gegossen worden und haben sich umgelegt. Die Blumen und Sterne sind sich so nah gekommen, daß, wie es aussieht, auch der Himmel unter die Gießkanne geriet und Sterne und weißtüpfliges Gras nicht mehr auseinander zu lösen sind.179

Ganz wie nach Cohens Ästhetik ist die Poesie hier qua metaphorisches Vergleichen imstande, die „heterogensten Elemente“180 zusammenzubringen, sozusagen „nach dem concettistischen Prinzip des ingeniös Weithergeholten“ (Erika Greber181). Doch dabei vollzieht sich bei Pasternak, wie oben erwähnt, durchaus keine „Verinnerlichung“. Der Sternenhimmel wird mit einem Blumenbeet verglichen, ja kurzgeschlossen, ohne dass sich ein neues „Selbst“ konstituierte. Die eigentliche Pointe erfolgt durch die Spezifizierung der Blumen: Es handelt sich um Heliotrop und Mathiole (Levkoje), was übersetzt heißt: die sich der Sonne Zuwendende und – in falscher, poetischer Etymologie – ungefähr die ‚Versteherin‘.182 Dabei geht der Nacht 178 Ochrannaja gramota, 187/188. Offensichtlich sind hier die Anspielungen an das Sommergedicht „Step’“ aus Sestra moja – žizn’. Dadurch bekommt die Passage noch eine zweite metapoetische Dimension. 179 Der Schutzbrief, 290. 180 Cohen: Die Ästhetik des reinen Gefühls, 383. 181 So Grebers bereits in der Einleitung zitierte Explikation von Pasternaks „Kontiguitätsmetaphern“. „Das Erinnern des Erinnerns“, 359. 182 In derselben Stelle wird zuvor die gängigere Bezeichnung „Levkoje“ verwendet. Ochrannaja gramota, 188. Die Annahme einer poetischen Etymologie mit der Wurzel math- in Nachbarschaft zum Heliotrop – und damit eine Konjunktion von Verstehen und Lichtfixierung – ist also jedenfalls nicht abwegig. (In Wirklichkeit ist die Bezeichnung „Mathiole“ vom Namen des italienischen Botanikers Pietro Mattioli abgeleitet.)

Spektorskij und Schutzbrief 287

und der abgedunkelten Poesie die Sonne als Gegenstand und Medium des Verstehens gerade ab. Wie später Jacques Derrida, der aus dem „héliotrope“ eine Chiffre des Okularzentrismus bzw. der „mythologie blanche“183 machte, re-etymologisiert Pasternak hier die Blumennamen und liefert damit auch ein schlagendes Beispiel für sein „vegetatives Denken“. Kommen wir noch einmal auf das „Überholen“ der Sonne durch die Liebe zurück. Die Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst ist im Kapitel I, 6, wo die „Kraft“ mit Liebe, einem „Pfeifen der Schwermut“, Erstaunen und Mitleid konkretisiert wird, schärfer als im ästhetischen Traktat („Schnitt der Lichtsäule“ vs. „Durchgang des Kraftstrahls“). Allerdings wird gerade auch der Traktat aus Anlass der Liebe entwickelt. Im zweiten Teil erzählt der Autor/Held von seiner unglücklichen Verliebtheit in V-ja und greift das Motiv des Wettstreits zwischen Sonne und Liebe wieder auf: В начале «Охранной грамоты» я сказал, что временами любовь обгоняла солнце. Я имел в виду ту очевидность чувства, которая каждое утро опережала все окружающее достоверностью вести, только что в сотый раз наново подтвержденной. В сравненьи с ней даже восход солнца приобретал характер городской новости, еще требующей поверки. Другими словами, я имел в виду очевидность силы, перевешивающую очевидность света.184 Im Anfang des „Schutzbriefes“ habe ich gesagt, daß die Liebe in manchen Zeiten die Sonne überholte. Ich hatte an jene Augenfälligkeit des Gefühls gedacht, die jeden Morgen allem Umgebenden zuvorkommt mit der Glaubwürdigkeit einer eben erst zum hundertsten Mal neu bestätigten Nachricht. Im Vergleich mit ihr bekam sogar der Sonnenaufgang den Charakter einer Stadtneuigkeit, die noch der Überprüfung bedarf. Mit anderen Worten, ich hatte an die Augenfälligkeit der Kraft gedacht, die die Augenfälligkeit des Lichts überwiegt.185

Pasternak identifiziert die unglückliche, besitzlos gewordene Liebe186 mit dem Begriff der Kraft. Das gilt auch umgekehrt; er lädt den Begriff der Kraft mit Liebe auf und verwendet ihn fortan mit dieser Prägung. In der Verliebtheit empfindet sein Ich-Held die ‚Lebenskraft‘ so stark und unmittelbar, dass dagegen sogar der tägliche Sonnenaufgang zu einem unvorhersehbaren Ereignis wird. Nicht das Licht ist mehr die allgemeinste Größe des Lebens, sondern die Kraft der Liebe. Und so legt Pasternak seiner hypothetisch dargelegten Ästhetik – statt wie unter Cohens Einfluss zu erwarten das Licht – die Liebe zugrunde. Licht-Poesie erweist sich als etwas „No183 Vgl. das Unterkapitel „Les fleurs de la rhétorique  : l’héliotrope“ in Derrida, Jacques: „La mythologie blanche“, in: ders.: Marges de la philosophie. Paris 1972, 247–324, hier 292–307. 184 Ochrannaja gramota, 186. 185 Der Schutzbrief, 287/288. 186 Zur Korrelation von enttäuschter Liebe und einsetzender Kreativität vgl. Hughes, Olga: „Stichotvorenie ‚Marburg‘ i tema ‚Vtorogo roždenija‘. Nabljudenija nad raznymi redakcijami stichotvorenija ‚Marburg‘“, in: Aucouturier: Boris Pasternak, 1890–1960, 289–301.

288

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

vatorisches“, sprich: „Romantizistisches“, während als eigentliche Grenzüberschreitung die Offensichtlichkeit oder Lakonie der Liebe erscheint. Von hier aus ist die Ambivalenz des Majakovskij-Bildes im dritten, auf den Selbstmord des Futuristen hin geschriebenen Teil von Ochrannaja gramota zu lesen: „Он в большей степени, чем остальные люди, был весь в явленьи.“187 „Er trat in einem höheren Grad als die übrigen Menschen ganz in seiner Erscheinung hervor.“ Die in dieser Aussage mitschwingende Kritik geht dahin, dass Majakovskij in der Ungewöhnlichkeit seines Lichts verbleibe, ohne sie auf die überindividuelle Liebes-Kraft hin zu überschreiten. 1927, im Jahr seines Ausstiegs aus dem LEF,188 hatte Pasternak in einem Brief bemerkt, die Aktivität (деятельность) Majakovskijs (und Nikolaj Aseevs) habe „nur noch die Bedeutung einer Attitüde – so feindselig gegen all das, was mir lieb ist“ („значенье лишь поведенья, – так враждебна всему тому, что я люблю“189). Und bereits zehn Jahre früher hatte Pasternak gegen eine sich „ausstellende“ Kunst polemisiert, die sich ihres Glanzes zu sehr bewusst sei: „Оно [искусство] показывается, а оно должно тонуть в райке, в безвестности, почти не ведая, что на нем шапка горит и что, забившееся в угол, оно поражено светопрозрачностью и фосфоресценцией, как некоторой болезнью.“190 „Sie [die Kunst] zeigt sich, aber sie muß untertauchen hinten im Rang, in der Unbekanntheit, fast ohne zu wissen, daß ihre Mütze brennt und daß sie, in einen Winkel verschlagen, von Lichtdurchlässigkeit und Phosphoreszenz befallen ist wie von einer Krankheit.“ Das, was Levinas als feminine „Flucht“ vor dem Licht bezeichnet, bleibt in Pasternaks Ästhetik zentral und wird überdies zunehmend zum Maß seiner Selbstbezichtigungen. Gerade weil er nach Cvetaevas „Svetovoj liven’“ weiß, dass er als Dichter des Lichts gilt, muss er sich ständig dazu anhalten, „fast nichts“ über dieses Licht zu wissen. Die Diskrepanz zwischen Bewusstsein und Nicht-Wissen-Sollen bildet einen Grundkonflikt von Ochrannaja gramota.191 Bei all diesen Diskussionen um das Unsichtbare bleibt noch immer die Frage, was unter einer „Kraft“-Ästhetik zu verstehen ist. Davon handeln die Seiten nach dem Traktat. In dem apodiktischen, wohl an Cohen angelehnten Ton heißt es im 187 188 189 190 191

Ochrannaja gramota, 215 (Der Schutzbrief, 329). Vgl. dazu den Brief „Redakcionnomu kollektivu ‚LEFa‘“ vom 26. Juni 1927, PSS, V, 217. Brief an Marina Cvetaeva vom 7./8. August 1927, PSS, VIII, 68 (Hervorhebung im Orig.). „Neskol’ko položenij“, 24 („Einige Grundsätze“, 567). Zur anti-visuellen Motivation von Ochrannaja gramota vgl. auch den Brief an Pavel Medvedev vom 30. Dezember 1929: „И неужели я самое яркое в ряду этих явлений? Но я никогда ни на что не притязал. Как раз в устраненье этой видимости, совершенно невыносимой, я стал писать Охранную Грамоту.“ „Und sollte ich etwa wirklich das Grellste in der Reihe dieser Erscheinungen sein? Aber ich habe nie auf irgendetwas Anspruch erhoben. Gerade in der Beseitigung dieser Sichtbarkeit, die mir vollkommen unerträglich ist, habe ich Ochrannaja Gramota zu schreiben unternommen.“ PSS, VIII, 386 (Hervorhebung im Orig.).

Spektorskij und Schutzbrief 289

Kapitel II, 7, das eigentliche Thema großer Liebestragödien wie Tristan und Isolde oder Romeo und Julia seien nicht die Leidenschaften auf der Handlungsebene, sondern: „Тема их – тема силы.“192 „Ihr Thema ist – das Thema der Kraft.“ In seiner Abhandlung Svet nevečernij / Das nichtabendliche Licht (1917) hatte der Sergej Bulgakov ein nahezu identisches Verständnis der Kunst vertreten. Er schrieb: Для этой таинственной силы, для этой благодати искусства имеет сравнительно второстепенное значение, каков его предмет, на чем именно отразилась небесная голубизна.193 Für diese geheimnisvolle Kraft, für diese Gnade der Kunst ist es von relativ zweitrangiger Bedeutung, welches ihr Gegenstand sei, worin genau sich das himmlische Blau spiegelt. […] в сущности искусство и не имеет тем, а только знает художественные поводы – точки, на которых загорается луч красоты.194 […] im Wesentlichen kennt die Kunst keine Themen, sondern nur künstlerische Anlässe – Punkte, an welchen sich der Strahl der Schönheit entzünden kann.

Mit „Kraft“ meint Bulgakov, das ist entscheidend, das ungeschaffene Taborlicht der Verklärungstheologie. Als Aufgabe der Kunst betrachtet er, „собрать воедино рассеянные лучи Фаворского света“195 / „die verstreuten Strahlen des Taborlichts zu einem zu bündeln“. Obwohl eine solche Taborlicht-Ästhetik für Ochrannaja gramota zweifellos eine zu religiöse Kategorie ist, sind Überschneidungen nicht zu übersehen. Wie das Taborlicht ist Pasternaks Begriff der Kraft aus dem Licht abgeleitet, ohne Licht zu sein. Er ist nicht natürliches Licht und hat in der Erscheinung doch mit ihm zu tun. Er ist überbotenes Licht.196 Vor allem aber: Wie beim Tabor192 193 194 195 196

Ochrannaja gramota, 187. Bulgakov: Svet nevečernij, 306. Ebd., 328. Ebd., 331. In dieser Hinsicht zieht Katalin Egeres eine Parallele zwischen Pasternaks Ästhetik und Michail Larionovs Strahlenkunst („Rayonismus“). Ėgereš, Katalin: „Poėzija i živopis’: Boris Pasternak i Michail Larionov“, in: Studia Slavica Hungarica 51/3–4 (2006), 327–337. Die Schwäche dieser eigentlich sehr plausiblen Analogie liegt darin, dass Larionov gerade gegenläufig zu Pasternak den Lučismus rein visuell begründet. Vgl. Larionov, Michail: Lučizm. Moskva 1913, 17/18: „[…] если мы желаем написать буквально то что видим, то и должны написать сумму отраженных от предмета лучей. – Но чтобы получить целиком сумму лучей именно желаемого предмета, нам надо волею выделить только данный предмет, так как к нам в глаз вместе с лучами воспринимаемого предмета попадают отраженные рефлективные лучи части других близ лежащих предметов.“ „[…] wenn wir buchstäblich das malen wollen, was wir sehen, dann müssen wir auch die Summe der vom Gegenstand gespiegelten Strahlen malen. – Doch um die vollständige Summe der Strahlen des gewünschten Gegenstands zu erhalten, dürfen wir bewusst nur den betreffenden Gegenstand betonen, da in unsere Augen zusammen mit den Strahlen des wahrgenom-

290

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

licht handelt es sich bei Pasternaks Kraft der Liebe um eine transfigurierende Energie. Hier ist wieder an Dmitrij Lichačevs Versuch zu denken, ein „hesychastisches“ Schreiben zu konzipieren. Die Energetik, die Lichačev für die Heiligenviten des 14. Jahrhunderts postulierte, kann, wie wir gesehen haben, auch als Umschreibung moderner Kunst verstanden werden. Das ist umso plausibler, als der Begriff des Taborlichts in Russland verschiedentlich dafür verwendet wurde, die Ungegenständlichkeit der Avantgardkunst zu charakterisieren (wie in der Einleitung besprochen). Allerdings ist die durch das Taborlicht, den Hesychasmus und andere orthodoxe Analogien implizierte Transfiguration (преображение) im Hinblick auf postsymbolistisches Kunstdenken letztlich eine nie ganz treffende Formel. Pasternak verwendet in Ochrannaja gramota eben nicht die Verwandlung, sondern den auf Kontiguität zielenden Begriff der „Verschiebung“ (смещение).197 Einen Urheber kennt diese Verschiebung nicht, sie wird „vom Gefühl“ ins Werk gesetzt: Наставленное на действительность, смещаемую чувством, искусство есть запись этого смещенья. Оно его списывает с натуры. Как же смещается натура? Подробности выигрывают в яркости, проигрывая а самостоятельности значенья. Каждую можно menen Gegenstands auch die gespiegelten reflexiven Strahlen von Teilen anderer, nahe gelegener Gegenstände fallen.“ Zum frühen Pasternak und Larionov vgl. Fleishman: The Poet and His Politics, 44. 197 Wie Rudova zeigt, sind viele der ästhetischen Postulate von Ochrannaja gramota in hohem Maße dem Kubo-Futurismus, namentlich den Manifesten Aleksej Kručenychs, verpflichtet. Als Beispiele dieser Verbindung nennt sie vor allem die Figur der Verschiebung (bei Kručenych сдвиг), die Zufälligkeit (случайность) als poetisches Prinzip, die Auflösung des rationalen Sprachgebrauchs (заумь) sowie die Kritik an der Visualität der ‚alten‘ Kunst. Siehe das Kapitel „Pasternak and the Cubo-Futurists“ in Rudova: Pasternak’s Short Fiction, 79–111, hier 96–99. Vgl. dazu auch Pasternaks halb bewundernde, halb abfällige Skizze „Kručenych“ [1925], in: PSS, V, 29/30, sowie das Vorwort zu Kručenychs Gedichtband Kalendar’ (1926). In letzterem Text thematisiert er sehr ambivalent Kručenychs Reduktion der poetischen Sprache auf die Form: „Мгновенность рискованной бутафории и мгновенность неподготовленного воодушевленья друг от друга неотделимы в лирическом приеме. Это одно молниеносное целое. Но даже и оно кажется тебе недостаточно узким, и ты из этой элементарной пары совершенно выбрасываешь вторую, одухотворяющую часть. / Если положенье о содержательности формы разгорячить до фанатического блеска, надо сказать, что ты содержательнее всех.“ „Die Augenblicklichkeit einer riskanten Maquette und die Augenblicklichkeit unvorbereiteter Beseelung sind im lyrischen Verfahren nicht voneinander zu trennen. Sie bilden ein blitzartiges Ganzes. Doch sogar dieses [Ganze] scheint dir nicht genügend schmal zu sein, und du schließt aus diesem elementaren Paar den zweiten, vergeistigenden Teil ganz und gar aus. / Wenn man den Grundsatz von der Inhaltswertigkeit der Form bis zu phantastischem Funkeln erhitzt, so kann man sagen, dass du gehaltvoller bist als alle anderen.“ „Vmesto predislovija“ [1925], ebd., 30/31, hier 31. Obwohl Pasternaks Definition der „Kraft“ zunächst ähnlich inhaltslos und grell ist wie diese Reduktion, schließt sie den „vergeistigenden Teil“, den Pasternak Kručenych fast genüsslich abspricht, nicht aus.

Spektorskij und Schutzbrief 291 заменить другою. Любая драгоценна. Любая на выбор годится в свидетельства состоянья, которым охвачена вся переместившаяся действительность.198 Eingestellt auf eine Wirklichkeit, die vom Gefühl verschoben wurde, ist die Kunst das Notat dieser Verschiebung. Sie zeichnet sie auf nach der Natur. Wie aber verschiebt sich die Natur? Die Einzelheiten gewinnen an Deutlichkeit [Grellheit], büßen ein an Eigenständigkeit der Bedeutung. Jede kann von einer anderen ersetzt werden. Jede beliebige ist wertvoll. Jede beliebige taugt als Zeugnis des Zustandes, vom dem die gesamte verlagerte Wirklichkeit ergriffen wurde.199

Wie die Strahlen des Taborlichts je einzeln alles enthalten – hier funktioniert die Analogie durchaus –, so zeugt nach Pasternak jedes beliebige Detail vom Zustand des Ganzen, sobald die Verschiebung Realität wird, sobald sich die Alldurchdringung der Wirklichkeit mit Liebe ereignet. Kunst ist nach Pasternak in doppelter Hinsicht meta-phorisch: In einem ersten Schritt muss sie nichts anderes tun, als darauf zu warten, dass die Wirklichkeit durch Liebestaumel in einen neuen Zustand über-tragen und so zu einer Metapher ihrer selbst wird. In einem zweiten, aktiveren Schritt zeichnet die Kunst diesen Vorgang nach bzw. „notiert“ ihn. Das meint Pasternak, wenn er weiter schreibt: „Искусство реалистично как деятельность и символично как факт. Оно реалистично тем, что не само выдумало метафору, а нашло ее в природе и свято воспроизвело.“200 „Die Kunst ist realistisch als Tätigkeit und symbolistisch als Faktum. Sie ist realistisch darin, daß sie nicht selbst die Metapher erdacht, sondern sie in der Natur gefunden und ehrfürchtig wiedergegeben hat.“ Ein übertragener Sinn von Wörtern und Sätzen hat in der Kunst nur dann seine Berechtigung, wenn er nicht aus sich selbst zustande kommt, sondern dem bereits übertragenen Sinn der Wirklichkeit „ehrfürchtig“ nachfolgt. Kunst ist dementsprechend einerseits zutiefst unfrei, denn ihr einziges „Thema“ ist die Kraft der Liebe.201 Andererseits ist sie, dies einmal vor198 199 200 201

Ochrannaja gramota, 186. Der Schutzbrief, 288, modifiziert. Ochrannaja gramota, 187 (Der Schutzbrief, 289). „Оно более односторонне, чем думают, Его нельзя направить по произволу – куда захочется, как телескоп.“ „Sie ist einseitiger, als man meint. Man kann sie nicht nach Belieben richten, wohin man möchte, wie das Teleskop.“ Ochrannaja gramota, 186 (Der Schutzbrief, 288). In einem Brief schreibt Pasternak 1929, es gehe ihm nicht darum, Menschen zu beobachten, sondern um die Konzentration von „Druck“ – offensichtlich ein anderer Begriff für die „Kraft“: „[…] я нуждаюсь в объективном накопленьи какого-то (одному Богу ведомого) достоинства вокруг своей судьбы, для того, чтобы стать говорить о вещах, о которых мог бы сказать давно. И это не оглядка на людей, а нечто физическое, вроде того как воздушные пары нуждаются в давленьи, чтобы сформировать облака и разразиться дождем, снегом или градом.“ „[…] ich benötige eine objektive Ansammlung einer gewissen (nur Gott bekannten) Würde um mein Schicksal herum, damit ich anfangen kann, über die Dinge zu sprechen, über die ich schon lange etwas hätte sagen können. Und das ist keine Rücksicht auf Menschen, sondern etwas Physisches, so wie Wasserdampf Druck

292

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

ausgesetzt, frei bis zur Willkür: Die Bilder der Kunst sind beliebig gegenseitig austauschbar, weil im Zustand der Verschiebung auch sämtliche Teile der Wirklichkeit metonymisch austauschbar geworden sind. Die Kunst kann sich auf den Zufall verlassen, sobald die Wirklichkeit derart durch die Liebe ‚geheiligt‘ ist, dass jedes noch so abseitige Detail die Kraft des Ganzen in sich trägt und ausstrahlen kann.202 Wenn die Kunst nach Pasternak im dynamischen Nachzeichnen der dynamisierten Wirklichkeit „realistisch“ ist,203 so ist sie „symbolisch“ in ihrer Nicht-Notwendigkeit. Es gibt keine feststehenden einzelnen Symbole, es gibt lediglich die symbolische Tatsache, dass alles, sobald es von der Kraft der Liebe affiziert ist, eine „Hinneigung“ zu allem anderen entwickelt. Hier werden Lazar’ Flejšmans Studien zu Ochrannaja gramota als Gegenentwurf zur Literatur des Faktums wieder aktuell. Eines können wir nun hinzufügen: Pasternak verneint die Fixierung auf das Faktum nicht nur, er führt sie ad absurdum. Es gebe, sagt er, überhaupt keine Fakten, außer dem einen symbolischen Faktum der Hinneigung. Eine „фиксаци[я] и освещени[е] факта“204 / „Fixierung und Beleuchtung des Faktums“, wie sie dem Theoretiker der Literatur des Faktums, Nikolaj Čužak, vorschwebte, ist nach Pasternak gar nicht denkbar. Denn „fixiert“ werden soll nicht ein Faktum, auch kein Ensemble von Fakten, sondern die Dynamik zwischen den Fakten. Was die „Beleuchtung“ betrifft, so ist die Haltung von Ochrannaja gramota ebenfalls unmissverständlich: Etwas „im Schnitt der Lichtsäule“ zu sehen ist eine wissenschaftliche Operation, kein künstlerischer Akt. Pasternak positioniert sich nicht lediglich gegen die Literatur des Faktums, er erklärt sie für einen Widerspruch in sich. Nun war die von Čužak und anderen propagierte Fakten-Ästhetik keineswegs einfach neutral-unparteiisch. Ihr war eine exakte Funktion innerhalb der sozialistischen Kulturpolitik zugedacht. Sie sollte der wirkungslosen „alten“ Ästhe-

benötigt, um Wolken zu bilden und sich in Regen, Schnee oder Hagel zu entladen.“ Brief an die Eltern vom 3. Dezember 1929, PSS, VIII, 370 (Hervorhebung im Orig.). 202 Sergej Dorzweiler expliziert die in Pasternaks „Verschiebung“ angelegte All-Einheits-Lehre als Monadologie. Vgl. „Boris Pasternak und Gottfried Wilhelm Leibniz“, 29: „Da jede Entität das Ganze der Welt als Prinzip in sich enthält und in ihr somit das ganze Universum jeweils unter einem anderen Gesichtspunkt gespiegelt wird, kommt jedem Einzelelement Symbolcharakter zu […].“ 203 Vjačeslav Ivanov hatte diese Haltung als „realsymbolistsich“ bezeichnet. Zu den zwei Grundmodellen des Dichterverständnisses im Symbolismus, einem medialen einerseits und einem demiurgischen andererseits, vgl. Szilard, Lena: „Esoterische Konzeptionen in der Ästhetik und Poetik des russischen Symbolismus“, in: Deppermann: Russisches Denken im europäischen Dialog, 204–211, hier 209. Wie wir immer wieder gesehen haben, lässt Pasternak nur die mediale Auffassung gelten. 204 „Ob ėtoj knige i ob nas (predislovie)“, in: Čužak, Nikolaj (Hrsg.): Literatura fakta. Nachdruck der Ausgabe Moskau 1929 mit einer Einleitung von Hans Günther. München 1972, 5/6, hier 6.

Spektorskij und Schutzbrief 293

tik der „Verwandlung“ ein Ende machen und die Grundlagen für den Umbau der Wirklichkeit schaffen: Старая эстетика преображала-просветляла жизнь […], расцвечивая ее блестками «свободного» воображения, – новая (слово «эстетика» пора бы отбросить) наука об искусстве предполагает изменение реальности путем ее перестройки […]. Отсюда – и упор на документ. Отсюда – и литература факта. Факт есть первая материальная ячейка для постройки здания, и – так понятно это обращение к живой материи в наши строительные дни.205 Die alte Ästhetik verwandelte-erleuchtete das Leben […], indem sie es mit Funken „freier“ Vorstellungskraft ausmalte, – die neue (das Wort „Ästhetik“ sollte verworfen werden) Wissenschaft der Kunst sieht eine Veränderung der Realität durch den Umbau derselben vor […]. Von daher der Akzent auf dem Dokument. Und von daher – Literatur des Faktums. Das Faktum ist das erste Element für die Erbauung eines Gebäudes, und eben so ist diese Hinwendung zur lebendigen Materie in unseren Tagen des Bauens zu verstehen.

Obwohl Pasternak in vielerlei Hinsicht nicht der symbolistischen, auf Vladimir Solov’ev rekurrierenden Verwandlungs- und Erleuchtungsästhetik verpflichtet ist,206 würde Ochrannaja gramota nach Čužaks Schema offensichtlich zur „alten“ Ästhetik gehören, da sich der Text im Zeichen Rilkes und Bergsons gegen Eingriffe in die ‚Selbsttätigkeit‘ des Lebens positioniert.207 Genau genommen handelt es sich bei der Theorie der „verschobenen“ Realität um eine dritte, in Čužaks Alt-/Neu-Dichotomie nicht vorgesehene Position, die man formelhaft so benennen kann: Nicht die Kunst verwandelt das Leben, sondern das Leben die Kunst – druch die „Kraft“. 205 Čužak, Nikolaj: „Literatura žiznestroenija (istoričeskij probeg)“, ebd., 34–65, hier 60. Zur Einordnung von Nikolaj Čužaks „Umbau“-Ästhetik siehe das Unterkapitel „From Life-Creation to Life-Building: Nikolai Chuzhak’s Theories“ in Gutkin, Irina: „The Legacy of the Symbolist Aesthetic Utopia: From Futurism to Socialst Realism“, in: Paperno/Grossman: Creating Life, 167–196, hier 185–192. 206 Insofern die Ästhetik der gegenseitigen Austauschbarkeit der Bilder eine Theorie der All-Einheit ist, enthält sie eine unübersehbare Referenz an Solov’ev. Doch zugleich negiert Pasternak Solov’evs Axiom, wonach das Licht der „выразитель позитивного всеединства“  / „Transporter der positiven All-Einheit“ sei. In diesem Punkt ist Pasternak Bulgakov und Trubeckoj näher, die Solov’evs Verwendung des Lichts als Allegorie mit dem energetischen, sich gegen Analogien sträubenden Taborlicht zu korrigieren versuchten. Edith Clowes weist die Ästhetik von Ochrannaja gramota als postsymbolistisch auf, doch gerade im Punkt des Lichts bezieht sie Pasternak wieder auf Solov’ev. Clowes [Kljus], Ėdit: „Postsimvolistskaja ėstetika v ‚Ochrannoj gramote‘ B.  Pasternaka“ [2003], http://postsymbolism.ru/joomla/ index.php?option=com_docman&task=doc_view&gid=35 (Zugriff: 23.02.2011). Die gegenseitige Durchdringung der Dinge dank ihrer „Austauschbarkeit“ wäre vielleicht eher mit Bergsons Begriff der „pénétration mutuelle“ zu vergleichen. Die Einheit kommt nach Bergson nicht durch Licht zustande, sondern musikalisch-zeitlich (daher das Beispiel eines Klavierstücks). Vgl. Bergson, Henri: Essai sur les données immédiates de la conscience [1889]. Œuvres complètes. 4. Genève 1945, 85. 207 Vgl. Rudova: Pasternak’s Short Fiction, 56/57.

294

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

Ein Beispiel für das Faktum der Hinneigung unter Voraussetzung der Liebe wäre im Rückblick der Licht-Regen. Wie die Lektüre von Sestra moja – žizn’ gezeigt hat, kann der Dichter tatsächlich schreiben, worüber er will, die gegenseitige Hinneigung des Lichts und des Regens zueinander scheint immer da zu sein und die beiden „Bilder“ stets von neuem zusammenzuführen.208 Und im Umkehrschluss gilt: Dort, wo das Licht und das Wasser nicht zusammenfinden, ist die Voraussetzung der Liebe nicht mehr gegeben. Die Liebeskraft bzw. das von ihr verschobene Leben ist, so Pasternak, das einzige Phänomen des menschlichen Bewusstseins, das keinen direkten Weg einer „visuellen Lichtanalogie“ („воззрительн[ая] аналогия света“) kenne: Es lasse sich nicht in Licht-Begriffen ausdrücken.209 Alle anderen Phänomene seien mit den visuellen (neukantianischen?), transparenten Denkinstrumenten wie der Zahl, dem Begriff, der Idee adäquat reproduzierbar. Würde es die Liebe und ihren Umweg nicht geben, so benötigte man keine Kunst. Kunst ist nach Ochrannaja gramota dadurch gerechtfertigt, dass sie dem undurchsichtigen Phänomen der Liebe ihren Dienst erweist, ihm eine Sprache der „dinghaften Beweise“ („вещественных доказательств“210) zukommen lässt. Pasternaks Option für eine politisch unabhängige Kunst impliziert deshalb aber nicht, dass die Kunst keine konkrete Aufgabe hätte. Ihre sehr anspruchsvolle Aufgabe ist es, stets neue Beweise für die Liebe zu liefern. Denn das symbolische Faktum der „Kraft“ kennt keine Licht-Analogie, es ist unerkennbar und unerklärbar – und daher bei Pasternak auf Gedeih und Verderb auf die Kunst angewiesen. Der Kunst wird damit

208 In einer viel zitierten Stelle aus Ochrannaja gramota wendet Pasternak den Begriff der Kraft tatsächlich auf das Hervorgehen von Sestra moja – žizn’ an und verbindet ihn mit dem Prinzip der Austauschbarkeit: „Когда же явилась «Сестра моя, жизнь» […], мне стало совершенно безразлично, как называется сила, давшая книгу, потому что она была безмерно больше меня и поэтических концепций, которые меня окружали.“ „Und als ‚Meine Schwester – das Leben‘ erschien […], wurde es mir ganz und gar gleichgültig, wie die Kraft, die das Buch gegeben hatte, zu nennen ist, denn sie war unmeßbar größer als ich und die poetischen Konzeptionen, die mich umgaben.“ Ochrannaja gramota, 227 (Der Schutzbrief, 346, modifiziert). 209 Ochrannaja gramota, 187. Der Text von Ochrannaja gramota widerspricht dem Anspruch, das Licht zu überholen, immer wieder. (Diesen Widerspruch hat Livingstone zum Gegenstand ihres Essays „Re-reading ‘Okhrannia gramota’“ gemacht.) Die Logik des Widerspruchs wird klarer, wenn man die dämonische Schilderung der Sonnenfinsternis vom Sommer 1914 betrachtet (Ochrannaja gramota, 221). Das plötzliche Verschwinden der Sonne macht ex negativo deutlich, dass mit „Überholung“ des Sonnenlichts nicht seine Auslöschung gemeint sein kann. Pasternaks Kraft ist auf das Licht als Hintergrund angewiesen; bleibt es wie hier wirklich weg, erstirbt das ganze Leben. 210 Ochrannaja gramota, 187.

Spektorskij und Schutzbrief 295

eine nicht weniger soteriologische Mission zugetraut als bei Rilke – und einem Frühromantiker wie Novalis.211 An dieser äußerst theoretischen Stelle tritt deutlicher als sonstwo in dem Text zu Tage, dass Ochrannaja gramota das Licht der Seite der Einzelphänomene und ihrer rationalen Verarbeitung zuschlägt, nicht dem ‚Ganzen‘. Sämtliche ‚Einzelheiten‘ könnten qua Licht-Analogie als Zahl quantifiziert, mit einem Begriff definiert, mit einer Idee verstanden werden. Gleiches gilt für den Bereich der Ästhetik und Poetik: Einzelne Bilder bzw. Symbole sind je für sich genommen Licht-Analogien von Einzelfakten. Daher betont Pasternak eigens, dass nicht von derartigen „Fakten“ der Kunst die Rede ist, sondern „о смысле его явленья, о его [искусства] месте в жизни“ / „vom Sinn ihrer Erscheinung, von ihrem Platz im Leben“.212 Von Interesse sei einzig die nicht-analogisierbare Gesamterscheinung/-bewegung der Kunst: „[…] не поддающееся цитированью слово всего искусства состоит в движеньи самого иносказанья, и это слово символически говорит о силе.“213 „[…] das nichtzitierbare Wort der Kunst im ganzen besteht in der Bewegung der Sinnbildrede selbst, und dieses Wort spricht symbolisch von der Kraft.“ Anders gesagt: Der Logos der Kunst ist nicht lichthaft, sondern verdunkelnd. Wäre er lichtstrahlend, so könnte er nach Ochrannaja gramota bestenfalls Fakten „fixieren und beleuchten“ (nach der Formulierung Čužaks). Oder in Emmanuel Levinas’ Terminologie: Wäre die Kunst etwas Lichtes, so könnte sie zwar potentiell eine Totalität von Einzelphänomenen benennen, jedoch nicht die Unendlichkeit der Bewegung zwischen denselben. Die Kraft „verschiebt“ die Wirklichkeit, ohne dabei eine rational durchdringbare Totalität zu erreichen.214 Es gibt Hinweise darauf, dass Pasternak den Kraft-Begriff in den Jahren um 1930 nicht auf die ästhetisch-metaphysische Diskussion beschränkte, sondern ihn überdies allgemein für eine kulturkritische Zeitdiagnose verwendete. Nicht nur 211 Vgl. die schlagende Parallele zu dem, was in Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen der Sänger Klingsohr über das Verhältnis von Liebe und Poesie sagt: „Man betrachte nur die Liebe. Nirgends wird wohl die Nothwendigkeit der Poesie zum Bestand der Menschheit so klar, als in ihr. Die Liebe ist stumm, nur die Poesie kann für sie sprechen. Oder die Liebe ist selbst nichts, als die höchste Naturpoesie.“ Novalis: Heinrich von Ofterdingen, in: ders.: Schriften, I, 195–334, hier 287. 212 Ochrannaja gramota, 187 (Der Schutzbrief, 289). 213 Ochrannaja gramota, 187 (Der Schutzbrief, 289). 214 Es liegt auch durchaus nahe, dass Ochrannaja gramota postmodern im Namen von Dezentrierung, Verschwinden, Absenz gelesen werden kann. Siehe dazu Roll, Serafima: „The Force of Creative Negation: The Author in Boris Pasternak’s Safe Conduct“, in: Canadian Slavonic Papers/Revue canadienne des slavistes XXXIV, 1–2 (1992), 79–96. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die verschiebende, „allegorisierende“ Kraft weniger eine dunkle Abwesenheit, als eine extreme Form der Präsenz meint. Diese Präsenz kann deshalb nicht von Licht-Analogien eingeholt werden, weil sie sonst sichtbar gemacht und so dem Gefühl wieder entzogen würde.

296

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

eine konkrete literarische Strömung (die Literatur des Faktums), das ganze Denken der Gegenwart sei durch eine fatale Phantasielosigkeit gekennzeichnet. Die gewalttätige Moderne, die sich ihrerseits als durch und durch „kraftvoll“ inszenierte, wäre demnach in Wirklichkeit radikal kraft-los, faktenfixiert, ohne Zwischenräume für Unerwartetes. 1929, also während der Arbeit an Ochrannaja gramota, schrieb Pasternak in einem Brief: […] нашему времени тут (оно вместе и есть время века, время Европы) не столько даже враждебна прямая политическая враждебность, сколько […] придаванье какого бы то ни было значенья: потенции, обещанью, faculté virtuelle. Традиция силовых зарядов и тех положений, при которых их лаконизм или прямое безмолвие были красноречивым языком, была прекращена войною.215 […] unserer Zeit hier (die zugleich die Weltzeit, die Zeit Europas ist) scheint nicht so sehr die unmittelbare politische Feindseligkeit bedrohlich, als vielmehr […] die Idee, dem Potentiellen, dem Versprechen, der faculté virtuelle irgendeine Bedeutung zuzumessen. Die Tradition der Kraftaufladungen und jener Grundsätze, bei welchen der Lakonismus [dieser Kraftaufladungen] oder ihr unmittelbares Schweigen eine beredte Sprache waren, ist mit dem Krieg zu Ende gegangen.

Der Übergang von der Ästhetik zur Kulturkritik ist hier fließend. Denn nicht nur der „Lakonismus“, auch eine Sprache, die sich vor-sprachlich, im Grunde als Schweigen oder jedenfalls opakes Reden definiert, sind zentrale Momente der poetologischen Diskussion von Ochrannaja gramota. Das Verbindende zwischen Ästhetik und Kulturkritik wäre dabei, ganz allgemein gesagt, wiederum die ‚Okularphobie‘. Das Faktische, die Brutalität und das Visuelle sind nach Pasternak eine Allianz eingegangen und können allein von „virtuellen“ Kräften wieder angefochten werden. Die Tradition wird im zweiten Teil von Ochrannaja gramota nach der Abreise des Helden aus Marburg Richtung Venedig explizit zum Thema. Durch diese zweite Bildungsreise kommt der nicht zu unterschätzende Aspekt der Geschichtlichkeit in das Kunstdenken. Die Verschiebung der Wirklichkeit durch Liebe soll nun auch in der Zeit geschehen. Auf die Geschichtlichkeit des Problems von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit weist Döring hin: Pasternak hält an der Differenz zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem fest, interpretiert dies jedoch nicht religiös wie die Symbolisten, sondern historisch: das Sichtbare ist das Gegenwärtige, das Unsichtbare das Vergangene. Die Sprache soll die historische Tradition dem aktuellen Lebensaugenblick zuführen.216

Döring trägt einerseits dem Umstand Rechnung, dass der Anlass der Theorie, die unglückliche Verliebtheit in Ida Vysockaja, zur Zeit der Niederschrift von Ochran215 Brief an Marina Cvetaeva vom 3. Januar 1929, PSS, VIII, 276 (Hervorhebung im Orig.). 216 Döring: Die Lyrik Pasternaks in den Jahren 1928–1934, 40.

Spektorskij und Schutzbrief 297

naja gramota bereits mehr als fünfzehn Jahre zurückliegt, und andererseits dem historisierenden Perspektivwechsel des Textes in den Venedig-Kapiteln (II, 13–19). Die All-Einheit ist nicht nur eine räumlich vorzustellende gegenseitige Anziehung der Dinge vor dem neu involvierten Künstler, sie ist auch die „Verkettung“ der sich abfolgenden Epochen der Menschheitsgeschichte: Я любил живую суть исторической символики, иначе говоря, тот инстинкт, с помощью которого мы, как ласточки саланганы, построили мир, – огромное гнездо, слепленное из земли и неба, жизни и смерти и двух времен, наличного и отсутствующего. Я понимал, что ему мешает развалиться сила сцепления, заключающаяся в сквозной образности всех его частиц.217 Ich liebte den lebendigen Kern der historischen Symbolik, anders gesagt, jenen Instinkt, mit dessen Hilfe wir wie die Schwalben-Salanganen die Welt erbaut haben – ein riesiges Nest, aus Erde und Himmel zusammengeklebt, aus Leben und Tod und aus zwei Zeiten, der gegenwärtigen und der abwesenden. Ich verstand, daß eine Kraft der Verkettung, die in der durchgängigen Bildlichkeit aller ihrer Teile beschlossen ist, sie auseinanderzufallen hindert.218

Freilich ist es schwierig, diesen geschichtsphilosophischen Entwurf streng nicht-symbolistisch, rein historisch aufzufassen, gerade angesichts des räumlichen, ja kreisförmigen Nest-Bildes – übrigens einer weiteren bildlichen Entfaltung des „vegetativen Denkens“.219 Die Ambivalenz hat wohl damit zu tun, dass die „Kraft“ in dem Text von Anfang an ein metaphysischer Begriff ist. Sie ist die Einheitsstifterin aller ange217 Ochrannaja gramota, 207. Mit dem Begriff „Kraft der Verkettung“ legt Pasternak die Verbindung seiner Verschiebungs-Ästhetik mit Tolstojs anti-rationalistischer Poetologie offen. Vgl. Tolstojs Brief an Nikolaj Strachov vom 23./26. April 1876: „Во всем, почти во всем, что я писал, мною руководила потребность собрания мыслей, сцепленных между собою, для выражения себя, но каждая мысль, выраженная словами особо, теряет свой смысл, страшно понижается, когда берется одна из того сцепления, в котором она находится. Само же сцепление составлено не мыслью (я думаю), а чем-то другим, и выразить основу этого сцепления непосредственно словами никак нельзя; а можно только посредственно – словами описывая образы, действия, положения.“ „In allem, fast allem, was ich geschrieben habe, lenkte mich ein Bedürfnis, die Gedanken zu sammeln, untereinander verkettet, um mich auszudrücken, aber jeder Gedanke, der in einzelnen Worten ausgedrückt wird, verliert seinen Sinn, erniedrigt sich auf schreckliche Weise, wenn man einen [Gedanken] aus jener Verkettung herausnimmt, in der er sich befindet. Die Verkettung selbst aber ist nicht vom Denken gebildet (meine ich), sondern von irgendetwas anderem, und die Grundlage dieser Verkettung in Worten auszudrücken ist ganz und gar unmöglich; man kann es nur indirekt – indem man in Worten Bilder, Handlungen und Behauptungen beschreibt.“ Tolstoj: Polnoe sobranie sočinenij, T. 62, 269. Zur „Verkettung“ als Paradigma von Pasternaks Sophiologie vgl. Bodin: „Boris Pasternak and the Christian Tradition“, 386–395. 218 Der Schutzbrief, 318. 219 Zur Anwendung der Bergsonschen durée auf die Geschichte vgl. Zehnder: „Après Cohen et Bergson“, 39–41. Das Modell dieser Anwendung liefert der französische Dichter Charles Péguy. Vgl. Compagnon: Les antimodernes, 235.

298

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

sprochenen Bereiche. Man könnte daher mit Peter Alberg Jensen auch in Bezug auf Ochrannaja gramota von einer zwar erstrebten, jedoch nie erreichten Geschichtlichkeit sprechen.220 Beziehen wir dies noch einmal auf die Abdunkelung zurück: Bei den modernen Denkern und Dichtern der Okularphobie eröffnet das „dunkle“ Feminine die Utopie einer nicht von räumlich-expansiven Lichtbegriffen beeinträchtigten, „offenen“ Zeit. Wie wir gesehen haben, geht die von Pasternak demonstrierte Überholung des Lichts durch die Kraft in eine ähnliche Richtung.221 Die eigentliche Erzählung aber – das betrifft den Marburg-Teil ebenso wie die kulturgeschichtlichen Reflexionen zu Venedig – kann auf das Licht als „Transporter der positiven All-Einheit“ (Solov’ev) naheliegenderweise nicht verzichten, zumindest nicht auf das ständige Maßnehmen an ihm. Besonders aufschlussreich ist diesbezüglich die Moskauer Blumen-Episode im Kapitel I, 6. Pasternaks Erzähler führt diese Episode als Beispiel für jene Momente seiner Studienzeit an, in denen er „в редких ладах с собою“222 / „in seltenen Einklängen mit sich selbst“ war. Solche Phasen der Ruhe hätten sich dann eingestellt, wenn sich in seiner Umgebung etwas „untypisch“ verhielt. So geschah es in einem Innenhof, in dem aus Italien importierte Blumen gelagert und verkauft wurden. Hier, am hintersten Ende des Hofes, pflegte der Besitzer einen Deckel zu öffnen, und es kamen blendend „wie Sonnen“ alle möglichen Blumen zum Vorschein: Однако настоящие чудеса ждали еще впереди. Пройдя в самый конец двора, хозяин отмыкал одну из дверей каменного сарая, поднимал за кольцо погребное творило, и в этот миг сказка про Али Бабу и сорок разбойников сбывалась во всей своей ослепительности. На дне сухого подполья разрывчато, как солнце, горели четыре репчатые молнии, и, соперничая с лампами, безумствовали в огромных лоханях, отобранные по колерам и

220 Vgl. dazu Rolls Fazit, Pasternak sei in Ochrannaja gramota doch noch metaphysisch: „And this in turn suggests that Pasternak’s writing, regardless of how much it underlines the opaqueness of meaning, still affirms the idea of presence and signification.“ Roll: „The Force of Creative Negation“, 96. 221 Vgl. dazu Fiona Björlings an Paul Ricœur orientierte Interpretation des Textes, die die Zeitlichkeit als Domäne der Dichtung gegen die räumlich operierende Philosophie hält. Björling, Fiona: „Speeding in Time. Philosophy and metaphor in a presentation of Okhrannaia gramota Part One 6.“, in: Fleishman: Eternity’s Hostage, I, 285–302, hier 297: „Pasternak asks timeless, ontological questions–What is poetry? Where does it come from?–and answers them with a cluster of metaphors which activate the physical dimensions and conditions for life, that is, time, space, movement, speed, power, hot and cold. His metaphors are taken from the realm of physics. From the ontological question the writer moves into the dimension of action and event. However philosophical Pasternak may be, and indeed is, he chooses poetry. Which is another way of saying that he cannot resist the dimension of time.“ 222 Ochrannaja gramota, 162. Es muss gesagt werden, dass die Episode im ersten Teil steht und insofern nicht unter dem Zeichen des ästhetischen Traktats geschrieben sein muss.

Spektorskij und Schutzbrief 299 породам, жаркие снопы пионов, желтых ромашек, тюльпанов и анемон. Они дышали и волновались, точно тягаясь друг с другом.223 Die wirklichen Wunder jedoch standen noch bevor. Der Inhaber schritt bis ans Ende des Hofs, öffnete eine der Türen eines steinernen Schuppens, hob am Ring die Kellerluke hoch, und in diesem Augenblick erfüllte sich das Märchen von Ali Baba und den vierzig Räubern in all seinem blendenden Glanz. Auf dem Boden des trockenen Kellers brannten, lichtsprühend wie die Sonne, vier rübenförmige Blitze, und außer sich, mit den Lampen im Wettstreit, tobten in gewaltigen Kübeln, gesondert nach Couleur und Art, lodernde Garben von Päonien, gelben Margeriten, Tulpen und Anemonen. Sie atmeten und wogten, geradeso, als mäßen sie sich aneinander.224

Die Blumen sind wie Blitze und „wettstreiten“ als Sonnen mit den elektrischen Lampen und untereinander. Der Weg der „Kraft“ führt hier also sehr wohl direkt zu einer Licht-Analogie. Das Motiv des Überholens spielt zwar eine Rolle, doch die Kraft und das Sonnenlicht sind in diesem Fall austauschbar. Überholt wird nur das künstliche Licht der Lampen. Der Grundkonflikt Licht vs. Kraft wird so abgelöst vom Wettstreit zwischen natürlichem und unnatürlichem Licht. Das zeigt sich in der dann folgenden Beschreibung der Mimosen noch deutlicher: „Нахлынув с неожиданной силой, пыльную душистость мимоз смывала волна светлого запаха, водянистого и изнизанного жидкими иглами аниса.“225 „Mit unerwarteter Kraft zusammenströmend, schwemmte das staubige Aroma der Mimosen eine Welle hellen Duftes fort, wässerig und durchstochen von den dünnen Nadeln des Anis.“ Kraft, Wasser und Licht werden, um es mit Pasternaks Textformel zu sagen, „untereinander austauschbar“. Dabei entsteht der Eindruck, dass das Licht vor allem deshalb auf einmal so positiv gewertet werden kann, weil es aus dem feuchten Element der Erde stammt. Die Erde wäre der Speicher eines Licht-Regens, wie er in Pasternaks Werk grundsätzlich nicht mehr funktioniert, und das Aufleuchten der Blumen wäre als Reminiszenz an die glückenden Aufhellungen in Sestra moja – žizn’ zu sehen (ähnlich wie schon in der Marburger Blumen-Episode über die Heliotropen und Mathiolen als Sterne). Bei den Moskauer Blumen-Abenteuern „побеждали черные кокарды фиалок“226 / „siegten die schwarzen Abzeichen der Veilchen“. Denn ihr Geruch habe es am besten geschafft, das Bewusstsein des faszinierten Betrachters „idiotisch aussehen zu lassen“ („оставляя в дураках сознанье“227). Die „Abzeichen“ der Schwärze 223 224 225 226 227

Ebd., 163. Der Schutzbrief, 254/255. Ochrannaja gramota, 163 (Der Schutzbrief, 255). Ochrannaja gramota, 163. Ebd. Vgl. dazu Voronskijs sehr zeitnah geäußerte Bemerkung: „Для того, чтобы дать волю художественным потенциям, надо стать невежественным, глупым, отрешиться от всего, что вносит в первоначальное восприятие рассудок.“ „Um künstlerische Potenzen freizusetzen, muss man unwissend, dumm werden, sich lossagen von allem, was der Verstand

300

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

in der Mitte der Veilchenblüte signalisieren ebendiese Verfinsterung des Bewusstseins. Da das Licht der Blumen aus der Erde kommt, ist evident, dass es sich nicht um das Bewusstseinslicht des Beobachters, um eine rationale Analogiebildung handeln kann. Es muss eine von der Natur hervorgebrachte Metapher zu sein. Man kann gerade angesichts dieser äußerst organizistischen Vision228 vermuten, dass der aussichtslose Versuch, das Licht zu „überholen“ und alles in das Zeichen der analogielosen Liebe zu ver-rücken, auch als Reaktion auf die revolutionäre Rhetorik der lichten Zukunft229 zustande kommt: Wo das Licht von abstrakt-politischen und in Wirklichkeit zunehmend gewalttätigen Interessen in Anspruch genommen wird, da unternimmt die Kunst den Versuch, sich in möglichst ungreifbaren Kategorien zu verstehen und zu rechtfertigen. Noch 1957, als Pasternak ein zusätzliches Kapitel zu seiner autobiographischen Skizze Ljudi i položenija / Menschen und Standorte schrieb, in dem er rückblickend die revolutionäre Relevanz des Gedichtbuchs Sestra moja – žizn’ erweisen sollte, lässt er das Licht der Revolution bemerkenswerterweise „unter der Erde hervorbrechen“ – statt wie gefordert aus der aufklärerischen Rationalität der Bolschewisten: Но стоит поколебаться устойчивости общества, достаточно какому-нибудь стихийному бедствию или военному поражению пошатнуть прочность обихода, казавшегося неотменимым и вековечным, как светлые столбы тайных нравственных залеганий чудом вырываются из-под земли наружу.230 Aber die Stabilität der Gesellschaft braucht nur erschüttert zu werden, eine Naturkatastrophe oder kriegerische Niederlage die fest gefügte Ordnung, die unabänderlich und ewig schien, ins Wanken zu bringen, und schon brechen die lichten Säulen des geheimen sittlichen Reichtums wie durch ein Wunder unter der Erde hervor ans Tageslicht.231

Das Bekenntnis zur Revolution wird in seinem unverhohlenen Organizismus zugleich unterschwellig ‚häretisch‘. Auf diese Spannung in Pasternaks politischem Denken komme ich im folgenden Kapitel näher zu sprechen.

228 229

230 231

in die uranfängliche Wahrnehmung hineinträgt.“ Voronskij, Aleksandr: „Iskusstvo videt’ mir“ [1928], in: ders.: Izbrannye stat’i o literature, 413–436, hier 421. Für den Hinweis auf den ausgesprochenen Organizismus der Blumen-Episode danke ich Dr. Ėduard Nadtočij (Lausanne). Vgl. dazu auch das Wappen der Sowjetunion von 1923, das die aufgehende Sonne der Zukunft abbildet. Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. 6. Tret’e izdanie. Moskva 1971, 350. Zur maximalen Sichtbarkeit des sowjetischen Lichts in den Sternen auf dem Kreml vgl. Bekman Chadaga: „Light in Captivity“, 97. „‚Sestra moja – žizn’‘“, in: Pasternak: Izbrannoe v dvuch tomach, II, 497–499 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Das Kapitel wurde nicht in Ljudi i položenija aufgenommen. „‚Meine Schwester – das Leben‘“ [übers. v. Margrit Bräuer], Pasternak: Prosa und Essays, 553–556, hier 556.

Spektorskij und Schutzbrief 301

Wie von Michel Aucouturier erkannt, gibt es in den Venedig-Kapiteln von Ochrannaja gramota einen kritischen Bezug zur Kulturpolitik der Gegenwart.232 Der staatliche Auftraggeber der Kunst im Venedig der Renaissance – und entsprechend im sowjetischen Russland von 1930 – meine irrtümlicherweise, die Kunst sei sein Verbündeter und würde mit ihm gemeinsam in die Zukunft eintreten wollen. Vielmehr verfüge die Kunst immer, im alten Venedig oder im neuen Moskau, über die Fähigkeit, die Zukunft (der Staatlichkeit) zu vergessen und nur für ihr „Verbleiben“ selbst zu sprechen. So heißt es über die Aufträge der einstigen Machthaber Venedigs: Думали, что оно [искусство] делит общие воззрения и разделит в будущем общую участь. Но именно этого не случилось. Языком дворцов оказался язык забвения, а вовсе не тот панталонный язык, который им ошибочно приписывали. Панталонные цели истлели, дворцы остались. И осталась живопись Венеции. Со вкусом ее горячих ключей я был знаком с детства по репродукциям и в вывозном музейном разливе. Но надо было попасть на их месторождение, чтобы, в отличие от отдельных картин, увидать самое живопись, как золотую топь, как один из первичных омутов творчества.233 Man dachte, daß sie [die Kunst] die allgemeinen Anschauungen teilt und das allgemeine Schicksal in der Zukunft teilen wird. Aber eben das trat nicht ein. Als Sprache der Paläste erwies sich die Sprache des Vergessens und durchaus nicht jene Pantalone-Sprache, die man ihnen ursprünglich zuschrieb. Die Pantalone-Ziele verwesten, die Paläste blieben. Und die Malerei blieb. Der Geschmack ihrer heißen Quellen war mir von Kindheit an von Reproduktionen her und in der exportierten Museums-Abfüllung bekannt. Doch man mußte an ihren Geburtsort gelangen, um statt einzelner Bilder die eigentliche Malerei zu erblicken, als goldenen Pfuhl, als einen der ursprünglichen Strudel des Schöpferischen.234

Die Ausdrücke „Geburtsort“, „eigentliche Malerei“, „goldener Pfuhl“, „Strudel des Schöpferischen“ weisen in dieselbe Richtung wie die Erdung des Lichts in der Episode mit den – ebenfalls aus Italien stammenden – Blumen. Besonders interessant ist dabei die Verschiebung von den äußeren Palästen hin zur „самое живопись“ / „eigentlichen Malerei“, d.h. von der kopier- und reproduzierbaren Sichtbarkeit der Kunst als Einzelwerken zu ihrer „goldenen“ und zugleich „sumpfigen“ Grundierung. Gold und Sumpf – auch dies eine Variation der Licht-Regen-Figuralität. Die Kunst will also lieber in der Vergangenheit bleiben, mit Akzent auf bleiben, als die Politik in die Zukunft zu begleiten. Bemerkenswerterweise wird dieser Emanzipationsanspruch der Kunst am Ende mit sämtlichen Hauptsträngen des Textes verflochten: mit dem Motiv der Überholung der Sonne, mit der Zurückweisung 232 Aucouturier: „Ob odnom ključe k Ochrannoj gramote“, 344–347. Für weitere Belege Flejšman: Boris Pasternak v dvadcatye gody, 275–283. 233 Ochrannaja gramota, 205. 234 Der Schutzbrief, 314/315.

302

Vom aufleuchtenden Helden zur analogielosen Energie

der Literatur des Faktums und schließlich auch mit Vladimir Majakovskijs Selbstmord. Wie sehen diese Verflechtungen aus? Über den Zusammenhang zwischen Sonnenlicht und Fakten habe ich in diesem Kapitel einiges gesagt, außerdem über Majakovskijs Hang, ganz und gar in seiner eigenen Erscheinung („весь в явленьи“) zu existieren. Durch die Formulierung „огнестрельн[ая] свежесть факта“235  / „Schusswaffen-Feuerfrische des Faktums“ wird nun Majakovskijs Pistolenschuss auf sich selbst in fast erschreckender Weise mit dem Licht- und Fakten-Diskurs zusammengebracht. Am Ende des dritten Teils, auf der letzten Seite von Ochrannaja gramota, werden auch noch Majakovskij und das Thema der Staatlichkeit übereinandergeschoben: Majakovskijs „необычайность“ / „Ungewöhnlichkeit“ sehe nach seinem Tod zum Verwechseln dem „небывалое, невозможное государство“ / „dem unerhörten, unmöglichen Staat“ ähnlich. Majakovskij und die Sowjetunion seien wie Zwillinge, ja er sei ihr einziger Bürger gewesen.236 Alle übrigen Bürger seien verglichen damit Menschen der „vergangenen Epoche“ („истекшей эпохи“), denen sich die „Kraft“ der neuen Lebensbedingungen noch nicht erschlossen habe. Nach der Lektüre des ganzen Textes ist der Sinn dieser neuerlichen Verwendung des Schlüsselbegriffs evident: Der wahre Ort der „Kraft“ ist das freie Schöpfertum, nicht der Staat. Nur ein Kunstwerk kann sie ganz, genauer: in unendlicher Annäherung aussprechen. In der gescheiterten „Ungewöhnlichkeit“ des verstaatlichten Dichters Majakovskij hingegen spiegelt sich die „Unmöglichkeit“ des sowjetischen Experiments: Der kommunistische Staat hat nur einen einzigen Bürger, einen vom Licht der Zukunft verwöhnten, und der hat sich umgebracht. So ist die Frage, die sich nun stellt: In welchem „Staat“ existierte der Dichter Pasternak nach dem Jahr 1930 weiter?

235 Ochrannaja gramota, 236 (Der Schutzbrief, 359). 236 Ochrannaja gramota, 237/238. Nach Flejšmans Untersuchungen ist es gar möglich, dass am Ende auch Cohens Philosophie des Staates in das Majakovskij-Bild hineinspielt. Flejšman: „Nakanune poėzii“, 388–390.

6. Kapitel Finstere Wellen, lichte Zukunft Pasternaks sozialismusnahe Lyrik und das Paradox einer organischen Technik Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die Veränderungen in Pasternaks Schreiben, die um das Jahr 1930 und nach Ochrannaja gramota, dieser Gedenkschrift an die „vergangene Epoche“, einsetzen, keinen eigentlichen Bruch markieren, sondern eher Radikalisierungen bisheriger ästhetischer Prinzipien sind. So kommt Johanna Renate Döring zum Schluss, dass die für Pasternaks Frühwerk kennzeichnende „Ich-Schwäche“ des lyrischen Helden im Gedichtband Vtoroe roždenie (Zweite Geburt, 1930–1932) von einer nunmehr strategisch eingesetzten „Ich-Schwächung“ abgelöst werde.1 Einen ähnlichen Ansatz verfolgte später Aleksandr Žolkovskij mit dem Begriff „Mechanismen der zweiten Geburt“.2 In seiner Lektüre fördert er vier „invariante“ Grundfunktionen des Gedichtbuchs Vtoroe roždenie zu Tage. Es sind dies: „Unterordnung unter die Kraft“, „Hoffnung auf das Gute“, „Anlehnung an die Tradition“ sowie „Sozialismus als Raum“.3 Žolkovskijs These besteht darin, dass diese vier Funktionen mit Pasternaks Frühwerk im Einklang stehen, eben Invarianten sind. Was sich ändere, seien lediglich Kontext und Maßstab: Mit „Kraft“ sei nicht mehr nur die Kraft der Liebe, von der der Dichter überwältigt wird, sondern auch die Kraft des Sozialismus als eine das Individuum transformierende Massenbewegung gemeint. Das Prinzip der „Hoffnung auf das Gute“ projiziere Pasternaks schon zuvor „optimistische Weltsicht“ auf das kommunistische Programm der lichten Zukunft. Mit „Anlehnung an die Tradition“ spricht Žolkovskij die ebenfalls nicht neue Haltung an, die Gegenwart gleichermaßen als Fortsetzung der Vergangenheit und Eintreten in die Zukunft zu betrachten. Die Darstellung des „Sozialismus als Landschaft“ schließlich sei die logische Fortsetzung der seit Pasternaks frühem Werk wirksamen Tendenz zur „Verräumlichung“ von geschichtlichen bzw. emotionalen Vorgängen und der so ermöglichten „Vereinigung“ mit ihnen. Dass diese Formel – man könnte sie nennen: Inversion ohne echte Konversion – grundsätzlich zutreffend ist, lässt sich auch von innerhalb des stalinistischen Literaturbetriebs belegen. Einige Jahr später, 1936, im Plenum der Leitung des Schriftstellerverbands, bekam Pasternak von proletarischen Schriftstellerkollegen zu hören, er 1 Döring: Die Lyrik Pasternaks in den Jahren 1928–1934, 124 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 2 Žolkovskij, Aleksandr: „Mechanizmy vtorogo roždenija. O stichotvorenii Pasternaka ‚Mne chočetsja domoj, v ogromnost’‘“, in: Literaturnoe obozrenie 2 (1990), 35–41. 3 Ebd., 36/37.

304

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

müsse endlich „philosophisch umdenken“. In seinem Vortrag sagte Aleksej Surkov: „Если […] он [Пастернак] решительно и органически переоценит философские основы своего творчества, лирика его, далекая от основных принципов метода социалистического реализма, найдет путь к сердцу большого читателя страны.“4 „Falls […] er [Pasternak] bereit ist, entschlossen und organisch die philosophischen Grundlagen seines Schaffens, seiner Lyrik umzuwerten, die [bisher] so weit weg sind von den wichtigsten Prinzipien der Methode des Sozialistischen Realismus, so wird er den Weg zum Herzen des großen Lesers des Landes finden.“ Nahezu identisch äußerte sich Aleksandr Bezymenskij: „Вам нужно пересмотреть философские основы вашего творчества.“5 „Es tut Not, dass Sie die philosophischen Grundlagen Ihres Schaffens überdenken.“ Pasternak vertrat demnach noch Mitte der dreißiger Jahre, als anerkannter, wenn auch bereits wieder gefährdeter sowjetischer Dichter, eine veraltete „Philosophie“. Er habe, so der Vorwurf, gar keine neuen Werte angenommen, sondern im neuen System sozusagen zufällig seine alten Werte wieder gefunden. Genau so ist es auf der letzten Seite von Ochrannaja gramota angedacht: Die neuen Lebensbedingungen äußern sich als „Kraft“ – wie früher, in der alten Welt, nur die Verliebtheit. Wenn der Staat aber genügend „огромно[е] тепл[о]“6 / „riesige Wärme“ zu verströmen imstande ist, so wäre für Pasternak tatsächlich das alte Leben im „neuen“ realisiert.

Licht als Medium der Anpassung an den Sozialismus Žolkovskij entwickelt seine These an „Mne chočetsja domoj, v ogromnost’…“  / „Nach Hause möchte ich in die Riesigkeit…“, nicht zufällig einem von Zukunftslicht durchwirkten Gedicht. Gleichwohl geht seine Interpretation nur hinsichtlich zweier Einzelaspekte auf das Licht ein: zur Illustration von Pasternaks Intuitionismus und im Zusammenhang prominenter Verweise auf Puškins „Prorok“  / „Der Prophet“ („Глаголом жги сердца людей“ / „Mit dem Worte versenge die Herzen

4 „O sovetskoj poėzii. Doklad A. Surkova na III plenume pravlenija Sojuza pisatelej“ (Literaturnyj Leningrad, Februar 1936), zit. nach Flejšman, Lazar’: Pasternak v tridcatye gody. Jerusalem 1984, 304 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 5 „Vo imja bol’ševistskoj družby. Reč’ tov. Bezymenskogo“ (Literaturnaja gazeta, Februar 1936), zit. nach ebd., 311 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 6 Auf dem ersten allsowjetischen Kongress des Schriftstellerverbands 1934 sagte Pasternak, in der Rolle des „Ersten sowjetischen Dichters“: „При огромном тепле, которым окружает нас народ и государство, слишком велика опасность стать социалистическим сановником.“ „Bei all der riesigen Wärme, mit der uns das Volk und der Staat umgeben, ist allzu groß die Gefahr, ein sozialistischer Würdenträger zu werden.“ „Vystuplenie na pervom vsesojuznom s’’ezde sovetskich pisatelej“ [August 1934], PSS, V, 227–299, hier 228.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

305

der Menschen“).7 Ich werde in diesem Kapitel zunächst versuchen, Žolkovskijs Lektüre noch eingehender am „Licht-Schreiben“ (Marina Cvetaeva) festzumachen, um so möglichst Genaues über Pasternaks poetologisch-politische Adaption nach 1930 aus „Mne chočetsja domoj, v ogromnost’…“ und benachbarten Texten herauszulesen, bevor ich zu seinen „Volks“-Gedichten und zu seinem Kriegs-Zyklus und schließlich zu einer Parallel-Lektüre mit dem Spätwerk Osip Mandel’štams kommen werde. „Mne chočetsja domoj, v ogromnost’…“ handelt von der Sehnsucht des Sprechers nach Moskau, seiner Heimatstadt, in welcher der Sozialismus „gebaut“ wird,8 und nach den unwirtlichen, „traurigen“ Wohnverhältnissen einer Kommunalwohnung.9 Nach Žolkovskij erklärt Pasternak hier seine Absicht – das Gedicht ist wie etwa 7 Žolkovskij: „Mechanizmy vtorogo roždenija“, 38. 8 Im Gedicht „Moskva“ („Moskau“, 1947) von Vasilij Lebedev-Kumač heißt es später, Moskau erobere alle „силы мрака“ / „Kräfte der Finsternis“. S zemli do zvezd vstaet Moskva: Moskva v sovetskoj poėzii. Moskva 1989, 164. Vgl. Bekman Chadaga: „Light in Captivity“, 105. 9 Vgl. Pasternaks Antwort auf eine Umfrage des Schriftstellerverbands zu den Wohnbedingungen: „Очень тяжелые. Старая отцовская казенная квартира переуплотнена до крайности. 20 человек (6 семейств) постоянно живущих. К этому надо прибавить частые посещения родных и знакомых по 6-ти самостоятельным магистралям. Перегородкой разделена сравнительно большая (50, 87 кв. м) комната, бывшая отцовская мастерская, оставшаяся, в результате уплотнений истекших лет, мне. […] по установке перегородки получилось два узких, коридорообразных помещения. Столовая помещается в комнате, где работаю, и тут весь день шум и толчея. Перегородки не штукатурили, так что смотрел год из года на пребывание в данных условиях, как на временное; обстоятельства же и заработок из этих условий выйти не позволяли… Отовсюду обложен звуками, сосредоточиться удается лишь временами в результате крайнего, сублимированного отчаяния, похожего на самозабвенье. Настоятельно нуждаюсь в перемене квартиры…“ „Sehr schwer. Die alte Dienstwohnung meines Vaters ist bis zum Äußersten überverdichtet. 20 Personen (6 Familien), die hier ständig leben. Dazuzählen muss man die häufigen Besuche von Verwandten und Bekannten durch die 6 für sich stehenden Magistralen. Mit einer Trennwand abgetrennt ist ein großes (50, 87 Quadratmeter) Zimmer, das frühere Atelier meines Vaters, das infolge der Verdichtungen der letzten Jahre noch für mich übrigblieb. Nach Errichtung einer Trennwand sind zwei schmale, korridorartige Räume entstanden. Der Esstisch befindet sich im Zimmer, in dem ich arbeite, und hier gibt es den ganzen Tag Lärm und Gedränge. Die Trennwände wurden nicht stukkatiert, so dass ich das Leben in diesen Bedingungen von Jahr zu Jahr als vorläufig betrachte; doch die Umstände und die Einkünfte ließen nicht zu, diesen Bedingungen zu entkommen… Von überallher bin ich mit Geräuschen belegt, konzentrieren kann ich mich nur hin und wieder, wenn ich äußerste, sublimierte Verzweiflung erreiche, an Selbstvergessenheit grenzend. Eine Veränderung der Wohnsituation ist für mich unabdingbar.“ Evgenij Pasternak datiert diesen Text auf Ende 1928. Zit. nach Pasternak, Evg.: Biografija, 435. Pasternaks Bitte um eine Veränderung seiner Wohnsituation wurde nicht stattgegeben. Eine bedrückendere Schilderung der Wohnverhältnisse, interessanterweise mit Selbstzitaten aus „Mne chočetsja domoj, v ogromnost’…“, findet sich im Brief an Marina Cvetaeva vom 24. Oktober 1934, PSS, VII, 744. Zum Begriff „Verdichtung“ (уплотнение) im Zuge der „Umverteilung“ (передел) des Wohnraums ab 1918 vgl. Evans, Sandra: Sowjetisch wohnen. Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka. Bielefeld 2011, 29.

306

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

„Pro ėti stichi“ aus Sestra moja – žizn’ ganz in der vollendeten Gegenwart verfasst –, sich im stalinistischen Sozialismus einzurichten oder, wie es in einem anderen Gedicht aus Vtoroe roždenie heißt, „in der Zukunft“10 zu leben. Die Lichtquelle des Textes sind die in der ersten Strophe erwähnten „Lichter von der Straße“, die den Helden beim Eintritt in die Wohnung „erleuchten“ (genauer: erleuchten werden). Die Wohnung als Schauplatz befindet sich dabei in besonders hervorgehobener Enjambement-Stellung: Мне хочется домой, в огромность Квартиры, наводящей грусть. Войду, сниму пальто, опомнюсь, Огнями улиц озарюсь.11 Nach Hause möchte ich in die Riesigkeit Der Wohnung, die so seltsam traurig macht. Ich komme, lege ab und bin bereit, Anstrahlen mich die Lichter dieser Nacht.12

Die zweite Strophe beschreibt dann, wie der Sprecher durch die abtrennenden Wohnwände der Kommunalwohnung hindurchgehen wird – genau so, wie das Licht in der ersten Strophe durch ihn hindurchgegangen ist (ihn „erleuchtet“ hat). Diesen Vorgang wiederum vergleicht er damit, wie ein „Bild“ in ein anderes Bild übergeht und ein „Gegenstand“ sich in einen anderen Gegenstand „einschneidet“: Перегородок тонкоребрость Пройду насквозь, пройду, как свет. Пройду, как образ входит в образ И как предмет сечет предмет.13 Und wo sich eine Zwischenwand erhebt – Ich werde sie wie Licht durchschreiten. So wie ein Bild ins andre Bild sich webt, Wie Dinge sich mit Dingen überschneiden.14 10 PSS, II, 51. Vgl. „Kogda ja ustaju ot pustozvonstva…“ / „Wenn ich ermüdet bin vom Hohlklang…“: „Мы в будущем, твержу я им, как все, кто / Жил в эти дни.“ „Im Künftigen sind wir, wir alle, / Die dies erlebten.“ Ebd., 81 (übers. v. Stefan Döring, in: Pasternak: Gedichte und Poeme, 305). Im Versuch, das sozialistische Konzept der Zukunft zu adaptieren, fällt hier allerdings schon rein grammatisch die enge Verschränkung mit der Vergangenheit auf. 11 PSS, II, 51. 12 Übers. v. Günther Deicke: Initialen der Leidenschaft, 50. 13 PSS, II, 51. 14 Initialen der Leidenschaft, 50. Die in der Übersetzung nicht wiedergegebene „Feinrippigkeit“ („тонкоребрость“) ruft Assoziationen des Röntgens auf. So versteht sich das Dichtersubjekt als Patient (erste Strophe) und zugleich als Arzt (zweite Strophe). Vgl. Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 227. Zu Ochrannaja gramota passt die Röntgen-Figur übrigens

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

307

Dass Pasternaks Subjekt sich mit Licht vergleicht, ist gegenüber Ochrannaja gramota sicher eine Neuerung, wenn nicht sogar eine Unerhörtheit. Die Vergleiche mit dem Ineinanderschieben von Bildern und Gegenständen deuten allerdings auch darauf hin, dass das Subjekt seine Opakheit hier keineswegs einfach ablegt (свет reimt zum Strophenausklang mit предмет). Karen Evans-Romaine hat hierzu einen unerwarteten Prätext ausfindig gemacht – Novalis’ Heinrich von Ofterdingen. Man könnte diese Referenz angesichts der historischen Umstände für unwahrscheinlich und abwegig halten, wenn sie nicht etwas Wesentliches über die „Mechanismen der zweiten Geburt“ aussagen würde. Der Sänger Klingsohr spricht zu Heinrich und Mathilde über die Wirkung von Licht auf dunkle Körper: Die Natur […] ist für unser Gemüth, was ein Körper für das Licht ist. Er hält es zurück; er bricht es in eigenthümliche Farben; er zündet auf seiner Oberfläche oder in seinem Innern ein Licht an, das, wenn es seiner Dunkelheit gleich kommt, ihn klar und durchsichtig macht, wenn es sie überwiegt, von ihm ausgeht, um andere Körper zu erleuchten. Aber selbst der dunkelste Körper kann durch Wasser, Feuer und Licht dahin gebracht werden, daß er hell und glänzend wird.15

Die Analogie ist unschwer zu ziehen und zu entfalten (was Evans-Romaine nicht tut, da es ihr vorrangig um eine Sichtung aller möglichen Novalis-Bezüge bei Pasternak geht). Pasternaks Dichtersubjekt kann als ein solcher dunkler, opaker Körper beschrieben werden. Das hatten wir bei der Lektüre von Sestra moja – žizn’ in den verschiedensten Schattierungen gesehen. Nun war es in den früheren Gedichten trotz „Wasser, Feuer und Licht“ nie „hell und glänzend“ geworden, wie von Novalis’ Klingsohr für Körper postuliert. Die epiphanischen Verklärungsmomente geschahen für sich allein, der Dichter war lediglich ihr Zeuge, manchmal Mit-Auslöser, nie aber ihr Nutznießer. In der neuen Situation, die in „Mne chočetsja domoj, v ogromnost’…“ entworfen wird, macht sich das Subjekt bereit, das Licht in seine Dunkelheit aufzunehmen, „klar und durchsichtig“ zu werden und sodann „andere Körper zu erleuchten“. Es stellt sich zur Verfügung als Träger einer Aufklärungsmission. Mit Blick auf die ineinandergeschobenen „Bilder“ und „Gegenstände“ aus der zweiten Strophe könnte man auch sagen: Pasternak stellt seine Theorie von der „Austauschbarkeit“ und „Verschiebung“ der Bilder (Ochrannaja gramota) hier in den Dienst der Allgemeinheit, er transferiert seine Ästhetik, das, was in Sestra moja – žizn’ stets noch „ihn“ meinte, in den Bereich des Sozialen. Jedenfalls verbietet es sich sein Subjekt, die Aufhellungen weiterhin einfach an sich vorüberziehen zu lassen, auf nicht. Dort hatte es in einer Passage, die Gasparov, wenn ich richtig sehe, nicht berücksichtigt, geheißen: „[…] искренности рентгеном не просвечивают.“ „[…] Aufrichtigkeit ist mit Röntgen nicht zu durchleuchten.“ Ochrannaja gramota, 232 (Der Schutzbrief, 354). Man könnte dies freilich als Hinweis darauf nehmen, dass sich Vtoroe roždenie bewusst von dem vieldeutigen Prosatext absetzt. 15 Novalis: Heinrich von Ofterdingen, 280. Vgl. Evans-Romaine: „Pasternak and Novalis“, 71.

