Autobiographie zwischen Text und Quelle: Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch I [1 ed.] 9783428542253, 9783428142255

Autobiographien, ein klassischer Gegenstand sowohl der Geschichts- als auch der Literaturwissenschaft, erfreuen sich im

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Autobiographie zwischen Text und Quelle: Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch I [1 ed.]
 9783428542253, 9783428142255

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Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch I

Autobiographie zwischen Text und Quelle Herausgegeben von Volker Depkat und Wolfram Pyta

Duncker & Humblot · Berlin

Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch I

Autobiographie zwischen Text und Quelle Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch I

Herausgegeben von Volker Depkat Wolfram Pyta

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung

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Inhaltsverzeichnis Einleitung: Autobiographie zwischen Text und Quelle Von Volker Depkat und Wolfram Pyta  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Autobiographie zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft Autobiographie als geschichtswissenschaftliches Problem Von Volker Depkat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 II. Autobiographie und Literaturwissenschaft Autobiographie als literaturwissenschaftliches Problem Von Martina Wagner-Egelhaaf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 „In eigener Sache […] romanhaft lügen“? Wahrheitsreferenz, Fiktionalisierung und Fälschung in der Autobiographie Von Michaela Holdenried  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Die Leistung des Fiktionalen für die historische Erkenntnis Von Nikola Becker  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 III. Autobiographie und Amerikanistik Autobiographie und Life Writing im Kontext der New American Studies Von Nassim W. Balestrini  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Gangster, Sozialisten und Life Writing: Die Zentralität der imaginierten Ränder in der amerikanischen Geschichte Von Frank Wolff  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 IV. Autobiographie und Geschlecht Autobiographie und Genderforschung. Zur Konzeption autobiographischer Texte von Liberalen in Deutschland 1933–1983 Von Angelika Schaser  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

6 Inhaltsverzeichnis Autobiographie und Handlungsautonomie in der ersten britischen Frauen­- bewegung Von Anne-Julia Zwierlein  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 V. Autobiographie und Sozialisation Autobiographie und Sozialisation Von Michael Maurer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Die Wahrheit der Wunschbiographie: Erich Honecker Von Martin Sabrow  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Die zweifache Präsenz von Sozialisation in Autobiographie Von Maria D. Wagenknecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 VI. Autobiographie und Imperium Biographik, Autobiographik und Russländisches Imperium Von Martin Aust  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Imperial turn und Sozialgeschichte der Medizin in Südosteuropa Von Heike Karge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Einleitung: Autobiographie zwischen Text und Quelle Von Volker Depkat und Wolfram Pyta 1. Zum Verhältnis von Geschichts- und Literaturwissenschaft Trotz der Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft als einer an Fragen der Genese und Transformation von orientierungsgebenden Sinnsystemen interessierten historischen Kulturwissenschaft1 stehen viele Historikerinnen und Historiker weiterhin mit dem Rücken zur Literaturwissenschaft. Das ist deshalb verwunderlich, weil Texte, und hier insbesondere narrative Texte, ganz im Sinne des New Historicism, zentrale Orte der Produktion, Transformation und Rezeption kulturellen Sinns in sozialen Kontexten sind.2 Daraus ergibt sich für Historikerinnen und Historiker die besondere Herausforderung, Texte (wieder) als Texte lesen zu lernen, um ihr Potential als Quellen für die historische Rekonstruktion kultureller Sinnstiftungsprozesse voll ausschöpfen zu können. Gerade ein kulturhistorisch ausgerichtetes Erkenntnisinteresse verlangt eine ausgeprägte Sensibilität für die Textualität historischen Quellenmaterials, ein Auge für die Grammatik der in Texten ablaufenden stets gegenwartsbezogenen Sinnstiftungsprozesse sowie eine Kenntnis der textuellen Dynamik von Genres und Gattungen. Kurz, die Geschichtswissenschaft, die im Allgemeinen die philologischen Kompetenzen, die sie ja einmal hatte, im Zuge der sozialgeschichtlichen Wende irgendwann nach 1960 verloren hat, muss gerade im Zeichen der kulturgeschichtlichen Wende die den (narrativen) Texten eigenen Formen und Mechanismen der Repräsentation von Wirklichkeit und der Sinnproduktion analysieren können, um Autobiographien, Tagebücher und Briefe, Romane und Reiseberichte und anderes narratives historisches Material als historische Quellen anzapfen und in ihrem Wert für die historische Erkenntnis einschätzen zu können. Gerade deshalb erscheinen die Literaturwissenschaften als ein geradezu natürlicher Kooperationspartner einer kulturgeschichtlich erweiterten 1  Bachmann-Medick, Cultural Turns. Burke, What is. Daniel, Kompendium. Hunt, New Cultural History. Bonnell/Hunt, Beyond. Vierhaus, Rekonstruktion. Wehler, Herausforderung. 2  Zum New Historicism hier nur: Gallagher/Greenblatt, Practicing New Historicism. Baßler, New Historicism. Veeser, The New Historicism.

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Geschichtswissenschaft, insbesondere die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie.3 Gleichwohl kommt der Dialog mit der Literaturwissenschaft von Seiten der Geschichtswissenschaft erst allmählich in Gang.4 An diesem Punkt setzt der vorliegende Band an, der es sich zum Ziel gesetzt hat, Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft ins Gespräch miteinander zu bringen, indem er einschlägig ausgewiesene Historikerinnen und Historiker sowie Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler Aspekte des Phänomens Autobiographie aus ihren jeweiligen disziplinären Perspektiven erörtern lässt. In diesem Zusammenhang gewährleistet der gewählte Fokus auf eine Textgattung den inneren thematischen Zusammenhang der hier versammelten Beiträge, die aus jeweils disziplinärer Perspektive ein gemeinsames Phänomen in interdisziplinärer Absicht erörtern. Das für viele interdisziplinäre Vorhaben leider charakteristische bloß additive Nebeneinander von disziplinären Einzelbeiträgen wird, so hoffen die Herausgeber, auf diese Weise produktiv überwunden.5 Das allgemeine Ziel des vorliegenden Bandes ist es, einerseits auszuloten, welche Anstöße die Geschichtswissenschaft aus dem Dialog mit der Literaturwissenschaft zu erzielen vermag, um das Erkenntnispotential autobiographischen Materials für die geschichtswissenschaftliche Forschung abzustecken. Andererseits soll aber auch die Literaturwissenschaft für die Frage- und Problemstellungen der kulturgeschichtlich erweiterten Geschichtswissenschaft sensibilisiert werden. 2. Autobiographie zwischen Quelle und Text Autobiographien erscheinen als denkbar gut geeignetes Thema für ein erstes Gespräch zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft. In beiden Disziplinen gehören sie einerseits seit langem zu den klassischen Arbeitsbereichen; andererseits erfreuen sie sich seit etwa der Jahrtausendwende einer neuen Konjunktur, die sich maßgeblich aus der kulturwissenschaftlichen Wende in den Geisteswissenschaften speist.6 In der Konsequenz verflechten 3  Grundlegend zur literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie: Martínez/Scheffel, Einführung. Stanzel, Theorie des Erzählens. Genette, Die Erzählung. 4  Vgl. hierzu jüngst insbesondere Pyta, Politikgeschichte und Literaturwissenschaft. Ders., Der Erste Weltkrieg, S. 12–23. 5  Zum Problem der Möglichkeiten und Grenzen von Intersdisziplinärität: Quante, Interdisziplinarität. Ders., Virtues. 6  Zum Stand der Autobiographieforschung in der Geschichts- und der Literaturwissenschaft: Depkat, Zum Stand. Wagner-Egelhaaf, Zum Stand. Dies., Autobiographie. Holdenried, Autobiographie. Auch die neue Biographieforschung widmet dem Verhältnis von Autobiographie und Biographie in der Konstitution von Lebensgeschichten viel Aufmerksamkeit. Vgl. Klein, Handbuch Biographie. Margadant, New Biography.

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sich deshalb in der aktuellen Autobiographieforschung seit langem etablierte Fragestellungen mit neuen kulturhistorischen Erkenntnisinteressen auf höchst komplexe Art. Gleichwohl tut sich die Geschichtswissenschaft weiterhin schwer mit der Quellengattung Autobiographie. An der Rekonstruktion des Tatsächlichen interessiert, sehen Historikerinnen und Historiker Autobiographien vielfach als rein subjektive, von nachträglichen Legitimierungs- und Rechtfertigungsbedürfnissen geprägte und im Wissen um später Geschehenes geschriebene Berichte, die eben deshalb vergangenes Geschehen bestenfalls verzerrt, oft aber auch ganz falsch darstellen.7 Ungeachtet dieser Problematik wurden und werden Autobiographien von der historischen Forschung als Quellen für eine breite Vielfalt von Fragestellungen herangezogen.8 Doch ist dabei die Tendenz, Autobiographien als Quellen im mehr oder weniger direkten Durchgriff auf eine hinter ihnen stehende Wirklichkeit zu lesen, immer noch stark – so als handele es sich bei Autobiographien um die „direkteste Umsetzung von Leben in Literatur“9, um „unverfälscht[e] Doku­ ment[e] der … Mentalität“10, um „besonders intim[e] Blick[e] in die Gedanken- und Erlebniswelt des Schreibers“11 oder um „Spiegel und Reproduk­ tionsort[e]“12 von Lebens- und Weltmodellen verschiedener sozialer Gruppen. Eckart Henning schreibt in Anlehnung an Roy Pascal gar, der Zweck der Autobiographie liege in der Feststellung des „Wesenskerns der Person“.13 Der Effekt dieses fragenden Zugangs zum Material ist immer der gleiche: Über der so ansetzenden Arbeit mit Autobiographien gerinnen dem Historiker Person und Identität, Milieu und Mentalität, Erfahrung und Lebenswelt zu sozialen Tatsachen an sich. Unterschlagen wird dabei die in der neueren, kulturgeschichtlich orientierten literaturwissenschaftlichen AutobiographieDiskussion wieder verstärkt hervorgekehrte Grundtatsache, dass autobiographische Texte just diese Phänomene im Akt des autobiographischen Schreibens ja überhaupt erst hervorbringen und situationsgebunden fixieren.14 Genau diese Dimension von Autobiographien als narrative Texte, die eine eigene Welt im Prozess der Erzählung hervorbringen, haben Historiker im Umgang mit Autobiographien bisher kaum für ihre Erkenntnisinteressen 7  Vgl.

dazu ausführlich den Beitrag von Volker Depkat in diesem Band. ein ausführlicher Überblick: Depkat, Zum Stand, S. 171–174. 9  Neumann, Identität, S. 1. 10  Doerry, Übergangsmenschen, S. 65. 11  C. Friedrich, Autobiographien, S. 115. 12  Funck/Malinowski, Geschichte von oben, S. 241. 13  Henning, Selbstzeugnisse, S. 33. 14  Fulda, Auf der Suche, S. 213. Allgemein wichtig: Lehmann, Bekennen, S. 54– 87. 8  Dazu

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nutzbar gemacht. Zwar gibt es eine weitverzweigte und kontroverse Debatte über Narrativität in der Historiographie, doch dreht die sich weitestgehend um die Frage nach der epistemologischen Bedeutung von Erzählung für den Prozess der historischen Erkenntnis.15 Angestoßen durch Arthur C. Danto, der 1965 in seinem Werk „Analytical Philosophy of History“ die These vertrat, dass die Erzählung die der Historiographie eigene Form der kausalen Erklärung sei,16 kreiste die folgende Debatte einerseits um Erzählung als Darstellungsprinzip der Historiographie, andererseits um Erzählung als integralen Bestandteil historischer Erkenntnis. Zwar hat sich Hayden Whites Position, wonach es keinen Unterschied zwischen fiktionalen und wissenschaftlichen Texten gibt und sich das Faktische selbst als Fiktion der Historiker darstellt, nicht durchgesetzt;17 doch kann die Theorie der Geschichtsschreibung nach dieser Debatte, wie Jörn Rüsen zu Recht betont, nicht mehr hinter die Einsicht zurückfallen, dass das Erzählen nicht bloß die der historischen Erkenntnis nachgeordnete Funktion der Darstellung erfüllt, sondern dass sich historische Erkenntnis in der Erzählung formiert, dass die Erzählung also für die historische Sinnbildung elementar und fundamental ist.18 Zur Einordnung des vorliegenden Bandes in diese Diskussion sei festgehalten, dass sich die Debatte über Narrativität in der Historiographie vor allem am Problem der Abgrenzung von wissenschaftlicher und fiktionaler Erzählung entfaltete; auf den Umgang mit den Quellen selbst hatte sie kaum Auswirkungen. Die Frage nach der Narrativität des uns überlieferten historischen Materials in quellenkundlicher Absicht wird von Historikerinnen und Historikern noch kaum systematisch gestellt. Hier setzt das Erkenntnisinteresse dieses Bandes an, das in historiographischer Absicht die Narrativität des autobiographischen Materials zum Ausgangspunkt der Überlegungen macht und deshalb das Gespräch mit den Literaturwissenschaften sucht, um Autobiographien auf neue Art als Quellen für die historische Forschung aufbereiten zu können. Damit fügt sich das Vorhaben dieses Bandes ein in die laufenden Bemühungen um eine Erneuerung der Quellenkunde, die aufgrund der signifikanten Erweiterung des Spektrums relevanter historischer Fragestellungen zunächst im Zuge der sozial- und 15  Grundlegend: Danto, Analytische Philosophie. White, Auch Klio. Ders., Bedeutung der Form. Ders., Metahistory. Rüsen, Wie kann man Geschichte. Ders., Geschichtsschreibung als Theorieproblem. Ders., Die vier Typen. 16  Danto, Analytische Philosophie, S. 404–405. 17  Zur Diskussion über White hier nur: Oexle, Sehnsucht nach Klio. Walther, Fernes Kampfgetümmel. Wagner, Geschichte als Text. Lüsebrink, Tropologie. Fohrmann, Allegorese der Wirklichkeit. H.-E. Friedrich, Deformierte Lebensbilder, S. 54–57. 18  Rüsen, Geschichtsschreibung als Theorieproblem, S. 23–24, 30–35.

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dann der kulturhistorischen Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft dringend geboten erscheint.19 3. Aufriss des Bandes Die Beiträge des Bandes sind in fünf Großkapiteln arrangiert, von denen die ersten beiden allgemein disziplinär ausgerichtet sind, während die übrigen drei thematisch fokussiert aktuelle und innovative Felder der kulturwissenschaftlichen Autobiographieforschung erörtern. Dabei ist es das Prinzip in allen Abschnitten, Aufsätze von jeweils einschlägig ausgewiesenen Experten unterschiedlicher Disziplinen zusammenzuspannen, um so die einzelnen Beiträge aus einer jeweils anderen disziplinären Perspektive mehr oder weniger direkt kommentieren zu lassen, um das Gespräch zwischen den Disziplinen durch möglichst pointierte Stellungnahmen in Gang zu bringen. Im ersten Großkapitel thematisieren Volker Depkat und Nikola Becker für die Geschichtswissenschaft sowie Martina Wagner-Egelhaaf und Michaela Holdenried für die germanistische Literaturwissenschaft Autobiographie als Forschungsproblem ihrer jeweiligen Disziplinen. Dabei stehen Fragen des Quellenwertes, der Gattungsdefinition und der Genrekonventionen von Autobiographie, ihr insgesamt prekärer Ort und Stellenwert in sowohl der geschichts- als auch der literaturwissenschaftlichen Forschung sowie Fragen von Faktizität, Referentialität und Wahrheit autobiographischer Texte im Zentrum der vielfältigen und weit greifenden Überlegungen. In der zweiten Sektion erörtert Nassim Balestrini das Phänomen Autobiographie aus Sicht einer kulturwissenschaftlich perspektivierten Amerikanistik, die Autobiographien schon seit längerem als Akte von Identitätspolitik unter den Bedingungen von konfliktträchtiger Multiethnizität zu begreifen gelernt hat und dem Thema gegenwärtig unter den Prämissen der Life Writ­ ing-Forschung neue Facetten abgewinnt. Anschließend setzt sich Frank Wolff als Migrations- und Osteuropahistoriker im Lichte eigener Erkenntnisinteressen mit dem Theorieangebot der amerikanistischen Life WritingForschung auseinander. Um das Verhältnis von „Autobiographie und Geschlecht“ geht es im dritten Abschnitt, in dem Angelika Schaser als Historikerin und Anne Zwierlein als Anglistin Inhalt, Form und Praxis von Autobiographie als 19  Depkat, Plädoyer. Zur Auseinandersetzung mit dem Quellenbegriff allgemein: Rathmann/Wegmann, „Quelle“. In diesem Zusammenhang sei hervorgehoben, dass die Ende der 1990er Jahre in der Geschichtswissenschaft einsetzende Diskussion zu Ego-Dokumenten zentral von einer quellenkundlichen Dynamik getragen war. Schulze, Ego-Dokumente. Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Fulbrook/Rublack, In Relation. Greyerz, Ego-Documents.

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gendered phenomena erörtern. Damit nimmt diese Sektion die Kritik der feministischen Autobiographieforschung auf, die sich maßgeblich in der Infragestellung der Prämissen einer Geschichtswissenschaft entfaltete, die, in der Trennung von öffentlich und privat gründend, das Private für historisch nicht bedeutsam erklärte und sich folglich auf öffentliche Handlungsfelder und dort wirkende Akteure konzentrierte. In der Konsequenz führte diese Geschlechterordnung des Faches zu einer Kanon- und Traditionsbildung, die, in der Meistererzählung vom autonomen, authentischen und öffentlich wirksamen Selbst ankernd, Frauen marginalisierte und ihr Wirken in der Geschichte dem Vergessen anheim gab. Allerdings ging es der frauen- und geschlechtergeschichtlichen Autobiographieforschung niemals nur darum, die Präsenz von Frauen in der Geschichte sichtbar zu machen. Sie arbeitete sich vielmehr auch daran ab, die autobiografischen Genrekonventionen als männlich grundiert zu entlarven und die in sie eingeschriebenen geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse zu analysieren.20 Im Anschluss an „Autobiographie und Geschlecht“ steht der Zusammenhang von „Autobiographie und Sozialisation“ im Zentrum der Überlegungen, wobei die Historiker Michael Maurer und Martin Sabrow sowie die Amerikanistin Maria Wagenknecht das Problem aus zweierlei Perspektiven untersuchen: Einerseits werden in einem großen zeitlichen Bogen, der von der Frühen Neuzeit bis in die Zeitgeschichte reicht, die Möglichkeiten von Autobiographie als Quelle für die historische Rekonstruktion von Sozialisationsprozessen thematisiert; immerhin schildern Autobiographen ja, wie sie in die Gesellschaft hineingewachsen sind und wie sich ihr Verhältnis zu ihrer jeweiligen Gesellschaft bestimmt. Andererseits erörtern Maurer, Sabrow und Wagenknecht das Schreiben und Lesen von Autobiographien als kulturelle Praktiken im Sozialisationsprozess. Dabei wird deutlich, in welchem Maße Autobiographien als Akte sozialer Kommunikation in gleich mehrfacher Hinsicht kollektive Texte sind. Zwar steht in ihnen ein individuelles Leben im Fokus, doch setzen Autobiographien ihr Ich immer auch in ein Verhältnis zu größeren sozialen Gruppen wie Familie, Berufsgruppe oder Parteien, reflektieren ihre Individualität mithin immer auch in Abhängigkeit von einer im Akt des autobiographischen Schreibens selbst imaginierten Kollektivität. Deshalb sind Ich und Wir in der autobiographischen Erzählung auf komplexe Art ineinander verschränkt. Das begründet die identitätspolitische Funktion von Autobiographie in Sozialisationsprozessen, die vielfach einer didaktischen Dynamik folgt, die darauf aus sein kann, Vorbilder für nachahmenswerte Leben zu konstruieren oder warnende Beispiele für misslungene Leben zu geben. 20  Vgl. dazu auch den Literaturbericht Depkat, Autobiografie und Biografie, S. 252–254.

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Bedeutung und Funktion von Autobiographie im Kontext identitätsbildender sozialer Selbstbeschreibungsprozesse ist auch Gegenstand der Beiträge des fünften Großabschnitts, in dem es um die (Selbst-)Konstruktion imperialer Subjekte durch Autobiographie geht. Dabei diskutieren die Beiträge der beiden Ost- und Südosteuropahistoriker Martin Aust und Heike Karge den Wert von Autobiographie und autobiographischer Praxis für die neue Imperiumsforschung. Letztere reflektiert Imperien wieder verstärkt „als langlebige, anpassungsfähige und relative erfolgreiche Organisationssysteme ethnischer, kultureller und politischer Vielfalt“.21 Dabei fragt sie vor allem nach den Kohäsionskräften, die diesen nur vermeintlich vormodernen und durch die im 19. Jahrhundert entstehenden Nationalstaaten scheinbar unweigerlich dem Untergang geweihten Herrschaftsordnungen ihre Langlebigkeit und Stabilität verliehen. In diesem Zusammenhang weist die neuere Imperiumsforschung zu Recht darauf hin, dass „die Stabilität imperialer Herrschaft nicht allein von strukturellen und außenpolitischen Faktoren“ abhing, sondern vielmehr auch von den Identitätsentwürfen der imperialen Subjekte, die sich als Mitglieder und Vertreter eines imperialen Herrschaftsverbandes imaginierten und entsprechend agierten.22 Welche Rolle Autobiographie als soziale Praxis in den Prozessen der kulturellen Konstruktion und Imagination von Imperium spielte, das reflektieren die beiden Beiträge der fünften Sektion dieses Bandes. Insgesamt legen die hier versammelten Aufsätze ein beredtes Zeugnis von der Vielgestaltigkeit von Autobiographie als Gattung und sozialer Praxis ab. Als überaus populäres Genre wurde und wird Autobiographie von einem breiten Spektrum von Individuen und Gruppen aus ganz unterschiedlichen Motivationen und Interessen heraus getragen, und als gesellschaftliche Praxis erfüllte und erfüllt sie eine breite Vielfalt von politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Funktionen, die jedoch nicht zu allen Zeiten, in jeder Region und für jede soziale Schicht die gleichen waren. In diesem Zusammenhang zeigt das hier dokumentierte Gespräch zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft, dass es auch für historische Erkenntnisinteressen sinnvoll und weiterführend ist, den ästhetischen Eigenwert von autobiographischen Texten ernst zu nehmen und sie nicht einfach nur unter Ausblendung des Ästhetischen naiv als Quellen im Durchgriff auf eine hinter ihnen stehende Wirklichkeit zu lesen. Autobiographien konstruieren vielmehr im Prozess der Narration erzählte Welten, die ein eigenes Repertoire an Protagonisten und eine spezifische zeit-räumliche Struktur haben. Diese erzählte Welt verweist einerseits auf die historische Wirklichkeit, ist andererseits aber auch ein stückweit autonom und hat ihr eigenes, 21  Aust/Schenk, 22  Aust/Schenk,

Einleitung, S. 11. Einleitung, S. 12.

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vielfach durch die Konventionen des Genres bestimmtes und narrativen Dynamiken und Zwängen folgendes Gewicht. Dies anzuerkennen heißt auch, den Erzähler der Autobiographie nicht umstandslos mit dem historischen Akteur gleichzusetzen, so als sei der Mann oder die Frau der Feder identisch mit dem Mann oder der Frau der Tat. Der alte literaturwissenschaftliche Grundsatz, zwischen Autor und Erzähler zu trennen, muss gerade auch für die quellenkundliche Aufbereitung autobiographischen Materials prominent in Anschlag gebracht werden. Ein zweiter Problemzusammenhang durchzieht das in diesem Band dokumentierte Gespräch zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft, und das ist die Kritik der Prämissen auf denen Autobiographie beruht. Die von jedem autobiographischen Text entworfene Gesprächssituation suggeriert, dass der Leser mit der im Nachhinein verfassten, individuellen Erzählung einer realen historischen Person konfrontiert ist, die eine im eigenen Erleben und auf das eigene Gedächtnis gestützte Geschichte ihres Lebens und ihrer unverwechselbaren Persönlichkeit präsentiert. Tatsächlich aber ist Autobiographie als Literatur und soziale Praxis ein auf komplexe Art und Weise kollektives Phänomen. Dies gilt zum einen für die autobiographische Erzählung selbst, in der oft viele Stimmen, nicht nur die des Autobiographen, zu hören sind und die Individualität in vielfältigen Zusammenhängen stets auch in Abhängigkeit von Kollektivitäten reflektiert. Das gilt zum anderen für die Genese von Autobiographien, an der in der Regel mehrere Akteure konkret beteiligt sind, sei es, dass sie konkret bei der Abfassung des Textes mitwirken, sei es, dass sie die Abfassung von Autobiographien aus politischen oder kommerziellen Erwägungen heraus anregen. Schließlich steht jede einzelne Autobiographie ungeachtet der von ihr proklamierten Individualität stets in einem unauflösbaren Zusammenhang mit den größeren Sinnsystemen ihrer Zeit. Mit einer Autobiographie verortet sich ein Ich auf den mentalen Landkarten seiner Gegenwart und schreibt sich in die in einer Kultur immer schon ausgeprägten und sozial akzeptierten Identitätsnarrative ein. Insofern leistet autobiographische Selbstreflexion einerseits einen eigenen Beitrag zur Deutung der erfahrenen (Zeit)Geschichte und ist dabei doch zugleich an die allgemeineren, immer schon laufenden Sinnstiftungsprozesse strukturell gekoppelt. Als soziale Praxis ist Autobiographie mithin stets eingelassen in ein durch viele Akteure definiertes Feld, das gleichermaßen literarischen, politischen, sozialen und ökonomischen Dynamiken folgt. Insofern stellt sich gerade im Zusammenhang mit Autobiographien einerseits die Frage, in welchem Verhältnis die autobiographische Erinnerung zum kollektiven Gedächtnis einer Zeit und einer Gruppe steht.23 Hier wäre dann auch nach dem Ort einer 23  Grundlegend zur Erinnerungs- und Gedächtnisforschung: Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Ders., Das kollektive Gedächtnis. Ass-

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jeweiligen Autobiographie in den Identitätsaushandlungsprozessen und Deutungskämpfen einer Zeit zu fragen.24 Andererseits aber gilt es auch das Verhältnis auszuloten, in dem die autobiographische Erinnerung zu dem von der Geschichtswissenschaft und anderen gesellschaftlichen Institutionen produzierten Wissen steht.25 In diesem Zusammenhang wäre einerseits zu erörtern, welchen Beitrag autobiographische Selbstreflexion zur Formierung historischen Wissens und zur Produktion von historischen Fakten im Sinne des „Wie-es-eigentlich-gewesen“ (Leopold von Ranke) leistet.26 Andererseits wäre zu fragen, wie das von der historischen Forschung erarbeitete Wissen auch die autobiographische Narration bestimmt. In wissensgeschichtlichen Prozessen nehmen Autobiographien insgesamt eine Zwitterstellung ein; sie sind einerseits Zulieferer für kollektive Gedächtnisse und Faktenlieferant für die historische Forschung; sie sind andererseits aber immer auch durch die Wissenssysteme ihrer Zeit bestimmt. Bei letzterem spielen dann auch Fragen nach Kanonisierungsprozessen von Autobiographien eine Rolle, die das Pantheon von Lebensgeschichten definieren, durch die sich soziale Gruppen über sich selbst und ihren Ort in der Welt verständigen und sich ihr gegenüber orientieren. Alle diese Fragen beziehen sich in letzter Konsequenz auf die Funktionalität von Literatur in Prozessen sozialer Selbstverständigung und der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, zu denen das hier dokumentierte Gespräch zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaften nahezu unweigerlich vorstößt.27 Bei den Kapiteln dieses Bandes handelt es sich um die für den Druck überarbeiteten Vorträge, die im Rahmen der Tagung „Autobiographie zwischen Text und Quelle. Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft im Gespräch“ gehalten wurden, die am 16. / 17.  November 2012 an der Universität Regensburg stattfand. Diese Veranstaltung wurde von der Fritz Thyssen Stiftung ebenso großzügig gefördert wie die Drucklegung dieses Bandes, wofür die Herausgeber sich herzlich bedanken. Bei der Organisatimann, Das kulturelle Gedächtnis. Zum autobiographischen Gedächtnis: Markowitsch/ Welzer, Das autobiographische Gedächtnis. Pohl: Das autobiographische Gedächtnis. Allgemein zum neuesten Stand der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung: Eichenberg/Gudehus/Welzer, Gedächtnis und Erinnerung. Erll, Kollektives Gedächtnis. Erll/Nünning, Cultural Memory Studies. Pethes/Ruchatz, Gedächtnis und Erinnerung. 24  Dieser Frageansatz ist besonders ausgeprägt in der amerikanistischen Autobiographie- und Life-Writing Forschung: Olney, Autobiography. Sayre, American Lives. Smith/Watson, Reading Autobiography. Scheiding, American Lives. 25  Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Große Kracht, Gedächtnis und Geschichte. 26  Ranke, Geschichte, vii. 27  Zentral für diesen Zusammenhang ist ein wissenssoziologischer Begriff von Wissen. Grundlegend: Berger/Luckmann, Gesellschaftliche Konstruktion.

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on der Tagung vor Ort halfen Liv Birte Buchmann und Katharina Matuschek als studentische Hilfskräfte in der gewohnt souveränen Gelassenheit kräftig mit, und dafür sei ihnen an dieser Stelle noch einmal gedankt. Tamara Heger hat diesen Band mit Akribie, Sprachgefühl und Kompetenz redaktionell betreut, wofür ihr ein besonderer Dank gebührt. Gleichwohl sind alle Fehler und Unzulänglichkeiten dieses Bandes unsere. Literaturverzeichnis Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 2. Aufl., München 1997. Aust, Martin / Schenk, Frithjof Benjamin: Einleitung. Autobiographische Praxis und Imperienforschung, in: Dies. (Hrsg.): Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Köln 2015. S. 11–35. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 5. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2014. Baßler, Moritz (Hrsg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2. Aufl., Tübingen 2001. Berger, Peter L. / Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt 1980. Bonnell, Victoria E. / Hunt, Lynn (Hrsg): Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of Society and Culture. Berkeley, CA 1999. Burke, Peter: What is Cultural History?. Cambridge 2004. Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. 6. Aufl., Frankfurt 2014. Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt 1980. Depkat, Volker: Autobiografie und Biografie im Zeichen des Cultural Turn, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 5, 2014, S. 247–265. Depkat, Volker: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft, Band 29, 2003, S. 441–476. Depkat, Volker: Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt. Zum Quellenwert von Autobiographien für die historische Forschung, in: Rathmann / Wegmann: „Quelle“, S. 102–117. Depkat, Volker: Plädoyer für eine kommunikationspragmatische Erneuerung der Quellenkunde, in: Patrick Merziger et al. (Hrsg.): Geschichte, Öffentlichkeit, Kommunikation. Festschrift für Bernd Sösemann zum 65. Geburtstag. Stuttgart 2010. S. 205–221. Depkat, Volker: Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Band 23, 2, 2010, S. 170–187.

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I. Autobiographie zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft

Autobiographie als geschichtswissenschaftliches Problem1 Von Volker Depkat 1. Autobiographie in der historischen Quellenkunde Autobiographien sind eine wichtige Quelle der Geschichtswissenschaft, und wenn Historikerinnen und Historiker von Autobiographie sprechen, dann meinen sie in aller Regel die klassische Form des schriftlichen Selbstzeugnisses in Prosa, in dem ein Erzähler, der zugleich der Protagonist der Erzählung ist, aus eigener Initiative und in der Regel mit dem Ziel der Veröffentlichung, eine in einheitlicher Schreibperspektive komponierte, narrative Darstellung des eigenen Lebens oder einzelner Abschnitte daraus präsentiert.2 Damit macht sich die Geschichtswissenschaft die von Philippe Lejeune 1975 vorgeschlagene und inzwischen weithin akzeptierte Definition zu eigen, wonach Autobiographie ein „[r]écit rétrospectif en prose qu’une personne réelle fait de sa propre existence, losqu’elle met l’accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personalité“ sei.3 Zwar ist der Begriff Autobiographie in der literaturwissenschaftlichen Kritik und nicht zuletzt durch die aus den USA kommende Life WritingForschung in den letzten Jahren deutlich ausgeweitet worden, so dass viel1  Der folgende Beitrag bietet eine Synopse meiner langjährigen Forschungen zu Autobiographie, Selbstzeugnissen und neuerdings auch Biographie insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert, die sich in mehreren Studien niedergeschlagen haben. Depkat, Doing Identity. Ders., The Challenges. Ders., Die DDR-Autobiographik. Ders., Zum Ort der Biografik. Ders., Ego-Dokumente als quellenkundliches Problem. Ders., Zum Stand. Ders., Plädoyer. Ders., Nicht die Materialien. Ders., Autobiographie und die soziale Konstruktion. 2  Lehmann, Bekennen, S. 36. Neumann, Identität, S. 9–16. Schwalm, Autobiographie. 3  Lejeune, Le pacte, S. 14. Diese Begriffsklärung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die literaturwissenschaftliche Forschung eine allgemein akzeptierte Gattungsdefinition noch nicht erarbeitet hat. Die Vielgestaltigkeit autobiographischer Texte steht dem auch entgegen, zumal die neuere Life Writing Forschung den Begriff des Autobiographischen noch erweitert hat. Vgl. Holdenried, Autobiographie, S. 19– 24. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 5–10.

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fach jede Form der Selbstthematisierung unter dem normativ weniger aufgeladenen Rubrum autobiographische Texte gefasst wird.4 Gleichwohl dominiert in der historischen Forschung weiterhin ein Begriff von Autobiographie als Selbstthematisierung in Prosa, in denen ein Autor das Ganze seines Lebens bis zum Zeitpunkt der Niederschrift retrospektiv überschaut, den disparaten Stoff seines Lebens über die wertende Kategorie der Bedeutung auswählt, ihn chronologisch ordnet und schriftlich zu einer in sich geschlossenen Prosa-Erzählung gestaltet.5 In dieser Ausrichtung wirkt die konzeptionelle Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Wilhelm Dilthey nach, der die so definierte Autobiographie als „Wurze[l] alles geschichtlichen Auffassens“ reflektiert hat.6 Autobiographien – so verstanden – sind eine klassische Quelle der Geschichtswissenschaft, die seit langem schon für eine breite Vielfalt von historischen Fragestellungen angezapft wird und die im Zuge der kulturwissenschaftlichen Wende in der Geschichtswissenschaft noch neue Relevanz gewonnen hat. Autobiographien sind selbstredend bevorzugtes Material der Biographieforschung und im weiteren Zusammenhang auch der traditionellen Geistes- und Ideengeschichte. Die Sozialgeschichte nutzt sie als Quellen für die Rekonstruktion der Lebens- und Arbeitswelten verschiedener Sozialmilieus, und im Zeichen der gegenwärtigen kulturgeschichtlichen Wende in der Geschichtswissenschaft werden Autobiographien, wie überhaupt alle Selbstthematisierungen historischer Subjekte, unter einem breiten Bündel von Fragestellungen als Quellen der Sinn- und Erfahrungsgeschichte herangezogen, weil sie Auskunft über die Genese und Transformation vergangener Vorstellungswelten zu geben versprechen.7 Allerdings ändert das aktuelle Interesse der Geschichtswissenschaft an Autobiographien nichts daran, dass sich das Fach insgesamt weiterhin mit autobiographischem Material eher schwer tut. Weil Historikerinnen und Historiker, zumindest die meisten von ihnen, weiterhin an die Wirklichkeit glauben, also an einen Bereich realer Phänomene, die unabhängig vom Bewusstsein und aller kultureller Deutung vorhanden und als Tatsachen zu konstatieren sind, begegnen sie autobiographischem Material mit großer Skepsis.8 Meist stehen Historikerinnen und Historiker autobiographischen 4  Smith/Watson, Reading Autobiography, S. 1–5. Zur Life Writing Forschung siehe auch den Beitrag von Nassim Balestrini in diesem Band. 5  Für die historische Diskussion: Henning, Selbstzeugnisse, S. 18–24, 32–34. Popkin, History, S. 11–24. Günther, And now. 6  Dilthey, Aufbau, S. 247. 7  Zum Vorhergehenden siehe ausführlich: Depkat, Zum Stand, S. 171–174. 8  Die Skepsis zusammenfassend: Popkin, History, S. 15–16. Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion, S. 447–450.



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Zeugnissen noch misstrauischer gegenüber als anderem historischen Material, das sie fragend in Quellen verwandeln. Quellensystematisch gehören Autobiographien zur Gattung der Tradition, also zu dem historischen Material, das absichtlich mit dem Ziel verfasst wird, Geschichte und den Anteil, den ihr Verfasser daran hatte, der Nachwelt zu überliefern.9 Autobiographien gelten deshalb vielfach als rein subjektive Quellen, die vergangene Wirklichkeit verzerrt oder ganz falsch darstellen, weil sie im Nachhinein – oft in großem zeitlichen Abstand von den Geschehnissen, von denen sie berichten, – verfasst und von Rechtfertigungsbedürfnissen durchsetzt sind. Schreiben Autobiographen als historische Akteure, ist es wahrscheinlich, dass sie ihr eigenes Gewicht in und ihren eigenen Anteil an vergangenen Entscheidungsprozessen stärker machen, als er tatsächlich war; schreiben sie als bloße Beobachter und Chronisten ihrer Zeit ist es oft undurchsichtig, auf welchen Quellen ihr Bericht basiert. Haben sie das, wovon sie berichten, wirklich selbst erlebt oder haben sie es auch nur nachgelesen? Haben sie es wenigstens nachgelesen oder nur vom Hörensagen aufgeschnappt? Es bleibt Historikerinnen und Historikern oft nichts anderes übrig, als dem Autobiographen zu glauben oder nicht – und meistens tun sie es lieber nicht. Diese Skepsis gegenüber autobiographischen Texten ist tief in der klassischen Quellenkunde des Fachs und ihren fundamentalen analytischen Trennungen verwurzelt.10 Von der Unterscheidung zwischen Tradition und Überrest war schon kurz die Rede. Eine weitere quellensystematische Unterscheidung, die strukturell an diese gekoppelt ist, ist die von Akten und persönlichen Quellen, unter die Autobiographien gemeinhin fallen. Die von Winfried Baumgart bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft herausgegebene siebenbändige „Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit 9  Allgemein zur Quellenkunde der Selbstzeugnisse: Henning, Selbstzeugnisse, S. 16–43. Die wichtigsten quellenkundlichen Spezialstudien zur Autobiographie sind meist älteren Datums. Glagau, Selbstbiographie. Klaiber, Selbstbiographie. Gruhle, Selbstbiographie. Harnack, Selbstbiographie. Auf diesen älteren Studien in ihrer Bewertung von Autobiographien im wesentlich aufbauend: Brandt, Werkzeug, S. 61–64. Faber/Geiss, Arbeitsbuch, S. 84–87. Opgenoorth/Schulz, Einführung, S. 49–56, 73–82. Engelbrecht, Autobiographien, Memoiren. Gleichwohl brachte zuerst die sozialgeschichtliche und dann die – im weitesten Sinne – kulturgeschichtlich-anthropologische Grundlagendiskussion immer auch Ansätze zur Neubestimmung des Quellenwertes von Autobiographien mit sich: Fischer, Arbeitermemoiren. Redlich, Autobiographies. Das Interesse der historischen Anthropologie an Autobiographien speist sich aus verschiedenen Quellen: Funck/Malinowski, Geschichte von oben. Günther, And now. Lahusen, Zukunft. Aust/Schenk, Imperial Subjects. 10  Baumgart, Quellenkunde. Maurer, Quellen. Die Grundlagen der historistischen Quellenkunde wurde gelegt in: Droysen, Historik. Bernheim, Lehrbuch. Wirkungsmächtig darauf aufbauend: Kirn, Einführung. Brandt, Werkzeug, S. 48–64.

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von 1500 bis zur Gegenwart“ unterscheidet mit Band 4 „Restauration, Liberalismus und Nationale Bewegungen (1815–1870)“ auch im Titel durchgehend zwischen „Akten, Urkunden“ einerseits und „persönlichen Quellen“ andererseits.11 Zwar betont Wolfgang Elz, der Bearbeiter des 2003 erschienenen Bandes über die persönlichen Quellen zur Zeit der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, dass es eine „absolut trennscharfe Grenze“ zwischen Akten und persönlichen Quellen nicht gebe, gleichwohl wolle er unter „persönliche Quellen“ solche Quellen verstanden wissen, „die eindeutig einer Person zuzuweisen sind und ebenso eindeutig nicht zu den reinen Akten gehören.“12 Das sind für Elz – wie überhaupt für alle Bearbeiter der einzelnen Bände der Baumgartschen Quellenkunde – Briefe, Tagebücher, Autobiographien und Memoiren. In letzter Konsequenz liegt diesen beiden für die historische Quellensystematik grundlegenden analytischen Trennungen – Überrest und Tradition einerseits, Akten und persönlichen Quellen andererseits – die Unterscheidung zwischen Objektivität und Subjektivität des Materials in Bezug auf die historische Wirklichkeit zu Grunde. Für Johann Gustav Droysen, einem der Gründerväter des Fachs, war es bestimmend für die Quellen der Tradition, dass in ihnen die „Vergangenheiten, wie menschliches Verständnis sie aufgefaßt und sich geformt hat, zum Zwecke der Erinnerung überliefert“ sind.13 Es sei deshalb charakteristisch für die Quellen dieser Großgattung, dass es sich bei ihnen um „Auffassungen“ handele, die man folglich „nach dem Verhältnis zwischen der Auffassung und dem, was sie auffassen“, unterscheiden könne. Es werde in ihnen folglich „entweder mehr das Sachliche oder mehr die Auffassung, wenn man will, das Subjektive überwiegen können.“14 Sache – also ein historisches Faktum – und Auffassung – also die subjektive Deutungs- und Vorstellungswelt, aus der heraus historische Wirklichkeit wahrgenommen wird – werden so zu den beiden Polen des Spannungsfeldes, in dem sich die quellenkritische Arbeit mit Autobiographien im Speziellen und Traditionsquellen im Allgemeinen bewegt.15 Entscheidend für die Auseinandersetzung der bis heute im Kern gültigen Quellensystematik des Historismus mit Briefen, Tagbüchern, Memoiren und anderen Quellen der Tradition ist nun die Prämisse, dass sie gleichermaßen das „Tatsächliche“ und sowohl den „Gedankenkreis des Schreibers“ als auch den „Gedankenkreis des Zeitalters“ enthielten, den kollektiven Wertehaushalt einer Zeit also. Diese „Gedankenkreise“ individueller und kollek11  Baumgart,

Quellenkunde. Weimarer Republik, S. 1. 13  Droysen, Historik, S. 427. 14  Ebd., S. 90. 15  Ebd., S. 91. 12  Elz,



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tiver Art nun bewirkten für Droysen die „Trübung und Färbung des Tatsäch­ lichen“.16 Das Subjektive stand mithin gleichsam zwischen den Historikerinnen und Historikern und der in einem Tagebuch, einem Brief oder einem Erinnerungswerk enthaltenen historischen Faktizität. Deshalb arbeitet sich die historistische Quellenkritik im Umgang persönlichen Quellen vor allem daran ab, das „Tatsächliche“ aus den „Auffassungen“ herauszufiltern.17 Dieser Frageansatz bestimmt bis heute maßgeblich die quellenkundliche Auseinandersetzung mit Autobiographien und anderen Selbstzeugnissen. „Das wichtigste Anliegen der Quellenkritik des Genealogen (wie des Historikers) ist es, den Wahrheitsgehalt der Selbstzeugnisse festzustellen“, schreibt Eckart Henning in seiner 2012 erschienenen quellenkundlichen Erörterung, und er empfiehlt „Vergleiche mit anderen Lebenszeugnissen desselben Autors“ als Mittel der Wahl, „um seine Aufzeichnungen bestätigen, korrigieren oder widerlegen zu können.“18 Auch die Überlegungen der Baumgartschen „Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart“ arbeiten sich am Verhältnis von Selbstzeugnis und Faktizität ab. In dem 1977 erstmals erschienenen und 1991 sowie 2005 überarbeiteten Band 5.2, der die persönlichen Quellen für das Zeitalter des Imperialismus und des Ersten Weltkrieges zusammenträgt, fasst der Bearbeiter Winfried Baumgart die Memoiren der Zeit von 1871 bis 1918 als „Traditionsquellen, da sie von ihrer eigenen Hauptintention her zur Unterrichtung der Nachwelt verfaßt“ seien.19 Die Subjektivität der Memoiren wird dann anschließend als Haupthindernis auf dem Weg zur historischen Wirklichkeit identifiziert, und als die die Subjektivität der Memoiren definierenden Faktoren werden genannt: erstens, die perspektivische Verkürzung der Darstellung, die den Autor und seine Sicht auf die erfahrene historische Wirklichkeit in den Mittelpunkt stellt; zweitens die interessegeleitete Auswahl des Stoffes durch den Verfasser und die darin begründete selektive Darstellung historischer Wirklichkeit; drittens der in der Regel große zeitliche Abstand zwischen Schreibgegenwart und den dargestellten historischen Begebenheiten, sowie viertens schließlich die Wertung des Geschehens durch den Verfasser. Aus diesen Gründen müssten Historikerinnen und Historiker, so Baumgart, Memoiren „von vornherein ein professionelles Mißtrauen entgegenbringen“.20 Im Vergleich zu Memoiren billigt Baumgart Tagebüchern und Briefen „allgemein ein höheres Maß an Wahrheitsgehalt“ 16  Alle

Belege: Ebd., S. 146. dazu auch Brandt, Werkzeug, S. 61–63. 18  Henning, Selbstzeugnisse, S. 34–35. 19  Baumgart, Zeitalter des Imperialismus, S. 1. Auf der CD-ROM Ausgabe von 2005 finden sich diese Zitate unverändert. 20  Ebd., S. 2. 17  Vgl.

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zu.21 Beide Quellengattungen gehörten „der Kategorie der Überreste an“ und seien deshalb „im Hinblick auf die Nachwelt ohne Absicht der Irreführung oder Fälschung geschrieben“, weshalb sie „zuverlässige Momentaufnahmen“ böten.22 Dieses professionelle Misstrauen nicht nur gegenüber Autobiographie, sondern gegenüber allen in der ersten Person gehaltenen Äußerungen ist einerseits das Ergebnis der Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhunderts, andererseits aber auch die Folge eines lange Zeit auf den Staat und das öffentliche Leben fixierten historischen Erkenntnisinteresses. Ausgehend von den Prämissen, dass Objektivität das gerade Gegenteil von Subjektivität sei und dass das Ziel der wissenschaftlichen Historiographie folglich die objektive Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit wie sie „eigentlich gewesen“ sei (L. von Ranke),23 ließ der scientific turn der Historiographie Fragen der historischen Subjektivität aus dem Horizont fallen – „as part of the attempt to be objective.“24 Die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildende neue Identität als Geschichtswissenschaftler, die zur Aufgabe von Historikerinnen und Historikern erklärte, verifizierbares, objektives Wissen aus dem überlieferten Material mit den Mitteln der historischen Quellenkritik herauszufiltern und so die historische Wahrheit herauszufinden, ließ nicht nur jede Form der Ich-Thematisierung als bloß subjektiv erscheinen, sondern stellte sie auch grundsätzlich unter Fiktionalismusverdacht. Die im Zuge des Verwissenschaftlichungsprozesses der Geschichtswissenschaft sich formierende binäre Opposition von Objektivität und Subjektivität, die durch die sozialgeschichtliche Wende in der Geschichtswissenschaft mit ihrem Fokus auf quantifizierende Verfahren und ihrem anti-hermeneutischen Duktus in den 1960 / 70er Jahren noch zementiert wurde, ließ Akten, historische Dokumente sowie sonstiges institutionelles und geschäftliches Schrifttum als das vermeintlich zuverlässigere Quellenmaterial erscheinen im Vergleich zu dem die persönlichen Quellen von nachrangiger Bedeutung sind.25 In letzter Konsequenz ist diese Hierarchisierung des Quellenmaterials das Ergebnis der langen Hegemonie der Politik- und Staatengeschichte in der Geschichtswissenschaft. Diese führte nicht nur zu einer Privilegierung 21  Ebd.

22  Ebd.,

S. 3. Geschichte, vii. 24  Crane, Historical Subjectivity, S. 434. 25  Popkin, History, S.  16. Crane, Historical Subjectivity, S. 435. Zur sozial­ geschichtlichen Wende und ihrem Ort in der Wissenschaftsgeschichte des Faches: Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, S. 32–59. Ders., Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 402–443. Vgl. auch Mooser, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Kroll, Sozialgeschichte. 23  Ranke,



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gewisser Quellenarten im eben erörterten Sinne, sondern auch zu einem Interesse an historischen Akteuren als öffentliche Personen, deren Subjektivität der Sphäre des Privaten zugeschlagen wurde. Insofern ist die Unterscheidung zwischen Akten und persönlichen Quellen in letzter Konsequenz von der Opposition von Öffentlichkeit und Privatheit getragen, die für die historische Forschung von ungemein prägender Wirkung war und ist.26 2. Autobiographie in einer text- und kommunikationspragmatisch erweiterten Quellenkunde Was die bisherigen Ausführungen zeigen, ist, dass Historikerinnen und Historiker ungeachtet allen neuen Interesses an Autobiographien – und ungeachtet auch der erstaunlichen Vervielfältigung der Fragen, die sie im Zuge der kulturgeschichtlichen Wende an autobiographisches Material richten –, narrativen und anderen Texten vielfach weiterhin mit einem recht naiven Realismus begegnen und sie im mehr oder weniger direkten Durchgriff auf eine hinter ihnen stehende Wirklichkeit lesen. Diesen eher naiven Realismus im Umgang mit narrativen Texten hat Dagmar Günther in ihrem mutigen Plädoyer für eine „textpragmatisch[e] und erzähltheoretisch[e] Annäherung“ an Autobiographien als historische Quellen im Jahr 2001 völlig zu Recht scharf kritisiert. Die meisten Historikerinnen und Historiker betrachteten Autobiographien, so Günther, als bloße Lieferanten eines bunten Potpourris von historischen Fakten, die meist nur dazu dienten, vorgefertigte Hypothesen zur historischen Wirklichkeit zu illustrieren. Üblicherweise ergingen Historikerinnen und Historiker sich in „buchstäblichen Lektüren“ autobiographischer Texte und setzten die „Erzählung des Gewesenen, Erlebten, Empfundenen“ allzu sorglos mit dem tatsächlich „Gewesenen, Erlebten, Empfundenen“ gleich.27 Günther konstatierte damit letztlich den Verlust eines Literaturverständnisses in den Geschichtswissenschaften, der sich irgendwann nach 1960 im Zuge der sozialgeschichtlichen Wende ereignet hat.28 Dieser Verlust hat weit reichende erkenntnistheoretische Folgen, denn der Effekt der auf die objektive Wirklichkeit gerichteten Auseinandersetzung mit narrativen Texten ist immer der gleiche: Über den so ansetzenden fragenden Umgang mit Autobiographien gerinnen den Historikerinnen und Historikern Persönlichkeit, Charakter und Identität eines historischen Akteurs, aber auch Milieu und Mentalität, Erfahrung und Lebenswelt zu sozialen Tatsachen an sich. 26  Popkin,

History, S. 11. And now, S. 25–61. 28  Vgl. auch Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion, S. 453. 27  Günther,

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Eben weil der Autobiograph zu einem bestimmten lebensgeschichtlichhistorischen Zeitpunkt in seiner Autobiographie über sich selbst und seine Zeit wie auch über sich selbst in seiner Zeit reflektiert, lässt er in der denkenden Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden äußeren Realität sowohl eine Vorstellung von seinem „Ich“, seinen Wertideen, Normen und Erfahrungen, als auch eine Vorstellung von gesellschaftlicher und historischer Wirklichkeit in der gleichen schreibenden Bewegung überhaupt erst entstehen. Insgesamt müsste also die fundamentale Einsicht der neueren Wissenssoziologie, nach der „Gesellschaft“ eine doppelte Realität eigen ist, nämlich einerseits die sich in Institutionen und Strukturen manifestierende objektive Wirklichkeit, andererseits die ganz eigene Realität der subjektiven Imaginationen der Teilnehmer an Gesellschaft über Gesellschaft, gerade auch auf Autobiographien angewendet werden.29 Genau das aber geschieht in der Geschichtswissenschaft noch immer nicht in ausreichendem Maße. Die Dimension von Autobiographien als narrative Texte, die einerseits eine räumlich und zeitlich strukturierte Welt im Prozess der Erzählung entstehen lassen und ein historisches Ich darin verorten und die andererseits durch Erzählung eine Perspektive auf die Welt organisieren, aus der heraus ebendiese Welt ausgedeutet wird, haben Historikerinnen und Historiker im Umgang mit Autobiographien erst in allerjüngster Zeit für ihre auf die Rekonstruktion vergangener Wirklichkeiten gerichteten Erkenntnisinteressen nutzbar gemacht.30 Allerdings zeigen diese neueren Arbeiten, welche Gewinne zu erzielen sind, wenn Historikerinnen und Historiker mit kultur- und sozialhistorischen Fragestellungen Autobiographien zunächst und vor allem als Texte untersuchen, um sie als Quellen für historische, das heißt weiterhin auf äußere, textexterne Kontexte gerichtete Erkenntnisinteressen nutzbar zu machen. Um dieses anspruchsvolle Vorhaben theoretisch noch klarer einzurahmen, erscheinen vor allem erzähltheoretische und kommunikationspragmatische Ansätze im besonderen Maße geeignet, um einen Zugriff auf autobiographische Texte zu organisieren, der diese als Texte auf neue Art als Quellen für die historische Forschung erschließt. Das ist der Punkt, an dem das Gespräch zwischen den Literatur- und Geschichtswissenschaften besonders ergiebig zu werden verspricht. 29  Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion. Schütz, Der sinnhafte Aufbau. Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt. Diese wissenssoziologische Grundierung hat im Kontext der neueren Nationalismusforschung zu dem ungemein wirkmächtigen Theorem der „imagined community“ geführt, das inzwischen längst auch für ganz andere soziale Formationen als der Nation diskutiert wird. Anderson, Imagined Communities. 30  Beispielsweise Günther, Das Nationale Ich? Depkat, Lebenswenden. Aust/ Schenk, Imperial Subjects. Lahusen, Zukunft.



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Beginnen wir mit den erzähltheoretischen Ansätzen. Bereits Dagmar Günther hat energisch dafür plädiert, Autobiographien als narrative Texte zu untersuchen, in denen sich ein Subjekt im Prozess der Erzählung überhaupt erst als Ich konstituiert, sich als ein Ich selbst beschreibt und sich durch seine Erzählung zu Vergangenheit und Zukunft in Beziehung setzt. Deshalb sollten Historikerinnen und Historiker, so Günther, die narrativen Eigengesetzlichkeiten des Genres Autobiographie zum Ausgangspunkt ihrer quellenkundlichen Anstrengungen machen.31 Dies verlange nach einer genauen Analyse der Strukturen narrativer Sinnbildung ebenso wie nach einer narratologisch informierten Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Erzählers zum Erzählten. Es gehe darum, die semantischen Relationen zwischen den einzelnen Passagen und Episoden einer autobiographischen Erzählung freizulegen, narrative Strategien der Geltungssicherung zu rekonstruieren und genrespezifische Erzählmuster zu identifizieren. Lege man diese Regeln der Textkonstitution frei, so würden Autobiographien für Historikerinnen und Historiker zu Quellen, aus denen sich etwas über die Geschichte von Subjektkonstitutionen im historischen Prozess lernen lasse.32 Interessant an der literaturwissenschaftlichen Narratologie – dies sei in Erweiterung von Dagmar Günthers Plädoyer hier angeführt – ist für Historikerinnen und Historiker insbesondere das dort kultivierte Verständnis von Erzählung als einer besonderen Form der Redekommunikation, die im Prozess des Erzählens eine eigene Welt aufbaut. Diese Welt hat ihre eigene Ordnung, die gleichermaßen personal, räumlich und zeitlich dimensioniert ist.33 Die Ordnung dieser erzählten Welt lässt sich in konkreter, methodisch regulierter Textarbeit ebenso freilegen wie die Elemente, Schemata und Struktur des erzählten Ereignis- und Handlungsgefüges. Ein zentraler Gegenstand der Narratologie ist ferner der Erzähler selbst und dessen Perspektive auf Welt, die er durch die Erzählung organisiert und die sowohl seine Wahrnehmung von Welt als auch seine Stellung zum Geschehen bestimmt. Für Historikerinnen und Historiker sei in diesem Zusammenhang noch einmal klar betont, dass der Erzähler einer Autobiographie nicht identisch ist mit der historischen Person des Autobiographen. Schließlich sind auch der intendierte Adressat und die vom Erzähler imaginierte Erzählsituation in ihrer Bedeutung für das Erzählte ein wichtiges narratologisches Untersuchungsfeld. Soviel zur Narratologie, die Dagmar Günther der Geschichtswissenschaft für die quellenkundliche Aufbereitung von Autobiographie aus guten Grün31  Günther,

And now, S. 28, 61. And now, S. 35. 33  Zur Narratologie siehe insbesondere: Martínez/Scheffel, Einführung. Stanzel, Theorie des Erzählens. Genette, Die Erzählung. Hardmeier, Textwelten, S. 64–75. 32  Günther,

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den ans Herz gelegt hat. Nun kann man ihr selbst allerdings bei allen Verdiensten freilich vorwerfen, dass sie es mit der Narratologie etwas zu weit getrieben hat, dass sie zu sehr in den erzählten Welten der Autobiographie stecken geblieben ist und die historischen Kontexte der Texte darüber etwas aus dem Blick verloren hat.34 In meiner eigenen Arbeit mit Autobiographien habe ich deshalb narratologische mit kommunikationspragmatischen Ansätzen verbunden, weil mir gerade kommunikationspragmatische Ansätze als besonders geeignet erscheinen, eine Brücke vom Text zum Kontext zu schlagen. In meiner Studie „Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts“ (München 2007) habe ich Autobiographien deshalb auf zwei Ebenen analysiert, und zwar einerseits als Text, als einen sich in selbst zentrierten, bedeutungsvollen Strukturzusammenhang also, der auf sich selbst verweist, als ein eigengewichtiges semiotisches System, das eine räumlich und zeitlich strukturierte Welt durch Erzählung aufbaut. Andererseits habe ich Autobiographien als sprachliche Handlungen untersucht, als Akte sozialer Kommunikation, die im biographisch-historischen Kontext ihrer Entstehung genau identifizierbare kommunikative Funktionen in laufenden sozialen Selbstverständigungsprozessen erfüllen. In die Kategorien des Historikers übersetzt, heißt das, ich habe autobiographische Texte als biographisch-historische Ereignisse untersucht und sie in Kategorien von Ursache und Wirkung analysiert. Text- und kommunikationspragmatische Zugriffe auf autobiographisches Material zu verfolgen, bedeutet grundsätzlich, das Was der autobiographischen Kommunikation in Abhängigkeit von deren Wie und Warum zu analysieren.35 Interessant an der kommunikationspragmatischen Textlinguistik ist für Historikerinnen und Historiker vor allem der von der Sprechakttheorie inspirierte Textbegriff, wonach ein Text nicht allein als eine grammatisch verknüpfte Zeichen- und Satzfolge definiert, sondern als eine sprachliche Handlung zu sehen ist, durch die der Autor eine bestimmte kommunikative Beziehung zu einem von ihm selbst im Akt des Schreibens imaginierten Publikum herzustellen versucht.36 Damit ist jeder autobiographische Text in einem kommunikativen Handlungskontext angesiedelt, der dessen sprachliche Zeichenfolge weit übersteigt, der zugleich aber die im autobiographischen Text vollzogene Kommunikation selbst steuert. Mithin sind „sowohl die Wahl der sprachlichen Mittel … als auch die Entfaltung des Themas bzw. der Themen“ eines autobiographischen Textes kommunikativ gesteuert, das heißt durch die kommunikativen Intentionen des Autobiographen sowie vor allem Günther, Das Nationale Ich. im Folgenden entwickelten Zusammenhänge sind ausführlicher dargestellt in: Depkat, Plädoyer, S. 208–215. 36  Brinker, Linguistische Textanalyse. Hardmeier, Textwelten, S. 47–77. 34  Vgl. 35  Die



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durch die Faktoren des äußeren situativen Kontexts bestimmt.37 Sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Autobiographien geschieht im Hinblick auf jenen textexternen Bezugs- und Handlungsrahmen – und erst dieser Bezug bestimmt sowohl die jeweilige Funktion als auch die spezifische Bedeutung der autobiographischen Kommunikation in den Texten. Damit zielt ein kommunikationspragmatischer Zugang zu Autobiographien insgesamt darauf ab zu untersuchen wann, wie und warum ein historisches Ich sich als ein solches selbst thematisiert, sich also zum „Gegenstand von Darstellung und Kommunikation“ erhebt,38 und wie sich diese Ich-Entwürfe zu den biographisch-sozialen Kontexten verhalten, in denen sie entstanden sind und in denen sie als kommunikative Akte wirken sollten. Im Kontext einer solchen kommunikationspragmatisch ausgerichteten Autobiographieforschung erhalten autobiographische Texte einen neuen Stellenwert als historische Quellen. Sie sind dann nicht mehr nur ein mehr oder weniger zuverlässiger Lieferant von biographischen und historischen Informationen, sondern werden als Ort der erzählerischen Konstruktion von Identität und der „Identitätspräsentation durch Geschichten“ zu einem biographisch-historischen Faktum an sich, das in seinen Ursachen und Wirkungen historisch analysiert werden kann.39 In besonderem Maße anschlussfähig an diesen kommunikationspragmatischen Zugriff auf Autobiographien sind die Kategorien der Life Writing Forschung, die ganz auf die Performativität, Positionalität und Relationalität von Selbstthematisierungen aller Art abheben und die dadurch ein neues Licht auf die Verfasstheit des Selbst werfen, das uns in Selbstzeugnissen tatsächlich oder vermeintlich gegenübertritt.40 Dabei ankert die Kategorie der Performativität in der Prämisse, dass das Ich einer Autobiographie – oder eines anderen Selbstzeugnisses – sich in der Autobiographie als ein solches Ich inszeniert, sich in ihr als ein Ich gewissermaßen aufführt, und dass diese Performativität für Subjektivität als solche konstitutiv ist.41 Das Ich der Selbstzeugnisse hat damit weder unwandelbare noch wesenhaft essentielle Attribute, sondern es wird im autobiographischen Akt unter Zitierung kultureller Normen und Wertideen in sozial akzeptierten Formen der Ich-Erzählung aufgeführt und inszeniert. Autobiographien bilden mithin ein vorab ausgeprägtes, dem Text vorgelagertes Ich und dessen Innerlichkeit nicht einfach nur ab, sondern bringen es im performativen Akt der Selbst37  Brinker,

Linguistische Textanalyse, S. 17. Selbstzeugnisse, S. 463. 39  Marquard, Identität, S. 691. 40  Hierzu insbesondere Smith/Watson, Reading Autobiography. Vgl. auch den Beitrag von Nassim Balestrini in diesem Band. 41  Smith/Watson, Reading Autobiography, S. 214–218. 38  Krusenstjern,

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thematisierung immer auch erst mit hervor. Das Ich der Autobiographie ist mithin ein Effekt, ein Ergebnis autobiographischen Erzählens. Autobiographien wie überhaupt alle Selbstzeugnisse werden damit in den Worten von Sidonie Smith und Julia Watson zu „dynamic sites for the performance of identities“, die stets eingelassen ist in historische, soziale und auch geographisch-räumliche Kontexte.42 In diesem Zusammenhang käme es im Rahmen einer kommunikationspragmatisch erweiterten Quellenkunde ganz da­ rauf an, die jeweils spezifische und kontextgebundene Performativität von Autobiographien möglichst genau zu fassen, um die jeweiligen Ich-Entwürfe für die historische Forschung aufbereiten zu können. Die Positionalität von autobiographischer Selbsthematisierung bezieht sich auf die in einer Kultur immer schon ausgeprägten und sozial akzeptierten Identitätsnarrative, in denen ein Ich sich erzählt und erzählen kann.43 Positionalität meint also den jeweils in einer Zeit verfügbaren Vorrat an Subjektpositionen, die ihrerseits ein Kreuzungspunkt von vielfältigen und in sich durchaus widersprüchlichen Diskursserien in den machtgefügten sozialen Kontexten einer jeweiligen Zeit sind. Dieser Zusammenhang lässt Selbstthematisierung in Selbstzeugnissen aller Art zu einem Aushandlungsprozess werden, mit denen sich ein Selbst gegenüber diesen zirkulierenden Identitätsnarrativen der eigenen Zeit positioniert und seinen eigenen Ort bestimmt. Auch diese diskursive Selbstverortung findet in der und durch die autobiographische Selbstthematisierung statt; sie ist nicht bereits vorgängig ausgeprägt und deshalb irgendwie vorhanden, um dann in den Selbstzeugnissen nur noch abgebildet zu werden. Die letzte Zentralkategorie der Life Writing Forschung ist die Relationalität autobiographischer Erzählungen.44 Damit ist gemeint, dass sich ein Ich immer auch durch die Geschichten anderer erzählt, dass die vermeintlich individuelle Selbstthematisierung mithin stets bezogen ist auf die Lebensgeschichten anderer, seien es andere Individuen, sei es die Familie, sei es die soziale Schicht, die Region oder die Partei. Das heißt freilich, dass die Thematisierung des Ich in einer Autobiographie tatsächlich vielstimmig ist. Die von Selbstzeugnissen suggerierte Subjektivität und Innerlichkeit ist mithin polyvokal, die Anderen sind in der eigenen Geschichte immer schon präsent, und die Thematisierung des Ich vielfach auf Narrative kollektiver Identität bezogen. Das Ich, das uns in Autobiographien und anderen Selbstzeugnissen entgegentritt, ist mithin kein autonomes und in sich selbst zentriertes Ich, sondern es steht in dialogischen Prozessen mit Kollektiven und ist mit diesen 42  Smith/Watson,

Reading Autobiography, S. 214. Reading Autobiography, S. 215, 42–43. 44  Smith/Watson, Reading Autobiography, S. 215–216, 278–279. 43  Smith/Watson,



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immer schon verflochten. Selbstzeugnisse sind deshalb nie monologisch, sondern immer schon auf komplexe Weise dialogisch strukturiert. Nimmt man die hier bloß skizzierten Aspekte einer kommunikationspragmatischen und narratologischen Textanalyse zusammen und wendet diese auf den Bereich der quellenkundlichen Durchdringung autobiographischen Materials an, so wird der Aufgabenkatalog einer text- und kommunikationspragmatisch informierten Quellenkunde der Autobiographie in Umrissen sichtbar. Zunächst einmal sollten Historikerinnen und Historiker sich im Umgang mit Autobiographien nicht nur um das Verständnis der materiellen Zeichen in den Texten bemühen, sondern auch den außertextuellen kommunikativen Bezugs- und Handlungsrahmen rekonstruieren, den Autobiographien voraussetzen und der sie zugleich ermöglicht, um die spezifische Bedeutung der in und mit den autobiographischen Texten vollzogenen biographischen Kommunikation rekonstruieren zu können. Es geht also allgemein darum herauszufinden, wie in den autobiographischen Texten sprachlich und inhaltlich auf einen äußeren historischen Kontext der Schreibgegenwart Bezug genommen wird, wie sich der Erzähler diesen gegenüber verortet und wie dieser textexterne Kontext der Texte auch textintern an der Sprachgestalt der Autobiographie erkennbar wird. Dies heißt freilich, dass man zunächst einmal nach dem sowohl lebensgeschichtlichen als auch allgemein historischen Warum und Wann des autobiographischen Aktes fragen muss, bevor man sich an das Was und Wie der autobiographischen Erzählung macht. In der Rekonstruktion des biographischen Orts der Autobiographie und ihres situativen Kontexts werden Historikerinnen und Historiker auch auf anderes Quellenmaterial zurückgreifen müssen, aber das sind sie ja gewöhnt. In einem zweiten Schritt wäre sodann herauszufinden, wie genau der textexterne kommunikative Kontext die in den Texten selbst vollzogene Kommunikation steuert. Wie aber lässt sich dies aus der sprachlich-thematischen Gestalt der Texte selbst rekonstruieren? Ein Ansatzpunkt für die Beantwortung dieser Frage gründet in der Überlegung, dass es sich bei Autobiographien aus Sicht des Autobiographen immer nur um ein Kommunikationsangebot handelt, das auf ein von ihm selbst im Akt des Schreibens imaginiertes Publikum hin ausgerichtet ist. Deshalb kann man untersuchen, mit Hilfe welcher sprachlicher Mittel ein Autobiograph versucht, im Text selbst die kommunikative Interaktion mit seinem imaginierten Publikum zu organisieren.45 Zu fragen wäre also: Wie entwirft ein Autobiograph sich selbst als Erzähler? Welche kommunikativen Rollen spielt er im Verlauf seiner Erzählung? Welche Perspektive auf Wirklichkeit wird dadurch orga45  Dazu

insbesondere Hardmeier, Textwelten, S. 64–75.

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nisiert und was heißt dies für die Art und Weise, wie historische Wirklichkeit in einer Autobiographie repräsentiert wird? Welche Ausschnitte von Wirklichkeit kommen in den Blick? Wo sind die Blindstellen, die ein bestimmtes Sprecherverständnis produziert? Welche Aspekte vergangener Wirklichkeit kommen dadurch nicht in den Blick? Wer ist der intendierte Adressat und welche Auswirkungen hat dies auf die sprachlich-thematische Gestalt des autobiographischen Textes? Eine zweite Möglichkeit, den äußeren Bezugs- und Handlungsrahmen der Texte zu rekonstruieren, besteht in der systematischen Analyse der zeitlichräumlichen Strukturen der autobiographischen Erzählung, die Auskunft darüber geben, wie der Autobiograph sich selbst und seine Erzählung in Zeit und Raum verortet. Mit Hilfe welcher zeitlicher und räumlicher Signale nimmt er auf den Abfassungszeitpunkt und die Schreibgegenwart Bezug? Welche Perspektiven auf Vergangenheit und Zukunft werden dadurch organisiert? Wie wird die erzählte Vergangenheit selbst zeit-räumlich strukturiert? Welche Zäsuren werden gesetzt? Welche räumlichen Konstellationen entworfen? Wie wird die eigene Lebensgeschichte dazu in Beziehung gesetzt? Wie werden Vergangenheit und Zukunft aus Sicht der Schreibgegenwart ineinander verschränkt? Was sagt dies über die biographische und historische Wirklichkeit des Abfassungszeitpunktes aus? Schließlich kann man fragen, welche Art von Geschichten in der Autobiographie eigentlich erzählt werden. Sind es in Vorstellung von Kontinuität gründende Bildungs- und Entwicklungsgeschichten? Sind es um einen Bruch herum organisierte Konversionsgeschichten? Sind es Niedergangsoder Aufstiegsgeschichten? Sind es Ankunfts- und Abschiedsgeschichten? Wie verhalten sich diese narrativen Grundmuster zum historischen Kontext, in dem diese Geschichten erzählt werden? Das alles sind Fragen, die durch einen text- und kommunikationspragmatischen Zugriff auf autobiographische Text eröffnet werden und die sich – und das ist meines Erachtens besonders wichtig – durch eine genaue Lektüre am Text selbst methodisch kontrolliert beantworten lassen. Begreift man als Historikerin und Historiker Autobiographien als Akte sozialer Kommunikation in laufenden gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozessen einer jeweiligen Zeit, dann werden Autobiographien auf einmal zu historischen Quellen, die Auskunft über die Geschichte individueller und kollektiver Sinnstiftungsprozesse in Auseinandersetzung mit historischen Erfahrungen geben. Von besonderem Interesse könnte dann der Zusammenhang von historischen Umbruchssituationen und dem autobiographischen Akt sein.46 Zu fragen wäre dann aber nicht nur, wie erfah46  Das

war das zentrale Erkenntnisinteresse in Depkat, Lebenswenden.



