Spiegel des Lichts 3884190423

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Spiegel des Lichts
 3884190423

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Rodney Collin

Spiegel des Lichts Aus den Notizbüchern Er bringt deine Gerechtigkeit wie das Licht und dein Recht so hell wie der Mittag. Psalm 37,6

Titel der Originalausgabe: The Mirror of Light erschienen bei: Robinson & Watkins Books Ltd. P.O.BOX 72, London WC2H OLU, England Aus dem Englischen von Peter Sineokow

© 1959 by Robinson & Watkins Books Ltd. © der deutschen Ausgabe 1990 by Plejaden Verlag GmbH Bahnhofstraße 15, 2127 Boitersen ® (04136) 87 83, Fax 8001

Umschlagfoto und -gestaltung: Peter Sineokow Satz: Plejaden Verlag, Boitersen Datenkonvertierung: FOTOSATZ Joachim Duscha, Berlin Druck: H & P Druck, Berlin Bindung: Jürgen Villwock, Berlin

ISBN 3-88419-042-3

VORWORT DES HERAUSGEBERS

ie meisten Notizen, aus denen dieses Buch besteht, wurden nach Rodney Collins Tod in seinen Papieren gefunden. Einige hatten bereits als Grundlage für Vorträge gedient, andere waren zum späteren Gebrauch bei­ seitegelegt worden. Es ist unmöglich zu sagen, welche aus sei­ ner Feder und welche aus anderen Quellen stammen. Er hatte sie als Material für diejenigen gesammelt, die über die ersten Stufen der Selbst-Erforschung hinausgelangt sind. Es wurden weitere Notizen hinzugefügt, die aus Gesprächen mit seinen Freunden hervorgingen. Der Begriff »Selbst-Erinnern« ist ein Spezial-Ausdruck, der von G.I. Gurdjieff, P.D. Ouspensky, Maurice Nicoll und an­ deren aus der gleichen Tradition verwendet wird. Seine Be­ deutung ergibt sich aus dem Zusammenhang. Der »Vierte Weg« ist die ausgewogene Verbindung der drei traditionellen Wege der Wieder-Vereinigung mit Gott: den Wegen der Beherrschung von Körper, Verstand und Gefühl. Er umfaßt die Entwicklung des ganzen Menschen, der sich in den gewöhnlichen Umständen des täglichen Lebens befindet und der Verwirklichung seiner höchsten Möglichkeiten widmet. Mein Dank gilt Mema Dickins und allen anderen, die bei Sammlung und Anordnung dieser Notizen Hilfe geleistet haben. Janet Collin Smith Mexico, im Oktober 1958

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EINLEITUNG

nser Leben findet in einem Spiegel statt, alles ist sei­ tenverkehrt. Wenn wir ein Bild sehen, wird es im Gehirn umgekehrt aufgenommen. Die Strahlen werden ausgesendet, kreuzen sich und werden in der Umkeh­ rung empfangen. Die Wirklichkeit existiert im Schnittpunkt der beiden Linien, sofern wir ihn finden. Das gleiche geschieht in unseren Gedanken. Wir halten die Ursache für die Wirkung und die Wirkung für die Ursache. Für uns ist das Stoffliche wirklicher als das Geistige. Was un­ sere Sinne wahrnehmen, nennen wir objektiv, während wir alles, was unseren körperlichen Sinnen verborgen bleibt, als unwirklich oder eingebildet bezeichnen. Wir glauben, daß Säen und Ernten sich ihrem Wesen nach unterscheiden und verstehen nicht, daß sie ein und dasselbe sind. Geburt und Tod betrachten wir als Gegensätze und haben allesamt verges­ sen, daß Sterben heißt, geboren zu werden. Das Leben, das wir führen, die Welt, in der wir leben, ist eine Vorspiegelung, eine Fata Morgana. Wenn wir eine Vor­ spiegelung verstehen, verstehen wir ein Wunder. Wir sollten mehr über den Spiegel lernen. Er ist der Schlüs­ sel zu dem Buch, das bald geschrieben werden sollte.

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Rodney Collin, 1955

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eder lebende Körper sendet Strahlen aus. Sie sind elektri­ scher Natur. Jedesmal wenn ein Gegenstand berührt wird, nimmt er Strahlung auf. Wir könnten das leichter verstehen, wenn wir uns an die Grundidee des Spiegels er­ innerten. Alles spiegelt wider. Orte, an denen Menschen star­ ke Gefühle hatten, sind voll von starken, positiven oder nega­ tiven Strahlungen. Unbelebte Gegenstände spiegeln die Aus­ strahlungen lebender Geschöpfe wider. Das gilt mit einer Ausnahme: In überschwerer Materie hat sich Energie so sehr verdichtet, daß sie entweicht. Überschwere Materie ist gefährlich, denn anstatt Strahlung zu reflektieren, gibt sie sie ab. Die Erde benötigt ein Minimum von strahlungs­ aktiver Materie, die Menschen jedoch häufen zuviel davon an. Deshalb ist diese Zeit jetzt eine Kairos-Zeit, eine Zeit außerge­ wöhnlicher Möglichkeiten für diejenigen, die Willen, Liebe und Vernunft erlangen wollen. Ein großer Wandel steht uns bevor, in dem positive Kräfte den Ausgleich für negative bilden müssen. Die von Menschen guten Willens abgegebene positive Ausstrahlung häuft die neutrale Strahlung, die von überschwe­ rer Materie abgegeben wird, an und bildet aus ihr einen Schutz­ schild wie eine Art Gelee, das negative Ausstrahlungen in sich aufnimmt und neutralisiert. Wir strahlen immerzu etwas aus, entweder Negativität oder Positivität. Positive Ausstrahlungen verbinden sich mit neutraler Ausstrahlung im Verhältnis zur Stärke der positiven. Es spielt keine Rolle, was wir über andere denken, doch es spielt eine Rolle, was wir ausstrahlen. Gut oder schlecht von jemandem zu denken, betrifft ihn nicht; es hilft nicht und scha­ det nicht. Doch wir können garnicht ermessen, wie sehr un­ sere Ausstrahlung andere Menschen beeinträchtigt. Wenn je-

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mand sagt: »Der und der ist ein Narr«, tut ihm das nicht weh. Sagt er jedoch mit einem negativen Gefühl: »Ich liebe Dich«, wirkt es verletzend. Wir ermessen nicht die Verantwortung, die wir für all das haben, was wir aussenden. Wir müssen Positivität ausstrahlen. Negativität fließt aus uns heraus und hat nachteilige Folgen für andere. Sie zieht Tausende von anderen Menschen auf der ganzen Welt in Mitleidenschaft. Senden wir positive Strahlung aus, können wir ihre Verteilung Gott über­ lassen. Menschen, die die Wahrheit gesehen haben, strahlen Güte aus. Wir können uns weder vorstellen, wie stark diese Ausstrahlung ist, noch welch gewaltige Entfernungen sie über­ brücken kann. Wir sind wie Radios. Sobald wir negativ sind, stimmen wir uns möglicherweise auf die aufgestaute Negativität von jeman­ dem ein, der — vielleicht Tausende von Kilometern entfernt — seit Jahren negativ ist. Es gibt unermeßlich viele Wellenlängen, doch es gibt auch immer jemanden, der dieselbe Wellenlänge hat wie wir, den wir beeinflussen und der uns beeinflußt, wenn wir ihn lassen. Das ist einer der Gründe, warum es so wichtig ist, sich davor zu hüten, negativ zu sein: um nicht die Negativi­ tät anderer Menschen aufzunehmen und zu unserer eigenen hinzuzufügen. Und bedenke die Verantwortung, wenn wir je­ mandem Negativität senden. Es könnte jemand sein, der ge­ rade aus einem negativen Zustand herauskommt, und den wir durch unsere Negativität wieder zurückstoßen. Manche Men­ schen sind so veranlagt, daß sie Negativität aufnehmen und an­ dere Positivität, daher können wir nicht über sie urteilen. Wir müssen nur darauf achten, keine Negativität auszusenden, son­ dern Positivität. Sind wir miteinander im Einklang, so erzeugen wir eine sehr hohe Energie, die über Hunderte von Kilometern zu den Men­ schen gelangt, die sie benötigen. Wenn in unserem Innern kein Einklang herrscht, können wir ihn nicht übertragen. Positive Ausstrahlungen werden durch Willen erzeugt. Wenn wir unser

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wahres Selbst gefunden haben, sind wir in der Lage, Positivität auszustrahlen. Einen Beweis für die Kraft unserer Ausstrahlungen können wir darin finden, wie sie das Wetter verändern können. In man­ chen Zeiten der Dürre tragen die Menschen das Abbild eines Heiligen in einer Prozession und beten zu ihm um Regen. Kommt dann der Regen, glauben sie, der Heilige hat ein Wun­ der gewirkt. In Wirklichkeit hat die Kraft ihrer geballten Aus­ strahlung den atmosphärischen Druck verändert und der Feuchtigkeit ermöglicht, sich niederzuschlagen. Gläubige Menschen kannten das von alters her aus Erfahrung, und die Wissenschaft fängt gerade an, es herauszufinden. Eine Einheit Positivität spiegelt hundertfach wider, eine Ein­ heit Negativität jedoch tausendfach. Durch die Widerspiege­ lung wird jede Einheit vergrößert. Aus diesem Grunde ist das Ergebnis zweitausendfach, wenn wir Negativität in Positivität umwandeln. Negativität ist viel stärker. Gesegnet sei die Nega­ tivität, die Positivität hervorbringt. Es hängt allein vom Ent­ wicklungsstand des Menschen ab, wie negative Gedanken ver­ wendet werden. Ein Mensch auf einer niedrigen Entwick­ lungsstufe benutzt sie negativ, auf eine sehr niedere Art; ein Mensch auf einer höheren Stufe kann sie in Positivität umwan­ deln. Sind wir selbst vollkommen positiv, können wir negative Ausstrahlungen in enorme Kraft umwandeln. Zuerst müssen wir sie durch Aufmerksamkeit sammeln. Um negative Ausstrahlung positiv zu machen, müssen wir selbst vollständig po­ sitiv sein. Sobald wir auch nur für eine Sekunde zweifeln, kön­ nen wir nichts tun, denn wir sind schon negativ. Sehen wir et­ was Unangenehmes oder Grausiges, dann müssen wir darin etwas Komisches entdecken und lachen und andere Menschen darauf hinweisen, wenn sie durch das Unangenehme angegrif­ fen werden. Sehen wir, wie jemand negativ reagiert, müssen wir versuchen, uns selbst ins Positive zu wenden, indem wir la­ chen oder es nicht glauben. Deshalb ist es auch möglich, im

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Kino Energie zu sammeln, wenn die Zuschauer sich bei einem Thriller entsetzen. Wir müssen stark genug sein, nicht zuzulas­ sen, daß die Negativität uns auch negativ macht. Andererseits werden wir viel stärker, wenn wir sie umwandeln. Sobald wir erst einmal angefangen haben, sie umzuwandeln, können wir sie auch weiterhin umwandeln; sie wandelt sich dann nahezu von selbst um. Wenn wir eine Stunde lang positiv sein können, dann noch eine und dann noch eine, dann reinigen wir unsere Instinkte und Reaktionen. Ertappen wir uns bei einem schlechten Gedanken, können wir ihn aufhalten, ihn umwan­ deln und aus ihm einen viel stärkeren guten Gedanken ma­ chen. Wenn wir ganz und gar positiv sind, können wir dem schlechten Gedanken eines anderen widerstehen, ganz gleich wie schlecht er auch sein mag, und ihn zum Guten wenden. Wir sind mit jedem verbunden, den wir einmal getroffen, ge­ sprochen oder gespürt haben, denn wir haben ihm einen Teil von uns gegeben: unsere Ausstrahlung. Es ist nicht unser Auf­ treten, sondern unsere Ausstrahlung, die zählt. Unsere Reak­ tionen sind körperlich; wir müssen sie positiv machen. Den­ ken wir an uns selbst, geht alles schief. Wenn wir uns selbst ver­ gessen, können wir das Richtige tun. Wir können nicht alle lieben, doch wir sind hier, um Harmonie zu übertragen. Sind wir in Einklang mit uns, wachsen wir. Um Positivität zu sam­ meln, müssen wir die Menschen lieben, wirklich lieben. Ein­ fach nur lieben. Jeder braucht Liebe; sie ist geistig-seelische Nahrung. Wenn wir Menschen lieben, geben wir ihnen unser Fleisch und Blut. Blut ist Ausstrahlung, Fleisch bedeutet unser wahres Selbst. Lieben ist weder eine Emotion noch eine Emp­ findung noch eine Idee; sie ist eine besondere Art von Aus­ strahlung, die nur eine bestimmte Handlungsweise in uns er­ zeugen kann. Fühlt ein Mensch sich zu einem anderen hinge­ zogen, ist jedoch zu träge, um ihm zu helfen, liebt er ihn nicht. Andererseits mag sich jemand über einen anderen sehr ärgern. Wenn er jedoch trotz seiner Ungeduld eine Anstrengung

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macht, ihm zu helfen, das heißt, ihn zu lieben. Er sendet ihm Strahlungen, die wahrscheinlich hilfreicher sind als sein Han­ deln, die aber nur durch Handeln in Gang gebracht werden können, denen die Absicht zu helfen zugrunde liegt. Die einzi­ ge Möglichkeit, unseren nächsten zu lieben wie uns selbst, ist zu lernen, wie man mit Gott in Verbindung tritt. Erst dann ha­ ben wir die Gnade erlangt, sowohl unseren Nächsten als auch uns selbst zu lieben. Alle Abläufe sind biologischer Natur. Genauso wie die Funktionen unseres Körpers biologisch sind, haben auch die Gefühle eine biologische Grundlage. Es gibt zwei Sorten von Negativität. Die von innen kommt, ist Bosheit. Sie ist von Übel. Jene aber, die von außen herrührt, ist bloße Reaktion. Sie ist nicht schlecht. Oft, wenn wir gereizt reagieren, ge­ schieht es, weil wir in unserem Körper Säuren angesammelt ha­ ben, die ausgeschieden werden müssen. Wir brauchen wenig­ stens einmal pro Woche eine Ausscheidung dieser Säuren in Form von Schimpfen, Tränen oder heftigem Lachen. Der Feh­ ler ist nur, wenn wir uns mit diesen Ausscheidungen identifi­ zieren und sie mit Gefühlen vermischen. Es ist falsch, jeman­ den von dieser Art Ausscheidung abzuhalten; es schadet ihm genauso wie es schaden würde, eine körperliche Ausscheidung zu unterbrechen. Kleine Kinder sind sehr weise, sie wissen dar­ über Bescheid. Sie schreien, bis sie rot im Gesicht sind. Die Mütter sollten sie nicht hochnehmen, bevor sie nicht fertig sind, doch sollte man sie auch nicht zu lange schreien lassen, sonst machen sie es sich zur Gewohnheit. Wir müssen lernen, wie wir unseren emotionalen Müll loswerden. Einmal pro Wo­ che sollten wir rennen, schreien, lachen, weinen: es rauslassen. Wir sollten unsere körperlich- stofflichen Vorgänge loswerden, doch nicht gegen andere. Wir müssen den Unterschied zwi­ schen körperlichen Reaktionen und Gefühlen kennenlernen. Wir dürfen niemals jemanden verletzen; davon abgesehen spielt es keine Rolle, wie wir unseren emotionalen Müll abar-

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beiten. Wenn wir ihn ausgeschieden haben, sind wir rein. Je reiner wir äußerlich sind, desto reiner sind wir innen. Wenn wir rein sind, sind die Poren der Haut in der Lage, Säu­ ren loszuwerden und wir sind gesünder. Reinlichkeit hängt davon ab, wie wir aufgewachsen sind. Wir müssen rein sein als Grundlage, um kraftvoll und stark zu sein. Unser Haus sollte rein sein. Es gibt ein russisches Sprichwort: »Wo Staub ist, da ist ein Teufel.« Gott kommt nur in reine Dinge. Nachdem wir Reinlichkeit verstanden haben, müssen wir Gepflegtheit kul­ tivieren. Wir sollten allzeit auf Gepflegtheit achten, denn sie fördert sehr die Selbstachtung. Nach Gepflegtheit kommt Eleganz, eine Verbindung aus Vornehmheit, Angemessenheit und Lebensart, die jeder erreichen kann, der Geschmack und Einsicht besitzt. Es bedeutet nicht notwendigerweise, nach der neuesten Mode gekleidet zu sein, denn Mode bedeutet oft, sich lächerlich zu machen, um nicht für lächerlich gehalten zu werden. Wandeln wir, anstatt zu sagen: »Ich fühle mich heute so schlapp«, unsere Lethargie in Positivität um, indem wir sagen: »Ich muß etwas tun, um da herauszukommen«, dann bemer­ ken wir, daß wir mehr Energie haben, als wenn wir uns der Schlappheit ergeben hätten. Wir müssen versuchen, unsere Ablehnung in eine bejahende Haltung umzukehren. Wir müssen mit unserem Willen, unserer Kraft und unseren Be­ mühungen alles zum Positiven wenden. Befindet sich in einer Ansammlung von Menschen einer, der niedergeschlagen ist, kann er alle anderen dazu bringen, sich auch niedergedrückt zu fühlen. Kommen wir jedoch herein und sagen zu uns selbst: »Das muß anders werden. Ich bin stark. Ich kann es än­ dern, indem ich positiv bin«, wird sich die Atmosphäre im Raum verändern. Wir dürfen keine Negativität zulassen. Der stärkere Mensch siegt immer. Wenn der Stärkere Negativität ausstrahlt, siegt die Verneinung. Was immer am stärksten ist, beeinträchtigt das jeweils Schwächere. Eine Menge kann sich

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an der Schwelle zur Panik befinden und ein einziger starker Mensch kann sie aufhalten, indem er Zuversicht ausstrahlt. In einer Gruppe von Menschen, die versuchen zu arbeiten, kann ein einzelner die ganze Gruppe auf eine höhere Stufe bringen. Wir können niemals die Entschuldigung vorbringen, daß es einige in der Gruppe gibt, die das Ganze auf einer niedrigen Stufe halten, denn ein einziger Mensch kann den Rest umwan­ deln — einer allein. Angenommen, du kommt in einen Raum und findest vier Leute, die sich streiten. Du geht zu einem und sagst: »Hallo«. Du kannst es auf so eine Art tun, daß es seine Stimmung verändert. Dann gehst du zum nächsten, oder du lächelst ihn sogar an. Bist du selbst genügend stark und posi­ tiv, änderst du seine innere Verfassung, und das geht so weiter mit allen vieren. Niemand kann negativ sein in der Gegen­ wart von jemandem, der wirklich positiv ist. Negativität entsteht, wenn wir etwas spüren oder sehen, das häßlich, schmutzig oder gemein ist, und wir lassen es in uns eindringen. Wir sollten Negativität erkennen und beurteilen, doch nicht in uns eindringen lassen. Wenn wir die Negativität daran hindern, in uns einzudringen, wird sie immer geringer. Wir sollten niemals einer Sache wegen bedrückt sein, die wir getan haben, und die uns jetzt schlecht vorkommt. Nichts ist an sich schlecht. Das Leben ist eine Leiter; wir müs­ sen unsere Füße auf jede einzelne Sprosse stellen und von da aus weitergehen. Schlecht ist eine Sprosse nach unten, gut ist hinauf. Keine Sprosse ist an sich gut oder schlecht. Es gibt nichts Gutes oder Schlechtes. Es gibt positiv und negativ, und beides bringen wir selbst hervor. Wir müssen nicht so viel an uns selbst und an die Vergangenheit denken. Spüre, wie aufre­ gend das Kommende ist. Das ist wirklich spannend. Energie gleicht kleinen Teilchen in der Luft, die andere der gleichen Art anziehen. Es gibt zwei Arten von Energie, nega­ tive und positive; wir wissen, was negativ und was positiv ist. Wir müssen dem, was wir denken, ins Gesicht sehen. Ist es ne-

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gativ, müssen wir uns sagen: »Das ist ein negativer Gedanke. Er mag ja angenehm sein, doch ich will ihn nicht.« Denken wir dann an etwas anderes oder lesen ein Buch, verschwindet der Gedanke. Zehnmal ist es schwer, doch beim elften Mal ist es dann leicht. Wir müssen gute Gewohnheiten annehmen. Es ist genauso leicht, gute Gewohnheiten anzunehmen wie schlechte. Wir können nicht wissen, was gut oder schlecht ist, doch wir können richtige und falsche Handlungen erkennen. Oft geben Menschen äußeren Einflüssen die Schuld für ih­ ren Gemütszustand. Es gibt keine äußeren Einflüsse, nur in­ nere. Verhält sich jemand uns gegenüber negativ, kann uns das nichts anhaben, solange es draußen bleibt. Es kann uns nur beeinträchtigen, wenn wir es in uns eindringen lassen, es in uns aufnehmen. Wie sonst sollte uns die Negativität eines an­ deren berühren? Sie kann uns nur etwas anhaben, wenn wir zulassen, daß sie in uns ist, indem wir sie uns zu eigen machen. Dann wird etwas Außeres zu etwas Innerem, denn wir selbst machen es dazu, indem wir ihm unsere Aufmerksamkeit schenken. Wenn wir uns entspannen, werden wir niemals müde, doch wenn wir versuchen, unsere Aufmerksamkeit einzuschrän­ ken, ermüden wir sehr schnell. Solange wir nicht versuchen, unsere Aufmerksamkeit zu bezwingen, schweift sie auch nicht ab; dann sammeln wir unsere Energie, statt sie zu verlie­ ren. Entspanne dich, und alles kommt von selbst. Wir ent­ spannen uns, sobald wir uns selbst vergessen. Wir können uns erholen, indem wir lächeln; der ganze Körper entspannt sich unmittelbar und kommt zur Ruhe. Wir müssen lernen, unse­ re Muskeln zu entspannen, besonders an der Rückseite der Schultern. Wir sollten versuchen, unsere Wirbelsäule vom Schädelrand bis hinunter zum Steiß zu spüren — zu spüren und unter Kontrolle zu haben. Dann sind wir nicht müde. Wir wissen, daß unser Körper seine Grenze hat und müde wird, wenn er diese Grenze überschreitet. Wir wissen, daß