308

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

seiner Marginalität und Schwäche zu beharren. Ansonsten würde es dem Kollektiv nie einen Nutzen bringen. Die neue „Ich-Schwächung“ (Döring) hat im Gegensatz zur alten „Ich-Schwäche“ den Zweck, Schwäche überhaupt zu überwinden. Mit Žolkovskijs Formel können wir sagen: Die Philosophie bleibt die ‚alte‘ (die romantisch-spekulative Physik des Novalis!), verändert hat sich lediglich der Träger. Der ist nunmehr ein Kollektiv. Nachdem der Sprecher aus Georgien, dem Land, das, wie Pasternak schrieb, „noch nicht in die Sphäre absoluter Abstraktion verlegt wurde“ („страна, […] не унесенная в сферу совершенной абстракции“16), zurückgekehrt ist, bedarf er umso mehr der Erleuchtung durch das bereits elektrifizierte Moskau. Pasternak hatte im Sommer 1931 mit seiner neuen Ehefrau Zinaida Nejgauz eine Georgienreise unternommen. Eine weitere folgte 1933 mit einer Schriftstellerbrigade. Er charakterisiert Georgien als Land mit einer „ungebrochenen Existenz“ („не испытавшая перерыва в своем существованьи“) und „tagtäglichen Wirklichkeit“ („ежесуточной действительности“). Und weiter schreibt er an den georgischen Dichter Paolo Jašvili: „Именно в этом свете увидели мы сейчас Грузию и поразились пережитому с Вами, как немыслимости и легенде.“17 „Genau in diesem Licht sahen wir nun Georgien und staunten über das mit Ihnen Erlebte wie über eine Unwahrscheinlichkeit und Legende.“ Wie die „Ausländer“-Gestalt Rilke am Anfang von Ochrannaja gramota beschreibt Pasternak Georgien als Nicht-Faktum, dem ein anderes Licht eigne als dem „fernen“ (Moskauer) Sozialismus.18 Hochgradig zwiespältig an diesem Mythos ist nun aber der Umstand, dass der Diktator Stalin durch seine georgische Herkunft und politische Stellung sowohl an dem kontinuierlich-organischen wie an dem offiziell-abstrakten Licht-Typ der Elektrifizierung partizipiert.19 16 Brief an Paolo Jašvili vom 30. Juli 1932, PSS, VIII, 612. 17 Ebd. (Hervorhebungen im Orig.). Zu Georgien als Zone des „Organischen“ zuletzt Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 111/112. 18 Ebenfalls ganz im Sinne von Ochrannaja gramota ist die folgende Aussage im Brief an Leonid Pasternak vom 8. Dezember 1933: „По-видимому, я мотив для насвистыванья, до пустоты мажорный, потому что существо мое […] в счастьи, в факте счастья, в бессодержательности счастья, беспричинного и часто противопричинного. Все это я опять по-новому испытал в Грузии, чудесной стране […].“ „Offensichtlich bin ich ein Motiv zum Nachpfeifen, bis zur Entleerung in Moll gefärbt, denn mein Wesen […] liegt im Glück, im Faktum des Glücks, in der Inhaltslosigkeit des Glücks, grundlos und oft anti-kausal. All das habe ich wieder von neuem in Georgien, diesem wunderbaren Land, erfahren.“ PSS, VIII, 698. 19 In einer von Pasternak übersetzten Stalin-Hymne des Georgiers Nikolo Micišvili ist davon die Rede, dass Stalin sowohl den Geist als auch die Seele der Menschen „umgeschöpft“ habe: „Ты пересоздал ум людей и душу […].“ „Stalin“, PSS, VI, 451. Diese Sicht wiederholt sich später in einem Brief an Aleksandr Fadeev, in dem Pasternak Stalins Begräbnis als erhabene Szene schildert. Stalin erscheint in überaus paradoxer Weise als abstrakt-organisch: „Как поразительна

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

309

Das Paradox oder Oxymoron einer organischen Technik findet interessanterweise Eingang in Pasternaks neue Definitionen der Poesie. 1934 sagte er, womöglich in (distanzierender) Anspielung auf seine Fakten-Polemik aus Ochrannaja gramota: „Поэзия есть язык органического факта, то есть факта с живыми последствиями.“20 „Poesie ist die Sprache eines organischen Faktums, das heißt eines Faktums mit lebendigen Konsequenzen.“ Im Jahr darauf, am anti-faschistischen Kongress in Paris, definierte Pasternak die Poesie als „органическ[ая] функци[я] счастья человека“21  / „organische Funktion menschlichen Glücks“. Das „vegetative Denken“ der Poesie aus Ochrannaja gramota schließt sich mit dem politischen Aufklärungsprojekt zusammen. Kommen wir aber zurück zum Gedicht „Mne chočetsja domoj, v ogromnost’…“. Im zentralen Moskau ist der Sozialismus so „nah“, dass das Zukunftslicht den Dichter durch die Wohnungsfenster erreicht und ihn „hell und glänzend“ (Novalis) macht, statt nur aus der Ferne zu schimmern – obwohl, das muss betont werden, schon in der Mitte des Gedichts wieder vom „leidenschaftlichen“ Einbrechen der Dunkelheit während des Nachmittagsspaziergangs die Rede ist („Онять к обеду на прогулке / Наступит темень, прсото страсть“).22 In einem anderen Gedicht von Vtoroe roždenie heißt es über die nahe Ferne des Sozialimus: „Ты рядом, даль

была сломившая все границы очевидность этого величия и его необозримость! Это тело в гробу с такими исполненными мысли и впервые отдыхающими руками вдруг покинуло рамки отдельного явления и заняло место какого-то как бы олицетворенного начала, широчайшей общности, рядом с могуществом смерти и музыки […] и могуществом пришедшего ко гробу народа.“ „Wie verblüffend war die alle Grenzen sprengende Evidenz dieser Größe und ihre Unüberschaubarkeit! Dieser Körper im Sarg mit den so gedankenerfüllten, erstmals ruhenden Händen überstieg auf einmal den Rahmen einer abgezirkelten Erscheinung und nahm den Platz eines gleichsam personifizierten Grundsatzes an, von allerbreitester Allgemeinheit, neben der Macht des Todes und der Musik […] und der Macht des Volkes, das zum Sarg gekommen war.“ Brief vom 14. März 1953, PSS, IX, 722/723. Man kann hier an Boris Groys’ Konzeption von Stalin als verkörpertem Widerspruch denken. Groys, Boris: „Das Paradox an der Macht“, in: ders.: Das kommunistische Postskriptum. Frankfurt a. M. 2006, 35–61. – Die stark organizistischen Tendenzen und eine signifikante Häufung des Ausdrucks „живая жизнь“ / „lebendiges Leben“ in den Schriften Stalins wurden von Vajskopf festgestellt und ausführlich belegt. Vgl. Vajskopf, Michail: „Živaja žizn’“, in: ders.: Pisatel’ Stalin. Moskva 2002, 293–322. 20 „Vystuplenie na Pervom Vsesojuznom s’’ezde sovetskich pisatelej“, 228. 21 „Vystuplenie na kongresse v zaščitu kul’tury“ [1935], PSS, V, 229. 22 PSS, II, 52. In einer früheren Version des Gedichts hatte sich Pasternak, gleichsam in der „alten“ Logik verharrend, auch in der zweiten Strophe noch nicht zum Optimismus durchgerungen: „Войду, как входит ночь в аллею, / Пройду, как ночь, пройду насквозь, / Пройду насквозь и пожалею, / Что я в Москве, что мы не врозь.“ „Werde eingehen, wie die Nacht in die Allee, / Werde hindurchgehen, wie die Nacht, durch und durch, / Werde hindurchgehen und bedauern, / Dass ich in Moskau bin, und wir nicht getrennt.“ Ebd., 319 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

310

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

социализма.“23 „Du mir zur Seite, Sozialismusferne.“ Der Sozialismus ist zwar noch immer „weit weg“, insofern er ein utopisches Projekt ist, aber seine Wirkung aus der Zukunft ist gegenwärtig genug, um den Dichter zu affizieren. Er schickt sich an, das von außen empfangene Licht in die Zimmer seiner Mitbewohner zu überbringen. Die Frage ist freilich, wie die Durchdringung der „Feinrippigkeit der Zwischenwände“ verstanden werden kann. Es ist bestimmt übertrieben zu sagen, Pasternak habe dank seiner sprichwörtlichen „Großzügigkeit“ die Wände in der Kommunalwohnung „gleichsam nicht bemerkt“ (so Lev Anninskij24), denn die Licht-Analogie spricht im Gegenteil für einen hohen Grad an Bewusstsein von Grenzen. Die Abstrahlung von Licht durch den Dichter steht vielmehr für die Einsicht, dass die Grenzen des individuellen Wohnens, die opake Privatheit aufgehoben werden müssen.25 Dies ist, wie ich oben gesagt habe, der Zweck der Licht-Trägerschaft des Sprechers. Die (vorübergehende?) Stärkung des Dichterhelden, seine Erleuchtung, verdankt er keiner Eigenleistung, sondern der durch die sozialistische Stadt Moskau und ihre Baustellen gewährten „Nähe“ des Sozialismus. Hier die Schlussstrophen des Gedichts: Опять опавшей сердца мышцей Услышу и вложу в слова, Как ты ползешь и как дымишься, Встаешь и строишься, Москва. И я приму тебя, как упряжь, Тех ради будущих безумств, Что ты, как стих, меня зазубришь, Как быль, запомнишь наизусть.26 Und mit geschwächtem Herzen hör ich dich Und mach es meinen Worten schon vertraut, Wie du jetzt rauchst und auseinanderkriechst Und aufstehst, Moskau, wie man dich erbaut. Mit dir noch einmal leg ich mich ins Zeug Im Heldenatem künftiger Geschichte, Da du mich schon wie einen Vers einbleust Und mich studierst wie Tatsachenberichte.27

23 Ebd., 57. 24 Anninskij, Lev: „Boris Pasternak: ‚Ja ves’ mir zastavil plakat’ nad krasoj moej‘“, in: ders.: Serebro i čern’. Russkoe, sovetskoe, slavjanskoe, vsemirnoe v poėzii Serebrjanogo veka. Moskva 1997, 116–131, hier 126. 25 Vgl. zuletzt Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 228. 26 PSS, II, 52. 27 Initialen der Leidenschaft, 51.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

311

Was ist es für eine Art Ruhm, den sich der Dichter als Lohn für seinen Dienst an der alten und neuen Heimatstadt erhofft? Evgenij Pasternak schreibt dazu: „[…] er akzeptiert seine Schuldigkeit gegenüber Moskau, der Stadt seiner Geburt und seines Schaffens, und er glaubt, dass es [Moskau], der Hauptheld seiner Poesie, ihm dies mit Anerkennung vergelten wird.“28 Evgenij Pasternak spielt auf einen Umstand an, den bereits Döring beschrieben hatte. Bei Pasternak scheint sich an manchen Stellen eine vehement anti-demiurgische Auffassung des Dichters mit dem Glauben an den Künstler als Genie zu vermischen. Im Fall von „Mne chočetsja domoj, v ogromnost’…“ wäre noch eine dritte, sozusagen kollektivierte Variante in Betracht zu ziehen: Der erhoffte Ruhm ist nicht mehr notwendig der eines individuellen Genies – so wie schon die Licht-Handlung der ersten Strophen des Gedichts mehr eine Aufhebung als eine Durchsetzung der Individualität des Dichters ist. Die Hoffnung auf individuellen Ruhm wird erst ausgesprochen, nachdem das Gedicht die „Kollektivierung“ des Ich (Žolkovskij) und das Ineinananderschieben der „Bilder“ und „Gegenstände“ anhand des Lichts bereits vollzogen hat. Den Schlüssel zu einer solchen Lesart gibt der Begriff der „wahren Begebenheit“ (быль) in der letzten Zeile. Wie im fünften Kapitel erwähnt, ist быль schon in Pasternaks Texten der zwanziger Jahre ein auffallend oft wiederkehrender Begriff. „Mne chočetsja domoj, v ogromnost’…“ liefert für diese Verdichtung eine mögliche Erklärung nach. Zu einer „wahren Begebenheit“, zu einer Handlung, die mehr wäre als ein Spiel („стишки какие-нибудь“29 / „irgendwelche Verschen“), kann der Vers streng genommen nur unter den Bedingungen einer (kulturrevolutionären) Totalisierung werden. So wäre das Subjekt des künftigen Ruhmes tatsächlich nicht mehr der Dichter mit seinem Vers, sondern die damals – also im vorliegenden Gedicht – quer durch die Kommunalwohnung verbreitete Erleuchtung. Nicht zu übersehen ist bei alldem die „Häufung negativer Bilder“, wie Žolkovskij schreibt, und er nennt eine ganze Reihe von Anzeichen eines „figurativen 28 Pasternak, Evg., Biografija, 473. 29 Vgl. Pasternaks Zeilen in einem Elizaveta Stecenko gewidmetem Exemplar von Vtoroe roždenie (8. November 1935): „Об этой книжке нечего распространяться: в ней слишком много следов того, как не надо поступать ни в жизни, ни в менее ответственной области искусства. […] Было бы наглостью так легко напоминать Вам, чьими сердечными силами подперты ее рифмованные фразы. Но вы вскользь выразили желанье ее просмотреть. Когда я напишу что-нибудь стоющее, настоящую человеческую книгу (и – не стишки какие-нибудь!), я попрошу у Вас позволенья посвятить ее Вам…“ „Über dieses Büchlein braucht man sich nicht zu verbreiten: Allzu viele Spuren sind darin von dem, wie man sich nicht verhalten soll, weder im Leben noch im weniger verantwortungsvollen Bereich der Kunst. […] Es wäre eine Frechheit, Ihnen so leichthin in Erinnerung zu rufen, von wessen Herzenskräften seine [des Büchleins] gereimte Phrasen gestützt sind. Doch Sie haben beiläufig den Wunsch geäußert, es sich anzuschauen. Wenn ich etwas Lohnendes schreiben werde, ein wirkliches menschliches Buch (und – nicht irgendwelche Verschen!), dann werde ich Sie um Erlaubnis bitten, es Ihnen zu widmen…“ Zit. nach ebd., 477 (Hervorhebung im Orig.).

312

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

wie buchstäblichen Bösen“ in der grundsätzlich positiv besetzten Landschaft des von Pasternak bereisten Kaukasus.30 Die Annahme des Sozialismus sei also „unkategorisch“ – auch das nach Žolkovskij ein typisches Merkmal für Transformationen im Leben und im Werk Pasternaks. In Vtoroe roždenie lässt sich dies am besten an der Figur der Wellen veranschaulichen, die dem ersten Zyklus des Bandes den Titel geben. Obwohl der Wellengang die zentrale „Metapher der Revision von Grundsätzen, Zielen und Handlungen des Dichters“31 vorgibt, wird in den ersten Strophen des Zyklus mehrmals ihre Finsternis hevorgehoben: Передо мною волны моря. Их много. Им немыслим счет. Их тьма. Они шумят в миноре. Прибой, как вафли, их печет. Весь берег, как скотом, исшмыган. Их тьма, их выгнал небосвод. Он их гуртом пустил на выгон И лег за горкой на живот.32 Vor mir das Meer, die Meereswellen. Wie viele. Ihre Zahl nie voll. Die Unzahl. Schwermütiges Schwellen [in Moll] – Die Brandung sie wie Waffeln rollt. Wie Vieh zerstampft die Ufererde Die Unzahl. Himmel band sie los. Zur Weide trieb er seine Herde Und schlummert an des Hügels Schoß.33

Die Übersetzung gibt „Их тьма“ mit „Die Unzahl“ (der Wellen) wieder. Das ist nicht nur eine elegante, sondern auch die semantisch korrekte Lösung. Gleichwohl fällt so eine Dimension weg – eben jene der buchstäblichen Dunkelheit. Die Wellen klingen in Moll, d.h. „Dunkelheit“ beschreibt auch eine atmosphärische ‚Klangfarbe‘. Doch in der zweiten der zitierten Strophen wird dem noch etwas Entscheidendes hinzugefügt. Die Wellen sind nicht bloß unzählig viele und stimmen den Betrachter schwermütig, sie sind auch dunkel, weil der Himmel sie „verstoßen“ (oder in der Übersetzung, abgeschwächt: losgebunden) hat, damit er sich „auf den Bauch legen“ kann. Es handelt sich also um Wasser, das vom Licht des Himmels 30 Žolkovskij: „Mechanizmy vtorogo roždenija“, 37. Vgl. auch Dörings Statistik, die zeigt, dass Vtoroe roždenie und Sestra moja – žizn’ in Bezug auf Licht und Dunkel ähnliche Werte aufweisen. Die Lyrik Pasternaks in den Jahren 1928–1934, 320–323. 31 Žolkovskij: „Mechanizmy vtorogo roždenija“, 37. 32 PSS, II, 50 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 33 Übers. v. Stefan Döring, Gedichte und Poeme, 259.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

313

abgetrennt worden ist. Zwar deutet die „Vertreibung“ noch darauf hin, dass die undurchleuchteten Wassermassen vom Himmel herkommen, aber offensichtlich haben sie sich von ihm entfernt, ohne eine Synthese mit dem Licht eingegangen zu sein und ohne noch als Medium für die Überbringung von etwas zu dienen. Man könnte sagen: Die Wellen sind ein Negativ, dem zwar ein Positiv, das neue Licht des Sozialismus, gegenübersteht, doch die beiden berühren sich nicht – als würden sie einander aus dem Weg gehen. Die Möglichkeit eines Licht-Regens wird ausgeschlossen. Die Annahme des Sozialismus impliziert Überwindung der Natur, die Vorstellung, Naturvorgänge zu beschleunigen bzw. erst herzustellen, statt in ihnen nur günstige Gelegenheiten zu erwarten. Die Wellen sind zwar auch ein nicht-gesteuertes Phänomen der Natur.34 Dennoch erscheinen sie als Bild eindeutig mechanischer – davon zeugt der Vergleich mit „Waffeln“ – als der unsichere, sich in Anlehnung an die Gnade entfaltende Licht-Regen aus Sestra moja – žizn’. Zum medialen Element des Lichts wird in den Gedichten von Vtoroe roždenie nur mehr die ‚pure‘ Luft. Hier einige Beispiele: Вон на воздух широт образцовый!35 Hinaus an die Vorbild-Luft der Breiten! Твой смысл, как воздух, бескорыстен.36 Dein Sinn, wie Luft, so selbstlos. Ты здесь, мы в воздухе одном.37 Du bist da, in einer Luft sind wir.

Schon knapp zehn Jahre früher hatte sich in der eigentlich pessimistischen Erzählung „Vozdušnye puti“38 die Luft als geistiger ‚Kanal‘ des kommenden Sozialismus über die Schwärze der chaotischen Übergangszeit erhoben. Der Internationalismus, der dort mit dem Bild der Luftwege beschworen wird, ist unter Stalin bald obsolet geworden („социализм в отдельно взятой стране“ / „Sozialismus in einem Land“, 1924/1925). Die Tendenz zu einer gewissen Abstraktheit, ja Körperlosigkeit hat

34 Insofern wäre hier auch die umgekehrte, aufklärungskritische Lesart plausibel: Das sophianisch-weibliche Element des Wassers mit seinen weichen Wellen widersetzt sich der Affizierung durch die ‚harten‘, physikalischen Lichtwellen. 35 „Ne volnujsja, ne plač’, ne trudi…“ / „Sorge dich nicht, weine nicht, mühe dich nicht…“, PSS, II, 66. 36 „Ljubit’ inych – tjaželyj krest…“ / „Andere zu lieben – ein schweres Kreuz…“, ebd., 68. 37 „Ty zdes’, my v vozduche odnom…“, ebd., 74. 38 „Vozdušnye puti“ wurde zusammen mit Detstvo Ljuvers, „Apellesova čerta“ und Povest’ in einem Band unter dem Titel Vozdušnye puti 1933 in Moskau neu publiziert.

314

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

Vtoroe roždenie aber mit der besagten Passage aus „Vozdušnye puti“ gemeinsam. Lesen wir sie ausführlich: Что же это было за небо? […] Оно и днем бросалось в глаза, и, безмерно заметное, оно и днем насыщалось опустошенной землей, валило с ног сонливых и подымало на ноги мечтателей. Это были воздушные пути, по которым, как поезда, ежедневно отходили прямолинейные мысли Либкнехта, Ленина и немногих умов их полета. Это были пути, установленные на уровне, достаточном для прохождения всяческих границ, как бы они ни назывались. […] Это было небо Третьего Интернационала.39 Was war das für ein Himmel? […] Auch tags sprang er ins Auge, und unermeßlich auffallend, sättigte er sich auch tags mit der verheerten [entleerten] Erde, warf die Schläfrigen um und stellte die Träumer auf die Beine. Es waren Luftwege, Wege durch die Luft, auf denen, gleich Eisenbahnzügen, alltäglich die gradlinigen Gedanken Liebknechts, Lenins und einiger weniger Geister ihres Höhenflugs ausgeschickt wurden. Es waren Wege, gebahnt auf einer Höhe, die ausreichte fürs Überschreiten jeder Grenze, wie sie auch heißen mochte. […]. Es war der Himmel der Dritten Internationale.40

Die Vorstellung einer reinen, völlig durchsichtigen Luft prägt hier, in „Vozdušnye puti“, der Erde gleichsam eine zerebrale Struktur ein. Auf ähnliche Weise ist sie, wie gesagt, in manchen Gedichten von Vtoroe roždenie präsent, so in „Mne chočetsja domoj, v ogromnost’…“ (durchlässige Wände) oder in „Poka my po Kavkazu lazaem…“ („Существованья ткань сквозная“41  / „Des Daseins durchscheinendes Gewebe“). Eine trockene, frische Durchsichtigkeit – statt mit Wasser angereichertes Licht – wird zur idealen Umgebung des Lebens und vor allem der Liebe. Letzterer Zusammenhang ist auf dem Hintergrund der (teilweise) gleichzeitig entstehenden Memoiren Ochrannaja gramota durchaus nachvollziehbar. Pasternak versucht in Ochrannaja gramota möglichst strikt zwischen den Begriffen ‚Kraft der Liebe‘ und ‚Licht der Wissenschaft‘ zu unterscheiden, was im Text, wie wir im fünften Kapitel gesehen haben, nicht konsequent gelingen kann. Bemerkenswert ist, dass er die Konzeption im Leben effektiver umsetzte als in der Literatur. Die Überholung des Lichts durch die „Kraft“ verdoppelt sich in seinem Liebesleben (das damit auch zu einem Faktor der nachrevolutionären Kunst wird): 1931/1932 verließ Pasternak seine bisherige Frau Evgenija Lur’e, Mutter des 1923 geborenen Sohnes Evgenij, für Zinaida Nejgauz, die Frau seines engen Freundes Genrich Nejgauz, des Pianisten.42 Freilich ist das Zeugnis, das eine derartige Existenzialisierung von Pasternaks ästhetischer Begrifflichkeit belegt oder belegen soll, selbst wiederum literarisch: der 39 „Vozdušnye puti“, 93. 40 „Luftwege“, 156, modifiziert. 41 „Poka my po Kavkazu lazaem…“ / „Solange wir über den Kaukasus kriechen…“, PSS, II, 79. 42 Zu den Umständen vgl. Barnes, Christopher: Boris Pasternak. A Literary Biography. Volume 2. 1928–1960. Cambridge 1998, 27/28.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

315

Ochrannaja gramota beigefügte, jedoch nicht mit-publizierte posthume Brief an Rainer Maria Rilke. Die betreffenden Stellen sind sachlich zunächst nichts anderes als eine ästhetische Rechtfertigung, ja Verbrämung des vollzogenen Ehebruchs. Die erste Frau, die Malerin Lur’e, wird in dem Brief an Rilke als Frau vorgestellt, deren Schönheit von Beleuchtung abhänge. Ihr Gesicht bedürfe gleichsam der ‚Wissenschaft‘, um schön zu sein: Улыбка колобком округляла подбородок молодой художницы, заливая ей светом щеки и глаза. И тогда она как от солнца щурила их непристально – матовым прищуром, как люди близорукие или со слабой грудью. Когда разлитье улыбки доходило до прекрасного, открытого лба, все более колебля упругий облик между овалом и кругом, вспоминалось Итальянское Возрождение. Освещенная извне улыбкой, она очень напоминала один из женских портретов Гирландайо. Тогда в ее лице хотелось купаться. И так как она всегда нуждалась в этом освещеньи, чтобы быть прекрасной, то ей требовалось счастье, чтобы нравиться.43 Das Lächeln machte das Kinn der jungen Malerin rund wie einen kleinen Brotlaib und übergoß ihre Wangen und Augen mit Licht… Und dann blinzelte sie, wie von der Sonne geblendet – unsicher und matt wie Kurzsichtige oder Schwindsüchtige. Überflutete der Glanz des Lächelns die herrliche offene Stirn, schwankte das elastische Antlitz immer mehr zwischen Oval und Rund, dachte man an die italienische Renaissance. Von diesem Lächeln erleuchtet, glich sie einem Frauenporträt von Ghirlandaio. Man hätte in ihrem Gesicht baden mögen. Und da sie dieses Leuchten brauchte, um schön zu sein, bedurfte sie des Glücks, um zu gefallen.44

Pasternaks zukünftige Frau Zinaida Nejgauz hänge dagegen von keinem äußeren Glanz ab („А ты прекрасна без извилин“45 / „Du aber bist wunderschön ohne Windungen“) und werde umso schöner, je mehr schwierige Situationen sie zu durchleben habe: Скажут, что таковы все лица. Напрасно. – Я знаю другие. Я знаю лицо, которое равно разит и режет и в горе и в радости и становится тем прекрасней, чем чаще застаешь его в положеньях, в которых потухла бы другая красота. Взвивается ли эта женщина вверх, летит ли вниз головою, ее пугающему обаянью ничего не делается, и ей нужно что бы то ни было на земле гораздо меньше, чем она сама нужна земле, потому что это сама женственность […]. И так как законы внешности всего сильнее определяют женский склад и характер, то жизнь и суть и страсть такой женщины не зависят от освещения, и она нe так боится огорчений, как первая.46 43 „Posleslov’e“, PSS III, 522–524, hier 522/523. Die Bilder des Florentiner Malers Domenico Ghirlandaio sind bekannt für ihre Gefälligkeit. In den venezianischen Kapiteln von Ochrannaja gramota werden andere Maler erwähnt: Vittore Carpaccio, Giovanni Bellini, Paolo Veronese, Tizian sowie Jacopo Tintoretto. Ochrannaja gramota, 205/206. 44 „Nachwort zum ‚Schutzbrief ‘. Posthumer Brief an Rainer Maria Rilke“, in: Pasternak: Prosa und Essays, 362–365, hier 363. 45 „Ljubit’ inych – tjaželyj krest…“, PSS, II, 68. 46 „Posleslov’e“, 523 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

316

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

Man wird sagen, so sind alle Gesichter. Verfehlt – ich kenne andere. Ich kenne ein Gesicht, das sowohl in Leid als auch in Freude gleichermaßen überrascht und betroffen macht und das umso schöner wird, je öfter man es in Situationen erlebt, in denen jede andere Schönheit erloschen wäre. Ob diese Frau sich emporschwingt, ob sie kopfunter stürzt, es schadet ihrem beklemmenden Zauber nicht, und sie braucht, was auf Erden ist, weniger als die Erde sie, denn dies ist Weiblichkeit […]. Und da die Gesetze des Äußeren die weibliche Natur und den weiblichen Charakter am stärksten bestimmen, sind das Leben, das Wesen, die Ehre und die Leidenschaft dieser Frau nicht abhängig von diesem Leuchten, und sie fürchtet Verbitterung nicht so sehr wie die erste.47

Nach dem Modell des ästhetischen Traktats aus Ochrannaja gramota kann Pasternaks überstürzte Trennung und Neuvermählung im Rahmen seines ‚Lebenstextes‘ so verstanden werden: Evgenija Lur’e ist von einzelnen, stets neuen Aufhellungen abhängig, die offenbar nur er erbringen kann („Любить иных – тяжелый крест“48 / „Andere zu lieben – ein schweres Kreuz“). Sie hängt unmittelbar von seiner Liebe ab und stellt die Erwartung an ihn, dass er diese auf sie richte wie ein „Binokel“ – ein Verfahren, das Pasternak in Ochrannaja gramota bezüglich der Kunst als falsch bezeichnet. So ist das Leben mit Zinaida Nejgauz „schöner“, weil sie immer schon von der „Kraft“ der Liebe durchdrungen erscheint.49 An der Gegenwart dieser unsichtbaren Kraft könnten Phasen des Schmerzes, der Trauer, Bitternis nichts ändern. Insofern vermag Zinaida Nejgauz als Person Pasternaks ästhetisches Programm bruchloser einzulösen als der Text, in dem er dieses Programm aufstellt. In der Liebe zu dem zweiten, von ihr verkörperten Frauentyp kann sich sein Dichtersubjekt, das sich grundsätzlich nie als Lichtspender sieht, wie in Ochrannaja gramota konzipiert zurückhalten.50 Mehr noch, die Gegenüberstellung der beiden Frauentypen erinnert der Form nach stark an den von Pasternak immer wieder aufgeworfenen Gegensatz zwischen „Poesie“ und „Prosa“, wobei die Poesie mit ihren momenthaften Erleuch47 „Nachwort zum ‚Schutzbrief ‘“, 363. 48 „Ljubit’ inych – tjaželyj krest…“, PSS, II, 68. 49 Nina Segal sieht im Porträt von Zinaida Nejgauz aus „Posleslov’e“ eine Figuralisierung der Platonischen Diotima, die das Schöne, Gute und Wahre vereinen könne. Segal (Rudnik), Nina: „Mifologema Diotimy: Vjačeslav Ivanov i Boris Pasternak“, in: Vjačeslav Ivanov. Issledovanija i materialy. Otvetstvennye redaktory K. Ju. Lappo-Danilevskij i A. B. Šiškin. Vyp. 1. Sankt-Peterburg 2010, 183–204, hier 200. Die Trennung von Evgenija Lur’e zeigt auch Pasternaks Distanzierung von seinen jüdischen Wurzeln und seine betonte Hinwendung zum ‚Russischen‘ an. Vgl. Sicher: „The father, the son and Holy Russia: Boris Pasternak, Hermann Cohen and the religion of ‘Doctor Zhivago’“, 154. Schon 1928 hatte Pasternak behauptet, er werde für seine Frau und ihr jüdisches Umfeld immer fremder, „je näher“ er „der Wahrheit sein werde“ („чем ближе я буду к правде“) und je mehr es ihn zur „русск[ая] памят[ь]“ / zum „russischen Gedächtnis“ hinziehe. Brief an Marina Cvetaeva vom 29. Juni 1928, PSS, VIII, 238. 50 Für eine sehr ähnliche Lektüre von „Posleslov’e“ in der Licht-/Kraft-Logik siehe zuletzt Glazov-Corrigan: Art after Philosophy, 86/87.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

317

tungen stets ein vorläufiges Stadium darstellt, das von der ‚verantwortungsvolleren‘ Prosa abgelöst werden soll. In der kritischen Charakteristik seiner ersten Frau (innere Unerfülltheit, Angewiesenheit auf äußere Beleuchtung) zeichnet Pasternak so womöglich nicht zuletzt ein Bild von sich selbst als dem „einzigartigen Dichter“, als den Cvetaeva ihn gesehen hatte (dazu würde die Verflüssigung passen, die mit Lur’es Beschreibung ins Spiel kommt: „в ее лице хотелось купаться“). Eine vergleichbare Wendung der Kritik gegen sich selbst war ja schon im Haupttext von Ochrannaja gramota zu beobachten: Die Option für die Unsichtbarkeit hat nicht nur die Funktion, ein Argument gegen die Literatur des Faktums beizubringen, sie ist auch eine Form der Selbstanklage des Licht-Poeten Pasternak.51 In Vtoroe roždenie schimmert die Ästhetik von Ochrannaja gramota zwar noch auf im Versuch, die Liebe an das unsichtbare Element der Luft – statt an das Licht – zu binden, konsequent durchgeführt ist dieser Versuch aber nicht. Die beiden Frauen werden in den Gedichten teilweise nach der Typen-Unterscheidung aus dem Brief an Rilke dargestellt, doch auch dies unkategorisch. Mit Žolkovskijs „Mechanismen der zweiten Geburt“ gelesen, hieße das: Die Ankunft im Sozialismus, die in der Autobiographie noch nicht zur Debatte steht,52 überkreuzt sich mit den privaten Belangen eines „растерянный жених“53 / „verirrten Bräutigams“. Die lichte Zukunft greift auf die Beschreibung der zukünftigen Ehefrau buchstäblich über: Zinaida Nejgauz tritt in das Leben des Dichters „wie die Zukunft“ („Ты, как будущность, войдешь“54). Und im bilanzierenden Gedicht „Kogda ja ustaju ot pustozvonstva…“ („Wenn ich ermüde vom leeren Gerede…“, 1932) werden gar beide Frauen mit dem technisch-aufklärerischen Licht der Elektrifizierung verbunden: И вот года строительного плана, И вновь зима, и вот четвертый год. Две женщины, как отблеск ламп Светлана, Горят и светят средь его тягот.55 51 Wir erinnern uns an das erste Kapitel: Ein vergleichbarer Fall sind Belyjs polemische Äußerungen gegen Bal’mont. Belyj kritisiert Bal’monts Sonnen-Poesie als zu faktisch und immanent, womit er aber zugleich die Gefahren des eigenen „Licht-Sammelns“ anspricht. 52 Ochrannaja gramota konnte ab 1933 bis zur Perestrojka nicht mehr publiziert werden, vgl. z. B. Rudova: Understanding Pasternak, 114. 53 Bzw. „растерявшийся“. So Anna Achmatovas bekannt gewordenes Diktum nach Čukovskaja, Lidija: Zapiski ob Anne Achmatovoj. V 3-ch tomach. 1. 1938–1941. Moskva 2007, 79 [Eintrag vom 26. Juni 1940]. Pasternak selbst hatte schon 1931 von der „пошлость“ / „Abgedroschenheit“ bzw. „Schlüpfrigkeit“ der Vtoroe roždenie-Gedichte im Vergleich zu jenen von Sestra moja – žizn’ gesprochen. Brief an Marina Cvetaeva vom 5. März 1931, PSS, VIII, 478. 54 „Nikogo ne budet v dome…“ / „Niemand wird im Hause sein…“, PSS, II, 74. Allerdings ist in diesem Gedicht von Winterlicht, von nicht-grellem Licht die Rede. 55 Ebd., 80.

318

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft Danach die Jahre nun des Aufbauplanes, Und wieder Winter und das vierte Jahr. Zwei Frauen, wie die Lampen von Swetlana, Sie brennen in der Not und leuchten klar.56

In der „Enge“ des Fünfjahresplans scheinen die alte und die neue Liebe des Dichters wie Lampen der Fabrik „Svetlana“ (kurz für: Световые лампы накаливания).57 Indem die Frauen als „отблеск“ / „Widerschein“ der Lampen aufleuchten, werden sie zum Nebeneffekt der Elektrifizierung – eine extreme Gegenposition zum posthumen Brief an Rilke. Die Lage ist allerdings komplizierter. Das Gedicht fängt mit der Mahnung an, dem „Leben ins Gesicht“ zu sehen – in einem abgedunkelten Medium: Когда я устаю от пустозвонства Во все века вертевшихся льстецов, Мне хочется, как сон при свете солнца, Припомнить жизнь и ей взглянуть в лицо.58 Wenn ich ermüdet bin von dem Gerede Der Schmeichler, die man loswird nicht, Wie einen Traum am hellen Tag mein Leben Will ich erinnern, sehen sein Gesicht.59

Der Dichter sieht das Leben vor sich wie einen „Schlaf/Traum bei Sonnenlicht“, also wieder wie etwas Dunkles, das von außen beleuchtet wird. Es gibt damit auch hier die Vorstellung eines Negativs zum Licht, ja das Bedürfnis, dem glühenden Zukunftslicht (der Ideologie) etwas Opakes entgegenzuhalten. Diese Vorstellung erinnert an die Einleitung zu Spektorskij, in der deshalb von der Kunst als „короб лучевой“  / „Strahlenkorb“ die Rede ist, weil bloß einzelne Strahlen eines fernen Lichts in die Gegenwart des Dichters fallen. Doch immerhin ist in „Kogda ja ustaju ot pustozvonstva…“ von der Sonne die Rede, von einem Leuchten, das vielleicht sogar unbemerkt, hypnotisch-unbewusst in die Träumerei des Dichters einstrahlt. Die Svetlana-Lampen, in deren Licht Pasternaks Frauen erstrahlen, lassen das ferne Licht so einerseits realer werden. Andererseits wird das alte Projekt der Überbietung des Lichts aus Ochrannaja gramota und dem Brief an Rilke im Zuge der angestrebten Ankunft im Sozialismus preisgegeben. 56 Übers. v. Stefan Döring, Gedichte und Poeme, 305. 57 Vgl. dazu „Svetlana“: Istorija Leningradskogo ob’’edinenija ėlektronnogo priborostroenija „Svetlana“. Leningrad 1986. Zu den „лампочки Ильича“  / „Il’ič-Glühbirnen“ als Propagandainstrument vgl. Bekman Chadaga: „Light in Captivity“, 90, und zur „Aufklärungs“Metaphorik der Elektrifizierung im Rahmen des Ersten Fünfjahresplans Clark: The Soviet Novel. History as Ritual, 96/97. 58 PSS, II, 80. 59 Gedichte und Poeme, 305.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

319

„Schlecht schreiben“ und das Licht des „Volkes“ Es ist bekannt, dass Pasternak über sein fünftes Gedichtbuch trotz des darin geäußerten Optimismus unzufrieden war. Gerade der Optimismus schien ihm durch unaufrichtige Kompromisse erkauft zu sein. Der in der Zeit nach Vtoroe roždenie gefasste Plan, über eine Reise an den Ural und die dortige Kollektivierung der Landwirtschaft einen größeren Text zu schreiben, blieb unverwirklicht, da es für das Leiden der Bevölkerung, das er sah, weder in der ‚alten‘ noch in der ‚neuen‘ Manier eine Sprache gab.60 Es folgten drei Jahre bis Ende 1935, in denen Pasternak keine neuen Gedichte schrieb. In jener Zeit erneuert und verschärft sich die aus Ochrannaja gramota bekannte Zurückweisung des „Faktischen“. Das Faktum ist indes kein (nur) ästhetischer Begriff mehr. Pasternak sieht in der Reduktion auf das Faktische eine fatale Gemeinsamkeit der neuen politischen Ordnungen Russlands und Deutschlands. 1933 schrieb er an seine in Deutschland lebenden Eltern: […] одно и то же […] угнетает меня и у нас, и в вашем порядке. То, что это движенье не христианское, а националистическое, т.е. у него та же опасность скатиться к бестиализму факта, тот же отрыв от вековой и милостивой традиции, дышавшей превращеньями и предвосхищеньями, а не одними констатациями слепого аффекта. Это движенья парные, одного уровня, одно вызвано другим, и тем это все грустнее. Это правое и левое крылья одной матерьялистической ночи.61 […] ein und dasselbe […] quält mich in unserer und in Eurer Ordnung: Dass es keine christliche, sondern eine nationalistische Bewegung ist, d.h. ihr wohnt dieselbe Gefahr inne, zur Bestialität des Faktums abzudriften, sie spaltete sich gleichermaßen ab von der jahrhundertealten weichen Tradition, die in Übergängen und Vorwegnahmen geatmet hatte, und nicht nur in Konstatierungen eines blinden Affekts. Es sind parallele Bewegungen, auf ein und derselben Ebene, die eine hervorgerufen durch die andere, und umso trauriger ist das alles. Das sind der rechte und der linke Flügel ein und derselben materialistischen Nacht.

Angesichts dieser Aussagen müsste man die Formel von den „Mechanismen der zweiten Geburt“ als strapazierend bezeichnen. Denn hier werden nicht alte Werte in neue umgemünzt, sondern die neue Wirklichkeit wird (zwar nur in Briefform) angeklagt mit dem Maßstab der alten Werte. Die „Übergänge und Vorwegnahmen“ der christlichen Tradition, die Pasternak gegen die „Bestialität des Faktums“ 60 Fleishman: The Poet and His Politics, 170/171. Zoja Maslennikova hat hierzu folgende Aussage Pasternaks aufgezeichnet: „То, что я там увидел, нельзя выразить никакими словами. Это было такое нечеловеческое, невообразимое горе, такое страшное бедствие, что оно уже становилось как бы абстрактным, не укладывалось в границы сознания.“ „Was ich dort sah, kann mit keinen Worten ausgedrückt werden. Das war ein solch unmenschliches, unvorstellbares Elend, eine solch schreckliche Armut, dass es geradezu abstrakt wurde und sich nicht in die Grenzen des Bewusstseins einfügen wollte.“ Zit. nach Borisov/Pasternak: „Materialy k tvorčeskoj istorii romana B. Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, 208. 61 Brief an die Eltern vom 5. März 1933, PSS, III, 658 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

320

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

anführt, entsprechen ziemlich exakt den ästhetischen Bewegungs-Begriffen aus Ochrannaja gramota, namentlich dem „смещение“ / der „Verschiebung“. Die Ästhetik wird auf politisch-kulturelle Belange ausgeweitet, ohne sich der Struktur nach zu verändern. Pasternaks „philosophische Grundlagen“ sind so gesehen nicht lediglich erschwerend für die Annahme der totalitären „materialistischen Nacht“, sondern sie machen eine solche Annahme letztlich unmöglich. Doch im Sozialismus, zumal im stalinistischen, gibt es auch nicht-materialistische Potentiale, und auf diese sollte Pasternak sich in den folgenden Jahren konzentrieren. In jener Zeit begann seine extensive Tätigkeit als Übersetzer vornehmlich aus dem Georgischen.62 Zu den wenigen Gedichten, die er 1936, vor einem erneuten vierjährigen „Intervall des Schweigens“63, schrieb, gehört das Gedicht „Sčastliv, kto celikom…“ / „Glücklich, wer so ganz…“ aus dem Zyklus Iz letnich zapisok / Aus sommerlichen Aufzeichnungen über Georgien und die Dichterfreunde Tizian Tabidze, Paolo Jašvili, Simon Čikovani u.a. Abgesehen von der weiteren Reduktion der sprachlichen Ausdrucksmittel, die bis zum Versprechen eines schlechten Schreibens reichte64, lässt sich in „Sčastliv, kto celikom…“ der Versuch beobachten, die Krise mit 62 Ein Band mit Pasternaks Übersetzungen verschiedener georgischer Dichter erschien unter dem Titel Gruzinskie liriki / Georgische Lyriker 1935 in Moskau. Im Dezember 1935 übersandte Pasternak ein Exemplar von Gruzinskie liriki an Stalin, begleitet von einem überaus loyal gehaltenen Brief, in dem es unter anderem heißt: „Я давно мечтал поднести Вам какой-нибудь скромный плод моих трудов, но все это так бездарно, что мечте, видно, никогда не осуществиться. Или тут быть смелее и, недолго раздумывая, последовать первому побуждению? […] «Грузинские лирики» – работа слабая и несамостоятельная, честь и заслуга всецело принадлежит самим авторам, в значительной части замечательным поэтам.“ „Seit langem träumte ich davon, Ihnen eine Frucht meiner Arbeiten darzubringen, doch ist alles so misslungen, dass es dem Traum, wie es scheint, nicht vergönnt war, sich zu verwirklichen. Oder sollte man da mutiger sein und, nach kurzem Überlegen, dem ersten Impuls folgen? […] ‚Georgische Lyriker‘ ist eine schwache und unselbständige Arbeit, Ehre und Verdienst gehört ganz und gar den Autoren selbst, zum größten Teil bemerkenswerten Dichtern.“ PSS, IX, 62. 63 Was die Publikation von Gedichtbänden begrifft, so dauert das „interval of silence“ ein ganzes Jahrzehnt, von 1933 bis 1943. Eigene Gedichte schrieb Pasternak nach 1936 erst ab 1940 wieder. Vgl. Fleishman: The Poet and His Politics, 172. 64 Vgl. „В течение некоторого времени я буду писать плохо, с прежней своей точки зрения, впредь до того момента, пока не свыкнусь с новизной тем и положений, которых хочу коснуться.“ „Einige Zeit lang werde ich schlecht schreiben, aus meiner früheren Sicht, bis zu dem Moment, da ich mich an die Neuheit der Themen und Grundsätze gewöhnt haben werde, die ich berühren will.“ „Vystuplenie na III plenume pravlenija sojuza pisatelej SSSR“, PSS, V, 230–236, hier 234. Den Anspruch, „antipoetisch“, in der offiziellen Sprache zu schreiben, formulierte Pasternak schon 1934: „Мне почему-то верится, что […] мне удастся записать несколько хотя бы слов нынешних: антипоэтических, повседневных, административно-советских и бытовых, – таких, которых до сих пор бумага не принимала. Мне хочется, чтобы она вдруг взяла их да и не как-нибудь, – а преданно и любовно.“ „Aus irgendeinem Grund will ich glauben, dass […] es mir gelingen wird, aus dem Jetzt wenigstens

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

321

Hilfe einer neuen Kategorie zu überwinden, jener des „Volkes“. Dieses Volk muss offensichtlich verstanden werden in Entgegensetzung zu den Einzelvölkern – dem jüdischen ebenso wie dem „sowjetischen“ –, deren selbständige Existenz Pasternak bestritt.65 Während die Poesie, wie Pasternak sie vor 1930 verstanden hatte, nun zu abgetrennt, zu interesselos erscheint, läuft andererseits Kunst mit einer entschiedenen politischen Tendenz insbesondere seit der Erhebung des Sozialistischen Realismus zur ästhetischen Norm Gefahr, zur Schablone zu werden.66 Vor diesem Hintergrund ist Pasternaks Hinwendung zum „Volk“ zu sehen – gerade auch in Überbietung des sozrealistischen Prinzips der народность (‚Volkstümlichkeit‘). Ein Dichter, der in Einheit mit dem Volk lebt und wirkt, so die Vorstellung, entziehe sich sowohl der bürgerlichen wie auch der sozialistischen Falle einer Privilegierung und Vereinnahmung.67 Das Gedicht definiert „Volk“ als eine ursprüngliche Einheit, zu der man möglichst ganz gehören sollte: Счастлив, кто целиком, Без тени чужеродья, Всем детством – с бедняком, Всей кровию – в народе.68 Glücklich, wer ganz, Ohne Schatten Fremdstämmigkeit, Aus ganzer Kindheit – mit den Armen, Mit allem Blut – im Volk.

Vorbilder einer solchen Einheit mit dem Volk sind für Pasternak die georgischen Dichter. Da er sich selbst außerhalb des Volkes situiert,69 kann sein Verhältnis nur einige Worte aufzuzeichnen: antipoetische, alltägliche, administrativ-sowjetische und häusliche, wie sie das Papier bisher nicht akzeptieren wollte. Ich möchte, dass es sie plötzlich annimmt, und nicht irgendwie, – sondern hingebungs- und liebevoll.“ Brief an Marina Cvetaeva vom 24. Oktober 1934, PSS, 744. Und weiter heißt es, dies werde „что-то вроде советской Достоевщины (только без проблем и надрывов […])“ / „etwas wie eine sowjetische Dostoevščina sein (nur ohne Probleme und Zerreißproben […])“ sein. Ebd. 65 Vgl. dazu Flejšman: „Boris Pasternak i christianstvo“, 741/742. 66 Rudova: Understanding Pasternak, 123. 67 „The new idea of the poet’s unity with the people crowded the sensation of being a ‘superfluous’ hero out of Pasternak’s consciousness.“ Fleishman: The Poet and His Politics, 225. 68 PSS, II, 98. 69 Vgl. die Aussage vor der Leitung des Schriftstellerverbands 1937: „Я могу завидовать более простой, коренной, почвенной, целеустремленной биографии, чем моя.“ „Ich kann auf eine einfachere, verwurzeltere, geerdetere, zielstrebigere Biographie, als meine es ist, nur neidisch sein.“ „Vystuplenie na IV plenume pravlenija Sojuza pisatelej SSSR“ [Februar 1937], PSS, V, 240–245, hier 243. Gleichwohl, betont Pasternak, könne er sich als Künstler nur auf die eigene Erfahrung berufen. – Franziska Thun-Hohenstein erwähnt den möglichen polemischen Bezug zu Cvetaevas Diktum „поэты – жиды“ / „Dichter sind [verachtete] Juden“ aus

322

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

das einer einseitigen Anziehung sein. Und doch will er den „Volks“-Begriff letztlich gerade von ethnischen und sozialen Faktoren (in seinem Fall: der jüdischen Herkunft und der Intelligenzija-Zugehörigkeit) ablösen und zum allein gültigen Kriterium die Dynamik der „zweiten Geburt“ machen. So schreibt er später in den „Zametki k perevodam iz Šekspira“ („Bemerkungen zu den Shakespeare-Übersetzungen“, 1946/1956) über Jago, den Intriganten aus Shakespeares Othello, er sei ein „необращенное доисторическое животное“  / „unkonvertiertes prähistorisches Tier“, obwohl er als Weißer dem ‚richtigen‘ Volk angehört.70 Der schattenhafte Dichter nimmt es auf sich, auf das Volk zuzugehen: Я в ряд их не попал, Но и не ради форса С шеренгой прихлебал В родню чужую втерся. Отчизна с малых лет Bлекла к такому гимну, Что небу дела нет – Была ль любовь взаимна.71 In diese Reihe fiel ich nicht, Doch auch nicht aus Dünkel Stellte ich ums Essen mich ins Glied, Und drang in fremden Stamm. Von jungen Jahren an bewog Die Heimat mich zu solcher Hymne, Dass es den Himmel nicht kümmerte – Ob die Liebe gegenseitig sei.

Auch wenn sich Pasternak offenbar erst nach 1937, womöglich als Reaktion auf das Terrorregime, für die Slavophilie zu interessieren beginnt,72 finden sich schon 1936 in „Sčastliv, kto celikom…“ unverkennbar (neo-)slavophile Züge. Wie Isaiah Berlin berichtet, sei Pasternak ausgesprochen stolz gewesen, in Peredelkino auf dem frühe-

Poėma konca (Poem vom Ende, 1924). Thun, Franziska: „Sprach-Heimat. Pasternaks Entwurf seiner Biographie als russischer Dichter“, in: Kosta, Peter/Meyer, Holt/Drubek-Meyer, Natascha (Hrsg.): Juden und Judentum in Literatur und Film des slavischen Sprachraums. Die geniale Epoche. Wiesbaden 1999, 227–250, hier 241–243. 70 „Zamečanija k perevodam iz Šekspira“, PSS, V, 72–90, hier 80. Vgl. Thun: „Sprach-Heimat. Pasternaks Entwurf seiner Biographie als russischer Dichter “, 240. 71 PSS, II, 98. 72 Fleishman: The Poet and His Politics, 225. Vgl. auch Paramonov: „Pasternak protiv romantizma“, 17.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

323

ren Anwesen des Slavophilen Jurij Samarin (1819–1876) zu wohnen.73 Tatsächlich erinnert die Idee einer unaufgeforderten Annäherung an das Volk an ein Konzept Samarins, wonach die Adligen „überflüssig“ seinen im Gefüge der Gemeinschaft, da sie einen unmittelbaren Austausch zwischen Monarch und Volk verhinderten.74 Das Volk ist nach Samarin kein modellierbares „Material“, sondern ein „lebendiges Wesen“.75 Freilich sind die Stellen des Adels und des Monarchen bei Pasternak unbesetzt. Gleichwohl ist das Verhältnis zwischen „genialem“ Künstler und „gewöhnlichem“ Menschen bei ihm von einer sehr ähnlichen Vorstellung des unmittelbaren Kontakts geprägt. Einem solchen Kontakt würden nur die „интересные люди“  / „interessanten Menschen“ aus der Intelligenzija und Nomenklatura im Wege stehen.76 Gerade dieses organizistische Moment scheint auf romantisch-slavophile Denker wie Jurij Samarin zurückzugehen. Die Anlage der Begegnung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ ist jedoch bei Pasternak noch radikalisiert: Die Annäherung ist nicht wie in älteren slavophilen Ansätzen als Abstieg von der hellen Sphäre des Logos in ein dunkles, chaotisch-ergebenes Element gefasst, sondern umgekehrt, als Aufstieg aus dem Schattendasein in die klare Weite der Luft. Darin liegt freilich auch eine Überbietung der stalinistischen Führer-Volk-Konzeption, die sich ihrerseits, wie Hans Günther zeigt, gewisse Denkfiguren der Slavophilie zu eigen gemacht hatte.77 Das Luft-Motiv aus Vtoroe roždenie kehrt in „Sčastliv, kto celikom…“ bemerkenswert hyperbolisch als Merkmal des Volkes wieder: Народ, как дом без кром, И мы не замечаем, Что этот свод шатром, Как воздух, нескончаем.78 Das Volk ein grenzenloses Haus, Und wir bemerken nicht, Dass dieses Zeltgewölbe Endlos wie die Luft ist.

73 Berlin, Isaiah: „Conversations with Akhmatova and Pasternak“ [1980], in: ders.: The Soviet Mind. Russian Culture under Communism. Washington, D.C., 2004, 53–84, hier 61. 74 Vgl. Gruzdeva, Ol’ga: „Ideja ‚narodnoj monarchii‘ v rabotach Ju.  F.  Samarina“, in: Vestnik MGTU 11, 1 (2008), 34–42, hier 35. 75 Ebd., 39. 76 „Vystuplenie na III plenume pravlenija Sojuza pisatelej SSSR“, 235. 77 Vgl. Günther [Gjunter], Chans: „Totalitarnaja narodnost’ i ee istoki“, in: Socrealističeskij kanon. Pod obščej redakciej Chansa Gjuntera i Evgenija Dobrenko. Sankt-Peterburg 2000, 377–389, hier 387. 78 PSS, II, 98.

324

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

Zwar wird das Volk danach als „чащи глубина“79 / „Tiefe des Dickichts“ apostrophiert. Im eigentlichen Sinne stofflich ist aber der Dichter. Er ist das Material, das vom Volk wie ein Artefakt (изделие) geformt werden soll: Ты без него [народа] ничто. Он, как свое изделье, Кладет под долото Твои мечты и цели.80 Du bist nichts ohne es [das Volk]. Es legt, wie sein Erzeugnis, Unter den Meißel, Deine Träume und Ziele.

Der Dichter scheint nun sogar die Position einer „Braut“ einzunehmen, wie sie einst im Gedicht „Bescvetnyj dožd’… kak gibnuščij patricij…“ von 1912 skizziert gewesen war, jedoch nicht mehr im Verhältnis zur Sonne, sondern eben zum Volk. So legt es ein anderes, in keine Sammlung aufgenommenes Gedicht von 1936 nahe, „Vse naklonen’ja i zalogi…“ / „Alle Hinneigungen und Versprechen…“. Die Umarmungen, die im Gedicht von 1912 nur naturpoetisch zwischen Regen und Erde möglich waren, werden zur Angelegenheit zwischen Volk und Dichter: Он [народ] для тебя и вода и воздух, Он – прежний лютик луговой, Копной черемух белогроздых До облак взмывший головой. Не выставляй ему отметок. Растроганности грош цена. Грозой пади в объятья веток, Дождем обдай его до дна.81 Es [das Volk] ist für dich Wasser und Luft, Es ist [dir] vertrauter Wiesenhahnenfuß, Als Büschel weißer Faulbeerblüten Zu den Wolken kopfvoran geflogen. Du stell ihm keine Noten aus. Bewegtheit kostet einen Groschen. Als Gewitter fall in Umarmungen der Zweige, Mit Regen übergieß es [das Volk] bis zum Grund. 79 Ebd. 80 Ebd. In „V bol’nice“ („Im Krankenhaus“, 1956) wird der Dichter erneut als „изделие“ erscheinen, jedoch nicht mehr in Abhängigkeit vom Volk, sondern von Gott. Darauf werde ich im achten Kapitel zurückkommen. 81 PSS, II, 253.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

325

Interessant ist, dass das Volk das Wasser, das der Dichter ihm in Form von Gewitterregen bringen soll, schon enthält. Selbst wenn er die „Zweige“ des Volkes als Regen „umarmt“, leistet er damit streng genommen nichts Neues. Es bedarf der Originalität des Dichters nicht, um zu sich zu finden. Dieses nachgerade divinisierte Volk ruht in sich. Sehnsüchtig ist nur der Künstler. Auf die Spitze getrieben wird das Motiv einer solchen quasi ‚mystischen‘ Verbindung in den früheren Fassungen des Stalin-Gedichts „Mne po duše stroptivyj norov…“ (1936) aus dem Zyklus Chudožnik / Der Künstler, Pasternaks letztem Versuch, „mit den Gedanken der Zeit im Gleichklang zu leben“82. Ähnlich wie Ženja aus Detstvo Ljuvers, die in ihrer Pubertät eine Schwangerschaft imaginiert,83 lässt sich der Dichter von Stalins „Genie der Tat“ affizieren, um dann von ihm „schwerer“, d.h. in Boris Paramonovs Lesart – auf mystische Weise „schwanger“ zu werden: И этим гением поступка Так поглощен другой, поэт, Что тяжелеет, словно губка, Любою из его примет. Как в этой двухголосой фуге Он сам ни бесконечно мал, Он верит в знанье друг о друге Предельно крайних двух начал.84 Und vom Genius der Tat Ist so sehr erfüllt andere, der Dichter, Dass er schwer wird wie ein Schwamm, Von jedem seiner Fingerzeige. So sehr in dieser zweistimmigen Fuge Er selbst unendlich klein sein mag, Glaubt er ans Wissen umeinander Der zwei polaren Gegensätze.

Stalin ist in Pasternaks Axiologie ein politisches „Genie der Tat“ und er nimmt als georgischer ‚Naturmensch‘ die Rolle des mystifizierten Volkes ein. Sozialismus und Slavophilie werden so in seiner Gestalt zu einer unauflöslichen charismatischen Einheit verwoben. Das macht es so schwierig, ja unmöglich, Pasternaks Haltung gegenüber Stalin zu fassen: Jedes Lob des gesellschaftlich-kulturellen Umbaus ist zugleich 82 Notiz Pasternaks von 1956, zit. bei Ivinskaja, Ol’ga: V plenu vremeni. Gody s Borisom Pasternakom [1972]. Paris 1978, 95. 83 Vgl. Greber: „Subjektgenese, Kreativität und Geschlecht“, 361–363. 84 PSS, II, 402. Vgl. dazu Paramonov: „Pasternak protiv romantizma“, 14. Zur hier aufgerufenen Bedeutung von тяжелая vgl. Dal’, Vladimir: Tolkovyj slovar’ živogo velikorusskogo jazyka. Tom četvertyj. Vtoroe izdanie, ispravlennoe i značitel’no umnožennoe po rukopisi avtora. S.-Peterburg/Moskva 1882, 455.

326

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

Technikkritik, und jede Anprangerung von Unmenschlichkeit enthält auch eine Art pietätvollen Erschreckens über die revolutionäre ‚Kraft‘ der Vorgänge. Wenn sich der Dichter danach sehnt, „Artefakt“ des Volks zu werden,85 so ist dies in poetologischer Hinsicht eine bemerkenswerte (negative) Reminiszenz an die Theorie des Symbolismus. Bei Andrej Belyj bestand das Ziel des Künstlers darin, stufenweise zum Produkt seiner eigenen Kunst, also durch den Logos zum Logos zu werden. Wie wir in den ersten Kapiteln gesehen haben, hat Pasternaks Distanz zu einem derartigen „theurgischen“ Realsymbolismus vor allem mit dem Begriff des Logos selbst zu tun. Sämtliche von ihm unternommenen Bestimmungen der Aufgabe des Dichters zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich gerade nicht auf den Logos, sondern auf vor- oder nachsprachliche Kategorien wie Mitleid, Anlass, Verweis, Liebe, Material bis hin zur „Vorstadt“86 beziehen.87 Das wiederum ist einer der Hauptgründe, weshalb Pasternaks Subjekt so selten hatte Licht-Quelle sein können und wollen. Mitte der 1930er Jahre wird in seinen Gedichten alles Produktiv-Iden85 Pasternak bekräftigte diese Sehnsucht in einer Stellungnahme, die er als Antwort auf den Vorwurf des Schriftstellers und Funktionärs Vladimir Stavskij verfasste, in „Sčastliv, kto celikom…“ würde das „sowjetische Volk“ verhöhnt: „Во второй строфе, вызвавшей нарекания, говорится о том, что индивидуальность без народа призрачна, что в любом ее проявлении авторство и заслуга движущей первопричины восходит к нему – народу. Народ – мастер […], а ты художник – материал. Такова моя истинная мысль, и как бы не сложилась дальнейшая ее судьба, я в ней не вижу ничего с идеей народа не совместимого. Происшедшее недоразумение объясняю себе одной только слабостью и неудачностью этого места, как и вообще этих моих стихов.“ „In der zweiten Strophe, die Widerspruch hervorgerufen hat, ist die Rede davon, dass Individualität ohne Volk eine Illusion ist, dass die Autorschaft in jeder beliebigen ihrer Spielformen und das Verdienst der bewegenden Erstursache auf es zurückgeht – das Volk. Das Volk ist der Meister […], du aber, Künstler, bist das Material. So lautet mein wirklicher Gedanke, und was auch immer sein weiteres Schicksal ist – ich sehe in ihm nichts, was mit der Volks-Idee unvereinbar wäre. Das Missverständnis erkläre ich mir allein mit der Schwäche und der Ungeschicktheit dieser Stelle, wie überhaupt dieser meiner Gedichte.“ Literaturnaja gazeta, Januar 1937, PSS, II, 408. Interessanterweise ist die Bezeichnung „bewegende Erstursache“ für das Volk der klassischen (aristotelischen) Metaphysik entliehen – ein weiterer Hinweis darauf, dass die alten „philosophischen Grundlagen“ Pasternaks Mitte der dreißiger Jahre noch immer nicht „umgewertet“ sind. – Die sozialistische Ästhetik (György Lukács, Michail Lifšic) hatte ihrerseits einen Marxismus-konformen Begriff des „Volkes“ entwickelt, mit dem sich Pasternaks organizistischer Volks-Begriff nicht vertragen konnte, auch wenn er, wie gezeigt, eine gewisse unheimliche Nähe zu Stalins Charismatik aufweist. Vgl. Aucouturier, Michel: Le réalisme socialiste. Paris 1998, 77. 86 „Ты – пригород, а не припев.“ „Du bist eine Vorstadt, kein Refrain.“ „Poėzija“ [1922], PSS, I, 205. 87 Pasternak kritisiert eine zu starke Orientierung am funkelnden Sprachhandwerk – und die Praxis eines künstlichen Licht-Regens – gerade auch bei sich selbst, vgl. „Vse naklonen’ja i zalogi…“: „Я верил на слово бумаге, / Облитой лампой ремесла.“ „Ich glaubte aufs Wort dem Papier, / Dem von der Lampe des Handwerks begossenen.“ PSS, II, 251.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

327

titäre vollends auf die Seite des „Volkes“ geschlagen. Der Künstler wird zur Fremdschöpfung. Aber kommen wir noch einmal auf „Sčastliv, kto celikom…“ zurück. Der hier entfaltete Begriff des Volkes steht in einer Linie romantischer, slavophiler, symbolistischer Umdeutungen der Aufklärung.88 In den letzten Strophen des Gedichts wird das Volk zum „Aufklärer“ der Künstler. Allein dem Volk wird zugetraut, „наше […] не до конца освещенно[е] существовань[е]“ / „unsere noch nicht ganz beleuchtete Existenz“, von der Pasternak 1936 an anderer Stelle schreibt89, aufzuklären. Lesen wir die entsprechenden Strophen aus „Sčastliv, kto celikom…“: Чье сердце не рвалось Ответною отдачей, Когда он [народ] шел насквозь, Как знающий и зрячий? Внося в инвентари Наследный хлам досужий, Он нами изнутри Нас освещал снаружи. Он выжег фетиши, Чтоб тем светлей и чище По образу души Возвесть векам жилище.90 Wessen Herz wurde nicht zerrissen Von antwortender Hingabe, Als es [das Volk] hindurch ging, Als wissendes und sehendes? In die Inventare eintragend Den letzten müßigen Plunder, Hat es durch uns inwendig Von außen uns beleuchtet.

88 Nach Starobinski ist die Revolution ein Zusammenspiel von ‚aufgeklärten‘ Geistern und ‚dunklem‘ Volk: „The Revolution owed its success, its rhythm, and its disastrous acceleration to the unforeseen coalition of enlightenment (or, one could say, enlightened reformism) with the dark force of the hungry masses.“ „Reflections on some symbols of the revolution“, 58. Indem Pasternak das Verhältnis zwischen Intelligenzija und Volk umkehrt, kehrt er auch die revolutionäre Logik der Revolution (Intelligenzija als „Demiurg“) um. 89 „Novoe soveršennoletie“ [„Neue Volljährigkeit“, 1936], PSS, V, 236/237, hier 237. Flejšman zeigt, dass die Zustimmung zur neuen Verfassung, die Pasternak in dem Izvestija-Artikel „Novoe soveršennoletie“ bekennt, wiederum zutiefst ambivalent ist. Flejšman: Pasternak v tridcatye gody, 357–359. 90 PSS, II, 98/99.

328

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft Die Fetische weggebrannt, Um umso lichter und heller Nach dem Ebenbild der Seele Den Zeiten eine Wohnstatt zu verkünden.

Pasternaks Umkodierung reicht soweit, dass das „Volk“ die den sozialistischen Schriftstellern zugedachte Rolle des Ingenieurs von Menschenseelen91 übernimmt, während sich die Künstler zum lichtdurchlässigen Material für ein gemeinsames „Wohnen“ degradieren. Unübersehbar sind hier die Reminiszenzen an das Programm-Gedicht von Anfang der 1930er Jahre, „Mne chočetsja domoj, v ogromnost’…“, wo der heimkehrende Held wie Licht durch die Wände der Kommunalwohnung hindurchgeht und versucht, die individuellen Grenzen des alten Lebensstils zu überwinden. Nun ist es das Volk, das als „wissend und sehend“ durch die Intelligenzija hindurchstrahlt, sie dabei von alten (und neuen) Vorurteilen und überkommenem Dünkel befreit und mit seinem Licht zu „Mitbewohnern“ macht. Das kommunale Wohnen, in Vtoroe roždenie noch ein Paradigma des gesellschaftlichen Umbaus, wird zum Symbol einer Kommunion zwischen Künstlern und Volk, scheinbar gänzlich außerhalb staatlicher Institutionen.92 Dass Pasternaks politisch delikate Unterwerfungsgesten von Schriftstellerkollegen und Literaturfunktionären kaum verstanden werden konnten, hat, wie es scheint, noch immer vorwiegend ästhetische Gründe. Seine „Unterwerfung unter die Kraft“ (Žolkovskij) – hier des Volkes –, das ständige Degradieren des Schöpfers zu einem Überwältigten, muss gemessen am Sozialistischen Realismus, der Kunst als Aufklärungs- oder auch Verklärungsmission begreift, wie eine „Häresie“93 wirken. Sehr schön sichtbar wird das in einer Äußerung Aleksandr Fadeevs von 1937: „[…] все люди, которые так или иначе связаны с деятельностью Пастернака, бережно его убеждают, чтобы он не лез в темный угол, а развернул свой талант на пользу народу.“94 „[…] alle, die auf die eine oder andere Art mit Pasternaks Schaffen 91 Vgl. zu diesem Begriff Günther, Hans: Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre. Stuttgart 1984, 11/12, 196. 92 Zur Angleichung von „Volk“ und „Haus“ im Zusammenhang mit „Sčastliv, kto celikom…“ und „Mne chočetsja domoj, v ogromnost’…“ vgl. Faryno: Poėtika Pasternaka, 25/26. 93 Als „Häresie“ gegen die Literatur hatte Pasternak im Volny-Zyklus aus Vtoroe roždenie die kommende „неслыханная простота“ / „unerhörte Einfachheit“ bezeichnet. PSS, II, 58. Nach eigener Auffassung hat er diese Einfachheit in seinem Spätwerk erreicht. Allgemein zeigt sich in den dreißiger Jahren in den meisten Äußerungen Pasternaks zur Ästhetik etwas „Häretisches“: So gut wie alle abweichenden Positionen kommen nicht etwa durch explizite Verneinung des Sozialistischen Realismus zustande, sondern durch Überbetonung bestimmter Faktoren (in unserem Zusammenhang insbesondere der народность). Häresie meint ja wörtlich das unausgewogene „Herausgreifen“ und Überbetonen eines bestimmten Aspekts aus einer Lehre. 94 Aleksandr Fadeev am „Puškinskij plenum pravlenija Sojuza sovetskich pisatelej“ vom Februar 1937. Zit. nach Flejšman: Pasternak v tridcatye gody, 401.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

329

zu tun haben, versuchen ihn schonend davon zu überzeugen, dass er sich nicht in eine dunkle Ecke verkrieche, sondern sein Talent zum Nutzen des Volkes entfalte.“ Diese in den dreißiger Jahren allgemein verbreitete Sichtweise ignoriert, absichtlich oder nicht, dass die „dunkle Ecke“ über sämtliche Umorientierungen Pasternaks hinweg eine Eigengesetzlichkeit seines lyrischen Subjekts war. „Nutzen“ zu bringen, konnte von ihm sachlich, streng poetologisch besehen gar nicht erwartet werden. Fassen wir kurz zusammen: Gerade angesichts der utopischen Anpassung der Poetik Pasternaks („Mne chočestsja domoj, v ogromnost’…“) wird seine extreme Unzufriedenheit mit den realen Entwicklungen in Politik und Kunst der dreißiger Jahre verständlich.95 Andererseits deutet sich in der ‚Häresie‘ des lichten Volkes eine dissidente Haltung gegenüber dem Sowjetstaat an, die Pasternak ab 1937 bis an sein Lebensende einnehmen sollte.96 Wenden wir uns nun Pasternaks Schreiben im Umkreis des Gedichtbands Na rannich poezdach (In den Frühzügen, 1943) zu und überprüfen das bisher Gesagte an den Kriegsgedichten. Im Zyklus Stichi o vojne (Gedichte vom Krieg, 1941–1944) konkretisierte sich die lichte Zukunft als „зарево“ (Feuerschein) des Kriegsgeschehens. Pasternak wurde Anfang der vierziger Jahre die Gelegenheit gegeben, sich in der literarischen Öffentlichkeit zu rehabilitieren,97 was die Parteilichkeit und den propagandistischen Enthusiasmus dieser Gedichte erklären mag.98 Das Poem-Fragment „Zarevo“ (Oktober 1943), auf das ich mich konzentrieren werde, handelt von siegreichen Angriffen der sowjetischen Armee und einem anschließenden Feuer95 Pasternaks Rückzug aus der sowjetischen Öffentlichkeit geht mit dem Abstieg des ihm nahe stehenden ‚Liberalen‘ Nikolaj Bucharin ab 1936 einher. Vgl. Fleishman, Lazar: „Pasternak and Bukharin in the 1930s“, in: ders.: Pasternak and His Times, 171–188, hier 186. 96 Die aus dem Begriff eines organisch-schöpferischen Volkes begründete Dissidenz erinnert teilweise bis in die Einzelheiten an den französischen Dichter Charles Péguy (1873–1914). Vgl. Taylor: A Secular Age, 745–751. Péguys ablehnende Haltung gegenüber den etablierten linken, progressiven und den rechten, autoritär-katholischen Ideologien seiner Zeit leitet sich aus einer Bergsonschen Kritik am ‚mechanistischen‘ Weltbild der Moderne her, genauso wie Pasternaks Pathos der Unmittelbarkeit auf lebensphilosophische Grundsätze zurückgeführt werden kann. Péguy schwebte ein „mystischer“ – statt wissenschaftlich-objektivierender – Zugang zur Geschichte der französischen Nation vor, der das moderne Leben wieder „ganz“ machen würde. Obwohl sich Pasternak, im Unterschied zu Péguy, nicht als Teil des Volkes sieht und statt von einer neuen Inkarnation stets nur von Annäherung spricht, weist seine Vorstellung vom ‚lichten Volk‘ erstaunliche Gemeinsamkeiten mit Péguys Geschichts-„Mystik“ auf. Zu Péguys Kollektivierung von Bergsons individuell gedachter „mémoire organique“ siehe Pilkington, Anthony E.: Bergson and His Influence. A Reassessment. Cambridge/New York 1976, 60. 97 Vgl. Fleishman: The Poet and His Politics, 232. 98 Als Anna Achmatova 1944 aus Taškent zurückkehrte, soll sich Pasternak vor ihr für seinen Gedichtband Na rannich poezdach geschämt haben. Vgl. Berlin: „Conversations with Akhmatova and Pasternak“, 65.

330

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

werk. Mit seinen Spektakeln leistet der Krieg so auch eine handfeste Demetaphorisierung der politischen Licht-Rhetorik: Нас время бáлует победами, И вещи каждую минуту Все сказочнее и неведомей В зеленом зареве салюта. Все смотрят, как ракета, падая, Ударится о мостовую, За холостою канонадою Припоминая боевую. На улице светло, как в хрáмине, И вид ее неузнаваем. Мы от толпы в ракетном пламени Горящих глаз не отрываем.99 Die Zeit verwöhnt uns mit Siegen, Und die Dinge sind mit jeder Minute Märchenhafter und unbekannter Im grünen Feuerschein des Saluts. Alle schauen, wie die Rakete, fallend, Aufprallt auf den Pflasterstein, Durch die Platzpatronen-Kanonade Die kriegerische vergegenwärtigend. Auf der Straße ist es hell, wie in einem Tempel, Und ihr Anblick ist nicht wiederzuerkennen. Von der Menge in den Flammen der Raketen Können wir die Augen nicht abwenden.

Die Erleuchtung durch den Schein des Feuerwerks erreicht nun einen einfachen sowjetischen Soldaten namens Volodja.100 Volodja wird zum Zuschauer und Bewunderer des Triumphs, zu dem er selbst als Soldat beigetragen hat. Wenn er am Schluss 99 „Zarevo“, PSS, II, 127–134, hier 127/128. Das vielleicht bekannteste Kriegsgedicht über ein Siegesfeuerwerk stammt von Samuil Maršak – „Da budet svet“ („Es werde Licht“, 1945): „Да будет вечной та минута, / Когда во тьме сверкал нам свет / Двадцатикратного салюта – / Сиянье залпов и ракет.“ „Es bleibe ewig jene Minute, / Da in der Dunkelheit das Licht uns aufschien / Des zwanzigfachen Saluts – / Das Leuchten von Salven und Raketen.“ Maršak, Samuil: Stichotvorenija i poėmy. Leningrad 1973, 385. Durch die Wendung „Es werde Licht“ wird das Siegesfeuerwerk zu einem neuen Schöpfungsakt nach dem „Dunkel“ des Krieges stilisiert. 100 „И он столбом иллюминации / Пленяется, как третьеклассник.“ „Und er erstarrt zur Säule / Von den Illuminationen, wie ein Schüler.“ „Zarevo“, 128.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

331

von den Bewohnern seiner Heimat als „звезда“ / „Stern“ bezeichnet wird, so ist dies ausdrücklich nicht rhetorisch, sondern buchstäblich gemeint. Auf dem Heimweg von der Front denkt er: Мы на словах не остановимся, Но, точно в сновиденьи вещем, Еще привольнее отстроимся И лучше прежнего заблещем […].101 Wir machen bei Worten nicht Halt, Sondern, wie im seherischen Traum, Werden wir uns noch freier einrichten Und noch besser als zuvor aufleuchten […].

Im Zusammenhang mit diesem erträumt buchstäblichen Licht der Zukunft merkt der Autor des Poems danach in einem Selbstkommentar an: Я тьму бумаги перепачкаю И пропасть краски перемажу, Покамест доберусь раскачкою До истинного персонажа. Зато без всякой аллегории Он – зарево в моем заглавьи, Стрелок, как в песнях Черногории, И служит в младшем комсоставе.102 Ich beflecke die Dunkelheit des Papiers, Und trage einen Abgrund von Farbe auf, Bis ich mich durchringe mit Schwanken Zur wahrhaftigen Helden-Figur. Dafür ist ohne jegliche Allegorie sie In meinem Titel ein Feuerschein, Ein Schütze wie in Liedern Montenegros, Und dient im jungen Komsostav.

Gerade weil Volodja (noch) keine „wahrhaftige Helden-Figur“ ist, gesteht ihm der Autor den Namen Feuerschein „ohne jede Allegorie“ zu. Das Licht ist fähig, die mangelnde Konkretheit der Person zu kompensieren, sofern es sich um ‚reales‘ und nicht um übertragenes Licht handelt. Die Explosionen des Krieges und ihre Verdoppelungen durch Feuerwerke erlauben es, die abstrakt-utopische Rede von der lichten Zukunft Realität werden und sie sogar in einem einzelnen „kleinen Helden“

101 Ebd., 129. 102 Ebd., 129/130 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

332

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

wie Volodja Fleisch annehmen zu lassen – auch wenn diese Zuschreibung ihrerseits in einer offensichtlich bewusst naiven Rhetorik verbleibt.103 So ist auch das negative Beispiel im Gedicht „Smert’ sapëra“ / „Tod eines Pioniers“ zu verstehen. Es handelt vom Tod eines Pioniers, doch mit seinem grell beleuchteten Opfer zeichnet der junge Held ähnlich wie der Soldat Volodja den „Weg ins Licht“ vor: Жить и сгорать у всех в обычае, Но жизнь тогда лишь обессмертишь, Когда ей к свету и величию Своею жертвой путь прочертишь.104 Leben und verbrennen gehört für alle dazu, Doch nur dann machst du das Leben unsterblich, Wenn du ihm zum Licht und zur Größe Mit deinem Opfer den Weg bezeichnest.

Alle möglichen nächtlichen Kriegsilluminationen werden zu realen Attributen des Heldentums.105 Pasternaks Erinnerungstext an den jungen Dramatiker Aleksandr Afinogenov (geb. 1904), der 1941 bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war, liefert für diese Tendenz ein besonders drastisches Beispiel. Niemand habe zunächst der Todesnachricht glauben schenken wollen, heißt es in dem Text von 1944. Als wollte er beweisen, dass der frühe Tod Afinogenovs unausweichlich gewesen sei, vergleicht Pasternak ihn – mit einem nächtlich aufleuchtenden Kriegslicht: А я увидел погруженные во тьму дома и улицы, кружащего в высоте воздушного разбойника и глубоко внизу под ним молодую, счастливую судьбу, слишком богатую, чтобы остаться незамеченной, яркую и отовсюду видную, как незатемненное окно и как нечаянное нарушение светомаскировки.106 Ich aber sah in die Dunkelheit versunkene Häuser und Straßen, einen in der Höhe kreisenden Luftjäger und tief unter ihm ein junges, glückliches Schicksal, zu wertvoll, als dass es unbemerkt bleiben könnte, grell und von überallher sichtbar, wie ein unverdunkeltes Fenster und wie eine unverhoffte Unterbrechung der Lichtmaskierung.

103 Die Idee des „real gewordenen Symbols“ gehört zur kommunistischen Topik der dreißiger Jahre. 1937 hatte Aleksandr Kovalenkov in der Pravda verkündet, der Stern der Roten Armee sei in Form der Roten Glassterne auf dem Kreml „real“ geworden. Vgl. Bekman Chadaga: „Light in Captivity“, 103. 104 PSS, II, 136. 105 Dem Prinzip nach sehr ähnlich werden in „Kogda ja ustaju ot pustozvonstva…“ aus Vtoroe roždenie die Glühbirnen der Elektrifizierung zu Charakterisierungen von Pasternaks Ehefrauen. 106 „Afinogenov. K trechletiju so dnja smerti“, PSS, V, 58/59, hier 59 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

333

Durch sogenannte Lichtmaskierung versuchen sich im Krieg Panzer und Schiffe vor dem Feind zu tarnen. Wenn Afinogenov als „Unterbrechung“ der Lichtmaskierung bezeichnet wird, so wird die „Erfahrung tödlicher Helligkeit“ (Karin Hirdina107) posthum zu seinem eigenen triumphalen Attribut erklärt. Erinnern wir uns: Der Okularphobie eines Textes wie Detstvo Ljuvers, in dem sogar die Sonne eine Brille trägt, liegt der Artikel über Afinogenov denkbar fern. Mit einem bis zum Zynismus überspitzten Okularzentrismus scheint Pasternak die ihm in den dreißiger Jahren zum Vorwurf gemachte ‚Dunkelheit‘ zu kontrastieren. Sehr ähnlich ist die Logik, um ein weiteres Beispiel dafür zu zitieren, im Fragment gebliebenen Essay „K charakteristike Bloka“ / „Zur Charakteristik Bloks“ (1946), zwei Jahre nach dem Text über Afinogenov. Pasternak spricht hier so von „просветлень[е]“ / „Erleuchtung“, als hätte er selbst gar nie mit ihr gerungen: Можно сказать, в отстояньях и сближеньях дара и жизни, взаимотяготенье и свеченье которых составило астрономию Блоковского творчества, [обязательный] символизм был третьим телом, прошедшимся по всем тем путям Блоковской духовности, в которые впоследствии втупила жизнь; символизм (школьный и схематический) был теоретическим затменьем Блока накануне жизненного просветленья.108 Man kann sagen, dass in den Entfernungen und Annäherungen zwischen Gabe und Leben, deren gegenseitige Anziehung und deren Glühen die Astronomie des Blokschen Werkes konstituierte, der [systembedingte] Symbolismus das dritte Gestirn war, das alle Bahnen von Bloks Vergeistigung, auf welche sich dann das Leben begab, durchwanderte; der Symbolismus (scholastisch und schematisch) war Bloks theoretische Verdunkelung am Vorabend seiner Lebens-Erleuchtung.

In dem hochgradig visuellen Verständnis der vergegenwärtigten Zukunft beim Pasternak der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre realisiert sich das genaue Gegenteil dessen, was er etwas mehr als ein Jahrzehnt früher in Ochrannaja gramota als „зрелищное понимание“109 / „visuelles Verständnis“ des Lebens kritisiert hatte. Dort heißt es, dass die unsichtbare Kraft der Liebe zuweilen, sehr selten, evidenter werde als das sichtbare Sonnenlicht. In den Kriegsgedichten ist die einzige in Frage kommende Evidenz jene des illuminierenden Feuerscheins. Der Autor von „Zarevo“ ist sich dieser Veränderung durchaus bewusst. In einer dem Poem eingefügten metapoetischen Reflexion erwähnt er den „[п]исатель в старину“ / „Schriftsteller des Altertums“, der in der Poesie nicht das Glück gesucht habe, dessen Held „болел падучею / Горел и был страденьем светел“110 / „an Fallsucht litt und durch Leiden 107 Hirdina, Karin: „Einleitung“, in: dies./Augsburger, Janis (Hrsg.): Schönes gefährliches Licht. Studien zu einem kulturellen Phänomen. Stuttgart 2000, 11–19, hier 16. 108 „K charakteristike Bloka“, PSS, V, 363–367, hier 364 (eckige Klammer im Orig.). 109 Ochrannaja gramota, 226. 110 „Zarevo“, 129.

334

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

leuchtete.“ Diese Bemerkung scheint sich auf die antiken Epiker/Tragiker und auf böse endende Helden wie Achill oder Ödipus zu beziehen. Ebenso gut aber lässt sich der Ausdruck „писатель в старину“ als ein weiterer Selbstkommentar Pasternaks zu seinem vorrevolutionären (und mittleren) Werk lesen, das sich poetologisch durch das Leidensprinzip und durch die Schattenhaftigkeit seiner Helden ausgezeichnet hatte. Der Held von „Zarevo“ ist zwar noch immer ein Held, der von außen, durch Feuerscheine aus dem Himmel aufgehellt werden muss, also wie die früheren Helden bei Pasternak über kein ‚inneres‘ Licht verfügt. Doch seine Erleuchtung wird in deutlichem Kontrast etwa zu Sestra moja – žizn’ ohne Einschränkungen behauptet. Die Stichi o vojne bringen zwei inkommensurable Linien des Licht-Schreibens zusammen. Auf der einen Seite fällt auf, wie selbstverständlich die Gedichte die Quelle der Illumination (Raketen und Feuerwerke) verwenden, ohne sie zur Disposition zu stellen. In diesem betont unkritischen oder eben: bewusst naiven Verhalten gegenüber den Quellen des Lichts wird die ästhetisch-spekulative Frage, wie das Licht beschaffen sei und ob es eine Gelegenheit der Entfaltung kenne, unwesentlich. Wichtig ist vielmehr, was mit dem Licht gemacht wird.111 Auf der anderen Seite ist dem Autor von „Zarevo“ daran gelegen, die Buchstäblichkeit des Lichts, seine nicht-allegorische Unmittelbarkeit zu betonen. Wie wir im fünften Kapitel gesehen haben, wird das Projekt einer Rückeroberung des (Sonnen-)Lichts mit besonderer Konsequenz in Andrej Platonovs Roman Čevengur vorgeführt.112 Die Fixation der Bewohner von Čevengur besteht genau in der unbedingten Demetaphorisierung und Naturalisierung der aufklärerischen Sonne des Sozialismus. Pasternaks in den Stichi o vojne angedeutete Demetaphorisierung des Lichts kann nur schon deshalb nicht so weit gehen wie jene bei Platonov, weil sie statt an einem utopischen Nullpunkt in der sowjetischen Kriegswirklichkeit ins Werk gesetzt wird, wo für eine radikale Technikkritik und politische Experimente kein Raum ist. Bezeichnenderweise handelt der Schluss von „Zarevo“ davon, wie der brave Volodja nach der Rückkehr aus dem Krieg seine Ehe erneuert und ein normales Leben anfängt… 111 Vgl. zu dieser praktischen Auffassung vom Licht-Schreiben Lev Tolstojs Tagebucheintrag vom 3. Dezember 1909 über einen Leucht-Bleistift: „Мне подарили электр[ический] карандаш: отвернешь – и он освещает то место, где пишешь, и только то, где пишешь. Карандаш это[т] поразительная эмблема нашей жизни. Отверни, освободи от того, что скрывает свет твоей души, и ты будешь жить в свете, освещающем тебе то, что тебе нужно видеть, знать для того, чтобы действовать, но только то, что нужно знать для того, чтобы действовать.“ „Man hat mir einen elektrischen Bleistift geschenkt: Kehrst du ihn um, beleuchtet er die Stelle, wo du schreibst, und nur jene, wo du schreibst. Dieser Bleistift ist ein verblüffendes Emblem unseres Lebens. Kehr es um, befreie es von dem, was das Licht deiner Seele verdeckt, und du wirst im Lichte leben, das dir all das erleuchtet, was du sehen und wissen musst, um zu handeln, aber nur gerade das, was zu wissen nötig ist, um zu handeln.“ Tolstoj: Polnoe sobranie sočinenij, T. 57, 175. 112 Al’fonsov sieht in den Stichi o vojne sprachlich-stilistische Parallelen zu Platonovs gleichzeitig entstehender Prosa, vor allem „Oduchotvorennye ljudi“ („Vergeistigte Menschen“, 1943). Al’fonsov: Poėzija Borisa Pasternaka, 266/267.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

335

Exkurs. Die Lichtstrahlen-„Architektur“ in Mandel’štams Voronežer Gedichten Pasternaks Annahme der offiziellen Linie in den dreißiger Jahren und während des Kriegs spannt sich zwischen einer Rhetorik des Leuchtens – von den Svetlana-Glühbirnen bis zur „unterbrochenen Lichtmaskierung“ – und der ständigen Suche nach einem nicht-technischen Ausgangs- und Zielpunkt der Umwandlung: finsteren Wellen, der „weichen“ Tradition, dem „Volk‘“, aber auch einem irrationalen Verhältnis zu Stalin, der seinerseits ein strategisch-organisches Doppelwesen ist. Wie wir gesehen haben, macht Pasternak, vielleicht gerade weil die Diskrepanzen so unübersehbar sind, nicht davor Halt, den Sozialismus mit einem quasi slavophil rückwärtsgewandten Denken gleichzusetzen. Dabei steht am Ursprung aller „Häresien“ – ästhetischer und politischer Natur – die vorrevolutionäre „Ich-Schwäche“ von Pasternaks Schöpferfigur. Sie läuft dem kommunistischen Aufklärungsprogramm notwendigerweise zuwider, und sei es dadurch, dass sie die Idee der Aufopferung, die für die Revolution konstitutiv ist, so wörtlich nimmt, dass von ihrer politischen Logik nur wenig übrig bleibt. Am Schluss dieses Kapitels möchte ich auf ein Licht-Phänomen im Werk eines anderes Dichters zu sprechen kommen: auf die Strahlen in Osip Mandel’štams späten Gedichten. So wie im Fall von Pasternak am unsystematischen und unkonkreten Aufglühen, so lässt sich an Mandel’štams kanalisierter Licht-„Architektur“ die Kulmination im Konflikt um Annahme und Zurückweisung der sozialistischen Wirklichkeit und Utopie ablesen. Ein eigentliches Bekenntnis zur ‚Erhabenheit‘ von Stalins Sozialismus gibt es bei Mandel’štam nicht. Noch in seinen affirmativsten politischen Äußerungen ist seine Haltung ironisch-spöttisch – während man jene Pasternaks tragisch-ambivalent nennen könnte.113 Ich werde in der nachfolgenden Lektüre nicht auf die biographischen Berührungspunkte der beiden Dichter eingehen.114 Vielmehr werde ich versuchen, mögliche ästhetische und politische Überschneidungen und Divergenzen zwischen ihnen an drei Texten Mandel’štams aus dem Frühjahr 1937 zu verdeutlichen: an den Gedichten „Možet byt’, ėto točka bezumija…“ / „Doch vielleicht ist’s die Spitze zum Irrsinn…“, „O, kak že ja choču…“ / „O ich möcht fliegen sehr…“ sowie Stichi o neizvestnom soldate (den Versen vom unbekannten Soldaten) aus den Voronežer Heften. In „Možet byt’, ėto točka bezumija…“ wird, ausgehend von der „Spitze des Irrsins“, dem „Knotenpunkt“ im Leben des Sprechenden und der von ihm Angespro-

113 Vgl. Mandel’štams Stalin-Ode (1937). Gasparov, Michail: O. Mandel’štam. Graždanskaja lirika 1937 goda. Moskva 1996, 78. 114 Vgl. dazu das Kapitel „Arest Mandel’štama“ in Flejšman: Pasternak v tridcatye gody, 153– 196, oder The Poet and His Politics, 178–182.

