Ausgrabungen zum wirklichen Leben: Eine Bilanz 9783495818039, 9783495488034

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Ausgrabungen zum wirklichen Leben: Eine Bilanz
 9783495818039, 9783495488034

Table of contents :
Inhalt
Vorrede als Einleitung
1. Subjektivität
1.1 Subjektive Bedeutungen
1.2 Freiheit
2. Mannigfaltigkeit
2.1 Fall und Gattung
2.2 Numerische Mannigfaltigkeit
2.3 Übergang zum nicht numerischen Mannigfaltigen
2.4 Typen nicht-numerischer Mannigfaltigkeit
2.4.1 Chaotische Mannigfaltigkeit
2.4.2 Unspaltbare Verhältnisse
2.4.3. Zwiespältiges Mannigfaltiges
2.4.4 Übersicht der Mannigfaltigkeitslehre
2.5 Situationen und Konstellationen
3. Leib und Gefühl
3.1 Der vergessene Leib
3.2 Leibliche Dynamik
3.3 Leibliche Kommunikation
3.4 Der Ursprung absoluter Identität
3.5 Leib und Person
3.6 Gefühl und Fühlen
4. Welt
4.1 Die Vorgeschichte der Welt
4.2 Übergang zur Welt
4.3 Die Welt als entfaltete Gegenwart
4.3.1 Der Raum
4.3.2 Die Zeit
4.3.3 Das Sein
4.3.4 Die Identität
4.3.5 Die Subjektivität
4.4 Anfang und Ende der Welt
4.5.5 Das naturwissenschaftliche Weltbild
5. Rückblick auf das Abendland
5.1 Das heidnische Altertum
5.2 Das christliche Jahrtausend
5.3 Die Neuzeit
5.4 Bilanz
Personenregister
Sachregister

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Hermann Schmitz

Ausgrabungen zum wirklichen Leben Eine Bilanz

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495818039

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B

Hermann Schmitz Ausgrabungen zum wirklichen Leben

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Hermann Schmitz zieht in diesem Buch die Bilanz eines mehr als fünfzigjährigen Fortschreitens im Dienst der Aufgabe, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen. Er stellt zu diesem Zweck vier Säulen seines Werkes vor – unter den Titeln: Subjektivität, Mannigfaltigkeit, Leib und Gefühl, Welt – und bringt grundlegende Fragestellungen der Neuen Phänomenologie zur Sprache.

Der Autor: Hermann Schmitz, geb. 1928 in Leipzig, promoviert 1955, habilitiert für Philosophie 1958; 1971 bis 1993 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Begründer der Neuen Phänomenologie. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze. Zuletzt im Verlag Karl Alber erschienen sind: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung (2007), Logische Untersuchungen (2008), Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (2009), Jenseits des Naturalismus (2010), Bewusstsein (2010), Das Reich der Normen (2012), Kritische Grundlegung der Mathematik (2013), Phänomenologie der Zeit (2014), Gibt es die Welt? (2014), Atmosphären (2014), selbst sein (2015). 2011 gab Hans Werhahn den Gesprächsband Neue Phänomenologie. Hermann Schmitz im Gespräch heraus.

https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Hermann Schmitz

Ausgrabungen zum wirklichen Leben Eine Bilanz

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48803-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81803-9

https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Inhalt

Vorrede als Einleitung

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1. Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Subjektive Bedeutungen . . . . . . . . . . . . . 1.2. Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Mannigfaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Fall und Gattung . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Numerische Mannigfaltigkeit . . . . . . . 2.3. Übergang zur nichtnumerischen Mannigfaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Typen nicht numerischer Mannigfaltigkeit 2.4.1. Chaotische Mannigfaltigkeit . . . . 2.4.2. Unspaltbares Verhältnis . . . . . . 2.4.3. Zwiespältige Mannigfaltigkeit . . . 2.4.4. Übersicht über die Mannigfaltigkeitslehre . . . . . . . 2.5. Situationen und Konstellationen . . . . .

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3. Leib und Gefühl . . . . . . . . . . . . 3.1. Der vergessene Leib . . . . . . . 3.2. Leibliche Dynamik . . . . . . . . 3.3. Leibliche Kommunikation . . . . 3.4. Der Ursprung absoluter Identität 3.5. Leib und Person . . . . . . . . . 3.6. Gefühl und Fühlen . . . . . . . .

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5 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Inhalt

4. Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die Vorgeschichte der Welt . . . . . 4.2. Übergang zur Welt . . . . . . . . . . 4.3. Die Welt als entfaltete Gegenwart . 4.3.1. Der Raum . . . . . . . . . . . 4.3.2. Die Zeit . . . . . . . . . . . . 4.3.3. Das Sein . . . . . . . . . . . . 4.3.4. Die Identität . . . . . . . . . 4.3.5. Die Subjektivität . . . . . . . 4.4. Anfang und Ende der Welt . . . . . 4.5. Das naturwissenschaftliche Weltbild

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5. Rückblick auf das Abendland . . 5.1. Das heidnische Altertum . 5.2. Das christliche Jahrtausend 5.3. Die Neuzeit . . . . . . . . 5.4. Bilanz . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

6 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

Wenn ein Autor, der einer einzigen philosophischen Konzeption seit mehr als 50 (eher schon fast 60) Jahren geradlinig, aber mit perlenschnurartig gereihten Verbesserungsversuchen gefolgt ist und den Ertrag dieses Unternehmens u. a. in mehr als 50 Büchern mit mehr als 14.000 Druckseiten öffentlich dokumentiert hat, an die Schwelle des hohen Alters kommt, wo ihn die physischen Kräfte zu verlassen drohen, hat er Anlass, auf das Geleistete zurückzublicken und eine Art von Bilanz zu ziehen. Das ist mein Fall. Ich möchte zunächst die Konzeption, der ich so lange ohne Abweichung gefolgt bin, auf eine Formel bringen, die die beharrliche Tendenz meines philosophischen Wollens zusammenfasst. Ich habe diese Formel erst spät gefunden und zuerst im Vorwort der 1. Auflage meines Büchleins Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (2009) aufgeschrieben, mich dann aber davon überzeugt, dass sie ausreicht, um die Leitlinie meines beharrlichen philosophischen Bestrebens seit 1958 treffend zu beschreiben: Mein Bestreben geht dahin, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen. Näher handelt es sich darum, nach Abbau geschichtlich geprägter Verkünstellungen die unwillkürliche Lebenserfahrung zusammenhängender Besinnung zugänglich zu machen. Unwillkürliche Lebenserfahrung ist alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben. Gemäß dieser Aufgabenstellung habe ich mein schriftliches Werk auf zwei Schienen gesetzt. Die eine Schiene ist die systematische. Sie dient dazu, mit scharfen, aber geschmeidigen Begriffen wie mit weit ausgespannten Netzen der unwillkürlichen Lebenserfahrung immer näher zu kommen. Sie hat vielleicht zwei Drittel oder etwas mehr meiner Zeit und Kraft in Anspruch genommen. 7 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

Deren verbleibender Rest kam der zweiten, historischen Schiene zugute. Um den Abstand und die Verbundenheit meines Bemühens der Tradition gegenüber klar und gewissenhaft herauszuheben, musste ich mich mit dem seit den Griechen gewachsenen abendländischen Denken im Detail auseinandersetzen. Das geschah mit Hilfe vieler, seit 1985 veröffentlichter Bücher zur griechischen und neuzeitlichen Philosophie und wurde ergänzt und zusammengefasst in meinem zweibändigen Werk: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung (2007). Neben der philosophischen, in erster Linie von den heidnischen Griechen geprägten Überlieferung gehört aber auch das Christentum zu den zentralen Trägern und Motoren des überlieferten europäischen Denkens. Dessen kritischer Einarbeitung in den Kontext dient mein Buch Adolf Hitler in der Geschichte (1999) unter dem Titel der vier Verfehlungen des abendländischen Geistes. Gerade bei diesen Verfehlungen (ein bewusst doppelsinnig belassenes Wort) knüpft mein Versuch einer Rettung der unwillkürlichen Lebenserfahrung durch systematische Besinnung (statt durch Propheten- und Dichtertum, die ihre Autorität verloren haben) an. Die Bilanz, die ich angekündigt habe, soll nun keineswegs darin bestehen, meine Errungenschaften aufzuzählen. Das wäre fast unabsehbar und allenfalls Thema eines Übersichtsartikels. Statt dessen will ich einige Fronten aufzeigen, an denen sich mein Kampf gegen die überlieferten Verkrustungen vermeintlicher Selbstverständlichkeit abspielt, um die wichtigsten Stoßrichtungen meiner Ausgrabungen zum wirklichen Leben zu markieren. Ich habe alles neu durchgearbeitet und wichtige Verbesserungen angebracht, so dass ich hoffe, dass diese Darstellung auch für Kenner meiner früheren Schriften ergiebig sein wird. Sie soll eingängig sein. Deshalb habe ich diese Vorrede breit als Einleitung angelegt. Ich bin gewohnt, rein sachlich Überlegungen und Ergebnisse mitzuteilen. Jetzt, in einer Bilanz, geht es darum, sie in meiner eigenen Perspektive vorzuführen, sie also auch ein wenig zu umkreisen und dabei hier und da auch 8 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

dem Leser Brücken zum Verständnis zu bauen. Das wird mich aber nicht hindern, dort, wo der Gegenstand steilere Ansprüche stellt, in der Darstellung den nötigen Schwierigkeitsgrad festzuhalten. Wo eingehendes Nachdenken nötig ist, wird die Darstellung unklar und verworren, wenn sie sich auf Popularität und Plausibilität zurückzieht. Mich tröstet auch an solchen Stellen, dass ich stets um durchsichtige Klarheit der Gedankenführung bemüht bin, durchsichtig bis auf den Grund der Kenntnis hin, die ich jedem durchschnittlich Normalen auf Grund seiner Lebenserfahrung und Lebensführung zutraue. Daraus erwächst meine Vorliebe für Definitionen, wodurch ich mich von fast allen gegenwärtigen Fachkollegen unterscheide. Ich möchte garantieren, dass man in meinen Veröffentlichungen jeweils genau wissen kann, wovon die Rede ist. Jeder der ausgewählten vier Hauptlinien meines Unternehmens widme ich ein Kapitel. Das erste Kapitel betrifft die Subjektivität. Sie hat im abendländischen Denken einen schwierigen Anfang. Den Griechen lag die Selbstbesinnung nicht so wie die Weltanschauung. Der griechische Denker reflektierte zwar auf sich selbst, aber nur als auf ein Stück der Welt, die vor ihm lag und der er sich eingeordnet fühlte, also auf »die Stellung des Menschen im Kosmos«, um Max Scheler zu zitieren. Das Christentum intensivierte zwar die Selbstbesinnung und Selbstsorge, hielt sich dabei aber an den griechischen Objektivismus, indem es den menschlichen Bewussthaber (das Subjekt, das seiner selbst bewusst ist) in einem separaten Stück der um eine transzendente Dimension erweiterten vorgegebenen Welt unterbrachte, in seiner jeweiligen Seele (alias Geist, Bewusstsein, mind usw.), mit der Aufgabe, als Vernunft und freier Wille Herr in diesem Haus zu sein. Er wurde in seiner privaten Innenwelt angesiedelt und im Zuge der naturwissenschaftlich-atomistischen Orientierung des neuzeitlichen Denkens geradezu in diese (in »Seelenatome«) aufgelöst (Hume, Mach). Wo man ihn bewahrte, blieb er eine Sache (Substanz) unter lauter im Wesent9 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

lichen ähnlichen Sachen anderer Art, bloß durch eine für Vergewisserung oder Gegenstandskonstitution ausgezeichnete Position hervorgehoben (positionale Subjektivität, Descartes, Kant). Für das mit seiner seelischen Innenwelt vermengte Subjekt ergab sich die Rätselfrage, wie es aus ihr heraus zum Objekt kommt. Diese Nivellierung der Subjektivität auf einen bloßen Positionsunterschied (wenn nicht gar Auflösung in Atome) legte die Gegenfrage nahe: Wo bleibe ich selbst? Was kommt zu dem, was ich an mir finde, dadurch hinzu, dass ich selbst das bin (strikte Subjektivität). Diese Frage stellte sich zuerst Johann Gottlieb Fichte. (»Ich schreibe, es schreiben aber auch andere neben mir. Woher weiß ich, dass mein Schreiben nicht das Schreiben eines anderen ist?« »Mein Schmerz, nicht der deinige. Wo ist der Unterschied?«) Er fand aber nicht die richtige Lösung, sondern flüchtete sich zuerst in die Konstruktion eines absoluten Ich, das keine Tatsache ist, sondern nur die Tathandlung, sich selbst zu setzen, und dann, als diese Konstruktion wegen der Begrenzung durch das Nicht-Ich unhaltbar wurde, in das Schweben der produktiven Einbildungskraft zwischen den unvereinbaren Gegensätzen von Begrenztheit und Unbegrenztheit, aufgeschraubt zum transzendentalen Zirkel. Dieses Schweben wurde zur Dominante des abendländischen Denkens und Lebensgefühls in der Folgezeit, in mehreren Dimensionen. Eine davon ist die Angst, die Kierkegaard als den Höhenschwindel des Schwebens über den eigenen Möglichkeiten deutete; sie ist das Leitmotiv der Existenzphilosophie, die die strikte Subjektivität hochhält, aber nicht zu verorten vermag. Einen geistreichen, aber so nicht haltbaren Vorschlag zu deren ontologischer Verortung machte Heidegger (Sein und Zeit: das Dasein, das bloß seine Möglichkeiten ist und zu sein hat). Eine zweite Dimension, heute die dominante, der unbeabsichtigten FichteNachfolge, ist die ironistische: die absolute Wendigkeit des Schwebens, sich jedem Standpunkt entziehen und auf jeden versetzen zu können, beginnend als romantische Ironie (Friedrich Schlegel), fortgeführt im Dandytum des 19. Jahrhunderts, heute 10 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

vulgarisiert zur Coolness und trivialisiert durch elektronische und andere Maschinen mit unzählbaren Angeboten flüchtiger Wahlmöglichkeiten. Eine dritte Dimension ist der Positivismus, der sich dem Schweben der strikten Subjektivität durch deren Verleugnung entzieht und bloß noch Natur in Gestalt vernetzter Daten im Sinne eines Physikalismus gelten lässt. Alle diese Versuche, sich mit der strikten Subjektivität, nachdem sie einmal zur Sprache gekommen ist, abzufinden, scheitern an einem Missverständnis der Tatsächlichkeit. Man lässt nur objektive oder neutrale Tatsachen gelten, d. h. solche, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, und übersieht die volleren subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann. Wenn man sich überzeugt hat, dass es nicht nur viele Tatsachen, sondern auch viele Tatsächlichkeiten gibt und die für jemand subjektiven Tatsachen der Sitz seiner Subjektivität sind, braucht man nicht mehr die Weltspaltung durch den scharfen Gegensatz von Subjekt und Objekt, Innenwelt und Außenwelt, sondern das Verhältnis gleicht eher dem elastisch (nicht automatisch) kommunizierender Röhren. Wittgenstein hat gesagt, die Welt sei alles, was der Fall ist, nämlich das Bestehen von Tatsachen. Er dachte aber nur an objektive Tatsachen. Wenn man die subjektiven hinzunimmt, ändert sich die Perspektive der Selbstbesinnung, und das Fichte’sche Ich mit allen seinen Nachfolgern (wie dem Dasein Heideggers) braucht nicht mehr zu schweben. An diesem Unterschied hängt auch die Lösung des Freiheitsproblems, woran alle Versuche seit Jahrtausenden unvermeidlich gescheitert sind, weil sie die Freiheit in objektiven Tatsachen suchten. Davon wird in diesem Zusammenhang die Rede sein. Das nächste Vorurteil von grundlegender Bedeutung für die Versperrung des Zugangs der Besinnung zum wirklichen Leben ist das Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit; ich widme ihm das zweite Kapitel. Die Menschen sind geneigt, alles für identisch mit sich und obendrein für einzeln zu halten; zu den Axiomen der heutigen Identitätslogik gehört »x = x«, wobei »x« 11 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

für alles steht. Man muss aber absolute und relative Identität unterscheiden. Etwas ist selbst oder absolut identisch, sofern es, wenn vieles ist, von anderem verschieden ist; das ist noch keine Beziehung zu sich selbst, wie relative Identität mit sich. Etwas ist einzeln, wenn es eine Anzahl um 1 vermehrt; ich habe gezeigt, dass diese besonders einleuchtende Definition gleichwertig ist mit den beiden anderen: Einzeln ist etwas, sofern es Element einer Menge mit der Anzahl 1 ist, d. h. mit der Anzahl jeder nichtleeren Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist; einzeln ist, was Element irgend einer endlichen Menge ist. Man sieht, dass diese Begriffe nicht im Umfang zusammenfallen; was absolut identisch ist, braucht nicht einzeln zu sein, und was einzeln ist, nicht unbedingt relativ (mit sich) identisch. Genaueres darüber folgt. Das übliche und den meisten Philosophen selbstverständliche Meinen ignoriert diese Unterschiede. Der Scholastiker Burlaeus (Walter Burley, ca. 1275–1345, Tractatus de universalibus) schreibt darüber: »Der Zahl nach identisch (idem numero) ist nach gewöhnlichem Verständnis jenes, das, mit einem anderen in eine Zahl gebracht, so eine Zahl bildet, dass man von jenem und dem anderen in Wahrheit sagen kann, dass die da zwei sind.« Das ist eine gute Annäherung an die Definition des Einzelnen, das eine Anzahl um 1 vermehrt, und Burley ist auch darin im Recht, dass er von numerisch Identischen spricht; denn numerisch (zahlfähig, Element einer Menge, die eine Anzahl hat) kann nur sein, was einzeln ist. Er scheint aber doch die Verschiedenheitsfähigkeit (absolute Identität) mit der Einzelheit zu vermengen, und das gehört gewiss zur gewöhnlichen Meinung, auf die er sich beruft. Es gibt aber auch Mannigfaltiges anderer Art als das numerische, dessen Inhalte lauter einzelne Elemente von Mengen sind, deren jede (ob endlich oder unendlich) zählbar ist, d. h. eine Zahl (d. h. umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit gewisser Mengen auf sich) besitzt. Ich habe bewiesen, dass nicht alles einzeln sein kann. Dabei fuße ich auf der Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung, der besagt, dass für jedes Etwas 12 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

(d. h. alles, was etwas ist) und jede Bestimmung als etwas das Etwas die Bestimmung entweder hat oder nicht hat. Ich zeige, dass etwas, das durchgängig bestimmt ist, vielmehr gänzlich unbestimmt wäre, was nicht der Fall sein kann. Diese Widerlegung – sogar für alles Beliebige – hat wichtige Folgen; sie sperrt den allgemeinen Determinismus, den Fatalismus (dass alles vorherbestimmt sei) und den Realismus (dass alles vorläufig fertig ist). Darüber hinaus folgt aus ihr logisch, dass nicht alles einzeln sein kann, und ferner, dass der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (für jede Behauptung A ist mindestens A oder die Verneinung nicht-A von A wahr) nicht allgemeingültig ist. Dies ist eine mächtige Waffe gegen ein Überhandnehmen der Mathematik, den Panmathematismus. Mathematik ist eigentlich der Versuch, mit Hilfe des logischen Denkens die Domäne des numerischen Mannigfaltigen auf alles Mannigfaltige auszudehnen. Dieser Versuch hat großartige Erfolge gebracht, ist aber im Ganzen zum Scheitern verurteilt und auch schon an den Antinomien gescheitert. Seine wichtigste Waffe ist der indirekte Beweis, der auf dem Vertrauen in die Allgemeingültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten beruht. Der große Mathematiker Hilbert hat gesagt, man solle dem Mathematiker so wenig den indirekten Beweis nehmen wie dem Boxer seine Boxhandschuhe. Nun, er soll ihn behalten, aber sich bewusst sein, dass er ein gefährliches Spiel treibt, wenn er eine nicht markierte Grenze überschreitet. Welche Typen der Mannigfaltigkeit gibt es außer dem numerischen Mannigfaltigen? Zunächst das konfuse Mannigfaltige, in dem es sogar an absoluter Identität und Verschiedenheit fehlt. Sodann das diffuse Mannigfaltige, das zwar durch absolute Identität und Verschiedenheit gegen Verwechslungen im Umgang mit ihm geschützt ist, das aber noch ohne Einzelheit seiner Inhalte auskommt. Beide Typen, den konfusen und den diffusen, habe ich unter dem Titel des chaotischen Mannigfaltigen zusammengefasst. Dabei wird der Unterschied zwischen Beziehungen und Verhältnissen wichtig. Alle Beziehungen sind ge13 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

richtet, von etwas, das sich bezieht (Referens) auf etwas, worauf es sich bezieht (Relat), eventuell durch Zwischenglieder. Verhältnisse sind dagegen ungerichtet. Alle Beziehungen entstehen durch Spaltung von Verhältnissen. Es gibt aber auch (zu gegebener Zeit) unspaltbare Verhältnisse. Beziehungen sind nur zwischen einzelnen Etwassen möglich, Verhältnisse dagegen sowohl zwischen einzelnen Teilnehmern als auch zwischen solchen aus nichtnumerischen Mannigfaltigem. Unspaltbare Verhältnisse dieser beider Arten können einstimmig oder unstimmig sein. Im zweiten Fall handelt es sich um eine Spezialform des unspaltbaren Verhältnisses, das instabile oder (wie ich jetzt der Einfachheit halber sage) zwiespältige Mannigfaltige. Es entsteht, wenn die absolute Identität der Teilnehmer gestört ist, so dass unvereinbare Etwasse um Identität mit demselben Etwas konkurrieren. Ein Muster dafür ist die Husserl’sche Puppe. Der Philosoph Husserl sah, im Wachsfigurenkabinett durch eine als Frau zurechtgemachte Puppe getäuscht, in den Augenblicken der Entlarvung eine zwiespältige Erscheinung, in der sich die Züge von Frau und Puppe verwirrend überdeckten. Das wäre ein sichtbarer Widerspruch gewesen, wenn Frau und Puppe genügend auseinandergetreten wären, um einzeln zu sein. Das war aber nicht der Fall. Wenn an die Stelle solcher sichtbaren Objekte Behauptungen treten, ergeben sich Antinomien, die Widersprüche wären, wenn die behaupteten Sachverhalte einzeln auseinanderträten, was aber bei richtigem Verständnis der Antinomien so wenig der Fall ist wie bei der Husserl’schen Puppe oder im Witz. Ich habe mich ausführlich damit beschäftigt. Das zwiespältige Mannigfaltige ist nicht auf solche Sonderfälle beschränkt, sondern durchzieht das tägliche Leben. Jeder Mensch (verglichen mit den unzähligen »Phasenmenschen«, die er im Lauf seines Lebens durchläuft) ist ein zwiespältiges Mannigfaltiges. Warum ist das Durchschauen der Typen der Mannigfaltigkeit, die Brechung des Monopols des numerischen Mannigfaltigen, so wichtig für den Durchbruch der Besinnung zum wirk14 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

lichen Leben? Ein weit verbreiteter, besonders von der Naturwissenschaft (außer der Quantenphysik) geförderter Irrtum ist die Voraussetzung, dass alles ohne Weiteres einzeln sei (Singularismus) und die Erfahrung daher mit dem Auflesen vieler selbstverständlich vorgegebener Einzelheiten beginnen könne, um dann durch Abstraktion fortzuschreiten. Alle Bedeutungen (d. h. hier: Sachverhalte, Programme, Probleme) gelten dann als nachträglich dem Einzelnen aufgesetzte oder zugedeutete Projektionen, etwa abhängig von den Bedürfnissen oder Interessen des projizierenden Subjektes. Dieser projektionistische Singularismus ist von Grund auf verkehrt. Um den Irrtum zu durchschauen und zur unwillkürlichen Lebenserfahrung zurückzufinden, muss man die Herkunft der Einzelheit und des numerischen Mannigfaltigen analysieren. Dabei gelangt man zu der Einsicht, dass die Bedeutungen den anderen einzelnen Sachen gegenüber primär sind und selbst als einzelne, unter denen sich Gattungen für die Subsumtion einzelner Fälle befinden, durch die satzförmige Rede des Menschen aus dem konfusen oder diffusen Mannigfaltigen der Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit expliziert (entbunden) werden müssen. Nicht also sind einzelne Gegebenheiten (Sinnesdaten, physikalische Messgrößen, Körper und dergleichen) der Grundstoff menschlicher Erfahrung, sondern bedeutsame Situationen. Erst mit dieser Einsicht gelangt man zum wirklichen Leben der unwillkürlichen Lebenserfahrung. Das Thema des dritten Kapitels – Leib und Gefühl – bringt den Vorteil mit sich, an einen bestimmt datierbaren und analysierbaren geschichtlichen Großirrtum anknüpfen zu können, der seit dem 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert die europäische Intellektualkultur vollständig in die Irre geführt und zur Verdeckung der unwillkürlichen Lebenserfahrung im menschlichen Selbstverständnis entscheidend beigetragen hat. Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel des menschlichen Selbstund Weltverständnisses an der Schwelle vom archaischen zum klassischen griechischen Denken und Dichten, nämlich um die 15 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