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wir müde werden, wenn wir nicht gerade sitzen. Werden wir müde, weil wir nicht gerade sitzen, ist es unsere eigene Schuld. Entweder unser Körper bestimmt über uns, oder wir bestim­ men über unseren Körper. Durch Willenskraft können wir unseren Körper trainieren, mehr zu tun. Dabei müssen wir ganz allmählich vorgehen. Es macht uns müde, wenn wir die Luft wieder einatmen, die wir bereits ausgeatmet haben. Sind wir müde und niederge­ schlagen, dann deshalb, weil wir dieselbe Energie zurückbe­ kommen, die wir ausgestoßen haben. Das Heilmittel für diese Art Müdigkeit ist, uns zu bewegen: uns geistig zu bewegen, d.h. unsere Aufmerksamkeit von uns selbst weg zu lenken und einer bestimmten Richtung folgen zu lassen und, wenn möglich, uns zielgerichtet körperlich zu bewegen. Wir müssen unsere Gefühle sammeln. Jedesmal wenn wir versuchen, uns zu sammeln, wird unsere Aura stärker. Wenn das geschieht, können die negativen Gefühle anderer uns nicht erreichen. Sie können nur den äußeren Rand unserer Aura durchdringen. Wenn wir uns häufig und willensstark sammeln, können wir nicht berührt werden. Man sagt, daß Cagliostro, wenn er sich konzentrierte, durch die Kraft seiner Aura jemanden auf einen Meter Entfernung umwerfen konn­ te. Es gibt seltsame Erzählungen in der Apostelgeschichte: wollte jemand den Aposteln etwas antun, wurde er plötzlich erschlagen. Vielleicht wurde seine eigene Negativität auf ihn zurückgeworfen. Jede Energie, die wir ausstrahlen, kommt zurück. Immer wenn wir müde sind, haben wir keine klare Ausstrahlung. Die machtvollste Ausstrahlung und schrecklichste Kraft der Welt ist Angst. Sie treibt die Menschen dazu, nach Glück zu streben, Zivilisationen zu entwickeln und Kriege anzufan­ gen. Angst steckt hinter all der Vernunftwidrigkeit und den chaotischen Gefühlen, die die Menschheit verfolgen. Die al­ ten Propheten kannten die Macht der Angst; sämtliche heili-

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gen Schriften benennen sie. Wir müssen verstehen, was es heißt, die Angst hinter sich zu lassen. Um das Große Werk zu verstehen, dürfen wir keinerlei Angst haben. Sie ist die Mut­ ter des Hasses. Aus kleinen Haßgefühlen entsteht großer Haß. Wir dürfen sie nicht mehr zulassen. Wir mögen sie Mißverständnisse nen­ nen oder ihnen irgendwelche anderen Namen geben, die uns gefallen. Aus ihnen entstehen Kriege und alle entsetzlichen Dinge. Wir müssen sie loswerden. Dann kommt Einklang. Selbst wenn ein Mensch heute negativ ist, wächst er vermut­ lich eines Tages darüber hinaus und versteht. Es spielt keine Rolle, was wir in anderen Menschen sehen, was für schreckli­ che Dinge wir in ihnen wahrnehmen. Es gibt nur einen Weg, um Menschen zu helfen, die hassen: ihnen wirkliche Liebe und Bescheidenheit zu zeigen. Aber durch Taten, nicht durch Worte. Wahrscheinlich reagieren sie empfindlich, doch letzt­ endlich wird wirkt es. Alle Menschen haben ein Herz; wird das berührt, verstehen sie. Begegnen sie einem aufrichtigen Menschen, hören sie, was dieser sagt. Wenn wir Aufrichtig­ keit, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit ausstrahlen, spüren sie es. Sie erkennen es vielleicht nicht sofort, doch eines Tages tun sie es. Sind wir mit uns selbst ehrlich, wahrhaft und aufrich­ tig, dann sind wir es auch mit anderen, und etwas davon spü­ ren sie. Eines Tages erkennen sie es. Wir müssen die Menschen mehr durch Gefühle als durch Worte erreichen. Jeder hat eine gute Seite; es gibt niemanden, der durch und durch schlecht ist, wie es niemanden gibt, der vollständig gut ist. Keiner ist vollkommen, sonst wäre er nicht hier. Die Menschen verstehen die enorme Kraft der Negativität nicht, weil sie nicht dafür verantwortlich sein wollen. Wir dürfen keinerlei negativen Gefühlen Nahrung geben. Wenn wir unsere Schwierigkeiten ernst nehmen, füttern wir sie. Wenn wir zu etwas, das wir nicht wollen, wie z.B. dem Hoch­ mut, sagen: »Tut mir leid, so nicht«, wird es uns in Ruhe las-

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sen. Wir müssen versuchen, über unseren Schwierigkeiten zu stehen, anstatt uns in ihnen zu wälzen. Es ist sehr wichtig, über allem Ärger zu stehen. Wenn wir uns leicht und fröhlich fühlen, sind wir wir selbst. Was heißt das: man selbst zu sein? Es bedeutet, daß man sein positives Selbst ist. Einige sagen: »Ich wurde mit einem schlechten Charakter geboren; so bin ich eben.« Das bedeutet genau nicht, man selbst zu sein. Zu sein bedeutet, positiv zu sein. Negativ zu sein heißt nicht zu sein. Negativität, Null, eine negative Menge ist nicht - schon durch die Begriffsbe­ stimmung. Eine positive Kraft ist von ihrer inneren Natur her gebend. Um wir selbst zu sein, müssen wir geben: Aufmerk­ samkeit schenken, Anteilnahme entgegenbringen, in jedem Augenblick das geben, was wir geben können. Dann sind wir wir selbst, dann haben wir Sein. Achtung steht an erster Stelle, dann kommt Liebe, dann Einklang. Zuerst müssen wir uns selbst achten. Die Nächsten­ liebe beginnt zuhause, das heißt bei uns selbst. Jemand, der sagt: »Ich bin dumm, ich bin gewöhnlich, ich bin schlecht«, lästert Gott, denn Gott ist in jedem. Es ist wahr, daß wir alle Tempel des Heiligen Geistes sind. Sobald wir erkennen, daß wir etwas Dummes, Gewöhnliches oder Unrechtes getan ha­ ben, sollten wir sagen: »Das ist in mir. Ich werde es aus mir herausnehmen, weil es nicht in mich gehört; um meiner Selbstachtung willen, weil mein wahres Selbst nicht so ist, werde ich nicht so handeln.« Wenn wir falsch handeln, spielen wir, das heißt wir verhalten uns in einer Weise, die nicht mit dem übereinstimmt, was wir sind. Wir können nicht auf die richtige Art handeln, wir können nur richtig sein, dann stim­ men unser Verhalten und das, was wir sind, überein. Wir soll­ ten nicht versuchen, etwas zu tun — einfach nur sein. Wir selbst sein, Gott lieben und unserem Nächsten Freund sein. Freundschaft heißt, für die Nöte unseres Nächsten offen und bereit zu sein, ihm zu helfen. Zu fragen: »Was kann ich für

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meinen Nächsten tun?«, heißt, an sich selbst zu denken. Zu sein, wach, offen, liebevoll, das ist alles, was nötig ist. Dann wird man richtig handeln, ohne zu versuchen, das Richtige zu tun. Man selbst zu sein heißt, seinem Gewissen zu folgen. Das Gewissen ist unser Wecker. Jeder hat drei Arten von Zeit: seine eigene, die der Natur und die der Sonne. Wir müssen unsere Uhren nach der Zeit der Sonne stellen. Gewissen heißt, unsere Zeit nach den ande­ ren zwei Zeiten zu richten: nach der Zeit der Natur, das heißt der Welt, in der wir leben, unsere Nächsten; nach der Zeit der Sonne, das heißt nach Gott. Zeit gibt es nur auf dieser stofflichen Seinsstufe. Sobald wir Sein erreicht haben, gibt es weder Vergangenheit noch Zu­ kunft; es gibt nur noch Sein. Wenn wir sind, dann sind wir jede Minute. Dann haben wir Freiheit, Glück und Schönheit gefunden. Und Schönheit ist Liebe. Wo Liebe ist, ist Gott in uns. Wo auch immer wir etwas Schönes sehen, dort ist Gott. Gott hat alles geschaffen, was schön ist; der Mensch ist es, der Häßlichkeit hervorbringt. Wirkliche Liebe macht nicht bei einem Menschen oder ei­ nem Gegenstand halt; ist sie echt, geht sie weiter zu Gott. Nichts Wirkliches geht jemals verloren. Wenn es verschwin­ det, ist es nicht echt. Was nicht wahr ist, verschwindet immer, denn es war niemals da. Wir müssen uns selbst vergessen. Wenn wir etwas Schönes finden, sollten wir uns darin verlieren, das ist Ekstase. Ekstase ist innige Betrachtung der Wirklichkeit. Sie ist wirkliches Ge­ fühl. Ekstase ist das Gegenteil von Einbildung. Wenn wir etwas Schönes sehen, erleben wir etwas Wirkliches. Wir neh­ men eine Gegebenheit wahr. Wenn wir etwas in uns hinein­ nehmen, machen wir es klein, verlieren es. Wenn wir uns selbst in etwas verlieren, das größer ist als wir, verlieren wir nur unser kleines selbst und finden dafür unser wahres Selbst. Um wir selbst zu sein, müssen wir den Mut zum Willen ha-

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ben. Wir sind so von unserer eigenen Darstellung eingenom­ men, daß wir es gar nicht bemerken und vergessen, daß alle anderen sehen können, daß wir uns etwas vormachen. Die einzigen, die wir damit täuschen, sind wir selbst. Wenn wir nicht Schau spielen, können wir wir selbst sein. Das ist beque­ mer, denn wir müssen uns nicht daran erinnern, welche Rolle wir eben noch gespielt haben. Wir sollten jeden Tag zu uns zurückkommen, ohne Nach­ ahmung wir selbst sein. Jeder sollte in sich selbst finden, was er tun kann, selbst wenn er es anfangs schlecht tut. Jeder muß arbeiten und das Beste aus seiner Arbeit machen. Jeder muß durch seine Arbeit etwas sein. Erstens: danach streben, sich selbst kennenzulernen; zweitens: erkennen, daß man sich nicht kennt; drittens: sich selbst kennen, man selbst sein. Et­ was zu finden, das sich nicht verändert, das heißt, sich selbst finden. Wie finden wir das? Durch das, was wir in anderen se­ hen. Das, was uns in anderen abstößt, ist das, was wir selbst in uns haben; was wir in anderen achten, haben wir ebenso in uns. Entdecken wir eine Fähigkeit in einem anderen, bedeutet das, daß wir sie selbst besitzen. Haben wir einen Fehler, wissen wir, jemand anders hat ihn auch. Fühlen wir, daß jemand negativ ist, heißt das, wir füt­ tern unsere eigene Negativität. Bezeichnen wir etwas als dies oder jenes, bezeichnen wir nicht diese Sache, sondern uns selbst. Wenn wir negativ über einen Menschen sprechen, re­ den wir in Wahrheit über uns selbst. Wir malen uns selbst in den Farben, in denen wir andere malen. Sagen andere etwas Häßliches über uns, ist es niemals wirklich über uns; sie selbst sind es, über die sie sprechen, denn sie sehen in anderen im­ mer nur ihr eigenes Spiegelbild. Wenn andere also unangeneh­ me Dinge über uns sagen, können wir sie nur bedauern; be­ dauern, daß sie so armselig sind, auch wenn unser Gewissen sagt, daß wir ihre Reden durch etwas veranlaßt haben, das wir taten. Wir identifizieren uns mit dem, was sie über uns sagen,

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weil unser Gewissen sagt, daß wir der Anlaß dafür waren. Darin liegt der Grund dafür, daß die Angst vor Menschen Einbildung ist. Ein Grund, warum es so wichtig ist, unser wahres Selbst zu finden, besteht darin, daß niemand uns dann verletzen kann. Keiner weiß, wer wir sind. Andere können das Außere sehen, doch nicht das Innere, das wirkliche Selbst. Wir müssen Indi­ viduen sein, um unsere Seelen stark zu machen. Deine Seele kann meine stärken, meine kann deine stärken. Zwanzig star­ ke Menschen könnten die Welt verändern — reine, gute, starke Individuen. Es könnte Frieden herrschen, immerwährender Friede und Eintracht, wenn es nur zwanzig Menschen gäbe, die Harmonie verstehen und in die Tat umsetzen würden. Alles ist so einfach, liegt innerhalb unserer Reichweite. Wir selbst sind diejenigen, die es kompliziert machen. Woran liegt es, daß wir nicht verstehen, daß wir selbst zu sein, wirk­ lich zu sein, bereits alles ist? Doch nicht einmal diese Worte verstehen wir. Wir selbst zu sein, das ist die Arbeit. Die Arbeit beginnt, wenn wir lernen, uns von dem zu trennen, was wir nicht sind, wenn wir eine Ahnung von unserem wahren Selbst bekommen. Warum tun wir das? Nicht, um uns selbst zu gefallen, sondern um etwas Wirkliches und Reines zu ha­ ben, das wir Gott anbieten können. Christus sagte: »Laßt al­ les, war ihr habt, zurück und folgt mir nach.« Das bedeutete nicht, daß wir all unsere Lebensumstände verlassen sollten. Es bedeutete, die Falschheit in uns hinter uns zu lassen und unser wirkliches Selbst zu sein. Nur das wirkliche Selbst kann Ihm nachfolgen.

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ie Ehe ist ein Kreuz und ein sehr schweres dazu. Sie ist ganz und gar nicht immer Sonnenschein, und es gibt viel Arbeit, die getan werden muß. Beide Part­ ner müssen mit ihren Gewohnheiten brechen; ihre Arbeit ist, sich einander anzupassen. Wahre Ehe ist ein Zustand voll­ kommener Polarität der Individuen, denn die Frau, wenn sie an sich arbeitet, wird mehr zur Frau, und der Mann, wenn auch er arbeitet, wird mehr zum Mann. Jeder, der geheiratet hat, weiß, wie schwierig es ist, in einer Ehe Einklang zu errei­ chen und die wahre geistig-seelische Vereinigung zu erzeugen, die für immer währt. Die körperliche Vereinigung verliert nach drei oder vier Monaten ihre Anziehungskraft, sobald sie zur Gewohnheit geworden ist, doch auf der geistig-seelischen Ebene werden immer neue Bande der Einheit geschaffen, die zu einer Quelle beständig sich erneuernden Glücks werden. Heiratet eine Frau, ist es für sie Pflicht und Gebot, ihren Ehemann vollkommen glücklich zu machen, und der Ehe­ mann hat die Pflicht und Schuldigkeit, seine Frau vollkom­ men glücklich zu machen. Beide sind für das Glück des ande­ ren verantwortlich. Das Heim sollte rein und heilig sein. Wie erreicht man das? Das Werk, ein Heim harmonisch und glücklich zu machen, geschieht nicht für oder durch den Ehemann oder die Ehe­ frau; es ist das Werk Gottes. Aus diesem Grund übernehmen diejenigen, die heiraten, eine große Verantwortung, erhalten andererseits Segen und Gnade — vorausgesetzt, sie führen das Werk Gottes aus, ein Werk, das wahrhaft heilig ist. Verheirate­ te Paare haben die Verpflichtung, ihre Kinder zu lehren, wie sie Einklang ausstrahlen können, doch durch Taten und nicht durch Worte.

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Wenn eine Frau heiratet, hört sie auf, Fräulein Soundso zu sein und wird Frau X. Sie muß sich selbst vergessen, um für ihren Mann zu leben. Ihre wahre Arbeit beginnt: sich selbst zu vergessen. Die Frau sollte sich niemals von ihrem Mann tren­ nen. Sie muß seine Gedanken erraten und seine Wünsche er­ füllen, selbst wenn sie müde und erschöpft ist, und das zu tun, bedeutet für sie zusätzliche Arbeit und weitere Anstrengun­ gen. Und je mehr ein Ehemann ein wirklicher Mann ist, desto mehr wird er seine Frau schätzen, sie achten und beschützen. Wie viele verliebte junge Leute wollen heiraten, doch sie hat familiäre Probleme und er finanzielle? Sie nehmen diese Fra­ gen ernst, und durchaus mit Recht, doch was ist wichtiger: für Lohn zu arbeiten oder für das, was zwar kein Geld bringt, aber das Werk Gottes ist? Wo wahre Liebe ist, gibt es keine Probleme; diese werden nur durch Eitelkeit und Selbstsucht geschaffen. Wenn zwei Menschen heiraten, legen sie vor Gott ein Ge­ löbnis ab. Lassen sie sich scheiden, brechen sie nicht nur ihr Wort, das sie Gott und sich gegenseitig gegeben haben, son­ dern zerbrechen auch etwas, das zwischen ihnen gewachsen ist. Eine Frau, die sich einem Mann hingibt, schenkt ihm mehr als ihren Körper; sie gibt ihm für immer einen Teil ihrer selbst. Was sie ihrem Ehemann und er ihr gibt, verbindet bei­ de zu einer Einheit. Unsere Ausstrahlungen werden von der Chemie unseres Körpers ’gefärbt’. Jeder Mensch hat eine andere Chemie. Das erklärt Anziehung, Abstoßung oder Gleichgültigkeit zwi­ schen Menschen. Wir sollten uns vor Augen halten, daß für Menschen, deren Chemie wir nicht mögen, die unsere gleich­ falls abstoßend ist. Wir müssen über sie hinausgehen, dann kehrt die Schwierigkeit nicht wieder. Menschen fühlen sich zueinander hingezogen, wenn ihre Chemie sich unterscheidet und einander ergänzt. Teile ihrer Chemie tauschen sich aus, bis sie sich im Gleichgewicht befinden. Dann hört die Anzie-

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hung auf, und die Menschen sind einander gleichgültig. Aus diesem Grund scheitern die Ehen, die auf körperlicher Anzie­ hung beruhen, immer. Ist eine Ehe das Ergebnis ausschließlich körperlicher An­ ziehung, sind die sexuellen Gefühle, die die Ehe erweckt, durch Erinnerung an chemische Reaktionen gebunden. Tau­ schen der Mann und die Frau über ihre Ausstrahlungen keine chemischen Substanzen mehr aus, dann fühlen sie sich zu an­ deren Menschen hingezogen und ihre sexuellen Gefühle fol­ gen. Heiraten zwei Menschen jedoch, weil sie füreinander An­ ziehung auf einer höheren Ebene empfinden, sich wirklich lieben, werden ihre sexuellen Gefühle an wirkliche Liebe ge­ bunden und nicht an chemische Reaktionen. Sie steigern sich, werden natürlicher, und die beiden Partner unterstützen sich gegenseitig in ihrem Wachstum. Wenn vor oder außerhalb der Ehe sexuelle Gefühle erregt werden, wird verlangt, daß sie eingeschränkt werden. Und dabei sollten sexuelle Gefühle niemals eingeschränkt werden, denn es ist gefährlich, das zu tun. Alle Arten von körperlichen und emotionalen Störun­ gen sind die Folge. Sexuelle Gefühle hängen nicht allein von der Chemie ab. Die Tatsache, daß der Mann ein Mann ist und die Frau eine Frau, reicht aus, sie zu wecken. Das bedeutet na­ türlich nicht, daß zwei Menschen heiraten sollen, obwohl ih­ rer beider Chemie sich gegenseitig abstößt. Sie sollten in die­ ser Beziehung ihrem Instinkt folgen und dabei im Sinn behal­ ten, daß die Einbildung sie leicht dazu verleiten kann zu glauben, körperliche Anziehung sei geistiges und seelisches Streben nach Vereinigung, während sie in keinerlei Zusam­ menhang mit ihnen steht. Es ist sehr wichtig, daß junge Menschen mit den Ausstrah­ lungen vertraut gemacht werden. Verstünden sie, worin die Ehe wirklich besteht, müßten sie später nicht ihre sexuellen Gefühle beherrschen, die sie für andere hegen, die nicht ihre Ehepartner sind. Ehemänner und Ehefrauen, die mit anderen

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als ihren Ehepartnern sexuelle Verhältnisse haben, fügen sich selbst großen Schaden zu. Sie teilen den Fluß ihrer feinsten Ausstrahlungen auf und bekommen vermischte Ausstrahlun­ gen zurück, mit dem Ergebnis, daß die Seele geschwächt wird. Bei ihrem Tod besitzt ihr Geist dann nur ein unzureichendes Werkzeug, um sich seinen neuen Bedingungen anzupassen. Außer sich selbst schaden untreue Ehemänner und -frauen sich auch gegenseitig, denn sie stehlen von dem Vorrat feine­ rer Energie, der durch die Ehe angesammelt wurde. Die negative Kraft des Instinkts ist Promiskuität. Sie ist die Verbindung mit dem, was niedrig ist. Wirklicher Sex schafft eine ungeheure Verbindung mit dem, was hoch ist. Sind Mann und Frau eins, könnte die größte Verbindung, der größ­ te Schöpfungsakt stattfinden, weil es eine reine Verbindung zu einem wirklichen Zweck ist. Wir müssen rein sein, um et­ was Reines zu erschaffen. Keuschheit ist die sorgsame und beständige Wachsamkeit über unsere körperlichen und geistig-seelischen Sinne, um sie vor Gott rein und makellos zu halten. Verheiratete sollten dar­ auf sehen, nicht vom Wein ihrer eigenen Kelter trunken zu werden. Gehen wir mit Menschen wahre Verbindungen ein und un­ ser Einfluß hilft ihnen, dann wird ein Mann, der dies tut, männlicher und eine Frau wird weiblicher. Ein Mann, der sei­ ner Frau und seinen Kindern hilft, sich zu entwickeln, kann sagen: »Dies ist meine Frau, dies sind meine Kinder.« Eine Frau, die ihrem Mann und ihren Kindern hilft, sich zu ent­ wickeln, kann sagen: »Dies ist mein Mann, dies sind meine Kinder.« Sie kann nicht sagen, daß sie sie geformt hat, doch jeder weiß es. Gehen wir mit jemandem, gleich wer es ist, eine wirkliche Verbindung ein, dann ist jeder Einfluß, den wir auf ihn ausüben, unser, obwohl wir nicht sagen können: »Das war ich!« Wir können die Tatsache nicht vor anderen bekanntma­ chen, doch wir haben die innere Genugtuung, es zu wissen.