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rene Brüche autobiographisch repräsentiert und reflektiert werden, sondern vielmehr auch, ob nicht die Erfahrung von historischen Umbrüchen und Zäsuren den autobiographischen Akt überhaupt erst motiviert hat und deshalb immer schon im autobiographischen Narrativ präsent ist, obwohl der autobiographische Text selbst sie vielleicht gar nicht thematisiert. Ein Fokus auf den kommunikativen Handlungscharakter von Autobiographien würde es Historikerinnen und Historikern erlauben, die Konfiguration und Re-konfiguration von kollektiv geteilten Sinnsystemen im Lichte ihres Problematisch-Werdens zu rekonstruieren. Das heißt dann freilich auch, Persönlichkeitsbewusstsein oder Identität nicht länger als eine historische Tatsache per se zu begreifen, sondern als einen kaum je abgeschlossenen Prozess in der Zeit, der von biographisch-historischen Kontexten und Ereignisverläufen strukturiert und vorangetrieben wird, die in Autobiographien und anderen Selbstzeugnissen reflektiert werden können, aber nicht reflektiert sein müssen. Insgesamt ermöglichen text- und kommunikationspragmatische Ansätze eine Lektüre von Autobiographien, die diese als Texte ernst nimmt ohne dabei die Prämisse von deren Referentialität auf eine äußere historische Wirklichkeit aufzugeben. Text- und kommunikationspragmatische Ansätze legen es nahe, dass Historikerinnen und Historiker Autobiographien als Texte analysieren, um sie als Quellen für ein ganzes Spektrum von historischen Fragestellungen im Rahmen einer kulturgeschichtlich erweiterten Politik-, Sozial und auch Wirtschaftsgeschichte nutzen zu können. Allerdings kann es für Historikerinnen und Historiker dann nicht darum gehen, auf der rein textuellen Ebene stehen zu bleiben; vielmehr sollten sie den einen entscheidenden Schritt weitergehen und Texte weiterhin im Durchgriff auf eine dahinterstehende Realität lesen. Allerdings müssen sie dann wohl ihren Begriff von Realität ändern, und zwar dahingehend, dass Texte einer wie auch immer genau definierten äußeren historischen Realität nicht gegenüberstehen und sie irgendwie spiegeln oder reproduzieren, sondern dass sie diese historische Realität immer auch ein stückweit mit hervorbringen, weil historische Realität eben immer schon gedeutete Realität ist. Literaturverzeichnis Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. Erweiterte Neuausgabe. London 1991. Aust, Martin / Schenk, Frithjof Benjamin (Hrsg.): Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Köln 2015. Baumgart, Winfried (Hrsg.): Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart. CD-ROM. Darmstadt 2005.

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II. Autobiographie und Literaturwissenschaft

Autobiographie als literaturwissenschaftliches Problem Von Martina Wagner-Egelhaaf Die Autobiographie ist ein literarisches Genre, das wegen seiner hybriden Zwischenstellung zwischen historiographisch-dokumentarischem Anspruch und den vielfältigen Formen seiner Literarisierung im literaturwissenschaftlichen Kanon einerseits randständig ist und andererseits gerade wegen seiner zweifelhaften Zwitterhaftigkeit ins Zentrum literaturwissenschaftlichen bzw. -theoretischen Denkens führt.1 Dies ist die Kernthese der vorliegenden Ausführungen, die im Folgenden historisch und theoretisch ausdifferenziert wird. 1. Die Autobiographie zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft Dass die Autobiographie eher am Rande des literaturwissenschaftlichen Kernbereichs steht, lässt sich mit einem Blick auf die schulischen, aber auch die universitären Curricula bestätigen. Im Deutschunterricht versucht man den Schülerinnen und Schülern ein Grundverständnis von den literarischen Formen Roman, Novelle, Drama und Gedicht zu vermitteln – das ist schon viel und zu mehr reicht die Zeit in der Regel auch nicht. In den Vorlesungsprogrammen literaturwissenschaftlicher Institute findet man die Autobiographie wohl, aber gewissermaßen eher als Spezialthema. Die systematische Marginalität der Autobiographie resultiert aus ihrem Doppelcharakter: Literaturwissenschaftler / innen lesen Autobiographien als literarische Texte, sie interessieren sich für die historischen Metamorphosen des Genres, seine spezifische Literarizität, seine Textualität, seine Poetizität – und was für ehrgeizige Begrifflichkeiten mehr die literaturwissenschaftliche Zunft aufzubieten hat. Allerdings werden Autobiographien nicht nur von Literaturwissenschaftler / inne / n gelesen. Ganz im Gegenteil: der akademische Lektürekanon in Sachen Autobiographie stellt, gemessen am autobiographischen Segment des Buchmarkts, einen recht überschaubaren Bereich dar. Und auf dem Buchmarkt dominieren, oftmals von Ghostwritern verfasst, Autobiographien von Politikerinnen und Politikern, Wirtschaftsbossen, Wissenschaft1  Vgl.

auch Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 1.

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lern und Wissenschaftlerinnen, Popstars, Fußballspielern und anderen Größen des öffentlichen Lebens. Diese in der Regel mit einem Hochglanzpor­trät des Autobiographen / der Autobiographin versehenen Texte werden gelesen, weil die Leserschaft etwas über die Personen, um die es geht, erfahren möchte. Die literarische Struktur dieser Texte interessiert hier in der Regel nicht. Diese Lebensbeschreibungen werden als Dokumente gelesen und scheinen daher eher Quellenmaterial für die Geschichtsschreibung zu sein. Von der Literaturwissenschaft wurden sie jedenfalls in der Vergangenheit wenig beachtet. Doch welche Autobiographien soll man als literarisch und welche als dokumentarisch lesen? Natürlich stellt sich die Alternative nicht in dieser schlichten, zugespitzten Form, denn selbstverständlich werden auch in einer literarischen Autobiographie der Autor und seine Zeit bzw. die Autorin und ihre Zeit wahrgenommen. Und auch die Geschichtswissenschaft interessiert sich selbstredend nicht nur für das Was, sondern auch für das Wie eines autobiographischen Textes. Aber vielleicht ist dieses Wie in der geschichtswissenschaftlichen Optik auch eher ein Dokument, z. B. ein Dokument für die Mentalitätsgeschichte oder die Selbstkultur einer Zeit.2 Jedenfalls scheint dieser Doppelcharakter der Autobiographie zwischen historischem Dokument und literarischem Text der Grund dafür zu sein, dass sie im literaturwissenschaftlichen Feld eher eine Randstellung einnimmt. Auf beiden Seiten scheint man ihr nicht so recht zu trauen: Erscheint sie in geschichtswissenschaftlicher Perspektive aufgrund ihrer subjektiven Wahrnehmung und Darstellungsintention als unzuverlässig und zweifelhaft im Hinblick auf eine faktische Wahrheit, sehen Literaturwissenschaftler / innen, denen es eher um den Kunstcharakter des literarischen Werks geht, in der Autobiographie, insbesondere natürlich in den zahlreichen nicht von Literatinnen und Literaten geschriebenen, den populären Autobiographien, eine eher pragmatische und ästhetisch wenig reizvolle Form. 2. Der „proteische Charakter“ der Autobiographie Der zweite Grund für die literaturwissenschaftliche Marginalität der Autobiographie liegt in ihrem, wie bereits Georg Misch formuliert hat, „proteischen Charakter“.3 Die Autobiographie ist in hohem Maße vielgestaltig und veränderlich. Zwar wird in der Forschung häufig von einem Idealtypus der Autobiographie ausgegangen, der in der Germanistik durch das Modell der Goethe’schen Lebenserzählung, wie es in Dichtung und Wahrheit (1811– 2  Vgl. auch Wagner-Egelhaaf, Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Literaturwissenschaft, S. 189. 3  Misch, Geschichte der Autobiographie, S. 7.



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1833) vorliegt, gebildet wird. Bei diesem Idealtypus handelt es sich um einen mehr oder weniger linear erzählenden Lebensbericht eines mehr oder weniger mit sich selbst identischen Subjekts, das in der Moderne – und in der Postmoderne sowieso – gern ein wenig dezentriert sein darf. Die literaturwissenschaftliche Autobiographietheorie hat an dieser Vorstellung mit vereinten Kräften gearbeitet: Zu denken wäre etwa an Bernd Neumanns Studie Identität und Rollenzwang aus dem Jahr 1970, in deren Fokus die Kategorie der Identität steht und die aufzeigt, wie das autobiographische Ich im Wechselverhältnis von Innen- und Außenperspektive, Trieb- und Gesellschaftsanspruch in eine soziale Rolle hineinwächst.4 Das Ziel des autobiographischen Projekts ist die Integration des Einzelnen in die Gesellschaft; daher beschreiben autobiographische Texte des klassischen, d. h. des modellhaften Goethe’schen Typs, oft nur die Kindheit und die Jugend eines Individuums, wie Neumann dargestellt hat. Hat das Individuum seinen Platz in der Gesellschaft gefunden, und dieser Zeitpunkt fällt im 18. und 19. Jahrhundert häufig mit der Eheschließung und dem Eintritt ins Berufsleben zusammen, gibt es eigentlich nichts mehr zu erzählen: Gab es zuvor Krisen und Konflikte, musste sich das Ich erst selbst finden, hat es mit der Integration in die Gesellschaft einfach nur noch zu funktionieren – und das zu erzählen ist langweilig und bietet auch wenig künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten. Autobiographen, die angekommen sind, schreiben denn auch eher Memoiren, d. h. sie beobachten von ihrer gesellschaftlichen Position aus das Geschehen ihrer Zeit und dazu gehört auch die Begegnung mit bedeutenden, die Zeit prägenden Persönlichkeiten. Zweifellos sind Memoiren für die Geschichtswissenschaft von allergrößter Bedeutung. Aber auch Stefan Goldmann z. B., der von der antiken Personentopik her argumentiert, hat zum Bild eines Gattungstypus Autobiographie beigetragen, indem er darauf hingewiesen hat, in welch hohem Maß das scheinbar individuelle Leben einer konventionalisierten Gattungstopik folgt.5 Zugrunde liegt dieser Gattungsvorstellung von der Autobiographie das Bildungs- und Entwicklungsromanschema, das sich tatsächlich bis in das 20. Jahrhundert hinein gehalten hat. Als Beispiel lässt sich Hans Carossas Autobiographie Eine Kindheit von 1922 und Verwandlungen einer Jugend von 1928 anführen, aus der deutlich das Goethe’sche Vorbild spricht, die aber auch, mit Goldmanns Topik-Ansatz gelesen, bemerkenswerte Ergebnisse zeitigt, indem das Ich als Herakles-Figur erscheint, die verschiedene Stationen der Bewährung zu durchlaufen hat. Es gibt also eine Art Gattungstypus, eine stillschweigende Norm, die aber doch auch und gerade dazu da zu sein scheint, von individuellen autobiographischen Texten nicht erfüllt zu werden. Hier wären 4  Neumann, 5  Vgl.

Identität und Rollenzwang. Goldmann, Topos und Erinnerung.

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Beispiele zu nennen wie Walter Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (1933) oder Roland Barthes’ Über mich selbst (1975), die das Prinzip der chronologischen Entwicklung zugunsten des Episodischen und Fragmentarischen aufgegeben haben. Zwischen Goethe und Barthes gibt es indessen sehr unterschiedliche Manifestationen der Lebensbeschreibung. Hinzu kommen andere autobiographische Formen und Formate wie die bereits erwähnten Memoiren, das Tagebuch, der Brief, der Essay, die sich mit der Autobiographie vielfältig überschneiden und das autobiographische Genre ausfransen lassen. Kaum diskutiert wurde in autobiographietheoretischer Hinsicht die Lyrik, die sich doch mit dem Typus der Erlebnislyrik dem Modus des Autobiographischen zu nähern scheint,6 oder das Drama. Elfriede Jelineks Theaterstücke, Ein Sportstück (1998) beispielsweise, bieten sich einer autobiographischen Lektüreperspektive an, ohne diese freilich zu erzwingen. 3. Die Autobiographie als Gattung? Gerade die formale Vielgestaltigkeit, die Hybridität des Autobiographischen, ist mit ein Grund, warum die eher am Rande des literarischen Kanons angesiedelte Autobiographie denn doch in das Zentrum literaturwissenschaftlichen Reflektierens gerät, insofern als sie grundlegende theoretische Fragen aufwirft, nämlich etwa die Frage nach den Konstitutionsbedingungen, der Funktion und der Problematik von Gattungsbegriffen. In diesem Sinn hat Elizabeth W. Bruss ausgehend von der Autobiographie auf die Historizität und Veränderlichkeit von Gattungsbegriffen hingewiesen. Gattung ist, so schreibt sie, eine Korrelation von Form und Funktion, die nicht anhand kompositorischer oder stilistischer Kriterien definiert werden kann. Stattdessen plädiert sie dafür, Gattung als illokutionären Akt aufzufassen, d. h. im Sinne der Sprechakttheorie als eine Sprechäußerung mit kommunikativer Funktion. Eine Gattung wie die Autobiographie sei definiert durch die Rollen, die sie spiele, und durch das, was man üblicherweise mit ihr tue. Die Verbindung von Textcharakteristika und Gattungsidentität ist also nicht vorgegeben, sondern durch Konvention bestimmt. Gattungsfunktionen können sich verändern und dies impliziert, dass es innerhalb des Literatursystems beständig zu Verschiebungen kommt, die den Ort und die Erscheinungsweise der einzelnen Gattungen modifizieren.7 6  Zu Recht verweist die Literaturwissenschaft auf den Konstruktcharakter des lyrischen Ichs, das indessen genauso konstruiert ist wie das autobiographische Ich. Diese Feststellung schließt selbstverständlich nicht aus, dass ein Gedicht autobiographisch sein kann. Vgl. Horn, Subjektivität in der Lyrik. 7  Bruss, Die Autobiographie als lierarischer Akt. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 52.



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Und doch ist der Gattungsstatus der Autobiographie prekärer als derjenige des Romans, der sich problemlos in die sich ebenfalls von Goethe herschreibende und natürlich hoch konventionalisierte Gattungstrias von Epik, Lyrik und Drama einfügt. Auch ist man geneigt, etwa dem Essay einen eigenständigen Status als vierte Gattung zuzugestehen. Bei der Autobiographie, die zwar auch der Epik zugehört, aber weiß man irgendwie nicht so recht, ob es sich um eine eigene Gattung wie beim Roman handelt. Das liegt daran, dass sie häufig so romanhaft daherkommt. Viele Autobiographien bezeichnen sich auch selbst als Roman, wie etwa Christa Wolfs Kindheitsmuster (1975) oder Ulla Hahns Das verborgene Wort (2001). Auch Eugen Ruges vielgelobtes Buch Im Schatten des abnehmenden Lichts (2012), das an die Autobiographie von Ruges Vater, Wolfgang Ruge, anschließt8 und die eigene Familiengeschichte verarbeitet, ist ein Roman. Die erfindungsreiche Literaturwissenschaft hat für solche und ähnliche Fälle die Gattung – oder ist es eine Subgattung? – des autobiographischen Romans ersonnen. Als solcher präsentiert sich etwa auch bereits Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser, mit seinem Untertitel Ein psychologischer Roman in vier Teilen (1785–1790). Ein früher Autobiographieforscher, Roy Pascal, schreibt bereits 1960, dass der autobiographische Roman viel eher zur Erforschung eines Charakters in der Lage sei als die eigentliche Autobiographie. Die Autobiographie, so führt er aus, sei viel zu sehr dem Tatsächlichen verpflichtet, als dass sie die Wahrheit eines Lebens – hier klingt deutlich Goethes Autobiographiekonzept von Dichtung und Wahrheit nach – herausstellen könne. „Der Autobiograph kann weder in andere Menschen hinein, noch aus sich selbst heraus gelangen“,9 schreibt Pascal. In diesem Sinn versucht Moritz durch die Form des Romans Einblick in die Menschenseele zu erlangen – und scheitert auf seine Weise.10

8  Ruge,

Gelobtes Land. Die Autobiographie, S. 206. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 51. 10  „Um fernern schiefen Urteilen, wie schon einige über dies Buch gefällt sind, vorzubeugen, sehe ich mich genötigt, zu erklären, daß dasjenige, was ich aus Ursachen, die ich für leicht zu erraten hielt, einen psychologischen Roman genannt habe, im eigentlichsten Verstande Biographie, und zwar eine so wahre und getreue Darstellung eines Menschenlebens, bis auf seine kleinsten Nüancen, ist, als es vielleicht nur irgend eine geben kann. – […] Wer auf sein vergangnes Leben aufmerksam wird, der glaubt zuerst oft nichts als Zwecklosigkeit, abgerißne Fäden, Verwirrung, Nacht und Dunkelheit zu sehen; je mehr sich aber sein Blick darauf heftet, desto mehr verschwindet die Dunkelheit, die Zwecklosigkeit verliert sich allmählich, die abgerißnen Fäden knüpfen sich wieder an, das Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet sich – und das Mißtönende löset sich unvermerkt in Harmonie und Wohlklang auf. –“ Moritz, Anton Reiser, S. 186. Zum Scheitern dieses Programms vgl. Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 355. 9  Pascal,

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4. Fakt und Fiktion Die Tatsache, dass die Autobiographie in Pascals Worten, aber auch in der öffentlichen Wahrnehmung dem Tatsächlichen verpflichtet ist, macht sie zum gemeinsamen Interessens- und Erkenntnisobjekt zwischen Geschichtsund Literaturwissenschaft. Dabei ist es, wie bereits vermerkt, zu kurz gegriffen zu sagen, dass sich die Historiker / innen für die Fakten interessieren und Literaturwissenschaftler / innen für die Fiktion. Im Gegenteil, weiterführend für die Kooperation zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft ist es, den Beitrag und die Leistung des Fiktionalen für die geschichtliche Erkenntnis und die Rolle des Historischen, der Referenz, für die Ausbildung literarisch-ästhetischer Verfahren zu reflektieren. Der Doppelcharakter der Autobiographie zwischen Dokument und Literatur, bei dem sich das Dokumentarische eben nicht vom Literarischen trennen lässt und umgekehrt, ist es gerade, der die Debatte über dieses zweifelhafte Genre Autobiographie nicht abreißen lässt, sie vielmehr immer neu entfacht. Die Relation von Fakt und Fiktion ist allerdings nicht nur für das Gespräch zwischen Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft zentral, sondern sie treibt auch die innerliteraturwissenschaftliche Debatte um und an. Auch die Literaturwissenschaft kann ihren Gegenstand, die Literatur, nur adressieren, wenn sie sich immer wieder darüber Gedanken macht, was Literatur ist. Und diese Frage kann man nur diskutieren, wenn man den literarischen Text ins Verhältnis zu anderen, zu nichtliterarischen Texten setzt. Die alte Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit, die auch die Frage nach der Wirklichkeitsrelevanz der Literatur einschließt, hat die Literaturwissenschaft, und vor ihr die Poetik und die Ästhetik, seit jeher beschäftigt. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang nur an die auf Aristoteles zurückführende Mimesis-Diskussion. Nicht zufällig vergleicht die vielzitierte Passage im 9. Buch der Poetik den Dichter und den Geschichtsschreiber. Sie sei daher hier nochmals zitiert: Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse –; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut – eben hierauf zielt die Dichtung,



Autobiographie als literaturwissenschaftliches Problem49 obwohl sie den Personen Eigennamen gibt. Das Besondere besteht in Fragen wie: was hat Alkibiades getan oder was ist ihm zugestoßen.11

Die These, dass die periphere Gattung der Autobiographie ins Zentrum literaturwissenschaftlicher Fragestellungen führt, bestätigt sich nicht nur am Beispiel des Gattungsbegriffs selbst, sondern auch und insbesondere am Aspekt der literarischen Wirklichkeitsreferenz, für die paradigmatisch das Autobiographische zu stehen scheint. Vor allem im nichtakademischen Verständnis von Literatur (und bis ins 20. Jahrhundert hinein auch teilweise in der Literaturwissenschaft selbst) werden fiktionale Texte und die in ihnen geäußerten Meinungen und Ansichten, nicht selten mit denen des Autors identifiziert und es ist ein Grundtopos in der Rezeption von Literatur, dass der Autor oder die Autorin seine / ihre eigenen Erfahrungen verarbeitet habe. Und so ganz falsch ist das wohl auch nicht. In diesem Sinn hat der amerikanisch-belgische Literaturkritiker Paul de Man 1979 etwas flapsig geschrieben, dass entweder jeder Text autobiographisch sei – oder keiner.12 Was genau ist damit gemeint? De Man erteilt mit seinem forschen Diktum allen Gattungsdiskussionen eine Absage. Er stellt nämlich in Frage, dass das Leben der autobiographischen Schrift vorausgeht und in dieser lediglich abgebildet werde. Stattdessen sei es doch denkbar, so argumentiert er, dass das Vorhaben, eine Autobiographie zu verfassen, auch das zu führende Leben beeinflusst. Der autobiographische Text folge nicht einem vorausgegangenem Leben, die Redefigur nicht einem Referenzobjekt, sondern den technischen Möglichkeiten des sprachlichen Mediums. Und Sprache besteht für de Man aus rhetorischen Tropen, die er unter Bezugnahme auf Gérard Genette mit einer Drehtür vergleicht: Man verwendet sie, die rhetorischen Tropen, um sich mittels ihrer auf eine vermeintliche Wirklichkeit zu beziehen, aber in dem Augenblick, indem sie zum Einsatz kommen, offenbaren sie ihren rhetorischen Charakter und führen von dieser vermeintlichen Wirklichkeit, ohne dass diese je erreicht worden wäre, wieder weg. Der autobiographische Text enthält nach de Man nicht mehr Wahrheit oder Wirklichkeit als ein nichtautobiographischer Text, die zum Einsatz kommenden sprachlichen Tropen sind in beiden Fällen dieselben. Autobiographie ist für de Man eine „Lese- oder Verstehensfigur“.13 D. h. es liegt am Leser bzw. an der Leserin, ob ein Text autobiographisch gelesen wird oder nicht. Und manche Texte werden als Autobiographien rezipiert, andere dagegen nicht. Aber, und das ist die entscheidende Wendung bei de Man, man könnte das im letzteren Fall mit gleichem Recht wie im ersteren tun. Und das ist es ja, was wie bereits angedeutet, tatsächlich häufig geschieht: Thomas Manns 11  Aristoteles,

Poetik, S. 29–31. Man, Autobiographie als Maskenspiel, S. 134. 13  De Man, Autobiographie als Maskenspiel, S. 134. 12  De

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Romane und Erzählungen werden ebenso häufig autobiographisch gelesen wie dies etwa bei Peter Handke der Fall ist, ohne dass explizit autobiographische Gattungsformate vorlägen. Hier führt die Autobiographiefrage erneut in eine sehr grundsätzliche literaturwissenschaftliche bzw. -theoretische Debatte, nämlich zur Frage, wie literarische Texte generell zu lesen sind. Welche Rolle spielt der Autor? Ist er wichtig oder eher doch nicht? Nach der Debatte über Tod und Wiederkehr des Autors ist auch diese Frage noch nicht abschließend diskutiert und wird es vermutlich auch nicht. Zwar lernen Studierende im Proseminar immer noch, dass zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden sei – und das ist nach wie vor richtig –, aber es handelt sich nur um eine heuristische Unterscheidung, die von konkreten literarischen Texten immer wieder irritiert wird. Man könnte an Michel Houellebecqs Roman Karte und Gebiet von 2010 denken, wo der Autor Michel Houellebecq als Figur auftritt, aber auch der Tod dieses Autors zelebriert wird. Letzteres lässt sich als feine ironische Reflexion auf die literaturwissenschaftliche Debatte über den Tod des Autors lesen. Kann er wirklich tot sein, wenn er seinen eigenen Tod literarisch-ästhetisch inszeniert? Natürlich darf man die Figur Michel Houellebecq, auch wenn sie im Text der Autor Michel Houellebecq ist, nicht mit dem realen Autor Michel Houllebecq gleichsetzen, aber dass die beiden Houellebecqs gar nichts miteinander zu tun haben, ist auch schwer zu denken, zumal sich die Frage stellt, wer und was eigentlich der reale Houellebecq ist? In unserer Vorstellung ist er doch genauso fiktional wie die Figur in seinem Text, die in unserem Kopf wiederum eine Folie für den realen Autor abgibt. 5. Autobiographietheorie als Spiegel der Literaturtheorie Der Hinweis auf de Man und Houellebecq bekräftigt einmal mehr das Argument und die Grundthese des vorliegenden Beitrags, dass die literaturwissenschaftliche Reflexion über die scheinbar randständige Gattung Autobiographie notwendig ins Zentrum literaturwissenschaftlicher Problemstellungen führt. Und in der Tat spiegelt die Geschichte der Autobiographie­ theorie die Geschichte literaturwissenschaftlicher Theoriebildung überhaupt. Da ist zunächst das wirkmächtige Paradigma der Hermeneutik: Ein Blick in Wilhelm Diltheys Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften legt den Schluss nahe, dass die Autobiographie gleichsam der Paradefall hermeneutischen Denkens ist. Zentralbegriffe des hermeneutischen Ansatzes sind bekanntlich das Verstehen und im Falle Diltheys, der aus der Lebensphilosophie kommt, das Leben. Dilthey schreibt: Die Selbstbiographie ist die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt. Hier ist ein Lebenslauf das Äußere, sinnlich Erscheinende, von welchem aus das Verstehen zu dem vorandringt, was



Autobiographie als literaturwissenschaftliches Problem51 diesen Lebenslauf innerhalb eines bestimmten Milieus hervorgebracht hat. Und zwar ist der, welcher diesen Lebenslauf versteht, identisch mit dem, der ihn hervorgebracht hat. Hieraus ergibt sich eine besondere Intimität des Verstehens.14

Und wenig später heißt es: Indem wir zurückblicken in der Erinnerung, erfassen wir den Zusammenhang der abgelaufenen Glieder des Lebensverlaufs unter der Kategorie ihrer Bedeutung. […] Nur die Kategorie der Bedeutung überwindet das bloße Nebeneinander, die bloße Unterordnung der Teile des Lebens. Und wie Geschichte Erinnerung ist und dieser Erinnerung die Kategorie der Bedeutung angehört, so ist diese eben die eigenste Kategorie geschichtlichen Denkens.15

Hier treten vier weitere Leitbegriffe des hermeneutischen Denkansatzes hervor: Bedeutung, Erinnerung, Zusammenhang und Geschichte. Selbstverständlich ist dieses gesamtgeisteswissenschaftliche Konzept auch für das geschichtswissenschaftliche Verständnis der Autobiographie um 1900 grundlegend. Für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Autobiographie ist es bis weit in das 20. Jahrhundert hinein – implizit oder explizit – normgebend gewesen. Die Auseinandersetzung mit der Autobiographie war lange Zeit stark literaturgeschichtlich orientiert und die Kategorie des Zusammenhangs, das Verhältnis von Einzelnem und Ganzem, spielte in jedem Fall eine zentrale Rolle. Auch die ersten Vertreter des sozialgeschichtlichen Ansatzes, wie Werner Mahrholz16 und später der bereits erwähnte Bernd Neumann,17 in deren Blick die Autobiographie zu einer dezidiert bürger­ lichen Gattung wurde, kommen natürlich – woher auch sonst? – aus der hermeneutischen Tradition. Die allgemeine sozialgeschichtliche Ausrichtung der Literaturwissenschaft in den 1960er- und 70er-Jahren spiegelt sich, wie bereits angedeutet, auch in der Autobiographieforschung; und bei einem Autor wie Bernd Neumann schlägt deutlich das psychoanalytische Interesse der damals jungen Generation durch. Ende der 1960er-Jahre werden allerdings auch ganz andere Stimmen vernehmbar, die in der deutschen Literaturwissenschaft erst, und zunächst auch hier vor allem bei der jüngeren Generation, in den 1980er-Jahren Gehör fanden. Dabei ist an die schon angesprochene Toterklärung des Autors zugunsten des Texts und des Lesers durch Roland Barthes im Jahr 1968 zu denken und an die sich an Barthes anschließende diskurskritische Frage von Michel Foucault, was ein Autor sei. Es dauerte etwas, bis sich die literaturwissenschaftliche Autobiographieforschung mit dieser kritischen Infragestellung ihrer zentralen Instanz zurechtgefunden hat. Sie hat aber dann sehr schnell gemerkt, dass im Be14  Dilthey,

Der Aufbau in der geschichtlichen Welt, S. 246. Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 248 f. 16  Mahrholz, Deutsche Selbstbekenntnisse. 17  Neumann, Identität und Rollenzwang. 15  Dilthey,

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wusstsein der nichtnatürlichen Gegebenheit des Autors bzw. des Autobiographen / der Autobiographin ihre spezifische textwissenschaftliche Chance liegt. Denn nun galt es den Blick darauf zu richten, wie das autobiographische Ich im Text und mit textuellen, will sagen: sprachlich-literarischen Mitteln konstruiert und mit Foucault gesprochen als textuelle Funktion inszeniert und installiert wird. Nicht zufällig war seit dem Ende der 1960erJahre auch die Zeit der Rezeptionsästhetik angebrochen, deren Auswirkung sowohl in Barthes’ Essay vom „Tod des Autors“, der bekanntlich die „Geburt des Lesers“ feiert,18 als auch in de Mans Konzeptualisierung der Autobiographie als Lesefigur deutlich wird. Gerade de Man, der bereits angeführt wurde um zu zeigen, in welcher Weise mit der Autobiographie die grundlegende literaturwissenschaftliche Frage nach der Wirklichkeitsreferenz aufgeworfen ist, reagiert auf einen Autobiographietheoretiker, der in den 1970er-Jahren auf den Plan trat und dessen Anregungspotenzial sich bis heute nicht erschöpft hat: Philippe Lejeune, der im Jahr 1973 der Autobiographieforschung den Vorschlag gemacht hat, die Autobiographie als Pakt zu denken. Der autobiographische Text, so lautet Lejeunes Argument, macht dem Leser bzw. der Leserin das Angebot, ihn als Autobiographie zu lesen. Dieses Angebot liegt vor, so Lejeune, wenn zwei Kriterien erfüllt sind, wenn z. B. auf dem Buchcover oder im Untertitel die Gattungsbezeichnung „Autobiographie“ oder „Bericht meines Lebens“ o. ä. steht, und / oder, der Name des Autors, der auf dem Buchdeckel zu lesen ist, mit dem Namen des Erzählers und mit dem der Figur identisch ist.19 Wenn der Leser / die Leserin auf das Angebot des Texts eingeht und den autobiographischen Pakt abschließt, liest er oder sie ihn als Autobiographie. Das muss nicht zwangsläufig der Fall sein, denn der Leser / die Leserin kann skeptisch bleiben und für sich entscheiden, den Text trotz der Erfüllung der Kriterien für den autobiographischen Pakt als fiktionalen Text lesen.20 Der Ansatz ist vielfach kritisiert worden, Lejeune hat ihn differenziert und z. B. auch eingeräumt, dass es so etwas wie eine Autobiographie in der 3. Person gibt. Lejeune ist jedoch insofern immer noch ein Bezugspunkt aktueller literaturwissenschaftlicher Forschung, als sich beispielsweise narratologische Untersuchungen der autobiographischen Konstellation immer noch an dem Spannungsverhältnis zwischen Ich-Erzähler und Ich-Figur abarbeiten. 18  Barthes,

Der Tod des Autors, S. 193. Der autobiographische Pakt, S. 28 f. Bemerkenswerterweise geht auch Aristoteles in der zitierten Stelle aus der Poetik auf den unterschiedlichen Gebrauch des Eigennamens im literarischen und im historiographischen Text ein (vgl. Anm. 11). 20  De Man hat an Lejeunes Ansatz kritisiert, dass er den autobiographischen Pakt als Sprechakt auffasse, der den Leser zu einer souveränen Richterinstanz mache. Der Leser, so de Man, habe jedoch gar keine Möglichkeiten, den Tropen der Sprache zu entkommen. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 83. 19  Lejeune,



Autobiographie als literaturwissenschaftliches Problem53

6. Auto(r)fiktion Lejeune spielt aber auch noch eine Rolle in der aktuellen Autofiktions­ debatte, die gegenwärtig auch als Auto(r)fiktion versucht, Autobiographietheorie und Autorschaftstheorie zusammenzudenken.21 Schon seit Goethes Dichtung und Wahrheit gehört es zu den Binsenweisheiten der Autobiographieforschung, dass die Fiktion in jedem autobiographischen Werk mitschreibt. Goethes Konzeption zufolge ist es gerade das dichterische Moment, das in besonderer Weise in der Lage ist, die Wahrheit eines Lebens zur Darstellung zu bringen.22 Das, was gegenwärtig unter Autofiktion diskutiert wird, geht darüber hinaus. In autofiktionalen Texten ist die Fiktion nicht still und heimlich am Werk, weil sie sich sowieso nicht vermeiden lässt und bereits die Auswahl des Berichteten und die Form des autobiographischen Texts selbst in Richtung Fiktion weisen.23 Autofiktion ist vielmehr das bewusste Ausstellen der Verbindung von Autobiographie und Fiktion. Das kann dahin gehen, dass in autobiographischen Texten offenkundig Fiktionales eingebaut wird, etwa wenn Christa Wolf am Ende von Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010) zusammen mit ihrem Schutzengel Angelina die kalifornische Küste entlang fliegt und dabei natürlich Bulga­ kows Der Meister und Margarita (1966 / 67) zitiert und imitiert. Häufiger aber ist der Fall, gerade in der Gegenwartsliteratur, dass in fiktionalen Texten reale Figuren auftreten, so dass der Leser / die Leserin im Zweifel ist, welcher Pakt mit solchen Texten abzuschließen ist. Der Komparatist Frank Zipfel hat als eine mögliche Begriffsbestimmung von Autofiktion gerade diese Unsicherheit, ob der autobiographische oder der Romanpakt mit einem Text abgeschlossen werden soll, bzw. das Oszillieren der Pakte in der Lektüre angesetzt.24 So bleibt beispielsweise bei Michel Houellebecqs Karte und Gebiet in der Schwebe, ob und inwieweit der Text autobiographisch zu lesen ist, obwohl das Buch ganz offensichtlich ein treffendes fiktionales Selbstporträt seines Autors enthält.

21  Vgl. Wagner-Egelhaaf/Czajka-Cunico/Gray, Autofiktion. Vgl. auch: WagnerEgelhaaf, Auto(r)fiktion. Ebenso den Workshop ‚Auto(r)fiktion‘ im Literaturforum Brecht-Haus Berlin am 14./15. Dezember 2012 (http://lfbrecht.de/event/autorfik tion-2/) (14.12.2016). 22  Vgl. dazu Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S.  2 f. 23  Vgl. dazu Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 49–57. 24  Vgl. Zipfel, Autofiktion. Auch Wagner-Egelhaaf, Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Literaturwissenschaft, S. 198.

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7. Autobiographieforschung heute? Abschließend stellt sich die Frage, wo die literaturwissenschaftliche Autobiographieforschung heute steht. Denn natürlich sind auch die dekonstruktiven subjekt- und zeichenkritischen Schlachten längst geschlagen. Es stellt sich der Eindruck ein, dass die Autobiographieforschung theoretisch durch ist, d. h. alle Aspekte bedacht und dekonstruiert hat, und dass wir uns heute wieder mehr für konkrete Formen und Funktionen des Autobiographischen interessieren. Das bedeutet keinesfalls, dass man hinter das kritische Reflexionsbewusstsein, das Text- und Zeichentheorie der Literaturwissenschaft vermittelt haben, zurückfallen darf. Die spezifische Aufgabe der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung liegt gerade in der kritischen Aufmerksamkeit auf die sprachlich-rhetorische Medialität des Autobiographischen, seine formalen Bedingungen und künstlerischen Konstruktionsmechanismen. Und genau diese sind im Blick zu behalten und ins Gespräch zu bringen, wenn neue autobiographische Formen und Anwendungsfelder erschlossen werden sollen. Zu denken ist dabei auch und gerade an die Alltagsformen und -formate des Autobiographischen, Lebensbeschreibungen spezifischer Gruppen wie z. B. Migranten und Flüchtlinge oder Berufsautobiographien.25 Auch außereuropäische Formate des Autobiographischen gilt es zu berücksichtigen sowie autobiographische Formen in anderen Medien, in Bild, Film, Ton und in intermedialen Mischformen. Die behauptete zeichen-, form- und medialitätskritische Kompetenz der Literaturwissenschaft wird sich hier zu bewähren haben. Festzuhalten ist, dass die literaturtheoretische Reflexion der Autobiographie zu einem Bewusstsein geführt hat, für das Realität und Fiktion keine prinzipiell getrennten Bereiche sind, Fiktionen vielmehr realitätskonstitutiv sein können und die sogenannte Realität immer noch die schönsten Geschichten schreibt. Und gerade deshalb ist der Dialog zwischen Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft so wichtig. Literaturverzeichnis Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übers. und hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982. Barthes, Roland: Der Tod des Autors, in: Fotis Jannidis u. a. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000. S. 185–193. Bruss, Elizabeth W.: Die Autobiographie als literarischer Akt, in: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie als literarische Gattung. 2. Aufl., Darmstadt 1998. S. 258–279. 25  Vgl.

Smith/Watson, Reading Autobiography.



Autobiographie als literaturwissenschaftliches Problem55

De Man, Paul: Autobiographie als Maskenspiel, in: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hrsg. v. Christoph Menke. Frankfurt 1993. S. 131–146. Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau in der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Einleitung von Manfred Riedel. Frankfurt 1981. Goldmann, Stefan: Topos und Erinnerung. Rahmenbedingungen der Autobiographie, in: Jürgen Schings (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart / Weimar 1994. S. 660–675. Horn, Eva: Subjektivität in der Lyrik. ‚Erlebnis und Dichtung‘, ‚lyrisches Ich‘, in: Miltos Pechlivanos u. a. (Hrsg.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart / Weimar 1995. S. 299–310. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt 1994. Mahrholz, Werner: Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus. Berlin 1919. Misch, Georg: Geschichte der Autobiographie. 1. Band, 1. Hälfte. Das Altertum. 3. Aufl., Bern 1949. Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, in: Karl Philipp Moritz: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Werke in zwei Bänden. Hrsg. v. Heide Hollmer / Albert Meier. 1. Band. Frankfurt 1999. S. 85–518, 939–1113. Neumann, Bernd: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt 1970. Pascal, Roy: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart u. a. 1965. Ruge, Wolfgang: Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion. Hrsg. v. Eugen Ruge. Reinbek b. Hamburg 2012. Smith, Sidonie / Watson, Julia: Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives. 2. Aufl., Minneapolis 2010. Wagner-Egelhaaf, Martina: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart / Weimar 1997. Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. 2. Aufl., Stuttgart / Weimar 2005. Wagner-Egelhaaf, Martina: Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Literaturwissenschaft, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 23.2, 2010, S. 188–200. Wagner-Egelhaaf, Martina (Hrsg.): Auto(r)fiktion. Strategien literarischer Selbst­ erschaffung. Bielefeld 2012. Wagner-Egelhaaf, Martina / Czajka-Cunico, Anna / Gray, Richard: Sektion 60. Autofiktion. Neue Verfahren literarischer Selbstdarstellung, in: Franciszek Grucza u. a. (Hrsg.): Akten des XII. internationalen Germanistenkongresses Warschau 2010. Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. 8. Band. Frankfurt 2012. S. 129– 251. Zipfel, Frank: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literalität?, in: Simone Winko u. a. (Hrsg.): Grenzen der Literatur. Berlin / New York 2006. S. 285–314.

„In eigener Sache […] romanhaft lügen“?1 Wahrheitsreferenz, Fiktionalisierung und Fälschung in der Autobiographie Von Michaela Holdenried 1. Gattungsgeschichtliche Hybridisierung der Form: Autobiographie und Roman – Autofiktion Dass die Autobiographie in den Olymp der literarischen Gattungen aufgestiegen ist, hat mit einer seit dem 18. Jahrhundert unverkennbaren Tendenz zur Literarisierung zu tun, die aus der „Zweckform“ eine „in den epischen Raum hinein“2 erweiterte Textsorte werden ließ. Wir haben es hier also zum einen mit einer Verschiebung innerhalb des autobiographischen Gesamtgefüges zu tun, die den autobiographischen Roman – gemeint sind damit alle Überschreitungen des rein Autobiographischen, d. h. die Hybridisierung der Form, das also, was die neuere Forschung als Autofiktion bezeichnet – ins Zentrum des gattungsgeschichtlichen Innovationsprozesses rückt. Zum anderen stellen wir jedoch fest, dass die Autobiographie trotz dieser Hybridisierung ihren eigentümlichen Gattungscharakter nicht verliert. Wann aber gehen die fiktionale Überformung und episodische Ausweitung, das Herausgreifen einzelner szenisch ausgeführter Segmente, Anachronien etc. zu weit, um noch von einer Autobiographie sprechen zu können? Anders gesagt: Wenn die Autobiographie – forschungstheoretisch und bezüglich ihrer Rezeption – als eine der letzten Bastionen referentiellen Schreibens betrachtet wird, deren Wirklichkeitsbezug jedoch durch Fiktionalisierung durchlöchert zu werden droht, sollte dann nicht wirklich, wie Paul de Man es formuliert hat, der diskriminatorische Gattungsstatus der Autobiographie endgültig aufgehoben werden?3 De Man schlug bekannt1  Wolf,

Kindheitsmuster, S. 9. Autobiographie und Roman, S. 60. 3  Vgl. De Man, Autobiography as De-Facement. Almut Finck schlussfolgert daraus, dass die Autobiographie „wie keine andere Gattung die grundsätzliche Problematik jeder Art von Referentialtät [sic] sichtbar“ mache. Finck, Subjektbegriff und Autorschaft, S. 289. Man könnte allerdings auch umgekehrt argumentieren, dass an keiner anderen Gattung so sehr die Beharrungskraft der Referentialität sichtbar wird. 2  Müller,

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lich vor, die autobiographische Äußerung als eine (bloße) „Lese- oder Verstehensfigur“ zu beschreiben, die in allen Texten vorkommen kann.4 Am Rande sei vermerkt, dass es außer dem Impuls, ein literarisches Werk zu schaffen, den freilich nur ein Teil der Autobiographen verspürt, andere Elemente des autobiographischen Prozesses gibt, die der Gattung immer schon den Vorwurf der Fiktivität eingebracht haben. Fiktionalität und Fiktivität seien hier aber deutlich getrennt: Erstere stellt eine ästhetische Kategorie dar, die seit Aristoteles gegen Platons Vorwurf, alle Dichter seien Lügner, die besonderen Qualitäten des dichterischen Vermögens gegenüber dem des Geschichtsschreibers privilegiert. Fiktivität hingegen meint die Stilisierungen bis hin zur Verfälschung, die Lücken der Erinnerung, das bewusste oder unbewusste Verschweigen, die selbstlegitimatorischen Tendenzen. Natürlich gibt es hier fließende Übergänge. Ich habe De Mans dekonstruktivistischer Lesart in meiner Dissertation zum modernen autobiographischen Roman5 mit einer Gegenthese geantwortet, die auf der schlichten Tatsache beruht, dass wir autobiographische Texte anders lesen als fiktionale – und das gilt selbst noch für den Fall der Autofiktion. Meine Prämissen lauteten: 1.  Der autobiographische Roman oder die Hybridisierung zur Autofiktion bilden den eigentlichen innovatorischen Kern der autobiographischen Gesamtentwicklung und deren dominante Form. 2. Die Authentizitätsproblematik hängt mit der Formproblematik eng zusammen, d. h. ein in Richtung multipler Subjektivität erweiterter Subjektbegriff kann nur mit einem auch ästhetisch erweiterten Formenarsenal darstellerisch erfasst werden. 3.  Die Möglichkeiten zur / der Fiktionalisierung sichern nicht nur die innovatorische Fortentwicklung der Gattung, sondern sie gewährleisten weiterhin eine der unhintergehbaren Gattungsfunktionen, nämlich Orientierungshilfe bezüglich der Entdeckung oder Konstruktion neuer Ich-Dimensionen zu leisten. Damit ist zugleich gesagt, dass wir es nicht mit einem unveränderlichen realen Denotat Ich / Subjekt / Individuum als Substrat des autobiographischen Prozesses zu tun haben, sondern dass dieses ebenso dynamisch ist wie die Art und Weise seiner historisch sich wandelnden Repräsentation.6 4  Vgl. De Man, Autobiography as De-Facement, S. 921: „Autobiography, then, is not a genre or a mode, but a figure of reading or of understanding that occurs, to some degree, in all texts.“ 5  Holdenried, Im Spiegel ein anderer. 6  Beides befindet sich in einer dialektischen Korrelation, wie sie schon Heißen­ büttel in seinem berühmten Aufsatz von 1966 über die Literatur der Selbstentblößer



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4.  Trotz der Hybridisierung der autobiographischen Genres und trotz der Dynamisierung von subjekttheoretischen Positionen ist es sinnvoll, auch weiterhin zwischen reiner Fiktion und autobiographischer Fiktion zu unterscheiden. Mit neuen Identitätskonzepten sind solche gemeint, welche statt einer Abweichung von gelingender Identitätsnormierung (etwa i.  S. Erik H. Eriksons) von der Existenz variabler, multipler Subjektkonzepte ausgehen, bis hin zu transgender- und queer-Konzepten in der Nachfolge Judith Butlers. Für eine Beibehaltung dieser Unterscheidung der Fiktionsarten spricht, dass jeder autobiographische Text von einer unaufhebbaren Dop­ pelpoligkeit zwischen Fiktionalisierung und Beglaubigung gekennzeichnet ist. Das spannungsvolle Gegeneinander zweier konträrer Textstrategien, des „autobiographischen Paktes“7 und des fiktionalen Kontraktes,8 prägt insbesondere den autobiographischen Roman als die Innovationsform des Autobiographischen. Beide Textstrategien neutralisieren sich jedoch nicht, sondern schaffen eine neue und nur auf die autobiographische Fiktion (Autofiktion) zutreffende rezeptionsästhetische Struktur – so lautet meine leitende These. 2. Autobiographische Fiktion zwischen Fiktionalität und Beglaubigung Die skizzierte Doppelpoligkeit des Autobiographischen zeigt sich sowohl in der Ko-Präsenz von Strategien der Fiktionalisierung und der Authentifikation als auch darin, dass den produktionsästhetischen Strategien der Erzeugung von Authentizitätseffekten rezeptionsästhetisch ein Authentizitätsbedarf entspricht. Dabei handelt es sich in der modernen Autobiographierezeption keineswegs mehr um die Einforderung konventioneller Identitätsrepräsentation. Der / die informierte Leser / in wird in der Regel einen modernen autobiographischen Text nicht naiv identifikatorisch lesen, sondern den Entwurfscharakter innovatorischer Formen nachvollziehen (lernen). festgestellt hat – und zwar am Beispiel von Michel Leiris, des französischen Schriftstellers und Ethnologen, dessen autobiographische Bände Die Spielregel zu den avanciertesten Beispielen der autobiographischen Selbsterkundung gehören. Das schreibende Ich dringe in Schichten ein, über die es nicht Herr sei, und verdichte sie im fast rohen Zustand. Erst im und durch das Schreiben werde das Ich seiner Vielschichtigkeit inne und gelange so in Tiefen und zu Erkenntnissen, für die es noch keinerlei Orientierungsmuster gebe. Der autobiographische Prozess sei deshalb, so Heißenbüttel, ein gewagter Konstruktionsversuch (neuer) Subjektpositionen/-eigenschaften. Heißenbüttel, Anmerkungen. 7  Lejeune, Le Pacte autobiographique. 8  Vgl. Iser, Akte des Fingierens. Iser verwendet den Begriff zwar nicht direkt, seine Argumentation deutet aber in diese Richtung.

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Geht man zunächst von produktionsästhetischen Betrachtungen aus, so liegt im autobiographischen Roman wie im strukturanalogen Bildungs- bzw. Entwicklungsroman eine spezifische Subjekt-Objekt-Struktur vor.9 Zwischen Aussagesubjekt und -objekt besteht in allen genannten Romanarten eine Relationsbeziehung, und damit ist auch produktionsästhetisch von der Existenz von Relationen statt fixen Erzählpositionen auszugehen. Diese Differenzrelation hat allerdings je unterschiedliche Funktionen: Zum didaktischen Prozess im Bildungsroman gehört die kommentierende Distanz zwischen Erzähler und Held, erzählendem und erzähltem Ich; beide Ich sind aber fingiert. Im autobiographischen Roman hingegen ist die Lage komplizierter: Dort nämlich erscheint das Aussageobjekt durch Verfahren literarischer Art oder auch paratextuelle Suggestion zunächst als ein echtes, doch ist dies – anders als in der echten Autobiographie – keineswegs der Fall. Insofern gleicht die Erzählsituation derjenigen des Bildungsromans: Echtes Aussagesubjekt ist nur der Autor; auf Anhieb ist über den Fiktionsgrad von Aussagesubjekt und -objekt im innertextuellen Bereich nichts Konkretes festzuhalten. Die Differenzbeziehung weist jedoch über den Text hinaus, sie betrifft in erster Linie das Verhältnis von Autor und Erzähler.10 In der Terminologie Tzvetan Todorovs sollte zwischen dem Subjekt des Aussagevorgangs (Autor / Autorin) und dem Subjekt der Aussage unterschieden werden. Todorovs markante Feststellung für die Er-Erzählung kann auf den autobiographischen Roman / die Autofiktion übertragen werden: „Somit vereint die Person, die das Buch schreibt, keineswegs den Helden und den Erzähler in sich, sondern sie hat eine ganz eigenartige Stellung: ebenso verschieden von der Person, die sie wäre, wenn man sie ‚er‘ nennen würde, wie von dem Erzähler, der ein potentielles ‚ich‘ ist.“11 Zwischen dem Subjekt des Aussagevorgangs und dem Subjekt der Aussage herrscht eine erzähltheoretisch zu erfassende Differenz, die jedoch im Fall der Autofiktion keine Unvereinbarkeitsbeziehung ist. Zwischen beiden besteht, was ich in einer Erweiterung des Barthesʼschen Indizienbegriffes eine „indizielle Idenausführlich Holdenried, Im Spiegel ein anderer, S. 241–316. interne Abgrenzungen des Autobiographischen von fiktionalen Gattungen aufgrund „sprachstruktureller Kriterien“, so hat Rolf Tarot in Auseinandersetzung mit Käte Hamburgers berühmt-berüchtigtem Theorem bezüglich literarischer Texte als „Wirklichkeitsaussage“ betont („Aussage ist immer Wirklichkeitsaussage, weil das Aussagesubjekt wirklich ist, weil, mit anderen Worten, Aussage nur durch ein reales, echtes Aussagesubjekt konstituiert wird.“ Hamburger, Logik der Dichtung, S. 48), sind nicht möglich: „Die Strukturanalogie von echter und fingierter Wirklichkeitsaussage ist so vollkommen, dass wir bei Texten mit einer Relationsstruktur nicht wissen – und ohne textexterne zusätzliche Information nicht wissen können –, ob wir es mit einer echten Autobiographie oder einem schon romanhaften Gebilde zu tun haben.“ Tarot, Die Autobiographie, S. 37 f. 11  Todorov, Poetik, S. 129. 9  Dazu

10  Andere



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titätsrelation“ genannt habe.12 Diesen Begriff verwende ich für die Hinweise auf eine Identitätsbeziehung zwischen dem Subjekt des Aussagevorgangs und der Aussage, die in ihrer Gesamtheit geeignet sind, die Autoreferentialität des Textes einzuschränken. Dazu zählen die Vertragsvereinbarungen zwischen Autor / in und Leser / inne / n, die Lejeune unter der Bezeichnung „autobiographischer Pakt“ zusammengefasst hat, darüber hinaus aber auch strukturelle Momente, die in der Doppelpoligkeit des autobiographischen Romans / der Autofiktion begründet liegen und daraus erwachsende komplexere rezeptionsästhetische (vielleicht auch rezeptionspsychologische) Strukturen, als sie die Paktkonstruktion Lejeunes nahelegt. Diese indiziellen Identitätsrelationen sind in ihrer Gesamtheit als Authentifikationsstrategie zu charakterisieren. Authentifikation meint die Ablösung starrer Erzählpolaritäten durch den Text auflockernde, graduell sich verändernde Identitätsbeziehungen zwischen Autor und Erzähler einerseits, Autor und Protagonist andererseits. Diese Dynamisierung des erzählperspektivischen Schemas ersetzt die durchgehend homogene Identitätskonstruktion auf der Basis eines festen Subjektpols, wie sie früheren Autobiographien durchaus eigen war. Zur Erhöhung von Authentizität tragen speziell in der Moderne vom Erzähler geäußerte Zweifel an der eigenen Darstellung weit mehr bei als die Orientierung an konventionellen Subjektschemata, die eine jederzeitige Verfügbarkeit des Objektpols (des erzählten Ich) in der Erinnerung suggerieren. Durch diese Dynamisierung und Polyperspektivierung sind die Voraussetzungen für eine Annäherung an in der konventionellen autobiographischen Form nicht Verfügbares gegeben. Unverfügbares aber wird nach Wolfgang Iser im performativen Akt der Vorstellung des Lesers besetzt. Unverfügbar erscheint zum einen der Autor für den Leser, zum anderen, aufgrund der Erinnerungsproblematik, das erzählte für das erzählende Ich. Dieses Unverfügbare an Subjektivität wird in der identifikatorischen Phantasietätigkeit des Rezipienten stellvertretend eingeholt. Anders formuliert: Während der Autor im Bildungs- bzw. Entwicklungsroman cum grano salis keine Rolle spielt, verschieben sich die Affinitäten im Fall des autobiographischen Romans durch authentifikatorische Erzählstrategien (und paratextuelle Elemente) so, dass der Autor in der Rezeption näher zum Erzählerpol gerückt wird. Diese Art der Verschiebung ist es, die dem Erzählerpol den Anschein von Echtheit (i. S. von Authentizität) verleiht. Allerdings – und das macht die Struktur des autobiographischen Romans aus  – stehen diesem im Leser / innen / bewusstsein verankerten Moment der Authentifikation Strategien der Fiktionalisierung und der Selbstanzeige der Fiktionalität entgegen (Fiktionsironie, Reflexion). 12  Vgl.

Holdenried, Im Spiegel ein anderer, S. 182.

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Rezeptionsästhetisch ist die Lage also insofern kompliziert, als der autobiographische Roman / die Autofiktion sowohl den fiktionalen Kontrakt als auch den „autobiographischen Pakt“ verweigert. Stattdessen wird ein komplexes und sogar widersprüchliches Signalrepertoire installiert, das zwischen beiden Vertragssystemen changiert und von den Leser / inne / n eine Überprüfung und sogar Revision ihrer konventionellen Einstellung gegenüber autobiographischen Texten verlangt. Die Schwierigkeit eines rezeptionsästhetischen Modells für den autobiographischen Roman liegt darin, dass dazu meines Wissens keine empirischen Befunde, etwa aus der Leser / innen / forschung, vorliegen. Wie sich die für den autobiographischen Roman konstitutive Zweigleisigkeit von Fiktionalisierung und Authentifikation konkret in der Rezeptionstätigkeit niederschlägt, habe ich durch eine Modifikation der Paktthese Lejeunes modellhaft nachvollzogen. Kurz zusammengefasst lautet diese Setzung: Die Authentifikation ist zuallererst nicht Ergebnis narrativer Strategien, sondern eine der Funktionen des Identitätsbegriffs. Mit anderen Worten: Ein essentialistisch aufgeladener Identitätsbegriff, der den Kern der Identitätskonstruktion des Textes bildet, tritt an die Stelle der konventionellen Vereinbarungen zwischen Leser / inne / n und Autor und übernimmt dieselbe Funktion, nämlich die Beglaubigung der Wirklichkeitsaussage. Im Bewusstsein des Rezipienten funktioniert diese Ersatzkonstruktion selbst dann, wenn die üblichen Authentizitätsversicherungen von Seiten des Autors wegfallen. Diese These, der zufolge sich Effekte der Fiktionalisierung und Authentifikation im Falle des autobiographischen Romans nicht neutralisieren, sondern über die identitätsrepräsentierende Funktion eine neue rezeptions­ ästhetische Situation schaffen, habe ich durch erzähltheoretische Positionen zu untermauern gesucht. Begreift man die Erzählstrategien eines Textes – als „Summe der von einem Autor eingesetzten semantischen, stilistischen und erzähltechnischen Verfahren, mit denen er den intendierten Leser zur Übernahme der […] Leserrolle und der vom Erzähler suggerierten Wertvorstellungen zu bewegen versucht“13 – mit Klaus Kanzog als „Normeinübung“14, so lässt sich erkennen, dass die rein erzähltechnische von der normativen Seite nicht zu trennen ist. Die Normeinübung aber geschieht im modernen autobiographischen Roman eben wegen seiner Nichteindeutigkeit als Einübung in eine Ästhetik des existentiellen Entwurfs, wobei der Entwurf die Subjektivität nicht als Vorgegebenes, in den Erinnerungsakten nur zu Wiederholendes, mimetisch Abbildbares meint, sondern Subjektivität als Konstruktion, als im literarischen Akt erst zu schaffende. Idealiter ist das hier skizzierte Rezeptionsmodell so zu beschreiben, dass die Rezipient / inn / en 13  Klesczewski, 14  Kanzog,

Erzählen als Kriegskunst, S. 387. Erzählstrategie.



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die ästhetisch erfolgende Weiterung des Subjektkonzepts erfassen und Authentizität als Anspruch an Autobiographik mit dem fiktionalisierten Identitätsentwurf zu verbinden wissen – auch wenn (oder gerade wenn!) dieser in literarisches und anthropologisches bzw. subjekttheoretisches Neuland vorstößt. 3. Wahrheit – Wahrhaftigkeit – Zeugenschaft An keine andere Gattung als an die Autobiographik wird seit Beginn ihrer Erforschung so vehement der Anspruch gestellt, sie solle die historische (und in eins damit die subjekthistorische) Realität widerspiegeln. In Johann Wolfgang Goethes von 1811 bis 1833 erschienener Lebensdarstellung Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit schien dieser normative Anspruch in exemplarischer Weise erfüllt zu sein: Goethes Autobiographie entsprach in höchstem Maße der Vorstellung, es müsse einem Rückblick möglich sein, die verschiedenen Stadien individueller Entwicklung, die Einflüsse auf das organische Reifen vom Kind zur ausgebildeten Persönlichkeit darzustellen, sie lebendig auszugestalten und den Zusammenhang mit den Umweltfaktoren herzustellen. Goethes Werk gilt als Autobiographie par excellence, obwohl es bereits weder die Vorgabe erfüllt, Wirklichkeit mimetisch abzubilden, noch sich an gesetzte Gattungsgrenzen hält (indem etwa gattungsfremde Elemente wie eine Literaturgeschichte eingefügt werden) – Goethe selbst war die Unmöglichkeit eines Gelingens objektiver Wirklichkeitsdarstellung durchaus klar. Eben deshalb spricht er auch nicht von Wirklichkeit, sondern von Wahrheit, und zwar einer höheren, in der sich „einige Symbole des Menschenlebens“15 finden ließen, oder auch vom „Grundwahren“16. Wesentliches Moment der Exemplarität von Goethes Lebensgeschichte stellte für die meisten Forscher dessen ausgeprägte und durch alle Wandlungen hinweg gleich bleibende persönliche Identität dar.17 15  Goethe,

Gespräch mit Eckermann vom 30.3.1831, S. 479. Brief an den König Ludwig I. von Bayern vom 11.1.1830 [Concept], S. 61: „[E]s war mein ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrucken. Wenn aber ein solches in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung, und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben, so ist es klar daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelnheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben werde. […] Dieses alles, was dem Erzählenden und der Erzählung angehört, habe ich hier unter dem Worte: Dichtung begriffen, um mich des Wahren, dessen ich mir bewußt war, zu meinem Zweck bedienen zu können.“ 17  Noch heute ist diese Vorstellung vom Zweck der Autobiographie bei Eckart Henning zu lesen: „Der Zweck der Autobiographie liegt in der Feststellung der 16  Goethe,

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Das aber bedeutet, dass der normative Rahmen des Autobiographischen zu einem ganz wesentlichen Teil über die außergewöhnliche Persönlichkeit und den Lebensentwurf eines Großen seiner Zeit bestimmt wurde. Im Grunde galt bis in die jüngste Zeit, in der Formulierung Wilhelm Diltheys, dass die „Selbstbiographie […] nur die zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebenslauf“ ist.18 Wahrheit ist genauso wenig wie Wirklichkeit der direkten Mimesis verfügbar; vielmehr entsteht beides erst im Prozess sowohl der Rückerinnerung als auch in der literarischen Transformation dieser Retrospektive. Allerdings erwarten wir, wie oben ausgeführt, von der Autobiographie im Grunde doch noch immer die mimetische Abbildung von Wahrheit, Authentizität – verbürgte außertextuelle Wirklichkeit. Dass sich bei der Feststellung dieser vermeintlichen Kriterien einer Unterscheidung von der Fiktion detektivische Fähigkeiten als nützlich erweisen könnten, mittels derer dem Autobiographen Fehler, Verschweigen, grobe Missachtung des Wahrheitsgebots nachgewiesen werden können, ist vielfach angenommen worden. Überdies dürfte deutlich geworden sein, dass wir uns mit diesem Unternehmen in einem Grenzgebiet zwischen Literatur und Ethik bewegen. Wie wir uns zu einem Wahrheitsanspruch stellen, der für die Literatur seit langem durch rezeptionsästhetische Konzepte wie die vom fiktionalen Kontrakt abgelöst worden ist, hängt von unserer subjektiven Einstellung ab. Sinnvoll wäre es daher in einem ersten Schritt, anstelle des moralischen Normbegriffs Wahrheit den Begriff der Wahrhaftigkeit zu verwenden, der eine Absichtserklärung beinhaltet und kein Absolutum darstellt. Autobiographie kann immer nur Annäherung an eine subjektive Wahrheit sein. Darin gleicht sie einem psychoanalytischen Verfahren, in dem über Deckerinnerungen zu grundlegenden, oft krisenhaften Erfahrungen, ja Traumatisierungen vorgedrungen werden kann.19 Die Beobachtung, dass es gerade die Autobiographie als Gattung ist, welche immer wieder die für die meisten literarischen Gattungen als obsolet betrachtete moralische Dimensionen der Rezeption aktualisiert – eben jene seit den Poetiken der Antike virulente Auffassung, dass Dichtung (im GeIdentität [sc. des Wesenskerns der Person] in der Folge der Lebensalter und Umstände (R. Pascal).“ Henning, Selbstzeugnisse, S. 33. 18  Dilthey, Das Erleben und die Selbstbiographie, S. 201. 19  In einigen autobiographischen Werken der 1970er und 1980er Jahre ist diese Arbeit am Trauma tatsächlich analog zur Psychoanalyse beschrieben worden: Dies geschieht etwa in Manfred Bielers Still wie die Nacht. Memoiren eines Kindes (1989) über sexuellen Missbrauch oder Cordelia Edvardsons (Tochter der Autorin Elisabeth Langgässer) Gebranntes Kind sucht das Feuer (1989) über eine schwierige, von existentiellem Verrat geprägte Mutter-Tochter-Beziehung und das Überleben des Holocaust.



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gensatz zur Geschichtsschreibung) lügenhaft sei –, ist in unserem Zusammenhang wichtig. Da autobiographische Texte überdies manchen immer noch als Sonderfall der Historiographie gelten, wiegt der Vorwurf besonders schwer, weil sie in dieser Funktion die Opposition von Wahrheit und Lüge doppelt zu unterlaufen scheinen. Die meisten autobiographischen Werke weichen mit der Verweigerung einer Gattungsbezeichnung nicht nur moralischen Bezichtigungen aus, sie offenbaren auch ein Gattungsbewusstsein, das sowohl die Selbststilisierung und -rechtfertigung als auch die „erinnernde Neuschöpfung“20 als Konstanten des lebensgeschichtlichen Schreibens anerkennt. Seit Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands hat sich die Bezeichnung „Wunschautobiographie“ für Texte mit einem starken Hang zur fiktionalen Überformung eingebürgert.21 Apologetische Elemente bilden von jeher eine Wurzel des Autobiographischen: In den Gerichtsreden der Antike, in der Apologie Sokrates’ (verm. 395–390 v. Chr.) von Platon und der Antidosis (354 / 353 v. Chr.) des Isokrates geht der Beweis von der in der Dauer der Zeit erhalten gebliebenen Identität mit sich selbst aus. Auch noch in den extremen Abweichungen von einem starren Identitätsverständnis liegt ein Bezug zu diesem apologetischen Element. Anders gesagt: Die Selbststilisierung enthält immer Hinweise auf ein dem Subjekt nicht zugängliches, verfehltes, angestrebtes anderes Leben. Zwischen Wunschautobiographie und Verfälschung liegen hauchdünne Trennwände (über deren Wirksamkeit oft unsere Sympathien, Empathien oder Idiosynkrasien entscheiden). Hilfreich erscheint mir daher ein Vorschlag, den die Autobiographin und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger gemacht hat: die Autobiographie als eine „Art Zeugenaussage“ zu betrachten.22 Es ist die Figur des Zeugen, die als Shifter von der Anmaßung des Memoirentypus (Zeuge des Jahrhunderts) über die prekäre Zeitzeugenschaft eines seiner selbst unsicher gewordenen Subjekts wieder eingewandert ist in die Debatte um Glaubwürdigkeit und Möglichkeit einer historischen Wahrheit. So heißt es bei Jean Améry unmissverständlich: „Ich war dabei.“23 Und zwar als Opfer, als Gefolterter, von den Nazis Verfolgter, der als „Augenzeuge“24 eine unhinterfragbare 20  Picard,

Autobiographie im zeitgenössischen Frankreich, S. 67. Weiss selbst hat im Gespräch mit Rolf Michaelis seine „Ästhetik des Widerstands“ als eine solche bezeichnet: „Es ist eine Wunschautobiographie. Eine Selbstbiographie, die in sehr vielem meiner eigenen Entwicklung folgt, die aber gleichzeitig das Experiment macht: wie wäre ich geworden, wie hätte ich mich entwickelt, wenn ich nicht aus bürgerlich-kleinbürgerlichem Milieu käme, sondern aus proletarischem.“ Weiss/Michaelis, Wunschautobiographie. 22  Klüger, Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie, S. 409. 23  Améry, Jenseits von Schuld und Sühne, S. 8. 24  Ebd., S. 9. 21  Peter

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archivalische (dokumentarische) Wahrheit zu Protokoll gibt.25 Bei Améry haben wir es mit einer Zuspitzung der Forderung nach Wahrhaftigkeit zu tun, die von einer existentiell beglaubigten Position aus behauptet wird. Hier scheint der spielerische Umgang mit fiktionaler Innovation ausgesetzt und durch das Moment eines autoptischen Ernstes ersetzt zu sein. Der gleiche Ernst kennzeichnet aber auch eine autobiographisch bis an die Grenzen gehende Selbstbefragung wie diejenige Christa Wolfs – ein Musterbeispiel der Fiktionalisierung durch subjektive Authentizität: „Steckt denn in der Frage ‚Wer bist du?‘ noch irgendein Sinn? Ist sie nicht hoffnungslos veraltet, überholt von der Verhörfrage: ‚Was hast du getan?‘“26 4. Fragwürdige Erinnerung Erinnerungskritik ist ein integraler Bestandteil der Auseinandersetzung nicht nur mit dem Problem der Erinnerung, sondern mindestens ebenso mit dem Problem der Selbst-Rekonstruktion.27 Häufig genug ergibt sich zwar ein Mehr an Erkenntnis über sich selbst, aber nicht unbedingt in Übereinstimmung mit einem positiven Selbstbild; dies ist insbesondere dann der Fall, wenn in literarischer Nähe zu psychoanalytischen Prozessen ein Höchstmaß an Selbsterkenntniswille das mühsam durch Verdrängung hergestellte psychische Gleichgewicht zerstört.28 Es ist hier nicht möglich, tiefer in den Komplex der Struktur und Funktion von Gedächtnis und Erinnern in autobiographischen Texten einzudringen, hat sich doch gerade in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen ein riesiges Forschungsgebiet zur Gedächtnisproblematik etabliert. Wichtige Impulse gingen dabei von Jan und Aleida Assmann, von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann sowie von Pierre Nora aus: Basierend auf der rhetorischen Tradition der memoria, die das Erinnern an bestimmte loci und imagines (topische Gedächtnisorte und -bilder) knüpft, reicht dieses ForAgamben, Was von Auschwitz bleibt. Kindheitsmuster, S. 323. Vgl. dazu: Holdenried, Christa Wolf. Kindheitsmuster. 27  Silvia Bovenschen hat sich selbst als „fragwürdiges Ergebnis eines solchen Rekonstruktionsprozesses beschrieben: „Ich bin ein bündelndes rückkoppelndes Alsob, das sich eine fragwürdige Erinnerungsgeschichte schafft, um dann aus ihr zu bestehen …“. Bovenschen, Älter werden, S. 155. 28  Je schonungsloser dieser Erkenntniswille ist, umso mehr kann er zu der Erkenntnis eines tatsächlichen, nicht wieder gutzumachenden Verlustes führen: Dass in einem Leben wahrhaftig etwas fehlt (Leiris, Die Spielregel); dass der Krebs, der einen zerfrisst, nicht nur ein feindliches äußeres Moment ist, sondern im eigenen Selbst beheimatet (Zorn, Mars); dass die Neigung zum Totalitären Teil der eigenen Vergangenheit ist (Wolf, Kindheitsmuster). 25  Vgl.

26  Wolf,



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schungsfeld über den Dualismus von Gedächtnis und Erinnerung, deren konstruktiven Charakter, über die metaphorischen Konzepte, die wir verwenden, um uns die hochkomplizierten Phänomene modellhaft zugänglich zu machen (Speicher, Archiv, Spur), bis hin zu medialen Einwirkungen auf Gedächtnis und Erinnern und schließlich zu Ergebnissen der Kognitionspsychologie und Hirnforschung.29 Dass Autobiographik mit Erinnerung zu tun hat, legen schon manche Bezeichnungen ihrer Subgenres (Erinnerungen, persönliche Erinnerungen etc.) nahe – erstaunlicherweise hat sich die Autobiographieforschung dennoch relativ wenig mit Erinnerung beschäftigt. Hier liegt ein weites Feld für zukünftige Forschung, die sogar an aktuelle empirische Befunde anknüpfen könnte, aber auch an die immer noch ergiebigen Arbeiten von Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis.30 Erinnerung sei hier im Gegensatz zu Gedächtnis als eher „mechanischem Vermögen“31 definiert als eine durch das Vergessen vermittelte Präsenz, bei der das Bewusstsein des Vergangenen mitläuft. Sie wird von den beiden Begriffen, die Proust für die Tätigkeit des Wieder-Holens des Vergangenen eingeführt hat, der ‚Mémoire volontaireʻ, also dem bewussten Suchen nach dem Vergangenen, und der ‚Mémoire involontaireʻ, dem ungerufenen, oft auch unwillkommenen Auftauchen von Erinnerung, in ihren beiden Hauptaspekten markiert. Mithilfe des Erinnerns soll die Dimension Vergangenheit wiedergewonnen werden. Sie ist wesentlicher Garant lebensgeschichtlicher Kontinuität: Die Synchronisierung einer Kette von Erinnerungen zur Sinnstruktur – zu einem deutbaren Lebensganzen – kann als vornehmliche Leistung der Erinnerung gesehen werden. Damit aber ist Erinnerung nicht nur dem Wortsinne nach Er-Innerung, also Re-Konstruktion, Wieder-Einholen eines gewesenen Vorgangs, eines Erlebnisses, welche man aber vergessen hat, sondern in aller Regel auch Konstruktion. Die zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsstandpunkt oszillierende Erinnerung (als psychisches Verfahren) ist sowohl Einfallstor für die zahlreichen Fragwürdigkeiten (Verfälschungen) unserer Erinnerungsbilder, als auch zugleich Voraussetzung unserer „Selbsterzeugung“, „Autopoiesis“ (Luh­ mann).32 Diese konstitutive Doppelperspektive über unsicherem Grund – Er29  Vgl. exemplarisch: Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Haverkamp/Lachmann, Memoria. Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. 30  Vgl. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis. Halbwachs beschreibt darin unter anderem, wie das individuelle Gedächtnis sich eines kollektiven Speichers von imagines bedient. 31  Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 13. 32  Vgl. Luhmann, Soziale Systeme.