336

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

chenen, eine Architektur des Lichts errichtet.115 Dieser Knotenpunkt wird mit dem „пучок“ /„Bündel“ verglichen, in dem die Linien einer – aus Licht erbauten – Kathedrale zu einem Punkt zusammenlaufen: Так соборы кристаллов сверхжизненных Добросовестный свет-паучок, Распуская на ребра, их сызнова Собирает в единый пучок.116 Kathedralen von großen Kristallen – Wie gewissenhaft: Spinne des Lichts – Auf die Rippen entfaltet sie alle Und verbindet ins Bündel sie, dicht.117

Nach Michail Gasparov sind hier die „Rippen“ der gotischen Deckenarchitektur gemeint, die jeweils in einen sogenannten Schlussstein münden.118 Die Krise im Leben, der Punkt, an dem das Gewissen ‚aufleuchtet‘, wird so mit der Lichtmetaphysik der gotischen Architektur in Zusammenhang gebracht. Das Licht – aus Licht ist nach der mittelalterlichen Theorie eine gotische Kathedrale erbaut119 – kann deshalb ein „gutes Gewissen“ haben, weil es vom Himmel kommt und nicht in weltliche Belange verstrickt ist wie der Dichter. Diese Lichtmetaphysik wird dann im Gedicht kosmisch weiterentfaltet. Vom „тихи[й] луч“ / „stillen Strahl“ des Himmels geworfene „пучки благодарные“ / „dankbare Lichtbündel“ würden dereinst im Diesseits zusammentreffen und ein Paradies auf Erden errichten. Lesen wir die dritte und vierte Strophe: Чистых линий пучки благодарные, Направляемы тихим лучом, Соберутся, сойдутся когда-нибудь, Словно гости с открытым челом, – 115 „Может быть, это точка безумия, / Может быть, это совесть твоя – / Узел жизни, в котором мы узнаны / И развязаны для бытия.“ „Doch vielleicht ist’s die Spitze zum Irrsinn, / Und vielleicht das Gewissen, ja deins: / Lebensknoten, in dem wir erst wir sind / Und gelöst – für den Lauf unsres Seins.“ Mandel’štam, Osip: Sobranie sočinenij, III, 130 (Mandelstam, Ossip: Die Woronescher Hefte. Letzte Gedichte 1935-1937. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli. Zürich 1996, 191). Wie Nadežda Mandel’štam berichtet, soll Mandel’štam über dieses Gedicht gesagt haben: „Это моя архитектура.“ „Das ist meine Architektur.“ Mandel’štam, Nadežda: Tret’ja kniga. Paris 1987, 259. 116 Mandel’štam: Sobranie sočinenij, III, 130. 117 Mandelstam: Die Woronescher Hefte, 191. 118 Mandel’štam, Osip: Stichotvorenija. Proza. Sostavlenie, vstupitel’naja stat’ja i kommentarii M. L. Gasparova. Moskva 2001, 675. 119 Vgl. Duby, Georges: „Dieu est Lumière. 1130–1190“, in: ders.: Le temps des cathédrales. L’art et la société. 980–1420. Paris 1982, 121–162.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

337

Только здесь, на земле, а не на небе, Как в наполненный музыкой дом, – Только их не спугнуть, не изранить бы – Хорошо, если мы доживем…120 Reine Linien, in dankbaren Bündeln, Stehn vom Strahl, fein und dünnem, verzwirnt – Irgendwann werden sie sich neu finden: Gleichsam Gäste mit freierer Stirn. Nicht im Himmel – auf Erden, hier unten, Einem Haus, reich erfüllt mit Musik. Nur erschreck sie nicht, nur keine Wunde – Noch zu leben, wie gut, wenn’s uns glückt.121

Damit kehrt sich die Perspektive des Gedichts in der zweiten Hälfte um. Während durch den Vergleich mit der gotischen Kathedrale zuerst eine Überhöhung der Lebenskrise stattfindet (die Rippen werden jeweils in der Höhe wieder zusammengeführt), sind die Strahlenbündel jetzt „dankbar“ dafür, aus dem einen Strahl entlassen zu werden, um sich unten, im Diesseits, wieder vereinen zu können. Dann wird die Erde ein „Haus, reich erfüllt mit Musik“, sein, und in dieses Haus werden die Strahlenbündel eintreten wie „Gäste mit freierer Stirn“. Die Metaphysik des jenseitigen Lichts verwandelt sich in ein Programm der Poesie: Die „Lichtbündel“ erweisen sich als die Worte des Dichters122 – das musikerfüllte Haus als eine dereinst erblühende, freie poetische Kultur.123 120 Mandel’štam: Sobranie sočinenij, III, 130. 121 Mandelstam: Die Woronescher Hefte, 191. 122 Vgl. dazu Mandel’štams Essay Razgovor o Dante (Gespräch über Dante, 1933): „Любое слово является пучком, и смысл торчит из него в разные стороны, а не устремляется в одну официальную точку. Произнося «солнце», мы совершаем как бы огромное путешествие, к которому настолько привыкли, что едем во сне. Поэзия тем и отличается от автоматической речи, что будит нас и встряхивает на середине слова. Тогда оно оказывается гораздо длиннее, чем мы думали, и мы припоминаем, что говорить – значит всегда находиться в дороге.“ „Ein jedes Wort ist ein Bündel, und der Sinn zeigt aus ihm in verschiedene Richtungen, ohne in eine offizielle Richtung zu streben. Indem wir ‚Sonne‘ sagen, unternehmen wir gleichsam eine riesige Reise, an die wir uns so sehr gewöhnt haben, dass wir im Traum reisen. Dadurch unterscheidet sich die Poesie von der automatischen Rede, dass sie uns weckt und aufrüttelt in der Mitte des Wortes. Dann erweist sich, dass es wesentlich länger ist, als wir dachten, und wir rufen uns in Erinnerung, dass sprechen immer heißt – unterwegs zu sein.“ Mandel’štam: Sobranie sočinenij, III, 216–259, hier 226. 123 Die Rippen der gotischen Architektur spielen bereits in Mandel’štams Gedicht „Notre Dame“ von 1912 eine Rolle, und schon hier wird die aus Stein geformte Kathedrale zum Modell für poetische Verwandlung: „Но чем внимательней, твердыня Notre Dame, / Я изучал твои чудовищные ребра, – / Тем чаще думал я: из тяжести недоброй / И я ког-

338

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

Eine sehr ähnliche Bewegung vom jenseitigen zum „poetischen“ Licht beschreibt das Gedicht „O, kak že ja choču…“. Zunächst sehnt sich der Dichter danach, dem ganz anderen Strahl „hinterher zu fliegen“: О, как же я хочу, Не чуемый никем, Лететь вослед лучу, Где нет меня совсем.124 O ich möchte fliegen sehr – Daß keiner mehr mich sieht [hört]– Dem Strahl jäh hinterher, Dorthin, wo’s mich nicht gibt.125

Doch auch die mystische Sehnsucht nach dem ganz Anderen und nach dem Verstummen transformiert sich in eine Apologie der Dichtung. Der Strahl und das Licht überhaupt existierten ohne den Dichter gar nicht: Он только тем и луч, Он только тем и свет, Что шопотом могуч И лепетом согрет.126 Er ist nur darum Strahl, Er ist nur darum Licht: Vom Flüstern mächtig-prall, Vom Lallen warm und dicht.127

In der dritten und letzten Strophe des kurzen Gedichts dann, gleichsam zum Beweis, dass das Licht allein dank dam Dichter „mächtig“ sei, verspricht der Sprecher dem angeredeten Du: И я тебе хочу Сказать, что я шепчу, Что шопотом лучу Тебя, дитя, вручу…128

124 125 126 127 128

да-нибудь прекрасное создам…“ „Doch je aufmerksamer, Festung Notre Dame, / Ich deine ungeheuren Rippen untersuchte, – / Desto öfter dachte ich: aus unguter Schwere / Und dass ich dereinst Wunderbares erschaffe…“ Ders.: Sobranie sočinenij, I, 80. Ders.: Sobranie sočinenij, III, 134. Mandelstam: Die Woronescher Hefte, 193. Mandel’štam: Sobranie sočinenij, III, 134. Vgl. Michail Gasparovs Kommentar: „[…] Strahl und Licht erwachen nur im Wort des Dichters zu Leben.“ Mandel’štam: Stichotvorenija. Proza, 675. Mandelstam: Die Woronescher Hefte, 193. Mandel’štam: Sobranie sočinenij, III, 134.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

339

Ich will dir sagen nun, Daß flüsternd ich im Raum Dem Strahl mit meinem Mund Dich Kind hier anvertrau.129

Der Dichter ist die Stimme des Lichtstrahls, er hat die Macht, mit seinem Wort zu verklären. Nur-himmlisches Licht bleibt eine unbestimmte Hülle, solange es nicht durch das Dichterwort erfüllt worden ist. Der „Strahl“ des Dichterworts aber ist fähig, dereinst die Welt zu verändern (sowohl „Možet byt’, ėto točka bezumija…“ wie „O, kak že ja choču…“ sind im Futur verfasst). Die beiden Gedichte kommen in der Botschaft überein, dass die Sehnsucht nach Reinheit inmitten verzweifelter Lebensverhältnisse nicht durch reines, „pneumatisches“ (Vladimir Jankélévitch) Licht, sondern durch das leuchtend-lebendige Dichterwort gestillt werden wird.130 In diesem Punkt sind die Auffassungen von Pasternak und Mandel’štam signifikant verschieden. Das Problem des allzu-reinen Lichts hatte sich dem jungen Pasternak in den 1910er Jahren gestellt. Die Aufgabe des Dichters sah er darin, ein Medium zu finden, in dem das „ortlose“ Licht erscheinen, zur Epiphanie werden konnte. Zu diesem Zweck rekurrierte Pasternak – ich habe es immer wieder betont – weniger auf den Logos,131 als auf die Sophia, postsymbolistisch zum Medium umgedeutet. Diese grundlegende Differenz der Akzente zwischen Logos und Sophia wirkt sich durchaus sichtbar auf das Selbstverständnis aus. Die ideale Tätigkeit des Dichters von Sestra moja – žizn’ besteht im passiven Bezeugen einer Anziehung, die womöglich auch ohne ihn stattgefunden hätte und die desto unstabiler wird, je mehr er selber zu ihr beiträgt. Dass dies bei Mandel’štam anders ist, zeigt sehr schön das Gedicht „Možet byt’, ėto točka bezumija…“. Die Strahlenbündel sind „dankbar“, zum Dichter auf die Erde hinab kommen zu können und dank ihm endlich einer „Architektur“ teilhaftig zu werden.132 Und noch prägnanter in „O, kak že ja choču…“: Der Dichter ist auch nach dem Symbolismus derjenige, der die Macht hat, die johanneische Synthese von Licht und Wort zu erneuern. In seinen Machtbereich gehört es, das Du „dem Strahl zu übergeben“. Das angesprochene (weibliche) 129 Mandelstam: Die Woronescher Hefte, 193. 130 Vgl. zu Mandel’štams Fixierung auf den Logos Paperno, Irina: „On the Nature of the Word. Theological Sources of Mandel’štam’s Dialogue with the Symbolists“, in: Hughes/Paperno: Christianity and the Eastern Slavs, II, 287–310. 131 Zu Pasternaks paradoxer Umgehung des Logos im Kontrast zu Mandel’štam vgl. Lotman, Michail: „Mandel’štam i Pasternak (opyt kontrastivnoj poėtiki)“, in: Polukhina, Valentina/ Andrew, Joe/Reid, Robert (Hrsg.): Literary Tradition and Practice in Russian Culture. Papers from an International Conference on the Occasion of the Seventieth Birthday of Yury Michailovich Lotman. Amsterdam 1993, 123–162, hier 144–148. 132 Vgl. schon den Essay „Utro akmeizma“ („Der Morgen des Akmeismus“, zwischen 1912 und 1914): Die Aufgabe der gotischen Architektur bestehe darin, „уколоть небо, попрекнуть его тем, что оно пусто“ / „den Himmel zu stechen, ihm zum Vorwurf zu machen, dass er leer ist.“ Mandel’štam: Sobranie sočinenij, I, 177–181, hier 179.

340

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

Gegenüber scheint dieser Macht ganz ausgeliefert zu sein, während es in Pasternaks Poetologie das sophianisch-weibliche Prinzip der Verkettung (сцепление) ist, dem der Dichter sich unterworfen sieht und das ihn zu Passivität anhält. Wenn man die beiden Licht-Architektur-Gedichte Mandel’štams mit den etwa zeitgleich verfassten Texten Pasternaks vergleicht, so ändert sich das Bild nicht grundlegend. Das Anliegen, den Logos unsichtbar zu machen, verstärkt sich in Pasternaks Ochrannaja gramota und gipfelt dort im Versuch, das Licht zu „überholen“, es grall-opak zu machen. Erst in den dreißiger Jahren, mit „Mne chočetsja domoj, v ogromnost’…“, scheinen sich die Dinge zu verändern. Pasternaks Subjekt geht durch die Wände seiner Kommunalwohnung hindurch wie Licht. Seine Erleuchtung kommt allerdings noch immer aus der nahen Umwelt, von den „Lichtern der Straße“. Darin liegt wohl wiederum der Unterschied zu Mandel’štams Architektur: Das „Haus“ und die dereinst in ihm erklingende Musik hängen hier unmittelbar vom Wort des Dichters ab. Vergleicht man diese Anlage Mandel’štams schließlich mit Pasternaks „Sčastliv, kto celikom…“ von 1936, bleibt der Kontrast ähnlich. In dem Gedicht wird das „Volk“ zum Aufklärer, der Dichter dient lediglich noch als „Material“. Zwar gibt es hierin verblüffende Parallelen zu Mandel’štams Gedicht „Černozem“ („Schwarzerde“, 1935), in dem die Schwarzerde, wie bei Pasternak das Volk, als „Luft“ angesprochen wird.133 Der Kontrast verschwindet aber nicht: Mandel’štam kultiviert die Schwarzerde mit Musik-Metaphern (ihr werden Flötenund Klarinettenspiel zugeschrieben), und das Gedicht endet mit einem Gruß („Ну, здравствуй“) an die Erde, der von starker Anziehung, aber auch von gewahrter Distanz zeugt. Kommen wir zum dritten Text Mandel’štams, dem Langgedicht Stichi o neizvestnom soldate. In gewisser Weise handelt es sich um einen Gegenentwurf zu „Možet byt’, ėto točka bezumija…“ und „O, kak že ja choču…“, denn die Lichtstrahlen sind hier negativ-utopisch besetzt. Dies hat vor allem damit zu tun, dass sie sich gegenüber dem Logos verselbständigt haben. Sie werden zur „Waffe“ der modernen Kriegsführung. Der Protagonist von Stichi o neizvestnom soldate, der „verspätete“134 Soldat, kann das Licht nicht als Dichterwort erfahren.135 Es ist eine technische Konstruktion, die es ihm erlaubt, seine im Ersten Weltkrieg gefallenen Generationsgenossen wenigstens noch im Tod einzuholen. Durch Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit kehrt sich die Chronologie um und der Soldat findet rückwirkend den Tod, dem er als einziger entgangen war: 133 Ders.: Sobranie sočinenij, III, 90. 134 Gasparov, Boris: „Smert’ v vozduche (k interpretacii ‚Stichov o neizvestnom soldate‘)“, in: ders.: Literaturnye lejtmotivy. Očerki russkoj literatury XX veka. Moskva 1994, 213–240, hier 232. 135 Boris Gasparov spricht in diesem Zusammenhang vom „Vergessen der Dichter und ihrer Verse“. Ebd., 237.

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

341

Сквозь эфир десятично-означенный Свет размолотых в луч скоростей Начинает число, опрозрачненный Светлой болью и молью нулей.136 Durch die Ätherwelt, zehnfach gesteigert, Die zermahlene Schnellkraft des Lichts, Zieht die Zahl – und die Helle durchtreiben Nullen: Mottenschwarm, Qualengesicht.137

Die Rekonstruktion des Sujets von Stichi o neizvestnom soldate machte Omri Ronen möglich, indem er Anklänge an die Phantastik des französischen Astronomen und Schriftstellers Camille Flammarion aufdeckte.138 Vjačeslav Vs. Ivanov deutete die Figur der Lichtbeschleunigung auf dem Hintergrund von Einsteins Relativitätstheorie ex post als Prophetie eines kommenden Atomkriegs.139 Die Nachricht, die bei der Zeitreise des Soldaten zu den Schlachten von gestern im Gedicht überbracht wird, lautet, dass die „neue Schlacht“ der nahen Zukunft die bisherige Helligkeit (der Welt) noch überstrahlen werde: И за полем полей поле новое Треугольным летит журавлем, Весть летит светопыльной обновою, И от битвы вчерашней светло. Весть летит светопыльной обновою: – Я не Лейпциг, я не Ватерлоо, Я не Битва Народов, я новое, От меня будет свету светло.140 Hinter Feldern und Feldern ein neues – Wie der Keil eines Kranichs: es fliegt Eine Botschaft im Lichtstaub der Räume, Von der gestrigen Schlacht hell umschmiegt. Eine Botschaft im Lichtstaub der Räume: Bin nicht Leipzig, nicht Waterloos Feld, Nicht die Völkerschlacht. Ich bin das Neue, Und von mir wird die Welt [das Licht] einst erhellt.141 136 Mandel’štam: Sobranie sočinenij, III, 124. 137 Mandelstam: Die Woronescher Hefte, 171. 138 Ronen, Omri: „Sjužet ‚Stichov o neizvestnom soldate‘ Mandel’štama“, in: Slavica Hierosolymitana IV (1979), 214–222. 139 Ivanov, Vjačeslav Vs.: „‚Stichi o neizvestnom soldate‘ v kontekste mirovoj poėzii“, in: Žizn’ i tvorčestvo O. Ė. Mandel’štama. Vospominanija, materialy k biografii, „novye stichi“, kommentarii, issledovanija. Voronež 1990, 356–366, hier 361. 140 Mandel’štam: Sobranie sočinenij, III, 124. 141 Mandelstam: Die Woronescher Hefte, 171.

342

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

Boris Gasparov hat Ivanovs anachronistischer Interpretation des Verses „От меня будет свету светло“ eine wichtige Präzisierung hinzugefügt. Der Gestus der „Nachricht“ ist dem Johannesevangelium entnommen („Ich bin das Licht der Welt“, Joh 8, 12): Die in den Stichi o neizvestnom soldate vorausgesagte, dereinst durch Menschenkraft herbeigeführte „Katastrophe“ wird heller sein als der johanneische Logos.142 Angesichts der modernen Möglichkeiten der Kriegsführung droht, so Gasparov, nicht nur das lichte Dichterwort zu verblassen, sondern auch seine Ur-Quelle, der göttliche Logos.143 Die Interpretation wird durch eine weitere, philosophische Allusion gestützt, den „Океан без окна“ / „fensterlosen Ozean“ aus der ersten Strophe: Этот воздух пусть будет свидетелем, Дальнобойное сердце его, И в землянках всеядный и деятельный Океан без окна – вещество…144 Dieser Luftstrom, er soll es bezeugen, Dieses Herz, und der weit reicht – sein Stoß: In den Erdbunkern schlingt sie aufs neue, Jene See, ist ein Stoff, fensterlos.145

In der Moderne macht sich der Mensch, so Gasparovs Lesart, selbst zum Schöpfer „fensterloser Monaden“. Während nach Leibniz die Monade trotz ihrer Abgeschlossenheit für das göttliche Licht offen bleibt,146 werden die modernen, technisch er142 Gasparov: „Smert’ v vozduche“, 224/225. – Anders gewichtet Michail Gasparov die Stelle: Der Vers „От меня будет свету светло“ sei die Ankündigung eines kommunistischen Endkampfes, der dem Anbruch der lichten Zukunft aus Mandel’štams Sicht vorausgehen müsse. Graždanskaja lirika 1937 goda, 13, 65/66 (ähnlich in den Kommentaren zu Mandel’štam: Stichotvorenija. Proza, 672). Ebenfalls nicht-ironisch versteht Ralph Dutli den Verweis auf das Johannesevangelium. Er sieht darin aber im Gegensatz zu Michail Gasparov eine gewaltlose Utopie angedeutet. Mandelstam: Die Woronescher Hefte, 334. 143 „[…] der Mensch […] hat Gott durch sich selbst abgelöst; er hat sich zur ‚neuen‘ Lichtquelle gemacht […].“ Gasparov: „Smert’ v vozduche“, 224. 144 Mandel’štam: Sobranie sočinenij, III, 123. 145 Mandelstam: Die Woronescher Hefte, 167. 146 Vgl. Leibniz: Discours de métaphysique [1686], in: ders.: Monadologie und andere metaphysische Schriften, 1–109, hier 78/80 (Hervorhebung im Orig.): „Or dans la rigeur de la vérité Metaphysique, il n’y a point de cause externe qui agisse sur nous, exepté Dieu seul, et luy seul communique avec nous immediatement en vertu de nostre dependence continuelle. D’où il s’ensuit qu’il n’y a point d’autre objet externe, qui touche nostre ame, et qui excite immediatement nostre perception. Aussi n’avons nous dans nostre ame les idées de toutes choses, qu’en vertu de l’action continuelle de Dieu sur nous, c’est à dire parce que tout effect exprime sa cause, et qu’ainsi l’essence de nostre ame est une certaine expression, imitation ou image de l’essence, pensée et volonté divine, et de toutes les idées qui y sont comprises. On peut donc dire, que Dieu seul est nostre objet immediat hors de nous, et que nous voyons

Pasternaks sozialismusnahe Lyrik

343

zeugten Monaden nur noch von innen erleuchtet. Die Luft wird zu einem gefügigem Stoff des Kriegs umfunktioniert – und der Schützengraben zur karikaturhaften Nachbildung der Leibnizschen Monade. Sie ist fensterlos. Das einzige Licht, das in sie einzudringen vermag, ist das Licht der Explosionen147 am Himmel: Миллионы убитых задешево Протоптали тропу в пустоте, – Доброй ночи! всего им хорошего От лица земляных крепостей! Неподкупное небо окопное – Небо крупных оптовых смертей, – За тобой, от тебя, целокупное, Я губами несусь в темноте –148 Millionen von leichthin Getöteten, Die betraten im Leeren den Pfad: Alles Gute euch, Nacht ohne Nöte – Senden Erdfesten hin ihren Rat. Karger Himmel der Tode in Scharen, Unbeirrbarer Himmel der Schlacht – Zu dir hin, von dir her, Unteilbarer: Meine Lippen, ihr Flug durch die Nacht.149

Nehmen wir den Versuch eines Vergleichs mit Pasternak, nun mit den Stichi o vojne, noch einmal auf. Mandel’štams apokalyptisches Kriegs- und Antikriegsgedicht Stichi o neizvestnom soldate ist mit Pasternaks Zyklus von Kriegsgedichten sicher inkommensurabel. Den teilweise äußerst simplen Stichi o vojne gehen die geschichtlichen und politischen Dimensionen und allgemein der kryptische Impetus von Mandel’štams Text ab. Die Stichi o neizvestnom soldate entspringen einer Abstraktionsleistung, sie thematisieren die totalitäre Gegenwart in der Sowjetunion und in Europa und deren katastrophales Potential150 in Erinnerung an den Ersten

147 148 149 150

toutes choses par luy, par exemple lors que nous voyons le soleil et les astres, c’est Dieu qui nous en a donné et qui nous en conserve les idées, et qui nous determine à y penser effectivement, par son concours ordinaire, dans le temps que nos sens sont disposés d’une certaine maniere, suivant les loix qu’il a establies. Dieu est le soleil et la lumiere des ames, lumen illuminans omnem hominem venientem in hunc mundum [ Joh 1, 9].“ Vgl. Gasparov: „Smert’ v vozduche“, 224/225. Ebd., 226. Mandel’štam: Sobranie sočinenij, III, 124. Mandelstam: Die Woronescher Hefte, 173. Nadežda Mandel’štam zitiert Mandel’štam, der beim Zeitungslesen plötzlich gesagt haben soll: „Кончится тем, что мы заключим союз с Гитлером, а потом все будет, как в «солдате»… Можно ли было этому верить?“ „Am Ende werden wir mit Hitler einen Bund

344

Finstere Wellen, leuchtende Zukunft

Weltkrieg, die „Schlacht von Gestern“. Pasternaks Stichi o vojne sind dagegen unter unmittelbarem Eindruck der sowjetischen Verteidigung gegen Nazideutschland verfasst und verzichten auf eine reflexiv-ironische Brechung, wie sie die Stichi o neizvestnom soldate auszeichnet. Aufgrund dieser eingeschränkten Perspektive erscheint das „Licht“ des modernen Krieges bei Pasternak nicht wie bei Mandel’štam als zerstörerisches, eine Endzeit – oder kommunistische Nachzeit – herbeiführendes Verhängnis, sondern als „Illumination“ eines namentlich genannten Soldaten und als dessen Aufbruch in eine naiv imaginierte, friedliche Zukunft.

schließen, und dann wird alles wie im ‚Soldaten‘… Konnte man so etwas glauben?“ Mandel’štam, Nadežda: Vtoraja kniga. Paris 1978, 544.

7. Kapitel „Originelle“ Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid Der Roman Doktor Živago Dass Doktor Živago ein neu von Lichtmetaphysik durch- und überformter Text ist, schien seinen ersten Lesern bereits während der Entstehung, also seit den ersten Kapiteln von 1946 klar zu sein.1 Das geht aus Briefen verschiedener Vertrauenspersonen Pasternaks hervor. 1947 schrieb ihm der Literaturkritiker Nikolaj Zamoškin, nachdem er erste Auszüge gelesen hatte: „Кто из Ваших недругов мог подумать, что Вы реалист. Что Ваше «слово плоть бысть», что оно светится, что оно пластично и маслянисто, что оно просто и точно – по-пушкински.“2 „Wer von Ihren Nicht-Freunden hätte denken können, dass Sie ein Realist sind. Dass ihr ‚Wort Fleisch geworden ist‘, dass es leuchtet, dass es plastisch und ölig-geschmeidig ist, dass es schlicht und einfach – puškinhaft geworden ist.“ Ob das nun so gemeint ist, dass Pasternaks „Wort“ zu leuchten begonnen hat, weil es „Fleisch geworden“ ist oder ob es immer noch leuchtet trotz dieser Fleischwerdung – jedenfalls verbindet sich in der Aussage Zamoškins mit dem Licht zweierlei: einerseits eine Annäherung an das (johanneische) Christentum und damit ein erhöhter ‚Glaube‘ an die Wahrheit des Wortes,3 andererseits aber auch die Rückkehr zur klassischen „светоносность“4 / „Sonnenträgerschaft“ Puškins. Im Zuge der Arbeit an Doktor Živago formuliert Pasternak zum ersten Mal einen künstlerischen Anspruch statt lediglich den Vorsatz, es in Zukunft anders und besser zu machen. Zweifellos ist es nach allem, was ich bisher über seine Poetologie gesagt habe, eine Überraschung, wenn Pasternak – stark an den spekulativen Logos-Theoretiker Vjačeslav Ivanov erinnernd – den Künstler und sein Wort als „Lichtstrahl“ bezeichnet. 1953, etwas mehr als ein Jahr vor Abschluss des Romans, schrieb er an Nikolaj Aseev, seinen einstigen futuristischen Weggefährten: 1 Zur Entstehungsgeschichte des Romans ausführlich Borisov/Pasternak, Evg.: „Materialy k tvorčeskoj istorii romana B. Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, oder kürzer Borisov, Vadim: „Reka, raspachnutaja nastež’. K tvorčeskoj istorii romana Borisa Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, in: Pasternak, Boris: Doktor Živago. Moskva 1989, 409–429. 2 Brief vom 21. April 1947, zit. nach Pasternak, Evg.: Biografija, 621. 3 Vgl. Joh 14, 6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Edith Clowes hat die These aufgestellt, Pasternak sei seit Ochrannaja gramota allmählich zur Bibel und zum Christentum gekommen, um mit Anna Achmatovas moralischer Autorität in der Sowjetunion konkurrieren zu können. Clowes, Edith W.: „Anna Akhmatova, Boris Pasternak, and the Orthodox Legacy in Stalin’s Time“, in: Rossija i zapad. Sbornik statej v čest’ 70-letija K. M. Azadovskogo. Moskva 2011, 207–225, hier 209/210. Ich konzentriere mich hier möglichst auf die Eigengesetzlichkeit von Pasternaks Christentum. 4 Diesen Ausdruck verwendet Živago, um Puškin zu charakterisieren. Doktor Živago, 193.

346

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

Оно [искусство] робко желает быть мечтою читателя, предметом читательской жажды, и нуждается в его отзывчивом воображении не как в дружелюбной снисходительности, а как в составном элементе, без которого не может обойтись построение художника, как нуждается луч в отражающей поверхности или в преломляющей среде, чтобы играть и загораться.5 Sie [die Kunst] wünscht sich zaghaft, ein Traum des Lesers zu sein, Gegenstand des Lesehungers, und sie benötigt seine antwortende Vorstellungskraft nicht als freundschaftliches Wohlwollen, sondern als konstitutives Element, ohne das die Konstruktion des Künstlers nicht auskommt, so wie der Strahl eine reflektierende Oberfläche bzw. ein ihn brechendes Umfeld benötigt, um zu spielen und aufzuflammen.

Die auf einmal gelingende johanneische Verbindung zwischen Wort, Licht und Wahrheit und dem ästhetischen Anspruch des Klassischen zieht sich durch verschiedenste Zeugnisse des Doktor Živago-Jahrzehnts (bald nach dem Krieg bis 1955). Nach Isaiah Berlins Zeugnis berief sich Pasternak sogar auf das marmorne Schönheitsideal Johann Winckelmanns, um den Anspruch seines „last word“ zu umreißen: […] all that I wrote then was obsessed, forced, broken, artificial, of no use [negodno]; but now I am writing something entirely different: something new, quite new, luminous, elegant, well-proportioned [stroinoe], classically pure and simple – what Winckelmann wanted, yes, and Goethe; and this will be my last word, my most important word, to the world. It is, yes, it is what I wish to be remembered by; I shall devote the rest of my life to it.6

Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass Pasternak die nun allgegenwärtige Rede von der „Luminosität“ des Schreibens nicht als Umschwung vom Schatten zum Licht verstand, sondern vom „Blendwerk“ (блеск, сверкание) des Modernismus zu einem „stilleren“ Leuchten, zu dem, was er in einem Brief an seine Schreibkraft Marina Baranovič als „нелитературное спокойствие слога, отсутствие блеска“7 / „unliterarische Ruhe des Stils, Abwesenheit von Blendwerk“ bezeichnet.

Pasternak und Živago im Licht-Gewand Eine derartige Aufladung des Textes mit Licht musste auf den Autor zurückwirken. Wer den Logos zum Leuchten bringt, muss selbst leuchtend sein. Ich habe diesen Zusammenhang am Anfang dieser Studie unter den Stichworten Poetologisierung des Johannesprologs und Hagiographie des Dichters dargestellt. Nikolaj Stefanovič, der Pasternak in Briefen als Retterfigur anschrieb (Beispiele sind in der 5 Brief an Nikolaj Aseev vom 5. Feb. 1953, PSS, IX, 716. 6 Berlin: „Conversations with Akhmatova and Pasternak“, 58 (eckige Klammern im Orig.). 7 Brief an Marina Baranovič vom 24. September 1955, PSS, X, 105 (Hervorhebung im Orig.).

Der Roman Doktor Živago 347

Einleitung erwähnt), spricht 1953 vom „Sonnenreich“ der Živago-Gedichte, die damit auch oder vor allem eine ‚Ausstrahlung‘ ihres Autors sind: „В солнечном царстве, которое воскресает в Вашем творчестве, все вещи пребывают в живом и конкретном всеединстве, – здесь нет никакого разлада, распада и расщепления.“8 / „Im Sonnenreich, das in Ihrem Werk aufersteht, verharren alle Dinge in lebendiger und konkreter All-Einheit – hier gibt es keinen Hauch von Unstimmigkeit, Zerfall und Zersplittern.“ Wie der Ausdruck „konkrete All-Einheit“ vermuten lässt, verweist Stefanovič mit dem Sonnenreich weniger auf die klassische russische Dichtung, als auf die theurgische Ästhetik Vladimir Solov’evs. In Pasternaks später Prosa und Lyrik finde eine Verwandlung der materiellen Welt im Sinne Solov’evs statt, und zwar eine bleibende. Darin unterscheide er sich von allen seinen Vorgängern, deren Erleuchtungen jeweils „vorübergehend“ geblieben seien. In demselben Brief kommt Stefanovič auf die Überwindung des Todes durch Pasternaks Gedichte zu sprechen: Последние Ваши стихи – это новое напряжение воскресительного усилия души, новый взлёт и новая победа. Я перечитываю их без конца, без удержу, навзрыд, я не выхожу из них, так сплошь и блуждаю в их зарослях, дремучих тайнах, в их фаворском свете.9 Ihre letzten Gedichte – das ist eine neue Anspannung der Auferstehungsbemühung der Seele, ein neuer Abflug und neuer Sieg. Ich lese sie ohne Ende wieder und wieder, maßlos, hemmungslos, ich verlasse sie nicht mehr, so sehr irre ich ohne Unterlass durch ihr Gestrüpp, in ihren dichten Geheimnissen, in ihrem Taborlicht.

Die Erwähnung des Taborlichts kann als Reaktion auf die Schilderung des Verklärungstags in Pasternaks Gedicht „Avgust“ („August“, 1953) gesehen werden. Angesichts der aktiven Arbeit an der Auferstehung,10 wie Stefanovič sie in den Gedichten erkennt, ist die Erwähnung aber nicht selbstverständlich. Das Taborlicht ist ja der Inbegriff eines gnadenhaft ausgesandten Lichts und steht im Widerspruch zu einer forcierten Auferweckung. Nicht von ungefähr fehlt in Solov’evs Verwandlungsästhetik das Paradigma der Verklärung des Herrn am Berg Tabor; es ließe für sein Projekt der Mitarbeit an der Schöpfung zu wenig Raum. In diesem Sinne ist Stefanovičs Äußerung bezeichnend für eine Diskrepanz zwischen aktivem Erlösungswerk und heiligenmäßiger Passivität (Živagos), die in Pasternaks Roman angelegt ist und sich auch in der Rezeption stets von neuem erwies. Ol’ga Frejdenberg, Pasternaks Cousine, schrieb ihm 1954 unter dem Eindruck ihrer Manuskript-Lektüren:

8 Brief vom 18. November 1953, in: Vybor 7 (1989), 279. 9 Ebd., 278. 10 Hierbei handelt es sich wiederum um einen Verweis auf die Wendung „усилье […] воскресенья“ aus dem Živago-Gedicht „Na Strastnoj“ / „In der Karwoche“. Doktor Živago, 518.

348

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

Я горда и счастлива твоим высоким оптимизмом. В тебе сидит старец Зосима и дышит с тобой светом вечности. Боже, как хорошо у Достоевского, что все ждут чуда при «успении» Зосимы, а его тело «пропахивает» и прованивает еще быстрее, чем у всех грешников. Соблазн получается полный; даже Алеша отказывается от своего учителя. Высокое через смердящее. Максимум света и богооткровенья через «дни нашей жизни» и тлен.11 Ich bin stolz und glücklich über Deinen hochsinnigen Optimismus. In Dir steckt der Starez Sossima und lebt gemeinsam mit Dir aus dem Licht der Ewigkeit. Mein Gott, wie gut das ist bei Dostojewski, daß beim Einschlafen Sossimas alle auf ein Wunder warten, sein Körper jedoch noch schneller zu stinken anfängt als der aller anderen Sünder. Die Anfechtung ist vollkommen; selbst Aljoscha sagt sich von seinem Lehrer los. Das Hohe, wie es durch das Stinkende dringt! Ein Maximum an Licht und Gottesoffenbarung, durch die „Tage unseres Lebens“ und die Verwesung hindurch.12

Interessant ist, dass Frejdenbergs Charakterisierung mit der dreißig Jahre älteren aus Cvetaevas „Svetovoj liven’“ in einem wichtigen Punkt übereinkommt: Der Dichter von Sestra moja – žizn’ genauso wie jetzt der Autor von Doktor Živago empfangen das Licht. Bei Cvetaeva war er vor allem ein Begnadeter – und dadurch Gefährdeter. Im Brief von Frejdenberg ist er zum Weisen geworden.13 Mit der Parallele zu Zo11 Brief vom 17. November 1954, in: Pasternak, Boris: Perepiska s Ol’goj Frejdenberg. Pod redakciej i s kommentarijami Ėlliota Mossmana. New York/London 1981, 326. 12 Pasternak, Boris/Freudenberg, Olga: Briefwechsel 1910–1954. Deutsch von Rosemarie Tietze, eingeleitet und kommentiert von Johanna Renate Döring-Smirnow, mit einem Nachwort von Raissa Orlowa Kopelew. Frankfurt a. M. 1986, 416. 13 Aus seinem Brief vom 6. Juli 1955 an Marija Markova (geb. Margulius, ebenfalls eine Cousine Pasternaks), in dem er sich für seine Nicht-Anteilnahme an Ol’ga Frejdenbergs schwerer Erkrankung rechtfertigt, scheint er sich von dieser Zuschreibung zu distanzieren und sie zugleich ex negativo zu bestätigen, indem er bewusst zu leuchten unterlässt – wie Zosima die menschliche Schuldhaftigkeit umschrieb – zugunsten seines lichten Schöpfertums: „Тебя должны изумлять мои письма, должно казаться, что я отношусь без всякого чувства к Оле и ее судьбе, и так спокойно хороню ее заживо, – о как ты ошибаешься! Но я так много думал о собственном конце и конце всего любимого, и так давно готов ко всему, – чтó мы тут можем сделать? […] Единственно [sic], что во всей совокупности по отношению […] ко всей этой драгоценной, обреченной утрате жизни мы можем сделать, это перелить всю нашу любовь в создание и выработку живого, в полезный труд, в творческую работу.“ „Dich müssen meine Briefe verwundern, es muss den Anschein machen, dass ich keinerlei Mitgefühl mit Olja und ihrem Schicksal habe, und sie so einfach lebendig begrabe, – aber wie täuschst Du Dich! Doch ich habe so viel an mein eigenes Ende und alles mir Liebe nachgedacht und bin schon so lange zu allem bereit, – was können wir denn tun in einer solchen Situation? […] Das einzige, was wir alles in allem angesichts […] dieses ganzen so wertvollen, zum Verlust geweihten Lebens tun können, ist, unsere ganze Liebe in die Erschaffung und Ausarbeitung von Lebendigem, in nützliche Bemühungen, in schöpferische Arbeit umzugießen.“ PSS, X, 85. – Die Denkfigur, Anteilnahme durch Schöpfertum zu substituieren, formuliert Pasternak 1956/1957 auch in seiner zweiten Autobiographie: „[…] я преждевре-

Der Roman Doktor Živago 349

sima – und zu dessen Maxime „Праведник отходит, а свет его остается“14 / „Der Gerechte vergeht, sein Licht aber bleibt“ – skizziert sie ein Verständnis von Doktor Živago, auf das ich mich in diesem Kapitel noch mehrfach beziehen werde. Denn ganz ähnlich wie schon Cvetaeva leistet Frejdenberg mit ihrer emphatischen Auslassung zugleich einen analytischen Beitrag. In einer frühen Studie zu Doktor Živago mit dem Titel „Realizm četyrech izmerenij“ („Ein Realismus der vier Dimesionen“, 1959) wendet Viktor Frank die LichtKategorien auf den Protagonisten an: „Durch das Bild von Živago selbst leuchten mehrere Realitäten hindurch und fließen in ihm zusammen […]. Dieser Regen erfüllt bis zu den Rändern das unter ihn gestellte menschliche Bild des Romans, verwischt seine Grenzen und überflutet seine Umgebung.“15 Der Held wird als ein Fenster vorgestellt, durch das verschiedene Ebenen des Romans „hindurchscheinen“. Wenn das Hindurchscheinen im Nachsatz als „Regen“ bezeichnet wird, ist unschwer zu erkennen, dass Frank hier wie später in seiner Studie „Vodjanoj znak“ das Licht in der Linie von Cvetaevas Essay mit der Motivik des Wassers verschmelzt: Das „Scheinen“ muss zugleich ein „Strömen“ sein, ansonsten könnte es nicht empfangen werden. Der Roman gibt Frank übrigens Recht. Schon auf den ersten Seiten treffen Licht und Wasser in der Kontinuität mit Sestra moja – žizn’ aufeinander.16 Ein Bild von „Fenstern“ im Text Doktor Živago, die diesen mit der Welt „dahinter“ zusammenschließen, entwickelt Andrej Sinjavskij. In der Tradition jener so produktiven Essayistik, die die russische Wortkultur mit Hilfe von Lichtmetaphern in die Wirklichkeit und (Heils-)Geschichte einbetten will, schreibt Sinjavskij: менно рано на всю жизнь вынес пугающую до замирания жалость к женщине и еще более нестерпимую жалость к родителям, которые умрут раньше меня и ради избавления которых от мук ада я должен совершить что-то неслыханно светлое, небывалое.“ „[…] ich [trug] vorzeitig früh für das ganze Leben ein bis zum Erstarren erschreckendes Mitleid mit Frauen davon und ein noch unerträglicheres Mitleid mit den Eltern, die früher als ich sterben werden und für deren Erlösung von den Höllenqualen ich etwas unerhört Helles und Niedagewesenes vollbringen muß.“ Ljudi i položenija. Biografičeskij očerk, PSS, III, 295–345, hier 296 (Menschen und Standorte [übers. v. Elke Erb], in: Pasternak: Prosa und Essays, 481–552, hier 482). 14 Dostoevskij, Fedor: Brat’ja Karamozovy [Knigi I-X], in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. T. 14. Leningrad 1976, 292. 15 Frank, Viktor: „Realizm četyrech izmerenij (perečityvaja Pasternaka)“, in: ders.: Izbrannye trudy. London 1974, 62–85, hier 81. Von den wissenschaftlichen Aufsätzen über Doktor Živago, die Pasternak noch zu lesen bekam, war „Realizm četyrech izmerenij“ der einzige, der ihn überzeugte. Siehe Ivanov, Vjačeslav Vs.: „Perevernutoe nebo. Zapisi o Pasternake“, in: Zvezda 2 (2010), http://magazines.russ.ru/zvezda/2010/2/iv.html (Zugriff: 17.10.2013). 16 Zur „Begegnung mit dem Regen“ vgl. Jensen, Peter Alberg: „Nil’s Ljune i Jurij Živago. Forma i preemstvennost’“, in: Gasparov, Boris/Hughes, Robert/Paperno, Irina/Raevsky-Hughes, Olga (Hrsg.): Christianity and the Eastern Slavs. Vol. III. Russian Literature in Modern Times. Berkeley 1995, 244–286, hier 264.

350

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

In dem Roman gibt es, figural ausgedrückt, eine Vielzahl von „Fenstern“, aufgerissen in verschiedene Richtungen, und durch diese „Fenster“ wird der Text „durchlüftet“ und um einen Sinn bereichert, der gleichsam schon hinter dem Text liegt. In der Rolle derartiger „Fenster“ treten speziell die Landschaften auf, die außerordentlich aktiv sind und Licht (der Sonne, des Schnees, der Pflanzen usw.) in das Erzählen tragen, ein Licht, das „von oben“ kommt und allem, was hier geschieht, die geheimnisvolle Kraft einer allgemeineren, universell-historischen Bedeutung verleiht. Zuweilen wird die Landschaft, mit Pasternaks Ausdruck, zum „inneren Antlitz“ des Menschen: Das ist das Licht des Seins überhaupt; es erleuchtet gleichermaßen die menschliche Seele und die umgebende Natur.17

Es ist nicht einfach, stets klar zwischen dem Wahrheitsanspruch von Pasternaks Text und Zuschreibungen von Leserseite zu unterscheiden. Aber das ist vielleicht auch nicht nötig. Denn der Roman ist durch die Umstände seiner Entstehung und Wirkung als, wie Pasternak 1959 schrieb, „переворот“ / „Umschwung“ und „принятие решения“ / „getroffene Entscheidung“ in die Literaturgeschichte eingegangen – unabhängig davon, ob er nun „нечто яркое“ / „etwas Grelles“ sei oder nicht.18 Insbesondere zwei Faktoren machten Doktor Živago unausweichlich zu einem Licht-Ereignis: der Umstand, dass Pasternak ihn als Gipfelpunkt seines Werkes verstand und verstanden haben wollte, und – das ist bestens bekannt – die dissidentische Aura, die ihm nach der Nicht-Publikation in der Sowjetunion, der Hetzkampagne gegen Pasternak, der Publikation des Romans im Ausland (zuerst in Mailand 1957 im Verlag Feltrinelli) und dem unfreiwillig abgelehnten Nobelpreis zukam.19 Evgenij Pasternak schreibt in seiner Biographie über die „sittliche Erhabenheit und Erleuchtung“20 von Živagos Gedichten. Es geht ihm darum, Pasternaks „Marija Magdalina“ / „Maria Magdalena“ und „Gefsimanskij sad“ / „Der Garten von Gethsemane“ von ihren Vorbildern, den Evangeliengedichten Rainer Maria Rilkes, abzuheben und ihre geistige Reinheit zu unterstreichen. Die amoralischen Seiten der Licht-Figur Živago, die im Prosateil des Romans hervortreten, und Pasternaks wiederholte Kritik an einem vornehmlich moralischen Verständnis des Christentums,21 spielen in dieser Optik eine untergeordnete Rolle. Es ist auch durchaus denkbar, 17 Sinjavskij, Andrej: „Nekotorye aspekty pozdnej prozy Pasternaka“, in: Fleishman: Pasternak and His Times, 359–371, hier 368/369. 18 Brief Pasternaks an Vjačeslav Vs. Ivanov vom 1. Juli 1958, PSS, X, 350. 19 Siehe dazu das Kapitel „The Nobel Scandal“ in Fleishman: The Poet and His Politics, 273–300. Für ein vollständigeres Bild der Živago-Rezeption in Kategorien der Luminosität wäre Flejšmans Studie Boris Pasternak i Nobelevskaja premija. Moskva 20132, zu sichten, was hier leider nicht mehr möglich war. Zu berücksichtigen wäre außerdem die Anthologie „Doktor Živago“: Pasternak, 1958, Italija. Antologija. Sostaviteli Stefano Gardzonio, Alessandra Reččina. Perevod s ital’janskogo pod obščej redakciej Mariny Arias-Vichil’. Moskva 2012. 20 Pasternak, Evg.: Biografija, 641. 21 Vgl. den Brief vom 13. Oktober 1946 an Frejdenberg: „Атмосфера вещи – мое христианство, в своей широте немного иное, чем квакерское и толстовское, идущее от других сторон Евангелия в придачу к нравственным.“ „Die Atmosphäre des Textes ist – mein Christen-

Der Roman Doktor Živago 351

dass sich im Begriff der „sittlichen Erhabenheit und Erleuchtung“ ein charakteristischer Akzent der inoffiziellen Doktor Živago-Rezeption in der Sowjetunion zwischen 1955 und 1990 äußert.22 Für sie waren das sublime Subjekt der Gedichte und deren idealisierter Autor in höherem Maße verbindlich als der sittlich zweifelhafte Živago aus dem Prosateil des Romans.23 Dass Živago und Pasternak tatsächlich grundverschieden sind, haben Aleksandr Pjatigorskij und andere überzeugend dargelegt.24 Wie man die Problematik nun auffasst – letztlich soll mit Hilfe des Licht-Fokus immer auch die Frage beantwortet werden, inwiefern der späte Pasternak als christlicher Autor und Doktor Živago als „christlicher Roman“25 (unter sowjetischen Vorzeichen) zu gelten habe. Ich schlage vor, zunächst lediglich das Licht-Gewand

22

23

24

25

tum, in seiner Breite etwas anders als das quäkerische und das tolstojanische, von anderen Seiten des Evangeliums ausgehend über die moralischen hinaus.“ PSS, IX, 473. Iosif Brodskij bezeichnet den Versuch, Pasternaks „Magdalina“ I und II gegenüber den Prätexten Rilkes und Cvetaevas moralisch reinzuwaschen, als „heidnisch“:„[…] die Behauptung der Autoren des Kommentars [Izbrannoe v dvuch tomach. Moskva 1985], in seiner Version des Evangeliensujets habe Pasternak dieses von Erotik ‚befreit‘, zeugt, gelinde gesagt, von ihrer heidnischen Weltsicht. Gröber ausgedrückt, sind die Autoren des Kommentars schlicht Primitive. Das einzige, was sie rettet, ist – dass ihre Behauptung verlogen ist.“ Mit „heidnisch“ scheint Brodskij auf die ‚Prüderie‘ der sowjetischen Intelligenzija anzuspielen. Brodskij, Iosif: „Primečanie k kommentariju“, in: ders.: Pis’mo Goraciju. Moskva 1998, CXIX–CXLV, hier CXXVIII. Vgl. dazu Varlam Šalamovs Zeugnis: „Пастернак давно перестал быть для меня только поэтом. Он был совестью моего поколения, наследником Льва Толстого. Русская интеллигенция искала у него решения всех вопросов времени, гордилась его нравственной твердостью, его творческой силой.“ „Pasternak hat für mich längst aufgehört, nur ein Dichter zu sein. Er war das Gewissen meiner Generation, Nachfolger Lev Tolstojs. Die russische Intelligenzija suchte bei ihm die Lösung aller Probleme der Zeit, war stolz auf seine moralische Standhaftigkeit, auf seine schöpferische Kraft.“ Šalamov, Varlam: „Pasternak“, in: Vospominanija o Borise Pasternake, 608–631, hier 631. – In seiner Geschichte der russischen Intelligenzija zwischen 1945–1990 führt Vladislav Zubok Živago als „geistige“ Vaterfigur der Intellektuellen ein. Zubok, Vladislav: Zhivago’s Children. The Last Russian Intelligentsia. Cambridge, Mass./London 2009, 20. Pjatigorskij, Aleksandr: „Pasternak i doktor Živago. Sub’’ektivnoe izloženie filosofii doktora Živago“ [1978], in: ders.: Izbrannye trudy. Sostavlenie i obščaja redakcija G. Amelina. Moskva 1996, 219–230. Vgl. zur Differenz zwischen Pasternak und Živago Dmitrij Segals Diskussionsbeitrag zu Zamoyska, Hélène: „L’actualité du Docteur Jivago“, in: Aucouturier: Boris Pasternak, 1890–1960, 411–424, 427/428. Segal sieht Živago als Projektion einer idealen Dichterbiographie, die vor dem Hintergrund der „Wünsche und Frustrationen des Autors selbst“ zu verstehen seien. Zu diesem ambivalenten Begriff vgl. u.a. Jensen: „Nil’s Ljune i Jurij Živago. Forma i preemstvennost’“; Miłosz, Czesław: „On Pasternak Soberly“, in: Books Abroad 44, 2 (1970), 200– 209; sowie Sedakova, Ol’ga: „‚Neudavšajasja epifanija‘: dva christianskich romana – ‚Idiot‘ i ‚Doktor Živago‘“, in: Kontinent 112, 2 (2002), 376–384.

352

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

freizulegen, in welchem der zentrale Held Jurij Andreevič Živago in den Roman tritt. In der quasi phänomenologischen Reduktion auf den Protagonisten folge ich dem Vorgehen Aleksandr Pjatigorskijs und Leonid Dolgopolovs, die beide den Versuch unternommen haben, den Roman weniger aus Erzählstrukturen, Figurenkonstellationen und ideologischen Konflikten, als vielmehr aus dem Grundzustand, dem Handeln und vor allem Nicht-Handeln Živagos heraus zu lesen.26 Živago ist, nach Pjatigorskij, die einzige Figur, die „eigentlich keine Weltanschauung hatte“ und daher nicht „unglücklich und sinnlos“ daherrede.27 Dolgopolov begründet die Einklammerung (um noch einmal einen Begriff aus der Phänomenologie zu verwenden) des Haupthelden ähnlich: Es zeigt sich also, dass der äußerlich unmerklichste Mensch im Roman, ein Ausdrucksloser, keine Handlungen Vollbringender das machtvolle Zentrum der ganzen ideellen Konzeption des Werkes ist – gerade dank der Abwesenheit welcher Taten auch immer, epochal bedeutsamer Worte. Er ist das Zentrum, und er ist unbemerkbar. Wir sehen ihn nicht, während wir den Roman lesen, aber wir spüren die Gegenwart von etwas sehr Bedeutsamen.28

Mir geht es darum, Živago nach diesen Stichworten von Pjatigorskij und Dolgopolov als unsichtbar und doch zugleich als Licht-Figur zu entwickeln. Živago ist, so meine These, der erste Held in Pasternaks Werk, der von Anfang an leuchtet, statt verdunkelt im Schatten zu verharren. Die Neuheit ließe sich im Kontrast zu den meisten Protagonisten von Pasternaks Erzählungen und den lyrischen Subjekten seiner Gedichte zeigen. Besonders aufschlussreich ist ein Vergleich mit Sestra moja  –  žizn’. Denn der Roman spielt gleich in der ersten Szene, als der kleine Jurij Živago nach 26 Dolgopolov, Leonid: „Strannyj doktor. K voprosu o ličnosti i charaktere žiznedejatel’nosti geroja romana ‚Doktora Živago‘“, in: Losev: Boris Pasternak, 1890-1990, 178–189 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Nicht unähnlich – freilich mit entgegengesetzter ideologischer Wertung – charakterisiert die Redaktion von Novyj mir in ihrer Ablehnung des Romans den Protagonisten: „Однако в чем же, в конце концов, заключается содержание высшей духовной ценности доктора Живаго, что такое его индивидуализм, защищаемый им страшной ценой? / Содержание его индивидуализма – это самовосхваление своей психической сущности, доведенное до отождествления ее с мессией некоего религиозного пророка.“ „Doch worin besteht nun letztendlich der Inhalt des höheren geistigen Werts des Doktor Živago, was ist sein Individualismus, den er zu einem schrecklichen Preis verteidigt? […] Der Inhalt seines Individualismus ist das Selbstlob der eigenen psychischen Essenz, getrieben bis zur Identifikation [dieser Essenz] mit dem Messias eines gewissen religiösen Propheten.“ „Pis’mo členov redkollegii žurnala ‚Novyj mir‘ B. L. Pasternaku po povodu rukopisi romana ‚Doktor Živago‘“ [1956], in: „A za mnoju šum pogoni…“. Boris Pasternak i vlast’. Dokumenty 1956–1972. Moskva 2001, 349–376, hier 369/370. Die Redaktion spricht auch, grundsätzlich zutreffend, von einem „лишний человек“ / „überflüssigen Menschen“ (ebd., 357), von „Selbstgesprächen“ statt Dialogen (ebd., 358) und davon, dass Živago „unmoralisch“ sei (ebd., 371). 27 Pjatigorskij: „Pasternak i doktor Živago“, 220, 225/226. 28 Dolgopolov: „Strannyj doktor“, 183 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

Der Roman Doktor Živago 353

der Beerdigung seiner Mutter auf den Grabhügel steigt, auf das Gedichtbuch über den Sommer 1917 an: „Закрыв лицо руками, мальчик зарыдал. Летевшее навстречу облако стало хлестать его по рукам и лицу мокрыми плетьми холодного ливня.“29 „Der Junge hielt die Hände vors Gesicht und schluchzte. Eine auf ihn zufliegende Wolke peitschte ihm [überströmte ihn] mit nassen Peitschen [Geflechten] eines kalten Platzregens Gesicht und Hände.“ Die Stelle zitiert ohne Verklausulierung aus „Groza, momental’naja navek“, einem der prominentesten Gedichte von Sestra moja – žizn’. Der Platzregen fliegt dem kleinen Jurij genauso in „Geflechten“ entgegen, wie er in „Groza, momental’naja navek“ auf das Dach prasselt.30 Daraus kann man zwei Schlüsse ziehen. Einmal: Der Zusammenhang des Licht-Regens wird durch das Zitat affirmativ aufgerufen, die Idee einer spontanen Synthese aus Licht und Wasser (Logos und Sophia) wird neu aufgenommen und mottoartig an den Anfang von Doktor Živago gestellt. Oder aber der Bezug zum Frühwerk ist ein negativer. Das Zitat blendet ja einen wesentlichen Teil von „Groza, momental’naja navek“ aus: den „Kohlestift“ des Regens, also das, was ich in dem Kapitel über Sestra moja – žizn’ als Schatten-Schrift (Skiagraphie) bezeichnet hatte. Die ständige Verfinsterung des Helden würde so am Anfang von Doktor Živago mit Hilfe eines selektiven Selbstzitats ausgeblendet und die einstigen ephemeren Aufhellungen31 des Helden würden in einen dauerhafteren Zustand überführt. Während die Figur des Licht-Regens darin besteht, dass die Durchlichtung von Wasser und die Verflüssigung von Licht – ihre gegenseitige Durchdringung – ein Verklärungsgeschehen ist, das entweder von selbst stattfindet oder aber vollends ausbleibt, liegt Doktor Živago ein grundlegend anderes Verständnis der Verklärung zugrunde: Der 29 Doktor Živago, 6/7 (Doktor Shiwago, 8). 30 Susanna Witt verbindet den Ausdruck „плетьми“ mit dem von fern ähnlich klingenden Ausdruck „племена“ im russischen Text der Offenbarung nach Johannes (Offb 1, 7) und liest den Roman so von Anfang an im Zeichen der Apokalypse. Witt [Vitt], Susanna: „Doktor Živopis’. O ‚romanach‘ Borisa Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, in: Toronto Slavic Quarterly 15, Winter 2006 (http://www.utoronto.ca/tsq/15/vitt15.shtml, Zugriff: 05.11.2010). Zum Landschafts-Anthropomorphismus und zur Intimität der Romanhelden mit dem Wetter vgl. Sicher: „The father, the son and Holy Russia: Boris Pasternak, Hermann Cohen and the religion of ‘Doctor Zhivago’“, 155. 31 Vgl. Jensen: „Boris Pasternak als Ästhetiker im Sinne Søren Kierkegaards“, 425–427. Nach Jensen stellt Doktor Živago keine Überwindung des „ästhetischen Stadiums“ Pasternaks dar, sondern lediglich eine Übertragung desselben auf den „großen historischen Kreis“ mit Hilfe des Christentums. Ein drastisches Beispiel dafür sieht Jensen im Gedicht „Čudo“  / „Wunder“, in dem „Бог“ / „Gott“ auf „врасплох“ / „unerwartet“ gereimt wird, d.h. ein typisches Signalwort von Pasternaks „Unmittelbarkeitspoetik“ (vgl. das berühmte „навзрыд“ / „ungehemmt“) werde mit dem „Historisch-Religiösen“ versöhnt. Das Christentum ist folglich nach Jensen ein Mittel zum Zweck, endlich solide Zeitlichkeit zu erlangen. Ebd., 427/428. Eine der Fragen dieses Kapitels wird sein, wie sich diese erlangte Geschichtlichkeit zur zentralen Idee des Romans (formuliert von Živagos Onkel Vedenjapin), der symbolischen Existenz, verhält.

354

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

Held ist ihrer von Anfang an teilhaftig. Mehr oder weniger eindeutige Hinweise darauf finden sich in zahlreichen Momenten des Romans, von denen ich im Folgenden einige diskutieren werde.32 Nach der Beerdigung der Mutter übernachtet Jurij mit seinem Onkel Nikolaj Vedenjapin, dem ehemaligen Mönch und jetzigen Religionsphilosophen, im Kloster. In der Nacht wird der Knabe von einem Klopfen am Fenster geweckt. Da erscheint die Klosterzelle auf einmal erleuchtet: „Темная келья была сверхъестественно озарена белым порхающим светом. Юра в одной рубашке подбежал к окну и прижался лицом к холодному стеклу.“33 „In der Nacht erwachte Jura von einem Klopfen ans Fenster. Die dunkle Zelle war überirdisch [übernatürlich] erleuchtet von weißem Flackerlicht. Jura lief im Nachthemd zum Fenster und drückte das Gesicht an die kalte Scheibe.“ Zwar umgibt dieses übernatürliche Licht den Knaben lediglich. Davon, dass es in ihm wäre, wird nichts gesagt. Doch es geht mir zunächst um die „Übernatürlichkeit“ selbst, die gemessen an Pasternaks bisherigen Texten ungewöhnlich ist. Bemerkenswert ist auch, dass dieses Licht gleich am Anfang aufscheint, lange bevor Živago als Arzt, Liebender und religiöser Dichter tätig wird. Die Übernatürlichkeit des aufscheinenden Lichts ist hier sogar deutlicher benannt als in Živagos Gedicht „Avgust“, das ausdrücklich vom Taborlicht handelt.34 Boris Gasparov liest die nächtliche Erleuchtung der Klosterzelle im Zusammenhang mit 32 Vgl. das fast wörtliche Zitat des Ausrufs „Про меня!“ aus dem Gedicht „Dušnaja noč’“  / „Schwüle Nacht“ im Kapitel „Devočka iz drugogo kruga“  / „Ein Mädchen aus anderen Kreisen“: „Блажени нищие духом… Блажени плачущие… Блажени алчущие и жаждущие правды… / Лара шла, вздрогнула и остановилась. Это про нее. Он говорит: завидна участь растоптанных. Им есть что рассказать о себе. У них все впереди. Так он считал. Это Христово мнение.“ „Selig sind, die da geistlich arm sind… Selig sind, die da Leid tragen… Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit… / Lara zuckte zusammen und blieb stehen. Das galt ihr. Er sagt: Beneidenswert ist das Los der Getrennten. Sie haben etwas von sich zu erzählen. Sie haben alles noch vor sich. So glaubt er. Es ist Christi Meinung.“ Doktor Živago, 51 (meine Hervorhebung – Ch. Z.; Doktor Shiwago, 69/70). Jetzt ist es das Christentum, das zum Helden (hier zu Lara) spricht, nicht mehr die ekstatische Natur des weinenden Gartens wie in Sestra moja – žizn’. Zur weitestgehenden Abwesenheit der Person Christi in Pasternaks Werk bis 1940 vgl. Flejšman: „Boris Pasternak i christianstvo“, 731–733. 33 Doktor Živago, 7 (Doktor Schiwago, 9). 34 Erstmals erscheint das Taborlicht bei Pasternak als literarisches Thema in seiner Übersetzung des Poems „Marija“ von Taras Ševčenko Ende der dreißiger Jahre (1939, PSS, VI, 120–140). Es existieren verschiedene Hinweise darauf, dass „Marija“ für Pasternak eine seiner wichtigsten Übersetzungsarbeiten war. Barnes: Boris Pasternak, II, 156/157. Vgl. dazu Pasternaks Skizze für ein nicht realisiertes Radioprogramm „Ja choču skazat’ neskol’ko slov o Tarase Ševčenko kak perevodčik…“, in: PSS, V, 361/362. Ausschlaggebend für den Eingang der Verklärung in den Roman scheint allerdings wiederum ihre Nähe in Gestalt der Kirche Spas Preobraženie v Lukine in Peredelkino zu sein. Bodin, Per Arne: „Pasternak and Christian Art“, in: Nilsson, Nils Åke (Hrsg.): Boris Pasternak. Essays. Stockholm 1976, 203–214, hier 210.

Der Roman Doktor Živago 355

der Vision des Andrej Jurodivyj (10. Jahrhundert), der die Gottesmutter ihren Mantel (покров) auf die Betenden ausbreiten sah.35 Ebendieser Vision wird am Fest Pokrov (1./14. Oktober) gedacht, und die Beerdigung von Jurijs Mutter findet am Vorabend von Pokrov statt. Man kann also sagen: Am Anfang des Romans schickt die verstorbene Mutter Živago ein Licht-Gewand, in dem er dann durch den Roman wandeln wird. Dazu würde Elena Glazov-Corrigans These passen, wonach der Roman ein Hamlet-Text sei, an dessen Anfang jedoch kein väterlicher Auftrag, sondern ein mütterliches Schutzversprechen stehe.36 Das schwierige Verhältnis von Weiblichkeit/Sophiologie und Verklärung werde ich in diesem Kapitel noch ausführlich ansprechen. Klar ist: Es kommt hier zu einer weiteren subtilen Umgehung des Männlich-Logoshaften zugunsten einer effeminierten, sophianisierten ‚Energie‘. Das übernatürliche Licht wird im ersten Kapitel nicht näher ausgeführt. Der Onkel erzählt dem Jungen von Christus, später muss er, seine Gewöhnlichkeit unterstreichend, gähnen, und schließlich bricht der Morgen an. Erst in dem Gespräch mit dem Tolstojaner Vyvoločnov auf dem südlichen Landgut Dupljanka, in dem Nikolaj Vedenjapin seine historiosopischen Ansichten darlegt, wird das Thema des übernatürlichen Lichts beiläufig und zunächst unabhängig von dem kleinen Jurij wieder aufgenommen. Nikolaj entwickelt die Theorie, dass erst mit dem Erscheinen Christi in der Welt der Mensch eigentlich zu existieren angefangen habe und frei geworden sei von der abgeschmackten „römischen“37 Welt: И вот в завал этой мраморной и золотой безвкусицы пришел этот легкий и одетый в сияние, подчеркнуто человеческий, намеренно провинциальный, галилейский, и с этой минуты народы и боги прекратились и начался человек, человек-плотник, человекпахарь, человек-пастух в стаде овец на заходе солнца, человек, ни капельки не звучащий гордо, человек, благодарно разнесенный по всем колыбельным песням матерей и по всем картинным галереям мира».38 35 Gasparov: „Vremennoj kontrapunkt kak formoobrazujuščij princip romana Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, 332. 36 Glazov-Corrigan: „A Reappraisal of Shakespeare’s Hamlet: In Defense of Pasternak’s Doctor Zhivago“, 223. 37 Wie Irene Masing-Delic zeigt, vereint Pasternaks heidnisches Rom janusgesichtig in sich die negativen Züge von ‚instinktgesteuertem‘ Kapitalismus (Komarovskij) und ‚rationalistischem‘ Sozialismus (Antipov). Masing-Delic, Irene: „Capitalist Bread and Socialist Spectacle: The Janus Face of ‘Rome’ in Pasternak’s Doctor Zhivago“, in: Fleishman: Boris Pasternak and His Time, 372–385, hier 372/373. 38 Doktor Živago, 45. Interessant ist eine Polemik um diese Stelle, die sich zwischen Pasternak und seinem einstigen Weggefährten Sergej Bobrov entspann und die letzterer später in einem Brief an Žozefina Pasternak folgendermaßen zusammenfasste: „[…] mich hat dieser verschärfte Kampf mit dem menschlichen, streng-wissenschaftlichen Denken zutiefst gekränkt […]. Und während des Gesprächs über den Roman habe ich ihn [Boris] daran erinnert, indem ich sagte: ‚Wie kommt es, dass du, ein Mensch mit philosophischer Bildung, nichts weißt

356

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

Und in diese Anhäufung marmorner und goldener Geschmacklosigkeit kam der leichtfüßige und von Glanz umhüllte, betont menschliche, absichtlich provinzielle Galiläer, und von diesem Moment an hörten Völker und Götter auf zu sein, und es begann der Mensch, der Mensch als Zimmermann, der Mensch als Pflüger, der Mensch als Hirt inmitten seiner Schafherde bei Sonnenuntergang, der Mensch, der keineswegs stolz klingt, der Mensch, der dankbar gefeiert wird in sämtlichen Wiegenliedern der Mütter und auf den Gemälden aller Galerien der Welt“.39

Vedenjapins Ausführungen entfalten beiläufig ein Paradox. Christus wird als „betont menschlich“ charakterisiert – wie kann er dann „von Glanz umhüllt“ sein? Dieses Licht-Gewand verweist auf etwas Ungewöhnliches im Gewöhnlichen. Das Paradox liegt, so denke ich, in dem Glanz selbst. Er ist zwar etwas Übernatürliches und gleichwohl nichts Spektakuläres. Er bedeutet eine dramatische Verwandlung und hat doch unbemerkt bereits stattgefunden.40 Vedenjapins Worte sind mehr als eine religionsphilosophische Betrachtung, sie haben eine präzise Funktion für die Roman-Geschichte: Das aufgespannte Paradox zwischen alltäglicher Gewöhnlichkeit und Verklärungsgeschehen ist das Lebensmodell des Doktor Živago (der hier noch ein Kind ist und das Modell daher ‚unbewusst‘ annimmt). Wie Vedenjapins Christus tritt der kleine Jurij am Anfang des Romans in ein Leuchten gekleidet – sei es nun der schimmernde Mantel der Gottesmutter oder das leuchtend-weiße Gewand Christi am Tabor – in die Geschichte ein. Wie Vedenjapin wird er sein Leben lang hingezogen sein von der alltäglichen Gewöhnlichkeit und abgestoßen von der „marmornen Geschmacklosigkeit“. Letztere ist bis zur Karikaturhaftigkeit im Anwalt Viktor Komarovskij verkörpert. Wie zentral für Pasternak der Moment von Jurijs Eintritt in die Geschichte war, zeigt sich auch an einem Umstand der Entstehung. Peter Alberg Jensen hat gezeigt, dass Pasternak seinen Text mit ständigem Blick auf den Roman Niels Lyhne von Peter Jacobsen schrieb, ja über weite Teile Jurij Živagos Lebensgeschichte parallel zu der von Niels Lyhne anlegte, um dessen Kernbotschaft systematisch verkehren zu können: Jurij tritt am Anfang, nach dem Tod seiner geliebten Mutter, in das Reich über Aristoteles? Ist denn Aristoteles deiner Meinung nach – Natur? […]‘“ Pasternak, Evgenij/Pasternak, Elena/Polivanov, Konstantin/Raškovskaja, Marija: „Pis’mo Sergeja Bobrova k Žozefine i Lidii Pasternak. Ešče raz k voprosu o Borise Pasternake i christianstve“, in: Vademecum. K 65-letiju Lazarja Flejšmana. Moskva 2010, 594–608, hier 596. 39 Doktor Shiwago, 61. 40 Dieses Paradox wird dadurch verstärkt, dass eine ausführliche Augustlicht-Beschreibung nicht wie vielleicht zu erwarten am Verklärungstag angesiedelt ist (so im Gedicht „Avgust“), sondern in den Tagen um den nachfolgenden kirchlichen Feiertag Uspenie Bogorodicy (Entschlafen der Gottesmutter, 15./28. August). Doktor Živago, 183/184. Der eigentliche Verklärungstag ist also unbemerkt vorübergegangen und wird erst mit rund zehn Tagen Verspätung zur Kenntnis genommen. Außerdem wird dadurch der weiblich-mütterliche Anteil an der (männlichen) Verklärung verstärkt, so wie schon zu Beginn des Romans durch den PokrovFeiertag.

Der Roman Doktor Živago 357

der Geschichte ein – Niels sagt sich nach dem Tod seiner geliebten Tante Edele vom Christentum los und verbleibt sein ganzes Leben im Kreislauf der Natur.41 Nach Jensen ist Živago zwar nicht weniger freidenkerisch eingestellt als Niels Lyhne. Er hat sich wie dieser vom transzendenten Gottvater verabschiedet und ist insofern im wörtlichen Sinne ebenfalls ein „Atheist“.42 Der Unterschied zwischen den beiden Romanhelden besteht aber darin, dass Jurij unter diesen Voraussetzungen Christus umso mehr annimmt, während Niels sich in einen „pietistischen“, nach innen gewendeten, depressiven Atheismus verrennt.43 Der Kontrast zur Innerlichkeit, zum unglücklichen Bewusstsein von Jacobsens Niels Lyhne lässt sich sehr schön an dem Licht-Gewand Živagos ablesen. Das Bewusstsein, erklärt er seiner schwer erkrankten Schwiegermutter, sei ein „Scheinwerfer“, der, nach innen gerichtet, zur Verblendung führen müsse: Сознание – яд, средство самоотравления для субъекта, применяющего его на самом себе. Сознание – свет, бьющий наружу, сознание освещает перед нами дорогу, чтоб не споткнуться. Сознание – это зажженные фары впереди идущего паровоза. Обратите их светом внутрь и случится катастрофа. Итак, что будет с вашим сознанием? […] Чем вы себя помните, какую часть сознавали из своего состава? Свои почки, печень, сосуды? Нет, сколько ни припомните, вы всегда заставали себя в наружном, деятельном проявлении, в делах ваших рук, в семье, в других. А теперь повнимательнее. Человек в других людях и есть душа человека. Вот что вы есть, вот чем дышало, питалось, упивалось всю жизнь ваше сознание. Вашей душою, вашим бессмертием, вашей жизнью в других.44 41 Jensen: „Nil’s Ljune i Jurij Živago. Forma i preemstvennost’“, 264. 42 Pasternak soll sich Gerd Ruge gegenüber als „Beinahe-Atheisten“ bezeichnet haben. Vgl. dazu den Hinweis bei Mallac, Guy de: Boris Pasternak. His Life and Art. London 1983, 337. In diesem Sinne ist auch der Satz „Мы Бога знаем только в переводе“ / „Wir kennen Gott nur in Übersetzung“ aus Pasternaks Gedichtfragment „O Boge i gorode“ („Von Gott und der Stadt“, 1957) zu verstehen. PSS, II, 267. 43 Jensen: „Nil’s Ljune i Jurij Živago. Forma i preemstvennost’“, 261. 44 Doktor Živago, 69. Der Gedanke, dass das Bewusstsein veräußert werden müsse, findet sich bereits in einer frühen Redaktion von Detstvo Ljuvers aus den zehner Jahren: „[…] в состоянии крайнего проникновения в себя мы поражаем другого все больше […] светом в душе, а не тем, что встает в его освещенье; делом, а не его плодами. Проникновенье же в себя – вещь общая всем.“ Frühe Fassungen von Detstvo Ljuvers, PSS, III, 517. „[…] im Zustand äußerster Durchdringung unser selbst erstaunen wir den anderen umso mehr […] mit einem Licht in der Seele, nicht aber mit dem, was in seiner Beleuchtung sichtbar wird; mit einer Sache, nicht mit deren Früchten. Die Durchdringung unser selbst ist dabei ein Ding, das allen gemeinsam ist.“ Vgl. dazu Flejšman: „K charakteristike rannego Pasternaka“, 366. Wie Anna Han annimmt, ist der Kontext dieser Passage die russische Phänomenologie, insbesondere Gustav Špets Studie „Soznanie i ego sobstvennik“ („Das Bewusstsein und sein Eigentümer“, 1916). Han [Chan], Anna: „Poėtika i filosofija: Boris Pasternak i Gustav Špet (Vvedenie k teme)“, in: Studia Slavica Hungarica 42 (1997), 301–316. Vgl. Zu möglichen Anklängen an Špet in Doktor Živago vgl. Dennes: Husserl – Heidegger, 181.

358

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

Das Bewußtsein ist Gift, ein Mittel zur Selbstvergiftung für das Subjekt, das es bei sich selbst anwendet. Bewußtsein ist Licht, das nach außen drängt, Bewußtsein leuchtet über unserem Weg, damit wir nicht straucheln. Bewußtsein, das sind die Scheinwerfer einer fahrenden Lokomotive. Wird das Licht nach innen gekehrt, so kommt es zur Katastrophe. Also, was wird mit Ihrem Bewußtsein? […] Als was haben Sie sich in Erinnerung, welchen Teil von sich haben Sie bewußt wahrgenommen? Ihre Nieren, die Leber, die Gefäße? Nein, wie Sie sich auch erinnern, Sie haben sich immer nur äußerlich wahrgenommen, in Ihrer tätigen Erscheinung, in dem Werk Ihrer Hände, in der Familie, in anderen Menschen. Und jetzt hören Sie gut zu. Der Mensch in den anderen Menschen ist die Seele des Menschen. Das ist es, was Sie sind, womit Ihr Bewußtsein lebenslang geatmet, sich genährt und getränkt hat. Mit Ihrer Seele, Ihrer Unsterblichkeit, Ihrem Leben in den anderen Menschen.45

Die Katastrophe von Niels Lyhne ist in dieser Perspektive sein sinnloses, letztlich tatsächlich auf die eigenen Körperorgane fixiertes Leben (bei Pasternak wendet der Revolutionär Antipov-Strel’nikov sein Bewusstsein nach innen und tötet sich folgerichtig selbst46). Nach Živago ist ein Leben dann glücklich, wenn es dem Menschen gelingt, sein Bewusstsein zu veräußern, d.h. zum Inhalt seines Bewusstseins das „Leben in den Anderen“ zu machen. Dabei stellt sich die Frage: Wie verhält sich das Licht des Bewusstseins zu seinem Licht-Gewand aus der Kindheit, zu seiner ‚originellen‘ Verklärung?

Von Anfang an vollkommen: Živago mit Lossky und Cvetaeva Was für den vorbildlichen Menschen Christus die immer schon gegebene, an keine Ereignisse gebundene Verklärung ist, das ist, so könnte man mit Živago sagen, für die anderen Menschen eine Aufhellung des Bewusstseins. Und genau so lautet im Grunde die orthodoxe Bestimmung der Verklärung bei einem Theologen wie Vladimir Lossky: Christus ‚betrifft‘ die Verklärung gar nicht, er ist immer schon verklärt. Für die am Berg Tabor von seiner Weiße geblendeten Jünger Johannes, Petrus, Jakobus hingegen ist die Verwandlung des Herrn ein Phänomen, das zuerst ihr Bewusstsein verändert. Lossky thematisiert dieses Verhältnis zwischen Christus und den Jüngern in seinem Essai sur la Théologie mystique de l’Eglise d’Orient von 1944: La Transfiguration ne fut pas un phénomène circonscrit dans le temps et l’espace  : aucun changement ne survint pour le Christ en ce moment, même dans sa nature humaine, mais un changement se produisit dans la conscience des apôtres qui reçurent pour quelque temps la faculté de voir leur Maître tel qu’Il était, resplendissant de la lumière éternelle de sa divinité. C’était, pour les apôtres, une sortie de l’histoire, une prise de conscience des réalités éternelles. Saint Grégoire Palamas dit dans son homélie sur la Transfiguration: « La lumière de la Transfiguration du Seigneur n’a pas commencé et n’a pas pris fin ; elle resta incirconscrite (dans le temps et l’espace) et imperceptible pour les sens, bien qu’elle fût contemplée par les yeux 45 Doktor Shiwago, 94. 46 Vgl. Bethea, David: „Doctor Zhivago: The Revolution and the Red Crosse Knight“, 256–259.

Der Roman Doktor Živago 359 corporels…, mais par une transmutation de leurs sens les disciples du Seigneur passèrent de la chair à l’Esprit. » Pour voir la lumière divine avec les yeux corporels, comme les disciples l’ont vue sur le Mont Thabor, il faut participer à cette lumière, être transformé par elle dans une mesure plus ou moins grande. L’expérience mystique suppose donc un changement de notre nature, sa transformation par la grâce. Saint Grégoire Palamas le dit explicitement: « celui qui participe à l’énergie divine…, devient lui-même, en quelque sorte, lumière […]. »47

Bezieht man diesen Grundsatz auf Pasternaks Roman, so kann man sagen: Živagos Nähe zu Christus hat vor allem damit zu tun, dass er wie in der Verklärungstheologie immer schon verwandelt ist, dass die Verklärung eine ihm inhärente, ‚originelle‘ Qualität und nicht ein plötzlich einsetzendes Ereignis ist.48 Dolgopolovs Argument, Živago sei das geheimnisvoll-unsichtbare Zentrum des Romans, kann mit Lossky konkretisiert werden: Živago ist, etwas zugespitzt, eine Figur ohne Bewusstsein und insofern ohne Bedürfnis nach ‚Aufklärung‘, und dennoch weiß er in gewisser Weise von Anfang an alles.49 Ein Problem mit dem Bewusstsein haben die ihn umgebenden Figuren, die unbelebte Natur, die Leser des Romans. Für Živago aber sind Fragen des Bewusstseins letztlich Scheinprobleme.50 Nun kann man Živago gerade auch in seiner Rolle als Dichter mit der Folie der Ur-Verklärung verstehen. Marina Cvetaeva hatte 1933 für eine nicht-russische Leserschaft in Belgrad einen zweiten Essay über Pasternak mit dem Titel „Poėty s istoriej i poėty bez istorii“ / „Dichter mit Geschiche und Dichter ohne Geschichte“ publiziert, in dem sie die Unterscheidung zwischen Dichtern mit Geschichte (Goethe und Puškin) und Dichtern ohne Geschichte (Lermontov und Pasternak) vornimmt. Während im Werk eines Dichters „mit Geschichte“ eine qualitative Reifung, stoffli47 Lossky: Essai sur la Théologie mystique, 221/222 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Ähnlich auch Habra, Georges: La Transfiguration selon les Pères grecs. 2e édition, corrigée. Fontainebleu 1986, 44–48. 48 Es handelt sich hierbei immer um eine Analogie. Berücksichtigt man Vladimir Losskys Ablehnung der Sophiologie, so wird deutlich, dass die Gemeinsamkeiten in der Konzeption der Verklärung keine weitergehende Übereinstimmung bedeuten müssen. Von orthodoxer Seite wurde denn auch gegen den Roman eingewendet, er würde die Person Christi in unzulässiger Weise rationalisieren und historisieren. Vgl. de Mallac: Boris Pasternak, 327/328. – Nach Evgenij Pasternaks Auskunft (April 2012) ist es unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen, dass Pasternak Losskys 1944 in Frankreich erschienenen Essay kannte. 49 Vgl. die Pjatigorskij „mit Neid erfüllende“ Aussage Cvetaevas, Pasternak denke zwar nicht, habe aber Gedanken. Pjatigorskij, Aleksandr: „Polemika o Pasternake v anglijskoj presse“, in: ders.: Izbrannye trudy, 386–388, hier 387. 50 In ihrer Parallellektüre des Romans mit Goethes Faust (den Pasternak während der Arbeit an Doktor Živago ins Russische übersetzte) bemerkt Angela Livingstone sehr treffend, dass Živago nicht wie Goethes Held nach absoluter Erkenntnis streben müsse, da er solcher Erkenntnis in seinen Momenten der Epiphanie schon sicher sei. Livingstone: „Pasternak and Faust“, 359.