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Es ist eine geistig-seelische Befriedigung. Jeder kleinste Ein­ fluß dauert fort; wir können nicht wissen, wieviele Menschen wir beeinflussen können, noch wie weit unser Einfluß rei­ chen kann. Um wahre Eingebung zu empfangen, ist es notwendig, sei­ ne Gedanken von jeglichem Schweren zu reinigen. Es ist Schwerstarbeit, doch dann erhebt sich unser Geist bis zu ei­ nem Punkt, an dem er vom Denken aus einer höheren Seinsstufe berührt werden kann. Ist unser Denken jedoch nicht ge­ reinigt, wird das, was wie Eingebung erscheinen mag, nur Einbildung sein. In einem normalen gesunden Menschen liefert das Sexuelle die Energie für alle schöpferische Arbeit. Sie sollte unmittel­ bar in irgendeine schöpferische Arbeit fließen, ohne als sexuelle Energie erkennbar zu sein. Erkennbare sexuelle Energie ist das Ergebnis von Faulheit. Es bedeutet, daß wir uns nicht genügend Arbeit gegeben haben, um unsere schöp­ ferische Kraft nutzbar zu machen. Schöpferische Arbeit heißt nicht unbedingt, Musik zu komponieren oder Bilder zu ma­ len. Eine Hausfrau, die einen Raum säubert, leistet schöpferi­ sche Arbeit, denn sie erschafft in ihrem Heim Ordnung und Einklang. Es ist eine genauso wichtige Arbeit wie die des Künstlers, denn wenn auch dieser einen unmittelbar größeren Kreis von Menschen ansprechen mag, so ist doch nichts ein­ dringlicher als der Einfluß eines Zuhauses. Der Einfluß einer Frau wirkt sich nicht nur auf ihren Mann und ihre Kinder aus, sondern auch noch auf jeden Menschen, mit dem sie im Lauf ihres Lebens in Berührung kommen. Aus diesem Grun­ de ist es so wichtig, daß die Frau selbst nur reine und harmoni­ sche Einflüsse widerspiegelt. Ihr obliegt es, eine Auswahl un­ ter den Einflüssen zu treffen, die sich aus seiner Umgebung auf das Heim ergießen; sie wählt diejenigen aus und spiegelt sie wider, die ihrer eigenen Seinsstufe entsprechen. Gott hat alles rein erschaffen; der Mensch ist es, der die Din-

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ge schmutzig macht. Adam und Eva waren rein, weil sie von Gott erschaffen wurden. Die Frucht des Baumes war Schmutz. Die Erkenntnis von Gut und Böse bedeutet, daß sie lernten, was sauber und was schmutzig war. Nichts und nie­ mand kann das zerstören, was in uns rein ist. Das Licht wird es herausbringen und warmhalten. Wir dürfen niemals im Dunkeln wirken. Schmutzige Dinge werden im Dunkeln ge­ tan, reine Dinge sind offen. Wir dürfen unser Leben nicht auf stoffliche Dinge aufbau­ en, weil ihre Wirkung fortbesteht, nachdem wir das Stoffliche verlassen haben. Spiritismus ist deshalb kriminell. Stirbt je­ mand, der sehr an seinem stofflichen Leib hängt, wird seine Seele durch die chemischen Ausstrahlungen des Körpers ange­ zogen und bleibt an diese Seinsstufe gebunden, ohne sich auf­ zulösen, womit sie den Geist an seiner Befreiung hindert. Menschen, die Spiritismus betreiben, rufen diese Seelen und binden sie immer noch fester an diese Seinsstufe, indem sie ih­ nen Gelegenheit geben, in Erscheinung zu treten. Das fesselt ihren Geist. Die einzigen Geister, die gerufen werden können, um auf der stofflichen Ebene in Erscheinung zu treten, sind diejenigen, die mit der stofflichen Welt identifiziert sind. Vielleicht sind sie identifiziert aus einem Verlangen heraus, zu helfen, da sie in diesem Leben nicht entdeckt haben, daß nie­ mand irgendjemandem durch Identifikation helfen kann. Das erklärt den hochmoralischen Ton vieler Durchgaben. Viele sogenannte spirituelle Botschaften kommen aus dem UnterBewußtsein des Mediums, und wenn es sich um einen al­ truistischen Menschen handelt, sind die »Botschaften« in erhebendem Ton gehalten. Neun von zehn »Geist-Erschei­ nungen« können auf Tricks, Taschenspielerei, Suggestion oder Hypnotismus in der einen oder anderen Form zurückge­ führt werden. Doch in Fällen echter Erscheinungen besteht die einzige Möglichkeit, die ’Geister auf die Probe zu stellen’ nicht, wie viele glauben, darin ob ihre Botschaften erhebend

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sind oder nicht, sondern darin, ob sie durch Seancen oder Ver­ wendung von Medien hervorgerufen wurden, oder ob sie als Antwort auf ein Gebet zu Gott allein gekommen sind. Geist-Wesen sollten aufsteigen, nicht niedergehalten wer­ den. Wenn ein Geist-Wesen niedergehalten wurde, kann es sich beim Höhersteigen verirren. Wir können den Geist-We­ sen helfen, indem wir für sie zu Gott beten. Unsere Gebete sind für die Geist-Wesen Nahrung. Wir müssen ihnen helfen und für sie beten doch niemals sie herunterbringen. Wir dür­ fen sie an dem Ort, an dem sie sein sollen, nicht stören. Nur freie Geist-Wesen, Heilige, höher-entwickelte Men­ schen, können zu Menschen sprechen, die noch leben. Sie kommen als Offenbarungen. Wirkliche Offenbarungen von freien Geistern erfolgen niemals im Dunkeln oder bedingen Bewußtseinsverlust in dem Menschen, der sie empfängt. Des­ halb ist in jeder religiösen Darstellung von Geist-Erscheinun­ gen die ’Vision’ von einem hellen Licht oder Strahlenkranz umgeben und der Mensch, der die Vision oder Übermittlung empfängt, wird im Zustand erhöhten Bewußtseins darge­ stellt. Es gibt eine Vielzahl niederer Geister, die versuchen, mit Menschen auf dieser Erde in Verbindung zu treten. Sie kön­ nen das nur durch die Vermittlung von Menschen auf einer niedrigen Seinsstufe und nur, wenn sie gerufen werden. Sie ha­ ben keine Erlaubnis, es zu tun, es sei denn, sie werden gerufen, doch weil Gott uns einen freien Willen gegeben hat, kommen sie, wenn wir sie wollen und sie rufen. Rufen wir einen hohen Geist an oder denken an ihn, geht der Gedanke zuerst an Gott; dann, wenn es Sein Wille ist, sendet Er ihn weiter an den Geist. Wir können das verstehen, wenn wir uns Gott als das Gehirn des Universums vorstellen. Im menschlichen Körper wird jeder Reiz an das Gehirn gemeldet, das dann eine Bot­ schaft in den Bereich schickt, der den Reiz empfangen hat, und manchmal auch in einen entsprechenden Bereich. Alle

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Gedanken, gute oder böse, gehen geradenwegs zum Geist Gottes und bleiben für immer dort, um für das göttliche Ge­ richt über uns verwendet zu werden. Alles, was das menschli­ che Gehirn empfängt, wird auf den Spulen des Gedächtnisses gespeichert und bildet die Grundlage für unsere späteren Re­ aktionen oder Urteile. Der Mensch ist auf weit vielfältigere Weise nach dem Bilde Gottes geschaffen, als wir ermessen. Freie Geist-Wesen können zwischen Himmel und Erde aufund absteigen wie die Engel in Jakobs Traum. Wie oft verge­ genwärtigen wir uns, daß wir in ihrem Bewußtsein existieren? Die Vierte Dimension durchdringt die drei Dimensionen1, in denen sich unsere körperliche Existenz abspielt, die Welt der Beschränkung und der Illusion. Die vierte Dimension ist Bewußtsein, Licht, Wirklichkeit.2

1 Materie, Raum und Zeit. 2 Siehe die Einleitung zu Ein Neues Modell des Universums von P.D. Ouspensky.

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III

s gibt ein Werk, das bereits viele Namen hatte. Im 1. Jahrhundert nannte man es das Werk des Glaubens, im 12. Jahrhundert wurde es das Werk der Werke ge­ nannt, im 16. Jahrhundert das Werk der Gesetze, im 18. das Werk der Vernunft. In unserer Zeit sollte man es das Werk der Harmonie nennen. Es ist weitaus größer als das Werk eines einzelnen Menschen; es ist das Werk all der Höchst-Entwickelten der Menschheit zusammengenommen. Jeder von ihnen hat etwas dazu beigetragen. Unser Werk ist Harmonie in allen Dingen; ehrlich, wahr­ haftig und aufrichtig zu sein. Wahrhaftigkeit muß aus uns selbst kommen. Aufrichtigkeit muß von anderen kommen. Ehrlichkeit kommt von oben. Wahrhaftigkeit ist überall au­ ßer in uns, also müssen wir daran arbeiten, sie zu erlangen. Aufrichtigkeit muß von anderen kommen, denn wir müssen ihnen ermöglichen, aufrichtig zu uns zu sein. Ehrlichkeit stammt von oben; sie ist die Stärke, die Gott uns gibt. Ehrlich­ keit ist Rücksichtnahme und Wille. Rücksichtnahme auf andere muß stets unser erster Schritt sein. Rücksichtnahme gleicht dem Teller, auf dem alles, was wir essen, erst serviert werden muß. Daran zu denken, daß an­ dere dieselben Möglichkeiten und Schwächen besitzen wie wir, das ist Ehrlichkeit. Indem wir wahrhaftig, aufrichtig und ehrlich sind, werden wir bescheiden, denn wir erkennen, daß wir nichts sind und gleichzeitig, daß wir alles haben. Aufrichtigkeit ist die Anerkennung unserer wahren Gefüh­ le. Das bedeutet nicht, daß wir sie vor anderen enthüllen müs­ sen, denn oft ist es nicht ehrlich, das zu tun. Ehrlichkeit heißt, mit Menschen so umzugehen, daß wir sie nicht verletzen. Menschen zu verletzen und ihre Gefühle zu verletzen ist ein

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großer Unterschied; manchmal müssen wir ihre Gefühle ver­ letzen, um nicht ihr Selbst zu verletzen. Wahrhaftigkeit be­ deutet, Gesetze zu verstehen und ihnen gemäß zu leben. Es ist notwendig, wahrhaftig zu sein, um die wirkliche Be­ deutung der Dinge zu verstehen. Nur durch Wahrhaftigkeit können wir unser Sein oder unsere Bedeutung finden. Indem wir unser eigenes Sein entdecken, können wir den inneren Sinn von allem anderen entdecken. Wahrheitsliebe ist das Werkzeug, mit dem wir die höhere Wahrheit entdecken, des­ halb ist Wahrhaftigkeit der Weg zur Wahrheit des Lebens. Und dann? Um zu wissen, was auf der Seinsstufe der Wahrhaf­ tigkeit liegt, ist es nötig, daß man sie erreicht hat. Wir alle ha­ ben Kräfte, die wir anwenden können, sobald wir die Wahr­ heit lieben. Unser Werk ist so rein, daß wir uns von dieser Gegenwart der materiellen Dinge befreien müssen. Wir müssen immer versuchen, uns oben zu fühlen, in der Schwerelosigkeit. Wenn wir diese Empfindung einmal haben, werden wir sie nie mehr verlieren. Es ist ein wundervolles Werk; es erfüllt uns mit Freude. Ist das Werk nicht voller Freude, ist es nicht recht. Es ist schön, weil es alles miteinander verbindet und auf eine hö­ here Stufe erhebt. Das Werk ist die Wahrheit; wir ermessen nicht, wie bedeu­ tend es ist. Wir sind hier, um es einfach zu tun. Wir komplizie­ ren es immer noch. Jede Frage wird in unserem Werk beant­ wortet; es wird für uns vereinfacht, damit wir es verstehen. Wenn wir offen und objektiv sind, werden wir sehen, wie überaus einfach es ist. Das Werk wird empfänglich für die Er­ fordernisse des alltäglichen Lebens und erfüllt sie. Es gibt nur eine Schule: die Schule der Wahrheit. Sekten be­ nutzen verschiedene Bezeichnungen, denn sie kennen nur die halbe Wahrheit. Die wirkliche Wahrheit hat keinen Namen. Die Wahrheit ist in allem. Unser Werk ist der Kern aller Reli­ gionen; es ist wirkliches Verstehen. Was ist der Unterschied

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zwischen dem frühen Christentum und dem wie es heute ist? Es ist dasselbe. Das Werk kann nicht neu sein. Aber die Wahr­ heit muß immer in neuer Sprache ausgedrückt werden. Die Worte Christi warten seit zweitausend Jahren darauf, verstan­ den zu werden. Mit reinen Gedanken und reinem Geist kann man sie sofort verstehen. Die Evangelien wurden nicht nur für Menschen vor zweitausend Jahren geschrieben.1 Sie sind stets eine neue Kraft und es ist unsere Pflicht, die Lage eines jeden einzelnen auf jeden Abschnitt der Evangelien zu bezie­ hen und sie nicht nur mit dem Verstand, sondern mit den Ge­ fühlen unseres Herzens auszulegen. Das Werk ist immer da; es kann sich nicht verändern. Wir sind es, die sich ändern müs­ sen, damit wir einen Weg finden, um es auszudrücken. Jeder hat die Wahrheit Gottes in sich, doch der Haken dabei ist, daß jeder glaubt, die Wahrheit, die er sieht, sei die einzige. So lange wir wissen, daß unser Sehvermögen beschränkt ist, sehen wir mehr. Warum wollen die Menschen ihre Ideen an­ deren aufdrängen? Sogar ihre eigenen Vorstellungen von Ge­ schmack wollen sie anderen aufdrängen. Jedesmal wenn wir versuchen, unsere Gedanken einem Menschen aufzuzwin­ gen, lehren wir nicht; versuchen wir hingegen zu hören, was er nicht versteht, lernen wir; dann können wir uns in den Menschen hineinfühlen und können ihn lehren. Es gibt nur eine Wahrheit, und die Menschen müssen auf ihre eigene Art zu ihr gelangen. Wenn Verstandesmenschen etwas eingeredet wird, wenden sie sich ab; wird einfältigen Menschen etwas eingeredet, folgen sie blindlings, und das nützt weder ihnen selbst noch anderen. Wenn wir helfen wollen, müssen wir es tun; wir können lehren, helfen, doch niemandem etwas ein­ reden. Um andere zu lehren, was sie tun sollen, müssen wir zuerst wissen, was wir selbst tun sollten. Wer nicht schwimmen kann, kann nicht ins Wasser springen, um andere zu retten. Lehren heißt zu verstehen, verstehen heißt zu bejahen, beja-

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hen heißt zu erkennen, erkennen heißt, Wahrheit zu finden. Der Verstand muß dazu benutzt werden, die Wahrheit in uns zu finden, nicht Bilder der Wahrheit. Der Weg zur Wahrheit ist Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Wahrheit wird an ihrer Klarheit erkannt. Alles Unklare ist Lüge. Aber wir müssen die Wahrheit in dem finden, was unklar ist. Alles Wahre ist einfach. Die einfachen Dinge sind die wirklichen. Wir ma­ chen alles kompliziert, um es an unsere Persönlichkeit anzu­ passen, weil wir glauben, daß die Dinge für unseren großarti­ gen Verstand zu einfach sind. Es genügt, wirklich ehrlich, wahrhaftig und aufrichtig sein zu wollen. Behaupten wir, es zu sein, dann urteilen wir. Wenn wir jedoch so sein wollen, bitten wir um Hilfe und wissen, daß Hilfe kommt. Die Menschheit wird schon immer inspi­ riert, von allem Anbeginn an wird sie auf ihr Ziel hin unter­ stützt. Es gibt einen Ort, der diese Eingebung widerhallen läßt, doch wir können nicht außerhalb unserer selbst danach suchen. In unserem Innern müssen wir suchen. Wir müssen den Ort finden. Dann müssen wir geben, geben, geben. Was können wir geben? Vertrauen und Beständigkeit. Unsere Arbeit besteht darin, jene zu finden und ihnen zu helfen, die noch nicht wissen, was Harmonie, was Einklang bedeutet. Wenn wir Wahrheit und Aufrichtigkeit darbieten, werden die es hören, die es hören wollen. Millionen von Men­ schen, überall auf der Welt, warten, verlangen nach Wahrheit. Sie fühlen sie, riechen sie. Sie werden kommen. Wir dürfen uns nicht durch die entmutigen lassen, die nicht kommen, denn wir haben kein Recht, jemandem irgendetwas einzure­ den. Wir müssen zu jedem tolerant und freundlich sein; dazu sind wir verpflichtet. Unsere wahres Werk geschieht mit Ge­ duld, Toleranz und Beständigkeit. Die Menschen kommen zu uns und hoffen, daß wir ihnen das sagen, was sie in ihrem Herzen bereits wissen. Lassen wir sie reden, sagen sie, was das ist und sehen es klar für sich selbst.

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Wenn wir ihnen unsere eigenen Vorstellungen darlegen, er­ zählen wir ihnen, was wir brauchen, nicht was sie brauchen, und sie sind enttäuscht. Der richtige Weg, ihnen zu helfen ist, ihnen zu sagen, was sie wollen, ihnen Vertrauen zu schenken, damit sie selbst herausfinden, was sie tun müssen. Wir werden niemals wissen, was die Menschen ausmacht, wenn wir nicht beobachten, was sie sagen. Wenn wir denken: »Ich muß ihnen zuhören«, werden wir es nie wissen. Denken wir: »Was wollen sie mir eigentlich sagen?«, dann werden wir es erfahren. Wir können so viel sagen mit nur einem Wort. Ein Wort hat viele Bedeutungen. Wir können Menschen mit einem Wort glücklich machen, und können sie mit einem Wort verletzen. Wir dürfen niemals einem Menschen sagen, was er wirklich ist — nur was er zu sein vorgibt, oder was er nicht ist. Nie­ mand kann unbefugt eingreifen; was ein Mensch im Innersten ist, ist heilig. Wir müssen auf eine Weise sprechen, die jeder verstehen kann. Wenn wir mit Menschen sprechen, müssen wir sehr schnell sein. Wir müssen ein Gespür dafür entwickeln, ob sie für das, was wir sagen wollen, bereit sind oder nicht, ob sie es in dem jeweiligen Augenblick annehmen können, oder ob es schaden würde, es zu sagen. Wenn wir etwas sagen wollen, müssen wir uns fragen: »Ist das ehrlich? Kenne ich wirklich seinen derzeitigen Gemütszustand?« Es mag aufrichtig sein, in einem harten Ton zu jemandem zu sprechen, spüren wir je­ doch, daß er es übelnehmen wird, sind wir nicht ehrlich, wenn wir solcherart zu ihm sprechen. Wollen wir anderen helfen und wissen gleichzeitig, daß es sie verwirren könnte, müssen wir uns selbst vergessen und ausschließlich um ihret­ willen mit ihnen reden. Es ist wahr, daß wir Böses mit Gutem vergelten sollen; aber dennoch müssen wir aufpassen, daß wir denen nicht zuviel geben, die uns Unrecht getan haben; denn wenn wir das tun, schaden wir ihnen, indem wir sie Glauben machen, es sei un-

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sere Pflicht, ihnen Gutes zu tun. Es ist keine Verpflichtung. Wir können jedem begegnen, doch das heißt nicht, daß wir jeden einladen müssen, in unserem Haus zu leben. Wir müs­ sen den Menschen mit reinem Gefühl helfen, doch das heißt nicht, daß wir nett sein sollen. Niemand wächst durch schein­ bare Freundlichkeit, denn sie macht die Menschen schwach. Wirkliche Freundlichkeit besteht darin, den Menschen einen Schubs nach oben zu geben. Sie mögen es Grobheit nennen. Wie oft schimpfen wir mit unseren Kindern, gehen dann weg und lachen. Doch was würde es ihnen nützen, wenn sie etwas falsch gemacht haben, sie glauben zu lassen, wir seien mit ih­ nen zufrieden? Das wäre keine wirkliche Freundlichkeit. Für sie war unser Schimpfen keine Freundlichkeit; von unserem Gesichtspunkt aus war es das, doch von ihrem aus nicht. Wir müssen ständig wachsam sein. Kann jemand ein mehr an Wissen nicht verdauen, ist es nutzlos, ihm mehr zu geben. Ist ein anderer Mensch hingegen hungrig, müssen wir ihm ge­ ben, was er braucht. Wenn wir jemandem eine Idee vermitteln wollen, müssen wir wissen, wie vorbereitet er ist. Wenn wir eine Saat aussäen wollen, müssen wir wissen, ob das Land fruchtbar ist oder nicht. Falls nicht, müssen wir es erst frucht­ bar machen. Wir sehen jemanden vorübergehen; wir müssen ihm Ver­ ständnis entgegenbringen. Es ist leicht, ihm Geld oder einen alten Mantel zu schenken. Das Bedürfnis, anderen zu helfen, wächst durch den Anblick ihrer Nöte. Sehen wir ihre Nöte wirklich, können wir uns nur noch danach sehnen, zu helfen. Wir müssen darauf hinarbeiten, uns auf andere einzustim­ men. Wenn wir uns den Worten anderer ganz überlassen, kön­ nen wir ihnen helfen. Wenn wir mit jemandem sprechen, müssen wir versuchen, ihm den Eindruck zu vermitteln, daß alles, was wir sagen, von ihm selbst kommt. Wir dürfen uns nie aufdrängen, nie fordern, nie zwingen. Haben wir das Ge­ fühl, daß etwas gebraucht wird und versuchen, es zu geben, ist