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innerung selbst ist niemals original, sondern immer schon überformt33 – ermöglicht durch bewussten Perspektivenwechsel ein hohes Maß an Literarizität einerseits, ist aber andererseits auch Ausdruck gewachsener Unsicherheit dem Funktionieren des Gedächtnisses gegenüber. Die modernen Erinnerungsverfahren unterliegen einem tiefgreifenden Wandel, weil die Tätigkeit des Wiederholens im Freudʼschen Sinne des Wiederholens und Durcharbeitens vergangener Ereignisse aus dem Gedächtnisspeicher,34 wie sie früheren Autobiograph / inn / en möglich sein mochte, heute selbst fragwürdig geworden ist – nicht zuletzt durch den Zuwachs an Erkenntnissen über die Vielschichtigkeit des psychischen Apparates und über die Einflussfaktoren, die das individuelle Gedächtnis an kulturelle und kollektive Gedächtniselemente rückkoppeln. 5. Selbststilisierung – Fälschung Die oben entwickelte Argumentationslinie bezüglich der Koexistenz von Beglaubigungs- und Fiktionalisierungsstrategien und die für die autobiographische Fiktion doch festzuhaltende rezeptionsästhetische Priorisierung des authentifikatorischen Moments hat freilich einen entscheidenden Schwachpunkt: Sie funktioniert nur, wenn man daran festhält, dass der Identitätsbzw. Subjektbegriff nach wie vor als ein essentialistisch aufgeladener den Erzählerpol mit realer Substanz infiziert. Nochmals anders: Nur wenn zugestanden wird, dass Subjektivität im Leser / innen / bewusstsein nach wie vor als Substanz- oder Wesensbegriff verstanden wird, kann das rezeptive Schwanken bezüglich der gegenstrebigen Konstruktion der autobiographischen Fiktion in Richtung Echtheit, Authentizität, wahre Geschichte aufgelöst werden. Trotz aller Distanzierungsfähigkeit der informierten Leser / innen lesen wir Ich-Erzählungen tendenziell identifikatorischer oder empathischer als Er-Erzählungen. Das ist angesichts des Durchgangs durch poststrukturalistische Phasen der Auflösung des Subjekts, des Autors und aller anderen abendländischen Gewissheiten geradezu anachronistisch. Aber: Gemeint war damit ja niemals, dass das Subjekt eine unveränderliche Entität, eine kohärente Wesenseinheit bildet, die wiederum im Literarischen nur abgebildet zu werden braucht. Gemeint war vielmehr ein tertium datur: Es gibt die Möglichkeit eines prozessualen Subjektbegriffs, und das ist etwa auch die Position von Philosophen wie Manfred Frank, Kenner und Kritiker des französischen Poststrukturalismus, der ja bekanntlich auf der „Unhintergehbarkeit von Individualität“ beharrte.35 33  So heißt es bei Georges-Arthur Goldschmidt: „Woher wußte man nur, daß man sich daran erinnern würde?“ Goldschmidt, Ein Garten in Deutschland, S. 23. 34  Vgl. Freud, Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. 35  Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Es ist dies übrigens pikanterweise auch eine Position, die beim späten, sozusagen postumen Michel Foucault



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Trotz dieser Auffassung von der diskursiven Konstruktion der Autobiographie – der Autobiographiecharakter wird zugeschrieben  – bleibt angesichts einiger Autobiographieskandale der letzten Jahrzehnte die Frage nach dem Übergang von der Konstruktion zur Lüge virulent: Bereits bei Thomas Bernhard wurde gegen die Verbindung von Faschismus und Katholizismus in einem seiner autobiographischen Bände, Die Ursache. Eine Andeutung (1975), geklagt; der DDR-Autor Stephan Hermlin wurde von dem Literaturwissenschaftler Karl Corino der Lüge bezichtigt, was die autobiographische Stilisierung der Ich-Figur in Abendlicht (1979) zu einem großartigen sozialistischen Helden angeht, aber auch schon der familiäre Hintergrund, die Inhaftierung im KZ, der Flieger-Tod des Bruders und der des Vaters im KZ seien verfälscht oder schlichte Lüge.36 Zu einer breiten Diskussion über Wahrheit und Lüge führte schließlich der Fall Binjamin Wilkomirski, dem der Journalist Daniel Ganzfried sein Buch …  alias Wilkomirksi widmete. Wilkomirski hatte sich ein Leben als jüdischer Verfolgter, komplett mit allen Akzidentien einer solchen Legende, also der Jugend im Ghetto etc., erfunden.37 In der Terminologie der Psychiatrie ließe sich hier von einer Pseudologie sprechen. Hieran lässt sich eine Reihe von Fragen anschließen, deren Beantwortung letztlich von der eigenen moralischen Position abhängt: 1.  Sind angesichts der Erweiterungstendenzen der Autobiographik hin zur Fiktion die Autoren überhaupt noch auf eine wie auch immer geartete biographische Wahrheit zu verpflichten? 2.  Wenn seit Peter Weiss mit dem Begriff der „Wunsch(auto)biographie“ Autoren die fiktionale Korrektur ihrer tatsächlichen Lebensläufe zugestanden wird, warum gilt das dann nicht auch für eine erfundene HolocaustAutobiographie? 3.  Wo beginnt der Übergang von der gattungsinhärenten und unvermeidlichen Stilisierung und Konstruktion hin zur (un)bewussten Verfälschung? 4. Kann der Autor sich vor Authentizitätszumutungen retten, indem er schlicht keinen autobiographischen Pakt anbietet? Im Fall Hermlins etwa wieder durchschlägt, wie Frank selbst in seiner Rezension zu den aus dem Nachlass herausgegebenen Vorlesungen Michel Foucaults nicht ohne Genugtuung feststellte (Frank, Das Subjekt kommt zurück). Und auch bei Roland Barthes könnte man entgegen dem Anschein durchaus Substitute des Individuellen finden, z. B. in seinem wunderbaren Buch über Die Sprache der Liebe. Im Übrigen ist die Rede von der „Rückkehr des Autors“ (und damit natürlich auch des Subjekts) im deutschen Sprachraum längst wieder salonfähig. Vgl. Jannidis u. a. (Hrsg.), Rückkehr des Autors. 36  Vgl. Corino, Dichtung in eigener Sache. 37  Vgl. Wilkomirski, Bruchstücke. Dazu Ganzfried, … alias Wilkomirksi.

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war dies so: Der Klappentext unterstreicht ausdrücklich, dass es sich nicht um eine Autobiographie handle: „Ein eigentümliches Buch, aus der Rückschau gewonnen und doch keine Autobiographie: Wahrheit und Dichtung, Andeutung und poetisches Symbol, Erlebnis und Evokation.“38 Allerdings: Karl Corino wies nach, dass Hermlin auch in dezidiert autobiographischen Texten an seiner Legende gebastelt hatte.39 6. Schluss Die Ergebnisse meiner Überlegungen seien hier abschließend thesenartig zusammengefasst: 1. Die Literarizität der Erinnerungen in modernen autobiographischen Werken geht einher mit der Ablösung von einer dokumentarisch feststellbaren historischen Wahrheit. 2.  Erarbeitung und Bereitstellung eines Inventars von literarischen Erinnerungsverfahren sind die sichtbarsten Zeichen eines allgemeinen Strukturwandels im Autobiographischen. 3. Die Erinnerungstechnik als literarisches Verfahren tritt an die Stelle vorgeblich unverfälschten naiven Erinnerungsmaterials. 4.  In dieser Literarisierung des Erinnerungsverfahrens – und der textuellen Problematisierung seiner Schwierigkeiten – zeigt sich ein unumkehrbarer Wandel von der historisch-dokumentarischen Form, die sich auf nachprüfbare Wahrheit verpflichtet, hin zu einer narrativen Wahrheit und damit zum Primat des Ästhetischen. 5.  Ein narrativ erneuerter Umgang mit Erinnerung bis hin zu fantasmatischen Formen (Traum, irreale Bewusstseinsformen) erfüllt gerade in diesem strukturellen Wandel wesentliche Aufgaben des Autobiographischen: Identitäts(re)konstruktion und temps retrouvé. 6.  Mit der Autobiographie und ihrer Zuverlässigkeit als historische Quelle hat sich 1903 – und damit noch vor Georg Mischs bedeutender Geschichte der Autobiographie40 – der Historiker Hans Glagau beschäftigt.41 Bis zu den jüngsten Einlassungen des Archivars Eckart Henning zum Quellenwert von Selbstzeugnissen hat sich an der grundsätzlichen Fragestellung nichts geändert.42 Für Historiker sind es gerade die fiktionalen Strukturen des 38  Hermlin,

Abendlicht. Corino, Dichtung in eigener Sache. 40  Vgl. Misch, Geschichte der Autobiographie. 41  Vgl. Glagau, Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle. 42  Vgl. Henning, Selbstzeugnisse. 39  Vgl.



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Autobiographischen, die problematisch erscheinen. Demgegenüber wäre von literaturwissenschaftlicher Seite einzuwenden, dass die spezifischen Gesetzmäßigkeiten einer Grenzgattung zwischen Faktizität und Fiktionalität einer allerdings umfassender verstandenen historischen Wahrheit nicht entgegenstehen müssen. Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III). Frankfurt 2003. Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München 1966. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. Bovenschen, Silvia: Älter werden. Notizen. 6. Aufl., Frankfurt 2006. Corino, Karl: Dichtung in eigener Sache, in: Die Zeit Nr. 41 vom 4. Oktober 1996. http: /  / www.zeit.de / 1996 / 41 / hermlin.txt.19961004.xml. De Man, Paul: Autobiography as De-Facement, in: Modern Language Notes 94.5, 1979, S. 919–930. Dilthey, Wilhelm: Das Erleben und die Selbstbiographie, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Bernhard Groethuysen. Bd. 7. 2. Aufl., Leipzig / Berlin 1942. S. 191–204. Finck, Almut: Subjektbegriff und Autorschaft. Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie, in: Miltos Pechlivanos u. a. (Hrsg.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart / Weimar 1995. S. 283–294. Frank, Manfred: Das Subjekt kommt zurück. Michel Foucaults Vorlesungen von 1982 aus dem Nachlass werfen einen letzten Blick in die antike „Seelenambulanz“, in: Die Zeit Nr. 29 vom 8.  Juli 2004. http: /  / www.zeit.de / 2004 / 29 / STFoucault. Frank, Manfred: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer „postmodernen“ Toterklärung. Frankfurt 1986. Freud, Sigmund: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, in: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hrsg. von Anna Freud. Bd. 10. Frankfurt 1999. S. 126–136. Ganzfried, Daniel: … alias Wilkomirksi. Die Holocaust-Travestie. Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skandals. Berlin 2002. Glagau, Hans: Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle. Eine Untersuchung. Marburg 1903.

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Die Leistung des Fiktionalen für die historische Erkenntnis Von Nikola Becker Überblickt man als Historiker die germanistische Auseinandersetzung mit dem Genre Autobiographie, so werden übereinstimmende Ansätze, aber auch andere Schwerpunktsetzungen des geschichtswissenschaftlichen Zugriffs auf autobiographische Texte deutlich. Hinzuweisen ist besonders auf die Fruchtbarkeit der von literaturwissenschaftlicher Seite betonten Literarizität und Narrativität von Autobiographien für genuine Fragestellungen der Geschichtswissenschaft, die von neueren Studien nutzbar gemacht wird.1 Die folgenden Ausführungen basieren auf meinen eigenen Forschungen zu bayerisch-bürgerlichen Autobiographien über Prinzregentenzeit und Weimarer Republik, die ich im Hinblick auf die in ihnen vermittelten Angebote zur Deutung der selbst erlebten Geschichte und die dadurch zutage tretende Formierung politischer Meinungslager untersucht habe.2 Der im Kapitel von Martina Wagner-Egelhaaf entwickelten Darstellung der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gattung Autobiographie vom 19. Jahrhundert bis hin zu nach-postmodernen Zeiten sind ähnliche Theoriedebatten innerhalb der Geschichtswissenschaft zur Seite zu stellen. Wagner-Egelhaafs Feststellung des Doppelcharakters der Autobiographie, ihre Rezeption als literarischen Text durch die Literaturwissenschaft sowie als historisches Dokument durch die Geschichtswissenschaft weist dabei korrekt auf Kontroversen um den Quellenwert hin. Dieser Quellenwert betrifft aber Probleme, die von Wagner-Egelhaaf als auch in der Literaturwissenschaft diskutierte Themen zur Autobiographie erwähnt wurden. Die ältere historische Forschung hatte kein naives Wissenschaftsverständnis, sondern war sich des Problems der Literarizität autobiographischer Texte bewusst und hat dieses auch diskutiert. Der Quellenwert der Autobiographie für die Geschichtswissenschaft unterlag demzufolge in der Einschätzung Schwankungen. Zu erwähnen wäre hier etwa Leopold von Ranke, der ent1  Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden. Ders., Nicht die Materialien sind das Problem. Siehe außerdem: Heinze, Autobiographie und zeitgeschichtliche Erfahrung, bes. S. 94–95. 2  Becker, Bürgerliche Lebenswelt und Politik in München.

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schieden vor der Verwendung autobiographischer Quellen warnte.3 Der von Michaela Holdenried herangezogene Hans Glagau, Geschichtsprofessor in Greifswald, warf 1903 gar der Literaturwissenschaft vor, unkritisch die Aussagen der Autobiographen zu übernehmen.4 Er selbst charakterisierte die Autobiographie als „Tochter des Romans“ mit romanhaften Elementen, glaubte aber an die Aussonder- und wissenschaftliche Erfassbarkeit der fiktionalen Elemente. Durch diese Tilgung des von ihm so benannten „Fantasieelements“ erklärte Glagau sie daher doch wieder zu einer für den Historiker nutzbaren Quelle.5 Der Dialog zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft war also durchaus in der Vergangenheit bereits vorhanden, mit ähnlichen Fragestellungen an die Gattung von beiden Seiten. Wie von Holdenried zutreffend festgestellt, sind es aber gerade die Strukturen des Fiktionalen, die dem Historiker in der Auseinandersetzung mit der Autobiographie als größtes Problem erscheinen. Insofern wurde und wird sie oft als zweifelhafte Quelle angesehen, die im Vergleich zu den Sachakten, die den Zugriff auf unverfälschte historische Wahrheit zu erlauben scheinen, mangelhaft sein muss.6 Dennoch erfreute sie sich andererseits einer anhaltenden Beliebtheit, weil, wie von Wagner-Egelhaaf angemerkt, sich im Blick auf das Wie eines Textes die Möglichkeit zur Materialfindung für mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen bietet. Forschungsrichtungen der Neuen Kulturgeschichte haben so Selbstzeugnisse wiederentdeckt in der Suche nach Quellen, die einen möglichst direkten Zugriff auf individuelle und kollektive Deutungen, Wertungen und soziokulturelles Wissen ermöglichen. In den Mittelpunkt traten dabei Fragen nach den Kategorien Wahrnehmung und Erfahrung. Zu solchen Ansätzen ist auf die von Winfried Schulze angestoßene Ego-Dokumente-Diskussion zu verweisen.7 Die quellenkritischen Diskurse drehen sich dabei wiederum um das altbekannte Thema von Referenz und Fiktion: Indem einige Historiker naive Lektüren und die Heranziehung autobiographischer Texte als bloße Faktenlieferanten kritisieren, stellen sie dagegen die Anregung, die Narrativität der Selbstzeugnisse für die Erforschung von Identitätsentwürfen von Individuen und Gruppen zu nutzen.8 3  Ranke,

Aus Werk und Nachlass, S. 112. Das romanhafte Element, S. 56. 5  Zitate ebd., S. 58, 71. 6  Vgl. dazu kritisch: Gelberg, Politische Autobiographie, S. 544–545. 7  Schulze, Ego-Dokumente, S. 12–13. Vgl. auch: Rutz, Ego-Dokument oder IchKonstruktion?, Absatz [18]. 8  Äußerst kritisch etwa Dagmar Günther mit der Forderung, jede Autobiographie als genuin literarischen Text zu verstehen, in dem ein Subjekt über Sprache eine mit der echten Realität nicht identische Wirklichkeit präsentiert. Daraus zieht sie die Schlussfolgerung, nicht nach dem Was, sondern dem Wie der Darstellung zu fragen (Günther, „And now for something completely different“, S. 51). Ähnlich 4  Glagau,



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Der in der literaturwissenschaftlichen Diskussion nach Wagner-Egelhaaf und Holdenried so präsente Idealtypus der Gattung nach dem Vorbild Johann Wolfgang von Goethes, nämlich der lineare Lebensbericht des selbstgewissen Subjekts mit stabiler Identität, der das Hineinwachsen in eine soziale Rolle nachzeichnet, hat großen Einfluss auf die Gestaltung von Gebrauchsautobiographien bürgerlicher Eliten vom 19. bis zum 20. Jahrhundert ausgeübt. Die Selbstzeugnisse von Politikern, Wissenschaftlern, Intellektuellen – Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – orientieren sich häufig an diesem Idealtypus und weniger an Entwicklungen der literarischen Avantgarde ihrer Zeit. Meist frei von literarischen Ambitionen handelt es sich dabei überwiegend um klassische, logisch durchkomponierte autobiographische Texte mit Wahrheitsanspruch.9 Ihre Verfasser präsentieren sie als authentische historische Dokumente, indem sie sich auf die Verwendung entsprechender Quellenmaterialien wie Briefe oder Zeitungsausschnitte berufen;10 teils werden solche auch direkt beigefügt.11 Insofern ist der große Einfluss idealtypischer, traditioneller autobiographischer Schreibweisen auf Schichten, die nach 1945 naturgemäß über ein autobiographisches Bedürfnis verfügten, zu betonen und als Resultat humanistischer Bildung zu betrachten. Gerade Goethe stellt häufig den direkten oder indirekten Bezugspunkt des autobiographischen Schreibens dar.12 Die von Holdenried herausgestellte Entwicklung zur Literarisierung in modernen autobiographischen Werken wird von diesen Gebrauchs­ autobiographien mehrheitlich nicht nachvollzogen, da sie traditionellen Schreibweisen verbunden bleiben.13 auch: Jancke, Autobiographie als soziale Praxis, S. 26 sowie: Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, S. 441–442. 9  Der Jurist Philipp Loewenfeld nennt seine Autobiographie einen „Zeugenbericht“, für den er dezidiert beansprucht, die Entstehung der nationalsozialistischen Bewegung beschreiben und erklären zu können: Landau/Rieß (Hrsg.), Recht und Politik in Bayern, S. 3. 10  So beispielsweise der Philosoph Karl Löwith in der Einleitung zu seinen aus Anlass eines Wettbewerbs der Harvard University entstandenen Lebenserinnerungen: Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, S. XVI. 11  Der Orthopäde Franz Schede zitiert nicht nur direkt aus eigenen Briefen, sondern fügt einen 1945 auf Wunsch der sowjetischen Besatzungsbehörden verfassten politischen Lebenslauf bei. Bei der Schilderung der revolutionären Ereignisse in München 1918/19 stützt er sich für Vorgänge, die er persönlich nicht erlebt hat, ausdrücklich auf historische Werke. Schede, Rückblick und Ausblick, S. 179 (Berufung auf: Volkmann, Revolution über Deutschland), S. 185 f. (Brief an die Mutter), S. 376 ff. (Lebenslauf). 12  Der Historiker Karl Alexander von Müller reiht sich selbst in die Tradition von Dichtung und Wahrheit ein (Müller, Mars und Venus, S. 5). Der Politiker Gustav von Kahr ahmt durch die Herstellung astrologischer Bezüge ganz offensichtlich die Geburtsszene nach (Kahr, Erinnerungen, S. 55). 13  Eine interessante Ausnahme stellen die Erinnerungen der Schriftstellerin Henriette von Schirach dar, die mit ihrer nicht linearen Chronologie, häufiger direkter

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Das bedeutet nicht, dass in diesen Selbstzeugnissen keine literarisierenden Strategien vorhanden sind, diese finden sich sehr wohl und gerade sie stellen den Anknüpfungspunkt für historische Erkenntnisinteressen dar, die ihr Augenmerk nicht auf die Nachprüfung des dokumentarischen Anspruchs, sondern die Ermittlung der darin fassbaren Sinnstiftungsprozesse richten. Solche Forschungsansätze beruhen auf dem u. a. auch von literaturwissenschaftlicher Seite erbrachten Nachweis des sozial-kommunikativen Charakters autobiographischer Texte.14 Sie begreifen ein Selbstzeugnis als retrospektiven Konstruktionsakt mit dem Ziel der Herstellung der eigenen Identität als sinnvolles Ganzes; Auswahl, Anordnung und Gestaltung des Werks unterliegen dabei dem Bedürfnis nach persönlicher Sinnstiftung.15 Insofern sind die gegenwartsbezogenen Absichten autobiographischen Schreibens zu betonen, nämlich neben ganz individuellen Zielen einer Vergewisserung über eigenes Handeln, etwa in Hinblick auf eine Rechtfertigung, auch darüberhinausgehende, politisch und sozial relevante Motive einer spezifischen Sinngebung von Geschichte.16 Individuelle Erinnerung wird außerdem nicht als authentisch und isoliert ablaufender Prozess des Rekonstruierens angenommen, sondern als Bestandteil kollektiver Gedächtnisleistungen rezipiert.17 Dieser geschichtswissenschaftliche Zugriff auf Selbstzeugnisse erfolgt allerdings unter der Prämisse eines prinzipiell referentiellen Aussagecharakters autobiographischer Texte,18 von dem sich nach Wagner-Egelhaaf und Holdenried auch die Literaturwissenschaft nicht verabschiedet zu haben scheint. Der Historiker richtet an autobiographische Texte andere Fragen als der Literaturwissenschaftler, nämlich aus einem spezifisch historischen Interesse, das hier eben den Materialwert doch wiederum zu schätzen weiß. Diese historische Herangehensweise fragt jedoch nicht danach, ob der Autobiograph zum Beispiel tatsächlich niemals Mitglied der NSDAP wurde, wie er vielleicht behaupten mag. Das lässt sich besser anhand von Sachquellen klären. Sondern ihn interessiert, welches autobiographische Bild des Nationalsozialismus er entwirft und zu welchem Zweck er das tut. Insofern Rede, der Einfügung impressionistischer Momentaufnahmen sowie der sehr metaphorischen Sprache über einen ausgesprochen literarischen Stil verfügen (Schirach, Der Preis der Herrlichkeit). 14  So Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden, S. 29. Vgl. auch: Ders., Autobiographie und Generation, S. 47–48. Günther, „And now for something completely different“, S. 25–26. Heinze, Autobiographie und zeitgeschichtliche Erfahrung, S. 93–94. 15  Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 40, 222. 16  Zu methodischen Überlegungen in Bezug auf gegenwartsbezogene Absichten siehe: Schaser (Hrsg.), Erinnerungskartelle, S. 9–10. 17  Ebd., S.  201 f. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 12–15. 18  Vgl. Eakin, Touching the World, S. 3.



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muss die von Holdenried so ausführlich und klar skizzierte Literarisierung autobiographischer Werke eben kein Problem darstellen, da sich der Historiker von ihnen keine Verifizierung oder Widerlegung historischer Fakten erwartet. Es geht ihm um die darin zutage tretenden und in ihnen erst erschaffenen Geschichtsbilder, die der Autobiograph individuell und in Bestätigung von oder Abgrenzung zu anderen Autobiographen, und das heißt Gruppen, entwickelt. Am Beispiel der bereits erwähnten Bürgerautobiographien lässt sich zeigen, dass die von Wagner-Egelhaaf und Holdenried als innerliteraturwissenschaftliche Debatte beschriebene Problematik um das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit ebenfalls zentral für geschichtswissenschaftliche Studien ist. Auch an vornehmlich den Historiker interessierenden Selbstzeugnissen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens kann sich die Frage stellen, wann ein Text, unabhängig von seiner selbstgewählten Gattungsbezeichnung, autobiographisch oder fiktional zu lesen ist. Somit sieht sich der Historiker gleichermaßen mit der von Wagner-Egelhaaf und Holdenried erwähnten Charakterisierung des Autobiographischen als „a figure of reading or of understanding“ durch Paul de Man konfrontiert.19 Exemplarisch kann dies am 1949 erschienenen Buch Die halbe Violine. Eine Jugend in der Residenzstadt München des bekannten Mediävisten Hermann Heimpel vorgeführt werden.20 Formal handelt es sich um einen in der 3. Person Singular verfassten Roman, in dem der Erzähler und die Hauptfiguren seiner Familie unter fiktiven Namen erscheinen.21 Die Zeitgenossen – wie die Familie Haushofer – firmieren allerdings unter ihrem realen Namen und die lebensweltlichen äußeren Daten stimmen mit denen Heimpels überein.22 Das Werk enthält deutlich literarisierende Momente, häufige direkte Rede, romanhafte Szenen, Tempuswechsel in den Präsens, Schilderungen von Szenen und Gedanken, Momentaufnahmen, sowie innere Monologe. Dennoch wurde es sofort nach Erscheinen als Autobiographie, als Jugenderinnerung Heimpels, gelesen, und diese Rezeption war von ihm explizit so gewollt. Während zeitgenössische Rezipienten hier vornehmlich – und teilweise sicherlich auch geflissentlich – ein bloßes Dokument der bürgerlichen – retro­spektiv massiv verklärten – Glanzzeit vor 1914 sehen wollten,23 19  De

Man, Autobiography as De-Facement, S. 70. Die halbe Violine. 21  Die Hauptperson heißt „Bob“ bzw. „Erhard Spengel“. 22  Vgl. zum Beispiel den Beruf des Vaters, eines Eisenbahningenieurs: Heimpel, Die halbe Violine, S. 65–66. Zum Kontakt zur Familie Haushofer oder Rudolf Hess: ebd., S. 269 ff., S. 273. 23  Nicolas Berg bietet einen Überblick zu zeitgenössischen Einschätzungen: Berg, Der Holocaust, S. 253 ff. 20  Heimpel,

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spielt das Werk heute in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die Rolle deutscher Historiker im Nationalsozialismus eine Rolle.24 So stellt der autobiographische Roman Hermann Heimpels doch ganz offensichtlich eine literarische Vergangenheitsbewältigung dar, eine Auseinandersetzung mit dem Beitrag der eigenen Generation und sozialen Schicht zum Nationalsozialismus, der bei aller Bußfertigkeit und literarischer Verfremdung dennoch apologetischer Strukturen nicht entbehrt.25 Der von Wagner-Egelhaaf erwähnte Umgang zeitgenössischer Literaturwissenschaft mit Selbstzeugnissen nach dem sogenannten Tod von Autor und Autobiograph befasst sich mit Fragen nach der Art der Konstruktion des autobiographischen Ichs und den dazugehörigen textuellen Mitteln. Aus Sicht des Historikers ist dazu anzumerken, dass auch die geschichtswissenschaftliche Analyse sich durchaus mit textuellen und textstrukturellen Gegenständen befasst, denn diese bringen die Inhalte ja hervor. In Bezug auf autobiographische Aussagen zum Nationalsozialismus lässt sich dabei etwa untersuchen, inwiefern Rechtfertigungsstrategien in nach 1945 erschienenen Selbstzeugnissen im Text umgesetzt werden.26 Der Historiker Karl Alexander von Müller verwendet in seinen autobiographischen Schriften literarische Mittel in offenkundig apologetischer Absicht zur Manipulation seiner Leserschaft, wie es sich etwa an der Darstellung seiner persönlichen Begegnungen mit Adolf Hitler belegen lässt. Im Erzählzusammenhang taucht dieser erstmals im Frühsommer 1919 als damals noch unbekannter Reichswehrsoldat und Zuhörer von Vorträgen Müllers in einem Ausbilderkurs im Wehrkreisstab auf.27 Die Beschreibung Hitlers durch Müller erfolgt in einer symbolisch hoch aufgeladenen Sprache, die unübersehbar dazu dient, die Schicksalhaftigkeit und somit Unaufhaltsamkeit von Hitlers Weg zu suggerieren und dadurch persönliche Verantwortlichkeiten – Müller stellte einen der maßgeblichen Förderer des Nationalsozialismus in der Münchner Gesellschaft in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre dar28 – zu relativieren. Müller tituliert Hitler als „blutigen Schicksalsmann“ mit dem „bleiche[n], 24  Neben der ausführlichen Darstellung bei Berg vgl. auch: Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs, S. 97 ff. 25  Siehe etwa in Bezug auf die Erwähnung Karl Haushofers: Die politisch-problematische Tragweite der geopolitischen Ideologie deutet Heimpel nur verhüllt durch knappen Verweis auf die regelmäßige Anwesenheit von Rudolf Hess an (Heimpel, Die halbe Violine, S. 273). Zu Heimpels Verhältnis zum NS vgl. Herde, Kontinuitäten und Diskontinuitäten, S. 3–4, 10–11. Sommer, Eine Frage der Perspektive? 26  Vgl. dazu beispielsweise Heinsohn, Rechtfertigungen für gestern und heute. 27  Müller, Mars und Venus, S. 338–339. 28  Zu Müllers Verhältnis zum Nationalsozialismus vgl.: Schulze, Karl Alexander von Müller, S. 289–290 sowie die neue Biographie: Berg, Karl Alexander von Müller.



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magere[n] Gesicht unter einer unsoldatisch hereinhängenden Haarsträhne, mit kurzgeschnittenem Schnurrbart und auffällig großen, hellblauen, fanatisch kalt aufglänzenden Augen“.29 Die betonte, daran anschließende Formulierung des „Ich ahnte nicht“ dient deutlich der Bestärkung seiner eigenen Unverantwortlichkeit und dem Wirken irgendeinen Schicksals.30 Solche bei Müller vielfach zu findenden literarisierenden Verfahren demaskieren bisweilen aber auch die rechtfertigenden Strategien. So postuliert Müller zwar, bereits im zeitgenössischen Kontext Demagogie, Fanatismus und Brutalität des Nationalsozialismus erkannt und abgelehnt zu haben,31 die tatsächliche Schilderung einer NSDAP-Versammlung lässt in ihrer szenischen Gestaltung mit dem Wechsel vom Präteritum in den Präsens aber keinerlei Distanz des Erzählers erkennen, sondern vielmehr seine intensive Anteilnahme vermuten: „Niemand beschreibt das Fieber, das in dieser Atmosphäre um sich griff. Plötzlich, am Eingang hinten, Bewegung. Kommandorufe. Der Sprecher auf dem Podium bricht mitten im Satz ab. Alles springt mit Heilrufen auf.“32 Das Beispiel von Müller erscheint deshalb geeignet, die von WagnerEgelhaaf betonte Leistung des Fiktionalen für die geschichtliche Erkenntnis zu illustrieren, denn Müller nutzt eindeutig fiktionalisierende Mittel zum retrospektiven Entwurf einer Identität, die angeblich im Großen und Ganzen NS-fern gewesen sei, um sich im Zeitdiskurs nach 1945 zu rechtfertigen, was nach seiner Zwangsemeritierung und dem Verlust aller außeruniversitären Ämter und Mitgliedschaften nach Kriegsende notwendig wurde. Insofern kann man hier auch an die von Wagner-Egelhaaf genannte realitätskonstitutive Funktion von Fiktionen anknüpfen beziehungsweise den Versuch einer solchen durch national-konservative Autobiographien wie Karl Alexander von Müller nach 1945: Dabei ging es um den Gewinn der Deutungshoheit in Bezug auf die jüngste Geschichte. Trotz der großen Masse national-konservativer autobiographischer Texte konnte eine solche Deutungshoheit langfristig nicht gehalten werden.33 Die von Holdenried diagnostizierte Wandlung des Autobiographischen von der historisch-dokumentarischen Form hin zu einer narrativen Wahrheit ist auch in vordergründig wenig literarischen Werken fassbar, indem in offensichtlich suggestiver Absicht mit sprachlichen Mitteln historische Tatsachen mit spezifischen Deutungsangeboten verbunden werden. Dies 29  Müller,

Mars und Venus, S. 338–339. S. 339. 31  So vielfach im 3. Band seiner Erinnerungen: Müller, Im Wandel einer Welt, S. 129, 131–132 u. ö. 32  Ebd., S.  144 f. 33  Zu Autobiographien als Mittel von Deutungskämpfen im Prozess historischer Identitätsbildung innerhalb von und zwischen Gesellschaften vgl. Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden, S. 514–515. 30  Ebd.,

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lässt sich an vielen autobiographischen Schilderungen des Ersten Weltkriegs zeigen, in denen die grausame Realität des Kriegsalltags auf verschiedene Weise eine Sinngebung – und damit auch Rechtfertigung – erfährt. Bei dem Arzt und Schriftsteller Heinz Schauwecker erfolgt dies mittels einer religiös aufgeladenen Sprache, mit der er das von ihm miterlebte Sterben seiner Kameraden beschreibt. Den Tod eines Soldaten kurz nach der Nachricht über die Geburt eines Sohnes präsentiert Schauwecker metaphorisch als eigenes spirituelles Erlebnis: „wie eine große Heiligkeit war es über mich gekommen und stand klar vor mir: Des Einzelnen Leben für sich bedeutet nichts – Glied sein muß er in einer lebendigen Kette, Bogen einer Brücke aus dem Vergangenen ins Werdende.“34 Schauwecker imaginiert im Text die Reaktion der verwitweten Ehefrau seines Kameraden und dabei malt er nicht das Bild von Trauer und Verzweiflung, sondern seine Vorstellung zeigt ihm eine heiter über ihren Säugling sich beugende junge Mutter, die die höhere Sinnhaftigkeit des Opfertodes akzeptiert und über ihr persönliches Glück setzt. Er lässt es hier nicht bei dieser Andeutung der Gottesmutter Maria bewenden, sondern stellt explizit den Vergleich mit der ihren verstorbenen Sohn Jesus in den Arm haltenden Pietà her, beider Lächeln zeige „seltsam vereint de[n] wissende[n] Schmerz um das Opfer und die befreite Seligkeit der Erlösung“.35 Die historische Realität des Massensterbens im Ersten Weltkrieg wird von Schauwecker somit zwar authentisch überliefert, aber die Mittel der Darstellung bieten die narrative Wahrheit eines (pseudo-)religiösen Akts in der Nachfolge Christi apologetisch an. Literaturverzeichnis Becker, Nikola: Bürgerliche Lebenswelt und Politik in München. Autobiographien über das Fin de Siècle, den Ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik. Kallmünz / Opf. 2014. Berg, Matthias: Karl Alexander von Müller. Historiker für den Nationalsozialismus. Göttingen 2014. Berg, Nicolas: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung. 3. Aufl., Göttingen 2004. De Man, Paul: Autobiography as De-Facement, in: Ders.: The Rhetoric of Romanticism. New York 1984. S. 67–81. Depkat, Volker: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft 29, 2003, S. 441–476. 34  Schauwecker, 35  Ebd.,

S. 65.

Das unabdingbare Vermächtnis, S. 64 f.



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Depkat, Volker: Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt. Zum Quellenwert von Autobiographien für die historische Forschung, in: Thomas Rathmann / Nikolaus Wegmann (Hrsg.): „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion. Berlin 2004. S. 102–117. Depkat, Volker: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. München 2007. Depkat, Volker: Autobiographie und Generation, in: Martin Dröge (Hrsg.): Die biographische Methode in der Regionalgeschichte. Münster 2011. S. 43–57. Eakin, Paul John: Touching the World. Reference in Autobiography. Princeton 1992. Gelberg, Karl-Ulrich: Politische Autobiographie in Bayern nach 1945. Ein Überblick, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 62, 1999, S. 542–565. Glagau, Hans: Das romanhafte Element der modernen Selbstbiographie im Urteil des Historikers [1903], in: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. 2. Aufl., Darmstadt 1998. S. 55–71. Günther, Dagmar: „And now for something completely different“. Prologomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 272, 2001, S. 25–62. Heimpel, Hermann: Die halbe Violine. Eine Jugend in der Residenzstadt München. Stuttgart 1949. Heinsohn, Kirsten: Rechtfertigungen für gestern und heute. Bekenntnisschriften konservativer Politiker nach 1945, in: Angelika Schaser (Hrsg.): Erinnerungskartelle. Zur Konstruktion von Autobiographien nach 1945. Bochum 2003. S. 19–47. Heinze, Carsten: Autobiographie und zeitgeschichtliche Erfahrung. Über autobiographisches Schreiben und Erinnern in sozialkommunikativen Kontexten, in: Geschichte und Gesellschaft 36, 2010, S. 93–128. Herde, Peter: Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Übergang vom Nationalsozialismus zum demokratischen Neubeginn. Die gescheiterten Berufungen von Hermann Heimpel nach München (1944–1946) und von Franz Schnabel nach Heidelberg (1946–1947). München 2007. Jancke, Gabriele: Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum. Köln 2002. Kahr, Gustav von: Erinnerungen. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, NL v. Kahr 51. Landau, Peter / Rieß, Rolf (Hrsg.): Recht und Politik in Bayern zwischen Prinzregentenzeit und Nationalsozialismus. Die Erinnerungen von Philipp Loewenfeld. Ebelsbach 2004. Löwith, Karl: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Mit einem Vorwort von Reinhart Koselleck und einer Nachbemerkung von Ada ­ ­Löwith. Stuttgart 1986. Müller, Karl Alexander von: Im Wandel einer Welt. Erinnerungen Band 3 1919– 1932. Hrsg. v. Otto Alexander von Müller. München 1966.

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Müller, Karl Alexander von: Mars und Venus. Erinnerungen 1914–1919. Stuttgart 1954. Nagel, Anne Christine: Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970. Göttingen 2005. Ranke, Leopold von: Aus Werk und Nachlass IV. Hrsg. v. Walther Peter Fuchs. München 1964. Rutz, Andreas: Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1, 2002, Nr. 2 [20.12.2002]. http: /  / www.zeitenblicke.historicum.net / 2002 / 02 / rutz / index.html. Schaser, Angelika (Hrsg.): Erinnerungskartelle. Zur Konstruktion von Autobiographien nach 1945. Bochum 2003. Schauwecker, Heinz: Das unabdingbare Vermächtnis. Ein Erlebnisbericht für junge und alte Menschen. Regensburg 1959. Schede, Franz: Rückblick und Ausblick. Erlebnisse und Betrachtungen eines Arztes. Stuttgart 1960. Schirach, Henriette von: Der Preis der Herrlichkeit. Wiesbaden 1956. Schulze, Winfried: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente“, in: Ders. (Hrsg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996. S. 11–30. Schulze, Winfried: Karl Alexander von Müller (1882–1964). Historiker, Syndikus und Akademiepräsident im Dritten Reich, in: Dietmar Willoweit (Hrsg.): Denker, Forscher und Entdecker. Eine Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in historischen Porträts. München 2009. S. 281–306. Sommer, Klaus P.: Eine Frage der Perspektive? Hermann Heimpel und der Nationalsozialismus, in: Tobias Kaiser (Hrsg.): Historisches Denken und gesellschaftlicher Wandel. Studien zur Geschichtswissenschaft zwischen Kaiserreich und deutscher Zweistaatlichkeit. Berlin 2004. S. 199–223. Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. 2. Aufl., Stuttgart 2005. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2005.

III. Autobiographie und Amerikanistik

Autobiographie und Life Writing im Kontext der New American Studies Von Nassim W. Balestrini In den American Studies war die Autobiographieforschung ein wesent­ licher Schrittmacher für die Internationalisierung und Transnationalisierung des Fachs, die im Ergebnis zur Ausweitung des Konzepts Autobiographie in Richtung life writing geführt hat.1 Als jüngeres internationales Phänomen verbindet die Autobiographieforschung mittlerweile zahlreiche Forscherinnen und Forscher über nationale und kontinentale Grenzen hinweg. Die seit 1999 existierende International Auto / Biography Association (IABA) wird auch von in Europa tätigen Amerikanistinnen und Amerikanisten mit gestaltet. Mit der multikontinentalen Auswahl der Orte, an denen bisher im Abstand von zwei Jahren die Tagungen der IABA stattfanden, demonstriert dieser Dachverband seine weltumspannende Sichtweise: Auf die Gründungstagung in Peking folgten Konferenzen in Vancouver, Melbourne, Hong Kong, Mainz, Manoa, Canberra und Banff. Ein vergleichbar internationales Bild ergibt sich bei den führenden englischsprachigen Fachzeitschriften: Seit den 1980er Jahren bestehen a / b: Auto / Biography Studies und Biography: An Interdisciplinary Quarterly. Erstere wird von der Autobiographical Society herausgegeben und hat ihren Sitz an der University of North Carolina, Chapel Hill; letztere ist an der University of Hawai’i angesiedelt. 2004 erschien das erste Heft der in Australien beheimateten Zeitschrift Life Writing. Seit 2008 veröffentlicht die British Sociological Association das Auto / Biographical Yearbook. Die Modern Language Association of America (MLA) hat eine Division on Autobiography, Biography, and Life Writing; die Jahrestagung 2011 hatte Narrating Lives als zentrales Thema und bot 60 Workshops zu Themen des life writing an.2 Innerhalb der 1883 gegründeten MLA, die ihren Sitz in New York City hat und die sich laut Artikel 2 ihrer Verfassung zum Ziel setzt, „to promote study, criticism, and research in the more and less commonly taught modern languages and their litera­ tures and to further the common interests of teachers of these subjects“, etablieren sich im Zuge des cultural turn immer mehr interdisziplinäre und 1  Zum Konzept des life writing vgl. Smith/Watson, Reading Autobiography, S. 1–5. 2  Siehe dazu auch Smith, Presidential Address.

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inter- sowie transnationale Interessensgebiete.3 Life writing studies und die Internationalisierung der Amerikanistik treffen zudem in länderübergreifenden Forschungsverbünden und Dissertationsprogrammen zusammen, wie beispielsweise in dem an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angesiedelten Doktorandenkolleg Life Writing. Seit 2009 ermöglicht es Doktorandinnen und Doktoranden in Kooperation mit Partnerinstitutionen in der Volksrepublik China und in den Vereinigten Staaten von Amerika, interdisziplinäre und transnationale Forschungsprojekte durchzuführen. Die von der Amerikanistik an der Johannes Gutenberg-Universität ausgerichtete Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien (DGfA) war 2012 dem Thema American Lives gewidmet.4 Diese einleitend erwähnten Fakten illustrieren die gegenwärtige internationale Vernetzung innerhalb der Autobiographieforschung, an der in Deutschland tätige Amerikanistinnen und Amerikanisten maßgeblich beteiligt sind. Im Folgenden möchte ich mehrere Brücken schlagen zwischen neueren Entwicklungen in der Autobiographieforschung und wissenschaftlichen Diskussionen über das Selbstbild und die Positionierung der American Studies. Neue Ansätze innerhalb der sogenannten New American Studies und der Transnational American Studies verdeutlichen, warum Vertreterinnen und Vertreter dieser Denkweisen die Abwendung vom Begriff Autobiographie und die Hinwendung zum Begriff life writing begrüßen. 1. Life writing statt Autobiographie – Interdependenzen statt exceptionalism Diverse Neudefinitionen der American Studies seit den 1990er Jahren zielen darauf ab, die Interdisziplinarität des Faches im Rahmen der verschiedenen Paradigmenwechsel in den Kulturwissenschaften neu zu gestalten. In bewusster Abkehr von der früher unzureichend reflektierten und deshalb unkritisch perpetuierten historiographischen Vorstellung eines amerikanischen Sonderwegs (exceptionalism) definiert sich die heutige Amerikanistik überwiegend als interdisziplinäre Kulturwissenschaft mit transna­tionaler Ausrich3  Die Verfassung der Modern Language Association kann man einsehen unter http://www.mla.org/mla_constitution. Für die Einschätzung der Einrichtung der gerade genannten „Division on Autobiography, Biography, and Life Writing“, deren Titel inzwischen auf „Life Writing“ gekürzt wurde, ist ausschlaggebend, dass den über 24.000 MLA-Mitgliedern insgesamt 156 forums, ehemals divisions zur Auswahl stehen und dass der Prozess zur Einrichtung eines solchen Verbunds komplexer Natur ist. Die Entwicklung der divisions verdeutlicht, dass sich in den vergangenen zehn Jahren eine starke Diversifizierung und Öffnung für interdisziplinäre Forschungsgebiete innerhalb der MLA vollzogen hat. 4  Vgl. Hornung, American Lives.



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tung. Diese programmatische Abwendung von einer Fokussierung auf die Vereinigten Staaten als Referenzgröße, Ausgangspunkt und Endziel amerikanistischer Arbeiten zeigt sich in Studiengängen mit kontinentaler oder gar transkontinentaler Perspektive. Nicht nur der Blick auf Nord- und Südame­ rika als zusammenhängende multinationale kulturhistorische Räume, wie in den North American Studies oder den Hemispheric Studies, sondern auch das Einbeziehen des atlantischen und des pazifischen Raums sind derzeit gängige Perspektiven amerikanistischer Forschung und Lehre.5 Gemeinsame Zielsetzung solcher Neuerungen ist es, ältere Blickwinkel aufzubrechen und beispielsweise eine politische Hierarchien perpetuierende Betonung der USA als eine von einem monistischen Kulturbegriff geprägte Nation, die von marginalen Kulturen umgeben ist, zu vermeiden. Neue Sichtweisen betonen die Bedeutsamkeit über Landes- und Herkunftsgrenzen hinwegreichender Einflüsse und richten das Augenmerk des Faches auf Entwicklungsprozesse und Interdependenzen. Unter anderem ist diese Entwicklung abzulesen an der life writing-Forschung, wie sie an nordamerikanischen Universitäten in American Studies, English, Women’s Studies, Ethnic Studies und anderen Bereichen praktiziert wird: Statt der vorrangigen Beschäftigung mit dem westlichen, besonders in und seit der Aufklärung maßgeblichen Ideal der Autobiographie als retro­ spektive und modellhafte Selbstdarstellung der Persönlichkeitsentwicklung eines Mannes der führenden Gesellschaftsschicht steht nun eine betont facettenreiche Auseinandersetzung mit sogenanntem life writing auf der Tagesordnung.6 Es geht um die Auseinandersetzung mit einem Phänomen, das kontinuierlich neue Formen und Ausprägungen entwickelt und in unzähligen Kulturen existiert. Aus praktischen Erwägungen wird jedoch in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen über life writing, das nicht mit den Formen und Inhalten der Autobiographie im Sinne der Aufklärung übereinstimmt, weiterhin Autobiographie als Sammelbegriff verwendet, wobei in solchen Studien eingangs darauf hingewiesen wird, dass dieser Sammelbegriff heutzutage sehr breit zu verstehen sei. Diese Erweiterung des Forschungsgebiets von Autobiographiestudien zu life writing studies lässt sich gewinnbringend mit der Öffnung der Begriffe Amerika und Amerikanistik, die als vielschichtige Konstrukte aus möglichst zahlreichen Perspektiven wissenschaftlich untersucht werden sollen, in Beziehung setzen. In beiden Kontexten führten Sichtweisen, die seit Beginn 5  Ein Beispiel hierfür ist der Master-Studiengang in European American Studies an der Universität Regensburg. 6  Streng genommen ist das Pendant zu Autobiographie das self life writing. Da diese dreiteilige Phrase jedoch unhandlich ist, wird vereinfachend der Ausdruck life writing verwendet.

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der Postmoderne und des Poststrukturalismus die Geisteswissenschaften geprägt haben, zu neuen Begrifflichkeiten und Ansätzen. So wurde die Hier­ archisierung von Selbstbeschreibungen auf der Basis von Geschlecht, sozioökonomischem Status, nationaler und ethnischer Herkunft sowie sexueller Orientierung der Autorin oder des Autors verworfen. Das Bild des Menschen als autonomes Individuum sowie die Vorstellung universeller Genrekonventionen sind inzwischen einer heterogenen Perspektive gewichen: Life writing begann nicht nur bereits Jahrhunderte vor der Aufklärung, sondern es lag in vielfältigen zeitgleich existierenden Diskursen der Selbstbetrachtung vor. Die Parallele zu Entwicklungen in der Amerikanistik, die von der Auseinandersetzung mit der Triade race, class, and gender und der Entwicklung von Women’s Studies und Ethnic Studies bis zu den Ausprägungen der transnationalen Amerikanistik reicht, liegt auf der Hand.7 Die Ansprache, in der Janice Radway 1998 als Präsidentin der American Studies Associa­tion die „intricate interdependencies“8 zum Programm des Faches erklärte, und die Gründung der Zeitschrift Journal of Transnational American Studies (JTAS) sind Beispiele für eine grundlegende Richtungsänderung.9 Radway verdeutlicht die Abwendung von althergebrachten Hierarchien, die lange als unveränderlich galten, und plädiert für die Hinwendung zu einem Kulturverständnis, das nicht nur vielschichtigen Vernetzungen Rechnung trägt sondern auch die ständigen Veränderungen unterworfenen Verknüpfungen mit multiplen geographischen Räumen, sozialen Kontexten und spezifischen Zeitpunkten zu ergründen versucht. Die von ähnlich engagierten Mitgliedern der American Studies Association ins Leben gerufene Zeitschrift JTAS hat eine entsprechend der wachsenden Öffnung der neuen Amerikanistik international verankerte Redaktion. Sie ist zudem im Internet frei zugänglich (open access), um Forscherinnen und Forschern in möglichst allen Ländern die Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs zu ermöglichen.10 Im Kontext des neuen Umgangs mit amerikanischer Kulturgeschichte sind folgende Formen des life writing zentral: Texte über Erfahrungen politisch Verfolgter, anderweitig ihrer Heimat beraubter und in der Diaspora lebender Personen; mehrsprachige autobiographische Texte zur Erforschung der Erfahrungswelten unterschiedlicher ethnischer Gruppen unter den freiwilligen oder unfreiwilligen Einwanderern; Ausdrucksformen wie Briefe und Tagebücher, die besonders bei der Beschäftigung mit sozial marginali7  Vgl. Broughton, Autobiography, als Beispiel für die Anwendung dieser Parallelentwicklungen in amerikanistischer Forschung über life writing. 8  Radway, What’s in a Name?, S. 53. 9  Vgl. https://escholarship.org/uc/acgcc_jtas. 10  Zur Anwendung des Konzepts der „interdependencies“ auf life writing vgl. Hornung, Transcultural Life Writing. und Jen, Tiger Writing.

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sierten Personen – seien es Frauen oder Repräsentanten angefeindeter Einwanderergruppen an der sogenannten frontier oder in den Armutsvierteln rapide wachsender Städte – hilfreich sind. Zusätzlich zu dem Bemühen, eine ideologisch weniger eingeschränkte Abgrenzung dessen, was in die Kategorie life writing fällt, vorzunehmen, wendet sich dieses Forschungsgebiet immer stärker anderen Disziplinen zu und stimmt auch in diesem Unterfangen mit neuen Entwicklungen innerhalb der Amerikanistik überein. In ihrem einflussreichen life writing-Überblickswerk plädieren Sidonie Smith und Julia Watson dafür, dass das Augenmerk der Forschung auf Erinnerung (memory), Erfahrung (experience), Identität (identity), Raum (space), Körperlichkeit (embodiment) und Handlungsfähigkeit (agency) liegen soll, um möglichst vielen unterschiedlichen Lebensbeschreibungen gerecht zu werden.11 Somit operiert die life writing-Forschung mit dem Handwerkszeug von Fächern wie Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie. Die sechs von Smith und Watson dargestellten Fokussierungen überschneiden sich in ihrer Interdisziplinarität mit amerikanistischen Forschungsgebieten, die über die amerikanistische Beschäftigung mit life writing hinausgehen. Die amerikanistische Erinnerungsforschung etwa umfasst sowohl kulturhistorische Analysen kollektiver kultureller Erinnerung als auch von der Neurologie und der Verhaltenspsychologie geprägte Studien. Ein weiteres Beispiel ist die Arbeit von Kulturgeographen und ecocritics, welche Beziehungen zwischen Texten und unterschiedlich definierten Umwelten ergründen und dadurch das amerikanistische Verständnis von Raum und Ort und von der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt bereichern. Die Erforschung der Rolle von Körperlichkeit verbindet Disziplinen wie Genderforschung, Medizin und Neurologie, Medienwissenschaften und visual culture studies.12 Bei der Verbindung zwischen life writing und visual culture, die unten weiter ausgeführt wird, geht es u. a. darum, wie Bilder als Teil autobiographischer Texte fungieren bzw. inwiefern Bilder autobiographische Texte sind, die zwar mit verbalen Texten gepaart werden können, dies aber nicht müssen. Die Vielfalt an potentiellen Kombinationen ist überwältigend und verdeutlicht die Komplexität des Versuchs, life writing zu ergründen; gleichzeitig ist diese Vielfalt aber auch ermutigend, da sie zu interdisziplinärer Kooperation anregt und somit zur Stärkung der Aussagekraft von Analysen und Erkenntnissen beiträgt.

11  Smith/Watson,

Reading Autobiography, S. 21–22. Anthologien verdeutlichen diese Vielfalt an Forschungsbereichen und Ansätzen, vgl. Radway/Gaines/Shank/von Eschen, American Studies 2009. 12  Neuere

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2. Performativität, Positionalität und Relationalität Zu den bereits genannten Forschungsgebieten und Ansätzen, die in den letzten Jahren Eingang in die Amerikanistik und in die internationale Auseinandersetzung mit life writing fanden – Erinnerung, Erfahrung, Identität, Raum, Körperlichkeit, Handlungsfähigkeit –  kamen in jüngster Zeit drei weitere Herangehensweisen hinzu. Die sechs erwähnten Themenbereiche und die damit verbundenen Theorien, die oft aus anderen Disziplinen adaptiert wurden, gelten allesamt als Faktoren, die zur Weiterentwicklung der Amerikanistik wie auch der life writing-Forschung (innerhalb und außerhalb der Amerikanistk) seit den 1990er Jahren beigetragen haben. Neuerdings setzen sich Forscher aber zusätzlich damit auseinander, inwiefern Theorien zu Performativität, Positionalität und Relationalität sowohl im transnationalen life writing als auch in der transnationalen Amerikanistik neue Perspektiven eröffnen.13 In Anlehnung an Judith Butler betont eine performative Sicht des Menschen und seiner Lebensgeschichte, dass die als Autobiographie festgehaltene eigene Geschichte nicht einfach Begebenheiten der individuellen Ontogenese als vorgeformte und deterministische Zustände und deren logische Konsequenz wiedergibt. Autobiographisches reflektiert vielmehr Momentaufnahmen oder „autobiographical occasions“, d. h. „dynamic sites for the performance of identities that become constitutive of subjectivity“.14 Identität und die eigene Geschichte ergeben sich gerade durch das Nacherzählen u. a. gemäß den Rahmenbedingungen des jeweiligen autobiographischen Anlasses. Hierin gründet sich eine auffallende Parallele zwischen life writ­ ing und neueren Ansätzen in der Amerikanistik: Forscherinnen und Forscher, die Performativität als hermeneutische Perspektive wählen, zielen eher auf Entwicklungen und Performanz denn manifeste Gegebenheiten und statische Charakteristika ab. Somit wird der Prozess der Entstehung eines Subjekts in den Vordergrund gerückt. Sei es bei einem life writing-Thema, oder sei es bei einem Thema der Amerikanistik auf eher interindividueller Ebene: diese Perspektive legt ein Menschenbild nahe, das von Wandelbarkeit und Kontextbezogenheit geprägt ist. Teleologische Vorstellungen und Essentialismen verlieren an Bedeutung. Das zweite Konzept, Positionalität, beschreibt, wie sich Personen anhand der Verwendung spezifischer Identitätsdiskurse, die innerhalb eines Umfelds als solche erkennbar sind, gesellschaftlich und politisch positionieren.15 Diese Selbstpositionierung ist weder eindeutig noch stabil. Sie betont Smith/Watson, Reading Autobiography, S. 213–234, bes. S. 214–18. Reading Autobiography, S. 214. 15  Smith/Watson, Reading Autobiography, S. 215. 13  Vgl.

14  Smith/Watson,



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den Wechsel und Wandel von Selbst- und Außenperspektiven im Laufe eines Lebens. Dieses Konzept hat sich in der amerikanistischen Autobiographieforschung als ergiebig erwiesen, besonders in der Auseinandersetzung mit Diskursen von Hybridität, Migration, Diaspora und verwandten Bereichen, sei es in konzeptionell mündlich oder schriftlich ausgerichteten life writing-Texten oder in anderen medialen Ausdrucksformen. Als Beispiel mag hier die Reflektion über borderlands theory und über Neudefinitionen des Mestizentum in der Chicana-Literatur dienen, wie sie in Werken von Gloria Anzaldúa und Sandra Cisneros vorliegt16 Dieses Beispiel ist auch bedeutsam, da gerade die Klassifizierung von Chicana-Texten als life writing nicht unproblematisch sein kann. Solche Texte werden leider potentiell essentialistisch gelesen, wenn die Werke dieser Autorinnen nicht vornehmlich als ästhetisch-künstlerische Konstrukte fiktiver Welten sondern als unmittelbares Abbild der realen Lebenswelt mexikanisch-amerikanischer Frauen rezipiert werden. Das führt zu dem Umstand, dass die Autorinnen, Erzählerfiguren und Charaktere eben nicht als Schauplätze divergierender und konkurrierender performances und positions wahrgenommen sondern in bedrückend verallgemeinernder und dadurch Stereotypen bildender Weise als repräsentativ verstanden werden, obwohl es sich weder in der realen Welt noch in den fiktionalen Texten um homogene Gruppen von Menschen handelt.17 Das dritte Konzept, Relationalität, kontrastiert die Betonung autonomer Individualität in autobiographischen Darstellungen mit Formen des life writing, in denen sich die Selbstentwürfe der erzählenden Person aus Beziehungen zu anderen Personen ergeben. Relationale Selbstdarstellungen wurden lange Zeit sozial benachteiligten oder als nicht zum Zentrum westlicher Selbstdefinition gehörenden Gruppen zugeschrieben. Inzwischen ist die Theoriebildung von dieser stark vereinfachenden Sicht eines simplen binären Gegensatzpaars abgerückt und befasst sich mit Strategien zur Erschließung von Formen der Interaktivität zwischen verschiedenen autobiographischen Darstellungsweisen.18 In der auf Relationalität ausgerichteten life writing-Forschung nimmt Paul John Eakin eine Vorreiterrolle ein, denn er hat die Einbindung biographischer Darstellungen anderer, die der autobiographischen Erzählinstanz nahe stehen, analysiert und dabei auch Erkenntnisse neurologischer Forschung nutzbar gemacht.19 16  Vgl. Anzaldúa, Borderlands/La Frontera. Cisneros, The House on Mango Street, Caramelo, und Woman Hollering Creek. Bruce-Novoa, Transnational Recast­ ings of Conquest and the Malinche Myth. Wyatt, On Not Being La Malinche. 17  Vgl. dazu Balestrini, Transnational and Transethnic Textures, S. 69–71. 18  Smith/Watson, Reading Autobiography, S. 215–16. 19  Eakin, How Our Lives. Ders., Living Autobiographically.

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Da die kulturwissenschaftlich geprägte neuere Amerikanistik die Erweiterung des Textbegriffs im Sinne der Semiotik und der Kulturwissenschaften übernommen hat, bietet es sich an, gerade die bereits diskutierten drei neuen Ansätze – Performativität, Positionalität und Relationalität – als produktive Ausgangspunkte für die Analyse einiger der für die Amerikanistik relevanten inter- und multimedialen Formen des life writing zu durchdenken. Im Folgenden geht es darum, Möglichkeiten zur Erschließung neuer Untersuchungsgegenstände in unterschiedlichen medialen Formen zu skizzieren. 3. Worte – Bilder – Klänge: Intermediale Formen des life writing Es erstaunt nicht, dass Studien zur Beziehung von Verbalem und Visuellem in autobiographischen Werken vorliegen. Der iconic turn oder pictorial turn gehört derzeit zu den produktivsten Bereichen, in denen Amerikanistinnen und Amerikanisten interdisziplinär arbeiten.20 Diese seit den 1990er Jahren erstarkende Forschungsrichtung ist auch von der amerikanistischen life writ­ ing-Forschung aufgegriffen worden. Timothy Dow Adams befasst sich beispielsweise mit Photographien in Autobiographien verschiedener amerikanischer Künstler sowie mit Autobiographien von Photographen.21 Adams kommt zu dem Schluss, dass Autobiographien und Photographien durch das ihnen gemeinsame Zusammentreffen von Faktischem und Fiktionalem paradoxerweise einerseits spezifische Augenblicke und andererseits langfristigere Phänomene abbilden und dadurch gleichzeitig Details verdeutlichen und verschleiern. Sean Ross Meehan sieht auch eine Übereinstimmung bzw. sogar eine meto­nymische Beziehung zwischen Photographien und autobiographischen M ­ ethoden, die amerikanische Autorinnen und Autoren ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zur Selbstdarstellung und zur Schaffung einer pub­ lic persona einsetzten.22 Außerdem argumentiert Meehan, dieses Wechselspiel zwischen Bild und Text setze sich heute in digitalen Hypertexten fort. Somit eröffnet die Beschäftigung mit der amerikanischen Photographiegeschichte und ihrer Einbindung in autobiographische Diskurse Perspektiven für die Erforschung autobiographischer Internet-Phänomene, die im abschließenden Teil dieses Aufsatzes im Mittelpunkt stehen werden.23 Noch aktueller und in ihrer Interdisziplinarität wegweisender als Studien, die Bild und verbales Narrativ miteinander betrachten, sind Studien zu AuDepkat/Zwingenberger, Visual Cultures. Hebel/Wagner, Pictorial Cultures. Light Writing. 22  Meehan, Mediating American Autobiography. 23  Vgl. dazu auch Balestrini, Photography as Online Life Writing. 20  Vgl.

21  Adams,

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tobiographien von Musikern, die medienübergreifend angelegt sind. So verbindet Daniel Steins Monographie über das autobiographische Werk des Jazz-Trompeters Louis Armstrong neueste Entwicklungen der life writingForschung und der Amerikanistik mit Intermedialitätstheorien, um Arm­ strongs über Jahrzehnte hinweg entstandenes, in seiner Fülle überwältigendes Schrifttum (Bücher, Briefe, Notizbücher etc.) sowie seine Ton-, Bildund Filmaufnahmen kulturhistorisch zu erarbeiten und zu kontextualisieren.24 Aber letztlich geht es nicht lediglich darum, durch medientechnische Breite das Archivmaterial, aus dem life writing schöpft, zu erweitern. Vielmehr verdeutlicht Stein, dass ein intermedialer Ansatz es dem Forschenden erlaubt, unterschiedliche semiotische Systeme und deren Kommunikationsmechanismen, die weit über das Verbale hinausgehen, zu untersuchen und diese aus kulturgeschichtlicher Sicht zu durchleuchten. Er geht in Arm­ strongs Fall beispielsweise der Frage nach, warum in manchen Kontexten verbale Stille herrscht und welche anderen Ausdrucksformen in solchen Fällen als aussagekräftige Kommunikationsträger fungieren. Diese Erwägung ist auch für die Analyse autobiographischen Materials zeitgenössischer Musiker von Bedeutung. Die wachsende Anzahl autobiographischer Veröffentlichungen von Hip-Hop / Rap-Künstlern zum Beispiel wirft die Frage auf, wie man das Phänomen des multimedialen life writing, das parallel zur sich entfaltenden Karriere eines Künstlers erscheint, erfassen und im Hinblick auf innovative Impulse analysieren kann. So hat Ice-T nicht nur eine mit Fotos versehene Autobiographie, sondern auch einen Band mit Aufsätzen und einen Film über die Kunstform des Rap veröffentlicht. Außerdem gibt es Selbstdarstellungen von Hip Hop- und Rap-Künstlern, die nicht in den für narrative oder expositorische Texte üblichen Buchformaten erschienen, sondern eher durchgängig bebildert, farbintensiv, auf schwerem Papier gedruckt und großformatig (in manchen Fällen quadratisch) sind. Somit erinnern diese Publikationen äußerlich an hochwertige Bildbände bzw. coffee-table books, befassen sich jedoch inhaltlich mit sozialkritischen Themen wie Kriminalität, Alkohol- und Drogensucht, Rassismus und gesellschaftlichen Zerfallsprozessen. Obwohl diese Werke Elemente traditioneller Autobiographien oder Memoiren aufgreifen und sich mit der persönlichen Lebensgeschichte und Persönlichkeitsentwicklung des im Mittelpunkt stehenden Künstlers auseinander setzen, über sozialen Aufstieg reflektieren und künstlerische Positionen definieren, geht beispielsweise die Verwendung visueller Materialien oft weit über die Dokumentation des eigenen Lebens hinaus und sollte eher im Hinblick auf die positionalistische Einbindung bildlich angedeuteter Kommentare zu Geschichte, Gesellschaft und Ideologie analysiert werden. Diese kurz skizzierten Merkmale geben 24  Stein,

Music Is My Life.

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einen Einblick in die konkreten Inhalte und Darstellungsformen folgender Beispiele jüngst erschienener life writing-Bildbände von Rappern.25 Jay-Z thematisiert und negiert mehrfach die Erwartungen, die in der USamerikanischen Gesellschaft an Autobiographien gestellt werden. So wendet er sich gegen die traditionelle Vorstellung, Weisheit sei älteren und erfahrenen Menschen vorbehalten;26 außerdem spricht er deutlich aus, dass gerade Werke afro-amerikanischer Künstler von der Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung nicht als Kunstprodukte mit fiktionalen Inhalten sondern als direkte Abbildung des eigenen Lebens und Denkens missverstanden werden: „So many people can’t see that every great rapper is not just a documentarian, but a trickster“. Rap sei, wie Jay-Z folgert, eine Kunstform mit doppeltem Boden und komplexen Inhalten und Formen – und eben nicht „just a bunch of niggas reading out their diaries“.27 Im Gegensatz zu einem chronologischen Narrativ konkreter Erlebsnisse sind Liedtexte bewusst (v)erdichtete lyrische Konstrukte. Sowohl Eminem als auch Jay-Z integrieren ihre Liedtexte in ihre Buchveröffentlichungen und betonen dadurch ihre Kunst als Lyriker und Musiker. In beiden Fällen werden die Liedtexte jedoch nicht einfach abgedruckt, sondern sie werden in den Diskurs des jeweiligen autobiographischen Buchs integriert. Eminems stark bebildertes Buch The Way I Am enthält Ablichtungen unzähliger Notizzettel.28 Diese zeigen, wie er seine Liedtexte entwirft und entwickelt. Visuelle Details implizieren, dass Eminem immer und überall Ideen für Songtexte einfielen, dass er diese dann spontan niederschrieb (die Spontaneität wird angedeutet durch die Vielfalt an Papierarten: Notizpapier, Hotel-Briefpapier, liniertes Papier in Heften mit Spiralbindung). Gleichzeitig verdeutlichen diese Bilder handschriftlicher Songtexte voller Varianten und Durchstreichungen, dass er seine Texte stark edierte. Inspiration und ernsthaftes Arbeiten an der eigenen Kunst werden hier ebenso vermittelt wie der Eindruck, dass die oft zerknickten und zerfledderten Zettel den Künstler ständig begleiteten und in Momenten der Inspiration aus der Tasche gezogen und mit neuen Details oder Veränderungen versehen wurden. In Jay-Zs Autobiographie geschieht die Einbettung seiner Liedtexte nicht in Form von Bildern, die den kreativen Prozess beleuchten. Stattdessen versieht Jay-Z seine Liedtexte mit zahlreichen Fußnoten, die – im Stile einer traditionellen annotierten Ausgabe eines anspruchsvollen künstlerischen Textes – lyrische Stilmittel, sprachliche Finessen, nicht allgemein verständdazu auch Balestrini, Strategic Visuals in Hip-Hop Life Writing. Z, Decoded, S. 39. 27  Jay Z, Decoded, S. 55, S. 56. 28  Vgl. Eminem/Jenkins, The Way I Am. 25  Vgl. 26  Jay

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liches Vokabular, Anspielungen und insbesondere bewusst eingebaute Zweideutigkeiten erläutern und exemplarisch in oft politische Bedeutungszusammenhänge setzen. Diese Methode der Selbstpräsentation verdeutlicht Jay-Zs Selbstverständnis als Vertreter einer Kunstform, deren Entschlüsselung kulturhistorische und sprachliche Expertise vom Rezipienten erfordert. Dadurch bekräftigt Jay-Z die oben zitierte Kritik an der Auffassung, Hip Hopund Rap-Texte seien oberflächliche Abbildungen nicht weiter reflektierter persönlicher Erfahrungen sozial Unterprivilegierter ohne eigene Kulturtraditionen oder Kunstformen. Jay-Z präsentiert zusätzlich zu den verbalen Annotierungen auch diverse zu den jeweiligen Texten passende Abbildungen sowie Ablichtungen von Tonträgern. Eine weitere Variante der Verwendung des Visuellen liegt in Kanye Wests Glow in the Dark vor, in dem das gedruckte Wort in den Hintergrund tritt.29 Das Buch ist primär eine Bilddokumentation eines bestimmten Tourneekonzepts, ergänzt durch eine Audio-CD mit Musik und einem kurzen Interview. Dennoch preist der Paratext im Klappentext diese Veröffentlichung als Werk an, welches Einblick in das Leben des Künstlers gewährt, sei es auf der Bühne oder im Leben außerhalb der Konzertarenen. West, über den bereits mehr als ein halbes Dutzend Biographien erschienen sind, stellt sich hier als Trendsetter und führenden Rapper dar.30 Inwiefern hier Bild, gedruckter Text, Musik, ein auf der CD vorliegendes Interview und weitere Details ineinander greifen, um life writing zu produzieren, sollte eingehend untersucht werden. 4. Life writing im Internet Das Internet ist durch seine partizipatorischen Strukturen zu einem Nährboden für neue autobiographische Formen der Selbstdarstellung und der Selbstbetrachtung geworden. Was die Überschneidungen zwischen Autobiographie-Forschung und Amerikanistik betrifft, begegnen wir erneut der ethischen Auseinandersetzung mit egalitären und demokratischen Strukturen: Da das Internet auch anderweitig als Spannungsfeld zwischen Dominanz der westlichen Welt und spezifisch der USA einerseits und einem in der Kommunikation zusammenwachsenden globalen Beziehungsgeflecht andererseits gedeutet wird, produzieren die angeblich im Gegensatz zum Buchmarkt breiter zugänglichen und deshalb in höherem Maße egalitären internetbasierten Medien große Hoffnungen im Hinblick auf Demokratisierungsprozesse innerhalb der Teilhabe an Informationen und Kultur. Diese zukunftsoptimistische Deutung des Internet wird von Medienwissenschaft29  Vgl. 30  Vgl.

West, Glow in the Dark. Lynne, Kanye West. Schaller, Kanye West. West/Hunter, Raising Kanye.

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lern aber auch hinterfragt, einerseits weil immer noch vielen Menschen ein Internetzugang fehlt und andererseits weil das Internet wie andere Kommunikationsformen staatlich überwacht wird.31 Die Untersuchung relativ neuer digitaler Formen birgt dennoch großes Entwicklungspotential für die Erweiterung und Aktualisierung der life writ­ ing studies. In diesem Bereich der Forschung steckt die Theoriebildung noch in ihren Anfängen. Die Vielfalt der technischen Möglichkeiten des Internets erlaubt einerseits die Übertragung traditioneller Formate autobiographischer Selbstdarstellung in digitale Formen und deren Bereitstellung, je nach Webseite, für einen eingeschränkten oder einen uneingeschränkten Personenkreis. Andererseits stellt sich die Frage, inwiefern dieser virtuelle Raum genuin dem Medium verpflichtete Formen des life writing hervorgebracht hat oder im Begriff ist, dies zu tun. Smith und Watson schlagen u. a. vor, online life writing aus der Sicht von „self-expression“, „self-help“, „self-dramatizing“, „voyeurism“ und der sich daraus ergebenden Frage nach der Unterscheidung zwischen Authentizität und einem Authentizitätseffekt zu untersuchen.32 Damit greift die Untersuchung von Internet-life writing den von Philip Lejeune formulierten „autobiographischen Pakt“ zwischen Schreibenden und Lesenden auf, wobei gerade im Kontext digitaler Kommunikation ethische Bedenken und das Verwässern jeglicher Vorstellungen von Wahrheit (im faktischen und ideellen Sinne) oft verstärkt ins Gewicht fallen.33 Kurz nach Beginn des 21. Jahrhunderts kamen vlogs (d. h. video logs oder video blogs) auf, die inzwischen z. B. auf YouTube zu einer populären Form der autobiographischen Selbstdarstellung anhand von Videofilmen avanciert sind. Der erste video blog wird Adam Kontras zugeschrieben, der zu Beginn seiner Vlogger-Tätigkeit verbale Beschreibungen seines Umzugs an die Westküste der Vereinigten Staaten mit kurzen Videos verband.34 Seitdem hat Kontras zahlreiche selbst-dokumentarisch anmutende Videos produziert und diese auf seinem YouTube-Kanal zur Verfügung gestellt.35 Einerseits geht diese Dokumentation seines Lebens darauf ein, dass sein erfolgreicher Vlog ihm kurzzeitig eine TV-Karriere ermöglichte. Andererseits stellt er sein Leben insgesamt nicht als finanzielle Erfolgsgeschichte dar und konterkariert somit klischeehafte Vorstellungen von der Ausrichtung autobiographi31  Vgl. Qvortrup, Understanding New Digital Media. Dahlgren, The Internet Public Spheres. 32  Smith/Watson, Reading Autobiography, S. 184. Vgl. auch Arthur, Digital Biography, S. 74–75. 33  Vgl. Lejeune, The Autobiographical Pact. 34  Vgl. z. B. http://www.enest.net/blog/tag/adam-kontras/. 35  Vgl. http://www.youtube.com/user/Adam4tvs.