Weltspaltung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung. Ihr Motiv war die Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen, die über die Person teilweise spontan kommen (wie Zorn, Eros, Phobos als panischer Fluchtdrang), teils aus göttlich-dämonischer Quelle. Zu diesem Zweck wurde die Welt zerlegt in Seelen als private Innenwelten (je eine für jeden Bewussthaber, Psychologismus) und eine zwischen diesen verbleibende empirische Außenwelt. Diese wurde zwecks Reinigung von dubios ergreifenden Mächten bis auf wenige Merkmalsorten und deren hinzugedachte Träger (zunächst Atome, später Substanzen) abgeschliffen (Reduktionismus). Der Abfall der Abschleifung wurde teils absichtlich in den Seelen abgeladen (spezifische Sinnesqualitäten), zum großen Teil aber übersehen und schließlich, wenn er sich nicht verbergen ließ, in verwandelter Gestalt in den Seelen untergebracht (Introjektion). Mit der Weltspaltung verband sich die Menschspaltung in Seele und Körper, wobei dieser in eine zweideutige Stellung zwischen Innenwelt (als der Domäne des Menschen) und empirischer Außenwelt geriet. Dieses Paradigma setzte sich in der zweiten Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts durch, ablesbar in der Philosophie am Gegensatz der zeitgenössischen Antipoden Empedokles und Demokrit und in der Dichtung bei Sophokles im Gegensatz zu Aischylos sowie mit dem Aufkommen der Lust als Thema des privatisierten, affektiven Betroffenseins (z. B. Aristophanes). Allgemeinverbindlich wurde es im 4. vorchristlichen Jahrhundert durch Platon und Aristoteles. Bei der Menschspaltung im 5. und 4. Jahrhundert ist man sehr schematisch verfahren und hat zwischen dem materiellen, sicht- und tastbaren Körper und der gern (besonders in der platonischen Tradition) als immateriell vorgestellten Seele zentrale Bestandteile der unwillkürlichen Lebenserfahrung unter den Tisch fallen lassen. Eines dieser Opfer ist der spürbare Leib, eigentlich jedem Menschen der Nächste. Jeder kennt aus beständiger Erfahrung mit sich Schreck, Schmerz, Angst, Hunger, 16 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

Durst, Jucken, Kitzel, Ekel, Behagen, Wollust, Frische, Müdigkeit, Mattigkeit und viele andere leibliche Regungen, aber auch Gefühle werden die seinigen nur dadurch, dass er sie am eigenen Leib spürt, z. B. im Frohsinn, Traurigsein, Fürchten, Sichärgern, Sichschämen, Bestürzung usw.; er lässt seinen Blick schweifen oder konzentriert ihn, atmet ein und aus, greift, zuckt, schluckt, zittert usw. Alles das sind Ereignisse in einem flächenlosen Raum, wenn sie auch zum Teil, nämlich im Fall der Motorik, eine Entsprechung im flächenhaltigen Raum des materiellen Menschenkörpers haben. Es gibt viele flächenlose Räume, z. B. den des Schalls, der mit dem Raum des Leibes viel gemeinsam hat. Wie sich der Raum des Schalls (z. B. mit Lokalisierung der Schallquelle) mit dem flächenhaltigen Raum des Sehens und Tastens überdeckt, ohne darin aufzugehen, so der Leib mit dem Körper. Seine Ausdehnungsweise ist demnach anders und verdient eigenes Studium. Das gilt ebenso für die Dynamik des Leibes, die von der des physischen, materiellen Körpers sehr verschieden ist. Die wichtigste Dimension dieser Dynamik ist die von Enge und Weite, besetzt mit gegenläufigen Tendenzen der Engung und Weitung, die, mit einander verschränkt, den (vitalen) Antrieb bilden, sich aber auch teilweise von einander lösen können. Der Antrieb ist ein Dialog von Engung und Weitung und dadurch befähigt, in der Einleibung als gemeinsamer Antrieb die Brücke der leiblichen Kommunikation zu schlagen, wodurch alle Kontakte (z. B. der Wahrnehmung) vermittelt werden. Die auf die mit Körpern besetzte Außenwelt der Weltspaltung fixierte Tradition weiß nichts davon und muss ersatzweise materielle oder semimaterielle Brücken schlagen, die, wenn sie auch seit dem 17. Jahrhundert von der Naturwissenschaft legitimiert sind, nicht vom Gesehenen zum Sehen (dem Blick) oder umgekehrt führen, sondern etwa von elektrischen Ereignissen in Atombündeln zum Gehirn. Es ist erstaunlich, dass es dem Paradigma der Weltspaltung gelungen ist, dem menschlichen Selbstverständnis das Nächste der unwillkürlichen Lebenserfahrung vorzuenthalten. Der Apostel Paulus war der Letzte, dem 17 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

dieses Milieu selbstverständlich war, nachdem vorher die Stoiker, in deren Doktrin die sogenannten Körper vielmehr Leiber mit vitalem Antrieb sind, ihre Kenntnis leiblicher Dynamik mit der Weltspaltung vermischt hatten. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts, sogar in Frankreich (Maine de Biran), wo man die glückliche verbale Alternative »Leib/Körper« nicht hat, regt sich bei Philosophen wieder ein Sinn für die Eigenart des Leiblichen, aber dabei gelang es noch nicht, der Vermengung von Leib und Körper und damit der Menschspaltung zu entgehen. Tatsächlich sind die Unterschiede in Ausdehnung und Dynamik so groß, dass nicht von zwei Aspekten derselben Sache, sondern von verschiedenen, wenn auch lokal sich überschneidenden Gegenständen gesprochen werden sollte. Der Leib könnte aus dem Körper auswandern, wie es einzelne Leibesinseln (Phantomglieder der Amputierten) schon tun; neuerdings versuchen Neuropsychologen (z. B. in Lausanne), ihn dazu zu bringen, ohne zu wissen, was sie tun, da sie – befangen in der Menschspaltung – an Täuschungen glauben. Die Aufdeckung und Analyse des spürbaren Leibes kann wesentlich zur Überwindung der Weltspaltung beitragen. Deren Dilemma besteht nicht nur in der Problematik, wie der Bewussthaber aus seiner abgeschlossenen, nur durch Sinnesorgane zugänglichen Innenwelt herauskommen soll, sondern mehr noch darin, wie er hineinkommt, wie er sich überhaupt zu ihr verhält. Dass er sich in seine Seele oder seinen Geist oder sein Bewusstsein auflöst, kann man nur glauben, wenn man ruhig am Schreibtisch sitzt; wer überwältigt wird und die Fassung verliert, wird schon merken, dass er selber leidet und nicht nur ein Bündel Hume-Mach’scher Empfindungen gewisse Modifikationen durchmacht. Der Bewussthaber ist Person nur durch die Fähigkeit der Selbstzuschreibung, sich für einen Fall mehrerer Gattungen zu halten und durch Akzentverschiebung zwischen diesen Fällen sich selbst bestimmen zu können. Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Sichbewussthaben. Es stellt sich heraus, dass dieses identifizierende Sichbewussthaben nur durch ein 18 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

vorgängiges, nicht identifizierendes möglich ist. Wie kann es aber geschehen, dass jemand sich seiner ohne Identifizierung bewusst ist? Der einzige Weg führt über das affektive Betroffensein in den Leib an die Quelle des vitalen Antriebs in extremer Enge, wenn der plötzliche Andrang des Neuen Dauer zerreißt, Gegenwart aus ihr abreißt und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein entlässt (primitive Gegenwart mit fünf in unspaltbarem Verhältnis verschmolzenen Momenten: hier, jetzt, sein, dieses, ich). Dabei entspringen absolute Identität und Subjektivität. Die Nachwirkung dieses Ereignisses in der Engungskomponente des Antriebs überträgt sie beide ins normale Bewussthaben. Der Antrieb ist in der Einleibung an Begegnendes angeschlossen. Die Person ist in ihm und damit in leiblicher Kommunikation geerdet und kommt, ohne zu verschwinden, nicht davon weg, wenn sie auch darüber hinauswächst. Damit sind die Introjektion und die Weltspaltung überwunden. Die abgeschlossene private Innenwelt und die Introjektion in sie sind abgeschüttelt. Es erübrigt sich, nach einer Seele oder einem Bewusstsein zu suchen, in dem Vorstellungen (perceptions), Empfindungen, intentionale Akte usw. entsprechend den intendierten Gegenständen gespeichert wären. Ein bekannter Slogan der älteren Phänomenologie lautet: »Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas.« Das an erster Stelle genannte Bewusstsein, den Speicherplatz, kann man vergessen. Das an zweiter Stelle genannte Bewusstsein (von etwas) bleibt das Bewussthaben eines Bewussthabers, der zu dem, was ihm angeboten wird, verarbeitend Stellung nimmt. Wahrnehmen z. B. ist Einleibung (oder Ausleibung, leibliche Kommunikation im Kanal privativer, aus dem vitalen Antrieb sich lösender Weitung), oft überdeckt durch persönliche Stellungnahme aus neutralisierender Distanz. Denken ist Auseinandersetzung mit Sachverhalten, Programmen oder Problemen, die aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden werden. Wollen ist eine vermittelnde Tätigkeit zwischen drei Instanzen: einer Herausforderung, der persönlichen Situation, der die Person eine ein19 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

stimmige Antwort darauf (eine Absicht) abgewinnen muss, und dem vitalen Antrieb, der zur Zuwendung zur Absicht gewonnen werden muss. Die leiblichen Regungen werden unmittelbar gespürt; die Person kann sich damit auseinandersetzen. Es bleiben die Gefühle. Gewöhnlich hält man sie für Inhalte, die man in der Seele oder im Bewusstsein vorfinden kann. David Hume nannte als das einzige Ergebnis der Inspektion seiner selbst in einem Atem Perzeptionen »der Wärme oder Kälte, des Lichtes oder Schattens, der Liebe oder des Hasses, der Lust oder Unlust«. Die Wissenschaft versteht Gefühle im Anschluss an Kant meist als Zustände von Lust und Unlust, Bestände privater Innenwelten. Die ältere Phänomenologie von Brentano über Husserl zu Scheler brachte die Auffassung der Gefühle als intentionale, auf etwas (ein Thema, einen Gegenstand) abzielende Akte hinzu. Aber vielmehr fliegen Gefühle den Betroffenen entweder nur flüchtig an oder sie ergreifen ihn und werden dadurch zu seinen eigenen Gefühlen, die er als etwas von sich selber fühlt. Gefühle sind wie bloße leibliche Regungen Weisen des affektiven Betroffenseins, das dem Betroffenen nahe geht, ihn mit sich nimmt oder gar mitreißt, keineswegs aber private Zustände, die man bei sich vorfindet und (als Lust) begrüßt oder (als Unlust) wegwünscht, und ebenso wenig Akte, mit denen man von sich aus ein Objekt aufsucht. Von den bloßen leiblichen Regungen unterscheiden sie sich durch ihre fesselnde, fast hypnotisierende Kraft, die dem Ergriffenen, den sie nicht nur flüchtig berühren, anfangs Einstimmung in ihren Impuls aufnötigen, so dass er erst nach einer Weile in Preisgabe oder Widerstand persönlich Stellung nehmen kann. Der Platz der Gefühle muss nach ihrer Befreiung aus der Introjektion also neu gefunden werden. Ich habe vorgeschlagen, sie als Atmosphären zu verstehen, die entweder bloß wahrgenommen werden oder, wenn sie nicht bloß flüchtig berühren, den Betroffenen leiblich spürbar ergreifen und dann zu seinen eigenen werden, zu denen er in Preisgabe oder Widerstand persönlich Stellung nehmen kann. Ich habe 1969 den Begriff der 20 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

Atmosphäre in die Philosophie eingeführt, nachdem ein Jahr zuvor der Psychiater Tellenbach über Geschmack und Atmosphäre geschrieben hatte. Unter einer Atmosphäre verstehe ich die ausgedehnte Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird. Nicht alle Atmosphären sind Gefühle, sondern, nur solche, die mindestens dem Anspruch nach den Raum erlebter Anwesenheit total zu erfüllen suchen, die eine Autorität haben, die bis zu verbindlicher Geltung mit unbedingtem Ernst gehen kann, und die im affektiven Betroffensein von ihnen die eben benannte fesselnde Kraft des Ergreifens besitzen, egal, ob sie stürmisch oder schleichend kommen. Gefühle sind Halbdinge (wie die Stimme), die sich von Dingen im Vollsinn durch unterbrechbare Dauer und eine unmittelbare Kausalität, in der Ursache und Einmerkung dem Effekt gegenüber zusammenfallen, unterscheiden. Sie sind meist, aber nicht immer, fester oder lockerer in Situationen eingebunden. Ich lasse diese abstrakten Angaben hier ohne Erläuterung stehen. Das vierte Kapitel betrifft die Umstände der Personwerdung. Die Inhalte der drei ersten Kapitel sind schon präpersonal antreffbar, im Leben der Tiere und Säuglinge. Tiere und Säuglinge sind in Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit (aus nicht einzelnen Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind) gefangen. Menschen überwinden als Personen (Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung) diese Gefangenschaft mit Hilfe ihrer satzförmigen Rede, die den Sätzen einer Sprache (Regeln für die redende Darstellung von Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen) gehorcht. In dieser Sprache, einer Situation, in der sie leben, sind die Menschen beim Reden ebenso gefangen wie die Tiere in anderen Situationen, aber sie benützen diese Gefangenschaft zur Explikation einzelner Bedeutungen aus binnendiffuser Bedeutsamkeit. Das ist die spezifische Funktion menschlicher, satzförmiger Rede, während die kommunikative Leistung menschlicher und tierischer Rede gemeinsam ist. Unter den explizierten Sachverhalten 21 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

befinden sich Gattungen, die Fälle haben können. Dadurch wird es möglich, von den Bedeutungen her beliebige Sachen zu vereinzeln; denn Einzelheit ist das Zusammentreffen von absoluter Identität mit dem Fallen unter Gattungen. Was Gattung und Fall sind, wird im 2. Kapitel erklärt. Die Gattungen brauchen nicht schon vollständig explizit zu sein, um Vereinzelung zu ermöglichen. Diese bleibt dann aber sporadisch und labil. Stabil und zusammenhängend wird die Vereinzelung erst, wenn explizite einzelne Gattungen sich zu nach Übereinstimmung und Unterschied geordneten Netzen zusammenschließen. Durch solche Konstellationen kann der Mensch die Situationen rekonstruierend in den Griff nehmen und planend oder phantasierend überholen, sofern ihm noch folgende Leistungen gelingen: Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen, wobei er den Fluss der Zeit benötigt; Projektion von Einzelnem in das Nichtseiende der offenen Zukunft dessen, was noch möglich ist, worin die geschlossene Zukunft dessen, was noch nicht ist, bis zum Entstehen unabsehbar verschlossen ist. Dazu bedarf es der Entfaltung der fünf Momente der primitiven Gegenwart zur Welt als dem Feld aller möglichen Vereinzelung; sonst bliebe es für diese bei unvollkommenen Gehversuchen (vielleicht auf dem Niveau der Neandertaler). Das Hier der primitiven Gegenwart, das leibliche Zusammenfahren unter dem plötzlichen Andrang des Neuen, entfaltet sich zum Ortsraum mit Lagen und Abständen; das Jetzt, das Plötzliche des Andrangs, entfaltet sich zur modalen Lagezeit des Entstehens und Vergehens mit Fluss der Zeit; das Sein entfaltet sich aus dem Gegensatz zum Vorbeisein zum Gegenteil des Nichtseins in voller Breite mit Erlaubnis für die Projektion, die Schwelle zu überschreiten; das Dieses, die absolute Identität, entfaltet sich zur relativen Identität, die das Fallen unter mehrere Gattungen zusammenfasst und dadurch Gelegenheit gibt, eine Sache vielseitig zu sehen und in mehrere Konstellationen einzuordnen; das Ich der primitiven Gegenwart, die Subjektivität des Betroffenseins vom Andrang, entfaltet sich durch Selbstzuschreibung des Bewussthabers zum einzelnen 22 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

Subjekt und durch Neutralisierung subjektiver Bedeutungen zur Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden. Dieser Prozess wird vom Menschen aber keineswegs gemacht oder geführt, sondern er hat ihn durch seine satzförmige Rede nur angestoßen und wird in einer der fünf Dimensionen der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Weltwerdung mitgezogen. Das Weltverständnis der meisten Menschen beruht auf einem naiven Realismus, nämlich der Überzeugung, dass die Welt sozusagen vorläufig fertig vorgegeben ist, nämlich durchgängig, aber jeweils veränderbar bestimmt. Dieser Einstellung wird der Boden weggezogen durch meinen Beweis, dass der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung für keinen einzigen Gegenstand zutrifft. Obendrein scheitert sie am Bedenken der Voraussetzungen der Einzelheit. Der naive Alltagsrealismus ist singularistisch, d. h., er hält die Einzelheit der Gegenstände, mit denen er befasst ist, ohne Weiteres für selbstverständlich. Damit gleicht er der Art, wie Philosophen an Einzelheit heranzugehen pflegen. Die philosophischen Systeme gleichen meist einem Brettspiel, in dem die Figuren auf die dominanten, den Sieg verheißenden Plätze und die benachteiligten Plätze hin- und hergeschoben werden, z. B. Subjekt/Objekt, Verstand/Sinnlichkeit, Geist/Materie, Spontaneität/Rezeptivität. Jede dieser Sachen oder Bedeutungen wird von vornherein als einzelnes Besitzstück einer Partei behandelt. Das ist verspielt, weil nicht auf die komplizierten Voraussetzungen des Hervorgehens von Einzelheit geachtet wird. Ich selbst bin erst seit 1994 darauf aufmerksam geworden und habe erst sehr viel später das Verhältnis von absoluter Identität, Einzelheit und relativer Identität genau bestimmt. Wenn man diesen Zusammenhang durchschaut, bemerkt man, wie labil und kontingent die Welt ist. Schon die absolute Identität versteht sich nicht von selbst, sondern verdankt sich der primitiven Gegenwart als dem Riss, dem Urakzent, ohne den nichts selbst sein könnte. Die Welt ist kein Ding an sich, sondern ein Gesicht, das eine aus Seiendem und Nichtseiendem gemischte Masse dem menschlichen Reden als Ant23 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

wort auf dessen Herausforderung zeigt. Ohne diese Antwort gäbe es keine Welt und keine Einzelheit, sondern die Gefangenschaft der Bewussthaber in Situationen kehrte zurück. Hier erweist sich, dass die Rückkehr zum wirklichen Leben und zur unwillkürlichen Lebenserfahrung nicht immer eine Einkehr bei gewöhnlichen Überzeugungen ist. Eine Blüte des naiven Realismus ist das geläufige naturwissenschaftliche Weltbild, abgesehen von den Überraschungen und Verlegenheiten der Quantenphysik. Es beruht auf der Weltspaltung. Am Ende des Kapitels wird es kritisch erörtert. Nach den vier systematischen Kapiteln folgt als fünftes Kapitel ein historisches, das ich überschrieben habe: Rückschau auf das Abendland. Dazu ermächtigt mich eine Mischung von Enthusiasmus und Melancholie. Die abendländische, auf dem Boden des weströmischen Reiches gewachsene Kultur ist in vielen Zweigen von so glänzender Fülle der Gestaltungskraft durchzogen und mit so großen Erfolgen belohnt worden, dass der Bewunderung kein Ende sein sollte. Aber gerade ihre führenden Wegweiser, die Philosophie und die (christliche) Religion, sind trotz gleichfalls großartiger Beiträge weitgehend vergiftet durch die vier Verfehlungen des abendländischen Geistes (Adolf Hitler in der Geschichte), denen die konstellationistische der Neuzeit zugerechnet werden muss. Um sie loszuwerden, wäre eine Umkehr erforderlich, zu der das Abendland dank seiner einmaligen, von den Griechen geerbten Kultur der kritischen Aufklärung, einschließlich der Selbstkritik und Selbstkorrektur, die Kraft haben könnte, wenn ihm diese nicht vom Einsickern des unerbittlich selbstsicheren Islam abgenommen wird. Möge das Erbe des Sieges bei Salamis nicht verlorengehen! x x