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das etwas anderes. Liebe ist die einzige Kraft, die Hilfe ver­ wirklichen kann. Die Menschen verstehen einander nicht. Sie sehen nicht, daß sie alle gleich sind: daß alle die gleichen Schwierigkeiten, Probleme, Krankheiten durchmachen. Niemand ist im ge­ ringsten besser, keiner auch nur ein bißchen schlechter. Wir alle müssen alles durchmachen. Wir sind alle gleichermaßen ausgewogen. Alles was wir geben, werden wir bekommen. So wie wir geben, so empfangen wir, in der gleichen Weise. Wenn wir andere achten, achten sie uns. Wenn wir andere verstehen, verstehen sie uns. Alles was wir geben, sammeln wir wieder ein: in gleicher Größe, gleicher Farbe, gleicher Güte. Wir müssen lernen, zu geben und zu nehmen. Es ist schwieriger, zu nehmen als zu geben, doch wir müssen lernen. Jede Beziehung sollte ein Handel sein. Lächeln wir jeman­ dem zu und er lächelt zurück, ist das ein Handel. Ebenso ver­ hält es sich mit der Aufrichtigkeit. Wir müssen bei diesen Handelsbeziehungen ehrlich sein; wir sollten sie sehr sorgfäl­ tig abwägen, doch wir tun es nicht, weil wir zuviel Zeit damit vergeuden, an uns selbst zu denken. Wir können helfen, wenn wir aufrichtig sind, wenn wir sagen, was wir wirklich wissen. Wissen wir mehr als andere, hilft es ihnen, wissen wir weni­ ger, hilft es ihnen ebenso. Helfen ist ein Kreislauf; wir können Menschen nur helfen, wenn sie uns helfen. Wir müssen alle ar­ beiten, mit Liebe arbeiten, mit Harmonie. Doch es muß wirk­ liche Harmonie sein, nicht nur Worte, wirklicher Einklang durch Handeln, nicht durch Predigen. Unseren Nächsten zu lieben ist leicht, doch unseren Nächsten dazu zu bringen, uns zu lieben, so zu handeln, daß er uns lieben kann, ist über­ haupt nicht leicht. Wir können erst geben, wenn wir haben. Einklang ist Frie­ den. Wir müssen Frieden fühlen, um ihn zu geben. Wir müs­ sen nicht nur auf geistig-seelische Weise arbeiten, sondern auf jegliche Art, die nottut. Wir müssen lieben, und zwar richtig

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und einfach. Es ist nicht genug, daß ein Mensch Liebe zeigt; viele müssen es tun. Und wie können wir etwas zeigen, das wir nicht haben? Aus diesem Grunde müssen wir uns selbst vergessen und geben. Wir dürfen nicht über uns selbst nach­ denken, darüber ob wir das Richtige sagen. Wir können uns den Menschen mehr öffnen, indem wir an sie denken. Wir müssen sie fühlen, spüren, was sie brauchen. Dort liegt der Universalschlüssel, der jeden öffnet: Güte, bloße Güte. Es ist nicht unser Fehler, wenn wir den Standpunkt anderer nicht verstehen, doch wir müssen ihn achten. Wir müssen zu jedermann gütig und tolerant sein. Das ist unsere Pflicht, un­ sere wirkliche Arbeit. Es gibt immer etwas Wahres, Gutes und Reines in jedem Menschen. Wir müssen es finden, doch nicht erzwingen. Wir müssen versuchen, es nach außen zu bringen. Die einzige Möglichkeit, das Gute im Menschen ans Licht zu bringen, ist, nicht an sich selbst zu denken. Wir müssen uns erinnern, daß unser Werk darin besteht, das Beste in allem ans Licht zu bringen. Sind wir positiv, kann alles, was uns umgibt, dazu benutzt werden. Wo gestritten wird, da sind Dummköpfe. Der Weise gibt sei­ ne Weisheit Stück für Stück, und wenn er nicht anerkannt wird, schweigt er. Wir müssen die Fehler unseres Nächsten billigen, um un­ sere eigenen Fehler anzunehmen. Eine Frau zum Beispiel, die die Fehler und Irrtümer ihres Mannes sieht, muß sie gestatten, weil sie in ihr selbst sind, in ihrer Einbildung. Vielleicht sind es gar keine Fehler, sondern etwas sehr Großes, das sie nicht versteht. Gott hat ihn ihr gegeben, damit sie durch alles ge­ meinsam gehen. Sind Fehler vorhanden, ist es nicht seine Schuld und auch nicht die ihre. Sie muß ihm helfen, hinaus ins Leben zu gehen, indem sie ihn annimmt wie er ist, mit al­ len seinen Mängeln, damit sie sich selbst annimmt wie sie ist. Wir müssen jeden bejahen, mit unserem Herzen annehmen. Villon sagt: »Das ist mein Königreich: Ich habe all meine

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Scham hinuntergeschluckt.« Er hatte sich selbst angenom­ men. Das ist die Pille des Schlauen. Das größte Glück liegt im Annehmen. Es bedeutet, so bescheiden zu sein, daß nichts, was gesagt wird, weder Kritik noch Lob, uns verletzen kann. Fähig zu sein, alles in Bescheidenheit anzunehmen, das ist das größte Glück. Wir müssen uns alles zu eigen machen. Ärgert sich ein Mann über seine Frau und sie macht seinen Ärger zu ihrem eigenen, nimmt ihn an, werden sie vertrauter miteinander. Zeigt er ihr Zuneigung und sie macht sich diese zu eigen, ge­ schieht das gleiche. Wir können nicht urteilen, denn wir wis­ sen nicht, was gut oder schlecht ist. Wenn wir uns alles zu eigen machen, was von anderen kommt, sind wir glücklich; niemand kann es uns wegnehmen, denn es ist unser, wir ha­ ben es uns zu eigen gemacht. Wir können dann alles tun, denn wir sind Gott nahe. Wir sollten niemals schlafen gehen, bevor wir nicht jedem vergeben haben, sogar unseren eigenen Versuchungen, sogar uns selbst. Wir müssen immer durch Vergebung gereinigt zu Bett gehen. Wenn wir sterben, werden wir nicht bei den Heili­ gen und Engeln sein, wir werden bei den Menschen sein, de­ nen wir vergeben haben, und die uns vergeben haben. Wo Ver­ gebung ist, da ist Liebe. Vergebung ist Bescheidenheit. Wo Bescheidenheit ist, da ist Liebe. Wo Liebe ist, gibt es kein Ver­ urteilen, weil wir fühlen, daß es nichts zu vergeben gibt. Reue und Liebe sind dasselbe. Reue ist wirkliche Liebe, oder besser: Liebe ist die Freude, Reue der Schmerz. Sind wir wirklich wach, fühlen wir Reue im Verhältnis zu dem Un­ recht, das wir anderen zugefügt haben; sie ist die Bezahlung. Wo Trennung ist, gibt es kein Wissen. Zivilisation entsteht, wenn Menschen sich verbinden, um zu sehen, was fehlt und es den gegenseitigen Bedürfnissen entsprechend beschaffen. Heute gibt es keine Zivilisation, denn die Menschen verbin­ den sich, um sich gegenseitig zu schaden.

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Handeln wir einer Rolle gemäß, verletzen wir niemanden. Wenn beispielsweise ein Maler beginnt, uns zu lehren, und sagt, es ist vorteilhaft, den Pinsel auf eine bestimmte Weise zu halten, und daß die Hauptlinien so und so verlaufen sollten, nimmt er eine Rolle für uns ein und wir sind durch nichts, was er sagt, verletzt. Später malen wir dann unser Bild selbst. Wenn wir miteinander reden und Ideen austauschen, ge­ schieht das, damit wir alle wachsen können. Bin ich im Un­ recht, sag es mir; bist du im Unrecht, laß uns auch darüber sprechen. Zwischen unseren falschen und unseren richtigen Ideen kommen wir der Wahrheit näher. Wir müssen lernen, Diskussionen nicht persönlich zu nehmen. Wenn wir mitein­ ander sprechen, müssen wir wie Schachspieler sein, auf Gele­ genheiten zum Lernen achten, darauf achten, welcher Zug uns am meisten lehrt. Wir müssen vermeiden, es auf uns zu beziehen und verletzt zu sein, sobald uns jemand nicht zu­ stimmt, denn wenn wir es sind, legen wir uns selbst Fesseln an, machen uns erdgebunden, irdisch. Sind wir beim Lernen wirklich positiv, fühlen wir uns viel besser, als wenn wir unse­ re Möglichkeiten zurückweisen. Wir haben vielleicht das Gefühl, daß wir jemandem nicht helfen, doch woher wissen wir, ob wir helfen oder nicht? Selbst wenn uns nichts einfällt, was wir sagen könnten, woher wissen wir, ob nicht unser Lächeln, die Ausstrahlung unseres Verlangens zu helfen, oder daß wir einfach aufmerksam zuhö­ ren, keine Hilfe ist? Es ist eine Hilfe. Wahrscheinlich helfen wir, wenn uns nichts mehr einfällt, wenn wir uns am hilflose­ sten fühlen, am meisten. Denn dann beten wir zu Unserem Herrn, daß er durch uns hilft. Wenn wir mit jemandem spre­ chen und nicht wissen, was wir sagen sollen, ist es nicht die Sprache in irgendeiner Hinsicht, die wichtig ist; es ist nicht einmal die Erfahrung dessen, was er denkt oder wie er lebt, sondern nur die wirklichen Gefühle, die wir für ihn hegen, die zählen. Ergebnisse kommen zustande, sobald wir offen ge-

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wesen sind und unser wirkliches Selbst gegeben haben. Wenn wir eine gewaltige Sehnsucht gefühlt haben, anderen zu hel­ fen, egal wie, und uns dann selbst vergessen haben, erzählen sie uns später vielleicht, daß ihnen geholfen wurde, obwohl wir uns nicht daran erinnern können, was wir sagten und das Gefühl haben, wir hätten nichts getan. Selbst wenn wir je­ manden nicht verstehen aber denken: »Dieser Mensch braucht etwas, was kann ich ihm geben?«, haben wir ihm schon Liebe gegeben. Und es gibt nichts, was wirkliche Liebe nicht heilen könnte. Wir können nicht sagen, was die Men­ schen brauchen. Wir können nicht wissen, wie wir ihnen hel­ fen können. Doch wenn wir Positivität geben, helfen wir auf eine Art, die wir selbst niemals erkennen werden. Wir können materielle Dinge anhäufen, aber Liebe können wir nicht sammeln. Jedesmal wenn wir sie bekommen, müs­ sen wir sie wieder abgeben. Viele sagen, sie sind es leid, zu ge­ ben. Wir alle wollen bekommen. Wir sagen alle, daß wir gege­ ben und nichts bekommen haben, anstatt zu sagen, daß wir erhalten haben und daher geben müssen. In der Harmonie gibt es keine Unzufriedenheit. Einklang ist vollkommene Freiheit. Wirkliche Freiheit ist wirkliche Liebe. Liebe ist Un­ gebundenheit. Wenn wir fordern, lieben wir nicht. Im wirkli­ chen Werk verlangt niemand etwas für sich selbst. Sei immer auf der Hut vor denjenigen, die etwas für sich selbst fordern, ganz gleich, was für Gründe sie anführen. In dieser Welt kann niemand vollkommen selbstlos sein, doch wenn wir wirklich stark, wirklich wir selbst sind und andern helfen, sind wir der Selbstlosigkeit nahe. Nichts wird von uns allein getan; andere helfen uns bei al­ lem, was wir tun. Sobald wir verstehen, daß wir anderen hel­ fen, anderen Menschen etwas geben müssen, sind wir sicher, denn wir tragen bereits den Stempel dessen, was wir sein müs­ sen. Das Göttliche in uns strebt danach, zu dem zu werden, was seine Bestimmung ist. Das Göttliche in uns verwirklicht

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sich in dem Wunsch, andern zu helfen. Und das ist Liebe.

1 Siehe das Buch von Maurice Nicoll Vom Neuen Menschen, das den Untertitel trägt Die Deutung einiger Gleichnisse und Wunder Christi. (Anm. d. Übersetzers)

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IV

ichts gehört uns außer der Liebe Gottes. Wenn wir sie besitzen, haben wir sie dadurch gewonnen, daß wir unseren Nächsten lieben. Alles andere ist uns geliehen, damit wir es für andere nutzen. Selbst die Nahrung, die wir zu uns nehmen, dient dazu, unser Blut zu bilden, um in Verbindung mit Sauerstoff die Ausstrahlungen hervorzu­ bringen, die auf andere wirken. Aus diesem Grunde müssen wir unsere Sachen pflegen, damit sie zur Verfügung stehen, wenn ein anderer sie braucht. Wir werden über alles, was wir vernachlässigt haben, Rechenschaft ablegen müssen. Wir ha­ ben die Pflicht, von anderen zu fordern, daß sie unsere Sachen genauso achten, wie wir es tun. Wenn wir unser Haus mit den Worten: »Das ist mein Haus« für uns einrichten, wird es nicht auf die rechte Weise einge­ richtet. Erinnern wir uns jedoch an unsere Verantwortung, daß wir etwas auszustrahlen, etwas zu geben haben durch den Eindruck, den unser Haus auf jene macht, die es betreten, dann wird unser Haus mit gutem Geschmack eingerichtet sein. Wir müssen alles miteinander verbinden. Wenn wir wollen, daß unser Haus in Einklang ist, müssen wir die Dinge, die dar­ in sind, mit ihrem Zweck und mit ihrer Umgebung ver­ binden. Der Schlüssel zu allem, was wir tun, besteht darin, Auf­ merksamkeit auf die Absicht zu legen. Dann wird die kleinste Nebensache richtig sein, sowohl in Bezug auf unsere stoffli­ che Umgebung als auch auf unsere Handlungen. Dann wer­ den wir nie etwas tun, um Eindruck zu machen. »Laß deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut«, bedeutet, daß wir, wenn wir etwas Gutes tun, es um des Guten willen tun sollen und nicht, damit die Leute sagen könnten, daß wir gut sind.

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Alles muß von Herzen, aufrichtig, getan werden. Denn Gott kennt alles Verborgene und allein von Ihm erhalten wir un­ sere Vergeltung. Tun wir etwas Gutes und erzählen davon, ha­ ben wir es verloren; jeder könnte es getan haben und wir ern­ ten keinen Lohn. Wenn wir versuchen, etwas für uns selbst zu behalten, verlieren wir es. Das gilt für alles, einschließlich Geld. Wir haben nur Geld, sofern wir es ausgeben, denn Geld an sich ist wertlos. Doch es muß auf kluge Weise ausgegeben werden. Wir haben kein Recht, es zu vergeuden, denn unser Geld gehört uns nicht mehr als alles andere. Gehören wir wirklich zu diesem Werk, tun wir nichts für uns selbst und nichts gehört uns. Alles was wir haben, gehört Gott, dem Werk Gottes. Sobald wir das wissen, sind wir frei. Freiheit bedeutet, Gott zu gehören. Wenn wir unseren Körper waschen, tun wir das nicht für uns selbst; wir tun es, weil unsere Werkzeuge für das Werk Gottes reingehalten werden müssen. Wir müssen unsere Kör­ per biologisch sauber halten, und auch das ist nicht für uns selbst, sondern für das Werk Gottes, denn unser Körper ge­ hört Gott. Wir sollten uns um unseren Körper kümmern, uns daran erinnern, daß er heilig ist, daß er Gott dienen möge. Hat man eine Krankheit, ist man verpflichtet, zu versuchen, sie zu heilen und wenn sie nicht geheilt wird, sie zu anzu­ nehmen. Askese kann von unterschiedlicher Art sein; sie kann ein Opfer sein, das in reiner Absicht Gott dargebracht wird, oder sie kann aus einem Selbsthaß kommen, der ein Laster dar­ stellt. Es gibt ohnehin so viel Leid in dieser Welt, das getilgt werden muß, daß es von Unausgewogenheit zeugt, zu wün­ schen, Leid für sich selbst zu schaffen. Es gibt negatives und positives Leiden. Positives Leiden besteht darin, das mechani­ sche Leiden anderer zu tilgen, es so wirkungsvoll auf sich zu nehmen, daß sie davon frei sind. Negatives Leiden bringt in der einen oder anderen Form weiteres Leiden durch andere

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mit sich und ist immer die Folge von psychologischem Schlaf. Positives Leiden setzt eine Bewußtseinsstufe voraus, auf der es kein negatives Leiden geben kann. Schmerz liegt zwischen ne­ gativem und positivem Leiden und kann von beiden getilgt werden. »Laß alles zurück und folge mir nach!« bedeutet nicht, daß wir unseren Körper vernachlässigen sollen. Wir müssen guten Gebrauch von ihm machen, doch nicht vergessen, daß wir ihn verlassen müssen. Der Körper wird uns zu Gott führen oder uns daran hindern, zu Ihm zu gehen, je nachdem, welchen Gebrauch wir von ihm machen. Menschen, die freiwillig Schmerz erdulden, tun dies, um dem stofflichen Körper den Platz zuzuweisen, der ihm geziemt, und über ihn erhaben zu sein. Um den Schmerz ertragen zu können, müssen sie sich auf einer höheren Seinsstufe befinden. Freiheit bedeutet, den Körper dem Geist gehorsam zu machen. Gott mißfällt es nicht, wenn wir versuchen, Wohltaten für den Körper zu er­ langen, solange diese Wohltaten in den Dienst des Geistes ge­ stellt werden. Opfern bedeutet nicht, etwas, das man mag, aufzugeben, um Gott zu gefallen; es bedeutet, das Falsche loszuwerden. Der Grund, warum viele Menschen von der Idee des Opfers fasziniert sind, liegt darin, daß sie es mit mechanischem Lei­ den verwechseln, das zu opfern sie nicht bereit sind. Sie müß­ ten zugeben, daß es nichts Löbliches ist, sondern im Gegenteil lediglich das Ergebnis von Schlaf. Wie wenig wir an den Tod denken, oder daran, was nach dem Tode mit uns geschieht.1 Wir wissen sehr wohl, daß wir diesen Körper nicht mitnehmen werden, also sollten wir an den Teil von uns denken, der nach dem Tode fortwährt. Unser Körper ist ein nicht annähernd so wichtiger Teil von uns wie unsere Seele, dennoch achten wir darauf, unseren Körper zu ernähren. Wenn wir unseren Körper nähren, der, wenn wir sterben, doch nur den Würmern zum Fraße dient, wieviel

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mehr sollten wir unsere Seele nähren, um sie zu befähigen, stark zu sein, wenn sie den Körper verläßt. Alles Wirkliche fängt mit etwas Wirklichem an, doch die Einbildung verfälscht die Wirklichkeit. Einbildung spielt im stofflichen Körper eine sehr wichtige Rolle. Wenn wir uns vorstellen, daß wir müde sind, sind wir müde. Wir dürfen nicht vergessen, welche Rolle der Verstand für die Handlun­ gen des stofflichen Körpers spielt, besonders beim Sex. Wir sollten nicht wirkliche Gefühle mit eingebildeten Gefühlen verwechseln. Oft studiert man etwas und fügt dann dem, was man gelernt hat, Einbildung hinzu. Hat jemand längere Zeit wirklich dar­ an geglaubt, einmal eine lebendige Puppe zu sehen, dann wird er sie eines Tages sehen. Wenn wir voreingenommen sind, uns bereits vorgestellt haben, was wir sehen werden, dann können wir nicht offen sein. Wir müssen offen sein, sonst hält unsere Einbildung unsere vorgefaßten Meinungen und Vorurteile wie einen Vorhang um uns herum. Sie haften an uns, und wir sehen unsere Einbildungen und sind niemals in der Lage, wirkliche Dinge zu sehen. Es gibt drei Arten, sich im Geist etwas vorzustellen: die ne­ gative, die mechanische und die positive. Negatives Sich-Vorstellen ist Tagträumen von etwas, das keine Möglichkeit in sich birgt, Wirklichkeit zu werden. Mechanisches Sich-Vorstellen besteht darin, sich ein Bild von etwas Automatischem zu machen, das wir tun wollen, wie z.B. Autofahren. Würden wir es uns nicht zuerst vorstellen, könnten wir es nicht tun; wir können keine absichtliche Bewegung vollführen, wenn wir sie uns nicht zuerst vorgestellt haben. Positives Sich-Vorstellen ist schöpferisch, wenn z. B. ein Maler sich das Bild vor­ stellt, das er malen möchte — und es malt. Malt er es nicht, hat er Tagträume gesponnen und seine geistige Vorstellung war negativ. Wir können unsere Gefühle beherrschen, indem wir Dinge