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scher Selbstbeschreibung als Porträt des wirtschaftlichen Aufstiegs. Zusätzlich beinhaltet sein Vlog zahlreiche Videos, in denen er politische Ereignisse oder soziale Zustände im eigenen Land kommentiert. Sein Erfolg als Vlogger, dessen Leben die Zuschauer interessiert, sollte demnach auch im Hinblick auf die vielfältigen Kommunikations-Situationen und die Themen auf seinem YouTube-Kanal untersucht werden. Es liegt auf der Hand, dass sich Adam Kontras’ Vlog für Forschung aus der Perspektive des life writing anbietet. Sein Vlog beinhaltet als einen Erzählstrang die Entwicklung seiner Familie und entspricht somit einer Art relationaler Autobiographie, die das Leben anderer, mit denen sich die Hauptperson verbunden fühlt und über die sich die Hauptperson ggf. auch definiert, einbezieht. Kontras’ politisch ausgerichtete Videos sind positionalistisch orientiert und nehmen Stellung zu Diskursen der Gegenwart. Videofilme als Form der Selbstreflexion und der Darstellung für Rezipienten laden ebenso zur Untersuchung performativer Aspekte ein. Außerdem erweitert die für den Vlog typische, nicht unbedingt mit einem vorherbestimmten Zielpunkt versehene Serialität das Verständnis von life writing und dessen Formen. Der Vlog an sich zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass er nicht im traditionellen Sinne autobiographischen Schreibens retrospektiv ist und dass er stattdessen die Gegenwart dokumentiert und kommentiert, sondern auch dadurch, dass – trotz erkennbarer politischer Sichtweisen, die sich jedoch im Laufe des Vlogs ändern könnten – keine bereits zu Beginn feststehende Zielrichtung oder kein zentrales Interpretationsgefüge erkennbar sein kann, da es sich um einen kontinuierlich fortgesetzten Modus der Selbstdarstellung handelt. Dennoch könnte man natürlich einzelne Abschnitte bereits länger zurückliegender Vlog-Beiträge gruppieren und innerhalb solcher Gruppen von Videos herausarbeiten, inwiefern sich Muster innerhalb dieses seriellen Multimediums des life writing erkennen lassen oder nicht. Hierbei wäre dann die Nähe zu Strukturen von Tagebüchern zu untersuchen. Zum Phänomen des life writing gehören in der westlichen Welt auch narrativ dargelegte verbale Bekenntnisse der eigenen Sündhaftigkeit und Darstellungen der Zuwendung zu Gott (z. B. Augustinus’ Confessiones aus dem späten vierten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung). In der nordamerikanischen Kultur ist die intensive Selbstbetrachtung im puritanischen Schrifttum des 17. Jahrhunderts ein vertrautes Phänomen, und diverse Formen des Bekennens von Verstößen gegen öffentliche Verhaltensnormen oder der kritischen Selbstbeleuchtung setzen sich seit der Kolonialzeit fort.36 Die 36  Vgl. dazu beispielsweise Ibsen, Women’s Spiritual Autobiography in Colonial Spanish America. Moody, Sentimental Confessions. Shea, Spiritual Autobiography in Early America.

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zeitgenössische Internetkultur bietet eine große Bandbreite an Möglichkeiten der anonymen oder nicht-anonymen Darstellung individueller Unzulänglichkeiten. Ein prominenter Vertreter der anonymen Preisgabe persönlicher Geheimnisse, die potentiell auch Vergehen gegen andere beinhalten können, ist die Webseite postsecret.com. Am anderen Ende des Spektrum steht facebook.com als führendes soziales Internetportal, auf dem sich dort angemeldete Personen – so sie das wünschen – mit allen korrekten persönlichen Daten, unzähligen Bildern und verbalen Äußerungen über das eigene Erleben und Denken darstellen können. Besonders die Einführung der timeline auf Facebook lädt ein zum Nachdenken über social networks als neue Form des life writing.37 Auf der deutschen Webseite lautet der Titel, mit dem dieses neue Element Anfang 2012 in Gebrauch genommen wurde, „Einführung der Chronik: Erzähle deine Lebensgeschichte mit einem neuartigen Profil“. Somit geriert sich Facebook als zentraler Schauplatz für life writing und betont, dass autobiographische Selbstreflexion nun von allen – bzw. allen Facebook-Nutzerinnen und Facebook-Nutzern – multimedial praktiziert werden kann und eine attraktive Option der selbstbestimmten Eigendarstellung anbietet. Facebook fungiert somit als virtueller Ort, in dem nicht nur aus Sicht der Nutzerin oder des Nutzers retrospektiv zentrale Ereignisse und Erinnerungen in eine chronologische Abfolge gebracht werden, sondern auch aktuell das eigene Leben mit nur kurzer Zeitverzögerung dargestellt und archiviert wird. Die Darstellung des bereits Erlebten als timeline oder Chronik wirft Fragen auf bezüglich der Auswirkungen auf Selbst- und Außenwahrnehmung, wenn life writing auf eine nicht korrigierbare chronologische Abfolge reduziert wird. Inwiefern beinhaltet diese Version eines Lebens auch innere Bezüge, im Nachhinein wahrgenommene Verhaltens- oder Entwicklungsmuster und dergleichen mehr? Wie beeinflusst das Lesen und Anschauen streng chronologisch angeordneter Erinnerungen die Wahrnehmung eines Lebens? Wie unterscheidet sich die retrospektive Darstellung des eigenen Lebens anhand des Einfügens von Daten, die vor dem Beginn der Facebook-Mitgliedschaft liegen, von der fortlaufenden und unmittelbaren Dokumentation des eigenen Lebens ab Beginn der Mitgliedschaft in Facebook? Welche Merkmale finden sich in den im Nachhinein eingefügten Daten im Unterschied zu den mehr oder weniger spontanen Bildern, Selbstbeschreibungen und Äußerungen als Reaktionen auf andere Facebook-Mitglieder und deren posts? Was passiert, wenn Rückbezüge auf frühere Äußerungen oder andere Versuche, mehr als den gerade erlebten Moment zu verstehen und in das größere Bild des eigenen Lebens einzuordnen, ausbleiben? 37  Vgl.

https://www.facebook.com/about/timeline.

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Im Gegensatz zur umfassenden Selbstschau, bei der Facebook-Nutzer potentiell alle persönlichen Daten preisgeben, bieten Webseiten wie postsecret.com die Möglichkeit, ohne identifizierbare Angaben zur eigenen Person etwas – in vielen Fällen Belastendes – in äußerst knapper Form auszudrücken. PostSecret war ursprünglich kein Internetprojekt sondern geht zurück auf das Jahr 2005, in dem ein Amerikaner namens Frank Warren Postkarten mit seiner Adresse drucken ließ und diese Postkarten an öffentlich zugänglichen Orten auslegte. Diejenigen, die die Postkarten zur Hand nahmen, lasen die Aufforderung, auf der blanko Postkartenrückseite in möglichst wenigen Worten und mit künstlerischen Mitteln eigener Wahl ein Geheimnis preiszugeben. Ziel des Projekts sei, durch diese Preisgabe andere Menschen zu inspirieren und zu berühren. Inzwischen sind in einem großen Verlag mehrere Bücher mit Reproduktionen eingesandter Postkarten erschienen. Auf der inzwischen verfügbaren Webseite ist in regelmäßigen Abständen eine begrenzte Anzahl an Postkarten zu sehen ist.38 Warren reist zudem als beliebter Redner von Stadt zu Stadt und spricht, besonders an US-amerikanischen Universitäten, über seine Mission. Die Tatsache, dass bei solchen Gelegenheiten Anwesende nicht nur über die Bedeutung von PostSecret in ihrem Leben sprechen sondern gegebenenfalls auch vor Publikum und laufender Videokamera Geheimnisse verbalisieren, widerspricht dem eigentlichen Grundprinzip des Projekts, scheint aber von Teilnehmern nicht als negativ empfunden zu werden.39 Inzwischen können Mitglieder der Post­ Secret Community auch Videos hochladen – entweder an Stelle einer Postkarte oder als Dokumentation der eigenen Reaktionen auf PostSecret. Somit behält das Projekt die nicht-digitale Form der Postkarte als Medium zwar bei, ermöglicht aber gleichzeitig über die Videoclips den Zugang zur Webseite über einen audiovisuellen Beitrag. Dass Warren sein Projekt als Selbstfindungsmethode versteht, zeigt sich an seinem Motto: „Free your secrets and become who you are“. Dieses Motto knüpft an die seit langem existierende Funktionalisierung des Autobiographischen als Weg zur Selbsterkenntnis oder zur Selbsttherapie an und betont die psychische Befreiung, die man durch dieses Heraustreten aus dem Verborgenen erfahren soll. Die Anonymität der eingeschickten Postkarten steht in der Tradition autobiographischen Schreibens unter Pseudonym. Das Zusammenkommen der Post­ Secret-Anhänger als Gemeinschaft wird im Hinblick auf die sozialen Funktionen von life writing im Internet bereits sozialpsychologisch untersucht.40 Erkenntnisse aus dieser Forschung sollten, im Sinne der bereits beschriebenen Interdisziplinarität der amerikanistischen life writing-Forschung, noch 38  Vgl.

http://postsecret.com. http://www.postsecretcommunity.com/video. 40  Vgl. Poletti, Intimate Economies. Turkle, Alone Together. 39  Vgl.

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weiter für ein besseres Begreifen von Autobiographischem im Internet nutzbar gemacht werden – sei es aus Sicht der intermedialen und genreorientierten Forschung oder aus Sicht der kulturhistorischen Einordnung von PostSecret ins frühe 21. Jahrhundert. 5. Ausblick New Americanists engagieren sich aufgrund der transnationalen Ausrichtung ihrer Forschung und ihrem Interesse an prozess- und interdependenzorientierten Ansätzen auch innerhalb der internationalen kulturwissenschaftlichen life writing studies. Neben der notwendigen Fortsetzung von Forschung über autobiographische Ausdrucksformen, die nicht primär oder lediglich in den mainstream-Kulturen der US-amerikanischen und anderer Gesellschaften auf dem amerikanischen Kontinent verwurzelt sind, bieten aktuelle intermediale und digitale Erscheinungsformen des life writing gewinnbringende Optionen zum erweiterten und vertieften Verständnis der breiten Vielfalt an Autobiographischem. Theoriebildung zu und Forschung über relationale, positionale und performative Elemente dieser Phänomene sind wünschenswert, um vereinfachende Sichtweisen neuer Formen oder bisher in ihrer Komplexität unterschätzter Formen des life writing zu ergründen. Literaturverzeichnis Adams, Timothy Dow: Light Writing and Life Writing. Photography in Autobiography. Chapel Hill, NC 2000. Anzaldúa, Gloria: Borderlands / La Frontera. The New Mestiza. San Francisco, CA 1987. Arthur, Paul Longley: Digital Biography. Capturing Lives Online, in: a / b. Auto / Biography Studies 24.1, 2009, S. 74–92. Balestrini, Nassim Winnie: Strategic Visuals in Hip-Hop Life Writing, in: Popular Music and Society 38.2, 2015, S. 224–42. Balestrini, Nassim Winnie: Transnational and Transethnic Textures; or, ‚Intricate Interdependencies‘ in Sandra Cisneros’s Caramelo, in: Amerikastudien / American Studies 57.1, 2012, S. 67–89. Balestrini, Nassim Winnie: Photography as Online Life Writing. Miranda July’s and Harrell Fletcher’s Learning to Love You More (2002–09), in: Hornung (Hrsg.): American Lives. S. 341–53. Broughton, Trev Lynn (Hrsg.): Autobiography. Critical Concepts in Literary and Cultural Studies. Vol. II, London 2007.



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Gangster, Sozialisten und Life Writing: Die Zentralität der imaginierten Ränder in der amerikanischen Geschichte Von Frank Wolff 1. Life Writing als sozialer Prozess Der Ansatz des Life Writing reformiert derzeit zahlreiche Felder der Amerikanistik. Der Fokus liegt dabei in erster Linie auf der Inklusion diverser privater, literarischer und künstlerischer Werke in das, was im deutschen Sprachraum seit einiger Zeit als Autobiographik verstanden wird. Auch Nassim Balestrinis Beitrag schlägt in diese Kerbe und verdeutlicht zudem, dass dieser Reformansatz Teil eines größeren Perspektivwechsels ist, und zwar der der Loslösung von überkommenen nationalen Ordnungs- und Denkkategorien, von formativen Genredebatten und von kulturell verfassten Ethnozentrismen. Anstatt nach dem sich ewiglich selbst bestätigenden American Exceptionalism zu suchen, fügt sich Life Writing in die allgemeine Erneuerung der Geisteswissenschaften durch Interdisziplinarität und Transnationalität ein.1 Auch die amerikanische Geschichtsschreibung durchläuft seit längerer Zeit einen solchen Öffnungsprozess, in dem die amerikanische Geschichte aus dem Nationalen und dem Denkmuster des Sonderfalls herausgeschrieben wird.2 Dabei wird immer wieder auf die Rolle des Individuums und seiner Lebensdeutung verwiesen. Allerdings geht es gegenwärtig weniger um die angeblich klassischen weißen und protestantischen „Erbauer der Nation“, sondern vielmehr um die Zentralität von Randgruppen, allen voran diverse Immigrantengruppen, aber auch um Bewohner der von Los Angeles, New York und Washington DC aus gesehenen geographischen Ränder. Dass Ansätze von Life Writing und die Dezentrierung der amerikanischen Geschichtsschreibung diverse Grundannahmen teilen, liegt auf der Hand, konzeptionell steht aber die Frage im Raum, wie sich Transnationalisierung, 1  Kadar, Essays. Eakin, How Our Lives. Emin-Tunc/Gursel, Transnational Turn. Hebel, Transnational American Studies. Hornung, American Lives. 2  Thelen, Nation and Beyond. McKeown, Chinese Migrant Networks. ShellWeiss, Coming to Miami. Wagner, Conference Report. Hilmes, Network Nations.

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Gesellschaftsgeschichte und Konzepte des Life Writing aufeinander beziehen lassen. Deutlich hebt Nassim Balestrini die analytische Trias von Perfomativität, Positionalität und Relationalität hervor. Life Writing öffnet demzufolge den Blick auf Schreiben als sozialen Akt. Diese Perspektive erlaube es, Texte bislang marginalisierter Gesellschaftsmitglieder in die Amerikanistik einzubinden. Sie nennt zum Beispiel in der Diaspora Lebende, politisch Verfolgte, mehrsprachig schreibende Einwanderer und Bewohner von Armutsvierteln. Aus der Sicht sowohl der sozialen Bewegungsgeschichte als auch der Migrationsgeschichte sind solche Ansätze nur zu begrüßen, denn sie bestätigen die in diesen Feldern schon lange vorherrschende Einstellung, dass selbst eine Geschichte eines Nationalstaats nur mit Blick auf die transnationale Vernetzung seiner Institutionen und Bevölkerung geschrieben werden kann. Ein solcher Blick verändert aber auch den Blick auf genuin amerikanisch empfundene und oft beschriebene historische Facetten, wie zum Beispiel die Prohibition. Wie von Thomas Welskopp dargelegt, drängte die Prohibition die Gangster nicht an den Rand der Gesellschaft, sondern sie ermöglichte (oder versprach zumindest) der zweiten Immigrantengeneration Anerkennung, eine schnellere Amerikanisierung und das Überwinden kultureller Barrieren durch Karriereoptionen, die in dieser Geschwindigkeit nur die Illegalität eröffnet.3 Solche Dynamiken hatten freilich Auswirkungen auf Selbstbilder und Formen des Life Writing. Anstatt die angebliche Marginalität der organisierten Kriminalität zu reproduzieren, verdeutlichen die Selbstdarstellungen der Gangster und Mobster, die von Autobiographien über Interviews bis zu Gerichtsprotokollen reichen, dass sie sich durch ­einen mit Gewalt herbeigeführten gesellschaftlichen Aufstieg in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren suchten. Den Personen gelang dies zwar nur teilweise, ihre Tätigkeiten prägten jedoch die amerikanische Gesellschaftsgeschichte. Ihr Life Writing spiegelt darum zahlreiche unliebige aber zentrale Facetten der amerikanischen Zeitgeschichte. Diese historische Perspektive, die nach der Präsenz des Menschen und von Gruppen in einer sich wandelnden Gesellschaft fragt, benötigt sowohl eine Erweiterung als auch eine Begrenzung des Gegenstands. In Bezug auf ersteres möchte ich das Argument vorbringen, dass eine interdisziplinär kommunizierende Geschichtswissenschaft neben Perfomativität, Positionalität und Relationalität zumindest einen weiteren analytischen Leitbegriff benötigt, den des Sozialraumes. Erst dieser ermöglicht es überhaupt, die anderen drei Aspekte zu verorten. Dies korreliert mit Forderungen der Soziologie, die hervorhebt, dass Transnationalismus gerade – und wohl auch 3  Welskopp,

Amerikas große Ernüchterung.

Gangster, Sozialisten und Life Writing107



nur – anhand der Analyse solcher Sozialräume untersuchbar sei.4 Darunter kann man durch Sozialverhalten geschaffene, mehr oder weniger klar absteckbare Bezugseinheiten verstehen, in denen stets weitere Aushandlungsprozesse um die Ausgestaltung dieser Einheiten stattfinden.5 Dies können zum Beispiel raumbezogene Identitäten, Familien oder Organisationen (Verbände, Parteien, Klubs, etc.) sein. Hierin formiert sich Erinnerung als individueller Prozess unter kollektiven Zuständen.6 Sehr spannend wird dies in Bezug auf die von Nassim Balestrini vorgestellten Projekte, die Life Writing mit Kunst verbinden, die allesamt die beschleunigte Dezentralisierung moderner Medien, von der CD zum Internet, zum Hintergrund haben. Damit kommen Inhalte, diverse Schwerpunkte und Ausdrucksformen in den Vordergrund, die interessanterweise, wie es mir scheint, unter den Kategorien Race, Gender und Culture, kaum aber Class, zusammengefasst werden können. Class, bzw. genauer die empfundene oder dargestellte Klassenzugehörigkeit scheint zu einem wesentlich höheren Grad individuellen und kollektiven Konstruktionsprozessen zu unterliegen als Race und Gender. Dies wurzelt schon darin, dass mit der tief verankerten Austiegshoffnung ein Zustandswandel eine fast schon normative Konstitutive dieser Kategorie ist. Aufgrund der Heterogenität des Materials erlaubt es der Ansatz des Life Writing die oft anzutreffende autobiographische Erfolgsgeschichte kritisch zu hinterfragen, stößt ohne Hinzuziehung des Sozialraumes jedoch an seine Grenzen. Er scheint wesentlich besser geeignet, empfundene Klassenzugehörigkeiten zu identifizieren, als die dahinter liegenden, durch Macht- und Wirtschaftsstrukturen geprägten Konstruktionsprozesse zu analysieren. Dies steht in direktem Bezug zu einem als zentral erkannten Problem: Teilnehmen kann an der von Frau Balestrini beschriebenen Partipizipationskultur nur, wer Zugang zu solchen Medien hat, wobei selbst das am stärksten enthierarchisierte Medium, das Internet, sozial nur eingegrenzt zugänglich ist. Noch viel deutlicher ist dies für Projekte, die die Selbst­inszenierung mit öffentlichen Marketingstrategien verbinden, wie die von Nassim Balestrini benannten Musiker. Denn bevor hier Life Writing untersucht werden kann, müssen – ganz altmodisch – quellenkritische Fragen und die hinter den Medien stehenden Interessen geklärt werden. Die moderne ultra-individualistische Hochglanz-Rap-Kultur steht damit diametral der im alternativen Hip Hop überlebenden Szene und der öffentlichen Selbstinszenierung per Graffiti und Gruppenbildung entgegen. Die hier einwirkenden Kräfte des Marktes und die Kultur der Selbstvermarktung zugunsten einer Authentizitätsfiktion zu außerhalb der Selbstdar4  Pries,

Transnationalisierung. Faist/Özveren, Transnational Social Spaces. Transnational Societal Spaces. 6  Wolff, The Home that Never Was. 5  Pries,

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stellung liegenden Zwecken (v. a. Mehrwert für diverse Marktteilnehmer, ob im „Mainstream“ oder der „Alternativkultur“) müssten darum stärker in der Analyse des Life Writing mit einbezogen werden. Auf sich selbst gestellt stößt der Ansatz darum leicht an seine analytischen Grenzen, da er ein Phänomen betrachten, nicht jedoch die Hintergründe mit abbilden kann. Die hinter den Akten des Life Writing stehenden Machtbeziehungen sollten am Anfang der Analyse stehen. Daran schließt die Folgefrage an, inwiefern im Ansatz des Life Writing das Verhältnis überpersönlicher oder kollektiver Hintergründe in Bezug auf individuelle Selbstdarstellung ergründet werden kann. Da Gruppen nicht selbsterklärend sind und kollektive Bezüge sich selbst oft erschaffen (vgl. Thompson: „The working class did not rise like the sun at an appointed time. It was present in its own making.“), müsste am Anfang die klassische sozialwissenschaftliche Frage nach Form und Verfasstheit der Grundgesamtheit stehen.7 Hier ist die Life Writing-Perspektive weitaus offener als die klassische Autobiographieforschung. Da sie aber den sozialen Prozess betont, kann sie sich nicht allein auf den Autor als sozialen Hintergrund zurückziehen. Vereinfacht ausgedrückt fragt dieser Ansatz nicht nach der Gesellschaft im Text (im Sinne des Kontextes), sondern nach dem Text in der Gesellschaft (im Sinne der Dualität von Struktur und Handeln).8 In der klassischen amerikanischen Geschichte – und den dazugehörigen Gesellschaftsmodellen – wurden Autobiographien und Lebensentwürfe oft in das Modell Mann baut Staat eingebunden, ob an der Frontier, als Union Soldier oder als Labor Leader. Bis heute prägt dies viele amerikanische Geschichtsbücher – und den Kulturmarkt.9 Der Gewinn durch postmoderne Ansätze und deren Analyse von Subjektivierungsbestreben sollte uns jedoch bereits klar vor Augen stehen. Auch in Sozialwissenschaften erfreut sich dies großer Zuwendung, primär freilich in qualitativen Arbeiten, die das Individuum und seine Selbstkonstruktion analysieren. Die im Life Writ­ ing in den Blick kommende Prozessualität der Selbstkonstruktion und die meines Erachtens stärker einzubeziehende Soziabilität des Schreibens wirft aber methodische Probleme auf. Denn benannte Einblicke erlauben immer tiefergehende Analysen einzelner Sinnkonstruktionen und Subjektivierungsstrategien, also der Erhöhung von Komplexitätsbewusstsein durch den Untersuchenden. Die Aufgabe der Gesellschaftsgeschichte liegt aber auch in der Reduktion von Komplexität und in der Analyse von Gesellschaften als Bezugseinheiten, die mehr verkörpern als die Gesamtheit ihrer Einzelteile. 7  Thompson,

The Making of the English Working Class, S. 9. Sprache und Kommunikation. 9  Der vermutlich lesenswerteste derartige Ansatz neuerer Art: Goodwin, Team of Rivals. 8  Welskopp,



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Dies verkompliziert sich in der amerikanischen Geschichte durch die Einbeziehung der Migrationsgeschichte – und zwar nicht als das klassische, von Oscar Handlin bis ins Ellis Island Museum reichende, Argument der harten, aber erfolgreichen Amerikanisierungsgeschichte, sondern als Geschichte heterogener, widerborstiger und transnationaler Identitäten, die gerade im gegenseitigen Widerspruch das Haus von Uncle Sam gestalten.10 Von hier lässt sich der Bogen zu den benannten Sozialräumen spannen. Folgend möchte ich anhand zweier Beispiele die kausale Verknüpfung von Life Writing und der Schaffung von Sozialräumen darstellen: Erstens dem sozialistisch revolutionären Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund im Migrationsprozess und zweitens den Gruppen organisierter Kriminalität in den amerikanischen Einwanderervierteln. Gerade wegen grundlegender Unterschiede in Zielen und Konstitutionen dieser Gruppen treten hier Parallelen in den Vordergrund, die im Life Writing wurzeln, nicht aber allein dadurch zu erklären sind. 2. Life Writing und Sozialräume – Beispiel eins: Bund und Migration Der Bund wurde als sozialistische, jiddische Gewerkschaftsbewegung in Russland 1897 gegründet und wurde dort zu einem Protagonisten der revolutionären Arbeiterbewegung.11 Konflikte ergaben sich zumeist aus der Rolle der Kultur in seinem Programm und seinen Praktiken, die nicht auf die eine gemeinsame klassenlose Kultur russischer Prägung abzielte, sondern eine jiddische, ethnisch und kulturell differente Autonomie einforderte und auslebte. Tausende dieser Bundisten migrierten mit den 2,5 Millionen russländischen Juden vor dem Ersten Weltkrieg in die USA. Dort fanden sie sich nicht nur in den berühmten landsmanschaften zusammen, sondern sie schufen vor allem bundische Klubs.12 Hier jedoch, wo die ihnen bekannten Formen des Sozialismus nicht fruchteten, wurde der Bund sehr stark zu einer kulturellmemorischen Vereinigung. Der Bund in den USA existierte in erster Linie, weil man sich öffentlich an ihn erinnerte. Hunderte autobiographische Texte aller Formen und sozialer Schichten des Bunds erschienen in seinen Verlagen oder Organen und im Lichte großer Versammlungen.13 Zusammengefasst standen diese nicht nur für Memorik zwecks individueller Neuverortung, sondern vor allem dienten sie dazu, einen personenbe10  Handlin, The Uprooted. Baur, Musealisierung der Migration. Storch, Red Chicago. Wall, Inventing the „American Way“. Schrag, Not Fit for Our Society. 11  Tobias, Jewish Bund. Pickhan, Vom Ereignis zum Mythos. 12  Soyer, Jewish Immigrant Associations. Wolff, Eastern Europe Abroad. 13  Wolff, Neue Welten.

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zogenen, kollektiven Narrativ als Gegenform zur bolschewikischen, zionistischen oder individualistischen amerikanischen Meistererzählung zu schaffen. Das Leben des Bundisten wurde nicht nur als Befreiungsgang interpretiert, im Laufe dessen man sich in den Bund einbrachte, sondern vielmehr, weil man den Bund durch revolutionäre und memorische Praktiken schuf. In Abwesenheit einer zentralen Bewegungsgeschichte historisierte sich der Bund in seinen ersten Jahrzehnten fast vollständig durch die Mosaiksteinchen der Lebensgeschichten seiner Mitglieder, die zudem vor allem in der amerikanischen Emigration zur Feder griffen.14 In den USA begründete die Memorik den Bund – und daraus ergaben sich zahlreiche kulturelle Kontexte und wiederum politische Kollektive. Dies setzte sich nach dem Holocaust weiter fort, nun mit der Ausweitung, dass autobiographisches Schreiben in koordinierten Fragebogenkampagnen des Bund-Archivs aktiv inspiriert wurde. Autoren strebten dabei immer auch danach, ihren Teil der einen Geschichte des Bundes zu erzählen. Dabei ging es aber weniger um Zeugenschaft oder Subjektivierung, sondern vielmehr um schreibenden Aktivismus. Jede Zeile strebte danach, nachfolgende Taten zu inspirieren, ob im Arbeitskampf oder in der Kulturarbeit.15 Life Writing trug also maßgeblich zum Schaffen der Bewegung bei, die, wie Leon Oler betonte, selbst eine Biographie habe, die ganz „wie das Leben eines Menschen“ zu verstehen sei.16 Eine solche Biographie sprach Vladimir Medem auch der von ihm herausgegebenen Warschauer Zeitschrift Lebns-fragn zu.17 Damit ist es keineswegs überraschend, dass zahlreiche bundische Autobiographen im Laufe ihres Lebens mehrfach und in verschiedensten Umständen und für diverse Genres, vom aktivistischen Zeitschriftenartikel zum Nachruf über autobiographische Fragebögen bis hin zur Monographie, ihre Leben reflektierten – um sich so zu subjektivieren und zugleich das kollektive Werk des Bundes fortzusetzen. Life Writing ist hier also eine kollektiv motivierte und ausgerichtete, jedoch individuell praktizierte Verfestigung sozial begründeter Lebensdeutungen. Schreiben diente weniger performativer Subjektwerdung und ganz sicher nicht dem Einschreiben in einen sozialen Kontext, sondern vielmehr waren die subjektivierenden Praktiken essentiell mit der Entstehung und dem Bestehen dieses Sozialen verbunden. Durch Life Writing – und in der langen Entwicklung von Nekrologen über Bekanntschaftsberichte und Autobiographien bis zur erlebten Geschichte der eigenen Parteihistoriker – wurde der Sozialraum Bund markiert und zugleich 14  Wolff,

Revolutionary Identity. Dos revolutsyonere rusland. Berman, In loyf fun yorn. Siehe z. B. Motolski, 1-ter may 1903 in varshe. 16  Oler, Di ‚tsveyer‘ in poylishn ‚bund‘. 17  Medem, Biografie fun di ‚lebns-fragn‘. 15  Salutski/Litvak,

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als different von anderen historisiert.18 Life Writing war in erster Linie gruppenkonstituierend.19 Dies verknüpfte die Bewegung transnational, und amerikanische Erinnerungswerke wurden zu aktivistischen Mobilisierungsmotoren im Polen der Zwischenkriegszeit. In einigen Fällen ging es soweit, dass selbst wichtigste autobiographische Texte bundischer Führer in den USA verfasst und nach Polen verschifft wurden. In anderen Fällen wurden sie in Zwischenkriegspolen für die dortige Bewegung verfasst, bedurften aber amerikanischer Finanzierung und feierten auch in den USA große Erfolge.20 Hier jedoch sind regionale Differenzen zu bemerken, denn während die amerikanischen khaverim21 auf ihre Verbindung mit Polen setzten, traf dies lange Zeit auf die ebenfalls wichtigen bundischen Gruppen in Argentinien nicht zu. Hier wurde mit ähnlich kollektiven Zielsetzungen autobiographisiert, wobei jedoch argentinische Belange und argentinische Medien im Vordergrund standen.22 Das Schreiben in den USA war darum auch eine Substitutionshandlung zugunsten der Bewegung, die in New York im Gegensatz zu Buenos Aires nicht mehr aus Gewerkschaftsarbeit, sondern aus der Erinnerung daran bestand. Diese Erinnerung jedoch war integraler Bestandteil der Gewerkschaftsarbeit andernorts, denn sie unterfütterte die Geschichte, verschaffte Legitimation und verhalf zu eigenen Mythen, die die Mobilisierung der eigenen Aktivisten erleichterten. 3. Life Writing und Sozialräume – Beispiel zwei: Das Leben der Mobster Zweitens spielten autobiographische Erfahrung und Erzählung in Banden der organisierten Kriminalität eine entscheidende Rolle für die Selbstinszenierung der Mitglieder als zugehörig und vertrauenswürdig. Im Business of Protection sowohl der Prohibition als auch des späteren Labor Racketeering zählte nicht nur die richtige Handlung, sondern auch die Pflege langfristig gewachsener, persönlicher Vertrauensnetzwerke.23 Das Besondere an organi18  Wolff,

The Home that Never Was. besonderer Fall des kollektiven Life Writing wären hierbei die Doyres Bundistn, die zwar eine biographische Enzyklopädie waren, jedoch auf den bereits etbalierten Narrativen der Bewegung aufbauten und zudem aus den Informationen einer Fragebogenkampagne schöpften. Bund Archives, New York, RG 1400, MG 2/429. Vgl. auch Denz, Bundistinnen. 20  Medem, Fun mayn leben. Berman, In loyf fun yorn. 21  Khaver, pl. khaverim, jidd.: Freund, Genosse. 22  Vald, Di geshikhte. Vald, Bletlekh. 23  Grundlegend: Zucker, Production of Trust. 19  Ein

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sierter Kriminalität ist, dass sie einerseits auf versteckte Netzwerke setzt und dass Konspiration lebenswichtig für Mensch und Gruppe ist, dass andererseits die Lebenswege der Gangster hochgradig narrativ aufgeladen werden, um in der Teilöffentlichkeit der jeweiligen individuellen Einflusssphäre Ruf und Verlässlichkeit zu produzieren. Dies galt besonders in den lokalen Öffentlichkeiten der Wohnviertel, die gerade in den 1920er Jahren oft die Immigrantenviertel der großen amerikanischen Städte waren.24 Während die erste Einwanderergeneration, die Eltern der zahlreichen (und oft kurzlebigen) Prohibitionsgewinner dem Narrativ der Integration in die amerikanische Gesellschaft per harter Arbeit folgten, sahen die jungen Gangster ihre Chance im schnellen Aufstieg durch Einfluss, Netzwerke und Besitz.25 Da Bootlegger und später die zunehmende Zahl an Labor Racketeers im Umfeld von Gewalt operierten, zugleich aber ein Geschäft betrieben, welches auf rein personenbezogener Verlässlichkeit aufbaute, sprachen Mobster selten über Organisation, sondern sehr oft über ihre Leben.26 Die dabei vorgenommenen Konstruktionen ließen im Laufe der Prohibition jenen Typen Gangster als geheim-öffentliche Figur entstehen, der im Folgenden als zugleich furchterregend und vertrauenswürdig eingestuft werden konnte. Frühe Labor Racketeers waren Prügelbosse, ihre Aktionen reduzierten sich auf die Tat und die kurzfristigen, allein vor Ort spürbaren Geschäftserfolge, also das Okkupieren von Beschäftigungsregelungen, die eigentlich Gewerkschaften zustanden, und dem zeitgleichen Stellen von gewaltbereiten Streikenden und Streikbrechern.27 Der Volstead Act, die rechtliche Grundlage der Prohibition, eröffnete neue Geschäftsfelder, wodurch aus einem Randphänomen der amerikanischen Großstädte ein nahezu omnipräsentes Netz der organisierten Kriminalität erwuchs, in dem Verteilungskämpfe zunehmend per Gewalt ausgetragen wurden. Die Abschaffung des Volstead Act beseitigte aber nicht die Geschäftsmodelle und Gruppenstrukturen der kriminellen Banden, die sich nun neben diversen Schmuggeltätigkeiten auf das Geschäftsmodell der gewalthaften Labor Leaders verlegten. Sie konnten vor allem in den nicht-industriellen Gewerkschaften Fuß fassen, allen voran dem schnell zu einer der größten amerikanischen Gewerkschaft heranwachsenden International Brotherhood of Teamsters.28 Deren Lebenserzählung diente oft der gewaltbasierten Vergemeinschaftung, denn neben konspirativen Akten war die richtige Selbstbiographisierung der wichtigste Aspekt der Vertrau24  Haller,

Bootleggers. Jews and Booze, S. 146 f. 26  Haller, Bootlegging. Welskopp, ‚Die im Dunkeln sieht man nicht‘. 27  Seidman, Labor Czars. 28  Erd, Amerikanische Gewerkschaften. Russell, Out of the Jungle. Witwer, Corruption and Reform. Jacobs, Mobsters, Unions, and Feds. 25  Davis,



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ensbildung. Dabei standen auch Lokalbezug, ethnische Netzwerke und Sprachbarrieren zur Definition von Gangs und Einflussbereichen zur Verfügung. Während sich dabei ein variabler aber grundlegend gemeinsamer Soziolekt, eine Art „Gang-Lingo“ herausbildetete, grenzten sich italienischen, jüdischen, griechischen usw. Banden voneinander idiomatisch ab, indem sie untereinander sowohl eine spezifische Version der Herkunftskultur praktizierten als auch ihre Herkunftssprache teilweise zur Alltagskommunikation, vor allem aber zur Distinktion nutzten. Interethnische Kooperationen innerhalb einer Gang wie im National Crime Syndicate des russisch-jüdischen Meyer Lansky mit dem italienischstämmigen Charles „Lucky“ Luciano wurden zwar berühmt, waren auf der Mikroebene jedoch vor allem in den ersten Jahren der Prohibitionszeit eher selten.29 Dies schuf Mental Maps von Stadtteilen oder Arbeitsnetzwerke zum Beispiel an der New Yorker Waterfront, die nicht per se existierten, sondern die durch Raumbesetzung und Lebenskonstruktionen erst entstanden.30 Life Writing durch und mit Gewalt – ob als Erzählung oder als exemplarischer Akt – steht aber nicht für sich, sondern, wie aktuelle Ansätze betonen, für die Garantie des Schutzes eines umkämpften aber als Bezugsort gedachten sozialen Raumes, der seine eigenen Kommunikationsregeln entwickelt.31 Die Verkörperung des gewalthaften Geschäfts zog die Grenzen um die vertrauenswürdige Sozialgruppe und dies schuf die Familie im Family Business.32 Diese Relevanz des Life Writing wirkte auch über die Entlarvungen hinaus. Verhörprotokolle zahlreicher Mobster sprechen Bände – von den späten 1940er Jahren über den Aufmerksamkeitsgipfel des über 150 000 Dokumentenseiten produzierenden McClellan Committees bis in die Eindämmungsversuche des Racketeering in den 1990er Jahren.33 Dabei hörte man jedoch nur selten etwas über die Organisation, was oft auch eine erfolgreiche Strafverfolgung verkomplizierte, sehr viel aber über Selbstsichten, biographische Muster und die daraus entstehende Schaffung von Sozialzusammenhängen und Vertrauensnetzwerken.34 Doch nicht nur die Strafverfolgung, auch das Publikationswesen dient dem Bedürfnis der Selbstinszenierung. 29  Während in dieser Zeit also Herkunftssprachen Gruppen voneinander abgrenzten, treten heute diverse kulturelle Codes an diese Stelle, die jedoch gleichartig Life Writing als Element der Selbstdarstellung nutzen. Vgl. Gambetta, Codes of the Underworld. 30  Ward, Dark Harbor. Fisher, On the Irish Waterfront. 31  Gambetta, Sicilian Mafia. Varese, Russian Mafia. 32  Ianni/Reuss-Ianni, Family Business. 33  U.S. House of Representatives, The Investigation of the Effectiveness of the Hobbs Amendment. Kennedy, Gangster. Maas, Valachi Papers. U.S. Senate, Closing the Legal Loophole. 34  McClellan, Crime without Punishment.

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Die vor allem auf dem amerikanischen Buchmarkt eminent erfolgreichen autobiographischen Bestseller der Mobster nährten nicht nur das Bedürfnis nach öffentlicher Selbstdarstellung oder das Profitinteresse dahinter stehender Journalisten, sondern sie stehen in der oben beschriebenen Tradition. Solche Bücher, ob als eigene Monographie verfasst, von einem Ghostwriter oder als Interview aufgezeichnet, sind zum einen als resümierende Lebensdeutungen für einen entsprechenden Markt, zum anderen aber als weitere Teile der diversen Life Writing Praktiken der Gangster zu sehen.35 Vom Eintritt in die Gangs, über den Kontakt mit „Kunden“, bis zum Gang vor den Richter schuf die eigene Biographie die Gangs, verortete sie im sprachlich-kulturellen Zusammenhang der Einwanderungsviertel und begründete ihre Stellung im Geschäft. Es mag nicht wundern, dass in vielen der amerikanischen Randgruppen, die per Life Writing neu in den Blick genommen werden können, also weit über Mobster und Sozialisten hinaus, Ehre die zentrale Kategorie der Selbstverortung ist. Das Ehrverständnis und die Ehrbezeugung begründete – trotz aller Unterschiede unter den Beispielen – die die Position des Individuums im Kollektiv. Bislang stehen solche Gruppen aber außerhalb oder am Rande der amerikanischen Gesellschaftsgeschichte – ganz im Gegensatz zu den prominenten Mafia-Jägern wie Robert F. Kennedy oder den etablierten englischsprachigen Gewerkschaftsführern wie Walter Reuthers, Samuel Gompers und Daniel De Leon. Es ist also nicht nur so, dass Life Writing aus dem Trend der Dezentralisierung der Amerikanistik erwächst, der Ansatz verspricht zudem vollkommen neue Möglichkeiten zur historischen Analyse von Gruppen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft, zu denen es bislang kaum einen gesellschaftshistorischen Zugang gab. Die Anekdotisierung des eigenen Lebens erscheint dabei nicht mehr allein als narrativ und unterhaltsam sondern steht für einen Positionierungsbedarf in den Gemeinschaften und in der Gesellschaft, an dem sich die zentralen Motive der amerikanischen Gesellschaftsgeschichte (z. B. Aufstiegsmythos, Integrationsprozesse und Multiethnizität) von der sozialen Peripherie her ablesen und neu interpretieren lassen. 4. Chancen und Grenzen des Life Writing-Ansatzes Life Writing kann also die Analyse einer fragmentierten und heterogenen Gesellschaft von den Rändern her angehen und zugleich darlegen, wie zentral diese Ränder für allgemeinhistorische Entwicklungen sind. Darüber hinaus durchbricht Life Writing eine für die Literaturwissenschaft noch viel bedeutendere Barriere als für die Geschichtswissenschaft, da Leben nun aus der steten Versicherung des Gelebt-Werdens durch das Individuum verstanden 35  Franco/Hammer,

Hoffa’s Man. Maas, Valachi Papers.



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wird: Ich schreibe also bin ich. Die prozessuale Perspektive des Life Writing lässt darum disziplinär verengende Genrediskussionen hinter sich, was den Blick auf autobiographische Praktiken ab- und jenseits der Verbürgerlichung ermöglicht. Life Writing kontert die sozial und disziplinär monopolisierende Suche nach Genres und widerspricht der In- und Exklusion von Autobiographik aus diversen Forschungskontexten, zum Beispiel der sonst üblicherweise weniger an individiellen Narrativen interessierten Gesellschaftsgeschichte. Dabei ergeben sich jedoch zwei Herausforderungen, von denen die erste methodischer und die zweite inhaltlicher Art ist. Erstens entsteht durch diese deutliche Ausweitung des Autobiographiebegriffs das methodische Problem der Begrenzung. Da Life Writing potentiell sämtliche Praktiken der Verfestigung biographischer Muster betrachtet, andererseits aber nahezu sämtliche Lebenspraktiken zur Sinnschaffung des Lebens genutzt werden können, fehlt dem Ansatz eine inhärente Hierarchisierung der möglichen Quellen. Dies ist, wie oben besprochen, eine große Chance, geht jedoch mit der Gefahr der Beliebigkeit einher. Deswegen ist Life Writing stets nur als ein horizontaler, an den life cycle gebundener, Prozess zu verstehen, der allein in Kombination mit vertikalen, also externen und sozialhistorischen oder diskursiven Kategorien untersuchbare Felder entstehen lässt. Aufgrund des Movens der Life Writing-Forschung, Autobiographisierungsprozesse nicht nur in der Gesellschaft zu verorten, sondern vielmehr deren gegenseitige Bedingtheit zu untersuchen, sollte die Forschung darum stärker auf Ansätze der Sozialforschung zurückgreifen. Dies wäre dann auch ein genuiner Beitrag zur neuen praxisbezogenen Gesellschaftsgeschichte, die sich abseits alter Grabenkämpfe zwischen Kultur- und Sozialgeschichte entfaltet, deren Einwürfe jedoch in der Autobiographieforschung kaum wahrgenommen werden.36 Weitere Möglichkeiten dazu eröffnen sich durch Interdisziplinarität in der Kombination prozessbezogener und sozialkonstruktivistischer Ansätze, also zum Beispiel die Wendung der Sozialgeographie vom Raum als Bezugseinheit zur Raumkonstruktion durch den Betrachter, die Wendung der Soziologie von der Analyse von Gruppen und Schichten hin zur Analyse der Entstehung und Konstruktion von Gruppenwahrnehmung und Stratifizierung oder die Konkretisierung der Transnationalismusforschung durch den Blick auf den Konstruktionsprozess transnationaler sozialer Räume.37 Wie in den Beispielen dargestellt, kann eine differenzierte amerikanische Gesellschaftsgeschichte davon profitieren, vormalig marginalisierte Gruppen 36  Hörning/Reuter, Doing Culture. Sewell, Logics of History. Wolff, The Home that Never Was. Welskopp, Unternehmen Praxisgeschichte. 37  Abbott, Time Matters. Pott, Identität und Raum. Redepenning, Eine selbst erzeugte Überraschung. Faist/Özveren, Transnational Social Spaces. Pries, Trans­ nationalisierung.

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nicht nur zu inkludieren, sondern vor allem deren Prozesse der steten Gruppenkonstitution selbst in den Blick zu nehmen. Dabei könnte die Life Writ­ ing-Forschung auch deren sozialen (und oft auch ökonomischen) Nexus stärker thematisieren. Rapper, Bundisten und Mobster sind dahingehend alles andere als randständige Sonderfälle. Sie inszenieren sich nicht nur als aktive Gestalter ihrer Gruppe oder Subkultur, sondern sie produzieren auch die Inszenierungsformen der Subkultur je nach Funktionskontext und Zielsetzungen der jeweiligen Gruppe. Erst darüber inkludieren sie die eigene Gruppe oder Subkultur in die differenzierte Gesellschaft. Es ist das Versprechen der Life Writing-Forschung, zu zeigen, dass autobiographisierendes Schreiben viel zu sozial ist, um primär als kontextualisierbare Subjektivierungsstrategie verstanden werden zu können – es sollte dann aber auch stärker reflektiert werden, inwieweit der soziale Rahmen selbst aus den Praktiken des Life Writing erwächst. Zweitens ist inhaltlich trotz des eindeutig postkolonialen Ansatzes der Life Writing-Forschung das Problem gegeben, dass es von vornherein das Paradigma der Individualisierung selbst in den Mittelpunkt schiebt. Wie die sehr anregende Forschung zur Autobiographik in der Frühen Neuzeit bricht es genrespezifische Verjüngungen der dominanten modernen Literaturforschung auf.38 Sie variiert aber nur die gleiche Frage nach dem Bezug zwischen Individuum um Individualisierungsprozess, ohne zuerst die Frage nach der Relevanz der Individualisierungsstrategien in der jeweiligen Gesellschaft, Zeit oder Kultur zu stellen. Schreibt sich dadurch der Mythos des Individuellen fort, der die Amerikanistik ohnehin sehr stark prägt? Inwieweit verabsolutiert die Suche nach Individualisierungsstrategien durch Life Writ­ ing postmoderne Selbstkonzepte in Raum und Zeit? Um dies als Problem zu empfinden, muss man nicht einmal in weit entfernte Vergangenheiten schweifen. So engagierten sich zum Beispiel junge Kommunisten in der frühen Sowjetunion in diversen Wegen im Entwurf des eigenen Lebens. Viel stärker als bei sämtlichen von Balestrini angedachten Konzepten war dies aber auf die neue Welt, eine kollektive Utopie bezogen, die sich gerade durch das Aufgehen der individuellen in der kollektiv erschaffenen Lebenswelt auszeichnete.39 Ohne diese Ebene der Kollektive läuft Life Writing, welches sich allein um die Trias Perfomativität, Positionalität und Relationalität formiert, Gefahr, eine neue, individualistische Frontier Thesis zu begründen. Wie können andere Lebens- und Selbstkonzepte in den Blick genommen werden, wenn der Betrachtungswinkel selbst bereits die Suche nach der Subjektivierung ist?

38  Günther,

39  Willimott,

‚And now for something completely different‘. Rutz, Ego-Dokument. The Kommuna Impulse.



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Bislang betrachtet die Life Writing-Forschung vor allem den Prozess des Writing, eine aus den Kulturwissenschaften heraus verständliche und im Rahmen der Dekolonisierung von Individualisierungsstrategien hochgradig notwendige Perspektive. Dabei gerät die Kategorie des Life in den Hintergrund – sie müsste aber auch als Frage verstanden werden. Was ein Leben ist und wie sich ein individuelles Leben auf das Kollektive bezieht, ist eine sozial konstruierte und hochgradig gesellschaftsbezogene, oft auch zielgesteuerte wenn nicht an Utopien gebundene Frage. Unter dem die Forschung und den Ansatz fundierenden Paradigma des Lebensstrebens hin zum Citoyen ist dies sicher gangbar, was ist aber mit Lebensentwürfen, die sich dessen verweigern, wie Kommunisten, Anarcho-Syndikalisten oder religiösen Messianisten? Zudem, und dies ist für die Amerikanistik wohl noch wesentlich bedeutender, war dieser Weg zahlreichen Menschen und Gruppen wie den Sklaven oder den Indentured Servants verwehrt. Es gab sicher unter diesen eine wichtige Bestrebung hin zu stärker individualisierenden Lebenskonzepten, aber dies war eine Entwicklung der Resistenz, die – gänzlich entgegen unserer heutigen Moral- und Rechtsvorstellungen – keineswegs als omnipräsente Antwort auf die Ausbeutungsverhältnisse unfreier Arbeit angenommen werden kann.40 Selbst die Versicherung der eigenen Körperlichkeit lief hier in von der modernen Subjektivierung abweichenden, hochkomplexen Sozialprozessen ab, die nicht allein mithilfe der Suche nach einer Entfaltung des Individuums gefasst werden können. Vielmehr konnte deren entindividualisierende Legimitation in einem paradoxen Prozess auch von den Opfern selbst als sinnhaft empfunden werden. Diese Fragen beruhen jedoch keineswegs nur auf rein gewaltbasierten Traditionen wie in der Sklaverei. Die Frage nach der Bedeutung des Lebens und erst dann nach dessen Verschriftlichung ist noch einmal ganz anders für die andere Seite der Frontier, die ebenso hochkomplexen Kollektivprozesse der Native Americans zu stellen. Hier müssen zuvorderst diese sozialen Strukturen verstanden werden, bevor überhaupt die Frage nach dem Bezug zwischen Leben und Sozialraum gestellt werden kann.41 Dies ist vor allem nötig, um die Klippen eines präsumtiven strukturellen und analytischen Individualismus zu umschiffen. Alles in allem sind solche Fragen aber Herausforderungen und nicht Hindernisse für den Beitrag der Life Writing-Forschung zu einer neu verfassten amerikanischen Geschichte. Hier trafen nicht nur zahlreiche Kulturen aufeinander, vielmehr schuf die gewaltbetonte Geschichte der letzten 40  Shields, Freedom in a Slave Society. Besonders kontrovers: Faust, Southern Thought. 41  Siehe v. a.: Hämäläinen, Comanche Empire.

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Jahrhunderte kontrastierende Konzepte von Individuen, Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaften. Das von Patrick Griffin so klar gezeichnete Bild des weißen Siedlers als ein sich stets bedroht fühlendes Individuum verdeutlicht das Selbstbild der sich als rechtmäßig dominant empfindenden Gruppe. Dies müsste nun durch ein tieferes Verständnis von Selbstbildern und Identitätskonstruktrionsprozessen unter urbanen Kollektivisten oder kollektivistischen Lebensentwürfen auf diversen Seiten der Frontier komplementiert werden. Das sehr anregende Konzept des Life Writings erlaubt also, das Schreiben als Prozess in den Blick zu nehmen, bedarf aber zur Erreichung seines selbstgesetzten postkolonialen Zieles einer stärkeren Reflexion dessen, was die Kategorie des Lebens in anderen Zeiten und Kulturen bedeutet. Life Writing sollte daher aus gesellschaftshistorischer Perspektive nicht nur als sozialer Akt, sondern vor allem als ein das Soziale schaffender Akt befragt werden. Literaturverzeichnis Abbott, Andrew: Time Matters. On Theory and Method. Chicago 2001. Baur, Joachim: Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation. Bielefeld 2009. Berman, Layb: In loyf fun yorn. Zikhroynes fun a yidishn arbeter. Warschau 1936. Closing the Legal Loophole for Union Violence: Hearing before the Committee on the Judiciary United States Senate. Washington 1998. Davis, Marni: Jews and Booze. Becoming American in the Age of Prohibition. New York 2012. Denz, Rebekka: Bundistinnen. Frauen im Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund (‚Bund‘) dargestellt anhand der jiddischen Biographiesammlung „Doyres Bun­ distn“, in: Pri ha-Pardes 5, 2009. Eakin, Paul John: How Our Lives Become Stories. Making Selves. Ithaca 1999. Emin-Tunc, Tanfer / Gursel, Bahar (Hrsg.): The Transnational Turn in American Studies. Turkey and the United States. Bern 2012. Erd, Rainer: Amerikanische Gewerkschaften. Strukturprobleme am Beispiel der Teamsters und der Automobilarbeiter. Frankfurt am Main 1989. Faist, Thomas / Özveren, Eyüp (Hrsg.): Transnational Social Spaces. Agents, Networks, and Institutions. Aldershot 2014. Fisher, James T.: On the Irish Waterfront. The Crusader, the Movie, and the Soul of the Port of New York. Ithaca 2009. Franco, Joseph / Hammer, Richard: Hoffa’s Man. The Rise and Fall of Jimmy Hoffa as Witnessed by His Strongest Arm. New York 1987. Gambetta, Diego: Codes of the Underworld. How Criminals Communicate. Princeton 2009.



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IV. Autobiographie und Geschlecht

Autobiographie und Genderforschung. Zur Konzeption autobiographischer Texte von Liberalen in Deutschland 1933–1983 Von Angelika Schaser Die Frage nach dem Sinn der Geschichte ist in vielen Kulturen von zentraler Bedeutung. Die Geschichtsschreibung spielt in diesem Zusammenhang jedoch keineswegs eine dominante Rolle, wie Yosef Yerushalmi am Beispiel der jüdischen Kultur nachgewiesen hat.1 Wenn folglich anderen als geschichtswissenschaftlichen Texten und Narrativen bei der Frage nach dem Sinn der Geschichte größere Bedeutung zukommt, so sollte das ein Grund mehr für die Geschichtswissenschaft sein, sich mit diesen intensiver zu beschäftigen. Ein solches Forschungsdesiderat stellen auch autobiographische Texte des 19. und 20. Jahrhunderts dar, die von Historikern und Historikerinnen noch erstaunlich selten als Quellen für ihre Arbeiten herangezogen werden. Die Untersuchung von (auto)biographischen Texten hat in der historischen Frauen- und Geschlechterforschung dagegen Tradition.2 In dieser Vorreiterrolle wird sie jedoch von vielen Historikern und Historikerinnen nicht rezipiert. Das haben Hans Medick und Anne-Charlott Trepp in ihrem Band  Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte 1998 pointiert herausgestellt.3 In der Literaturwissenschaft scheinen diese Parallelwelten – Literaturwissenschaft auf der einen, Genderforschung auf der anderen Seite – auch noch nicht ganz aufgehoben zu sein. Welches große Potential die Frauen- und Geschlechterforschung mit ihrer interdisziplinären Ausrichtung für die boomende (Auto-)Biographieforschung bietet, gilt es folglich nicht nur für eine andere Wissenschaft aufzuzeigen, sondern auch für die eigene, in diesem Fall die Geschichtswissenschaft.4 1  Yerushalmi, Zachor, S. 9 f. Zu dem hier nicht näher ausgeführten Forschungsfeld Gedächtnis und Erinnerung vgl. den Forschungsüberblick zur Geschichtswissenschaft von Konczal, Geschichtswissenschaft. 2  Brockmeyer, Selbstverständnisse. Dürr, Funktionen des Schreibens. Jancke/ Ulbrich, Vom Individuum zur Person, S. 7–27, bes. S. 14. Marcus, Auto/Biographical Discourses. 3  Medick/Trepp, Vorwort, S. 7–14. 4  Für die Geschichtswissenschaft vgl. die Aufsätze in: Bähr/Burschel/Jancke, Räume des Selbst. Ulbrich/Medick/Schaser, Selbstzeugnis und Person. Wedel, Auto-

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Deshalb lese ich hier ausgewählte Autobiographien als historische Quelle. An ihnen zeige ich auf, wie in diesen Texten Geschlecht hergestellt, verhandelt und zugewiesen wird. Mit der Zuschreibung von Geschlecht wird eine der bis heute fundamentalsten Differenzen in der Gesellschaft in jede der autobiographischen Selbstinszenierungen eingeflochten. Von daher untersuche ich Geschlechtszuschreibungen im Hinblick auf die für autobiographische Texte konstitutive Verbindung zwischen Selbst- und Geschichtsdeutung. Denn dieser Auto-Historiographie kommt eine zentrale Rolle für die Herstellung eines kommunikativ gesicherten Verständnisses von Person und Geschichte innerhalb einer konkreten Gesellschaft bzw. Kultur zu.5 Im Folgenden wird zunächst das Geschlecht der Autorinnen und Autoren von Autobiographien thematisiert (1), dann der Umgang mit Autobiographien als Quellen der Geschichtswissenschaft problematisiert (2), um anschließend nach der Form, den Strukturelementen, der Thematisierung und der Herstellung von Geschlecht in ausgewählten Autobiographien deutscher Liberaler der Jahrgänge 1872–1895 zu fragen (3). Zum Schluss werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede des doing gender in diesen Texten herausgearbeitet und analysiert, welche Bedeutung den Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen für die gesellschaftliche Ordnung und das eigene politische Handeln zugesprochen wird. 1. Das Geschlecht der Autoren und Autorinnen Die Kategorie Geschlecht wurde in der Geschichts- wie in der Literaturwissenschaft zunächst über die Suche und Untersuchung von Autobiographien aufgegriffen, die von Frauen geschrieben wurden. So hatte etwa die 10. Jahreskonferenz der Women in German Studies 1998 in Manchester das Thema Autobiography by Women in German. In der Literaturwissenschaft gibt es auf der einen Seite eine differenzierte Literatur zur Gattung Autobiographie, in deren Mittelpunkt Texte männlicher Autoren standen und stehen.6 Auf der anderen Seite findet sich inzwischen eine ebenso ausdifferenzierte biographien von Frauen. Einen dezidiert interdisziplinären Ansatz verfolgt Martina Wagner-Egelhaaf mit dem von ihr herausgegebenen Handbuch Autobiography/Autofiction. An International and Interdisciplinary Handbook, geplant für 2017 ff. 5  Diese These wurde in intensiver Zusammenarbeit in der interuniversitären und interdisziplinären Arbeitsgruppe Auto-Historiographie in transkultureller Perspektive 2011 und 2012 mit Catharina Dufft, Anne Fleig, Regula Forster, Inke Gunia, Ortrud Gutjahr, Gabriele Jancke, Anne Kwaschik, Martin Lücke, Ulrich Mücke, Claudia Ulbrich und Susanne Zepp erarbeitet, denen ich an dieser Stelle für den beflügelnden wissenschaftlichen Austausch danken möchte. 6  Wagner-Egelhaaf, Autobiographie. Holdenried, Autobiographie. Lehmann, Bekennen – Erzählen – Berichten. Niggl, Die Autobiographie.



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Literatur zu autobiographischen Texten von Frauen,7 die zum großen Teil erst entdeckt worden sind, nachdem die Definition von Autobiographie geöffnet und erweitert wurde. Frauen, so das Ergebnis langjähriger Forschungen, bevorzugten aufgrund ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen oft die kleine Form und bedienten sich häufig literarischer Mischformen, so dass ihre Texte gewöhnlich nicht in den Kanon der als Monographien publizierten Autobiographien aufgenommen wurden.8 Frauen schrieben autobiographische Texte nicht selten für ein überwiegend weibliches Publikum. Zudem wurden diese Texte sowohl in der Geschichtswissenschaft wie in der Literaturwissenschaft vorwiegend von Frauen untersucht.9 Diese geschlechterseparierte Forschungswelt ist über die Autobiographieforschung hinaus in den Geistes- und Sozialwissenschaften inzwischen breit dokumentiert.10 Die klassische literaturwissenschaftliche Definition der Autobiographie und ihre Charakterisierung als wichtig, vorbildhaft und wegweisend tragen trotz aller Versuche, diesen Kanon zu sprengen, weiterhin zur Marginalisierung von Texten weiblicher Autoren bei. Die entscheidende Dynamik für diesen Prozess ist in der Literaturwissenschaft mehrmals aufgezeigt worden: Wenn zwischen literarischer und randständiger Autobiographie unterschieden wird, so werden Autobiographien von Frauen weiter unter der Rubrik „autobiographisch[e] Werke von Randgruppen der Gesellschaft“ wie „Proletarier, […] Frauen, […] Neurotiker und Psychotiker […], Kriminell[e] und bestimmte großstädtische Outsidergruppen“ aufgelistet.11 Was versteht die Literaturwissenschaft bei gleichzeitig niemals fehlendem Hinweis auf die Confessiones von Augustinus, Les confessions von Rous7  Benstock, The Private Self. Heuser, Autobiographien von Frauen. Heuser, „Ich wünschte so gar gelehrt zu werden“. Holdenried, Geschriebenes Leben. Sagarra, Quellenbibliographie. Zu den Autobiographien im 21. Jahrhundert: Smith/Watson, New Genres, New Subjects. 8  Exemplarisch: Holdenried, Einleitung, bes. S. 9 f. Vgl. auch Niethammer, Autobiographien von Frauen im 18. Jahrhundert, S. 17–34. Wedel, Autobiographien von Frauen, S. VII-VIII. 9  Wie prägend die Kategorie Geschlecht auch für den heutigen Wissenschaftsbetrieb noch ist, kann man nicht zuletzt daraus ersehen, dass die Erforschung der In- und Exklusionen entlang der Geschlechterlinien, soweit sie in den männlich dominierten Wissenschaften vorgenommen wird, gewöhnlich Wissenschaftlerinnen zugewiesen wird, auch wenn diese keine Frauen- und Geschlechterforschung betreiben, sondern andere Forschungsschwerpunkte haben. 10  Hahn, Frauen in den Kulturwissenschaften. Wobbe, Wahlverwandtschaften. Wobbe, Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Vogt, Vom Hintereingang zum Hauptportal. Auga u. a., Das Geschlecht der Wissenschaften. Harders, American Studies. 11  Holdenried, Autobiographie, S.  223  f. unter Einbeziehung eines Zitats von Hoffmann, S. 495.

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seau und Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit folglich unter Autobiographien? Texte, die sich in der von der Literaturwissenschaft erarbeiteten Gattungsgeschichte auf diese Tradition zurückführen lassen. Die Konstruktion dieser Tradition ist ein interessanter Teil der Wissenschaftsgeschichte und erweist sich als langlebiges Erfolgsmodell. Autobiographinnen orientieren sich zwar oft an diesen klassischen Autobiographien – was vielfach nachgewiesen wurde –,12 ihre Texte werden jedoch nicht in den Kanon aufgenommen, selbst wenn sie mit literarischem Anspruch verfasst worden sind und die Autorinnen durchaus über literarische Erfahrungen verfügen. Wenn diese autobiographischen Schriften in Überblicksdarstellungen zur Gattung Autobiographie überhaupt integriert werden, dann nur am Rande, denn die Entwicklung der Autobiographie in der Moderne wird immer noch an Texten von männlichen Autoren erarbeitet. Hier wäre es aus Sicht der Historikerin weiterführend, wenn Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler nicht nur über eine Erweiterung der Definition von Autobiographie nachdächten, sondern auch die Geschichte der Autobiographie und die dieser zugrunde liegenden Textauswahl einer kritischen Revision unterziehen würden. Dabei scheint mir vielversprechend, in der Theorie der Autobiographie die Grenzziehung zwischen literarischer Autobiographie und dokumentarischer Autobiographie einer kritischen Neubewertung zu unterziehen – und damit einer Forderung nachzukommen, die Philippe Lejeune bereits 1980 gestellt hat.13 Denn die alten Grenzen werden in den Darstellungen zur Geschichte und Theorie der Autobiographie bei der Konzentration auf die literarische Autobiographie durch diesen immer wieder aufgerufenen Kanon von Texten weiter festgeschrieben. Um Autobiographie neu denken zu können, schlug Jeremy D. Popkin 2005 vor, die Autobiographie neben der Geschichtsschreibung und der fiktiven Literatur als eine dritte, eigenständige Textform zu behandeln und zu definieren.14 Noch vielversprechender wäre es aus meiner Sicht, die Kanonbildung zu hinterfragen und mit autobiographischen Texten noch quellenkritischer umzugehen. 2. Zum Umgang mit autobiographischen Texten in der Geschichtswissenschaft In der Geschichtswissenschaft wurden die meisten autobiographischen Texte lange Zeit als subjektive Quellen von geringerem Wert angesehen.15 Im Hintergrund steht hierbei nicht nur die Konkurrenz in Sachen Deutungs12  Holdenried,

Autobiographie, S. 83. Je est un autre, S. 8–9, 277. 14  Popkin, History, Historians, and Autobiography, S. 56. 15  Depkat, Zum Stand, S. 170. 13  Lejeune,



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hoheit zwischen geschichtswissenschaftlichen Darstellungen und Autobio­ graphien,16 sondern auch die Entwicklung der sich etablierenden universitären Geschichtsschreibung, die alle anderen Formen der Geschichtsschreibung abwertete. Die hohe Bedeutung von Fakten, von Archivarbeiten und die Geschichte der politischen Eliten, die bis heute die wissenschaftliche Geschichtsschreibung prägt, hat nicht nur Standards gesetzt, sondern eben auch konkurrierende Modelle der Geschichtsschreibung an den Rand gedrängt.17 Angelika Epple hat für das deutsche Beispiel in ihrer Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen der Aufklärung und dem Historismus detailliert gezeigt, wie sich in dieser Zeit die Geschichtswissenschaft entwickelte und dabei eine Form der Geschichtsschreibung konsequent ausgrenzte, die Epple als „empfindsame Geschichtsschreibung“ (und Bonnie G. Smith als „amateurish“18) bezeichnet.19 Bestimmten Materialien, Methoden und Textformen wird mit dieser strikten Unterscheidung und Hierarchisierung zwischen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung und der Geschichtsschreibung von Amateuren die Relevanz und Bedeutung abgesprochen. Der Quellenwert von autobiographischen Texten wird so generell in Frage gestellt bzw. diesen Texten wird von Historikern ein geringerer Quellenwert zugesprochen.20 Diese Texte wurden gleichsam feminisiert. Da Frauen in Deutschland bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zum Studium an Universitäten zugelassen wurden und erst 1918 das Wahlrecht erhielten, waren sie sowohl als Historikerinnen im akademischen Betrieb sowie als Politikerinnen in den Parlamenten und Regierungen bis vor 100 Jahren ausgeschlossen. Autobiographische Texte von Frauen unterliegen seit der Entstehung der professionellen Geschichtsschreibung folglich einer doppelten Marginalisierung: Sie gelten als Quellen von geringerem Wert, die in diesem Fall auch noch von Akteurinnen verfasst wurden, denen im politischen Raum wenig oder gar keine Bedeutung zugesprochen wird. Auch wenn seit dem 19. Jahrhundert Autobiographien bekannter und bedeutender Männer als „universalhistorische Abformung der Geschichte des 16  Depkat,

Zum Stand, S. 170. The Gender of History, S. 12–13. Vgl. dazu auch die beiden Einleitungen in: Baumgart, Das Zeitalter des Imperialismus und des Ersten Weltkrieges, Teil 1, S. 1–4, bes. S. 1. Baumgart, Das Zeitalter des Imperialismus und des Ersten Weltkrieges, Teil 2, S. 1–4. Hier erklärt Baumgart, Autobiographien wären „mehr für die Literaturgeschichte als für die politische Geschichte von Bedeutung“ (Teil 2, S. 1). 18  Smith, The Gender of History, S. 6–7. 19  Epple, Empfindsame Geschichtsschreibung. 20  Hülya Adak spricht z. B. von der „Fetischisierung von Archivalien“, mit deren Hilfe die autobiographischen Quellen der Armenier aus der türkischen Nationalgeschichtsschreibung ausgeblendet werden. Adak, Identifying the „Internal Rumors“ of World War I, bes. S. 154–157. 17  Smith,

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menschlichen (d. h. bürgerlichen) Geistes“,21 als Spiegelbild und Konzentrat für die Geschichte der jeweiligen Zeit gelesen und ausgiebig als Quelle für die Geschichtswissenschaft genutzt wurden: Diese autobiographischen Texte wurden weitgehend unreflektiert – wie auch amtliche Akten – zu objektiven Quellen aufgewertet, indem etwa Politikern, Feldherren und erfolgreichen Unternehmern zugeschrieben wurde, Geschichte zu machen oder dem Leben dieser Männer Exemplum-Funktion zugewiesen wurde. Die Seriosität, Autorität und Authentizität sowie der Dokumentationscharakter der Texte wurde von den Autoren gerade dadurch unterstrichen, dass sie literarische Ambitionen in der Regel weit von sich wiesen.22 Damit wurden diese autobiographischen Texte zu objektivem Insiderwissen aufgewertet, die die archivalische Überlieferung nicht nur ergänzten, sondern eine gültige Interpretation für die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Entwicklungen lieferten, an denen die Autoren beteiligt waren. Die autobiographischen Schriften großer Männer bilden in der Geschichtswissenschaft folglich eine eigene Kategorie neben den allgemeinen subjektiven autobiographischen Quellen und werden genutzt, um Aussagen über Ereignisse, Strukturen und Entwicklungen in der Geschichte glaubhaft zu belegen. Besonders deutlich wird das in Überblicksdarstellungen ohne geschlechtergeschichtlichen Schwerpunkt und in einzelnen Forschungsfeldern, wie etwa in der alten, aber auch in der neuen Politikgeschichte zum 19. und 20. Jahrhundert.23 Die Frage, wie diese Quellen entstanden, in welcher Situation, mit welcher Intention und in welchem Umfeld sie verfasst wurden, wie und von wem sie ausgewählt, bewahrt und weitergegeben wurden, ist bis vor kurzem erstaunlich wenig reflektiert worden.24 Die Frage, an welchen autobiographischen Texten sich die Autorinnen und Autoren orientierten, wird von Historikern auf dem Feld der Neuesten Geschichte noch zu selten gestellt. Das ist bedauerlich, da autobiographische Texte von den Autorinnen und Autoren oft im Hinblick auf die Verwertung durch Biographen verfasst werden, und Historiker beim Schreiben von Biographien oder anderer geschichtswissenschaftlicher Texte ihre biographischen Abrisse in der Regel nach dem Muster der Autobiographie gestalten, wobei die Erzählung gewöhnlich bis zum Tod der jeweiligen Personen 21  Holdenried,

Autobiographie, S. 16. Siemens, Lebenserinnerungen. Er schreibt in der Einleitung zu seinen Lebenserinnerungen: „Ich werde nicht viel Mühe auf die Form der Darstellung verwenden, sondern meine Erinnerungen niederschreiben, wie sie mir in den Sinn kommen.“ (S. 2). Das hinderte Siemens nicht, seine Lebenserinnerungen nach der Einleitung folgendermaßen beginnen zu lassen: „Meine früheste Jugenderinnerung ist eine kleine Heldenthat[…]“ (S. 3). 23  Schaser, Erinnerungskartell. 24  Vgl. dazu nochmals jüngst Etzemüller, Biographien, S. 87. 22  Exemplarisch



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weiter geführt wird.25 In welchem Maße Autobiographien und autobiographische Texte biographische Darstellungen in Lexika, (geschichts)wissenschaftlichen Darstellungen und in Biographien dominieren, ist oft nicht mehr erkennbar. Besonders deutlich wird dieses Manko in deutschen biographischen Nachschlagewerken, die nach 1945 aufgelegt wurden, und in denen häufig die Jahre 1933 bis 1945 auffallend kurz behandelt oder ganz ausgespart blieben.26 In neueren kulturgeschichtlichen Arbeiten wird nun nach den Funktionen von Autobiographien gefragt und autobiographisches Schreiben als soziale und kulturelle Praxis gedeutet, die in spezifischen sozialen, kulturellen und politischen Kontexten verankert ist.27 Inzwischen wird dieser Ansatz auch in der Neuesten Geschichte verfolgt.28 Dabei fokussieren die Arbeiten zur modernen Geschichte, die die Verwendung dieser Texte nun kritisch diskutieren und den Mehrwert von autobiographischen Texten für die Geschichtsschreibung entdeckt haben, in der Regel auf Texte von Männern, ohne Geschlecht als relationale Analyse-Kategorie zu nutzen.29 3. Autobiographien deutscher Liberaler der Jahrgänge 1872–1895 Bei einer ersten publizierten Untersuchung von autobiographischen Schriften deutscher Liberaler hatte ich vor zehn Jahren den Fokus auf die Erinnerungsgemeinschaft der Liberalen in der Bundesrepublik gerichtet.30 In diesem Aufsatz soll nun die Frage nach der Rolle und dem Stellenwert von Geschlecht im Mittelpunkt stehen. Ausgewertet wurden Autobiographien deutscher Liberaler der Jahrgänge 1872–1895, die in der Weimarer Republik der 25  Smith/Watson, Reading Autobiography, S. 5–9, erwähnen zwar, dass es Mischformen gibt, arbeiten in ihrem Buch aber gerade die Unterschiede zwischen life writing und biography heraus. 26  Schaser, Erinnerungskartell, bes. S. 73, Anm. 94. 27  Vgl. die Arbeiten der DFG-Forschergruppe 530 Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive. http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/fg530/publikationen/index. html [Zugriff 28.4.2013]. 28  Günther, „And now for something completely different“. Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. Depkat, Zum Stand. Vgl. dazu auch den neuen, nach der Fertigstellung dieses Aufsatzes erschienenen Forschungsbericht Depkat, Autobiographie und Biographie. 29  Vgl. dazu etwa Brechtken, Life Writing and Political Memoir. Darin ein Text von Dominik Geppert über Margaret Thatchers Erinnerungen, in dem das Geschlecht der Politikerin kaum eine Rolle spielt (Geppert, Margareth Thatchers Erinnerungen). Lediglich in einem Artikel dieses Sammelbandes wird das Gendering der autobiographischen Texte gefordert (Sayner, Gendering the Memoirist). 30  Schaser, Erinnerungskartell.