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Bisher war diese Einführung nur sachbezogen. Ich habe einen Überblick über Themen und Gedankengänge des Buches gege24 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

ben und mein Ergebnis kurz skizziert. Da es sich aber um eine Bilanz meiner phänomenologischen Lebensarbeit, zusammengedrängt auf einige Hauptlinien, handelt, ist es nun wohl angebracht, auch von mir selbst zu sprechen, zunächst über meine Motivation. Was mag mich bewogen haben, mich an den Versuch zu wagen, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen? Ich kann darauf keine in der Erinnerung fest abgesicherte Antwort geben, da meine Reifung nicht in prägnanten Rucken mit formulierten Entschlüssen, sondern allmählich verlaufen ist. Aber die Grundlage dieser Motivation scheint sich mir in meiner Lebensgeschichte deutlich herauszuschälen. Es handelt sich um meine Erfahrung mit dem Regime des Nationalsozialismus, dem ich als Knabe und Jüngling bis ins 17. Lebensjahr ausgesetzt war. Ich habe dieses Regime mit großem politischem Interesse (schon als Zehnjähriger) und durchweg mit Abscheu erlitten. Die mit primitiven Parolen einheizende Propaganda, die Verachtung und Misshandlung der Juden, die Abdrängung jeder eigenen kritischen Meinung und dergleichen ekelten mich an. Während des Krieges galt meine ganze Sympathie den Engländern, bloß weil sie Feinde Hitlers waren. Das Kriegsende hielt ich für einen Sieg Deutschlands, nämlich über das Nazi-Regime. Spätere Enthüllungen über dessen Untaten brachten mir wenig Neues und gaben mir keinen Anlass, in die gleichfalls grobschlächtig vereinfachte Verteufelung dieses Regimes als Verkörperung des Bösen schlechthin auf Erden einzustimmen. Dafür aber wuchs mein Staunen und Erschrecken über die Unfähigkeit des Bürgertums und aller politisch Verantwortlichen des In- und Auslandes, zu verstehen, was geschah, als im deutschen Volk ungeheure Affektmassen aus undurchsichtigen Quellen vulkanisch hervorbrachen und von raffinierten Könnern – Hitler an der Spitze – in Dienst genommen wurden. Die Wirklichkeit des affektiven Betroffenseins mit seinen Möglichkeiten war den gebildeten Menschen des Zeitalters offenbar ganz fremd gewesen. Beim affektiven Betroffensein, beim spürbaren Leib, der davon mitgerissen wird, beim Ergrif25 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

fensein von Gefühlen bot sich mir daher der Einstieg in die Aufgabe an, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen. Dass dieser Impuls am Ursprung meiner phänomenologischen Arbeit stand, beweist die erste Publikation ihrer Ergebnisse mit der Vorrede des 1. Bandes (Die Gegenwart) meines Werkes System der Philosophie (1964). Als Triebkraft des ganzen Unternehmens wird da die Überwindung der Introjektion der Gefühle ausgezeichnet, um deren ergreifende Mächtigkeit gegen das Missverständnis ihrer Privatisierung freizulegen und in angemessener Weise abzufangen, sich jedenfalls darauf einstellen zu können. Ich glaube noch heute, dass ich damit den Kern des seit der Antike überlieferten Missverständnisses getroffen hatte, der das Bürgertum und die Politiker um Hitler diesem gegenüber wehrlos machte. Mit dem von der Übermacht ergreifender Gefühle geweckten Impuls auffangender philosophischer Besinnung ist es mir sonderbar ergangen. Seit etwa 1950, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, ist das Brausen der unkontrollierbaren, aber von Könnern manipulierbaren Affekte kollektiv und individuell – abgesehen von einigen Harmlosigkeiten wie Woodstock und anderen Rock-Festivals – abgeebbt wie ein gewaltiger Sturm und einer entgegengesetzten Bedrohung des affektiven Betroffenseins gewichen, einer vielleicht noch gefährlicheren, die ebenso Grund genug ist, sich als Philosoph auf deren Quellen zu besinnen. Es handelt sich um eine eigentümliche Steifigkeit, die die Menschheit (zumindest die europäische, aber überall wird Europa) heimgesucht hat und sich immer weiter ausbreitet. Bis dahin konnten die Menschen aus der Fülle ungeformter Möglichkeiten schöpfen und schöpferisch (in diesem Sinn des Wortes) neue Wege ausprobieren; es genügte, aus der Stadt aufs Land zu gehen und in die weite Welt zu wandern wie der Wandervogel in der Jugendbewegung nach 1900. Fortan ist das fruchtbare Feld ungeformter Möglichkeiten verstellt durch eine von der modernen Maschinentechnik (neuerdings besonders die Elektronik) ausgereizte Perfektion von Angeboten kurzfristiger Lebensfüh26 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

rung, gleich einem durch fortschreitende Verdichtung undurchsichtig werdenden Schienensystem, in dem der Einzelne von Station zu Station die Weichen stellen kann, scheinbar souverän in der Auswahl, aber nicht mehr in der Gestaltung, also nicht mehr schöpferisch im angegebenen Sinn. Dem kommt die Kultur der coolen Wendigkeit in dem von Friedrich Schlegel im Anschluss an Fichte eingeleiteten ironistischen Zeitalter zugute; sie bricht den Menschen das Rückgrat konsequenten eigenen Wollens und versetzt sie auf das Niveau spielender Kinder, die ihren Launen nachgehen dürfen. Die Menschen sind wie Puppen in einem Maschinenpark, in dem sie einige Hebel stellen können, durch die sie kurzfristig Herren ihres Weges werden, indem sie sich langfristig der Herrschaft der Maschinen ausliefern und den Schein augenblicklicher Souveränität mit der Unterwerfung unter den übermächtigen Betrieb der vernetzten Angebote bezahlen. Die Lebendigkeit des affektiven Betroffenseins verliert auf diese Weise den großen Schwung, den langen Atem; das Pathos, auch das unaufgeregte, wird zur Laune. Unter dem Scheinleben puppig versteifter Menschen muss ihr wirkliches Leben, ihre Ergreifbarkeit und die daraus allein sich ergebende Möglichkeit schöpferischen Gestaltens noch ungeformter Möglichkeiten, geweckt und, da Propheten unter Ironisten keine Macht mehr haben, wenigstens durch begreifende Besinnung dem Bewusstsein der Menschen wieder nahe gebracht werden. Deswegen konnte ich, wenn auch mit umgekehrter Frontstellung, mit demselben Impuls meiner Absicht treu bleiben, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen. Nachdem ich versucht habe, der Motivation meines philosophischen Wollens auf den Grund zu gehen, will ich jetzt die Entwicklung meiner phänomenologischen Arbeit durch die wichtigsten Stationen verfolgen. Charakteristisch für diese scheint zu sein, dass mir kleine, unscheinbare Anregungen weite Horizonte öffnen, deren Ausmaß und Tragweite ich erst in längerer Zeit ermessen kann. Am Anfang der Konzeption meines Werkes 27 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

System der Philosophie (5 Bände in 10 Büchern) stand 1959 die zufällige Notiz in einem Band der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, der französische Psychiater Eugène Minkowski habe den Ausdruck »moi-ici-maintenant« gebraucht, also schon drei Momente der primitiven Gegenwart zusammengestellt; an deren Entdeckung als Anker der Konzeption schloss sich vom Herbst des Jahres an schnell das Übrige. Dabei richtete sich, wie schon gesagt wurde, mein Augenmerk in erster Linie auf das affektive Betroffensein in Gestalt der Ergreifbarkeit und Ergriffenheit durch Gefühle als räumlich (aber nicht in der Weise eines Koordinatensystems) ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären; daher dominieren in den ersten fünf Büchern von System der Philosophie (Band I bis Band III Teil 2) die Themen Leib, Raum, Gefühl. Schon in Band I Die Gegenwart werden aber auch die Themen des 1. und 2. Kapitels des hier vorliegenden Buches, Subjektivität und Mannigfaltigkeit, entwickelt. Den Anstoß zum Nachdenken über Subjektivität gab mir die einzige mich zum Widerspruch reizende Stelle in einem der für mein Denken förderlichsten Bücher, die ich gelesen habe, nämlich Der Mensch in der Entscheidung des Psychologen Hans Thomae. Er reduziert den Sinn des Wortes »ich« auf die Funktion eines bloßen Pronomens, mit dem Namen »Rose Bernd« als beliebigem Beispiel, und meint, für die betreffende Frau bedeute der Satz »Ich erleide oder erreiche dies und das« nichts weiter als »Frau Rose Bernd erleidet oder erreicht dies und das«. Da sagte ich mir: Das kann doch nicht stimmen! Wenn ich Frau Rose Bernd wäre und erführe, eine gewisse Rose Bernd erleide etwas, wüsste ich viel weniger, als mir aufginge, wenn ich merkte, dass ich Frau Rose Bernd sei. Daran schloss sich im ersten Paragraphen von Die Gegenwart ein noch sehr unbeholfenes Nachtasten hinter der Subjektivität an, das später in die Entdeckung der subjektiven Tatsachen mündete. Die Mannigfaltigkeitslehre ist in Die Gegenwart durch die Gegenüberstellung des numerischen (ich sagte missverständlich: des »verschiedenen«) und des chaotischen Mannigfaltigen vertreten, während das da28 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

mals von mir so genannte identische Mannigfaltige sich als überflüssig erwies und später durch das zwiespältige (oder instabile, ambivalente) ersetzt wurde. Außerdem enthält Die Gegenwart die Grundbegriffe meiner Lehre von der Zeit und beachtliche Reflexionen über das Selbstbewusstsein und das Kontinuum. Was mich daran stört, sind einige noch nicht überwundene Spuren des Abschieds von Heidegger, z. B. der Begriff »Gemöge«. Der nächste große Schub in meinem Denken begann 1967. Damals schrieb mir der Mathematiker und Philosoph Paul Lorenzen, mit dem ich noch nach seinem Weggang von Kiel nach Erlangen eifrig korrespondierte, mit Bezug auf die neue Darstellung meiner phänomenologischen Methode im ersten Paragraphen meines Buches Der leibliche Raum (System der Philosophie Band III Teil 1) am 4. September den kurzen Satzanfang: »Die Phänomene sind Sachverhalte.« Diese vier Worte haben in meinem Denken Epoche gemacht. Ich begann, über Sachverhalte nachzudenken. Das erste, bald sich einstellende Resultat war die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven oder neutralen Bedeutungen (d. h. Sachverhalten, Programmen, Problemen) und die Entdeckung der subjektiven Tatsachen. Davon berichtet, zuerst mit noch teilweise ungeschickter Umständlichkeit, das 1. Kapitel meines Buches Der Gefühlsraum (System der Philosophie Band III Teil 2, 1969). Der andere große Ertrag des Nachdenkens über Lorenzens Anregung war meine Entdeckung der Situationen, in denen Mannigfaltiges durch eine binnendiffuse (chaotisch-mannigfaltige) Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen zusammengehalten und abgehoben wird, als der Basis aller menschlichen und tierischen Erfahrung. Sie gelang mir erst 1975 und wurde 1977 in Band III Teil 4 von System der Philosophie veröffentlicht. Seither ist der Situationsbegriff einer der Anker meiner Phänomenologie. Aus der Folgezeit bis zur Vollendung von System der Philosophie (1980) und der vieles glättenden und übersichtlichen 29 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

Zusammenfassung des Inhalts in Der unerschöpfliche Gegenstand (1990) erwähne ich als grundlegende Neuerung die Entdeckung der Halbdinge (zwischen Sinnesdaten und Dingen im Vollsinn), die ich 1978 in Die Wahrnehmung (System der Philosophie Band III Teil 5) zwar schon eingehend beschrieb, aber erst 1990 (in Der unerschöpfliche Gegenstand) durch zwei Merkmale (unterbrechbare Dauer und unmittelbare Kausalität) befriedigend auf den Begriff bringen konnte. Sonderbar genug, hat es bis 2003 (Was ist Neue Phänomenologie?) und 2004 (Situationen und Konstellationen) gedauert, bis ich darauf kam, Gefühle als atmosphärische Halbdinge aufzufassen und dadurch aus der Gefahr einer unangemessenen Verdinglichung zu befreien. Als wichtige Errungenschaft dieser Jahrzehnte zwischen 1967 und 1994 kann man wohl auch die zuerst 1980 (in System der Philosophie Band IV Die Person) publizierte Entdeckung ansehen, dass Existenz-Inductiva, darunter die Existenz selbst, keine Attribute sind, wodurch das in der modernen Logik allgemein akzeptierte Identitätsprinzip von Leibniz (relative Identität als Übereinstimmung in allen Bestimmungen) gestürzt wird. Der nächste Entwicklungsschub meines Denkens setzte vor 1994 ein und wurde in dem in diesem Jahr erschienenen Buch Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie dokumentiert. In Verfolg eines ganz kurzen Gesprächs mit Heinz Becker, einem freundschaftlich Verbündeten meiner Phänomenologie, über Gefühle als Atmosphären wurde mir der Unterschied zwischen Identität und Einzelheit klar, in dem Sinn, dass Identität eine bloße Voraussetzung ist, die, um zur Einzelheit zu werden, der Ergänzung durch das Fallsein einer Gattung bedarf. Damit erst wuchs ich über die ontologische Tradition hinaus, in der Philosophen ihren Gegenstand als Spiel mit einzelnen Figuren behandeln und Identität mit Einzelheit vermengen. Noch fehlte mir aber die begrifflich scharfe Differenzierung von absoluter und relativer Identität. Außerdem bringt das Buch Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie die längst fällige Abspaltung der instabilen (zwiespältigen) Mannigfaltigkeit von der chaotischen. 30 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

Den dadurch erreichten Stand meiner Mannigfaltigkeitslehre kann man sich an den Seiten 471–474 des 2. Bandes meines Werkes Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung (2007) klar machen. Ich skizziere dort diesen Stand, um die Charakteristik der Denkform Hegels vorzubereiten. Ich unterscheide drei Haupttypen der Mannigfaltigkeit, den numerischen, den chaotischen und den instabilen (zwiespältigen), und innerhalb des chaotischen Mannigfaltigen den konfusen Typ (mit Mangel an Identität und Verschiedenheit) vom diffusen (dem nur die Einzelheit fehlt, während er durch Identität und Verschiedenheit vor Verwechslungen beim Umgang mit ihm geschützt ist). Es fehlt noch die Zerlegung der Identität in absolute und relative; im diffus chaotischen Mannigfaltigen kommt nur die absolute in Betracht. Auch steht das zwiespältige Mannigfaltige ziemlich isoliert da, während das chaotische und das numerische einsichtig zusammenhängen, so dass sich eine Treppe vom konfusen Mannigfaltigen über das diffuse (durch Hinzukommen von Identität und Verschiedenheit) zum numerischen (durch Hinzutritt der Einzelheit) ergibt. Ein großer Schritt war nötig, um der Mannigfaltigkeitslehre die inzwischen erreichte, vermutlich endgültige Gestalt zu geben. Er gelang durch Entdeckung der unspaltbaren Verhältnisse. Bereits in meinem Buch Logische Untersuchungen (2008) thematisiere ich den Gegensatz zwischen ungerichteten Verhältnissen und gerichteten Beziehungen, aber mehr beiläufig, um die Unentbehrlichkeit des Flusses der Zeit für die Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen aufzuzeigen. Weiter kam ich mit Hilfe eines Studenten der Philosophie an der Universität in Jena, des Herrn Sascha Pahl, der sich brieflich an mich wandte, weil er ganz aus eigenem Antrieb, ohne Ermutigung durch seine Professoren, meine Theorie der Subjektivität zum Thema der Magisterarbeit gewählt hatte. Nach sehr verständiger Korrespondenz schickte er mir das Produkt, in dem ich neben zahlreichen anderen Kritiken, auf die ich am 5. April 2009 sofort erwiderte, seinen Anstoß daran fand, dass ich schon in das schlichteste, 31 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

präpersonale affektive Betroffensein eine reflexive Relation als Kreislauf von Passivität und Aktivität eingeführt hätte. Ich antwortete ihm damals: »Es gibt aber auch unspaltbare Verhältnisse.« Mir wurde schlagartig klar, dass – zunächst im angegebenen Fall des präpersonalen, noch nicht mit persönlicher Stellungnahme verarbeiteten) affektiven Betroffenseins – gar keine reflexive Beziehung vorlag, sondern ein (zu gegebener Zeit) nicht in Beziehungen spaltbares Verhältnis. Als erste Arbeit mit dem neuen Begriff fügte ich meinem 2010 erschienenen Buch Jenseits des Naturalismus noch schnell den letzten Aufsatz Schlichtes Beisichsein an. Ausführlich behandelte ich danach das sehr ergiebig befundene Thema »Unspaltbare Verhältnisse« auf den Seiten 54–69 meines Buches Bewusstsein (2010), mit guten Beispielen u. a. aus den Ekstasen der leiblichen Kommunikation (Einleibung und Ausleibung), noch nicht ganz stimmig in allen Details. Die begriffsklare Sichtung des Potentials der unspaltbaren Verhältnisse gelang mir in meinem Buch Kritische Grundlegung der Mathematik (2013). Absolute und relative Identität werden klar geschieden; jene wird als Voraussetzung für diese erwiesen, Einzelheit zwischen beide Identitäten so eingeordnet, dass sie durch das Zusammentreffen von absoluter Identität mit dem Fallen unter eine Gattung entsteht, relative Identität aber durch Fallen unter mehrere Gattungen. Besonders folgenreich ist die Einsicht, dass Beziehungen (wegen Angewiesenheit auf eine Stellen- und Teilnehmerzahl) nur zwischen einzelnen Teilnehmern möglich sind, unspaltbare Verhältnisse aber auch, wenn diese sämtlich oder teilweise nicht einzeln sind. Damit wird klar, wie sogar hochstufige Ordnungen auch schon ohne numerische Mannigfaltigkeit (präpersonal, vorweltlich) möglich sind, etwa bei Tieren oder für menschliche Personen in der Sprache, der sie mit ihren Sprüchen redend gehorchen, und in der flüssigen Motorik (des Mundes, der Beine usw.): Dieselben Zusammenhänge können die Gestalt unspaltbarer Verhältnisse und, nach Vereinzelung, die Gestalt von aus Verhältnissen gespaltenen Beziehungen annehmen. Damit übergreift das un32 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

spaltbare Verhältnis das diffus chaotische Mannigfaltige; dieses rückt mit dem zwiespältigen Mannigfaltigen, das aus seiner Isolierung gelöst wird, unter dem unspaltbaren Verhältnis zusammen. Beiden Typen kann es an Einzelheit fehlen; wenn diese ergänzt ist, wird das Mannigfaltige numerisch. Unspaltbare Verhältnisse können aber auch lauter einzelne Teilnehmer verbinden, wofür schon in Bewusstsein ein Beispiel (gemeinsames Sägen) steht. Das unspaltbare Verhältnis ragt also auch in das numerische Mannigfaltige hinein. Die Figur des unspaltbaren Verhältnisses gestattet viele fruchtbare Anwendungen, z. B. auf die Ekstasen, das Bewussthaben, die Wahrnehmung, die Zeit. Mit dieser ist mein Buch Phänomenologie der Zeit (2014) befasst, das ein besonders kompetenter Beurteiler für mein bisher bestes hält. Als grundsätzliche Neuerung erscheint mir darin die Einsicht in die ursprünglich intensive Natur der Dauer, die erst von dem menschlichen Bedürfnis, sich nach der Befreiung aus der Gefangenschaft in Situationen in der Welt zurechtzufinden, zum Zweck der Zeitmessung und Zeiteinteilung extensiviert wird, zusammen mit der Lösung des alten Rätsels der intensiven Größenunterschiede mit Hilfe der Mannigfaltigkeitslehre; ferner die Einsicht, dass in der offenen Zukunft dessen, was noch möglich ist, die geschlossene Zukunft dessen, was noch nicht ist, unablöslich verschlossen ist und erst durch das Entstehen nachträglich freigesetzt wird. Anschließende Weiterführung enthält mein gleichfalls 2014 erschienenes Buch Gibt es die Welt? Im 5. Kapitel (Einzelheit) wird dort (S. 74–81) der schon in Bewusstsein (noch nicht völlig sauber) unternommene Nachweis geführt, dass die Explikation von Sachverhalten als Gattungen aus Situationen nicht mit einem Schlage geschieht, sondern schon Gattungen, die erst auf dem Wege zur Vereinzelung sind, in einem unspaltbaren Verhältnis das Kleid der Einzelheit sporadisch und labil über absolut identische Fälle werfen können, während konsolidierte Einzelheit allerdings erst mit Hilfe explizit vereinzelter Gattungen möglich ist. Ohne diesen Übergang aus der binnendiffusen 33 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