360

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

che Variationen und Erweiterungen zu beobachten seien, sei ein Dichter „ohne Geschichte“ von Anfang, vom ersten Gedicht an der, der er bis zu seinem Tod bleiben würde. Cvetaeva schreibt: „О поэтах без истории можно сказать, что их душа и личность сложилась еще в утробе матери. Им не нужно ничего узнавать, усваивать, постигать – они всё знают отродясь. Очевидность, опыт для них – ничто.“51 „Über die Dichter ohne Geschichte kann man sagen, dass ihre Seele und Persönlichkeit sich bereits im Mutterleib herausgebildet hat. Sie brauchen nichts zu erkennen, sich nichts anzueignen, nichts zu erfassen – sie wissen alles von Geburt an. Sichtbarkeit, Erfahrung sind für sie – nichts.“ Alles ist immer schon da – das ist die Grundfigur der ‚originellen‘ Verklärung. Pasternak wäre so gesehen nicht nur wie Sergij Radonežskij der Heiligenlegende nach schon im Mutterleib („въ утробѣ матернѣ“) vollkommen,52 er wäre auch wie der Logos „am Anfang bei Gott“, wo er jederzeit verharrt. So schreibt Cvetaeva weiter: Если когда-нибудь при вас, читатель, зайдет речь о том, верят или не верят в России в Бога, сошлитесь на самого любимого и самого читаемого поэта России – на Пастернака. Бог, во всяком случае божественность, распоряжена по всем пастернаковским произведениям. Можно сказать, что Пастернак из Бога не выходит […].“53 Falls irgendwann in Ihrer Gegenwart, mein Leser, die Rede darauf kommen sollte, ob man in Russland an Gott glaubt oder nicht, so berufen Sie sich auf den beliebtesten und meistgelesenen Dichter Russlands – auf Pasternak: Gott, jedenfalls die Göttlichkeit, ist über alle Werke Pasternaks ausgebreitet. Man kann sagen, dass Pasternak aus Gott nie heraustritt […].

Das Bild von Pasternak hat sich hier im Vergleich zu „Svetovoj liven’“, wo noch die romantische Abgründigkeit des Dichters zentral war, zu ungetrübter Verklärtheit gewandelt.54 Weit interessanter als die Frage, wie Pasternak persönlich auf diese Überhöhung reagiert haben könnte, sind nun die klaren Parallelen zwischen Cvetaevas allwissendem Pasternak und dem allwissenden Dichter Živago. Das 51 Cvetaeva: „Poėty s istoriej i poėty bez istorii“ [1933, zuerst in serb. Übersetzung], in: dies.: Sobranie sočinenij, 5, 397–428, hier 402. 52 Žitie Sergija Radonežskogo [zw. um 1415 und 1420], in: Biblioteka literatury drevnej Rusi. Tom 6. XIV–seredina XV veka. Sankt-Peterburg 1999, 254–411, hier 262. Nach Igor’ Smirnov ist die Vita des Sergij Radonežskij in Doktor Živago tatsächlich als Subtext präsent und verleiht dem Roman potentiell hagiographische Züge. Smirnov: „Misterija vstreči v ‚Doktore Živago‘“, 155–158. 53 Cvetaeva: „Poėty s istoriej i poėty bez istorii“, 427. In seinem Beitrag zum Thema Doktor Živago und Marina Cvetaeva geht Konstantin Polivanov auf diesen poetologischen Zusammenhang nicht ein. Polivanov, Konstantin: „Ešče raz o ‚Doktore Živago‘ i Marine Cvetaevoj“, in: Fleishman: V krugu Živago, 171–183; ebenso Šmaina-Velikanova, Anna: „Sestra: Cvetaeva v tvorčestve Pasternaka“, in: Pasternakovskij sbornik, I, 345–356. 54 Wie Sergej Burov meint, ist Cvetaeva in der Romanfigur Šura Šlezinger präsent. Deren unkontrollierte Sprechweise parodiere den Staccato-Duktus von „Svetovoj liven’“. Burov, Sergej: Igry smyslov u Pasternaka. Moskva 2011, 353, 355/356.

Der Roman Doktor Živago 361

durchaus Experimentelle an der Anlage von Doktor Živago besteht darin, dass er einen idealtypischen, kaum sichtbaren „Dichter ohne Geschichte“ zum Mittelpunkt eines historischen Panoramas macht.55 Man kann noch weiter gehen. Die These aus Ochrannaja gramota, Kunstwerke erzählten „in Wirklichkeit von ihrer Geburt“, ebenso wie die Kriterien „Energie und Originalität“, die Živago selbst an seine Gedichte legt, werden in dem Romanexperiment durch das Licht-Gewand der Verklärung zu Aussagen über den Künstler und den Menschen überhaupt.56 Mehr denn je setzt Pasternak hier das Leben mit Genialität gleich. So kann Živago in seinem Tagebuch schreiben: „Каждый родится Фаустом, чтобы все обнять, все испытать, все выразить.“57 „Jeder wird als Faust geborgen, um alles zu erfassen, alles zu erproben, alles auszudrücken.“ Und die Idee der Gottesmutterschaft verallgemeinernd, hält er fest: „[…] все решительно матери – матери великих людей […].“58 „[…] entschieden alle Mütter sind Mütter großer Menschen […].“ Christus ist der geborene Mensch schlechthin und damit Vorbild für Živagos Lebens- und Schreibkunst gleichermaßen. Zunächst werde ich die Anzeichen einer ‚originellen‘ Verklärung in Doktor Živago diskutieren, bevor ich auf die Folgen seines paradoxen Eintritts in die Geschichte zu sprechen komme. Bestätigt wird der Eindruck der Verklärtheit des Helden in einem der seltenen Rückblicke auf die Kindheit („Lesnoe voinstvo“  / „Das Waldheer“, Kap. XI). Živago befindet sich in sibirischer Gefangenschaft bei den Partisanen. Während eines Sonnenuntergangs im Wald vergegenwärtigt er sich eine prägende Kindheitserfahrung – die Durchdringung seiner ganzen Person mit Licht: Юрий Андреевич с детства любил сквозящий огнем зари вечерний лес. В такие минуты точно и он пропускал сквозь себя эти столбы света. Точно дар живого духа потоком входил в его грудь, пересекал все его существо, и парой крыльев выходил из-под лопаток наружу.59 55 Pasternaks Konstruktion eines geschichtslosen, selbstgenügsamen Dichters in Doktor Živago wurde von dem polnischen Dichter Aleksander Wat als „poetischer Narzissmus und Egoismus“ bezeichnet. Andererseits besteht nach Wat das Verdienst des Romans darin, durch die Figur des Jurij Živago umso drastischer das „Unglück der Revolution“ dargestellt zu haben. Der geschichtslose „Narzissmus“ der Hauptfigur wäre demnach gerade die Bedingung für die Darstellung der Geschichte als Katastrophe. Wat, Aleksander: Mój wiek. Pamiętnik mówiony. Część druga. Rozmowy prowadził i przedmową opatrzył Czesław Miłosz. Do druku przygotowała Lidia Ciołkoszowa. Warszawa 1998, 236. 56 Livingstone: „Pasternak and Faust“, 357. 57 Doktor Živago, 283 (Doktor Shiwago, 390). 58 Doktor Živago, 280. 59 Ebd., 341. Olga Matich nennt als Referenz dieser Epiphanie außer der Verklärungsikone auch Puškins „Prorok“. Matich, Olga: „Doktor Zhivago: Voyeurism and Shadow Play as Narrative Perspective“ (Manuskript).

362

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

Jurij Andreevič liebte seit seiner Kindheit den vom Feuer des Sonnenuntergangs durchleuchteten abendlichen Wald. In solchen Momenten war ihm, als ließe auch er die Lichtsäulen durch sich hindurch, als strömte die Gabe des lebendigen Geistes in seine Brust, durchdringe ihn ganz und käme wie ein Flügelpaar unter den Schulterblättern wieder nach draußen.60

In der Durchdringung mit den „Lichtsäulen“ des „lebendigen Geistes“ lässt sich eine weitere Existenzialisierung der Theorie von Ochrannaja gramota beobachten. Dort hatte es im ästhetischen Traktat geheißen, die Wissenschaft erfasse die „Natur im Schnitt der Lichtsäule“. Jetzt ist es die Natur, die den Helden im Schnitt von Lichtsäulen erfasst. Und der in Ochrannaja gramota noch betonte Unterschied zum „Kraftstrahl“ der Kunst scheint von Anfang an aufgehoben. In der christushaften Licht-Figur Živago hat die ästhetische Theorie einen personalen Träger gefunden. Susanna Witt führt den Vorgang der Durchdringung mit Lichtsäulen auf Vladimir Solov’evs Traktate „Krasota v prirode“ und „Obščij smysl iskusstva“ über die Durchgeistigung von Materie zurück.61 Das ist umso plausibler, als die „Flügel des Geistes“ wörtlich auf eine Aussage des Onkels Vedenjapin verweisen, der nach einem quasi-solov’evschen Denken strebt, das „окрыленно вещественн[ая]“62  / „beflügelt stofflich“ wäre. Allerdings muss man sagen, dass Solov’evs Konzept der Verklärung als Vergeistigung, so nah es der Prozesstheologie des Religionsphilosophen Vedenjapin sein mag, auf Živagos Zustand der Verklärung keineswegs restlos zutrifft. Das Kind Jurij ist keine dunkle Gestalt,63 die lediglich in den hier geschilderten „Minuten“ vereinzelt Aufhellungen erlebt hätte. Die Rede ist vielmehr von einer „uranfänglichen Kraft“, die in den Verklärungsszenen jeweils neu erwachte: Тот юношеский первообраз, который на всю жизнь складывается у каждого и потом навсегда служит и кажется ему его внутренним лицом, его личностью, во всей первоначальной силе пробуждался в нем и заставлял природу, лес, вечернюю зарю и всe видимое преображаться в такое же первоначальное и всеохватывающее подобие девочки. «Лара»! – закрыв глаза, полушептал или мысленно обращался он ко всей своей жизни, ко всей божьей земле, ко всему расстилавшемуся перед ним, солнцем озаренному пространству.64 Dieses Urbild aus der Jünglingszeit, das sich in jedem Menschen formt, ihm später für immer dient und von ihm als sein inneres Gesicht, seine Persönlichkeit empfunden wird, erwachte mit seiner vollen ursprünglichen Kraft in ihm und bewog die Natur, den Wald, den Sonnen60 Doktor Shiwago, 470, modifiziert. 61 Witt, Susanna: Creating Creation. Readings of Pasternak’s Doktor Živago. Stockholm 2000, 114–121. 62 Doktor Živago, 10. 63 Dunkel ist die Umwelt des Knaben, vgl. „[…] действительный мир взрослых и город, который подобно лесу, темнел кругом […].“ „[…] die wirkliche Welt der Erwachsenen und die Stadt, die rundherum wie ein Wald dunkelte […].“ Ebd., 88. 64 Ebd., 341/342.

Der Roman Doktor Živago 363 untergang und alles Sichtbare, sich in das ebenso ursprüngliche und allumfassende Ebenbild eines Mädchens zu verwandeln. „Lara!“ wandte er sich mit geschlossenen Augen flüsternd oder auch nur in Gedanken an sein ganzes Leben, die ganze Welt Gottes, den ganzen, von der Sonne erleuchteten Raum, der sich vor ihm ausbreitete.65

Auf die weibliche Imprägnierung von Živagos Ur-Licht bin ich zum Teil bereits eingegangen. Hier ist es das „Bild“ seiner Geliebten Lara, das die Lichtvision auffängt, ähnlich wie am Anfang des Romans der imaginäre mütterliche Schutzmantel. Wie aber empfängt Živago die Epiphanie? Es fällt auf, dass er nicht um die Strahlen-Durchdringung ringen muss. Er ließ die Lichtsäulen im Wald schon als Kind mit einer bemerkenswerten Gelassenheit „durch sich hindurchgehen“ und den „lebendigen Geist“ in seine Brust einströmen, als wäre er dieser bereits Gabe versichert gewesen. Während es von seinem Onkel hieß: „Он жаждал нового“66 / „Er dürstete nach Neuem“, kann der Neffe jeweils problemlos zum Uralten (hier dem „Urbild“) zurückkehren, wenn sich ihm die Gelegenheit dazu bietet.67 Diese Qualität der Verklärung in Doktor Živago ist mit Losskys Begriffen, meine ich, treffender zu umschreiben als mit Solo’evs Instrumentarium. Das ist umso mehr der Fall hinsichtlich ihrer Auswirkung, also des eigentlichen Ereignisses: Das aufleuchtende Urbild bringt die Umgebung Živagos dazu, sich ihrerseits in ein „Urbild“ zu verwandeln, in Losskys Begriffen: Die Verklärung bringt sich in den anderen, sogar in der unbelebten Natur, zu Bewusstsein. Sie verleiht den ihr nahe liegenden Dingen Anteil an sich, sie wird ihnen zur „Gabe des lebendigen Geistes“. Die Verklärung ist die ideale Form dessen, was Živago in der Rede an seine Schwiegermutter als nach außen gewendetes Bewusstsein und als „Leben in den Anderen“ beschrieben hatte. Es wird klar, dass die im Laufe der Handlung sich vergrößernde Distanz zwischen Doktor Živago und seinem Vordenker Vedenjapin bereits zu Beginn besteht.68 Während das Licht (und die Welt) für Živago etwas schon Gegebenes ist, strebt sein Onkel nach einem Denken, das deren Struktur veränderte: Он жаждал мысли, окрыленно вещественной, которая прочерчивала бы нелицемерно различимый путь в своем движении и что-то меняла в свете к лучшему и которая даже 65 Doktor Shiwago, 470. 66 Doktor Živago, 10. 67 Vgl. Pjatigorskijs These: „[…] mit Živago geschah nichts.“ „Pasternak i doktor Živago“, 219 (Hervorhebung im Orig.). Pjatigorskij bezieht diese Aussage vor allem auf Živagos Biographie, sie trifft allerdings auch auf sein Licht-Gewand zu: Mit allen anderen um ihn und mit der Natur geschieht etwas, nicht jedoch mit ihm, dem ‚Zentrum‘ der Epiphanie. 68 Vgl. Lekic, Maria: „Pasternak’s Doctor Zhivago: The Novel and its Title, in: Russian Language Journal XLII, 141–143 (1988), 177–191, hier 179: „[…] like John the Baptist, he prepares the way for the savior who follows. Vedenjapin’s role as John the Baptist is quite pronounced in the pencil manuscript of the novel, where he enumerates the philosophical influences of the age that shape the thoughts of Jurij and his contemporaries.“

364

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

ребенку и невежде была бы заметна, как вспышка молнии или след прокатившегося грома. Он жаждал нового.69 Er dürstete nach einer Idee, die beflügelt dinghaft sein, einen ungeheuchelt eigenständigen Weg in seiner Bewegung vorzeichnen, auf der Welt [im Licht] etwas zum Besseren wenden und sogar für ein Kind und einen Ignoranten verständlich sein sollte wie ein Blitzstrahl oder das Echo eines Donnerschlags. Er dürstete nach Neuem.70

Berücksichtigt man den im Roman oft aktualisierten Doppelsinn von свет (Welt/ Licht), so kann man aus der Formel „что-то менять в свете к лучшему“ auch das Anliegen einer Modifizierung in der Struktur des „alten“ Lichts herauslesen. Dazu passt die scheinbar selbstverständliche Erwähnung von elektromagnetischen Wellen71 in heilsgeschichtlichem Zusammenhang. Zwar ebnet Vedenjapin seinem Neffen den Weg und ist in gewisser Weise Mit-Urheber der Verklärung, in der Jurij erscheinen kann. Andererseits nimmt genau er den von Živago später scharf kritisierten utopischen „политическ[ий] мистицизм советской интеллигенции“72 / „politischen Mystizismus der sowjetischen Intelligenzija“ vorweg. Als Živago 1917 im Sommer vor der Revolution von seinem mehrjährigen Dienst an der Front zurückkehrt, setzt die Desillusionierung in Bezug auf seine Kindheits- und Jugendfreunde ein, und die Enttäuschung bezieht sich klar auch auf seinen geistigen Vater Nikolaj, der in der Zwischenzeit zum Adepten der bolschewistischen Revolution geworden ist: „Странно потускнели и обесцветились друзья. Ни у кого не осталось своего мира, своего мнения. Они были гораздо ярче в его воспоминаниях. По-видимому, он раньше их переоценивал.“73 „Seine Freunde waren merkwürdig matt und farblos geworden. Keiner von ihnen hatte seine Welt, seine Meinung beibehalten. Er hatte sie viel greller in Erinnerung. Wahrscheinlich hatte er sie früher überschätzt.“ Um es in den Begriffen aus Živagos „Vorlesung“ vor seiner Schwiegermutter oder von Losskys Theologie zu sagen: Die Freunde hatten alles „Grelle“ in den kultivierten Vorkriegsjahren in Wirklichkeit von Živago bezogen. Sie hatten vorübergehend an seiner Verklärung partizipiert, weil er „in ihrem Bewusstsein“ gelebt hatte. Das Leben im ‚gebenden‘ Modus des Verklärten ist offensichtlich anfällig auf (Selbst-)Täuschung, ja auf Verklärung im pejorativen Wortsinn. Weil Živago sein Bewusstsein veräußert hatte, ging er leichtgläubig davon aus, dass das Licht einen allgemeinen Zustand ausdrücke. In Ochrannaja gramota heißt es, nur die „Kraft“ (der Verliebtheit) bedürfe der „Sprache materieller Beweise“, sie sei das einzige Faktum des Lebens, das dem Be69 70 71 72 73

Doktor Živago, 10. Doktor Shiwago, 13. Doktor Živago, 13. Ebd., 479. Ebd., 173 (Doktor Shiwago, 237, modifiziert).

Der Roman Doktor Živago 365

wusstsein nicht direkt, über den geraden Weg der Licht-Analogie, zugänglich sei. Die Distanzierung Živagos von seinem Umfeld ab 1917 lässt sich mit diesen Kategorien aus Ochrannaja gramota verstehen: Jurijs „Kraft“, die Energie seines sophianisierten Taborlichts, wird so lange nicht bei seinen Freunden ankommen, wie diese den „materiellen Beweis“ der Energie nicht in Händen halten. Das wird erst am Schluss des Romans im Epilog der Fall sein: Gordon und Dudorov werden sich und ihre Welt (die Realität nach dem Zweiten Weltkrieg) in einem verklärenden Licht sehen können, indem sie sich gegenseitig Živagos Gedichte vorlesen – eben als materielle Beweise seiner Kraft. Nach seiner Rückkehr von der Front spricht Živago noch mit einer beinahe religiösen Begeisterung von der ausgebrochenen Revolution. Zu seinem liberalen, skeptischen Schwiegervater Aleksandr Gromeko sagt er: А тут, нате пожалуйста. Это небывалое, это чудо истории, это откровение ахнуто в самую гущу продолжающейся обыденщины, без внимания к ее ходу. Оно начато не с начала, а с середины, без наперед подобранных сроков, в первые подвернувшиеся будни, в самый разгар курсирующих по городу трамваев. Это всего гениальнее. Так неуместно и несвоевременно только самое великое.74 Hier aber, da hast du’s. Das Niedagewesene, dieses Wunder der Geschichte, diese Offenbarung wurde rücksichtslos hineingeknallt in das Dickicht des weiterlaufenden Alltags, ohne Rücksicht auf seinen Gang. Es wurde nicht am Anfang begonnen, sondern mittendrin, ohne vorher festgesetzte Termine, an einem erstbesten Werktag, während die Straßenbahnen durch die Stadt fahren. Das ist das Genialste daran. Nur wirklich Großes kann so unpassend und zu so ungünstiger Zeit kommen.75

Živago spricht hier so von der Revolution, wie sein Onkel Vedenjapin im ersten Kapitel über das Erscheinen Christi in der römischen Welt gesprochen hatte. Das „ganz Große“ komme ohne vorgängige Steigerung und ohne Spektakel zustande, es sei plötzlich da und, ohne dass man den Zeitpunkt seines Eintretens benennen könnte, sei es nicht mehr wegzudenken. Noch paradoxer ausgedrückt: Der wirkliche Anfang ist ohne Anfang. In dem Maße der Distanzierung Živagos von der Revolution und ihrer „mystischen“ Rhetorik ab dem Kapitel „Moskovskoe stanovišče“  / „Das Moskauer Kriegslager“ (VI) aber wird der vermeintlich eindeutige Bezug seiner affirmativen Aussage fragwürdig. Vielleicht beschreibt er hier, wiederum ohne sich dessen ganz „bewusst“ zu sein, weniger die – ihn von Anfang an enttäuschende – Revolution, als die Funktionsweise der Verklärung, von der er in der Kindheit bei seinem Onkel gehört hatte und die er von der eröffnenden Szene auf dem Grabhügel der Mutter an vorlebt.

74 Doktor Živago, 194. 75 Doktor Shiwago, 266, modifiziert.

366

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

Mimikry: Vollendung und Annullierung der Verklärung Die Wende im Leben und Denken Živagos ungefähr in der Mitte des Romans, der Abschied von der vorrevolutionären Welt und den revolutionären Hoffnungen, wird durch eine tiefgreifende motivische Transposition markiert: Die Verklärung wird von Mimikry abgelöst. Wenn Verklärung in Živagos Sinne ein sorgloser Zustand des Aussendens von Licht ist, so meint Mimikry eine Verhaltenstechnik, sich der Umwelt bis zur Unkenntlichkeit anzugleichen. Die Bewegung ist in beiden Fällen eine ähnliche, ein „переход внутреннего во внешнее“76 / „Übergang von Innerem zu Äußerem“, doch die Mimikry ist der angespanntere, bewusstere Zustand. Verklärung ist letztlich eine Frage der Gnade, die Mimikry eine rationale oder jedenfalls instinktive Strategie. Diese Einsicht erfolgt bei Živago im Zusammenhang mit dem unverhältnismäßig üppigen Festessen, bei dem der frühere Intelligenzija-Kreis am Vorabend der Revolution noch einmal zusammenkommt: За окном лежала немая, темная и голодная Москва. Лавки ее были пусты, а о таких вещах, как дичь и водка, и думать позабыли. И вот оказалось, что только жизнь, похожая на жизнь окружающих и среди нее бесследно тонущая, есть жизнь настоящая, что счастье обособленное не есть счастье, так что утка и спирт, которые кажутся единственными в городе, даже совсем не спирт и не утка. Это огорчало больше всего.77 Vor den Fenstern lag das stumme, dunkle und hungrige Moskau. Die Läden waren leer, und an Dinge wie Wildbret und Sprit hatte man zu denken vergessen. Und da zeigte sich, daß nur ein Leben, das dem der Mitmenschen gleicht und spurlos darin aufgeht, wirkliches Leben und daß eine abgesonderte Freude keine Freude ist, folglich waren Ente und Sprit, in der ganzen Stadt wohl nur hier vorhanden, kein Sprit und keine Ente. Das betrübte am meisten.78

Die Frage ist nicht mehr, ob die Umgebung durch die Gegenwart eines Einzelnen bereichert werden kann, sondern ob es ihm gelingt, in dieser Umgebung aufzugehen, ja in ihr „spurlos zu verschwinden“. Etwas Besonderes, so die Idee, bleibt nur insofern etwas Besonderes, wie es auf den Status seiner Besonderheit gerade verzichtet. Für die Verklärung ist schlicht der Rahmen abhanden gekommen. Nicht von ungefähr sind die Hauptkomponenten des Festessens (totes) Fleisch und hochprozentiger Alkohol. Die Luxusgüter verweisen in ihrer rohen Faktizität, so Olga 76 „Я помешан на вопросе о мимикрии, внешнем приспособлении организмов к окраске окружающей среды. Тут в этом цветовом подлаживании скрыт удивительный переход внутреннего во внешнее.“ „Ich bin versessen auf die Frage nach der Mimikry, die äußere Anpassung von Organismen an die Farbe ihrer Umgebung. In dieser farblichen Angleichung ist ein erstaunlicher Übergang von Innerem zu Äußerem verborgen.“ Doktor Živago, 405 (Doktor Shiwago, 558, modifiziert). 77 Doktor Živago, 174. 78 Doktor Shiwago, 238/239.

Der Roman Doktor Živago 367

Hughes-Raevsky, auf das Fehlen von Brot und Wein. Es gibt keinen Träger mehr, der, so wie das Brot und der Wein in der Eucharistie (gr. ‚Dankerweisung‘) – offen wäre für Verwandlung.79 Die Nähe zwischen Verklärung/Verwandlung und Mimikry in Doktor Živago ist von Susanna Witt festgestellt worden.80 Sie liest die Passagen über Jurijs Durchdringung mit Strahlen der Abendsonne als Mimikry an den ihn umgebenden Wald. Indem er die Strahlen „durch sich hindurchgehen lässt“, tue Živago nicht anderes, als eine Eigenschaft nachzuahmen, die in demselben Kapitel den Blättern im Wald zugeschrieben wird.81 Tatsächlich verkehrt sich die Verklärung (die Empfänglichkeit für Licht und dessen Weitergabe) in eine Strategie des Verschwindens. Bald nach der Passage über Živagos Durchdringung mit Licht heißt es im Partisanen-Kapitel: Доктор лег на шелковисто шуршавшую листву, положив подложенную под голову руку на мох, подушкой облегавший бугристые корни дерева. Он мгновенно задремал. Пестрота солнечных пятен, усыпившая его, клетчатым узором покрыла его вытянувшееся на земле тело, и сделала его необнаружимым, неотличимым в калейдоскопе лучей и листьев, точно он надел шапку невидимку.82 Der Arzt lag auf dem seidig raschelnden Laub, eine Hand unterm Kopf auf dem Moos, das wie ein Kissen auf den knotigen Wurzeln eines Baumes wuchs. Er schlief auf der Stelle ein. Die Buntheit der Sonnenflecke, die ihn eingeschläfert hatte, bedeckte seinen ausgestreckten Körper wie ein Tarnnetz und machte ihn unsichtbar, er war in dem Kaleidoskop von Strahlen und Blättern nicht zu unterscheiden.83

Die „Lichtsäulen“ verwandeln ihn nicht mehr in den ganzen Menschen zurück, der den Zeugen dieses Geschehens zum Vorbild würde, sondern das Licht verteilt sich in Form von Flecken über seinen Körper und macht ihn ununterscheidbar von der Natur. Schließlich verschwindet Živago, einen ihn umschwirrenden Schmetterling imitierend, „spurlos für den außenstehenden Blick“ („бесследно терялся […] для постороннего глаза“84). So wird das Hauptmerkmal der Verklärung, ihre paradoxe Unsichtbarkeit, vertauscht gegen die Technik der Mimikry, sich unsichtbar zu machen. Der Zusammenhang von Verklärung und Mimikry erscheint in Witts Studie als Strukturmerkmal des Romans, das sich aus Vladimir Solov’evs Ästhetik herleitet. Witt demonstriert dies an einer früheren Episode, der Hochzeitsfeier von Larisa 79 Vgl. Raevsky-Hughes, Olga: „Liturgičeskoe vremja i Evcharistija v romane Pasternaka Doktor Živago“, in: Gasparov/Hughes/Paperno/Raevsky-Hughes: Christianity and the Eastern Slavs, III, 302–324, hier 311/312. Siehe dazu bereits 1961 ausführlich Šmeman: „Pasternak“, 827. 80 Witt: Creating Creation, 94. 81 Ebd., 120. 82 Doktor Živago, 343/344. 83 Doktor Shiwago, 473. 84 Doktor Živago, 344.

368

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

Guichard und Pavel Antipov. Dort wird beschrieben, wie in den Morgenstunden, während die Hochzeitsgesellschaft betrunken weiter feiert, Diebe in die Wohnung eindringen und wie dabei auf wundersame Weise ausgerechnet der wertvollste Gegenstand, Laras diamantene Kette, von den Dieben übersehen wird. Sie bleibt für das „außenstehende Auge“ gerade dank ihrer besonderen Schönheit ununterscheidbar. Auf diese Weise verbindet sich im Diamant-Motiv Solov’evs Verklärungsästhetik mit dem Motiv der Camouflage, der Selbstverteidigung durch Verschwinden.85 Einen strittigen Punkt von Witts Interpretation sehe ich in der Prämisse, dass Pasternak bruchlos in Solov’evs Nachfolge stehe, also quasi ein unzeitgemäßer jüngerer Symbolist sei. Wie bereits erwähnt, erweist sich Solov’evs Verklärungskonzept, das in der Natur grundsätzlich ein Nichts sieht,86 als schwer vereinbar mit der ‚originellen‘ Verklärung in Doktor Živago. Daher würde ich die Mimikry-Figur und die Solov’ev-Referenzen nicht als Strukturmerkmal des Romans bewerten, sondern als Symptom der Krise im Leben des Helden. Für den auf evidenten Sinn angewiesenen Živago ist das „spurlose Verschwinden“ die einzige Möglichkeit, nach der Entleerung seines Lebens von jedem Sinn noch weiterzuleben.87 In dem Maße, wie für ihn die Mimikry zur zentralen Idee des Lebens und mithin seiner in Jurjatin gehaltenen Vorlesungen zur Medizin wird, muss er sich von der ihm gegebenen Verklärung entfernen. Das übergeordnete Thema des zweiten Teils des Romans ist daher der Abschied von der Verklärung.

Lara: Resubstitution des Logos durch die Sophia Auch eine auf das ‚Phänomen‘ des Protagonisten reduzierte Lektüre von Pasternaks Roman muss die Figur Laras mit berücksichtigen. Aleksandr Pjatigorskij, auf den ich mich schon verschiedentlich bezogen habe, hat die Tendenz, Lara zu einer trivialen Nebenfigur, zu einer „leer daher Redenden“ unter vielen zu machen.88 Wie aber lässt sich dann erklären, dass ausgerechnet in der zweiten Hälfte des Romans, die von Živagos allmählichem Verschwinden handelt, die Geliebte Lara und das Lie85 „Here the diamond participates in the depiction of a kind of ‚beauty in nature‘ and is connected to the mimicry theme. The failed burglary in the novel may be regarded as a demonstration of the life-creating/life-preserving potential of art that functions according to the mimicry principle.“ Witt: Creating Creation, 118/119. 86 Vgl. Vogt, Reinhold: Boris Pasternaks monadische Poetik. Frankfurt a. M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997, 152. 87 Vgl. Pjatigorskij: „Pasternak i doktor Živago“, 227: „Nachdem er jeglichen Sinnes verlustig gegangen ist, konnte er nicht mehr in das Leben ‚eintauchen‘ – er konnte sich nur noch in ihm ‚verlieren‘. Und so ist sein Verhältnis mit Larisa der erste ‚Verlust‘ im Leben, die Partisanenbrigade der zweite, und die Heirat mit Marina der dritte.“ 88 „[…] das ist brutal uninteressant.“ Pjatigorskij: „Pasternak i doktor Živago“, 227.

Der Roman Doktor Živago 369

besglück mit ihr derart präsent ist? Die Frage führt zu den Anfängen Pasternaks und dem Problem der Sophiologie zurück. Wir erinnern uns: Ein ausgesprochener Sophiozentrismus war der Grund gewesen, weshalb Pasternaks Schreiben das Licht, Signatur des Logos, immer wieder umgangen hatte. Samson Brojtman hat gezeigt, wie bei Pasternak aus der symbolistischen Fixation auf die fatale Sophia ein ‚intimes‘ Medium des Schöpferischen wird. In den ersten Kapiteln habe ich diesen Vorgang durch die Dämmerung hindurch bis in die Ereignis-Metaphysik des Licht-Regens von Sestra moja – žizn’ weiterverfolgt. Und wie wir gesehen haben, kommt auch Živagos Licht-Gewand nicht ohne eine solche, halb versteckte Sophianisierung aus. Lara wurde in der Literatur zweifach als Sophienfigur identifiziert: einmal durch den Vergleich mit Aleksandr Bloks Wunderschöner Dame, zum anderen durch die Parallelisierung mit Solov’evs Mythos von Fall und Erlösung der Sophia durch den Logos. Den ersten Weg hat Brojtman beschritten,89 den zweiten Reinhold Vogt.90 In Brojtmans Interpretation geht es – wir kennen die Denkfigur – um die Verinnerlichung der Sophiologie: Die Sophia sei kein Objekt männlichen Begehrens mehr, sondern sie durchdringe das Wesen des männlichen Helden und effeminiere es. Brojtman gelingt es zwar, die weiblichen Züge in der ‚originellen‘ Verklärung Živagos (das Licht-Gewand und das Lara-„Urbild“) plausibel zu machen. Allerdings kann mit einem solch geschwisterlich-harmonischen Verständnis des Weiblichen Laras eminente Körperlichkeit, ihre verhängnisvolle Erotik schwerlich erläutert werden. Mit Reinhold Vogts Interpretation, die die Sophia (Lara) klar vom Logos ( Jurij) getrennt vorstellt, ist es eher möglich, die Liebesgeschichte der beiden als Begegnung von Körper und Geist geltend zu machen. Doch auch hier stellt sich ein Problem: Kann Živago im zweiten Teil, dem eigentlichen Liebesdrama, tatsächlich als Logos bezeichnet werden – und konnte er es denn zuvor? Schon auf den ersten Seiten des Romans, wo es heißt, „могло показаться, что мальчик хочет сказать слово на материнской могиле“91 /„es konnte scheinen, dass der Junge auf dem mütterlichen Grab ein Wort sagen wollte“, sagte er in Wirklichkeit keines und weinte stattdessen im Regen stehend los. Beginnt nicht spätestens mit der Transformation der Verklärung zur Mimikry der Abschied vom privilegierten Status, Logos zu sein? Es steht außer Zweifel, dass Živago mit seinen Gedichten der Geliebten Lara Sprache angedeihen lässt und ihre schicksalhafte Körperlichkeit insofern „durchgeistigt“. Auf diesen metapoetischen Aspekt seines Logos-Lichts ist immer wieder hingewie-

89 Brojtmam, Samson: „A. Blok v ‚Doktore Živago‘ B.  Pasternaka“, in: ders.: Poėtika russkoj klassičeskoj i neklassičeskoj liriki. Moskva 2008, 257–267, hier 264. 90 So finden nach Vogt zwischen Živago und Lara nicht zufällig drei große Begegnungen statt – nach dem Vorbild von Solov’evs „Tri svidanija“. Vogt: Boris Pasternaks monadische Poetik, 169. 91 Doktor Živago, 6 (meine Hervorhebung – Ch. Z.).

370

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

sen worden.92 Dagegen hat Pjatigorskij in seiner Deutung den Aspekt der Erlösung (Laras) durch Poesie weitgehend ausgeklammert, um das eigentliche, von Pasternaks Dichter-Subjekt abgelöste Drama des Doktor Živago entwickeln zu können und ihn aus der kanonisierenden Perspektive seiner lesenden „Jünger“ Gordon und Dudorov im Epilog herauszulösen. Dabei hat Pjatigorskij, wie angedeutet, wohl wiederum zu sehr von Lara abstrahiert. Denn während Živago ihr außer seiner geheimnisvollen Präsenz wenig zu geben vermag, wird Lara im zweiten Teil regelrecht zu seiner Trägerin.93 Sie wird, für kurze Zeit, zur leiblichen Gestalt der Verklärung, die er nicht mehr ertragen kann. Für Gordon und Dudorov sind die Gedichte der „dinghafte Beweis“ der Verklärung ihres Meisters Živago, den sie zu Lebzeiten falsch einschätzen und sogar tadeln für seinen Lebenswandel. Für Živago bleibt der einzige Beweis für die Verklärung, die 1917 ihre Evidenz verlor, Lara. Nach seiner Rückkehr aus Sibirien ist er schwer krank und fällt in Fieberträume. Als er Lara in ihrer Wohnung gegenüber dem „Haus mit den Figuren“94 nicht finden kann, ruft er in der Verzweiflung aus: „Вскую отринул мя еси от лица Твоего, свете незаходимый? Отчего вас всю жизнь относит прочь, в сторону от меня? Отчего мы всегда врозь? Но мы

92 Vgl. u.a. Bethea: „Doctor Zhivago: The Revolution and the Red Crosse Knight“, 264/265; Masing-Delic, Irene: „Živago’s „Christmas Star“ as Homage to Blok“, in: Vickery, Walter (Hrsg.): Aleksandr Blok. Centennial Conference. Columbus, Ohio, 1984, 207–223, hier 210, 216; dies.: „Creating the Living Work of Art: The Symbolist Pygmalion and His Antecedents“, in: Paperno/Grossman: Creating Life, 51–82, hier 79; Vogt: Boris Pasternaks monadische Poetik, 205; Livingstone, „Unexpected Affinities between Doktor Zhivago and Chevengur“, 203. 93 Verglichen mit der Fleischlichkeit Komarovskijs wirkt Živagos Unkörperlichkeit für Lara befreiend. Vgl. Masing-Delic, Irene: „Larissa – Lolita, or Catharsis and Dolor in the Artist-Novels Doktor Zhivago and Lolita“, in: Fleishman: Eternity’s Hostage, II, 396–424, hier 406/407. Inwiefern übrigens Jurijs und Laras gemeinsame Tochter, die Wäschewascherin Tan’ka Bezočeredova – jene buchstäblich orientierungslos (‚без очереди‘) gewordene Tat’jana Larina –, das sophio-logische Erbe weitertragen kann, wäre näher zu untersuchen. 94 Vogt versteht das dunkle „Haus mit den Figuren“ als das von der göttlichen Weisheit erbaute Haus mit sieben Säulen: „Антипова жила на углу Купеческой и Новосвалочного переулка, против темного, впадавшего в синеву дома с фигурами, теперь впервые увиденного доктором. Дом действительно отвечал своему прозвищу и производил странное, тревожное впечатление.“ „Antipova wohnte in der Kupetscheskaja-Straße, Ecke Nowoswalotschny-Gasse, gegenüber dem dunklen, jetzt blau erscheinenden Haus mit den Figuren, das Doktor Shiwago zum erstenmal sah. Es entsprach tatsächlich seinem Namen und machte einen merkwürdigen, bedrohlichen Eindruck.“ Doktor Živago, 292 (Doktor Shiwago, 401/402, modifiziert). Dass Lara zwar in der Nähe, aber doch außerhalb „ihres“ Palastes wohnt, veranschaulicht, so Vogt, die „Exilsituation“ der Weisheit nach der Revolution. Vogt: Boris Pasternaks monadische Poetik, 170/171.

Der Roman Doktor Živago 371

скоро соединимся, съедемся, не правда ли?“95 „Warum hast du mich verstoßen von deinem Angesicht, du unvergängliches Licht? Warum treibt es euch das ganze Leben lang immer wieder weg von mir? Warum sind wir fortwährend getrennt? Aber bald werden wir wieder beisammen sein, vereint, nicht wahr?“ Das Licht ist ihm, dem Eingeweihten, von dem es im ersten Teil des Romans noch hieß, „все на свете, все вещи были словами его словаря“96  / „alles auf der Welt [im Lichte], alle Dinge waren Wörter seines Wörterbuchs“, unzugänglich geworden. Das Urbild scheint sich aus ihm zurückgezogen und von ihm abgewandt zu haben. Doch der Himmel kehrt nach einer Phase der Bewusstlosigkeit und ständigen Pflege Laras zu ihm zurück. Es gibt, genauer gesagt, den Himmel nur mehr insofern, wie Lara ihn irdisch werden lässt und leiblich überbringt: В недавнем бреду он укорял небо в безучастии, а небо всею ширью опускалось к его постели, и две большие, белые до плеч, женские руки протягивались к нему. У него темнело в глазах от радости, и, как впадают в беспамятство, он проваливался в бездну блаженства.97 In seinen Fieberphantasien hatte er den Himmel der Teilnahmslosigkeit geziehen, und da hatte sich der Himmel in seiner ganzen Weite auf sein Bett herabgesenkt, und zwei lange weiße Frauenarme streckten sich nach ihm aus. Vor Glück wurde ihm schwarz vor Augen, und so wie man in Ohnmacht fällt, sank er in einen Abgrund der Seligkeit.98

Lara bringt Jurij sein Licht zurück, ohne ihrerseits Licht zu sein. Vielleicht deshalb heißt es, seine Sicht „verdunkele“ sich vor Glück, und er verschwinde in einem „Abgrund der Seligkeit“. Mehrere Stellen belegen, dass Jurij grundsätzlich der Helle bleibt und Lara ihren körperlich-dunklen Hang zum Abgrund behält. So sagt er einmal: „Я хотел сказать, что ревную тебя к темному, бессознательному, к тому, о чем немыслимы объяснения, о чем нельзя догадаться.“99 „Was ich sagen wollte, ist, ich bin eifersüchtig auf das Dunkle, Unbewusste in dir, auf das, was zu erklären undenkbar, was nicht zu erraten ist.“ Später spricht Živago, scheinbar im Widerspruch dazu, von Laras „Licht der Bezauberung“, das ihn vor vielen Jahren, in der Nacht von Madame Guichards Selbstmordversuch, angesteckt habe:

95 Doktor Živago, 387 (Doktor Shiwago, 534). Zum liturgischen Zitat vgl. den Kommentar in PSS, IV, 711. 96 Doktor Živago, 91. 97 Ebd., 392. Vgl. dazu das Gedicht „Ob’’jasnenie“ / „Erklärung“: „А я пред чудом женских рук, / Спины, и плеч, и шеи / И так с привязанностью слуг / Весь век благоговею.“ „Mich wird des Weibes Wunderkraft / Mit Hals und Arm und Rücken / Auch so zu treuster Dienerschaft / Mein Leben lang entzücken.“ Ebd., 522 (übers. v. Rolf-Dietrich Keil, in: Pasternak, Boris: Doktor Schiwago. Übertr. v. Reinhold von Walter. Frankfurt a. M. 1958, 615). 98 Doktor Shiwago, 540. 99 Doktor Živago, 398 (Doktor Shiwago, 548).

372

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

Ты тогда ночью, гимназисткой последних классов, в форме кофейного цвета, в полутьме за номерной перегородкой, была совершенно тою же, как сейчас, и так же ошеломляюще хороша. Часто потом в жизни я пробовал определить и назвать тот свет очарования, который ты заронила в меня тогда, тот постепенно тускнеющий луч и замирающий звук, которые с тех пор растеклись по всему моему существованию и стали ключом проникновения во все остальное на свете, благодаря тебе.100 Damals in der Nacht, als Gymnasiastin der höheren Klassen, im braunen Schulkleid, im Halbdunkel hinter der Trennwand im Hotelzimmer, warst du vollkommen die gleiche wie jetzt, genauso bestürzend schön. Später im Leben habe ich oft versucht, das Licht der Verzauberung zu bestimmen und zu benennen, das damals von dir auf mich überging, den allmählich matter werdenden Strahl und den ersterbenden Laut, die seither in meinem ganzen Dasein verflossen und dank dir zum Schlüssel für alles übrige auf der Welt wurden.101

Doch der Ausdruck „постепенно тускнеющий луч“ belegt, dass es sich nicht um ein Verklärungslicht handelt. Das Verb растечься bestätigt dies zusätzlich. Das Licht der Bezauberung „zerfloss“ in ihm. Laras Licht wohnte jene Finsternis inne, mit der bei Pasternak das Element des Wassers stets verbunden ist. Insofern ist sie dem lyrischen Subjekt von Sestra moja – žizn’ näher, als es Živago ist. Die unumgängliche Abdunkelung des Lichts durch das Wasser ist für sie so charakteristisch wie für den Helden des Gedichtbuchs aus den 1910er Jahren, wohingegen Živago die Abdunkelung äußerlich bleibt. Lesen wir weiter: Когда ты тенью в ученическом платье выступила из тьмы номерного углубления, я, мальчик, ничего о тебе не знавший, всей мукой отозвавшейся тебе силы понял: эта щупленькая, худенькая девочка заряжена, как электричеством, до предела, всей мыслимою женственностью на свете. Если подойти к ней близко или дотронуться до нее пальцем, искра озарит комнату и либо убьет на месте, либо на всю жизнь наэлектризует магнетически влекущейся, жалующейся тягой и печалью. Я весь наполнился блуждающими слезами, весь внутренне сверкал и плакал. Мне было до смерти жалко себя, мальчика, и еще более жалко тебя, девочку. Все мое существо удивлялось и спрашивало: если так больно любить и поглощать электричество, как, вероятно, еще больнее быть женщиной, быть электричеством, внушать любовь. Вот, наконец, я это высказал. От этого можно с ума сойти. И я весь в этом.102 Als du wie ein Schatten im Schulkleid aus der Dunkelheit des Hotelzimmers hervortratst, habe ich, ein Knabe, der nichts von dir wußte, mit der ganzen Qual der auf dich antwortenden Kraft begriffen: Dieses zierliche, schmale Mädchen ist bis ans äußerste aufgeladen mit aller Weiblichkeit der Welt wie mit elektrischem Strom. Wenn ich zu ihr trete oder sie mit dem Finger berühre, wird ein Funke das Zimmer erleuchten und mich entweder auf der Stelle töten oder mich fürs ganze Leben elektrisieren mit magnetisch anziehender, klagen100 Doktor Živago, 424. 101 Doktor Shiwago, 584, modifiziert. 102 Doktor Živago, 424.

Der Roman Doktor Živago 373 der Zuneigung und Trauer. Ich war voll von verworrenen Tränen, und innerlich habe ich gestrahlt und geweint. Ich tat mir selber tödlich leid, ich der Junge, und noch mehr tatst du mir leid, das Mädchen. Mein ganzes Wesen staunte und fragte: Wenn es dermaßen weh tut, zu lieben und Elektrizität aufzunehmen, wieviel mehr weh muß es tun, eine Frau zu sein, Elektrizität zu sein, Liebe einzuflößen? So, nun ist es endlich gesagt. Es ist zum Verrücktwerden. Und ich bin ganz gefangen darin.“103

Laras „Elektrizität“, man darf wohl sagen: ihre Sophianizität, ist eine dunkle Kraft. In Živagos Geständnis ist damit die Gegenüberstellung zweier Kräfte impliziert. Komplementär zum abgründigen ‚Ewigweiblichen‘ wird die These von seiner Lichtnatur bekräftigt. Wie verhalten sich die beiden Kräfte zueinander? Das Verklärungslicht zeichnet sich durch die Abwesenheit von Sehnsucht aus, es ist etwas immer schon Dagewesenes, Bleibendes. Im Kontrast dazu ist die von Živago glorifizierte Kraft des Ewigweiblichen vor allem durch ein unendliches Sich-Sehnen charakterisiert. Ohne die Sehnsucht ist jedoch auch Živagos Idee des Übergangs in Fremdes, des Verschwindens in den Anderen nicht realisierbar.104 Das wiederum heißt, dass er in einem ganz grundlegenden Sinne auf Lara angewiesen ist. Seine Vorstellung von der Veräußerung des Bewusstseins und vom „Leben in den Anderen“ ist nur dann realistisch, wenn zur Verklärtheit die ‚weibliche‘ Unerfülltheit hinzutritt.105 Hier wird erst deutlich, in welcher Weise die Begriffe Verklärung und Mimikry mit der Sophiologie zusammenhängen. Živagos Ur-Verklärung verwandelt sich infolge der Krise, des „Schrumpfens des Geistes“106, in das Postulat der Mimikry. Voraussetzung dafür ist die Begegnung mit Lara, denn erst sie lässt sein „Wissen“ Raum greifen. Sie steht am Anfang seines Dramas, doch genauso sehr verkörpert sie das Prinzip, ohne das sich das Drama nicht in ein Zeugnis der Liebe verkehren könnte. Živago ist das Licht, und Lara fängt es auf mit ihrer ‚wässrigen‘ Stimme: „– А ты все горишь и теплишься, свечечка моя яркая! – влажным, заложенным от спанья шопотом тихо сказала она. – На минуту сядь поближе, рядышком. Я расскажу 103 Doktor Shiwago, 584/585. 104 Bezeichnenderweise findet sich die berühmte Strophe über das „Leben als Gabe“ in einem Gedicht („Svad’ba“ / „Hochzeit“), das nicht von Živago handelt: „Жизнь ведь тоже только миг, / Только растворенье / Нас самих во всех других / Как бы им в даренье.“ „Leben ist ja auch nicht mehr / Als ein Nu, ein Schwinden / Unser selbst in all’n umher / Als ihr Angebinde […].“ Doktor Živago, 526 (übers. v. Rolf-Dietrich Keil: Doktor Schiwago, 619). Siehe Kreps, Michail: „Žizn’ kak dar“, in: ders.: Bulgakov i Pasternak kak romanisty. Analiz romanov „Master i Margarita“ i „Doktor Živago“. Ann Arbor 1984, 37–44, hier 42/43. 105 Mit dieser Präzisierung wird Guy de Mallacs Einschätzung verständlich: „Pasternaks Religion ist eher aktiv als kontemplativ, und sie ist gekennzeichnet durch die Bewegung von innen ad extra: eine großmütige Spannung des einen Menschen zu den anderen.“ Mallac: „Ėstetičeskie vozzrenija Pasternaka“, 76. 106 Pjatigorskij: „Pasternak i doktor Živago“, 228.

374

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

тебе, какой сон видела. / И он потушил лампу.“107 „‚Du brennst und leuchtest immerzu, mein reines Licht!‘ sagte sie leise mit feuchter, vom Schlaf belegter Stimme. ‚Setz dich für einen Moment zu mir. Ich will dir erzählen, was ich geträumt habe.‘ / Er löschte die Lampe.“ Wie diese kurze Szene geradezu plakativ verdeutlicht, ist Živago bereit, auf sein ‚reines Licht‘ zu verzichten: es Lara zu leihen. Das Auftreten der neuen Sophienfigur Larisa Antipova bedeutet eine Rückkehr des Licht-Regens, nachdem dieser sich zwischen 1930 und 1945 weitgehend aus Pasternaks Schreiben zurückgezogen hatte. So wie man sagen kann, dass Živago, Träger der Ur-Verklärung, Pasternaks Originalitäts-Ästhetik existenzialisiert, so wird das ephemere Symbol des Licht-Regens in Lara zu einer personifizierten Realität. Živago wird sich dessen bewusst, als er ihr in Jurjatin nach dem gemeinsamen Dienst an der Front im Ersten Weltkrieg wieder begegnet. Lara lese so, wie sie das Wasser trage, und sie trage das Wasser so, wie sie lese. Ihre Lebensform ist ‚in sich gegenseitig‘ wie die wechselseitige Durchdringung von Licht und Wasser. Živagos denkt sich: «В читальне я сравнивал увлеченность ее чтения с азартом и жаром настоящего дела, с физической работой. И наоборот, воду она носит, точно читает, легко, без труда. Эта плавность у нее во всем. Точно общий разгон к жизни она взяла давно, в детстве, и теперь все совершается у нее с разбегу, само собой, с легкостью вытекающего следствия. Это у нее и в линии ее спины, когда она нагибается, и в ее улыбке, раздвигающей ее губы и округляющей подбородок, и в ее словах и мыслях».108 Im Lesesaal habe ich ihr hingebungsvolles Lesen mit physischer Arbeit verglichen. Und siehe da, sie trägt das Wasser genauso, wie sie liest, leicht und mühelos. Diese Leichtigkeit hat sie in allem. Es scheint, daß sie schon als Kind einen grundlegenden Anlauf ins Leben genommen hat und jetzt alles aus diesem Schwung heraus verrichtet, wie von selbst, mit der Leichtigkeit einer logischen Schlußfolgerung. Das hat sie auch in der Rückenlinie, wenn sie sich bückt, in ihrem Lächeln, das ihre Lippen öffnet und das Kinn rundet, und in ihren Worten und Gedanken.109

Lara synthetisiert in sich das lichte, nah mit Živago verbundene Element des Logos mit der Flüssigkeit von Wasser. Im zweiten Teil von Doktor Živago wird es geradezu zu einem Wesenszug von Lara, in stets neuen Umständen den Licht-Regen als „verwässerte“ Sprache zu vergegenwärtigen. Der ohnehin lichte Logos wird immer neu „durchnässt“, also sophiologisch eingefangen. Es ist bemerkenswert, wie sehr Živago bereit ist, Lara die „Gabe des Logos“ zu überlassen. Sie ist damit, bei all ihrer weiblichen „Flüssigkeit“, auch das Sprachrohr des Lebens: А чем является она для него […]? О, на этот вопрос ответ всегда готов у него. Вот весенний вечер на дворе. Воздух весь размечен звуками. Голоса играющих детей разбросаны в местах разной дальности, как бы в знак того, что пространство 107 Doktor Živago, 436 (Doktor Shiwago, 601). 108 Doktor Živago, 294. 109 Doktor Shiwago, 404.

Der Roman Doktor Živago 375 все насквозь живое. И эта даль – Россия [vgl. ‚Лариса‘], его несравненная, за морями нашумевшая, знаменитая родительница, мученица, упрямица, сумасбродка, шалая, боготворимая, с вечно величественными и гибельными выходками, которых никогда нельзя предвидеть! О как сладко существовать! Как сладко жить на свете и любить жизнь! О как всегда тянет сказать спасибо самой жизни, самому существованию, сказать это им самим в лицо! Вот это-то и есть Лара. С ними нельзя разговаривать, а она их представительница, их выражение, дар слуха и слова, дарованный безгласным началом существования.110 Aber was war sie denn für ihn? Oh, auf diese Frage hatte er stets eine Antwort bereit. Draußen der Frühlingsabend. Die Luft war ganz und gar von Geräuschen markiert. Die Stimmen der spielenden Kinder waren auf verschiedene Entfernungen verteilt wie zum Zeichen dafür, daß der Raum noch durch und durch lebendig war. Und diese Ferne – Rußland, seine unvergleichliche, in aller Welt von sich reden machende, berühmte Mutter, die Märtyrerin, dickköpfig, unvernünftig, übermütig, vergöttert, immer wieder gut für majestätische und verhängnisvolle Ausbrüche, die sich nie voraussehen ließen! Wie süß war es zu existieren! Wie süß war es, auf der Welt zu leben und das Leben zu lieben! Wie gern war man jederzeit bereit, dem Leben, dem Dasein selbst danke ins Gesicht zu sagen! Das alles war Lara. Mit dem Leben, dem Dasein konnte man nicht reden, aber sie war deren Vertreterin, deren Ausdruck, deren Gehör und Sprache, ein Geschenk der stimmlosen Daseinsprinzipien.111

Um sich bei jemandem für das Leben bedanken zu können, benötigt Živago Lara. Genau hierin liegt auch der Zusammenhang mit dem Weihnachts-Strang des Textes. Weihnachten (Рождество) wird im wörtlichen Sinne als „Geburtstag“ verstanden, quasi als Hochfest des Anfangs. An Weihnachten werden der absolute Anfang („und es begann der Mensch“) und der Ausgang aus dem Nichts gefeiert. So sagte Živago unmittelbar vor der Weihnachtsfeier bei den Sventickijs (Kapitel III) zu seiner Schwiegermutter: „Вот вы опасаетесь, воскреснете ли вы, а вы уже воскресли, когда родились, и этого не заметили.“112 „Sie denken ängstlich darüber nach, ob Sie auferstehen werden, dabei sind Sie schon auferstanden, als Sie geboren wurden, Sie haben es nur nicht bemerkt.“ Die Geburt (рождение) war bereits die Auferstehung aus dem Nichts. John Wain hat zu diesen bekannten Seiten, auf denen Živago sein Christentum minus Unsterblichkeit darlegt, scharfsinnig angemerkt: „At first sight this looks like an activist doctrine resembling official Marxist and Communists attitudes to a human life.“113 Eine nachgerade allergische Reaktion auf die Lehre von der persönlichen Unsterblichkeit lässt sich bei Pasternak bis in Notizen

110 Doktor Živago, 388. Zu Larisa als Rossija / Russland vgl. Sicher: „The father, the son and Holy Russia: Boris Pasternak, Hermann Cohen and the religion of ‘Doctor Zhivago’“, 160. 111 Doktor Shiwago, 535/536. 112 Doktor Živago, 69 (Doktor Shiwago, 93). 113 Wain, John: „The Meaning of Dr Zhivago“, in: ders.: A House for the Truth. Critical Essays. London/Basingstoke 1972, 128–160, hier 133

376

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

aus seiner Studienzeit zurückverfolgen.114 1936 nannte er im Schriftstellerverband vor den Genossen die Unsterblichkeit der Seele in tatsächlich marxistischer Manier „ложн[ая] постройк[а]“115 / einen „lügenhaften Überbau“. Und gleichwohl ist Živagos Standpunkt nicht einfach materialistisch.116 Sein Argument lautet, dass es keinen Tod geben werde,117 weil die Geburt stärker sei als der Tod, der Anfang größer als das Ende und – die Originalität stärker als die Routine. Wie Pasternak 1949 von sich behauptete, war er derart von der Kunst „gesteuert“ („управляет мною“), wie es Menschen früherer Epochen von religiösen Überzeugungen (eben dem Glauben an die Unsterblichkeit) gewesen seien.118 Die Religiosität von Doktor Živago ist damit grundsätzlich eine säkularisierte Kunst-Religiosität. Aber sie ist nicht nur das. Sie ist auch eine poetisch ‚sprechende‘ Metaphysik. Darauf möchte ich nun zu sprechen kommen. An Weihnachten wird, nach Živagos Lebens-Wissenschaft, in Wirklichkeit auch schon Ostern gefeiert. Der „Stern der Geburt“ ist schon das Licht der Auferstehung.119 Diesem durch Geburt und Auferstehung doppelt bezeichneten absoluten Anfang will Živago seinen Dank erweisen. Er will sich bedanken dafür, dass es nicht bloß die „Bestialität des Faktums“ gebe (um Pasternaks Ausdruck von 1933 noch einmal zu zitieren), dass in allem Faktischen zugleich ein Mysterium präsent sei – ein Heraustreten aus dem Nichts. So sagt Gordon einmal zu Živago: „Вот ты говорил, факт бессмысленен, если в него не внести смысла. Христианство, мистерия личности и есть именно то самое, что надо внести в факт, чтобы он 114 Siehe „Iz studenčeskich tetradej“ [1911], PSS, V, 290. 115 „Vystuplenie na III plenume pravlenija sojuza pisatelej SSSR“, 235. 116 Der naheliegendste Bezug dieser Stelle ist der Auferstehungs- und Lebensbegriff Lev Tolstojs. Am Ende seines Tagebuchs von 1895 hält Tolstoj, ein Christus-Wort ( Joh 11, 25) auf sich selbst anwendend, fest: „Всё дело в том, чтобы всегда помнить, кто ты. […] Я воскрес[ение] и жизнь.“ „Alles hängt davon ab, ob du dich jederzeit erinnerst, wer du bist. Ich bin Auferstehung und Leben.“ Tolstoj: Polnoe sobranie sočinenij, T. 53, 76. 117 1946, ganz am Anfang der Entstehung des Romans, war auf dem zweiten Titelblatt gestanden: „Смерти не будет“ / „Es wird keinen Tod mehr geben“. Vgl. Borisov/Pasternak, Evg.: „Materialy k tvorčeskoj istorii romana B. Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, 224. 118 Brief vom 5. April 1949 an Nina Tabidze, PSS, IX, 563. 119 Georges Nivat bezeichnet Weihnachten bei Pasternak als Fest des Morgens, des Lichts und der Kindheit – also des Anfangs –, und erklärt die Aussparung von Ostern damit, dass Pasternaks Christentum „sans tragique“ sei. Nivat, Georges: „Les matins de Pasternak“, in: Aucouturier: Boris Pasternak, 1890–1960, 361–372, hier 369–371. Dagegen wendet Andrej Sinjavskij in der Diskussion ein, Ostern werde deshalb ausgespart, weil es, als zentrales Geheimnis des Christentums, in der Literatur nicht darstellbar sei. Ebd., 426. Ich meine, dass Ostern in Doktor Živago vor allem deshalb kein ‚Thema‘ ist, weil es nach Živago zusammen mit Weihnachten und der Verklärung bereits stattgefunden hat. Zu diesem Verständnis siehe auch den Hinweis bei Borisov/Pasternak, Evg.: „Materialy k tvorčeskoj istorii romana B. Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, 225.

Der Roman Doktor Živago 377

приобрел значение для человека.“120 „Du hast gesagt, daß ein Fakt sinnlos ist, wenn man keinen Sinn in ihn hineinbringt. Das Christentum, das Mysterium der Persönlichkeit ist eben das, was man in den Fakt einbringen muß, damit er für den Menschen Sinn gewinnt.“ Auch an dieser Stelle kommt es in Doktor Živago zu einer Existenzialisierung: Die Kritik, die Pasternak in Ochrannaja gramota im Namen der „Kraft“-Ästhetik an der Literatur des Faktums übte, wird im Namen des Christentums auf ein faktenorientiertes, feststellendes Denken, Leben und Politisieren überhaupt ausgedehnt. Mit seinem fortwährenden Danksagen versucht Živago die Faktenoberfläche der Dinge zu überwinden. Genau das meint Raevsky-Hughes mit dem Begriff des „eucharistischen“ Lebensvollzugs von Pasternaks Held.121 Wenn sich Lara im zweiten Teil des Romans als „Stellvertreterin“ der „stummen Prinzipen“ des Lebens erweist, an die er seinen Dank persönlich adressieren kann, so hat dies mit dem „Stern der Geburt“ zu tun: Auf dem Weg zur Weihnachtsfeier bei den Sventickijs hatte er als junger Mann im Kamergerskij pereulok durch ein vereistes Fenster eine Kerze brennen sehen, deren Licht sich ihm unauslöschlich einprägte. Hinter diesem Fenster, in der Wohnung ihres Bräutigams Antipov, hatte sich damals Lara befunden. Jahre später würde Živago selbst nach seinem Tod unter verworrenen Umständen in ebendieser Wohnung aufgebahrt werden. Das Kerzenlicht, das sich durch die Eisschicht brennt, winterlicher Licht-Regen, markiert zwischen den beiden einen Anfang, ohne dass sie es merken: „Сквозь эту скважину просвечивал огонь свечи, проникавший на улицу почти с сознательностью взгляда, точно пламя подсматривало за едущими и кого-то поджидало.“122  / „Durch dieses Loch schimmerte eine Kerzenflamme, die fast mit der Bewußtheit eines Blicks auf die Straße drang, als beobachte das Flämmchen die Vorüberfahrenden und warte auf jemand.“ Mit dem Gedicht „Zimnjaja noč’“ / „Winternacht“ bedankt sich Živago auch für dieses Licht. Lara, nach Solov’evs Sophienmythos die Verdunkelte und zu Verklärende, wird also zur Stellvertreterin mit der „Gabe des Gehörs und des Wortes“. Am Schluss dann, als Živago im Kamergerskij pereulok auf dem Totenbett liegt, spricht die zufällig aus Sibirien angereiste Lara ein letztes Mal zu ihm, und interessanterweise erscheint in ihrer Abschiedsrede auf einmal Živago auf der Seite des Wassers: „[…] прощай, моя быстрая глубокая реченька, как я любила целодневный плеск твой, как я любила бросаться в твои холодные волны.“123 „[…] leb wohl, mein tiefer, reißender Fluß, wie liebte ich dein tagelanges Plätschern, wie gern warf ich mich in deine kalten Wellen.“ Selbst seine durchaus logoshafte Kompetenz in der Okulis-

120 121 122 123

Doktor Živago, 124 (Doktor Shiwago, 168). Hughes-Raevsky: „Liturgičeskoe vremja i Evcharistija v romane Pasternaka Doktor Živago“. Doktor Živago, 82 (Doktor Shiwago, 112). Doktor Živago, 498 (Doktor Shiwago, 687).

378

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

tik124 beschränkt sich nun metaphorisch auf ein „Austräufeln“ von Tropfen, die Lara nicht sehend machen, sondern ihr den Blick vielmehr verschwimmen lassen: „[…] она обвела толпу взглядом, надломленным болью, невидящим и полным слез, как от накапанных окулистом жгучих глазных капель […].“125 „[…] sie [blickte] über die Menge hin, und ihr Blick war gebrochen vom Schmerz, war blind und voller Tränen, als hätte ein Augenarzt brennende Tropfen hineingeträufelt […].“ Der verstorbene Okulist Živago kann Lara nur noch in einem helfen: zu weinen und die Sicht zu verlieren. Es ist, als würde sie seine Botschaft, dass er sich von der Verklärung und seiner Eingeweihtheit ins „Wörterbuch“ der Dinge verabschiedet habe, intuitiv verstehen. Umso stärker ist Lara in der Szene mit dem Licht verbunden. Zunächst versucht sie, sich die Details des Gesprächs mit Antipov an demselben Ort vor mehr als fünfzehn Jahren in Erinnerung zu rufen, „но [она] ничего не могла припомнить, кроме свечи, горевшей на подоконнике, и протаявшего около нее кружка в ледяной коре стекла“126  / „aber ihr fiel nur noch die Kerze ein, die auf dem Fensterbrett brannte und ein rundes Loch in die Eiskruste der Scheibe geschmolzen hatte.“ Bleibend ist nur das Licht des Anfangs. Die unfreiwillige Reduktion der Umstände auf das Kerzenlicht demonstriert noch einmal die ‚Originalität‘ des Lebens: Weihnachten als Ostern, Geburt als Auferstehung. Die Details werden unwichtig. Von Bedeutung ist die Kerze als solche, denn aus ihrem „fast bewussten“ Lichtschein („почти с сознательностью взгляда“) entstand die Begegnung von Jurij und Lara.127 Ihre letzten Worte an Živagos Sarg folgen der Logik des Licht-Regens: „Казалось, именно эти мокрые от слез слова сами слипались в ее ласковый и быстрый лепет, как шелестит ветер шелковистой и влажной листвой, спутанной теплым дождем.“128 „Es schien, als flössen ihre tränennassen Wörter von selbst zusammen zu einem zärtlichen, hastigen Gestammel, so wie der Wind das von einem warmen Regen verwirrte seidige, nasse Laub bewegt.“ Živago ist nur mehr im feuchten Element der Licht-Regen-Verbindung, im „Austräufeln“, präsent. Die Geschichte, wie er sich mit Bedacht vom Licht distanzierte, möchte ich im Folgenden nachzeichnen.

124 Als ausgezeichneter Kenner der „Okulistik“ wird Živago am Anfang des Romans eingeführt: „[…] глаз он знал с доскональностью будущего окулиста.“ „[…] er [kannte] das Auge so gründlich wie ein Augenarzt.“ Doktor Živago, 80 (Doktor Shiwago, 109). 125 Doktor Živago, 497 (Doktor Shiwago, 684/685). 126 Doktor Živago, 496 (Doktor Shiwago, 684). 127 Zum beleuchteten Lichtkreis in der Dunkelheit als Leitmotiv für „zeitliche Kontrapunkte“, d.h. unbewusste Begegnungen scheinbar getrennter Realitäten, vgl. Gasparov: „Vremennoj kontrapunkt“, 346/347. 128 Doktor Živago, 498 (Doktor Shiwago, 687).

Der Roman Doktor Živago 379

Die Absage an die Revolution und das Paradox der Auferweckung Živagos Verzicht auf die Verklärung geht die Absage an den Umbau des Lebens und die Aufklärungsrhetorik voraus. Schon recht früh, zu einem Zeitpunkt, als er noch auf der Seite der Revolution steht, kommt es zu einer symptomatischen Meinungsverschiedenheit mit seinem Onkel. Der aus der Schweiz zurückgekehrte Nikolaj Vedenjapin, inzwischen zum Anhänger der Bolschewisten geworden, spricht von einem „переворот, который выведет народ к свету и все поставит на свое место“129 / einem „Umsturz, der das Volk zum Licht führen und alles zurechtrücken wird.“ In seiner Entgegnung kritisiert Jurij die aufklärerische Lichtrhetorik noch nicht explizit. Er weist den Onkel lediglich darauf hin, dass die Dinge keinen festen Platz hätten, dass sich alles in einem ständigen Fluss befinde und es daher gar kein Wissen darüber gebe, wo die Dinge in Wirklichkeit „hingehörten“. Eine Revolution könne einzig den schon gegebenen Fluss der Wirklichkeit zum Überborden bringen und ihn in eine Überschwemmung verwandeln.130 Živago kritisiert das Aufklärungsprojekt der Revolution dann unter dem Eindruck der Begegnung mit der Krankenschwester Antipova an der Front in Meljuzeevo aus einem lebensphilosophischen, anti-mechanistischen Standpunkt.131 Symptomatisch für den Konflikt ist, wenn auch hier noch implizit, die Verwendung des Lichts. Das Licht der revolutionären Rhetorik ist weder der stille Glanz der Ur-Verklärung noch das leiblich gewordene Licht des Licht-Regens, sondern jenes der strahlenden Zukunft. In seinem Tagebuch versucht Živago sich seiner Position zu vergewissern:

129 Doktor Živago, 178 (meine Hervorhebung – Ch. Z.; Doktor Shiwago, 244). 130 Doktor Živago, 180. 131 Vgl. Masing-Delic, Irene: „Bergsons ‚Schöpferische Entwicklung‘ und Pasternaks ‚Doktor Zhivago‘“, in: Reissner, Eberhard (Hrsg.): Literatur und Sprachentwicklung in Osteuropa im 20. Jahrhundert. Ausgewählte Beiträge zum Zweiten Weltkongress für Sowjet- und Osteuropastudien. Berlin 1982, 112–131; und Mallac, Guy de: „Zhivago versus Prometheus“, in Books Abroad 44, 2 (1970), 227–231, hier 227. Livingstone sieht in der bergsonistischen Prozessualität von Živagos Wahrnehmung auch eine Stellungnahme gegen den faustischen Wunsch, den „Augenblick“ anzuhalten. Livingstone: „Pasternak and Faust“, 360. Zur Etymologie des erfundenen Ortsnamens Meljuzeevo vgl. den Kommentar von Michail Bezrodnyj und Renata von Maydell in Pasternak, Boris: Doktor Shiwago. Roman. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Düsseldorf/Zürich 1997, 780. Durch den Anklang an die mythische Wasserfee Melusine ist der Ort mit dem Element des Wassers verbunden. Insofern ist auch die Wiederbegegnung mit Lara und ihrem sophianischen „Wasserzeichen“ (Doktor Živago, 150) an diesem Ort vorgeprägt. Vgl. dazu Smirnov, Igor’: Roman tajn „Doktor Živago“. Moskva 1996, 94. Zuerst über Lara und das Wasser schrieb Wilson, Edmund: „Legend and Symbol in Doctor Zhivago“ [1959], in: ders.: The Bit Between My Teeth. A Literary Chronicle of 1950–1965. New York 1965, 447–472, hier 459–463.

380

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

Что же мешает мне служить, лечить и писать? Я думаю, не лишения и скитания, не неустойчивость и частые перемены, а господствующий в наши дни дух трескучей фразы, получивший такое распространение, – вот это самое: заря грядущего, построение нового мира, светочи человечества. Послушать это, и поначалу кажется, – какая широта фантазии, какое богатство! А на деле оно именно и высокопарно по недостатку дарования.132 Was hindert mich, zu arbeiten, zu heilen und zu schreiben? Ich denke, nicht die Entbehrungen und das Wanderleben, nicht die Unsicherheit und die häufigen Veränderungen, sondern der heutzutage dominierende Geist der tönenden Phrase, der solche Verbreitung gefunden hat, diese: Morgenröte der Zukunft, Aufbau der neuen Welt, Fackel der Menschheit. Wenn man das hört, denkt man zunächst, welche Breite der Phantasie, welcher Reichtum! In Wirklichkeit ist das so hochtrabend aus Mangel an Talent.133

Das Problem der Revolution ist nach Živago ihre Talentlosigkeit, und das heißt in seinem Verständnis die Unfähigkeit, dem Leben in Dankbarkeit zu „dienen“. So verhält es sich auch mit dem Revolutionär Antipov-Strel’nikov. Obwohl oder gerade weil er „с малых лет стремился к самому высокому и светлому“134  / „von jungen Jahren an zum Höchsten und Lichtesten strebte“, ist er unfähig, wirklich Neues zu schaffen und Gutes zu tun, da ihm die „Gabe des Unverhofften“ („дар […] нечаянности“) fehlt und er letztlich nur „allgemeine Fälle“ („общи[е] случа[и]“) kennt.135 Er verbleibt im pejorativen Sinne Henri Bergsons im „Symbolischen“, d.h. Schematischen.136 Er kommt nie zum Leben selbst, so rein seine Liebe zu Lara und sein Wille sie zu rächen auch sein mögen. Wenn er beschließt, „стать […] судьей между жизнью и коверкающими ее темными началами“137 / „Richter zu werden zwischen dem Leben und den dunklen Prinzipien, die es beschädigen“, suggeriert schon die Formulierung des Erzählers, was Antipov-Strel’nikovs Irrtum ist: Er schiebt seinen Plan zwischen das Leben und die dunklen Kräfte und wird so selbst zum „Beschädiger“. Das Leben könne nur „umgestalten“ wollen, wer ihm noch nie begegnet sei – so sagt es Živago während seiner Gefangenschaft bei den Partisanen in der Auseinandersetzung mit ihrem Anführer Liverij:

132 Doktor Živago, 284 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Die Widerlegung der abstrakten lichten Zukunft geschieht, wie Naum Lejderman und Mark Lipoveckij schreiben, nicht zuletzt durch die belebte Natur: „[…] das Bild der lebendigen Natur ist wohl die schwerwiegendste Widerlegung des spekulativen Dokrinärentums.“ Russkaja literatura XX veka (1959–1990-e gody). V dvuch tomach. Tom 1, 1953–1968. 5-e idzanie. Moskva 2010, 57. 133 Doktor Shiwago, 390/391, modifiziert. 134 Doktor Živago, 251. 135 Ebd. 136 Siehe Bergson, Henri: „Introduction à la métaphysique“ [1903], in: ders.: La pensée et le mouvant, 177–227, hier 178; und ders.: L’évolution créatrice, 15. 137 Doktor Živago, 251.

Der Roman Doktor Živago 381 Переделка жизни! Так могут рассуждать люди, хотя, может быть, и видавшие виды, но ни разу не узнавшие жизни, не почувствовавшие ее духа, души ее. Для них существование – это комок грубого, не облагороженного их прикосновением материала, нуждающегося в их обработке. А материалом, веществом, жизнь никогда не бывает. Она сама, если хотите знать, непрерывно себя обновляющее, вечно себя перерабатывающее начало, она сама вечно себя переделывает и претворяет, она сама куда выше наших с вами тупоумных теорий.138 Umgestaltung des Lebens! So können nur Menschen denken, die vielleicht vieles erlebt, das Leben aber nie wirklich kennengelernt, nie seinen Geist, seine Seele gefühlt haben. Für sie ist das Dasein ein Klumpen rohen, unveredelten Materials, das noch nicht durch ihre Berührung veredelt wurde und der Bearbeitung durch sie bedarf. Aber Material, Stoff ist das Leben niemals. Wenn Sie’s wissen wollen, es erneuert sich ununterbrochen selbst, es ist ein ewig sich selbst umarbeitendes Prinzip, es gestaltet sich selbst ewig neu und verwandelt sich, es steht unendlich höher als Ihre und meine stumpfsinnigen Theorien.“139

Denkt man Živagos Vorwurf zu Ende, so gehen die revolutionären Aufklärer von einem vorchristlichen Begriff des Lebens aus, von einem ‚Heidentum‘, in dem das Leben deshalb nur als „rohes, unveredeltes Material“ betrachtet werden könne, weil es keine Idee von seiner Bedeutsamkeit gebe. Diesbezüglich beharrt Živago auf dem Denken, das sein Onkel vor der Revolution vertreten hatte, auf der tragenden Idee des Romans, der ‚originellen‘ Verklärung. Im Gespräch mit dem Tolstojaner Vyvoločnov hatte Vedenjapin das religionsphilosophische Schönheitsideal und sogar den dekadenten Sonnenkult Konstantin Bal’monts, das mantrahafte „Werden wir wie die Sonne!“, gegen eine rein moralische Auffassung des Christentums verteidigt.140 Wie aber könne ein „intelligenter Mensch“ ernsthaft der Überzeugung sein, die Schönheit werde die Welt erretten? fragt der phantasielose Vyvoločnov entgeistert. Vedenjapin antwortet ihm darauf mit dem metaphysischen Schlüsselsatz des Romans: „В основе этого лежит мысль, что общение между смертными

138 Ebd., 336. 139 Doktor Shiwago, 462/463, modifiziert. 140 Vgl. die Empörung des Tolstojaners Vyvoločnov: „А теперь эти фавны и ненюфары, эфебы и «будем как солнце». Хоть убейте, не поверю. Чтобы умный человек с чувством юмора и таким знанием народа… Оставьте, пожалуйста… Или, может быть, я вторгаюсь… Что-нибудь сокровенное?“ „Tja. Und jetzt diese Faune und Nénufars, Epheben und ‚Seien wir der Sonne gleich‘. Und wenn Sie mich totschlagen, ich kann es nicht glauben. Ein so kluger Mann mit Sinn für Humor, der zudem das Volk gut kennt… Lassen Sie davon ab, bitte… Oder dringe ich vielleicht… Ist es etwas Geheimes?“ Doktor Živago, 43 (Doktor Shiwago, 58/59). Die nénuphars  / Wasserlilien könnten sich auf Isaak Levitans Gemälde Nenjufary (1895), auf Nikolaj Gumilevs „Ozera“ („Die Seen“, 1908; Gumilev, Nikolaj: Stichotvorenija i poėmy. Leningrad 1988, 137), aber auch auf Arthur Rimbauds „Soleil et chair“ (1870; Œuvres complètes. Édition établie, présentée et annotée par Antoine Adam. Paris 1972, 7) beziehen.

382

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

бессмертно и что жизнь символична, потому что она значительна.“141 „Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß der Umgang zwischen Sterblichen unsterblich ist und das Leben symbolisch, weil bedeutsam.“ Rekapitulieren wir dieses Argument. Begegnungen zwischen Menschen sind ewig, denn sie werden, mit Vladimir Jankélévitch, immer gewesen sein. Und Einzelheiten eines Lebens können deshalb ein Ganzes ergeben, das heißt: sym-bolisch werden,142 weil es Bedeutung gibt. Bedeutung aber ist nach Vedenjapin und Živago eine Erfindung des Christentums.143 Ohne das vorbildliche Leben Christi hat der Mensch noch gar nicht „angefangen“, ohne das christliche „Mysterium der Person“ sind nur losgelöste Fakten denkbar, keine Bedeutung. Berücksichtigt man Vedenjapins zunächst überraschend mildes Urteil über die Symbolisten, so kann man auch hier von einer Existenzialisierung in Doktor Živago sprechen: Statt wie der junge Pasternak subtil oder wie Vyvoločnov allzu berechenbar gegen den Symbolismus zu polemisieren, macht Vedenjapin ihn sich zu eigen, indem er ihn aus dem ästhetischen Rahmen und den spielerischen Korrespondenzen herauslöst und real macht, zu einem Begriff des Lebenssinns. Wie Aleksandr Šmeman in Bezug auf diese Stelle bemerkt, kann eine solche Existenzialisierung nur durch Umkehrung der konventionellen Auffassung zustande kommen: Nicht Symbole erzeugen konventionelle Bedeutung, sondern die (geheimnisvolle) Bedeutung ermöglicht überhaupt erst Symbole, d.h. besondere Verbindungen zwischen Menschen, Ereignissen, Dingen.144 Doch so, wie die Auffassung vom Symbolischen bei Pasternak nicht immer eindeutig ist, so ist auch bei der Rede vom Existenziellen Vorsicht geboten. In einem Brief von 1931 hatte Pasternak gar eine Dichotomie zwischen „Bedeuten“ und „Existieren“ entworfen.145 Bedeuten heiße, sich zu einem „Hinweis“ auf etwas Blei141 Doktor Živago, 44 (Doktor Shiwago, 60, modifiziert). 142 Auf die symbolische Existenz des Menschen kam Pasternak 1959 zurück: „Der Mensch erreicht sein Größtes, wenn er, wenn sein leibliches Selbst, sein Leben, seine Betätigung ‚Musterbegriff ‘, Symbol wird. […] Jeder Mensch, jeder Einzelne ist eine Seltenheit und eine Einzigkeit. Weil sein Gewissen eine Welt bildet. Weil diese Welt in der Einheit der Idee, im Symbol sich vollendet und zum Abschluß bringt.“ „Was ist der Mensch“ [Umfrage der deutschen Zeitschrift Magnum. Zeitschrift für das moderne Leben, 1959], PSS, V, 279–282, hier 281 (Hervorhebung im Orig.). 143 Bodin expliziert ausgehend von Vedenjapins Satz die poetologische Dimension von Pasternaks neuem Symbolismus: „Since life is symbolic, poetic metaphors exist in life itself. The role of the poet is to see and to articulate these symbols in his works. In this sense the poem is equivalent to a biblical text, for both explain and interpret life by demonstrating it.“ Bodin: „Boris Pasternak and the Christian Tradition“, 385. 144 Šmeman: „Pasternak“, 825. 145 An die Eltern schrieb er über seine erste Frau: „Она не понимает, что я не человек ценных качеств, не характер в твердом состояньи, а – живое указанье, а палец на доске, с надписью: к сапожнику налево. Она не знает, что для того, чтобы любить меня, надо прежде всего любить сапожника, – простой, повсеместный, незамкнутый, всегда но-

Der Roman Doktor Živago 383

bendes zu machen, unabhängig von der eigenen Existenz und ihrem Selbsterhaltungstrieb, also davon, ob man selbst verbleibe oder nicht. Später, 1946, schrieb er ganz in diesem Sinn in Bezug auf Shakespeare, der Mensch sei auf „Metaphorismus“ angewiesen, um die Diskrepanz zwischen der „надолго задуманн[ая] огромност[ь] его задач“ / „auf lange Zeit angelegten Riesigkeit seiner Aufgaben“ und seiner subjektiven „недолговечност[ь]“ / „Hinfälligkeit“ zu überbrücken. Überall dort, wo der Mensch zu schwach sei für die Ewigkeit, zu der es ihn hinziehe, benötige er die „сразу понятны[е] озарения“  / „sofort verständliche Erleuchtungen“ der Metapher, damit etwas Persönliches von ihm zurückbleibe, wenn er so bald wieder verschwinde.146 Die Metapher wäre demnach, wie die Symbolisierung, nichts anderes als ein besonders greller „Hinweis“ auf die Bedeutsamkeit des Lebens. In Doktor Živago sind der Mensch und der Künstler im besten Fall das, was nach einer frühen Aussage Pasternaks der Dichter ist: ein Anlass. In diesem Zusammenhang bestätigt sich die intuitive „Weisheit“ Laras. Sie bedauert, dass ausgerechnet Živago keine kirchliche Totenfeier zuteil wird, denn die außerordentliche Schönheit des Beerdigungsritus hätte so gut zu ihm gepasst: „А Юрочка такой благодарный повод!“147 / „Aber Juročka ist doch ein so dankbarer Anlass.“ Sie kann Živago als „dankbaren Anlass“ bezeichnen, weil er das Leben tatsächlich als dankbares Empfangen der „Gabe des Lebens“ aufgefasst hat. So lässt sich noch einmal anders erklären, weshalb in der Axiologie von Doktor Živago der Protagonist ein Verklärter sein muss: damit er nicht bloß über die Bedeutsamkeit des Lebens spricht, sondern diese wie eine „sofort verständliche Erleuchtung“ auch demonstrieren kann. Die Anhänger der Revolution stehen auf der Seite einer ‚falschen‘ Verklärung. Dadurch, dass sie das Leben nicht zur Kenntnis nehmen und unfähig sind zur Dankerweisung, „blenden“ sie sich selbst. So denkt Živago über den Partisanenführer Liverij: „Какое самоослепление! Интересы революции и существование солнечной системы для него одно и то же».“148 „Welche Selbstverblendung! Die Interessen der Revolution und die Existenz des Sonnensystems sind für ihn ein und вый дух жизни, к которой я протянут всем своим смыслом, потому что жить значит для меня значить, а не существовать; значить же можно только вовне, для другого, за угол, и только существовать можно для себя, для семьи.“ „Sie versteht nicht, dass ich kein Mensch mit wertvollen Eigenschaften bin, kein Charakter in einem festen Zustand, sondern – ein lebendiger Hinweis, ein Finger auf dem Schild mit der Aufschrift: zum Schuster nach links. Sie weiß nicht, dass sie, um mich zu lieben, in erster Linie den Schuster lieben muss, – den einfachen, allgegenwärtigen, nicht-verschlossenen, immer neuen Geist des Lebens, zu dem ich mit all meinem Sinn hinneige, denn das Leben bedeutet für mich bedeuten, und nicht existieren; bedeuten aber kann man nur von außen, für den anderen, um die Ecke, und existieren kann man nur für sich, für seine Familie.“ Brief vom 8. März 1931, PSS, VIII, 482 (Hervorhebungen im Orig.). 146 „Zamečanija k perevodam iz Šekspira“, 73. 147 Doktor Živago, 496. 148 Ebd., 337 (Doktor Shiwago, 463).