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DDP angehörten bzw. ihr nahe standen,31 heute aber in der Erinnerung des deutschen Liberalismus eine weniger prominente Rolle spielen. Wie und in welcher Form wurde Geschlecht in diesen autobiographischen Texten Liberaler thematisiert und zugewiesen, welche Eigenschaften wurden in den Texten als weibliche und welche als männliche benannt? Alle thematisierten das Jahr 1933 und die nationalsozialistische Zeit als einschneidende Zäsur in ihren Büchern. Über diese Gemeinsamkeit hinaus stellen sich die Publikationen als jeweils sehr spezifische Texte dar, die in unterschiedlichen Lebens- und Schreibsituationen verfasst, unterschiedlich gestaltet und in verschiedenen historischen und politischen Kontexten publiziert wurden. So veröffentlichte Gertrud Bäumer (1873–1954) ihren Lebensweg bereits 1933, Alice Salomon (1872–1948), die nach eigenen Angaben ebenfalls 1933 mit dem Schreiben ihrer Autobiographie begonnen hatte, konnte dagegen bis zu ihrem Tod 1948 im New Yorker Exil keinen Verlag dafür finden. Dorothee von Velsen (1883– 1970) und Else Ulich-Beil (1886–1965) legten ihre Autobiographien in der Bundesrepublik 1956 und 1961 vor. Marie-Elisabeth Lüders (1878–1966) veröffentlichte 1963 ihre Autobiographie, Ernst Lemmer (1898–1970) publizierte seine Erinnerungen 1968. Werner Stephan (1895–1984) legte als letzter 1983 seine Autobiographie vor. Der Text von Alice Salomon wurde erst nach ihrem Tod 1983 auf Deutsch und 2004 auf Englisch herausgegeben. a) Charakterisierung der Autobiographinnen, der Autobiographen und der Autobiographien Alle Autorinnen und Autoren waren mindestens 60 Jahre alt, als ihre Autobiographien erschienen. Bis auf Salomon, die 1937 in die Emigration gezwungen wurde, lebten und starben sie in Deutschland. Alle präsentieren ihr Leben aus der Retrospektive als ein Kontinuum über die politischen Zäsuren der deutschen Geschichte hinweg. Nur Stephan bezeichnete sich bereits im Titel als Liberaler. Auch die anderen thematisierten ihre Zugehörigkeit zum Liberalismus. Weitere Zugehörigkeiten, wie die zur deutschen Nation, zum Bürgertum, zur intellektuellen Elite, zur Frontgeneration, zu Studentenverbindungen, zur Frauenbewegung, zu internationalen Organisationen, zu bestimmten Berufs- und Religionsgruppen etc. werden in unterschiedlicher Länge und Intensität ebenso angesprochen wie regionale Zugehörigkeiten und die Zugehörigkeit zur Herkunftsfamilie oder zu Wahlfamilien. Alle ent31  Ausgewertet werden in erster Linie (nach Erscheinungsjahren geordnet): Bäumer, Lebensweg durch eine Zeitenwende. Velsen, Im Alter die Fülle. Ulich-Beil, Ich ging meinen Weg. Lüders, Fürchte Dich nicht. Lemmer, Manches war doch anders. Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland. Salomon, Charakter ist Schicksal. Salomon, Character is Destiny (beide posthum erschienen).



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schieden sich zum einen für die klassische Form der Autobiographie, indem sie ihre Erzählungen mit ihrer Geburt bzw. der Geschichte ihrer Herkunftsfamilie beginnen lassen, die Entwicklung ihrer Person über die Kindheitsund Jugendjahre bis zum Berufseintritt und die ausgeübten beruflichen Tätigkeiten schildern, und zum anderen die Entwicklung ihrer Persönlichkeit mit der politischen Entwicklung Deutschlands vom Kaiserreich bis 1933 bzw. bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung setzen. Männer wie Frauen gaben ihrem Leben Sinn, indem sie ihr persönliches Leben mit der Geschichte ihres Landes verflochten und ihren Anteil an dieser Entwicklung herausstrichen bzw. für die Zeit des Nationalsozialismus den Verlust ihres Einflusses betonten. Alle setzten in ihren Texten Autor / in und Erzähler / in sowie Erzähler / in und Protagonisten bzw. Protagonistin gleich und schilderten dabei das Zeitgeschehen. Und alle setzten Zitate ein, um die Darstellung lebendiger wirken zu lassen, die Authentizität ihrer Aussagen zu unterstreichen oder die Nähe zu einflussreichen Personen zu betonen.32 Frauen wie Männer präsentieren sich als eigenständige Person und in ihren verschiedenen Zugehörigkeiten.33 Alle Bücher waren als Selbstbiographien angelegt und deuteten die politische Entwicklung. In dieser Doppelfunktion wurden sie auch von der Leserschaft rezipiert.34 Bäumer und von Velsen wählten sprechende Obertitel aus und verbanden ihren Lebensbericht mit literarischen Ambitionen. Lüders und Stephan wiesen bereits im Titel auf ihr langes Leben und die verschiedenen politischen Systeme hin, die sie erlebt hatten. Bäumer nannte als Motiv für das Verfassen ihres Buches, dass es „Vergegenwärtigung, Selbstbesinnung, Rechenschaft sein und – in einer schweren Krisis – Richtung nehmen sollte für den künftigen Weg.“35 Lemmer betonte in seinem Nachwort, dass er von „Freunden in Berlin und Bonn“ gedrängt worden sei, einen Lebensbericht zu verfassen. Er wollte „den Leser von heute ansprechen und ihm die Motive [… seines] Handelns“ darlegen sowie ein „aufrichtiges Buch“ schreiben.36 „Mir war mehr daran gelegen, ein lesbares Buch für ein politisch interessiertes Publikum zu schaffen, als ein umfassendes historisches Quellenwerk.“37 Lüders wollte mit 32  Martina Wagner-Egelhaaf hat zu der Abgrenzung von Memoiren und Autobiographie auch die „unterschiedliche Funktion des Zitats“ in Memoiren und Autobiographien herangezogen. In der Autobiographie diene es der „Verlebendigung des Dargestellten“, in den Memoiren „erhalte ein Zitat […] eher (unlebendigen) dokumentarischen Charakter“ (Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 56). Auch in dieser Hinsicht zeigen die Autobiographien der Liberalen ihren Mischcharakter. 33  Friedman, Women’s Autobiographical Selves, S. 40. 34  So etwa in Heuss-Knapp, Rez. Gertrud Bäumer. 35  Bäumer, Lebensweg durch eine Zeitenwende, S. 445. 36  Lemmer, Manches war doch anders, S. 390 f. 37  Lemmer, Manches war doch anders, S. 390.

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ihrem Buch nicht nur „Rechenschaft“ ablegen, sondern auch darüber berichten, „was die höchste Kraft mich tun oder auch nur versuchen ließ. […] Die Länge und Breite unseres Weges ist vorgezeichnet. Täglich legen wir mit unserem Tun ein Stück dieses Weges zurück, der ausgelöscht werden wird, wenn das ‚Ich‘ sich erfüllt hat und endlich in das große unergründliche Wunder wieder eingeht, aus dem es kam und niemals wiederkehrt.“38 Ulich-Beil, von Velsen, Stephan und Salomon nannten in ihren Texten nicht explizit die Motive für das Schreiben ihrer Autobiographien. Deutlich wird in den Texten, dass Ulich-Beil, von Velsen und Salomon ihr Lebenswerk und ihre beruflichen Erfolge in Erinnerung rufen wollten, da sie durch die nach 1933 erfolgte Entlassung (Ulich-Beil) bzw. nach Aufgabe politischer Ämter (von Velsen), zunehmender Isolation und erzwungener Emigration (Salomon) in der deutschen Öffentlichkeit bereits in Vergessenheit gerieten. Bei Stephan werden apologetische Züge zur Erklärung seiner fortgesetzten amtlichen Tätigkeit während der NS-Zeit sowie sein Bemühen deutlich, Theodor Heuss (und damit sich selbst) ein Denkmal zu setzen: „Seit der ersten Begegnung 1920 auf dem Nürnberger Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei sah ich in Theodor Heuss meinen Mentor. Daß ich in den zwölf Jahren des Hitlerregimes gelegentlich der Gebende sein konnte, war meine Freude.“39 b) Die Herstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit im Handlungsfeld Politik Am augenfälligsten ist in den Texten die Zuweisung bestimmter Handlungsfelder in der Politik an Männer und Frauen und die Aufwertung poli­ tischer Tätigkeiten durch die Verbindung mit bekannten, männlichen ­Poli­tikern. Herausgestellt wird der politische Einfluss auf nationaler oder internationaler Ebene, wobei hier in erster Linie Regierungspolitik und Parteienpolitik auf Reichs- oder Länderebene behandelt werden. Bei den Autobiographien der Frauen erscheint ein weiteres Politikfeld: die Arbeit in den Organisationen der nationalen und internationalen Frauenbewegung und die Verweise auf deren bekannteste Vertreterinnen. So schildert Gertrud Bäumer 1933 in ihrem Buch Lebensweg durch eine Zeitenwende40 ihre persönliche und berufliche Entwicklung und ging hart mit der Weimarer Republik ins Gericht.41 In der in ihren Augen damals noch ungeklärten beruflichen Situation thematisiert Bäumer im letzten Kapitel nicht die erfolgte Entlassung 38  Lüders,

Fürchte Dich nicht, S. 9. Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland, S. 321. 40  Das 447 Seiten lange Buch ist in 17 Kapitel unterteilt und enthält keine Abbildungen und Register. 41  Ausführlicher dazu: Schaser, Helene Lange, S. 306 ff. 39  Stephan,



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durch die Nationalsozialisten, sondern kehrt im „Nachruf“ an das Sterbebett Helene Langes und in das Jahr 1930 zurück, um sich in die Nachfolge Langes einzuschreiben und die Generationenkette der Frauenbewegung zu beschwören: „Noch ist die Feuersäule, die dem Aufbruch der Frauen aus der Wüste des technischen Zeitalters voranleuchtete, nicht stehen geblieben, so daß sie nur ein Stück übersehbarer Vergangenheit erhellte – sie bewegt sich weiter und wir werden ihr in alter Zuversicht folgen.“42 So wie Bäumer sich hier über die Beziehung zu Lange in die Geschichte der Frauenbewegung einschreibt und durch die Anspielung auf ein Bibelzitat auf das Christentum bezieht, stellt sie sich ins Zentrum des Liberalismus, indem sie ihre enge Beziehung zu Friedrich Naumann während des Ersten Weltkriegs in dem Kapitel „Das große Schicksal“ betont. Um die Nähe zu Naumann zu belegen, integriert sie in ihren Text wörtliche Passagen aus der von Naumann an sie gerichteten Korrespondenz, die von der Intimität und Vertrautheit dieser Beziehung zeugen sollen.43 Trotz aller Kritik am politischen System der Weimarer Republik unterstrich Bäumer ihren parteipolitischen Einfluss und ihre Leistungen im Reichsministerium des Innern, indem sie für sich beansprucht, mit Naumann die nationalsoziale Bewegung und die DDP geprägt, die Grundlagen für die Vereinheitlichung des Schulwesens gelegt und die Jugendwohlfahrt neu gestaltet zu haben.44 Für diesen Bereich wird von ihr Geschlecht keine Bedeutung zugemessen, während im Nachwort deutlich wird, dass von ihr angesichts des Machtantritts der Nationalsozialisten nun „den Frauen“ die Aufgabe zugewiesen wird, die Gesellschaft aus der (von Männern zu verantwortenden) „technischen Wüste“ herauszuführen. Alice Salomon, die ihre 1983 posthum veröffentlichten Aufzeichnungen zwischen 1933 und 1944 angefertigt haben dürfte,45 räumte als Emigrantin dem Nationalsozialismus breiten Raum ein und thematisierte neben ihrem Werdegang und ihrem Lebenswerk den Aufstieg des Nationalsozialismus, ihre Verdrängung aus dem beruflichen und sozialen Leben und schließlich ihre erzwungene Emigration.46 Sie betonte für die Jahre 1917–1919 ihre 42  Bäumer,

Lebensweg durch eine Zeitenwende, S. 447. ersten zitierten Brief wählte Naumann für Bäumer demnach 1914 die Anrede: „Lieber Freund und Weggenosse“ (Bäumer, Lebensweg durch eine Zeitenwende, S. 251), 1913 soll er sie als „Verehrte liebe Weggenossin“ (ebd., S. 257), 1914: „Liebe Nahe und Entfernte“ (ebd., S. 260) und 1915: „Verehrter lieber Freund“ (ebd., S. 297) angesprochen haben. Die Originale dieser Briefe sind nicht erhalten. 44  Bäumer, Lebensweg durch eine Zeitenwende, S. 418–427. 45  1944 suchte sie für das englische Manuskript in den USA einen Verleger. Zur Geschichte des Manuskripts vgl. Wieler, Nachwort, S. 332, 336–339. 46  Neben einem Vorwort und einem Nachwort enthält das Buch 26 Abbildungen – darunter drei Porträts von Alice Salomon. Salomon, Charakter, S. 48 (um 1899), 115 (ca. 1908), 211 (um 1925) –, die von den Herausgebern ebenso wie einige erläuternde Fußnoten hinzugefügt worden sind. 43  Im

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leitende Stellung und ihren Stab von bis zu 70 Mitarbeiterinnen im Kriegs­ amt.47 Wenn sich Salomon auch wie die anderen Autorinnen als moderne Frau und berufliche Pionierin verstand, so setzte sie sich wie die anderen Autobiographinnen mit dem etablierten hierarchischen Geschlechtermodell auseinander, indem sie auf die Erwartungshaltung gegenüber Frauen Bezug nahm und ihre Weiblichkeit in Abgrenzung zu männlichen Verhaltensweisen in der Regel als positive, innovative, zum Teil aber auch als nicht durchsetzungsfähige Varianten politischen und beruflichen Agierens darstellte. Salomon stellte z. B. heraus, dass sie sich bereits 1918 dafür entschieden hätte, sich nicht für den Reichstag als Kandidatin für die DDP aufstellen zu lassen. Sie wollte ihre Schule nicht aufgeben, „vor allem aber wußte ich, daß ich für den Parteienkampf nicht gerüstet war.“48 Wie Dorothee von Velsen, Else Ulich-Beil und Marie Baum49 wies sie in ihrer Autobiographie darauf hin, dass sie sich bereits vor 1933 gegen ein herausgehobenes politisches Amt entschieden hatte. Im folgenden Kapitel beinhaltete schon die Überschrift „Vierzehn Jahre Demokratie“ einen Hinweis auf die kurze Spanne der Weimarer Republik.50 In jedem der drei Unterkapitel wird der Hinweis auf das baldige Ende der Demokratie wiederholt.51 Was der Nationalsozialismus für die Frauenbewegung bedeutete, zeigt die Kapitelüberschrift „Die moderne Frau tritt ab“.52 Frauen hatten laut Salomon in einem Deutschland, „das ‚total‘ von Männern beherrscht wurde“, keinen Einfluss mehr. Auch wenn sie an anderer Stelle nicht nur Männer für den Aufstieg Hitlers verantwortlich machte, so blieb „in unserer modernen Welt die Humanisierung eine Aufgabe der Frau“.53 47  Salomon,

Charakter, S. 157. Charakter, S. 171. 49  „In der Atmosphäre des Parlaments – nach dem Abschluss der Nationalversammlung gehörte ich dem Reichstag noch ein und ein halbes Jahr an – berührten mich die bis zur Rohheit im Ausdruck, ja bis zu Tätlichkeiten gesteigerten Entladungen politischer Leidenschaften abstoßend.“ Baum, Rückblick auf mein Lebens, S. 225. 50  Sie unterteilte dieses Kapitel in „I. Jahre des Chaos 1919–1924“ (Salomon, Charakter, S. 168–183), „II. Meine auswärtigen Angelegenheiten, 1920–1933“ (ebd., S. 184–204) und „III. Sozialer Wiederaufbau 1924–1929“ (ebd., S. 205–225). 51  „Die Periode der Intrigen und Verschwörungen begann. Es war der Anfang vom Ende“ (Salomon, Charakter, S. 183). „In diesen Jahren hatte das Gift sich in Deutschland ausgebreitet und Hitler hatte die Macht ergriffen“ (ebd., S. 204). „Die Demokratie wurde besiegt von Männern und Frauen, die Hitler abnahmen, was sie für Sicherheit hielten […] Dies war das unrühmliche Ende der Deutschen Republik“ (ebd., S. 225). 52  Salomon, Charakter, S. 258. 53  Salomon, Charakter, S. 270. 48  Salomon,



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Dorothee von Velsen knüpfte in ihrem Buch Im Alter die Fülle. Er­inne­ rungen54 an die schriftstellerischen Ambitionen Gertrud Bäumers an. Ihre Erinnerungen erheben literarischen Anspruch und verweisen immer wieder auf die Vorbildrolle von Helene Lange, Gertrud Bäumer und weiteren führenden Frauen der alten Frauenbewegung. Sie, die sich als einzige von dem Umbruch 1933 überrascht zeigte, ging ausführlich auf die NS-Zeit ein, in der sie die innen- und außenpolitische Entwicklung mit ihren persönlichen Erfahrungen in Bayern verband, wo sie sich nach 1933 niederließ.55 Von Velsen schildert ihre parteipolitische Arbeit für die DDP relativ kurz (sie leitete von 1919 bis 1925 die Geschäftsstelle der DDP in Berlin) und betont, dass sie aus mehreren Gründen keinen Ehrgeiz entwickelt hatte, auf diesem Gebiet zu reüssieren.56 Im Rückblick sieht sie ihre Ausflüge in die männerdominierte Parteienpolitik als eine ihr wesensfremde Unternehmung an und konzentriert sich in ihrem Text seit Mitte der 1920er Jahre ganz auf die Frauenbewegung, die Wissenschaft und die Schriftstellerei. Else Ulich-Beil schilderte in ihrer Publikation Ich ging meinen Weg. ­Lebenserinnerungen57 1961 ihren beruflichen Werdegang vor 1933 und nach 1945 ausführlich, während der Zeit des Nationalsozialismus in der Mitte des Buches nur wenige Seiten eingeräumt wurden. Als DDP-Politikerin gab sie 1929 laut ihrer Darstellung ihr Landtagsmandat auf, übernahm die Leitung der Wohlfahrtsschule in Hellerau und verlagerte den Schwerpunkt ihrer politischen Tätigkeiten in verschiedene Organisationen der Frauenbewegung. Als Grund für diese Veränderung führt sie nicht den Niedergang der DDP bzw. DStP am Ende der Weimarer Republik an, sondern schreibt: „In den [politischen] Versammlungen erlebte ich viele Schlägereien, und jedesmal war ich zutiefst angewidert und fühlte, daß wir Frauen in der Politik nichts zu suchen hatten, wenn sie solche Formen annahm. Unsere Mitwirkung konnte nur in der geistigen und seelischen Er54  Das 388 Seiten lange Buch ist in 20 Kapitel eingeteilt, enthält ein Personenregister und keine Abbildungen. 55  Velsen, S. 322. Vgl. zu Dorothee von Velsen: Schaser, Helene Lange. Wedel, Weltoffen und unbekannt. Wolff, Velsen. 56  Velsen, Im Alter die Fülle, S. 237 f. 57  Vor dem Titelblatt ist eine Bildtafel eingebunden, auf deren Vorderseite die Totenmaske ihres Sohnes Eckart Ulich (1923–1943) und auf der Rückseite ein undatiertes Porträt von Else Ulich-Beil mit ihrer Unterschrift zu sehen ist. Der Band wird mit einem bis dahin unveröffentlichten Gedicht von Reinhold Schneider eröffnet und auf der letzten Seite mit dem Text „Der Knabe und die Orgel“ von Eckart Ulich abgeschlossen, den er seiner Mutter für seine Freundin anvertraute, bevor er 1942 seinen Heeresdienst antrat und im August 1942 in Afrika schwer verwundet wurde. An den Folgen dieser Verletzungen starb er nach Ostern 1943 in München (Ulich-Beil, Ich ging meinen Weg, S. 151–154). Das Buch ist 280 Seiten stark, enthält 28 Kapitel und hat kein Register.

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kämpfung und Behauptung politischer Macht liegen; sie endete dort, wo die rohe Gewalt anfing.“58 Politik wird hier als ein männlicher, von Gewalt geprägter Bereich definiert. Gewalt, so kann man weiter folgern, wurde von Ulich-Beil persönlich abgelehnt, da sie in ihr ein von Frauen nicht akzeptiertes Mittel sah. Marie-Elisabeth Lüders veröffentlichte nach Abschluss ihrer Karriere als FDP-Politikerin in der Bundesrepublik Deutschland im Alter von 85 Jahren „Persönliches und Politisches“ im Jahr 1963. Ihr Buch präsentiert sich als eine Collage aus autobiographischen Abschnitten und offiziellen Dokumenten aus ihrem Berufsleben, das reich bebildert,59 mit einem Anhang60 und einem umfangreichen Personenregister versehen ist. Lüders wählte ihren Konfirmationsspruch „Fürchte Dich nicht“ als Titel: „Diese Worte haben mich zeitlebens begleitet und mir in vielen schweren persönlichen und beruflichen Lagen eine große innere Zuversicht gegeben.“61 Das chronologisch gegliederte Buch gleicht einem politischen Testament. Ihre Beziehungen zum Liberalismus lässt sie nicht nur im liberalen Elternhaus beginnen, sondern unterstreicht sie mit einem kurzen Zusammentreffen ihres Vaters mit Friedrich III., bei dem sie 1888 als Kind in Berlin dabei gewesen sein will.62 Für diejenigen Leser, die mit dem Hoffnungsträger des Liberalismus in den 1960er Jahren vielleicht nicht mehr ganz so vertraut waren, setzt Lüders hinzu: „Die menschliche Tragik des Todes Friedrichs III. empfand das ganze Volk. Viele hatten auch auf den liberalen Geist, der ihn bewegte, im politischen Leben gehofft.“63 Lüders, die als eine der wenigen ersten 58  Ulich-Beil,

Ich ging meinen Weg, S. 134 f. Bilder mit den unterschiedlichsten Motiven (darunter Porträts von Lüders aus dem Jahr 1932 (Nr. 16) und aus dem Jahr 1963 (Nr. 32) sowie ein Porträt von Helene Lange (Nr. 14) und eines von Agnes von Zahn-Harnack (Nr. 17). 60  Der Anhang enthält Daten zum Lebenslauf von Lüders sowie Auszüge aus öffentlichen Reden, Briefen und Dokumenten. Die Daten beziehen sich vornehmlich auf den Bildungsgang, die beruflichen Stationen sowie die erhaltenen Auszeichnungen und Ehrungen. Die Geburt/das Geburtsjahr des (unehelichen) Sohnes wird dort nicht aufgeführt. Die beruflichen Tätigkeiten im Ersten Weltkrieg werden auf soziale und pädagogische Aufgaben reduziert (Lüders arbeitete 1916 im General-Gouvernement Belgien und war von 1916 bis 1918 Leiterin der Frauenabteilung im Kriegsministerium, in der die Aktivitäten des Nationalen Frauendienstes deutschlandweit koordiniert wurden). Für die Zeit des Zweiten Weltkrieges konzentriert sich Lüders in ihrem Text unter dem Titel „Unter der Herrschaft des Bösen“ auf Redeund Schreibverbote, Hausdurchsuchungen und Verhaftung und stilisiert sich zur liberalen Widerstandskämpferin, die (im Gegensatz zu ihren Parteigenossen) bereits in der Weimarer Republik vor Hitler gewarnt hätte. Die Dokumentensammlung beginnt mit einem Nachruf von Lüders auf Helene Lange aus dem Jahr 1930. 61  Lüders, Fürchte Dich nicht, S. 39. 62  Lüders, Fürchte Dich nicht, S. 15 f. 63  Lüders, Fürchte Dich nicht, S. 16. 59  34



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Berufspolitikerinnen der Weimarer Republik ihre politische Karriere in der Bundesrepublik fortsetzen konnte, schrieb sich in die Geschichte des Liberalismus gegen die von Theodor Heuss initiierten Darstellungen ein.64 Im Kapitel „Unter der Herrschaft des Bösen“ dämonisierte sie die Zeit des Nationalsozialismus, stellte ihre Verfolgungen, ihre Verhaftungen, die Not der Kriegsjahre und die Kontakte zu der Gruppe des 20. Juli 1944 heraus.65 Die ganze Autobiographie, inklusive der Daten und Anhänge, dient in erster Linie dazu, ihre Bedeutung für den deutschen Liberalismus und den deutschen Parlamentarismus herauszustellen. Im letzten Kapitel, das aus eineinhalb Druckseiten besteht, listet Lüders noch einmal unter dem Motto „Ultra posse nemo obligatur“ alle Auszeichnungen auf, die sie erhalten hat. Wenn auch Diskriminierungen und Hindernisse, die sich aus ihrem Geschlecht ergaben, immer wieder thematisiert werden, so stellt doch ihre Zugehörigkeit zum Liberalismus die Grundlinie ihrer Erzählung und antwortet auf das Erinnerungskartell des westdeutschen Liberalismus um Theodor Heuss, von dem Elisabeth Lüders verschwiegen und Gertrud Bäumer auf ihre Rolle als Frauenrechtlerin und Schriftstellerin reduziert wurde.66 Ernst Lemmer, der nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Mitbegründern der CDU gehörte, betitelte sein Buch Manches war doch anders. Erinnerungen eines deutschen Demokraten. Seine Männlichkeit stellt Lemmer dabei durch die Schilderung seiner Kriegserfahrungen, bestandener Mutproben mit korporierten Studenten und den Hinweis heraus, viele seiner politischen Gegner seien ihm „persönlich mit Respekt gegenübergestanden“.67 Auf den 16 Bildtafeln in seinem Buch ist er in Uniform als Kriegsfreiwilliger 1916 und auf einem Foto mit der Bildunterschrift „In der ArrasSchlacht, 1917“ zu sehen sowie in verschiedenen politisch brisanten Situationen.68 Er thematisiert die Zäsur 1933 und seine Zustimmung zum sogedazu in Schaser, Der Nationalsozialismus im Rückblick der Liberalen. Fürchte Dich nicht, S. 130–140, 142–149. 66  1953, zu ihrem 80. Geburtstag, gab Hermann Leins eine gekürzte Fassung unter dem Titel „Im Licht der Erinnerung“ heraus. Gertrud Bäumer war damals aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, Einfluss auf diese Veröffentlichung zu nehmen. Leins ließ das Büchlein 1901 mit dem 7. Kapitel des Lebensweg durch eine Zeitenwende um 1900 enden und unterschlug damit nicht nur Bäumers Aktivitäten in der Frauenbewegung, sondern auch ihre parteipolitische Karriere in der Weimarer Republik sowie ihre Promotion. Zur Begründung führt der Klappentext an: „Vor Jahren schrieb Gertrud Bäumer bereits einen Lebensbericht. Manches in dieser Autobiographie ist heute nur noch Stoff der historischen Forschung. Er wurde in dieser neuen Ausgabe beiseitegelassen und es entstand ein Erinnerungsband, in dem das Ewig-Menschliche ganz rein hervortritt.“ 67  Lemmer, Manches war doch anders, S. 81. 68  Auf den 20 Fotos wie auf dem Cover und der Rückseite des Buches ist überwiegend Lemmer selbst zu sehen, alleine oder mit bekannten Politikern wie Klaus 64  Näheres 65  Lüders,

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nannten Ermächtigungsgesetz. „Meine vier Kollegen von der Demokratischen Staatspartei und ich (wir nannten uns die ‚letzten fünf Mohikaner‘) neigten zunächst dazu, im Bunde mit den Sozialdemokraten das Ermächtigungsgesetz abzulehnen. Dies geht auch aus den Erinnerungen meines Freundes Theodor Heuss hervor“.69 Lemmer zitierte aus dem Schreiben, mit dem ihm im Juli 1933 sein Reichstagsmandat entzogen wurde, reflektierte über das Scheitern der Weimarer Republik, fügte ein kurzes Kapitel „Emigra­ tion – oder nicht?“ ein, dämonisierte Hitler und Goebbels, legte seine Nähe zum Widerstandskreis des 20. Juli 1944 dar und berichtete über seine Tätigkeiten als Korrespondent ausländischer Zeitungen sowie seine Auslandsreisen in der Zeit des Nationalsozialismus.70 Insgesamt urteilte er, dass in dieser Zeit „wir Liberalen überhaupt im großen und ganzen in Ruhe gelassen worden [sind]. Ich führte dies auf die totale Bedeutungslosigkeit zurück, zu der unsere Partei leider zum Schaden des deutschen Bürgertums abgesunken war.“71 Wie schon in den kurzen Schilderungen zu seinem Bildungsgang nennt Lemmer hier vor allem bekannte männliche Zeitgenossen. Auch er zeigt sich geprägt von Friedrich Naumanns „Gedankenwelt“ und führt aus, dass „dessen Ideen vor allem in seinem hervorragenden Schüler Heuss weiterlebten.“72 Frauen erwähnt Lemmer kaum. Selbst im Privatbereich widmet er der „Gefährtin seines Lebens“, mit der er über 40 Jahre verheiratet war, nur zwei Seiten des knapp 400seitigen Lebensberichts.73 Bäumer nennt Lemmer in einer Aufzählung von 18 Politikern nur ein einziges Mal, als er den Beginn seiner Zeit als Reichstagsabgeordneter 1924 beschreibt: „[…]viele meiner neuen Kollegen flößten mir Respekt ein.“74 Gysi, Walter Ulbricht, Konrad Adenauer, Jakob Kaiser, Theodor Heuss und Paul Löbe. Außer den Fotos sind dem Buch Ablichtungen von zwei Dokumenten beigefügt, die Lemmers politische Bedeutung während des Kapp-Putsches und für die deutsch-französischen Beziehungen 1931 unterstreichen sollen. Weiter integrierte Lemmer Fotos, die ihn an der Bernauer Straße, an der „Sektorengrenze vor dem General der Volkspolizei Kreikemeyer“ sowie an der Mauer vor Klein-Machnow im Jahr 1962 zeigen sollen. Das Buch umfasst 399 Seiten, ein Nachwort und ein Personenregister. 69  Lemmer, Manches war doch anders, S. 170. An der Abstimmung nahmen die letzten verbliebenen fünf DStP-Reichstagsabgeordneten teil, neben Heuss und Lemmer Hermann Dietrich, Reinhold Maier und Heinrich Landahl. 70  Lemmer, Manches war doch anders, S. 170–220. 71  Lemmer, Manches war doch anders, S. 214 f. 72  Lemmer, Manches war doch anders, S. 338. 73  Lemmer, Manches war doch anders, S. 84 ff. 74  Lemmer, Manches war doch anders, S. 119. Neben 16 Männern zählt Lemmer dort „Frau Bäumer“ und „Clara Zetkin“ auf. Lüders wird ebenso wie Salomon, von Velsen und Ulich-Beil nicht genannt.



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Werner Stephan bezog sich als FDP-Politiker in seinen Erinnerungen in erster Linie auf Theodor Heuss, dem er die Fortsetzung seiner beruflichen Karriere in der Bundesrepublik verdankte.75 Seine Männlichkeit stellte Stephan u. a. in dem Abschnitt über sein Studium in Tübingen heraus, wo er Mitglied einer schlagenden Verbindung wurde, in deren „Pauklokal“ das Blut „in Strömen“ geflossen sein soll.76 Stephan dämonisierte in dem Kapitel „Im Hitlerreich“ Goebbels und Hitler und schilderte seine berufliche Tätigkeit sowie seine Kontakte im Reichspropagandaministerium.77 „Nach dem irrationalen Umbruch 1933 hatte ich mich wiederwillig in das gewalttätige ‚Dritte Reich‘ einzufügen, dessen ‚Führer‘ meinem Dienstzimmer gegenüber residierte und mir so stets gegenwärtig war.“78 Stephan charakterisierte verschiedene NS-Größen negativ und rückte sich gleichzeitig in die Nähe zu diesen Personen. Auch er konzentriert sich in seinem Buch vor allem auf bekannte männliche Politiker, erwähnt aber auch Frauen. Zum einen scheut er sich nicht, die Verantwortung für sein Verbleiben im Amt seiner 1939 verstorbenen ersten Frau zuzuschieben.79 Zum anderen würdigt er die politische Tätigkeit Bäumers, erwähnt immerhin Lüders und von Velsen, die er beide im Personenregister als „Politikerin“ ausweisen lässt.80 Über die Zuweisung von politischen Aufgaben an Männer und Frauen wird man von Stephan bei der Schilderung von Bäumers, seiner Ansicht nach überragendem, politischem Talent aufgeklärt: „Wie nur wenige Frauen konzentrierte sie sich immer auf das Große und Allgemeine; nie ließ sie sich auf das Kleine und Spezielle abdrängen.“81 Gleichzeitig weist er auch auf die Bedingungen ihres Aufstiegs als Frau in der Politik hin: „[…] grenzenlos war auch ihre Einsatzfreudigkeit im Bereich der Parteipolitik. Für was man ihre Mitarbeit erbat, sie sagte zu. […] Nie war sie überlastet, nie müde, nie auch hochmütig gegenüber der gestellten Aufgabe.“82 Von Lü75  Stephan stattete sein Buch „Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland. Ein Liberaler in vier Epochen“, das 340 Seiten umfasst und ein Namensregister enthält, mit in den Text integrierten Fotos aus, die u. a. undatierte Porträts von Friedrich Naumann (S. 83), und Gertrud Bäumer (S. 108) zeigen. Soweit erkennbar, ist der Autor nur auf zwei Gruppenfotos bei Dreikönigstreffen der DDP (1929) und der FDP (undatiert) auf den Seiten 160 und 305) abgebildet. 76  Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland, S. 32. 77  Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland, S. 213–279. Vgl. Schaser, Erinnerungskartell, bes. S. 62, 65–67. 78  Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland, S. 330. 79  Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland, S. 222. 80  Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland, S. 336, 339. Bäumer wird im Personenregister als „Schriftstellerin, Ministerialrätin im Reichsinnenministerium“ bezeichnet (S. 331). 81  Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland, S. 108. 82  Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland, S. 109.

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ders weiß Stephan dagegen nur drei Anekdoten zu berichten, und dass sie als einzige innerhalb der DDP ihn ab und an kritisiert hätte.83 Insgesamt zeigt Stephan, der seine Kolleginnen in seinen Erinnerungen nicht ganz ausblendete, selbst bei der Charakterisierung der politischen Tätigkeit von Bäumer, dass die Politik für ihn einen männlich dominierten Bereich darstellte, in den Frauen nur in Ausnahmefällen und um den Preis eines vielfach höheren Engagements Zugang fanden. c) Die Geschlossenheit der Personendarstellung Auffallend ist in diesen Büchern der Versuch der Autoren und Autorinnen, sich über alle Änderungen der eigenen politischen Positionen und Zugehörigkeiten sowie über berufliche Veränderungen hinweg als beständige, stets einem Ideal und / oder einem politischen Ziel verschriebene Person zu präsentieren. In allen Büchern beschränken sich die Autorinnen und Autoren nicht auf die Geschichte ihres Werdens, ihres Bildungsganges, ihrer politischen und beruflichen Entwicklung. Sie stellen sich immer auch in ihrer Rolle als Lehrerin, Journalist, Politiker, als Liberale, als Frauenrechtlerin, als Sozialpädagogin oder Schriftstellerin dar und betonen dabei, dass sie über alle Widrigkeiten und Brüche hinweg ihrem Leben ein klares Ziel geben konnten. Gertrud Bäumer hielt 1933 an einer durch die Frauenbewegung veränderten Gesellschaft als Zielvorstellung fest und wünschte sich für den Umbruch 1933 „Menschen, die […] nicht zu den Allzuwilligen [gehören], die leicht und radikal Vergangenes verwerfen.“84 Dorothee von Velsen hatte ihren Frieden mit dem Rückzug auf das Land, einem bescheidenen Leben und der Konzentration auf die wissenschaftliche und schriftstellerische Arbeit gemacht: „Fülle besitzen aber auch die, deren Schauen zurück in die Zeiten geht. […] Sie verstehen das Heute aus dem Gestern und suchen es dem Morgen dienstbar zu machen.“85 Else von Ulich hatte sich nach 1945 ganz der Arbeit in der internationalen Frauenbewegung verschrieben und in den USA auch Anknüpfungspunkte für ihre im Ersten Weltkrieg abgebrochene wissenschaftliche Karriere gefunden.86 Sie 83  Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland, S. 123, 126, 301, 319  f. An der letzten Stelle weist Stephan darauf hin, dass Heuss Lüders politisches Engagement nicht einmal aus Anlass ihres 80. Geburtstages würdigen wollte. 84  Bäumer, Lebensweg durch eine Zeitenwenden, S. 446. 85  Velsen, Im Alter die Fülle, S. 380. 86  Ulich-Beil, Ich ging meinen Weg, S. 207. Die beschriebenen Auslandsreisen unternahm Ulich-Beil alle in Zusammenhang mit Treffen und Konferenzen der internationalen Frauenbewegung. Die drei Reisen in die USA (1951, 1955, 1957) dienten demselben Zweck, wobei sie zur ersten dreimonatigen Reise in die USA von der amerikanischen Militärregierung eingeladen wurde (ebd., S. 191). Sie traf dabei



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widmete sich bis zu ihrem Tod im Jahr 1965 der Reorganisation der deutschen Frauenbewegung und der Wiederherstellung der internationalen Kontakte. An ihre akademische Ausbildung, die sie 1917 abgebrochen hatte, knüpfte sie in den USA wieder an und besuchte an dortigen Universitäten Seminare und Vorlesungen.87 Aus staatsbürgerlichem Pflichtgefühl, so Ulich-Beil, habe sie 1918 ihre wissenschaftliche Arbeit aufgegeben, um in die Politik zu gehen: „Wir Frauen hatten das Stimmrecht erhalten und waren vor der Geschichte aufgerufen, die Demokratie mit aufzubauen, an deren überlegenen Wert ich glaubte.“88 Nach dem Ende ihrer Ehe und ihrer Tätigkeit im sächsischen Landtag und Innenministerium schildert sie in dem Kapitel „In der Frauenbewegung“, dass sie bereits seit ihren Studienzeiten in der deutschen Frauenbewegung aktiv gewesen sei und diese auch seit 1926 im Ausland vertreten hätte. Selbst in dem Kapitel „Unter der Herrschaft des Nationalsozialismus“, in dem sie in erster Linie der Schilderung des Sterbens ihres Sohnes und ihrem Schmerz über diesen Verlust Raum gab, ordnete sie den Tod des Sohnes in ihre beruflichen und politischen Tätigkeiten ein und erwähnt hier sicher nicht zufällig, dass Gertrud Bäumer die Totenrede auf ihn hielt.89 Marie-Elisabeth Lüders konzentriert sich in ihrem Buch auf ihren Beruf als Politikerin und präsentiert sich als erfolgreiche Frauenrechtlerin und Liberale. Alice Salomon beschreibt sich als Begründerin der sozialen Frauenarbeit und der Sozialpädagogik, die auf diesem Arbeitsgebiet, das aus der internationalen Frauenbewegung erwachsen war, ihren Lebensmittelpunkt gefunden hatte. Ernst Lemmer präsentiert sich als einflussreichen Politiker, der fähig zu Kompromissen war, Kompromisse in der Politik für unerlässlich hält, sich auch als Minister volksnah gibt und politische Fehler eingesteht. Werner Stephan schließlich sieht seine politische Arbeit und sein Festhalten an liberalen Idealen an seinem 80. Geburtstag gebührend gewürdigt und unterstreicht, dass er „die schwersten Zeiten […] ungebrochen überstehen [konnte], weil ich mich stets auf liberal denkende und handelnde Menschen in meiner nächsten Umgebung stützen konnte“.90 Wie umfangreich auch immer der dokumentarische Anteil in den Arbeiten ist: Die Autoren und Autorinnen orientieren sich bei der Gestaltung ihrer Autobiograauf wichtige Vertreterinnen der amerikanischen Frauenbewegung, die sie zum Teil bereits in Europa kennen gelernt hatte, und besuchte zahlreiche deutsche Emigranten und Emigrantinnen sowie viele Universitäten des Landes. Das Kapitel, in dem sie ihre zweite Reise 1955 beschrieb, stellte sie unter den Titel „Zweite Stu­ dienreise in die Vereinigten Staaten“ (ebd., S. 267). 87  Ulich-Beil, Ich ging meinen Weg, S. 207 f. 88  Ulich-Beil, Ich ging meinen Weg, S. 77. 89  Ulich-Beil, Ich ging meinen Weg, S. 154. 90  Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland, S. 330.

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phien am klassischen (männlichen) bürgerlichen Autobiographiemodell des 19. und 20. Jahrhunderts: Im Mittelpunkt stand immer ihr berufliches Streben als Lebensaufgabe. 4. Fazit Die autobiographischen Texte demonstrieren nicht nur den Bildungsgang, die intellektuelle und politische Entwicklung der Protagonisten, sondern beschäftigen sich auch mit der Entwicklung Deutschlands vom Kaiserreich bis zum Beginn des nationalsozialistischen Regimes bzw. bis in die Bundesrepublik Deutschland. Je nach Schreibsituation, beruflicher und politischer Entwicklung, betonten alle Liberalen ihren Anteil an politischen Entscheidungen und beruflichen Erfolgen. In allen Arbeiten erfolgen Verweise auf bekannte Politiker, namhafte und einflussreiche Personen sowie die wichtigsten Entwicklungen und Ereignisse der deutschen Geschichte. Darin unterschieden sich die Schilderungen der weiblichen Liberalen nicht wesentlich. Sie schrieben jedoch auch ausführlich über die Geschichte der Frauenbewegung, die Geschichte der Frauenbildung und erwähnten viele ihrer Kolleginnen und Mitstreiterinnen – auch Alice Salomon – namentlich und häufig. Besonders bei Ulich-Beil diente die internationale Frauenbewegung seit den 1920er Jahren als Bezugspunkt ihrer politischen Tätigkeit. Während die Frauen alle ihre Mitgliedschaft in Frauenorganisationen und Frauennetzwerken sowie ihre Arbeit im Nationalen Frauendienst hervorhoben, thematisierten die Männer ausführlich ihre Zugehörigkeit zu studentischen Verbindungen, zur Frontgeneration sowie ihre soldatischen Erfahrungen. Die nach 1933 im Deutschen Reich verbliebenen Autoren und Autorinnen präsentieren ihr Leben als ein Kontinuum über politische Zäsuren hinweg. Sie betonen ihre Handlungsfähigkeit und beschrieben ihr Leben trotz Verlusten und Rückschlägen als eine Erfolgsgeschichte. Für ihr persönliches Leben und die Zukunft Deutschlands fanden sie immer ein versöhnliches oder optimistisches Ende. Die Aufzeichnungen von Salomon unterscheiden sich dagegen durch das unerbittliche Hinausgedrängtwerden der 1914 vom jüdischen zum protestantischen Glauben Übergetretenen. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen grenzte sie sich gegen „Machtpolitikerinnen“91 wie Gertrud Bäumer in der Frauenbewegung ab und sah sich weitgehend um die Früchte ihrer Lebensarbeit gebracht.92 In allen Autobiographien wird Geschlecht hergestellt, indem verschiedene Handlungsfelder, Tätigkeiten, Interessen und Eigenschaften als männliche oder weibliche ausgewiesen und ihnen unterschiedliche Bedeutung zugewie91  Salomon, 92  Salomon,

Charakter, S. 171. Charakter, S. 271.



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sen wird. Obwohl alle die Wesensverschiedenheit von Männern und Frauen nicht in Frage stellen, werten die Autorinnen nicht nur weibliche Handlungsfelder und Tätigkeiten auf, indem sie ihnen hohe Bedeutung zuschreiben, sondern sie überschreiten oder verwischen diese Geschlechtergrenzen gleichzeitig, indem sie sich oder anderen Frauen bislang männliche Kompetenzen zuschreiben.93 Die Texte der fünf Frauen präsentieren Lebensentwürfe, die die vorgesehenen normativen Grenzen für das weibliche Geschlecht überschreiten und neue Wirkungsfelder für die moderne Frau eröffneten, aus denen Frauen in Deutschland bis 1908 bzw. 1918 weitgehend ausgeschlossen waren. In ihren autobiographischen Texten entwerfen sich diese Frauen als Personen mit mehrfachen Zugehörigkeiten und definieren Geschlechterrollen neu. Darüber hinaus schreiben sie in diesen Texten eine Geschichte der politischen Entwicklung, der internationalen Beziehungen, sie schreiben Berufsgeschichten, Wissenschaftsgeschichte, Parteiengeschichte sowie die Geschichte der internationalen Frauenbewegung, der Pädagogik und der Sozialpolitik. Alle Texte, selbst der von Salomon, zeugen von einer großen Loyalität gegenüber der deutschen Nation über die verschiedenen Systeme hinweg. Besonders deutlich wird dies in allen Texten in den Passagen über den Ersten Weltkrieg, den die beiden Männer als Soldaten erlebten und die fünf Frauen auf leitenden Posten im Nationalen Frauendienst. Das Jahr 1933 wird bei allen als Bruch dargestellt, der einen deutlichen Einschnitt markierte und dem eigenen Leben eine neue Wende gab. Auch wenn die Autorinnen und Autoren zum Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg je nach Lebensumständen, der Schreibsituation und dem Zeitpunkt der Abfassung der Autobiographien durchaus unterschiedliche Positionen einnahmen, so wurde auch hier zum Teil betont, dass sie nach Entlassung bzw. Emigration politische Verantwortung für die Entwicklung in Deutschland nicht mehr oder nur mehr eingeschränkt trugen. Neben den geschlechterseparierten Räumen beschrieben alle Autorinnen auch Netzwerke und Verbindungen, die gemischtgeschlechtliche Kreise umfassten. „Dies Buch mag manchmal so sehr als ein Buch über Frauen erscheinen, als ob ich in einem Harem gelebt hätte. Tatsächlich hatte ich immer Männer und Frauen, Alte und Junge, Reiche und Arme und manchmal auch ganze Familien als Freunde um mich.“94 Insbesondere bei den Schilderungen der beruflichen Aufgaben und der Parteiarbeit werden männliche Kollegen und Parteimitglieder einbezogen – ein Ergebnis, das in Kontrast zu den autobiographischen Texten männlicher Liberaler steht, denen in der Regel die Mitarbeit ihrer Parteigenossinnen nicht oder nur am 93  Friedman, 94  Salomon,

Women’s Autobiographical Selves, S. 34–62. Charakter, S. 226.

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Rande der Erwähnung wert ist.95 Diese Marginalisierung ist keineswegs unerheblich, werden in und mit autobiographischen Schriften doch auch immer politische Konkurrenzen und Rivalitäten ausgetragen. „Nationale, öffentliche Erinnerungskulturen lassen sich […] als ein Kampf partikularer Erinnerungsgemeinschaften beschreiben“.96 Die Nichterwähnung und Marginalisierung liberaler Politikerinnen in den autobiographischen Schriften der männlichen Liberalen hat dazu geführt, dass liberale Politikerinnen in der Geschichte des Liberalismus bestenfalls eine Nebenrolle spielen. Literaturverzeichnis Adak, Hülya: Identifying the „Internal Tumors“ of World War I: Talat Paşa’nɩn Hatɩralarɩ [Talat Paşa’s Memoirs], or the Travels of a Unionist Apologia into „History“, in: Andreas Bähr, Peter Burschel, Gabriele Jancke (Hg.): Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell (= Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 19). Köln / Weimar / Wien 2007. S. 151–169. Auga, Ulrike u. a. (Hg.): Das Geschlecht der Wissenschaften. Zur Geschichte von Akademikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2010. Bähr, Andreas / Burschel, Peter / Jancke, Gabriele (Hg.): Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell (= Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 19). Köln /  Weimar / Wien 2007. Baum, Marie: Rückblick auf mein Leben. Heidelberg 1950. Bäumer, Gertrud: Im Licht der Erinnerung. Tübingen 1953. Bäumer, Gertrud: Lebensweg durch eine Zeitenwende. Tübingen 1933. Baumgart, Winfried (Bearb.): Das Zeitalter des Imperialismus und des Ersten Weltkrieges (1871–1918): Teil 1: Akten und Urkunden (= Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, Bd. 5). Darmstadt 1977. Baumgart, Winfried (Bearb.): Das Zeitalter des Imperialismus und des Ersten Weltkrieges (1871–1918): Teil 2: Persönliche Quellen (= Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, Bd. 5). Darmstadt 1977. Benstock, Shari: The Private Self. Theory and Practice of Women’s Autobiographical Writings. Chapel Hill 1988. 95  Lemmer zählt z. B. auf, welche „Kollegen“ ihn am Beginn seiner Karriere im Reichstag „Respekt einflößten“. Unter den 18 Personen finden sich „Frau Bäumer“ und „Clara Zetkin“ (Lemmer, Manches war doch anders, S. 119). Das ist die einzige Stelle im Buch, an der Bäumer Erwähnung findet. Lüders wird nicht genannt. Werner Stephan dagegen würdigte Bäumer als herausragende Politikerin (Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland, S. 108 f.), zitierte aus Langes Lebenserinnerungen (ebd., S. 109) und erwähnte Lüders, auch wenn er sie nur in Zusammenhang mit belanglosen Anekdoten und persönlichen Begegnungen nannte sowie die Abneigung von Theodor Heuss ihr gegenüber thematisierte (ebd., S. 123, 126, 301, 320). 96  Moller, Das kollektive Gedächtnis, S. 90.



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Autobiographie und Handlungsautonomie in der ersten britischen Frauenbewegung Von Anne-Julia Zwierlein Angelika Schasers Lektüre von ausgewählten Autobiographien deutscher Liberaler der Jahrgänge 1872–1895 betrachtet diese als historische Quellen und untersucht zugleich, wie hier „Geschlecht hergestellt, verhandelt und zugewiesen wird“ (S. 122). Zu Recht hebt Schaser hervor, dass autobiographische Texte von Frauen in der Geschichtsschreibung einer „doppelten Marginalisierung“ unterlagen: einerseits aufgrund des vermeintlich subjektiven Charakters der Textgattung, andererseits weil sie „von Akteurinnen verfasst wurden, denen im politischen Raum wenig oder gar keine Bedeutung zugesprochen wird“. Im Gegensatz dazu wurden Autobiographien „großer Männer“ zu „objektive[n] Quellen“ aufgewertet (S. 126). Wie in den Literaturwissenschaften mittlerweile etabliert, ist also der Begriff des autobiographischen Schreibens für Autorinnen um die „kleine Form“ (S. 123) zu erweitern. Allerdings mag dies für das bürgerliche Zeitalter spätestens ab dem 19. Jahrhundert nur eingeschränkt gelten: Die von Schaser untersuchten Texte deutscher weiblicher Liberaler, so die Texte von Gertrud Bäumer, Alice Salomon und Else Ulich-Beil, sind zusammenhängende, monographische Werke, die ebenso wie die zeitgleich von Männern verfassten monographischen Autobiographien eine klare Teleologie und einen einheitlichen Sinnzusammenhang für das eigene Leben und politische Handeln konstruieren – eine bürgerliche Erfolgsgeschichte. Auch im Falle von Autorinnen wird hier die eigene Autonomie und Handlungswirksamkeit klar postuliert, selbst wenn geschlechtsspezifische Schwierigkeiten bezüglich Ausbildungsgang oder Anerkennung im männlichen Berufsumfeld thematisiert werden. Im Rahmen der „ ‚klassischen‘ Form der Autobiographie“ wird, so Schaser, eine „Geschlossenheit der Personendarstellung“ produziert (S. 138), und auch wenn die Erzählerin und Protagonistin sich als „eigenständige Person“ und gleichzeitig als „Person […] mit mehrfachen Zugehörigkeiten“ präsentiert (S. 141), ist dies kein grundlegender Unterschied zu den von Schaser untersuchten männlichen Autobiographen, denn es wird jeweils sowohl eine „Selbstbiographie“ geschrieben als auch die politische Entwicklung der Zeit gedeutet (S. 129). Geschlecht wird demnach in den Texten hergestellt, „indem verschiedene Handlungsfelder,

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Tätigkeiten, Interessen und Eigenschaften als männliche oder weibliche ausgewiesen“ werden; gleichzeitig werden, laut Schaser, die „normativen Grenzen für das weibliche Geschlecht“ überschritten und „neue Wirkungsfelder für die ‚moderne Frau‘ “ eröffnet (S. 141). Es wäre aber zu diskutieren, ob die Autorinnen in ihrem Selbstentwurf tatsächlich die Personkonzepte oder das binäre Geschlechtermodell überwinden, die in den klassischen Autobiographiebegriff eingeschrieben sind – oder ob sie nicht eher, wie es dem Duktus weiblichen autobiographischen Schreibens in dieser historischen Epoche, nicht nur in Deutschland, entspricht, in einer paradoxen Figur einerseits Geschlecht als Kategorie zu neutralisieren versuchen und ihr Leben und Schreiben in männlichen Mustern gestalten, sowie andererseits, meist in appellativen Schlusspassagen, Weiblichkeit absolut setzen und idealisieren. Diese Frage soll im Folgenden auch durch einen Vergleich mit einer wegweisenden britischen weiblichen Autobiographie des Viktorianismus, Harriet Martineaus Autobiography (1855), sowie mit Autobiographien aus dem Umfeld der organisierten Frauenbewegung im Großbritannien des frühen 20. Jahrhunderts überprüft werden, und zwar Beatrice Webbs My Apprenticeship (1926) und Octavia Wilberforces erst 1989 publizierte Autobiographie The Eighth Child (ca. 1945).1 Im Einzelnen geht es um den Nexus zwischen bürgerlichem Lebensmodell und dem hier eingeschriebenen Diktat der Selbstbeschränkung sowie den Wirklichkeitsentwürfen, die in Bildungsroman und Autobiographie verhandelt werden. Bezugnehmend auf die literaturwissenschaftliche Analyse autobiographischer Praktiken, die die zwei Pole der Selbstzentriertheit und Selbstzerstreuung, des „self-centring and dissemination of the self“ untersucht,2 soll neben der monographischen Form autobiographischen Schreibens das Phänomen der kollektiven Autobiographie als potentielle weibliche Variante der Gattung betrachtet werden – auch hierfür bieten die von Schaser untersuchten Texte exemplarische Anhaltspunkte. Abschließend wird die Funktion einer in den Texten vorfindlichen, historisch bedingten essentialistischen Konstruktion von Weiblichkeit diskutiert. Die eigene Handlungsautonomie scheint sowohl im deutschen als auch im britischen Textkorpus das entscheidende Ziel, und gleichzeitig die Prämisse für die Produktion des autobiographischen Textes. Wird das Frauenwahlrecht 1918 bei den von Schaser untersuchten Frauen als Ansporn zur politischen Tätigkeit gesehen, so wird die nationalsozialistische Zeit als ein1  Zu den benutzten Ausgaben siehe das Literaturverzeichnis. Das Originalmanuskript von Wilberforces „The Eighth Child“ ist Copyright Mabel Smith and the Trustees of Backsettown. Kopien des Typokript in der Women’s Library, London und im West Sussex Record Office. 2  Schwalm, The Lake Poets/Authors, S. 145.



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schneidende Zäsur empfunden, die die Handlungsfähigkeit der Frauen, inklusive des Wahlrechts, wieder zurücknahm. Gerade deshalb scheint es für die nach 1933 im Deutschen Reich verbliebenen Autorinnen (und Autoren) wichtig, „ihr Leben als ein Kontinuum über politische Zäsuren hinweg“ zu präsentieren, als eine „Erfolgsgeschichte“ trotz Verlusten und Rückschlägen (S. 140). In Großbritannien beginnt die Frauenbewegung relativ früh: Ein wichtiger historischer Anhaltspunkt ist der, allerdings erfolglose, Antrag ans Parlament aus dem Jahr 1866, von Barbara Bodichon initiiert und durch John Stuart Mill eingebracht, der das Wahlrecht auf Frauen erweitern sollte. Ebenso maßgeblich war 1870 die Married Women’s Property Act, die verheirateten Frauen teilweise ihre eigenen Erwerbseinkünfte zusprach. Das allgemeine Frauenwahlrecht galt in Großbritannien erst ab 1928, nachdem Frauen ab 1919 nur eingeschränkt (abhängig von Alter und Besitz) wählen durften. Gleichzeitig ist im Verlauf vom frühen bis zum späten 19. Jahrhundert in der Ideologie der Mittelschicht eher eine Verstärkung der Separate Spheres-Ideologie zu verzeichnen, die in den Worten von Helena Michie auf einer „hyperbolic gender difference“ gründet, „a historically unprecedented sense of the differences between the sexes“.3 In der frühen Phase des britischen Feminismus (noch nicht der organisierten Frauenbewegung) waren Proteste somit regelmäßig gegen die fehlende weibliche Handlungsautonomie gerichtet; aufgrund der Gesetzeslage erschien vielen Feministinnen des Mitt- bis Spätviktorianismus die Verweigerung der Heirat als einziges Mittel, individuelle Handlungsfreiheit – und ein männlichen Mustern angeglichenes ‚autobiographiefähiges‘ Leben – zu erkaufen. In Florence Nightingales Traktat zur Situation viktorianischer Frauen der Mittelschicht, Cassandra (1850–52), heißt es apodiktisch: „Some few sacrifice marriage, because they must sacrifice all other life if they accept that. […] if she has any destiny, any vocation of her own, she must renounce [marriage].“4 Nur hierdurch wird eine Konzentration auf eigene produktive Tätigkeit, ein Leben außerhalb des Hauses möglich. Ähnlich heißt es bei Dinah Maria Mulock Craik in A Woman’s Thoughts about Wom­ en (1858) über ihre Idealfigur einer erfolgreichen – und unverheirateten – Frau: She has not married. Under Heaven, her home, her life, her lot, are all of her own making. […] Whatever the current of her existence may have been, and in whatever circumstances it has placed her, she has voluntarily wasted no portion of it – not a year, not a month, not a day. […] Published or unpublished, this wom3  Michie,

Under Viktorian Skins, S. 409. Cassandra, S. 40. Der Essay war Teil einer zwischen 1850–52 von Nightingale verfassten Textsammlung und wurde erstmals 1928 als Appendix zu Ray Stracheys The Cause veröffentlicht. 4  Nightingale,

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an’s life is a goodly chronicle, the title-page of which you may read in her quiet countenance […]. You will rarely find she thinks much about herself; she has never had time for it. And this her life-chronicle, which, out of its very fulness, has taught her that the more one does, the more one finds to do – she will never flourish in your face, or the face of Heaven, as something uncommonly virtuous and extraordinary. She knows that, after all, she has simply done what it was her duty to do. But – and when her place is vacant on earth, this will be said of her assuredly, both here and Otherwhere – ‚She hath done what she could.‘5

Die Mischung aus Stolz und Selbstbeschränkung, dem bescheidenen Verweis auf das viktorianische Konzept der Pflicht, in dieser Biographie einer fiktiven Frau ist tatsächlich, so soll im folgenden Abschnitt gezeigt werden, ein prägendes Merkmal autobiographischen Schreibens im Großbritannien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts; dies ist ein Gattungsmerkmal, das männliche und weibliche Bildungsromane sowie (Auto)biographien vereint. 1. Bürgerliche Gattungskonventionen: Männliche – und weibliche – ‚Selbstbeschränkung‘ Gattungskonventionen ebenso wie Erzähltechniken unterliegen dem historischen Wandel und sind als jeweils aktualisierte Wirklichkeitsentwürfe zu verstehen. Autobiographien, deren Repräsentationsstrategien mit denen des Bildungsromans eng verwandt sind, sind „ ‚Wirklichkeitskonstruktion[en] des Ich‘ “, die sich „auf die Deutungsmuster der jeweiligen Entstehungskultur“ beziehen.6 So versuchte man in den mittleren Gesellschaftsschichten im 19. Jahrhundert sein Leben gemäß den Gattungsgesetzen des „improvement narrative“ zu strukturieren: „the individual seeking to better himself […] constructed a story around his efforts, with a beginning and middle, looking forward to an end, characterized by development over time toward some goal.“7 Auch für die von Schaser untersuchten autobiographischen Texte lässt sich das Muster der bürgerlichen Erfolgsgeschichte identifizieren. Das männliche Pronomen im obigen Zitat ist jedoch kein Zufall: weibliche Narrative – so auch weibliche Bildungsromane – sind stets als Abweichungen von der Norm gesondert markiert.8 Die Bildung des Selbst in freier Ausein­ andersetzung mit der Welt, das Ideal dieser bürgerlichen Gattung, kann nur erfolgen, wenn eine solche Freiheit überhaupt gegeben ist: Wie an der Assoziation des Begriffs Apprenticeship Novel mit der Berufsausbildung ables5  Craik,

A Woman’s Thoughts about Women, S. 375. Das Individuum und sein Jahrhundert, S. 36. 7  Rodrick, Self-Help and Civic Culture, S. 3. 8  Siehe Erll/Seibel, Gattungen, Formtraditionen und kulturelles Gedächtnis, S. 194. 6  Jannidis,



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bar sei, so Susan Fraiman, werde in Bildungsromanen ein für das männliche Geschlecht reservierter Weg von „apprenticeship“ zu „mastery“ erzählt – „everything that is denied to women“. Der Weg des weiblichen Bildungssubjekts führe dagegen zu einem Bewusstwerden der eigenen Begrenzung, und sei nur im günstigsten Falle mit einer Möglichkeit der Einflussnahme auf die Umwelt verbunden.9 Cathy Shuman hat auf die Paradoxie von viktorianischen bürgerlichen Erzählungen zu weiblicher Erziehung und Bildung hingewiesen: „Subject at once to the demands of the bildung and the retention of a marriageable inexperience, girls must become self-conscious producers of unconscious naturalness and accomplished scholars in ignorance.“10 Andererseits gilt das Gebot der Selbstbescheidung des Bildungssubjekts und seiner Einfügung in die gesellschaftliche Ordnung nicht nur für den weiblichen Bildungsroman, sondern ist essentieller Bestandteil der Gattung als solcher. Bildungsromane sind, laut Ellis, „remarkably non-utopian“, denn die dargestellte Integration in die Gesellschaft beinhalte stets auch die Aufgabe individuellen Verlangens.11 Ebenso können die Autobiographien von John Stuart Mill, Charles Darwin und Anthony Trollope gelesen werden als „records of selves made possible only by the denial of self“, wobei sich hier der viktorianische moralische und religiöse Appell zur Zurücknahme der eigenen Person hinter Pflicht und Askese vereint mit dem wissenschaftlichen Postulat des „disinterested observer“, der allein wissenschaftliche Zusammenhänge unverfälscht darstellen könne.12 Wie George Levine betont, ist das konventionelle Postulat der Selbstbescheidung oder (doppelbödigen) Selbstverleugnung, das für Bildungsromane und auch für viktorianische Autobiographien gilt, im Falle weiblichen autobiographischen Schreibens durch die Lebenswirklichkeit verstärkt.13 Hier ist durch die Jahrhunderte hindurch der Verdacht der Anmaßung kulturell etabliert, „the monstrousness of selfhood embedded within the question of female autobiography“.14 Eine Autobiographie, so konstatiert Silvia Mergenthal, „verlangt, per definitionem, das öffentliche Reden in der eigenen Person und über die eigene Person und setzt damit eine gewisse Ich-Zentriertheit voraus; diese Sprecherposition kann aber […] von Viktorianerinnen nur dann eingenommen werden, wenn sie sich über die kulturellen Normen des dominanten Frauenbildes ihrer Epoche 9  Fraiman,

Unbecoming Women, S. 5. In the Way of School, S. 160. 11  Ellis, Appearing to Diminish, S. 19. 12  Levine, Dying to Know, S. 85. 13  Siehe Levine, Dying to Know, ch. 6: Self-Effacement Revisited: Women and Scientific Autobiography, S. 126–47. 14  Johnson, My Monster/My Self, S. 10. 10  Shuman,

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hinwegsetzen“.15 Harriet Martineaus 1855 veröffentlichte Autobiographie ist somit eine Ausnahme in einer Zeit, zu der selbst berühmte Frauen wie George Eliot autobiographisches Material eher in andere Texte integrieren und nicht zu monographischen Darstellungen verarbeiten, oder zu der Frauen wie Mary Somerville, Gründerin des berühmten Frauencollege, ihre Autobiographie als Fragment belassen, das von Nachkommen ediert wird – ein Text mit der „scattered quality“, welche Deborah Nord als eine Variante weiblichen autobiographischen Schreibens sieht.16 Das Ideal der Selbstverleugnung im Falle von Autobiographinnen gleicht somit einerseits dem Ideal für männliche Subjekte, speist sich aber zusätzlich aus geschlechtsspezifischen Normen und führt zu anderen Strategien: „[W]omen memoirists tend to fall into two camps: those public women who are ‚loath to emphasize‘ their public lives ‚or to make claims for their importance‘, and those who resist discussing their ‚emotional and physical experiences that are peculiarly female‘ and who try to transcend their femininity.“17 2. Weibliche Autobiographie und Neutralisierung von Geschlecht Tatsächlich finden sich in den Autobiographien von Harriet Martineau, Octavia Wilberforce und Beatrice Webb solche Strategien der Neutralisierung von Geschlecht, der Angleichung des weiblichen an das männliche Leben und Schreiben; dies folgt paradoxerweise einerseits dem viktorianischen Bescheidenheitspostulat und dem wissenschaftlichen Ideal des „selfeffacement“, und transzendiert beide andererseits automatisch aufgrund des Geschlechts der Autorinnen: „[They] seek in their narratives to submerge the singular and the concrete in the general and abstract. This, in the messy mythologies of gender, might mark their narratives as ‚masculine‘.“18 Martineaus Autobiographie beispielsweise ist aufgrund ihrer kulturhistorischen Bedeutung mit berühmten viktorianischen Autobiographien und autobiographischen Romanen, wie John Stuart Mills Autobiography (1873), John Ruskins unvollendeten Praeterita (1885–1889) oder Edmund William Gosses Father and Son (1907) verglichen worden.19 Martineaus Bezugnahmen auf das eigene autobiographische Schreiben schwanken zwischen „Selbstbehauptung“ und „Selbstzurücknahme“,20 dem Verweis auf ein spontanes Bedürfnis der Selbstexpression – „Authorship has never been 15  Mergenthal,

Autorinnen der viktorianischen Epoche, S. 138. Dying to Know, S. 130, mit Bezug auf Nord. 17  Levine, Dying to Know, S. 128, unter Verweis auf Nord, S. 58. 18  Levine, Dying to Know, S. 129. 19  Siehe Mergenthal, Autorinnen der viktorianischen Epoche, S. 137. 20  Mergenthal, Autorinnen der viktorianischen Epoche, S. 138. 16  Levine,



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with me a matter of choice. I have not done it for amusement, or for money, or for fame, or for any other reason but because I could not help it“ – und dem Verweis auf ihre Pflicht, Zeugnis abzulegen: „From my youth upwards I have felt that it was one of the duties of my life to write my autobiography.“21 Martineau ergänzte ihre Autobiographie auch um einen Nachruf auf sich selbst, den sie 1855 in der dritten Person verfasste und der nach ihrem Tod 1876 in der Zeitung Daily News erschien. Das Zentrum ihrer Monographie ist ihr Bekehrungserlebnis – im Stile der augustinischen Confessiones  –, allerdings nicht zum Glauben, sondern zum Atheismus. Als ungebundene Wanderin im Universum, so eine der wiederkehrenden metaphorischen Selbstbeschreibungen, vertritt Martineau den Comte’schen Positivismus und Rationalismus, „prognostiziert […] die Entwicklung, die sie selbst durchlaufen hat, für ihre Gesellschaft und artikuliert damit, vor allem in ihren Schlusspassagen, eine säkularisierte Heilserwartung: ‚When our race is trained in the morality which belongs to ascertained truth, all „fear and trembling“ will be left to children; and men will have risen to a capacity for higher work than saving themselves, – to that of „working out“ the welfare of their race […] with serene hope and joyful assur­ ance. The world as it is is growing somewhat dim before my eyes; but the world as it is to be looks brighter every day.‘ “22

Die Einschreibung in die bürgerliche Gesellschaft erfolgt also über die Adaptation maskuliner Narrative. Ähnlich findet sich dies, wenn die Sozialreformerin Beatrice Webb ihre 1926 erschienene Autobiographie als My Apprenticeship betitelt – eine Adaptation des bereits erwähnten männlichen Narrativs von „apprenticeship“ zu „mastery“. Levine sieht in Webbs Autobiographie „the shaping, fictional, almost teleological shape of the main stream of ‚masculine‘ autobiographical writing“, liest sie aber gleichzeitig, wie Martineaus Text, als „ ‚private‘ autobiograph[y] in the great Victorian anti-Rousseauvian mode“.23 Beide Autobiographien nehmen Individuum und persönliche Bedürfnisse zurück hinter das Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis. So werden bei Webb die männlichen Bescheidenheitsfloskeln brisanter durch ihren Bezug auf das weibliche Geschlecht, und gleichzeitig werden etablierte Kategorien des Weiblichen in Frage gestellt, wenn sie das Recht reklamiert, eine gleichsam geschlechtsneutrale Wissenschaftlichkeit zu vertreten. Es werden zwar für ‚den‘ Soziologen je unterschiedliche individuelle Ausgangsperspektiven auf die Gesellschaft („bias“) eingeräumt, welche in ihrem persönlichen Fall auch die unterschiedlichen Identitäten als „child, unmarried woman, wife and citizen“ umfassen – doch nur, damit 21  Martineau,

Autobiography, I, S. 188; I, S. 1. Autobiography, II, S.  461 f.; einleitender Text und Zitat in Mergenthal, Autorinnen der viktorianischen Epoche, S. 136. 23  Levine, Dying to Know, S. 130. 22  Martineau,

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diese Perspektiven vom Leser letztlich herausgerechnet („discounted“) werden können: Though for the purpose of describing my craft I quote pages from my MS diary, I have neither the desire nor the intention of writing an autobiography yet the very subject-matter of my science is society; its main instrument is social intercourse; thus I can hardly leave out of the picture the experience I have gathered, not deliberately as a scientific worker, but casually as child, unmarried woman, wife and citizen. For the sociologist, unlike the physicist, chemist and biologist, is in a quite unique manner the creature of his environment. Birth and parentage, the mental atmosphere of class and creed in which he is bred, the characteristics and attainments of the men and women who have been his guides and associates, come first and foremost of all the raw material upon which he works, alike in order of time and in intimacy of contact. It is his own social and economic circumstance that determines the special opportunities, the peculiar disabilities, the particular standpoints for observation and reasoning – in short, the inevitable bias with which he is started on his way to discovery, a bias which ought to be known to the student of his work so that it may be adequately discounted.24

Ähnlich geschlechtsneutral – beziehungsweise als einen Prozess des erfolgreichen Verschwindenlassens von Weiblichkeit – konzipiert auch Octavia Wilberforce ihre berufliche Tätigkeit, wie sie in ihrer Autobiographie anekdotisch über die Zeit als Assistenzärztin im Rotunda Hospital, Dublin, während der Jahre 1920–22 darlegt: „By the end of yesterday’s operation Jellett had forgotten he’d got a girl helping him – and that’s what I’d always hope any male colleague would feel if I were working with him.“25 Solche im männlichen Muster vertexteten Autobiographien führen dann durchaus dazu, dass die Monographien mitunter als männlichen autobiographischen Werken gleichrangig behandelt werden; wie Brian Jackson in der Einleitung zu Webbs Text berichtet, gruppierte sein Tutor F. R. Leavis Mills Autobiography, Ruskins Praeterita und Webbs My Apprenticeship als Teile eines Unterrichtsprogramms zur literarischen Autobiographie.26 3. Kollektive weibliche (Auto)biographien In gewisser Weise gegenläufig zu dieser Betonung der Handlungsautonomie des (bürgerlichen) Individuums in solchen weiblichen monographischen Autobiographien – wie auch immer eingeschränkt durch viktorianische Selbstzurücknahme –, stehen die anderen Formen und Strategien weiblichen autobiographischen Schreibens, die literaturwissenschaftliche Untersuchungen für verschiedene historische Epochen identifiziert haben, so die bereits 24  Webb,

My Apprenticeship, S. 27. The Autobiography of a Pioneer Woman Doctor, S. 99. 26  Jackson, Introduction, S. 9. 25  Wilberforce,



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erwähnte „kleine Form“ (Schaser S. 123), Fragmente oder das in andere Texte integrierte autobiographische Material, schließlich auch die Variante der kollektiven Autobiographie, die „strateg[y] [of] writing narratives in which [women] appear as part of a group“.27 Selbst im Rahmen der hier untersuchten deutschen und britischen monographischen Autobiographien scheint ein kollektives Bewusstsein auf. Für Octavia Wilberforce wird die Beteiligung an der Suffragetten-Bewegung angestoßen durch die Freundschaft mit der berühmten Schauspielerin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Elizabeth Robins, „a turning point in my life“; eine historische Zäsur sieht sie auch in der größeren Handlungskompetenz, die Frauen aufgrund des Ersten Weltkriegs zukam: „The First World War was to do much to make people realise that girls were capable of standing unsupported on their own feet and of determining for themselves the direction they should take.“28 Wilberforces Autobiographie stellt zahlreiche Briefe von und an die Autorin zusammen und zitiert diese direkt und ausführlich, u. a. von und an Elizabeth Robins, Margaret Haigh, Viscountess Rhondda und Virginia Woolf; diese Gemeinschaftsperspektive wird ergänzt durch die Einordnung des eigenen Lebens in die familiäre Genealogie. Gleich zu Beginn verortet Wilberforce sich als Tochter, Enkelin und Urenkelin berühmter Männer: „My father was the second surviving son of Samuel Wilberforce, Bishop of Oxford and later Winchester, and grandson of William Wilberforce“. Letzterer (1759–1833) war einer der Anführer der britischen Anti-Sklaverei-Bewegung, und immer wieder sucht Wilberforce in biographischen Krisenmomenten sein Monument in Westminster Abbey auf; eine solche imaginierte Unterredung mit dem Urgroßvater bildet auch den Abschluss des Buches. Eine Meditation über William Wilberforces Kampf für die Emanzipation der Sklaven wird parallelgeführt mit Octavias Bestandsaufnahme der Erfolge der Frauenbewegung in ihrer eigenen Zeit, verbunden mit dem Vertrauen, in William einen virtuellen Vorkämpfer sehen zu können: „He had always had a respect and admiration for the abilities of women. He lived to see the realisation of his own dream of freedom for the enslaved peoples, as I have seen, in my lifetime, women’s emancipation from most of their shackles.“29 Auch die von Schaser untersuchten weiblichen Liberalen schreiben neben der Selbstthematisierung zugleich „eine Geschichte der politischen Entwicklung, der internationalen Beziehungen, sie schreiben Berufsgeschichten, Wissenschaftsgeschichte, Parteiengeschichte sowie die Geschichte der inter27  Atkinson, 28  Beide

Victorian Biography Reconsidered, S. 147. Zitate: Wilberforce, The Autobiography of a Pioneer Woman Doctor,

S. 14, 56. 29  Beide Zitate: Wilberforce, The Autobiography of a Pioneer Woman Doctor, S. 1, 190–91.

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nationalen Frauenbewegung, der Pädagogik und der Sozialpolitik“ (S. 141). Diese Selbstbetrachtung unter der Perspektive „mehrfache[r] Zugehörigkeiten“ ist jedoch, wie bereits festgestellt, kein exklusives Merkmal weiblicher Autobiographien. Ein wichtiger Unterschied zwischen den von Schaser untersuchten männlichen und weiblichen Autobiographien liegt aber sicherlich in den verschiedenen sozialen Kontexten, die für den eigenen Entwicklungsgang als entscheidend hervorgehoben werden (studentische Verbindungen, der Militärdienst oder andere Formen männlicher Kameradschaft im Falle der männlichen, die Zugehörigkeit zu Organisationen der nationalen und internationalen Frauenbewegung im Falle der weiblichen Autobiographien). Ein Gegensatz ist auch die fast gänzliche Exklusion weiblicher Weggefährtinnen und / oder Parteigenossinnen im Falle der Autoren, dagegen im Falle der Autorinnen die oft kataloghafte, oft in Form von Korrespondenzzitaten inklusive Register vorgebrachte Aufzählung männlicher und weiblicher Zeitgenossen, die als prägend für den eigenen Weg empfunden wurden: „Diese Marginalisierung [weiblicher Parteigenossinnen im Falle männlicher Autobiographien] ist keineswegs unerheblich, werden in und mit autobiographischen Schriften doch auch immer politische Konkurrenzen und Rivalitäten ausgetragen.“ (S. 142) Damit lassen sich die Texte der Autorinnen teilweise in der Tradition der „collective biographies of women“ oder der „female multibiography“ verorten, welche als politisch notwendig für die erste Phase der Frauenbewegung ausgemacht worden ist.30 So ruft Gertrud Bäumer die „Generationenkette der Frauenbewegung“ auf (S. 131), und alle Autorinnen „schrieben […] ausführlich über die Geschichte der Frauenbewegung, die Geschichte der Frauenbildung und erwähnten viele ihrer Kolleginnen und Mitstreiterinnen […] namentlich und häufig.“ (S. 140) Jedoch herrscht hier kein geschlechtsspezifischer Separatismus: Auch „Netzwerke und Verbindungen, die gemischtgeschlechtliche Kreise umfassten“, wurden beschrieben; umgekehrt hat jedoch der Ausschluss liberaler Politikerinnen aus den autobiographischen Schriften männlicher Liberaler, laut Schaser, dazu geführt, „dass sie in der Geschichte des Liberalismus bestenfalls eine Nebenrolle spielen“ (S. 142). Auch für Biographien (und Autobiographien) im britischen Viktorianismus gilt, dass im Falle weiblicher Subjekte oft zu kollektiven Darstellungen gegriffen wurde – nicht selten aus einer gewissen Not heraus: Biographers were repeatedly presented with the challenge of constructing a narrative from a life containing much that appeared trivial. This was the case for both famous and obscure subjects. In his 1870 memoir of Jane Austen, James Edward Austen-Leigh lamented ‚the extreme scantiness of the materials out of which it must be constructed‘. One of the reasons for the disproportionate number of fe30  Siehe

Booth, The Lessons of the Medusa.