Bedeutsamkeit von Situationen wäre Bewussthaben von Einzelnem unmöglich. Das dient zur Abwehr des Platonismus (Ideenhimmel a priori). So weit bin ich in der Phänomenologie bisher gekommen. Zum Abschluss des »subjektiven« Teils dieser Vorrede als Einführung will ich etwas über die Rezeption, die Akzeptanz meines Werkes sagen. In den ersten Jahrzehnten nach Beginn der Veröffentlichung von System der Philosophie war ich ziemlich einsam, was meiner Zuversicht, auf dem rechten Wege zu sein, keinen Eintrag tat. Mein großartiger Verleger Herbert Grundmann hielt mir die Treue, und einige bedeutende Männer würdigten meine Arbeit, so Johannes Heinrich Schulz, der Erfinder des autogenen Trainings, Hans Schäfer, Professor der Physiologie und Sozialmedizin an der Universität Heidelberg, enthusiastisch Horst Mittelstaedt, Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie in Seewiesen, und sogar der berühmt-berüchtigte Jurist Carl Schmitt in Plettenberg, der mir ein paar begeisterte Briefe über mein Buch Der Rechtsraum (System der Philosophie Band III Teil 3) schrieb. Inzwischen ist die Teilnahme gewachsen, wozu die großzügige finanzielle Unterstützung meines altbewährten Freundes Dr. Hans Werhahn bei der Organisation eines Unterbaus wesentlich beigetragen hat. An der Universität Rostock wurde ein Hermann-Schmitz-Lehrstuhl für phänomenologische Philosophie begründet und mit meinem Schüler Michael Großheim besetzt, der wiederum Schüler gesammelt hat und für die Neue Phänomenologie aktiv ist. Die Gesellschaft für Neue Phänomenologie e. V. mit ca. 150 Mitgliedern hält dort jährlich eine interessante Tagung über ein phänomenologisches Thema mit vielen auswärtigen Gästen verschiedener Fachrichtungen ab. Der angesehene Verlag Karl Alber in Freiburg, früher Hort der Publikationen der älteren Phänomenologie, hat sich entschieden der Neuen Phänomenologie angenommen und außer Büchern von mir mindestens 20 bis 30 Monographien verschiedener Verfasser, darunter bedeutende 34 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

Erträge (z. B. von Ute Gahlings über weibliche Leiberfahrungen), im Auftrag der Gesellschaft veröffentlicht. Die Fruchtbarkeit der Neuen Phänomenologie erweist sich in der Anwendung auf viele Spezialgebiete. Ich hebe besonders den meisterhaften Beitrag der Zisterzienserin Johanna Lauterbach zur Theorie religiöser Erfahrung hervor (»Gefühle mit der Autorität unbedingten Ernstes«. Eine Studie zur religiösen Erfahrung in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas und Hermann Schmitz,), die Arbeiten von Gudula Linck in der Sinologie, von Jürgen Hasse in der Stadtgeographie. Reger und fruchtbarer Austausch ergab sich mit der Architektur und besonders der Medizin, in erster Linie (nach Berührungen mit der Diabetologie) mit der Psychiatrie und Psychotherapie, wobei sich die große sozialmedizinische Einrichtung Prenzlkomm in Berlin der Neuen Phänomenologie als einer Grundlage verbesserter Arbeit aufschloss. Fruchtbaren Boden fanden Anregungen aus dieser in Architektur (auch literarisch), Musik (Dirigieren, Gesang), bildenden Künsten, Soziologie, Pädagogik, Osteopathie, Physiotherapie. Im Ausland griffen Prof. Griffero (Italien), Prof. Ogawa und sein Kreis (Japan), Professoren Przylebski und Andrzejewski (Polen, Posen) die Neue Phänomenologie mit Übersetzungen und z. T. eigenen Arbeiten auf. Die Dr. Margrit Egnér-Stiftung in Zürich verlieh mir im November 2014 einen Preis in Höhe von 20.000 Euro für anthropologische Psychologie. Anders stellt sich das Verhältnis zu den Kollegen im Fach Philosophie dar. Als ich gerade den 1. Band von System der Philosophie veröffentlicht hatte, kam mein ehemaliger Mitstudent Karl-Heinz Ilting (danach Professor in Saarbrücken, frühzeitig gestorben) von einem Philosophenkongress in Heidelberg nach Kiel und fuhr mich an: »Herr Schmitz, was haben Sie getan! Ich habe Äußerungen der bittersten Feindschaft gehört. Man hat gesagt: ›Heidegger hat ein System der Philosophie machen wollen und hat es nicht geschafft, und nun kommt dieser junge Kerl und will es besser machen.‹« Man habe das Niveau des Buches anerkannt, aber das habe der Feindschaft keinen Abbruch getan. 35 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

Diese Reaktion hat mich verblüfft. Der Gedanke an eine Konkurrenz mit Heidegger lag mir ganz fern, und ich glaube nicht einmal, dass dieser ein System der Philosophie errichten wollte. Kleinliches Prestigedenken und das Naserümpfen über den suspekten Titel »System der Philosophie« scheinen die unbefangene Würdigung blockiert zu haben. Intrigen dürften beigetragen haben, die Kluft zu vertiefen. Als eine befreundete Kollegin aus einem philologischen Fach in Basel einen Vortrag gehalten hatte, der nicht gut ankam, besuchte sie am nächsten Tag der für Philosophie zuständige Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Herr Jürgen Busche, um ihr zu sagen, das habe nichts geschadet, ihr Renommee habe nicht gelitten, sie habe nur einen einzigen Fehler gemacht: sie habe von Hermann Schmitz gesprochen, von dem rede man doch nicht. Ich könnte mehr Geschichten so sonderbarer Art erzählen. Das Ergebnis war, dass mich die Fachkollegen – mit wenigen Ausnahmen – gleichsam in eine schalldichte Glasglocke gesperrt haben. Meine Bücher werden seit Jahrzehnten kaum noch besprochen; bei der Erörterung klassischer und aktuell wichtiger philosophischer Probleme, zu denen sonst alle Stimmen gehört werden, ignoriert man meine Beiträge säuberlich. Es wäre aber ungerecht, nicht die Ausnahmen zu erwähnen. Gernot Böhme stand, seit er mein Buch »System der Philosophie Band II Der Leib Teil 1« (1965) mit einer klugen Besprechung bedacht hatte, unablässig an meiner Seite und hat Wesentliches zur Förderung der Neuen Phänomenologie beigetragen. Faire Gesprächspartner fand ich in den Marburger Kollegen Janich und Demmerling, Verbündete im Kreis um meine Schülerin Hilge Landweer (Berlin). Reiner Wimmer (Tübingen/Konstanz) hat sich meiner philosophischen Anliegen trotz anderer Geistesrichtung mit großer Aufgeschlossenheit und tätigem Engagement angenommen. Peter Sloterdijk hat mich in Karlsruhe mit allen Ehren aufgenommen und als den bedeutendsten lebenden deutschen Philosophen ausgegeben; er hat erstaunlich eingehende Kenntnis meiner Arbeiten bewiesen und sich über diese in seinen Schriften mehrfach an36 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

erkennend und verständnisvoll geäußert. Die Anhänger der weit verbreiteten analytischen Philosophie verhalten sich gleichgültig; einer fragte Herrn Demmerling kürzlich, was er mit diesem Herrn Schmitz zu schaffen habe. Die Phänomenologen der älteren, von Husserl abhängigen Schule sind mir böse wegen meiner Absage an diesen. Ich verweise dafür auf die Auseinandersetzung mit den 27 (nur zum Teil phänomenologischen) Kritikern meines Aufsatzes Naturwissenschaft und Phänomenologie (Erwägen Wissen Ethik, Jahrgang 15, 2004, Heft 2), besonders auf den Beitrag von Karl-Heinz Lembeck (Würzburg). Auch Bernhard Waldenfels hat sich in gesuchten Vorwürfen versucht, auf die ich geantwortet habe. Von Petra Gehring schweige ich lieber. Ein Teilnehmer an einem konferenzartigen Interview mit mir in Göttingen über Musik und Atmosphären im November 2014 hat mich gefragt, wie ich mit meiner »diskursiven Einsamkeit« – einer hübschen Formulierung – zurechtgekommen sei, sie könne doch auch ihr Gutes gehabt haben. Da kann ich ihm recht geben. Für die Ruhe, in der mir vergönnt war, in einer für Hochschullehrer aufregenden, ja bedrängenden Zeit, an deren Konflikten in der Universität ich mich sogar beteiligt habe, meine Gedanken mit langem Atem auszuformen, kann ich nicht dankbar genug sein. Auch habe ich in der fachinternen Isolierung nie die Zuversicht verloren. Zu sicher war ich, dass meine phänomenologischen Ergebnisse zu wichtig und in vielen Hinsichten zu hilfreich sind, als dass man auf die Dauer über sie hinweggehen könnte. Bitterer berührt mich schon, dass meine Arbeiten zur Geschichte der Philosophie, besonders der antiken, trotz so vieler eindringlicher Analysen und origineller Beobachtungen nicht mehr beachtet wurden. Wie ein Lichtblick an meinem Horizont erscheint mir dagegen ein Brief, aus dem ich, um zu schließen, zitieren möchte. Er stimmt mit manchen Zeugnissen überein, die mir von philosophisch unverbildeten Menschen zugetragen wurden. Ich erhielt ihn von einem mir persönlich unbekannten Berliner, der sich mir als ein Mann vorstellte, der 37 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

nach einem abgebrochenen Studium der Psychologie und einem abenteuerlichen Leben eine kleine Rente beziehe. Er war von einer Ärztin und einer Juristin auf meine Bücher hingewiesen worden und schrieb mir dazu am 24. Juni 2014: »Seit ich Texte von Ihnen lese, werde mir einige Dinge zugänglich, der Blick, die Atmosphären und Stimmungen, Merkwürdigkeiten von Raum und Zeit. Es scheint mir, ich werde wacher für mein Leben in der Welt. Das finde ich so spannend, dass ich möglichst mehr davon begreifen möchte. Bitte sehen Sie mir auf diesem Hintergrund nach, wenn ich Ihnen lästig fallen sollte. Was ich hingegen überhaupt nicht begreifen kann, und was mich immer wieder erstaunt – dass so grundlegende und andersartige Ergebnisse Ihrer Arbeit so wenig beachtet werden. Einiges begreife ja sogar ich, ohne über eine ausreichende Vorbildung zu verfügen; es deckt sich mit meinen täglichen Erfahrungen.« Wenn ich das lese, wächst mein Mut zu der Hoffnung, dass es mir gelingen könnte, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen. Februar 2015

Hermann Schmitz

Nachschrift: Man hat mich gebeten, dieser Vorrede eine Bemerkung über den Titel des Buches hinzuzufügen, da es hart und auffällig schien, den Philosophen mit dem Spaten zu bewaffnen. Die Beschreibung des wirklichen Lebens stellt man sich gewöhnlich als eine eher banale Aufgabe vor, als Ablesen eines Vordergrundes, dessen Hintergrund man der Naturwissenschaft überlässt. Wie schwierig es aber ist, zur Anlage dieses Lebens vorzudringen, stellt sich bei gewissenhafter Phänomenologie heraus. Dabei kommt es zu erstaunlichen Funden, über die die gewöhnliche Besinnung im Begleitzug der Tradition ahnungslos hinweggleitet. Für die so belohnte Mühe scheint mir das Bild des Grabens gerechtfertigt, vor allem, wenn es sich um die Rechenschaft von einer Lebensarbeit handelt. Dieses Graben ist ein Ausgraben, d. h. ein besonders vorsichtiges und umständliches 38 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Vorrede als Einleitung

Graben, bei dem Schicht für Schicht abgehoben wird, um nichts aus dem Zusammenhang zu reißen oder zu verzerren. Ich bin aber weit entfernt von der Anmaßung, zu glauben, ich hätte die unwillkürliche Lebenserfahrung ausgegraben und zur Besichtigung freigelegt. Was ich zu bieten habe, sind nur Vorstöße in die Tiefe, die ergänzt und verbessert werden können. Daher spreche ich nicht von Ausgrabungen »des« wirklichen Lebens, sondern von Ausgrabungen »zu« ihm. August 2015

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1. Subjektivität

1.1 Subjektive Bedeutungen Sätze sind Regeln einer Sprache, denen ein Sprecher gehorcht bei der Formulierung von Sprüchen, die einzelne Sachverhalte, Programme und/oder Probleme (oft viele zugleich) darstellen und eventuell im Dienst weiterer Zwecke stehen. Eigentlich sind nur Sprüche, die nicht der Sprache, sondern der Rede angehören, wahr oder falsch; man kann aber, da es unbequem wäre, immer nur einzelne Sprüche herauszugreifen, auch einen Satz wahr nennen, wenn jeder seiner Sprüche wahr ist. Eine offensichtlich unerlässliche Bedingung für die Wahrheit eines Spruches oder Satzes wurde (nach Anregung von Kotarbiński) von Tarski populär gemacht, ausgehend von dem Beispiel: »›es schneit‹ ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn es schneit.« 1 Allgemein drückt folgende Formel den Gedanken aus: N’p ist wahr $ p. Hier ist p als behauptender Spruch oder Satz gemeint, und N’p ist eine Funktion, die p irgend einen Namen von p (z. B. durch Einrücken zwischen Anführungszeichen) zuordnet; der nach beiden Seiten gerichtete Pfeil besagt, dass beide Seiten nur mit einander wahr oder falsch sind. Die Variable »p« steht in der Formel natürlich nicht für p selbst, wie »N’p«, sondern für das, was der Sprecher meint, wenn er so spricht, was er sagen will, wenn er z. B. sagt: »Schnee ist weiß.« Was ist das? Nicht der Alfred Tarski: Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, Lemberg 1935, S. 8–10 (von mir zitiert nach: Logik-Texte, hg. v. Berka und Kreiser, Berlin 1973, S. 452–454)

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Subjektivität

Spruch selbst, der kaum weiß sein dürfte. Weißer Schnee kann es auch nicht sein, weil man den nicht behaupten kann; man wüsste nicht einmal, was behauptet wird, die Existenz oder das gegenwärtige Vorliegen der weißen Farbe vom Schnee oder dessen (ständige oder häufige) Eigenschaft. Das Behauptete ist also weder ein Spruch noch ein Ding mit einer Beschaffenheit, noch ein Zusatz zu Dingen, sondern der Sachverhalt, dass (der) Schnee weiß ist. Die angegebene Formel für die Wahrheitsbedingung von Tarski impliziert also die Existenz (das Vorkommen) von Sachverhalten, aber noch mehr. Schnee kann ja auch schmutzig sein und hat dann eine andere Farbe. In diesem Fall formuliert ein Spruch wie »Schnee ist weiß« zwar noch einen (untatsächlichen) Sachverhalt, aber keine Tatsache. Für den Fall der Wahrheit des Spruches impliziert die Formel also auch die Existenz von Tatsachen, die im Gegensatz zu den zeitlosen untatsächlichen Sachverhalten in vielen Fällen geschichtlich sind, weil sie erst zu einer bestimmten Zeit eintreten. Was sind Sachverhalte? Sie sind das, was Fraglichkeit in die Welt bringt, egal, ob jemand da ist, der fragt oder fragen will, und zwar Fraglichkeit vor dem Sein (der Wirklichkeit) als entscheidender Instanz. Weißen Schnee kann man so wenig in Frage stellen wie behaupten, weil er der Frage keinen Angriffspunkt bietet; wohl aber kann man ebenso fragen, ob, wie behauptet, der Schnee weiß (nicht etwa schmutzig) ist. Sachverhalte sind also die Fraglichmacher, aber nur, wenn das Sein (nicht, wie bei praktischen Fragen, z. B. »Was soll ich tun?«, die Geltung eines Programms) die entscheidende Instanz für die berechtigte Antwort auf die Frage ausübt. Wie es als solche Instanz fungiert, erkennt man in manchen Fällen an der Evidenz 2 , die Menschen aber oft nicht zugänglich ist. Wenn das Sein Sachverhalte in dieser an der Evidenz ablesbaren Weise auszeichnet, handelt es sich um Tat-

Über Evidenz: Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg 2012, S. 24–41

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Subjektive Bedeutungen

sachen. 3 Ich vermeide also die Bestimmung der Tatsächlichkeit durch die Wahrheit von Behauptungen über Sachverhalte. Ich habe nachgewiesen, dass ohne Voraussetzung des faktizistischen Wahrheitsverständnisses – eine Behauptung ist wahr, wenn sie einen Sachverhalt darstellt, der eine Tatsache ist – kein haltbarer Wahrheitsbegriff möglich ist. 4 Wenn man trotzdem Tatsächlichkeit durch die Wahrheit von Behauptungen bestimmen wollte, entstünde ein Zirkel. Sachverhalte und Tatsachen erfreuen sich bei Nominalisten, die in der »analytischen« Philosophie anglo-amerikanischer Provenienz überwiegen, eines sehr geringen Ansehens. Sie gelten als »abstrakte Objekte«, die man als »überflüssige Wesenheiten« mit »Occams Rasiermesser« wo nicht wegzuschneiden, doch wenigstens zu kürzen sucht, indem sie als Umdeutungen auf konkretere Objekte zurückgeführt werden; Kotarbiński ließ nur noch Körper gelten. Solche Reduktionisten übersehen, dass zwar die Inhalte konkret sein mögen, nicht aber die sie einkleidende Form der Einzelheit, die, wie sich noch zeigen wird, nur auf dem Umweg über solche »abstrakten« Objekte gewonnen werden kann. Als hinlänglich konkret gelten ihnen zumeist datierbare Zustände oder Ereignisse. Dem Nominalisten liegt daher nahe, die Rede über Sachverhalte und Tatsachen zurückzuführen auf die Rede über Zustände und Ereignisse, besonders solche des Sprechens von Namen (daher »Nominalismus«) oder sonstigen sprachlichen Äußerungen, und die Sachverhalte und Tatsachen nur noch als so etwas wie Metaphern in uneigentlich übertragender Rede gelten zu lassen. Dass solche Reduktionsversuche aussichtslos sind und nicht nur Sachverhalte und Tatsachen, sondern auch Programme und Probleme Anerkennung als Gegenstände eigener Art ohne Reduzierbarkeit auf das Spre-

Über Sachverhalte und Tatsachen: Hermann Schmitz, Logische Untersuchungen, Freiburg 2008, S. 65–78 4 Hermann Schmitz, Gibt es die Welt?, Freiburg 2014, S. 33–45 3

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Subjektivität

chen über vermeintlich näher liegende Gegenstände verdienen, soll bald bewiesen werden. Der Beweis führt über das affektive Betroffensein. Was ist affektives Betroffensein? Ich unterscheide in dem, was Menschen vorfinden können, zwei Hauptmassen von ungefähr gleichem Umfang. Die eine ist die Masse dessen, was sich dem findenden Zugriff passiv darbietet, unbefangen zur Musterung und Registrierung ausgebreitet. Ein gutes Beispiel ist die Erstellung eines Inventars durch einen von Berufs wegen, ohne persönliches Interesse, Beauftragten, oder die unaufgeregte statistische Auszählung einer Stichprobe, die gleichmütige Aufnahme neuen Vorrats von Pflanzen oder Steinen für spätere botanische oder geologische Begutachtung. Das Material bietet sich der rein sachlichen Betrachtung ohne Widerstand dar. Wissenschaftler sind geneigt, diese Einstellung als die eigentlich objektive und sachgemäße auszuzeichnen, während alles, was am gefundenen Gegenstand der passiven Gegebenheit zuwiderläuft und auf die Betrachtung parteiisch abfärben könnte, als verwirrende Störung, als Einmischung des Subjektes über seine Zuständigkeit hinaus, verworfen wird. Das gilt besonders für die als Seelenoder Geisteszustände aufgefassten Gefühle und Affekte. Spinoza schreibt über die »Affekte des Hasses, des Zornes, des Neides usw.«, sie hätten »bestimmte Eigenschaften, die unserer Erkenntnis ebenso würdig sind, wie die jedes anderen Dinges, an dessen bloßer Betrachtung wir uns erfreuen«; er wolle daher »die menschlichen Handlungen und Triebe eben so betrachten, als wenn von Linien, Flächen oder Körpern die Rede wäre.« 5 Sein Interesse gilt also der bloßen Betrachtung eines in seiner Widerstandslosigkeit den Gegenständen der Geometrie gleichen Materials. So sieht auch David Hume sich selbst, wenn er in sich hineinzublicken sucht: »Ich meines Teils kann, wenn ich mir das, was ich als ›mich‹ bezeichne, so unmittelbar als möglich vergegenwärtige, nicht umhin, jedes Mal über die eine oder die an5

Spinoza, Ethik, 3. Teil: Von Ursprung und Natur der Affekte. Vorrede

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Subjektive Bedeutungen

dere bestimmte Perzeption zu stolpern, die Perzeption der Wärme oder Kälte, des Lichtes oder Schattens, der Liebe oder des Hasses, der Lust oder Unlust. Niemals treffe ich mich an ohne eine Perzeption und niemals kann ich etwas anderes beobachten als eine Perzeption.« 6 Er nivelliert Liebe und Hass auf das Niveau von Licht und Schatten und behält von sich selbst nichts als dergleichen. Bezüglich des Ideals der Objektivität ist diese Haltung bis heute typisch für Wissenschaftler, die exakt sein wollen. Die andere Masse des Vorfindbaren wird vom affektiven Betroffensein gebildet. Sie hat die Eigenart, dass das Gefundene sich nicht passiv darbietet, sondern den Finder in solcher Weise angeht und gefangen nimmt, dass er nicht umhin kann, als den Betroffenen sich selbst zu spüren. Er ist befangen in etwas, das ihm angetan wird. Man hat dafür den schönen und passenden Ausdruck, dass etwas ihm nahe geht; wenn man etwas drastischer werden will, kann man sagen, dass den affektiv Betroffenen etwas packt oder ihm zu schaffen macht, doch gehören zum affektiven Betroffensein keineswegs nur aufregende Ereignisse oder Zustände, sondern auch ruhige Freude wie Spinozas Ergötzen an bloßer Betrachtung, quälende Langeweile ebenso wie die gelassene lange Weile ruhiger Entspannung, Eifer wie Verdruss. Außer den Gefühlen sind die bloßen leiblichen Regungen vorzügliche Beispiele affektiven Betroffenseins, wie Angst, Schmerz, Schreck, Beklommenheit, Hunger, Durst, Wollust, Erleichterung, wohltätige oder lästige Müdigkeit. Die Befangenheit im affektiven Betroffensein braucht die Sachlichkeit wissenschaftlicher Bestandsaufnahme nicht zu durchkreuzen, denn der Mensch als Person hat grundsätzlich die Fähigkeit, sich mitten in der Befangenheit doch auch über diese zu erheben und auf David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, deutsch mit Anmerkungen und Register von Theodor Lipps, mit einer Einführung neu herausgegeben von Reinhard Brandt, Hamburg 1973, S. 326 (1. Buch 4. Teil 6. Abschnitt)