384

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

dasselbe.“ Ich verstehe diese Stelle so: Die Revolutionäre richten tatsächlich die „Scheinwerfer“ ihres Bewusstseins nach innen. Sie vergessen, den Blick nach außen zu wenden und sich darüber zu wundern, dass es überhaupt ein Sonnensystem gibt.149 Die Erwähnung des Sonnensystems und das Fragen nach seiner Existenz sind hier kaum zufällig. Das Licht beleuchtet hier ähnlich wie am Schluss des Romans, als Lara sich die Details des fernen Weihnachtsabends zu vergegenwärtigen versucht, sich jedoch nur den Kerzenschein vergegenwärtigen kann, die staunenswerte ‚Originalität‘ des Lebens. Interessant und schön an den Dingen ist für Živago in der letzten Konsequenz nur jener eine – von den Revolutionären ignorierte – Aspekt: dass sie überhaupt gegeben sind.150 Das allein ist ihre Bedeutung, und die vergegenwärtigt der Text mit aufleuchtenden Lichtern: Das Leben ist „symbolisch, weil bedeutsam“. Nun sollte in Živagos Absage an die Umgestaltung des Lebens ein widersprüchliches Moment nicht übersehen werden. Die Kritik an der Revolution ist am harschesten in den Gesprächen mit dem Partisanenführer Liverij,151 und gleichwohl folgt Živago gerade in diesem Kapitel einem Paradigma, das wesentlich konstruktiver, ja manipulativer ist, als er sich selbst eingesteht: das Paradigma der Auferweckung (воскрешение). Irene Masing-Delic hat die Episode über die Verwundung eines jungen, weißen Kriegsfreiwilligen namens Rancevič durch Živago sowie seine anschließende Heilung in den verschiedensten Facetten, zum Teil Wort für Wort 149 Smirnov und Döring interpretieren diese Stelle als polemische Verkehrung des Platonischen Höhlengleichnisses, insofern die Politeia eine politische (totalitäre) Staatsutopie entwickelt, wie sie von Živago verneint werde. Smirnov/Döring-Smirnow: „Nachwort. Gesamtkunstwerk Doktor Shiwago“, 754/755. Warum aber in diesem Fall von der „Existenz des Sonnensystems“ und nicht einfach von der Sonne (der Wahrheit) die Rede ist, bleibt dabei offen. Zum Antiutopismus des Romans siehe das Kapitel „Antiutopija i teodiceja v ‚Doktore Živago‘“ in Smirnov: Roman tajn „Doktor Živago“, 86–128. Smirnovs Grundthese lautet, dass die Utopie mit Leibniz als „Kampf gegen das Sein“ konzipiert werde (ebd., 123). Sehr schön beobachtet Smirnov, dass die angedeuteten Utopien im Roman den Antiutopisten immer wieder in Lebensgefahr bringen. Ebd., 125/126. 150 Das trägt ihm den Vorwurf des Partisanenführers Liverij ein, er sehe das Licht der Zukunft nicht: „[…] не видите впереди просвета […].“ „[…] Sie sehen keine Aufhellung in der Zukunft […].“ Doktor Živago, 336. Pjatigorskij („Pasternak i doktor Živago“, 229) hat die „Zukünftigkeit“ der Živago umgebenden ideologischen Reden hervorgehoben, ohne umgekehrt auf die „Anfänglichkeit“ der Živago-Figur zu sprechen zu kommen. 151 Ein besonders grelles Beispiel: „Я скажу а, а бе не скажу, хоть разорвитесь и лопните. Я допускаю, что вы светочи и освободители России, что без вас она пропала бы, погрязши в нищете и невежестве, и тем не менее мне не до вас и наплевать на вас, я не люблю вас, и ну вас всех к чeрту.“ „Ich sage A, aber nicht B, und wenn Sie platzen. Von mir aus, ihr seid Fackeln und Befreier Rußlands, das ohne euch verloren wäre und in Armut und Unwissenheit versänke, und trotzdem habe ich nichts mit euch im Sinn, ich pfeife auf euch, ich kann euch nicht leiden und wünsche euch alle zum Teufel.“ Doktor Živago, 337 (Hervorhebungen im Orig.; Doktor Shiwago, 464).

Der Roman Doktor Živago 385

mit Nikolaj Fedorovs Lehre von der „Auferweckung der Väter“ („воскрешение отцов“) parallel gelesen, mit verblüffenden Einsichten.152 Als der Doktor unversehens in Kampfhandlungen zwischen den Partisanen und weißen Widerstandskämpfern verstrickt wird, sieht er sich gezwungen, zu seiner Verteidigung auf die Gegner – in Wahrheit eher Verbündete – zu schießen. Dabei trifft er, scheinbar tödlich, den Jungen Rancevič. Bevor Živago zu ihm hingeht und Rancevič als den „Getöteten“153 verarztet mit der Wirkung, ihn von den Toten aufzuerwecken, schreitet er zu einer, wie Masing-Delic schreibt, „symbolischen Handlung“. Er feuert mit dem Gewehr eine Salve auf einen Baum ab: Посреди широкого голого поля, по которому двигались вперед белые, стояло мертвое обгорелое дерево. Оно было обуглено молнией или пламенем костра, или расщеплено и опалено предшествующими сражениями.154 Mitten auf dem nackten Feld, auf dem sich die Weißen vorwärts bewegten, stand ein verbrannter toter Baum. Er war von einem Blitz oder einem Lagerfeuer zerspaltet und verkohlt, vielleicht auch von früheren Kämpfen. Целясь и по мере всe уточняющейся наводки незаметно и не до конца усиливая нажим собачки, как бы без расчета когда-нибудь выстрелить, пока спуск курка и выстрел не следовали сами собой как бы сверх ожидания, доктор стал с привычной меткостью разбрасывать вокруг помертвелого дерева сбитые с него нижние отсохшие сучья.155 Zielend und das Ziel immer genauer anvisierend, den Druck auf dem Abzug nicht ganz durchziehend, als würde er gar nicht planen, irgendwann zu schießen, bis das Durchziehen des Auslösers und der Schuss gleichsam von selbst, wider Erwarten erfolgten, begann der Doktor mit gewohnter Treffsicherheit die unteren verdorrten Äste des toten Baumes zu beschießen.

Nach Masing-Delics Lektüre tut Živago nichts anderes, als auf den Tod zu schießen. Er setze Fedorovs Vorstellung, der wahre Soldat kämpfe nicht gegen das Leben, sondern gegen den Tod, symbolisch in die Tat um.156 Fedorov, das ist bekannt, entwickelte die „Philosophie der gemeinsamen Tat“ nicht in häretischem Bewusstsein, er sah sie im Gegenteil mit der orthodoxen Auffassung vom Kreuz als Tod des Todes im Einklang. Die Auferweckung der Toten soll bei ihm die heidnischen Mächte der „blinden Notwendigkeit“ in Bann bringen und dem Geist der Freiheit zum Sieg verhelfen. In diesem Zusammenhang betont Masing-Delic, dass der von Živago beschossene Baum durch einen Blitz, eine Feuersbrunst oder durch frühere Schlachten zerstört wurde,157 dass er also Opfer einer blinden Naturgewalt oder, in Fedo152 Masing-Delic, Irene: „Zhivago as Fedorovian Soldier“, in: The Russian Review 40, 3 (1981), 300–316. 153 Ebd., 313. 154 Doktor Živago, 331. 155 Ebd., 332/333. 156 Masing-Delic: „Zhivago as Fedorovian Soldier“, 303/305. 157 Ebd., 309.

386

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

rovs Terminologie, „heidnischer Götter“ geworden ist. Lesen wir dazu eine Passage aus Fedorovs Filosofija obščego dela: […] пока будет война на земле, будут грозы и на небе, будут господствовать Юпитеры, Перуны, словом, – языческие боги; действительное же принятие христианства будет состоять в разоружении, в обращении от борьбы с себе подобными к регуляции. От Илии пророка, ревностного противника и обличителя поклонения языческим богам, громовержцам, мы научаемся, что Бог – не в грозе, и что тех ложных богов, которых чтут язычники, истинный Бог отдает во власть своему пророку (Илии) и тем паче – роду человеческому, если он будет того достоин своим единением. Таково христианское мнение.158 […] solange auf der Erde Krieg sein wird, werden am Himmel Unwetter sein, werden Jupiter, Perunen herrschen, mit einem Wort – heidnische Götter; die wirkliche Annahme des Christentums aber wird in der Entwaffnung bestehen, in der Abkehr vom Kampf mit seinesgleichen hin zur Regulierung. Vom Propheten Elias, dem unermüdlichen Gegner und Entlarver der heidnischen Verehrung von Göttern, Blitzeschleuderern, lernen wird, dass Gott nicht im Gewitter wohnt, und dass der wahrhaftige Gott all die falschen Götter, die von den Heiden verehrt werden, der Macht seines Propheten Elias überlässt und umso mehr – dem Geschlecht der Menschen, falls dieses sich dessen durch Einigung würdig erweisen wird. So lautet die christliche Auffassung.

Es ist nach Fedorov der göttliche Auftrag des ganzen Menschheitsgeschlechts, in der „gemeinsamen Tat“ die blinden Kräfte der „blitzeschleudernden“ Natur mit ihr ähnlichen Mitteln zu „entwaffnen“. Živago leistet mit seinem Schuss auf den Tod zu dem Projekt einen symbolischen Beitrag.159 Masing-Delic beschränkt sich darauf, diese Analogie zwischen Fedorov und Pasternak mit Textstellen plausibel zu machen, und impliziert, wie Susanna Witt hinsichtlich der Mimikry, dass der Fedorovismus ein Strukturmerkmal des Romans sei. Auch David Bethea geht davon aus, dass Doktor Živago zwar nicht auf der Ebene der Handlung, aber auf der Ebene der metapoetischen Selbstkommentierung eine Anwendung von Fedorovs Programm darstelle: Bethea beschreibt Živagos Gedichte als Auferweckung der im Roman Verstorbenen.160 Man darf jedoch nicht übersehen, dass die Parallele mit Fedorov, so einleuchtend sie ist, eine schwerwiegende Paradoxie in der Figur von Živago nach sich zieht. Zur Konkretisierung des Begriffs der Entwaffnung schreibt Fedorov, die „Gewitter- und Sonnenkraft“ müsse in eine „auferweckende“ Kraft umgewandelt werden: Изучать природу значит отыскивать способ разоружения грозовой силы и обращения ее из разрушительной в воссозидательную, воскрешающую. […] Без такого обращения

158 Fedorov, Nikolaj: Filosofija obščego dela. II. Moskva 1913 [Reprint Lausanne 1985], 257. 159 Masing-Delic: „Zhivago as Fedorovian Soldier“, 307. 160 Bethea: „Doctor Zhivago: The Revolution and the Red Crosse Knight“, 241.

Der Roman Doktor Živago 387 эта сила, разрушающая все, и себя разрушит: само солнце и все солнца есть грозовое облако, которое разрушится вместе с последнею молниею.161 Die Natur zu untersuchen bedeutet, eine Methode zur Entwaffnung der Gewitterkraft und zur Umwandlung derselben von einer zerstörenden in eine neu erschaffende, auferweckende zu finden. […] Ohne solche Umwandlung wird diese alles zerstörende Kraft auch sich zerstören: Die Sonne selbst und alle Sonnen sind eine Gewitterwolke, die zusammen mit dem letzten Blitz zerstört sein wird.

Bezieht man auch diese Passage auf Pasternaks Roman, beginnt sich der Akzent zu verschieben. Wie sich herausstellt, ist sie weniger ein Kommentar zu Živagos als zu Vedenjapins Denken, das in der Welt-/Lichtstruktur etwas nachweislich verändern wollte (übrigens wie die Ingenieure des Fedorovisten Andrej Platonov, die Sonnenlicht in Elektrizität verwandeln). Ein solches Projekt verfolgt Živago nicht. Živago lebt, in Abkehr von seinem Onkel, die Nicht-Konstruierbarkeit der Verklärung vor. Er hält an der Nicht-Konstruierbarkeit der Gnade fest, sei diese nun göttlich oder einfach nur das „Lebendige“. Im Gedicht „Čudo“, das der Auferweckungs-Episode zugeordnet ist, steht denn auch der unfruchtbare Feigenbaum162 im wörtlichen Sinne für die Un-begabtheit, für die Unempfänglichkeit gegenüber den Gnadengaben. Für seine Talentlosigkeit wird der Baum vom dürstenden Christus wundersam vernichtet: «[...] Я жажду и алчу, а ты – пустоцвет, И встреча с тобой безотрадней гранита. О, как ты обидна и недаровита! Останься такой до скончания лет». По дереву дрожь осужденья прошла, Как молнии искра по громоотводу. Смоковницу испепелило дотла.163 „[…] Mich dürstet und hungert, du bist nicht bereit. Ein Fels könnte eher zum Troste mir taugen. Wie unbegabt bist du, wie widrig den Augen – So bleib, wie du bist, bis ans Ende der Zeit!“ Da hat ihn der Schauder des Fluches durchflammt Wie Funken vom Blitz den metallenen Leiter. Der Feigenbaum war zum Verdorren verdammt.164

Wir sehen: „Čudo“ bestätigt Fedorovs Wortlaut – Blitze als zu bannende heidnische Kräfte – nicht. Denn mit dem Funken eines Blitzes wird im Gedicht gerade das göttliche Wort verglichen. Auch Fedorovs negativer Naturbegriff wird nicht 161 162 163 164

Fedorov: Filosofija obščego dela, II, 256. Vgl. Luk 13, 3–6. Doktor Živago, 541. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Doktor Schiwago, 632/633.

388

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

eingelöst. Der Vorwurf an den Feigenbaum besteht nicht etwa darin, dass er naturverhaftet, sondern dass er eine „tote Blüte“ sei, unfähig, aus der Natur zu schöpfen und den (Lebens-)Durst Christi zu löschen. In der Figuralität des Licht-Regens wiederum hieße das: Der Feigenbaum ist ein Gegenüber, das nicht lebendig genug ist, um dem Sprecher, einem von Licht Erfüllten, das weibliche Element des Wassers zu geben. So macht „Čudo“ deutlich, wie sehr Živago, dieser moderne, lebensphilosophische Nachfolger Christi, auf die Sophia angewiesen ist. Tatsächlich folgt auf die Episode mit dem toten Baum und der „Auferweckung“ Rancevičs165 bald das lang ersehnte Wiedersehen mit Lara, der neuen Sophia. So besehen, erscheint eine strikte Parallelisierung von Pasternaks Poetik mit Fedorovs Projekt als überzogen. Die mit Fedorovs „väterlichem“ Denken verbundene Abwesenheit des Weiblichen, Mütterlichen (wenn auch wohl nicht des Geschwisterlichen) lässt sogar den umgekehrten Schluss zu: Durch das entfaltete Fedorov-Zitat wird nicht unbedingt ein Lösungsvorschlag gemacht, wie der Tod zu besiegen sei. Es veranschaulicht vielmehr, wie einsam das Leben des Verklärten ist, wenn er kein Gegenüber hat, das sich zu seinem Leib macht, wie Lara.166

Živagos Verzicht auf die Verklärung und das „symbolische“ Leben Ol’ga Sedakova bezeichnet Živagos Lebensgeschichte als „missglückte Epiphanie“, genauso wie jene des Fürsten Myškin, des Idioten, in Dostoevskijs Roman.167 Das 165 Die Heilung des jungen Soldaten mit dem „wunderschönen Gesicht“ wird im Gedicht „Durnye dni“ als Auferweckung des Lazarus überformt. Vgl. Masing-Delic: „Zhivago as Fedorovian Soldier“, 311. In „Čudo“ heißt es am Anfang, Christus komme aus Bethanien, wo die Auferweckung des Lazarus stattgefunden hat. 166 Dafür spricht der Umstand, dass der Begriff „Elektrizität“ hier nicht mehr im Zusammenhang mit der Heilsgeschichte auftaucht, sondern als Name der ‚ewigweiblichen‘ Kraft, von der Lara durchdrungen ist. Elektrische Spannung steht nicht mehr für Aufklärung und Fortschritt, sondern für den sophianisch-abgedunkelten Träger der Verklärung. 167 Sedakova: „‚Neudačnaja epifanija‘: dva christianskich romana – ‚Idiot‘ i ‚Doktor Živago‘“. Anders als Sedakova deutet Ewa Thompson sowohl Myškin wie auch Živago nicht als Christus-, sondern als Gottesnarren-Figuren, die von Anfang an keinen Wert auf ein ‚schönes‘ Leben legten und im Grunde nur mit sich beschäftigt seien. Über Pasternaks Helden schreibt Thompson: „Zhivago has been perceived as a superior person by readers and critics. He is certainly attractive because of his intelligence and emotional depth. However, he embodies the attitudes of holy foolishness rather than Christian virtue.“ Thompson, Ewa: Understanding Russia. The Holy Fool in Russian Culture. Laxham/New York/London 1987, 154. Nach Thompson ist Živagos Untergang nicht nur deshalb keine christliche Kenosis, weil ihm, wie im Fall von Myškin, keine Auferstehung folgt, sondern auch deshalb, weil er zum Verzicht durch die Lebensumstände, also von außen gezwungen wird. Was dabei von Thompson wohl vernachlässigt wird, ist die metaphysische Dimension: Živagos und Vedenjapins Philosophie symbolischen Bleibens.

Der Roman Doktor Živago 389

Erscheinen Myškins wie jenes Živagos ist nach Sedakova epiphanisch – beide treten als geheimnisvolle Zentren in ihre Romanwelten. Und dennoch könne die Epiphanie nicht glücken, da beide Helden keine Heiligen seien, tragisch dem Schicksal ausgeliefert, getrieben von Liebesleidenschaften. Sie seien also beide in höchstem Maße unfrei, was sie bestenfalls zu gescheiterten Heiligen mache. Dieser Standpunkt ist gerade mit Blick auf Losskys Theologie der Verklärung plausibel: Einerseits bewahrheitet sich die uranfängliche Verklärung am Leben Živagos, andererseits reicht es ihm nicht, verklärt zu sein. Er ist zunehmend auf ein leibliches Gegenüber angewiesen, damit er noch ganz sein kann. Dadurch aber verstrickt er sich, mit den Worten Sedakovas, in ein tragisches Liebesschicksal. Freilich gibt es Gründe, die hagiographische Problematik grundlegend anders einzuschätzen. So hat David Bethea eine Interpretation vorgeschlagen, wonach Živago dank Lara „transfiguriert“ werde. Indem er bei seinem zweiten Aufenthalt in Varykino die Ballade „Skazka“ / „Märchen“ schreibe, während Lara und ihre Tochter Katja neben ihm schlafen, verwandle er sich in den den drachentötenden Ritter Georg168 (wozu ihn sein Name Jurij prädestiniert). Den Moment der Verklärung macht Bethea an folgender Stelle fest: Он избавлялся от упреков самому себе, недовольство собою, чувство собственного ничтожества на время оставляло его. Он оглядывался, он озирался кругом. Он видел головы спящих Лары и Катеньки на белоснежных подушках. Чистота белья, чистота комнат, чистота их очертаний, сливаясь с чистотою ночи, снега, звезд и месяца в одну равно значительную, сквозь сердце доктора пропущенную волну, заставляла его ликовать и плакать от чувства торжествующей чистоты существования.169 Er wurde frei von den Selbstvorwürfen, von der Unzufriedenheit mit sich selbst, und das Gefühl der eigenen Nichtigkeit verließ ihn für einige Zeit. Er sah sich um, blickte in die Runde. Er sah die Köpfe von Lara und Katenka, die auf den schneeweißen Kissen schliefen. Die Reinheit der Wäsche, die Reinheit der Zimmer, die Reinheit ihrer Umrisse verschmolz mit der Reinheit der Nacht, des Schnees, der Sterne und des Mondes zu einer einzigen Woge, die durch sein Herz ging und ihn frohlocken und weinen ließ aus dem Gefühl der triumphierenden Reinheit des Daseins.170

Die Transfiguration, die Bethea meint, ist über Liebe und Schöpfertum vermittelt. Er versteht unter „преображение“ eine künstlerische Verwandlung und beschreibt damit im Grunde eine Epiphanie in Karl Heinz Bohrers Wortsinne: einen evidenten, aus der Zeit gefallenen Augenblick, festgehalten von der Kunst.171 Sedakova verwendet den Begriff Epiphanie demgegenüber im Sinne von ,Gotteserscheinung‘ 168 „the metamorphosis of Yury Zhivago into the Red Crosse Knight“, Bethea: „Doctor Zhivago: The Revolution and the Red Crosse Knight“, 263–265. 169 Doktor Živago, 435. 170 Doktor Shiwago, 599. 171 Ähnlich auch schon Danow, David K.: „Epiphany in ‘Doctor Zhivago’“, in: The Modern Language Review 76, 4 (1981), 889–903.

390

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

auf der Sujetebene (wie sie allerdings aus den aufgeführten Gründen im Roman nicht stattfinden könne).172 Der Widerspruch zwischen Sedakovas und Betheas Lektüre würde dann aufgehoben, wenn man die sichtbare Verklärung nicht als die eigentliche Verklärung Živagos auffasste, wie Bethea es tut, sondern eher als Schwundstufe jener ursprünglichen Verklärung, von der sich Živago im Schlussteil des Romans wegbewegt. Betheas Begriff impliziert, dass die Liebesbeziehung zu Lara ein Glücksfall und nicht, wie Pjatigorskij und Sedakova schreiben, eine Niederlage im Leben Živagos sei. Nach der angeführten Szene kreativer Verklärung schickt Živago sich an, für alles ihm „Gegebene“ Gott zu danken: «Господи! Господи! – готов был шептать он. – И все это мне! За что мне так много? Как подпустил Ты меня к Cебе, как дал забрести на эту бесценную Твою землю, под эти Твои звезды, к ногам этой безрассудной, безропотной, незадачливой, ненаглядной?» Было три часа ночи, когда Юрий Андреевич поднял глаза от стола и бумаги. Из отрешенной сосредоточенности, в которую он ушел с головой, он возвращался к себе, к действительности, счастливый, сильный, спокойный.173 O Gott! O Gott! hätte er am liebsten geflüstert. Und das alles mir! Wofür soviel für mich? Wie hast du mich zu dir gelassen, wie hast du mir erlaubt, deine unendlich kostbare Erde zu betreten, mich unter diese deine Sterne zu verlaufen, zu den Füßen dieser unbesonnen, ergebenen, unglücklichen, teuersten Frau? Es war drei Uhr nachts, als Shiwago den Blick vom Tisch und vom Papier hob. Aus der entrückten Konzentration, in der er völlig aufgegangen war, kehrte er zurück zu sich, in die Wirklichkeit, glücklich, stark, ruhig.174

Nach dem Auftauchen aus seiner sophianisch-kreativen Epiphanie – festgehalten im Parallelismus der weißen Wäsche und des weißen Papiers – kehrt Živago „zu sich zurück“ und ist „glücklich, stark, ruhig“. Dies sind vielleicht tatsächlich Qualitäten eines Verklärten. Doch es scheint sich hier um eine fundamental andere Verklärung als im ersten Teil des Romans zu handeln: nämlich um die in der zweiten Hälfte des Romans leitmotivisch gewordene Mimikry. Die bezieht die Kraft nicht mehr aus einer ursprünglichen ‚Begabtheit‘, sondern aus der Hingabe an die Umwelt. Es ist nicht mehr Živago, der die Umwelt zwingt, sich zu verwandeln. Die Umwelt überwältigt Živago. Als Lara sich von Komarovskij überreden lässt, mit ihm in den fernen Osten Russlands zu fliehen – im naiven oder scheinheiligen Glauben, Jurij würde ihnen bald nachfolgen –, bleibt Živago allein in Varykino zurück. Gleichzeitig geht über 172 Vgl. dazu Bohrers Abgrenzung seines rhetorischen Begriffs der Plötzlichkeit von einer, wie er schreibt, „spiritualistischen“ oder „mystischen“ Auffassung. Bohrer, Karl Heinz: „Nachwort zur dritten Auflage“, in: ders.: Plötzlichkeit, 263. 173 Doktor Živago, 435. 174 Doktor Shiwago, 599/600.

Der Roman Doktor Živago 391

der Landschaft die Sonne unter. In diesem Moment beginnen die abendlichen Lichtstrahlen an seinem Schicksal Anteil zu nehmen, ihn, den nun vollends Verwaisten, zu trösten und mit ihm mitzuleiden. Živagos Bereitschaft, der Welt „immer wieder zum ersten Mal“175 zu begegnen, wird belohnt. Die Strahlen kommen zu ihm, als würde die Sonne „mit seltener Einmaligkeit“ zum ersten Mal untergehen: Душевное горе обострило восприимчивость Юрия Андреевича. Он улавливал все с удесятеренною резкостью. Окружающее приобретало черты редкой единственности, даже самый воздух. Небывалым участием дышал зимний вечер, как всему сочувствующий свидетель. Точно еще никогда не смеркалось так до сих пор, а завечерело в первый раз только сегодня, в утешение осиротевшему, впавшему в одиночество человеку. Точно не просто поясною панорамою стояли, спинами к горизонту, окружные леса по буграм, но как бы только что разместились на них, выйдя из-под земли для изъявления сочувствия.176 Das Herzeleid schärfte Shiwagos Empfinden. Er nahm alles mit zehnfacher Deutlichkeit wahr. Die ganze Umgebung, sogar die Luft gewann Züge einer seltenen Einmaligkeit. Teilnahmsvoll wie nie zuvor, atmete der Winterabend wie ein mitfühlender Zeuge. Es schien, als wäre es nie zuvor Nacht geworden, heute das erstemal, als Trost für den verwaisten, vereinsamten Menschen. Es schien, als stünden die umliegenden Wälder nicht einfach so als Panorama auf den Hügeln, sondern hätten dort eben erst Aufstellung genommen, um ihr Mitgefühl zu bekunden.177

Entscheidend ist aber, dass Živago auf die Schönheit, die Nähe und das Mitleid der Sonnenstrahlen verzichtet, genauer, verzichten will. Er ist bereit, sie mit einer abwinkenden Handbewegung zurückzuweisen: Доктор почти отмахивался от этой ощутимой красоты часа, как от толпы навязывающихся сострадателей, почти готовый шептать лучам дотягивавшейся до него зари: «Спасибо. Не надо». Он продолжал стоять на крыльце, лицом к затворенной двери, отвернувшись от мира. «Закатилось мое солнце ясное», – повторяло и вытверживало что-то внутри его. У него не было сил выговорить эти слова вслух все подряд, без судорожных горловых схваток, которые прерывали их.178 175 Bethea ordnet den drei männlichen Hauptfiguren des Romans je eine geometrische Form zu, um sie zu charakterisieren: Während sich Komarovskijs Existenz in einem indifferenten Kreis der ewigen Wiederkehr abspielt und Strel’nikovs revolutionärer Rationalismus monodirektional wie ein Pfeil am Leben vorbeiziele, lebe Živago in der Spirale der kirchlichen Feste und Jahreszeiten, die sich immer wieder anders zeigten und symbolisch doch stets von neuem den Anfang vergegenwärtigten. Bethea: „Doctor Zhivago: The Revolution and the Red Crosse Knight“, 250; 263/264. 176 Doktor Živago, 449. 177 Doktor Shiwago, 618, modifiziert. 178 Doktor Živago, 449/450. Vgl. die offensichtliche Parallele zum Gedicht „Sestra moja žizn’ i segodnja v razlive…“ mit der Zeile „И солнце, садясь, соболезнует мне.“ / „Und die Sonne, untergehend, spricht mir ihr Beileid aus.“

392

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

Shiwago wehrte sie beinahe ab, die fühlbare Schönheit dieser Stunde, wie eine Menge aufdringlicher Kondolenten, und er war drauf und dran, den letzten Lichtstrahlen zuzuflüstern: Danke, nicht nötig. Er stand noch immer auf der Vortreppe, das Gesicht der geschlossenen Tür zugewandt, der Welt abgekehrt. Meine helle Sonne ist untergegangen, sagte etwas in ihm immer wieder. Er hatte nicht die Kraft, diese Worte nacheinander auszusprechen, seine Kehle war wie zugeschnürt.179

Mit der „hellen Sonne“ scheint mithin Živagos ursprüngliches Licht gemeint zu sein (wäre damit bloß Lara angesprochen, könnte er den „Untergang“ wohl mit größerer Gewissheit aussprechen). Da er sein Licht jedoch nur noch hatte, insofern Lara bei ihm war, ist es mit ihrem Weggang für immer untergegangen. Das Gnaden-Angebot der Erleuchtung an ihn ist hier so explizit wie an keiner anderen Stelle. Doch er will es ablehnen. Lehnt er es auch wirklich ab? Es heißt ja, er hätte „fast abgewinkt“ – offenbar nicht ganz. Ein solcher Vorbehalt („beinahe“, „fast“ etc.) ist im Roman nicht nur hier der Idee des Verzichts unauffällig beigefügt. Ein vollständiger Verzicht wäre für Živago nicht möglich und gar nicht wünschenswert. Denn sein Ziel ist es zwar sich zurückzuziehen, die Schönheit aber möglichst unversehrt in der Welt zurückzulassen. Susanna Witt hat die Sonnenuntergänge in Doktor Živago, insbesondere den belebten Sonnenuntergang, der die Trennung von Jurij und Lara begleitet, mit den abendlichen „schräg einfallenden Lichtstrahlen“ Dostoevskijs in Verbindung gebracht.180 Ob Pasternak die Skizze zu Dostoevskijs Lichtstrahlen im Anhang von Pavel Florenskijs Stolp i utverždenie Istiny181 bekannt war, ist nicht gesichert. Sehr wahrscheinlich ist, wie Witt zeigt, dass er den Artikel seines Jugendfreundes und Priesters Sergej Durylin „Ob odnom simvole u Dostoevskogo“ („Über ein Symbol bei Dostoevskij“, 1928) gelesen hatte.182 Durylin gibt darin einen wesentlich ausführlicheren Überblick über Dostoevskijs Figur der schräg einfallenden Strahlen und ihr „Berühren“ der Helden. Während Florenskij vor allem den Aspekt der Sterbebegleitung durch die Strahlen hervorhebt183 und in ihnen wie später Romano Doktor Shiwago, 618/619. Witt: Creating Creation, 77–83. Florenskij, Pavel: Stolp i utverždenie Istiny [1914]. Tom 1 (II). Moskva 1990, 659/660. Durylin, Sergej: „Ob odnom simvole u Dostoevskogo. Opyt tematičeskogo obzora“, in: Dostoevskij (Trudy gosudarstvennoj akademii chudožestvennych nauk). Moskva 1928, 163– 198. Der Artikel gibt sich betont analytisch und vermeidet es angesichts der politischen Situation Ende der zwanziger Jahre, ein religiöses Interesse an Dostoevskij zu bekunden. 183 Bei Sonnenuntergang sterben mehrere Figuren in der Erzählung „Večnyj muž“ / „Der ewige Ehemann“, Raskol’nikov denkt in Prestuplenie i nakazanie / Schuld und Sühne bei Sonnenuntergang über den Tod nach, in Podrostok / Jüngling wird das Bildnis eines verstorbenen Knaben mit einem Lichtstrahl aus dem Himmel versehen. Der Knabe in letzterem Beispiel hat eine Lampe zerschlagen, ist vor Schreck in einen Fluss gesprungen und ertrunken. Der Maler, ein Geistlicher, erklärt: „[…] вот как придумал: небо открывать не станем и анге-

179 180 181 182

Der Roman Doktor Živago 393

Guardini ein „Symbol für eine letzte metaphysische Nähe“184 sieht, handeln viele der von Durylin untersuchten Stellen vom Gedächtnis. Das passt offensichtlich zu Živagos Anliegen des Anfangens und des Bleibens. Auch die Anteilnahme an den Schicksalen der Helden durch die Sonne wird in Durylins Artikel diskutiert und könnte Pasternak zu dem zitierten Abschieds-Sonnenuntergang inspiriert haben. Sehen wir nun, was Živago nach seinem (Beinahe-)Verzicht auf das Licht noch widerfährt. Das Kapitel „Okončanie“ / „Schluss“ (XVI) über seine letzten „acht bis neun Jahre“ in Moskau beschreibt, wie er sich gehen lässt und auf alles verzichtet, was einst seinen Status als Angehöriger der Intelligenzija ausgemacht hatte: […] он все больше сдавал и опускался, теряя докторские познания и навыки и утрачивая писательские, на короткое время выходил из состояния угнетения и упадка, воодушевлялся, возвращался к деятельности, и потом, после недолгой вспышки, снова впадал в затяжное безучастие к себе самому и ко всему на свете.185 […] er baute immer mehr ab und kam herunter, büßte seine Kenntnisse und Fertigkeiten als Arzt wie auch als Schriftsteller ein, fand kurzfristig aus dem Zustand von Depression und Verfall heraus, wurde lebhaft und tätig und verfiel nach diesem kurzen Aufflackern wieder in anhaltende Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst und allem auf der Welt.186

Verrückt wird Živago nur scheinbar. In Wirklichkeit lässt er sich gehen, weil es für ein kulturelles Leben keine Grundlage mehr gibt oder, nach einer Formulierung Reinhold Vogts, weil es keinen glückenden Ausgleich mehr geben kann zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen: Živago gelingt es nicht mehr, die Welt „monadisch“ in sich zu spiegeln, er ist gezwungen, sich auf seine Individualität zu reduzieren, was für ihn den Tod bedeutet.187 Hier ist sicher wenigstens teilweise auch an Pasternaks Biographie zu denken. Der Autor von Doktor Živago war 1947 von Aleksandr Surkov bezichtig worden, „в разладе с новой действительностью“188 /

184 185 186 187 188

лов писать нечего; а спущу я с неба, как бы в встречу ему, луч; такой один светлый луч: всë равно как бы нечто и выйдет.“ „[…] so habe ich’s mir ausgedacht: den Himmel aufmachen werden wir nicht und Engel zu malen lassen wir sein; ich werfe einfach vom Himmel, wie dem Knaben entgegen, einen Strahl; einen einzigen solchen hellen Strahl: irgendwie wird dabei schon etwas rauskommen.“ Dostoevskij: Podrostok, in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij, XIII, 319/320. Schließlich erwähnt Florenskij den Fürsten Myškin aus Idiot, der in Frankreich beobachtete, wie einem zum Tode Verurteilten die Sonnenstrahlen direkt in die Augen leuchteten. Florenskij: Stolp i utverždenie Istiny, 1 (II), 65. Guardini, Romano: Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werken. Studien über den Glauben [1933]. Paderborn/Mainz 1989, 82. Doktor Živago, 463. Doktor Shiwago, 637, modifiziert. Vogt: Boris Pasternaks monadische Poetik, 199–201. So Surkov in seinem Artikel „O poėzii Pasternaka“ / „Über die Poesie Pasternaks“ vom März 1947 in der Zeitung Kul’tura i žizn’. Zit. nach Borisov/Pasternak, Evg.: „Materialy k tvorčeskoj istorii romana B. Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, 228.

394

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

„im Zerwürfnis mit der neuen Wirklichkeit“ zu leben. Entsprechend wird man Živagos freiwillige Selbsterniedrigung als Chiffre für Pasternaks Tendenz zu einem möglichst nicht-mehr-literarischen, „erniedrigten“, „rauen“ Prosastil lesen können.189 Živago gelingt nicht einmal mehr die Mimikry. Mimikry, seine für die Krise erdachte Seinsweise, wird zum Instrument der ihn umgebenden Gewinnler. Sie verliert ihre innere Verbindung mit der Verklärung und wird zum Synonym für den Opportunismus der alten Intelligenzija im neuen Staat.190 Was ist geschehen? In einer Umgebung, in der er jegliche Anteilnahme für halbherzig hält und in der alles Reden aus mechanischem Räsonieren bestehe, zieht Živago es vor, keinen Anteil mehr zu nehmen, weder an sich noch an etwas anderem. Zu Gast bei seinem Freund Miša Gordon, ist er einmal kurz davor, seinen alten Freunden die Meinung ins Gesicht zu sagen: Ему насквозь были ясны пружины их пафоса, шаткость их участия, механизм их рассуждений. Однако не мог же он сказать им: «Дорогие друзья, о как безнадежно ординарны вы и круг, который вы представляете, и блеск и искусство ваших любимых имен и авторитетов. Единственно живое и яркое в вас, это то, что вы жили в одно время со мной и меня знали». Но что было бы, если бы друзьям можно было делать подобные признания! И чтобы не огорчать их, Юрий Андреевич покорно их выслушивал.191 Die Triebfedern ihres Pathos, die Unbeständigkeit ihrer Teilnahme, der Mechanismus ihrer Äußerungen waren ihm sonnenklar. Aber er konnte ihnen ja nicht gut ins Gesicht sagen: Liebe Freunde, wie hoffnungslos mittelmäßig seid ihr doch mitsamt dem Kreis, den ihr vertretet, mitsamt dem Glanz und der Kunst eurer geliebten Namen und Autoritäten. Das einzig Lebendige und Grelle in euch ist die Tatsache, daß ihr in derselben Zeit wie ich gelebt und mich gekannt habt! Was wäre gewesen, wenn Shiwago den Freunden solche Geständnisse hätte machen können! Um sie nicht zu betrüben, hörte er ihnen geduldig zu.192

Anders als Christus im Gedicht „Gefsimanskij sad“, der seine Jünger weckt und wie im Neuen Testament für ihren Kleinmut rügt, bleibt Živago still. Gibt es dafür einen bestimmten Grund? Man würde meinen, er sei rücksichtslos, (Gottes-)Narr genug geworden, um Gordon und Dudorov auf diese Weise vor den Kopf zu stoßen. Entscheidend ist der genaue Wortlaut. Živago sagt für sich: „Das einzig Lebendige und Grelle in euch ist, dass ihr in derselben Zeit wie ich gelebt und mich gekannt habt!“ Das kann auch heißen: Er war der Verklärte. Gordon und Dudorov haben wie die Jünger ( Johannes, Petrus, Jakobus) an der Verklärung Christi ihren begrenz189 Vgl. Gasparov: „Vremennoj kontrapunkt“, 353. 190 Vgl. Witt: Creating Creation, 129. 191 Doktor Živago, 478. Vgl. dazu das Gedicht „Gefsimanskij sad“: „Он разбудил их: Вас Господь сподобил / Жить в дни мои, вы ж разлеглись, как пласт.“ „Er weckte sie: ‚Euch war in meinen Tagen / Vom Herrn vergönnt zu leben, und ihr schlaft!“ Ebd., 548 (übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Doktor Schiwago, 638). 192 Doktor Shiwago, 659.

Der Roman Doktor Živago 395

ten Anteil gehabt. Für eine Erneuerung ist es jetzt zu spät, da Živago zwar einmal der „Lebendige und Grelle“ war, aber nicht mehr ist.193 Die Bedeutung der Episode bei Gordon für die Verklärungs-Linie des Romans hat Igor’ Smirnov herausgestellt.194 Er analysiert die Ähnlichkeiten von Gordons Wohnung mit der Werkstatt von Vera Pavlovna aus Černyševskijs sozialrevolutionärem Roman Čto delat’? / Was tun?. So werde Gordons adaptierte Weltanschauung, der „politische Mystizismus“195, als Reflex auf die von Vera Pavlovna geträumten Glaspaläste kenntlich gemacht. Doch Pasternak lasse es nicht bei den Anspielungen auf Čto delat’? bewenden, er rekonstruiere im letzten Kapitel von Doktor Živago zugleich die anti-utopische Polemik gegen Černyševskijs Roman, wie sie sich, wiederum implizit, in Dostoevskijs Prestuplenie i nakazanie finde. Der Gegenbegriff zum „falschen Glanz“ ist nach Smirnov bei Pasternak die von Živago getragene Verklärung. Hier kommt in der Lektüre die Malerei ist Spiel. Während die Wohnung Gordons Ähnlichkeiten mit der Werkstatt von Vera Pavlovna aufweise, erinnere eine Reihe von Details im Gespräch zwischen Živago und seinen alten Freunden an Raphaels Transfiguration. Im Gegensatz zur orthodoxen Ikone zeigt Raphaels Gemälde im unteren Bildteil mit der Verklärung des Herrn simultan den besessenen Jungen aus einer vorangehenden Episode im Neuen Testament (Mk 9, 14–29). Nach Smirnov repräsentieren Gordon und Dudorov diesen besessenen Jungen aus dem unteren Bildteil, während Živago vor ihnen in der Rolle des verklärten Christus sozusagen in der Luft schwebt.196 So wie in Raphaels Gemälde die obere und die untere Sphäre voneinander getrennt bleiben (nach Nietzsche in eine „apollinische“ und eine „dionysische“), so bleibe auch Živagos Sphäre von jener Gordons und Dudorovs geschieden. Er könne sie nicht von ihrer pseudo-mystischen „Besessenheit“ abbringen. Das Hinaustragen der Verklärung in die Welt gelingt nicht. Daher folgert Smirnov: „[…] die Motivik der Verklärung wird ‚aufgesplittert‘“197, d.h. die Bestandteile der Verklärung seien über den ganzen Roman verstreut. Dazu gehören so disparate Details wie der Zigarettenrauch in Gordons Wohnung (als Wolke, durch die 193 Galina Rylkova interpretiert den Roman qua intertextuelle Analyse als „Übersetzung“ des verlorenen Erbes des Silbernen Zeitalters, namentlich von Bloks Werk, für eine nachrevolutionäre Leserschaft. Rylkova, Galina: „The Silver Age in Translation. Boris Pasternak’s Doctor Zhivago“, in: dies.: The Archeology of Anxiety. The Russian Silver Age and Its Legacy. Pittsburgh 2007, 127–153, hier 135. Der Umstand, dass diese Übersetzung auf der Handlungsebene des Romans gerade nicht gelingt, findet bei Rylkova kaum Beachtung. 194 Smirnov: Roman tajn „Doktor Živago“, 64–85. 195 Vgl. zu diesem Begriff Bekman Chadaga: „Light in Captivity“, 84. 196 Durch die Allusion an Raphael wird auch Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik aufgerufen, wo Nietzsche Raphaels Christus in Apollo umdeutet. In Abhängigkeit davon sieht Smirnov in Doktor Živago wiederum Konstantin Bal’monts Essay „Apollon i myš’“ („Apollo und die Maus“, 1911) aktualisiert. 197 Smirnov: Roman tajn „Doktor Živago“, 76.

396

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

am Berg Tabor Gott spricht), die Straße mit dem Namen Spasskaja in Jurjatin, das Laken, das über Živago geworfen wird, als er an jener Straße rasiert wird (die weiß erstrahlenden Gewänder Christi), sowie später, nach seinem Tod, die Kissen, auf denen er ruht (als Berg Tabor) usw. All diese Splitter würden zusammen eine „Nachbildung des Verklärungswunders“198 ergeben, und die Verborgenheit dieser Nachbildung werde durch die „offensichtliche“ Verklärung im Gedicht „Avgust“ aufgehoben. Über Smirnovs präziser und äußerst gut aufgehender Lektüre kann ein trivialer Umstand leicht vergessen werden: dass eine „zersplitterte“ Verklärung – selbst wenn symbolisch als Anfangs-Bild verstanden – eben keine Verklärung mehr ist. Vor allem aber gibt es unter der Bedingung der Zersplitterung keinen Verklärten, keinen Träger der Verklärung mehr. Einen besonders aufschlussreichen Beitrag zu dieser Problematik liefert Galina Rylkova. Sie geht von der Beobachtung aus, dass die sichtbare Verklärung/Verwandlung (преображение) nicht etwa Živago charakterisiere – in ihm geschehen ja über fünfhundert Seiten kaum nennenswerte Veränderungen –, sondern seine alten Freunde. Gordon und Dudorov imitierten lediglich revolutionäre Denk- und Verhaltensmuster.199 Um es in den Begriffen des jungen Pasternak auszudrücken: Sie sind auf der Seite des schlecht Metaphorischen, der abstrakten Analogiebildung. Živagos Antwort auf die geschichtliche Katastrophe ist nach Rylkova eine ganz andere: die Fragmentierung. Sie schreibt: „In contrast to Gordon, Dudorov and others who found their refuge in metamorphosis, Jurij prefers to undergo painful fragmentation in order to preserve his sameness and integrity.“200 Sie spricht also wie Smirnov von Zersplitterung (womit sie vor allem Jurijs Doppelgänger-Bildungen meint), sieht diese jedoch gerade in Kontrast zur Verwandlung. Das Resultat ist so verschieden nicht: Was bei Smirnov die Denkunmöglichkeit der „zersplitterten Verklärung“ ist, das ist bei Rylkova das Paradox einer identitätsstiftenden Fragmentierung. Ein Vorzug von Rylkovas Vorschlag ist dabei, dass die Vervielfältigung mit der Mimikry zusammengedacht werden kann, was Živagos Lebensgefühl in der zweiten Romanhälfte, wie wir gesehen haben, wohl mehr entspricht. Verweilen wir aber noch bei der Verklärung. Dass Živago seine Kraft und Fähigkeit zu heilen zunehmend einbüßt, hat nicht nur damit zu tun, dass er „nicht ganz so mächtig“ ist wie Christus, sondern vor allem damit, dass er auf die Verklärung verzichtet. Interessanterweise ist die Bewegung von der Ur-Verklärung über die Mimikry zum Verzicht, die ich nachgezeichnet habe, im Gedichtteil noch expliziter formuliert als im Prosateil. Wie Jean-Luc Moreau schon bald nach dem Erscheinen des Romans bemerkte, ist „Avgust“ nicht so sehr ein Gedicht über die Verklärung, 198 Ebd., 84. 199 Rylkova, Galina S.: „Doubling Versus Totality in Doktor Živago of B. Pasternak“, in: Russian Literature XLIII (1998), 495–518, hier 499–501. 200 Ebd., 506/507.

Der Roman Doktor Živago 397

als über den Abschied von der Verklärung.201 Zwar wirkt das Verklärungslicht in Živagos Traumvision vom eigenen Tod am „sechsten August nach altem Stile“ durchaus konkret und real. Lesen wir die Strophen 6 und 7: Вы шли толпою, врозь и парами, Вдруг кто-то вспомнил, что сегодня Шестое августа по-старому, Преображение Господне. Обыкновенно свет без пламени Исходит в этот день с Фавора, И осень, ясная, как знаменье, К себе приковывает взоры.202 Gepaart, geschart, kamt ihr zu vielen her; Da fiel es einem ein, daß heuer Sechster August nach altem Stile wär, Wo man des Herrn Verklärung feiert. Es pflegt ein flammenloses Licht zu gehen Vom Taborberg an diesem Tage, Und Herbst, so klar wie ein Gesicht zu sehen, Hat jeden Blick in Bann geschlagen.203

201 Moreau, Jean-Luc: „The Passion According to Zhivago“, in: Books Abroad 44, 2 (1970), 237–242, hier 239. Der Verklärungstag ist in Pasternaks Leben und Werk von Anfang an mit der Idee des Verzichts verbunden. Im Prosafragment „Sejčas ja sidel u raskrytogo okna i ždal…“ / „Gerade saß ich am offenen Fenster und wartete…“ vom 6. August 1913 erinnert er sich – in der dritten Person – daran, wie er im Sommer 1903 am Verklärungstag vom Pferd fiel und sich das Bein brach. Diesen Fall beschreibt er als Erwachen der Kunst („десятилетие моей… «композиторской деятельности“ / das „Jahrzehnt meiner… ‚kompositorischen Tätigkeit‘“) und zugleich als Opferung seiner glücklichen Kindheit: „A он тонет в своих сумерках и не знает меня; он даже не допускает, что есть такой 23-летний он, и только просит поправить свою подушку, и старается заснуть.“ „Er aber versinkt in seiner Dämmerung und kennt mich nicht; er hält es nicht einmal für möglich, dass ein solcher 23-Jähriger existiert, und er bittet lediglich darum, dass man ihm sein Kissen zurechtschiebt, und versucht einzuschlafen.“ PSS, V, 319–321, hier 319. Die Analogie zum Verklärungsgeschehen in Doktor Živago liegt auf der Hand: So wie Pasternak am Verklärungstag 1903 zugunsten eines schöpferischen Lebens seine kindliche Seligkeit „geopfert“ hatte, so verzichtet Živago in „Avgust“, ebenfalls am Verklärungstag, auf seine ihm eigene Verklärung, indem er sie der Welt überlässt und sich physisch, wie der verunfallte Knabe, in die „Dämmerung“ zurückzieht. Für einen Aufriss der vielfachen Variationen des „Falles vom Pferd“ in Pasternaks Werk vgl. Flejšman, Lazar’: „Avtobiografičeskoe i ‚Avgust‘ Pasternaka“ [1977], in: ders.: Ot Puškina k Pasternaku, 342–347. 202 Doktor Živago, 531/532. 203 Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Doktor Schiwago, 623.

398

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

Doch die erklingende Stimme verkündet nicht die Verklärung, auch keine kommende Auferstehung, sondern sie hält eine Abschiedsrede an die Verklärung: «Прощай, лазурь преображенская И золото второго Спаса Смягчи последней лаской женскою Мне горечь рокового часа. Прощайте, годы безвременщины! Простимся, бездне унижений Бросающая вызов женщина! Я – поле твоего сражения. Прощай, размах крыла расправленный, Полета вольное упорство, И образ мира, в слове явленный, И творчество, и чудотворство».204 „Leb wohl, Verklärungstag, ich grüße nun Dein Blau und Gold zum letzten Male. Mit letzter Frauenzartheit süße nun Der Scheidestunde bittre Qualen, Lebt wohl, ihr Jahre voll von Widrigem; Und Weib, das mutig widerstreitet Dem Abgrund von Entehrend-Niedrigem! Ich bin als Walstatt dir bereitet. Leb wohl, du Schwingenpaar, entfaltetes, Du Wucht des Flugs in freien Lüften, Und Bild der Welt, im Wort gestaltetes, Und Schaffenskraft und Wunderstiften.“205

Das Vorbild des Abschieds vom machtvollen „чудотворство“ / „Wunderstiften“ ist die Kenosis Christi, wie sie im Gedicht „Gefsimanskij sad“ am Ende von Živagos Gesichtzyklus, am Ende des ganzen Romans, mitgeteilt wird. Die Strophe aus „Gefsimanskij sad“ lautet wie folgt:

204 Doktor Živago, 532. – Živagos freiwilliger Abschied vom Logos ist zu unterscheiden vom Sprachschwund seiner Freunde Gordon und Dudorov. In der Literatur wurde vor allem der zweite Aspekt berücksichtigt, während Živago auf Grund der von ihm hinterlassenen Gedichte oft als ungebrochener Ausdruck des johanneischen „Lebens aus dem Logos“ gesehen wird, so etwa bei Tacho-Godi, Elena: „‚I obraz mira, v slove javlennyj…‘ (‚slovo‘ v romane Pasternaka ‚Doktor Živago‘), in: Obraz mira – struktura i celoe. Losevskie čtenija. Materialy meždunarodnoj naučnoj konferencii. Moskva 1999, 86–113. 205 Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Doktor Schiwago, 624.

Der Roman Doktor Živago 399 Он отказался без притворства, Как от вещей, полученных взаймы, От всемогущества и чудотворства, И был теперь как смертные, как мы.206 Er tat Verzicht, ohne gekämpft zu haben, Wie auf ein Gut, das nur geliehn für hier, Auf seine Allmacht, seine Wundergaben, Und war fortan wie Sterbliche, wie wir.207

Steht hinter der freiwilligen Selbstentleerung ein bestimmter Zweck? Oder ist sie wirklich eine absichtslose Verausgabung, wie ich es jeweils nahelegte, wenn ich von einer Kenosis ohne Hintergedanken sprach? Um darauf eine wenigstens vorläufige Antwort geben zu können, tut ein Blick auf den Schluss von „Gefsimanskij sad“ not. In der zweitletzten Strophe wird offen ausgesprochen, in wessen Namen der Verzicht auf die Herrlichkeit und auf das Wunderstiften erfolge: Ты видишь, ход веков подобен притче И может загореться на ходу. Во имя страшного ее величья Я в добровольных муках в гроб сойду.208 Du siehst, der Zeiten Zug ist so entzündlich Wie dunkles Gleichniswort, das plötzlich loht. Im Namen seiner Schreckensgröße find ich In freigewählten Qualen jetzt den Tod. 209

Der Gang der Geschichte sei einem (biblischen) Gleichnis, einer притча ähnlich. Er hat, mit anderen Worten, eine symbolische Dimension. Was genau heißt es, wörtlich übersetzt: „im Namen der schrecklichen Größe des Gleichnisses“ sterben zu wollen? Man kann das sicher im Sinne der figuralen Bibelexegese verstehen, die die Ereignisse des Neuen Testaments als Erfüllungen von Schriftworten des Alten Testaments liest. Laras Freundin Sima Tunceva in Jurjatin spricht darüber einmal ausführlich. Sie nennt das Beispiel, wie in der Tradition die jungfräuliche Geburt Christi und der Durchgang durch das Rote Meer eine solche gleichnishafte oder eben symbolische Verbindung eingingen: So wie das Meer sich nach der Flucht der Israeliten wieder glättete, so blieb der Schoß der Muttergottes bei der Empfängnis unversehrt.210

206 207 208 209 210

Doktor Živago, 547. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Doktor Schiwago, 638. Doktor Živago, 548. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Doktor Schiwago, 639. Doktor Živago, 409.

400

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

„Gefsimanskij sad“ handelt vom Opfertod Christi, der im Neuen Testament ebenfalls als Erfüllung der Schrift verstanden wird. Was aber sagt das Gedicht jenseits theologischer Exegese über Živagos Ende? Erinnern wir uns an eine frühere Verwendung des Gleichnis-Begriffs im Roman. Vedenjapin sagt im Gespräch mit Vyvoločnov: „[…] для меня самое главное [в Евангелии] то, что Христос говорит притчами из быта, поясняя истину светом повседневности.“211 […] für mich […] ist die Hauptsache [im Evangelium], daß Christus in Gleichnissen aus dem alltäglichen Leben spricht, wenn er die Wahrheit im Licht der Alltäglichkeit erläutert.“ Man könnte diese Aussage wiederum quasi bibelwissenschaftlich lesen. Doch wie das meiste, was Vedenjapin sagt, bezieht sie sich unmittelbar auf das Leben seines Neffen Jurij: Živagos ist doch in dem Roman nichts anderes als die „Wahrheit im Licht der Alltäglichkeit“, und umgekehrt: die Alltäglichkeit im Lichte der Wahrheit. Er tritt, wir haben es gesehen, in einem unauffälligen Licht-Kleid in den Text. Aber noch einmal – was heißt es, „im Namen der schrecklichen Größe“ des brennbaren Gleichnisses sterben zu wollen? Auf die Gefahr hin, zu sehr den Prosateil von Doktor Živago in das Gedicht hineinzulesen, möchte ich folgendes Verständnis vorschlagen: Živago nimmt seinen persönlichen Zerfall und das Verschwinden auf sich, damit das Gleichnis, die symbolische Figur, die er ist, wirklich und bleibend „entzündet“ wird. Er war ein „Gleichnis“ Christi, er wandelte wie dieser in einem „flammenlosen“ Glanz („Avgust“). Diesen Glanz des gewöhnlichen Wunders, des Anfangs, der Originalität gibt er Preis, um seine Symbolhaftigkeit zu „schrecklicher Größe“ zu bringen. Wir müssen uns noch einmal Vedenjapins metaphysisches Axiom in Erinnerung rufen: „Das Leben ist symbolisch, weil bedeutsam.“ Der widerstandlose Tod, in „Gefsimanskij sad“ das Entflammen der Gleichnis-Geschichte, ist die Bedeutung, die der sorglose symbolische Glanz für sich allein noch nicht hätte. Mit anderen Worten: Vedenjapins Metaphysik des Bleibens kommt nicht ohne Živagos religiöse Opferbereitschaft aus.212 Kommen wir schließlich zur Verklärung, zur Weiblichkeit und zur Mimikry zurück. Sicher nicht zufällig reimen in den letzten Strophen von „Avgust“ „лазурь 211 Ebd., 44 (Doktor Shiwago, 59/60). 212 Den starken Zusammenhang zwischen dem Lob der Geburt einerseits und dem Leiden und Sterben als Beglaubigung des Anfangs andererseits kann man als das spezifisch Christliche an Pasternaks Roman bezeichnen. Wenn Ludger Lütkehaus die Auffassung kritisiert, wonach die Geburt ein absolutes Gut und das Leben ein „Geschenk“ sei (Lütkehaus: Natalität, 82–89), zeigt sich genau in diesem Punkt der Unterschied: Nach Lüdkehaus ist das Leiden in der Welt ein stichhaltiges Argument gegen das „Geborensein“ und, wenn schon, ein Grund für Undankbarkeit. Bei Pasternak hingegen gibt das Leiden dem Anfang erst seine „schreckliche Größe“. Dabei trifft Lütkehaus’ Rede vom „‚nihilophobe[n]‘ abendländische[n] Denken“ (ebd., 14) zwar auf Pasternaks Kult der Fülle und der Dankbarkeit durchaus zu – aber nur dann, wenn man diesen Kult von der kenotischen Selbstauslöschung abstrahieren würde, die Pasternak zugleich verfolgt.

Der Roman Doktor Živago 401

преображенская“ und „последней лаской женскою“ (unrein) aufeinander.213 Die erste Phase des Abschieds von der Verklärung war Živagos Begegnung und anschließende Liebesbeziehung mit Lara. Doch Lara wurde zugleich zur Garantin eines verschobenen Fortbestehens der Verklärung. Insofern die Verklärung für Živago zur „лазурь преображенская“ – zu einem Prinzip des Weiblichen – geworden ist, bedeutet die Trennung von Lara den endgültigen Abschied von der Verklärung. Der genaue kenotische Sinn des Abschiedsgedichts „Avgust“ wird, wie gezeigt, erst ganz am Schluss des Romans im Passionsgedicht „Gefsimanskij sad“ nachgetragen. Reinhold Vogt spricht im Anschluss an Smirnov von der „postmortale[n] Verklärung Živagos“.214 Die Grundlage hierfür ist allerdings sowohl im Gedicht- wie im Prosateil unsicher. Wenigstens in letzterem überwiegt die Mimikry am Ende klar. Das zeigt die Beschreibung, wie Lara sich an den aufgebahrten und bereits verwesenden Jurij anschmiegt, über ihm Kreuze schlägt und Tränen vergießt. Plötzlich unterbricht sie ihre Trauer und erstarrt für einige Augenblicke wie der daliegende Tote, als wäre sie ihm in den Tod gefolgt: „Она замерла, и несколько мгновений не говорила, не думала и не плакала, покрыв середину гроба, цветов и тела собою, головою, грудью, душою и своими руками, большими, как душа.“215 „Sie erstarrte [erstarb], und ein paar Augenblicke lang sprach sie nicht, dachte sie nicht und weinte sie nicht, sondern bedeckte die Mitte des Sargs, die Blumen und den Leichnam mit ihrem Körper, ihrem Kopf, ihrer Brust, ihrer Seele und ihren Händen, die so groß waren wie ihre Seele.“ Statt dass Živago ihr aus dem Jenseits im Licht der Verklärung entgegenleuchtet, erstarrt Lara mit ihm, gleicht sich ihm an und wird ununterscheidbar von ihm. Sie betreibt Mimikry an den Toten. Wie Galina Rylkova meint, ist nach dem Wortlaut des Romans nicht einmal gesichert, ob es sich bei dem Toten wirklich um Jurij Živago handelt. Mit auffälliger Insistenz werde er am Ende namenlos als „покойник“ / „Verstorbener“ apostrophiert.216 Živagos „Fragmentierung“ zu Lebzeiten sei so weit gegangen, dass er noch im Tod sozusagen getarnt daliege. Ob er so freilich, wie Rylkova meint, seine „Ganzheit“ und „Identität“ retten kann, ist eine andere Frage. Die fragmentierende Mimikry, umso mehr, wenn sie auf den Tod angewendet wird, ist doch ein schwacher Abglanz dessen, was einmal seine Verklärung gewesen ist. Doch das ist für den Roman verhältnismäßig unwichtig. Das Wichtigste scheint zu sein: Ein Anfang ist gemacht. Was nach dem pessimistischen Ende von Doktor Živago bleibt, nachdem 213 Vgl. die Referenz an das symbolistische Inkarnationskonzept „золото в лазури“ / „Gold in Azur“ bei Vladimir Solov’ev und Andrej Belyj. 214 Vogt: Boris Pasternaks monadische Poetik, 205. 215 Doktor Živago, 496/497 (Doktor Shiwago, 684/685). 216 Rylkova: „Doubling Versus Totality“, 496.

402

Verklärung und Verzicht auf das Licht-Kleid

auch Lara bald darauf spurlos verschwindet, ist das Gedächtnis des Lichts an ein Gewesen-Sein. Die Verklärung hat ihren Träger verloren, aber etwas bleibt in ihr gespeichert. Die Bedeutsamkeit des Lebens ist am Ende gerettet.

8. Kapitel und Schluss Lichtpoetik als Metaphysik Verinhaltlichung und „erfüllte“ Zukunft in Ljudi i položenija / Menschen und Standorte und Kogda razguljaetsja / Wenn es aufklart Es sprechen, wenn ich ferne bin, statt meiner Des Himmels Blumen, blühendes Gestirn, Und die der Erde tausendfach entkeimen. Die göttlichgegenwärtige Natur Bedarf der Rede nicht; und nimmer läßt Sie einsam euch, wo einmal sie genaht, Denn unauslöschlich ist der Augenblick Von ihr, und siegend wirkt durch alle Zeiten Beseligend hinab sein himmlisch Feuer. Friedrich Hölderlin, Der Tod des Empedokles I

Hatte der junge Dichter in Sestra moja – žizn’ die Welt gleichsam zum ersten Mal gesehen, so erblickt er sie in Kogda razguljaetsja / Wenn es aufklart zum letzten Mal. Diese Formel wurde wenige Jahre nach dem Erscheinen von Pasternaks letztem Gedichtband im Westen (Paris, 1959) von Angela Livingstone geprägt und danach in der Literatur mehrfach wieder aufgegriffen.1 Das Interessante an der Dichotomie „Frische“ der frühen vs. „Kraftlosigkeit“ der späten Gedichte liegt für uns vor allem in der Unterscheidung zweier Arten von Verwandlung. Der junge Pasternak habe durch seine Poesie die Welt verwandelt, während der ältere sie nur noch betrachte und darauf warte, dass sie sich von selbst verwandle: „He no longer feels that, as poet, he will transform the given world into something new und intense and extraordinary. Instead, he will go along with it, letting its whole presence work on him, until it yields its own splendid moment, it promises its own transformation.“2 Ich hoffe, mit der vorliegenden Studie gezeigt zu haben, dass die Annahme eines solchen Gegensatzes nicht notwendig ist. Denn das Prinzip der Nicht-Konstruierbarkeit der Verwandlung wird bei Pasternak von Anfang an sichtbar, und ebenso das poetologisch-mediale Suchen nach einem Träger der Verwandlung. Zwar kann man sicherlich sagen, dass die Poesie des nun 65-, bald 70-jährigen Pasternak kontemplativer ist als jene des 25-, 30-Jährigen. Doch sein „poëtisches Nachdenken“ (Novalis), das ich durch die vielfältigen Licht-Epiphanien hindurch herauszuarbeiten versucht 1 Livingstone, Angela: „Pasternak’s Last Poetry“ [1963], in: Erlich: Pasternak. A Collection of Critical Essays, 166–175, hier 175; Hingely, Roland: Pasternak. A Biography. London 1983, 263; sowie Barnes: Boris Pasternak, II, 311. 2 Livingstone: „Pasternak’s Last Poetry“, 166.

404 Schluss

habe, ist ein Zug, der von der ersten bis zur letzten Zeile Pasternaks durchgängig wirksam ist.

Erfüllung statt Verwandlung Der Begriff der Verwandlung ist schon in einem Vorwort (1961) Vladimir Vejdles für die Ann-Arbor-Werkausgabe entscheidend für das Konzipieren von Pasternaks „später“ Lyrik. Vejdle geht anders als Livingstone nicht vom „Verblassen“ der dichterischen Kraft Pasternaks aus, sondern sieht eine Zurücknahme des „Glitzerns“ am Werk, durch das sich das virtuose Frühwerk Pasternaks ausgezeichnet habe. Den Prozess dieses Verzichts auf Brillanz bezeichnet Vejdle als „преображение“, eben als Verwandlung. Während also Livingstone mit „transformation“ die Verwandlung der Welt entweder durch die Macht von Metaphern („Frühwerk“) oder aus sich selbst („Spätwerk“) meint, versteht Vejdle unter „преображение“ den Verzicht auf technisch-strukturelles „Glitzern“ zugunsten von einheitlich-symbolischem „Leuchten“. Lesen wir eine Passage aus Vejdles Essay – mithin einem vorzüglichen Beispiel für einen philologischen Stil, der aus Lichtmetaphorik seine Metasprache generiert und sich so mit dem Gegenstand vermischt: Die Gabe der Bildlichkeit ist nicht verschwunden, hat aber auch nicht einfach nur ihr Maß gefunden: sie hat sich verwandelt, so wie sich Pasternaks ganze Kunst verwandelt hat, was sich gerade nicht als schrittweises Aussieben und als Reifung erklären lässt. Die Verwandlung fand ihren Ausdruck im Übergang von einem merklichen zu einem unmerklichen Stil, einem Übergang, bedingt durch den Verzicht auf diese Bemerkbarkeit oder, wenn man tiefer schaut, durch den Verzicht darauf, das, was der Dichter früher vor allem bemerkte, zu bemerken, auf das, was ihn auch leitete in der Bewertung seiner Werke: das Funkeln ihres Wort-Gewebes […]. Durch diesen Verzicht ist das Funkeln nicht ausgelöscht, es hat sich lediglich dem Wort untergeordnet, das durch es hindurchscheint. […] die Überwindung des Modernismus ist keine Absage an die Poesie. Die Durchsichtigkeit des Gewebes bedeutet nicht dessen Schadhaftigkeit.3

Vejdle tut im Grunde nichts anderes, als Pasternaks kritische Selbstkommentierung, die in Doktor Živago angedeutet ist und in der zweiten Autobiographie Ljudi i položenija explizit wird4, in eine lichtmetaphorische Konstellation rückzuübersetzen. 3 Vejdle: „Zaveršenie puti“, XIII/XIV. 4 Vgl. die berühmte Selbstanklage: „Я не люблю своего стиля до 1940 года […]. Мне чужд общий тогдашний распад форм, оскудение мысли, засоренный и неровный слог. Я не тужу об исчезновении работ порочных и несовершенных.“ „Ich liebe meinen Stil bis 1940 nicht […]. Mir ist der allgemeine damalige Formenzerfall fremd, die Verarmung des Gedankens, die verschlackte und ungestalte Fügung. Ich bejammere das Verschwinden mangelhafter und unvollendeter Arbeiten nicht.“ Ljudi i položenija, 327 (Menschen und Standorte, 526). – Ljudi i položenija wurde erstmals 1967 in Novyj mir publiziert.

Lichtpoetik als Metaphysik

405

Dazu gehört die Wiederanbindung an den Symbolismus, namentlich der Bezug auf die Äußerung Dmitrij Merežkovskijs zum idealen Verhältnis von Wort (Flamme) und Text (transparenter Alabasteramphpore). Ein Gedicht solle möglichst ungetrübte Durchsicht auf das Wesen, die Lichtquelle, erlauben. Merežkovskijs Grundsatz von 1892 wird, avantgardekritisch gewendet, zum Schlüsselbegriff für das ‚reife‘ Schreiben Pasternaks. Dabei blendet Vejdle den Umstand aus, dass der lichte Logos („сияющее слово“) bei Pasternak keineswegs problemlos-pulsierend hinter den Erscheinungen ruht. Erinnern wir uns noch einmal: In den frühen Texten hatte der Logos solange überhaupt „keinen Platz“ gehabt, wie für ihn kein tragendes Medium gefunden und er ‚nur‘ energetisch-männlich gewesen war. Die Idee des Verzichts, die Vejdle in Bezug auf den späten Pasternak stark macht, ist so bereits in dessen ersten Versuchen präsent und wird mit dem Ereignis des Licht-Regens tragend. In Detstvo Ljuvers tritt in Form eines stillen Leidens an der ‚Aufklärung‘ ein Moment offener Rationalismuskritik zutage, das in Pasternaks anfänglichem Unbehagen am Licht ebenfalls schon angeklungen war. Die mittlere, sozialismusnahe Periode von Pasternaks Werk war dann geprägt von dem Versuch, die Poetik des Lichts mit der neuen Aufklärung, dem revolutionären Rationalismus Lenins5 und noch mehr mit Stalins charismatisch-sozialistischer Politik in Einklang zu bringen. Diese Bewegungen werden nach 1945 mit Doktor Živago zu einer Existenzialisierung von Poetologie, Metaphysik und Historiosophie des Lichts in der Titelfigur gebündelt. Die Vorstellung des real gewordenen Lichts findet sich auch in Äußerungen Pasternaks über seinen Roman immer wieder. Besonders erwähnenswert ist hier eine Postkarte, die er 1958 seiner deutschen Brieffreundin Renate Schweitzer schrieb. Pasternak formuliert hier die Extremposition, wonach seine literarischen Vorgänger und Vorbilder, zumal Rilke, an seiner Stelle schon alles geschrieben hätten und seine Aufgabe nach der Zäsur des Kriegs lediglich noch darin bestehe, das dysfunktionale Licht der untergegangenen Kultur neu lebendig zu machen: 5 Siehe Flejšman: „Pasternak i Lenin“. Außerhalb seiner antikommunistischen Figur Jurij Živago hat Pasternak in verschiedenen Äußerungen klar an seiner Affirmation der Revolution und Bewunderung für Lenins ‚Konsequenz‘ festgehalten. Vgl. eine Notiz von 1956: „Ленин был душой и совестью… редчайшей достопримечательности, лицом и голосом великой русской бури, единственной и необычайной. Он с горячностью гения, не колеблясь взял на себя ответственность за кровь и ломку, каких не видел мир, он не побоялся кликнуть клич к народу, воззвать к самым затаенным и заветным его чаяниям, он позволил морю разбушеваться, ураган пронесся с его благословения.“ „Lenin war die Seele und das Gewissen eines solch überaus seltenen, denkwürdigen Geschehnisses, Antlitz und Stimme des großen russischen Sturms, eines einmaligen und außergewöhnlichen. Mit dem Feuer des Genies nahm er, ohne zu schwanken, die Verantwortung auf sich für das Blut und einen Umbruch, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, er fürchtete sich nicht, seinen Ruf an das Volk zu richten, an seine geheimsten und sehnlichsten Hoffnungen zu appellieren, er gestattete dem Meer zu toben, mit seinem Segen brauste der Orkan dahin.“ „‚Sestra moja – žizn’‘“, 497. („‚Meine Schwester – das Leben‘“, 554).

406 Schluss Mir ist, als hätte ich vor mir selbst nichts neues gemacht, als hätten meine Lehrer und Vorboten, unsre großen Romanisten (und die Scandinavier), vielleicht alles mit meinen Händen geschrieben, als hätte ich Maltes Kerze, die kalt ohne Gebrauch stand, angezündet, und wäre mit Rilkes Licht in der Hand in die Finsternis aus dem Haus hinausgetreten, in den Hof, auf die Straße, inmitten der Trümmer. Denke Dir, er hatte in den Aufzeichnungen (ebenso wie Proust) oft keine Verwendung für seine geniale Durchdringung, – und jetzt schaue, – Haufen, Berge von Anwendungsanlässen, schauerliche, flehende Schaffensvorwände. Wie ist doch die Wirklichkeit nicht zum scherzen wie tragisch und ernst und doch ist es Erdenwirklichkeit, poetische Bestimmtheit. Und da wollen wir weinen, vor Glück, vor Schauer.6

Der konkrete Bezug dieses Lichts könnte jene Kerze aus Doktor Živago sein, die an einem Weihnachtsabend noch vor dem Ersten Weltkrieg durch ein vereistes Fenster am Kamergerskij pereulok brennt und so „auf die Straße“ hinaus scheint – zum vorüberfahrenden Živago und damit belebend in allen Richtungen des Textes. Jedenfalls changiert das Licht in den Zeilen an Schweitzer in höchstem Maße zwischen literarischer Motivanalyse und Kulturkritik und macht eine strenge Disktinktion zwischen den beiden unmöglich. Darin unterscheidet sich die Selbstkommentierung auch nicht prinzipiell von manchen Essays über Pasternak. Kommen wir zu Kogda razguljaetsja und zur Verwandlungsfigur zurück. Henry Gifford schreibt in seiner Pasternak-Einführung: „In general these poems are about transformation […].“7 Ich möchte im Folgenden, einen Schritt zurück machend, die Frage stellen, was nach Doktor Živago noch unter Verwandlung verstanden werden könnte. Was muss überhaupt noch verwandelt werden? Berücksichtigt man, dass Kogda razguljaetsja ein Gedichtbuch nach dem Roman ist, den Pasternak als sein Vermächtnis ansah,8 so fällt auf: Einen eigentlichen Brennpunkt des Lichts wie die Figur Jurij Živagos und noch offensichtlicher den Christus der Gedichte aus dem Jahreskreis der kirchlichen Feste gibt es hier nicht. Der Status des Subjekts ist ein grundlegend anderer. In Doktor Živago war selbst die finale Nicht-Verklärung irgendwie noch eine Heldentat des Protagonisten, und schon in Sestra moja – žizn’ wurde das schwache Ich durch seine hartnäckige Passivität suggestiv eher noch präsenter. In Kogda razguljaetsja findet eine Distanzierung ge6 Postkarte vom 18. September 1958. Schweitzer, Renate: Freundschaft mit Boris Pasternak. Wien/München/Basel 1963, 49. 7 Gifford, Henry: Pasternak. A Critical Study. Cambridge/London/New York/Melbourne 1977, 224. 8 Vgl. die Postkarte an Renate Schweitzer vom 3. April 1958: „Wir hatten auch vor dem 1sten Weltkriege eine ganz neue, hohe, begeisternde Kunst und Kultur. Eben der Treue dieser Liebe wegen sollte man in derselben Richtung viel, viel weiter gehen ins Klare und Eindeutige und Wichtige, ohne aber das Kunstwahre, das Poetische der historischen Existenz, das Gefühl der, auch erschlossenen Geheimnisse zu verlieren. Diesen Weg habe ich mich immer abzulegen und durchzumachen gesehnt. In ‚Sch.‘ [Doktor Živago] habe ich es gemacht. Ich wünsche Ihnen alles Beste.“ Schweitzer: Freundschaft mit Boris Pasternak, 11/12.

Lichtpoetik als Metaphysik

407

genüber der Welt statt, die zugleich ein Zurücktreten des Subjekts ist. Der Sprechende wird zum Betrachter, er ist nicht mehr das „geheimnisvolle Zentrum“ des Geschehens und nicht der „Gemeinte“ aus Sestra moja – žizn’. Er wird zur dankbaren Zeugenfigur.9 Und doch: Wovon kann sie denn noch zeugen, wenn das Leben als „Geheimnis und Unmerklichkeit“ gedacht wird? In der biographischen Skizze Ljudi i položenija heißt es: „Я люблю свою жизнь и доволен ею. Я не нуждаюсь в ее дополнительной позолоте. Жизни вне тайны и незаметности, жизни в зеркальном блеске выставочной витрины я не мыслю.“10 „Ich liebe mein Leben und bin zufrieden mit ihm. Ich brauche seine zusätzliche Vergoldung nicht. Ein Leben außerhalb des Geheimnisses und der Unmerklichkeit, ein Leben im Spiegelglanz der Vitrinen denke ich mir nicht.“ Die Passage ist mehr als eine der zahlreichen, zuweilen als heuchlerisch kritisierten Bescheidenheitsgesten des älteren Pasternak. Sie ist von poetologischem Interesse. Die Vergoldung ist ein Phänomen an der Oberfläche, so erklärt sich, weshalb das Leben keine „дополнительная позолотa“ (buchstäblich verstanden: „ausfüllende“ Vergoldung) nötig hat. Abgesehen davon, dass eine Oberfläche ohne Tiefe ist und also auch nicht ausgefüllt werden könnte, hat das Leben in Pasternaks Verständnis gar keine Oberfläche – es wird zur Fülle. Und obwohl es „geheim“ und „unmerklich“ ist, entspricht ihm wenn keine „Vergoldung“, so doch ein Licht: Das Leben ist Fülle, so wie sich vor dem Betrachter in der Landschaft oder im Haus Licht ausbreitet. Wie Licht kann das Leben nicht anders, als ganz und überall zu sein. Mit jedem aufscheinenden Licht wird eine Leere erfüllt. Der Schlüsselbegriff von Pasternaks Werk nach Doktor Živago ist, so meine Beobachtung, nicht Verwandlung11, sondern Er-füllung. Die Denkfigur, wonach das Licht in seiner Sichtund Verstehbarkeit abgewertet und in seiner reinen Gegenwärtigkeit entdeckt werden müsse, hatte Pasternak bereits in Ochrannaja gramota entwickelt. Diese Paradoxie hält sich in den 50er Jahren. Einerseits ist das Licht der Inbegriff der Sichtbarkeit, andererseits kommt gerade das Unsichtbare (Liebe, Freude, Dankbarkeit) auf Umschreibungen durch Licht nicht herum. Beginnen wir die Lektüre von Ljudi i položenija und Kogda razguljaetsja mit einer Erleuchtungsszene im Wald. Der Erzähler der autobiographischen Skizze erinnert sich an einen Frühlingsmorgen seiner Kindheit:

9 Vgl. dazu Dvorec, Žanna: „B. L. Pasternak. Kogda razguljaetsja (Kniga stichov kak celoe)“, in: Russkij jazyk v škole 1 (1990), 60–66, hier 65/66. Gasparov spricht von „Betrachtung“ statt „Berührungsleidenschaft“. Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 124. 10 Ljudi i položenija, 337 (Menschen und Standorte, 540, modifiziert). 11 Vgl. dazu Livingstone: „[…] a landscape is transformed by the weather or season so that the thought of some universal change or religious revelation is quickened in it.“ Livingstone: „Pasternak’s Last Poetry“, 167.

408 Schluss Солнце дробилось в лесной листве, низко свешивавшейся над домом. […] Я убежал в лес. Боже и Господи Сил, чем он [лес] в то утро был полон! Его по всем направлениям пронизывало солнце. Лесная движущаяся тень то так, то сяк всe время поправляла на нем шапку.“12 Die Sonne zersplitterte sich im Laub des Waldes, das tief auf das Haus herunterhing. […] Gott und Herr der Gewalten, was alles erfüllte ihn [den Wald] an diesem Morgen! In allen Richtungen durchdrang ihn die Sonne. Das sich bewegende Walddunkel rückte ihm immerfort, mal so, mal anders, den Hut zurecht.13

Diese Kindheitsepisode erzählt anders als jene in Doktor Živago („Lesnoe voinstvo“ / „Das Waldheer“, Kap. XI) nicht von der Verklärung des keinen Helden, sondern von der Erfüllung des Waldes „in allen Richtungen“ – mit Licht und Schatten. Wie sich aber Jurijs Licht-Epiphanie im Leben des Erwachsenen wiederholte, so wird sie auch in Pasternaks Texten nach Doktor Živago in gewissem Sinne doppelt präsentiert. Neben der Erinnerung an das Lichtspiel aus Ljudi i položenija steht die Waldszenerie eines Gedichtes aus Kogda razguljaetsja, „Tišina“ („Stille“, 1957). Es handelt vom schrägen Sonneneinfall zwischen den Bäumen, in der Gegenwart: Пронизан солнцем лес насквозь. Лучи стоят столбами пыли. Отсюда, уверяют, лось Выходит на дорог развилье. В лесу молчанье, тишина, Как будто жизнь в глухой лощине Не солнцем заворожена, А по совсем другой причине. Действительно, невдалеке Средь заросли стоит лосиха. Пред ней деревья в столбняке. Вот отчего в лесу так тихо.14 Von Sonne ist der Wald durchbohrt. Die Strahlen stehn als Staubeskelche. Von hier, so heißt es, treten vor Zur Wegegabelung die Elche. Im Wald ist Schweigen, Stille wächst, Als sei das Leben in der Schrunde Nicht von der Sonne so verhext, Vielmehr aus völlig anderm Grunde. 12 Ljudi i položenija, 302. 13 Menschen und Standorte, 491. 14 PSS, II, 157.