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male collective biography over single-subject works is simply that it was difficult to pad out the narrative beyond a short sketch.31

Die Frage nach der „Erinnerungsgemeinschaft“ lässt sich somit auch auf den „Stellenwert von Geschlecht“ erweitern (S. 128), auf die Frage nach einer geschlechtsspezifischen Gemeinschaft des Schreibens und Erinnerns. Wie es bei Alison Booth heißt, können solche kollektiven Biographien auch den etablierten Kanon im klassischen Sinne gegenschreiben: „many collective biographies undermine the order of monumental history, disrupting the small circle of icons in the temple of greatness“. Die „tradition of female multibiography“ wird bei Booth weniger als Notlösung gesehen als vielmehr als politische Strategie. Diese subvertiere zudem, auch mithilfe von Schreibweisen, welche Konzepte von individueller Autonomie oder unmittelbarer Repräsentativität von Texten unterminieren, die historische Vorherrschaft des „ ‚enlightenment self‘, the European, straight, public man“.32 Dies mag allerdings eher postmodernen Rückprojektionen geschuldet sein: Wie die kurze Analyse britischer und deutscher Autobiographien des 19. und 20. Jahrhunderts im Kontext der Frauenrechtsbewegung gezeigt hat, war die aus der Aufklärung stammende Idee der individuellen Handlungsautonomie für Frauen ein kostbares Gut, und deren Betonung auch eine Strategie der Einschreibung in bürgerliche und männliche Muster, eine Strategie, die politisch notwendig und historisch bedingt war. In diesem Kontext hatten Sammlungen von Biographien großer Frauen, deren dokumentierte Lebensläufe auch als beispielhafte Modelle gesehen wurden und Repräsentativität und individuelle Autonomie keineswegs hinterfragten, ihren Ort in der Frauenrechtsbewegung, wie beispielsweise Bessie Rayner Parkes’ frühe Vignettes (1866) oder Ray Stracheys retrospektive Biographie der Frauenbewegung, The Cause, welche 1928, im Jahr der Erlangung des allgemeinen Frauenwahlrechts, veröffentlicht wurde. 4. Autobiographie als Intervention und die Idealisierung von ‚Weiblichkeit‘ Ein solcher „schreibender Aktivismus“ im Kontext von Vergemein­ schaftungs­prozessen,33 der sich verknüpft mit der Produktion von Autobiographie im Rahmen der Herausbildung bürgerlicher Lebensformen im 19. Jahrhundert,34 mag dann auch die Essentialisierung und Idealisierung von Weiblichkeit erklärbar machen, welche sowohl in den von Schaser 31  Atkinson,

Victorian Biography Reconsidered, S. 147. drei Zitate: Booth, The Lessons of the Medusa, S. 258. 33  Siehe den Beitrag von Frank Wolff im vorliegenden Band. 34  Siehe auch den Beitrag von Michael Maurer im vorliegenden Band. 32  Alle

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untersuchten Texten als auch in den britischen Beispielen mitunter erfolgt – obwohl sie eigentlich im Widerspruch steht zur Einschreibung des weiblichen Subjekts in männliche Lebensmuster, und gleichzeitig im Widerspruch zum Kampf der Frauenrechtlerinnen gegen die „hyperbolic gender difference“ des Patriarchats.35 Schasers Überlegungen zur Produktion von Geschlecht im Akt des autobiographischen Schreibens korrelieren mit jüngeren Diskussionen in der Narratologie zur geschlechtsspezifischen Natur von Narrativen: Erzählungen repräsentieren und inszenieren nicht nur Maskulinität und Femininität, sie produzieren diese Konzepte auch aktiv.36 Während die Distanzierung von essentialistischen Mythen einer subversiven Weiblichkeit, welche sich in früheren Phasen des literarischen Feminismus in Thesen über die écriture féminine äußerte, seit Jahrzehnten etabliert ist, mag historisch betrachtet jedoch eine vorübergehende Verabsolutierung des Weiblichen seitens der Feministinnen ihren Platz gehabt haben – als Strategie, mit der sie die Essentialisierungen des Patriarchats weiterführten, um sie gegenzuschreiben. Dies trifft sich mit den von Schaser zitierten wiederkehrenden Aussagen der liberalen Politikerinnen zum weiblichen Wesen, das den Verfall der Sitten und der Politik im Idealfall retten könne: So wird in Gertrud Bäumers Nachwort „ ‚den Frauen‘ die Aufgabe zugewiesen […], die Gesellschaft aus der (von Männern zu verantwortenden) ‚technischen Wüste‘ herauszuführen“; bei Alice Salomon erscheint „Weiblichkeit in Abgrenzung zu männlichen Verhaltensweisen in der Regel als positive, innovative, zum Teil aber auch als nicht durchsetzungsfähige Varianten politischen und beruflichen Agierens“ (S. 132). Laut Salomon blieb also „in unserer modernen Welt die Humanisierung eine Aufgabe der Frau“ (S. 133), und bei Else Ulich-Beil schließlich erscheint Gewalt als „ein von Frauen nicht akzeptiertes Mittel“ (S. 134). Dieses Phänomen der Idealisierung einer absolut gesetzten Weiblichkeit im Sinne der kollektiven Autobiographie eines ganzen Geschlechts gibt es ebenfalls schon etliche Jahrzehnte früher im britischen Kontext. Wilberforce beendet ihre Autobiographie beispielsweise mit einer Apostrophe an den segensreichen Einfluss von Frauen in der Politik: In spite of acute domestic problems, the increase in the pace of life and of nuclear explosions, I have a profound belief in the contribution woman can make in the construction, as against destruction, of lives in the world. Indeed, my hope in the future lies in the exertions of women to bring a balance into world affairs, to conserve, construct, create, and this with no detriment to beauty, for ‚a quickening of the motions of the mind will light a lamp behind the mask of beauty which makes it shine as it never shone before‘.37 35  Michie,

Under Viktorian Skins, S. 409. exemplarisch Fludernik, The Genderization of Narrative. 37  Wilberforce, The Autobiography of a Pioneer Woman Doctor, S. 191. 36  Siehe



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Wie Ruth Roach Pierson feststellt, war das „revival“ des Feminismus im frühen 20. Jahrhundert, getragen von gebildeten, weißen Frauen der Mittelschicht in Nordamerika und Europa, oft von einem solchen Diskurs der Verknüpfung zwischen Frauenrechten und Pazifismus getragen: „[I]t seemed […] that theories of patriarchy and male domination provided an explanation for militarism, nationalism, and the wars they bred“. Der Traum einer „global sisterhood of women“,38 welcher Weiblichkeit zu einem homogenen universalistischen Konzept erhebt, wurde beispielsweise in Virginia Woolfs berühmter Aussage gebündelt: „As a woman, I have no country. As a woman I want no country. As a woman my country is the whole world“.39 Dies vernachlässigt freilich die radikalen Differenzen zwischen Nationalitäten, sozialen Schichten und historischen Situationen und ist nur als strategischer Akt zu verstehen, der sich mit der Funktion von weiblichen Autobiographien als Interventionen im historischen Moment der Frauenrechtsbewegung trifft. Somit werden weibliche Autobiographien im deutschen und britischen untersuchten Textkorpus lesbar nicht nur als Erinnerung an Vergangenes, sondern als politische Intervention, als strategische Eröffnung neuer Handlungsräume für die Zukunft – auch durch die Perspektivwechsel, die die Selbstbeobachtung und Selbstdarstellung der Autobiographie (ähnlich wie die Lektüre fiktionaler Texte) wiederum der Leserin ermöglicht. Hierdurch wird der Eingang in eine kollektive Erinnerungskultur ermöglicht, welche die Exklusion durch das männliche Erinnerungskartell revidiert – für den britischen Raum exemplarisch sichtbar in einem Erinnerungsort, der Women’s Library in London, die (auto)biographisches Material zu den Frauenrecht­ lerinnen bewahrt. Durch die Betrachtung von Autobiographie vom Rand her, mit Schwerpunkt auf dem Prozess der Selbsteinschreibung weiblicher Subjekte in die Geschichte, kann zudem auch allgemeiner gezeigt werden, wie im Prozess des autobiographischen Schreibens, verstanden als kulturelle Praxis im Sozialisationsprozess, Subjekte sich selbst und ihre politischhistorische Erfahrung, mitsamt ihrer Kontinuitäten und Diskontinuitäten, auch erst hervorbringen, konstruieren und festhalten. Durch die Betrachtung von weiblichen Inszenierungen einer Autorposition, die immer auch die eigene historische und kulturelle Situiertheit sowie kollektive Bezugsgrößen mitführt, können autobiographische Texte sichtbar werden als politische Interventionen, als Konstruktionen eigener Identität sowie zukünftiger, auch kollektiver, Handlungsräume.

38  Beide

39  Woolf,

Zitate: Pierson, Nations, S 53. Three Guineas, S. 197.

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V. Autobiographie und Sozialisation

Autobiographie und Sozialisation Von Michael Maurer Im Vergleich mit Tagebuch und Brief, welche auf gleicher Zeitebene angesiedelt sind, bildet die Autobiographie als retrospektive Gattung Sinn, indem sie einen aktuellen Zustand auf frühere Lebenszustände bezieht. Es wird nicht nur erinnert, sondern eine finalisierende Perspektivbildung vorgenommen. Eine so verstandene Rückwärtsgerichtetheit erscheint mir konstitutiv für die Gattung Autobiographie.1 In diesem Sinne fallen Autobiographien in eine Klasse mit Memoiren: Die Funktion der Erinnerung ist entscheidend.2 Während man von Memoiren meist bei Politikern und Schauspielern spricht, hat der Begriff Autobiographie einen höheren Ton: Bei Memoiren assoziiert man erfolgreiche Aktive oder erinnerungsselige alte Leute, die aus der guten alten Zeit zu erzählen wissen, vor allem von den Glanzzeiten ihrer Jugend, die gerne ihre Heldentaten und Begegnungen mit berühmten anderen Leuten ausbreiten;3 Autobiographie enthält eher das Element der Gestaltung und Deutung, das vielleicht auch stark negative Züge betonen kann, wie bei Adam Bernd oder Karl Philipp Moritz.4 Die Sinndeutung des eigenen Lebens bewirkt dann eine indirekte Heroisierung im Verweis auf die Widerstände, die man überwinden musste, um sich durchzusetzen und doch noch etwas zu werden. Ganz allgemein könnte man sagen, dass Autobiographien zwar das eigene Leben im Fokus haben, dass sie aber grundsätzlich das Verhältnis von Ich und Welt, von Individuum und Familie betreffen. In jeder Autobiographie, so sehr sie auch auf Individualschilderung ausgerichtet sein mag, spiegelt sich eine Gesellschaft, eine Epoche, eine Kultur.5 Genau deshalb ist sie auch für Historiker von Interesse. 1  Grundsätzlich wichtig für die Gattungsgeschichte der Autobiographie: Neumann, Identität und Rollenzwang. Wuthenow, Das erinnerte Ich. Müller, Autobiographie und Roman. Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Lehmann, Bekennen – Erzählen – Berichten. Niggl, Die Autobiographie. Holdenried, Autobiographie. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie. 2  Historiker verfahren nicht selten so, daß sie Autobiographien den Memoiren zuordnen, Stadler, Memoiren der Neuzeit. 3  Glagau, Die moderne Selbstbiographie, S. 3. 4  Bernd, Eigene Lebens-Beschreibung. Moritz, Anton Reiser. 5  Wilhelm Dilthey formuliert in Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften: „So kann sich schließlich die Selbstbiographie zu einem histori-

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Damit stehen wir aber auch schon auf einem Punkt, der uns zwei vollkommen divergierende Frage- und Forschungsrichtungen aufgibt: Meint das Thema Autobiographie und Sozialisation, in welcher Weise Sozialisation in Autobiographien gespiegelt wird (also was wir aus Autobiographien als Quellen über die Sozialisation früherer Zeiten lernen können) – oder meint es, wie Autobiographien im Prozess der Sozialisation eingesetzt werden und wurden? Wir können uns im Nachhinein in zwei grundlegend verschiedenen Positionen wiederfinden: (1) Wir nehmen Autobiographien als vorliegende Texte und mithin (in Historikersicht) als Quellen und setzen uns dazu hermeneutisch in Beziehung. Wir versuchen sie zu verstehen, zu deuten, zu erschließen, zu interpretieren. Dies kann auch unter dem Gesichtspunkt Sozialisation geschehen, also mit der Frage, was wir über Sozialisation in früheren Epochen aus Autobiographien erfahren können.6 (2) Wir gehen der Frage nach, ob Autobiographien nicht ihrerseits wiederum im Prozess der Sozialisation ihren Ort hatten und haben. Autobiographien, ob nun als historische oder literarische Texte verstanden, werden dann pädagogisch, didaktisch eingesetzt, als Lehrmittel gewissermaßen, um die Sozialisation von Lesern zu beeinflussen, also beispielsweise Vorbilder zu stiften oder warnende Beispiele zur Abschreckung zu erzählen. Beide Relationen greifen ineinander; beide Funktionen können nur reflektierend voneinander getrennt werden. Wir werden sehen, dass es Fälle gibt, in denen Autobiographien speziell mit diesem pädagogischen Impetus geschrieben und veröffentlicht werden, und dass es Fälle gibt, in denen innerhalb von Autobiographien explizit davon gesprochen wird, wie andere Autobiographien in den pädagogischen Prozess einbezogen worden sind. Die hier einschlägige Grundfunktion lässt sich als Memoria bezeichnen:7 Jemand erinnert sich, und er möchte ein Gedächtnis stiften, ein Andenken bewahren. Soweit er dies nur im strikten Sinne für sich selbst tut, bedient er sich der Schrift möglicherweise nur im naiven Sinne eines Speichermediums, einer Gedächtnisstütze. Indem er Gespeichertes wiederlesen kann, verwendet er die Erinnerung auch zur Ich-Stabilisierung, zur Konstituierung einer kohärenten Persönlichkeit. Das Erinnerte dient, ob positiv oder negativ, dem Autor zum Aufbau eines Bildes von sich selbst. Dem eigenen Leben, dessen Ereignisse vielleicht bloß kontingent erscheinen und nur mit deutendem Aufwand aufeinander zu beziehen sind, wird ein Sinn zugeschrieben: zunächst einmal ein Zusammenhang, dann aber, deutend, eine gewisse Finalität. Die wesentliche Arbeit des Autobiographen besteht darin, schen Gemälde erweitern …“. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 104. 6  Vgl. beispielsweise Frenken, Kindheit und Autobiographie. 7  Vgl. Maurer, Biographie des Bürgers, S. 97–105.



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Zusammenhänge herzustellen, welche die Ereignisse und Entscheidungen eines Lebens als durchgehend oder teilweise notwendig und folgerichtig in Erscheinung treten lassen.8 Wo dies nicht möglich ist, gilt es Brüche zu überspielen, Traumata zu verarbeiten. Am Ende einer Autobiographie steht in allen Fällen der noch nicht am Ende seines Lebens angekommene Mensch als Autor seiner Lebensbeschreibung; Autobiographie ist (in diesem Sinne) die Biographie ohne Tod.9 Trotzdem lässt sich feststellen, dass Autobiographien meist in einem Lebensstadium geschrieben werden, das sich durch erreichte Stabilität kennzeichnen lässt.10 Es ist also der Grenzfall denkbar, dass sich die Erzählung des eigenen Lebens nur auf den Erzähler selbst richtet, dass sie nur verschriftlichte und damit gespeicherte Erinnerung an sein früheres Erleben und seine Taten darstellt. Häufiger ist aber der Fall, dass eine solche Sinnzuschreibung an das eigene Leben mit einem Publikum rechnet, dem das Erlebte erzählt wird, sei es innerfamiliär (häufig findet sich der Hinweis auf die Kinder und Enkel)11 oder über den literarischen Markt an ein großes, anonymes Publikum gerichtet. In jedem dieser beiden Fälle müssen wir mit stärkerer Selbststilisierung rechnen, im extremsten Fall mit der Errichtung eines Potemkinschen Ichs, einer nach außen gerichteten Fassade. Wie im gewöhnlichen Leben eröffnet sich auch im autobiographischen Raum die Möglichkeit der Lüge, der Fälschung, des Betruges. Während jedoch der Roman konstituiert ist durch Fiktion, enthält die Autobiographie die Anfangsbehauptung der Wahrheit, einer wie auch immer erfüllten Wirklichkeitsadäquanz.12 Philippe Lejeune spricht hier vom autobiographischen Pakt: Der Leser muss die postulierte Identität von auf dem Titelblatt genanntem Autor und erzählendem Ich akzeptieren.13 Der Lesevorgang wird durch dieses Prinzip reguliert. Ein definierter Horizont wird durch diese Identifizierung von Autor, Erzähler-Ich und beschriebener Person eröffnet. Ein Roman kann anonym veröffentlicht werden, eine Autobiographie nicht. Allenfalls Maskenspiele sind denkbar: etwa ein Pseudonym, das dann gelüftet wird und eine nachträgliche Identifikation von Autor, Erzähler-Ich und bürgerlicher Person herstellt. Aber auch schon vor dem Lüften der Maske wird eine solche Zuordnungsmöglichkeit vorausgesetzt, sie ist elementar für den autobiographischen Pakt. Aspekt betont etwa Shumaker, Die englische Autobiographie, S. 87. Biographie des Bürgers, S. 106. 10  Vgl. Shumaker, Die englische Autobiographie, S. 109. 11  Vgl. Pastenaci, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung. 12  So auch Shumaker, Die englische Autobiographie, S. 86. 13  Lejeune, Der autobiographische Pakt. 8  Diesen

9  Maurer,

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Die grundlegende Anfangsbehauptung der Wahrheit schützt natürlich nicht dagegen, dass im Einzelfall von der Wahrheit abgewichen, eine Beziehung frisiert oder etwas Besonderes hinzuerfunden wird. Allerdings sind solchen Fiktionalisierungen Grenzen gesetzt. Sie können (wo es um Widersprüche im Detail geht) die Glaubwürdigkeit des Berichteten insgesamt beschädigen. Insbesondere müssen sie aber die identitätsrelevanten Charakterzüge und Lebensumstände des Berichteten bewahren. Dafür ist der Fall Wilkomirski instruktiv. Der in der Schweiz lebende Musiker und Instrumentenbauer Bruno Doessekker, der sich als Schriftsteller Binjamin Wilkomirski nannte, veröffentlichte 1995 ein Buch mit dem Titel Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948, allem Anschein nach eine Autobiographie. Darin berichtete er unter anderem auch von seiner Kindheit im KZ Majdanek. Im Gegensatz zu anderen bekannten Schilderungen fiel die besondere Grausamkeit und Brutalität auf, die er den Schergen zuschrieb. Manche Historiker fassten dies als eine neue Quelle auf. Daniel Goldhagen beispielsweise empfahl das Buch auf dem Klappentext: „Dieses fesselnde Buch belehrt auch jene, die mit der Literatur über den Holocaust vertraut sind. Es wird jeden tief bewegen.“ Das Buch stellte zunächst für Autor und Verlag einen nicht unbeträchtlichen Buchhandelserfolg dar (nebst Übersetzung in zwölf Sprachen!). Am Ende aber war seine Glaubwürdigkeit nicht nur beschädigt, sondern ruiniert: Der Suhrkamp-Verlag nahm das Werk vom Markt und setzte die Beziehung nicht fort, als der Schweizer Schriftsteller Daniel Ganzfried und der Historiker Stefan Mächler nachgewiesen hatten, daß Doessekker-Wilkomirski überhaupt nicht in einem KZ gewesen war und sich seine Autobiographie nur erfunden hatte. Durch gedruckte Erinnerungen, historische Dokumente, Filme und anderes sind inzwischen so viele Informationen über das Leben in einem Konzentrationslager verfügbar, dass sich ein Einzelner daraus bedienen und sich selber in die Welt der Opfer hineinphantasieren kann. Er kann sich eine neue Identität zulegen, indem er sich Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses überzeugend aneignet und zurechtlegt. Aus dem, was man über Konzentrationslager weiß, kann er sich eine eigene Biographie basteln, die genau deshalb so überzeugend ist, weil sie an keiner Stelle dem widerspricht, was man weiß (wie sie in Wirklichkeit dem kollektiven Gedächtnis gerade deshalb nicht widersprechen kann, weil sie kein eigenes, persönliches dagegen aufzubieten hat).14 Es ist gattungsrelevant, dass man die Grundunterscheidung zwischen dem erfundenen Leben (Roman) und dem gelebten Leben bzw. seiner Beschreibung (Biographie, Autobiographie) aufrechterhält. Trotzdem muss angemerkt werden, dass Verlage seit langem Texte verschiedenster Art, sofern sie nur in Prosa abgefasst sind, als Romane vermarkten; deshalb kann man selbst14  Vgl.

Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 33 f.



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verständlich auch Autobiographien unter diesem Label finden. Ferner ist einschränkend zu bemerken, dass sich Gerichte nicht in allen Fällen durch dieses Sich-Entziehen in die Fiktionsqualität des Romans bestimmen lassen: Ein schlagendes Beispiel ist dafür das Verfahren gegen den Roman Esra, dessen Autor Maxim Biller juristisch gezwungen wurde, auf bestimmte Aussagen über Figuren seines Romans zu verzichten, weil bürgerliche Personen der Wirklichkeit ihre Persönlichkeitsrechte dadurch verletzt fühlten. Unter dem Gesichtspunkt der Didaxe ist diese Anfangsbehauptung der Wahrheit ebenfalls von grundlegender Bedeutung. Denn der Rekurs auf fiktionales Erzählen kann nicht in gleicher Weise pädagogisch gemeint sein wie der Rekurs auf faktisches Erzählen. Ein Autobiograph wie Goethe oder Fontane kann sich hinstellen und sagen: „Nehmt Euch ein Vorbild!“ Eine fiktive Figur wie Faust oder Rumpelstilzchen kann das nicht. Jede Autobiographie enthält durch die Anfangsbehauptung der Wahrheit die Verpflichtung auf eine bestimmte gesellschaftliche Realität. Mit dieser handelt sie sich einen definierbaren Horizont des Wahrscheinlichen ein. Sie partizipiert an einem allgemeinen Wissen über die Epoche, die Gesellschaft, die Kultur, die Institutionen, in welchem sie sich selber situiert. Gegen diesen Rahmen darf sie sich nicht vergehen, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. In Märchen und Romanen ist dieser Rahmen ganz anders dehnbar. In diesem Sinne sind Autobiographien nicht nur Erinnerungen an das eigene Leben, sondern auch Versuche, das eigene, private Leben mit dem allgemeinen Leben einer Epoche, einer Gesellschaft, einer Kultur kompatibel zu machen. Jede Autobiographie steht in einem Vergleichshorizont, der durch zahlreiche parallele Autobiographien von Mitlebenden ausgeleuchtet ist, aber auch durch das allgemeine Wissen, das die Historiker über die jeweilige Kultur erarbeitet haben. Gerade diese Unfreiheit bei der Beschreibung des eigenen Lebens macht nun aber den Reiz und die Wirkungsmöglichkeit einer Autobiographie aus. Die Souveränität des Sich-Erinnernden bezieht sich nur auf die Personalia, auf das ausschließlich auf ein Individuum zu Beziehende, nicht aber auf die Zeitumstände, die Institutionen, die gesellschaftlichen Verhältnisse. In aller Regel kann ein Autobiograph deshalb auch nur quellengestützt über eine erinnerte Vergangenheit schreiben. Wir wissen etwa genau, welche persönlichen Dokumente und Briefe Goethe beim Abfassen von Dichtung und Wahrheit konsultieren konnte, und wir wissen sogar, welche Bücher er sich aus der Weimarer Bibliothek entliehen hat, um den historischen Horizont seiner Kindheit adäquat rekonstruieren zu können.15 Mag Goethes Beispiel auch herausragend sein, trifft dies doch im Prinzip auf alle 15  Vgl.

Jeßing, Dichtung und Wahrheit.

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Autobiographien mehr oder minder zu. Das Sich-Erinnern an das eigene Leben bedeutet keineswegs nur Introspektion, sondern auch Informationsbeschaffung und Abgleich vorliegender Informationen, um über eine möglichst weit getriebene Wirklichkeitsadäquanz die Wahrscheinlichkeit des Erinnerten zu sichern und die Glaubwürdigkeit des Berichteten aufrechtzuerhalten. In der Zeit der Durchsetzung der Autobiographie als Gattung, im späten 18. Jahrhundert, kam es mehrfach zu interessanten öffentlichen Auseinandersetzungen kritischer Zeitgenossen mit bestimmten Autobiographen, die sich vorwerfen lassen mussten, die Wahrheit misshandelt, verfälscht oder zurechtgebogen zu haben, beispielsweise Theodor Gottlieb von Hippel oder Carl Friedrich Bahrdt.16 An solchen Debatten, die im Extremfall sogar zu gedruckten biographischen Gegendarstellungen zu veröffentlichten Autobiographien führen konnten,17 lässt sich bemerken, dass die bürgerliche Öffentlichkeit grundsätzlich an Autobiographien einen anderen Maßstab anlegte als an Romane; sie postulierte Realismus und war im Grenzfall auch bereit, Verstöße gegen die Wirklichkeit vor das Tribunal der Öffentlichkeit zu bringen. Während bis hierher Autobiographien überwiegend als historische Quellen angesehen wurden, die in einem bestimmten historischen Horizont zu rezipieren sind, muss nun komplementär auch noch auf ein anderes Phänomen hingewiesen werden: die Übertragbarkeit, die Zeitenthobenheit, den ethischen Gehalt. Es zeigt sich nämlich, dass Autobiographien sich zwar auf das eigene Leben richten, aber ein allgemeines menschliches Leben im Blick haben. Der Aufstieg der Gattung Autobiographie wurde von Wilhelm Dilthey explizit in Verbindung gebracht mit dem „Verstehen des Lebens“ als nicht nur individueller, sondern historischer Aufgabe: „Die Selbstbiographie ist die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt.“18 Und Georg Misch hat diesen Gedanken zugespitzt zu der Formulierung: „Die Geschichte der Autobiographie ist in einem gewissen Sinne eine Geschichte des menschlichen Selbstbewußtseins.“19 Damit hat die Autobiographie in Hegelschem Geiste ihren historischen Ort zugewiesen bekommen. Autobiographie wird zu einer besonderen Form der Universalgeschichte: Weltgeschichte in nuce. 16  Bahrdt,

Geschichte seines Lebens. Hippel, Biographie. Anon., Der wahre Charakter des Herrn Doctor C. F. Bahrdt. Pott, Leben, Meynungen und Schicksale. Keber, Nachrichten und Bemerkungen. 18  Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 196. 19  Misch, Begriff und Ursprung der Autobiographie, S. 42. 17  Vgl.



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In gewisser Weise ist dieses Unpersönliche oder Überpersönliche einer Autobiographie sogar das Entscheidende. Denn die Erzählung von inkommensurablem fremdem Leben, von legendären Taten und bestandenen Abenteuern könnte vielleicht der Unterhaltung und Zerstreuung dienen, nicht aber der Erziehung und Bildung. Zu allen Zeiten wurde die Lektüre von Autobiographien aber als bildende Lektüre aufgefasst: Der Leser erlebt einen anderen Menschen und verfolgt mit, wie er sein Leben bewältigt, wie er es gestaltet, wie er sich verhält, um es zum Erfolg zu führen. Die meisten Autobiographien sind Erfolgsgeschichten, Berichte über bewältigtes Leben, erstiegene Karriereleitern. In diesem Sinne konnten sie auch immer schon als Ratgeber gelesen werden: Hier wird gezeigt, wie man’s macht: Wenn das Leben gelingen soll.20 Autobiographien spielten für Erziehungssituationen immer schon eine besondere Rolle, weil sie den Horizont des Vorbildlichen erweiterten um Menschen außerhalb des direkten Lebenskreises, der Familie, des Standes, der Stadt. Damit wird aber auch deutlich, dass Autobiographien, zum Zwecke der Erziehung und Selbsterziehung gelesen, der Auswahl bedürfen. Schließlich bietet der Buchmarkt der neuzeitlichen Jahrhunderte eine ungeheure Fülle, die in Bezug auf eine mögliche Lebensorientierung viel eher in Verwirrung führt als zur Klarheit. Wenn wir den Autobiographien grundsätzlich eine pädagogische Funktion zuschreiben wollen, verbindet sich damit auch die Frage, wie sie ausgewählt werden können und müssen, um einer wie auch immer gearteten Identitätsbildung zu dienen. Die Gefahren der Beliebigkeit und der Zerstreuung zeichnen sich ab. Die europäische Tradition ist ohnehin gekennzeichnet durch ihre Offenheit für heterogene Einflüsse. Die (heidnische) Antike bot andere Vorbilder als die christlichen Heiligenviten. Die Konfessionsspaltung der Neuzeit bedeutete erneut einen Bruch:21 Die Heiligen wurden entwertet; der Rückgriff auf die Antike blieb ambivalent. So ist nun die nationalsprachliche Entwicklung der neuzeitlichen Jahrhunderte gekennzeichnet durch den Aufstieg der Autobiographie, verstanden als Erzählung eines in bürgerlicher Hinsicht geglückten Lebens, das sich zur Nachahmung anbietet. Die entscheidende Wurzel dieser Gattung (abgesehen von den antiken Mustern, die natürlich im Gelehrtentum weiter kultiviert wurden)22 ist hier die religiöse Variante, die in lutherischen Kreisen ausgeprägte Lebenserzählung als Anhang zu Leichenpredigten, die meist auf eigenen Notizen des Verstorbenen oder Angaben der Hinterblie20  Bühler,

Wenn das Leben gelingen soll. Maurer, Konfessionskulturen. Ders., Konfessionskulturen: Feste feiern katholisch – Feste feiern protestantisch. 22  Vgl. Maurer, Biographie des Bürgers, S. 67–80. 21  Vgl.

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benen beruhte.23 Die Deutungshoheit über solche Biographica lag aber in allen Fällen bei den Geistlichen der eigenen Konfession. Insofern ging es hier um Bestätigung des guten Lebens nach den Maßstäben der eigenen Konfession. Der Spielraum für individuelle Entfaltung außerhalb der vorgegebenen Muster war deshalb gering. Indem nun der literarische Markt zur Vermittlungsinstanz wurde, konnte sich die Biographie wie auch die Autobiographie von den kirchlich-institu­ tionellen Vorgaben lösen. Was Benjamin Franklin, Jean-Jacques Rousseau, Karl Philipp Moritz oder Johann Wolfgang Goethe über ihr Leben schrieben, war nicht mehr an einem bestimmten konfessionellen Milieu orientiert, sondern in bürgerlicher Absicht niedergelegt worden. Der Referenzrahmen für solche Autobiographien war das bürgerliche Leben, das immer noch prekär, erschüttert von Naturkatastrophen und betroffen von Krankheiten und Zufällen war, aber tendenziell durch Einsatz von Vernunft, Fleiß und Klugheit bewältigt werden konnte. Autobiographien sind immer Geschichten, die von der Überwindung schwieriger Umstände berichten, die neben dem glückhaften Aufstieg auch über die Hindernisse sprechen, die bewältigt werden mussten, und über die Eigenschaften, die nötig waren, diese Schwierigkeiten zu meistern. Man kann das erzähltechnisch als retardierendes Moment auffassen; entscheidend ist aber, dass diese oft quälenden Passagen zum genuinen Material von Autobiographien gehören und dass das leichte, glückhafte Überwinden, wie es etwa von Eichendorff im Taugenichts vorgeführt wird, nicht zur Gattung Autobiographie gehört, sondern zur Gattung Märchen. An diesem Punkt sieht man nun die besondere Eignung von Autobiographien zu Erziehungszwecken: Sie konfrontieren den Leser (Hörer) zwar mit all den Schwierigkeiten, an denen er sich in seinem eigenen Leben abarbeiten muss, sie bieten ihm aber zugleich auch die Mittel, wie er sie meistern kann. Denn nichts ist so sicher wie der finale Erfolg einer Autobiographie. Dieser muss nicht immer im ungetrübten Glück bestehen, das ein Märchen für seine Helden bereit hat: Viel öfter ist es ein bedingtes Glück, ein partieller Erfolg, ein mit Verlusten erkaufter Gewinn. Aber gerade dieser Realismus, diese Gesellschaftsadäquanz, musste in einem bürgerlichen Zeitalter einen Vorzug bedeuten. Man wollte nicht von einem erträumten Wolken­ kuckucksheim lesen, sondern von der Welt, wie sie nun einmal war, von der wirklichen Welt der bürgerlichen Gesellschaft. Wie Reiseberichte als Berichte über fremde Außenwelt im bürgerlichen Zeitalter, im 18. und 19. Jahrhundert, zur Lieblingslektüre breiter Leser23  Vgl. Lenz, Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. Ders., Studien zur deutschsprachigen Leichenpredigt der frühen Neuzeit. Ders., De mortuis nil nisi bene?. Kurzüberblick: Kunze, Leichenpredigten. Vgl. Maurer, Biographie des Bürgers, S. 113 f.



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schichten avancierten,24 so auch (Auto-)Biographien als Berichte über fremde Innenwelt. Auch hier kommt es auf den Realismus an, auf die Wiedererkennbarkeit der eigenen Welt in der fremden. Wie Reisebeschreibungen als Berichte über stellvertretendes Reisen gelesen werden können, sind Autobiographien Berichte über stellvertretendes Leben. An Autobiographien konnte man lernen, und zwar aus Fehlern, die andere gemacht hatten und die man genau deshalb nicht selber zu wiederholen brauchte, und man konnte aus Vorbildern lernen, wie man sich in einer übertragbaren Situation des Lebens richtig verhielt. Die Lektüre von Autobiographien anderer Menschen als Ratgeber für die eigene Lebensführung war umso wichtiger in einem Zeitalter, welches unsere Ratgebermedien noch kaum oder gar nicht kannte. Die Vorbildlichkeit fremden Lebens lässt sich im Vergleich mit den Heiligenviten, die in der katholischen Welt ihre Bedeutung behielten, noch klarer herausarbeiten.25 Autobiographien, verstanden als Berichte über gelebtes Leben, erscheinen in gewisser Hinsicht nämlich auch als Säkularisationsphänomen. Heiligenviten wollten zu einem geglückten Leben im religiösen Sinne anleiten und berichteten deshalb von Eigenschaften und Haltungen, die im religiösen Sinne als auszeichnenswert dargestellt werden konnten. Sie enthielten aber auch überirdische Elemente der Gnade und vor allem des Wunders.26 Der Leser konnte damit seine Phantasie aktivieren und seine Hoffnung stärken, aber er konnte aus diesen übernatürlichen Zügen nicht eigentlich etwas Nachahmenswertes lernen. Der Leser von Autobiographien hingegen, der auf Realismus geeicht war, suchte nachahmenswerte Eigenschaften und Charakterzüge, die Erfolg versprachen. Theoretisch könnte man dies als Dialektik von Autonomie und Heteronomie beschreiben: Die herkömmliche religiöse Haltung betont das Handeln Gottes, mithin die Heteronomie des Menschenlebens; die bürgerliche Autobiographie dagegen lotet die Möglichkeiten der Autonomie aus: was der Mensch selber bewirken kann, um sein Leben gut zu leben. Damit haben wir auch einen für die Faszination der Gattung Autobiographie seit dem späten 18. Jahrhundert entscheidenden Punkt getroffen: Selber-Lebensbeschreiber (Jean Paul) bieten Orientierung in einer beängstigenden Phase der Öffnung der Geschichte. Sie zeigen durch ihr Beispiel, dass die chaotische Fülle der Eindrücke und das Spiel des Zufalls in eine Sinnperspektive gebracht und denkend überwunden werden können. Der neuzeitliche Prozess der Individualisierung hat einen Punkt erreicht, an dem sich der lesende Einzelne nicht mehr an allgemeingültigen VorMaurer, Reiseberichte. Ders., Neue Impulse der Reiseforschung. Art. Hagiographie. 26  Vgl. Maurer, Wunder und Aufklärung. 24  Vgl. 25  Vgl.

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schriften und Normen orientieren kann, sondern seinen Weg der Freiheit selber finden muss: autonom, aber auch selbstverantwortlich.27 Genau dazu helfen ihm Autobiographien: entweder, indem sie ihm die Last dieser Autonomie abnehmen und ihm zeigen, wie das Leben gelingen soll, oder, indem sie ihm exemplarisches Scheitern vorführen und ihn damit in Analyse und Interpretation verwickeln. Wo man im Prozess der Konfessionalisierung noch hatte versuchen können, durch einen großen und einen kleinen Katechismus Theologie und populäre Glaubenslehre zu versöhnen und zu christlichem Leben nach den Normen einer Konfession anzuleiten, lebt die Autobiographie seit dem späten 18. Jahrhundert gerade davon, dass die allgemeine Anweisung für alle Schichten und Stände ihre Überzeugungskraft verloren hat.28 Jedem einzelnen stellt sich mithin die Frage, wie er im Chaos der Meinungen und Lebensformen Grund und Halt gewinnen kann. Autobiographien dokumentieren also zunächst diesen Prozess der Individualisierung und stellen ihn vielleicht sogar provozierend aus wie Rousseau oder Friedrich Christian Laukhard, der schrieb, er wolle sich seinem Leser völlig individualisiert darstellen.29 Jede Fallgeschichte gelebten Lebens bedeutete für die Leser ein Identifikationsangebot. Jede Fallgeschichte war aber eben als solche ohne wirkliche Verbindlichkeit: Sie ermöglichte es dem Leser, das Angebot zurückzuweisen oder seine eigenen Lehren aus dem Leben eines anderen zu ziehen. Autobiographie bot in diesem Sinne jeweils nur ein Exemplum – ohne die Sanktionsgewalt einer Institution. Ihre Geltung und Bedeutung konnten jeweils neu verhandelt werden. Ein Säkularisationsphänomen stellt die Autobiographie noch in anderer Hinsicht dar. Im christlich-religiösen Weltbild der Tradition konnte die besondere Herausstellung des eigenen Lebens leicht als Hybris erscheinen, als ein Akt der Unbescheidenheit, der schon als solcher christliche Werthaltungen verletzte. Zwar gab es Muster der Tradition (wie schon Augustinus), welche christliche Autobiographien legitimieren konnten,30 doch bestand hier immerhin eine Problemspannung. Diese Klippe konnte freilich durch ein spezifisches religiöses Bewusstsein auch umschifft werden, nämlich durch die Vorstellung, dass Gott bzw. die Vorsehung nicht nur pauschal verantwortlich sei, sondern auch im konkreten Falle für den Lauf jedes einzelnen Menschenlebens. Solches mit all seinen Umständen darzustellen, konnte dann eine religiöse Erbauungsschrift werden, indem man die Wege 27  Verschiedene Facetten dieses Prozesses bei Dülmen, Entdeckung des Ich. Vgl. auch Maurer, Biographie des Bürgers, S. 255–266. 28  Vgl. Maurer, Biographie des Bürgers, S. 103 f. 29  Laukhard, Leben und Schicksale, 2. Bd., S. 511 f. 30  Vgl. Benrath, Autobiographie, christliche.



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Gottes mit der einzelnen Seele konkret nachzeichnete und Gottes spezielle Führung nachwies. Dies war beispielsweise ein Motiv für Johann Heinrich Jung-Stilling, aber auch für andere Pietisten.31 Eine aufgeklärte Religiosität konnte nun weitergehen und jede Biographie gewissermaßen als individuelle Theodizee schreiben. Unter einem von der Orthodoxie weitgehend befreiten religiösen Bewusstsein, wie es zahlreiche Aufklärer der Übergangszeit erlangt hatten, konnte man die Pluralität der Individuen gewissermaßen als Emanation göttlicher Kraft auffassen. Damit hatte aber nicht nur jeder das Recht, sein Leben zu beschreiben; er hatte geradezu die Pflicht, dies zu tun, weil sich ja in seiner Individualität eine Facette göttlicher Verwirklichung in der Welt manifestierte. Im Sinne Johann Caspar Lavaters etwa schrieb sich Gott in seinem (Lavaters) Leben gewissermaßen einen Strang seiner eigenen Autobiographie. Lavater begriff sein Leben als eine neue Offenbarung Gottes im Menschen.32 Jenseits der individuellen Legitimation für eine Autobiographie gibt es aber auch einen kollektiven Aspekt bürgerlicher Autobiographie, der hier anzuschließen ist. Bürger waren davon überzeugt, dass sie kollektiv die wesentliche, die treibende Kraft der Geschichte seien. Die Beschreibung bürgerlichen Lebens stellte in dieser Hinsicht auch den Versuch einer insgesamt bürgerlichen Deutung der Geschichte dar.33 Bürgerliche Weltsicht verlangte eine Form der Geschichtsschreibung, die den Herrschaftsgesichtspunkt nicht zum entscheidenden Movens der Geschichte machte und den Leistungsgesichtspunkt stärker ins Zentrum rückte: die menschliche Arbeit.34 In dieser Betrachtungsweise zeigte jede Beschreibung eines geglückten bürgerlichen Einzellebens den Beitrag der Bürger zum Fortschritt der Geschichte. Dieser kollektive Gesichtspunkt mochte partikularer oder dominanter sein; in irgendeiner Weise betrifft er fast jede Autobiographie des 18. und 19. Jahrhunderts. Je weiter der Horizont war, den sich ein Individuum erarbeitete, desto eher war es geneigt, sein persönliches Leben im Rahmen des historischen Fortschritts zu sehen. Die Einbettung der individuellen Geschichte in den Rahmen der allgemeinen Geschichte ist besonders forciert bei Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit bietet zu einem guten Teil eine allgemeine Kulturgeschichte des dritten Viertels des 18. Jahrhunderts, hingeordnet auf die Biographie des Helden.35 Aber auch bei kleine31  Jung-Stilling,

Lebensgeschichte. Das Buch der Seele, S. 86–126. Vgl. auch Sparn, Wer schreibt meine Lebensgeschichte? 33  Vgl. Maurer, Biographie des Bürgers, S. 121–156, 577–619. 34  Vgl. Maurer, Biographie des Bürgers, S. 378–435. 35  Goethe, Aus meinem Leben. 32  Schönborn,

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ren Geistern findet sich ein Bestreben, ihr Einzelleben in Beziehung zu setzen zum großen Ganzen. Beispielsweise beschrieb der Helmstedter Theologe Johann Balthasar Lüderwald 1789 sein Leben ausdrücklich als eine von ihm durchlebte (und mitgestaltete) fünfzigjährige Entwicklung der Aufklärungstheologie.36 Mit der Verallgemeinerung des historischen Bewusstseins stellte sich dem Autobiographen die zusätzliche Aufgabe, nicht nur sein eigenes Leben als geschichtlich bedingtes zu erkennen, sondern auch seinen eigenen Beitrag zur historischen Entwicklung in Betracht zu ziehen. Abseits der großen Tendenzen gilt es jedoch auch, die einzelnen Normen und Werte zu rekonstruieren, welche gelehrt und gelernt werden konnten. Im Bereich der bürgerlichen Werte unterscheide ich folgende Gruppen:37 (1)  Intellektuelle Werte: Der Glaube an die Vernunft, an die Gestaltbarkeit des Lebens, an die Möglichkeit einer rationalen Bewältigung kontingenter Lebenslagen liegt dem bürgerlich-neuzeitlichen Weltverständnis allgemein zugrunde. – Das große Thema der Aufklärung! (2)  Ökonomische Werte (virtutes oeconomicae): Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit.38 Hierher gehören Lebensregeln wie die von Benjamin Franklin, die nicht zufällig innerhalb einer Autobiographie verkündet wurden.39 (3)  Moralische Werte: Eine bestimmte Form der Lebensführung mit sexueller Zurückhaltung, Selbstbeherrschung und Triebrestringierung bestimmte ebenfalls das bürgerliche Lebenskonzept.40 (4)  Emotionale Werte: Zur bürgerlichen Erziehung gehörte auch eine gewisse Härte gegen sich selbst, aber im Sinne der Persönlichkeitswerdung und Abgrenzung gegen äußere Einflüsse. Bürgerleben wollte selbstbestimmt sein, autonom, und genau deshalb durfte es individuell sein, wenngleich nicht exzentrisch. Auf der Gegenseite wurde seit dem 18. Jahrhundert durchgehend eine hohe Emotionskultur ausgeprägt, zu der auch die weichen Seiten gehörten,41 eine hochgetriebene Empfindsamkeit, Empathie. (5)  Familiäre Werte: Die persönlichen Nahbeziehungen wurden nicht nur in Autobiographien besonders hervorgehoben: das Familienglück, die eheliche Liebe und die Freundschaftsbeziehungen. Die Hochschätzung dieser Werte zielte darauf ab, die Familie (und die Freunde) zu einem konfliktge36  Lüderwald,

Revision. zur Unterteilung dieser Gruppen und entsprechende Belege bei Maurer, Biographie des Bürgers, S. 232–377. 38  Vgl. Münch, Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. 39  Franklin, Autobiographie. Dazu: Herder, Werke, 7. Bd., S. 14–23. 40  Maurer, Biographie des Bürgers, S. 236–255. 41  Das weinende Saeculum. 37  Genaueres



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schützten Binnenraum zu stilisieren und gegen die (böse) Welt abzugrenzen, also gegen die Gesellschaft insgesamt als Außen.42 (6)  Soziale Werte: Autobiographien berichten stets vom Kampf des Individuums mit den Verhältnissen; sie zeigen tendenziell, dass der reine Rückzug auf sich selbst nicht glücklich machen kann und dass verschiedene Formen der Soziabilität zu kultivieren sind. Über die Familienbeziehungen und Freundschaftsbündnisse43 hinaus wurden freiwillige Zusammenschlüsse propagiert, die im 19. Jahrhundert die (von Thomas Nipperdey so genannte) gesellschaftsbildende Struktur des Vereins hervorbrachten.44 Aber auch in politischer Hinsicht galt für bürgerliches Leben: Nicht auf Fürsten und Institutionen war zu trauen, sondern durch eigene Aktivität, durch Engagement und Sich-Einmischen verwirklichte sich ein vorbildliches Bürgerleben.45 Das ist der allgemeine Werthorizont, in dem sich die Beschreibung individueller Lebensschicksale entfaltete. Gewiss ist jedes Leben durch individuelle Besonderheiten und durch ein Zusammentreffen jeweils neu konstellierter Möglichkeiten gekennzeichnet. Wir verstehen aber jetzt, dass genau diese Individualisierung in den bürgerlichen Wertehorizont hineingehört. Gewiss beruht die pädagogische Bedeutung von Autobiographien in hohem Maße auf dem Wiederkennungseffekt und auf der Verallgemeinerbarkeit der partikularen Erscheinungen. Wir verstehen aber jetzt, dass von den Grundvoraussetzungen des sich individualisierenden Genres ein besonderer Reiz ausgehen musste, der beispielsweise von allgemeinen Lebensvorschriften oder Lehrbüchern der Moral nicht ausgehen konnte. Zum Schluss ist noch auf ein herausragendes Phänomen hinzuweisen, das ich die pädagogische Strukturhomologie nennen möchte. In allen Autobiographien spielt die eigene Sozialisation eine besondere Rolle, die Beschreibung des Prozesses der Enkulturation. „Was ich bin, bin ich geworden“, formulierte Johann Gottfried Herder klassisch.46 Wie immer man das eigene Leben deuten mochte: Grundsätzlich bestand in bürgerlichen Autobiogra42  Vgl. Möller, Die kleinbürgerliche Familie. Weber-Kellermann, Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte. Dies., Die Familie. Reif, Die Familie in der Geschichte. Mitterauer/Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Sieder, Sozialgeschichte der Familie. Rosenbaum, Formen der Familie. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Burguière, Geschichte der Familie. Allert, Die Familie. Gestrich, Geschichte der Familie. Goody, Geschichte der Familie. Gestrich/Krause/Mitterauer, Geschichte der Familie. 43  Vgl. Meyer-Krentler, Der Bürger als Freund. Mauser/Becker-Cantarino, Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Manger/Pott, Rituale der Freundschaft. 44  Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland. 45  Vgl. Gall, Selbständigkeit und Partizipation. 46  Herder, Werke, 4. Bd., S. 359.

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phien eine Tendenz, sich den Erfolg selbst zuzuschreiben. Es sollte, in bürgerlicher Sicht, erwiesen werden, wie durch eigenes Bemühen ein geglücktes Leben herbeizuführen ist. Die formative Phase des Ichs war deshalb von herausgehobener Bedeutung: Kindheit, Schule, eventuell Universität. Diese Betonung der Selbstbildung war auch sozial distinktiv und abgrenzend von fundamentaler Bedeutung, weil die Welt des Adels, die Epoche der früheren Neuzeit, ja auf der Betonung des Erbes und des Erbens bestand, auf dem Geburtsrecht.47 Indem sich das Bürgertum als Leistungselite verstand, erschien es grundsätzlich von höchster Bedeutung, die Formation des leistungsbereiten Individuums zu beschreiben. Jede Autobiographie enthält deshalb eine eingehende Bildungsgeschichte. Und autobiographische Berichte über Kindheit und Ausbildung, Schule und Universität sind ausgesprochen beliebt als Quellen bei Historikern, welche jenseits der institutionellen Quellen des Bildungswesens den Alltag der Bildung einbeziehen wollen.48 Bei der Interpretation dieser Bildungsgeschichten einzelner Gebildeter ist nun freilich zu bedenken, dass durch die lebensgeschichtliche Position des Schreibens einer Autobiographie, zumeist im Alter, eine oft beträchtliche Zeitdifferenz zwischen dem Akt des Erinnerns und den Fakten der erinnerten Schulzeit besteht, die damit auch verklärungsanfälliger werden konnte. Sprechend der Titel der Autobiographie von Carl Ludwig Schleich (1922): Besonnte Vergangenheit.49 Jede geglückte Bildungsgeschichte bot sich an zum Nachvollzug: An Autobiographien konnte man lernen, wie Leben zu gestalten war. Genau deshalb ist der Hauptaspekt bei der Lektüre von Autobiographien nicht Zerstreuung oder Unterhaltung, sondern Belehrung. Genau deshalb konnten Pädagogen wie Johann Gottfried Herder die Lektüre von Autobiographien und ihre Auswertung im Unterricht propagieren.50 Genau deshalb hängen Autobiographie und Sozialisation aufs engste zusammen – auch dort, wo es sich nicht um die Beschreibung des Erlebens von Schule und Universität handelt.

Maurer, Biographie des Bürgers, S. 135–144, 150–157, 588–599. etwa, Voß, Kindheiten. Hardach-Pinke/Hardach, Kinderalltag. Schlumbohm, Kinderstuben. Rutschky, Deutsche Schul-Chronik. 49  Schleich, Besonnte Vergangenheit. 50  Herder, Werke, 7. Bd., S. 11–32. 47  Vgl. 48  Vgl.



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Die Wahrheit der Wunschbiographie: Erich Honecker Von Martin Sabrow Dem literaturwissenschaftlichen Gebot, Autobiographien als literarische Texte und nicht als historische Dokumente aufzufassen, kann die Geschichtswissenschaft nicht ohne Weiteres nachkommen, will sie nicht ihr Kerngeschäft aufgeben, das in der Erschließung einer immer sprachlich vermittelten, aber nie allein sprachlich bedingten Gewordenheit besteht. Auch wenn der Schritt von einem essentialistischen zu einem konstruktivistischen Verständnis biographischer Texte1 disziplinübergreifend anerkannt ist, gilt aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive doch: So subjektiv erzählt und so teleologisch verzerrt eine lebensgeschichtliche IchErzählung sich auch präsentieren mag, verweist sie doch stets über ihre Textualität hinaus auf eine Welt des Tatsächlichen, die – mit Johann Gustav Droysen zu sprechen – in der bloßen „Auffassung“ nicht aufgeht.2 Selbst wenn das Was dieser Erzählung ganz hinter ihr Wie zurücktritt, stellt sie doch schon darin eine historische Quelle dar, deren grundsätzliche Vetokraft das Reich der olympischen Muse Klio von dem ihrer Schwester Kalliope unterscheidet und den Wahrheitsanspruch der Geschichtsschreibung am Leben erhält. Dies gilt auch für die Spezies der einem gemeinsamen Narrativ folgenden Lebenserzählungen der DDR-Gründergeneration, in denen das schreibende Ich fast völlig mit dem Wir der kommunistischen Partei verschmolzen ist und dem legitimatorischen Beglaubigungsanspruch ihrer Herrschaft unterworfen war. Eine besondere Rolle unter den zahlreichen kommunistischen Ankunfts- und Bewährungsbiographien nehmen die Memoiren Erich Honeckers ein, die in der Politikkultur sozialistischer Staaten von fast singulärem Status sind. Kein anderer Parteiführer des Ostblocks hat sich wie er im Zenit der Macht an ein solches Vorhaben gewagt, das von vornherein in der unauflöslichen Spannung zwischen politischer Funktionalität und biographischer Wahrhaftigkeit stand. Wie Honeckers 1980 erschienene Memoiren Aus meinem Leben diese Spannung aufzulösen versuchten und was sie damit 1  Etzemüller, 2  Vgl.

Biographien, S. 102. hierzu den Einleitungsbeitrag von Volker Depkat in diesem Band.

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zum Verständnis der DDR-Geschichte beitragen können, soll Gegenstand der folgenden Betrachtung sein, die einige exemplarische Beobachtungen über das Verhältnis von Fiktionalität und Authentizitätsanspruch in der kommunistischen Biographik zusammenträgt.3 1. Das autobiographische Ich als Kunstfigur Das Erscheinen der persönlichen Lebensgeschichte von Erich Honecker, des ersten Mannes im zweiten deutschen Staat, kam einer Sensation gleich. Der Spiegel, der sich die Vorabdruckrechte gesichert hatte, stellte seiner fünfteiligen Artikelserie im Frühjahr 1980 eine vom Geist der Zeit kündende Charakterisierung voran, die auf die Wahrhaftigkeit eines Autobiographen abhob, der in seiner Offenheit nur widerstrebend der Raison seines Amtes Tribut gezollt habe: „Über 507 Seiten entsteht das Bild eines ehrlichen, ideologisch überzeugten deutschen Kommunisten, der die Vormacht Sowjet­ union kritiklos respektiert, der aber seinen deutschen Lesern sehr wohl ‚Probleme‘ einräumt und ‚Verbesserungen – etwa im humanitären Bereich – verspricht.“4 Der englische Pressetycoon Robert Maxwell selbst, in dessen Verlag Pergamon Press Honeckers Memoiren erschienen, suchte in einem ausführlichen Interview im Neuen Deutschland jeden Zweifel an der Authentizität des Textes zu zerstreuen: „Herr Honecker hat das Buch für mich, auf meine Bitte, geschrieben […]. Ich habe ihn gebeten, ob er da eintreten möchte und ob er das Buch schreiben will, und er hat ‚ja‘ gesagt und hat alles gemacht, um das Buch hinauszubringen. Das ist eine große Leistung. Das Buch ist gut geschrieben, nicht von einem Komitee, sondern von ihm persönlich.“5 Bemerkenswerterweise wahrte er diese Vorstellung auch in seiner Binnenkommunikation mit dem SED-Apparat während der Entstehungsphase des Werkes: „Mr. Maxwell bat, Mr. Honecker herzliche Grüße zu übermitteln und ihn zu der Disposition zu beglückwünschen. […] Mr. Maxwell bittet Mr. Honecker, folgende Vorschläge wohlwollend zu prüfen: […] Mr. Honecker sollte unbedingt Prinzipielles über die beiden deutschen Staaten, insbesondere über ihren Charakter und das Wesen und die Ziele ihrer Politik schreiben.“6 3  Der Beitrag führt Überlegungen fort, die ich in einem früheren Beitrag zu Honecker als Autobiograph entwickelt habe. Sabrow, Die kommunistische WirBiographie. 4  Anon., „Es gibt keine glatte Straße in die Zukunft“, S. 37. 5  Anon., „Interview mit dem Verleger Maxwell zur Autobiographie Erich Honeckers“. 6  Stiftung der Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv (i. f. ­SAPMOB­Arch), DY 30, vorl. SED, 32839., Notiz Anruf von Robert Maxwell am 14.11.1979 um 11 Uhr 30, 20.11.1979.



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Bei anderen Lesern und besonders solchen, die aus eigenem Erleben einer früheren Zusammenarbeit mit Honecker schöpfen konnten, löste die Lek­türe allerdings eher skeptische „Zurückhaltung und Verwunderung“ aus, wie der frühere FDJ-Funktionär Dieter Borkowski in einer Rundfunkrezension zum Ausdruck brachte. „Nein, mit der Wahrheit, mit der Klarheit, mit der Ehrlichkeit und Offenheit, wie der berühmte Arbeiterführer August Bebel einem seine Autobiographie schreibenden Genossen so dringlich empfahl, ist es bei dem Erben des Mythos von der kämpfenden, leidenden und siegenden Arbeiterklasse nicht weit her.“7 Doch auch der skeptische Borkowski musste es angesichts fehlender Nachweismöglichkeiten bei bloßen Mutmaßungen belassen. Erst nach 1989 wurde in ganzem Umfang deutlich, wie stark Honeckers Lebensbild von unrichtigen Angaben, gezielten Auslassungen und beschönigenden Glättungen durchzogen war. Ein vom Generalstaatsanwalt der DDR kurz nach Honeckers Abschied von der Macht in Auftrag gegebenes Gutachten bekräftigte, dass dessen archivierter Lebenslauf zahlreiche Falschangaben enthielt, und wurde vom Stern unter dem reißerischen Titel „Die Lebenslüge des Erich Honecker“ aufbereitet.8 Die Neubewertung seiner Ich-Erzählung schloss mit der Feststellung ab, dass der vermeintlich so ehrliche Autobiograph gerade die vor seiner Parteikarriere absolvierten Stationen seiner Vita nicht nur in persönlicher Färbung erzählt, sondern gleichsam von der subjektiven Faktenordnung jeder sprachlichen Bemächtigung in die gezielte Faktenmanipulation der autobiographischen Erfindung überführt habe. Ihm sei der Vorwurf zu machen, „daß er mit Beschönigungen, Auslassungen und Lügen eine Legende um diesen Teil seines Lebens wob, um mit dem Mythos vom aufrechten Antifaschisten den Anspruch auf die Macht im sozialistischen DDR-Staat zu legitimieren.“9 Allerdings waren die Verhältnisse etwas komplexer, als es diese rasante Delegitimierung der frühen neunziger Jahre ahnen lässt. Zunächst ging die Initiative zu dem für kommunistische Regime ungewöhnlichen Vorhaben einer Autobiographie des „führenden Repräsentanten“ gar nicht von Honecker aus, sondern bildete die Reaktion auf eine Anfrage von außen, in diesem Fall des erwähnten Verlegers Robert Maxwell. Am 15. Oktober 1979 informierte die Auslandsabteilung des SED-Zentralkomitees den Di7  Dieter Borkowski zur Autobiographie Erich Honeckers, Hessischer Rundfunk II, 24.9.1980, zit. n. der Transkription des Staatlichen Komitees für Rundfunk, Redaktion Monitor (Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik [i.f. BStU], ZAIG, 10205). 8  Borchers/Krause, Die Lebenslüge des Erich Honecker. 9  Przybylski, Tatort Politbüro, S. 36.

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rektor des ebenfalls beim ZK angesiedelten Instituts für Marxismus-Leninismus (IML) von der beabsichtigten „Herausgabe eines Werkes über den Genossen Honecker durch den britischen Verlag Pergamon Press“.10 Wenige Wochen später war aus der Biographie plötzlich eine Autobiographie geworden, deren Herstellung allerdings nicht dem englischen Verlag, sondern dem IML obliegen sollte. Eine vom Parteiinstitut eingesetzte Arbeitsgruppe11 versuchte die gelieferten Vorlagen zu einem in möglichst einheitlichem Duktus gehaltenen Gesamttext zu verarbeiten. Dennoch trugen von den 29 geplanten Kapiteln des Werkes schließlich lediglich die ersten acht, die Honeckers Lebensgeschichte bis 1945 behandelten, wenigstens formal das Gepräge persönlicher Erinnerungen, während die übrigen Abschnitte sich kaum verhüllt als eben die thematischen Rechenschaftsberichte des Parteiapparats zu unterschiedlichen Politikfeldern präsentierten, die sie ja tatsächlich auch waren. Ein von Honecker selbst flüchtig redigiertes und vermutlich auch diktiertes Typoskript ist nur für die in den ersten beiden Kapiteln behandelten Jugendjahre des Autobiographen überliefert, so dass Honeckers Autorenschaft an seiner Autobiographie eine völlige Fiktion darstellte. Dessen ungeachtet betraf das offenbar einzige Dilemma, in das sich Honeckers parteiamtliche Ich-Erzähler gestürzt fühlten, den Titel des Werkes, da man auch im IML offenbar eine überstarke Prononcierung der lebensgeschichtlichen Authentizität der Auftragsarbeit zu vermeiden suchte und sich wochenlang weder für „Erich Honecker. Autobiographisches“ noch für „Erich Honecker. Eine Autobiographie“ zu entscheiden vermochte.12 Aber auch zurückgenommene Formulierungen wie „Erich Honecker. Autobiographische Skizzen“ und „Erich Honecker. Autobiographische Momentaufnahmen“ lösten augenscheinlich in der Redaktionsgruppe keine Begeisterung aus, so dass am Ende ein denkbar blasser Vorschlag des englischen Verlegers Maxwell akzeptiert wurde, der aber doch die Spannung zwischen subjektivem Ich und politischem Ganzen am unverbindlichsten auflöste: „Erich Honecker. From my Life“ – „Aus meinem Leben“.13 Die beteiligten Parteifunktionäre und Honecker selbst dachten und handelten dabei im Horizont einer Denkwelt, die dieser Spannung nur wenig Raum ließ. Sie verstanden die Lebensgeschichte des obersten Repräsentan10  SAPMO-BArch, DY 30, 32839, Abt. Auslandsinformation an den Direktor des IML, Günter Heyden, 15.10.1979. 11  Andert, Nach dem Sturz, S. 120 f. 12  SAPMO, DY 30, vorl. SED, 32839, Bericht über die Gespräche zwischen Robert Maxwell, Pergamon Press LTD, und Günter Heyden, Gerhard Roßmann vom 6. bis 11. April 1980 in Oxford. 13  SAPMO, DY 30, vorl. SED, 32839, Bericht über die Gespräche zwischen Robert Maxwell, Pergamon Press LTD, und Günter Heyden, Gerhard Roßmann vom 6. bis 11. April 1980 in Oxford.



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ten der DDR grundsätzlich nicht als einen in seiner Subjektivität einzigartigen Entwicklungsroman, sondern als individuellen Vollzug eines kollektiven Prinzips. Die kommunistische Biographik war nicht auf das Ich des bürgerlichen Subjekts, sondern auf das Wir des Neuen Menschen ausgelegt14, und die Maxime der „Einheit von Objektivem und Subjektivem, Gesellschaftlichem und Persönlichem“15 galt für die Erinnerungen von Parteiveteranen ebenso wie für die Lebensgeschichte Erich Honeckers. Das Identitätskonzept des Neuen Menschen sah im Einzelnen das Ganze und im Ganzen das Einzelne. Einerseits konnte das IML etwa das 19. Kapitel von Honeckers Autobiographie unter der Überschrift „An der Spitze der Partei“ ganz selbstverständlich mit einem Drehbuch versehen, das das Ich ganz in den Dienst des Wir stellte: „Sinn meines Lebens und Wirkens: Alles für die Interessen der Arbeiterklasse für das Wohl des ganzen Volkes. Kontinuität und Kollektivität der Führung der SED.“16 Nicht weniger selbstverständlich konnte andererseits Honecker sich die parteioffizielle Kollektivanstrengung urheberrechtlich als eigene Autorenschaft zuschreiben lassen17 – ebenso wie seine individuelle Biographie die kollektive und am Ende zum Staat gewordene Idee der kommunistischen Befreiung verkörperte, ließ sich umgekehrt auch der kollektive Verstand der kommunistischen Partei ohne Umschweife als persönliche Leistung vereinnahmen. 2. Die parteiamtliche Deutungshoheit Honecker konnte sich darauf berufen, dass sein Leben als Berufsrevolutionär keineswegs nur seine eigene Angelegenheit war und auch nicht nur den regelmäßigen Kaderüberprüfungen des SED-Parteiapparats unterlag, sondern sich längst zum Schauplatz des Propagandakampfes in der deutschdeutschen Systemkonkurrenz gewandelt hatte. Im selben Zug hatten sich Kaderabteilung und Staatssicherheit von parteiamtlichen Widersachern zu biographischen Unterstützern gewandelt, die den führenden Genossen Honecker mit Hilfe ihrer eigenen Biographiepolitik gegen gegnerische Angriffe zu schützen versuchten. 14  Zahlmann, Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns, S.  175 ff. 15  Schiel, Zum Platz und Wesen der Erinnerungen bei der Verbreitung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes, S. 15. 16  SAPMO-BArch, DY 30, vorl. SED, 35267, Gliederung, o. D. 17  Entsprechend hob Honecker auch noch nach seinem Sturz in einer Persönlichen Erklärung hervor: „Für Artikel, Broschüren, Bücher nahm ich kein Honorar, das betrifft auch die Autobiographie ‚Über mein Leben‘, die auch im westlichen Ausland erschienen ist.“ E. Honecker, [Letzte Erklärung], 15.12.1989, abgedruckt in Andert, Nach dem Sturz, S. 148–150, hier S. 149.