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Subjektivität

sie zu reflektieren, aber das Material seines Findens begegnet ihm nicht mehr passiv, sondern setzt ihm so zu, dass er spürt, dass es um ihn selbst geht, ohne deswegen schon immer auf sich zu reflektieren. In der europäischen Denktradition wird das Subjekt, d. h. der Bewussthaber, mit einer privaten Innenwelt abgefunden, seiner Domäne, die ein Weltstück ist, gleichsam eine schmale Scheibe aus dem großen Kuchen Welt, und mit der ganzen Welt wird diese Domäne in die Perspektive oder unter den Aspekt des passiv Vorfindbaren gerückt, wo der Bewussthaber nicht mehr zu finden ist, so wenig, wie Hume6 ihn (als sich selbst) zu finden vermochte. Das affektive Betroffensein in seiner Eigenart kommt nicht in Sicht. Exemplarisch deutlich wird die Irreführung durch diesen blinden Fleck an einer berühmt gewordenen Stelle aus Wittgensteins Traktat, die den Naturalisten und Physikalisten begeisterte Zustimmung abgewonnen hat: »Wenn ich ein Buch schriebe ›Die Welt, wie ich sie vorfand‹, so wäre darin auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen und welche nicht etc., dies nämlich ist eine Methode, das Subjekt zu isolieren, oder vielmehr zu zeigen, dass es in einem wichtigen Sinn kein Subjekt gibt. Von dem allein nämlich könnte in diesem Buch nicht die Rede sein.« 7 Das Vorfinden, von dem Wittgenstein im Imperfekt spricht, also die als schon abgeschlossen vorgestellte Durchmusterung der dem Betrachter passiv vorliegenden Welt, ist wie bei Avenarius – hier wohl dem Vorbild Wittgensteins – zu verstehen, der so konsequent war, das Subjekt ganz zu streichen und nur noch Vorfindungen ohne Vorfindenden und Vorgefundenes gelten zu lassen. 8 Aus Wittgensteins Befund folgt überhaupt nicht, dass es in einem wichtigen Sinn kein Subjekt gibt, sondern nur, Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung 5. 631 Vgl. meine Einleitung zum Nachdruck von: Richard Avenarius: Der menschliche Weltbegriff, 3. Auflage 1912, neu herausgegeben von Wolfgang Sohst, Berlin 2014, S. V-XXI

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Subjektive Bedeutungen

dass er es an der falschen Stelle gesucht hat, nämlich beim passiv Vorfindbaren statt im affektiven Betroffensein, wo es sich meldet, weil es von etwas, das betroffen macht, dem Betroffenen aufgedrängt wird. Dass Wittgenstein dieser Einseitigkeit oder Einäugigkeit schuldig ist, wird gleich in seinen nächsten Bemerkungen offenbar, wo er sagt, wie er dieses Subjekt in anderem (nämlich metaphysischem, nicht empirischem) Sinn gleichwohl noch halten kann: »Wo in der Welt ist ein metaphysisches Subjekt zu merken? Du sagst, es verhält sich hier ganz wie mit Auge und Gesichtsfeld. Aber das Auge siehst du wirklich nicht. Und nichts am Gesichtsfeld lässt darauf schließen, dass es von einem Auge gesehen wird.« 9 Die Welt liegt so ruhig vor dem (metaphysischen) Subjekt, dass es sich in diesem wie in einem Auge (der Netzhaut) rein von Zusätzen spiegeln kann, wie in Schopenhauers (an den sich Wittgenstein hier anlehnt) »Weltauge« des auf willenlose Kontemplation eingestellten Subjektes. Einen Versuch, die Abschließung der privaten Innenwelt wenigstens so weit zu durchbrechen, dass dem einseitigen Zugang zu ihr durch die Sinnesorgane eine Art von Ausgang aus ihr an die Seite tritt, unternahm die ältere Phänomenologie, indem sie die Gefühle im Kern des affektiven Betroffenseins zusammen mit verschiedenen anderen Weisen des Bewussthabens (Vorstellungen, Urteile, Willensakte) als intentionale, auf ein Ziel gerichtete Akte auffasste. Aber das ist die umgekehrte Richtung. Im affektiven Betroffensein geht man nicht über sich hinaus, auf etwas abzielend, sondern man wird von etwas, das betroffen macht, heimgesucht und dazu geweckt, sich selbst als den Betroffenen, dem etwas nahe geht, zu spüren. Die bisher erörterte Sonderstellung des affektiven Betroffenseins betrifft nur die Weise der Gegebenheit für ein betrachtendes (sich eventuell künstlich in diese Rolle versetzendes) Subjekt. Man kann geneigt sein, den Unterschied auf bloß verschiedene Ansichten derselben Zustände und Ereignisse (einmal 9

Logisch-philosophische Abhandlung 5.632 und 5.633

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Subjektivität

passiv, einmal angreifend für das Vorfinden) herabzusetzen. Das ist, was den bloßen Inhalt betrifft, sogar richtig, wie sich gleich herausstellen wird. Anders stellt sich der Gegensatz aber heraus, wenn man zu den Tatschen übergeht. Die Tatsachen des affektiven Betroffenseins, dass ich z. B. traurig bin oder mich wohl fühle oder Hunger habe, besitzen gegenüber den passiv vorfindbaren Tatsachen eine Sonderstellung, die über die bloße Gegebenheitsweise hinausgeht. Die dem Betrachten passiv zum Ablesen vorliegenden Tatsachen sind die neutralen oder objektiven, d. h. solche, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug zu sprechen vermag (oder zu schreiben usw., was ich hier mit »sprechen« mitmeine). In ihnen ist nichts enthalten, was darauf hindeuten könnte, dass es sich um mich handelt. Jeden der Züge, die in einer neutralen Tatsache vorkommen und in einem sie darstellenden Spruch angegeben werden, könnte ebenso ein Anderer wie ich selbst haben. Das gilt auch für alle miteinander. Sehr schön zeigt das ein tiefsinniger Scherz des Mathematikers Hermann Weyl, dessen Kenntnis ich meinem Schüler Michael Großheim verdanke. Leibniz hatte menschliche Freiheit mit göttlicher Vorherbestimmung dadurch zu vereinigen gesucht, dass er annahm, Gott habe im Voraus aus allen möglichen Welten die beste einschließlich aller zugehörigen freien Handlungen aller Menschen ausgesucht und zu diesem Zweck die Eigenschaften dieser Menschen, ihren Platz in der Welt, bis in alle Einzelheiten festgelegt. Sehr schön, sagt Weyl, aber die ganze Konstruktion bricht zusammen an dem Verzweiflungsschrei des zu einer besonders elenden Rolle verurteilten Jesusverräters Judas: »Warum musste ich Judas sein!« Es hätte ja auch ein Anderer werden können. Der perfekteste, auch für Bewussthaber alles festlegende Weltplan enthält also noch nichts darüber, wer diese Bewussthaber sind. Die Plätze für alle Fälle von Gattungen sind belegt, aber sie treffen noch nirgends mit der absoluten Identität (siehe die Vorrede) irgend eines Bewussthabers zusammen. Aus neutralen oder objektiven Tatsachen, die einen Menschen charakterisieren, ist nichts darü48 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Subjektive Bedeutungen

ber zu entnehmen, wer dieser Mensch (der jeweilige Bewussthaber) ist. Dennoch sind fast alle, namentlich die Wissenschaftler, davon überzeugt, dass die beschriebene Neutralität oder Objektivität, die prinzipielle Vertretbarkeit beim Aussagenkönnen, zum Wesen jeder Tatsache gehört. Das Pathos dieser Vertretbarkeit ist der Stolz aller exakten Wissenschaften. Das ist ein Irrtum. Wer einer ist – z. B. ich, der mit den Eigenschaften und Beziehungen zu etwas des Hermann Schmitz behaftet ist – ergibt sich allein aus den subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins. Eine Tatsache ist subjektiv, wenn höchstens einer, und zwar im eigenen Namen, sie aussagen kann, obwohl die Anderen sie wie er kennzeichnen und daher darüber sprechen können, etwa, indem sie sich kontrafaktisch auf Aussagen beziehen, die er machen könnte. Dass Tatsachen des affektiven Betroffenseins immer für jemand subjektiv sind, ergibt sich daraus, dass sie ihm nahe gehen, denn das kann kein Anderer sagen, weil er nicht jener ist. Wohl kann ein Mitmensch, wenn mir etwas nahe geht, sagen, dass dem Hermann Schmitz das nahe geht (z. B. erfreulich oder betrübend, bestürzend oder erhebend), aber nur, ohne sagen zu können, dass gerade ich derjenige bin, der der Hermann Schmitz ist, dem das nahe geht. Das echte, vollständige Nahegehen kommt erst hinzu, wenn ich merke, dass ich dieser Hermann Schmitz bin, und das kann nur ich sagen. Wenn der Andere darüber spricht, ist das nur ein Schattenbild des echten Nahegehens, meines affektiven Betroffenseins. Im Deutschen verwenden wir dafür Pronomina, wie »ich«, oder »mein« (»er« oder »sein«), aber darauf kommt es nicht an; die alten Sprachen kommen ohne Pronomina mit Flexionsformen des Verbums aus. Die verwendeten Sprachmittel können beliebig sein. Der aufgezeigte Unterschied zwischen subjektiven und objektiven (neutralen) Tatsachen ist überhaupt kein wesentlich sprachlicher, obwohl ein an einem sprachlichen Merkmal abgelesener, denn es handelt sich um einen gegen alle Unterschiede zwischen Sprache und Reden invarianten Gegensatz, um die 49 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Subjektivität

prinzipielle Unmöglichkeit, jemandem ein Bekenntnis seines affektiven Betroffenseins mit Bezug auf denselben Sachverhalt nachzusprechen; egal, wie viel einer weiß und wie gut er sprechen kann, der Andere kann es nicht. Hier liegt auch kein bloßer Unterschied der Gegebenheitsweise vor, etwa, indem jemand das häufig anerkannte Privileg in Anspruch nähme, allein mit Sicherheit von seinen sogenannten inneren (Seelen- oder Bewusstseins-) Zuständen zu wissen; dieses Privileg ist äußerst fragwürdig, und hier geht es nicht um Unterschiede des Wissens, die vielmehr dadurch ausgeschlossen sind, dass die dargestellte Unmöglichkeit trotz noch so guten Wissens anderer Bewussthaber für sie bestehen bleibt, auch für übermenschliche Wesen oder Techniker der Zukunft, die Gedanken und Gefühle lesen könnten. Selbstverständlich bedarf es auch keiner Privatsprache, die höchstens einer für sich verstehen könnte, wovon Wittgenstein fabelt; die gewöhnliche Gebrauchssprache, eventuell verfeinert durch Poeten oder andere Spezialisten für sensible Nachzeichnung affektiven Betroffenseins, genügt so gut und schlecht wie zu allen nicht ganz handgreiflichen Zwecken. Das zur Präzisierung des Unterschiedes subjektiver und objektiver Tatsachen ausgewählte sprachliche Merkmal ist vielmehr das Anzeichen einer speziellen Unvertretbarkeit des affektiven Betroffenseins. Diese sorgt auf der anderen Seite dafür, dass in der für jemand subjektiven Tatsache unmittelbar der Bezug zu ihm enthalten ist, die Gewissheit (wenn er von der Tatsache Notiz nimmt), dass es um ihn selber geht. Was den neutralen Tatsachen völlig abgeht, ist also dieser Erfahrung vorbehalten, dem Zeugnis subjektiver Tatsachen. Nicht nur alle Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind für jemand subjektiv, sondern diese Sonderstellung genießen nur sie. Zwar gibt es manche Formulierungen ohne diesen Bezug, die auch kein Anderer nachsprechen kann, ohne einen anderen Sacherhalt zu meinen, z. B. »Ich schreibe« (Fichte, siehe Vorrede), »Ich heiße Thomas Nagel« (aus dessen Buch The view from nowhere), aber das sind nur spezielle Formulierungen, die 50 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Subjektive Bedeutungen

leicht umgeformt werden können, ohne dass sich an dem dargestellten Sachverhalt etwas ändert; nur das Nahegehen, die spezifische Nuance des affektiven Betroffenseins, entzieht sich solcher Umwandlung der redenden Darstellung in eine für Andere nachsprechbare sprachliche Form. Wenn bei Aussagen über Bewussthaber das affektive Betroffensein ausgelassen wird, ist die gegebenenfalls mitgeteilte Tatsache neutral und objektiv, und dann ermöglicht sie keine Information darüber, um wen es sich handelt. Wenn das schon bekannt ist, wird die Identifizierung natürlich selbstverständlich, z. B. im Fall von Hermann Schmitz, wenn die Leute wissen, dass ich er bin, aber wie wird es denn bekannt? Der objektiven Tatsache über mich haftet, wie gesagt, nichts an, was darauf schließen ließe, dass gerade ich der Betroffene bin. Nur der umgekehrte Weg ist gangbar: Um mich davon zu überzeugen, dass der Hermann Schmitz, den die Anderen kennen, indem sie ihn durch objektive Tatsachen charakterisieren, der Mann ist, der ich bin, muss ich von den für mich subjektiven Tatsachen meines affektiven Betroffenseins die Subjektivität für mich abschälen, so dass daraus objektive Tatsachen (etwa: Hermann Schmitz ist traurig, statt: Ich bin traurig) werden, und die kann ich dann mit anderen mir zugänglichen objektiven Tatsachen in Zusammenhang bringen und so meine Platz in der Welt finden. Bei dieser Objektivierung kann ich mich aber irren, wenn ich z. B. verrückt werde und mich in wahnhafter Selbstverkennung für Napoleon halte. Dann sind die objektiven Tatsachen, die ich meiner Subsumtion unter Gattungen zu Grunde legen sollte, gründlich verfehlt, aber ich weiß immer noch zuverlässig, dass es sich um mich selbst handelt. Die aus dem affektiven Betroffensein geschöpfte Gewissheit dieses Wissens übersteht jeden Wechsel der Interpretation durch objektive Tatsachen. Bisher habe ich die Auszeichnung des Zugangs zu den für jemand subjektiven Tatsachen, begrifflich festgemacht am Vorzug beim Aussagenkönnen, nur in der Perspektive des Individuums, der ersten Person des grammatischen Singulars be51 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Subjektivität

schrieben, nämlich als den Anhaltspunkt, an und von dem aus einer merken kann, wer er ist. Um das verbreitete Misstrauen gegen diese Einseitigkeit der eigenen Perspektive zu beseitigen, wird es nützlich sein, den Nachweis auf die Perspektive der dritten grammatischen Person des Singulars oder Plurals auszudehnen, d. h. zu zeigen, dass die Leute schon im Alltag bei ihren Mitmenschen die Subjektivität der Tatsachen des affektiven Betroffenseins für diese für selbstverständlich halten. Gewöhnlich hält man das Wort »ich« für ein bloßes Pronomen wie »du«, »er«, »es«, und der Versuch, zu sagen, wofür es steht, gelangt zu dem immer zutreffenden, wenn auch nicht einzigen Ergebnis, dass es für den Sprecher der Rede steht, in der es gerade erschallt. Das ist das Ergebnis der token-reflexive-Analyse, mit der man in der analytischen Philosophie versucht, dem Wort den Bezug zur Subjektivität abzuschneiden. Ich zeige nun, wohin das führt, und fingiere zu diesem Zweck ein Individuum namens »Peter Schulze«, das ich in Situationen hohen affektiven Betroffenseins versetze. Die erste ist eine Liebeserklärung. Dabei spielt sich folgender Dialog ab: Mann: »Peter Schulze liebt dich.« Frau: »Warum sagst du nicht: ›Ich liebe dich‹ ?« Mann: »Das ist doch ganz überflüssig.« Frau: »Das ist gar nicht überflüssig, gerade darauf kommt es mir an.« Die Liebeserklärung ist missglückt; die Frau ist verstimmt. Sie wollte von Schulze hören, was unter allen sprechenden Wesen nur er allein ihr sagen kann, eine subjektive Tatsache seines liebenden affektiven Betroffenseins, die höchstens er selbst im eigenen Namen auszusagen vermag. Sein Fehler war, das Wort »ich« in diesem Fall nicht als Signal für die Subjektivität der Tatsache seines affektiven Betroffenseins zu verstehen, sondern wie gewöhnlich als bloßes Pronomen bei Mitteilung einer objektiven Tatsache, die jeder so gut wie er aussagen könnte, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Da die Reaktion 52 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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der Frau ganz normal ist, zeigt sich schon an diesem einzigen Beispiel, dass die Menschen schon im gewöhnlichen Leben die Subjektivität der Tatsachen des affektiven Betroffenseins ihrer Mitmenschen für diese als selbstverständlich voraussetzen. Peter Schulze lässt sich durch seinen Misserfolg von seinem Irrtum nicht abbringen. Anschließend beichtet er. Dabei kommt es zu folgendem Dialog: Sünder: »Peter Schulze hat gesündigt.« Beichtvater: »Sprich: ›Ich habe gesündigt.‹« Sünder: »Das ist doch ganz überflüssig.« Der Beichtvater verweigert die Absolution, weil er an der Ernsthaftigkeit von Schulzes Reue zweifelt. Anschließend ertönt ein Schrei aus dem Wasser: »Hilfe, Peter Schulze ertrinkt, das bin übrigens ich, der gerade spricht.« Hier verwendet er die tokenreflexive-Analyse, um darauf beharren zu können, das Wort »ich« auch in diesem Zusammenhang als bloßes Pronomen misszuverstehen. Niemand kommt ihm zu Hilfe. Der hilfsbereite Mitmensch, der auf den Ruf »Hilfe, ich ertrinke« hin sofort eingegriffen hätte, weil er ihn als Signal für das affektive Betroffensein eines Menschen in höchster Not verstanden hätte, wird, wenn der Unglückliche auch in diesem Fall die token-reflexiveAnalyse des Pronomens anwendet, nur den Kopf schütteln oder neugierig nachsehen, was los ist. Bei deutlich gesteigertem affektivem Betroffensein eines Menschen erwartet der Mitmensch von ihm ein Signal für die Subjektivität der ihn bedrängenden Tatsache, und im Deutschen übernimmt gewöhnlich das Wort »ich« diese Signalfunktion. Ich hätte auch ein anderer sein können als Hermann Schmitz, denn diesem steht es nicht an der Stirn geschrieben, dass ich er bin; nichts in dem, was er ist, gestattet einen Schluss darauf. Da ich nun aber tatsächlich Hermann Schmitz bin, indem alle Fälle von Gattungen, die er zusammenfasst, auf das absolut Identische, das ich bin, zutreffen und mich dadurch zu einem Einzelnen machen, sind alle Bestimmungen des Hermann Schmitz als 53 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Subjektivität