Lichtpoetik als Metaphysik

409 Tatsächlich, gar nicht weit verharrt Die Elchin in bebuschter Rille. Vor ihr ist jeder Baum erstarrt, Drum also ist’s im Wald so stille.15

Worin liegt der offensichtliche Unterschied zu Živagos Epiphanie? Das „unerhörte Ereignis“ („небывылый случай“, zweitletzte Str.16) besteht hier nicht darin, dass ein kreatives Subjekt an der Licht-Durchdringung des Waldes partizipieren würde. Der Betrachter ist in der Betrachtung betont abwesend. Die Präsenz von Licht bildet lediglich die Voraussetzung, unter der sich in der Natur das unscheinbare Trinken eines Tieres ereignet. Ganz im Sinne der Lebens- und Kunstphilosophie von Ochrannaja gramota wird der Sonnenschein vom Staunen der Natur über das unspektakuläre Ereignis „überholt“. Das durchdringende Licht der ersten Strophe wird zum Medium, in dem das Ereignis, die Stille des Waldes, in dem das ganze Gedicht sich entfaltet. Mit der existenziellen Dramatik eines erscheinenden und sich wieder zurückziehenden Subjekts ist es nicht mehr verwoben. Zwar ist Licht gegenwärtig, eröffnet und verbindet Szenerien. Im Grunde ist es aber nicht mehr beteiligt an dem, was geschieht. Es ist zur metaphysischen Grundierung geworden. Offensichtlich sind die Verbindungslinien zwischen den Konzepten Licht, Fülle und ‚Originalität‘ des Lebens in der Prosa von Ljudi i položenija. In einer sehr analytischen, betont unemotionalen Passage zum Selbstmord seiner Dichterfreunde bzw. -kollegen Sergej Esenin, Vladimir Majakovskij, Marina Cvetaeva und Aleksandr Fadeev verwendet Pasternak entsprechend im Kontrast dazu ein Modell der Entleerung, um den Zustand eines Selbstmörders zu beschreiben. Wenn der Selbstmörder jemand sei, der sich selbst zum Tod verurteilt, so unterscheide sich sein Zustand doch in einem wesentlichen Punkt von dem eines offiziell zum Tod Verurteilten. Letzterer bleibt nach Pasternak bis zum Moment der Exekution eine ganze Person, d.h. er bleibt mit seiner Vergangenheit verbunden. Seine Erinnerungen „gehören“ ihm in den Sekunden vor der Hinrichtung sogar umso mehr.17 Der Selbstmörder dagegen wendet sich von seinem Leben als Kontinuum ab, er trennt sich von der Originalität und vom Gewesen-Sein seines Lebens so weit, dass er sich seiner Personalität begibt und die ‚gewachsene‘ Integrität noch vor dem Ende auftrennt. Pasternak schreibt: Приходя к мысли о самоубийстве, ставят крест на себе, отворачиваются от прошлого, объявляют себя банкротами, а свои воспоминания недействительными. Эти воспоминания уже не могут дотянуться до человека, спасти и поддержать его. Непрерывность внутреннего существования нарушена, личность кончилась. Может быть, в заключение убивают себя не из верности принятому решению, а из нестерпимости этой тоски, неве15 Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Gedichte und Poeme, 438. 16 PSS, II, 157. 17 Ljudi i položenija, 331.

410 Schluss домо кому принадлежащей, этого страдания в отсутствие страдающего, этого пустого, не заполненного продолжающейся жизнью ожидания.18 Kommt man auf den Gedanken an den Selbstmord, räumt man das Feld, wendet sich ab vom Vergangenen, erklärt sich bankrott und seine Erinnerung für ungültig. Diese Erinnerungen können den Menschen nicht mehr erreichen, ihn retten und ihn unterstützen. Der Zusammenhang der inneren Existenz ist gestört, die Persönlichkeit hat geendet. Vielleicht tötet man sich am Schluß nicht aus Treue zu der gefaßten Entscheidung, sondern aus der Unerträglichkeit dieser Sehnsucht, die unbekannt wem gehört, dieses Leidens in Abwesenheit des Leidenden, dieser leeren, von dem sich fortsetzenden Leben nicht erfüllten Erwartung.19

Der Zustand des Selbstmörders, definiert als „Leiden in Abwesenheit eines Leidenden“, ist der eines verabsolutierten, subjektlosen (‚trägerlosen‘) Leidens, einer entleerten, weil von keinem Leben er-füllten Erwartung des Todes. Statt dem Tod als etwas „Offenem“ entgegenzugehen, lässt er sich von Ungeduld verführen – wie nach Rainer Maria Rilkes „Requiem“ (1908) der junge Dichter und Selbstmörder Wolf Graf von Kalckreuth. Der pietät- und zugleich vorwurfsvolle Ton in Rilkes langem Gedicht könnte ein Modell für Pasternaks Passage gewesen sein: O dieser Schlag, wie geht er durch das Weltall, wenn irgendwo vom harten scharfen Zugwind der Ungeduld ein Offenes ins Schloß fällt.20

Zwar kann man sagen, dass die ungeduldige ‚leere Erwartung‘ des Todes eine tatsächlich reine Gegenwart ist. Doch ihr ist verglichen etwa mit jener im Gedicht „Tišina“ evozierten Gegenwart ein verhängnisvoller Mangel eingeschrieben: Sie hat keinen symbolischen Grund, ihr fehlt jede ‚Berührung‘ mit einem grundierenden Licht. Gerade an der Stelle, an der Pasternak den ihm (mehr oder weniger) nahe stehenden Selbstmördern seine Anteilnahme ausspricht, wird der Exkurs zur eigentlichen Anklage.21 Er schreibt: „Но все они мучились неописуемо, мучились в той степени, когда чувство тоски уже является душевною болезнью. И помимо их таланта и светлой памяти участливо склонимся также перед их страданием.“22 „Aber sie alle haben sich unbeschreiblich gequält, gequält auf jener Stufe, wo die 18 Ebd. 19 Menschen und Standorte, 531/532, modifiziert. 20 Rilke: Werke, 1, Gedichte 1885 bis 1910, 423. Siehe dazu Blanchot: L’espace littéraire, 121/122. 21 Es ist wahrscheinlich, dass die Anklage zu einem guten Teil wiederum selbstkritisch zu verstehen ist. Pasternak schreibt als „счастливец“ / „Glückspilz“ (vgl. Bykov, Dmitrij: Boris Pasternak. Izdanie sed’moe. Moskva 2007, 9–16), dem es schwerfällt sich einzugestehen, dass er selbst (Anfang der dreißiger Jahre) einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Vgl. dazu Loewen, Donald: The Most Dangerous Art. Poetry, Politics, and Autobiography after the Russian Revolution. Lanham, MD, 2008, 89. 22 Ljudi i položenija, 332 (Menschen und Standorte, 533, modifiziert).

Lichtpoetik als Metaphysik

411

Empfindung der Sehnsucht schon als seelische Krankheit erscheint. Und wie vor ihrem Talent und lichten Andenken verneigen wir uns mit Teilnahme auch vor ihrem Leiden.“ Bemerkenswert ist hier die Differenzierung der Ehrerbietung. Der Autor verneigt sich einerseits vor dem Talent und dem „lichten Andenken“, andererseits vor dem Leiden der Selbstmörder. Ihr Leiden wird durch diesen syntaktischen Kunstgriff außerhalb des Lichts, des „lichten“ Gedenkens angesiedelt. Denn es war ja kein Leiden um des Lebens willen mehr. Das Auseinanderfallen von Licht und Leiden steht dabei in deutlichem Kontrast zum Schicksal Živagos. Im Gedicht „Avgust“ verabschiedet sich der Doktor offen von der Verklärung, so dass man in Bezug auf das Finale des Romans präzise von einer Verklärung ohne Verklärten sprechen könnte. Indem er sein Licht-Gewand in der Welt zurücklässt, verzichtet er auf sein Ein und Alles. In gewissem Sinne rettet er damit aber die Verklärung, er bewahrt sie davor, dass sie sich, wer weiß, wie das „Gift“ und die „Scheinwerfer“ des Bewusstseins nach innen wendet. Letzteres geschieht mit Živagos Gegenspieler Antipov/Strel’nikov, der es nicht schafft, sein „просветление“23 / seine „Erleuchtung“ an die Welt weiterzugeben, und als Selbstmörder endet. Während Antipov/Strel’nikov buchstäblich nur ein Nichts zurücklässt in der Welt (ein „Leiden ohne Leidenden“), hinterlässt Živago gemeinsam mit Lara einen absoluten Anfang. Die Ausführungen über den Selbstmord in Ljudi i položenija können insofern auch als Kommentar zu Doktor Živago gelesen werden. Jedenfalls sind sie noch ganz in den Kategorien des Romans gehalten. Mit Bedacht kommt Pasternak in Ljudi i položenija noch einmal auf seinen Vortrag „Simvolizm i bessmertie“ von 1913 zurück.24 Dem Resümee zufolge, das er mehr als vierzig Jahre später davon gibt, baute schon der ästhetisch-metaphysische Versuch des jungen Dichters auf der Unterscheidung zwischen wahrnehmbaren Phänomenen („звук[и] и краск[и]“ / „Klängen und Farben“) einerseits und „etwas anderem“, einem „объективное колебание звуковых и световых волн“  / einer „objektiven Schwingung von Klang- und Lichtwellen“ andererseits auf.25 In diesen Wellen, dem unsichtbaren „Kraftstrahl“ der Liebe aus Ochrannaja gramota verwandt, sah Pasternak eine höhere, „objektive“ Subjektivität, und das heißt: den subjektiven Anteil jedes Einzelnen, mit dem er bleibend in das Leben aller Menschen eingeht. Die Lichtwellen hinter den Erscheinungen stehen also für das (wenige) Bleibende aller einmal Dagewesenen, für das Gewesen-Sein eines jeden vergangenen Lebens – für die unanfechtbare Dimension des Anfangs in allem Vergangenen.26 Sein Hauptan23 Doktor Živago, 110. 24 Zur anachronistischen Überblendung dieses Vortrags (gehalten 1913) mit Lev Tolstojs Tod (1910) vgl. Sherman: „An Art of Life: Pasternak’s Autobiographies“, 32. 25 Ljudi i položenija, 319. 26 Ebd. Gasparov zeigt, dass dieser Gedanke in den überlieferten Thesen des Vortrags von 1913 nicht vorkommt, dass Pasternak also eine Grundidee von Doktor Živago auf „Simvolizm i bessmertie“ zurückprojiziert. Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 108.

412 Schluss

liegen als junger Dichter sei es indessen gewesen, so Pasternak weiter, diese objektive Subjektivität des Lebens als zentralen Inhalt der Kunst zu postulieren: Главною целью доклада было выставить допущение, что, может быть, этот предельно субъективный и всечеловеческий угол или выдел души есть извечный круг действия и главное содержание искусства. Что, кроме того, хотя художник, конечно, смертен, как все, счастье существования, которое он испытал, бессмертно и в некотором приближении к личной и кровной форме его первоначальных ощущений может быть испытано другими спустя века после него по его произведениям.27 Hauptziel des Vortrags war, die These aufzustellen, daß vielleicht dieser höchst subjektive und allgemeinmenschliche Winkel oder Anteil der Seele der ewige Wirkungskreis und der Hauptinhalt der Kunst sei. Daß außerdem, obwohl der Künstler natürlich sterblich ist wie alle, das Glück des Daseins, das er erfahren hat, unsterblich ist und in einer gewissen Annäherung an die persönliche und bluteigene Form seiner ursprünglichen Empfindungen von anderen Jahrhunderten später auf dem Weg über seine Werke erfahren werden kann.28

Pasternak hatte in den Jahren nach „Simvolizm i bessmertie“ wiederholt gegen die „romantizistische“ Vorstellung vom Künstler-Demiurgen polemisiert, und diese ablehnende Haltung ist in den fünfziger Jahren nicht geringer geworden. Noch stärker das Postulat der Unmittelbarkeit hervorkehrend, erläutert Pasternak den Begriff kurz vor seinem Tod in einem Brief an Renate Schweitzer: Unter Romantismus verstand ich nicht die einst dagewesene Strömung, nicht die tatsächliche Schule, nicht den Grad der Kunstentwicklung, sondern die Romantik als Prinzip: das Abgeleitete, das Nichtursprüngliche, Literatur über Literatur, das Kunstbewundern seitens der Künstler (wogegen ein schöpferisches Kunstgenie ein Kunstverachter und Lebensanbeter durch Kunst ist (wieder einseitig übertrieben, damit Du es ertappst) […].“29

So geht es auch in der Rekapitulation von „Simvolizm i bessmertie“, obwohl der Künstler zum Mittelpunkt des Kunstwerks erklärt wird, im Grunde um etwas anderes. Ein Kunstwerk könne nur dann bleibend und allgemein sein (mehr als ein bloßes Faktum), wenn es zugleich unendlich persönlich sei. Insofern Kunst für Pasternak in letzter Konsequenz nur vom „Glück des Daseins“, genauer: vom Glück zu existieren30 handeln kann, muss sie von der Person ihres Schöpfers her gedacht werden. Letzterer ist dabei aber nicht mehr als ein Zeuge der „Unsterblichkeit“,31 Ljudi i položenija, 319. Menschen und Standorte, 514. Brief vom 26. Juli 1959. Schweitzer: Freundschaft mit Boris Pasternak, 89. Vgl. die Definition Jurij Živagos, wonach Kunst eine Erzählung über das „Glück zu existieren“ („рассказ о cчастье существования“) sei. Doktor Živago, 452. 31 Vgl. Jakobson, Anatolij: „‚Vakchanalija‘ v kontekste pozdnego Pasternaka“, in: Slavica Hierosolymitana III (1978), 302–379. Jakobson bezeichnet die Unsterblichkeit als „Grundthema des späten“ Pasternak (ebd., 308), während sie beim „frühen und mittleren“ Pasternak uneigentlich gemeint sei („Metapher, Allegorie, Bedingtheit“, ebd., 311). Erstmals findet sich

27 28 29 30

Lichtpoetik als Metaphysik

413

ein Zeuge dessen, dass es in jedem Leben einen bleibenden Anteil gibt. Meine These lautet: Um dieser Idee, der Metaphysik des „bleibenden Anteils“, eine Sprache zu geben, leuchten in den Texten des späten Pasternak immer wieder neue Lichter auf. Damit können wir auf die oft gestellte Frage nach der Religiosität zu sprechen kommen. Obwohl sich in den Texten nach Doktor Živago nur noch selten offene Hinweise auf das Christentum finden, ist es in Pasternaks spätesten Werken nicht weniger präsent. Das zeigt sich, wie im Roman, vor allem in der weihnachtlich-österlichen Idee vom Leben als absoluter Originalität.32 Das Licht des ‚Anfangens‘ ist in Ljudi i položenija und Kogda razguljaetsja freilich nicht mehr von einer Figur getragen. Es ist verstreuter und, was die Quellen des Lichts betrifft, profaner. Es ist „blitzhafter“, eine grelle Visualität scheint die geheimnisvolle Verklärtheit Živagos abzulösen.33 Zur künstlerischen Referenz wird konsequenterweise, stärker als noch im Roman, die „Originalität“ Lev Tolstojs. In Ljudi i položenija heißt es über ihn: Главным качеством этого моралиста, уравнителя, проповедника законности, которая охватывала бы всех без послаблений и изъятий, была ни на кого не похожая, парадоксальности достигавшая оригинальность. Он всю жизнь, во всякое время обладал способностью видеть явления в оторванной окончательности отдельного мгновения, в исчерпывающем выпуклом очерке, как глядим мы только в редких случаях, в детстве, или на гребне всеобновляющего счастья, или в торжестве большой душевной победы. Для того, чтобы так видеть, глаз наш должна направлять страсть. Она-то именно и озаряет своей вспышкой предмет, усиливая его видимость. Такую страсть, страсть творческого созерцания, Толстой постоянно носил в себе. Это в ее именно свете он видел всё в первоначальной свежести, по-новому, и как бы впервые. Подлинность виденного им так расходится с нашими привычками, что может показаться нам странной. Но Толстой не искал этой странности, не преследовал ее в качестве цели, а тем более не сообщал ее своим произведением в виде писательского приема.34 Jakobson zufolge in Pasternaks Gedenkgedicht auf Marina Cvetaeva von 1943 ein Hinweis auf „ontologische Unsterblichkeit“ (ebd., 311/313). Wie ich meine, zeigt gerade die Reaktualisierung von „Simvolizm i bessmertie“ im Jahr 1956, dass die Unsterblichkeit weder im Frühwerk Pasternaks nur metaphorisch noch im Spätwerk ganz ontologisch zu verstehen ist. Sie umschreibt im gesamten Werk überall mehr oder weniger ausdrücklich die Idee, dass das Leben ein bleibender „Anfang“ sei, dass ein Moment, der einmal gewesen ist, in Zukunft immer stattgefunden haben werde. 32 Vgl. dazu Sinjavskij: „Poėzija Pasternaka“, 24: „Von daher die typischen Akzente und Bestrebungen seiner Lyrik: die Ungewöhnlichkeit, Phantastik alltäglicher Erscheinungen, die er allen Märchen und Fiktionen vorzieht, die morgendliche Frische des Blickes […].“ 33 Eine Verschärfung des Visuellen bei gleichzeitiger Abnahme der Helligkeit stellt Marina Bobrik in einem Vergleich von Rilkes Gedicht „Der Lesende“ mit Pasternaks Übersetzung, die Teil von Ljudi i položenija ist, fest. Bobrik, Marina: „‚Tut vse delo v tone‘. B. Pasternak ‚Za knigoj‘ (1956) – R. M. Rilke ‚Der Lesende‘ (1901)“, in: Rossija i zapad, 86–99, hier 93, 95, 97. 34 Ljudi i položenija, 322.

414 Schluss Die Haupteigenschaft dieses Moralisten, Gleichmachers, Predigers der Gesetzlichkeit, die alle ohne Nachsicht und Ausnahmen umfassen soll, war eine niemandem ähnliche, ans Paradoxe heranreichende Originalität. Er besaß das ganze Leben hindurch, zu jeder Zeit, die Fähigkeit, die Erscheinungen in der abgetrennten Endlichkeit des einzelnen Augenblicks zu sehen, in einer schöpfenden, rund hervortretenden Kontur – so, wie wir nur bei seltenen Gelegenheiten sehen, in der Kindheit, oder auf dem Gipfel eines alles erneuernden Glücks, oder im Triumph eines großen seelischen Sieges. Um so zu sehen, muß die Leidenschaft unser Auge richten. Sie nämlich beleuchtet mit ihrem Aufflammen den Gegenstand und verstärkt seine Sichtbarkeit. Eine solche Leidenschaft, eine Leidenschaft der schöpferischen Anschauung, trug Tolstoi immer in sich. In ihrem Licht nämlich sah er alles in ursprünglicher Frische, neu und wie zum erstenmal. Die Echtheit des von ihm Gesehenen weicht so weit von unseren Gewohnheiten ab, daß sie uns fremd erscheinen kann. Doch suchte Tolstoi diese Seltsamkeit nicht, er strebte sie nicht als Ziel an und teilte sie schon gar nicht seinen Werken als schriftstellerisches Verfahren mit.35

Pasternak ist sich bewusst, wie nah er mit dieser Einschätzung der formalistischen Theorie der Verfremdung (остранение) kommt, die sich ja ihrerseits auf Tolstoj berufen hatte.36 Deshalb will er die „schöpferische Betrachtung“ nicht als Verfahren verstanden wissen, sondern als eine den Künstler Tolstoj aus der Tiefe auszeichnende Haltung. Sie soll nicht wie im Formalismus ein „Neu-Sehen“, sondern ein organisches Ursprünglich-Sehen sein. Zweifellos ganz unformalistisch ist die Wortwahl: Leidenschaft, Schöpfung, Betrachtung, Triumph der Seele, Echtheit. Und doch ist Pasternak dem formalistischen Tolstoj-Verständnis näher, als er in seiner modernekritischen autobiographischen Skizze zuzugeben bereit ist. Durchaus ähnlich wie Viktor Šklovskij blendet er hier die Handlungsaufforderung, die bei Tolstoj in der Verfremdungstechnik immer anklingt, aus. Die bei Tolstoj aufleuchtenden Lichter sind ja nicht nur Platzhalter von Lebenssinn, sie sind auch Aufrufe, das gefundene Gute zu tun. Diese doppelte Funktion durchzieht die Licht-Metaphorik und -Rhetorik Tolstojs und wird geradezu schillernd in seinem Konfessionstext Ispoved’ entfaltet.37 35 Menschen und Standorte, 518/519, modifiziert. 36 Šklovskij, Viktor: „Iskusstvo kak priem“, in: ders.: O teorii prozy. Moskva 1983, 9–25, hier 14. 37 Vgl. Tolstojs Licht der Umkehr: „И сильнее чем когда-нибудь всё осветилось во мне и вокруг меня, и свет этот уже не покидал меня. / И я спасся от самоубийства. Когда и как совершился во мне этот переворот, я не мог бы сказать. Как незаметно, постепенно уничтожалась во мне сила жизни, и я пришeл к невозможности жить, к остановке жизни, к потребности самоубийства, так же постепенно, незаметно возвратилась ко мне эта сила жизни. И странно, что та сила жизни […] была не новая, а самая старая, – та самая, которая влекла меня на первых порах моей жизни. Я вернулся во всём к самому прежнему, детскому и юношескому.“ „Und stärker als jemals zuvor erleuchtete sich alles in mir und um mich herum, und dieses Licht sollte mich nicht mehr verlassen. / Und ich wurde vor dem Selbstmord gerettet. Wann und wie sich dieser Umsturz in mir vollzog, könnte ich

Lichtpoetik als Metaphysik

415

Zwar bestimmt Pasternak Tolstoj als „betrachtend“, doch kommt, wie bereits in Briefen von Anfang der fünfziger Jahre, auch ein aktives Moment in sein Licht-Schreiben, das stärker die handlungsorientierte als die kontemplative Seite Tolstojs aktualisiert. An Nina Tabidze schrieb er 1952: „Мне дорого, что Вам надо работать, потому что я человек, привыкший, чтобы день был наполнен трудом, как он наполнен солнцем на небе, я человек целиком поставленной задачи и полной цели, а не какой-нибудь гомеопатической ее части.“38 „Mir ist es wichtig, dass Sie arbeiten müssen, denn ich bin ein Mensch, der es gewohnt ist, dass der Tag von harter Arbeit erfüllt ist, so wie er am Himmel von der Sonne erfüllt ist, ich bin ein Mensch der ausformulierten Aufgabenstellung und des vollständigen Ziels, und nicht irgendeiner homöopathischen Dose desselben.“ In gewisser Weise übernimmt Pasternak von Tolstoj die Unentschiedenheit zwischen unbedingter Handlungsaufforderung und kontemplativer Haltung. Das lässt sich im Übrigen schon an der Differenz zwischen dem Autor Pasternak und seiner Figur Živago sehen: Zwar beziehen sich die Briefstellen von Anfang der fünfziger Jahre über die erlösende Kraft der Arbeit auf die intensive, disziplinierte Arbeit an dem Roman.39 Die Moral des im Entstehen begriffenen Textes ist einer solchen Maxime aber gerade gegenläufig: Der Arzt heilt nur in sehr beschränktem Maße seine Patienten, der ‚tätige‘ Geist der Revolution erreicht ihn nicht. Und als er vereinsamt nach Moskau zurückkehrt und sich schließlich gehen lässt, gibt es für Živago ohnehin kein erlösendes „Licht“ der Arbeit mehr. Es ist keine Überraschung, dass in den fünfziger Jahren das Wort „содержание“ – im etymologisierenden Wortsinn von Umschlossen-, Erfüllt-, Getragen-, Gehaltensein – zu einem zentralen kritischen Begriff Pasternaks wurde. Über Skrjabins nicht sagen. So wie sich unmerklich nach und nach die Lebenskraft in mir zerstört hatte und ich zur Unmöglichkeit zu leben, zur Unterbrechung des Lebens, zum Bedürfnis nach Selbstmord gelangt war, so schrittweise, unmerklich kehrte die Lebenskraft in mich zurück. Und seltsamerweise war diese Lebenskraft nicht neu, sondern uralt – jene, die mich in den frühesten Zeiten meines Lebens geleitet hatte. Ich kam in allem zum Allerältesten, Kindlichsten und Jugendlichsten zurück.“ Tolstoj: Ispoved’, 46. Zur Doppelfunktion des Lichts siehe Pfeiffer: „Metapher und Totalität“, 164: „Die Wandelbarkeit der Lichtmetaphorik erlaubt es, ihren Einsatz von vager metaphysischer Tröstung […] bis zu konkreten Handlungsanweisungen auszuspannen.“ 38 Brief vom 8. September 1952, PSS, IX, 698. 39 Vgl. dazu auch Pasternaks ersten Brief an Varlam Šalamov vom 9. Juli 1952: „[…] надо что-то сделать в жизни; надо написать философию искусства, новую и по новому реальную, и не мнимую и кажущуюся; надо написать повесть о жизни, заключающую какую-то новость о ней, действительную, как открытие и завоевание […].“ „[…] man muss etwas tun [vollenden] im Leben; man sollte eine Philosophie der Kunst schreiben, neu und neuartig real, nicht täuschend und scheinbar; man sollte eine Erzählung über das Leben schreiben, die irgendeine Neuheit über dieses enhielte, eine wirkliche, wie eine Entdeckung und Eroberung […].“ Ebd., 686.

416 Schluss

dritte Sinfonie (Le Poème divin, 1904) schreibt er, sie sei „ganz und gar von Inhalt erfüllt“ („[е]е всю переполняло содержание“40) gewesen. In Abgrenzung von der „Suche nach neuen Formen“ des Spätsymbolismus und vor allem der analytischen Avantgarde weitet Pasternak seinen emphatischen Inhalts-Begriff weiter aus. Auch der Künstler/Dichter müsse ganz von „Inhalt erfüllt“ sein.41 In diesem Zusammenhang bemerkt er, dass ‚Inhaltlichkeit‘ sogar in seinen frühen Gedichten, die er fast durchgängig als manieristisch desavouiert, sein Hauptanliegen gewesen sei.42 Besonders klar kommt die symbolische Verbindung von „Inhalt“, Erfüllt-/Gehalten-Sein und Licht im Lob von Achmatovas dichterischem Frühwerk zum Ausdruck: Лучи садившегося осеннего солнца бороздили комнату и книгу, которую я перелистывал. Вечер в двух видах заключался в ней. Один легким порозовением лежал на ее страницах. Другой составлял содержание и душу стихов, напечатанных в ней. Я завидовал автору, сумевшему такими простыми средствами удержать частицы действительности, в нее занесенные. Это была одна из первых книг Ахматовой, вероятно, «Подорожник».43 Die Strahlen der sinkenden Herbstsonne furchten das Zimmer und das Buch, das ich durchblätterte. Es enthielt einen doppelten Abend. Der erste lag als leichter Rosa-Schein auf seinen Seiten. Der zweite bildete den Inhalt und die Seele der Verse, die in ihm gedruckt waren. Ich beneidete den Autor, der mit solch einfachen Mitteln Teilchen der Wirklichkeit festhalten

40 Ljudi i položenija, 302. Die Inhaltsästhetik des späten Pasternak wurde von Guy de Mallac beschrieben (allerdings ohne evidente Verbindung zum Licht). Mallac: „Ėstetičeskie vozzrenija Pasternaka“, 69–71, 79. Vgl. die Bemerkung zu Skrjabins späterem, okkult gefärbtem Werk, namentlich Prométhée. Poème du feu (1910), in der die Projektion eines „Clavier à lumières“ die Musik synästhetisch erweitert: „Гармонические зарницы Прометея и его последних произведений кажутся мне только свидетельствами его гения, а не повседневною пищею для души, а в этих свидетельствах я не нуждаюсь, потому что поверил ему без доказательства.“ „Das harmonische Wetterleuchten des Prometheus und seiner letzten Werke erscheinen mir nur als Zeugnisse seines Genies, nicht als tägliche Nahrung der Seele – und diese Zeugnisse brauche ich nicht, weil ich von ihm ohne Beweis überzeugt worden bin.“ Ljudi i položenija, 306 (Menschen und Standorte, 497). Zu Skrjabins „Clavier à lumières“ vgl. Weber, Horst: „Zur Geschichte der Synästhesie. Oder: Von den Schwierigkeiten, die Luce-Stimme in Prometheus zu interpretieren“, in: Kolleritsch, Otto (Hrsg.): Alexander Skrjabin. Graz 1980, 50–57, sowie Lederer, Josef-Horst: „Die Funktion der Luce-Stimme in Skrjabins op. 60“, in: ebd., 128–139, hier vor allem 133/134. 41 „Я никогда не понимал этих розысков. По-моему, самые поразительные открытия производились, когда переполнявшее художника содержание не давало ему времени задуматься и второпях он говорил свое новое слово на старом языке, не разобрав, стар он или нов.“ „Ich verstand diese Ermittlungen nie. Für mich wurden die überraschendsten Entdeckungen hervorgebracht, wenn ein Inhalt den Künstler überfüllte und ihm nicht Zeit zum Überlegen ließ und er in der Hast sein neues Wort in der alten Sprache sprach, ohne darauf zu achten, ob sie alt sei oder neu.“ Ljudi i položenija, 306 (Menschen und Standorte, 497). 42 Ljudi i položenija, 325. 43 Ebd., 327/328.

Lichtpoetik als Metaphysik

417

konnte, die in es hineingetragen worden waren. Es war eins der ersten Bücher Achmatovas, vermutlich „Wegerich“.44

Das Licht der „schräg einfallenden abendlichen Sonne“ gliedert sich im Sinne der Metaphysik von „Simvolizm i bessmertie“ in ein äußeres, schön anzusehendes und ein inneres, erfüllendes Licht. Es bilde, ohne Umweg, „den Inhalt und die Seele“ von Achmatovas Gedichten, denn es gelinge der Lyrikerin, die Wirklichkeit mit maximal einfachen Mitteln „festzuhalten“ (удержать). Umgekehrt wurden in Pasternaks Schreiben über Kunst und Literatur formalistische Grundbegriffe wie Verfahren oder Kalauer zum Gegenstand immer neu variierter Polemik.45 Antoine Compagnon sieht in der Skepsis gegenüber jedem Formalismus einen Grundzug des Antimodernismus, eine „méfiance du système, refus du formalisme conceptuel en tant qu’explication simple d’une réalité complexe“46. Die formalistische Reduktion des Gegenstands „к нулю“ / „auf Null“, d.h. auf Technik, sei „nihilistisch“ und „zynisch“, hatte Pasternak schon in den zwanziger Jahren festgehalten.47 Das künstlerische Verfahren sei ein Umweg, der nur die augenblickliche Ausbreitung, die lichte Evidenz beeinträchtige. Daher sieht Pasternak sich veranlasst, Tolstoj gegen Šklovskijs ‚Instrumentalisierung‘ zu verteidigen. In dem schon erwähnten Brief an Varlam Šalamov von 1952 kritisiert er den jungen Dichter bei aller grundsätzlichen Zustimmung überaus scharf für die extensiv verwendeten unreinen Reime (auch das ist zugleich eine Selbstanklage). Dann fügt er hinzu: „Лишь в случае гениального по силе и ослепительного по сжатости содержания я, может быть, не заметил бы этой вихляющей, не держащейся на ногах и творчески порочной формы.“48 „Nur im Falle eines Inhalts, der genial ist, was die Kraft angeht, und blendend, was die Verdichtung betrifft, hätte ich diese wackelnde, nicht auf den Beinen stehende und schöpferisch lasterhafte Form womöglich nicht wahrgenommen.“ Modernistische Kunstgriffe wie unreine Reime seien also allein dann zulässig, wenn sie vom blendenden Licht des Inhalts überstrahlt, wenn sie vom „Inhalt“ restlos aufgewogen würden. Dann wäre Pasternak bereit, von einem „прием, наполненный истинным содержанием“49 / „Verfahren, 44 Menschen und Standorte, 526/527. 45 Einen Überblick über diese Polemik gibt Gasparov: „Gradus ad Parnassum“, 96–98. Nach Gasparov kritisiert Pasternak am Formalismus vor allem die Abwesenheit einer metaphysischen Begründung der Ästhetik im Sinne der deutschen Frühromantik. 46 Compagnon: Les antimodernes, 229. 47 Brief an Marina Cvetaeva vom 25. Februar 1928, PSS, VIII, 180. 48 PSS, IX, 687. 49 Ebd., 688. In den Notizen zu Pasternaks nicht abgeschlossenem Artikel über Blok heißt es: „Мы назвали источник той Блоковской свободы, область которой шире свободы политической и нравственной. Это свобода обращения с жизнью и вещами на свете, без которой не бывает большого творчества, о которой дает никакого представления ее далекое и ослабленное отражение, – техническая свобода и мастерство.“ „Wie haben die

418 Schluss

erfüllt von wahrhaftigem Inhalt“, zu sprechen. Diese Denkfigur wendet er auch auf literarische Motive an. So kritisiert er schon in den vierziger Jahren die symbolistisch-mystische Topik des frühen Aleksandr Blok dafür, dass sie un-erfüllt sei: „Случаи ложной глубины со «страшными» общими словами (оккультными или религиозными) оказываются случаями пустоты и незаполненных схем […].“50 „Fälle von falschem Tiefgang mit ‚schrecklichen‘ allgemeinen Worten (okkulten und religiösen) erweisen sich als Fälle von Leere und unerfüllten Schemata.“ Die eigentliche Verkörperung der „Inhaltlosigkeit“ in der Literatur ist für Pasternak aber der sozialistische (mittlere, späte) Majakovskij. Šalamov gegenüber spricht er in einem Atemzug vom „literarischen Nihilismus Majakovskijs“ und dem „allgemeinen Nihilismus der Revolution“.51 Das Bild von Majakovskij als substanzlosem Dichter „nur in der Erscheinung“ geht zurück auf Ochrannaja gramota, ebenso die Identifikation seiner Person mit der sich konstituierenden totalitären Staatlichkeit. In den fünfziger Jahren nimmt die Auseinandersetzung mit Majakovskij dämonisierende Züge an – zweideutig noch in Doktor Živagos Äußerungen,52 explizit in Ljudi i položenija: За вычетом предсмертного и бессмертного документа «Во весь голос», позднейший Маяковский, начиная с «Мистерии-буфф», недоступен мне. До меня не доходят эти неуклюже зарифмованные прописи, эта изощренная бессодержательность, эти общие места и избитые истины, изложенные так искусственно, запутанно и неостроумно. Это,

Quelle jener Blokschen Freiheit benannt, deren Sphäre breiter ist als jene der politischen und sittlichen Freiheit. Es ist dies die die Freiheit des Umgangs mit dem Leben und den Dingen auf der Welt/im Licht, ohne die kein großes Schöpfertum denkbar ist, von der ihre abgeschwächte Spiegelung – die technische Freiheit und Meisterschaft – nicht die Spur einer Vorstellung gibt.“ „K stat’e o Bloke“ [1946], PSS, V, 391. Die ‚Welthaltigkeit‘ der Kunst wird so mit Hilfe der Etymologisierung von свет (Welt und Licht) gegen die technische Seite der Kunst ausgespielt. 50 „K charakteristike Bloka“ [1946], 365 (Hervorhebung im Orig.). 51 PSS, IX, 685/686. Zu seinem Freund, dem Germanisten Nikolaj Vil’mont, soll Pasternak über den Formalismus schon Jahrzehnte zuvor gesagt haben: „[…] в ОПОЯЗе Шкловский (или кто там еще?) толкует о «приемах», о «развертывании сюжетов» и так далее. Это тоже концепция, и предурная. Как будто писатель все что-то мастерит, клеит и расправляет пружины, а не ловит дары Терека жизни. Это все у них – от Маяковского […].“ „[…] im OPOJAZ räsoniert Šklovskij (oder wen gibt es da noch?) über ‚Verfahren‘, die ‚Entfaltung von Sujets‘ usw. Das ist auch eine Konzeption, und eine idiotische. Als würde der Schriftsteller fortwährend etwas anfertigen, zusammenkleben, die Federn glätten, und nicht die TerekGaben des Lebens einfangen [Anspielung auf Lermontovs ‚Dary Tereka‘]. Das haben sie alles von Majakovskij […].“ Vil’mont, Nikolaj: O Borise Pasternake. Vospominanija i mysli. Moskva 1989, 88. 52 Igor’ Smirnov konnte sogar die These aufstellen, mit Komarovskij aus Doktor Živago sei in Wirklichkeit Majakovskij gemeint. Roman tajn „Doktor Živago“, 39–44.

Lichtpoetik als Metaphysik

419

на мой взгляд, Маяковский никакой, несуществующий. И удивительно, что никакой Маяковский стал считаться революционным.53 Abgerechnet das dem Sterben vorausgehende und unsterbliche Dokument „Mit voller Stimmkraft“, habe ich zu dem späten Majakowski, angefangen von „Mysterium buffo“, keinen Zugang. Mich erreichen diese plump in Reime gebrachten Schreibmuster nicht, diese verfeinerte Inhaltlosigkeit, diese Gemeinplätze und überzähligen Wahrheiten, die so künstlich verworren und ohne Scharfsinn dargelegt sind. Das ist, in meinen Augen, überhaupt kein – ein nicht existenter Majakowskij. Und es ist erstaunlich, daß der Gar-kein-Majakowski als der revolutionäre zu gelten begann.54

Die „verfeinerte Inhaltlosigkeit“, die „überzähligen Wahrheiten“ und erst recht die Taxierung „Gar-kein-Majakovskij“ diabolisieren dessen Werk nach einem traditionellen Muster: indem sie nahelegen, dass es leer sei, über kein Sein verfüge und keinen Kontakt mit der Wahrheit habe. Dies ist auch exakt das Muster, nach welchem die jüngeren Symbolisten gegen ihre ‚dekadenten‘ Vorgänger polemisiert hatten. Interessant ist, dass Pasternak Majakovskijs revolutionäres Werk und den oben diskutierten Zustand der Selbstmörder vor dem Tod auf ein und derselben Ebene diskutiert. In beiden Fällen, zuerst in der Kunst, dann im Leben, löse sich das Band zwischen dem Inhalt und dem ‚natürlichen Träger‘ des Inhalts. Es entstünden losgelöste, leere Formen. Die Engführung dieser leeren Formen, der „auf null reduzierten“ Kunst, mit dem „Nihilismus der Revolution“ ist keineswegs zufällig: Das Politische – als das Öffentliche – kann in Pasternaks Axiologie der Fülle nur entleerend sein. So sieht er es auch nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. nach dem Ende des Stalinismus: Als „Inhalte“ bezeichnet er die unerhörten Erfahrungen des Leben, als „Formen“ alle möglichen Aspekte von Verwaltung.55 Nur mit etwas „maximal Bedeutsamem“ („предельно значительным“) könne die „власть опустевших, мертвых, отвлеченных современных форм“56 / die „Macht der entleerten, toten, abstrakten Formen der Gegenwart“ gebrochen werden. Da dieses Programm – die Überwindung der Politik – bei Pasternak doch sehr vage bleibt, möchte ich der ‚Verinhaltlichung‘ im Folgenden in zwei poetischen Texten nachgehen, namentlich „V bol’nice“ („Im Krankenhaus“, 1956) und „Vakchanalija“ („Bacchanal“, 1957) aus Kogda razguljaetsja. Die Suche nach dem „maximal Bedeutsamen“ ist, so meine ich, eine andere Bezeichnung für jene Metaphysik, die Pasternak in der Literatur vorschwebte.

53 54 55 56

Ljudi i položenija, 336 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Menschen und Standorte, 538. „Razgovor s prof. Ėrikom Mestertonom“ [1958], PSS, V, 468–470, hier 468. Brief an Petr Suvčinskij vom 11. September 1959, PSS, X, 527.

420 Schluss

Licht als Garant des Gewesen-Seins Die Ballade „V bol’nice“, eines der zentralen Gedichte der Sammlung, setzt damit ein, dass der erkrankte Held auf einer Trage in die Ambulanz gehoben wird.57 Die Umstehenden schauen dem Vorgang zu, als würden sie vor einer Vitrine stehen. Schon in der ersten Strophe wird so, durch das Signalwort „Vitrine“, eine Verbindung zu dem schon zitierten Satz aus Ljudi i položenija hergestellt: „[…] ein Leben im Spiegelglanz der Vitrinen denke ich mir nicht.“ Der Bezug ist aber wenn schon ironisch, denn durch die Exponierung des Helden in der Vitrine (der Ambulanz) beginnt gerade sein Eintritt in das „Geheimnis und die Unmerklichkeit“ (der Dunkelheit): И скорая помощь, минуя Панели, подъезды, зевак, Сумятицу улиц ночную, Нырнула огнями во мрак.58 An Torgängen, gaffenden Lümmeln Vorbei fuhr der Dienstwagen fort Durch nächtliches Großstadtgewimmel, Die Lichter ins Dunkel gebohrt.59

Aus der Finsternis wird er ins Krankenhaus gebracht,60 wo alle Zimmer bereits belegt sind. Deshalb wird er nach der Aufnahme auf ein Bett im Korridor gelegt: Его положили у входа. Все в корпусе было полно. Разило парами иода, И с улицы дуло в окно.61 Im Korridor ließ man ihn später, Weil alles belegt war, allein. Da roch es nach Jod und nach Äther Und zog durch das Fenster herein.62

Zwischen der faktischen Überbelegtheit des Krankenhauses und der scheinbaren Einsamkeit des eingelieferten Patienten besteht eine offensichtliche Diskrepanz. 57 Zum Genre siehe Baevskij, Vadim: „Stichotvorenie Pasternaka ‚V bol’nice‘“, in: ders.: Puškinsko-pasternakovskaja kul’turnaja paradigma. Moskva 2011, 641–681, hier 649/650. 58 PSS, II, 173. 59 Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Gedichte und Poeme, 455. 60 Pasternak wurde am 20. Oktober 1952 mit einem Herzinfarkt ins Moskauer Botkin-Krankenhaus eingeliefert. Vgl. Pasternak, Evg.: Biografija, 653. 61 PSS, II, 173. 62 Gedichte und Poeme, 455.

Lichtpoetik als Metaphysik

421

Ich meine, dass der Ausdruck „Все в корпусе было полно“ nicht nur als umgangssprachliche Variante für die Aussage „Корпус был полон“ zu verstehen ist, wie Maksim Šapir in seiner Stilanalyse schreibt,63 sondern als Hinweis darauf, dass der Held sich buchstäblich in einen Zustand begeben hat, in dem alles erfüllt ist, in dem es keine Leer-Stellen mehr gibt. Ein ähnlicher Doppelsinn eignet dem Wort „Neuling“ (новичок): Einerseits ist der Held unter den Kranken schlicht der Letzte, der eingeliefert wurde, andererseits wird er angesichts des Todes noch einmal zum Neuling, sozusagen zum Neophyten, da er sich an das Leben als ‚Originalität‘, an das Leben ‚als solches‘ erinnert. Genau davon, vom Zurückgehen auf den Anfang und aufs Ganze, handelt, wie ich zeigen möchte, „V bol’nice“.64 An dem Punkt, als der Held begreift, dass er im Sterben liegt, verwandelt sich das Gedicht in eine Danksagung.65 Bevor er sich in einem Gebet an Gott wendet,66 sieht er aus dem Fenster und erblickt eine aus der Großstadt67 schwach erleuchtete Hausmauer: 63 So Šapir, Maksim: „‚…A ty prekrasna bez izvilin…‘. Ėstetika nebrežnosti v poėzii Pasternaka“, in: Novyj mir 7 (2004), 149–171, hier 163. 64 Anfang und Ganzheit verbinden sich auch hier gleichsam eigendynamisch mit Licht. Kurz nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hatte Pasternak an Anastasija Cvetaeva, Marina Cvetaevas Schwester, geschrieben: „Это было проверкой навыков, склонностей, света, в котором я видел жизнь, дела, которому я ее посвятил, способа думать и писать […].“ „Das war eine Prüfung der Gewohnheiten, der Neigungen, des Lichtes, in dem ich das Leben gesehen hatte, der Sache, welcher ich es gewidmet hatte, der Art und Weise zu denken und zu schreiben […].“ Brief vom 12. Januar 1953, PSS, IX, 710 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). 65 Vgl. dazu Hughes-Raevsky: „Liturgičeskoe vremja i Evcharistija“. Henry Gifford sieht Pasternaks Poetik der Danksagung im Kontrast zum zeitgenössischen Existenzialismus im Westen, d.h. einer als „blind“ aufgefassten Existenz: „It is a very rare thing for poetry in this age continually to celebrate happiness and to express gratitude for life wholly unbidden.“ Pasternak. A Critical Study, 225. Zuletzt stellte Igor’ Smirnov die (genetisch schwerlich zu belegende) Hypothese auf, in Pasternaks „Sorglosigkeit“ verberge sich eine Polemik gegen Heideggers Begriff der „Sorge“. Smirnov: „Misterija vstreči v ‚Doktore Živago‘“, 160. 66 Bodin macht an „V bol’nice“ seine Sicht fest, dass Pasternak trotz allem an einen personalen Gott glaube. Bodin: „Boris Pasternak and the Christian Tradition“, 400. Gasparov bezeichnet die persönliche Anrede an Gott als Ausnahme bzw. „späten Schritt“ in Pasternaks Werk. Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 242. 67 Vgl. den Schluss von Ljudi i položenija: „Вот он отступил в даль воспоминаний, этот единственный и подобия не имеющий мир, и высится на горизонте, как горы, видимые с поля, или как дымящийся в ночном зареве далекий большой город.“ „Da ist sie in die Ferne der Erinnerung zurückgetreten, diese einzigartige und kein Ebenbild besitzende Welt, und ragt am Horizont wie ein Gebirge, das vom Feld her zu sehen ist, oder wie eine in einem nächtlichen Feuerschein rauchende, ferne, große Stadt.“ Ljudi i položenija, 345 (Menschen und Standorte, 551). Ganz ähnlich wie in „V bol’nice“: das Medium, in dem sich die „Einzigartigkeit“ der Welt zeigt, ist das Licht.

422 Schluss Тогда он взглянул благодарно В окно, за которым стена Была точно искрой пожарной Из города озарена.68 Da blickte er auf, schaute dankbar Zum Fenster hinaus auf die Wand, Die vom Licht aus der Stadt her so blank war, Als sprüht in der Ferne ein Brand.69

Der nachfolgenden Danksagung geht also ein dankbarer Blick zu einer leeren, aber von Licht angeschienenen Wand voraus. Nachdem der „Neuling“ so in gewissem Sinne ein zweites Mal das Licht der Welt erblickt hat, redet er im schwachen Schein zu Gott: «О Господи, как совершенны Дела Твои, – думал больной, – Постели, и люди, и стены, Ночь смерти и город ночной.70 „Wie sind Deine Werke vollendet, O Herr“, hat der Kranke gedacht – „Die Betten, die Menschen, die Wände, Die Todnacht, die Großstadt bei Nacht.71

Den sehr gewöhnlichen Dingen, denen das Lob des Sterbenden zuteil wird, ist höchstens gemein, dass sie, wie er, nur von einem schwachen Lichtschein umgeben sind. Das Vollkommene an ihnen ist nichts, das sie je einzeln auszeichnen würde, sondern gerade ihre „relative Indifferenz“ („сравнительное безразличие“72). Ihr Beitrag ist allein ihre schlichte Anwesenheit. Im Lichte ihrer Anwesenheit werden die Dinge austauschbar – so wie in der Ästhetik von Ochrannaja gramota Bilder als austauschbar gelten, sobald sie von der alles verschiebenden „Kraft“ erfasst worden sind. Ein Unterschied zu jenen austauschbaren Bildern und den vollkommenen Dingen in „V bol’nice“ ist dabei nicht zu übersehen.73 In Ochrannaja gramota geht es darum, dass ein unglücklich verliebter Dichter die Welt und die Sprache mit seiner Verliebtheit affiziert. In „V bol’nice“ fügen sich einem Sterbenskranken 68 69 70 71 72 73

PSS, II, 174. Gedichte und Poeme, 456. PSS, II, 174. Gedichte und Poeme, 456. Brief an Stephen Spender vom 22. August 1959, PSS, X, 522 (Hervorhebung im Orig.). Vgl. dazu die Bemerkung bei Rudova: „Love no longer sets the poet’s heart aflame but rather fills him with gratitude for the joyous moments.“ Rudova: Understanding Pasternak, 183.

Lichtpoetik als Metaphysik

423

die Dinge, wie Pasternak in einem Brief schreibt, zu einem „сверхчеловеческ[ое] стихотворение“ / „übermenschlichen Gedicht“.74 Erst nach dem Lob der unscheinbaren Dinge, die ihn umgeben, kommt der Dichter näherhin auf sich zu sprechen. Die Verhältnisse vor dem Fenster – leiser Regen und ein Lichtschein der Stadt – finden im Inneren des Krankenhauses eine genaue Entsprechung. Dem Sterbenden verfließt die Sicht, weil er vor Glück weinen muss, und von einem Lampenschirm in der Nähe des Bettes leuchtet dem Liegenden ein ‚kleineres‘ Licht entgegen: Я принял снотворного дозу И плачу, платок теребя. О Боже, волнения слезы Мешают мне видеть тебя. Мне сладко при свете неярком, Чуть падающем на кровать, Себя и свой жребий подарком Бесценным Твоим сознавать.75 Ich habe den Schlaftrunk genommen Und weine, mein Tuch ist zerknüllt. O Gott, daß die Tränen mir kommen, Hat Dich meinem Auge verhüllt. Es tut mir so wohl in dem blassen, Mein Bett kaum erreichenden Schein, Mich selbst und mein Los zu erfassen Als kostbarste Gabe, als Dein.76

„V bol’nice“ nimmt, vielleicht am deutlichsten von allen Gedichten aus Kogda razguljaetsja, die Licht-Regen-Figur wieder auf. Zunächst verbinden sich am Nachthimmel Regen und Stadtlichter, danach, im Halbdunkel des Korridors, Tränen und das Licht einer Lampe. Ich habe in dieser Studie von kosmischen-erotischen (Sestra moja – žizn’), später von quasi-ethischen (Detstvo Ljuvers) Licht-Regen-Reaktionen gesprochen. Wie ich zu zeigen versucht habe, sind beide Ausdruck des (neo-) sophiologischen Wirklichkeitsverständnisses Pasternaks. Eine Existenzialisierung des Licht-Regens, verstanden als sophio-logisches Ereignis schlechthin, ist in der Gestalt Larisa Antipovas aus Doktor Živago zu beobachten. Im Gedicht „V bol’nice“ 74 Brief an Nina Tabidze vom 17. Januar 1953 nach der Entlassung aus dem Krankenhaus. PSS, IX, 711. Dieser Brief enthält bereits viele Elemente des späteren Gedichts. Ganz ähnlich lautet die Schilderung auch im Brief an Ol’ga Frejdenberg vom 20. Januar 1953, ebd., 713/714. 75 PSS, II, 174. Zum benebelten Bewusstsein des Sprechenden (und einem Vergleich mit dem „Mesmerismus“ von „Zerkalo“ aus Sestra moja – žizn’) siehe Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 244. 76 Gedichte und Poeme, 456.

424 Schluss

könnte man eine weitere Umakzentuierung sehen – einen grundierenden Licht-Regen. Weshalb genau kann das Licht nicht ‚rein‘ bleiben, weshalb muss zum verstreuten Lichtschein am Himmel und im Krankenhauskorridor ein Fließen hinzutreten? In dem Brief an Nina Tabidze, in dem Pasternak kurz nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus das Material für das drei Jahre später verfasste Gedicht festhielt, war nicht die Rede vom Regen gewesen (von den Glückstränen allerdings schon). Ob der Regen also erfunden ist oder nicht – er wirft von neuem die alte Frage nach der poetischen Fassbarkeit des Lichts auf.77 Doch „V bol’nice“ macht bei seiner zurückhaltenden Verflüssigung und Integration des Lichts nicht Halt. Die Frage nach der Trägerschaft geht weiter, sie wird in der letzten Strophe zur Angelegenheit des unmittelbaren Kontakts zwischen dem Sterbenden und Gott: Кончаясь в больничной постели, Я чувствую рук Твоих жар. Ты держишь меня, как изделье, И прячешь, как перстень, в футляр».78 Und sterbend im Krankenhausbette Fühl warm Deine Hand ich wie nie. Du hältst mich wie Ring oder Kette Und legst mich zurück ins Etui.“79

Indem sich der Held mit einem Artefakt vergleicht, gleicht er sich den in den vorangehenden Strophen aufgezählten Dingen an (was nicht zuletzt im unreinen Reim изделье–постели zum Ausdruck kommt). Auch er ist damit eines der Dinge, die es alle nur geben kann, weil es überhaupt etwas gibt. Im letzten Vers wird der Vergleich mit einem Artefakt noch konkretisiert. Der Sprechende erscheint als von Gott gehaltener „Fingerring“ (перстень).80 Die Paradoxie dieses Schlussbilds ist nicht zu übersehen, wenn man bedenkt, dass ein Fingerring eine hohle Umschließung ist. Bei der Lektüre entsteht allerdings der Eindruck, dass der Ring das Umschlossene ist – und Gott in Analogie zu einem Futteral oder Etui der Umschließende (was natürlich auch plausibel ist). Müsste aber nicht ein Ring, als un-erfülltes Ding, eher 77 Der sophiologische Aspekt wird verstärkt durch den Bezug von „V bol’nice“ zu „Magdalina“ (II) aus Doktor Živago. In diesem Gedicht ist es Maria Magdalena (Lara), die zu Christus (Živago) sagt: „Ничего не вижу из-за слез.“ „Ich sehe nichts vor Tränen.“ Doktor Živago, 546. 78 PSS, II, 174. 79 Gedichte und Poeme, 457. 80 Gasparov versteht das Schmuckstück als fortgesetzte realisierte Metapher: Gott habe den Helden aus der Juweliers-„Vitrine“ (eigentlich dem Krankenwagen) der ersten Strophe entwendet, um ihn seiner wahren Bestimmung zuzuführen. Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 245. Die Abwesenheit von Ärzten in dem Krankenhaus-Gedicht erklärt sich dadurch, dass, wie Vadim Baevskij anmerkt, wohl niemand anderer als Gott der Arzt ist. Baevskij: „Stichotvorenie Pasternaka ‚V bol’nice‘“, 673.

Lichtpoetik als Metaphysik

425

von innen als von außen her gewärmt und gehalten oder schlicht „getragen“ werden? Nimmt man die Hände Gottes aus dem zweiten Vers der Strophe bzw. metonymisch den biblischen „Finger Gottes“ (Перст Божий) hinzu, so verschiebt sich das Bild tatsächlich in diese Richtung, und es entsteht folgende, alternative Lesart: Das Ich, für sich genommen eine leere Umschließung, eine umrahmte Absenz, wird er-füllt von der Gegenwart Gottes – der Ring (перстень) vom Finger (перст). Nach dieser Lesart wäre das göttliche Futteral nicht nur Ummantelung, sondern auch Inhalt, ‚Halterung‘ des menschlichen Rings.81 Dies würde sich sogar auf theologischer Ebene einfügen in das, was ich Pasternaks Verinhaltlichung genannt habe: Für Gott gibt es den Gegensatz zwischen Außen und Innen (Form und Inhalt), der die Menschen umtreibt, nicht. Die Hülle durchdringt das Innen, genauso wie die Er-füllung nach außen dringt. Vladimir Al’fonsov schreibt einmal, das „Geistige“ würde in den frühen Gedichten Pasternaks „Dinge und Gefühle sortieren“, während es sie in den späten Gedichten „erfülle“.82 Diese allgemein gehaltene Einschätzung kann durch einen Vergleich von „V bol’nice“ mit dem frühen Gedicht „Davaj ronjat’ slova…“ expliziert werden.83 Beide Gedichte handeln vom Verhältnis zwischen den Dingen und ihrem Schöpfer und damit von der Frage, weshalb sie so bald wieder vergehen müssen, nachdem ihnen gerade erst ein Sein „geschenkt“ worden ist. Die Antwort lautet in beiden Fällen ähnlich und ganz im Sinne Rainer Maria Rilkes: Die Vergänglichkeit ist Teil des Geschenks. Wäre die Existenz der Dinge und Geschöpfe nicht vergänglich, könnte man von ihnen nicht mit vollem Recht behaupten, dass sie einmal wirklich gewesen sind. Das „unbezahlbare Geschenk“ des Lebens („V bol’nice“) wird erst dann als solches erfahrbar, wenn es wieder entrückt wird.84 Die beiden Gedichte betonen allerdings verschiedene Aspekte: „Davaj ronjat’ slova…“ stellt den Detailreichtum der 81 Vgl. zu einer solchen Doppelung Marcel, Gabriel: „Réflexions sur la foi“ [1934], in: ders.: Être et Avoir II. Réflexions sur l’irréligion et la foi. Paris 1968, 49–75, hier 65: „[…] s’il fallait absolument recourir à une métaphore, je dirais que le croyant s’apparaît à lui-même comme intérieur à une réalité qui l’enveloppe et le pénètre à la fois.“ 82 Al’fonsov: Poėzija Borisa Pasternaka, 275. 83 Angedeutet ist ein Vergleich dieser beiden Gedichte auch bei Baevskij: „Stichotvorenie Pasternaka ‚V bol’nice‘“, 652. Gasparov spricht allgemein von der „Kontinuität“ zwischen „V bol’nice“ und Pasternaks früher Lyrik. Gasparov : Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 242. 84 Dies lässt sich wiederum sehr schön in Jankélévitchs Begriff der „occasion“ fassen : „La très précieuse occasion ne nous inspire pas seulement l’ébriété lyrique et la poétique mélancolie, elle nous inspire encore une humble gratitude devant la grâce qui nous est faite et une tendresse infinie pour ce qui, comme l’enfance ou l’innocence à nos côtés, nous échappe déjà et ne sera jamais plus ! La conscience retardataire n’attend-elle pas que le présent soit devenu passé pour en goûter le charme ? Ce charme, l’artiste et le poète savent le goûter sur le moment, comme s’ils pressentaient l’irréversibilité de la divine occasion. En définitive, la vie tout entière est donc cette divine et unique occasion, elle qui est vouée à la mort et en aucun cas ne nous sera renouvelée.“ Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien, 1, 145.

426 Schluss

Schöpfung heraus und nennt prächtige Beispiele für die „Ausführlichkeit des Herbstes“. „V bol’nice“ liefert verglichen damit weitaus weniger ausgeklügelte,85 ja, wie Angela Livingstone kritisierte, „monotone“ Aufzählungen.86 Monoton sind sie, ich habe es bereits angesprochen, aus einem bestimmten Grund: Das Gedicht handelt nicht von Dingen, sondern, wie man sagen könnte, von den Leerräumen zwischen den Dingen. Ein solcher Leerraum sind die Nacht, das nächtliche Krankenhaus und schließlich sogar der Sterbende. Die Funktion der keineswegs grellen Lichtphänomene von „V bol’nice“ besteht darin, die Aufmerksamkeit von den Einzeldingen – und dem konkreten geschichtlichen Leben des Sterbenden – zu nehmen,87 um sie ganz auf ihre Anwesenheit zu lenken. Die „Phantasielosigkeit“ (Livingstone) ist sachlich betrachtet kein Mangel der späten Gedichte Pasternaks, sondern einfach deren metaphysischer Modus, und so gesehen durchaus verwandt mit den „oft fast rührenden Aufzählungen möglicher und notwendiger Gegenstände und Ausgangspunkte philosophischer Betrachtung aus dem alltäglichen Leben“ (Th. Haering88) bei dem deutschen Frühromantiker Novalis. Behalten wir diesen Fokus bei und kommen zu einem zweiten anthologischen Text aus Kogda razguljaetsja, dem Langgedicht „Vakchanalija“. Keiner der bisherigen Beiträge zu dem Gedicht ist ohne eine gewisse Rücksicht auf seine Lichtphänomene ausgekommen. Als prominentestes Lichtphänomen von „Vakchanalija“ stellt sich ein „Licht von unten“ („свет снизу“) heraus, und ich möchte in meiner Lektüre ebenfalls damit beginnen. Den bisherigen Analysen dieses eigentümlichen Motivs ist gemeinsam, dass sie es mit möglichen Prätexten, historischen und biographischen Fakten kontextualisieren,89 ohne allerdings die Frage aufzuwerfen, weshalb der Herkunft des Lichts von unten (und nicht von oben oder von der Seite) solche Wichtigkeit beigemessen wird. Eine mögliche Antwort möchte ich im Folgenden geben. Zur Diskussion stehen zwei weit auseinander liegende, doch parallel ablaufende Vorgänge. Auf der einen Seite (Str. 1 und 2) werden in einer Kirche die Anwesenden durch Kerzen von unten erleuchtet: 85 Vgl. dazu die Bemerkung bei Barnes: „Although some images may seem familiar from earlier, here no ‘God of details’ is at work, but a poetic seeker after all-embracing essences and generalities.“ Boris Pasternak, II, 308. 86 Livingstone: „Pasternak’s Last Poetry“, 172. Tatsächlich ist für Livingstone das positive Gegenbeispiel zu den „phantasielosen“ Aufzählungen in „V bol’nice“ die „Originalität“ der Details in „Davaj ronjat’ slova…“. Ähnliche Aufzählungen gibt es freilich schon wesentlich früher bei Pasternak. Ein Beispiel sind die „Деревья, дети, домоседы“ / „Bäume, Kinder, Stubenhocker“ in „Rassvet“ („Morgendämmerung“, 1947). Doktor Živago, 540. 87 Vgl. Rudova: Understanding Pasternak, 182. 88 Haering: Novalis als Philosoph, 187. 89 Vgl. Jakobson: „‚Vakchanalija‘ v kontekste pozdnego Pasternaka“, 365; Döring-Smirnov, Johanna Renate: „Ein karnevaleskes Spiel mit fremden Texten. Zur Interpretation von B. Pasternaks Poem Vakchanalija“, in: dies./Rehder, Peter/Schmid, Wolf (Hrsg.): Text Symbol Weltmodell. Johannes Holthusen zum 60. Geburtstag. München 1984, 59–80, hier 60; Pasternak, Evg.: Biografija, 687.

Lichtpoetik als Metaphysik

427 Город. Зимнее небо. Тьма. Пролеты ворот. У Бориса и Глеба Свет, и служба идет. Лбы молящихся, ризы И старух шушуны Свечек пламенем снизу Слабо озарены.90 Winterhimmel drückt nieder. Dunkel liegt auf der Stadt. In der Kirche der Brüder [Ist Licht, und] Findet Gottesdienst statt. Stirnen, Röcke der Priester, Alte Frauen im Pelz Sind nur schwach in dem Düster Von den Kerzen erhellt.91

An der Boris-und-Gleb-Kirche kommt der Protagonist von „Vakchanalija“ auf dem Weg ins Theater vorbei, wo Schillers Maria Stuart aufgeführt wird. In der Beschreibung von Marias Bühnenauftritt heißt es, dass ihr die grelle Beleuchtung „von unten her Licht auf den Rocksaum gießt“: В юбке пепельно-сизой Села с краю за стол. Рампа яркая снизу Льет ей свет на подол.92 Dort am Tisch, nah der Rampe, Sitzt sie still wie im Traum, Und im Scheine der Lampe [von unten] Glänzt ihr aschgrauer Saum.93

Im Gottesdienst ist снизу / von unten auf „ризы“ (Priestergewänder), bei der Theateraufführung auf „пепельно-сизой“ (das Graublau von Maria Stuarts Rock) gereimt. Angeleuchtet werden also in beiden Fällen Kleidungsstücke. Ein Kontrast besteht lediglich hinsichtlich der Qualität des beide Male von unten erstrahlenden Lichts: Das Kerzenlicht in der Kirche ist „schwach“ und „erleuchtend“, das Licht im Theater ist „grell“ und „fließend“. Dabei hebt sich der Gegensatz zwischen „sakralem und profanem Raum“94 90 91 92 93 94

PSS, II, 180. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Gedichte und Poeme, 468. PSS, II, 183. Gedichte und Poeme, 470. Döring-Smirnov: „Ein karnevaleskes Spiel mit fremden Texten“, 60.

428 Schluss

und der ihnen zugeordneten Beleuchtungsarten dadurch auf, dass ein grundlegendes Merkmal Boris und Gleb mit Maria Stuart verbindet. Die Königin von Schottland ging wie die beiden ersten Heiligen der Rus’ als Opfer in die Geschichte ein – sie wurde ‚durch ihren Tod unsterblich‘. Der Parallelismus könnte daher wie folgt gedeutet werden: Das Leben von Heiligen ist genauso wie das Leben einer Königin bzw. der sie künstlerisch darstellenden Schauspielerin nur dann „licht“, wenn es selbstlos hingegeben wird im Namen von etwas Höherem.95 Bei aller Parallelität der Vorgänge ist eine Favorisierung der Kirchen- gegenüber der Theaterszene festzustellen. Erstens figuriert die Kirche viel früher, in der Eröffnungsstrophe des Gedichts, zweitens wird die „Reflektorenflamme“96 der Theaterszene mit einer unüberhörbaren Ironie bezeichnet und drittens dauert der Gottesdienst in der Boris-und-Gleb-Kirche noch immer an, als der Protagonist nach dem Ende der Aufführung wieder vor das Theater hinaustritt. Der Gottesdienst überdauert das Theater. Das ist umso signifikanter, als sich die Theatervorstellung auf eine reale Inszenierung von Schillers Maria Stuart in Pasternaks Übersetzung am Moskovskij Chudožestvennyj akademičeskij teatr (MChAT) 1957 bezieht.97 Indem in der Axiologie des Gedichts die Kunst leicht, aber spürbar abgewertet wird, stellt es auch seinen Autor in Frage. Sein dionysisches alter ego verzichtet indessen nicht darauf, auf der Premierenfeier eine Tänzerin, eine ‚Bacchantin‘, zu verführen und mit ihr eine flüchtige Liebesnacht zu verbringen. Der betont schamlose Schluss von „Vakchanalija“ markiert nicht bloß einen karnevalesken Kontrast zu den zuvor aufgerufenen religiösen und hochkulturellen Kontexten. Die Tendenz zur Profanierung greift auf den Autor über und wird zur desavouierenden Selbstkommentierung. Mit folgender Strophe beginnt im Morgengrauen das Liebesspiel: Между ними особый Распорядок с утра, И теперь они оба Точно брат и сестра.98 Seit dem Morgen gilt fester Nun ihr eignes Gesetz, Gleichsam Bruder und Schwester Sind sie beide ab jetzt.99 95 Vgl. die Vorstellung der Selbstaufgabe („самоотдача“) im Gedicht „Byt’ znamenitym nekrasivo!..“ / „Berühmt zu sein ist nicht schön!..“ aus demselben Band. PSS, II, 149. 96 „К смерти приговоренной, / Что ей пища и кров, / Рвы, форты, бастионы, / Пламя рефлекторов?“ „Die verurteilt zum Tode / Kümmert all das schon nicht, / Weder Festung noch Brote, / Noch das Scheinwerferlicht.“ Ebd., 183 (Gedichte und Poeme, 471). 97 Siehe dazu Pasternaks Einführungstext „Fridrich Šiller. Tragedija ‚Marija Stjuart‘ (Predislovie perevodčika)“ [1957], PSS, V, 90–95. 98 PSS, II, 186. 99 Gedichte und Poeme, 474.

Lichtpoetik als Metaphysik

429

Der Begriff „распорядок“ / „Anordnung“ kann naheliegenderweise als Selbstzitat aus dem Gedicht „Gamlet“ („Hamlet“, 1946), der Ausdruck „брат и сестра“ / „Bruder und Schwester“ als Verweis auf den Titel Sestra moja – žizn’ / Meine Schwester, das Leben identifiziert werden. Die Todesbereitschaft Hamlets, Christi, Živagos sowohl wie die euphorisch-zarte Geschwisterlichkeit gehören zum ‚Heiligsten‘ in Pasternaks poetischer Welt. Sie werden hier beide nach der Logik des Karnevals herabgesetzt. Und fast scheint es, als wäre die Profanierung irreversibel. Denn während in so vielen von Pasternaks Texten Licht-Epiphanien eine Art Speicher sind, in denen das Gewesen-Sein vergänglicher Ereignisse aufbewahrt wird,100 endet „Vakchanalija“ mit der Feststellung, dass niemand sich erinnert: Прошло ночное торжество. Забыты шутки и проделки. На кухне вымыты тарелки. Никто не помнит ничего.101 Vorüber ist das Fest der Nacht, Vergessen Scherz, Geflüster, Naschen. Die Teller sind schon abgewaschen. Und keiner hat mehr dran gedacht.102

Das vernichtende Fazit wird unterstrichen durch die abweichende Versifizierung der letzten, überlangen Strophe; der liedhafte zweihebige (selten ganz realisierte) Anapäst weicht einem vergleichsweise nüchtern klingenden 4-hebigen Jambus. Dem Arrangement des Lichts im ersten Teil, dem Parallelismus von Kirche und Theater, wäre es demnach nicht gelungen, dem Text eine Metaphysik einzuprägen. Alles scheinbar Bleibende wird mit der Profanierung und der anschließenden Amnesie buchstäblich ausgelöscht. Der Widerruf der Leere scheitert. Das „Licht von unten“ wäre im besten Fall eine spielerisch-formale Herausforderung gewesen, so wie es Evgenij Pasternak suggeriert: Als er uns das Manuskriptheft zum Durchlesen gab, erklärte Pasternak, dass er sich in „Vakchanalija“ die plastische Aufgabe gestellt habe, Licht aus unterschiedlicher Herkunft von unten wiederzugeben: von Kerzchen beleuchtete Gesichter der Betenden, die Gestalt der Schauspielerin im Licht des Scheinwerfers, ein Gesicht, überflossen von der Farbe der Scham.103 100 Das markanteste Beispiel hierfür ist die Kerze aus Doktor Živago, die „fast mit der Bewusstheit eines Blickes“ durch das vereiste Fenster in den Kamergerskij pereulok hinaus schaut. 101 PSS, II, 187. 102 Gedichte und Poeme, 475. 103 Pasternak, Evg.: Biografija, 687. Vgl. auch die von Evgenij Pasternak zitierten etüdenhaften Verse aus einer frühen Version von „Vakchanalia“: „Из-под воротных арок / Сноп освещенных фар… // Машины разных марок, / Свет стелющихся фар. / Не видно крыш и арок, / Но ярок тротуар.“ „Unter den Torbögen hervor / Ein Bündel beleuchteter Schein-

430 Schluss

Pasternaks Selbstkommentar muss allerdings nicht das letzte Wort zum „Licht von unten“ bleiben. Denn die Interpretation von „Vakchanalija“ und ihrer Poetik des Lichts wurde unlängst durch eine Entdeckung Anna Sergeeva-Kljatis’ und Oleg Lekmanovs auf eine neue Grundlage gestellt. Sie schreiben: Ein für die Interpretation von „Vakchanalija“ grundlegendes historisches Faktum besteht darin, dass die Kirche Boris und Gleb 1931 abgerissen worden war. […] Im Wissen darum, dass die Kirche Boris und Gleb ein Vierteljahrhundert vor der Entstehung des Pasternakschen Gedichts zerstört wurde, wird der Leser die räumlichen Verhältnisse, die im Text aufgebaut werden, unfehlbar als Illusion erkennen und sie ohne weiteres durch zeitliche ersetzen. Der Schneesturm wirbelt nicht bloß die materiellen Objekte, die sich in den Straßen der Stadt befinden, zu einem Ganzen zusammen, sondern auch verschiedene Zeiten. Der Sturm dient ganz nach Bloks Manier als Metapher historischer Stürme, durch welche die Gegenwart hindurchweht […]. Nicht zufällig vereint der Autor Merkmale verschiedener Epochen, so dass neben der nicht mehr existierenden Boris-und-Gleb-Kirche durchaus reale „Bagger, Krans, Neubauten, Häuser“, „Reifen-Spuren auf dem Schnee“, „Wolken von Masten und Antennen“ erstehen.104

Sergeeva-Kljatis’/Lekmanovs Publikation ist als Plädoyer für eine an Fakten orientierte Philologie und gegen eine auf Intertextualität fixierte Herangehensweise an Pasternak angelegt.105 Wie ich meine, bedarf jedoch gerade die Aufdeckung des stadtgeschichtlichen Faktums der Vermittlung mit einem anderen Text, einem „fremden Wort“, wenn sie wirklich produktiv werden soll. Dieser Intertext wurde von Johanna Renate Döring ins Spiel gebracht – das Skazanie o Borise i Glebe (Sage von Boris und Gleb, um 1100). Worum geht es? Nachdem der Fürst Jaroslav dem Brudermorden im Kiever Russland ein Ende gemacht hat, beginnt er nach dem Aufenthaltsort der umgebrachten zukünftigen Heiligen zu fragen. Boris, erfährt er, ist bereits beerdigt worden. Glebs Leiche aber haben Vorübergehende dank einem aufleuchtenden Licht entdeckt: И тъгда съказаша ему, яже слышаша от приходящиих отътуду, како видѣша свѣтъ и свѣщѣ въ пустѣ мѣстѣ. И то слышавъ, посъла Смолиньску […], рекый, яко: «То есть братъ мой». И обретоша и идеже бѣша видѣли, и шьдъше съ крьсты и съ свѣщами мънозѣми, и съ кандилы, и съ чьстию многою и въложье въ корабль […].106 werfer… // Autos verschiedener Marken, / Licht sich ausbreitender Scheinwerfer, / Doch das Trottoir ist grell.“ Ebd. 104 Sergeeva-Kljatis/Lekmanov: „‚Agitprofsožeskij lubok‘. Iz real’nogo kommentarija k Pasternaku“, 161. 105 Ebd., 162. 106 „Skazanie o Borise i Glebe“, in: Biblioteka literatury drevnej Rusi. Tom 1. XI–XII veka. Sankt-Peterburg 1997, 328–351, hier 346 (meine Hervorhebung – Ch. Z.). Döring-Smirnov: „Ein karnevaleskes Spiel mit fremden Texten“, 63. – Döring sieht wie Sergeeva-Kljatis und Lekmanov einen starken Bezug zu Blok, vor allem zum Revolutionspoem „Dvenadcat’“, doch bewertet sie diesen Bezug als negativen. In „Dvenadcat’“ heißt es: „…И идут без

Lichtpoetik als Metaphysik

431

Und da sagten sie ihm, dass sie von dortigen Vorübergehenden gehört hatten, ein Licht sei gesehen worden und leuchte am leeren Ort. Als er das hörte, sandte er nach Smolensk aus […], und er sagte: „Das ist mein Bruder.“ Und sie fanden ihn ebendort, und sie gingen mit Kreuzen und vielen Kerzen und mit Weihrauch und mit allen Ehren, und legten ihn in ein Schiff […].

Döring führt die Passage über Glebs Leiche und das „Licht am leeren Ort“ als Bezugstext von „Vakchanalija“ an, nicht ohne auf Pasternaks umfassende Kenntnis der altrussischen Literatur hinzuweisen.107 So wie im Skazanie o Borise i Glebe das Licht vom leeren Ort her den Vorübergehenden aufscheine, schreibt sie, so leuchte es in Pasternaks Gedicht in der Position eines Enjambements auf: „У Бориса и Глеба / Свет, и служба идет.“ Doch erst durch den Umstand, dass die Moskauer Borisund-Gleb-Kirche 1957 gar nicht mehr existierte, wird Dörings Verbindungslinie zu einer Interpretationsgrundlage. Umgekehrt kommt der zeitgeschichtliche Fund von Sergeeva-Kljatis/Lekmanov erst durch die Kerzen und den Weihrauch am „leeren Ort“ aus dem Skazanie o Borise i Glebe zur Entfaltung: Licht erfüllt die Leere. Es steht für ein unvergängliches Angefangen-Haben und Gewesen-Sein, so wie es den Passanten das geistige Weiterleben des physisch nicht mehr existierenden Gleb anzeigt. Die Kirche in „Vakchanalija“ leuchtet und ‚dient‘ noch, einfach weil sie einmal geleuchtet hat.108 Was die Herkunft des Lichts „von unten“ betrifft, so wird damit имени святого […].“ „…Und gehen ohne Heiligennamen.“ Blok: Sočinenija v dvuch tomach, I, 523–534, hier 532. In „Vakchanalija“ würden diese Bedingungen gerade umgekehrt, wenn es eingangs heißt: „Свет, и служба идет.“ Döring kommt zum Schluss, dass das „karnevaleske Spiel mit Texten“ einer „antikarnevaleske[n] Intention“, also post-revolutionären Logik folge. „Ein karnevaleskes Spiel mit fremden Texten“, 61–65. 107 Vgl. Bodin, Per Arne: Nine Poems from Doktor Živago. A Study of Christian Motifs in Boris Pasternak’s Poetry. Stockholm 1976. Zu Pasternaks Kenntnis des Skazanie o Borise i Glebe im Einzelnen Smirnov: „Misterija vstreči v ‚Doktore Živago‘“, 152. 108 Vgl. das Motto zu Kogda razguljaetsja: „[…] un livre est un grand cimetière où sur la plupart des tombes on ne peut plus lire les noms effacés.“ Aus: Proust, Marcel: A la recherche du temps perdu. Le temps retrouvé. Edition réalisée sous la direction de Jean Milly. Edition du texte, introduction, bibliographie par Bernhard Brun. Paris 1986, 298. Rudova schreibt dazu: „The poet must illuminate and make meaningful those moments that people tend to lose from sight.“ Understanding Pasternak, 179. Das Proust-Motto kann also auch auf die abgerissene Kirche aus „Vakchanalija“ bezogen werden. Zu Pasternaks Gedächtnis an die 1931 abgerissene Moskauer Erlöserkathedrale in Doktor Živago vgl. Greber, Erika: „Pasternaks unsystematische Kunst des Gedächtnisses“, in: Haverkamp, Anselm/Lachmann, Renate (Hrsg.): Gedächtniskunst: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt a. M. 1991, 295–327, hier 311. – Die Idee, dass etwas umso mehr existiert, je unsichtbarer es geworden ist, wird später im Zentrum von Brodskijs Rimskie ėlegii / Römischen Elegien (XII, 1981) stehen, ebenfalls verbunden mit einer christlich grundierten Lichtmetaphysik: „Чем незримей вещь, тем оно верней, / что она когда-то существовала / на земле, и тем больше она – везде. / Ты [Христос] был первым, с кем это случилось, правда?“ „Je unsichtbarer ein Ding, desto wahrer ist, / dass es einst existiert hat / auf Erden, und

432 Schluss

also nicht nur sein irdisch-bacchanalischer Charakter unterstrichen, sondern vor allem auch seine über-empirische Qualität, in der vermeintlichen Leere, im Niedrigen gegenwärtig zu bleiben.109 Das Licht dementiert das Zerstörungswerk der Geschichte und die „каша“110 / den „Brei“ des gesellschaftlich-kulturellen Lebens und Vergessens also doch. Wie „religiös“ ist die poetische Metaphysik von „Vakchanalija“ und „V bol’nice“? Obwohl die Erinnerung an das Leben als solches („V bol’nice“) und der unauffällige Einspruch gegen die Leere („Vakchanalija“) in einer religiösen Sprache, unter Verwendung von Gebet und Liturgie formuliert werden, wäre es sicher unzulässig, hier von ‚Religionskunst‘ zu sprechen. Man kann es so sagen: Die Gedichte thematisieren (Seelen-)Heil als Impression, als „starke Essenz“ (Pasternak an Frejdenberg um 1910) aus der Vergangenheit, ohne daraus eine religiöse Heilserwartung oder ein Heilsversprechen abzuleiten. Mehr noch, gerade dadurch, dass sie metaphysisch so sehr aufs Ganze gehen, sind die Texte, was die Rettung der Seele betrifft, so anspruchslos. Ihr Subjekt begnügt sich damit, sich in die „Dingwelt zu vertiefen“111, in demonstrativem Vertrauen auf ihre ‚Originalität‘, und ohne dafür einen Lohn zu erwarten.

Schluss: Lichte Gegenwart Ich komme nun noch einmal auf die Diskussion um Pasternaks späte Lyrik und seine „Verwandlung“ zurück, bevor ich eine letzte Frage ansprechen werde: Was verstehen Pasternaks späte Gedichte unter „Zukunft“? Andrej Sinjavskij versuchte wie Vladimir Vejdle, Angela Livingstone und andere, Pasternaks Entwicklung hin zur „unerhörten Einfachheit“ begrifflich zu fassen. Entscheidend für sein Schreiben sei im „frühen“ genauso wie im „späten“ Werk die Einheit der Erscheinungen. Was sich verändere, sei lediglich die Art und Weise, mit der diese Einheit literarisch realisiert und zur Anschauung gebracht wird: Im umso mehr ist es – überall. / Du [Christus] warst der Erste, mit dem dies geschah, nicht wahr?“ Sočinenija Iosifa Brodskogo. Tom III. Sankt-Peterburg 1994, 48. Vgl. dazu Herlth, Jens: „Lichtmetaphorik und Lichtmetaphysik“, in: ders.: Ein Sänger gebrochener Linien. Iosif Brodskijs dichterische Selbstschöpfung. Köln 2004, 359–375. 109 Jakobson scheint eine ähnliche Idee zu verfolgen, wenn er, wenig konkret, von einem „Auferstehungslicht“ spricht. Jakobson: „‚Vakchanalija‘ v kontekste pozdnego Pasternaka“, 356. 110 „Часто куда-то зовут, что-то предлагают. За всеми этими движениями твердая уверенность, что у всех в головах одна и та же каша […].“ „Man lädt mich oft irgendwohin ein, man macht mir irgendwelche Angebote. Bei all diesen Bewegungen die feste Überzeugung, dass alle in den Köpfen ein und denselben Brei haben […].“ Brief an Šalamov vom 22. Dezember 1955, PSS, X, 124. 111 Vgl. Gasparov: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki, 247.