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Schon gleich mit seinem Aufstieg zum Ersten Sekretär des SED-Zentralkomitees 1971 war seine Vita durch bundesdeutsche Veröffentlichungen, aber auch durch einzelne in der DDR publizierte Erinnerungen in das Zwielicht der Widersprüchlichkeit und Unglaubwürdigkeit geraten. Die in Berlin aufgewachsene Wera Küchenmeister hatte Honecker in den Tagen der Kapitulation als Wohnungsnachbarn in einem Berliner Mietshaus erlebt und davon in einem knappen Porträt berichtet, das 1969 erschien.18 Die Geschichte passte aber nicht zu Honeckers verschiedentlich geäußerter Behauptung, Ende April 1945 von der Roten Armee aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden befreit worden zu sein, in dem er eine zehnjährige Haft wegen Hochverrats absaß. Die Geschichte wurde noch mysteriöser, als ein anderer Zeitzeuge in seinen 1974 erschienenen Erinnerungen in aller Ausführlichkeit den Ausbruch aus dem Frauenjugendgefängnis in BerlinLichtenberg schilderte, den er am 6. März 1945 mit Erich Honecker zusammen unternommen haben wollte und an dessen Ende sein glückloser Kamerad Honecker wieder in die Fänge der NS-Justiz geraten sein sollte. „Diese Version ist völlig neu“, hakte die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach. „Sie widerspricht der glaubhaften Darstellung Wera Küchenmeisters, sie klingt aber auch wenig glaubhaft. Und schließlich sind bisher keinerlei Dokumente bekannt geworden, die diese Geschichte belegen könnten.“19 Um die schwindende Herrschaft der Partei über Honeckers Biographie neu zu festigen, griff das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in großem Stile ein. Im Januar 1978 legte die für die „Aufklärung und Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen“ zuständige Hauptabteilung IX / 11 einen „Maßnahmeplan“ vor, der sich auf die „Aufklärung feindlicher Pläne und Absichten gegen die Partei- und Staatsführung […] durch auftragsgemäße Presseveröffentlichungen in der BRD“ richtete und unter Wahrung der Konspiration nicht weniger als die „Erfassung und Aufbereitung sämtlicher verfügbarer Materialien“ und „vorhandene[r] Erkenntnisse, auch aus anderen Diensteinheiten des MfS […] und Forschungseinrichtungen des Partei- und Staatsapparates der DDR“ anstrebte.20 Mit Hilfe dieses gigantischen Aufwandes glaubte die Staatssicherheit aus der Kakophonie der umlaufenden Quellen und Zeugnisse so etwas wie eine auf Problemzonen fokussierte Gesamtbiographie der führenden Genossen mit Honecker an der Spitze gewinnen zu können: „In einer Analyse sind sämtliche zusammengetragenen Veröffentlichungen, Dokumente und Erkenntnisse zu bestimmten Zeitabschnitten im persönlichen Werdegang der 18  Küchenmeister,

Erich Honecker. Wir müssen alle hier raus. 20  BStU HA IX/11 SV 19/77, Bd. 27, Maßnahmeplan zum SV 19/77, 24.2.1978. 19  Winters,



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vorgegebenen Personen zu erfassen mit dem Ziel, Widersprüche darin auszuweisen, die tatsächlichen Quellen erkennbar zu machen und feindliche Absichten zu dokumentieren.“21 Was das bedeutete, lässt sich am an der Figur Erich Hankes veranschaulichen. In einem am 24. Februar 1978 bestätigten Maßnahmeplan setzte sich die Abteilung 11 das „Ziel der lückenlosen Ermittlung und Aufklärung der tatsächlichen persönlichen, beruflichen und politischen Entwicklung und Betätigung“ von Honeckers Mitgefangenem und Fluchtgenossen Erich Hanke. Der dazu ausgearbeitete und in nicht weniger als 24 Teilaufgaben gegliederte Fragenkatalog umfasste neben der „Auswertung der verfügbaren Gestapo-Vorgänge, der Akten des Oberreichsanwalts mit seinen Vernehmungen“ auch die „exakte Feststellung seiner tatsächlichen illegalen Tätigkeit von Juni 1933 bis August 1935 in Berlin und Beschaffung von Beweisen dazu“ sowie die „Aufklärung und Dokumentierung der Umstände seiner Verhaftung“.22 Nimmt man noch hinzu, dass das MfS sich auch die Beschaffung von Hankes Kaderakte und seiner Personalunterlagen bei der Humboldt-Universität Berlin sowie eine Einschätzung seiner Haltung im Zuge der Verhaftung vornahm23, werden die Dimensionen des Vorhabens erkennbar: Das MfS ging 1978 daran, Honeckers lebensgeschichtliches Umfeld in einer solchen Lustrationstiefe zu durchdringen, dass alle potentiellen Quellen von Parallel- und Gegenerinnerungen identifiziert und notfalls auch durch gezielte Desavouierung neutralisiert werden konnten, bevor sie der parteioffiziellen Lebensgeschichte des Staatschefs in ihrer Deutungshoheit gefährlich zu werden vermochten. Die Hauptabteilung IX / 11 entwickelte sich auf diese Weise zu einem Institut des sozialistischen Gedächtnisses, das ohne Bedenken juristische und historiographische Verfahren ebenso zusammenführte wie den Blickwinkel der nationalsozialistischen Verfolgungsbehörden mit dem ihrer kommunistischen Gegenspieler. Die einzige Instanz, die das MfS an der schrankenlosen Verfügung über die NS-Akten Honeckers hinderte, war der Parteiapparat selbst, der die wichtigsten NS-Unterlagen selbst sekretierte und über den Zugang zu ihnen wachte.

21  BStU

HA IX/11 SV 19/77, Bd. 27, Maßnahmeplan zum SV 19/77, 24.2.1978. HA IX/11 SV 19/77, Bd. 27, Maßnahmeplan zum SV 19/77, 24.2.1978. 23  „Tiefgründige Auswertung und Analysierung der faschistischen Prozeßunterlagen, um die Ursachen seiner Verhaftung und der anderen Personen festzustellen. (Welche Angaben belastenden Charakters zu welcher Zeit zu welchen Personen getätigt?).“ BStU HA IX/11 SV 19/77, Bd. 27, Maßnahmeplan zum SV 19/77, 24.2.1978. 22  BStU

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3. Strategien der glaubwürdigen Glättung Das Erscheinen der Autobiographie Erich Honeckers beseitigte die bislang bestehende Unsicherheit. Nun endlich lag eine kollektiv verfasste und politisch abgesicherte Lebensschilderung vor, die durch Verfassernamen und Frontispizbild authentifiziert und mit unbezweifelbarer Deutungshoheit über das Leben Erich Honeckers ausgestattet war. Allerdings hatte dieser Sieg seinen Preis, denn er verlangte eine Reihe von Retuschen, um den Vorbildcharakter der kommunistischen Musterbiographie Erich Honeckers zu sichern. Offenkundiger Stilisierung unterlag dabei vor allem das Bild von Honeckers persönlicher und familiärer Standhaftigkeit gegenüber dem NSRegime. Seine Autobiographie umging die mehrere Mitangeklagte belastenden Aussagen, die er im ersten Schock der Verhaftung 1935 gemacht hatte, und sie streifte nur knapp das familiäre Sakrileg des jüngsten Bruders, der sich auf die Seite der Nationalsozialisten geschlagen hatte. Sie unterdrückte die zeitweilige Hoffnung auf Begnadigung zur Frontbewährung, die Honeckers Vater mit Unterstützung des Brandenburger Zuchthausdirektors durch zwei Gnadengesuche unter Beteuerung der erfolgreichen Läuterung seines Sohnes zum regimeloyalen Volksgenossen zu befördern gesucht hatte. Honeckers Memoiren gaben keinen Aufschluss über die einzelgängerische Verschlossenheit und manchen Mitgefangenen befremdende Büttelhaltung, in der Honecker seine verschiedenen Kalfaktorenposten während der Haftzeit in augenscheinlicher Distanz zum kommunistischen Netzwerk seines Zuchthauses verbracht hatte. Sie verschwiegen die näheren Umstände seiner Befreiung 1945 ebenso wie seine erste Eheschließung mit einer Aufseherin des Berliner Frauengefängnisses, in dem er selbst viele Monate inhaftiert war und von dem aus regelmäßig weibliche Opfer des NS-Regimes zur Hinrichtung nach Plötzensee überstellt wurden. Doch bemerkenswert ist nicht so sehr der Umstand, dass Honecker seinen Lebenslauf im Rahmen der für kommunistische Regime charakteristischen „politics of biography“24 redigierte, sondern vielmehr, wie er die kohärenzbedrohenden Aspekte seines Lebens in seine Kontinuitätsbiographie integrierte: In keinem der genannten Fälle hieß simples Verschweigen sein Rezept, sondern vielmehr bestätigende Einpassung. Dazu kam ein geschicktes Verfahren der Dekontextualisierung und Sinnverschiebung zur Geltung. So unterdrückte Honecker seine für einen kommunistischen Spitzenfunktionär durchaus anstößige Verbindung zu der früheren Wärterin seines eigenen Gefängnisses durchaus nicht rundweg. Vielmehr fand seine spätere erste Ehefrau als „gute Bekannte“ und heimliche Unterschlupfgeberin in ihren verschiedenen Rollen ungehinderten Eingang in seine Autobiographie – oh24  Epstein,

The Last Revolutionaries, S. 9.



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ne allerdings vom Autor als ein und dieselbe Person oder gar als spätere Gattin identifizierbar zu werden. Das Schreibprinzip der Sinnverkehrung tritt wiederum plastisch in Bezug auf Honeckers jüngsten Bruder Robert hervor, dessen politischer Fahnenwechsel von Ernst Thälmann zu Adolf Hitler in der Familie Honecker als dauernd schmerzende Wunde der Familiengeschichte empfunden wurde. Der 1922 geborene Benjamin der Familie hatte sich nach dem Rückfall der Saar an das Deutsche Reich zum Nationalsozialismus bekannt, war zum Gefolgschaftsführer in der Hitler-Jugend aufgestiegen und hatte im Deutschen Afrika-Korps den Seekrieg in der Ägäis überstanden, bis er im Mai 1945 in britische Gefangenschaft geriet. Dort zog er sich eine tropische Wurmerkrankung zu, die ihm im Sommer 1947 die vorzeitige Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft eintrug. Zunächst nach Munsterlager in Deutschland überführt, wurde er kurze Zeit später in seinen Heimatort Wiebelskirchen entlassen, wo er wenige Wochen später im elterlichen Hause starb. Nichts hätte für Erich Honecker nähergelegen, als in seiner Lebensbeschreibung den familiären Makel des braunen Bruders durch Schweigen zu kaschieren. Eben diesen Weg aber wählte er in seiner 1980 publizierten Offizialautobiographie keineswegs, sondern suchte in bemerkenswerter Weise Faktentreue und Familienidentität in erzählerischen Einklang zu bringen. Er bewältigte die autobiographische Herausforderung durch eine aufschlussreiche Kontextverschiebung, die den fehlgehenden Bruder zum bloßen Opfer der Verhältnisse machte: „Man wollte ihn […] zu einem ‚kleinen Führer‘ machen. Das gelang nicht ganz, denn als mein Bruder Robert in den Gewässern Griechenlands in englische Gefangenschaft geriet, zog er sich in den heißen Tagen und kühlen Nächten im Sande Ägyptens eine unheilbare Krankheit zu, an der er nach der Rückkehr […] in Wiebelskirchen starb.“25 Honeckers narratives Mittel zur Versöhnung von Faktizität und Fiktionalität liegt in der kausalen Verbindung von sachlich unzusammenhängenden Geschehnissen – denn natürlich verurteilte Roberts Tod 1947 nicht das nationalsozialistische Werben um ihn in den dreißiger Jahren zum Scheitern. So deutlich hier der glättende Eingriff fassbar wird, mit dem Erich Honecker – wie viele andere Vertreter der kommunistischen Herrschaftselite auch – seine Lebensgeschichte fugenlos in das entindividualisierte Format der kommunistischen Kontinuitätsbiographie einpasste, so stark tritt zugleich das Bemühen hervor, in diesem Vorgang zugleich die persönliche Glaubwürdigkeit zu wahren. Auch die Lebenslehre von Erich Honecker konnte in ihrer Vorbildlichkeit nur allmächtig sein, weil sie im Selbstverständnis des Autors in jeder Hinsicht wahr blieb. 25  BArch,

NY 4167, 651, Erich Honecker, [Aus meinem Leben], Ms., 17.12.1979.

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Zu diesem Zweck bediente sich der Autobiograph neben der historischen Dekontextualisierung und Sinnverlagerung einer weiteren Erzählstrategie, die sich als zirkuläre Intertextualität beschreiben lässt: Honecker suchte in seinen Memoiren mit ausgeprägter Vorliebe den narrativen Schulterschluss mit bereits publizierten Erinnerungen anderer. So schildert er seine immer strittige Flucht fast ausschließlich, indem er bereits veröffentlichte Erinnerungen ausdrücklich zitierte oder stillschweigend paraphrasierte. Als Beispiel für die Wahrheitsbekräftigung durch ausdrückliche Bezugnahme kann Honeckers Schilderung seiner undurchsichtigen Rückkehr nach Berlin bei Kriegsende dienen: „Am 4. Mai 1945 war ich wieder in der Landsberger Straße 37, in dem Haus, in dem ich damals Unterschlupf gefunden hatte, vielmehr in dem, was – wie Wera Küchenmeister in ihren Erinnerungen schreibt – ‚von der muffigen Mietskaserne übriggeblieben war, in mühselig zusammengehaltenen Mauern, hinter Bergen von geborstenen, rauchgeschwärzten Steinen‘.“26 Neben dem ausgewiesenen Zitat stand der Schulterschluss durch Übernahme: „Als der Februar des Jahres 1945 seinem Ende zuging, erwogen Erich Hanke und ich immer ernsthafter, das Arbeitskommando zu verlassen. Den Ausschlag gab schließlich eine Information, daß der Generalstaatsanwalt beim Kammergericht Berlin, dem das Arbeitskommando unterstand, im Zusammenhang mit unserer geplanten Entlassung vom SS-Kommandoführer [recte: Oberwachtmeister] Seraphin [recte: Seraphim] eine Bürgschaft über unsere politische ‚Zuverlässigkeit‘ verlangt hatte. Dieser lehnte ab. Als Erich Hanke mich davon unterrichtete, stand für mich fest: Jetzt ist jede Diskussion überflüssig! Wir müssen hier ‚raus!‘ “27 Sechs Jahre vorher hatte Hanke in seinen eigenen Memoiren geschrieben: „Da teilte mir die stellvertretende Anstaltsleiterin des Frauengefängnisses Barnimstraße mit, der Generalstaatsanwalt, dem unser Kommando unterstellt war, habe von SSHauptsturmführer [recte: Oberwachtmeister] Seraphin [recte: Seraphim] eine Bürgschaft über unsere politische Zuverlässigkeit verlangt. Seraphin habe jedoch eine Zuverlässigkeitserklärung abgelehnt. Als ich Erich davon in Kenntnis setzte, meinte er: ‚Jetzt ist jede Diskussion überflüssig! Wir müssen hier ‚raus!‘ “.28 Die Bezugnahme war zirkulär, weil Hanke seine Erinnerungen vor der Freigabe Honecker zur Begutachtung vorgelegt hatte. In der Sache hatte Seraphim übrigens mit der Angelegenheit wenig zu tun. Hanke wie Honecker hatten vielmehr ihre jeweiligen Gnadengesuche mit der Bitte um Frontbewährung verknüpft, und ihnen war vermutlich bedeutet worden, dass der 26  Honecker,

Aus meinem Leben, S. 107. Aus meinem Leben, S. 103. 28  Hanke, Erinnerungen eines Illegalen, S. 222. 27  Honecker,



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Berliner Generalstaatsanwalt dieser Bitte noch im März zu entsprechen beabsichtigte. Mit anderen Worten: Sie flohen nicht, weil sie in der Haft umzukommen fürchteten, sondern um nicht durch Freilassung in Hitlers letztes Aufgebot zu geraten. Noch aufschlussreicher wird das Verfahren der zirkulären Intertextualität in einer anderen Episode, die nicht undelikat war: Honecker war nämlich nicht mit den anderen politischen Gefangenen als geschlossener Trupp von Brandenburg nach Berlin gezogen, wo die meisten dann von Ulbricht aufgesucht und mit politischen Aufgaben versehen wurden. Vielmehr hatte er sich auf eigene Faust gleich nach der Befreiung mit seinem Haftkameraden Alfred Perl auf den Weg gemacht, was seine völlige Isolierung im Zuchthaus unterstreicht. Gegen Perls Zeugnis schreibt Honecker aber, am selben Tag wie die befreiten Kameraden losmarschiert zu sein, und belegt diese Falschbehauptung mit einem Rückgriff auf die Erinnerungen von Wilhelm Thiele: „Zuvor nahm ich meine persönlichen Sachen in Empfang und verabschiedete mich von Wilhelm Thiele. ‚Als wir uns trennten‘, erinnerte er sich später, ‚hatten wir gerade unsere Kleidersäcke aus der Effektenkammer geholt. Dabei fiel mir ein, daß ich ja ohne Mantel ins Zuchthaus eingeliefert worden war. Als Erich das hörte, holte er aus seinem Kleidersack einen schönen, fast neuen Covercoat und – hilfsbereit, wie er immer war – schenkte ihn mir.‘“29 So steht es auch tatsächlich in Thieles publizierten Erinnerungen. Aber es steht nicht in seinem Manuskript, dass er vor Freigabe Honecker zur Einsichtnahme übergeben hatte. Honecker selbst hatte die Episode, die Thiele gar nicht mehr präsent war, in Thieles Erinnerungen hineingebracht, um sich dann später explizit auf sie zu berufen. In diesen biographischen Einpassungsverfahren kommt das erstaunliche Vermögen der vor 1933 sozialisierten Gründergeneration zum Ausdruck, die versicherte Wahrhaftigkeit der eigenen Biographie auch gegenüber widerstrebenden Aspekten der Lebensgeschichte zu bewahren, ohne sich selbst der Lüge überführen zu müssen. 4. Das Narrativ der kommunistischen Wir-Biographie Das zentrale Gestaltungsprinzip der auf dieser Grundlage erwachsenen und geformten Lebensgeschichte bestand in der narrativen Darlegung biographischer Kontinuität. In der über alle Zeitenwenden des 20. Jahrhunderts hinweg reichenden Konstanz seiner Haltung und Denkweise fand Honecker den Kern seiner Ich-Identität, und der gleich am Anfang mitgeteilte Kernsatz seiner Memoiren lautete: „Ich kann mich an keinen Augenblick in meinem Leben erinnern, da ich an unserer Sache gezweifelt hätte – weder in der Kindheit noch in der Jugendzeit, den Jahren der politischen Arbeit 29  Honecker,

Aus meinem Leben, S. 112.

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im Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) und des Eintritts in die Kommunistische Partei Deutschlands, weder im antifaschistischen Widerstandskampf 1933 bis 1935 noch im faschistischen Zuchthaus 1937 bis 1945, weder in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße, dem Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), im Dezember 1935 noch vor dem ‚Volksgerichtshof‘ im Juni 1937, weder in der Kaserne der ‚Leibstandarte Adolf Hitler‘ der faschistischen ‚Schutzstaffel‘ (SS) Ende 1935 noch im Angesicht des Henkers, der während der anderthalb Jahre Untersuchungshaft mein ständiger Begleiter war.“30 Doch vom subjektiven Ich und seinen persönlichen Empfindungen ist an den einzelnen Stationen des sich unter diesen Bedingungen entfaltenden Lebens in Honeckers Erzählung kaum die Rede, und noch in der Hand der nationalsozialistischen Häscher fand Honecker sich „in der Gewißheit bestärkt, daß die Partei auch hinter Zuchthausmauern lebte und kämpfte“.31 Der kommunistische Bildungs- und Entwicklungsroman zielte nicht auf die Reifung des Helden zum autonomen Subjekt, sondern auf die durch Erfahrung und Einsicht bewirkte Aufhebung dieser Autonomie im Schritt „vom Ich zum Wir“,32 nicht individuelle Einzigartigkeit sollte er illustrieren, sondern lehrreiche Vorbildhaftigkeit. Er verfolgte das Leben von „Helden, die sich über verschiedene Stationen bis an die Wende zu sozialistischem Bewußtsein durchgearbeitet haben“;33 er feierte den „neuartigen, den so­ zialistischen Menschentyp“,34 der die Überwindung der subjektiven Individualität zugunsten der sozialistischen Gemeinschaft verkörperte. Schon darum lesen sich die selbst verfassten oder von Auftragsschreibern besorgten Lebensabrisse kommunistischer Politiker des 20. Jahrhunderts so schablonenhaft und unpersönlich. Fast immer schimmert noch in ihren kräftigsten Rundungen dasselbe Baugerüst durch: die gedrückten Lebensumstände des Herkommens, aus denen der von klugem Rat und behutsamer Anleitung gebahnte Weg in die kommunistische Arbeiterbewegung führt, bis der Protagonist nach harten Prüfungen sein Ziel in der erfüllten Arbeit für die siegreiche Partei des sozialistischen Fortschritts findet. Noch die mündlich überlieferten Kampferinnerungen kommunistischer Parteiveteranen, die das Institut für Marxismus-Leninismus sammelte und aufbereitete, wurden vor der Veröffentlichung einer sorgsamen Prüfung unterworfen, um „ ‚sub30  Honecker,

Aus meinem Leben, S. 9. Aus meinem Leben, S. 96. 32  Zur ubiquitären Nutzung dieser Propagandaparole der fünfziger Jahre vgl. beispielsweise Schier, Alltagsleben im „Sozialistischen Dorf“, S. 150. 33  Schlenstedt, Die neuere DDR-Literatur und ihre Leser, S. 145. 34  Zahlmann, Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns, S. 175, 31  Honecker,



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jektivistische‘ Darstellungen auszuschalten“ und in jeder individuellen Lebenserinnerung das Gedächtnis der Partei zur Geltung zu bringen: „Bei der Veröffentlichung von Erinnerungen ist gewissenhaft darauf zu achten, daß sie der objektiven Wahrheit entsprechen, von den Beschlüssen der Partei ausgehen und helfen, die aktuelle Politik der Partei zu unterstützen.“35 In den narrativen Konventionen der kommunistischen Wir-Biographik erzählte auch der SED-Generalsekretär Erich Honecker sein Leben. Konsequent gliederte er – bzw. gliederten seine parteiamtlichen Autoren – seinen Werdegang in Lebensabschnitte wie „Aus einer Arbeiterfamilie“, „Als Kind zu Jung-Spartakus“, aber auch „Geburtsstunde unseres Staates“, „Die millionste Wohnung“ und „Die Geburtenrate steigt wieder“ zu DDR-Zeiten, um so bis in die anthropomorphe Metaphorik hinein die rückhaltlose Verschmelzung von persönlichem und politischem Leben anzuzeigen.36 Der an Erich Honeckers Autobiographie ablesbare und über 1989 hinwegreichende Glaube an eine unangreifbare und nie verletzte Ich-Kontinuität lässt die Bindungskraft der kommunistischen Sinnwelt fassbar werden, die zumindest für die führenden SED-Funktionäre der DDR-Gründergeneration keine Konfrontation mit Zensur und Tabu mit sich brachte, sondern sich ihnen als ein vorwiegend unbefangen gelebtes Leben darstellte. Die Einsträngigkeit seiner Biographie wurde Honecker nicht aufgedrängt; sie bildete seinen eigenen Identitätskern. 5. Die Wahrheit der Wunschbiographie Zusammen mit der in der DDR erschienenen Erinnerungsliteratur kommunistischer Parteifunktionäre im Ganzen stellt Honeckers Lebensbericht einen Sonderfall der autobiographischen Textgattung dar. Kaum irgendwo sonst tritt der durch Zensur und Selbstzensur noch gesteigerte Charakter der retrospektiven Ich-Erzählung so unmittelbar und eindrücklich als Autofik­ tion in Erscheinung wie in der gelenkten Memoirenproduktion im Staats­ sozialismus, der noch dem verschlungensten Lebensweg die narrative Homogenität der sozialistischen Meistererzählung aufherrschte.37 Doch nicht darin liegt der eigentlich interessante Befund der zeithistorischen Beschäftigung mit diesem Teilbereich des sozialistischen Geschichtsdiskurses. Der steckt vielmehr in der Selbstverständlichkeit, mit der selbst 35  Richtlinien über die Arbeit der Gruppe Erinnerungen, 31.5.1961, zit. n. Lokatis, S. 199. Zur Sammlung und Bearbeitung von „Veteranenerinnerungen“ im Zentralen Parteiarchiv der SED: Vierneisel, Das Erinnerungsarchiv. 36  Honecker, Aus meinem Leben, S. 7 f. 37  Beispiele bei Lokatis, Der rote Faden, S. 191 ff.

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die an der Erarbeitung der Autobiographie unmittelbar Beteiligten Honecker als tatsächlichen Autor seiner Biographie anerkannten, und in der Geltungswahrheit, die sie der Narration seines Lebens zusprachen. Nicht, dass der biographische Pakt, den der Autor Honecker mit seinem Publikum über seine Identität mit dem Ich-Erzähler einging, auf Täuschung beruht, und auch nicht, dass schon die behauptete Autorenschaft eine restlose Fiktion darstellt, verdient in diesem Fall herausgehoben zu werden, sondern die Bereitschaft, die autobiographische Illusion für die Wirklichkeit zu nehmen und im Sinne Droysens die subjektive „Auffassung“ als objektive „Tatsächlichkeit“ anzuerkennen. Dass es zu einer solchen Verdinglichung der autobiographischen Anschauung kommen konnte, hängt mit dem Charakter des historischen Herrschaftsdiskurses in der DDR zusammen und fußt auf der behaupteten Einheitlichkeit von Objektivität und Parteilichkeit ebenso wie auf dem eigentümlichen Präsentismus des ostdeutschen Geschichtsdenkens.38 Auch ist natürlich die schwer abzuschätzende Geltungstiefe der sozialistischen Meistererzählung in Rechnung zu stellen und ebenso die verbreitete Praxis des doublespeak, die hinter der taktischen Anpassung an die diskursiven Normen durchaus radikal abweichende Vorstellungen verbergen konnte. Dennoch bleibt die Selbstverständlichkeit erstaunlich, mit der ein westlicher Verlag an der Fiktion des Autors Honecker festhielt und mit der die einzelnen Ressorts des Parteiapparat ihre Rechenschaftsberichte als Bausteine einer Autobiographie verstehen mochten – und vor allem der Ich-Erzähler selbst sein Leben als personalisierten Ausdruck der Parteigeschichte zu begreifen willens war. Von der noch über die Existenz der DDR hinausreichenden Wirkungsmacht seiner eigenen biographischen Autofiktion zeugen zahlreiche Äußerungen Erich Honeckers, der auch nach dem Untergang der DDR keinen Zweifel an der unveränderten Richtigkeit seiner zu DDR-Zeiten verbreiteten Ich-Erzählung hegte: „Ich brauche mein Buch ‚Aus meinem Leben‘ nicht umzuschreiben und auch nicht meine Kaderakten im Zentralkomitee der SED“39, gab er 1992 zu Protokoll und hatte schon in den Monaten nach seiner Entmachtung ihn aufsuchenden Interviewpartnern den Eindruck vermittelt, mit seiner Lebensgeschichte so ungebrochen wie unbefangen umzugehen.40 Weder brachte ihn die Anspielung auf seine vor 1989 gern bekunausführlich: Sabrow, Das Diktat des Konsenses, bes. S. 394 ff. Zu dramatischen Ereignissen, S. 67. 40  Der Liedermacher Reinhold Andert registrierte bei seinen ausführlichen Gesprächen mit Honecker in Lobetal: „Ich merkte aber bald, daß ich von Honecker ehrliche Antworten bekam, wenn ich Fragen persönlich, mit der eigenen Biographie verwoben, stellte.“ Andert, Nach dem Sturz, S. 116. 38  Hierzu

39  Honecker,



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dete Stalinverehrung aus der Fassung41 noch die Frage, ob ihm jemals Zweifel über seine aufopfernde Tätigkeit im Widerstand gegen Hitler gekommen sei: „Ich muß sagen, Zweifel hatte ich da nie, sonst hätte ich von dieser Arbeit abgesehen. Ich hatte noch nicht einmal Zweifel, als wir in die Gestapo-Hölle eingeliefert wurden, in das Prinz-Albrecht-Palais.“42 Folgerichtig beschäftigte er sich schon in der Untersuchungshaft 1992 mit neuen autobiographischen Schreibplänen, offenkundig ohne von der Sorge befallen zu sein, dass die Zäsur von 1989 den retrospektiven Blick auf seine Lebensgeschichte verändert haben könne: „Auf die Frage, ob er, Herr Honecker, beabsichtige, seine Lebenserinnerungen zu schreiben, gibt er an, daß er schon dabei sei. Er habe damit in Moskau begonnen.“43 Zu einer zusammenhängenden Ausführung dieser Schreibpläne sollte es nicht mehr kommen, aber bis zu seiner Ausreise nach Chile Anfang 1993 legte Erich Honecker doch in zahlreichen mündlichen und schriftlichen Äußerungenin einer Weise Rechenschaft über sein Leben ab, die belegt, wie das Narrativ der biographischen Kontinuität auch seine Selbstwahrnehmung nach dem Ende der DDR bestimmte. Repräsentativ für viele andere Angehörige der veteran communists begriff auch Honecker nicht nur den Aufstand der Massen gegen die Diktatur im Herbst 1989 als Sieg der Konterrevolution, sondern verstand auch die beginnende juristische Aufarbeitung seiner Herrschaft als Fortsetzung der nationalsozialistischen Verfolgung: „So wie ich am 4. Dezember 1935 von der Gestapo in der Klosterstraße in die Mitte genommen wurde im Auto, so ging auch diese Fahrt von der Charité bis nach Rummelsburg.“44 Noch bis in die „Letzten Aufzeichnungen“ aus der Moabiter Untersuchungshaft 1992 / 93 zieht sich auf diese Weise Honeckers auf den Leitgedanken der lebensgeschichtlichen Konti­ nuität gegründete Ich-Synthese, die ihm zusammen mit der Ortsidentität des Moabiter Untersuchungsgefängnisses die Gewissheit gab, seit sechzig Jahren als Kommunist gegen den immer gleichen Gegner zu kämpfen: „Nach 57 Jahren sehe ich den Komplex Moabit also wieder von innen. Weihnachten 1935 hatte mich die Gestapo aus ihrer Zentrale in der Prinz-Albrecht41  So im Gespräch mit Andert: „[Frage:] Wie denken Sie heute über Stalin? [Antwort Honecker:] Ich habe ihn nicht persönlich kennengelernt und habe nie ein Gespräch mit ihm geführt. [Frage:] Da sind Sie ja fein raus. [Antwort Honecker:] Was heißt hier fein raus? Ich werde nie leugnen, trotz all der anderen Dinge, die Rolle Stalins im revolutionären Weltprozeß bis zum Sieg im Vaterländischen Krieg und der Befreiung des deutschen Volkes.“ Andert/Herzberg, Der Sturz, S. 247. 42  Andert/Herzberg, Der Sturz, S. 175. 43  Archiv der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin, 2 Js 26/90, Bd. 28, Volkmar Schneider, Gerichtsärztliche Untersuchung in der Strafsache gegen Honecker und andere, 26.8.1992, S. 23. 44  Andert/Herzberg, Der Sturz, S. 44.

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Straße hierher gebracht. Anderthalb Jahre war ich damals hier in Untersuchungshaft. Für wie lange wird es diesmal sein? [–] Es sind dieselben Flure und die gleichen Gänge.“45 Solcherart strukturierte Lebenserzählungen „als Quellen im direkten Durchgriff auf eine hinter ihnen stehende Realität“46 zu lesen, wird niemandem einfallen. Und doch stellen sie mehr als nur semiotische Systeme dar, die nur auf sich selbst verweisen. Sie konstituierten eine eigene Bedeutungsrealität, deren zeitgenössische Geltungskraft die geschichtliche Macht des sozialistischen Experiments als eine der drei gesellschaftlichen Großordnungen des 20. Jahrhunderts zu erklären hilft. So fiktional seine Autobiographie sein mochte, so real blieb bis zum Tode Erich Honeckers Glaube an ihre Wahrheit, selbst dann noch, als die in ihr enthaltenen Retuschen und Vorspiegelungen offen zutage lagen. Literaturverzeichnis Andert, Rainer / Herzberg, Wolfgang: Der Sturz. Honecker im Kreuzverhör. Berlin /  Weimar 1990. Andert, Reinhold: Nach dem Sturz. Gespräche mit Erich Honecker. Leipzig 2001. Anon.: „Es gibt keine glatte Straße in die Zukunft“. Der Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, veröffentlicht seine Memoiren“, in: Der Spiegel 35 / 1980, 25.8.1980, S. 36–40. Anon.: „Interview mit dem Verleger Maxwell zur Autobiographie Erich Honeckers. Erläuterungen des Herausgebers zum Zustandekommen des Buches ‚Aus meinem Leben‘ “, in: Neues Deutschland, 2.9.1980. Borchers, Andeas / Krause, Dieter: Die Lebenslüge des Erich Honecker, in: Der Stern 48 / 1990, S. 28–34. Depkat, Volker: Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt. Zum Quellenwert von Autobiographien für die historische Forschung, in: Thomas Rathmann / Nikolaus Wegmann: „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbild in der Diskussion, Beiheft zur Zeitschrift für deutsche Philologie. Berlin 2004. S. 102–117. Epstein, Catherine: The Last Revolutionaries. German Communists and Their Century. Cambridge / MS. 2003. Etzemüller, Thomas: Biographien. Lesen – erforschen – erzählen. Frankfurt am Main / New York 2012. Hanke, Erich: Erinnerungen eines Illegalen. Berlin (O) 1974. Honecker, Erich: Aus meinem Leben. Berlin (O) 1980. 45  Honecker, 46  Depkat,

Letzte Aufzeichnungen, S. 14. Nicht die Materialien sind das Problem, S. 107.



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Honecker, Erich: Letzte Aufzeichnungen. Mit einem Vorwort von Margot Honecker. Berlin 2012. Honecker, Erich: Zu dramatischen Ereignissen. Hamburg 1992. Küchenmeister, Wera: Erich Honecker, in: Fritz Selbmann (Hg.): Die erste Stunde. Porträts. Berlin (O) 1969. S. 222–231. Lokatis, Siegfried: Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht. Köln / Weimar / Wien 2003. Przybylski, Peter: Tatort Politbüro. Die Akte Honecker. Berlin 1991. Sabrow, Martin: Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969. München 2001. Sabrow, Martin: Die kommunistische Wir-Biographie und ihr Ich-Erzähler, in: Berliner Debatte Initial 23 / 2012, H. 2, S. 23–35. Schiel, Ilse: Zum Platz und Wesen der Erinnerungen bei der Verbreitung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes. Erfahrungen und Probleme des Sammelns, Gestalten, Wertens. Diss. phil. IML, Berlin (O) 1981. Schier, Barbara: Alltagsleben im „Sozialistischen Dorf“. Merxleben und seine LPG im Spannungsfeld der SED-Agrarpolitik 1945–1990. Münster u. a. 2001. Schlenstedt, Dieter: Die neuere DDR-Literatur und ihre Leser. Wirkungsästhetische Analysen, München 1980. Vierneisel, Beate: Das Erinnerungsarchiv. Lebenszeugnisse als Quellengruppe im Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, in: Martin Sabrow (Hg.): Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR. Leipzig 1997. S. 117–144. Winters, Peter Jochen: Wir müssen hier raus. Wo war Erich Honecker, als die Sowjets Berlin befreiten?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.7.1977. Zahlmann, Stefan: Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns. Die Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989. Köln / Weimar / Wien 2009.

Die zweifache Präsenz von Sozialisation in Autobiographie Von Maria D. Wagenknecht In den vorangegangenen Beiträgen hat einerseits Michael Maurer anhand der bürgerlichen Autobiographie des 18. und 19. Jahrhunderts Autobiographie als Quelle von Information über Sozialisation und als Mittel zur Sozialisation theoretisch ausgeleuchtet, und hat andererseits Martin Sabrow mit Honeckers Lebensbeschreibung (oder Wir-Biographie) eine Fallstudie zum Themenkomplex Autobiographie und Sozialisation geliefert, die es erlaubt, die Theorie an einem ungewöhnlichen Beispiel zu veranschaulichen. Mein Kommentar zu diesen beiden Beiträgen ist dabei durch meine eigene Autobiographie geprägt und damit als Produkt von Sozialisation zu sehen – einer literatur- und kulturwissenschaftlich geprägten akademischen Sozialisation. Dieser Hintergrund bedingt meinen Blick auf Autobiographie. Während der Konnex von Autobiographie und Sozialisation unbestritten bleibt, möchte ich die Definition von Sozialisation ein wenig enger fassen und dabei zu bedenken geben, dass diese im Sinne von Persönlichkeitsentwicklung in engem Dialog mit den jeweiligen soziokulturellen Gegebenheiten und den übernommenen sozialen Rollen des Individuums zusammenhängt. Deswegen möchte ich zwischen der Sozialisation des Autors in der erzählten Zeit und in der Erzählzeit unterscheiden. Denn nicht die Sozialisation damals, zur erzählten Zeit, ist meiner Meinung nach ausschlaggebend für die Analyse von Autobiographie, sondern diejenige der Erzählzeit, zur Zeit des Schreibens. Nun mag man argumentieren, dass Sozialisation ein kontinuierlicher und zusammenhängender Prozess sei, dass man also diese Sozialisationen nicht auseinanderdividieren könne. Es ist allerdings genau diese Prozesshaftigkeit von Sozialisation, die ihre ständige Veränderung zur Folge hat, sodass die Umstände des Niederschreibens einer Autobiographie sich unabdingbar von denen ihres Objektes, des gelebten Lebens, unterscheidet. Die Sozialisation des Autors während seines vergangenen Lebens – im Sinne seiner vertretenen Normen, Wertvorstellungen und seiner sozialen Rollen – ist eben eine andere als die zu just dem Augenblick, in dem er sich der Niederschrift einer Autobiographie zuwendet. Diese zweifache Präsenz von Sozialisation tritt vielleicht nicht immer in den unmittelbaren Vordergrund, manchmal aber wird sie fast schon schmerz-

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lich deutlich. Zu diesen Selbstschriften, in denen die Autoren mit einem Bruch in ihrer Biographie umgehen müssen, und die dadurch den Unterschied in der Sozialisation der erzählten und der Erzählzeit besonders deutlich machen, gehören beispielsweise nicht nur die Autobiographien, die die einschneidenden Zeiten der NS-Zeit und der Deutschen Wende integrieren mussten, sondern auch die unzähligen Beispiele ethnischer Autobiographie, die ein früheres Leben in einem anderen Land aus der Sicht ihrer nunmehr kulturell neu verorteten Sozialisation erzählen. Jedoch ist diese zweifache Präsenz von Sozialisation in allen retrospektiven Beschreibungen des eigenen Lebens vorhanden. Von einer Spiegelung einer Gesellschaft oder einer Epoche, wie sie Maurer im Bezug auf Dilthey erwähnt, kann also keine Rede sein: das vermeintliche Spiegelbild ist immer ein Zerrspiegel, ein Bild durch die Brille der Erzählzeit des Autobiographen gesehen. Dessen ist sich aber auch Mauer bewusst, wenn er überzeugend herausstellt, wie bürgerliche Autobiographen im 18. und 19. Jahrhundert ihre Lebensgeschichten zu Erfolgsgeschichten stilisierten, geprägt von Vernunft und protestantischem Fleiß. Für den Kulturwissenschaftler scheint demnach die Lage klar: eine Autobiographie ist als Kommunikationsakt des Autors zu sehen,1 ein Akt, der in der Zeit der Niederschrift zu verorten ist. Das Werk ist durch die Erzählzeit des Autobiographen geprägt, seine Sozialisation und damit verbunden seine Intentionen und die Interpretation seines Lebens: die subjektive Nacherzählung des Gewesenen im Lichte der Gegenwart. Die Frage ist, ob diese Herangehensweise nicht auch über die Literatur- und Kulturwissenschaften hinaus fruchtbar werden kann. Und warum nicht? Man muss sich zwar von der Vorstellung lösen, dass man verlässliches Faktenwissen aus Autobiographien filtern kann, aber der Selbstentwurf des Autobiographen – wie andere Kommunikationsakte immer ja gerichtet an eine bestimmte Leserschaft – ist äußerst aussagekräftig über die Umstände seines VerfasstWerdens. Auch für die Geschichtswissenschaften können Schreibabsicht, Art und Weise des Selbstentwurfes (oder gar der Selbststilisierung), angesprochene Leserschaft und Reaktionen des Lesepublikums in größerem Ausmaß als bisher Material bieten, mit dem sich vielfältig auseinander gesetzt werden kann. Nach diesen Vorbemerkungen möchte ich zunächst auf das Verhältnis von autobiographischer Konstruktion und Sozialisation eingehen, eine Problematik, die mir auf Grund meiner eigenen Arbeit zur ethnischen Identitätskonstruktion in der Autobiographie besonders am Herzen liegt und die in den beiden vorliegenden Beiträgen auf verschiedene Weisen thematisiert wird. 1  Vgl.

Depkat, Zum Stand, S. 177 ff.



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Wie Maurer unterstreicht, interpretiert Autobiographie immer die Vergangenheit im Lichte der Gegenwart und entspinnt einen roten Faden, der teleologisch bis hin zum aktuellen Lebenszustand führt. Während nun die Geschichtswissenschaft häufig Autobiographie als Quelle über Sozialisation in der Vergangenheit betrachtet, sehen die Cultural Studies solches Wissen zumeist kritisch. Und auch Maurer weist uns dezidiert darauf hin, dass sich der Autor mit dem Schreiben über das eigene Leben selbst konstruiert. Er erschafft eine Kohärenz, ein zusammenhängendes Bild von sich selbst, das möglichst viele Lebensereignisse in ein Narrativ integriert. Freilich beruft sich der Autobiograph auf Daten und Quellen aus seinem Leben, aber dennoch: Ein Sinnzusammenhang wird dann erst postuliert, und es ist die Gegenwart des Autobiographen, die den Fluchtpunkt darstellt. Dieses Bewusstsein schlägt sich auch bei Sabrow nieder, wenn er darstellt, wie Erich Honeckers Beschreibung seiner Familiengeschichte als durch und durch kommunistisch in ihrer Konstruiertheit sichtbar wird, und zwar in Anbetracht von Robert Honeckers Lebensweg. Allerdings ist es die Intention von Autobiographie, solche Brüche im Lebensweg zu glätten. Und auch Honecker gelingt es, die Bedrohung seiner vorbildlichen Vergangenheit zum Beispiel durch seinen Bruder, den Hitlerjungen Robert, in sein Narrativ mehr oder weniger überzeugend als Prüfung zu integrieren. Solches autobiographisches Bedürfnis nach Kontinuität lässt sich oft – sogar meist – beobachten, aber die Forschung hat auch gezeigt, dass manche Brüche so traumatisch sind, dass sie nicht in ein Narrativ eingeordnet werden können2: hier trifft Konstruktion auf ihre Grenzen. In den Erzählungen tun sich Widersprüche, zeitliche Sprünge und logische Inkohärenz auf. Beispiele dafür können vor allem in der jüdischen Autobiographie über den Holocaust gefunden werden; aber Volker Depkat hat auch den Schreibhabitus des „Aus-der-Zeit-Gefallen-Seins“ von Autobiographen, die die NSZeit erlebten, beschrieben.3 Hier kann Erlebtes eben oft nicht in einen Sinnzusammenhang gebracht werden. Und auch bei den postkommunistischen Bewältigungsgeschichten der DDR-Elite wäre eine Ergründung solcher Zerfallserscheinungen von Autobiographie sicherlich überaus fruchtbar. Fragen, die sich hier stellen, sind unter anderem: Können diese Politiker den Zerfall ihres Systems durchweg in eine kontinuierliche Autobio­ graphie einflechten und wenn ja, was sind ihre Strategien? Welche Widersprüche und Sprünge lassen sich erkennen? Ein konkreter Fall, der sich aufdrängt, ist Willi Stoph, der auf Grund eines vorübergehenden Bruchs mit seiner kommunistischen Identität (er hatte mit dem National­ sozialismus geliebäugelt) auch nach dem Fall der Mauer seine Autobio­ 2  Vgl. 3  Vgl.

z. B. die Aufsatzsammlung Hyvärinen et.al., Beyond Narrative Coherence. Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden.

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graphie nicht schreiben wollte – oder konnte? Denn die Sozialisation der Erzählzeit spielt wohl auch bei der Grenzziehung hinsichtlich der Möglichkeiten von Autobiographie eine Rolle: Was erlaubt ist, was der Autor ­erzählen kann und wie, das wird durch seine aktuelle soziokulturelle Selbstverortung bestimmt. Dies führt uns zu einem anderen Aspekt von autobiographischer Konstruktion, zur Problematik der Wahrhaftigkeit von Autobiographie. Maurer weist uns darauf hin, dass Autobiographie zwar dem Leser in einem so genannten autobiographischen Pakt zusichert, dass der genannte Autor getreulich die Fakten seines Lebens wiedergibt; tatsächlich ist sie aber höchst subjektiv. Denn Autobiographen gehen mit ihrem Material – mal mehr, mal weniger bewusst – recht kreativ um. Schon der Sinnzusammenhang, in dem sie ihr Leben sehen wollen, bedingt dies, oft spielen aber auch andere persönliche, politische oder finanzielle Interessen eine Rolle. Die Anfangsbehauptung der Wahrheit ist für diese nach außen gerichteten Interessen von großer Bedeutung, was einmal mehr den Einfluss der gegenwärtigen Sozialisation des Autors verdeutlicht. Wird aber eine Verletzung des Prinzips der autobiographischen Wahrhaftigkeit öffentlich, stößt der Autobiograph meist auf große Kritik – so auch bei Honecker. Sabrow thematisiert eindringlich die Fiktion von Honeckers Autorschaft. Die Idee des autobiographischen Paktes zerfällt hier in seine Bestandteile, denn während das Buch Honecker als Autor nennt, ist es tatsächlich und beim Lesen auch recht offensichtlich in weiten Teilen eine Selbstdarstellung der Partei. Sabrow postuliert, dass dies im gegebenen Rahmen – also der gemeinsamen Sozialisation – sowohl für Honecker, die eigentlichen Autoren und die parteitreue Leserschaft die Idee des Kommunismus widerspiegelt und somit nicht nur akzeptabel, sondern wünschenswert war. Interessanterweise scheint trotzdem ein gewisses Unbehagen vorgeherrscht zu haben, das Gemeinschaftswerk als dezidierte Autobiographie zu deklarieren, was sich in der umständlichen und langwierigen Titelwahl niederschlug. Die Wirkmächtigkeit von Sozialisation, das singuläre Ich im kommunalen Ganzen aufgehen zu lassen, möchte ich fast schon behaupten, war hier auf eine Grenze gestoßen: die der Erwartungshaltung gegenüber dem Texttypus Selbstschrift als das Werk eines Einzelnen. Die „Selbstverständlichkeit […], mit der ein westlicher Verlag an der Fiktion des Autors Honecker festhielt“ (S. 198), erstaunt mich im Gegensatz zu Sabrow allerdings nicht, wenn man bedenkt, dass eine Autobiographie eines kommunistischen Staatsoberhaupts eine Novität war und somit nicht unrentabel. Ich denke, dass ein gewisses Bewusstsein bezüglich der Konstruiertheit von Honeckers Autobiographie dem Enthusiasmus des Verlegers keinen Abbruch getan haben wird, und dass jener mit großer Wahrscheinlichkeit seinerseits zur Fiktion der Authentizität des Werks beigetragen hat.



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Damit kommen wir zu den Vorwürfen, denen sich Honecker ausgesetzt sah, dass er in seinem Lebensnarrativ beschönigt, verschwiegen und sogar Ereignisse verändert haben soll – beziehungsweise natürlich seine Ghostwriter. Solche Veränderungen stehen im Zeichen der Konstruktion eines vorbildlichen kommunistischen Lebens. Der Fluchtpunkt war also nicht Honeckers persönliche Existenz, sondern der Sinnzusammenhang der DDR. Mit der mehr oder weniger abrupten Veränderung in der Sozialisation der deutschen Leserschaft zerschlug sich aber die Basis, auf der Honeckers Autobiographie in ihrer geschönten Darstellung eines idealtypischen kommunistischen Lebens akzeptabel gewesen war. Die Wirksamkeit autobiographischer Konstruktion steht also offensichtlich ebenso in Zusammenhang mit So­zialisation. Genereller ausgedrückt: die Rezeption von Autobiographie ist abhängig von der Sozialisation des Publikums. Während innerhalb der Partei und bei kommunistisch eingestellten Lesern keine oder wenig Kritik an dieser Art der AutoBiographie-Schreibung aufgekommen sein mag, wird Honeckers unveränderte Identifikation mit dem Kommunismus und die fehlende Reue mit der Veränderung in der Gesellschaft nach 1989 anscheinend zum Stein des Anstoßes. Die Konstanz seiner Selbstkonstruktion als Kommunist (und damit seiner Ich-Identität) über alle Zeitenwenden hinweg ist beachtlich, wird aber vom Publikum nun als unangemessen zurückgewiesen. Die Sozialisation und damit der Anspruch an Autobiographik, möchte ich behaupten, hat sich also verschoben: die Beispielhaftigkeit eines kommunistischen Lebens ist nicht mehr gefragt, sondern Narrative anderer Art – besonders solche, die die Wende anerkennen und verarbeiten. Eng verbunden mit der sozial bedingten (Nicht-)Akzeptanz der Leserschaft gegenüber autobiographischer Konstruktion ist der Aspekt, dass Autobiographien selbst auch als Ort und Mittel von Erziehung, also von Sozialisation zu sehen sind: Denn nur, wenn die Autobiographie als wahrhaftig akzeptiert wird, kann sie als bildende Lektüre, durch Vorbildfunktion oder Abschreckung, die Werte einer Gesellschaft weitertragen. Maurer stellt dies anhand der Hagiographie, die ja schon per definitionem zur Nachahmung aufruft, und der bürgerlichen Autobiographie des 18. und 19. Jahrhunderts, die sich über Arbeit, über Erfolg innerhalb eines individuellen Lebens definiert, schlüssig dar. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Autobiographien von Migranten, die in der Diaspora nachfolgenden Generationen die Normen und Wertevorstellungen des Herkunftslandes anhand ihrer eigenen Lebensgeschichte oft ganz dezidiert vermitteln wollen, wie ich anhand von iranischen Einwanderern in die USA zeigen konnte.4 Allerdings ist das erzieherische Ansinnen solcher Autoren meist nicht von Erfolg gekrönt: Zu stark sind die Fliehkräfte der sich verändernden Sozialisation in der neuen 4  Vgl.

Wagenknecht, Constructing Identity in Iranian-American Self-Narrative.

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Gesellschaft. Doch auch iranoamerikanische Autobiographen der zweiten Generation verfolgen ihre eigene pädagogische Absicht, und zwar wiederum ihren Kindern zu vermitteln, wie ein Kompromiss zwischen ethnischer und nordamerikanischer Identität zu erreichen – und erhalten – sei, um sich so als ethnische Gruppe innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft zu etablieren. Inwieweit diese Autobiographien als Mittel zur Sozialisation erfolgreich sein werden, bleibt abzuwarten. Auch bei Erich Honeckers Lebensbeschreibung ist die Vorbildfunktion von zentraler Bedeutung. Wie Sabrow herausstellt, verstanden sowohl die SED als auch Honecker selbst die Lebensgeschichte des obersten Repräsentanten der DDR grundsätzlich nicht als einen in seiner Subjektivität einzigartigen Entwicklungsroman, sondern als individuellen Vollzug eines kollektiven Prinzips. Die Lebensbeschreibung wird somit zum Werkzeug von Sozialisationsprozessen: Das individuelle Leben ist von untergeordneter Bedeutung, die Darstellung von Beispielhaftigkeit wird zentral. Honeckers Leben wird ganz in den Dienst der Sache gestellt, seine Vergangenheit, wie bereits oben angesprochen, im Sinne der Gegenwart umgedeutet und zurechtgeformt. Dabei werden zweckdienliche Umstände hervorgehoben, weniger Brauchbares wird anscheinend heruntergespielt oder ganz gestrichen – wie zum Beispiel seine vorübergehende Flucht aus der Haft 1945 oder seine Verbindung zu einer Gefängnisaufseherin.5 Was den wissenschaftlichen Leser von Honeckers Lebensbeschreibung dabei überaus an Hagiographie erinnert, ist, dass da wie dort bedrohliche Lebensumstände als Prüfungen in die Erzählung integriert werden – entweder als Prüfungen Gottes oder als Feuerprobe der kommunistischen Einstellung. Dazu zählt besonders sein fehlgeleiteter Bruder Robert, und damit gibt Honecker ein potentielles kommunistisches Vorbild für eine ganze Generation, die die Nazivergangenheit verarbeiten muss. Honecker nimmt dieses Lebensnarrativ einer kommunistischen Kampfbiographie, das von anderen geschaffen worden war, als sein eigenes an and vertritt es noch, selbst nachdem das System, in dem und durch das es entstanden war, nicht mehr existiert. Sogar seine Erkrankung an Krebs scheint ihm noch die Verschwörung Moskaus gegen die DDR widerzuspiegeln. Bis fast zum Ende hält also Honecker an dieser Interpretation seines Lebens ganz im Sinne seiner kommunistischen Sozialisation fest. Sabrows Fallstudie zeigt: Honeckers Wir-Biographie konnte in dieser Form, sozusagen als kommunistische Hagiographie in ihrer mustergültigen Geradlinigkeit, die allen Anstürmungen trotzte, wohl auch nur in einem Rahmen entstehen, wie ihn die DDR gegeben hatte. Wie die Hagiographie, die bürgerliche Autobiographie des 18. und 19. Jahrhunderts oder die 5  Vgl. Przybylski, Tatort Politbüro, S. 55–65. Völklein, Honecker, S. 154–178; zu Lotte Grund 159 f., 171.



Die zweifache Präsenz von Sozialisation in Autobiographie 211

Selbstschriften von Iranoamerikanern verfolgt aber die Lebensbeschreibung Honeckers eine pädagogische Absicht: die Vermittlung von Strategien, wie in der jeweiligen Sozialisation in bestimmten Lebensabschnitten gehandelt werden müsse, um letztendlich ein als geglückt geltendes Leben geführt zu haben. Die zweifache Präsenz von Sozialisation in autobiographischen Schriften – die Sozialisation des Autors zur erzählten Zeit und die zur Zeit der Niederschrift – zeigt sich also allenthalben, was eine Auffassung von Autobiographie als Kommunikationsakt des Erzählers und nicht etwa als Spiegelung historischer Tatsachen unterstützt. Autobiographie kann somit nicht – oder nur mit größten Vorbehalten – als Quelle über Sozialisation in der Vergangenheit genutzt werden, vermag aber über die sozialen Rollen, Werte, Normen und Intentionen des Autors während der Niederschrift Auskunft zu geben. Dieses Bewusstsein schwingt auch in den beiden vorliegenden Beiträgen mit, wenn beispielsweise Maurer über die pädagogischen Absichten der Hagiographie und über Selbststilisierung in der bürgerlichen Autobiographie des 18. und 19. Jahrhunderts schreibt, oder Sabrow darlegt, wie man mit der Wir-Biographie Honeckers beabsichtigte, einen idealtypischen kommunistischen Lebenslauf zu produzieren. Eine bewusstere Auseinandersetzung mit kommunikationspragmatischen Ansätzen im Hinblick auf Autobiographie könnte aber nicht nur der Literatur-, sondern auch der Geschichtswissenschaft zu einem schärfer profilierten Bewusstsein für die Konstruiertheit von Selbstschriften verhelfen. Literaturverzeichnis Depkat, Volker: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. München 2007. Depkat, Volker: Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft, in: BIOS 23.2, 2010, S. 170–87. Hyvärinen, Matti et al. (Hg.): Beyond Narrative Coherence. Philadelphia 2010. Przybylski, Peter: Tatort Politbüro. Die Akte Honecker. Berlin 1991. Völklein, Ulrich: Honecker: Eine Biografie. Berlin 2003. Wagenknecht, Maria D.: Constructing Identity in Iranian-American Self-Narrative. New York 2015.

VI. Autobiographie und Imperium

Biographik, Autobiographik und Russländisches Imperium Von Martin Aust Die Geschichte Russlands gehörte in Deutschland und im Westen lange Zeit zu den einschlägigen Beispielen einer Darstellung östlicher Vergangenheit im Zeichen überschießender Machtfülle der Autokratie, ökonomischer Rückständigkeit, mangelhaft ausgeprägter Rechtskultur und einer Gesellschaftsverfassung, die gemessen am Maßstab westlich-europäischer Modernisierungstheorien vieles zu wünschen übrig ließ. In cliotherapeutischer Absicht hat der Petersburger Historiker Boris Mironov Russlands 18. und 19. Jahrhundert in seiner umfassenden Geschichte des Russländischen Kaiserreichs (1721–1917) vom Odium der Rückständigkeit zu emanzipieren versucht. Er benennt vier Phänomene, die für Russlands Weg in die Moderne im 18. und 19. Jahrhundert stünden: der demographische Übergang zur Kleinfamilie, Zivilgesellschaftlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und die Entstehung individueller Persönlichkeit (ličnost‘).1 Mironovs Buch trägt das Kaiserreich, das Imperium im Titel und markiert individuelle Persönlichkeit als historisches Phänomen. Der vorliegende Text greift beide Aspekte auf. Zunächst erfolgt ein Überblick über biographische und autobiographische Ansätze in der Osteuropahistoriographie. Daran schließt sich ein Überblick über die Imperienforschung in der Geschichtsschreibung über das Zarenreich an. Während biographische Arbeiten in der Imperiengeschichtsschreibung des östlichen Europas und Russlands immer stärker Fuß fassen, sind die autobiographischen Ansätze noch primär auf russische Akteure konzentriert. Von einer Autobiographik des Russländischen Imperiums im Rahmen seiner ganzen sprachlichen, konfessionellen und sozialen Vielfalt ist die Forschung noch weit entfernt. Zum Schluss erfolgt somit ein Ausblick auf eine autobiographisch informierte Imperiengeschichtsschreibung. Sie verspricht Erkenntnisse über die Subjektkonstitution unter imperialen Bedingungen, subjektive Aneignungen und Neuformatierungen von Entwürfen des Imperiums, Loyalitätskonflikte im Imperium und letztlich die anthropologische Dimension imperialer Macht. Exemplarisch wird zum Ende der Völkerrechtler und Diplomat Fe1  Mironov,

Social’naja istorija Rossii perioda imperii (XVIII – načalo XX v.).

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dor F. Martens (1845–1909) im Mittelpunkt stehen. Der Text schließt mit einem kurzen Ausblick auf das Forschungsprojekt Imperial Subjects. Autobiographische Praktiken in den Reichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen (Mitte 19. Jahrhundert – frühes 20. Jahrhundert). 1. Biographik und Autobiographik Kaum in die weite Welt russischer Gesellschaftsgeschichte entlassen, fanden sich die Kategorien von Individuum und Individualität im Visier der Kulturgeschichtsschreibung wieder. Mittlerweile sind biographische und autobiographische Forschungsansätze in der Osteuropahistoriographie weithin etabliert.2 Teils nutzen sie biographische Perspektiven, um Einsichten in strukturelle Zusammenhänge exemplarisch zu verdeutlichen – teils beschäftigen sie sich mit der kulturellen Konstruktion von Individualität. Jochen Hellbeck und Klaus Heller plädieren in ihrem Sammelband Autobiographical Practices in Russia für eine Überwindung disziplinärer Grenzen, die die Autobiographie im literaturwissenschaftlichen Feld einer Gattung einschließen. Briefe, Tagebücher, Memoiren und auch Bilder stellen sie in den Zusammenhang autobiographischer Praktiken, in denen Texte und Zeichen mit außertextlichen Realitäten von Macht und Gesellschaft interagieren. Individuelle Selbstentwürfe unterliegen dabei serieller und immer wieder neuer Aushandlung.3 In die gleiche Kerbe schlägt der wesentlich von Julia Herzberg konzipierte Sammelband Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Soziale Praxis und kommunikatives Handeln dienen dem Band als Axiome autobiographischer Forschung. Erhellend ist hier vor allem der Blick auf unterschiedliche Wissenschaftskulturen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Autobiographien in Deutschland und Russland verschiedenen Erkenntniszusammenhängen zuwiesen. Exemplifizierte die Autobiographik im Westen das Verstehen eines individuellen Lebenswegs, so diente sie in Russland der Zeugenschaft gesellschaftlicher Strukturen und politischer Ereignisse, die es zu erklären galt.4 Den Drachen der Rückständigkeit auf dem Feld von Individualität und Persönlichkeit, den Mironov an der Schwelle des 21. Jahrhunderts erlegte, hatten mithin Wissenschaftskulturen des 19. Jahrhunderts in West und Ost aufgezogen. Auch die aktuelle Literatur sollte nicht voreilig und euphorisch über den Leisten multidisziplinärer Harmonie geschlagen werden. Fundamental unter2  Überblicke: Stephan, Erinnertes Leben. Petersen, Russische und sowjetische Biographik. Ders., Jenseits des Kollektivismus. 3  Hellbeck/Heller, Autobiographical Practices in Russia. 4  Herzberg, Autobiographik als historische Quelle in ‚Ost‘ und ‚West‘.



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schiedliche Herangehensweisen an autobiographisches Material sind nach wie vor erkennbar. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht hat Ulrich Schmid Ichentwürfe in russischen Autobiographien von Avvakum im 17. Jahrhundert bis zu Alexander Herzens Autobiographie Mitte des 19. Jahrhunderts untersucht. In Herzens Selbstbeschreibung sieht Schmid ein neues erzählerisches Modell des Ich, in dem die psychologische Reflexion stark ausgeprägt ist.5 In einem ähnlichen chronologischen Zugriff hat Tartakovskij den Wandel der Autobiographie in Russland im 18. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht. Er betrachtet die Geschichte russischer Autobiographik seit ihren Anfängen im Stil chronologisch berichtender Annalistik im frühen 18. Jahrhundert. Im Lauf des 18. Jahrhunderts und dabei vor allem im letzten Jahrhundertdrittel konstatiert Tartakovskij eine adlige Autobiographie, die in Manuskripten, die an die eigene Familie adressiert sind, die eigene Persönlichkeit viel stärker betont. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellt Tartakovskij sodann einen doppelten Wandel fest: die Autobiographie trat in die Öffentlichkeit. Selbstzeugnisse des Adels und nun auch der Intelligencija schlummerten nicht mehr als Manuskripte in Familienbeständen, sondern erreichten in der periodischen Zeitschriftenpresse ein öffentliches Publikum. Zugleich dokumentierten sie – so Tartakovskij – eine gesellschaftliche Erinnerung, die sich von der offiziellen des Zarenregimes zu emanzipieren begann.6 Wo Schmid ein neues psychologisierendes Modell einer russischen Autobiographie zeitlich etabliert sieht und Tartakovskji der Autobiographie öffentlichen Status attestiert – in der Mitte des 19. Jahrhunderts –, lassen Klaus Heller und Jochen Hellbeck ihre geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen autobiographischer Praktiken in Russland überhaupt erst beginnen. Programmatisch stellen sie ein Zitat des Literaturkritikers Vissarion Belinskij an den Anfang ihres Bandes: „Die Persönlichkeit beginnt sich erst jetzt aus dem Ei zu schälen.“7 Erst damit sehen sie den Boden bereitet für Untersuchungen autobiographischer Praktiken in Russland. Neben diesen unterschiedlichen chronologischen Zugriffen auf das Thema Autobiographie in Russland hat die jüngere Forschung vor allem im Blick auf das 19. Jahrhundert eine enorme Vielfalt der Autorinnen und Autoren autobiographischen Materials herausgearbeitet. Viele jüngere Arbeiten dokumentieren Differenzierungen von Geschlechterrollen und sozialen Selbstver5  Schmid,

Ichentwürfe. Russkaja memuaristika XVIII – pervoj poloviny XIX v. Diese Monographie greift eine ältere auf und weist zugleich auf eine spätere voraus: Ders., 1812 god i russkaja memuaristika. Ders., Russkaja memuaristika i istoričeskoe soznanie XIX veka. 7  Zit. nach Hellbeck/Heller, Vorwort, S. 7. 6  Tartakovskij,

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ortungen. Zur Memoiristik des russischen Adels im 18. und frühen 19. Jahrhundert, autobiographischen Praktiken von Kaufleuten und Bauern wie auch Frauen liegen mittlerweile Arbeiten und Dokumentationen vor. Autobiographische Praktiken russischer und Moskauer Kaufleute haben Klaus Heller und Galina Ul’janova beleuchtet.8 Eine ausführliche Studie bäuerlicher Selbstbeschreibungen aus dem späten Zarenreich und der jungen Sowjetunion stammt von Julia Herzberg, in der sie die Selbstbeschreibungen der Autoren zugrundelegt: „Eine Bäuerin oder ein Bauer ist in dieser Arbeit zunächst einmal jede und jeder, der sich selbst in seinem Tagebuch oder in ihrer Autobiographie als krest’janka oder krest’janin, baba oder mužik, als Leibeigene (krepostnaja) oder Leibeigener (krepostnoj) vor­ stellt.“9 Zugleich reduziert Herzberg ihre Autorinnen und Autoren nicht auf diese Bezeichnungen, sondern fragt auch nach dem „in den Semantiken fassbare(n) Übergleiten in gebräuchliche Kategorien wie Kleinbürger (meščanin), Kaufmann (kupec) oder Arbeiter (rabočij, truženik)“ sowie auch nach „alternative(n) Selbstbeschreibungen wie Sklave (rab), Autodidakt (samoučka), Naturtalent (samorodok) oder Leser (čitatel‘).“ Dabei geraten zusammengesetzte Selbstbeschreibungen wie Bauernpoet (poėt-krest’janin), Bauernarbeiter (krest’janin-rabotnik) und Bauernastronom (krest’janin-astronom) in den Blick.10 Durch die Texte hindurch entsteht somit eine Perspektive auf die Dynamik und Heterogenität der Gesellschaft Russlands im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Liebgewonnene Oppositionen wie Stadt und Land können dergestalt nicht mehr länger als gesicherte Erkenntnis streng geschiedener soziokultureller Räume gelten. Ferner haben Frauen verschiedenster Klassen und Milieus im Russland des 19. Jahrhunderts autobiographische Texte verfasst. Eine Anthologie, die Toby W. Clyman und Judith Vowles zusammengesellt haben, versammelt autobiographische Texte von Schriftstellerinnen adliger Herkunft aber auch aus dem Kaufleutemilieu, von Ärztinnen, einer leibeigenen Schauspielerin, der Frau eines Wissenschaftlers, der Gattin eines Bürokraten mittlerer Position, einer Journalistin sowie einer Fürstin.11 Als ein eigenes Forschungsfeld haben sich auch Studien über Selbstzeugnisse aus der Sowjetunion, vor allem aus dem Stalinismus etabliert. Hier bestimmt vor allem die Frage, ob den Menschen in der jungen Sowjetunion Ichentwürfe jenseits des offiziellen und hegemonialen Modells des neuen Menschen zur Verfügung standen, die Forschungsdiskussion.12 8  Heller, Selbstzeugnisse aus dem „Moskau der Kaufleute“ vor 1917. Ul’janova, Autobiographische Texte russischer Kaufleute und ihre kulturelle Dimension. 9  Herzberg, Gegenarchive, S. 10. 10  Herzberg, Gegenarchive, S. 10 f. 11  Clyman/Vowles, Russia through Women’s Eyes.



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Neben Arbeiten, die die Konstruktion von Subjekten in autobiographischen Texten untersuchen, sind auch Ansätze nicht zu übersehen, die Biographien als Sonden zur Erkundung und Exemplifizierung regionaler, natio­ naler und imperialer Geschichten einsetzen. Anhand zunächst eines systematischen Überblicks und sodann mehrerer Biographien hat Timothy Snyder Ostmitteleuropa als eine Region profiliert, in der unterschiedliche regionale und nationale Entwürfe um das Erbe der Imperien konkurrierten. Die Biographien, die Snyder verfasst hat, brechen alte tradierte Oppositionen wie etwa Imperium vs. Nation auf und zeigen, welche Handlungsoptionen Akteuren zur Verfügung standen und in welche Loyalitätskonflikte Entscheidungen der Akteure führen konnten. Sie führen aus der Perspektive jeweils eines Protagonisten vor, was Snyder in seiner Monographie The Reconstruction of Nations strukturell beschrieben hat. Diese Monographie thematisiert die Konkurrenz unterschiedlichster Nationsbildungsprojekte polnischer, litauischer, ukrainischer und belarusischer Couleur auf dem Territorium des Großfürstentums Litauen, das 1569 eine Realunion mit Polen eingegangen war. 1569 nimmt Snyder den Faden auf und verfolgt ihn bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.13 Den Anfang seiner biographischen Erkundungen dieses Terrains machte Snyder mit einer Biographie von Kazimierz Kelles-Krauz (1872–1905).14 Kelles-Krauz gehörte der Polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socjalistyczna) an. Marxismus war für Kelles-Krauz nicht allein ein Vehikel, die Arbeiterschaft, sondern auch die polnische Nation zu emanzipieren. Die Wiederherstellung polnischer Souveränität war in Kelles-Krauz’ politischem Denken zentral und brachte ihn in einen fundamentalen Gegensatz zu Rosa Luxemburg, die den Klassenkampf als eine internationale Aufgabe jenseits von Nationen begriff. Wo Luxemburg die Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen (SDKPiL) in einem gesamtrußländischen Rahmen für einen internationalen Marxismus streiten sah, wähnte KellesKrauz Juden, Polen, Litauer, Ukrainer und Belarusen auf dem Weg zu eigenen Nationen, die sie vom Zarenreich emanzipieren würden. Das Verhältnis zwischen Polen und seinen östlichen Nachbarn, den Ruthenen / Ukrainern, griff Snyder sodann in seiner Biographie Henryk Józewskis auf. Bereits Józewskis Lebensdaten  – 1892 in Kiew geboren und 1981 in Warschau gestorben – verweisen auf einen polnisch-ukrainischen Lebenslauf. Von Berufs wegen Maler, schloss Józewski sich im Ersten Weltkrieg Józef Piłsudski an, in dessen Vorstellungen eines jagiellonischen Polen im 12  Hellbeck, Tagebuch aus Moskau. Ders., Revolution on my Mind. Ders., Die Stalingrad-Protokolle. Halfin, Terror in My Soul. Ders., Red Autobiographies. 13  Snyder, The Reconstruction of Nations. 14  Snyder, Nationalism, Marxism and Modern Central Europe.

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Rückgriff auf die Geschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit ein großes Polen im Bund mit Litauern, Belarusen und Ukrainern eine zentrale Rolle spielte. Sieht man von der militärischen Eroberung der litauisch angestrebten Kapitale Vilnius (polnisch Wilno) und dem ehemals habsburgischen Lemberg (ukrainisch: Lviv, polnisch: Lwów) 1918 / 19 ab, blieben Piłsudskis Föderationspläne Polens mit seinen östlichen Nachbarn vage und unbestimmt. Ganz anders Józewski: von einem kurzen Intermezzo als polnischer Innenminister 1929 / 30 abgesehen, bekleidete er von 1928 bis 1938 das Amt des Wojewoden von Wolhynien, wo im äußerstem Südosten der Zweiten Polnischen Republik ein bedeutender Teil der Bevölkerung Ukrainer waren. Józewski warb um sie, glaubte Loyalität zu Polen und Identifikation mit der ukrainischen Nation unter den Ruthenen in Wolhynien vereinen zu können und imaginierte Wolhynien als Ausgangsregion einer Befreiung der übrigen Ukraine von sowjetischer Herrschaft. Auch in seiner letzten Biographie behandelte Snyder eine Figur, die Sympathie zur ukrainischen Nationsbildung ausprägte – der Erzherzog Wilhelm von Habsburg (1895–1948).15 Zusammen mit seinen Schwestern verbrachte Wilhelm eine wohlbehütete und abwechslungsreiche Kindheit mit allen Annehmlichkeiten, die das Leben als Sprössling der Habsburger mit sich brachte. Wenn man nicht gerade die Zeit in der Adria kreuzend totschlug, fuhr man en famille auf der luxuriösen Yacht des Vaters ebenso zur Audienz beim Sultan in Istanbul wie zur Eröffnung des Kaiser-Wilhelm-Kanals in Kiel. Die kindliche Idylle zerriss, als der Vater seine Töchter mit hochrangigen polnischen Adligen in Galizien verheiratete, um sich selber als Kandidaten für einen polnischen König unter dem Dach des Habsburger Reiches zu empfehlen. Wilhelm reagierte, indem er sich für die Opponenten Polens im habsburgischen Kronland Galizien zu interessieren begann. Er lernte Ukrainisch und führte ukrainische Verbände im Ersten Weltkrieg. Sich selbst sah er als künftigen König der Ukraine im Habsburgerreich, bis der Zerfall der Monarchie 1918 über diese Idee hinwegschritt. Konkurrierende Nationsbildungen sind nicht allein mit Blick auf Polen und das Habsburgerreich biographisch nachgezeichnet und aufbereitet worden. Erst kürzlich hat Andreas Kappeler die Form einer Doppelbiographie gewählt, um die russisch-ukrainische Geschichte zu erzählen.16 Bemerkenswert ist, wie Kappelers Entschluss zur biographischen Perspektive zustande kam: „… machte ich mich ans Werk und begann die ersten Kapitel einer verschränkten russisch-ukrainischen Geschichte seit dem Mittelalter zu verfassen. Nach einiger Zeit hatte ich mich in eine Sackgasse manövriert. Was 15  Snyder, The Red Prince. Deutsche Übersetzung: Snyder, Der König der Ukraine. 16  Kappeler, Russland und die Ukraine.