etwas auch meine Bestimmungen und umgekehrt. Das hat eine bemerkenswerte Folge. Die Bestimmungen des Hermann Schmitz, abgesehen davon, dass ich er bin, ergeben sämtlich objektive oder neutrale Tatsachen; die Bestimmungen meines affektiven Betroffenseins ergeben für mich subjektive Tatsachen, und in diesem Bereich stimmen beide Sorten von Tatsachen überein. Sie betreffen genau dieselben Ereignisse, Zustände, Neigungen meines affektiven Betroffenseins. Durch die Subjektivität oder Neutralität der Tatsachen kommen keine weiteren Züge hinzu und entfallen keine. Der Unterschied kann also nicht am Inhalt liegen. Das gilt sogar für das Nahegehen, das Spezifische des affektiven Betroffenseins. Das Nahegehen, das nur ich von mir aussagen kann, weil es eine für mich subjektive Tatsache ist, hat sein Spiegelbild in dem Nahegehen, das der Mitmensch von mir etwa mit den Worten aussagt: »Dem Hermann Schmitz geht das nahe.« Das ist jedoch nicht mehr jenes Nahegehen, das volle. Wo liegt der Unterschied? Da er nicht den Inhalt betrifft, kann er nur an der Tatsächlichkeit liegen. Die Tatsächlichkeit der objektiven Tatsachen ist der intensiveren, gleichsam blut- und lebensvolleren Tatsächlichkeit der für jemand subjektiven Tatsachen nicht gewachsen. In ihrem Licht ist das Nahegehen blasser. Man muss also außer vielen Tatsachen, die jeder zugeben wird, auch viele Tatsächlichkeiten unterscheiden, nämlich für jeden Bewussthaber eine Tatsächlichkeit der für ihn subjektiven Tatsachen und für alle zusammen eine gemeinsame objektive oder neutrale Tatsächlichkeit, die durch Abfallen der Subjektivitäten entsteht. Von den Tatsächlichkeiten her werden die Ereignisse und Zustände mitbestimmt, in der Weise, dass sie, trotz sonst gleicher Inhalte, beim Übergang von der subjektiven Tatsächlichkeit zur bloß noch objektiven (oder neutralen) eine Abschwächung oder Abblassung erleiden. In dieser Weise regieren die Tatsachen über Ereignisse und Zustände. Wie das zu verstehen ist, will ich an einer Reflexion aus dem 11. Kapitel des 2. Buches von Goethes Roman Wilhelm Meisters 54 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Wanderjahre verdeutlichen. Das Kapitel ist ein langer Brief, den Wilhelm seiner Frau Natalie schreibt, um ihr seinen Entschluss, Wundarzt zu werden, beizubringen. Unter anderen Abschweifungen erzählt er von einer Landpartie, die er als Knabe mitmachte, als seine Familie einen befreundeten Pfarrer vor der Stadt besuchte. Er freundete sich dort mit einem Fischerjungen an, durchstreifte an der Hand der hübschen und sympathischen Pfarrerstochter den blühenden Garten und musste bald darauf erfahren, dass der neue Freund bei einer Rettungsaktion in einem Fluss ertrunken war. Vor dieser Enttäuschung schiebt er in den Brief folgende Reflexion ein: »Betracht ich nach so vielen Jahren meinen damaligen Zustand, so scheint er mir wirklich beneidenswert. Unerwartet, in demselbigen Augenblick, ergriff mich das Vorgefühl von Freundschaft und Liebe. Denn als ich ungern Abschied nahm von dem schönen Kinde, tröstete mich der Gedanke, die Gefühle meinem jungen Freunde zu eröffnen, zu vertrauen und seiner Teilnahme zugleich mit diesen frischen Empfindungen mich zu freuen. Und wenn ich hier noch eine Betrachtung anknüpfe, so darf ich wohl bekennen, dass im Laufe des Lebens mir jenes erste Aufblühen der Außenwelt als die eigentliche Originalnatur vorkam, gegen die alles übrige, was uns nachher zu den Sinnen kommt, zur Kopien zu sein scheinen, die bei aller Annäherung an jenes doch des eigentlich ursprünglichen Geistes und Sinnes ermangeln. Wie müssten wir verzweifeln, das Äußere so kalt, so leblos zu erblicken, wenn nicht in unserm Innern sich etwas entwickelte, das auf eine ganz andere Weise die Natur verherrlicht, indem es uns selbst in ihr zu verschönen eine schöpferische Kraft erweist.« Das Vertrauen in die Selbstkultivierung im Inneren, eine typische Attitüde der Goethezeit, übergehe ich. Die davorstehenden Bemerkungen verstehe ich so, dass die von lebhafter Subjektivität der Tatsachen des affektiven Betroffenseins erfüllten Erlebnisse eines Knaben bei der ersten Begegnung mit den großen Glückverheißungen des Lebens, Liebe und Freundschaft, sowie anderen Anlässen der intensiveren Tatsächlichkeit dieser Tatsachen den Glanz un55 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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geschmälerter Echtheit verleihen, der später verlorengeht, wenn das Leben zwar vielseitiger, aber sachlicher wird und die mattere Tatsächlichkeit neutraler Tatsachen die Oberhand gewinnt. Noch erstaunlicher wird die Gleichläufigkeit subjektiver und objektiver Tatsachen im Gebiet des affektiven Betroffenseins, weil man aus ihr folgern muss, dass die subjektiven Tatsachen von den objektiven her unerreichbar sind, in folgendem Sinn: Durch keinen Zusatz irgend welcher Bestimmungen von etwas als etwas, durch keinen Zug, der in die objektiven Tatsachen eingeht und in deren redender Darstellung vorkommt, kann man von den objektiven Tatsachen zu den subjektiven gelangen, indem durch einen solchen Zusatz eine objektive Tatsache zur für jemand subjektiven würde. Wegen der besprochenen Gleichläufigkeit hat jeder Zug an der objektiven Tatsache ja seine Entsprechung an der zugehörigen subjektiven und umgekehrt, so dass die Tatsächlichkeiten sich im Inhalt nicht überschneiden können. Insbesondere eine Kausalität, mit der objektive Tatsachen subjektive Tatsachen als ihre Wirkung aus sich entließen, wird dadurch ausgeschlossen. Es gibt einen Abstieg von subjektiven Tatsachen zu bloß noch objektiven durch Versachlichung und Neutralisierung, durch Abschälung oder Abfall der Subjektivität für jemand. Einen entsprechenden Aufbau subjektiver Tatsachen aus objektiven gibt es nicht. Wohl kann im Laufe des Lebens eine objektive Tatsache an jemand so angeeignet werden, dass sie für ihn subjektiv wird. Sie ist dann aber auf die Ebene der Subjektivität angehoben und nicht von unten, durch einen Brückenbau im Bereich objektiver Tatsachen, angeschoben worden. Nun endlich kann ich mein Versprechen einlösen, aus dem affektiven Betroffensein den Beweis zu führen, dass Sachverhalte und Tatsachen Gegenstände eigener Art und nicht auf angeblich konkrete Gegenstände wie Dinge, Ereignisse oder Zustände reduzierbar sind. Dieselben Gegenstände, die angeblich konkreter und als Basis der Reduktion geeignet sind, kommen mit demselben Inhalt in verschiedenen Tatsächlichkeiten vor, aber 56 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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mit verschiedener Tönung durch diese, einmal dank der dem vollen affektiven Betroffensein gewachsenen Tatsächlichkeit der subjektiven Tatsachen, das andere Mal mit der dafür nicht ganz ausreichenden abgeblassten Tatsächlichkeit der objektiven. Dieser Unterschied der Tatsächlichkeit kann nicht vom Inhalt bestimmt werden, denn der ist ja gleich auf beiden Ebenen und umfasst jene vermeintlich konkreteren Basen der Reduktion. Die Tatsächlichkeit der Tatsachen wird also nicht vom Inhalt bestimmt. Dann können die Tatsachen selbst nicht so etwas wie Umschreibungen oder Metaphern sein, die sich bei näherem Zusehen in jene Basen zurückübersetzen lassen. Sie sind als Gegenstände eigener Art legitimiert. Was ich von Tatsachen gesagt habe, lässt sich auf Bedeutungen anderer Art übertragen. Mit dem Wort »Bedeutung« bezeichne ich, mangels eines besser passenden Namens, ausschließlich Tatsachen, untatsächliche Sachverhalte, Programme und Probleme. Der Unterschied von Subjektivität und Neutralität (Objektivität) lässt sich zwanglos von den Tatsachen des affektiven Betroffenseins auf die übrigen Bedeutungen übertragen. So ist z. B. der Schlachtplan für die verantwortlichen Offiziere vor der Schlacht ein subjektives Programm (ein Wunsch, der in Erfüllung gehen möge), bei kritischem Stand der Schlacht eine Sorge, ein subjektives Problem. (Man darf, wenn man vom Militär zurückschreckt, auch an einen demokratischen Wahlkampf denken.) Für den nüchtern registrierenden Historiker, noch mehr für den Geschichtslehrer, der, (mit seiner Klasse) vielleicht gelangweilt, vom Gang der Schlacht erzählt, wird daraus ein bloß noch objektives Programm bzw. Problem. Bloß bei den untatsächlichen Sachverhalten muss man einen Unterschied machen. Viele davon sind für jemand subjektiv, etwa die von Hoffnung oder Furcht erfüllten Illusionen. Andere untatsächliche Sachverhalte, z. B. die verspielt oder zur Täuschung eingesetzten oder in Abwägungen während nüchterner Planung eingeschobenen, entbehren des affektiven Betroffenseins und damit der Chance, Neutralität durch Subjektivität zu überholen. 57 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Subjektivität

1.2 Freiheit Die wichtigste Anwendung der Einsicht in die Sonderstellung der für jemand subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins betrifft das Problem der Freiheit im Sinne eines nichttrivialen Äquivalents sittlicher (d. h. moralischer) Verantwortung, die Frage, ob und in welchem Sinn es solche Freiheit und damit sittliche Verantwortung gibt. Die Philosophen streiten darüber seit Jahrtausenden in endlosen Debatten über das Stattfinden oder Fehlen von Willensfreiheit, ohne einer alle Parteien befriedigenden Entscheidung auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein. Dabei handelt es sich keineswegs um einen Luxus der Spekulation, sondern um die brennendste Berührungsstelle des philosophischen Nachdenkens mit den Bedürfnissen des täglichen Lebens aller Menschen. 10 Mit den Konsequenzen der von Neurowissenschaftlern, Positivisten, Materialisten und analytischen Philosophen längst und neuerdings wieder aggressiv geforderten Abschaffung des Glaubens an solche Freiheit konfrontiert den Leser Barbara Guckes: 11 »Ein großer Teil unseres Gefühlslebens beruht darauf, dass wir oder andere für das, was wir tun, verantwortlich sind; nur unter der Voraussetzung, dass Verantwortung zuzuschreiben ist, halten wir Schuldgefühle, Gefühle des Stolzes, Versagungsgefühle, Dankbarkeitsgefühle, Selbstvorwürfe etc. für angemessen.« 12 Ich füge Übelnehmen und Verzeihen hinzu. Nach der Preisgabe solcher Einstellungen bleibt von der Moral nach Guckes nur noch so etwas wie eine ästhetische Beurteilung als Wohlgefallen oder Missfallen am moralischen Verhalten übrig, wie an Schönheit oder Hässlichkeit, für die der so Begabte, wenn sie ihm von Natur gegeben sind, auch keine Verantwortung trägt. Mit dieser Vgl. dazu das 1. Kapitel »Die aktuelle Herausforderung« meines Buches Freiheit, Freiburg 2007, S. 11–20 11 Barbara Guckes, Ist Freiheit eine Illusion?, Paderborn 2003 12 S. 209 10

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Haltung kommt man dann aber nicht aus. Die Bilder einer Ausstellung hängen an der Wand. Die Mitmenschen bleiben aber nicht irgendwie hängen, sondern kommen einem aggressiv und nicht selten gefährlich in die Quere. Solange man an ihre moralische Verantwortung appellieren kann, gibt es eine Ebene der von ihren zufälligen Motiven unabhängigen Solidarität, auf die man vermutungsweise Vertrauen setzen kann, so dass man die Anderen bestärken, ermahnen, korrigieren kann. Wenn diese Ebene entfällt, bleibt nur die Anpassung an die jeweils stärksten impulsiven Koalitionen, um sich vor den Anderen wie vor Raubtieren zu schützen. Der Krieg aller gegen alle (Hobbes) kehrt in Gestalt von Massenschlachten zurück. Ganz praktisch wird die moralische Zurechenbarkeit bei der Beurteilung der Schuld im Strafrecht. Führende Gehirnforscher wie Gerhard Roth und Wolf Singer plädieren für Nachsicht mit dem Straftäter, der dem Richter vorhalten könne: »Ich habe keine Schuld, denn ich konnte nicht anders, meine Gene, meine Nerven und dgl. bestimmten mein Verhalten.« Die angemessene Antwort des Richters wäre: »Ich kann gar nicht anders, als dich zum Tode oder zur Haft usw. zu verurteilen, denn mein Gehirn oder dgl. bestimmt mich dazu.« Auf diese Retorsion sind Roth, Singer und ihresgleichen noch nicht gekommen. Aus diesem Pakt beiderseitiger Resignation befreit nur der Glaube an sittliche Freiheit. Hier greift die Philosophie tatsächlich direkt ins Leben ein. Es ist also eine höchst dringliche praktische Aufgabe, mit der Problematik solcher Freiheit weiter zu kommen, als es der einschlägigen Erörterung seit Jahrtausenden gelungen ist. Die Entdeckung der subjektiven Tatsachen weist meiner Vermutung nach den Weg zu diesem Erfolg. Der Grundfehler, der das Stocken vor dem Freiheitsproblem in einem Stellungskrieg der Befürworter und Gegner von Willensfreiheit verschuldet hat, besteht meines Erachtens darin, dass man die moralische Freiheit, gut oder böse zu sein, bisher im Gebiet der objektiven Tatsachen gesucht hat, wo sie nicht zu finden ist, und nebenbei darin, dass man sich dabei auf den Willen und dessen eventuelle 59 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Freiheit kapriziert hat, während der Sitz der moralischen Verantwortung vielmehr die Gesinnung als die aktive Seite des affektiven Betroffenseins ist. Um mich darüber verständlich zu machen, muss ich auf dessen Struktur zurückkommen. Man darf sie sich nicht zur passiv vorstellen. Gewiss, der Mensch (das Tier) wird von einer ihn (es) ergreifenden oder berührenden Macht heimgesucht, aber das genügt nicht, um ihn empfindlich sich selbst, als den so Betroffenen oder Herausgeforderten, spüren zu lassen. Bloße Passivität des Erleidens wäre eine Nachgiebigkeit, durch die niemand zu sich selbst kommt. Der Betroffene muss von sich aus etwas einsetzen, auf das, was ihn betrifft, gleichsam zugehen, um sich als er selbst im Betroffensein abzuheben und sich nicht einfach darunter wegzuducken. Zum affektiven Betroffensein gehört daher auch eine aktive Stellungnahme, die an der Wurzel – schon beim Tier, wenn es etwa stutzt oder erschrickt – unbeliebige Selbstverstrickung ist, etwa in Gestalt der mit in Angst erfahrener Bedrohung als von Anfang an dazu gehörige Abwehrhaltung, die sich in Flucht oder Angriff (oder auch in Totstellreaktion) äußern kann. Das ist eine elementare Form der Gesinnung, der aktiven Seite des affektiven Betroffenseins. Bei menschlichen Personen ragt sie über die fortbestehende unbeliebige Selbstverstrickung hinaus in den Bereich des Regulierbaren hinein. Scheler versieht sie dann mit dem Kunstausdruck »Funktionalqualität des Fühlens«. 13 Ebenso wie den Schmerz kann man z. B. den Hunger in vielfältiger Gesinnung mitmachen, z. B. mürrisch, geduldig, jammervoll oder aggressiv. Das Entsprechende gilt in allen Weisen des affektiven Betroffenseins. Ein Lichtblick in Nicolai Hartmanns sonst unzulänglicher Theorie der für Verantwortung erforderlichen FreiMax Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Auflage Bern 1954 (Gesammelte Werke Band 2), S. 270: »Es sind vielmehr wechselnde Tatbestände, wenn ich jenen Schmerz ›leide‹, ihn ›ertrage‹, ihn ›dulde‹, ihn eventuell sogar ›genieße‹. Was hier in der Funktionalqualität des Fühlens variiert (auch z. B. noch graduell variieren kann), ist sicher nicht der Schmerzzustand.«

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heit 14 ist die dort kurzfristig aufblitzende Einsicht, dass nicht erst der Wille, sondern tiefer schon die Gesinnung der Sitz solcher Freiheit ist. 15 In der Tat gibt es sittliche Verantwortung für üble Gesinnung ohne Betätigung des Willens wie Schadenfreude, neidische Herabsetzung, Spaß, der mit fremdem Elend getrieben wird, und ganz besonders bei unbewusster Fahrlässigkeit, von der noch die Rede sein wird. Wie unentbehrlich die Gesinnung für das affektive Betroffensein ist, zeigt sich, wenn sie einmal ausfällt. Das geschieht bei der Bälz’schen Emotionslähmung, die zuerst Erwin Bälz von seinem Erleben eines Erdbebens in Japan beschrieben hat. In Katastrophensituationen höchster Lebensgefahr – wie Erdbeben, Flugzeugabsturz, Fallen von der Leiter, feindliches Bombardement, Anfall eines Löwen – wird das affektive Betroffensein überfordert. Seine Aktivität, die Gesinnung, ist der erlittenen Bedrängnis nicht mehr gewachsen und setzt aus. Der Mensch steht wie unbeteiligt neben dem entsetzlichen und/oder bedrohlichen Geschehen. Sein Verstand, seine Beobachtung sind noch hell wach, aber der Affekt ist erloschen. 16 Dieser Ausfall endet nach überstandener Gefahr typischerweise in einem Anfall hemmungslosen (»metekritischen« 17 ) Lachens, einer ausgleichenden Überreaktion. Die aktive Gesinnung ist nicht etwa eine nachträgliche ReNicolai Hartmann, Ethik, 3. Auflage Berlin 1949, Dritter Teil (S. 621– 821): Das Problem der Willensfreiheit 15 S. 622: »Man sieht hierbei freilich sogleich, dass der Ausdruck ›Willensfreiheit‹ zu eng ist. Die sittlichen Werte haften ja keineswegs den Willensphänomenen allein an. Der Titelbegriff der Willensfreiheit, durch den ein ganzer Problemkomplex benannt ist, reicht gut zu für eine bloße Sollens- und Zweckethik. In einer solchen sind Handlung und Wille die Grundphänomene. Aber schon in der Gesinnung, noch ganz diesseits alles eigentlichen Wollens, gibt es Entscheidung und Stellungnahme.« 16 Hermann Schmitz, Freiheit, Freiburg 2007, S. 66–69; weitere Zeugnisse: System der Philosophie Band III Teil 2: Der Gefühlsraum, zuerst Bonn 1969, S. 95 f., Anmerkung 155 und S. 288 (mit Anmerkung 650) 17 System der Philosophie Band IV: Die Person, zuerst 1980, S. 120 14

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aktion auf das passive affektive Erleiden, sondern von vornherein in dieses verwoben; sonst käme es gar nicht zu affektivem Betroffensein. Dies gilt schon für ihre primitive, noch ganz unwillkürliche Urform, etwa die leibliche Angst der bedrohten Tiere und Menschen. Wenn in dieser Angst nicht von vornherein die Gesinnung der Abwehr enthalten wäre, der Impuls »Weg!« in irgendeiner Form (und sei es der Totstellreaktion als Abtauchen aus der Situation), käme es gar nicht zu affektivem Betroffensein von Bedrohung, sondern das Geschehen würde gelassen hingenommen. Aus dieser unlöslichen Eingewobenheit der Aktivität in das passive Betroffensein gewinnt das affektive Betroffensein einen reflexiven Zug: Mit dem passiven Betroffensein, in dieses eingewoben, kommt die eigene Aktivität der Gesinnung dem Betroffenen nahe, berührt oder ergreift ihn, weckt seine Subjektivität, lässt ihn sich selbst spüren. Diese Behauptung ist allerdings einem Zweifel ausgesetzt. Man kann fragen: Wie ist es möglich, dass die Gesinnung als Stellungnahme zu einem Betroffensein von vornherein dazugehört? Der Stellungnahme, sich auf das Betroffensein irgendwie einzulassen, muss dieses doch schon vorliegen, damit man einen Anhaltspunkt dafür hat, worauf man sich einlässt. Dann ist die Gesinnung aber erst nachträglich, als Reaktion, möglich. Dieser Einwand rechnet nicht mit dem Unterschied zwischen Verhältnissen und Beziehungen. Worum es sich handelt, wurde in der Vorrede skizziert und wird im nächsten Kapitel ausgeführt. Beziehungen sind gerichtet, eventuell durch Zwischenglieder: von einem Referens, das sich auf etwas bezieht, auf ein Relat, worauf es sich bezieht. Verhältnisse sind ungerichtet. Alle Beziehungen entstehen durch Spaltung von Verhältnissen, wie ihre universelle Umkehrbarkeit auf der Grundlage eines gegen Richtungen gleichgültigen Verhältnisses erweist. Es gibt aber auch unspaltbare Verhältnisse. Ein unspaltbares Verhältnis besteht zwischen der aktiven und der passiven Seite des affektiven Betroffenseins. Dabei spielt die Reihenfolge der Teilnehmer keine Rolle. Nur für gerichtete Beziehungen ist sie wichtig. Das Referens geht 62 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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dem Relat voraus, wenn auch nicht zeitlich, so doch im Aufbau der Beziehung. Das zeigt sich daran, dass ohne ein Referens, das wirklich da ist, gar keine Beziehung zu Stande kommt, während das Relat oft nicht ist (z. B. bei Beziehungen des Fürchtens, Hoffens, Planens, Erwartens, Phantasierens). Deswegen muss die der Beziehung immanente Reihenfolge vorliegen, ehe eine weitere Beziehung als Reaktion anknüpft. Man kann nicht in eine Stellung nehmende Beziehung zum Wirken einer erlittenen Macht treten, ehe das Wirken dieser Macht beim Erleiden angekommen ist. In ungerichteten Verhältnissen entfällt diese Reihenfolge. Die Teilnehmer sind mit einem Schlag zusammen. So verhält es sich im affektiven Betroffensein. Erleiden und Tun, Passivität und darauf eingehende Aktivität (Gesinnung) stehen sich nicht als zwei sich ergänzende, konverse Beziehungen gegenüber, sondern greifen in unspaltbarem Verhältnis in einander. Die nachgewiesene Reflexivität der Gesinnung im affektiven Betroffensein ist für die Behandlung des Freiheitsproblems von unschätzbarem Wert, weil sie einen Weg aufzeigt, auf dem ein berüchtigtes Dilemma umgangen werden kann. Es handelt sich um Bedingungen für die Steuerung, denen eine Freiheit genügen muss, wenn sie für sittliche Verantwortung ausreichen soll. Das freie Verhalten bedarf der Unabhängigkeit; es darf nicht durch eine fremde, der Urheberschaft des Freien entzogene, Macht gesteuert werden. Macht ist nach meiner wiederholten Definition Steuerungsfähigkeit, d. h. das Vermögen, einen Vorrat beweglicher Sachen (im weitestmöglichen Sinn, der z. B. auch Gefühle umfasst) in Bewegung (in ebenso weitem Sinn) zu setzen, die Bewegung im Verlauf zu führen und anzuhalten, sowie ein Inhaber solcher Fähigkeit. Andererseits darf das freie Verhalten aber auch nicht ungesteuert sein; dann ergäbe sich ein zufälliges Ereignis, für das niemand die Verantwortung tragen könnte. Man sieht leicht, dass zwischen Fremdsteuerung (Determinismus) und Ungesteuertheit (Indeterminismus) eine dritte Möglichkeit offen bleibt, die Selbststeuerung. Eine Konkretisie63 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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rung dieser Aussicht könnte die Reflexivität der aktiven Gesinnung im affektiven Betroffensein sein. Natürlich nicht so, dass die Gesinnung direkt und absolut sich selbst bestimmt. Sie kann das nur indirekt leisten, als Teilnehmer in unspaltbarem Verhältnis eingewebt in die Macht, deren Eingriff dem affektiv Betroffenen nahe geht. Aber dabei hat sie die entscheidende Funktion, dessen Subjektivität zu wecken, so dass er im Betroffensein sich selbst zu spüren vermag. Es hat sich ja herausgestellt, dass das bloß passive Betroffenwerden dafür nicht zureichen würde. Deswegen ist es trotz der Vermittlung durch dieses nicht abwegig, anzunehmen, dass die reflexive Zuwendung der Gesinnung zu sich im aktiv-passiven Kreisprozess des affektiven Betroffenseins zur Selbststeuerung und Selbstbestimmung ausreicht. Nach diesen Vorbereitungen komme ich zum Freiheitsproblem selbst, im Besonderen zur Problematik der Verantwortungsfreiheit. Herauszufinden ist, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit jemand mit sittlicher Verantwortung beladen werden kann, ohne sich herausreden zu können, ihm habe die Freiheit gefehlt, das Geforderte zu tun. Die erste Aufgabe, einen präzisen Begriff der Verantwortung anzugeben, löse ich so: Verantwortung eines Subjekts S für eine Tatsache T vor einem Normensystem N (in so weitem Sinn von »System«, dass auch nichtnumerisches Mannigfaltiges als Inhalt in Betracht kommt) ist die Tatsache, dass es nur auf das Verhältnis von T zu N (ob T N mehr oder weniger oder gar nicht genügt) dafür ankommt, ob S für T vor N Lob oder Tadel verdient. Wenn N ein System moralischer Normen ist, handelt es sich um moralische oder sittliche Verantwortung. Meine nächste Aufgabe soll darin bestehen, die für sittliche Verantwortung erforderliche Freiheit (kurz: die Verantwortungsfreiheit) gegen zwei andere Typen von Freiheit abzugrenzen, nämlich von der Freiheit des Beliebens und der Wahlfreiheit. Zur Freiheit des Beliebens rechne ich jegliche Freiheit von vermeidbarem Zwang, z. B. bei körperlicher Bewegung, im bürgerlichen und praktischen Leben. Diese Freiheit ist für die beiden anderen Freiheiten sicher nicht zurei64 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Freiheit