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miteinander verbinden. Wir können unsere Lebensumstände gestalten, und Gefühle stellen sich durch die Verbindung mit Umständen ein. Viele unserer Gefühle werden von uns selbst hervorgebracht durch die Auswahl dessen, worüber wir uns Gedanken machen. Es gibt ständig viele Arten von Gefühlen in uns; welche wir davon anerkennen, welche wir bestärken, liegt ganz bei uns. Wir dürfen nicht durch Lachen vergeuden, was wir durch Tränen erworben haben. Es ist schwierig, etwas Allgemeines über Gefühle zu sagen, denn sie hängen von der Empfindsamkeit des einzelnen ab. Es gibt Menschen, die können ihre Finger verbrennen und spü­ ren nichts; andere müssen nur das Wort Feuer hören und füh­ len sich schon verbrannt. Viele Gefühle werden durch Einbil­ dung hervorgerufen. Gefühle sind Funktionen. Ist das Organ sauber, ist die Funktion sauber. Das Organ ist das Behältnis für etwas, das von oben gegeben wird. »Ich« ist ein heiliges Wort. Gewöhnlich meinen wir damit »Wir«: eine ganze Reihe »Ichs«. Wir müssen lernen, sie in Fä­ cher zu legen. Ein »Ich« fühlt etwas; wenn wir uns sagen: »Dieses Ich fühlt jetzt so und so«, legen wir es gleichsam in sein Fach. Fühlt ein anderes »Ich« etwas anderes, legen wir es in sein Fach. Spricht jemand ständig von seinem »Ich«, wächst er nicht. Mit »Ich habe dies gesagt«, »Ich habe das und das ge­ zeigt«, »Ich habe jenes getan«, wachsen wir nie. Wenn ein Was­ sertropfen ins Meer fällt, ist es dann der Tropfen, nach dem das Meer, oder das Meer, nach dem der Wassertropfen be­ nannt wird? Eitelkeit ist negativ. Wenn wir etwas, das wir getan haben, als positiv ansehen und bilden uns darauf etwas ein, geht die Positivität verloren. Sehen wir hingegen, daß wir etwas Positives getan haben und denken sofort daran, es für andere zu nutzen, wandeln wir es weiter in Positivität um. Wenn wir versuchen, etwas für für uns selbst, für unser eigenes Vergnügen oder unse­ re Eitelkeit zu tun — sagen wir, etwas zu schreiben —, geht un-

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vermeidlich etwas schief, stimmt etwas damit nicht. Versuchen wir hingegen, etwas anderen zuliebe zu tun, etwas aufschrei­ ben, damit es für andere zur Verfügung steht, dann sind wir of­ fen und bekommen Hilfe. Jedesmal wenn wir etwas Gutes tun, sollten wir uns fragen, warum. Tun wir etwas Unrechtes, wissen wir es. Wenn wir et­ was Gutes tun, dann müssen wir aufpassen, denn oft tun wir etwas, das gut zu sein scheint, aus Selbstgerechtigkeit und Ei­ gendünkel heraus. Wir können alles mit oder ohne Hochmut tun. In der Anerkennung unserer Verantwortung anderen ge­ genüber kann Hochmut liegen. Selbst wenn wir für Geld ar­ beiten, das nicht für uns, sondern für andere ist, kann es aus Hochmut sein. Viele Leute mit Geld sind nicht echt; sie wol­ len sich als etwas darstellen, das sie nicht sind. Ihr Inneres paßt nicht zu ihren Lebensumständen. Sie sind unterwegs, können jedoch nichts finden, weil sie nicht allein sein können. Wir be­ merken nichts von dem, was um uns herum vorgeht, wenn wir uns auf den Lorbeeren unseres Dünkels ausruhen. Wir al­ le fühlen uns bisweilen sehr einsam — aus bloßem Hochmut. Denn in nichts sind wir allein. Würden wir andere lieben und verstehen, fühlten wir uns niemals einsam. Wir nehmen uns selbst sehr wichtig. Wir denken: »Ich will«. Hätten wir ein Gefühl für unsere wirkliche Lage, wür­ den die Dinge zu uns kommen. Wir sollten sie geschehen las­ sen und nicht versuchen, sie in den Griff zu bekommen. Wenn wir uns selbst vergessen, kommen die Dinge zu uns. Selbst-Überhebung bindet uns ständig, behindert uns in al­ lem. Wir müssen die Ketten unseres Überheblichkeit spren­ gen. Wer sich selbst wichtig nimmt, ist unwichtig; wer sich selbst für völlig unwichtig hält, beginnt, an Wichtigkeit zu ge­ winnen. Wir sollten niemals daran denken, daß wir »Klaus« oder »Hans« sind, sondern nur, daß wir »wir« sind. Dann wer­ den wir niemals verwirrt sein, denn Verwirrung ist falsche Persönlichkeit. Wir sollten darauf achten, niemals verwirrt zu

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sein, denn es ist Eigendünkel. Es ist Einbildung und alte Ge­ wohnheit. Die meisten unserer Ängste kommen aus Eigendünkel. Wir haben Angst, daß andere uns dumm finden, daß sie mehr ver­ stehen als wir. Wir können alles verstehen, sofern wir gewillt sind, uns zu bemühen. Jeder hat ein inneres Bild von sich selbst. Wenn wir uns auf einem Foto oder im Spiegel betrachten, sagen wir: »In Wirk­ lichkeit bin ich aber besser!« Wir nehmen uns selbst sehr wichtig. Würden wir uns selbst ein wenig vergessen, hätten wir einiges an Wissen. Sorge ist das schlimmste Vorurteil, das wir haben, denn sie kommt aus Hochmut. Mißmut ist eine Mischung aus Hoch­ mut und Einbildung. Die Umstände verdrießen uns, weil wir uns ihnen nicht gewachsen fühlen. Wir werden verdrießlich, wenn wir keine Anstrengung machen wollen, es mit ihnen aufzunehmen. Hochmut ist unser schlimmster Feind. Hochmut kümmert sich in keiner Weise um die Sache selbst, sondern nur um die Wirkung, die sie auf andere hat. Sobald wir aufhören, an uns selbst zu denken, an den Eindruck, den wir machen, sind wir frei. Wenn wir an andere denken, nicht an uns, kommt der Rest von selbst. Wenn wir lernen, auf andere zu hören und uns selbst zu vergessen, sind wir bereits etwas. Wir glauben, uns selbst zu vergessen heißt, etwas Angenehmes aufzugeben. Wir erkennen nicht, daß es bedeutet, in einen neuen Glückszu­ stand einzutreten. Alle sind im Grunde gleich. Wir haben alle die gleichen Probleme; sie entstammen sämtlich dem Hochmut her. Wir kennen die Ursache, doch vielen ist sie nicht bekannt. Sie ha­ ben das Gefühl, daß die Illusion wirklich und wahr ist, und wir wissen, daß es nicht stimmt. Toleranz vernichtet Hochmut. Toleranz heißt nicht, Dinge gutzuheißen, die uns falsch zu sein scheinen. Es bedeutet viel-

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mehr, nicht mechanisch auf sie zu reagieren. Wenn wir uns al­ lem in uns stellen und nichts rechtfertigen, sind wir tolerant. Wenn wir etwas rechtfertigen, reagieren wir mechanisch auf unangenehme Dinge, die wir in uns sehen. Über Mystik zu sprechen, um Eindruck zu machen, zu sprechen um des Sprechens willen, ist genauso schlimm wie Prostitution. Wir sollten uns täglich fragen, warum wir hier sind, warum wir diese Verantwortung bekommen haben, wa­ rum wir zusammenfinden, warum wir so stark miteinander verbunden sind. Es ist eine Gnade, daß wir zusammen sind, daß wir am Werk teilnehmen, dem Werk der Werke. Das Werk ist in jedem einzelnen von uns, in ihm. Viele Menschen glauben, sie nehmen am Werk teil, die es garnicht verstehen. Andere, die angeblich nicht am Werk beteiligt sind, waren schon immer darin. Wir sind noch nicht am Werk beteiligt; wir haben noch nicht angefangen. Viele Menschen nehmen am Werk teil, doch sie sind unsichtbar. Wenn jemand wirklich und wahrhaft am Werk teilnimmt, ist er unsichtbar. Wir können das Gegenteil von Eigendünkel verstehen, wenn wir an den Vorgang des Tabakmischens denken. Eine Mischung hat ein besseres Aroma als irgendeine ihrer Zuta­ ten. Jede einzelne verliert ihr eigenes besonderes Aroma und erwirbt das bessere Aroma des Ganzen. Wenn wir das wirk­ lich verstehen, verspüren wir vielleicht einen stechenden Schmerz bei der Erkenntnis, daß unser »Ich« sterben muß, da­ mit das größere Ich, das im »Wir« enthalten ist, geboren wer­ den kann. Nur unser Einsichtsvermögen kann uns sagen, daß dies völlig erstrebenswert ist, daß nichts Wirkliches verloren­ geht, daß im Gegenteil Illusionen und Einbildungen uns da­ von abhalten, ein viel größeres Glück zu erfahren, als es unse­ ren vielen und unbedeutenden »Ichs« möglich ist. Das größte Glück, das wir auf dieser Erde erfahren können, kommt aus der Bescheidenheit, die so vollkommen ist, daß nichts, was zu uns oder über uns gesagt wird, uns veranlassen kann, entwe-

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der mit Freude oder mit Schmerz darauf zu reagieren. Neh­ men wir alles, was auf uns zukommt, als eine Gelegenheit zum Lernen an, als Gelegenheit, positiv zu sein, dann sind wir wirklich glücklich. Sobald dieser Grad von Bescheidenheit er­ reicht ist, gibt es kein »Ich will« mehr, sondern nur noch »Wir sind«. Das ist Selbsterinnern. Selig sind, die reinen Herzens sind; selig sind die Bescheide­ nen; selig sind, die Gottes Wort verkünden; selig sind, die im Namen des Herrn vereint sind; selig sind, die Ängste und Ei­ gendünkel hinter sich lassen.

1 Siehe dazu das faszinierende Buch Rodney Collins Vom Ewigen Leben. (Anmerkung des Übersetzers).

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eligion ist eine Tugend, die uns Unserem Herrn nahe­ bringen soll; eine Wissenschaft, um den Willen zu stärken. Sie ist eine Wissenschaft von vielen Dingen. Sie ist Liebe, sie ist Selbst-Erinnern. Sie ist die Fähigkeit, von außen nach innen zu sehen. Religion ist kein Wort, das wir in unserer Einbildung verstehen können; wir müssen sie aus­ üben, indem wir die Menschen lieben. Wir müssen unsere Einbildung ablegen und Religion ausüben, indem wir ehr­ lich, wahrhaftig und aufrichtig sind. Religion ist die Verbindung mit Gott durch Ethik. Unser Gewissen gebietet uns, andere nicht zu verletzen. Das ist Reli­ gion. Wir mögen nicht von Gott reden, doch wenn wir nach den Grundsätzen der Ethik leben, sind wir religiös. Harmo­ nie und Schönheit gehen durch Geschmack in Ethik über. Geschmack kann mit Hilfe von Aufmerksamkeit und Wis­ sen entwickelt werden. Viele Umstände können Geschmack erzeugen. Ein Mensch mit gutem Geschmack wird niemals sündigen. Sobald wir Geschmack besitzen, wollen wir lernen und mit Hilfe des Höchsten zur Vollendung gelangen. Wir weisen allen Dingen ihren genauen Wert zu — wir sehen die Dinge, wie sie sind. Wir lernen maßhalten. Wir mäßigen un­ sere Worte und haben Geschmack, denn wir verdammen nicht. Wenn wir Geschmack haben, leben wir außerhalb un­ serer selbst und sehen, hören, spüren alles. Wir leben wirk­ lich. Wir befinden uns nicht mehr in der Einbildung, weil es keine Übertreibung mehr gibt. Wir sind ausgeglichen. Je besser unser Geschmack ist, desto ausgeprägter ist unser Gewissen. Gewissen ist eine Fähigkeit, die jeder besitzt, doch wir müssen erkennen, daß es unentwickelte Gewissen gibt. Wenn wir spüren, daß etwas ehrlich ist, sollten wir es tun. Was

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vor einem Monat ehrlich war, ist heute vielleicht unehrlich, denn unser Gewissen entwickelt sich. Gewissen ist die wert­ vollste Fähigkeit, die wir besitzen. Jeder hat das gleiche Ge­ wissen doch in manchen ist es weiter entwickelt als in ande­ ren. Zum Beispiel mag einer denken, es sei unehrlich, um eine Mark zu betrügen, aber nicht um einen Groschen; für einen anderen mag es unehrlich sein, um einen Pfennig zu betrügen, denn sein Gewissen ist weiter entwickelt. Der einzige Weg, unser Gewissen zu entwickeln, ist durch Weisheit. Verstehen ist wie Licht; es ist ein sehr großes Wort: es bedeutet Wissen, Toleranz, Gewissen, Weisheit. Weisheit bedeutet zu verstehen, wie man Umstände so ver­ ändert, daß sie nützlich sind. Ihnen die Stirn zu bieten, ihnen mit allem, was in uns ist, mit beiden Augen, ins Angesicht zu sehen, läßt uns wachsen. Gewöhnlich sehen wir die Dinge nur mit einem Auge; Vorurteile lassen uns das andere ver­ schließen. Wir sind sauberer, wenn wir Versuchungen ausgesetzt sind. Wenn wir bemerken, daß unsere Hände schmutzig sind, wa­ schen wir sie; sie sind dann sauberer als vorher. Keiner wird jemals von Versuchungen verschont. Ein Mensch erreicht die Stufe des Göttlichen durch die Kraft der menschlichen Welt. Gesegnet sind die Versuchungen, denn sie machen uns stark. Wir sollten unseren Verantwortungen ins Gesicht sehen, unsere Verantwortungen auf uns nehmen. Verantwortung ist wie eine Schnur, von der wir nur den mittleren Teil sehen können; die beiden Enden sind außer Sichtweite. Der Mensch, der in kleinen Dingen zuverlässig ist, ist es auch in großen Dingen. Verspricht jemand, einen Brief für dich ein­ zuwerfen und er tut es nicht, ganz gleich aus welchem Grund, dann hat er sich für Verantwortung jeglicher Art als untaug­ lich erwiesen. Wenn man uns nicht einmal die kleinen Dinge dieser Welt anvertrauen kann, wie kann man uns die himmli­ schen Schätze anvertrauen?

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Eines der wichtigsten Dinge für uns ist innere Festigkeit. Wären wir durchweg gut, könnten wir als Werkzeuge einge­ setzt werden; wären wir durchweg schlecht, gäbe es für uns ebenfalls — auf andere Art — Verwendung. Doch wir sind un­ zuverlässig. Wir können anderen nützlich sein, wenn wir es verstehen, klar zu sagen, was wir denken. Ein Mensch, der sich klar auszudrücken vermag, denkt klar. Jemand, der klar denkt, handelt folgerichtig. Wenn die Menschen sagen, sie fühlten etwas, können aber nicht ausdrücken, was sie fühlen, dann fühlen sie nichts, sondern identifizieren sich damit. Wir müssen unter allen Bedingungen das Rechte tun. Wir müssen unser Bestes tun. Wenn wir das Rechte tun, sollten wir uns niemals verletzt fühlen. Wenn wir nicht das Rechte tun, wenn wir nicht das Werk Unseres Herrn verrichten, dann sollten wir uns verletzt fühlen. Wir dürfen uns nicht einbil­ den, verletzt zu sein, wenn wir es nicht sind. Laß das Kleine klein sein und das Große groß. Wir dürfen nichts Gutes tun, das schlecht aussieht und nichts Unrechtes, das richtig aussieht. Wir müssen alles versu­ chen: denken, hinnehmen, für uns selbst denken, für uns selbst ermessen, beseitigen, was wir nicht für richtig halten. Bewußtsein und Gewissen sind dasselbe. Bewußtsein ist Gewahrsein unserer Umgebung und unserer selbst in ihr. Ge­ wissen ist Gewahrsein der Wirkungen unserer Handlungen auf unsere Umgebung. Es ist Achtsamkeit hinsichtlich Rich­ tig und Falsch. Achtsamkeit und Gewahrsein bedeuten beide Wach-Sein, Sich-Seiner-Selbst-Erinnern. Gewissen ist Acht­ samkeit des Geistes, der drei Teile des Geistes, die in uns zu­ sammenkommen und das Bewußtsein ausmachen. Gewissen ist unbestechlich, es ist das Beste, was wir haben. Es ist das Fortbestehen dieses Lebens in die Ewigkeit hinein. Es bedeu­ tet denken, entwerfen. Wir sind nicht hier, um auf der stoffli­ chen Ebene etwas zu tun; wir müssen unseren Geist ent­ wickeln. Das läßt uns geistig-seelisch wachsen. Wir müssen

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unseren Geist entwickeln, denn je entwickelter der Geist, de­ sto entwickelter das Gewissen. Wenn wir unseren Geist be­ nutzen, gibt es nichts in dieser Welt, das wir nicht verstehen können — sofern wir den Willen besitzen, es zu entdecken. Wir haben ein Gewissen und einen Willen. Das Gewissen kann uns gebieten, dies oder jenes nicht zu tun, doch ohne Willen können wir ihm nicht gehorchen. Der Wille führt das Gewissen in das Denken ein. So wie wir sind, ist das, was wir tun, vorherbestimmt, doch wenn wir Willen erlangen, ist un­ ser Tun nicht mehr vorherbestimmt. Unsere Körperbewe­ gungen sind vorherbestimmt; wenn wir gehen, ist vorherbe­ stimmt, daß wir einen Fuß vor den anderen setzen. Wenn wir uns setzen wollen, ist es vorherbestimmt, daß wir die Knie beugen. Wenn wir schmutzig sind, ist es vorherbestimmt, daß wir solange schmutzig bleiben, bis wir uns die Mühe geben, sauber zu werden und vorherbestimmen, sauber zu sein. Wir regeln unseren Atem mit einem sauberen Geist. Ist unser Ge­ wissen verschmutzt, sind wir gestört und unser Atem wird gestört. Das Gewissen ist die Stimme des Geistigen in uns. Das Er­ kennen des Gewissens geschieht in der Seele. Der Körper kann das Gewissen nicht erkennen, weil er stofflich ist. Die Brücke zwischen Gewissen und Körper ist Erkenntnis, Seele. Die Seele stimmt zu, schaut. Wenn wir etwas Schönes sehen und dessen inne werden, ist die Seele am Werk. Das ist SelbstErinnern. Es ist notwendig, immer die Verbindung zwischen dem Geistigen in uns und dem Körper herzustellen, sonst exi­ stieren wir nur, ohne zu sein. Der erste Schritt besteht darin, zu wissen, daß wir sind, daß wir einen Geist haben. Der zweite besteht darin, ein Gewis­ sen zu haben, das Gewissen anzuerkennen. Der dritte ist, un­ ser Ziel zu kennen. Der vierte besteht darin, uns selbst zu ken­ nen und bescheiden zu sein. Das ist wirkliches Selbst-Erinnern. Zuerst können wir geführt werden, doch nach dem

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ersten oder zweiten Schritt müssen wir selbst entscheiden, ob wir auf- oder absteigen wollen. Denn Gott hat uns den freien Willen gegeben und sogar Er Selbst kann uns nicht zwingen, in eine bestimmte Richtung zu gehen. Wir müssen selbst ent­ scheiden. Wir müssen ständig Entscheidungen treffen, weil es uns an Willen mangelt und wir keinen beständigen inneren Schwerpunkt besitzen. Unsere Möglichkeiten sind unser größtes Anlagevermögen. Damit sie verwirklicht werden, dürfen wir unsere Schwächen nicht verstärken. Jede willenlose Handlung ist negativ. Es gibt nur einen Wil­ len; er ist wie ein Licht, dem wir immer folgen müssen; er muß beständig pulsieren. Wir erschaffen ihn, indem wir ihn wollen. Wille ist wesentlich für jeden. Ohne ihn können wir nirgendwo hin gelangen. Mit Willen können wir uns zum Sein bringen. Niemand außer uns selbst kann uns Willen ge­ ben. Da Gott uns den freien Willen geschenkt hat, kann selbst Er nichts daran tun. Freier Wille bedeutet die Fähigkeit, zu wählen, ob wir das bißchen Willen, das wir besitzen, ausüben oder nicht. Geist und Körper gehören uns nicht, doch die See­ le ist unser, denn sie ist Wille. Das einzige, was uns wirklich gehört, ist unser Wille. Jeder Mensch hat einen Willen, obgleich wir denken mö­ gen, wir haben keinen. Eine Handlung wird aus einem der beiden Gründe zu Ende geführt: Entweder ist der Antrieb, der sie in Gang brachte, groß genug, um sie zu Ende zu führen, oder wir besitzen genügend Willensstärke, dies zu tun. Wir vollenden ständig Handlungen durch den uns eigenen Wil­ len, doch sie sind so klein und unbedeutend im Vergleich zu den Handlungen, die durch die Stärke des ursprünglichen Antriebs vollendet werden, daß wir sie nicht bemerken. Au­ ßerdem sind wir viel eher geneigt, von den Fällen Notiz zu nehmen, in denen unser Wille nicht stark genug war, eine Handlung zu vollenden, als von den Fällen, in denen er dazu stark genug war.