Lichtpoetik als Metaphysik

433

frühen Werk sei es die Metapher, die als „мостик“  / „Brücke“ zur Überwindung der Grenzen zwischen den Dingen diene. Die Metapher über-trage Qualitäten von einem Ding auf das nächste. Beim späteren, „einfacheren“ Pasternak nehme die Bedeutung der Metapher, so Sinjavskij, ab, während die Einheit der Erscheinungen nur mehr durch „die Breite und Klarheit des Blicks“, durch „geistige Beflügelung“ garantiert werde.112 Dabei stellt sich natürlich die Frage, woher dieser neue, nicht mehr auf technische Hilfsmittel angewiesene Blick kommen könnte. Sinjavskijs Modell wurde von Anatolij Jakobson weitergeführt. Jakobson behält die Metapher als Kategorie für den frühen Pasternak bei und verwendet für den späteren den Begriff der Metamorphose. Mit der Metamorphose gelinge es, die „Sujethaftigkeit“ der späten Gedichte Pasternaks zu beschreiben, während die Metapher keine Handlung beschreiben könne, da sie ein „rein semantisches Phänomen“ sei.113 Ein Beispiel für das, was Jakobson mit Metamorphose meint, ist das Gedicht „Čudo“ über die Verwünschung des Feigenbaums. Weitere Beispiele wären die Verzauberung des Waldes durch die trinkende Elchkuh in „Tišina“ oder die Verwandlung der Schauspielerin in die von ihr gespielte Maria Stuart („Vakchanalija“). Was ist mit der Narrativisierung oder eben Sujetisierung des Pasternakschen ‚Wunders‘ gewonnen? Ist nicht das Wunder, sobald es als kausaler Mechanismus beschrieben ist, streng genommen kein Wunder mehr?114 Auch aus diesem ganz einfachen Bedenken habe ich in der vorliegenden Studie versucht, mit dem Licht ein Motiv und Medium, eine ‚Grundkraft‘ stark zu machen, die eine analytische Auseinandersetzung mit Pasternaks Schreiben und seinen „Verwandlungen“ erlaubt, während das Licht selbst letztlich unanalysierbar bleibt, bleiben darf. Anders gesagt: Licht-Epiphanien bringen in einen Text eine „geheimnisvolle Gegenwart“ (Leonid Dolgopolov), die sich gar nicht zwingend empirisch realisieren muss (als Beispiel wäre hier noch einmal die abwesend leuchtende Kirche in „Vakchanalija“ zu nennen, aber auch die an den Anfang gerückte Verklärung in Doktor Živago). Die Rede von der räumlichen Fixiertheit und zeitlichen Ignoranz der frühen, „metaphorischen“ Dichtung Pasternaks ist zu relativieren. Denn schon dort befinden sich viele der Leitmetaphern (der Garten als Welt, der Regen als Leben, die Feder Gottes als „Schreibzeug“ der Schöpfung usw.) außerhalb der Dichotomie Raum112 Sinjavskij: „Poėzija Pasternaka“, 60/61. 113 Jakobson: „‚Vakchanalija‘ v kontekste pozdnego Pasternaka“, 316–318. Wie Dmitrij Segal zeigt, enthalten auch die Tropen der frühen Gedichte oft wenigstens potentiell schon „Mikrosujets“. Segal, Dmitrij: „Zametki o sjužetnosti liričeskoj poėzii Pasternaka“, in: Slavica Hierosolymitana III (1978), 282–301, hier 291, 300. 114 Dieser Überzeugung scheint im Grunde auch A. Jakobson zu sein, denn über das Gedicht „Bab’e leto“ / „Altweibersommer“ aus Doktor Živago schreibt er, es beinhalte zwar „keine einzige konkrete Metamorphose“, dafür sei das ganze Gedicht eine Art „großer Metamorphose“. „‚Vakchanalija‘ v kontekste pozdnego Pasternaka“, 321.

434 Schluss

Zeit. Sie haben immer auch den Charakter von Ereignissen. Die Metaphern sind in diesem Sinne „realsymbolistisch“ geradezu im Sinne Vjačeslav Ivanovs,115 falls man den Begriff dynamisch auffasst. Die Wirklichkeit ist in der Kunst ursprünglich metaphorisch, also „übertragen“, von Liebe „verschoben“ etc.116 Wenn sich in „Kogda razguljaetsja“, dem Titelgedicht von Pasternaks letztem Band, der Innenraum einer Kirche als Metapher auf den ganzen Außenraum der Erde überträgt und die Natur dadurch zur Liturgie und der Sprecher zum Besucher dieser Liturgie wird, so ist dies ein solcher quasi realsymbolistischer Vorgang: Когда в исходе дней дождливых Меж туч проглянет синева, Как небо празднично в прорывах, Как торжества полна трава! Стихает ветер, даль расчистив, Разлито солнце по земле. Просвечивает зелень листьев, Как живопись в цветном стекле.117 Und wenn nach regnerischen Wochen Das tiefe Blau durch Wolken blickt, Wie prangt der Himmel aufgebrochen, Wie festlich ist das Gras entzückt! Still wird der Wind, der wusch die Weiten, Die Erde gleißt, von Sonne naß. Das Blattgrün blitzt im Lichtergleiten Wie Malerei auf buntem Glas.118

Das Licht ist einerseits Thema („Inhalt“) des Gedichts, andererseits ist es das Medium, in dem die „metaphorisch gerechtfertigte Metonymie“119, hier die Liturgisierung der Natur zum Naturgottesdienst, erst möglich wird. Infolge dieses Changierens bleibt bis zuletzt offen, wo sich der Sprecher und Betrachter nun aufhält – in der Landschaft oder in der Kirche:

115 Vgl. Stepun, Fedor: „B. L. Pasternak“, in: ders.: Vstreči. Moskva 1998, 218–236, hier 222: „Diese Ansichten Pasternaks wiederholen fast wörtlich die Gedanken der Ivanovschen Theorie des religiösen Symbolismus.“ 116 Livingstone vermerkt kritisch die Redundanz der „Buch-, Sprech- und Sprachmetaphern“ in Kogda razguljaetsja. „Pasternak’s Last Poetry“, 167. Solche Metaphern spielen indes in Pasternaks frühen Gedichten keineswegs eine geringere Rolle. 117 PSS, II, 160. Eine frühere Variante des Gedichts trägt den Titel „Problesk sveta“ („Lichtschein“, 1956). PSS, II, 339. 118 Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Gedichte und Poeme, 434. 119 Vgl. Al’fonsov: Poėzija Borisa Pasternaka, 380.

Lichtpoetik als Metaphysik

435

Как будто внутренность собора – Простор земли, и чрез окно Далекий отголосок хора Мне слышать иногда дано.120 So gleicht dem Schiff der Kathedrale Der Erdenraum. Durchs Fenster tönt Ein ferner Nachhall vom Chorale, Zu hören manchmal mir vergönnt.121

Auch wenn die Liturgie-Metapher des Gedichts im Grunde total und die Zuordnung einer wirklichen und einer übertragenen Ebene unmöglich ist, beschreibt es vermutlich in den ersten Strophen einen Gang durch die Landschaft, während es Abend wird und die „Weiten aufklaren“, und die letzten Strophen handeln in der Kirche, in der ein Abendgottesdienst stattfindet, vom Besucher unter Tränen „ausgestanden“: Природа, мир, тайник вселенной, Я службу долгую твою, Объятый дрожью сокровенной, B слезах от счастья отстою.122 Natur, Welt, Allgeheimnis Leben, Wie lang dein Hochamt dauern muß, Ich will es in geheimem Beben Glückweinend durchstehn bis zum Schluß.123

Das lange Stehen während der orthodoxen Liturgie und das „Durchstehen“ des Lebens werden zu wechselseitigen Metaphern. Dabei reicht die realsymbolistische Metapher des Naturgottesdienstes124 in Pasternaks weit zurück und ist keine Erfindung seines „Spätwerks“. So heißt es, wir haben es gesehen, schon im Gedicht „Vorob’evy gory“, die Straßenbahn könne nicht weiterfahren, da „von hier an die Kiefern Gottesdienst abhalten“.125 Dass Pasternak in seiner Wirkung selbst zuweilen zum „Naturereignis“ wurde – sei es als Besucher, sei es als Priester der kosmischen Liturgie –, ist nun nicht mehr überraschend. Ich erlaube mir, ein pointiertes Beispiel anzuführen. Gennadij Ajgi, PSS, II, 160. Gedichte und Poeme, 435. PSS, II, 161. Gedichte und Poeme, 435. Vielleicht zu sehr von der Religion her, geradezu kirchenvälterlich liest Jacqueline de Proyart die Liturgie-Metapher: „[…] in Pasternaks Weltall […] spielt die ganze geschöpfliche Welt die Rolle einer lebendigen Ikone, ist ‚rituell‘ im Verhältnis zum lebenschenkenen Gott der Liebe und des Lichts.“ Proyart, Jacqueline de: „‚Lico‘ i ‚ličnost’‘ v tvorčestve Borisa Pasternaka“, in: Pasternakovskie čtenija. Vypusk 2. Moskva 1998, 38–62, hier 51. 125 Vgl. dazu Terras: „Boris Pasternak and Time“, 267.

120 121 122 123 124

436 Schluss

in jener Zeit regelmäßig von Pasternak empfangen, berichtete später, im Jubiläumsjahr 1990, wie er als Literaturstudent an einem Sommermorgen des Jahres 1958 in Peredelkino seinem Meister begegnet sei: Не буду стараться его описывать: вряд ли я тогда что-либо заметил, кроме того, что передо мной был – он, неопределимый, как явление природы. Начался бурный монолог Бориса Леонидовича: – Как жаль – я вижу, что вы торопитесь – какое утро! – у вас нет времени – как много хотелось бы сказать! – ведь Вы меня поймете! – вы должны это понять! – у вас мало времени! – но Вы поймете: самое главное – самое важное – вот, это утро – деревья – вы – это небо – все сразу: этот мир – все вместе – природа – небо – эти сосны! – все это – сразу и вместе понятое – пусть будет тем, что я хочу вам сказать! – я хотел бы, чтобы вы это поняли, приняли, – сразу, все вместе! – чтобы все это было с вами! – ведь вы меня поняли, да?126 Ich werde nicht versuchen, ihn zu beschreiben: Ich bemerkte damals kaum etwas abgesehen davon, dass vor mir – er stand, undefinierbar, wie eine Naturerscheinung. Es begann Boris Leonidovičs stürmischer Monolog: – Wie schade – ich sehe, ihr seid in Eile – was für ein Morgen! – ihr habt keine Zeit – was hätte ich nicht alles sagen wollen! – aber Ihr versteht mich doch! – ihr müsst es verstehen! – ihr habt wenig Zeit! – aber Ihr versteht: das Wichtigste – das Allerwichtigste – ist hier, dieser Morgen – die Bäume – ihr – dieser Himmel – alles auf einmal: diese Welt – alles zusammen – die Natur – der Himmel – diese Kiefern! – alles das – auf einmal und zusammen verstanden – sei es das, was ich euch sagen will! – ich möchte, dass ihr das begreift und annehmt, – auf einmal, alles zusammen! – auf dass all dies mit euch sei! – ihr habt mich doch verstanden, ja?

Ist dieser Text quasi-hagiographisch? Oder ist er eine Karikatur? Lassen wir das dahingestellt. Mir geht es hier um das suggerierte Verhältnis Pasternaks zur Natur. Die Natur ereignet sich – eine andere Botschaft außer der sich jetzt ereignenden „natürlichen Liturgie“ gibt es Ajgis Darstellung zufolge nicht. Dabei ist man versucht zu fragen: Warum hat der einstige Literaturinstitutsstudent dem Autor von Doktor Živago, um ihn zu einem „Naturereignis“ zu stilisieren, keine Licht-Rhetorik in den Mund 126 Ajgi, Gennadij: „Obydennost’ čuda. Vstreči s Borisom Pasternakom 1956–1958“ [1990], in: ders.: Stichotvorenija. Kommentirovannoe izdanie. Moskva 2008, 326–355, hier 344 (Hervorhebung im Orig.). Es ist zu vermuten, dass Ajgi Pasternaks Naturschwärmerei hier zu ungebrochen darstellt – mit dem Zweck, sich effizienter von ihr distanzieren zu können. Denn so sehr Ajgi zunächst an das Naturverständnis Pasternaks anschloss, so sehr wurde es später sein Anliegen, dieses durch eine diskontinuierliche Weltsicht zu ersetzen. Mit der Abwendung von der ‚positiven Mystik‘ Pasternaks (mithin der Sophiologie) ging die Hinwendung zur ‚negativen Mystik‘ Malevičvs einher. Ajgis emphatischer Begriff der Armut (Armut als Licht) kommt so gesehen zu einem wesentlichen Teil durch die Negation von Pasternaks ‚Inhaltlichkeit‘ zustande. Vgl. Zehnder, „Segnung durch Licht: Gennadij Ajgis ‚Svečenie‘“. Interessanterweise ist die Aufwertung der Leere auch beim Leningrader Dichter Leonid Aronzon (1939–1970) mit der Distanzierung von Pasternaks Werk verbunden. Vgl. ders.: „Vom ‚weinenden‘ zum ‚leeren‘ Garten: Zu den Pasternak-Anklängen in Leonid Aronzons Frühwerk“, in: Wiener Slawistischer Almanach 62 (2008), 227–239.

Lichtpoetik als Metaphysik

437

gelegt? Ist nicht die Auflösung der Grenzen zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Form und Inhalt, zwischen Machen und Nicht-Tun rhetorisch auf die Einheitsstiftung des Lichts angewiesen? Darauf zu insistieren, ist bestimmt müßig. Gleichwohl möchte ich die Vermutung nicht unausgesprochen lassen: Hätte Ajgi die Rede seines früheren Meisters mit einigen Licht-Phänomenen angereichert („er-füllt“), würde sie glaubhafter, weniger exaltiert, unter Umständen gar: alltäglicher wirken. Die kritische genauso wie die affirmative Rezeption von Pasternaks letzten Gedichten hat die Tendenz, die abgedunkelte Seite von Kogda razguljaetsja zugunsten der schon im Titel angezeigten Aufhellungen zu vernachlässigen. Bei einem Vergleich der ersten Gedichte des Zyklus mit den letzten fällt, poetologisch, ein markanter Kontrast zwischen Abdunkelung und Ausleuchtung auf. So wird zu Beginn in „Bez nazvanija“  / „Ohne Benennung“ die Poesie als Sphäre der Abdunkelung bestimmt: Недотрога, тихоня в быту, Ты сейчас вся огонь, вся горенье, Дай запру я твою красоту В темном тереме стихотворенья.127 Tags ein Rührmichnichtan, still und fein, Bist du jetzt voller Feuer, voll Lichtes. Komm, ich sperr deine Schönheit hier ein In das dunkle Verlies des Gedichtes.128

Der „терем“, abgedunkelter weiblicher Rückzugsort im Alten Russland,129 erinnert an die Grundfigur von Emmanuel Levinas’ Ästhetik, auf deren Folie ich in dieser Studie Pasternaks Axiome der Dämmerung entwickelt habe: Die Kunst widersetzt sich dem Leuchten und bringt die Dinge stattdessen in ihrer Ohnmacht zur Geltung. Kunst verklärt nicht, sondern zeigt das „andere Gesicht“ der Dinge. Diese Bestimmung führt zu einem gegen den Logos konzipierten Kult des „Femininen“, das gleichbedeutend ist mit dem Geheimnis, der absoluten – unsichtbaren – Offenheit der Zukunft. Ich habe Pasternaks erste Texte, seine postsymbolistische Sophiologie und die Abdunkelung des diskursiven Denkens mit dem Begriff der ‚Okularphobie‘ beschrieben und sie im Einzelnen durch Levinas’ Kategorien hindurch gelesen. Kommt Pasternak am Ende seines Schaffens zu der Schattenhaftigkeit zurück, von der er in seinen Reliquimini-Fragmenten ausgegangen war? Das Gedicht „Duša“ / 127 PSS, II, 152. 128 Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Gedichte und Poeme, 419. 129 Vgl. den Begriff „женский терем“ bei Dal’, Tolkovyj slovar’ živogo velikorusskogo jazyka, 400. Bei Vasmer ist von „женский покой“  / „weiblichem (Ruhe-)Zimmer“ die Rede. Vasmer [Fasmer], Max: Ėtimologičeskij slovar’ russkogo jazyka. Perevod s nemeckogo i dopolnenija O. N. Trubačeva. Tom IV. Moskva 1973, 47.

438 Schluss

„Seele“, ebenfalls aus dem ersten Teil von Kogda razguljaetsja, weist in diese Richtung. Hier erscheint die Poesie als Sache einer von Grund auf dunklen Seele: Душа моя, печальница О всех в кругу моем, Ты стала усыпальницей Замученных живьем.130 O Seele mein, die Kummer trägt Um meine ganze Welt, In dir zum letzten Schlummer legt Man die zu Tod gequält.131

Die Poesie soll nicht allein ein „Terem“ – eine dunkle χώρα – für die Geliebte werden wie im Liebesgedicht „Bez nazvanija“, sondern auch eine Ruhestätte für die Opfer des Terrors, von dem Pasternak und seine Angehörigen verschont geblieben waren. Statt der Verklärung werden die Verstorbenen einer stofflich-dunklen, lichtabgewandten „Balsamierung“ teilhaftig. Am Ende von „Duša“ wird die Vorstellung der Balsamierung sogar noch überboten von jener des „Zermahlens“. Das Gedächtnis der Dichter-Seele würde alles in den vier Jahrzehnten seit der Revolution Geschehene in „Friedhofserde“ zurückverwandeln: И дальше перемалывай Всё бывшее со мной, Как сорок лет без малого, В погостный перегной.132 Und weiter mahle, mahle nun Alle Erinnerung, Wie an die vierzig Jahre schon, Zu Gottesackerdung.133

Pasternaks jugendliches Mitleid mit der Dämmerung wird hier zu einer Herausforderung für das Gewissen. Die Kunst sieht sich, nun aus Gründen der Pietät, in einen sophianisch-dunklen Zustand zurückversetzt, in dem das Licht „keinen Ort“ haben darf. Die Opfer, so die implizierte Botschaft des Gedichts, können und sollen nicht verklärt, sondern nur beweint werden. Es ist wohl kein Zufall, dass sich im letzten Vers von „Duša“ eine zweifache Referenz an die Gedichte des Jurij Živago findet. Mit dem Wort погостный wird „Avgust“, mit dem Wort перегной „Zemlja“ aufgerufen. „Avgust“ wie „Zemlja“ handeln von Živagos Verzicht auf die Schönheit, das 130 131 132 133

PSS, II, 150. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Gedichte und Poeme, 415. PSS, II, 151. Gedichte und Poeme, 416.

Lichtpoetik als Metaphysik

439

Leben, den Logos in einer Zeit, in der er die Menschen als abgestumpft und seine engsten Freunde als „hoffnungslos trivial“ erlebt. An diese pessimistische Diagnose Živagos schließt Pasternak außerdem im Gedicht „Peremena“  / „Wandel“ an, in Form einer vernichtenden Selbstanklage: И я испортился с тех пор, Как времени коснулась порча, И горе возвели в позор, Мещан и оптимистов корча. Всем тем, кому я доверял, Я с давних пор уже не верен. Я человека потерял С тех пор, как всеми он потерян…134 Verdorben wurd ich seit der Zeit, Da der Verderb die Zeit berührte, Seit man zur Schmach erklärt das Leid Und optimistisch sich gerierte. All jenen, denen ich geglaubt, Kann ich schon lange nicht mehr glauben. Es wurde mir der Mensch geraubt, Seit ihn sich alle ließen rauben.135

Es sind also mehrere Gedichte aus dem ersten Teil von Kogda razguljaetsja, die in ihrer pessimistischen Dynamik und dem offenen Verzicht auf das Licht an das Kapitel „Okončanie“ aus Doktor Živago erinnern. Ein eigentliches Subjekt der Verwandlung und Nicht-Verwandlung, wie Živago es war, gibt es allerdings nicht mehr. Grundlegend anders ist die Tendenz einiger Gedichte aus dem letzten Teil der Sammlung. Im Frühlingsgedicht „Posle grozy“ / „Nach dem Gewitter“ heißt es über die Tätigkeit des Künstlers: Рука xудожника еще всесильней Со всеx вещей смывает грязь и пыль. Преображенней из его красильни Выxодят жизнь, действительность и быль.136 Die Hand des Künstlers wäscht von allen Dingen Noch machtvoller den Schmutz, der sie benetzt. Verklärter seinem Farbtopf sich entringen Leben und Wirklichkeit von einst und jetzt.137 134 135 136 137

PSS, II, 154. Vgl. dazu Rudova: Understanding Pasternak, 179/180. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Gedichte und Poeme, 421/422. PSS, II, 193. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Gedichte und Poeme, 485.

440 Schluss

Das Gedicht wirkt hier keineswegs mehr wie ein dunkler „Terem“. Der Künstler ist auf einmal „allmächtiger“ als der Frühling, und die Wirklichkeit wird durch seine Hand „verklärter“ als die Natur vom Tauwetter. Die Vergangenheit wird nicht mehr „wie in einer Urne“ aufbewahrt. Auf einmal ist es Zeit, der „Zukunft den Weg zu ebnen“ („[п]ора дорогу будущему дать“138). Im Gedicht „Vse sbylos’“ / „Alles hat sich erfüllt“ erblickt der Sprecher durch einen „entleerten“ Birkenwald, zwischen den Flügelschlägen eines wie „Leergut“ treibenden Vogels das „zukünftige Leben“ („будущую жизнь“139). Während der erste Teil von Kogda razguljaetsja noch stark von Živagos Einwilligung in den Tod gefärbt ist, aktualisiert der zweite Teil gleichsam das Denken seiner Freunde Gordon und Dudorov, die im Epilog des Romans glauben, die Zukunft habe sich in die abendlichen Straßen von Moskau buchstäblich herabgesenkt. Was aber geschieht, wenn die Zukunft in der Gegenwart real wird? In „Vse sbylos’“ ist vom Leben in der Zukunft interessanterweise in der Vergangenheitsform die Rede: Bсе до мельчайшей доли сотой В ней оправдалось и сбылось.140 Alles bis ins kleinste, hundertste Teilchen Hat sich in ihm [im zukünftigen Leben] gerechtfertigt und erfüllt.

Man könnte in solchen Stellen die Vorwegnahme eines ‚wahren Kommunismus‘ nach dem Ende von Stalins Herrschaft sehen. Zinaida Pasternak immerhin hielt ihren Mann bis zuletzt für einen „großen Kommunisten“.141 So ließe sich erklären, weshalb die Denkfigur der „angekommenen Zukunft“ kaum konkreter ausfällt als die utopische Rede von der lichten Zukunft. Eine Ausnahme bildet diesbezüglich übrigens das unabgeschlossene Theaterstück Slepaja krasavica (Die blinde Schönheit, 1959), in dem der unschuldig erblindeten Leibeigenen Ljuša durch eine Augenoperation das Licht zurückgegeben werden soll. Doch so sehr der Plan Aufklärungs- und Fortschrittsglauben vermuten lässt – geschrieben hat Pasternak den Akt über Ljušas Augen-Heilung nicht mehr.142 Eine okularzentristische Konkretisierung 138 PSS, II, 193. 139 Ebd., 189. 140 Ebd. Žolkovskij kommt ausführlich auf das futurische „все сбылось“ bzw. die zukünftige Vergangenheit zu sprechen. Žolkovskij, Aleksandr: „Bessmertie na vremja. K poėzii grammatičeskogo vremeni u Pasternaka“ [1996], in: ders.: Poėtika Pasternaka. Invarianty, struktury, interteksty. Moskva 2011, 151–160, hier 151–153. Žolkovskij interessiert sich dabei vor allem für die „Technologie poetischer Wunder“ (ebd., 152). 141 Vgl. die Äußerung in Zinaidas Memoiren zu Pasternaks Tod: „In meinem Kopf drehten sich folgende Worte, die jemandem, der ihn [Pasternak] nicht kannte, paradox erscheinen könnten: ‚Leb wohl, echter großer Kommunist, du hast mit deinem Leben bewiesen, dass du dieser Bezeichnung würdig bist.‘“ Pasternak, Zinaida: Vospominanija. Moskva 2006, 171. 142 Mossman, Elliott: „Pasternak’s Blind Beauty“, in: Russian Literature Quarterly 7 (1974), 227–242, hier 232–235.

Lichtpoetik als Metaphysik

441

des Zukunfts-Begriffs blieb also aus. Vor allem aber ist die Absage an den Kommunismus in Doktor Živago so unmissverständlich, dass die Annahme eines ‚echten‘ kommunistischen Zukunftsglaubens schlicht unplausibel ist – selbst wenn Pasternak sich privat besser mit der sowjetischen Wirklichkeit und ihren kulturellen Institutionen arrangierte als seine Romanfigur.143 Eine nachvollziehbare Variante, das „все сбылось“ der Zukunft zu verstehen, deutet Evgenij Pasternak an, wenn er schreibt: „[…] seiner [Pasternaks] Ansicht nach ist eine korrekt verstandene Gegenwart bereits die Zukunft.“144 Mit anderen Worten: Wird das Leben als „Geschenk“ angenommen („V bol’nice“), so wird etwas gespeichert, dessen Dauer zeitlich gesehen äußerst begrenzt sein mag, das aber als unverbrüchliches Gewesen-Sein in die Zukunft eingeht. Die Paradoxie einer Zukunft, in der sich alles schon erfüllt hat, wäre demnach so zu verstehen: als Futurum exactum, als Vorzukünftigkeit. Das Reden von der Zukunft wäre dann kein prophetisches, sondern die vorauseilende Vergewisserung, dass das Leben keine Täuschung gewesen ist, gewesen sein wird. Denn es wird sich – das ist gewiss – dereinst erfüllt haben. 1953 gab Pasternak seinem Sohn den Rat, ein Dissertationsvorhaben im Bereich der Elektrotechnik genau nach diesem Muster in Angriff zu nehmen: Ты выкинь даже слово это [«диссертация»] из своего обихода и сознание обязательности, которое оно за собою влечет, а постепенно, когда будет позволять служба, пиши эту работу или развивай это изобретение, и только после того, как дело будeт сделано, доведи до сознания, что оно было твоей обязанностью.145 Wirf nur schon dieses Wort [„Dissertation“] aus Deinem Sprachgebrauch und das Bewusstsein von der Notwendigkeit, die es nach sich zieht, und schreibe diese Arbeit Schritt für Schritt oder entwickle diese Erfindung, wenn es die Dienstpflichten erlauben werden, und führe Dir erst danach, sobald die Sache getan sein wird, zu Bewusstsein, dass sie Deine Verbindlichkeit gewesen ist.

143 Umgekehrt pflegte Pasternak vor westlichen Medienvertretern und Slavisten umso mehr im Sinne von Živagos Antikommunismus zu argumentieren. Darauf angesprochen, was er als erstes unternähme, falls die politische Entscheidungsgewalt in seine Hände fallen sollte, antwortete er: „Я бы устранил посредственность, нравственное и умственное бесплодие и мещанский оптимизм, представляющие собой три зла нашего времени.“ „Ich würde die Vermitteltheit beseitigen, die sittliche und geistige Unfruchtbarkeit und den spießbürgerlichen Optimismus, die die drei Übel unserer Zeit darstellen.“ Interview mit der italienischen Wochenzeitung Visto [1956], PSS, V, 273–279, hier 275. 144 Evg. Pasternak: Biografija, 696. Im selben Absatz heißt es: „Die Bilder und Themen dieses Buches [‚Wenn es aufklart‘] sind vom Licht und der Erfahrung des Erlebten erleuchtet […].“ Ganz in diesem Sinne schrieb Al’fonsov schon über den Zukunftsbegriff von Vtoroe roždenie: „Dies ist keine abstrakte Zukunft, entfernt vom Menschen und seinem jetzigen Zustand […]. Wahrscheinlich ist in dieser Zukunft viel Vergangenes, genauer, Allzeitliches, Unvergängliches.“ Poėzija Borisa Pasternaka, 234. 145 Brief vom 15. April 1953, PSS, IX, 730 (Hervorhebung im Orig.).

442 Schluss

Versuchen wir die Zukunft in dieser inhaltlich völlig offenen, auf die Gegenwart gerichteten Bestimmung noch zu konkretisieren. Ich möchte meine Untersuchung mit einem Blick auf einen kaum bekannten Text Pasternaks abschließen. In einem Gedichtfragment von 1958 ist die Rede von einer „anderen Zeit“: Когда я с честью пронесу Несчастий бремя, Означится, как свет в лесу, Иное время. Я вспомню, как когда-то встарь Здесь путь был начат К той цели, где теперь фонарь Вдали маячит.146 Wenn ich mit Würde ausgestanden haben werde Der Leiden Last, Wird sich anzeigen, wie Licht im Wald, Eine andere Zeit. [Dann] Werde ich mich erinnern, dass einst in alter Zeit Ein Weg hier angefangen wurde Zu jenem Ziel, wo jetzt eine Laterne In der Ferne schimmert.

Den Hintergrund dieser Verse bildet der Skandal um Doktor Živago und den Nobelpreis; das Bild des verdunkelten Waldes findet sich auch im Gedicht „Nobelevskaja premija“147 / „Der Nobelpreis“. Wenn das Unglück (die Anschuldigungen und Verunglimpfungen) mit Würde ausgestanden sein wird, wird sich eine „andere“, gerechtere Zeit abzeichnen, in der sich der dichte Wald aufhellt. Damit wären wir wieder in der unkonkreten Zukunft… Doch es folgt, auch in diesen Versen, der Rückweg von der Zukunft in die Vergangenheit. Der von „Wenn ich mit Würde ausgestanden haben werde…“ abhängige Nebensatz wird in der zweiten Strophe fortgesetzt: „… dann werde ich mich erinnern, dass einst in alter Zeit…“ Die „andere Zeit“ wird also gar nichts Neues bringen, sie wird in der Erinnerung an einen „einst angefangenen“ Weg bestehen, an dessen Ende „jetzt“ eine Laterne aufleuchtet. Wollte man die zeitlichen Vektoren der beiden Strophen aufzeichnen, ergäbe sich ein verwirrendes Bild: Die Gegenwart weist in die Zukunft, die Zukunft zurück in die Vergangenheit, die Vergangenheit in die Gegenwart und die Gegenwart wo146 „Kogda ja s čest’ju pronesu…“, PSS, II, 269. 147 „Темный лес и берег пруда, / Ели сваленной бревно. / Путь отрезан отовсюду. / Будь что будет, всë равно.“ „Finstrer Wald, ein Teich inmitten, / Tannenstamm, gefällt vom Streich. / Jeder Weg ist abgeschnitten. / Komm, was wolle, mir ist’s gleich.“ Ebd., 194 (übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Gedichte und Poeme, 488).

Lichtpoetik als Metaphysik

443

möglich wiederum in die Zukunft. Der einzige sichere Anhaltspunkt ist das „jetzt“, und dieses bezieht sich auf das Licht einer Laterne. Der Fluchtpunkt des Fragments ist ein zittriges Licht in der Gegenwart – aufscheinen („маячит“) reimt, zwar unrein, auf angefangen („начат“). Das Zukünftige bleibt dagegen überaus mittelbar und unbestimmt. Denn leuchtend ist bei Pasternak die Gegenwart, nicht die Zukunft. Gleichwohl hat die Zukunft eine präzise Funktion. Sie eröffnet die „andere Zeit“ des Futurum exactum, eine Perspektive auf das Leben, aus der Angefangenes als real und bleibend vergewissert werden kann. Diesem angefangenen Leben ist Pasternaks poetische Metaphysik des Lichts gewidmet.

Literaturverzeichnis Aarsleff, Hans: „The Context and Sense of Humboldt’s Statement that Language ‘ist kein werk (ergon), sondern eine tätigkeit (energeia)’“, in: Guimarães, Eduardo/Barros, Diana Luz Pessoa de (Hrsg.): History of Linguistics 2002. Selected Papers from the Ninth International Conference on the History of the Language Sciences. Amsterdam/Philadelphia 2007, 197–205. Abašev, Vladimir: „Ananas na russkoj počve: O stichotvorenii Andreja Belogo ‚Na gorach‘“, in: Russian Literature LI (2002), 121–143. Achmatova, Anna: Sobranie sočinenij v šesti tomach. 1. Stichotvorenija 1904–1941. Moskva 1998. Afanas’ev, Aleksandr: Poėtičeskie vozzrenija slavjan na prirodu. V trech tomach. Moskva 1994. Ajgi, Gennadij: „Der Wind ist der Atem des Schöpfers. Gespräch mit Branka Bogavac und Léon Robel“, in: ders.: Blätter in den Wind. Gespräche, Reden, Essays. Ausgewählte Werke. Band II. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Wien-Lana 1998, 93–115. Ajgi, Gennadij: „Obydennost’ čuda. Vstreči s Borisom Pasternakom 1956–1958“, in: ders.: Stichotvorenija. Kommentirovannoe izdanie. Moskva 2008, 326–355. Al’fonsov, Vladimir: Poėzija Borisa Pasternaka. Sankt-Peterburg 20012. Anninskij, Lev: „Boris Pasternak: ‚Ja ves’ mir zastavil plakat’ nad krasoj moej‘“, in: ders.: Serebro i čern’. Russkoe, sovetskoe, slavjanskoe, vsemirnoe v poėzii Serebrjanogo veka. Moskva 1997, 116–131. Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 19942. Aseev, Nikolaj: Stichotvorenija i poėmy. Leningrad 1967. Aucouturier, Michel: „The Metonymous Hero or The Beginnings of Pasternak the Novellist“, in: Books Abroad 44, 2 (1970), 222–227. Aucouturier, Michel (Hrsg.): Boris Pasternak, 1890–1960. Colloque de Cérisy-la-Salle (11–14 septembre 1975). Paris 1979. Aucouturier, Michel: „Ob odnom ključe k Ochrannoj gramote“, in: ders.: Boris Pasternak, 1890– 1960, 337–348. Aucouturier, Michel: „Pasternak témoin de l’actualité de Tolstoï“, in: Tolstoï aujourd’hui. Colloque international Tolstoï tenu à Paris du 10 au 13 octobre 1978, à l’occasion du cent-cinquantième anniversaire de la naissance de Léon Tolstoï. Paris 1980, 277–284. Aucouturier, Michel: „Pasternak et la Révolution française“, in: Cahiers du Monde russe et soviétique 30, 3/4 (1989), 181–191. Aucouturier, Michel: „Pasternak and Proust“, in: Forum for Modern Language Studies XXVI, 4 (1990), 342–352. Aucouturier, Michel: Le réalisme socialiste. Paris 1998. Averincev, Sergej: „Pasternak i Mandel’štam: opyt sopostavlenija“, in: Izvestija Akademii nauk SSSR. Serija literatury i jazyka, 49, 3 (1990), 213–217. Averincev, Sergej: „Sofija“, in: ders.: Sofija-Logos. Slovar’. Kiev 2001, 161–163. Avvakum: „Beseda pjataja (O vnešnej mudrosti)“, in: Žitie Protopopa Avvakuma im samim napisannoe i drugie ego sočinenija. Redakcija, vstupitel’naja stat’ja i kommentarij N. K. Gudzija. Moskva 1933, 215–219. Bachelard, Gaston: La flamme d’une chandelle. Paris 1961. Bachelard, Gaston: „L’eau maternelle et l’eau féminine“, in: ders.: L’eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière. Paris 1981, 155–180.

446 Literaturverzeichnis Bachtin, Michail: Slovo v romane, in: ders.: Voprosy literatury i ėstetiki. Issledovanija raznych let. Moskva 1975, 72–233. Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes. Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Grübel, aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt a. M. 1979. Bachtin, Michail: Avtor i geroj v ėstetičeskoj dejatel’nosti, in: ders.: Sobranie sočinenij. T. 1. Filosofskaja ėstetika 1920-ch godov. Moskva 2003, 69–263. Bachtin, Michail: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit. Herausgegeben von Rainer Grübel, Edward Kowalski und Ulrich Schmid, aus dem Russischen von Hans-Günter Hilbert, Rainer Grübel, Alexander Haardt und Ulrich Schmid. Frankfurt a. M. 2008. Baevskij, Vadim: „Stichotvorenie Pasternaka ‚V bol’nice‘“, in: ders.: Puškinsko-pasternakovskaja kul’turnaja paradigma. Moskva 2011, 641–681. Bal’mont, Konstantin: Izbrannoe. Stichotvorenija, perevody, stat’i. Moskva 1980. Balthasar, Hans Urs von: Das Ganze im Fragment. Aspekte der Geschichtstheologie. Einsiedeln 1963. Balthasar, Hans Urs von: Kosmische Liturgie. Das Weltbild Maximus’ des Bekenners. Zweite, völlig veränderte Auflage. Einsiedeln 1964. Balthasar, Hans Urs von: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Band III, 2. Theologie, Teil 2. Neuer Bund. Einsiedeln 1969. Barnes, Christopher: „Boris Pasternak i revoljucija 1917 goda“, in: Aucouturier: Boris Pasternak, 1890–1960, 315–327. Barnes, Christopher: Boris Pasternak. A Literary Biography. Volume 1. 1890–1928. Cambridge 1989. Barnes, Christopher: Boris Pasternak. A Literary Biography. Volume 2. 1928–1960. Cambridge 1998. Batnitzky, Leora: „An Irrationalist Rationalism: Levinas’s Transformation of Hermann Cohen“, in: dies.: Leo Strauss and Emmanuel Levinas. Philosophy and the Politics of Revelation. Cambridge 2006, 75–93. Baudelaire, Charles: Œuvres complètes. I. Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois. Paris 1975. Baudrillard, Jean: Pourquoi tout n’a-t-il pas déjà disparu?. Édition revue et corrigée. Paris 2008. Beierwaltes, Werner: Lux intelligibilis. Untersuchung zur Lichtmetaphysik der Griechen. München 1957. Bekman Chadaga, Julia: „Light in Captivity: Spectacular Glass and Soviet Power in the 1920s and 1930s“, in: Slavic Review 66, 1 (2007), 82–105. Belinskij, Vissarion: „Pis’mo k Gogolju“, in: ders.: Sobranie sočinenij v trech tomach. Tom III. Moskva 1948, 707–715. Belyj, Andrej: „Sinematograf “, in: Vesy 7 (1907), 50–53. Belyj, Andrej: „Vjačeslav Ivanov. Siluėt“, in: ders.: Arabeski. München 1969 [Nachdruck der Ausgabe Moskau 1911], 469–474. Belyj, Andrej: Načalo veka. Podgotovka teksta i kommentarii A. V. Lavrova. Moskva 1990. Belyj, Andrej: Simfonii. Vstupitel’naja stat’ja, sostavlenie, podgotovka teksta i primečanija A. V. Lavrova. Leningrad 1991. Belyj, Andrej: Simvolizm kak miroponimanie. Moskva 1994. Belyj, Andrej: Stichotvorenija i poėmy. 2 toma. Sankt-Peterburg 2006. Benjamin, Walter: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, in: ders.: Passagen. Schriften zur französischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Gérard Raulet. Frankfurt a. M. 2007, 145–159.

Literaturverzeichnis 447 Berdjaev, Nikolaj: Smysl tvorčestva, in: ders.: Filosofija svobody. Smysl tvorčestva. Moskva 1989, 254–580. Berdjaev, Nikolaj: „Novoe srednevekov’e“, in: ders.: Filosofija tvorčestva, kul’tury i iskusstva. 1. Moskva 1994, 407–437. Berdjaev, Nikolaj: „Krizis iskusstva“, in: ders.: Filosofija tvorčestva, kul’tury i iskusstva. 2. Moskva 1994, 399–419. Bergson, Henri: L’évolution créatrice. Œuvres complètes. 2. Genève 1945. Bergson, Henri: Essai sur les données immédiates de la conscience. Œuvres complètes. 4. Genève 1945. Bergson, Henri: La pensée et le mouvant. Essais et conférences. 15e éd. Paris 2005. Bergson, Henri: „Introduction (première partie)“, in: ders.: La pensée et le mouvant, 1–23. Bergson, Henri: „Introduction (deuxième partie)“, in: ders.: La pensée et le mouvant, 25–98. Bergson, Henri: „Introduction à la métaphysique“, in: ders.: La pensée et le mouvant, 177–227. Berlin, Isaiah: „The Energy of Pasternak“, in: Erlich: Pasternak. A Collection of Critical Essays, 39–42. Berlin, Isaiah: „The Counter-Enlightenment“, in: ders.: Against the Current. Essays in the History of Ideas. Oxford 1989, 1–24. Berlin, Isaiah: „Conversations with Akhmatova and Pasternak“, in: ders.: The Soviet Mind. Russian Culture under Communism. Washington, D.C., 2004, 53–84. Bethea, David: „Doctor Zhivago: The Revolution and the Red Crosse Knight“, in: ders.: The Shape of Apocalypse in Modern Russian Fiction. Princeton 1989, 230–268. Billington, James: „The Muscovite Ideology“, in: ders.: The Icon and the Axe. An Interpretative History of Russian Culture. New York 1970, 47–77. Bird, Robert: The Russian Prospero. The Creative Universe of Viacheslav Ivanov. Madison, Wisconsin, 2006. Björling, Fiona: „Child Perspective: Tradition and Experiment. An Analysis of ›Detstvo Ljuvers‹ by Boris Pasternak“, in: Nilsson, Nils Åke (Hrsg.): Studies in 20th Century Russian Prose. Stockholm 1982, 130–155. Björling, Fiona: „Blind leaps of passion and other strategies to outwit inevitability. On Pasternak and the legacy from the turn of the 19th to the 20th century“, in: dies. (Hrsg.): On the Verge. Russian Thought Between the Nineteenth and the Twentieth Centuries. Lund 2001, 131–149. Björling, Fiona: „Speeding in Time. Philosophy and metaphor in a presentation of Okhrannaia gramota Part One 6.“, in: Fleishman: Eternity’s Hostage, I, 285–302. Blanchot, Maurice: L’espace littéraire. Paris 1955. Blanchot, Maurice: „Parler, ce n’est pas voir“, in: ders.: L’entretien infini. Paris 1969, 35–45. Blok, Aleksandr: Sočinenija v dvuch tomach. Moskva 1955. Block, Alexander: Ausgewählte Werke. 1. Gedichte. Poeme. München 1978. Blumenberg, Hans: „Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung“, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M. 2001, 139–171. Bobrik, Marina: „‚Tut vse delo v tone‘. B. Pasternak ‚Za knigoj‘ (1956) – R. M. Rilke ‚Der Lesende‘ (1901)“, in: Rossija i zapad, 86–99. Bobrov, Sergej: Lira lir. Moskva 1917. Bobrov, Sergej: „О B. L. Pasternake“, in: Vospominanija o Borise Pasternake, 59–66. Bodin, Per Arne: „Pasternak and Christian Art“, in: Nilsson, Nils Åke (Hrsg.): Boris Pasternak. Essays. Stockholm 1976, 203–214. Bodin, Per Arne: Nine Poems from Doktor Živago. A Study of Christian Motifs in Boris Pasternak’s Poetry. Stockholm 1976.

448 Literaturverzeichnis Bodin, Per-Arne: „Boris Pasternak and the Christian Tradition“, in: Forum for Modern Language Studies 26, 4 (1990), 382–401. Bohrer, Karl Heinz: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt a. M. 1989. Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Mit einem Nachwort von 1998. Frankfurt a. M. 1998. Bohrer, Karl Heinz: „Utopie des ‚Augenblicks‘ und Fiktionalität. Die Subjektivierung von Zeit in der modernen Literatur“, in: ders.: Plötzlichkeit, 180–218. Bohrer, Karl Heinz: „Nachwort zur dritten Auflage“, in: ders.: Plötzlichkeit, 263. Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. 6. Tret’e izdanie. Moskva 1971. Bonnet, Hans: Reallexikon der ägyptischen Religionsgeschichte. 3., unv. Auflage. Berlin 2000. Borisov, Vadim: „Reka, raspachnutaja nastež’. K tvorčeskoj istorii romana Borisa Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, in: Pasternak, Boris: Doktor Živago. Moskva 1989, 409–429. Borisov, Vadim/Pasternak, Evgenij: „Materialy k tvorčeskoj istorii romana B. Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, in: Novyj mir 6 (1988), 204–248. Böhme, Gernot: „Das Bild der Dämmerung“, in: ders.: Theorie des Bildes. München 1999, 95–109. Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Berlin 20137. Børtnes, Jostein: Visions of Glory. Studies in Early Russian Hagiography. English Translation Jostein Børtnes and Paul L. Nielsen. Oslo/New Jersey 1988. Bremer, Dieter: „Licht als universelles Darstellungsmedium“, in: Archiv für Begriffsgeschichte XVII, 2 (1974), 185–206. Brjusov, Valerij: Sobranie sočinenij v semi tomach. Tom šestoj. Stat’i i recenzii 1893–1924. Iz knigi „Dalekie i blizkie“. Miscellanea. Moskva 1975. Brodskij, Iosif: Sočinenija Iosifa Brodskogo. Tom III. Sankt-Peterburg 1994. Brodskij, Iosif: „Primečanie k kommentariju“, in: ders.: Pis’mo Goraciju. Moskva 1998, CXIX– CXLV. Brojtman, Samson: „Rannij Pasternak i postsimvolizm (k voprosu o kriterijach definicii ‚postsimvolizma‘)“, in: http://postsymbolism.ru/joomla/index.php?option=com_docman&task =doc_view&gid=34 (Zugriff: 04.01.2011). Brojtman, Samson: Poėtika knigi Borisa Pasternaka „Sestra moja – žizn’“. Moskva 2007. Brojtmam, Samson: „A. Blok v ‚Doktore Živago‘ B.  Pasternaka“, in: ders.: Poėtika russkoj klassičeskoj i neklassičeskoj liriki. Moskva 2008, 257–267. Bruns, Gerald L.: „The concept of art and poetry in Emmanuel Levinas’s writings“, in: Critchely/ Bernasconi: The Cambridge Companion to Levinas, 206–233. Buber, Martin: „Einleitung“, in ders.: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 1949, 15–110. Buchštab, Boris: „Pasternak. Kritičeskoe issledovanie“, in: ders.: Fet i drugie. Izbrannye raboty. Sankt-Peterburg 2000, 281–347. Buci-Glucksmann, Christine: Walter Benjamin und die Utopie des Weiblichen. Hamburg 1984. Bulgakov, Sergius: „Was ist das Wort?“, in: Festschrift Th. G. Masaryk zum 80. Geburtstage. Bonn 1930, 25–70. Bulgakov, Sergej: Filosofija chozjajstva, in: ders.: Sočinenija v dvuch tomach. Tom 1. Filosofija chozjajstva. Tragedija filosofii. Moskva 1993, 47–308. Bulgakov, Sergej: Svet nevečernij. Sozercanija i umozrenija. Moskva 1994. Bultmann, Rudolf: „Zur Geschichte der Lichtsymbolik im Altertum“, in: Philologus 97 (1948), 1–36. Burov, Sergej: Igry smyslov u Pasternaka. Moskva 2011. Bykov, Dmitrij: Boris Pasternak. Izdanie sed’moe. Moskva 2007.

Literaturverzeichnis 449 Carlzohn, Jessica: Entangled Figures. Five Poems from Temy i variacii by Boris Pasternak. Lund 2009. Cassedy, Steven: „Bely the Thinker“, in: Malmstad, John (Hrsg.): Andrey Bely. Spirit of Symbolism. Ithaca/London 1987, 313–335. Cassedy, Steven: „Icon and Logos. The Role of Orthodox Theology in Modern Language Theory and Literary Criticism“, in: Hughes/Paperno: Christianity and the Eastern Slavs, III, 311– 324. Chidester, David: Word and Light. Seeing, Hearing, and Religious Discourse. Urbana/Chicago 1992. Ciepiela, Catherine: The Same Solitude. Boris Pasternak and Marina Tsvetaeva. Ithaca/London 2006. Cioran, Samuel D.: The Apocalyptic Symbolism of Andrej Belyj. The Hague/Paris 1973. Clark, Katerina: The Soviet Novel. History as Ritual. Chicago/London 1981. Clément, Olivier: Orient-Occident. Deux Passeurs : Vladimir Lossky et Paul Evdokimov. Genève 1985. Clowes [Kljus], Ėdit: „Postsimvolistskaja ėstetika v ‚Ochrannoj gramote‘ B. Pasternaka“, http:// postsymbolism.ru/joomla/index.php?option=com_docman&task=doc_view&gid=35 (Zugriff: 23.02.2011). Clowes, Edith W.: „Anna Akhmatova, Boris Pasternak, and the Orthodox Legacy in Stalin’s Time“, in: Rossija i zapad, 207–225. Cohen, Hermann: Logik der reinen Erkenntnis. 4. Auflage. Einleitung von Helmut Holzhey. Hildesheim/New York 1997. Cohen, Hermann: Ästhetik des reinen Gefühls. 3. Auflage. Einleitung von Gerd Wolandt. Erster Band. Hildesheim/Zürich/New York 2005. Combe, Dominique: „Le référence dédoublé. Le sujet lyrique entre fiction et autobiographie“, in: Rabaté, Dominique (Hrsg.): Figures du sujet lyrique. Paris 1996, 39–63. Compagnon, Antoine: Les antimodernes. De Joseph de Maistre à Roland Barthes. Paris 2005. Critchely, Simon/Bernasconi, Robert (Hrsg.): The Cambridge Companion to Levinas. Cambridge 2002. Cvetaeva, Marina: Sobranie sočinenij v semi tomach. Moskva 1994–1995. Čukovskaja, Lidija; Dnevnik, 5./6. April 1947, in: Pasternak: PSS, XI, 414. Čukovskaja, Lidija: Zapiski ob Anne Achmatovoj. V 3-ch tomach. 1. 1938–1941. Moskva 2007. Čukovskij, Kornej: Dnevniki, 24. Februar 1932, in: Pasternak: PSS, XI, 299. Čužak, Nikolaj (Hrsg.): Literatura fakta. Nachdruck der Ausgabe Moskau 1929 mit einer Einleitung von Hans Günther. München 1972. Čužak, Nikolaj: „Literatura žiznestroenija (istoričeskij probeg)“, in: Čužak: Literatura fakta, 34–65. Dal’, Vladimir: Tolkovyj slovar’ živogo velikorusskogo jazyka. Tom četvertyj. Vtoroe izdanie, ispravlennoe i značitel’no umnožennoe po rukopisi avtora. S.-Peterburg/Moskva 1882. Danow, David K.: „Epiphany in ‘Doctor Zhivago’“, in: The Modern Language Review 76, 4 (1981), 889–903. Danto, Arthur C.: „Philosophizing Literature“, in: ders.: The Philosophical Disenfranchisement of Art. New York 1986, 163–186. Davidson, Pamela: The Poetic Imagination of Vyacheslav Ivanov. A Russian Symbolist’s Perception of Dante. Cambridge/New York/New Rochelle/Melbourne/Sydney 1989. Davies, Paul: „The Face and the Caress. Levinas’s Ethical Alterations of Sensibility“, in: Levin: Modernity and the Hegemony of Vision, 252–272.

450 Literaturverzeichnis Deleuze, Gilles: Cinéma 1. L’image-mouvement. Paris 1983. Deleuze, Gilles: Cinéma 2. L’image-temps. Paris 1985. Deleuze, Gilles: Proust et les signes. Paris 2010. Dennes, Maryse: Husserl – Heidegger. Influence de leur œuvre en Russie. Paris/Montréal 1998. Deppermann, Maria (Hrsg.): Russisches Denken im europäischen Dialog. Innsbruck/Wien 1998. Derrida, Jacques: „Violence et métaphysique. Essai sur la pensée d’Emmanuel Lévinas (première partie)“, in: Revue de Métaphysique et de Morale 3 (1964), 322–354. Derrida, Jacques: „La mythologie blanche“, in: ders.: Marges de la philosophie. Paris 1972, 247–324. Derrida, Jacques: Adieu à Emmanuel Lévinas. Paris 1997. „Doktor Živago“: Pasternak, 1958, Italija. Antologija. Sostaviteli Stefano Gardzonio, Alessandra Reččina. Perevod s ital’janskogo pod obščej redakciej Mariny Arias-Vichil’. Moskva 2012. Dolgopolov, Leonid: „Strannyj doktor. K voprosu o ličnosti i charaktere žiznedejatel’nosti geroja romana ‚Doktora Živago‘“, in: Losev: Boris Pasternak, 1890-1990, 178–189. Dorzweiler, Sergej: „Boris Pasternak und Gottfried Wilhelm Leibniz“, in: Dorzweiler, Sergej/ Harder, Hans-Bernd (Hrsg.): Pasternak-Studien I. Beiträge zum Internationalen PasternakKongreß 1991 in Marburg. München 1993, 25–31. Dostoevskij, Fedor: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Leningrad 1972–1990. Döring, Johanna Renate: Die Lyrik Pasternaks in den Jahren 1928–1934. München 1973. Döring-Smirnov, Johanna Renate: „Ein karnevaleskes Spiel mit fremden Texten. Zur Interpretation von B. Pasternaks Poem Vakchanalija“, in: dies./Rehder, Peter/Schmid, Wolf (Hrsg.): Text Symbol Weltmodell. Johannes Holthusen zum 60. Geburtstag. München 1984, 59–80. Döring, Johanna Renate: „Boris Pasternak (1890–1960). ‚Kultur‘-Asket und Dichter-Philosoph“, in: dies.: Von Puschkin bis Sorokin. Zwanzig russische Autoren im Porträt. Wien/Köln/Weimar 2013, 191–206. Dëring-Smirnova, Iochanna R./Smirnov, Igor’ P.: Očerki po istoričeskoj tipologii kul’tury: … → realizm (…), postsimvolizm (avangard). Salzburg 1982. Drubek-Meyer, Natascha: „‚Himmlische Zeichen‘: Kino-Symbolismus und symbolistisches Kino (Andrej Belyj und Evgenij Bauėr“), in: Grübel, Rainer/Schmid, Wolf (Hrsg.): Wortkunst, Erzählkunst, Bildkunst: Festschrift für Aage A. Hansen-Löve. München 2008, 153–175. Drubek, Natascha: Russisches Licht. Von der Ikone zum frühen sowjetischen Kino. Wien/Köln/ Weimar 2012. Duby, Georges: „Dieu est Lumière. 1130–1190“, in: ders.: Le temps des cathédrales. L’art et la société. 980–1420. Paris 1982, 121–162. Dufour, Éric: Hermann Cohen. Introduction au néokantisme de Marbourg. Paris 2001. Durylin, Sergej: „Ob odnom simvole u Dostoevskogo. Opyt tematičeskogo obzora“, in: Dostoevskij (Trudy gosudarstvennoj akademii chudožestvennych nauk). Moskva 1928, 163–198. Durylin, Sergej: „Iz avtobiografičeskich zapisej ‚V svoem uglu‘“, in: Vospominanija o Borise Pasternake, 54–58. Durylin, Sergej: V svoem uglu. K 120-letiju S. N. Durylina, 1886–1954. Moskva 2006. Dvorec, Žanna: „B. L. Pasternak. Kogda razguljaetsja (Kniga stichov kak celoe)“, in: Russkij jazyk v škole 1 (1990), 60–66. Engell, Lorenz/Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph (Hrsg.): Licht und Leitung. Weimar 2002. Engell, Lorenz/Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph: „Editorial“, in: dies.: Licht und Leitung, 5–7. Erbslöh, Gisela: „Pobeda nad solncem“. Ein futuristisches Drama von A. Kručenych. Übersetzung und Kommentar (mit einem Nachdruck der Originalausgabe). München 1976. Erlich, Victor: „The concept of the Poet in Pasternak“, in: The Slavonic and East European Review 37, 89 (1959), 325–335.

Literaturverzeichnis 451 Erlich, Victor (Hrsg.): Pasternak. A Collection of Critical Essays. Englewood Cliffs, NJ, 1978. Ermilova, Elena: Teorija i obraznyj mir russkogo simvolizma. Moskva 1989. Esaulov, Ivan: Paschal’nost’ russkoj slovesnosti. Moskva 2004. Eskin, Michael: Ethics and Dialogue in the Works of Levinas, Bakhtin, Mandel’shtam, and Celan. Oxford 2000. Esterbauer, Reinhold: „Das Bild als Antlitz? Zur Gotteserfahrung und der Kunst beim späten Levinas“, in: Wohlmuth, Josef (Hrsg.): Emmanuel Levinas. Eine Herausforderung für die christliche Theologie. Paderborn 1998, 13–23. Evans, Sandra: Sowjetisch wohnen. Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka. Bielefeld 2011. Evans-Romaine, Karen: „Pasternak and Novalis“, in: dies.: Boris Pasternak and the German Romanticism. München 1997, 43–163. Ėgereš, Katalin: „Poėzija i živopis’: Boris Pasternak i Michail Larionov“, in: Studia Slavica Hungarica 51/3–4 (2006), 327–337. Ėpštejn, Michail: „Pasternak i chasidizm“, in: ders.: Slovo i molčanie. Metafizika russkoj literatury. Moskva 2006, 360–368. Ėtkind, Efim: „Pasternak i Lermontov. K probleme poėtičeskoj ličnosti“, in: Losev: Boris Pasternak, 1890–1990, 107–122. Faryno, Jerzy: „K probleme koda liriki Pasternaka“, in: Russian Literature VI (1978), 69–101. Faryno, Jerzy: Poėtika Pasternaka („Putevye zapiski“ – „Ochrannaja gramota“). Wien 1989. Fateeva, Natal’ja: Poėt i proza. Kniga o Pasternake. Moskva 2003. Fedorov, Nikolaj: Filosofija obščego dela. II. Moskva 1913 [Reprint Lausanne 1985]. Felmy, Karl Christian: Die orthodoxe Theologie der Gegenwart. Eine Einführung. Darmstadt 1990. Felski, Rita: The Gender of Modernity. Cambridge, Mass., 1995. Fet, Afanasij: Stichotvorenija. Sankt-Peterburg 2001. Fink, Hilary: Bergson and Russian Modernism. 1900–1930. Evanston, Illinois, 1999. Flejšman, Lazar’: Pasternak v tridcatye gody. Jerusalem 1984. Fleishman, Lazar (Hrsg.): Boris Pasternak and His Times. Selected papers from the Second International Symposium on Pasternak. Berkeley 1989. Fleishman, Lazar: „Pasternak and Bukharin in the 1930s“, in: ders.: Pasternak and His Times, 171–188. Fleishman, Lazar: Boris Pasternak. The Poet and His Politics, Cambridge, Mass. 1990. Fleishman, Lazar (Hrsg.): Poetry and Revolution. Boris Pasternak’s My Sister Life. Stanford 1999. Fleishman, Lazar (Hrsg.): V krugu Živago. Pasternakovskij sbornik. Stanford 2000. Flejšman, Lazar’: Boris Pasternak v dvadcatye gody. Sankt-Peterburg 20032. Flejšman, Lazar’: „Svobodnaja sub’’ektivnost’“, in: Pasternak: PSS, I, 5–60. Fleishman, Lazar (Hrsg.): Eternity’s Hostage. Selected papers from the Stanford International Conference on Boris Pasternak, May, 2004. 2 vol. Stanford 2006. Flejšman, Lazar’: Ot Puškina k Pasternaku. Izbrannye raboty po poėtike i istorii russkoj literatury. Moskva 2006. Flejšman, Lazar’: „Avtobiografičeskoe i ‚Avgust‘ Pasternaka“, in: ders.: Ot Puškina k Pasternaku, 342–347. Flejšman, Lazar’: „K charakteristike rannego Pasternaka“, in: ders.: Ot Puškina k Pasternaku, 348–379. Flejšman, Lazar’: „Nakanune Poėzii: Marburg v žizni i v ‚Ochrannoj gramote‘ Pasternaka“, in: ders.: Ot Puškina k Pasternaku, 380–399. Flejšman, Lazar’: „Fragmenty ‚futurističeskoj‘ biografii Pasternaka“, in: ders.: Ot Puškina k Pasternaku, 544–585.

452 Literaturverzeichnis Flejšman, Lazar’: „‚Černyj bokal‘ Pasternaka v kontekste literaturnoj bor’by“, in: ders.: Ot Puškina k Pasternaku, 586–620. Flejšman, Lazar’: „Pasternak i Lenin“, in: ders.: Ot Puškina k Pasternaku, 636–667. Flejšman, Lazar’: „Boris Pasternak i christianstvo“, in: ders.: Ot Puškina k Pasternaku, 731–742. Flejšman, Lazar’: Boris Pasternak i Nobelevskaja premija. Moskva 20132. Fleishman, Lazar/Harder, Hans-Bernd/Dorzweiler, Sergej (Hrsg.): Boris Pasternaks Lehrjahre. Neopublikovannye filosofskie konspekty i zametki Borisa Pasternaka. 2 toma. Stanford 1996. Fleishman, Lazar/Harder, Hans-Bernd/Dorzweiler: „Vvedenie“, in: dies.: Boris Pasternaks philosophische Lehrjahre, I, 11–138. Florenskij, Pavel: Mnimosti v geometrii. Moskva 1922 [Nachruck München 1985]. Florenskij, Pavel: Stolp i utverždenie Istiny. Tom 1 (I). Moskva 1990. Florenskij, Pavel: Stolp i utverždenie Istiny. Tom 1 (II). Moskva 1990. Florovskij, Georgij: Puti russkogo bogoslovija. Vtoroe izdanie, s predisloviem prot. I. Mejendorfa i indeksom imen. Paris 1981. Flynn, Thomas R.: „Foucault and the Eclipse of Vision“, in: Levin: Modernity and the Hegemony of Vision, 273–286. Frank, Manfred: „Unendliche Annäherung“. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a. M. 1997. Frank, Susi: Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’ und die longinsche Tradition. München 1999. Frank, Viktor: „Vodjanoj znak (poėtičeskoe mirovozzrenie Pasternaka)“, in: Sbornik statej, posvjaščennych tvorčestvu B. L. Pasternaka. München 1962, 240–252. Frank, Viktor: „Realizm četyrech izmerenij (perečityvaja Pasternaka)“, in: ders.: Izbrannye trudy. London 1974, 62–85. Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1960. Gardner, Thomas: John in the Company of Poets. The Gospel in Literary Imagination. Waco, Texas, 2011. Gasparov, Boris: „Vremennoj kontrapunkt kak formoobrazujuščij princip romana Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, in: Fleishman: Pasternak and His Times, 315–358. Gasparov, Boris: „Gradus ad Parnassum (samosoveršenstvovanie kak kategorija tvorčeskogo mira Pasternaka)“, in: Wiener Slawistischer Almanach 29 (1992), 75–105. Gasparov, Boris: „Smert’ v vozduche (k interpretacii ‚Stichov o neizvestnom soldate‘)“, in: ders.: Literaturnye lejtmotivy. Očerki russkoj literatury XX veka. Moskva 1994, 213–240. Gasparov, Boris: „Byt kak kategorija poėtiki Pasternaka (k interpretacii stichotvorenija ‚Zerkalo‘)“, in: Polivanov, Konstantin/Shevelenko, Irina/Ustinov, Andrey (Hrsg.): Themes and Variations – Temy i variacii. In Honor of Lazar Fleishman. Stanford 1995, 56–69. Gasparov, Boris: „Poetry of the Silver Age“, in: Dobrenko, Evgeny/Balina, Marina (Hrsg.): The Cambridge Companion to Twentieth-Century Russian Literature. Cambridge 2011, 1–20. Gasparov, Boris: Boris Pasternak: po tu storonu poėtiki (Filosofija. Muzyka. Byt). Moskva 2013. Gasparov, Boris/Hughes, Robert/Paperno, Irina/Raevsky-Hughes, Olga (Hrsg.): Christianity and the Eastern Slavs. Vol. III. Russian Literature in Modern Times. Berkeley 1995. Gasparov, Michail: O. Mandel’štam. Graždanskaja lirika 1937 goda. Moskva 1996. Gasparov, Michail/Podgaeckaja, Irina: „Sestra moja – zhizn’“ Borisa Pasternaka. Sverka ponimanija. Moskva 2008. Gasparov, Michail/Polivanov, Konstantin: „Bliznec v tučach“ Borisa Pasternaka. Opyt kommentarija. Moskva 2005. Geller, Michail: Andrej Platonov v poiskach sčast’ja. Paris 1999.

Literaturverzeichnis 453 Gifford, Henry: Pasternak. A Critical Study. Cambridge/London/New York/Melbourne 1977. Glatzer Rosenthal, Bernice: „The Nature and Function of Sophia in Sergei Bulgakov’s Prerevolutionary Thought“, in: Deutsch Kornblatt, Judith/Gustafson, Richard (Hrsg.): Russian Religious Thought. Madison 1996, 154–175. Glazov-Corrigan, Elena: „A Reappraisal of Shakespeare’s Hamlet: In Defense of Pasternak’s Doctor Zhivago“, in: Forum for Modern Language Studies XXVI, 4 (1990), 219–238. Glazov, Elena: „The Status of the Concepts of ‘Event’ and ‘Action’ in Pasternak’s Detstvo Ljuvers“, in: Wiener Slawistischer Almanach 27 (1991), 137–158. Glazov-Corrigan, Elena: Art after Philosophy. Boris Pasternak’s Early Prose. Columbus 2013. Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band II. Gedichte und Epen. Hamburg 19522. Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden. Band II. Hamburg 1964. Gogol’, Nikolaj: Polnoe sobranie sočinenij. Moskva 1937–1952. Gorelik, Ljudmila: Rannjaja proza Pasternaka: Mif o tvorenii. Smolensk 2000. Greber, Erika: Intertextualität und Interpretierbarkeit des Texts. Zur frühen Prosa Boris Pasternaks. München 1989. Greber, Erika: „Pasternaks unsystematische Kunst des Gedächtnisses“, in: Haverkamp, Anselm/ Lachmann, Renate (Hrsg.): Gedächtniskunst: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt a. M. 1991, 295–327. Greber, Erika: „Das Erinnern des Erinnerns. Die mnemonische Ästhetik Boris Pasternaks“, in: Poetica 24 (1992), 356–393. Greber, Erika: „Subjektgenese, Kreativität und Geschlecht. Zu Pasternaks Detstvo Ljuvers“, in: Hansen-Löve: Psychopoetik, 347–397. Greber, Erika: „The art of memory in Boris Pasternak’s aesthetics“, in: Russian Literature XLII (1997), 25–46. Grob, Thomas: Daniil Charms’ unkindliche Kindheit. Ein literarisches Paradigma der Spätavantgarde im Kontext der russischen Moderne. Bern/Berlin/Frankfurt a.  M./New York/Paris/ Wien 1994. Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. München/Wien 1988. Groys, Boris: „Weisheit als weibliches Weltprinzip. Die russische Sophiologie des Wladimir Solowjow“, in: Assmann, Aleida (Hrsg.): Weisheit. Archäologie der literarischen Kommuniktion III. München 1991, 345–354. Grojs, Boris: „Moskovskij romantičeskij konceptualizm“, in: ders.: Utopija i obmen. 1. Stil’ Stalin. 2. O novom. 3. Stat’i. Moskva 1993, 260–274. Groys, Boris: „Špet und die Entsubjektivierung des Bewußtseins in der russischen Philosophie (Solov’ev, Askol’dov, Bachtin)“, in: Deppermann: Russisches Denken im europäischen Dialog, 122–150. Groys, Boris: „Das Paradox an der Macht“, in: ders.: Das kommunistische Postskriptum. Frankfurt a. M. 2006, 35–61. Groys, Boris/Hansen-Löve, Aage (Hrsg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde. Frankfurt a. M. 2005. Grossman, Joan Delaney: „‘Son of the Sun’: Mikhailovskoe“, in: ders.: Ivan Konevskoi. “Wise Child” of Russian Symbolism. Boston 2010, 27–30. Gruzdeva, Ol’ga: „Ideja ‚narodnoj monarchii‘ v rabotach Ju. F. Samarina“, in: Vestnik MGTU 11, 1 (2008), 34–42.

454 Literaturverzeichnis Grübel, Rainer: „The ‘Vanished Picture’, ‘Living eyes’, and a ‘Fallen Angel’. Metaphysics of Light in Gogol’s ‘The portrait’“, in: Wiener Slawistischer Almanach 45 (2000), 5–26. Grübel, Rainer Georg: „Das ungewisse ‚Letzte Wort‘. Rozanovs Bio-Graphie“, in: ders.: An den Grenzen der Moderne. Vasilij Rozanovs Denken und Schreiben. München 2003, 39–72. Grübel, Rainer: „Gabe und Opfer. Axiologische Perspektiven in der russischen Kultur der Moderne“, in: ders./Kohler, Gun-Britt (Hrsg.): Gabe und Opfer in der russischen Literatur und Kultur der Moderne. Oldenburg 2006, 1–81. Grübel, Rainer/Smirnov, Igor: „Die Geschichte der russischen Kulturosophie im 19. und frühen 20. Jahrhundert“, in: Hansen-Löve, Aage (Hrsg.): „Mein Rußland“. Literarische Konzeptualisierungen und kulturelle Projektionen. Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 44. München 1997, 5–18. Guardini, Romano: Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werken. Studien über den Glauben. Paderborn/Mainz 1989. Gubanova, Galina: „Deti solnca i deti dochloj luny“, in: Simvolizm v avangarde. Moskva 2003, 233–244. Gumilev, Nikolaj: Ognennyj stolp. Peterburg 1921. Gumilev, Nikolaj: Stichotvorenija i poėmy. Leningrad 1988. Gutkin, Irina: „The Legacy of the Symbolist Aesthetic Utopia: From Futurism to Socialst Realism“, in: Paperno/Grossman: Creating Life, 167–196. Günther, Hans: Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistischrealistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre. Stuttgart 1984. Günther [Gjunter], Chans: „Totalitarnaja narodnost’ i ee istoki“, in: Socrealističeskij kanon. Pod obščej redakciej Chansa Gjuntera i Evgenija Dobrenko. Sankt-Peterburg 2000, 377– 389. Haardt, Alexander: „Verantwortlichsein als Antworten auf den Anspruch des Anderen – ein Thema in zwei Variationen bei Michail Bachtin und Emmanuel Lévinas“, in: ders./Plotnikov Nikolaj (Hrsg.): Das normative Menschenbild in der russischen Philosophie. Wien/Zürich/ Berlin/Münster 2011, 63–74. Habra, Georges: La Transfiguration selon les Pères grecs. 2e édition, corrigée. Fontainebleu 1986. Haering, Theodor: Novalis als Philosoph. Stuttgart 1954. Halfin, Igal: From Darkness to Light. Class, Consciousness, and Salvation in Revolutionary Russia. Pittsburgh 2000. Han [Chan], Anna: „Osnovnye predposylki filosofii tvorčestva B. Pasternaka v svete ego rannego ėstetičeskogo samoopredelenija“, in: Acta universitatis Szegediensis de Attila József nominatae. Dissertationes slavicae XIX. Szeged 1988, 39–134. Han [Chan], Anna: „Poėtika i filosofija: Boris Pasternak i Gustav Špet (Vvedenie k teme)“, in: Studia Slavica Hungarica 42 (1997), 301–316. Han, Anna: „Zametki k probleme simul’tanizma v poėzii i v živopisi“, in: Russian Literature LVI (2004), 121–168. Han [Chan], Anna: „Ot vnešnej do vnutrennej perspektivy vídenija: analiz povesti Borisa Pasternaka ‚Detstvo Ljuvers‘“, in: Pasternakovskij sbornik, 29–57. Hansen-Löve, Aage: Der Russische Symbolismus. System und Entfaltung der poetischen Motive. 1. Band: Diabolischer Symbolismus. Wien 1989. Hansen-Löve, Aage: „Zur Typologie des Erhabenen in der russischen Moderne“, in: Poetica 23 (1991), 166–216. Hansen-Löve, Aage (Hrsg.): Psychopoetik. Tagungsbeiträge München 1991. Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 31. Wien 1992.

Literaturverzeichnis 455 Hansen-Löve, Aage: Der Russische Symbolismus. System und Entfaltung der poetischen Motive. 2. Band: Mythopoetischer Symbolismus. 1. Kosmische Symbolik. Wien 1998. Hansen-Löve, Aage: „Der frühe russische Realismus und seine Avantgarde. Einige Thesen“, in: Fleishman, Lazar/Gölz, Christine/Hansen-Löve, Aage (Hrsg.): Analysieren als Deuten. Wolf Schmid zum 60. Geburtstag. Hamburg 2004, 365–405. Hansen-Löve, Aage: „Grundzüge einer Thanatopoetik. Russische Beispiele von Puškin bis Čechov“, in: Wiener Slawistischer Almanach 60 (2007), 7–78. Hansen-Löve, Aage: „Am Anfang war… das Wort. Zum Logozentrismus – à la russe“, in: MülderBach, Inka/Schumacher, Eckhard (Hrsg.): Am Anfang war… Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne. München 2008, 71–90. Harnack, Adolf: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Erster Band. Die Entstehung des kirchlichen Dogmas. Vierte, neu durchgearbeitete und vermehrte Auflage. Tübingen 1909. Hartman, Geoffrey H.: The Unmediated Vision. An Interpretation of Wordsworth, Hopkins, Rilke, and Valéry. New York 1966. Hasty, Olga P.: „Representing Ephemerality: Pasternak’s ‚Гроза, моментальная навек‘“, in: Fleishman: Eternity’s Hostage, I, 116–132. Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes. Mit einer Einführung von Hans-Georg Gadamer. Stuttgart 1970. Heidegger, Martin: „Die Zeit des Weltbildes“, in: ders.: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970. Band 5. Holzwege. Frankfurt a. M. 1977, 75–96. Herlth, Jens: „Lichtmetaphorik und Lichtmetaphysik“, in: ders.: Ein Sänger gebrochener Linien. Iosif Brodskijs dichterische Selbstschöpfung. Köln 2004, 359–375. Hingely, Roland: Pasternak. A Biography. London 1983. Hirdina, Karin: „Einleitung“, in: dies./Augsburger, Janis (Hrsg.): Schönes gefährliches Licht. Studien zu einem kulturellen Phänomen. Stuttgart 2000, 11–19. Hogrebe, Wolfram: „Protodeixis. Was zeigt sich zuerst?“, in: Boehm, Gottfried/Egenhofer, Sebastian/Spies, Christian (Hrsg.): Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren. München 2010, 375–385. Holzhey, Helmut/Röd, Wolfgang: Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. 2. Neukantianismus, Idealismus, Realismus, Phänomenologie. München 2004. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: „Begriff der Aufklärung“, in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam 1947, 13–57. Hughes, Olga: „Pasternak and Futurism“, in: dies.: The Poetic World of Boris Pasternak. Princeton/ London 1974, 42–56. Hughes, Olga: „Stichotvorenie ‚Marburg‘ i tema ‚Vtorogo roždenija‘. Nabljudenija nad raznymi redakcijami stichotvorenija ‚Marburg‘“, in: Aucouturier: Boris Pasternak, 1890–1960, 289– 301. [Raevskaja-]Ch’juz [Hughes], Ol’ga: „O samoubijstve Majakovskogo v Ochrannoj gramote Pasternaka“, in: Fleishman: Boris Pasternak and His Times, 141–152. [Raevsky-]Hughes, Olga: „Liturgičeskoe vremja i Evcharistija v romane Pasternaka Doktor Živago“, in: Gasparov/Hughes/Paperno/Raevsky-Hughes: Christianity and the Eastern Slavs, III, 302–324. Hughes, Robert/Paperno, Irina (Hrsg.): Christianity and the Eastern Slavs. Vol. II. Russian Culture in Modern Times. Berkeley/Los Angeles/London 1994. Igoševa, Tat’jana: „Religioznoe preobraženie v kontekste ‚Stichov o Prekrasnoj Dame‘ A. Bloka“, in: Izvestija Akademii nauk. Serija literatury i jazyka 63, 4 (2004), 54–61. Ingold, Felix Philipp: „Welt und Bild. Zur Begründung der suprematistischen Ästhetik bei Kazimir Malevič“ in: Boehm, Gottfried (Hrsg.): Was ist ein Bild?. München 19952, 367–410.

456 Literaturverzeichnis Ivanov, Vjačeslav: Sobranie sočinenij. Bruxelles 1971–1987. Ivanov, Vjačeslav Vs.: „O knige Pasternaka ‚Sestra moja – žizn’‘ [fragment]“, in: Moskovich, Wolf/ Fraenkel, Jonathan/Levin, Victor/Shvarzband, Samuel (Hrsg.): Russian Literature and History. In Honour of Professor Ilya Serman. Jerusalem 1989, 83–89. Ivanov, Vjačeslav Vs.: „‚Stichi o neizvestnom soldate‘ v kontekste mirovoj poėzii“, in: Žizn’ i tvorčestvo O. Ė. Mandel’štama. Vospominanija, materialy k biografii, „novye stichi“, kommentarii, issledovanija. Voronež 1990, 356–366. Ivanov, Vjačeslav Vs.: „O teme ženščiny u Pasternaka“, in: „Byt’ znamenitym nekrasivo…“. Pasternakovskie čtenija. Vypusk 1. Moskva 1992, 43–54. Ivanov, Vjačeslav Vs.: „Perevernutoe nebo. Zapisi o Pasternake. Prodolženie“, in: Zvezda 12 (2009), http://zvezdaspb.ru/index.php?page=8&nput=1319 (Zugriff: 17.10.2013). Ivanov, Vjačeslav Vs.: „Perevernutoe nebo. Zapisi o Pasternake“, in: Zvezda 2 (2010), http://magazines.russ.ru/zvezda/2010/2/iv.html (Zugriff: 17.10.2013). Ivinskaja, Ol’ga: V plenu vremeni. Gody s Borisom Pasternakom. Paris 1978. Izenberg, Gerald N.: Modernism and Masculinity. Mann, Wedekind, Kandinsky through World War I. Chicago/London 2000. Jacobs, Karen: „Introduction. Modernism and the Body as Afterimage“, in: dies.: The Eye’s Mind. Literary Modernism and Visual Culture. Ithaca/London 2001, 1–44. Jakobson, Anatolij: „‚Vakchanalija‘ v kontekste pozdnego Pasternaka“, in: Slavica Hierosolymitana III (1978), 302–379. Jakobson, Roman: „Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak“, in: Slavische Rundschau 7 (1935), 357–374. Jankélévitch, Vladimir: Philosophie première. Introduction à une philosophie du « presque ». Paris 1954. Jankélévitch, Vladimir: Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien. 1. La manière et l’occasion. Paris 1980. Jankélévitch, Vladimir: Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien. 2. La méconnaissance. Le malentendu. Paris 1980. James, William: The Varieties of Religious Experience. Cambridge, Mass./London 1985. Jampol’skij, Michail: O blizkom (Očerki nemimetičeskogo zrenija). Moskva 2001. Jampol’skij, Michail: Nabljudatel’. Očerki istorii videnija. Sankt-Peterburg 20122. Jay, Martin: Downcast Eyes. The Denigration of Vision in twentieth-century French Thought. Berkeley/Los Angeles/London 1993. Jensen, Peter Alberg: „Boris Pasternak als Ästhetiker im Sinne Søren Kierkegaards“, in: HansenLöve: Psychopoetik, 399–437. Jensen, Peter Alberg: „Geburt des Dichters aus dem Geiste der Musik“, in: Grübel, Rainer (Hrsg.): Russische Literatur an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Oldenburger Symposium. Amsterdam 1993, 411–431. Jensen, Peter Alberg: „Nil’s Ljune i Jurij Živago. Forma i preemstvennost’“, in: Gasparov/Hughes/ Paperno/Raevsky-Hughes: Christianity and the Eastern Slavs, III, 244–286. Jensen, Peter Alberg: „Ot Liriki k Istorii: Pojavlenie ‚tret’ego lica‘ v Detstve Ljuvers Borisa Pasternaka“ in: Fleishman, Lazar/Mc Lean, Hugh (Hrsg.): A Century’s Perspective. Essays on Russian Literature in Honor of Olga Raevsky Hughes and Robert P. Hughes. Stanford 2006, 279–306. Jensen, Peter Alberg: „‚Mir, kotoryj stal sam ne svoj‘ v ėstetike molodogo Pasternaka“, in: Lunde, Ingunn/Paulsen, Martin (Hrsg.): From Poets to Padonki. Linguistic Authority and Norm Negotiation in Modern Russian Culture. Bergen 2009, 184–193. Jonas, Hans: „The Nobility of Sight: A Study in the Phenomenology of the Senses“, in: ders.: The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology. New York 1966, 135–156.

Literaturverzeichnis 457 Jonas, Hans: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Christian Wiese. Frankfurt a. M. 1999. Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst. 4. Auflage. Mit einer Einführung von Max Bill. Bern-Bümpliz 1952. Kapriev, Georgi: Philosophie in Byzanz. Würzburg 2005. Kazakova, Svetlana Ja.: „Tvorčeskaja istorija ob’’edinenija ‘Centrifuga’ (zametki o rannich poėtičeskich vzaimosvjazjach B. Pasternaka, N. Aseeva i S. Bobrova“, in: Russian Literature XXVII (1990), 459–482. Kazmirčuk, Ol’ga: Tvorčestvo rannego Pasternaka i poėtika simvolizma. Kand.-Diss. Moskva 2003. Keats, John: Selected Letters of John Keats. Revisited edition, ed. by Grant F. Scott. Cambridge, Mass./London 2002. Kim, En Suk: Chudožestvennoe prostranstvo v lirike B. Pasternaka. Kand.-Diss. Moskva 2001. Kissel, Wolfgang: Der Kult des toten Dichters und die russische Moderne. Puškin – Blok – Majakovskij. Köln/Weimar/Wien 2004. Kling, Oleg: „Pasternak i simvolizm“, in: Voprosy literatury 2 (2002), 25–59. Kolleritsch, Otto (Hrsg.): Alexander Skrjabin. Graz 1980. Kołakowski, Leszek: „Fenomen obojętności świata“, in: ders.: Obecność mitu. Kraków 1981, 71– 83. Konevskoj, Ivan: Stichotvorenija i poėmy. Sankt-Peterburg/Moskva 2008. Kontekst. Literaturno-teoretičeskie issledovanija (1991), 31–34. Koschmal, Walter: „Der passive Autor – ein russisches Dichterkonzept (Marina Cvetaeva)“, in: Grübel/Kohler: Gabe und Opfer, 369–390. Kotkin, Stephen: „Introduction. Understanding the Russian Revolution“, in: ders.: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization. Berkeley/Los Angeles 1995, 1–25. Kotukova, Elena: Konceptosfera tvorčestva v rannej proze B. Pasternaka. Aksiologija chudožestvennogo prostranstva. Kand.-Diss. Magnitogorsk 2009. Kreps, Michail: „Žizn’ kak dar“, in: ders.: Bulgakov i Pasternak kak romanisty. Analiz romanov „Master i Margarita“ i „Doktor Živago“. Ann Arbor 1984, 37–44. Kručenych, Aleksej: Naš vychod. Avtobiografija dičajšego. Naš vychod. Živoj Majakovskij. Moskva 1996. Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt a. M. 2002. Lachmann, Renate: „Schweigen und Reden in der altrussischen Kultur“, in: von Moos, Peter (Hrsg.): Zwischen Babel und Pfingsten. Sprachdifferenzen und Gesprächsverständigung in der Vormoderne (8.–16. Jahrhundert). Akten der 3. deutsch-französischen Tagung des Arbeitskreises „Gesellschaft und individuelle Kommunikation in der Vormoderne“. Münster 2008, 591–609. Landolt, Emanuel/Maiatsky, Michail: „Une philosophie dans les marges. Le cas du conceptualisme moscovite“, in: Cahiers du Monde russe 53, 4 (2012), 571–592. Lane, Ann: „Nietzsche Comes to Russia: Popularization and Protest in the 1890s“, in: Glatzer Rosenthal, Bernice (Hrsg.): Nietzsche in Russia. Princeton 1986, 51–68. Langer, Gudrun: Kunst – Wissenschaft – Utopie. Die „Überwindung der Kulturkrise“ bei V. Ivanov, A. Blok, A. Belyj und V. Chlebnikov. Frankfurt a. M. 1990. Larionov, Michail: Lučizm. Moskva 1913. Lavrov, Alexander: „Andrei Bely and the Argonauts’ Mythmaking“, in: Paperno/Grossman: Creating Life, 83–121. Lavrov, Aleksandr: Andrej Belyj v 1900-e gody. Žizn’ i literaturnaja dejatel’nost’. Moskva 1995.