chend, denn sie kommt schon den Tieren zu, die sich in freier Wildbahn ohne vermeidbaren Zwang, d. h. ohne eine dem eigenen Streben unwiderstehlich entgegenstehende Gewalt, bewegen können, aber weder wählen noch sittliche Verantwortung tragen. Sie ist auch weder für Wahlfähigkeit noch für Verantwortungsfähigkeit zureichend, da kein Zwang dem Verantwortlichen die Chance abnehmen kann, sich damit abzufinden oder dagegen aufzubegehren, falls dies gefordert wird, und dem Wählenden immer noch diese beiden Möglichkeiten offenstehen. Die Freiheit des Beliebens kann also als irrelevant für die folgenden Fragestellungen beiseite gelassen werden. Etwas sorgfältiger werde ich mich mit der Freiheit des Wählens beschäftigen, da ihre Abgrenzung von der Verantwortungsfreiheit wichtiger und schwieriger ist und manche merkwürdigen Aufschlüsse zu bieten hat. Wählen besteht darin, in der Überzeugung von mehreren Möglichkeiten eigenen Verhaltens angesichts einer Herausforderung sich wissentlich darauf zu beschränken, von diesen Möglichkeiten nicht alle, sondern nur einige, meist nur eine einzige, zu verwirklichen. Das Wählenkönnen wird zum Anderskönnen, wenn die Überzeugung wahr und die Selbstbeschränkung nicht fremdgesteuert ist. Keineswegs genügt zum Anderskönnen der Vorrat mehrerer Möglichkeiten, sich so oder auch anders zu verhalten. Man muss auch davon wissen und darf nicht so irritiert, schwankend und unsicher sein, dass die Kraft zur wissentlichen Selbstbeschränkung fehlt. Wer fremdgesteuert ist, hat gar nicht mehrere Möglichkeiten bei gegebenem Anlass. Die Selbstbeschränkung kann auf viele Weisen determiniert sein (gesteuert werden), was einen Spielraum der Spontaneität nicht auszuschließen braucht; auf eigene Initiative kommt es nicht so an wie bei der Verantwortungsfreiheit. Wenn einsichtige Gründe die Wahl determinieren, entsteht rationales Verhalten. Die Wahlfreiheit (d. h. Fähigkeit zu wählen) ist nicht zureichend für Verantwortungsfreiheit, denn es gibt unzählig viele Wahlen, die den Wählenden keineswegs mit sittlicher Verantwortung belasten; ob sie dafür notwendig ist, wie es der herr65 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Subjektivität

schenden Meinung entspricht, die Wahlfreiheit und Verantwortungsfreiheit unter dem Titel der Willensfreiheit zusammenwirft, wird sich zeigen. Um nun die Ansprüche zu ermitteln, denen eine Freiheit genügen muss, um den Freien mit sittlicher Verantwortung zu beladen, ist ein objektivierbarer Maßstab erforderlich, damit nicht das privative Belieben des jeweiligen Interpreten den Ausschlag gibt. Als Maßstab wähle ich das in der gegenwärtigen Zivilisation, die man die »westliche« nennt – mindestens in Europa und den englischsprachigen Ländern über See ist sie verbreitet und greift auf die gesamte Erde über –, normale sittliche Verantwortungsbewusstsein. Um dieses zu ermitteln, halte ich mich aber nicht an die Überzeugungen der Leute, die ihnen aus fragwürdigen Quellen zugekommen sein mögen, sondern an ihre tiefer verwurzelten und daher zuverlässigeren spontanen Beurteilungen kritischer Fälle. Daran lese ich ab, dass wenigstens die folgenden drei Merkmale zur Verantwortungsfreiheit gehören: 1.

2.

3.

Unabhängigkeit des freien Verhaltens, das nicht fremdgesteuert sein darf. Andernfalls bleibt dem Betroffenen immer die Ausrede: Ich habe keine Verantwortung für mein Verhalten, denn dieses war mir von einer Macht, deren ich nicht mächtig war, auferlegt. Eigene Initiative in dem Sinn, dass der Freie selbst Urheber seines Verhaltens ist. Fremde Urheberschaft wird schon durch die Unabhängigkeit ausgeschlossen; die zweite Bedingung schließt zusätzlich die Urheberschaftslosigkeit aus. Rechenschaftsfähigkeit des freien Verhaltens in dem Sinn, dass der Freie bei seinem Verhalten die Fähigkeit hat, die relevanten Umstände und die moralischen Normen, denen es untersteht, zu kennen und sich klar zu machen. Andernfalls weiß er nicht, was er moralisch tut oder lässt. Weil den Tieren diese Rechenschaft fehlt, halten wir sie für moralisch unverantwortlich, ebenso die sehr kleinen Kinder.

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Freiheit

Nun fragt sich aber, wie sich die Verantwortungsfreiheit zur Wahlfreiheit verhält. Die herrschende Meinung bejaht, dass diese ein unentbehrlicher Bestandteil jener sei. Das sie vom normalen sittlichen Verantwortungsbewusstsein widerlegt wird, ergibt sich aus zwei Beobachtungen von Fällen, in denen nach dessen Maßgabe sittliche Verantwortung ohne die Möglichkeit des Wählens besteht: 1.

2.

Spontane Reaktionen: Wer bei einer plötzlichen, unerwarteten Gefahr entweder beherzt, tapfer und unerschütterlich als Helfer und Retter zupackt oder sich als Feigling duckt und wegläuft, obwohl er die Kraft hätte, die Lage zu meistern, wird verantwortlich gemacht und je nach dem mit sittlichem Lob oder sittlichem Tadel bedacht, obwohl er keine Zeit zum Wählen hatte. 18 unbewusste Fahrlässigkeit: Ich wähle ein Beispiel: Eine Mutter genießt an einem schönen Sommertag am Strand oder auf einer Wiese die Sonnenwärme und vergisst darüber ihr Kind, das beim Spielen ins Wasser fällt und ertrinkt. Diese Frau konnte nicht wählen, denn sie hatte sich die mehreren Möglichkeiten ihres Verhaltens zu den Gefahren des Wassers für das Kind nicht klar gemacht und konnte sich daher auch nicht in der Überzeugung von ihnen wissentlich darauf beschränken, nur die eine oder andere von diesen Möglichkeiten, nämlich solche, die dem Schaden tunlichst vorgebeugt hätten, zu verwirklichen. Trotzdem

In einem Aufsatz über »den Fall Tugce«, einer jungen Türkin, die (nach dem ersten Anschein) von einem Verbrecher ermordet wurde, nachdem sie ihn von einem anderen Opfer abgehalten hatte, von Karin Truscheit in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9. Dezember 2014, S. 7, lese ich: »Menschen, die für andere einstehen, zumal, wenn sie sich selbst in Gefahr bringen, handelten ›zutiefst moralisch‹, sagt Herbert Scheithauer, Professor für Entwicklungspsychologie an der Freien Universität Berlin. (…) In Studien, in denen Helfer zu ihren Gründen befragt würden, sagten diese häufig: ›Da habe ich gar nicht darüber nachgedacht.‹ Aufgrund ihrer Moralvorstellungen zeigten die Personen somit automatisiertes Verhalten.«

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Subjektivität

wird sie sich, wenn sie ein normales Gewissen hat, bittere Vorwürfe machen und zudem sittlichen Tadel auf sich ziehen. Ihr ist aber kein Willensmangel vorzuwerfen, denn sie hat bezüglich der relevanten Alternative nichts gewollt; es handelt sich vielmehr um einen Mangel geforderter Sorgfalt, einen Makel der Gesinnung wie bei allen solchen schuldhaften Vorkommnissen. Es ginge zu weit, diesen Makel auf frühere Willensmängel zurückzuführen, etwa, dass die Frau sich nicht genügend willentlich in Sorgfalt geübt hat. Das käme nur gegen besonders leichtsinnige Personen in Betracht, aber es wäre vermessen, nur bei solchen ein solches Versagen für möglich zu halten. Die beiden Beispiele zeigen, dass nach Maßgabe des normalen sittlichen Verantwortungsbewusstseins Wahlfreiheit nicht für Verantwortungsfreiheit notwendig ist. Sie ist dafür, wie gesagt, auch nicht zureichend, also überflüssig, obwohl sich beide Freiheiten oft überschneiden; im Normalfall ziehen gerade Wahlen sittliches Lob und sittlichen Tadel auf sich. Hieraus ergibt sich, entgegen einem weit verbreiteten, z. B. vom Bundesgerichtshof mit Pathos dem Schuldvorwurf zu Grunde gelegten 19 Vorurteil, dass auch Anderskönnen nicht zur Verantwortungsfreiheit gehört, denn es ist ja gemäß der vorgelegten Analyse Wahlfreiheit mit Erfüllung zweier zusätzlicher Bedingungen. Auf Wahlfreiheit und Anderskönnen braucht bei der Aufzählung der Ansprüche an Verantwortungsfreiheit keine Rücksicht mehr genommen zu werden. Aufschlussreich ist gleichwohl der Vergleich zwischen Verantwortungsfreiheit und Wahlfreiheit, und zwar bezüglich des DeEntscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Band II S. 201: »Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können.«

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Freiheit

terminismus. Dieses Wort hat zwei Bedeutungen, nämlich Determinismus als der Weltzustand, dass alle Ereignisse fremdgesteuert sind, und deterministische Überzeugung, dass es sich so verhält. Diese ist zwar durch meine Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung, die im nächsten Kapitel vorgeführt wird, entkräftet, wird aber noch oft vertreten. Nicht widerlegt ist überdies ein partieller Determinismus bezüglich gewisser Eigenschaften. Zu beiden Wortbedeutungen verhalten beide Freiheitsarten sich umgekehrt. Die Verantwortungsfreiheit verträgt sich mit deterministischer Überzeugung, nicht aber mit einem Determinismus als Weltzustand, wegen der für sittliche Verantwortung geforderten Unabhängigkeit. Dagegen verträgt sich Wahlfreiheit zwar mit Determinismus als Weltzustand, nicht dagegen mit deterministischer Überzeugung. Wählen setzt, wie gesagt, die Überzeugung von mehreren Möglichkeiten eigenen Verhaltens zu einer Herausforderung voraus. Der Determinist kann diese Überzeugung aber gar nicht haben, da er vielmehr glaubt, bei dieser Gelegenheit nur eine einzige Möglichkeit zu haben, nämlich die, zu der er determiniert ist; wären es mehrere, die ihm offen stünden, entfiele die Determination. Ein ehrlicher und konsequenter Determinist kann daher nicht mehr wählen (wählen zu können glauben und sich in diesem Glauben daran machen) und sich daher auch nicht mehr rational verhalten, da rationales Verhalten Wählen aus einsichtigen Gründen ist. Diese Falle stellt sich insbesondere dem Kompatibilismus, der Freiheit (ungeschieden in Verantwortungsfreiheit und Wahlfreiheit) für verträglich mit Determinismus hält. In der analytischen Philosophie ist der Kompatibilismus weit verbreitet. Das ist meines Erachtens nur möglich, weil man unterlassen hat, den Begriff des Wählens zu analysieren (trotz der anspruchsvollen Selbstbezeichnung). Wenn der Kompatibilist auch bei der Verantwortungsfreiheit durchkommen sollte, indem er die Ansprüche an Unabhängigkeit herabsetzt, scheitert er immer noch bei der Wahlfreiheit am Begriff des Wählens. Die beiden ersten Ansprüche an die Verantwortungsfreiheit, 69 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Subjektivität

Unabhängigkeit und eigene Initiative (Urheberschaft), beruhen auf der Kausalität, die eine unentbehrliche, aber wahrscheinlich nie ganz präzisierbare Voraussetzung menschlicher Personen ist, um im Umgang mit ihrer Umgebung leben zu können. 20 Das gilt besonders für die eigene Initiative, das Selber-tunoder-lassen, das unzweifelhaft zur sittlichen Verantwortung gehört. Jemand ist Urheber durch eine Tatsache, die ihm hinlänglich intim – in einem nicht genau umrissenen Sinn des Wortes – zugehört; der Kalkgehalt seiner Knochen reicht sicher nicht dafür aus, ihn mit moralischer Verantwortung zu belasten, wohl aber seine Gesinnung, seine Absichten, sein Eifer usw. Die Tatsache, durch die jemand Ursache ist, hat die Funktion der Ursache eines Effektes. Dass Ursachen als Tatsachen verstanden werden müssen, hat zwei Gründe: erstens den allgemeinen, dass man hinlänglich scharf das, was als Ursache gemeint ist, nur in einer Behauptung formulieren kann, die im Deutschen als Nebensatz mit einer Kausalkonjunktion (»weil«) an die Angabe des Effektes angeknüpft wird; zweitens, im Hinblick auf Verantwortungsfreiheit, den speziellen Grund, dass eine Kausalität der Unterlassung nur mit einer Tatsache als Ursache gedacht werden kann. Ein Gegenstand anderer Art in dieser Funktion (z. B. ein ursächliches Ereignis) fehlt in diesem Fall, weil er unterlassen wird. Ohne Kausalität des Unterlassens bricht aber die Verantwortungsfreiheit ein und die Wahlfreiheit zusammen, jene, weil zu ihr auch die Verantwortung für Fahrlässigkeit (das Unterlassen geschuldeter Sorgfalt) gehört, diese, weil schon das bloß Wählen Kausalität des Unterlassens, gewisse Möglichkeiten zu verwirklichen, impliziert. Wie eng oder weit die Urheberschaft – im Rahmen des immer etwas verschwommen bleibenden Kausalgedankens – zu fassen ist, lässt sich nicht allgemein sagen. Selbstverständlich gehören viele Nebenumstände dazu, dass etwas, das einer selber tut, auch geschieht. Jedenfalls muss der Urheber den Anstoß geben. In der strafrechtlichen Tatbestands20

Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg 2014, S. 128–131

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Freiheit

ermittlung wird die Ursache, mit gewissen Einschränkungen, als notwendige Bedingung verstanden; im Rahmen sittlicher Verantwortung scheint sie dagegen als zureichende Bedingung, die für den vollständigen Effekt allein aufkommt, verstanden werden zu müssen. Das ergibt sich aus der stoischen Maxime, wir seien nur für das moralisch verantwortlich, was bei uns steht; für weitere Folgen in dem uns aus der Hand genommenen Kausalprozess mögen wir haften, aber wir tragen daran keine moralische Schuld. Das eigentliche Problem für Absicherung der Verantwortungsfreiheit gegen den Vorwurf der Undurchführbarkeit wurde schon erwähnt: ihre Unverträglichkeit sowohl mit dem Determinismus der Fremdgesteuertheit als auch mit dem Indeterminismus der Ungesteuertheit. Dagegen wurde dort schon auf die Selbststeuerung als dritte Möglichkeit hingewiesen. Sie scheint in der Gesinnung dadurch verwirklicht zu sein, dass die Gesinnung durch Vermittlung der passiven Seite des affektiven Betroffenseins sich (reflexiv) auf sich selbst bezieht und sich den Anstoß gibt, also die Initiative zu sich selbst hat. Dass sie für sich selbst zureichend ist, ist erstens trivial – alles ist zureichend für sich selbst –, zweitens aber auch in dem nichttrivialen Sinn, dass die Gesinnung als aktive Seite des affektiven Betroffenseins, als Zugehen und Einlassen auf das, was betroffen macht, die Subjektivität erst weckt oder zündet, und damit alle Tatsachen des affektiven Betroffenseins von denen sie selbst, als Tatsache verstanden, eine ist. Selbstverständlich kann sie nicht den Inhalt aller Tatsachen des affektiven Betroffenseins bestimmen, wohl aber sich selbst, da sie ja für sich zureicht. So scheint es, dass die zweite Bedingung für die Verantwortungsfreiheit, die eigene Initiative oder zureichende Urheberschaft, durch die Gesinnung befriedigt werden kann. Die Frage ist aber noch, ob das auch für die erste Bedingung, die Unabhängigkeit, gilt. Die Gesinnung könnte ja im Sinne konkurrierender Kausalität doppelt, nämlich einerseits durch sich selbst und andererseits durch äußere Ursachen, determi71 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Subjektivität

niert sein, so dass ihre Unabhängigkeit an diesen äußeren Ursachen zerbräche. Als Schulbeispiel dient der amerikanische Bauarbeiter Phineas Gage, der dadurch berühmt wurde, dass sich sein Charakter (seine Gesinnung) gründlich änderte (von Zuverlässigkeit zu Leichtsinn und Unberechenbarkeit), nachdem ihm bei einer Explosion eine Eisenstange durch das Stirnhirn geflogen war. So leicht können äußere Umstände die Gesinnung verändern! Prof. Schulte in Köln hat mich darauf hingewiesen. Aber dieser Einwand taugt nichts. Er verkennt die kausale Unerreichbarkeit der so für jemand subjektiven Tatsachen von objektiven Tatsachen her, s. o. 1.1. Die objektive Tatsache, dass Gages Gesinnung durch die Hirnverletzung beeinträchtigt wurde, mag bestehen, sie besagt nichts für die subjektive Tatsache des affektiven Betroffenseins, die allenfalls Gage hätte so formulieren können: »Ich, Phineas, habe leider (oder zum Glück) nach dem Schlag in den Kopf die Gesinnung geändert.« Die äußeren Ursachen, durch die alle Gesinnung überdeterminiert sein könnte, müssten im Fall des Phineas Gage also die Gestalt von Tatsachen seines affektiven Betroffenseins haben, und als solche würde ihm subjektive, integre Tatsächlichkeit durch die Gesinnung selbst gestiftet. Die Gesinnung scheint sich also als geeigneter Kandidat für Verantwortungsfreiheit gegenüber den Einwänden, die vom Determinismus und von Indeterminismus her erhoben werden könnten, zu bewähren; von der dritten Bedingung, der Rechenschaftsfähigkeit, droht ihr nichts. Daher wage ich, als erste These meiner Freiheitslehre, den Satz: Der Mensch ist durch seine Gesinnung für seine Gesinnung sittlich verantwortlich. Das gilt aber nur für rechenschaftsfähige Personen. Dieselbe Eigenschaft, die die Gesinnung zum Träger der Verantwortungsfreiheit qualifiziert, die Reflexivität, das Zusichkommen, disqualifiziert durch ihr Fehlen den Willen. Dieser ist immer über sich hinaus auf ein zu verwirklichendes Ziel gerichtet; er verfolgt jeweils einen Zweck, d. h. ein Programm der Realisierung eines Sachverhaltes zur Tatsache. Kein Wollen will sich selbst. Das 72 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Freiheit

wäre höchstens der Fall bei Schopenhauers fälschlich so benanntem Willen, der vielmehr ein blinder Drang ist, dem niemand Freiheit zusprechen würde. Die herrschende Meinung geht also in die falsche Richtung, wenn sie die zur sittlichen Verantwortung gehörige Freiheit in den Willen verlegt, als Willensfreiheit. Sie hat höchstens insoweit (per accidens) recht, als das Wollen auch (wie Hunger und Durst) affektives Betroffensein ist und also an der Gesinnung teilnimmt. Gewiss kann auch menschliches Wollen mächtige kausale Effekte haben, aber mangels Reflexivität nicht aus eigener Initiative, also nicht mit einer Freiheit, die der Freiheit für moralische Verantwortung gleichkommt. Effekte der Gesinnung, über sich hinaus, dürften ebenso unbestreitbar sein, denn von ihr hängt z. B. ab, wie sehr man sich ins Zeug legt. In diesem Sinn ist das zweite Ergebnis meiner Lehre von der Verantwortungsfreiheit zu verstehen: Nicht das, was der Mensch sich vornimmt, sondern das, was er frisch im Augenblick als Gesinnung in sein affektives Betroffensein einsetzt und damit die Art, wie er als affektiv Betroffener jeweils bei der Sache ist, gibt ihm (auch beim Wählen) kausale Macht aus eigener, unabhängiger Initiative. Mit diesem Satz beende ich die Darstellung des gegenwärtigen Standes meiner Lehre von der Freiheit.