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ich schrieb, war entweder ein makrohistorischer, sehr allgemein gehaltener Überblick der russisch-ukrainischen Wechselbeziehungen in den einzelnen Epochen sowie der darauf bezogenen Narrative. Wenn ich mich mehr in die Tiefe locken ließ und mich kritisch mit den Quellen auseinandersetzte, wurde der Text immer länger und sprengte den gesteckten Rahmen. Nach einer schöpferischen Pause beschloss ich, die histoire croisée zunächst nicht aus der Vogelschau zu betrachten, sondern am Beispiel zweier Menschen zu schreiben. Dafür wählte ich das russisch-ukrainische Ehepaar Aleksandra und Petro Jefymenko (russisch Efimenko) und deren Leben und Wirken in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.“17 In der Geschichte eines Ehepaares und dessen ethnographischen und geschichtswissenschaftlichen Texten ließ sich mithin die verflochtene Geschichte zweier Nationen in den Griff bekommen. Darüber hinaus gibt es weitere Arbeiten, die biographische Perspektiven in der Forschung über das Russländische Imperium plausibel machen. Die Zeitschrift Ab Imperio hat eine Ausgabe dem homo imperii gewidmet – Menschen, die sich mit dem Imperium identifizierten und ihm dienten.18 Stephen M. Norris und Willard Sunderland haben die Geschichte Russlands als eurasisches Imperium vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart in 31 biographischen Skizzen gebündelt.19 Über Grenzgänger zwischen Russland und dem Zarenreich wiederum liegt ein Themenheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft vor.20 Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten, dass die biographische Erkundung des Russländischen Reiches begonnen hat. Autobiographische Forschungen sind jedoch noch primär auf Personen aus dem russischen Kern des Russländischen Imperiums fokussiert. Um darzulegen, welche Impulse autobiographische Perspektiven der Imperiumsforschung geben könnten, ist als nächstes eine kurze Skizze letzterer nötig. 2. Imperiumsforschung Die folgenden Ausführungen über die Erforschung des Russländischen Imperiums basieren auf zwei Beobachtungen. Erstens – und das vermag kaum zu überraschen – lässt sich in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten eine enorme Ausdifferenzierung der Imperiumsforschung Russlands beobachten. Zweitens liegt das Versprechen autobiographischer Forschungen in imperialen Kontexten darin, akteurs- und handlungsorientierte Forschun17  Kappeler,

Russland und die Ukraine, S. 9 f. Imperio 1/2009: Homo imperii. 19  Norris/Sunderland, Russia’s People of Empire. 20  Happel/Rolf, Grenzgänger in Vielvölkerreichen. 18  Ab

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gen mit strukturellen Fragen der Imperiengeschichte zu verbinden. Die feinfühlige Plastizität der auf das individuelle und partikulare konzentrierten jüngeren Forschung kann damit erhalten und gleichzeitig in einem strukturellen Rahmen fortgeführt werden, der die Vielzahl verschiedener jüngerer Ansätze integriert. In der vorrevolutionären russischen Historiographie vor 1917 erschienen die nicht-russischen Regionen des Imperiums als Räume, die die russische Expansion sich aneignete. In Vasilij O. Ključevskijs opus magnum Kurs russkoj istorii kam die Rolle des Subjektes der Geschichte den Ostslaven und unter ihnen vor allem den Bauern zu. Sie stützten die Expansion und ihre unterschiedlichen Migrationsströme und gaben Ključevskij die Periodisierung und Regionalisierung russischer Geschichte als russischer Aneignung des Imperiums vor.21 Nachdem die sowjetische Historiographie in den 1920er Jahren eine marxistische Lesart russischer Geschichte als Abfolge von Klassenkämpfen entwickelt hatte, führte Stalins konservative Wende in den frühen 1930er Jahren dazu, dass auch Historikerinnen und Historiker sich wieder stärker mit Nationalitätenfragen in der Vergangenheit Russlands auseinandersetzten. Um in aller Kürze das wichtigste dazu zu sagen, lässt sich festhalten, dass die Kardinalfrage der Nationalitätengeschichte jedoch blieb, wann welche kleine Nation sich unter den Schutz des großen Bruders Russland begab und der großen russischen Nation auf ihrem Weg zum sozialistischen roten Oktober 1917 folgte. Die Geschichte der Vielfalt des Reiches wurde der Meistererzählung von der russischen Führungsrolle auf dem Weg zum Kommunismus untergeordnet.22 In der russischen Emigration entwickelte allein Boris Nol’de – Baron, Jurist und vormals Mitglied der Konstitutionellen Partei im Zarenreich und der Provisorischen Regierung 1917 – eine Erzählung vom Imperium, das die unterschiedlichen Expansionsstufen und die imperiale Beherrschung der Vielfalt im Reich explizit in den Mittelpunkt rückte.23 Nach Nol’des Synthese von 1953 sollte es noch einige Zeit dauern, bis Historiker die Vielfalt des Vielvölkerreiches zum zentralen Gegenstand ihrer Forschungen erkoren. Den Anfang machte Andreas Kappeler, der in seiner 1982 publizierten Habilitationsschrift die Geschichte von Russlands ersten nicht-russischen Na­ tionalitäten, den Völkern an der Wolga, vom 16. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts untersuchte.24 Die Arbeit stellte den Anfang einer programmatischen Auseinandersetzung mit Russland als Vielvölkerreich dar. 21  Ključevskij,

Russkaja istorija. À la Recherche d’Histoire Imperiale, S. 241–245. (Zur Historiographie in der Sowjetunion). 23  Nol’de, La Formation de l’Empire Russe. 24  Kappeler, Russlands erste Nationalitäten. 22  Aust,



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In den USA ging Michael Khodarkovsky voran, der die Begegnungen zwischen Kalmücken und Russen im 17. und 18. Jahrhundert in den Steppengebieten des Unterlaufs der Wolga und nördlich des Kaspischen Meeres auf der Grundlage russischer und osmanischer Quellen darstellte.25 Beiden Spezialstudien folgten grundlegende Überblickswerke. Kappelers Russland als Vielvölkerreich stellt den ersten systematischen Überblick über das Russländische Imperium als ein Reich dar, dessen Funktionsprinzip in der Beteiligung nicht-russischer Eliten an der imperialen Herrschaft lag. Im Militär, der Zivilverwaltung und der Ökonomie war das Zarenreich auf die Kooperation von Nichtrussen wie beispielsweise Ukrainern, Deutschbalten, Georgiern und Armeniern angewiesen. Obwohl im Lauf des 19. Jahrhunderts auch die russische Nationsbildung an Gewicht gewann und der Zar nicht mehr allein als imperialer Herrscher, sondern auch als russischer Monarch wahrgenommen wurde, blieb dieses Charakteristikum des zarischen Vielvölkerreiches von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Ende der Monarchie 1917 erhalten. Nicht nur die Geschichte der imperialen Elite offenbart, dass Sprache und Nationalität nicht die entscheidenden Faktoren von Privilegierung und Diskriminierung im Zarenreich waren. Gerade die Geschichte der russischen Leibeigenschaft zeigt, wie das Reich große Schichten jener Gruppe, die man als Titularnation des Reiches vermuten könnte, vom späten 16. Jahrhundert bis zur Bauernbefreiung 1861 in Unfreiheit leben ließ.26 Michael Khodarkovsky wiederum hat die russischen Begegnungen mit Steppenvölkern vom 16. bis zum 18. Jahrhundert als wichtigen Baustein des Imperiums profiliert.27 Seitdem die Geschichte Russlands als Vielvölkerreich in den 1980er und frühen 1990er Jahren entdeckt wurde, hat sich die Imperiumsforschung stark differenziert. Das Ende der Sowjetunion lenkte den Blick zunächst auf den Niedergang und Zerfall von Reichen.28 Doch alsbald stellte sich die Erklärung Jahrhunderte währender imperialer Herrschaft als weitaus größere Aufgabe dar. Langfristige Stabilitätsfaktoren interessieren nun mehr als Krisen im 19. Jahrhundert und der finale Niedergang der östlichen Imperien im Ersten Weltkrieg. Wichtige Impulse verdankt dieser Forschungszweig in der osteuropäischen Geschichte Marina Batalina, Alfred Rieber und Aleksej Miller, die dazu vergleichende Ansätze gewählt haben.29 Die zentralen Identifikationsangebote, die die Kaiser Russlands von Peter dem Großen 25  Khodarkovsky,

Where Two Worlds Met. Russland als Vielvölkerreich. 27  Khodarkovsky, Russia’s Steppe Frontier. 28  Barkey/Hagen, After Empire. Demandt, Das Ende der Weltreiche. 29  Batalina/Miller, Rossijskaja imperija v sravnitel’noj perspective. Miller/Rieber, Imperial Rule. 26  Kappeler,

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(1689–1725) bis zu Nikolaus II. (1894–1917) in jeweils eigenen Inszenierungen ihrer Macht unterbreiteten, hat Richard Wortman in zwei Bänden untersucht.30 Auch Transfergeschichten sind als relevantes Feld der Geschichte imperialer Herrschaft und imperialen Selbstverständnisses angesprochen worden.31 Das Verhältnis der Imperien zu Nationsbildungsprojekten ist von nicht minderem Interesse. Mit Blick auf Russland haben Geoffrey Hosking und Vera Tolz opponierende Thesen formuliert. Wo Hosking den imperialen Bauplan Russlands eine vollgültige russische Nationsbildung verhindern sah, beobachtete Tolz russische Eliten, die das Zarenreich um 1900 so behandelten, als sei es ein Nationalstaat.32 Nationsbildungsprojekte als Herausforderung und Untergangsfaktor von Imperien möchten Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard vergleichend plausibel machen.33 Auch der spatial turn hat die Imperienforschung erreicht und nachhaltig geprägt. Vor allem hat er dazu geführt, den Umgang mit großen Untersuchungseinheiten wie Imperium und Nation aufzubrechen. Die Regionen des Reiches sind in vielen Arbeiten in den Fokus des Interesses gerückt. Das bietet den Vorteil, sich in der Forschung nicht von vorgängigen Identitätskonzepten und Raumvorstellungen leiten lassen zu müssen. Stattdessen geraten aus einer lokalen und regionalen Perspektive divergierende Interessen verschiedener Akteure und konkurrierende Identitätskonzeptionen und mental maps in den Blick.34 Am umfassendsten hat bislang die russische Reihe Die Grenzländer des Russländischen Reiches (Okrainy Rossijskoj Imperii) die regionale Vielfalt des Reiches zu erfassen versucht. Es liegen inzwischen Bände über den Nordwesten des Reiches, den Kaukasus, Zentralasien und Bessarabien im Rahmen des Russländischen Reiches vor.35 Gleichfalls gibt es eine Reihe von Studien, die Regionen Russlands in kolonialen Zusammenhängen untersuchen. Das gilt vor allem für den Kaukasus, Zentralasien und den fernen Osten.36 Die Vielfalt des Reiches, die Kontroversen um ihre Normierung und Beherrschung sowie damit korrespondierende Gegenentwürfe und Eman30  Wortman,

Scenarios of Power. Imperium inter pares. 32  Hosking, Russia. Tolz, Russia. 33  Hischhausen/Leonhard, Empires und Nationalstaaten. Dies., Comparing Empires. 34  Hausmann, Universität und städtische Gesellschaft in Odessa. Ders., Mütterchen Wolga. Jobst, Die Perle des Imperiums. Weiss, Wie Sibirien „unser“ wurde. Burbank/Hagen/Remnev, Russian Empire. Cvetkovski, Reich der Ränder. 35  In der Reihe Okrainy Rossijskoj Imperii liegen bislang vor: Dolbilov, Zapadnye okrainy. Damešek, Sibir‘. Bobrovnikov, Severnyj Kavkaz. Abašin, Central‘naja Azija. Kuško/Taki, Bessarabija. 36  Jersild, Orientalism and Empire. Brower, Turkestan and the Fate of the Russian Empire. Sahadeo, Russian Colonial Society in Tashkent 1865–1923. Morrison, Russian Rule in Samarkand 1868–1910. Urbansky, Kolonialer Wettstreit. 31  Aust/Miller/Vul’pius,



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zipationsversuche lassen sich jedoch auch jenseits der regionalen Perspektive mit Blick auf Professionen, Infrastrukturen und Diskurse behandeln: Orientalistik und Orientalismus, die allgemeine Wehrpflicht, Infrastrukturen der Kommunikation und die Ethnographie sind hier zu nennen.37 Aus diesem Forschungsstand haben russische Historiker zwei unterschiedliche Konsequenzen gezogen. Die Redaktion der einschlägigen Zeitschrift Ab Imperio hat in einer Kooperation mit der Osteuropäischen Geschichte in Mainz die Sprachen der Selbstbeschreibung als zentralen Untersuchungsgegenstand der Imperiumsforschung benannt: Nicht was das Imperium sei, sondern wie das Imperium sprachlich-diskursiv konstruiert wird, solle im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen.38 Demgegenüber hat der Moskauer Historiker Aleksej Miller sich für einen situativen Ansatz in der weiteren Erforschung des Russländischen Imperiums ausgesprochen. Angesichts der Vielzahl regionaler Konstellationen, unterschiedlichster Identifikationsangebote und der Auswahlmöglichkeit unter mehreren Handlungslogiken, könnte die Geschichte des Imperiums allein mit einem geschärften Blick für situative Konstellationen geschrieben werden. Dies hat vor allem das Studium einzelner Akteure in der Geschichte der Russifizierung im Westen des Zarenreiches im späten 19. Jahrhundert gelehrt. Zum Beispiel ließen sich die Gouverneure in den Westregionen in der Diskussion um die Einführung einer neuen russischen Form der Lokalverwaltung (zemstvo) von unterschiedlichen Logiken anleiten. Während Dragomirov in Kiev im Sinn der russischen Nation für die Einführung der neuen Lokalverwaltung plädierte, lehnte V. N. Trockij in Vilna sie imperial argumentierend ab. Imperium und Nation offenbaren sich hier in biographischen Ausschnitten als unterschiedliche Handlungsmodi in einer bestimmten politischen Konstellation.39 Mithin bot sich in den zurückliegenden zwanzig Jahren eine Abfolge von forschungsleitenden Begriffen dar, die linear von großen Einheiten zu stets kleineren und zugleich präziser formulierten Faktoren voranschritt: Vielvölkerreich, Imperium, Nationen, Regionen, Professionen, Infrastrukturen, Diskurse, Sprachen der Selbstbeschreibung und situative Konstellationen. Im Folgenden soll exemplarisch die Geschichte der Figur Fedor F. Martens (1845–1909) aufzeigen, welche Perspektiven eine autobiographisch angeleitete Imperiumsforschung bieten kann. 37  van der Oye, Russian Orientalism. Tolz, Russia’s Own Orient. Mogil’ner, Homo imperii. Schenk, Russlands Fahrt in die Moderne. Cvetkovski, Modernisierung durch Beschleunigung. Sperling, Der Aufbruch der Provinz. Sanborn, Drafting the Russian Nation. 38  Gerasimov/Kusber/Semyonov, Empire Speaks Out. 39  Dolbilov, Zapadnye okrainy, S. 273  f. Grundsätzlich zum situativen Ansatz: Miller, The Romanov Empire and Nationalism, Kapitel 1.

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3. Fedor F. Martens (1845–1909)40 Am 21. Juni 1909 meldete die New York Times, Fedor Martens sei tags zuvor während einer Bahnreise auf der Station Valk gestorben. Die Notiz fuhr fort, die wichtigsten Funktionen Martens’ aufzuzählen: Ständiges Mitglied im Rat des Außenministeriums Russlands, Professor für Völkerrecht an der Universität St. Petersburg, russischer Delegierter auf zahlreichen internationalen Konferenzen, zweiter Bevollmächtigter Russlands auf der Haager Friedenskonferenz 1899 und Mitglied des Ständigen Internationalen Schiedsgerichtshofes in Den Haag. Die Aufzählung verdeutlicht Martens’ Zugehörigkeit zu zwei Sphären: dem diplomatischen Dienst des Zarenreiches und der internationalen Gemeinschaft der Völkerrechtler. Martens war zugleich dem Völkerrecht und dem Russländischen Imperium zu Diensten.41 Martens’ Kindheit hatte diese Karriere nicht erwarten lassen. Seine Eltern waren Esten. Als neunjähriger Vollwaise fand er jedoch Aufnahme in einem evangelisch-lutherischen Waisenhaus in St. Petersburg. Daran schloss sich der Besuch einer gleichfalls deutschbaltischen Schule in der Hauptstadt des Zarenreiches an. 1863 nahm Martens sein Jurastudium an der Universität St. Petersburg auf, das er 1868 abschloss. Am ausführlichsten informiert über Martens momentan die Biographie aus der Feder des russischen Völkerrechtlers Pustogarov.42 Es handelt sich um eine Werkbiographie rechtswissenschaftlichen Interesses. Über diesen juristischen Zugang hinaus versprechen Martens’ Biographie und sein autobiographisches Schreiben Erkenntnis in zwei Forschungszusammenhängen: erstens geht es um Identitätskonzeptionen internationaler Expertengruppen und zweitens um die Frage nach der Wirkungsmächtigkeit imperialer Ideologie in den Köpfen der Elite des Russländischen Kaiserreiches um 1900. Die Biographie und die autobiographische Praxis Martens’ verschränken beide Aspekte. Die autobiographische Praxis Martens’ lässt sich hier anhand von Porträtfotografien und Tagebucheinträgen thematisieren. Martens’ Selbstbeschreibung ist dabei geprägt von seinen Rollenvorstellungen als Diplomat und Völkerrechtler, so dass seine autobiographische Praxis mit seinen fachlichen Publikationen und seinem Agieren als Diplomat und Völkerrechtlicher abgeglichen werden muss. 40  In diesem Abschnitt folge ich meinen Ausführungen über Völkerrecht und Diplomatie aus einem früheren Artikel, füge jedoch neue Überlegungen zu Biographik und Autobiographik hinzu: Aust, Völkerrechtstransfer im Zarenreich. 41  Anon., Frederick de Martens Dead. 42  Pustogarov, Fedor Fedorovič Martens. Englische Übersetzung: Pustogarov, Our Martens. Ferner zur Einführung: Mälksoo: The Liberal Imperialism of Friedrich (Fyodor) Martens. Ders., Friedrich Fromhold von Martens.



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Auf zahlreichen Wegen hat sich die Geschichtsschreibung in den zurückliegenden Jahrzehnten vom einst starren Rahmen der Nationalgeschichte emanzipiert. Unter anderem sind dabei grenzüberschreitende Sozialforma­ tionen in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Internationale Expertengruppen – zu denen auch die Völkerrechtler zu zählen sind – erfreuen sich einer ausgeprägten Forschungskonjunktur.43 Teile der Historiographie behandeln diese Gruppen unter der Maßgabe, ihre internationale Vernetzung löse nationale und imperiale Identifikationen auf.44 Martens lässt sich demgegenüber als russländischer Vertreter einer internationalen Gruppe von Rechtsexperten vorstellen, die in globalen Interaktionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte. Dabei ist im Falle Martens’ keine Auflösung imperialer Identifikationsmuster im Zuge fortschreitender internationaler Vernetzung zu erkennen. Vielmehr erlaubt es der biographische und autobiographische Zugang, Martens als Vertreter eines Internationalismus vorzustellen, der keinen Widerspruch darin sah, in Fachkreisen auf internationaler Ebene gut vernetzt zu agieren und sich gleichzeitig in nationaler, respektive imperialer Loyalität gegenüber Russland zu üben. Dies führt unmittelbar zum zweiten Problemfeld: Seit geraumer Zeit streiten Russlandhistoriker über den Stellenwert imperial russländischer und na­ tional russischer Identifikationsmuster unter der Elite des Kaiserreiches um 1900. Wo die einen eine russische Nationsbildung am imperialen Bauplan Russlands scheitern sahen, wähnten andere die russischen Eliten im Vorhaben begriffen, das gesamte Reich russisch national zu homogenisieren. Letzter Stand der Debatte ist die oben bereits referierte These, der zufolge imperiale und nationale Politikentwürfe den Eliten als Handlungsoptionen zur Verfügung gestanden hätten und deren Anwendung allein noch situativ erforscht werden könne. Somit bleibt es ein Desiderat zu untersuchen, in welchem Maß sich imperiale Ideologie in die Köpfe der Menschen einschrieb und in bestimmten Situationen handlungsleitend wirkte. Biographische und autobiographische Studien, in denen auch nach Loyalitätskonflikten der betrachteten Figur gefragt wird, bieten sich hier als ein Forschungsansatz an. Im Folgenden wird es zunächst um Martens im Kreis des völkerrechtlichen Internationalismus gehen, um dann über das Gewicht imperialer Orientierung in der Biographie und Selbstverortung Martens’ zu handeln. Im völkerrechtlichen Internationalismus erscheint Martens als eine hervorragend vernetzte Figur. Dies gilt für die akademische wie auch die diplomatische Welt. Seine Schriften fanden stets ausgesprochen positive Rezensionen in der führenden Fachzeitschrift Revue de Droit International et de 43  Koskenniemi, 44  Diese

The Gentle Civilizer of Nations. These kritisiert: Rößner, Ort und Raum.

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Législation Comparée.45 Die Zeitschrift proklamierte das Völkerrecht und den internationalen Rechtsvergleich als die großen juristischen Aufgaben der Zeit. Demzufolge galt es, das Prinzip der Weltausstellungen auf das Feld der Rechtswissenschaften und der Gesetzgebung zu übertragen. Es sollte ein internationales Forum geschaffen werden, auf dem sich Experten aller Länder austauschen und die Nationen voneinander lernen können. Das Völkerrecht erschien dabei nicht mehr allein als Recht der Staatenbeziehungen. Es zielte auch auf den internationalen Verkehr zwischen Gesellschaften und Individuen ab.46 Diese liberale Wendung des Völkerrechts lässt sich auch im Werk Martens’ nachvollziehen. In seinem opus magnum mit dem Titel Völkerrecht. Das internationale Recht der civilisirten Nationen von 1882 / 83 knüpft Martens die Teilhabe der Staaten am Völkerrecht an Rechtsstaatlichkeit im Inneren der Staaten.47 Gar die unveräußerlichen Persönlichkeitsrechte zählt er zum Kernbestand der Güter, die auch das Völkerrecht zu schützen habe – ein bemerkenswerter Grundsatz für einen Juristen in einem autokratischen Staat, der es nicht vermochte, beispielsweise den Tod seiner jüdischen Untertanen in Pogromen zu verhindern. Die beachtliche internationale Rezeption der Völkerrechtssynthese von Martens lässt sich u. a. an ihren Übersetzungen in das Persische, Japanische und Chinesische ablesen.48 1905 gab ein japanischer Kriegsgefangener in Russland bei seiner Entlassung zu Protokoll, in Japan studiere man das Völkerrecht auf der Grundlage des Buches von Martens.49 Doch erschöpften sich Martens internationale Aktivitäten nicht in wissenschaftlichen Beiträgen zur Ausbildung des Völkerrechts als akademischer Disziplin. Auch als Diplomat hat er Spuren hinterlassen. Dabei ist Martens vor allem auf zwei neuen Feldern hervorgetreten: dem humanitären Völkerrecht und der Schiedsgerichtsbarkeit. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts trat das ius in bello entschieden auf die Agenda des Völkerrechts. Hier wusste Martens sich mit dem Internationalen Komitee des 45  Revue de Droit International et de Législation Comparée VI, 1874, S. 709 f. (Besprechung: Recueil, vol. 1). Revue de Droit International et de Législation Comparée XIV, 1882, S. 444 ff. (Besprechung: Völkerrecht, Bd. 1). Revue de Droit International et de Législation Comparée XV, 1883, S. 630 ff. (Besprechung: Völkerrecht, Bd. 2). 46  Rolin-Jaequemyns, De l’etude de la législation comparée et du droit international. 47  Martens, Völkerrecht. 48  Pustogarov, Martens, S. 3. 49  Diese Anekdote notierte Martens am 17. März 1906 in seinem Tagebuch, nachdem der Generalstab sie ihm zugetragen hatte: Martens, Russia’s Policy in 1905‑1907, S. 243.



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Roten Kreuzes einig in der Sorge um verwundete Kombattanten auf den Schlachtfeldern. An der Ausarbeitung der Haager Landkriegsordnung war Martens führend beteiligt. Auch das Instrument der Schiedsgerichtsbarkeit ist prominent mit Martens’ Namen verknüpft. Die Haager Konferenz von 1899 etablierte einen ständigen Schiedsgerichtshof in Den Haag. Mehrere Staaten wie z. B. Großbritannien, Venezuela, Mexiko und die USA engagierten Martens als Schiedsrichter in ihren Streitfällen. Diese Beispiele belegen Martens Beitrag zu Bemühungen, der Staatenwelt um 1900 friedenserhaltende Institutionen einzubauen, die in eine weltweite Staatengemeinschaft hätten münden können.50 Zahlreiche Belege für Martens Wertschätzung als Schiedsrichter ließen sich nennen, hier sei allein kurz aus dem Nachruf auf Martens zitiert, den das American Journal of International Law 1909 abdruckte: „The death of Professor Frederic de Martens on June 20, 1909, has deprived international law of one of the admitted masters of the science, and international arbitration of its most distinguished and experienced partisan.“51 In Martens Augen standen seine internationalen Aktivitäten keineswegs im Widerspruch zu seiner Verankerung im Zarenreich. Martens hegte die Idealvorstellung, dem Völkerrecht und dem Zarenreich gleichzeitig dienen zu können. Zwei Porträtfotografien aus den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts visualisieren Martens’ Annahme, er könne unterschiedliche Rollen verkörpern und in sich vereinen.52 Beide Fotografien entstanden offenkundig im Rahmen eines Fototermins. Sie zeigen Martens an der Seite eines Sekretärs posierend. Die eine Fotografie visualisiert Martens mit Doktorhut, Talar und Buch als Gelehrten und Angehörigen einer internationalen akademischen Profession. Die andere Fotografie zeigt Martens ordensdekoriert in einer uniformartigen Kleidung. In der Tat hatte Martens mehrere Orden des Zarenreiches erhalten, u. a. den Aleksandr Nevskij Orden und den Orden vom Weißen Adler. Hier erscheint Martens als loyaler Diener seines Staates, des Russländischen Imperiums. Der Begriff des Internationalismus, der den Zeitgenossen um 1900 geläufig war, ist mithin der treffende Ausdruck, um sowohl die Zugehörigkeit Martens zu einer überstaatlichen Expertengruppe als auch sein imperiales Selbstverständnis begrifflich zu fassen. Austauschprozesse wie jene unter Völkerrechtlern schliffen die Bedeutung der Nationen und Imperien nicht 50  Pustogarov, Martens, Kapitel VII zur internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. Zur Haager Konferenz: Dülffer, Regeln gegen den Krieg? Rybačenok, Rossija i Pervaja Konferencijaa Mira 1899 goda v Gaage. 51  Anon., Frederic de Martens. 52  Die Abbildungen können abgerufen werden unter zuletzt besucht am 29.07.2013.

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ab, sie fügten sie in neue Zusammenhänge ein. Dabei ging Martens davon aus, dass sein Status in der einen Sphäre jeweils seinen Stand in der anderen stützte. Wenn im Petersburger Außenministerium sein Rat gefragt war, sah Martens darin eine Anerkennung seiner völkerrechtlichen Reputation und internationalen Bekanntheit. Wenn er im Ausland und unter Völkerrechtlern Termine wahrnahm, ließ er sich als ständiges Mitglied im Rat des Außenministeriums des Russländischen Reiches vorstellen.53 Martens Biographie liefert darüber hinaus ein Argument, die These, internationales Expertentum löse nationale Selbstverortungen der Akteure auf, einer noch weitergehenden Kritik zu unterziehen. Aussagekräftig ist eine Begebenheit, die in Martens Agieren ein Übergewicht der imperialen Loyalität gegenüber dem völkerrechtlichen Engagement demonstriert. Die Vorstellung, Rollen harmonisch tauschen und vereinbaren zu können, wie sie die beiden Porträts suggerieren, erweist sich dabei als brüchig und stieß in der Praxis an ihre Grenzen. Einige grundsätzliche Ausführungen über das Verhältnis von Imperium und Völkerrecht seien vorausgeschickt. Die Disziplinen Völkerrecht, Geschichtsschreibung und Politikwissenschaft haben zwei Verhältnisbestimmungen von Imperium und Völkerrecht ausgebildet. Die eine Variante bestimmt Völkerrecht und Imperium idealtypisch als unterschiedliche internationale Ordnungsvorstellungen. Der normativen Symmetrie der gleichberechtigten souveränen Staaten im Völkerrecht steht dabei die hierarchische Ordnung des Imperiums gegenüber, das seine Außenwelt asymmetrisch organisiert. Völkerrecht und Imperium stehen dabei für widerstreitende Ordnungsmodelle der internationalen Staatenwelt.54 Die andere Variante geht von einer Kongruenz von Imperium und Völkerrecht aus. Ihr gilt das Völkerrecht als ein Regelwerk, das imperialen Ordnungsstrukturen nachgeordnet ist und sie stabilisiert.55 53  Pustogarov,

Martens, S. 116. Koskenniemi versteht den Imperialismus des späten 19. Jahrhunderts als Antithese liberaler Völkerrechtskonzeptionen der 1860er Jahre. Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, hier Kapitel 1 und 2. Nußberger, Das Völkerrecht, S. 9 nennt „imperiale Gelüste“ als Opponenten des Völkerrechts. Die Funktion von Imperien als Garanten internationaler Ordnung und Stabilität in Abgrenzung von den Vereinten Nationen postuliert Münkler, Imperien. 55  Das Völkerrecht als Ordnungssystem und Legitimationsinstanz bestehender Machtstrukturen betonen: Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte. Kritisch zu Grewe: Fassbender, Stories of War and Peace. Die beiden Formen des Verhältnisses von Völkerrecht und Imperium lassen sich durchaus innerhalb der Bandbreite völkerrechtlicher Argumentation zwischen Apologie (Völkerrecht legitimiert vorhandene imperiale Ordnung) und Utopie (Gleichrangigkeit der souveränen Staaten untereinander im Völkerrecht) verorten. Koskenniemi, From Apology to Utopia. 54  Martti



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In Martens’ Publikationen lassen sich beide Varianten des Verhältnisses von Völkerrecht und Imperium finden. Auf den ersten Blick mag man darin einen Widerspruch erblicken. Dieser fügt sich jedoch zu einer schlüssigen Ordnung, wenn als weiteres Kriterium nach der Rolle Russlands in Martens Schriften gefragt wird. Völkerrecht und Imperium stehen in Martens Denken allein dann in Opposition zueinander, solange Russland nicht involviert ist. So verhält es sich bei Martens’ Ausführungen über die Quellen des Völkerrechts. Das römische Recht schließt er als Quelle des Völkerrechts aus. In seinen Augen nahm das römische Imperium seine Außenwelt allein als ein Ensemble potentiell zu unterwerfender und erobernder Objekte wahr. Aus einer solchen Konstellation – so Martens – lasse sich kein internationales Recht ableiten, dessen Funktion es sein sollte, den Austausch unter Gleichen zu regeln. Das völkerrechtliche Regelwerk müsse vielmehr aus den Verträgen unter den souveränen europäischen Staaten seit 1648 abgeleitet werden. In ihnen und nicht im römisch-imperialen Recht sah Martens Prinzipien enthalten, die es völkerrechtlich weiterauszubilden galt.56 Als ein weiteres Beispiel für die Opposition von Völkerrecht und imperialem Ordnungsprinzip im Werk Martens kann sein Kommentar zur Chinapolitik gelten. In seiner Schrift Russland und China von 1881 sprach sich Martens gegen jegliche Einschränkungen chinesischer Souveränität aus. China erscheint dabei nicht als Manövriermasse europäischer Mächte auf der Suche nach Freihäfen, ungleichen Handelsverträgen und kolonialen Stützpunkten, sondern als Staat, dessen Territorium und Eigenständigkeit es zu achten gelte. Hier gibt Martens den russischen Anwalt chinesischer Souveränität gegen den europäischen Imperialismus.57 Eine Kongruenz imperialer und völkerrechtlicher Logiken war demgegenüber zu beobachten, als Martens 1877 den Krieg Russlands gegen das Osmanische Reich legitimierte. Unter Verweis auf osmanische Gräueltaten auf dem Balkan und eine ausbleibende konzertierte Aktion der europäischen Mächte sei Russland zur Intervention im Dienste der Humanität gezwungen gewesen. Alles in allem begreift Martens Russland hier als ein Reich, das durchaus im Einklang und Interesse des Völkerrechts handelt.58 Dieses Muster findet sich auch in Martens Schrift Russland und England in Zentralasien, die 1879 in der Revue de Droit International et de Légis56  Diese Prämisse liegt Martens’ Edition der Staatsverträge Russlands seit 1648 zugrunde: Martens, Recueil des traités et conventions conclus par la Russie avec les puissances étrangères. 57  Pustogarov, Martens, S. 123. 58  Martens, Die russische Politik in der Orientalischen Frage. [Separat-Abdruck aus der Russischen Revue Band XI]. Zu Martens’ Rechtfertigung der russischen Kriegserklärung an das Osmanische Reich: Koskenniemi, International Law in Europe. Zu Interventionen im Osmanischen Reich: Bass, Freedom’s Battle. Rodogno, Against Massacre.

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lation Comparée erschien.59 Den Hintergrund bilden Spekulationen vor allem der britischen Presse, die Rivalität in Zentralasien könne alsbald in einen russisch-britischen Krieg führen. Demgegenüber unterbreitet Martens in seinem Text einen Vorschlag zum russisch-britischen Ausgleich in Zentralasien, der dem Kongruenzprinzip zwischen Völkerrecht und Imperium folgt. Martens schlägt eine unmittelbare russisch-britische Grenze in Zentralasien vor, um die Mächtekonkurrenz in dieser Region aus der Welt zu schaffen und den beiden Imperien im wahrsten Sinne des Wortes Raum für ihre zivilisatorischen Missionen zu schaffen. In diesem Vorschlag kamen sowohl ein völkerrechtliches als auch ein offen imperiales Prinzip zur Anwendung. Völkerrechtlich schlägt Martens einen Vertrag zwischen zwei Mächten vor, die in einer einvernehmlichen Grenzziehung ihre Mächterivalität aufheben mögen. In imperialer Hinsicht wird ein ausgesprochenes Sendungsbewusstsein deutlich, welches Großbritannien und Russland als den bedeutendsten Mächten der Erde einen besonderen Auftrag zur zivilisatorischen Mission jenseits ihrer aktuellen Grenzen zuschreibt. Genau betrachtet nutzt Martens das Völkerrecht hier als Instrument erster Wahl, um eine imperiale Expansionslogik durch eine andere zu ersetzen. Wo bis dato imperiale Strafexpeditionen unter räuberischen Steppennomaden zur Sicherung der imperialen Grenzen zu führen waren, soll nun Raum für die zivilisatorische Mission des Imperiums sein. Auf Martens Text reagierte sein Völkerrechtskollege John Westlake aus Cambridge in der Revue de Droit International.60 Der Zivilisationsaspekt blieb dabei außen vor. Westlake warf Martens eine juristisch inkonsistente Argumentation und dem Russländischen Reich eine aggressive Außenpolitik in Zentralasien vor. Martens sah sich seinerseits zu einer Erwiderung auf die Replik Westlakes veranlasst.61 Darin wird deutlich, wie die imperiale Ideologie in der Debatte dieser Juristen Übergewicht über das völkerrechtliche Engagement erhielt. Denn aller Ausgleichs- und Friedensrethorik ungeachtet, wies Martens nicht nur den Vorwurf zurück, Russland sei eine aggressive Macht in Zentralasien. Er schloss seine Erwiderung vielmehr mit der Feststellung, dass Großbritannien provokativ die Neutralität Afghanistans verletzt habe und die jüngsten russischen Eroberungen in Zentralasien mithin vollkommen gerechtfertigt gewesen seien. Die Legitimierung imperialer Expansion trat in Martens’ Argumentation an die Stelle völkerrechtlichen Ausgleichs. Bemerkenswert ist an Martens’ Replik vor allem, dass er die Legitimität der russischen Expansion nicht mehr mit einem höheren 59  Martens,

La Russie et l’Angleterre dans l’Asie Centrale. La Russie et l’Angleterre dans l’Asie Centrale. 61  Martens: La Russie et l’Angleterre dans l’Asie Centrale. Réplique à M. Westlake. 60  Westlake,



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zivilisatorischen Prinzip, sondern der Logik von challenge and response folgend in einer Konkurrenz der Großmächte begründet. Der Schlagabtausch zwischen Westlake und Martens stellt somit einen imperialen Familienkrach im Haus der Völkerrechtler dar. Hier wird deutlich, wie imperiale Ideologie in einem Loyalitätskonflikt zwischen dem eigenen Imperium und der internationalen Gemeinschaft der Völkerrechtler handlungsleitend zugunsten der imperialen Orientierung wirkte. Das Russländische Imperium honorierte Martens’ Loyalität nur bedingt. Es wusste sich der Dienste Martens zu bedienen, wenn es nötig war, und ging in anderen Situationen über ihn hinweg. 1905 gehörte Martens zwar zur russischen Delegation bei den Friedensverhandlungen mit Japan in Pourtsmouth. Als führender und medienwirksamer Kopf der Delegation setzte sich sehr zum Verdruss von Martens jedoch Graf Witte in Szene.62 Seinem Tagebuch vertraute Martens in Pourtsmouth an, wie sehr es ihn enttäuschte, von den übrigen russischen Delegationsmitgliedern allein als Professor, nicht jedoch als Diplomat angeredet zu werden.63 Als französische Banken 1906 die Zeichnung einer Anleihe an Russland in Höhe von 2,25 Milliarden Francs an die Bedingung knüpften, ein Gutachten Martens’ solle festhalten, dass das russische Parlament die Konditionen des Abkommens nicht ändern könne, umgarnte ausgerechnet Graf Witte Martens mit Engelszungen. Geschmeichelt und geehrt gutachtete Martens postwendend, am 4. April 1906 konnte die Anleihe gezeichnet werden.64 Witte schildert den Vorgang in seinen Memoiren lakonischer. Nachdem er dargelegt hat, dass die französische Regierung Bedenken äußerte, ob Russland eine Staatsanleihe ohne Einbeziehung des bald zusammentretenden Parlamentes zeichnen könne, fährt er in seinen Memoiren fort: „Ich erwiderte, daß ich den Beweis vorlegen würde, sobald es zum Abschluß der Anleihe käme. Zu diesem Zweck bat ich den Professor des internationalen Rechtes Martens (Mitglied des Beirats des Außenministeriums), eine diesbezügliche Feststellung aufzusetzen. An Martens wandte ich mich darum, weil er im Auslande als Autorität in solchen Fragen galt, und Martens verfaßte ein entsprechendes Schriftstück in französischer Sprache, worin das Recht der Regierung auf eine solche Operation dargelegt war.“65 Wittes Schilderung macht noch einmal Martens’ Dilemma deutlich: im Inneren gilt er als Professor. Als renommierter Völkerrechtler wird er lediglich im Ausland geschätzt. Martens hegte nun die Erwartung, sein Verdienst um die Anleihe würde von der Reichsspitze symbolisch gewürdigt werden. Als jedoch am 27. April 62  Schattenberg,

Die Sprache der Diplomatie oder das Wunder von Portsmouth. Friedrich Fromhold von Martens, S. 1150. 64  Martens, Russia’s Policy in 1905‑1907 from a Diary of F. F. Martens, S. 245. 65  Graf Witte, Erinnerungen, S. 457. 63  Mälksoo,

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1906 Nikolaus II. in einem Staatsakt im Winterpalais das Parlament, die Duma feierlich eröffnete, gab Martens sich zerknirscht darüber, dass Kaiser und Hof ihn nicht einer Einladung würdig befunden hatten. Ernüchtert stellte er fest, dass sich seine internationale Reputation nicht frei und beliebig in russische Wertschätzung konvertieren ließ.66 Die enge Vernetzung der russischen Völkerrechtler untereinander brachte es jedoch mit sich, dass M. A. Taube in seinem 1909 in St. Petersburg erschienenen Nekrolog Martens’ Selbstbeschreibung aufgriff und autobiographisches in einen biographischen Text umschrieb. Gleich auf der ersten Seite des Nekrologs würdigt Taube Martens als „einen russischen Juristen, dessen Name weit jenseits der Grenzen unseres Vaterlandes bekannt war“, um dann mit einer Aufzählung der verschiedenen Rollen fortzufahren, die Martens in sich vereinigte: Professor, Jurist, Diplomat und eine bekannte Größe staatlichen und öffent­ lichen russischen wie auch des internationalen Lebens.67 Der biographische und autobiographische Ertrag einer Betrachtung Martens’ lässt sich wie folgt festhalten: Die Biographie Fedor Martens’ stellt sich als eine ausgesprochen imperiale Biographie dar. Martens Lebensweg vom estnischen Elternhaus über das evangelische Waisenhaus, die deutschbaltische Schule und die Petersburger Universität in den Reichsadel steht für die Aufstiegschancen in die imperiale Elite, die auch das späte Kaiserreich Nichtrussen nach wie vor bot.68 Vor dem Hintergrund dieser altbekannten Elitenrekrutierung dynastischer Reiche lenkt Martens’ Biographie unsere Aufmerksamkeit jedoch auf neue Felder. Martens’ Dienste für das Imperium beruhten auf wissenschaftlicher Qualifikation und internationaler akademischer Vernetzung. Die Biographie und Selbstbeschreibung Martens’ zeigt, wie die Zugehörigkeit zu einem internationalen Expertenkreis die Bedeutung der eigenen imperialen Selbstverortung nicht aufweichte. Vielmehr stehen die Biographie Martens’ und seine Selbstverortung exemplarisch für den Versuch, beide Zugehörigkeiten nach Möglichkeit zum wechselseitigen Nutzen aufeinander zu beziehen. Die Bedeutung imperialer Zugehörigkeit zeigt sich im Fall Martens in verschiedenen Varianten imperialer Ideologie: im Rahmen seines Internationalismus begriff Martens Russland als eine Macht, die dem Völkerrecht dient, indem sie die zivilisatorische Mission vorantreibt und Frieden stiftet. In die argumentative Enge getrieben, konnte Martens jedoch auch eine imperiale Loyalität zu erkennen geben, die sich zur Konkurrenz der Großmächte bekannte und auf die blanke Legitimierung imperialer Expansion hinauslief. Auf 66  Martens,

Russia’s Policy in 1905‑1907 from a Diary of F. F. Martens, S. 246. F. F. Martens (1845–1909), S. 3. 68  Dies betont mit einem Blick auf Strukturen um 1900 Kappeler, Russland als Vielvölkerreich, Achtes Kapitel. 67  Taube,



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die Imperialgeschichte bezogen bedeutet dies, imperiale Ideologie nicht allein als Identifikationsangebot zu lesen, dass die Reichsspitze anbietet, sondern auch zu fragen, wie Individuen diese Angebote aufgriffen, sich in sie einschrieben und sie dabei neu formulierten.69 Zugleich wird in Martens’ Biographie sichtbar, wie unterschiedliche ­ oyalitäten mit Erfahrungen verschiedener Räume verknüpft sind. AnerkenL nung seines völkerrechtlichen Renommees erfuhr Martens im Ausland, im Kreis der Völkerrechtler, in internationalen Organisationen und unter Diplomaten. Es schmerzte Martens zu erleben, wie sein internationales Engagement sich in Russland nicht in jenes Maß an Wertschätzung übersetzte, das er erwartete. Seinem Tagebuch lässt sich häufig entnehmen, wie hoch gestimmt Martens Auslandsaufenthalte wahrnahm und wie groß sein Entsetzen war, wenn Entscheidungsabläufe im Außenministerium seine völkerrechtliche Expertise übergingen oder er zu einem Staatsakt wie der Eröffnung der Duma keine Einladung erhielt. Auch hier ist die biographische Praxis erhellend, wie der publizierte Tagebuch-Auszug Martens’ für die Jahre 1905 bis 1907 dokumentiert. Am 1. Oktober 1906 nahm Martens, von einem fünfmonatigen Auslandsaufenthalt nach St. Petersburg zurückgekehrt, seine Tagebucheinträge wieder auf. Er blickt im Tagebuch zufrieden auf seine Wertschätzung im Ausland, insbesondere auf einer Konferenz in Genf zurück, um dann skizzenhaft die wichtigsten Ereignisse der russischen Innenpolitik während seiner Abwesenheit aus Russland nachtzutragen. Darauf lässt er kritische Eintragungen über das Petersburger Außenministerium und den Außenminister folgen.70 Offenbar verspürte Martens in der Aufmerksamkeit, die ihm außerhalb Russlands zukam, nicht das Bedürfnis, Tagebuch zu führen, sondern erst wieder angesichts seiner Ernüchterungen in Russland. In der prekären Vermittlung zwischen der Außen- und der Innenwelt des Imperiums liegt ferner ein Phänomen, das Martens’ Biographie mit anderen imperialen Biographien vergleichbar macht. Imperien sind u. a. durch die Heterogenität ihrer Räume definiert. Sie sind damit existentiell auf Personen angewiesen, die als Mittler und Übersetzer zwischen heterogenen Räumen fungieren können. Dabei kann es sich um die Außen- und Innenwelt des Imperiums handeln wie im Fall von Martens. Ebenso relevant sind imperiale Biographien, die Zentrum und Regionen des Reiches untereinander verbinden. Individuelle Erfahrungen unterschiedlicher imperialer 69  Grundlegend zu den Inszenierungen der Kaiser in Russland im 18. und 19. Jahrhundert: Wortman, Scenarios of Power. Die Frage, wie sich die imperiale Herrschaft in den Regionen präsentierte, verfolgt dieser Band: Baberowski/Feest/ Gumb, Imperiale Herrschaft in der Provinz. 70  Martens, Russia’s Policy in 1905‑1907 from a Diary of F. F. Martens, S. 247.

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Räume präsentieren sich als ein lohnendes Arbeitsfeld für die Zukunft.71 Es stellt ein Desiderat dar, imperiale Biographien des Russländischen Reiches eingehender zu untersuchen. Gleiches gilt für autobiographische Praktiken in Imperien. Martens kann als Beispiel einer Selbstthematisierung gelten, die keine klassische Autobiographie produzierte, jedoch in den Porträtfotografien und in seinem Tagebuch Selbstverortungen zu erkennen gibt. Wie Taubes Nachruf auf Martens zeigt, stehen die Produkte autobiographischer Praxis zugleich in einem engen Verhältnis mit biographischer Textproduktion. Dies lenkt abschließend die Aufmerksamkeit auf Kontexte autobiographischer Praxis im Imperium. Wichtige künftige Forschungsfragen lauten, wie der autobiographische Boom ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sich im Russländischen Imperium jenseits der russischen Zentren bemerkbar machte. Welche Anlässe hatten Menschen, autobiographische Texte zu verfassen? Wie beschrieben sie sich darin selber und in welches Verhältnis setzten sie sich zu imperialen Identifikationsangeboten? Formulierten sie dabei neue Vorstellungen vom Imperium? – ferner: stellte die Publikation von Autobiographien und Memoiren im Imperium eine Öffentlichkeit her, in der das Selbstverständnis des Imperiums neu verhandelt wurde? Lässt sich davon sprechen, dass autobiographische Praxen in Russland als doing empire bezeichnet werden können? Das Imperium wäre dann nicht allein ein Herrschaftsensemble, das sich politikgeschichtlich aus der Sicht von Institutionen beschreiben lässt, sondern auch eine Vorstellungswelt, deren Attribute und individuellen Zugehörigkeiten in einer Öffentlichkeit autobiographischer Praktiken hergestellt wird; – und schließlich: wie stellen sich autobiographische Praxen Russlands im Vergleich zu jenen im Habsburger Reich und im Osmanischen Reich dar? Ein neues Forschungsprojekt, das kooperativ an den Historischen Seminaren der Universität Basel und der LMU München angesiedelt ist, hat sich diese Fragen auf die Fahnen geschrieben: Imperial Subjects. Autobiographische Praktiken in den Reichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen (Mitte 19. Jahrhundert – frühes 20. Jahrhundert).72 Literaturverzeichnis Abašin, Sergej N.: Central‘naja Azija v sostave Rosssijskoi Imperii. Moskau 2008. Anon.: Frederick de Martens Dead, in: New York Times. 21.6.1909. Anon.: Frederic de Martens, in: The American Journal of International Law. 4, 1909, S. 983‑985. 71  Hierzu auch: Khodarkovsky, Bitter Choices. Am Beispiel des britischen Empires: Lambert/Lester, Colonial Lives across the British Empire. 72  www.imperial-subjects.ch, zuletzt besucht am 31. Juli 2012.



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Imperial turn und Sozialgeschichte der Medizin in Südosteuropa Von Heike Karge Die Imperiumsforschung hat nicht nur den ost-, sondern auch den südosteuropäischen Raum seit gut zwei Jahrzehnten erobert. Es war zunächst insbesondere die Beschäftigung mit dem Imperium des Habsburgerreiches, über die Ansätze des imperial turn und der postcolonial studies erprobt wurden. Das Habsburgerreich war ein Vielvölkerstaat, ein mitteleuropäisches Imperium, das sich weit in den ost- und südosteuropäischen Raum erstreckte. Es war jedoch kein Kolonialreich, ein Fakt, der zu kontrovers geführten Diskussionen über die Anwendbarkeit von Begriffen und Methoden der postkolonialen Theorie führte.1 Neben dem habsburgischen hat aber insbesondere auch das osmanische Reich in Südosteuropa seine imperialen Spuren hinterlassen. Der Balkan war ein halbes Jahrtausend lang Einflussgebiet der Osmanen gewesen. Zwar waren das 19. und das frühe 20. Jahrhundert einhergehend mit den Staatsgründungsprozessen gekennzeichnet von Versuchen, das osmanische Erbe aus dem Blick und dem Gedächtnis der sich zunehmend national verstehen sollenden Zeitgenossen wegzuwischen. In den aufstrebenden Nationalideologien der Südslawen wurde dieses Erbe als osmanisches Joch ausschließlich negativ konnotiert wahrgenommen. Gelungen ist die Entkoppelung vom imperialen, vom osmanischen Erbe insbesondere im Bereich der Alltagskultur aber nur unvollständig – man denke nur an die orientalisch anmutende Stadtarchitektur der Baščaršija in Sarajevo, an die dem Osmanischen und Türkischen entnommene Bezeichnung vieler Speisen, an die orientalischen Rhythmen balkanischer Folkloremusik. Aber auch die südosteuropäischen Historiographien haben die Verwebungen des Imperialen und des Nationalen lange Zeit ausgeblendet. Vorangetrieben von vorrangig in mittel- und westeuropäischen Wissenschaftskontexten sozialisierten HistorikerInnen geraten diese erst seit kurzer Zeit zunehmend in den Blick.2 Dabei interessieren vor allem Themen, die nach dem 1  Siehe exemplarisch Feichtinger/Prutsch/Csáky, Habsburg Postcolonial. Feichtinger et al., Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. 2  Siehe Sindbaek/Hartmuth, Images of Imperial Legacy.

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Heike Karge

Einfluss imperialer Erbschaften auf die seit dem 19. Jahrhundert einsetzenden modernen Staats- und Nationsbildungsprozesse in Südosteuropa fragen.3 Im Forschungsprojekt Empires, welches die vier europäischen Großreiche untersuchte, waren das osmanische und das habsburgische Imperium vor allem in vergleichender Perspektive zum russischen und britischen Reich vertreten.4 In den letzten Jahren sind zudem Studien entstanden, die den imperialen Blick durch die Untersuchung des Spannungsverhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie schärfen oder auch den Bereich der urbanen Architektur, der Stadtplanung in imperialer und postimperialer Zeit vergleichend unter die Lupe nehmen, um die Spannungen zwischen imperialem Erbe und nationaler Tradition herauszuarbeiten.5 Ein Bereich, der in besonderem Maße vom Blick des imperial turn profitieren könnte, hiervon aber noch weitgehend unberührt ist, ist das Thema der kultur- und sozialhistorisch perspektivierten Geschichte von Sozialfürsorge und Gesundheit. Die Gesellschaften Ost- und Südosteuropas waren bis nach dem Ersten Weltkrieg durch die Gleichzeitigkeit und Überlappung von imperialen und Nationspolitiken und die sozialpolitischen Folgen von Imperienzerfall geprägt. Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Modernisierungsprozesse, die zur Herausbildung fürsorgerischer und gesundheitspolitischer Institutionen in Ost- und Südosteuropa führten, sind daher ein ergiebiges Forschungsfeld für die Frage nach den Verwebungen (post-)imperialer und nationaler Praktiken. Zur Debatte stehen hier beispielsweise die Rolle vormoderner Traditionen und kulturell geprägter Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit in den unter imperialen Bedingungen primär durch religiöse Gemeinschaften oder karitative Vereine versorgten Bereichen der Fürsorge und Wohlfahrt. Auf die Frage, ob und inwiefern die Verschiedenheit historischer Zugehörigkeiten (habsburgisch, venezianisch, osmanisch) und kulturell-religiöser Traditionen (katholisch, muslimisch, christlich-orthodox) zu vergleichbaren oder unterschiedlichen Formen des imperialen Umgangs mit den Kranken und den Schwachen der Gesellschaft geführt hat, an welche Traditionen und in welcher Art mit dem Eingreifen des Staates ab dem 19. Jahrhundert angeknüpft wurde oder eben nicht – darauf ist noch kaum eine befriedigende Antwort gegeben worden. Und was passiert im Moment des Aufeinandertreffens unterschiedlicher imperialer Erbschaften, wie im Falle Kroatien-Slawoniens und Serbiens, die 3  Als Auswahl siehe: Grandits/Clayer/Pichler, Conflicting Loyalities in the Balkans. Mungiu/van Meurs, Ottomans into Europeans. 4  Zum Projekt siehe http://www.empirevergleich.de/index.html. Dazu den Sammelband Leonhard/von Hirschhausen, Comparing Empires. 5  Siehe Maner, Grenzregionen der Habsburgermonarchie. Makas Gunzburger/ Damljanovic Conley, Capital Cities.



Sozialgeschichte der Medizin in Südosteuropa

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ab 1918 in den gemeinsamen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen eingehen sollten? Hier trafen im fürsorgerischen, sozialpolitischen und die Gesundheitsvorstellungen betreffenden Sinne habsburgische, osmanische und junge nationalstaatliche Traditionen, Praktiken und Diskurse unmittelbar aufeinander. Serbien und seine in den Balkankriegen bzw. nach dem Ersten Weltkrieg vom zerfallenden osmanischen Reich erworbenen Teile, also Kosovo, das nördliche Mazedonien und Montenegro, verfügten so zum Beispiel nur über rudimentäre Erfahrungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik. In den nordwestlichen Landesteilen des späteren gemeinsamen Staates Jugoslawien dagegen, also den ehemals habsburgischen Gebieten, konnte hinsichtlich sozialpolitischer Ordnungssysteme bereits auf einen nicht unbeträchtlichen Wissensvorrat und relativ etablierte institutionelle Arrangements zurückgegriffen werden. Wie wirkte sich dieser Gegensatz, der aus unterschiedlichen imperialen Traditionen staatlicher und sozialer Fürsorge herrührte, im neuentstandenen Staat aus? Was bedeutete es, dass bis 1922, als die sozialpolitische Grundabsicherung der Arbeiterschaft in Jugoslawien landesweit vereinheitlicht wurde, in allen Landesteilen unterschiedliche und zum Teil aus imperialen Kontexten stammende Regelungen galten?6 In Kroatien und in der Vojvodina hatte so bis 1922 die auch vor dem Krieg geltende ungarische Gesetzeslage in Bezug auf die Pflichtversicherung der Arbeiter gegen Krankheit und Unfall, in Slowenien und Dalmatien das österreichische Recht gegolten. In den übrigen Landesteilen gab es bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt keinen Versicherungsschutz für die Arbeiterschaft. Und als das am 1. Juli 1922 verabschiedete Gesetz über die Versicherung der Arbeiter auf eine landesweite Egalisierung der sozialpolitischen Absicherung der jugoslawischen zielte, war dies jenes Gesetz, welches im Jahre 1907 im Rahmen der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie vom ungarischen Sabor erlassen und ab 1909 – in guter imperialer Manier – für Kroatien-Slawonien in Kraft getreten war. Das imperiale und das Nationale waren also im sozialfürsorgerischen und gesundheitspolitischen Bereich seit den Nationalstaatsgründungen auf dem Balkan aufs engste miteinander verwoben – ein Fakt, der indes in der südosteuropäischen Medizingeschichtsschreibung noch weitgehend ausgeblendet wird. Denn hier gilt immer noch in weiten Teilen das forschungsleitende Paradigma, die als vormodern, als fremd, als orientalisch (Stichwort Orientalism)7 wahrgenommenen imperialen Erbschaften abstoßen zu müs­sen und statt dessen als national deklarierte gesellschaftliche und soziale Traditionen notfalls auch weit ins Mittelalter zurück zu projizieren. Gesellschaftliche Modernisierung und Nationalstaatlichkeit werden in dieser Perspektive 6  Vgl.

im Folgenden Karge, Sozialpolitische Erwartung und Erfahrung. dazu Bjelić, Normalizing the Balkans.

7  Siehe

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Heike Karge

nahezu gleichgesetzt, ja letztere als Voraussetzung für erstere behauptet.8 Hier stehen imperiale Traditionen ausschließlich für Rückständigkeit auf dem Weg in die moderne, nationale Staatlichkeit – ein Hindernis also, dessen es sich zu entledigen galt.9 Nimmt man neben Südosteuropa den osteuropäischen und insbesondere russisch-sowjetischen Raum in den Blick, wird jedoch auch für die hier interessierenden Forschungsfragen eine allmähliche Trendwende sichtbar. So sind in jüngerer Zeit einige Untersuchungen entstanden, in denen nach den gesellschaftlich-kulturellen und insbesondere politischen Faktoren der Entwicklung von Sozialfürsorge und Gesundheitsvorstellungen in (ehemals) imperialen Räumen gefragt wird. Hier stechen in erster Linie zahlreiche innovative Fallstudien zu Russland hervor, die sich so unterschiedlichen Themen wie dem medizinischen Wissenstransfer oder den kulturell und sozial tradierten Vorstellungen des Wahnsinns zuwenden.10 Auch zur frühen Sowjetunion hat sich, wenngleich zumeist nicht unter (post-)imperialen Fragestellungen, der diesbezügliche Forschungsstand erfreulich weit ausdifferenziert.11 Die Anknüpfung an den imperial turn kann hier insbesondere über jene Studien gelingen, die die Gesundheitspolitik des imperialen Staates über die Untersuchung des lokalen Raumes sichtbar zu machen suchen12 oder aber deren Ambivalenzen im Verhältnis zwischen imperialem Zentrum und Peripherie ausleuchten.13 Für den südosteuropäischen Raum hat die renommierte Südosteuropahistorikerin Maria Bucur bezüglich der Untersuchung von Staatsbildung und Modernisierung auf die Bedeutung von Fragestellungen aus dem Bereich der Gesundheits- und Hygienepolitiken hingewiesen und dabei insbesondere die Wahrnehmung imperialer Erbschaften angemahnt.14 Diese imperialen Erbschaften lassen sich zum Beispiel hervorragend anhand internationaler Expertengruppen nachzeichnen, auf die auch Martin Aust in seinem Beitrag (hier waren es russische Völkerrechtsexperten) hingewiesen hatte. Im Prozess von Nationalisierung und Staatsbildung spielten diese internationalen 8  In diesem Sinne vgl. z.  B. zur Entwicklung der Psychiatrielehre in Serbien: Milovanović, Prvi srpski psihijatri. 9  Als profunde Kritik daran vgl. Turda, Focus on Social History of Medicine. 10  Siehe Renner, Russische Autokratie und europäische Medizin. Brintlinger/ Vinitsky, Madness and the Mad in Russian Culture. Gross Solomon/Hutchinson, Health and Society in Revolutionary Russia. 11  Siehe exemplarisch: Filtzer, The Hazards of Urban Life. Starks, The Body Soviet. 12  Siehe Bautz, Sozialpolitik statt Wohltätigkeit? 13  Siehe Michaels, Curative Powers. 14  Vgl. Bucur, Remapping the Historiography of Modernization.



Sozialgeschichte der Medizin in Südosteuropa

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Experten – im Gesundheitswesen nun Ärzte – auch in Südosteuropa eine herausragende Rolle. Martin Austs Zweifel an der These, dass die internationale Vernetzung von solch grenzüberschreitend agierenden Expertengruppen nationale und imperiale Identifikationen auflöse, finden sich ganz offensichtlich bestätigt, wenn man den Blick auf diese Mediziner lenkt. Man denke hier nur an die staatlicherseits geförderte Praxis der professionellen Ausbildung südosteuropäischer Studenten an mittel- und westeuropäischen Universitäten im gesamten 19. Jahrhundert. Diese Studenten und späteren Mediziner pflegten rege Kontakte zu ihren Kollegen aus Mittel- und Westeuropa, publizierten auch regelmäßig in den dort erscheinenden wichtigsten Fachzeitschriften und blieben dennoch in der Regel im politischen Sinne Nationalpatrioten. Das eine schloss das andere nicht aus.15 So ist es wohl insbesondere das Paradigma der Transferforschung, das in Bezug auf die Expertengruppen im imperialen Raum weiterentwickelt werden könnte. Im geschichtswissenschaftlichen Diskurs wird der mit der Professionalisierung des Ärztestandes gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende und zumeist einseitig von West nach (Süd-)Ost wahrgenommene Transfer von Wissen und Praktiken traditionell an Fragen der Modernisierung und Europäisierung der ost- und südosteuropäischen Gesellschaften gebunden. Unter einer kritischen Perspektivierung von Transfer und Moderne kann hier jedoch zudem nach denjenigen Erbschaften gefragt werden, die durch den dem imperialen Raum entstammenden Wissens- und Praktikentransfer in den sich zunehmend national verstehenden Räumen verhandelt wurden.16 Ein weiterer Themenkomplex, in dem transferbezogene Fragestellungen im imperialen und postimperialen Raum thematisiert werden müssen, stellen Kriege dar. Eine „Kulturgeschichte des Krieges“, die der Historiker Gerhard Hirschfeld vor einigen Jahren einforderte, muss die unter den Spezifika der Kriegssituation erfolgten Transferleistungen berücksichtigen und versuchen, ihre Verwebungen, ihr Ineinandergreifen mit sogenannten „nationalen Traditionen“ herauszuschälen.17 Insbesondere der Erste Weltkrieg kann so als Ermöglichungsraum für den verdichteten Transfer von Wissen und Praktiken im Bereich der Gesundheits- und Krankheitsdiskurse betrachtet werden – z. B. über die Installierung von Besatzungsregimes oder Militärverwaltungen.18 Zum internationalen Wissens- und Praktikentransfer im Bereich der dazu Trgovčević, Planirana elita. dazu jüngst einige der Beiträge in: Sechel, Medicine Within and Be­tween the Habsburg and Ottoman Empires. 17  Vgl. Hirschfeld, Der Erste Weltkrieg in der deutschen und internationalen Geschichtsschreibung. 18  Siehe Johler/Marchetti/Scheer, Doing Anthropology in Wartime and Warzones. 15  Siehe 16  Siehe

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Eugenik liegen mittlerweile einige fundierte Fallstudien vor.19 Kriege sind, nicht zuletzt, oftmals mit einer Veränderung von Staatlichkeit und damit einhergehend von sozialpolitischen Konzepten (bzw. überhaupt erst als deren Initiator) verbunden. Kriege wirken dabei in Bezug auf sozialpolitische Entwicklungen, auf Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, Armut und Fürsorge stets sowohl ent- als auch beschleunigend – insofern steht ihr Zäsurcharakter, der aus anderen kulturgeschichtlichen Arbeiten aus den Bereichen der Geschlechter- oder Gewaltgeschichte heute vermehrt zurückgewiesen wird,20 auch im Bereich der Gesundheit und Fürsorge zur Debatte. Wie eingangs am Beispiel Jugoslawiens angedeutet, wies die jugoslawische Sozialgesetzgebung der frühen 20er Jahre eine beeindruckende Kontinuität zum habsburgischen sozialpolitischen Erbe auf, das hier seit dem späten 19. Jahrhundert aufgebaut worden war. Der Erste Weltkrieg hatte dieses Wissen und diese Praktiken nicht verschwinden lassen, in diesem spezifischen Sinne stellte er also keinen wirklichen Bruch dar. Für die angloamerikanische, westeuropäische und – im Zuge der neuen Militärgeschichte – deutsche Forschungslandschaft spiegeln sich diese Fragen längst in einer umfassenden, kultur-, mentalitäts- und erfahrungsgeschichtliche Perspektiven eruierenden Forschungstätigkeit wider. Diese schließt mittlerweile zum Teil auch die Untersuchung ost- und südosteuropäischer Gesellschaften in und nach Kriegen ein – allerdings bislang nur unter sehr marginaler Berücksichtigung der hier interessierenden Fragen nach Gesundheits-, Krankheits- und Fürsorgediskursen und deren Praktiken, die sich durch, in und nach Kriegen entwickeln. Mit Ausnahme von Forschungsarbeiten zu Russland respektive der Sowjetunion, die heute bereits an die neue Militärgeschichte anzuknüpfen vermögen,21 kann man auch unter Berücksichtigung von einigen innovativen Arbeiten südosteuropäischer KollegInnen von einem Forschungsstand bezogen auf die Problematik Gesundheit, Hygiene und (Nach-)Krieg im imperialen und nach-imperialen Raum noch kaum sprechen. Neben der imperialen Perspektive ist es, schließlich, der biographisch und autobiographisch geprägte Blick, der Martin Aust besonders interessiert. Auch hier bietet sich das Feld der kulturgeschichtlich perspektivierten Medizin in herausragender Weise an, um, wie Aust zielsetzend hervorhebt, „akteurs- und handlungsorientierte Forschungen mit strukturellen Fragen der Imperiengeschichte zu verbinden“ (S. 217). In den bislang stark mediinsbesondere Weindling, Blood and Homeland. Schumann/Wirsching, Violence and Society after the First World War. Daniel, Fiktionen, Friktionen und Fakten. 21  Siehe z. B. Plamper, Fear: Soldiers and Emotion. Sirotkina, The Politics of Etiology. 19  Siehe 20  Siehe



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zinhistorisch geprägten Arbeiten aus Südosteuropa wird der biographische Ansatz allerdings noch überwiegend genutzt, um die Geschichte der Medizin als aufeinanderfolgende Geschichten verdienstvoller Männer (und weniger Frauen), die der medizinischen Moderne zum Durchbruch verhalfen, zu erzählen.22 Indes liegen parallel dazu auch zunehmend Studien vor, die sich über die Untersuchung von Patienten- und Gerichtsakten der biographischen Perspektive im obigen Sinne nähern. Patienten- und Gerichtsakten enthalten biographisches und autobiographisches Material – Zeugnisse aus der Perspektive der behandelnden Ärzte, des Gerichts, der Polizei genauso wie Selbstzeugnisse der Behandelten und der vor Gericht Stehenden. Insofern stellen sie einen ergiebigen Materialfundus dar, der die Untersuchung von Diskursen und Praktiken um akteurszentrierte Perspektiven zu erweitern weiß. Zu verweisen wäre hier einerseits auf Studien, die sich mit den Selbstzeugnissen von Patienten in psychiatrischen Krankenakten im Habsburgerreich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert befassen.23 Die Historikerinnen Ana Antić und Fanny Le Bonhomme untersuchen psychiatrische Krankenakten hinsichtlich des Zusammenhangs von Psychiatrie, Politik und Gewalt.24 In dem seit 2012 von der DFG geförderten wissenschaftlichen Netzwerk Sozialfürsorge und Gesundheit im langen 20. Jahrhundert in Ost- und Südosteuropa, entstanden zudem innovative Forschungsarbeiten, die in biographischer Perspektive die subjektiven Wahrnehmungen gesellschaftlicher Wirklichkeit aufzuspüren suchen. Zu nennen wäre hier z. B. die entstehende Dissertationsschrift von Sara Bernasconi, die den Wert von Gerichtsakten als historischer Quelle anhand von Hebammenprozessen im habsburgischen Imperium – fokussiert auf den bosnisch-herzegowinischen Raum an der Jahrhundertwende – untersucht.25 Die ebenfalls im Netzwerk angesiedelten Projekte von Katrin Steffen und Tamara Scheer nehmen die Biographien medizinischer Experten unter die Lupe, um in nationalen und imperialen Kontexten nach dem Stellenwert biographisch und autobiographisch orientierter Forschung im Rahmen einer kulturwissenschaftlich inspirierten sozialmedizinischen Geschichtsschreibung zu fragen.26 exemplarisch Kulenović, Psychiatric Hospital as a Cultural Determinant. dazu einige Beiträge in: Blackshaw/Wieber, Journeys into Madness. 24  Vgl. Antić, Therapeutic Fascism. Le Bonhomme, Au croisement des logiques politiques et médicales. 25  Vgl. die Beschreibung des Forschungsprojektes von Sara Bernasconi: „In den Grenzlanden – Hebammen in Bosnien-Herzegowina von 1878 bis 1918“ unter http:// www.uni-regensburg.de/Fakultaeten/phil_Fak_III/Geschichte/sozialfuersorge/mitglie der-bernasconi-sara.html. 26  Vgl. Steffen, Experts and the Modernization of the Nation. und Scheer, Die k.u.k. Regimentssprachen. 22  Vgl.

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Zusammenfassend lässt sich also resümieren, dass Martin Aust sehr überzeugend auf die Relevanz und den heuristischen Wert (auto-)biographischer Forschungsansätze bei der Untersuchung des imperialen Russland hingewiesen hat. Es kann folglich – mit Blick auf die hier vorgestellten Forschungsarbeiten zu sozialmedizinischen Fragestellungen im Raum Südosteuropa – erwartet und gehofft werden, dass das Imperium und die (Auto-)Biographik sich auch in Südosteuropa als Themen sozial- und kulturhistorischer Forschung profilieren werden. Literaturverzeichnis Antić, Ana: Therapeutic Fascism. Experiencing the Violence of the Nazi New Order. Oxford 2016. Bautz, Annegret: Sozialpolitik statt Wohltätigkeit? Der Konzeptionswandel städtischer Fürsorge in Sankt Petersburg von 1892 bis 1914. Wiesbaden 2007. Bjelić, Dušan I.: Normalizing the Balkans. Geopolitics of Psychoanalysis and Psychiatry. Farnham, UK 2011. Blackshaw, Gemma / Wieber, Sabine (Hrsg.): Journeys into Madness. Mapping Mental Illness in the Austro-Hungarian Empire. New York 2012. Brintlinger, Angela / Vinitsky, Ilya (Hrsg.): Madness and the Mad in Russian Culture. Toronto, Buffalo 2007. Bucur, Maria: Remapping the Historiography of Modernization and State-Building in Southeastern Europe through Health, Hygiene and Eugenics, in: Promitzer, Christian / Trubeta, Sevasti / Turda, Marius (Hrsg.): Health, Hygiene and Eugenics in Southeastern Europe to 1945. Budapest / New York 2011. S. 429–445. Daniel, Ute: Fiktionen, Friktionen und Fakten – Frauenlohnarbeit im Ersten Weltkrieg, in: Michalka, Wolfgang (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. München 1994. S. 530–562. Feichtinger, Johannes et al., (Hrsg.): Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen. Innsbruck 2006. Feichtinger, Johannes / Prutsch, Ursula / Csáky, Moritz (Hrsg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck u. a. 2003 (= Gedächtnis – Erinnerung – Identität Bd. 2). Filtzer, Donald: The Hazards of Urban Life in Late Stalinist Russia. Health, Hy­ giene, and Living Standards, 1943–1953. Cambridge 2010. Grandits, Hannes / Clayer, Nathalie / Pichler, Robert (Hrsg.): Conflicting Loyalities in the Balkans. The Great Powers, the Ottoman Empire and Nation Building. London 2011. Gross Solomon, Susan / Hutchinson. John F. (Hrsg.): Health and Society in Revolutionary Russia. Bloomington 1990. Hirschfeld, Gerhard: Der Erste Weltkrieg in der deutschen und internationalen Geschichtsschreibung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 29–30, 2004, S. 3–12.



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