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Wille ist das stärkste, was es gibt — der echte Wille. Wir kön­ nen nicht vollkommen sein; das ist unmöglich. Doch wir müssen stark sein. Wir besitzen den Schlüssel dazu: Ehrlich­ keit, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit. Der Weg zum lebendig-sein besteht darin, anderen zu hel­ fen, lebendig zu sein. Wenn wir uns selbst vergessen, um ande­ ren zu helfen, besitzen wir Aufmerksamkeit. Aufmerksam­ keit erfordert Willen. Wir selbst und der Gegenstand unserer Aufmerksamkeit sind zwei Umstände, Wille ist der dritte. Treffen diese drei Umstände zusammen, dann ergibt sich dar­ aus, daß wir lebendiger sind, daß wir Sein haben, wir selbst sind. Wir können unser Sein durch die Angewohnheit des Mechanisch-Seins verlieren. Wenn der Wille am Körper haftet, vermindert sich unser Sein. Der Wille muß unserem Sein ge­ horchen und nicht dem Körper. Handeln wir vom Sein her, dann handeln wir richtig, kommen unsere »Ichs« jedoch da­ zwischen, haben wir nicht recht. Wir können unseren We­ senskern wachsen lassen und unser Sein entwickeln. Wenn wir Sein haben, haben wir eine Seele, denn mit Sein besitzen wir Willen. Es ist das Werk des Willens, den Wesenskern zum Sein gelangen zu lassen. Durch Willen können wir ein größe­ res Sein entwickeln, als das, mit dem wir zur Welt kamen. Wir nähren die Saat des Wesenskerns mit kleinen Wünschen, bis sie zur Sehnsucht werden. Was auch immer wir wollen, das bekommen wir. Wollen wir wirklich rein sein, dann sind wir es, noch im gleichen Augenblick. Wir haben sämtliche Möglichkeiten. Alles ist da, wenn wir es aus unserer wirklichen Mitte heraus wollen — nicht aus der rechten oder der linken Hälfte, sondern aus unserer wirkli­ chen Mitte. Mit Willen vermögen wir alles. Wenn wir Willen besitzen, erfahren wir Gnade. Wir können alles aus eigener Kraft tun, durch Anstrengung. Natürlich nicht auf einer stofflichen Ebene; wenn wir beispielsweise nicht essen, haben

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wir keine Kraft im Geist. Das Wort »schwierig« sollte es in unserem Wortschatz nicht geben. Es bringt unverzüglich die Einbildung ins Spiel und begrenzt uns. Nichts ist schwierig. Für den Menschen gibt es nichts Schwieriges. In uns stecken alle Möglichkeiten, nur sagen wir: »Oh nein, das ist unmöglich!« Um Wandlung zu er­ fahren, müssen wir aufhören, »aber« zu denken. So viele Din­ ge in unserem Leben sind »aber — aber — aber«. Wenn wir auf­ hören, »aber« zu sagen, sind wir wir selbst. Wir müssen willentlich versuchen, mehr Willen zu sam­ meln. Wir dürfen uns nicht nur Sorgen darum machen. Durch Sorgen beschränken wir uns. Wir selbst sind es, die uns beschränken. Wir sind alle in der gleichen Lage. Sich-sorgen hilft nichts; es bedeutet, daß wir unsicher sind. Daraus kann nichts Richtiges hervorgehen, denn es verschließt unsere Sinneswahrnehmungen. Übertriebenes Sorgen schafft Unbe­ ständigkeit. Wir haben enorme Möglichkeiten, ohne Ein­ schränkungen, außer denen, die wir uns selbst auferlegen. Wir müssen diese Grenzen durchbrechen. Wir sind das Ab­ bild Gottes. Wir sind uns dessen nicht bewußt; daher schrän­ ken wir uns selbst ein. Gott schuf uns nach Seinem Bilde, um frei zu sein, um rein zu sein, um glücklich zu sein. Weil Gott uns nach Seinem Bilde erschuf, vermögen wir alles. Wir tun den Dingen Unrecht, indem wir uns selbst Fesseln anlegen. Die einzige Möglichkeit, wirklich glücklich zu sein, ist wirklich frei zu sein, und die einzige Möglichkeit, wirklich frei zu sein ist, keine eingebildeten Ängste zu haben. Ängste sind ausschließlich eingebildet, niemals wirklich. Sie sind au­ ßerhalb von uns, nicht in unserem Innern. Wir selbst bauen uns eingebildete Dinge auf, vor denen wir Angst haben. Ein­ bildung geschieht sehr schnell. Es ist die Einbildung, die Angst erzeugt. Wir müssen dem sofort entgegnen: »Ich habe Willenskraft und werde mir etwas Wirkliches vorstellen. Es gibt nichts, wovor man Angst zu haben braucht; das ist nur

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Energieverschwendung.« Willenskraft ist vollkommen wirk­ sam gegen Einbildung; bloßer Wille. Wir sollten uns jeden Morgen ein Ziel für den Tag setzen, ein bestimmtes Ziel, und sollten mit all unserer Kraft versu­ chen, es zu erreichen. Vielleicht vergessen wir es nach einer Stunde, vielleicht bereits nach zehn Minuten. Würden wir in­ dessen jeden Tag zehn Minuten lang wirklich versuchen, un­ ser eigenes Ziel, das wir uns selbst gesetzt haben, zu erreichen, dann würden wir etwas eigenes erzeugen, das uns niemand nehmen kann. Dann würden wir Fortschritte machen. Unser Gewissen zu prüfen bedeutet nicht zu versuchen, uns selbst alle Gelegenheiten anzukreiden, bei denen wir gefehlt haben, unser Ziel zu verfolgen. Das verstärkt nur unsere Selbstüberhebung. Unser Gewissen zu prüfen heißt, den Tag vor seinem inneren Auge ablaufen zu lassen und zu sehen, wie viele Menschen uns etwas gelehrt haben, wie vielen wir dank­ bar sein sollten. Zu sagen: »Was habe ich falsch gemacht?«, heißt, an sich selbst zu denken. Denk an »sie«, nicht an »ich«. »Ich« ist nichts wert. Doch die Summe aus »ich« und »sie« ist etwas wert. Es gibt drei Stufen in dieser Arbeit, diesem Werk: Überra­ schung, Furcht und Verstehen. Überraschung ist das Vergnü­ gen, das wir empfinden, wenn wir etwas Neues entdecken. Furcht haben wir, sobald wir erkennen, daß wir alle mensch­ lichen Gefühle — Reibungen, Sorgen, Vorurteile — aufgeben müssen; Furcht, die Wahrheit wirklich anzuerkennen, das fal­ sche »Ich« töten zu müssen: das »ich mag, ich brauche«. Ver­ ständnis bedeutet zu wissen, was unser wirkliches »Ich« ist. Um Einklang zu verwirklichen, müssen wir die Persönlich­ keit vergessen und ausschließlich an Ursache und Wirkung denken. Derjenige entwickelt sich voll, der im höchstmögli­ chen Grade seine Worte seinen Gedanken anpaßt, seine Ge­ danken mit seinem Verhalten in Einklang bringt und sein Ver­ halten der innersten Wirklichkeit des Menschen angleicht.

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enn wir Frieden in uns selbst finden, sind wir im Frieden mit Himmel und Erde. Wirkliches Glück ist frei zu sein — auf einer höheren Stufe als der, welche wir normalerweise Glück nennen. Wir bezeichnen vieles deshalb als Leiden, weil es länger andauert als das Glück, das schnell vorbeigeht. Sehr oft glauben wir, daß wir glücklich sind, weil wir uns körperlich gut fühlen; wenn wir z.B. Zahnschmerzen haben und sie lassen nach, glauben wir, daß wir glücklich sind. Schmerz existiert nur im Nicht-Exi­ stierenden. Trauer und Glück sind genau dasselbe: ein Kreis­ lauf. Freiheit und Glück bilden ebenso einen Kreislauf, nur auf einer höheren Stufe. Auf einer niedrigen Stufe können wir nicht wir selbst sein; um wir selbst zu sein, müssen wir uns auf einer hohen Entwicklungsstufe befinden. Wir dürfen nicht Dingen anhangen, die sich innerhalb der Zeit befinden, son­ dern solchen außerhalb der Zeit. Wir müssen für das außer­ halb der Zeit Liegende arbeiten. Unser Werk, unsere Arbeit, findet innerhalb der Zeit statt; wir können wählen, ob wir uns Zeit lassen oder uns beeilen. Dies ist kein Werk, das ein paar Monate dauert. Es ist für im­ mer. Sobald wir wirklich am Werk teilnehmen, können wir nicht mehr zurück. Diejenigen, die auf dem Weg stehenblei­ ben, sind sofort verloren und unglücklich. Sie haben nichts mehr, woran sie sich halten können. Sie können nicht mehr dahin zurück, wo sie einmal waren. Solange wir in diesem Werk tätig sind, vorwärts blicken und weitergehen, sind wir glücklich. Sobald wir zurückfallen, entsteht großes Leid. Und je weiter wir gegangen sind, desto schmerzlicher und schreck­ licher wird es abzufallen. Aus diesem Grunde ist es niemals richtig, die Menschen am Anfang zu stark zu drängen. Men-

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sehen mit Energie und Entschlossenheit wollen immer be­ sondere Bedingungen, besondere Übungen. Das Problem ist, daß sie sie einmal bewältigen können, sogar interessante Er­ gebnisse erzielen, doch sie können sie nicht wiederholen. Dann sind sie enttäuscht und verlieren das Vertrauen. Wenn ein Mensch das Werk aufgibt, bedeutet das nicht nur, daß er sich aus ihm herausbegibt. Es bedeutet auch, daß er das Werk verändert, damit es sich seinen eigenen Vorstellungen anpaßt. Wir alle haben eine Rolle zu spielen. Es gibt nichts wirklich Beängstigendes außer einem: unsere Chancen, unsere wirkli­ che Zeit, zu vertun. Zeit ist Gelegenheit. Uns ist soundsoviel Zeit gegeben, nur soundsoviele Jahre. In dieser Zeit können wir etwas tun, etwas entstehen lassen. Lassen wir diese Zeit ungenutzt, gibt es keine weitere. Gelegenheit ist Zusammen­ treffen, Zu-Fall: der Weg zu höheren Welten. Sie bedeutet, daß unsere eigene innere Möglichkeit mit der Möglichkeit, die von einer höheren Ebene her vorbereitet wird, zusammen­ trifft. Wirkliche Zeit ist dann gegeben, wenn für uns alles klar und möglich ist. Dann müssen wir sie nutzen. Wir dürfen nicht zurückgehen. Wir müssen Zeit gewinnen, nicht tot­ schlagen. Wir müssen sie nutzen, indem wir anderen gegen­ über handeln, wie es den Möglichkeiten der Zeit entspricht. Jeder hat eine Kairos-Zeit, in der ihm große Dinge möglich sind, nur weiß er nicht, wann das ist. Hätten die Menschen nur ein Verständnis von der Kairos-Zeit (die innere Qualität eines bestimmten Zeitabschnitts)1, ließe es sie allzeit achtsam bleiben, da sie niemals wissen, wann sie kommt. Kairos- Zeit ist der Beweis für die Unbegrenztheit. Wir sollten all der Vorgänge gewahr sein, alles beobachten, das sich in uns bewegt, uns über jede Bewegung im Klaren sein. »Wenn die Augen zu sind, sind die Fenster zu; ist der Mund zu, dann ist die Tür zu; wenn das Herz verschlossen ist, ist die Tür verschlossen.« Wenn der Mund zu ist... das ist im­ mer dann, wenn wir nicht wissen, wie wir das ausdrücken sol-

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len, was wir wissen. Woher wissen wir, daß wir leben? Nicht durch das Bewußt­ sein, denn das stirbt nicht. Doch mit dem Verstand können wir feststellen, daß wir leben. Wir müssen lernen, was es heißt, gleichzeitig zu fühlen, zu geben und zu aufnehmen. Wir müssen uns lebendig fühlen, alles Lebende um uns herum fühlen, es wirklich spüren; fühlen, daß wir wachsam sind, uns als einen Teil unserer Umgebung fühlen. Das ist eine weitere Bedeutung von Selbst-Erinnern: sich an das größere Selbst zu erinnern, von dem unser Selbst nur ein winziger Teil ist, tat­ sächlich im Verhältnis von Null zu Unendlich. Aus diesem Grund bedeutet sich seiner selbst zu erinnern sich selbst zu vergessen, unseren starren Blick von einem einzigen Umstand einer Dimension auf die Dimension als Ganzes zu verschie­ ben, wo es keine Trennung zwischen den einzelnen Bestand­ teilen gibt. Denn wenn wir »ich« sagen, meinen wir gewöhn­ lich »ich-aber-nicht-du«. Wir müssen das fühlen, was wir sehen und berühren kön­ nen, doch erkennen, daß dies nur Bruchstücke sind, weil wir nicht alles fühlen können. Warum können wir nicht immer in allem die Farben sehen, die Dinge wirklich sehen? Das Pro­ blem ist das Lebendigsein. Sind wir lebendig, dann sehen und hören wir. Wir sind lebendig, wenn wir unsere Augen mit un­ serem wirklichen »ich« verbinden. Dann verbinden wir auch unsere »ichs« mit unserem wirklichen »ich«. Wir tun es nicht, weil wir aus Gewohnheit faul sind. Es zu tun, erfordert Wil­ len; es zu tun, erfordert die Entwicklung von Willen, Tag für Tag, immer ein bißchen mehr. Willen entwickeln wir, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf die Absicht lenken, mit der wir augenblicklich etwas tun, was immer es auch sei. Dies tun wir jedoch nicht, weil wir faul sind, und rechtfertigen unsere Bequemlichkeit damit, daß wir sagen, wir haben keinen Wil­ len. Bewußtsein ist eine Tat, die mit Aufmerksamkeit voll­ bracht wird.

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Niemand kann unsere Nahrung für uns essen. Jeder kann uns von schönen Dingen erzählen, doch erst, wenn wir un­ sere Unkenntnis vernichtet und sie selbst gefunden haben, können wir sie sehen. Nur durch die Verringerung unserer Unwissenheit entwickeln wir uns. Unwissenheit verdunkelt alles, macht alles negativ. Sie ist unser größter Feind. Wir müssen alles verdauen. Wir müssen Gefühle, Logik und Psychologie vereinen. Wir müssen Schritt für Schritt zum in­ neren Teil vordringen und das Gefühl ist es, das alle Teile mit­ einander verbindet. Wir müssen alles verstehen, was es auf die­ ser Seinsstufe gibt. Verstehen wir die Dinge auf dieser Stufe nicht, dann können wir nicht erwarten, Dinge zu verstehen, die sich auf einer höheren Seinsstufe befinden. Wenn wir un­ sere Vorurteile nicht durchbrechen, können wir die Dinge, die auf dieser Stufe sind, nicht verstehen. Zuerst müssen wir zu einem logischen Verstand gelangen, danach zu einem psy­ chologischen. Wir müssen durch Logik und durch Unlogik gehen, durch sie hindurchgehen und uns von ihnen befreien, damit wir zur nächsten Phase übergehen können. Logik be­ steht darin, Gedanken in Worte zu bringen. Wir sind dahinge­ kommen, Logik für Vernunft zu halten, doch das ist sie nicht; sie ist die Wissenschaft vom vernünftigen reden. Psychologie ist die Kenntnis von der Seele. Der logische Verstand erkennt das Psychologische, der psychologische Ver­ stand erkennt das Esoterische. Wenn der Verstand das Herz einschließt, ist er psychologisch, weil Herz und Verstand in Einklang gekommen sind. Erscheint das unlogisch, müssen wir uns daran erinnern, daß Amerika nicht durch Logik ent­ deckt wurde, denn logischerweise konnte niemand anneh­ men, daß dort ein Kontinent existiert, wo die Leute mit den Füßen nach oben herumliefen. Es geschah auch nicht durch die Logik, daß die Planeten entdeckt wurden, denn durch die Logik konnten die Menschen nicht gewußt haben, daß es im Himmel Steine gibt. Es geschah durch etwas in ihrem Herzen.

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Alle Entdeckungen sind durch etwas gemacht worden, das im Herzen der Menschen wohnt. Wir glauben zu wissen, doch wir wissen nichts. An dem Tag, an dem wir die Tatsache anerkennen, daß wir nichts wis­ sen, haben wir Weisheit erlangt. Wir befinden uns alle auf der gleichen Stufe von Unwissenheit. Keiner von uns weiß, wann andere irren. Wir müssen die anderen so annehmen, wie sie sind, um uns selbst annehmen zu können, wie wir sind. Dann werden wir Verständnis, Weisheit und Liebe besitzen — oder vielmehr Nächstenliebe, die den Zugang zur Liebe darstellt. Was wir mit Liebe umwandeln, können wir auf andere aus­ strahlen und können ihnen auf diese Weise helfen, ohne zu kritisieren. Wenn wir nur den Namen von jemandem mit Ge­ fühl aussprechen, helfen wir ihm. Logik und Gefühl zusam­ men sind etwas Wirkliches. Wenn wir wissen, daß alles, was wir aus eigener Kraft tun, nicht ausreicht, haben wir die psy­ chologische Stufe erreicht. Versuchen wir, ein Wunder mit Logik zu beschreiben, ist es kein Wunder mehr. Ebenso ist es mit Rätseln; sie können logisch nicht beschrieben werden, nur psychologisch. Und ein Geheimnis ist nur so lange ein Geheimnis, wie es bewahrt wird; sobald es ausgeplaudert wird, ist es kein Geheimnis mehr. Wird uns aufgetragen, etwas zu tun, müssen wir nachden­ ken. Das ist wirkliche Selbstdisziplin: etwas auf seine Richtig­ keit prüfen, uns selbst dazu anhalten, sieben oder mehr Grün­ de zu finden, warum eine Sache richtig oder nicht richtig ist. Können wir die Gründe nicht finden, liegt es daran, daß wir nicht gelernt haben, schnell zu denken. Wenn wir ein Buch gelesen haben und haben es nur auswendig gelernt, haben wir es uns nicht zu eigen gemacht. Solange wir uns auf Worte be­ schränken, machen wir niemals Fortschritte. Um wirkliche Eingebung zu empfangen, muß man seine Gedanken von allem Schweren reinigen. Das ist harte Arbeit, doch dann erhebt sich unser Geist zu einem Punkt, an dem

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er von Gedanken einer höheren Seinsstufe berührt werden kann. Ist unser Denken jedoch nicht gereinigt, wird das, was als Eingebung erscheinen mag, bloße Einbildung sein. Gedanken sind eine Gnade; sie werden gewährt. Der Ver­ stand ist wie ein Kelch, in den von oben Wasser hineingegos­ sen wird. Ist der Kelch sauber, ist auch das Wasser sauber. Wir können unser Gefäß verbessern. Wenn unser Kelch aus Kup­ fer ist, können wir ihn zu Silber machen; ist er aus Silber, kön­ nen wir ihn zu Gold machen. Wir können Energie erzeugen, indem wir reine Gedanken hegen. Doch dürfen wir schlechte Gedanken nicht bekämp­ fen. Alles was wir tun, hat seine Rückwirkungen, und schlechte Gedanken sind der Widerhall von Dingen, die wir in der Vergangenheit getan und inzwischen überwunden ha­ ben. Alles hat seine Rückwirkungen, doch sie sind nicht wirklich. Wir müssen unwirkliche Dinge nicht bekämpfen; es ist Energieverschwendung. Es gibt eine ganz einfache Me­ thode, negative Gedanken loszuwerden: wir müssen einfach an harmonische Farben denken. Wenn wir unsere Gedanken stark genug auf einen Men­ schen konzentrieren, hat das eine Wirkung auf ihn. Konzen­ trieren wir uns beispielsweise aus irgendeinem Grund in Ge­ danken darauf, daß jemand etwas fallen lassen wird, das er gerade in der Hand hält, läßt er es fallen. Vermutlich glaubt er dann, daß wir übernatürliche Kräfte besitzen. Dabei besit­ zen wir lediglich die ganz natürliche Kraft der Konzentration. Der Haken dabei ist, daß wir diese natürliche Kraft nicht ent­ wickeln. Um uns zu konzentrieren, um fähig zu sein, unsere Gedan­ ken auf andere zu übertragen, müssen wir mit uns selbst in Einklang gekommen sein. Das heißt, wir müssen wissen, daß wir das Rechte tun, daß wir den rechten Beweggrund haben, um es zu tun. Falls wir den geringsten Zweifel haben, selbst wenn nur ein winziger Teil unseres Bewußtseins im Zweifel

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ist, ob wir es tun, um dem anderen zu helfen, sind wir nicht in Einklang gebracht und handeln nicht als Ganzes. Und wenn es irgendeine Teilung in uns gibt, können wir nicht kon­ zentriert sein und haben folglich auch keine Kraft der Über­ tragung; unsere Gedanken werden nicht übertragen, sie wer­ den lediglich zerstreut. Wir bringen das hervor, was wir denken. Der Geist ist sehr stark; er ist unser stärkster Teil. Die Gedanken, die wir näh­ ren, werden lebendig. Wollen wir höhersteigen, müssen wir dort hindurch, wo wir uns jetzt befinden. Also dürfen wir nichts außer klaren Gedanken nähren, damit unser Geist rein ist, mit den Gedanken, von denen unser Gewissen sagt, daß sie rein sind. Auf diese Weise werden wir in der Wirklichkeit und der Wahrheit leben. Wir dürfen nicht zulassen, daß ein dunkler Gedanke in unserem Geist verbleibt, weil dunkle Ge­ danken tot sind, und wenn wir sie nicht nähren, brauchen wir nicht durch tote Augenblicke zu gehen. Wir dürfen nichts an anderen kritisieren oder ihnen nachsagen, was wir uns nicht zu eigen gemacht haben: zu eigen gemacht durch klare Ge­ danken in einem reinen Geist. Konzentration ist eine Sinnesfunktion, die auf das Denken vorbereitet. Vernunft ist das Gedanken-Gefäß. Wir sollten mit Logik, Gefühl und Intellekt zuhören, die durch Aufmerk­ samkeit miteinander in Einklang gebracht wurden. Die Wahr­ heit in uns ist wirkliches Gefühl, das durch Logik ergänzt wird. Lernen heißt in das Neue einzudringen. Oft ist das, was wir als Gedanken erachten, nur eine Ansammlung geistiger Eindrücke. Wirkliche Gedanken sind schöpferisch. Neues kann nur von uns selbst kommen. Ein Wechsel in der Seinsstufe kann nur von uns selbst kommen. Man kann uns nichts Neues mitteilen, weil wir es nicht hören würden. Wir müssen es bereits in uns haben, um es zu hören. Es gibt sieben Zyklen des Lernens. Der erste ist der des Kleinkindes, das die Welt sieht, ohne zu erkennen, daß es et-