458 Literaturverzeichnis Le Bon, Gustave: L’évolution de la matière. Paris 1905. Lederer, Josef-Horst: „Die Funktion der Luce-Stimme in Skrjabins op. 60“, in: Kolleritsch: Alexander Skrjabin, 128–139. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie und andere metaphysische Schriften. Französisch– Deutsch. Herausgegeben, übersetzt, mit Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Ulrich Johannes Schneider. Hamburg 2002. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Discours de métaphysique, in: ders.: Monadologie und andere metaphysische Schriften, 1–109. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Principes de la nature et de la grâce fondés en raison, in: ders.: Monadologie und andere metaphysische Schriften, 152–173. Lejderman, Naum/Lipoveckij, Mark: Russkaja literatura XX veka (1959–1990-e gody). V dvuch tomach. Tom 1, 1953–1968. 5-e idzanie. Moskva 2010. Lekic, Maria: „Pasternak’s Doctor Zhivago: The Novel and its Title, in: Russian Language Journal XLII, 141–143 (1988), 177–191. Lenin v sovetskoj poėzii. Leningrad 1970. Lermontov, Michail: Sobranie sočinenij v četyrech tomach. Moskva 1957–1958. Lermontow, Michail: Gedichte und Poeme. Berlin 1987. Levin, David Michael: Modernity and the Hegemony of Vision. Berkeley/Los Angeles/London 1993. Levin, Jurij: „Zametki o ‚Lejtenante Šmidte‘“, in: ders.: Izbrannye trudy. Poėtika. Semiotika. Moskva 1998, 174–208. Lévinas, Emmanuel: Totalité et infini. Essai sur l’extériorité. Deuxième édition. La Haye 1965. Lévinas, Emmanuel: „Langage et Proximité“, in: ders.: En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger. Réimpression conforme à la première édition suivie d’essais nouveaux. Paris 1967, 217–236. Lévinas, Emmanuel: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. La Haye 1974. Lévinas, Emmanuel: „Le regard du poète“, in: ders.: Sur Maurice Blanchot. Monpellier 1975, 7–26. Lévinas, Emmanuel: „La lumière“, in: ders.: De l’existence à l’existant. Seconde édition augmentée. Paris 1978, 71–80. Lévinas, Emmanuel: Les imprévus de l’histoire. Paris 1994. Lévinas, Emmanuel: „La réalité et son ombre“, in: ders.: Les imprévus de l’histoire, 123–144. Lévinas, Emmanuel: „De l’utilité des insomnies (Entretien avec Bertrand Révillon)“, in: ders.: Les imprévus de l’histoire, 199–202. Levitt, Marcus C.: The Visual Dominant in Eighteenth-Century Russia. DeKalb, Illinois, 2011. Libertson, Joseph: Proximity. Levinas, Blanchot, Bataille and Communication. The Hague/Boston/London 1982. Lichačev, Dmitrij: „Boris Leonidovič Pasternak“, in: Pasternak: Izbrannoe v dvuch tomach, I, 3–28. Lichačev, Dmitrij: „‚Svet‘ i ‚t’ma‘ v ‚Slove o polku Igoreve‘“, in: ders.: „Slovo o polku Igoreve“ i kul’tura ego vremeni. Leningrad 1985, 263–265. Lichačev, Dmitrij: Razvitie russkoj literatury X-XVII vekov. Ėpochi i stili, in: ders.: Izbrannye raboty v trech tomach. Tom 1. Leningrad 1987, 102–158. Liebsch, Burkhard: „Ereignis – Erfahrung – Erzählung. Spuren einer anderen Ereignis-Geschichte: Henri Bergson, Emmanuel Levinas, Paul Ricœur“, in: Rölli, Marc (Hrsg.): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze. München 2004, 183–207. Livingstone, Angela: „Pasternak’s Last Poetry“, in: Erlich: Pasternak. A Collection of Critical Essays, 166–175.

Literaturverzeichnis 459 Livingstone, Angela: „‘Integral Errors’: remarks on the writing of Doctor Zhivago“, in: Essays in Poetics 13, 2 (1988), 83–93. Livingstone, Angela: „Pasternak i Ril’ke“, in: Aucouturier: Boris Pasternak, 1890–1960, 332–449. Livingstone, Angela: „Pasternak and Faust“, in: Forum for Modern Language Studies XXVI, 4 (1990), 353–369. Livingstone, Angela: „Unexpected Affinities between Doktor Zhivago and Chevengur“, in: Fleishman: V krugu Živago, 184–205. Livingstone, Angela: „Re-reading ‘Okhrannia gramota’: Reflections on Pasternak’s use of visuality and his conception of inspiration“, in: Fleishman: Eternity’s Hostage, I, 262–284. Livingston, Anžela: „Značenie mesta v pasternakovskoj teorii vdochnovenija (v otnošenii ego rannej prozy)“, in: Ljubov’ prostranstva… Poėtika mesta v tvorčestve Borisa Pasternaka. K pjatidesjatiletiju prisuždenija Pasternaku Nobelevskoj premii 23 oktjabrja 1958 goda. Moskva 2008, 131–138. Livingstone, Angela: „Introduction“, in: dies.: The Marsh of Gold. Pasternak’s Writings on Inspiration and Creation. Texts by Boris Pasternak, selected, translated, edited, introduced and provided with commentaries and notes by Angela Livingstone. Boston 2010, 1–12. Ljunggren [Junggren], Anna: Juvenilia B. Pasternaka. 6 fragmentov o Relikvimini. Stockholm 1984. Junggren [Ljunggren], Anna: „‚Sad‘ i ‚Ja sam‘: Smysl i kompozicija stichotvorenija ‚Zerkalo‘“, in: Fleishman: Pasternak and His Times, 224–237. Locher, Jan Peter: „Ist Boris Pasternak ein Dichter der Avantgarde?“, in: Riggenbach, Heinrich (Hrsg.): Colloquium Slavicum Basilense. Gedenkschrift für Hildegard Schroeder. Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas 1981, 407–441. Lodyženskij, Mitrofan: Mističeskaja trilogija. Tom II. Svet nezrimyj. Petrograd 1915. Loewen, Donald: The Most Dangerous Art. Poetry, Politics, and Autobiography after the Russian Revolution. Lanham, MD, 2008. Loks, Konstantin: „Povest’ ob odnom desjatiletii (1907–1917)“, in: Vospominanija o Borise Pasternake, 34–53. Losev, Lev (Hrsg.): Boris Pasternak, 1890-1990. Northfield, Vermont, 1991. Lossky, Vladimir: „La notion des ‘analogies’ chez Denys le pseudo-Aréopagite“, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge. Cinquième année. Paris 1930, 279–309. Lossky, Vladimir: Essai sur la Théologie mystique de l’Église d’Orient. Paris 1944. Lossky, Vladimir: A l’image et à la ressemblance de Dieu. Paris 1967. Lossky, Vladimir : „Ténèbre et lumière dans la connaissance de Dieu“, in: ders.: A l’image et à la ressemblance de Dieu, 25–37. Lossky, Vladimir: „La théologie de la lumière chez Saint Grégoire Palamas“, in: ders.: A l’image et à la ressemblance de Dieu, 39–65. Losskij, Vladimir: Spor o Sofii. Stat’i raznych let. Moskva 1996. Lotman, Jurij: Struktura chudožestvennogo teksta. Moskva 1970. Lotman, Michail: „Mandel’štam i Pasternak (opyt kontrastivnoj poėtiki)“, in: Polukhina, Valentina/Andrew, Joe/Reid, Robert (Hrsg.): Literary Tradition and Practice in Russian Culture. Papers from an International Conference on the Occasion of the Seventieth Birthday of Yury Michailovich Lotman. Amsterdam 1993, 123–162. „Lumière“, in: Dictionnaire de spiritualité, ascétique et mystique, doctrine et histoire. Tome IX. Paris 1976, 1142–1183. Lütkehaus, Ludger: Natalität. Philosophie der Geburt. Kusterdingen 2006. Madragule Badi, Jean-Bertrand: Inkarnation in der Perspektive des jüdisch-christlichen Dialogs. Mit einem Vorwort von Michael Wyschogrod. Paderborn/München/Wien/Zürich 2006.

460 Literaturverzeichnis Maguire, Robert A.: Red Virgin Soil. Soviet Literature in the 1920’s. Evanston, Illinois, 20002. Majakovskij, Vladimir: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Tom vtoroj. 1917–1921. Moskva 1956. Malevič, Kazimir: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Moskva 1995–2004. Malevič, Kazimir: Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik. Hrsg. und komm. von Aage. A. Hansen-Löve. München/Wien 2004. Mallac, Guy de: „Zhivago versus Prometheus“, in Books Abroad 44, 2 (1970), 227–231. Mallac, Guy de: „Ėstetičeskie vozzrenija Pasternaka“, in: Aucouturier: Boris Pasternak, 1890– 1960, 63–80. Mallac, Guy de: Boris Pasternak. His Life and Art. London 1983. Malmstad, Džon: „Edinstvo protivopoložnostej. Istorija vzaimootnošenij Chodaseviča i Pasternaka“, in: Literaturnoe obozrenie 2 (1990), 51–59. Mandel’štam, Nadežda: Vtoraja kniga. Paris 1978. Mandel’štam, Nadežda: Tret’ja kniga. Paris 1987. Mandel’štam, Osip: Sobranie sočinenij v četyrech tomach. Moskva 1993–1997. Mandelstam, Ossip: Die Woronescher Hefte. Letzte Gedichte 1935-1937. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli. Zürich 1996. Mandel’štam, Osip: Stichotvorenija. Proza. Sostavlenie, vstupitel’naja stat’ja i kommentarii M. L. Gasparova. Moskva 2001. Marcel, Gabriel: „Réflexions sur la foi“, in: ders.: Être et Avoir II. Réflexions sur l’irréligion et la foi. Paris 1968, 49–75. Marion, Jean-Luc: L’idole et la distance. Cinq études. Paris 1977. Marion, Jean-Luc: Dieu sans l’être. Hors-texte. Paris 1982. Markovič, Janina: Kategorii vremeni i prostranstva v romane B. Pasternaka „Doktor Živago“. Kand.Diss. Poltava 2006. Maršak, Samuil: Stichotvorenija i poėmy. Leningrad 1973. Masing-Delic, Irene: „Zhivago as Fedorovian Soldier“, in: The Russian Review 40, 3 (1981), 300–316. Masing-Delic, Irene: „Bergsons ‚Schöpferische Entwicklung‘ und Pasternaks ‚Doktor Zhivago‘“, in: Reissner, Eberhard (Hrsg.): Literatur und Sprachentwicklung in Osteuropa im 20. Jahrhundert. Ausgewählte Beiträge zum Zweiten Weltkongress für Sowjet- und Osteuropastudien. Berlin 1982, 112–131. Masing-Delic, Irene: „Živago’s „Christmas Star“ as Homage to Blok“, in: Vickery, Walter (Hrsg.): Aleksandr Blok. Centennial Conference. Columbus, Ohio, 1984, 207–223. Masing-Delic, Irene: „Capitalist Bread and Socialist Spectacle: The Janus Face of ‘Rome’ in Pasternak’s Doctor Zhivago“, in: Fleishman: Boris Pasternak and His Time, 372–385. Masing-Delic, Irene: „Creating the Living Work of Art: The Symbolist Pygmalion and His Antecedents“, in: Paperno/Grossman: Creating Life, 51–82. Masing-Delic, Irene: „Larissa – Lolita, or Catharsis and Dolor in the Artist-Novels Doktor Zhivago and Lolita“, in: Fleishman: Eternity’s Hostage, II, 396–424. Maslova, Anna: Poėtika chronotopa v rannem tvorčestve B. L. Pasternaka. Kand.-Diss. Kirov 2003. Matich, Olga: „Doktor Zhivago: Voyeurism and Shadow Play as Narrative Perspective“ (Manuskript). McCaffery, Steve: „The Scandal of Sincerity. Toward a Levinasian Poetics“, in: ders.: Prior to Meaning. The Protosemantic and Poetics. Evanston, Illinois, 2001, 204–229. Megir’janc, Tat’jana: Koncept „gorod“ v tvorčestve B. Pasternaka. Kand.-Diss. Voronež 2002. Merežkovskij, Dmitrij: „O pričinach upadka i o novych tečenijach sovremennoj russkoj literatury“, in: ders.: L. Tolstoj i Dostoevskij. Večnye sputniki. Moskva 1995, 522–560.

Literaturverzeichnis 461 Meyer, Angelika: „Sestra moja – žizn’“ von Boris Pasternak. Analyse und Interpretation. München 1987. Milner, Max: „Levinas: de l’ombre au visage“, in: ders.: L’envers du visible. Essai sur l’ombre. Paris 2005, 363–373. Miłosz, Czesław: „On Pasternak Soberly“, in: Books Abroad 44, 2 (1970), 200–209. Minc, Zara: Blok i russkij simvolizm. Izbrannye trudy v trech knigach. 3. Poėtika russkogo simvolizma. Sankt-Peterburg 2004. Minskij, Nikolaj: Pri svete sovesti. Mysli i mečty o celi žizni. S.-Peterburg 1890. Minskij, Nikolaj: „Absoljutnaja reakcija. Leonid Andreev i Merežkovskij“, in: D. S. Merežkovskij: Pro et contra. Ličnost’ i tvorčestvo Dmitrija Merežkovskogo v ocenke sovremennikov. Sankt-Peterburg 2001, 171–196. Minskij, Nikolaj/Dobroljubov, Aleksandr: Stichotvorenija i poėmy. Sankt-Peterburg 2005. Moreau, Jean-Luc: „The Passion According to Zhivago“, in: Books Abroad 44, 2 (1970), 237–242. Moric, Junna: „‚Katorga, kakaja blagodat’!‘ Boris Pasternak – ispytanie žizneljubiem“, in: Losev: Boris Pasternak, 1890-1990, 263–275. Mossman, Elliott: „Pasternak’s Blind Beauty“, in: Russian Literature Quarterly 7 (1974), 227–242. Nichols, Aidan: Light from the East. Authors and Themes in Orthodox Theology. London 1995. Nichols, Aidan: „John Meyendorff and neo-Palamism“, in: ders.: Light from the East, 41–56. Nichols, Aidan: „Sergei Bulgakov and Sophiology“, in: ders.: Light from the East, 57–73. Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980–1999. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Gedichte. Mit einem Nachwort von Ralph-Rainer Wuthenow. Zürich 1999. Nilsson, Nils Ake: „Life as Ecstasy and Sacrifice: Two Poems by Boris Pasternak“, in: Erlich: Pasternak. A Collection of Critical Essays, 51–67. Nilsson, Nils Åke: „‘It is the World’s Midday’: Pasternak’s Poem ‘Sparrow Hills’“, in: Russian Literature XXXI (1992), 27–36. Nivat, Georges: „Les matins de Pasternak“, in: Aucouturier: Boris Pasternak, 1890–1960, 361– 372. „N. Minskij“, in: Vengerov, Semen (Hrsg.): Russkaja literatura XX veka. Moskva 1914–1916 [Nachdruck München 1972], 357–363. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. v. Paul Kluckhohn (†) und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1975–1988. „Ob ėtoj knige i ob nas (predislovie)“, in: Čužak: Literatura fakta, 5/6. Obolevitch, Teresa: Od onomatodoksji do estetyki. Aleksego Łosiewa koncepcja symbolu. Studium historyczno-filozoficzne. Kraków 2011. O’Connor, Katherine: Boris Pasternak’s My Sister–Life. The Illusion of Narrative. Ardis, Ann Arbor, 1988. Oleša, Jurij: Kniga proščanija. Moskva 1999. Onasch, Konrad: Das Problem des Lichtes in der Ikonenmalerei Andrej Rublevs. Zur 600-Jahrfeier des großen russischen Malers. Berlin 1962. Onasch, Konrad: „Verklärung Christi“, in: ders.: Lexikon Liturgie und Kunst der Ostkirche. Berlin/ München 1993, 373/374. Paperno, Irina: „On the Nature of the Word. Theological Sources of Mandel’štam’s Dialogue with the Symbolists“, in: Hughes/dies.: Christianity and the Eastern Slavs, II, 287–310. Paperno, Irina: „The Meaning of Art: Symbolist Theories“, in: dies./Grossman: Creating Life, 13–23.

462 Literaturverzeichnis Paperno, Irina/Grossman, Joan Delaney: Creating Life. The Aesthetic Utopia of Russian Modernism. Stanford 1994. Paramonov, Boris: „Pasternak protiv romantizma. K ponimaniju problemy“, in: Losev: Boris Pasternak, 1890–1990, 11–25. Pasternak, Boris: Doktor Schiwago. Übertr. v. Reinhold von Walter. Frankfurt a. M. 1958. Pasternak, Boris: Initialen der Leidenschaft. Gedichte. Frankfurt a. M. 1971. Pasternak, Boris: Perepiska s Ol’goj Frejdenberg. Pod redakciej i s kommentarijami Ėlliota Mossmana. New York/London 1981. Pasternak, Boris: Izbrannoe v dvuch tomach. Moskva 1985. Pasternak, Boris: Ob iskusstve. „Ochrannaja gramota“ i zametki o chudožestvennom tvorčestve. Sostavlenie i primečanija E. B. i E. V. Pasternak. Vstupitel’naja stat’ja V. F. Asmusa. Moskva 1990. Pasternak, Boris: Prosa und Essays. Berlin/Weimar 1991. Pasternak, Boris: Die Geschichte einer Kontra-Oktave. Mit einem Nachwort von Jewgenij Pasternak, aus dem Russischen von Heddy Pross-Weerth. Frankfurt a. M. 19933. Pasternak, Boris: Gedichte und Poeme. Berlin 1996. Pasternak, Boris: Doktor Shiwago. Roman. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Düsseldorf/Zürich 1997. Pasternak, Boris: Pis’ma k roditeljam i sestram. Kniga 1. Izdanie podgotovili E.  B.  Pasternak i E. V. Pasternak. Stanford 1998. Pasternak, Boris: Doktor Shiwago. Roman. Deutsch von Thomas Reschke. Frankfurt a. M. 200312. Pasternak, Boris: Polnoe sobranie sočinenij s priloženijami v odinnadcati tomach. Moskva 2003– 2005. Pasternak, Boris/Freudenberg, Olga: Briefwechsel 1910–1954. Deutsch von Rosemarie Tietze, eingeleitet und kommentiert von Johanna Renate Döring-Smirnow, mit einem Nachwort von Raissa Orlowa Kopelew. Frankfurt a. M. 1986. Pasternak, Elena: „Boris Pasternak i Aleksandr Štich“, in: Rossija/Russia 8 (1993), 191–230. Pasternak, Evgenij: „Iz rannich prozaičeskich opytov B. Pasternaka“, in: Pamjatniki kul’tury: Novye otkrytija. 1976. Moskva 1977, 106–111. Pasternak, Evgenij: „‚Novaja faza christianstva‘. Značenie propovedi L’va Tolstogo v duchovnom mire Borisa Pasternaka“, in: Literaturnoe obozrenie 2 (1990), 25–29. Pasternak, Evgenij: Boris Pasternak. Biografija. Moskva 19972. Pasternak, Evgenij: Odinočestvo. Stichi. Moskva 2012. Pasternak, Evgenij/Pasternak, Elena/Polivanov, Konstantin/Raškovskaja, Marija: „Pis’mo Sergeja Bobrova k Žozefine i Lidii Pasternak. Ešče raz k voprosu o Borise Pasternake i christianstve“, in: Vademecum. K 65-letiju Lazarja Flejšmana. Moskva 2010, 594–608. Pasternak, Zinaida: Vospominanija. Moskva 2006. Pasternakovskij sbornik. Stati’i publikacii. I. Moskva 2011. Pavlova, Nina: „Ril’ke i Pasternak. Opyt sopostavlenija“, in: Pasternakovskij sbornik, 68–97. Perkowitz, Sidney: Empire of Light. A History of Discovery in Science and Art. New York 1996. Peters, Karin: Der gespenstische Souverän. Opfer und Autorschaft im 20. Jahrhundert. München 2013. Pfeiffer, Helmut: „Metapher und Totalität. Zum Verhältnis von Raum und Wirklichkeitsbegriff in Victor Hugos Misérables“, in: Poetica 11 (1979), 149–175. Philonenko, Alexis: L’école de Marbourg. Cohen – Natorp – Cassirer. Paris 1989. Pilkington, Anthony E.: Bergson and His Influence. A Reassessment. Cambridge/New York 1976.

Literaturverzeichnis 463 „Pis’mo členov redkollegii žurnala ‚Novyj mir‘ B. L. Pasternaku po povodu rukopisi romana ‚Doktor Živago‘“, in: „A za mnoju šum pogoni…“. Boris Pasternak i vlast’. Dokumenty 1956–1972. Moskva 2001, 349–376. Pjatigorskij, Aleksandr: Izbrannye trudy. Sostavlenie i obščaja redakcija G. Amelina. Moskva 1996. Pjatigorskij, Aleksandr: „Pasternak i doktor Živago. Sub’’ektivnoe izloženie filosofii doktora Živago“, in: ders.: Izbrannye trudy, 219–230. Pjatigorskij, Aleksandr: „Polemika o Pasternake v anglijskoj presse“, in: ders.: Izbrannye trudy, 386–388. Platonov, Andrej: „Svet i socializm“, in: ders.: Gosudarstvennyj žitel’. Proza. Rannie sočinenija. Pis’ma. Moskva 1988, 537–539. Platonov, Andrej: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Moskva 1998–. Polivanov, Konstantin: „Ešče raz o ‚Doktore Živago‘ i Marine Cvetaevoj“, in: Fleishman: V krugu Živago, 171–183. Pomeranc, Georgij: „Neslychannaja prostota“, in: Literaturnoe obozrenie 2 (1990), 19–24. Ponzio, Augusto: Scrittura dialogo alterità. Tra Bachtin e Lévinas. Firenze 1994. Pöggeler, Otto: „Bergson und die Phänomenologie der Zeit“, in: Adams, Bernhard/Boehlke, Hans-Kurt/Gründer, Karlfried/Koch, Hans-Albrecht (Hrsg.): Aratro Corona Messoria. Beiträge zur europäischen Wissensüberlieferung. Festgabe für Günther Pflug zum 20. April 1988. Bonn 1988, 153–169. Prat, Naftali: „Orthodox Philosophy and Language in Russia“, in: Studies in Soviet Thought 20 (1979), 2–21. Proust, Marcel: A la recherche du temps perdu. Le temps retrouvé. Edition réalisée sous la direction de Jean Milly. Edition du texte, introduction, bibliographie par Bernhard Brun. Paris 1986. Proyart, Jacqueline de: Pasternak. Paris 1964. Proyart, Jacqueline de: „‚Lico‘ i ‚ličnost’‘ v tvorčestve Borisa Pasternaka“, in: Pasternakovskie čtenija. Vypusk 2. Moskva 1998, 38–62. Proyart, Jacqueline de: „Boris Pasternak et Andrej Platonov. Autour d’une rencontre“, in: Revue des Etudes slaves LXXVIII/1 (2007), 79–89. Pseudo-Dionysius Areopagita: Über die mystische Theologie, in: ders.: Über die mystische Theologie und Briefe. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Adolf Martin Ritter. Stuttgart 1994, 74–80. Purcell, Michael: Levinas and Theology. Cambridge/New York 2006. Pyman, Avril: A History of Russian Symbolism. Cambridge 1994. Reddaway, Darlene: „Pasternak, Spengler, and Quantum Mechanics: Constants, Variables, and Chains of Equations“, in: Russian Literature XXXI (1992), 37–70. Rieger, Stefan: „Licht und Mensch. Eine Geschichte der Wandlungen“, in: Engell/Siegert/Vogl: Licht und Leitung, 61–72. Rilke, Rainer Maria: Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hrsg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Frankfurt a. M. 1996–2003. Rilke, Rainer Maria/Zwetajewa, Marina/Pasternak, Boris: Briefwechsel. Herausgegeben von Jewgenij Pasternak, Jelena Pasternak und Konstantin M. Asadowskij. Aus dem Russischen übertragen von Heddy Pross-Weerth. Frankfurt a. M. 1983. Ril’ke, Rajner Marija/Pasternak, Boris/Cvetaeva, Marina: Pis’ma 1926 goda. Podgotovka tekstov, sostavlenie, predislovie, perevody, kommentarii K. M. Azadovskogo, E. B. Pasternaka, E. V. Pasternak. Moskva 1990. Rimbaud, Arthur: Œuvres complètes. Édition établie, présentée et annotée par Antoine Adam. Paris 1972.

464 Literaturverzeichnis Rjabov, Oleg: „Filosofija ženstvennosti serebrjanogo veka“, in: ders.: Russkaja filosofija ženstvennosti (XI–XX veka). Ivanovo 1999, 121–213. Robbins, Jill: Altered Reading. Levinas and Literature. Chicago/London 1999. Roll, Serafima: „The Force of Creative Negation: The Author in Boris Pasternak’s Safe Conduct“, in: Canadian Slavonic Papers/Revue canadienne des slavistes XXXIV, 1–2 (1992), 79–96. Ronen, Omri: „Sjužet ‚Stichov o neizvestnom soldate‘ Mandel’štama“, in: Slavica Hierosolymitana IV (1979), 214–222. Rossija i zapad. Sbornik statej v čest’ 70-letija K. M. Azadovskogo. Moskva 2011. Rozanov, Vasilij: Ljudi lunnogo sveta. Metafizika christianstva. Reprintnoe vosproizvedenie vtorogo izdanija 1913 goda. Moskva 1990. Rudova, Larissa: Pasternak’s Short Fiction and the Cultural Vanguard. New York/Bern/Berlin/ Frankfurt a. M/Paris/Wien 1994. Rudova, Larissa: Understanding Pasternak. South Carolina 1997. Rutledge, Monica: „Dante, the Body and Light“, in: Dante Studies 113 (1995), 151–165. Rylkova, Galina S.: „Doubling Versus Totality in Doktor Živago of B. Pasternak“, in: Russian Literature XLIII (1998), 495–518. Rylkova, Galina: „The Silver Age in Translation. Boris Pasternak’s Doctor Zhivago“, in: dies.: The Archeology of Anxiety. The Russian Silver Age and Its Legacy. Pittsburgh 2007, 127–153. Sandford, Stella: „Levinas, feminism and the feminine“, in: Critchely/Bernasconi: The Cambridge Companion to Levinas, 139–160. Schahadat, Schamma: Das Leben zur Kunst machen. Lebenskunst in Russland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. München 2004. Schelling, F. W. J.: Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung und Anmerkungen von Horst Fuhrmanns. Stuttgart 2003. Schivelbusch, Wolfgang: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. München/Wien 1983. Schlegel, Friedrich: „Dritte Vorlesung“, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler. Zehnter Band. München/Paderborn/Wien/Zürich 1969, 357– 379. Schmid, Ulrich: Fedor Sologub. Werk und Kontext. Bern/Berlin/Frankfurt a. M./New York/Paris/ Wien 1995. Schöne, Albrecht: „Leiden des Lichts“, in: ders.: Goethes Farbentheologie. München 1987, 63– 67. Schöne, Wolfgang: Über das Licht in der Malerei. Berlin 1954. Schulz, Jean Marie: „Pasternak’s ‘Zerkalo’“, in: Russian Literature XIII (1983), 81–100. Schweitzer, Renate: Freundschaft mit Boris Pasternak. Wien/München/Basel 1963. Sedakova, Ol’ga: „‚Neudavšajasja epifanija‘: dva christianskich romana – ‚Idiot‘ i ‚Doktor Živago‘“, in: Kontinent 112, 2 (2002), 376–384. Sedakova, Ol’ga: „Simvol i sila. Getevskaja mysl’ v ‚Doktore Živago‘“, in: Kontinent 139 (2009), 371–434. Segal, Dmitrij: „Zametki o sjužetnosti liričeskoj poėzii Pasternaka“, in: Slavica Hierosolymitana III (1978), 282–301. Segal, Dmitrij: „Pro domo sua. O Borise Pasternake“, in: ders.: Literatura kak ochrannaja gramota. Moskva 2006, 677–749. Segal (Rudnik), Nina: „Mifologema Diotimy: Vjačeslav Ivanov i Boris Pasternak“, in: Vjačeslav Ivanov. Issledovanija i materialy. Otvetstvennye redaktory K. Ju. Lappo-Danilevskij i A. B. Šiškin. Vyp. 1. Sankt-Peterburg 2010, 183–204.

Literaturverzeichnis 465 Sendich, Munir: Boris Pasternak: A Reference Guide. New York 1994. Sendich, Munir/Greber, Erika: Pasternak’s Doctor Zhivago: An International Bibliography of Criticism (1957–1985). East Lansing, MI, 1990. Sergeeva-Kljatis, Anna: „Spektorskij“ Borisa Pasternaka. Zamysel i realizacija. Moskva 2007. Sergeeva-Kljatis, Anna/Lekmanov, Oleg: „‚Agitprofsožeskij lubok‘. Iz real’nogo kommentarija k Pasternaku“, in: Novyj mir 6 (2010), 155–162. Shapiro, Gary: „In the Shadows of Philosophy. Nietzsche and the Question of Vision“, in: Levin: Modernity and the Hegemony of Vision, 124–142. Sherman, Paul: „An Art of Life: Pasternak’s Autobiographies“, in: Salmagundi 14 (1970), 17–33. Sicher, Efraim: „The father, the son and Holy Russia: Boris Pasternak, Hermann Cohen and the religion of ‘Doctor Zhivago’“, in: ders.: Jews in Russian Literature after the October Revolution. Writers and Artists between Hope and Apostasy. Cambridge 1995, 139–164. Sigej, Sergej/Kukuj, Il’ja: „‚Černyj svet‘: F. Sologub – G. Lebon – A. Kručenych“ (Vortragsmanuskript, 2011). Sigej, Sergej/Weststeijn, Willem: „Kručenych i Chlebnikov v Amsterdamskoj časti archiva N. I. Chardžieva“, in: Russian Literature LXV 1–3 (2009), 15–109. Simpličio, Daša di: „B. Pasternak i živopis’“, in: Fleishman: Pasternak and His Times, 195–211. Sinjavskij, Andrej: „Poėzija Pasternaka“, in: Pasternak, Boris: Stichotvorenija i poėmy. Moskva/ Leningrad 1965, 9–62. Sinjavskij, Andrej [Terc, Abram]: „Čto takoe socialističeskij realizm“, in: ders.: Fantastičeskij mir Abrama Terca. New York 1967, 401–446. Sinjavskij, Andrej: „Nekotorye aspekty pozdnej prozy Pasternaka“, in: Fleishman: Pasternak and His Times, 359–371. Sinjavskij, Andrej: Ivan-durak. Očerk russkoj narodnoj very. Moskva 2001. „Skazanie o Borise i Glebe“, in: Biblioteka literatury drevnej Rusi. Tom 1. XI–XII veka. SanktPeterburg 1997, 328–351. Slavjanskie drevnosti. Ėtnolingvističeskij slovar’ pod obščej redakciej N. I. Tolstogo. Tom 4. Moskva 2009. Smirnov, Igor’: Poroždenie interteksta. Ėlementy intertekstual’nogo analiza s primerami iz tvorčestva B. L. Pasternaka. Vtoroe izdanie. Sankt-Peterburg 19952. Smirnov, Igor’: Roman tajn „Doktor Živago“. Moskva 1996. Smirnov, Igor’: „Pro ėtu knigu“, in: Fateeva: Poėt i proza, 5–7. Smirnov, Igor’: „Dve neizvestnye stat’i Pasternaka o kinematografe?“, in: Zvezda 2 (2007), in: http://magazines.russ.ru/zvezda/2007/2/sm11.html (Zugriff: 29.06.2011). Smirnov, Igor’: „Misterija vstreči v ‚Doktore Živago‘“, in: ders.: Tekstomachija. Kak literatura otzyvaetsja na filosofiju. Sankt-Peterburg 2010, 151–163. Smirnov, Igor/Döring-Smirnov, Johanna Renate: „Nachwort. Gesamtkunstwerk Doktor Shiwago“, in: Pasternak, Boris: Doktor Shiwago. Roman, aus dem Russischen von Thomas Reschke. Düsseldorf/Zürich 1997, 739–764. Soboth, Christian: „Tränen des Auges, Tränen des Herzens. Anatomien des Weinens in Pietismus, Aufklärung und Empfindsamkeit“, in: Helm, Jürgen/Stukenbrock, Karin (Hrsg.): Anatomie. Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2003, 293–315. „Solnce v russkoj kul’ture“, in: Radio Svoboda 06.09.2008, http://www.svobodanews.ru/content/ transcript/464192.html (Zugriff: 07.01.2011). Solov’ev, Vladimir: „ Valentin i Valentiniane“, in: Ėnciklopedičeskij slovar’. T. V. Izd. F. A. Brokgauz, I. A. Efron. Sankt-Peterburg 1891, 406–409.

466 Literaturverzeichnis Solov’ev, Vladimir: Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Sołowjew. Herausgegeben von Wladimir Szyłkarski. Siebenter Band. Erkenntnislehre. Ästhetik. Philosophie der Liebe. Freiburg i. Br. 1953. Solov’ev, Vladimir: Sobranie sočinenij Vladimira Sergeeviča Solov’eva. S.-Peterburg 1911–1913 [Reprint Bruxelles 1966]. Solov’ev, Vladimir: „Tri svidanija“, in: ders.: Stichotvorenija i šutočnye p’esy. Moskva 1922 [Reprint München 1968], 170–179. Spivak, Monika: Andrej Belyj – Mistik i sovetskij pisatel’. Moskva 2006. Starobinski, Jean: „Reflections on some symbols of the revolution“, in: Yale French Studies 40 (1968), 47–61. Steiner, George: The Poetry of Thought. New York 2011. Stepun, Fedor: „B. L. Pasternak“, in: ders.: Vstreči. Moskva 1998, 218–236. Stites, Richard: Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution. New York/Oxford 1989. Stoellger, Philipp: Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont. Tübingen 2000. Striedter, Jurij: „Transparenz und Verfremdung. Zur Theorie des poetischen Bildes in der russischen Moderne“, in: Iser, Wolfgang (Hrsg.): Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Kolloquium Köln 1964 (Poetik und Hermeneutik II). München 1966, 263–296. Suchla, Beate: Dionysius Areopagita. Leben – Werk – Wirkung. Freiburg/Basel/Wien 2008. „Svetlana“: Istorija Leningradskogo ob’’edinenija ėlektronnogo priborostroenija „Svetlana“. Leningrad 1986. Swift, Megan: „A Self-conscious Tale: Pasternak’s Povest’“, in: Canadian Slavonic Papers/Revue canadienne des slavistes XLII, 4 (2000), 481–489. S zemli do zvezd vstaet Moskva: Moskva v sovetskoj poėzii. Moskva 1989. Szilard, Lena: „Esoterische Konzeptionen in der Ästhetik und Poetik des russischen Symbolismus“, in: Deppermann: Russisches Denken im europäischen Dialog, 204–211. Šalamov, Varlam: „Pasternak“, in: Vospominanija o Borise Pasternake, 608–631. Šapir, Maksim: „‚…A ty prekrasna bez izvilin…‘. Ėstetika nebrežnosti v poėzii Pasternaka“, in: Novyj mir 7 (2004), 149–171. Šarmar, Svetlana: Vzaimodejstvie leksiko-semantičeskich polej cveta i sveta v lirike B. L. Pasternaka. Kand.-Diss. Moskva 2005. Šeršenevič, Vadim: Listy imažinista. Jaroslavl’ 1997. Šklovskij, Viktor: „Iskusstvo kak priem“, in: ders.: O teorii prozy. Moskva 1983, 9–25. Šmaina-Velikanova, Anna: „Sestra: Cvetaeva v tvorčestve Pasternaka“, in: Pasternakovskij sbornik, 345–356. Šmeman, Aleksandr: Dnevniki 1973–1983. 3-e izdanie. Moskva 2009. Šmeman, Aleksandr: „Pasternak“, in: ders.: Sobranie statej 1947–1983. 2-e izdanie. Moskva 2011, 823–827. Tacho-Godi, Elena: „‚I obraz mira, v slove javlennyj…‘ (‚slovo‘ v romane Pasternaka ‚Doktor Živago‘), in: Obraz mira – struktura i celoe. Losevskie čtenija. Materialy meždunarodnoj naučnoj konferencii. Moskva 1999, 86–113. Tarkovskij, Arsenij: Stichotvorenija. Poėmy. Perevody (1929–1979). Moskva 1982. Taylor, Charles: A Secular Age. Cambridge, Mass./London 2007. Ternovskij, Evgenij/Lebedev, Andrej: „Vstreči na rju Dankerk. Kniga interv’ju“, in: Novyj mir 2 (2010), 7–62.

Literaturverzeichnis 467 Terras, Victor: „Boris Pasternak and Romantic Aesthetics“, in: Papers on Language and Literature 3 (1967), 42–56. Terras, Victor: „Boris Pasternak and Time“, in: Canadian Slavic Studies/Revue canadienne d’études slaves 2, 1 (1968), 264–270. Terras, Victor: „The Black Sun: Orphic Imagery in the Poetry of Osip Mandelstam“, in: The Slavic and East European Journal 45, 1 (2001), 45–60. Thompson, Ewa: Understanding Russia. The Holy Fool in Russian Culture. Laxham/New York/ London 1987. Thomson, Boris: „Blok and Belyi: Divergent Readings of the Poetry of Vladimir Solov’ev“, in: McMillin, Arnold (Hrsg.): Symbolism and After. Essays on Russian Poetry in Honour of Georgette Donchin. Bristol 1992, 39–60. Thun, Franziska: „Sprach-Heimat. Pasternaks Entwurf seiner Biographie als russischer Dichter“, in: Kosta, Peter/Meyer, Holt/Drubek-Meyer, Natascha (Hrsg.): Juden und Judentum in Literatur und Film des slavischen Sprachraums. Die geniale Epoche. Wiesbaden 1999, 227–250. Tischner, Józef: Spór o istnienie człowieka. Kraków 1998. Tjutčev, Fedor: Polnoe sobranie sočinenij i pis’ma v šesti tomach. Tom pervyj. Stichotvorenija 1813– 1849. Moskva 2002. Tolstoj, Aleksej K.: Polnoe sobranie stichotvorenij i poėm. Sankt-Peterburg 2006. Tolstoj, Lev: Polnoe sobranie sočinenij v 90 tomach. Moskva 1928–1958. Toporov, Vladimir: „Vešč’ v antropocentričeskoj perspektive (apologija Pljuščkina)“, in: ders.: Mif. Ritual. Simvol. Obraz. Issledovanija v oblasti mifopoėtičeskogo. Izbrannoe. Moskva 1995, 7–111. Trubeckoj, Evgenij: „Svet Favorskij i preobraženie uma. Po povodu knigi svjaščennika P. A. Florenskogo ‚Stolp i utverždenie Istiny‘“, in: P. A. Florenskij: Pro et contra. Ličnost’ i tvorčestvo Pavla Florenskogo v ocenke russkich myslitelej i issledovatelej. Sankt-Peterburg 1996, 285– 315. Trubeckoj, Sergej: Učenie o Logose v ego istorii. Filosofsko-istoričeskoe issledovanie. Sobranie sočinenij. T. 4. Moskva 1906. Turkov, Andrej: Aleksandr Blok. Moskva 1969. Turner, Denys: The Darkness of God. Negativity in Christian Mysticism. Cambridge 1995. Tynjanov, Jurij: „Promežutok“, in: ders.: Archaisty i novatory. Leningrad 1929 [Reprint Ann Arbor, Mich., 1985], 541–580. Uffelmann, Dirk: Der erniedrigte Christus. Metaphern und Metonymien in der russischen Kultur und Literatur. Köln/Weimar/Wien 2010. Uspenskij, Leonid/Lossky, Wladimir: Der Sinn der Ikonen. Bern/Olten 1952. Užarević, Josip: „Ženskoe načalo v lirike Borisa Pasternaka“, in: Fleishman: Eternity’s Hostage, I, 174–192. Vajman, Naum: „Obraz černogo solnca“, in: ders.: Černoe solnce Mandel’štama. Moskva 2013, 30–46. Vajskopf, Michail: Sjužet Gogolja. Morfologija. Ideologija. Kontekst. Moskva 1993. Vajskopf, Michail: „Živaja žizn’“, in: ders.: Pisatel’ Stalin. Moskva 2002, 293–322. Vasmer [Fasmer], Max: Ėtimologičeskij slovar’ russkogo jazyka. Perevod s nemeckogo i dopolnenija O. N. Trubačeva. Tom IV. Moskva 1973. Vejdle, Vladimir, „Zaveršenie puti“, in: Pasternak, Boris: Sočinenija. Stichi 1936-1959. Stichi dlja detej. Stichi 1912–1957, ne sobrannye v knigi avtora. Stat’i vystuplenija. Ann Arbor 1961, VII–XV. Veresaev, Vikentij: Puškin v žizni. 2. Moskva 1936.

468 Literaturverzeichnis Veresaev, Vikentij: „K žizni“, in: ders.: Sobranije sočinenij v pjati tomach. Tom 4. Moskva 1961, 3–118. Vestbruk, Filip: Vjačeslav Ivanov. Filologičeskie i filosofskie idei o dionisijstve. München 2009. Vil’mont, Nikolaj: O Borise Pasternake. Vospominanija i mysli. Moskva 1989. Vinokur, Val: The Trace of Judaism. Dostoevsky, Babel, Mandelstam, Levinas. Evanston, Illinois, 2008. Vjazemskij, Petr: Zapisnye knižki (1813–1848). Moskva 1963. Vogt, Reinhold: Boris Pasternaks monadische Poetik. Frankfurt  a.  M./Berlin/Bern/New York/ Paris/Wien 1997. Voronskij, Aleksandr: Izbrannye stat’i o literature. Moskva 1982. Voronskij, Aleksandr: „Iskusstvo kak poznanie žizni i sovremennost’“, in: ders.: Izbrannye stat’i o literature, 300–333. Voronskij, Aleksandr: „Iskusstvo videt’ mir“, in: ders.: Izbrannye stat’i o literature, 413–436. Vospominanija o Borise Pasternake. Moskva 1993. Voss, Dietmar: „Das Licht und die Worte. Aspekte des Kosmischen in der ästhetischen Moderne“, in: Akzente 1 (2013), 77–95. Vybor 7 (1989), 275–282. Vygotskij, Lev: „Tragedija o Gamlete, prince Datskom U. Šekspira“, in: ders.: Psichologija iskusstva. Analiz ėstetičeskoj reakcii. 5 izdanie, zanovo sverennoe s originalom, ispravlennoe i dopolnennoe. Moskva 1997, 198–236. Wachtel, Andrew: „Meaningful Voids: Facelessness in Platonov und Malevich“, in: Kelly, Catriona/Lovell, Stephen (Hrsg.): Russian Literature, Modernism and the Visual Arts. Cambridge 2000, 250–277. Wachtel, Michael: „Viacheslav Ivanov: From Aesthetic Theory to Biographical Practice“, in: Paperno/Grossman: Creating Life, 151–166. Wain, John: „The Meaning of Dr Zhivago“, in: ders.: A House for the Truth. Critical Essays. London/Basingstoke 1972, 128–160. Wall, Thomas Carl: „The Allegory of Being“, in: ders.: Radical Passivity. Levinas, Blanchot, and Agamben. New York 1999, 13–30. Wat, Aleksander: Mój wiek. Pamiętnik mówiony. Część druga. Rozmowy prowadził i przedmową opatrzył Czesław Miłosz. Do druku przygotowała Lidia Ciołkoszowa. Warszawa 1998. Weber, Horst: „Zur Geschichte der Synästhesie. Oder: Von den Schwierigkeiten, die LuceStimme in Prometheus zu interpretieren“, in: Kolleritsch: Alexander Skrjabin, 50–57. Wilson, Edmund: „Legend and Symbol in Doctor Zhivago“, in: ders.: The Bit Between My Teeth. A Literary Chronicle of 1950–1965. New York 1965, 447–472. Witt, Susanna: Creating Creation. Readings of Pasternak’s Doktor Živago. Stockholm 2000. Witt [Vitt], Susanna: „Doktor Živopis’. O ‚romanach‘ Borisa Pasternaka ‚Doktor Živago‘“, in: Toronto Slavic Quarterly 15, Winter 2006 (http://www.utoronto.ca/tsq/15/vitt15.shtml, Zugriff: 05.11.2010). Wogenstein, Sebastian: Horizonte der Moderne. Tragödie und Judentum von Cohen bis Lévinas. Heidelberg 2011. Zajonc, Arthur: Catching the Light. The Entwined History of Light and Mind. New York/Oxford 1993. Zamoyska, Hélène: „L’actualité du Docteur Jivago“, in: Aucouturier: Boris Pasternak, 1890–1960, 411–424. Zehnder, Christian: „Vom ‚weinenden‘ zum ‚leeren‘ Garten: Zu den Pasternak-Anklängen in Leonid Aronzons Frühwerk“, in: Wiener Slawistischer Almanach 62 (2008), 227–239.

Literaturverzeichnis 469 Zehnder, Christian: „Segnung durch Licht: Gennadij Ajgis ‚Svečenie‘“, in: Wiener Slawistischer Almanach 66 (2010), 293–309. Zehnder [Cender], Christian: „Ėksplicitnoe i implicitnoe osveščenie v ‚Detstve Ljuvers‘ (Pasternak i Levinas)“, in: Tekst i podtekst: Poėtika ėksplicitnogo i implicitnogo: Materialy meždunarodnoj naučnoj konferencii (IRA im V.V. Vinogradova RAN, 20-22 maja 2010 g.). Moskva 2011, 264–270. Zehnder, Christian: Rezension zu Uffelmann: Der erniedrigte Christus, in: Wiener Slawistischer Almanach 68 (2011), 349–362. Zehnder, Christian: „Après Cohen et Bergson. La poésie comme métaphysique concrète dans Sauf-conduit de Pasternak“, in: Jaccard, Jean-Philippe/Podoroga, Ioulia (Hrsg.): « Temps ressenti » et « temps construit » dans les littératures russe et français au XXe siècle. Paris 2013, 37–54. Zehnder, Christian: Rezension zu Drubek: Russisches Licht, in: Wiener Slawistischer Almanach 71 (2013), 389–402. Zelinsky, Bodo: „Selbstdefinitionen der Poesie bei Pasternak“, in: Zeitschrift für slavische Philologie 38 (1975), 268–278. Ziarek, Krzysztof: Inflected Language: Toward a Hermeneutics of Nearness. Heidegger, Levinas, Stevens, Celan. Albany 1994. Zolotonosov, Michail: „‚Ložnoe solnce‘. ‚Čevengur‘ i ‚Kotlovan‘ v kontekste sovetskoj kul’tury 1920-ch godov“, in: Andrej Platonov. Mir tvorčestva. Moskva 1994, 246–283. Zubok, Vladislav: Zhivago’s Children. The Last Russian Intelligentsia. Cambridge, Mass./London 2009. Žirmunskij, Viktor: „Preodolevšie simvolizm“, in: ders.: Poėtika russkoj poėzii. Sankt-Peterburg 2001, 364–404. Žitie Sergija Radonežskogo, in: Biblioteka literatury drevnej Rusi. Tom 6. XIV–seredina XV veka. Sankt-Peterburg 1999, 254–411. Žolkovskij, Aleksandr: „Mechanizmy vtorogo roždenija. O stichotvorenii Pasternaka ‚Mne chočetsja domoj, v ogromnost’‘“, in: Literaturnoe obozrenie 2 (1990), 35–41. Žolkovskij, Aleksandr: „O zaglavnom trope knigi ‚Sestra moja – žizn’‘“, in: Fleishman: Poetry and Revolution, 26–65. Zholkovsky, Alexander: „The obverse of Stalinism: Akhmatova’s self-serving charisma of Selflessness“, in: Engelstein, Laura/Sandler, Stephanie (Hrsg.): Self and Story in Russian History. Ithaca/London 2000, 46–68. Žolkovskij, Aleksandr: „Otkuda ėta Diotima? (Zametki o ‚Lete‘ Pasternaka)“, in: Fleishman: Eternity’s Hostage, I, 239–261. Žolkovskij, Aleksandr: „Bessmertie na vremja. K poėzii grammatičeskogo vremeni u Pasternaka“, in: ders.: Poėtika Pasternaka. Invarianty, struktury, interteksty. Moskva 2011, 151–160.

Index Aarsleff, Hans 273 Abašev, Vladimir 95 Achmatova, Anna 34, 41, 101, 167, 249/250, 252, 254, 263, 317, 329, 345, 416/417 Adorno, Theodor 14, 22, 176 Afanas’ev, Aleksandr 56/57, 166 Afinogenov, Aleksandr 332/333 Ajgi, Gennadij 39/40, 435–437 Al’fonsov, Vladimir 178, 183, 197/198, 334, 425, 434, 441 Alighieri, Dante 258, 261, 337 Andreas-Salomé, Lou 273 Andrej Jurodivyj 354/355 Anninskij, Lev 310 Arendt, Hannah 64 Aristoteles 131, 269, 326, 355/356 Aronzon, Leonid 436 Aseev, Nikolaj 134/135, 158/159, 288, 345/346 Aucouturier, Michel 68, 122, 175/176, 231, 233/234, 241, 278, 301, 326 Augustinus 22, 95 Averincev, Sergej 26, 49 Avvakum, Protopope 264 Bachelard, Gaston 16, 46 Bachtin, Michail 46, 74, 133, 143–146, 179, 221, 252 Baevskij, Vadim 420, 424/425 Bal’mont, Konstantin 57, 89–91, 93, 95, 317, 381, 395 Balthasar, Hans Urs v. 17/18, 117, 182 Baltrušajtis, Jurgis 157 Baranovič, Marina 346 Baratynskij, Evgenij 122 Barlaam v. Kalabrien 23 Barnes, Christopher 54, 60, 215, 217, 243, 246, 266, 284, 314, 354, 403, 426 Bataille, Georges 51, 59 Batnitzky, Leora 43, 47, 227 Baudelaire, Charles 97, 122 Baudrillard, Jean 49, 98, 131 Beierwaltes, Werner 22

Bekman Chadaga, Julia 15/16, 242, 262, 300, 305, 318, 332, 395 Belinskij, Vissarion 264 Bellini, Giovanni 315 Belyj, Andrej 33, 42, 48, 74, 89–101, 103, 106/107, 109–112, 116, 118, 153, 155, 159, 162–165, 167, 189, 317, 326, 401 Benjamin, Walter 140, 262/263, 271 Berdjaev, Nikolaj 140, 159/160 Bergson, Henri 20/21, 46/47, 50–52, 68, 147/148, 157, 165, 176, 234, 275/276, 278/279, 293, 297, 329, 379/380 Berlin, Isaiah 28, 70, 322/323, 346 Bethea, David 57, 358, 370, 386, 389–391 Bezrodnyj, Michail 379 Bezymenskij, Alekandr 304 Billington, James 24 Bird, Robert 116 Björling, Fiona 69, 140, 213, 218/219, 224, 226, 279, 298 Blanchot, Maurice 20/21, 26, 51, 66/67, 136, 147/148, 168, 212, 271, 280, 283/284, 410 Blok, Aleksandr 33, 42, 74, 88, 93/94, 101– 110, 113, 116, 118, 129/130, 133, 135, 159, 162, 193, 229, 285, 333, 369/370, 395, 417/418, 430/431 Blumenberg, Hans 20–23, 28, 30, 34, 37, 59–61, 95, 259 Bobrik, Marina 413 Bobrov, Sergej 49, 130/131, 135, 156, 158/159, 355/356 Bodin, Per-Arne 48, 197/198, 211, 297, 354, 382, 421, 431 Bohrer, Karl H. 60, 128, 389/390 Bonnet, Hans 94 Boris, Hl. 430/431 Borisov, Vadim 56, 60, 319, 345, 376, 393 Böhme, Gernot 23, 125/126 Børtnes, Jostein 24/25 Bremer, Dieter 32 Brjusov, Valerij 110/111, 122, 133–135, 157, 176, 285

Index 471 Brodskij, Iosif 351, 431/432 Brojtman, Samson 105, 120, 122/123, 128/129, 133, 144, 165, 167, 170/171, 183, 185, 187/188, 192, 194–196, 198, 202, 206, 209, 369 Bruns, Gerald L. 42/43, 45 Buber, Martin 72, 227 Bucharin, Nikolaj 329 Buchštab, Boris 235 Buci-Glucksmann, Christine 140 Bulgakov, Sergej 17, 31/32, 48, 69, 112, 140, 187, 289, 293 Bultmann, Rudolf 22 Burov, Sergej 360 Bykov, Dmitrij 410 Carlzohn, Jessica 57 Carpaccio, Vittore 315 Cassedy, Steven 31, 96 Chidester, David 29/30 Chodasevič, Vladislav 35/36, 97/98 Christus s. Jesus Christus Ciepiela, Catherine 34, 257/258 Cioran, Samuel D. 48, 97 Clark, Katerina 15, 318 Clément, Olivier 187 Clowes, Edith 293, 345 Cohen, Hermann 21, 28, 43/44, 47, 53/54, 64/65, 75, 142, 151, 225, 227, 230, 232, 278/279, 281–288, 297, 302, 316, 353, 375 Combe, Dominique 127 Compagnon, Antoine 27/28, 297, 417 Cvetaeva, Marina 33–36, 39, 41/42, 46, 50, 56/57, 60/61, 70, 72, 76, 97/98, 106, 108/109, 121, 123, 130, 141, 150/151, 165–169, 178/179, 181/182, 186, 189, 192, 194/195, 207, 212–214, 218, 222, 247, 249, 252, 257/258, 271, 288, 296, 305, 316/317, 321, 348/349, 351, 358–360, 409, 413, 417, 421 Černyševskij, Nikolaj 77, 83, 395 Čikovani, Simon 320 Čukovskaja, Lidija 36, 39, 317 Čukovskij, Kornej 36, 39 Čužak, Nikolaj 292–295 Dal’, Vladimir 325, 437 Danow, David K. 389

Danto, Arthur C. 62, 64, 274 Davidson, Pamela 97, 116, 118 Davies, Paul 50, 139 Deleuze, Gilles 47, 68, 93, 100 Dennes, Maryse 120, 357 Derrida, Jacques 18–20, 22, 26, 147, 243, 287 Dobroljubov, Aleksandr 179 Dolgopolov, Leonid 352, 359, 433 Dorzweiler, Sergej 52, 110, 128, 142, 151, 275, 282/283, 285, 292 Dostoevskij, Fedor 31, 86, 99, 112, 115/116, 139, 144, 193, 321, 348/349, 388/389, 392/393, 395 Döring(-Smirnov), Johanna R. 179, 54, 57, 179, 225, 246, 275–278, 281, 296, 303, 308, 311/312, 384, 426/427, 430/431 Drubek(-Meyer), Natascha 10, 41, 49, 99, 322 Duby, Georges 336 Dufour, Éric 53 Durylin, Sergej 55/56, 59, 122, 164, 392/393 Dvorec, Žanna 407 Eckermann, Johann P. 19 Egeres, Katalin 289 Elias, Prophet 386 Engell, Lorenz 48 Erbslöh, Gisela 160 Erlich, Victor 59 Ermilova, Elena 90, 114 Erofeev, Viktor 70 Esaulov, Ivan 81 Eskin, Michael 144/145, 228 Esterbauer, Reinhold 147 Evans, Sandra 305 Evans-Romaine, Karen 51, 120, 122/123, 284, 307 Ėpštejn, Michail 71–73 Ėtkind, Efim 173, 190 Fadeev, Aleksandr 308, 328, 409 Faryno, Jerzy 173, 190, 328 Fateeva, Natal’ja 31, 46 Fedorov, Nikolaj 385–388 Felmy, Karl Ch. 28 Felski, Rita 48 Fet, Afanasij 82/83, 133 Fink, Hilary 47 Flammarion, Camille 341

472 Index Flejšman, Lazar’ 52, 67/68, 110, 120, 127/128, 142, 151, 157/158, 174, 217, 225, 241–243, 246/247, 272–274, 282/283, 285, 290, 292, 301/302, 304, 319–322, 327–329, 335, 350, 354, 357, 397, 405 Florenskij, Pavel 10, 49, 92, 114, 139, 160, 163, 165, 239, 261, 264, 267, 279, 392/393 Florovsky, Georges 17, 81 Flynn, Thomas 16 Foucault, Michel 16, 20/21, 163/164 Frank, Manfred 50 Frank, Susanne 14 Frank, Viktor 167/168, 187, 273, 276–278, 281, 349 Frejdenberg, Ol’ga 54, 73, 150/151, 347–350, 423, 432 Gadamer, Hans G. 31, 66 Gardner, Thomas 32 Garzonio, Stefano 350 Gasparov, Boris 26, 33–35, 46, 49/50, 52/53, 55, 57, 73, 110, 127, 140, 142, 149, 158, 170–172, 184/185, 220, 225, 229/230, 255, 274, 281/282, 306/307, 310, 340, 342/343, 354/355, 378, 394, 407, 411, 417, 421, 423–425, 432 Gasparov, Michail 201, 248, 335/336, 338, 342 Geller, Michail 262 Ghirlandaio, Domenico 315 Gifford, Henry 406, 421 Glatzer Rosenthal, Bernice 17, 78, 140 Glazov(-Corrigan), Elena 44, 52, 54, 121, 220, 228/229, 232, 275, 316, 355 Gleb, Hl. 430/431 Goethe, Johann Wolfgang 19, 64, 85, 165, 200, 275, 346, 359 Gogol’, Nikolaj 14/15, 72, 87, 214, 216, 263/264 Gorelik, Ljudmila 121/122, 130, 145/146 Greber, Erika 45, 53, 61, 63, 133, 151, 220, 224, 227, 229, 286, 325, 431 Gregor v. Nyssa 17 Grob, Thomas 215 Grossman, Joan D. 135 Groys, Boris 20, 46, 67, 81, 161, 163, 230, 309

Gruzdeva, Ol’ga 323 Grübel, Rainer 10, 48, 57, 72, 115 Gržebin, Zinovij 166 Guardini, Romano 392/393 Gubanova, Galina 159, 163 Gumilev, Nikolaj 30, 101, 381 Gutkin, Irina 293 Günther, Hans 323, 328 Haardt, Alexander 145 Habra, Georges 359 Haering, Theodor 67/68, 426 Halfin, Igal 115, 263 Han, Anna 120, 140, 147, 226, 357 Hansen-Löve, Aage 32, 77, 83, 85, 87, 94/95, 111, 114, 122, 146, 151, 163, 270 Harder, Hans-Bernd 52, 110, 128, 142, 151, 282/283, 285 Harnack, Adolf 28/29 Hartman, Geoffrey H. 27, 34, 185 Hasty, Olga P. 207/208 Hegel, G. W. F. 85, 253 Heidegger, Martin 21, 43, 45, 50, 65–67, 120, 357, 421 Herlth, Jens 432 Hingely, Roland 403 Hirdina, Karin 333 Hitler, Adolf 343/344 Hogrebe, Wolfram 57 Holzhey, Helmut 278 Horkheimer, Max 14, 22, 176 Hölderlin, Friedrich 179 (Raevsky-)Hughes, Olga 58, 158, 227, 287, 367, 377, 421 Hugo, Victor 23 Hume, David 52 Husserl, Edmund 21, 45, 120, 230, 357 Igoševa, Tat’jana 101 Ingold, Felix Ph. 266 Ivanov, Vjačeslav 33, 42, 74, 97, 106, 109–118, 136, 145, 151, 162, 192–194, 285, 292, 316, 345, 434 Ivanov, Vjačeslav Vs. 56, 142, 170, 189, 244/245, 341/342, 349/350 Ivinskaja, Ol’ga 325 Izenberg, Gerald N. 48 Jacobs, Karen 20

Index 473 Jacobsen, Peter 356/357 Jadwiga, Königin 211 Jagiełło, König 211 Jakobson, Anatolij 412/413, 426, 432/433 Jakobson, Roman 48, 50–52, 55, 119, 179, 215, 219, 277, 282 Jakobus, Apostel 358, 394 James, William 9, 60, 226 Jampol’skij, Michail 20, 50 Jankélévitch, Vladimir 17, 42, 45/46, 49, 58, 60–63, 66, 68, 70, 76, 100, 126, 128, 168, 180, 182, 211/212, 233, 339, 382, 425 Jaroslav, Fürst 430 Jašvili, Paolo 308, 320 Jay, Martin 20, 42, 45–47, 141 Jensen, Peter A. 57, 120, 124, 136, 148/149, 178, 220/221, 228, 236, 252/253, 298, 349, 351, 353, 356/357 Jesus Christus 13/14, 17, 28/29, 43, 51, 81, 83, 87, 95/96, 98, 105, 110, 113–115, 192/193, 355–359, 361/362, 365, 376, 382, 387/388, 394–396, 398–400, 406, 424, 429, 432 Johannes, Evangelist 28–33, 36/37, 42/43, 77, 82/83, 86/87, 93, 111/112, 162, 193, 339, 342/343, 345/346, 353, 358, 376, 398 Jonas, Hans 21, 229 Joyce, James 60 Kabakov, Il’ja 20 Kalckreuth, Wolf Graf v. 410 Kandinskij, Vasilij 48, 94, 268 Kant, Immanuel 53/54, 225, 232 Karamzin, Nikolaj 12/13 Kaßner, Rudolf 283 Kayden, Eugene M. 172 Kazakova, Svetlana 135 Kazmirčuk, Ol’ga 120 Keats, John 154, 275 Kierkegaard, Søren 148, 178, 353 Kim, En Suk 73 Kissel, Wolfgang 193 Kling, Oleg 120, 122, 133/134 Kołakowski, Leszek 197 Konevskoj, Ivan 134/135 Koschmal, Walter 141 Kotkin, Stephen 15

Kotukova, Elena 73 Kreps, Michail 373 Kručenych, Aleksej 18/19, 74, 159–162, 164, 290 Kukuj, Ilja 18, 161 Lachmann, Renate 19, 24, 29, 88, 266, 431 Landolt, Emanuel 20 Lane, Ann 78 Langer, Gudrun 33 Larionov, Michail 289/290 Lavrov, Aleksandr 91/92 Lean, David 38 Lebedev-Kumač, Vasilij 305 Le Bon, Gustave 18/19, 161 Lederer, Josef-Horst 416 Leibniz, Gottfried W. 53/54, 62, 66, 275, 292, 342/343, 384 Lejderman, Naum 380 Lekic, Maria 363 Lekmanov, Oleg 157, 430/431 Lenin, Vladimir I. 15/16, 241/242, 314, 328, 405 Lermontov, Michail 97, 144, 169–173, 190, 220, 228/229, 258, 359, 418 Levin, David M. 243 Levin, Jurij 243/244 Levinas, Emmanuel 20/21, 26, 42–45, 47, 50/51, 74/75, 136–149, 151, 178/179, 190, 193, 208/209, 213, 221, 226–228, 230–332, 236, 243, 284, 288, 295, 437 Levitt, Marcus 14/15 Ležnev, Abram 247 Lévy-Bruhl, Lucien 143 Libertson, Joseph 51 Lichačev, Dmitrij 20, 23–26, 40, 187, 248/249, 290 Liebsch, Burkhard 47 Lipoveckij, Mark 380 Livingstone, Angela 52, 64, 66, 120/121, 123, 218, 263, 275, 280, 283, 294, 359, 361, 370, 379, 403/404, 407, 426, 432, 434 Ljunggren, Anna 120, 122, 185 Locher, Jan P. 127 Lodyženskij, Mitrofan 28/29 Loewen, Donald 410 Loks, Konstantin 134, 154

474 Index Lomonosova, Raisa 58 Losev, Aleksej 32, 50 Lossky, Vladimir 17/18, 23, 25, 51, 76, 187, 249, 269, 358/359, 363/364, 389 Lotman, Jurij 180 Lotman, Michail 339 Lur’e, Evgenija 314–317 Lütkehaus, Ludger 64, 400 Madragule Badi, Jean-Bertrand 42 Maguire, Robert A. 247 Maiatsky, Michail 20 Majakovskij, Vladimir 51, 55/56, 58, 164, 193, 227, 234, 288, 302, 409, 418/419 Malevič, Kazimir 75, 94, 243, 266–270, 275, 436 Mallac, Guy de 27, 357, 359, 373, 379, 416 Mandel’štam, Nadežda 336, 343/344 Mandel’štam, Osip 26, 76, 101, 193, 246, 257, 305, 335–344 Marcel, Gabriel 425 Marion, Jean-Luc 18, 26 Markova, Marija 348 Markovič, Janina 73 Maršak, Samuil 330 Masing-Delic, Irene 355, 370, 379, 384–388 Maslennikova, Zoja 319 Maslova, Anna 73 Matich, Olga 361 Matjušin, Michail 160/161, 164 Mattioli, Pietro 286 Maydell, Renate v. 379 McCaffery, Steve 136/137, 230 Medvedev, Pavel 247, 253, 288 Megir’janc, Tat’jana 73 Merežkovskij, Dmitrij 79, 115, 162, 405 Metner, Ėmilij 92 Meyer, Angelika 168 Micišvili, Nikolo 308 Milner, Max 143 Miłosz, Czesław 351, 361 Minc, Zara 88 Minskij, Nikolaj 78–80, 83, 90, 98, 115/116 Moreau, Jean-Luc 396/397 Moric, Junna 41 Mossman, Elliott 440 Musil, Robert 60 Nadtočij, Ėduard 300

Natorp, Paul 53, 283 Nečaev, Egor 242 Nejgauz, Genrich 314 Nekrasov, Nikolaj 132 Newton, Isaac 19 Nichols, Aidan 24, 48 Nietzsche, Friedrich 31, 78–80, 145/146, 161, 175, 224, 275, 395 Nilsson, Nils Åke 173, 192, 198, 271 Nivat, Georges 376 Novalis (Friedrich v. Hardenberg) 51, 67/68, 120, 122/123, 275, 284, 295, 307–309, 403, 426 Obolevitch, Teresa 32 O’Connor, Katherine 170/171 Odoevskij, Vladimir 13 Oleša, Jurij 16 Onasch, Konrad 13/14, 23 Palamas, Gregorios 17, 23–26, 186/187, 209, 359 Paperno, Irina 81, 83, 339 Paramonov, Boris 127, 229, 322, 325 Pasternak, Aleksandr 58 Pasternak, Boris „Afinogenov. K trechletiju so dnja smerti“ 332; „Apellesova čerta“ 44, 245, 313; „Anne Achmatovoj“ 249/250, 252, 254; „Avgust“ 347, 354, 356, 396–401; „Bab’e leto“ 433; „Bescvetnyj dožd’… kak gibnuščij patricij…“ 149–152, 194, 324; „Bez nazvanija“ 437/438; Bliznec v tučach 134, 153, 242, 248; „Bolezni zemli“ 193–195; „Byla vesennjaja noč’…“ 44; „Černyj bokal“ 46, 60/61, 138, 142, 158; „Čudo“ 353, 387/388, 433; „Davaj ronjat’ slova…“ 209–212, 256, 425/426; Detstvo Ljuvers 45, 75, 133, 140/141, 203, 213–235, 240, 252, 256, 313, 325, 333, 357, 405, 423; „Devjat’sot pjatyj god“ 243; „Dik priem byl, dik prichod…“ 203/204; Doktor Živago 12, 14, 33, 36–38, 40, 51/52, 56, 60/61, 64/65, 68–70, 73, 76, 123, 132, 192/193, 229/230, 237, 240, 263, 319, 345–402, 405–409, 411–413, 415, 418, 421, 423/424, 426, 429, 431, 433, 436, 438–442; „Dožd’“ 186–188, 238, 257; „Dramatičeskie otryvki“ 74, 174–177,

Index 475 240; „Duša“ 437/438; Ėdem“ 153/154, 242, 248; „Ėtot svet“ 71; „Fridrich Šiller. Tragedija ‚Marija Stjuart‘ (Predislovie perevodčika)“ 428; „Gamlet“ 429; „Gefsimanskij sad“ 350, 394, 398–401; „Groza, momental’naja navek“ 49, 147, 206–209, 221, 252, 257, 353; „G. fon Klejst. Ob asketike v kul’ture“ 149, 174; „Imelos’“ 63, 211; Istorija odnoj kontroktavy 154/155, 238; „Iz studenčeskich tetradej“ 376; „Ja choču skazat’ neskol’ko slov o Tarase Ševčenko kak perevodčik…“ 354; „Kak čitat’ mne! Oplyli slova…“ 149/150; „Kak usypitel’na žizn’!..“ 204/205; „Kavkaz byl ves’ kak na ladoni…“ 11; „K charakteristike Bloka“ 333, 418; „Kogda ja s čest’ju pronesu…“ 442/443; „Kogda ja ustaju ot pustozvonstva…“ 306, 317/318, 332; Kogda razguljaetsja 69, 76, 403, 406–408, 413, 419, 423, 426, 431, 437–440; „Kogda razguljaetsja“ 434/435; „Kogda Relikvimini vspominalos’ detstvo…“ 126, 130, 138, 153; „Kogda za liry labirint…“ 248–250; Lejtenant Šmidt 243–246; „Lesnoe“ 151; „Ljubimaja – žut’! Kogda ljubit poėt…“ 198/199; „Ljubit’ inych – tjaželyj krest…“ 313, 315/316; Ljudi i položenija 76, 300, 349, 403/404, 407–413, 416, 418–421; „Magdalina“ (I/II) 350/351, 424; „Marburg“ (I/II) 143, 155/156; „Mein Liebchen, was willst du noch mehr?“ 199–201; „Mne chočetsja domoj, v ogromnost’…“ 303–305, 309, 311, 314, 328/329, 340; „Mne po duše stroptivyj norov…“ 325/326; „Muchi mučkapskoj čajnoj“ 201–203, 206, 209; „Myš’“ 153; Na rannich poezdach 329; „Na Strastnoj“ 347; „Naša groza“ 195/196, 199; „Neskol’ko položenij“ 11, 141, 180/181, 223, 228, 288; „Neskučnyj sad, 4. V lesu“ 220; „Ne trogat’“ 188–190, 204; „Ne volnujsja, ne plač’, ne trudi…“ 313; „Nikogo ne budet v dome…“ 317; „Nobelevskaja premija“ 442; „Novoe soveršennoletie“ 327; „Ob’’jasnenie“ 371; „Obrаščenie v Prezidium Sojuza pisatelej“ ( Januar 1937) 70; Ochrannaja gramota 26/27, 33, 44, 47, 52–55, 58, 60,

63, 65–67, 69, 75, 118, 121, 123, 128, 137, 140, 158, 176, 190, 225, 227, 234, 241, 243, 271–304, 306–309, 314–320, 333, 340, 345, 361/362, 364/365, 377, 407, 409, 411, 418, 422; „Opredelenie poėzii“ 196; „Opredelenie tvorčestva“ 197; „Pamjati Demona“ 169–171, 209, 221; „Pamjati Mariny Cvetaevoj“ 413; „Pamjati Rejsner“ 246, 249/250, 254; „Peremena“ 439; „Pis’ma iz Tuly“ 75, 213, 217, 231–236; „Poėzija“ 199, 326; „Poka my po Kavkazu lazaem…“ 314; „Popytka dušu razlučit’…“ 192, 200/201; „Posle grozy“ 439; „Posleslov’e“ (Gedicht) 195; „Posleslov’e“ (Posthumer Brief an Rilke) 315/316; Poverch bar’erov 158, 172; Povest’ 167, 254, 273/274, 313; „Prežde vsego mne chočetsja govorit’ o toj byli…“ 132; „Pro ėti stichi“ 171–174, 177, 181, 306; „Prostranstva tuč – dekabr’skaja ruda…“ 129, 143; „Puškinskij plenum pravlenija Sojuza sovetskich pisatelej“ 328; „Rassvet“ 426; „Razgovor s prof. Ėrikom Mestertonom“ 419; „Relikvimini byl na meste uže…“ 153; „Russkaja revoljucija“ 174; „Sčastliv, kto celikom…“ 320–327; „Sejčas ja sidel u raskrytogo okna i ždal…“ 397; Sestra moja – žizn’ 33/34, 49, 55/56, 63, 69, 74/75, 121, 123, 144, 157, 166–213, 217, 220/221, 223, 233, 236–238, 240/241, 243, 246, 248, 250, 252, 256–258, 275, 285/286, 294, 299/300, 306/307, 312/313, 317, 334, 339, 348/349, 352–354, 360, 369, 372, 391, 403, 405–407, 423, 429; „‚Sestra moja – žizn’‘“ (Postskriptum zu Ljudi i položenija) 300, 405; „Sestra moja – žizn’ i segodnja v razlive…“ 179–182, 184, 187/188; „Simvolizm i bessmertie. Tezisy“ 127, 143, 190, 411–413, 417; Slepaja krasavica 440; „Smert’ [Purvita] Relikvimini“ 149; „Smert’ sapëra“ 332; Spektorskij 75, 246–248, 250–259, 271–274, 278, 318; „S tech dnej stal nad nedrami parka sdvigat’sja…“ 217; „Step’“ 286; Stichi o vojne 76, 329, 334, 343/344; „Svad’ba“ 373; „Svistki milicionerov“

476 Index 190–194, 196, 204, 236; Temy i variacii 57, 199, 217; „Tišina“ 408–410; „Ty zdes’, my v vozduche odnom…“ 313; „U sebja doma“ 204–206, 209; „Ust’e sudochodnoj reki…“ 153; „Uže temneet…“ 124/125, 127, 134, 136, 138, 142, 217; „Vakchanalija“ 76, 412/413, 419, 426–433; „Vassermanova reakcija“ 52–54, 57, 156, 158, 215/216; „V bol’nice“ 76, 324, 419–426, 432, 441; „Verba I. Žizn’“ 186; „Verojatno, ja rasskazyvaju skazku…“ 149; „Vesenneju poroju l’da…“ 142; „Vesna byla prosto toboj…“ 217; „Vot kakaja u menja komnata…“ 153; „Vorob’evy gory“ 196–199, 285, 435; „Vozduch moroznoj noči černym naletom…“ 164; „Vozdušnye puti“ 75, 213, 237–241, 313/314; „Vse naklonen’ja i zalogi…“ 324–326; „Vse sbylos’“ 440; Vtoroe roždenie 67, 142, 303, 306/307, 309, 311–314, 317, 319, 323, 328, 332, 441; „Vysokaja bolezn’“ 241–243, 246/247, 250, 257; „Vystuplenie na kongresse v zaščitu kul’tury“ 309; „Vystuplenie na pervom vsesojuznom s’’ezde sovetskich pisatelej“ 304, 309; „Vystuplenie na III plenume pravlenija sojuza pisatelej SSSR“ 320/321, 323, 376; „Vystuplenie na IV plenume pravlenija Sojuza pisatelej SSSR“ 321; „Zakaz dramy. Nedialogičeskie dramy i nedramatičeskie dialogi“ 45, 48, 128, 130, 143, 145, 152; „Zametki k perevodam iz Šekspira“ 322, 383; „Zarevo“ 329–334; „Zdes’ budet vse: perežitoe…“ 312/313; „Zemlja“ 438; „Zerkalo“ 179, 183–186, 423; „Zvuki v ėtich ulicach protjažnye…“ 152/153 Pasternak, Elena 56, 128, 165 Pasternak, Evgenij 38/39, 56, 60, 122, 135, 155, 168, 172, 217, 233, 305, 311, 314, 319, 345, 350, 359, 376, 393, 420, 426, 429, 441 Pasternak, Leonid 60, 120, 151, 308 Pasternak, Lidija 356 Pasternak, Zinaida 71, 308, 314–317, 440 Pasternak, Žozefina 247, 355/356 Paulus, Apostel 184 Pavlova, Nina 275

Péguy, Charles 297, 329 Perkowitz, Sidney 18 Peters, Karin 59 Petrus, Apostel 358, 394 Pfeiffer, Helmut 23, 415 Philonenko, Alexis 53 Pilkington, Anthony 329 Pjatigorskij, Aleksandr 351/352, 359, 363, 368, 370, 373, 384, 390 Platon 16, 18/19, 28, 44, 59, 69, 137/138, 161, 163, 275, 316, 384 Platonov, Andrej 75, 243, 259–266, 270, 279, 334, 387 Podgaeckaja, Irina 201 Polivanov, Konstantin 248, 360 Polonskij, Vjačeslav 64 Pomeranc, Georgij 40 Ponzio, Augusto 144 Pöggeler, Otto 47 Prat, Naftali 32 Proust, Marcel 60, 68, 431 Proyart, Jacqueline de 61, 71, 259, 345 Pseudo-Dionysius Areopagita 17/18, 22/23, 26, 131, 209, 248/249, 269 Purcell, Michael 143 Puškin, Aleksandr 13, 33, 36, 97, 114, 144, 193, 304, 328, 345, 359, 361 Pyman, Avril 116 Reccia, Alessandra 350 Reddaway, Darlene 281/282 Renoir, Jean 93 Ricœur, Paul 298 Rieger, Stefan 18 Rilke, Rainer Maria 45, 75, 123, 212, 218, 243, 271, 273–275, 280, 283/284, 293, 295, 308, 315, 317/318, 350/351, 405/406, 410, 413, 425 Rimbaud, Arthur 381 Rjabov, Oleg 140 Robbins, Jill 136/137, 143 Robespierre, Maximilien de 175/176 Rodin, Auguste 271 Roll, Serafima 295, 298 Ronen, Omri 341 Rozanov, Vasilij 48, 164 Röd, Wolfgang 278 Rublev, Andrej 23/24, 40

Index 477 Rudova, Larissa 47, 147, 234, 237/238, 240, 253, 273, 290, 293, 317, 321, 422, 426, 431, 439 Rutledge, Monica 258 Rylkova, Galina S. 395/396, 401 Saint-Just, Louis A. de 175–177, 240 Samarin, Jurij 323 Sandford, Stella 45, 137, 141 Schahadat, Schamma 33, 162 Schelling, F. W. J. 86/87, 225, 275 Schiller, Friedrich 44, 282, 427/428 Schivelbusch, Wolfgang 16 Schlegel, Friedrich 275, 281/282 Schmid, Ulrich 79 Schmitt, Carl 127/128 Schöne, Albrecht 19 Schöne, Wolfgang 37 Schulz, Jean Marie 184 Schweitzer, Renate 405/406, 412 Sedakova, Ol’ga 68, 351, 388–390 Segal, Dmitrij 11, 173, 351, 433 Segal (Rudnik), Nina 316 Sergeeva-Kljatis, Anna 157, 251, 253, 257, 272, 430/431 Sergij v. Radonež 360 Shakespeare, William 236/237, 322, 355, 383 Shapiro, Gary 78 Sherman, Paul 272, 411 Sicher, Efraim 64, 316, 353, 375 Siegert, Bernhard 48 Sigej, Sergej, 18, 161 Simpličio, Dáša di 120/121 Sinjavskij, Andrej 25/26, 207, 252, 349/350, 376, 413, 432/433 Skrjabin, Aleksandr 54, 193, 415/416 Smirnov, Igor’ 10, 34, 129, 131, 179, 225, 229, 283, 360, 379, 384, 395/396, 401 Soboth, Christian 226 Sologub, Fedor 79, 285 Solov’ev, Sergej 91 Solov’ev, Vladimir 10/11, 42, 46, 50, 74, 77, 80–98, 100/101, 104, 110–112, 114, 118, 126, 137, 141, 162, 189, 229, 293, 298, 347, 362, 367–369, 377, 401 Spender, Stephen 70/71, 422 Spivak, Monika 97/98

Stalin, Iosif V. 15/16, 75, 161, 272, 275, 303, 306, 308/309, 313, 320, 323, 325/326, 335, 405, 419, 440 Starobinski, Jean 69, 174, 261/262, 327 Stecenko, Elizaveta 311 Stefanovič, Nikolaj 36/37, 39, 346/347 Steiner, George 68 Stepun, Fedor 434 Stites, Richard 242 Stoellger, Philipp 22 Strachov, Nikolaj 297 Striedter, Jurij 162 Struve, Nikita 261, 263 Suchla, Beate 17 Surkov, Aleksej 304, 393 Swift, Megan 254 Szilard, Lena 292 Šalamov, Varlam 351, 415, 417/418, 432 Šapir, Maksim 421 Šarmar, Svetlana 73 Šemšurin, Andrej 19 Šeršenevič, Vadim 57, 156, 215 Ševčenko, Taras 354 Šklovskij, Viktor 33, 215, 414, 417/418 Šmaina-Velikanova, Anna 360 Šmeman, Aleksandr 12, 261, 263, 367, 382 Špet, Gustav 120, 230, 357 Štich, Aleksandr 54, 110, 117, 151, 165, 225 Švarsalon, Vera 118 Tabidze, Nina 376, 415, 423/424 Tabidze, Tizian 320 Tacho-Godi, Elena 398 Tarkovskij, Arsenij 30 Taylor, Charles 33, 329 Ternovskij, Evgenij 38/39 Terras, Victor 47, 67/68, 143, 193, 275, 435 Thompson, Ewa 388 Thomson, Boris 93 Thun(-Hohenstein), Franziska 321/322 Tintoretto, Jacopo 315 Tischner, Józef 230 Tizian 315 Tjutčev, Fedor 82, 133, 197 Todorov, Tsvetan 88 Tolstoj, Aleksej K. 82, Tolstoj, Lev 31, 57, 60, 79/80, 82, 115/116, 144, 217, 231, 233/234, 236, 273, 297,

478 Index 334, 351, 355, 376, 381, 411, 413–415, 417 Tolstoj, Nikita I. 205 Toporov, Vladimir 281 Trockij, Lev 176 Trubeckoj, Evgenij 10–13, 16/17, 20, 26, 28, 71, 74, 293 Trubeckoj, Sergej 28 Turkov, Andrej 109 Turner, Denys 17 Tynjanov, Jurij 52, 158, 172, 215 Uffelmann, Dirk 43, 114, 193 Uspenskij, Leonid 17 Užarević, Josip 142 Vajman, Naum 193 Vajskopf, Michail 87, 309 Vasmer, Max 437 Vejdle, Vladimir 278, 404/405 Vengerov, Semen 80 Veresaev, Vikentij 13, 31, 234 Veronese, Paolo 315 Vestbruk, Filip 110 Vil’mont, Nikolaj 418 Vinokur, Val 42, 139 Vjazemskij, Petr 12 Vogl, Joseph 48 Vogt, Reinhold 368–370, 393, 401 Voronskij, Aleksandr 272, 276–278, 299/300

Voss, Dietmar 18, 23, 162 Vygotskij, Lev 237 Vysockaja, Ida 284, 296/297 Wachtel, Andrew 270 Wachtel, Michael 118 Wain, John 375 Wall, Thomas C. 147 Wat, Aleksander 361 Weber, Horst 416 Wilson, Edmund 379 Witt, Susanna 353, 362, 367, 386, 392 Wogenstein, Sebastian 43 Wordsworth, William 275 Zajonc, Arthur 9 Zamoškin, Nikolaj 345 Zamoyska, Hélène 351 Zehnder, Christian 10, 40, 43, 213, 279, 297, 436 Zelinsky, Bodo 64 Zelter, Carl F. 64 Ziarek, Krzysztof 50 Zinov’eva-Annibal, Lidija 116–118 Zolotonosov, Michail 261 Zubok, Vladislav 351 Žirmunskij, Viktor 89, 101 Žolkovskij, Aleksandr 34, 179, 303–305, 308, 311/312, 317, 328, 440