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was lernen muß. Der zweite beginnt, sobald das Kind das Al­ phabet lernt. Der dritte, wenn wir lesen gelernt haben. Der vierte ist erreicht, wenn wir erkennen, daß es außer unserer Mutter noch andere Menschen gibt, die uns etwas lehren kön­ nen. Der fünfte beginnt, sobald wir den Unterschied zwi­ schen verschiedenen Lehrern sehen. Der sechste, wenn wir entscheiden, was wir lernen wollen und unseren Lehrer aus­ wählen. Beim siebten sind wir angelangt, wenn wir anfangen, uns für Philosophie zu interessieren. Danach müssen wir alles in uns selbst finden; wir erkennen, daß wir nicht von einem Lehrer lernen können. Der einzige Lehrer ist Gott. Sobald wir das wissen, sind wir Schäfer. Bis dahin sind wir Schafe. Viele Menschen erreichen nicht einmal den fünften Zyklus. Sind wir durch den siebenten Zyklus gegangen, gibt für uns weder gut noch böse. Wir tun die Dinge, weil es unsere Pflicht ist, sie zu tun, nicht nach Vorlieben. Auf dieser Stufe ist alles was zählt, unserem Nächsten zu dienen — sonst nichts. Be­ trachten wir die Menschen, sehen wir ihre Eigenarten, aber wir sagen nicht mehr: »Das ist gut — das ist schlecht.« Wir se­ hen die Menschen einfach so, wie sie sind, ohne zu urteilen, ob sie so sein sollten oder nicht. Haben wir diese Stufe er­ reicht, wissen wir, daß es für uns keinen menschlichen Lehrer geben kann. Wir empfangen alles unmittelbar. Die Leute gehen von einem Lehrer zum anderen, von einer Schule zur nächsten, weil sie nicht aus eigener Kraft die ver­ schiedenen Teile, die die erste Schule ihnen gegeben hat, für sich zusammenfügen. Natürlich gehen sie vom einen zum an­ deren, weil ihnen nicht das Ganze gegeben wird. Nur aus eige­ ner Kraft, indem sie nach oben und nicht nach unten schauen, können sie wachsen. Nach unten müssen wir schauen, um zu helfen, nicht um Hilfe zu bekommen. Alles was unser ist, muß durch Anstrengung gewonnen werden. Hierdurch ge­ hört es uns, und niemand kann es uns wegnehmen. Alle Arbeit muß für uns selbst sein; sie muß durch uns hin-

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durchgehen, damit wir sie in Form von Ausstrahlungen wie­ der abgeben. Es ist unsere Aufgabe, zu verdauen, aus eigener Kraft mit Begeisterung, mit Liebe und Hingabe zu arbeiten. Wenn wir nicht verstehen, können wir nicht verdauen. Unse­ re Aufgabe ist es, uns emporzuheben, uns mit dem Höheren zu verbinden, damit von uns Gebrauch gemacht werden kann. Liebe ist wirkliche Demut. Gehorsam ist die größte Gnade der Menschheit; sie ist pure Liebe. Demut, Liebe und Gehor­ sam sind die drei Kräfte, die, wenn sie zusammengebracht wer­ den, Gnade erwirken. Es gibt nichts, was wir nicht durch Ge­ horsam tun können. Wären wir wirklich gehorsam, könnte uns jemand sagen: »Schreib’ ein Gedicht!« und wir könnten ein Gedicht schreiben. Man könnte uns sagen: »Tanze!« und wir würden tanzen, selbst wenn wir nie zuvor getanzt hätten. Gehorsam bedeutet Hören. Nirgendwo gibt es etwas, das rätselhaft wäre. Was als ma­ gisch erscheint, wenn Menschen Dinge tun oder Kräfte ha­ ben, die übernatürlich erscheinen, ist nichts weiter, als daß sie mehr sehen können als wir, einfach mehr als wir wahrneh­ men. Daher können sie auch mehr tun als wir. Nimmst du dein Gegenüber wirklich wahr, sein Gesicht, seinen Aus­ druck, seine Bewegungen, die Linien um seine Augen, die Art wie er sitzt, wie er die Hände bewegt, dann wirst du sehen, was er ist. Du könntest ihm sagen: »Du denkst das und das, Du hast das und das Problem... « und er könnte denken, du seist ein Hellseher. Doch es ist einfach so, daß du ihn wahrnimmst. Alles was wir tun und denken, muß nach außen kommen, sich auf die eine oder andere Weise zeigen. Wassertropfen mö­ gen in eine Wand einsickern; in einem bestimmten Augen­ blick müssen sie wieder herauskommen. Der eine bemerkt bemerkt, daß die Wand feucht ist, der andere nicht. Wir besitzen große Weisheit, die entwicklungsfähig wäre, wenn wir unser Mechanisch-Sein ablegen könnten. Doch wir

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verlieren uns durch unser abstraktes Gedächtnis. Es ist ein Ge­ dächtnis, das mit nichts Wirklichem verbunden ist. Wir kön­ nen unsere Erinnerungen nutzbar machen, sobald wir die Dinge verstehen, sie fühlen und spüren. Was ist das Leben? Die Folgen unserer Handlungen zu se­ hen. Wir besitzen nur das wirklich, was wir bewußt anneh­ men. Bewußt anzunehmen heißt zu verstehen. Unser Werk ist wirkliches Verstehen, Vorbereitung auf den Frieden. Die Gabe des Verstehens erleuchtet uns. Sie wirft ein lebendiges, durchdringendes und außergewöhnliches Licht auf enthüllte Wahrheiten. Sie liefert uns ein sicheres Mittel, die wirkliche Bedeutung des Wortes Gottes zu verstehen.

1 Erklärung in Klammern: Anmerkung des Übersetzers

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VII

s gibt so viele Dinge von Wichtigkeit, an die wir den­ ken müssen, daß es keine Zeit unnütz zu vertun gibt, keine Zeit, um an uns selbst zu denken. Wir müssen denken: »Ich tue das für die, die nach mir kommen«. Dann kennt unser Denken keine Grenzen. Doch wenn wir an uns selbst denken und sagen: »Was habe ich bloß getan! Welche Fehler habe ich gemacht!« schränken wir uns ein. Wir dürfen nicht eingeschränkt sein. Wir müssen erkennen, daß wir Werkzeuge sind, und daß es für das, was durch uns getan wer­ den kann, keine Grenzen gibt, sofern wir nicht glauben, daß wir es sind, die tun. Keiner unserer Fehler hat uns jemals umgebracht. Wenn wir sie als etwas begreifen, woraus wir lernen können, ist es gut. Unwissenheit bedeutet, daß das Licht nicht zu uns ge­ kommen ist. Schlaf heißt, daß wir das Licht nicht gesucht ha­ ben. Wir zahlen nie für die Fehler, die wir aus Unwissenheit begehen. Doch für die Fehler, die wir durch Schlaf begehen, zahlen wir. Machen wir denselben Fehler zweimal, liegt es daran, daß wir eingeschlafen sind. Der Faule verwirkt diese Welt und die nächste dazu. Unwissenheit tötet Unschuld. Das Böse tötet Unschuld. Ei­ telkeit tötet Unschuld. Heuchelei belügt sich selbst. Es gibt immer eine Hoffnung auf Erlösung — sofern wir die Wahr­ heit über uns selbst erkennen. Doch die Schwierigkeit liegt darin, uns selbst zu verzeihen. Wenn wir einen Fehler offen zugeben, begehen wir ihn nicht noch einmal. Wir müssen uns allem stellen, was in uns ist. Wir wissen, daß wir Negativität in uns tragen. Gott hat die Versuchungen zugelassen, damit wir erfahren, wie stark wir sind. Wenn wir keine Rechtferti­ gungen vorschieben, sondern den Versuchungen entgegentre-

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ten, ohne sie in uns eindringen zu lassen, treten sie immer sel­ tener an uns heran. Wir stellen die Stufenleiter unserer Entwicklung auf den Boden der Erfahrung. Wir fallen immer wieder herunter, doch unsere Fehler stoßen uns nach oben. Wir würden weit mehr Fehler begehen, wenn wir keine Erfahrung hätten. Nur wenn wir sehr wach sind, können wir aus der Erfahrung eines anderen Nutzen ziehen. Probleme haben noch niemanden umgebracht. Wenn wir es nicht mit allem, was uns begegnet, aufnehmen könnten, würde Gott nicht zulassen, daß es geschieht. Nicht die Proble­ me, sondern Selbstmitleid und Sorge töten die Menschen. Sorge tötet Menschen, weil sie sie zulassen. Sie wollen sich sor­ gen. Es gibt keine Probleme, die nicht eingebildet sind, die nicht im Kopf sind. Es gibt Stufen im Leben; manchmal sind wir nicht darauf vorbereitet. Wenn wir wach sind, gibt es kei­ ne Probleme. Es gibt viele Umstände in den verschiedenen Lebenslagen, die wir für Probleme halten, z.B. unsere Träg­ heit. Es ist der Mangel an Verständnis, der Schwierigkeiten hervorruft. Wenn wir die Herrschaft über sie behalten, über­ rumpeln sie uns nicht. Wir müssen sie Probleme nennen, da­ mit wir ihnen einen Namen geben, um unsere Unkenntnis zu rechtfertigen. Die Menschen lieben es, sich Probleme zu schaffen, denn sie halten es für tapfer, welche zu haben. Sie be­ greifen nicht, daß es Dummheit ist — reine Zeitver­ schwendung. Wir ertragen Drangsale nur schwer, weil wir nicht die rech­ te Art kennen, geistig-seelischen Trost zu suchen. Aus diesem Grund erduldet derjenige Widrigkeiten leichter, der vertrau­ ensvoll an sich, in sich und für sich arbeitet. Reichtum läßt uns öfter und tiefer fallen als Drangsale. Wer für sein Ge­ schenk nichts ausgibt, erhält dafür auch nichts von Wert. All die Drangsale, die wir durchmachen müssen, sind sehr wichtig, denn sie lassen uns wachsen. Wir müssen alles, was

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uns begegnet, als Werkzeug nehmen, um zu wachsen. Wir glauben, wir sollten nicht zweifeln. Im Gegenteil, wir müssen zweifeln. Niemals dürfen wir etwas hinnehmen, bis wir es wirklich glauben, weil wir selbst herausgefunden haben, wa­ rum es wahr ist. Doch wir müssen verstehen, was Zweifel be­ deutet. Wir nennen viele Dinge Zweifel, die Vorurteile sind. Wir sagen: »Ich zweifle an dieser Aussage«, wenn wir über­ haupt nicht zweifeln, sondern es nur bedeutet, daß wir schon zu der Überzeugung gelangt sind, daß sie nicht stimmt. Ande­ rerseits sollten wir nichts, was uns gesagt wird, nur deshalb hinnehmen, weil wir es hinnehmen wollen, weil es uns per­ sönlich passen würde, wenn es wahr wäre. Wenn wir Zweifel haben, sollten wir herausfinden, uns selbst beweisen, ob wir recht haben oder nicht. P. D. Ouspensky sagte immer: »Glaubt nicht, was ich sage; findet es selbst heraus!« Oft ist das, was wir für einen Zweifel halten, nur Eigendünkel. Wir sagen: »Ich frage mich, ob das stimmt.« Stattdessen sollten wir sagen: »Das ist etwas, was ich nicht weiß. Warum glaube ich es nicht? Weil ich es nicht verstehe.« Dann könnten wir for­ schen und lernen. Wir sollten unserem Mangel an Verständ­ nis ins Gesicht sehen und ihn genau bezeichnen. Wir müssen den Unterschied zwischen Vorurteil und Wis­ sen verstehen. Falls wir vier Gründe für eine Meinung finden, wird klar, ob sie ein Vorurteil ist oder nicht. Sich zu weigern, etwas hinzunehmen, weil es unserem Typus, Geschmack oder Wissen widerstrebt, ist kein Vorurteil. Vorurteile zu haben bedeutet Unaufrichtigkeit. Wenn wir einem Vorurteil wirklich auf den Grund gehen, werden wir herausfinden, daß es nicht wahr ist. Wir müssen jedes Vorur­ teil genau für uns untersuchen. Wir müssen erkennen, warum etwas für uns ein Vorurteil ist. »Wenn ich das glaube, müssen alle anderen das auch glauben,« ist ein Vorurteil. Vorurteile zu haben bedeutet Einschränkung. Wir dürfen nicht voreinge­ nommen sein, denn Vorurteile zu haben heißt, sich zu ver-

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schließen. Es ist ein größeres Verbrechen, aus einem Vorurteil heraus zu handeln, als ohne sein Wissen zu töten. Wir können so hart arbeiten, wie wir wollen, doch wenn wir Vorurteile haben, werden wir niemals Gnade empfangen. Um Gnade zu empfangen, müssen wir offen sein. »Wenn ihr nicht glaubt, daß ICH es BIN, werdet ihr in euren Sünden sterben.«: unsere Art zu denken, die unseren Mangel an Sein verursacht. Die Leute glauben, es sei menschlich, mit Vorurteilen zu reagieren; es ist nicht menschlich, es ist tierisch. Menschlich zu sein heißt offen zu sein; es bedeutet, Fühlen mit Denken zu verbinden, die Reaktionen und Bedürfnisse der anderen zu spüren. Es bedeutet, offen zu sein für höhere Einflüsse und gleichzeitig die niedrigsten und schwersten Schwingungen aufzunehmen und sie miteinander zu verbinden, auf daß das Licht kommen möge. Wie bei der Elektrizität muß es einen positiven und einen negativen Pol geben, damit ein Funke zwischen ihnen einen Lichtbogen schlagen kann. Das ist es, was Mensch-Sein bedeutet: wirklich, offen, lebendig zu sein gegenüber den Gefühlen anderer; für sie empfänglich zu sein und gleichzeitig zu wissen, was Wahrheit ist, ihnen das sagen zu können, was sie brauchen. Wir werden niemals wir selbst sein, solange wir Vorurteile haben, solange wir versuchen zu urteilen. Wir sind alle Spie­ gel füreinander. Wir sehen die anderen umgekehrt zu dem, wie wir uns selbst sehen. Daher können wir nicht urteilen. Wir müssen immer ermessen, niemals urteilen. Was ist der Unterschied zwischen ermessen und urteilen? Ermessen ist beobachten; Urteilen ist sagen, warum etwas ist und wie es sein sollte. Wenn ich einen dicken Menschen sehe und sage: »Er sieht aus, als würde er 200 Pfund wiegen«, versuche ich zu ermessen. Sage ich: »Dieser Mann ist viel zu dick. Sicher ißt er zuviel, weil er gierig ist«, versuche ich zu urteilen. Woher weiß ich, warum er dick ist? Vielleicht leidet er unter einer Störung der Schilddrüsenfunktion.

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Wir müssen beim Ermessen unseren eigenen höchsten Maßstab anlegen. Wir können nichts ermessen, das in uns ist. Wenn etwas nicht von außen kommt, können wir es nicht er­ messen. Wie ermessen wir? Durch Schauen und Vergleichen. Es ist wahr, festzustellen, daß jemand eine bestimmte Phase durchläuft und warum er das tut. Zu versuchen, den Grund herauszufinden, bedeutet ermessen. Doch zu behaupten, daß dieser Mensch ein Dummkopf sei, ist urteilen. Wir können nicht urteilen. Um über einen Menschen zu urteilen, müßten wir alles über ihn wissen, müßten seine gesamte Abstam­ mung, seine ganze Umgebung und die Einflüsse kennen, de­ nen er seit seiner Empfängnis ausgesetzt war. Wir müßten all dieses Wissen gleichzeitig in unserem Geist gegenwärtig ha­ ben, um in der Lage zu sein, seine Handlungen mit seinen Möglichkeiten zu vergleichen. Selbst Gott urteilt nicht über Menschen, solange sie noch in dieser Welt weilen. Jemand sagt vielleicht etwas, das uns als unfreundlich er­ scheint, doch wir kennen weder die Absicht, mit der es gesagt wurde, noch die Wirkung auf den Menschen, zu dem es gesagt wurde. Wenn wir es selbst sagen würden, wäre es für uns viel­ leicht negativ, oder der Mensch, zu dem es gesagt wird, nimmt es negativ auf. Wir können aber nicht darüber urteilen, ob es zwischen anderen negativ war. Wir sehen, daß sich jemand Sorgen macht und können nicht verstehen, daß er sich wegen etwas sorgt, über das wir uns keine Sorgen machen würden. Wir können nicht darüber urteilen. Alles was wir tun kön­ nen, ist ihm zu helfen, es umzuwenden, um Kraft zu finden, die Lage, die ihm Sorgen macht, zu überwinden, so daß er den Ausweg sieht. Wir können nicht urteilen, und es kann nicht über uns geurteilt werden. Wir können nur alle Menschen achten, uns reinigen und wahre Gefühle zulassen. Wären wir weise, würden wir nicht über uns selbst urteilen. Wir können über nichts urteilen, weil wir nicht vollkommen sind. Nur ein vollkommenes Wesen kann urteilen. Aber wir

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können ermessen. Indem wir ermessen, können wir Verglei­ che anstellen, können (wieder-)erkennen, gegenüberstellen, Wechselbeziehungen erkennen. Nach welchen Maßstäben können wir ermessen? Nicht an etwas, das fest ist. Wir müssen vom Geistig-Seelischen her er­ messen. Wir müssen an wirklichen Gefühlen messen, an dem, was in uns ist. Wir müssen uns als bloße Werkzeuge Gottes be­ trachten, die dazu dienen, anderen zu helfen. Wenn wir mit anderen sprechen, sehen wir, wie viel oder wie wenig wir selbst und die anderen wissen. Wir müssen ständig lernen, ständig Wissen aufnehmen. Wach genug zu sein, um dem Menschen, mit dem wir spre­ chen, Aufmerksamkeit zu schenken: darin besteht die Arbeit. Wie oft bemerken wir nur unsere eigenen Reaktionen; das ist Schlaf. Wach zu sein heißt, unserer selbst in den anderen ge­ wahr zu sein. Wir sehen in anderen nur, was wir in uns selbst haben. Sehe ich zum Beispiel, daß jemand faul ist, liegt es dar­ an, daß ich selbst faul bin. Wäre ich nicht selbst faul, würde ich die Faulheit im anderen nicht sehen. Ich würde vielleicht sehen, daß er langsam ist und annehmen, er sei müde, oder ei­ nen anderen Grund für sein Versäumnis finden, die Dinge richtig zu machen, doch ich würde nicht sehen, daß er faul ist. Wir sollten fühlen, daß es im anderen nichts Schlechtes gibt, nur in uns; daß sie durch Unwissen oder Blindheit Un­ recht tun. Wir können niemals jemand anderen beschuldigen, schlecht zu sein, weil wir niemals den wahren Grund kennen können, warum er tut, was uns als unrecht erscheint. Doch je­ der Mensch weiß für sich selbst, wenn er etwas Unrechtes tut, daß er es hätte vermeiden können. Wir können niemals über andere urteilen; doch unser eigenes Gewissen kann urteilen, nicht über uns selbst aber über unser Handeln in einem be­ stimmten Fall. Wenn wir ermessen und nicht urteilen, kön­ nen auch andere nicht über uns urteilen. Liebe ist alles; sie ist Verstehen. Wir lieben andere nicht um

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ihrer Tugenden willen; woher sollten wir wissen, ob jemand etwas Richtiges nicht aus Hochmut tut? Wir können nicht ur­ teilen, also können wir nicht wissen. Wir lieben die Men­ schen um ihrer Fehler willen. Den einen lieben wir, weil er eingebildet ist und einen Dämpfer braucht, den anderen, weil er schwach ist und Vertrauen braucht. Wir lieben die Men­ schen um ihrer Nöte willen. Wir müssen die Fähigkeiten an­ derer herausfinden und ihre Mängel mit unseren Sünden be­ decken. Auf diese Weise können wir lernen, nicht zu urteilen.

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VIII

wei Männer befanden sich auf dem Heimweg, als sie dem Herrn begegneten, ohne Ihn zu erkennen. Er be­ gleitete sie auf ihrem Weg und lehrte sie. Als sie in Em­ maus ankamen, trat Er in ihr Haus und gab sich als der Göttli­ che Meister zu erkennen. Diejenigen von uns, die auf dem Vierten Weg gehen, treffen den Meister ohne Ihn zu erken­ nen, und doch lehrt Er uns. Wenn wir Ihn in unser Haus ein­ laden, wird Er sich uns offenbaren. Damit dieses geschehen kann, ist es notwendig, daß wir zuhause, das heißt in uns selbst anwesend sind. Wahrheit ist, man selbst zu sein; solange wir voller Einbil­ dung und Vorurteile sind, sind wir noch nicht wir selbst. Je­ der hat eine seichte und eine tiefe Seite. Man kann an der Oberfläche leben oder aus der Tiefe, aus dem wahren inneren Selbst heraus. Aus diesem Grunde muß jeder von uns sein Ziel finden. Jeder einzelne muß sein eigenes Ziel finden. Es ist nicht das gleiche Ziel für jeden. Vielleicht ist es morgen schon ein anderes, aber es muß immer das eigene sein. Um die Wahr­ heit zu finden, müssen wir zuerst unser Ziel kennen. Um un­ ser Ziel zu kennen, müssen wir zuerst wissen, was wir wollen — aufrichtig und einfach wissen, was wir wollen. Ohne das ist nichts möglich. Es reicht nicht aus, es an einem Tag zu kennen und am nächsten zu vergessen. Wir müssen unser Ziel in Wor­ ten ausdrücken können, es genau bestimmen, uns seiner si­ cher sein. Wenn unser Ziel verschwommen ist, ist es ungewiß. Wenn es gewiß ist, können wir es jederzeit ausdrücken. Wirk­ liche Worte ändern sich nicht; ändern sich etwa die Worte des Vaterunsers? Andert sich das Wort, mit dem wir unsere Kin­ der rufen, das Wort »Liebling«? Wir müssen beharrlich sein, wir müssen unser Ziel kennen und in der Lage sein, es zu for-

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mulieren. Wir müssen uns ständig über alles Fragen stellen. Sobald wir keine Fragen haben, treten wir auf der Stelle. Wir müssen immer Fragen haben; immer wenn wir eine Frage haben, ha­ ben wir auch eine Antwort. Neue Umstände und Wissen entwickeln sich mit solcher Geschwindigkeit, daß wir wirklich aufpassen müssen, nicht den Anschluß zu verpassen. Wir können Vorstellungen ha­ ben, doch wir können uns nicht weiterentwickeln ohne eine Schule, die uns dabei hilft, zu verdauen, was wir bereits wis­ sen, um verstehen zu können, was der Vierte Weg ist. Wir können ihn nicht finden, bevor wir uns nicht wirklich selbst erinnern. Das ist Harmonie. Ohne Schule ist Harmonie nicht möglich. Jemand muß sie erklären. Der Wahrheitsbeweis für die Schule der Harmonie ist die Tatsache, daß man sie überall finden kann. Wir können sie in Büchern finden, in Gesprä­ chen, in Filmen, überall. Wären wir uns über unser Ziel im klaren, würden wir Harmonie verstehen. Wir würden uns un­ ser erinnern. Selbst-Erinnern hat seinen Anfang nicht in unserem Innern, sondern außerhalb. Alles was in unserem Innern be­ ginnt, beginnt mit Selbstsucht. Wenn ich mich meiner erin­ nere, bevor ich mich deiner erinnere, das ist Mit-sich-selbst-beschäftigt-sein. Beim Selbst-Erinnern bringen wir das, was außen ist, nach innen, um es zu sammeln. Wir können nicht sammeln, was wir bereits in uns haben. Wären wir weise, würden wir das widerspiegeln, was von außen kommt. Da wir jedoch nicht weise sind, können wir nicht an der Widerspiegelung arbeiten, weil wir nicht wissen, was wir widerspiegeln sollen. Wenn wir beständig für unseren Nächsten arbeiten, werden wir weise, und dann wissen wir, was nötig ist, um widerzuspiegeln. Der Vierte Weg ist Verste­ hen, in jedem Augenblick und in jeder Lage. Ein verständnis­ volles Herz, das ist Selbst-Erinnern. Wirkliches Selbst-Erin-

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nern besteht nicht in der Erkenntnis: »Ich bin hier, trage diese Kleidung, dort drüben ist jener Mann in dem Mantel«. Wirk­ liches Selbst-Erinnern heißt, sein ganzes Gewahrsein auf die Bedürfnisse anderer Menschen zu richten. Wenn unser Be­ wußtsein, während wir mit jemandem sprechen, bei dem an­ deren ist, obwohl unser Körper bleibt, wo er ist, dann ist das Selbst-Erinnern. Wenn wir uns auf uns selbst konzentrieren, können wir anderer nicht gewahr werden. Doch wenn wir der anderen gewahr sind, bedeutet das, daß wir unser selbst ge­ wahr sind. Das ist leicht zu verstehen. Wenn wir versuchen, unseren Körper anzuschauen, können wir immer nur einen Teil davon sehen, und niemals unser Gesicht. Benutzen wir hingegen einen Spiegel, können wir mehr von unserem Kör­ per und auch unser Gesicht sehen. Wenn wir mehrere Spiegel zusammen benutzen, können wir sogar unseren Rücken se­ hen. Auf die gleiche Weise können wir kaum etwas sehen, wenn wir versuchen, uns selbst unmittelbar zu beobachten, doch wenn wir jemand anderen beobachten, können wir mehr von uns selbst sehen, das sich in ihm widerspiegelt, und wenn wir viele Menschen beobachten, sie wirklich wahrneh­ men, erhalten wir wahrscheinlich ein wirklich sehr gutes Bild von uns selbst. Wir können über uns und über unsere Beweg­ gründe viele Illusionen haben, doch wenn wir die Reaktionen anderer auf uns sehen, verschwinden unsere Illusionen und nach und nach sehen wir uns selbst, wie wir wirklich sind. Und wenn das geschieht, sehen wir, daß die anderen genau so sind wie wir, und daß wir genau so sind wie die anderen, ja daß wir tatsächlich alle gleich sind. Dann haben wir nicht mehr das Gefühl von »Ich«, von Getrenntsein, sei es das stolze oder das erbärmliche Gefühl, die beide nur aus Eitelkeit be­ stehen. Um zu verstehen, warum Selbst-Erinnern nicht »Sich-anderer-Erinnern« oder »Sich-Gottes-Erinnern« heißt, müssen wir die Idee des Spiegels verstehen. Viele meinen, daß die

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Worte: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzen Herzen... und deinen Nächsten wie dich selbst«, heißen müß­ ten: »...und deinen Nächsten und dich selbst«, wobei sie das letztere auf unsere Selbst-Achtung beziehen. Das auch; doch wenn wir an die Idee des Spiegels denken, verstehen wir den ursprünglichen Wortlaut. Wir müssen lernen, Körper und Geist miteinander in Ein­ klang zu bringen. Wir müssen uns unseres stofflichen Kör­ pers, unserer Seele und unseres Geistes erinnern; uns unser selbst erinnern. Wir können uns erst unser erinnern, wenn wir uns vergessen. Wenn wir unserer Umgebung und unserer Augen, die sie sehen, gewahr sind, denken wir nicht an uns selbst. Unsere Augen, mit denen wir sehen, sind nicht wir selbst. Es besteht ein riesiger Unterschied zwischen an sich denken und sich seiner erinnern. Wir haben unseren Namen und unsere Adresse nicht vergessen, obwohl wir nicht ständig daran denken. Das Geistige in uns weiß und erinnert sich je­ derzeit, daß es sich in der Gegenwart Gottes befindet. Nicht nur der Geist; der Körper ebenfalls. Obgleich er es als gegeben annimmt, vergißt er es nicht. Das Geistige in uns ist rein — das Reinste, was wir haben. Wir müssen unsere Instinkte reinigen. Stück für Stück müs­ sen wir herausnehmen, was in uns unrein ist, um Raum zu schaffen für den reinen Auszug des Geistigen. Das tun wir durch Selbst-Erinnern: das heißt, indem wir wachsam und of­ fen sind und alles von uns im Ganzen benutzen, Instinkt, Herz und Verstand. Heuchelei gibt es in uns allen. Wir alle haben einen Feind in uns. Doch auf der anderen Seite haben wir auch einen En­ gel. Es gibt jemanden, der uns niemals im Stich läßt: unseren Schutzengel, wenn wir es uns zur Gewohnheit machen, ihn um Hilfe zu bitten. Wir müssen uns entscheiden, auf welcher Seite wir gehen, zu welcher Richtung wir uns neigen wollen. Wenn wir richtig wählen, wählen wir durch Selbst-Erinnern.

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Das ist eine sehr weise Arbeit, doch wir müssen sie richtig ver­ stehen. Jeder Mensch muß für sich selbst, auf seine eigene Weise, Selbst-Erinnern hervorbringen, sogar in seiner eigenen Reli­ gion. Es spielt keine Rolle, was für eine Religion wir haben; Allah und Gott sind ein und derselbe. Der einzige Meister ist Gott, der einzige Lehrer sind wir selbst. Niemand kann ande­ re zwingen, ihm zu glauben. Jeder muß seinen eigenen Weg finden, sein eigenes Verständnis, sein eigenes waches Bewußt­ sein. Wir müssen aus eigener Kraft für uns selbst erkennen, was Selbst-Erinnern für uns bedeutet. Selbst-Erinnern ist der Quell der Tugend, Nahrung für die Seele. Erinnerung ist alles. Selbst-Erinnern ist Göttlichkeit. Es ist sehr wichtig zu wissen, was Selbst-Erinnern, was See­ le, was Gewissen ist. Jeder einzelne sollte herausfinden, was es für ihn ist, indem er seinen Geist dazu entwickelt, anzuneh­ men, zu erkennen. Nur durch Selbst-Erinnern beherrschen wir jedes Ereignis, das für die gesamte Vervollkommnung des Lebens notwendig ist. Wir können es, wenn wir es wollen und danach streben. Wir dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen, sondern müssen sorgsam und gründlich beobachten. Verständnis nimmt die Angst. Der erste Schritt zum SelbstErinnern ist Selbst-Sicherheit. Besitzen wir Selbstsicherheit, dann geben wir nichts auf die Meinung der anderen. Wir müssen Erde und Himmel miteinander verbinden, zwischen Himmel und Erde leben. Wenn wir beten, wenn wir anderen helfen, dann verbinden wir Erde und Himmel. Es gibt so viel Schönheit auf der Welt; wenn wir all die Schön­ heit betrachten, was können wir da anderes tun als Selbst-Er­ innern? Wenn wir uns Selbst-Erinnern, erinnern wir uns an Gott. Schönheit zu erkennen, ist Selbst-Erinnern; mit dem Höheren in Verbindung zu stehen ist Selbst-Erinnern; die Schönheit zu fühlen, Wahrheit zu fühlen, das ist Selbst-Erin­ nern. Selbst-Erinnern ist keine Einbildung. Viele glauben,

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daß sie sich selbst-erinnern, wenn sie ihre Gefühle beherr­ schen. Das ist kein Selbst-Erinnern. Selbst-Erinnern ist das Gewahrsein der Gegenwart Gottes. Wir verstehen das große Werk Gottes nicht. Wir können niemandem erklären, was weiß oder was rein ist; wir müssen es sein und es zeigen. Hat jemand wirklich gelernt, die Dinge für Gott und nicht für sich selbst zu tun, dann handelt er wirklich um der Liebe Gottes willen, und der Teufel kann ihm nichts anhaben. Der Teufel ist nicht interessiert an Men­ schen, derer er sich sicher ist, Menschen, auf deren unrechtes Tun man rechnen kann. Es sind vielmehr die Menschen, die wirklich danach streben, Gott zu lieben, an denen der Teufel Interesse hat. Es gibt auch einen persönlichen Teufel, doch der steckt in uns. Gott ist nicht in allem. Er ist nur in reinen Dingen. Wie können wir annehmen, daß Er in Menschen ist, wenn sie grausam sind? Er sieht es, gewiß; er sieht alles, doch er ist nicht in allem. Gottesfurcht ist das Erkennen unserer eigenen Seinsstufe. Am Anfang muß die Gottesfurcht stehen. Wo Furcht ist, da ist Reinheit. Wo Reinheit ist, Losgelöstheit von dieser Welt, da ist Nächstenliebe. Die Gottesfurcht kommt nicht von Ihm, sondern von uns selbst, wenn wir wissen, daß wir nicht rein sind. Wenn auf die Gottesfurcht Reue folgt, sind wir rein und lieben Ihn ohne Furcht. Unser ganzes Sein wandelt sich, wenn wir auch nur an Reue denken und versuchen zu verste­ hen, was sie bedeutet. Nur Menschen, die rein sind, fühlen die Liebe Gottes; dann gibt es keine Angst. »Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.« Gott ist Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Wenn wir ge­ richtet werden, wird das Wort für Wort, Tat für Tat und Ge­ danke für Gedanke geschehen, und uns wird mit Liebe vergol­ ten werden. Sonst könnte uns niemals vergeben werden, und wir würden nicht in den Himmel aufgenommen.

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Christus warf die Geldwechsler aus dem Tempel, weil sie mit Gott feilschen wollten. Nur Gott selbst weiß, ob wir ver­ suchen, mit Ihm zu feilschen. Oft gehen Menschen in die Kir­ che, um mit Gott zu feilschen; früher oder später werden sie auf die eine oder andere Art hinausgeworfen. Alle Heilige waren sehr temperamentvoll. Indem sie mit ih­ rem Temperament gerungen haben und es ins Positive gewen­ det haben, wurden sie Heilige. Nur wo ein Temperament ist, das ins Positive gewendet, auf positive Weise verwendet wer­ den kann, gibt es charakterliche Stärke. Es bedarf enormer Charakterstärke, um ein Heiliger zu werden. Aberglaube ist eine Beleidigung Gottes, denn er versagt uns, zu verstehen, daß für uns gesorgt ist. Wenn wir weiterkom­ men wollen, müssen wir mit Vertrauen nach vorn blicken; uns kann kein Unbill treffen. Wenn wir wirklich Gott die­ nen, werden unsere alltäglichen Bedürfnisse befriedigt. Falls wir Luxus wollen, ist das etwas anderes, doch für unsere Be­ dürfnisse wird gesorgt sein. Wenn wir uns in dieses Werk ein­ bringen, wird für unsere wirklichen Bedürfnisse gesorgt sein — sofern kein Dünkel an uns haftet. Großzügigkeit ist die Schwester der Nächstenliebe. Näch­ stenliebe ist die Übertragung der Liebe auf die Stufe des Gei­ stigen. Nur ein Mensch, der das erreicht, wird in das Himmel­ reich eingehen. Nächstenliebe ist Qualität nicht Quantität; sie ist Absicht, nicht Ausdehnung. Glaube ist die Liebe zu Gott; Hoffnung ist die Liebe zu uns selbst; Nächstenliebe ist die Liebe zu unseren Mitmenschen. Je mehr Wille, desto mehr Nächstenliebe; je mehr Nächsten­ liebe, desto mehr Liebe. Glaube ist die Anerkennung einer Wirklichkeit, die wir fühlen, aber nicht verstehen. Hoffnung ist Vertrauen in die Liebe Gottes. Hoffnung hat, wer Vertrau­ en hat; wer Vertrauen hat, hat Liebe; Liebe hat, wer anderen seine Aufmerksamkeit schenkt. Liebe entspringt nicht eigenem Antrieb; sie ist eine Gnade.

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Wer die Gnade erlangt hat zu beten, dem hat Gott keine klei­ ne Gunst erwiesen. Wir sollten um die Gnade beten, Gott zu lieben. Es gibt keine Liebe, die keine Gnade ist — die Liebe zu Pflanzen, zu Tieren, zu Menschen — alle Liebe ist eine Gnade. Je größer die Seele, desto mehr kann Gottes Liebe umgewan­ delt werden. Seele ist Wille; es braucht Willen, um die Liebe Gottes in Nächstenliebe umzuwandeln. Wenn wir verliebt sind, gibt es kein Opfer, das wir für den geliebten Menschen nicht bringen würden. Warum tun wir nicht dasselbe für Gott? Wir bedanken uns fortwährend bei unseren Mitmenschen für Dinge, die sie uns geben, doch wie oft denken wir daran, Unserem Herrn zu danken? Dunkle Augenblicke gibt es nur, wenn wir kein Vertrauen haben. Dunkle Augenblicke erleben wir nur, wenn wir Gott die Tür verschließen. Wir müssen die Tür öffnen und sagen: »Der Her ist da. Der Herr sei gepriesen.« Die Tür zu ver­ schließen und zu sagen: »Herr, nimm das Dunkel von mir!« ist eine Beleidigung Gottes. Die Sonne scheint, und Er hat sie erschaffen; die ganze Welt legt Zeugnis ab für die Gegenwart Gottes. Er sagt zu uns: »Du hast Willen; öffne deine Augen und schau Mich an!« Wir brauchen nicht zu sagen: »Ich will Gott suchen«, wenn Gott die ganze Zeit uns sucht. Wenn ich weiß, daß ich eines Tages Gott sehen werde, wenn ich daran denke, was kann ich dafür, daß ich glücklich lächle? Wenn mir Tag und Nacht all die schönen Dinge gezeigt wer­ den, die es in der Welt gibt, muß mich das doch zum Lächeln bringen. Wenn ich Kinder sehe, die auf die Welt kommen, und sie sind das einzig Wahre, das entstehende Leben, die Zukunft, darüber sollte ich doch lächeln. Lachen ist nicht wirklich, Weinen ist nicht wirklich, doch Lächeln ist wirklich. Wir sollten lächelnd durch das Werk ge­ hen. Jedesmal wenn wir uns glücklich fühlen, sind wir von der Liebe Gottes erfüllt. Glück ist die Verwirklichung der Vereinigung alles Reinen mit Gott. Das Gebet macht uns

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wirklich, wahrhaft rein. Wenn wir beten, enthüllen wir unser wahres Selbst, ohne etwas zu verbergen. Wie sollen wir beten? Mit wirklichen Gefühlen. Wir müs­ sen aufrichtig fühlen, was wir wollen. Wir müssen lernen, un­ sere Gedanken mit unseren Gefühlen in Einklang zu bringen und unsere Gefühle mit dem Höheren zu verbinden. Eine der Möglichkeiten, wie wir Wahrheit erfahren, besteht darin, un­ serer Verbindung mit einer höheren Seinsstufe Nachdruck zu verleihen. Gedanken sind wirkungsvoll, wenn sie den Ausstrahlun­ gen, die durch unsere Gefühle erzeugt werden, eine Richtung geben. Beten besteht aus guten Gedanken, die dadurch ver­ stärkt werden, daß sie zu Gott gesandt werden. Ein guter Ge­ danke, der jemandem unmittelbar geschickt wird, hilft ihm im Verhältnis zur Stärke der Ausstrahlung unserer Liebe für ihn; der gleiche Gedanke wird verstärkt, wenn er zu Gott ge­ schickt wird, etwa wie Sonnenstrahlen durch ein Brennglas verstärkt werden. Gebete sind unsere höchsten Ausstrahlun­ gen, die von Gott vergrößert werden. Darum ist Beten so machtvoll. Wie sollen wir beten? Wenn wir Gott unser Herz schenken, dann ist es unwichtig, welche Worte wir benutzen; dann beten wir wahrhaft. Wenn wir Gott unser Herz anbieten, mit wirk­ licher Aufmerksamkeit auf der Absicht, so daß es kein Wün­ schen und kein Nicht-Wünschen für uns selbst mehr gibt, wenn alles, was wir tun, Gottes Tun durch uns ist, dann sind wir wirklich lebendig. Dann sehen wir Gott; er hört auf, eine Idee zu sein, über die wir nachdenken, sondern wird zur Wirklichkeit, die wir sehen können. Dann sehen wir Ihn und fühlen Ihn, denn Er ist in unserem eigenen Herzen. Unser Herz ist ein Spiegel, in dem wir die Widerspiegelung der Welt sehen; wenn Gott in unserem Herzen ist, sehen wir Ihn überall. Selbst wenn wir nicht wissen, wie wir beten sollen, und sa-

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gen: »Gott, hilf mir!«, empfangen wir schon Seine Hilfe. Be­ ten muß nicht mit Worten geschehen; es gibt ein Gebet des Körpers und des Herzens, wie auch des Geistes. Einst lebte ein Mann, dessen Herz und Geist waren ausgetrocknet; er ging in seinen Garten, schlug zwei Steine aufeinander und sagte: »Ich kann keine andere Art zu beten finden«. Glaubst du nicht, daß Gott ihn gehört hat? Christus ist so groß, so erhaben; manchmal fragen wir uns, wie unsere Gebete ihn erreichen können. Wenn jemand das Vaterunser spricht, ziehen sich selbst die Erzengel zurück, auf daß der Sohn direkt mit dem Vater sprechen möge, ohne daß sonst jemand mithört. Manchmal, wenn wir beten, fühlen wir etwas. Am nächsten Tag wollen wir dann mit Hilfe unserer Einbildungskraft das­ selbe fühlen und halten so das Neue auf, das wir fühlen könn­ ten. Beten heißt, das Herz auf Gott zu richten. Wenn wir wirklich beten, fassen wir uns nicht in Worte, wir fassen uns in Gott. Wir beten, wenn wir nicht an uns selbst denken, son­ dern uns stattdessen ganz in die Hand Gottes geben. Der Weg zu Gott ist schon seit dem Anbeginn der Welt offen. Der Heilige Geist erschien als Zungen wie von Feuer über dem Kopf jedes Apostels. Er schwebt wie eine Flamme über jedem von uns. Sind wir negativ, unterbrechen wir unsere Verbindung zu Ihm; sind wir positiv, greifen wir nach oben und verbinden uns mit der Flamme und ihr Licht scheint durch uns. Glaube ist die Verbindung mit Gott, Eingebung, Gnade. Gnade kommt von oben. Christus kam durch Gnade. Es war eine Gnade, daß Er kam. Er kam von einer Jungfrau durch Gnade. Er kam in einen Körper durch Gnade. Wir lieben durch Gnade. Durch Gnade vermögen wir alles. Wir müssen uns in der Gnade halten und unsere Verbindung zu Christus bewahren. Indem wir unsere Gnade bewahren, verlassen wir die ganze Schwere dieser Welt und erhalten die Leichtigkeit

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von oben. Wie erreichen wir das? Durch Beten. Den Namen Gottes anzurufen, ist beten. Den Namen Got­ tes unmittelbar aus dem Herzen anzurufen bedeutet, uns in unmittelbare Verbindung mit Gott zu bringen. Mögen wir bald für immer mit dem Namen Gottes in unserem Herzen leben.

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