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2. Mannigfaltigkeit

2.1 Fall und Gattung Nachdem Platon ewige Ideen eingeführt hatte – und zwar für jedes Prädikat, das auf mehrere Sachen zutrifft, je eine 21 – tobt der Streit der Philosophen um das Sein oder Nichtsein der Universalien, d. h. derjenigen Gattungen, die mehrere Fälle haben oder haben können, wobei die Gegner versuchen, diese anstößigen »abstrakten Objekte« durch Umdeutung wegzuschaffen. Weil die Aufmerksamkeit ganz dem Seinsrang der Gattungen zugewandt war, blieb das Fallsein unterbelichtet. Zwar gehören Gattung und Fall zusammen, aber die Art dieser Beziehung, wie sie zusammengehören, pflegt nicht viel genauer analysiert zu werden als von Platon im obigen Zitat. Dabei ist für ein Denken, das sich im Leben praktisch durchfinden will, nichts wichtiger als das Vermögen, etwas als Fall von etwas zu verstehen. Zwei der mächtigsten und praktisch wichtigsten institutionellen Systeme der Gesellschaft, Medizin und Rechtspflege, tun fast nichts, als Fälle unter Gattungen zu subsumieren und danach zu handeln. Statt von Gattungen spricht man manchmal lieber von Begriffen. Ich vermeide diesen Wortersatz weil der Sinn des Wortes »Begriff« nicht ganz deutlich ist und zu sehr an menschliche Machenschaften denken lässt. Zwar sind viele Begriffe von Menschen gemacht (z. B. mit Hilfe von Definitionen), aber diese müssen dabei immer auf vorbegriffliche Gattungen als Rohstoff für die Auswahl der künstlich kombinierten Merkmale zurückgreifen. Wilhelm Betz sagt zu den Worten »Staat, Geld, Ehre, VerPlaton, Staat, 596a6 f.: »Wir pflegen jedesmal für alle die vielen Dinge, auf die wir denselben Namen anwenden, eine (…) Idee anzusetzen.«

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Fall und Gattung

kehr, Schönheit, Schande«, jeder kenne das, was damit gemeint ist, und habe die entsprechenden Begriffe, aber kaum einer eine »halbwegs brauchbare Definition dieser Begriffe (…). Das heißt aber, wir kennen diese Begriffe, wir können sie, aber wir wissen nichts oder fast nichts davon.« 22 Man könnte auch sagen: Wir begreifen fast nichts davon. Dann sollte man besser nicht von Begriffen reden, sondern eben von Gattungen, und diese in begriffliche und vorbegriffliche differenzieren. Ich habe früher von Gattungen in einem engeren Sinn gesprochen, im Gegensatz zu den konkreteren Arten und Halbarten. 23 Dieser engere Begriff könnte von dem weiteren, den ich im Folgenden verwende, durch die Rede von abstrakten Gattungen unterschieden werden. Ich will nun also, was Fälle und ihre Gattungen sind, aus ihren Beziehungen zu einander präzisieren, da sie Korrelate sind. Diese Aufgabe drängt sich auf, da in diesem Kapitel oft von Gattungen und ihren Fällen die Rede sein wird. Ehe ich sie aber in Angriff nehme, muss ich eine Einschränkung begründen. Ich werde nicht für alle Bestimmungen, wodurch etwas als etwas bestimmt wird, Gattungen einführen, sondern nur für Attribute. Ein Attribut einer Sache ist eine Bestimmung, die für die absolute Identität der Sache wesentlich ist, in dem Sinn, dass die Sache eine andere wäre, wenn sie dieses Attribut nicht besäße. Daraus folgt, dass jede Sache ihre Attribute notwendig besitzt, denn keine Sache kann, bei Strafe eines Widerspruchs, eine andere Sache als sie selbst sein. Auf diese Notwendigkeit werde ich den Gattungsbegriff aufbauen. Sie besteht allerdings uneingeschränkt nur im Bereich der objektiven Tatsachen. Bei den für einen Bewussthaber subjektiven Tatsachen tritt der Sonderfall ein, dass in keinen Attributen, die ihm objektiv tatsächlich zukommen, ein Grund dafür enthalten ist, dass er gerade Wilhelm Betz, Zur Psychologie der Tiere und Menschen, Leipzig 1927, S. 57 23 System der Philosophie Band IV: Die Person, zuerst Bonn 1986, S. 189– 197, Der unerschöpfliche Gegenstand, zuerst Bonn 1990, S. 85–104 22

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Mannigfaltigkeit

diese Attribute hat, so wie er dank der subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins er selbst ist und sich spürt (1.1). Daher kann man auch nicht ohne Weiteres sagen, dass sie ihm notwendig zukommen. Ich z. B. hätte auch ein anderer sein können als gerade Hermann Schmitz. Da ich aber nun einmal Hermann Schmitz bin, sind dessen Attribute, die ihn durch objektive Tatsachen seiner Bestimmtheit durch sie charakterisieren, notwendig auch die meinigen. Das Entsprechende gilt für jeden Anderen. Der Unterschied, um den es sich handelt, wird hübsch an einem Gespräch deutlich, das Martine und Julian Nida-Rümelin als 9- bzw. 11-jährige Geschwister führten. Martine berichtet: »Erst vor kurzem hatte ich erfahren, dass in der Mutter eine Eizelle heranreift, die auf ihre Befruchtung wartet und sich im Falle eines Falles zu einem Menschen entwickelt. Da stellten sich auf einmal ganz neue Fragen. Eine davon war diese: Was wäre geschehen, wenn meine Mutter nicht (wie ich mir ausgerechnet hatte) im September 1956 schwanger geworden wäre, sondern einen Monat später? Ein Kind mit anderen Anlagen wäre zur Welt gekommen. Vielleicht hätte es schwarze Haare gehabt und wäre weniger dürr gewesen. Aber was wäre mit mir passiert? Wäre ich mit anderen Eigenschaften zur Welt gekommen (vielleicht schwarzgelockt und rundlich) oder hätte ich niemals das Licht der Welt erblickt? Ich frage Julian nach seiner Meinung. Julian scheint sich dumm zu stellen. Er verstehe gar nicht, was ich wissen wolle. (…) Mir erschien es ungeheuerlich, dass Julian mich angeblich nicht verstand. Es erschien mir sogar wie ein Mangel an Bruderliebe, dass er einen Unterschied, der für mich gleichsam der Unterschied zwischen Leben und ewigem Nichts war, zur Nichtigkeit erklärte.« 24 Martine hat ganz recht: Sie hätte auch eine andere sein können. Julian scheint die Notwendigkeit der objektiven Tatsache des Attributbesitzes für Julian Nida-Rümelin, Nicht entfernt, in: Christine und Michael Hauskeller, (Hg.), »… was die Welt im Innersten zusammenhält«, Hamburg 1996, S. 198–203, hier S. 199

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Fall und Gattung

die so bestimmte Sache einzusehen, aber ihm fehlt jedes Verständnis für die Sonderstellung der subjektiven Tatsachen, das seine kleine Schwester ihm leider auch nicht beibringen kann. Die Attribute, die für die Identität einer Sache wesentlich sind, brauchen keine im emphatischen Sinne wesentlichen, besonders wichtigen Eigenschaften zu sein, sondern ebenso gehören ganz geringe Kleinigkeiten dazu, wie die Zahl der Haare auf dem Kopf, oder, ob einer gerade sitzt oder steht. Jede Abweichung in einem Attribut macht es streng genommen falsch, von demselben Menschen zu sprechen. So kann auch keine Sache (z. B. kein Mensch) in einer anderen möglichen Welt als derselbe vorkommen, denn dass er in dieser wirklichen Welt unter diesen Umständen lebt, ist selbst ein Attribut von ihm. Gleichwohl sind nicht alle Bestimmungen, die in wahren Aussagen von einer Sache behauptet werden können, auch ihre Attribute, d. h. wesentlich für ihre Identität. Leibniz nahm das an und begründete darauf seinen Begriff der Identität, den die formale Logik bis heute anstandslos übernommen hat, als Übereinstimmung in allen Bestimmungen. Er irrte und seine Nachfolger irren mit ihm. Es gibt eine Gruppe von Bestimmungen, die Sachen zukommen, aber belanglos für deren Identität sind. Ich bezeichne sie als Existenz-Inductiva und weise sie an Hand der Existenz (des Seins, der Wirklichkeit) nach. Keine Sache existiert notwendig. Sonst wäre es notwendig, dass irgend etwas existiert. Das ist aber nicht notwendig, weil kein Widerspruch sich daraus ergibt, dass gar nichts existiert; das ist nur nicht der Fall. Wenn gar nichts existiert, ist alles gleichmäßig mit Nichtsein belegt, und es gibt keine Doppelbelegung, als ob etwas sein und nicht sein müsste. Also ist Existenz kein Attribut. Das gilt dann aber ebenso für die übrigen Existenz-Inductiva. Ein Existenz-Inductivum einer Sache ist eine Bestimmung, für die aus der Annahme, dass sie Attribut der Sache ist, logisch folgt, dass eine Sache (dieselbe oder eine andere) existiert, einschließlich vergangener oder künftiger Existenz. Da jede Sache ihre Attribute (in objektiver Tatsächlichkeit) notwendig besitzt, wäre in diesem Fall 77 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Mannigfaltigkeit

auch notwendig, dass irgend etwas existiert, eventuell existiert hat oder existieren wird. Das ist aber, wie gesagt, nicht notwendig. Man darf dagegen auch nicht einwenden, dann müsste mindestens die Tatsache existieren, dass nichts existiert. Das wäre dann vielmehr eine Tatsache, die ungeachtet ihrer Tatsächlichkeit nicht existierte. Ich habe diese (nicht verwirklichte) Möglichkeit schon 1980 zur Widerlegung der weit verbreiteten Annahme benützt, dass Tatsachen die existierenden Sachverhalte seien. 25 Existenz-Inductiva sind z. B. außer der Existenz die Wahrheit affirmativer Existenzsätze, die Tatsächlichkeit der entsprechenden Tatsachen, die Erzeugerschaft im Sinn der Leistung, eine Sache aus dem Nichtsein ins Sein zu befördern, ferner Vergangenheit (dessen, was nicht mehr ist), Gegenwart (dessen, was ist in der Weise, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein), geschlossene Zukunft (dessen, was noch nicht ist, aber sein wird). 26 Da die Existenz-Inductiva einer Sache für deren Identität belanglos sind, können sie der Sache ebenso zukommen wie fehlen, ohne dass sich an ihr irgend etwas änderte. Das zeigt sich besonders an der Vergangenheit und der Existenz, zwei Existenz-Inductiven. Die vergangene Sache ist genau dieselbe wie die Sache, als sie gegenwärtig war. Sonst könnte man sich nämlich nicht mehr an diese erinnern, sondern nur noch an eine durch das Vergehen modifizierte Sache. Gleichwohl gehört zur Gegenwart die Existenz, zur Vergangenheit aber das Nichtmehrsein. Wenn man sich an eine Sache erinnert, existiert sie also sowohl als auch nicht, als absolut identisch diese Sache. Das klingt wie ein Widerspruch, ist aber keiner, weil Existenz für die Identität der Sache belanglos ist. Wenn man an der Formulierung Anstoß nimmt, kann man ihn durch eine leichte Änderung der Ausdrucksweise beseitigen und etwa sagen: A existiert, B existiert nicht, und A ist dieselbe Sache wie B. wie Anmerkung 23, S. 552 Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg 2014, S. 149–163: Geschlossene und offene Zukunft

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Fall und Gattung

Eben war von affirmativen Existenzsätzen die Rede, und im Folgenden werden sie wichtig werden. Daher muss ich auf den Versuch Freges eingehen, solchen Sätzen den Sinn zu bestreiten. Den Satz »Julius Caesar existiert« hält er für weder wahr noch falsch, sondern sinnlos. 27 Statt dessen deutet er die Existenz in partikuläre Quantifikation um, die für ein Prädikat p besagt, dass es auf mindestens einen Gegenstand zutrifft. Ein Gegenstand vom Typ p existiert demnach, sobald der Typ (die Gattung, die Eigenschaft, der Begriff) p mindestens einen Fall hat, und ein bestimmter Gegenstand existiert, wenn eine genaue Kennzeichnung dieses Gegenstandes einen Fall hat. Leider hat die Autorität Freges die gesamte formale Logik der Folgezeit sowie die analytische Philosophie auf diesem Wege nach sich gezogen. Leicht lässt sich die Unhaltbarkeit dieser Umdeutung der Existenz in partikuläre Quantifikation an einem Gegenbeispiel, das ich gern verwende, sichtbar machen: Die Umstände vieler Art sind heute so krisenträchtig, dass die Warnung nicht von der Hand zu weisen ist: »Der Menschheit droht der Untergang im 3. oder 4. Jahrtausend christlicher Zeitrechnung.« Dagegen kann die zuversichtlichere Mahnung gesetzt werden: »Der Untergang der Menschheit im 3. oder 4. Jahrtausend kann noch verhindert werden.« Daraus folgt vollkommen logisch, durch partikuläre Quantifikation: »Mindestens ein Ereignis kann noch verhindert werden.« Nicht aber folgt: »Es gibt ein Ereignis, das noch verhindert werden kann.« Was es gibt, kann man nicht mehr verhindern. Das wäre widersprüchlich. Existenz und partikuläre Quantifikation fallen also auseinander. Partikuläre Quantifikation gibt es nur in numerischem Mannigfaltigen, das eine Anzahl (mindestens 1) hat. Freges Umdeutung läuft also auf die Erschleichung hinaus, den Bereich des Existierenden auf das numerische Mannigfaltige einzuschränken. Das ist falsch, wie noch zu zeigen sein wird. Affirmative Existenzsätze können Gottlob Frege: Kleine Schriften, hg. v. Ignacia Angellini, Darmstadt 1967, S. 174

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Mannigfaltigkeit

wahr und falsch sein. Dennoch nimmt die Existenz zusammen mit den übrigen Existenz-Inductiven unter den Bestimmungen einer Sache die Sonderstellung ein, kein Attribut zu sein. Im Folgenden will ich die Begriffe der Gattung und des Falles aus der objektiv-tatsächlichen Notwendigkeit jedes Attributes für die absolute Identität der so bestimmten Sache gewinnen. Daher kann ich diese Begriffe nur für Attribute einführen. Mein Definitionsgedanke beruht darauf, diese Notwendigkeit als logische Folge zu interpretieren. Eine Behauptung (Spruch oder Satz) A ist logische Folge einer Behauptung B, wenn folgende beiden Bedingungen erfüllt sind: 1. B ist höchstens zusammen mit A wahr. 2. B bleibt höchstens zusammen mit A wahr, wenn fiktiv (in einem Gedankenexperiment) irgendwelche Tatsachen durch untatsächliche Sachverhalte ersetzt werden. Die zweite Bedingung präzisiert den Gedanken: B ist unter allen Umständen höchstens zusammen mit A wahr. Hierbei ist zu bedenken, dass ein Spruch (Satz), der einen Widerspruch zur logischen Folge hat, keinen Sachverhalt darstellt, weil er in der Konsequenz seinen eigenen Sinn aufhebt. Auf dieser Grundlage führe ich gewisse Sachverhalte (tatsächliche oder untatsächliche) als Gattungen ihrer Fälle ein. Da Tatsachen und auch untatsächliche Sachverhalte durch das Ergebnis unter 1.1 als irreduzible Gegenstände legitimiert sind, ist die Berufung auf sie unbedenklich. Mein Definitionsverfahren will ich durch ein Beispiel plausibel machen. Sokrates war Ehemann der Xanthippe. Das ist ein Attribut von ihm. Wenn Sokrates existiert (egal, ob er existiert oder nicht), ist es also logisch notwendig (eine logische Folge davon), dass mindestens ein Ehemann der Xanthippe existiert. Es können auch mehrere sein; Xanthippe könnte ja nach seinem Tod wieder geheiratet haben. Diesen Sachverhalt gebe ich als eine der Gattungen aus, von denen Sokrates ein Fall ist. Ich verstehe die Feststellung, dass Sokrates ein Fall der Gattung Ehemann der Xanthippe ist, als bequeme Kurzform der Feststellung, dass aus der Annahme, dass Sokrates existiert, logisch folgt, dass mindestens ein Ehemann der Xanthippe 80 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Numerische Mannigfaltigkeit

existiert. Wenn man die partikuläre Quantifikation von den Sprüchen auf die dadurch dargestellten (tatsächlichen oder untatsächlichen) Sachverhalte überträgt, kann man sagen, dass Gattungen partikulär quantifizierte (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalte der Existenz von etwas sind. Diese Auffassung hat den Vorteil, dass man sich nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen muss, was Ehemann der Xanthippe als Gattung sein soll, abgesehen von Individuen, die wirklich Ehemann der Xanthippe sind. Diese Frage wurde schon in der Frühscholastik gegensätzlich mit »Substanz« (Wilhelm von Champaux) und mit »flatus vocis« (Roscelinus) beantwortet, und in der Folgezeit hat man sich darüber nicht einigen können. Sie erübrigt sich durch meine Auffassung. Formal korrekt lautet mein Vorschlag zur Definition von Gattung und Fall also so: Wenn für einen Gegenstand G die Behauptung, dass G existiert, für irgend ein Attribut a von G die Behauptung, dass mindestens ein Gegenstand mit diesem Attribut existiert, zur logischen Folge hat, und wenn diese Behauptung einen tatsächlichen oder untatsächlichen Sachverhalt S darstellt, dann (und nur dann) ist G ein Fall von S und S eine Gattung von G; man sagt dann zur Bequemlichkeit, G sei ein Fall von a und a eine Gattung von G.

2.2 Numerische Mannigfaltigkeit Kant hält die Zahl für ein Produkt des Zählens: »Denn in der Mathematik kann ich alles das durch mein Denken selbst machen (konstruieren), was ich mir durch einen Begriff als möglich vorstelle; ich tue zu einer Zwei die andere Zwei nach und nach hinzu und mache die Zahl vier (…).« 28 Wenn er recht hätte, wäre die Zahlenreihe ziemlich kurz; auch dem fleißigsten MaProlegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Akademieausgabe Band IV S. 370

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thematiker würden der lange Atem und die Geduld, »nach und nach« immer neue Zahlen als »Einheit der Synthesis eines gleichartigen Mannigfaltigen der Anschauung« 29 zu machen, bald ausgehen. Vielmehr liegt die Zahl in unendlicher Folge dem Zählen voraus als das, was die Welt dem Menschen so entgegenbringt, dass Zählen möglich wird: die Zählbarkeit einer Menge, die in ihrer umkehrbar eindeutigen Abbildbarkeit besteht, d. h. in der Möglichkeit der Paarung einer Menge mit einer Menge (die auch sie selbst sein darf), wobei kein Element auf beiden Seiten ungepaart bleibt und keines mehr als einmal auf jeder von ihnen vorkommt. Die Menschen machen sich das durch das Abzählen (z. B. an den Fingern oder mit Zahlwörtern) zunutze. Das hat Hume zuerst gesehen, indem er die Gleichheit zweier Mengen (er sagt noch: »Zahlen«) durch umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit definierte. 30 Sie ist eine symmetrische und transitive Beziehung, eine sogenannte Äquivalenzrelation, die die Gesamtheit der Zahlen, in zu einander fremde (sich nicht überschneidende) Klassen einteilt 31 , so dass jede Menge eine und nur eine Zahl hat. Frege identifizierte die Zahlen mit diesen Klassen; worauf es für die Zahlfunktion ankommt, ist aber nur die umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit selbst, was mich zu der Definition veranlasst hat: Zahl (synonym: Anzahl) einer Menge M ist die Eignung einer Menge dazu, umkehrbar eindeutig auf M abgebildet zu werden. Unter den Zahlen hat die 1 die Sonderstellung, die einzige Zahl einer nichtleeren Menge zu sein, die sich absolut (ohne Bezugnahme auf ihre Stellung in einer Reihenfolge) charakterisieren lässt, und zwar ist 1 die Zahl jeder Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Die Zahl 1 setzt darum relative Identität voraus. Relative Identität ist eine Beziehung von etwas Nach Kritik der reinen Vernunft A 142 f. B 182 ist die Zahl »nichts anderes« 30 wie Anmerkung 6, S. 96 f. 31 Der Beweis steht in meinem Buch Kritische Grundlegung der Mathematik auf S. 149 f. 29

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zu etwas, die darin besteht, dass ein absolut identischer Gegenstand Fall zweier Gattungen ist, im Fall der tautologischen Identität (a = a, x = x) der beiden Gattungen Referens und Relat der Identität; das doppelte Fallsein wird durch Identität zusammengefasst und erstreckt sich so weit, wie der Gegenstand Attribute hat. Relative Identität setzt absolute Identität voraus. Ein Gegenstand ist absolut identisch, wenn er, sofern vieles ist, von anderem verschieden ist. Dann ist er selbst, aber deswegen nicht auch schon er selbst, d. h. mit sich identisch. Dazu ist eine weitere Voraussetzung erforderlich, die Einzelheit, von der gleich die Rede sein wird. Dass relative Identität in der Tat eine von ihr verschiedene absolute voraussetzt, habe ich so bewiesen: A ist mit B identisch, wenn A und B in allen Attributen übereinstimmen. Wenn aber auch nur an zwei Attributen x und y verglichen wird, muss vorausgesetzt werden, dass dasselbe A, das x besitzt, auch y besitzt. Falls diese vorausgesetzte Dieselbigkeit (Identität) von gleicher Art wäre wie die von A mit B (oder mit A), entstünde ein regressus ad infinitum. Dann müsste nämlich entsprechend dem vorigen Mal, ein C angenommen werden, das identisch ist mit dem A, das x besitzt und mit dem A, das y besitzt. Unter der Voraussetzung, dass alle Identität relativ ist, würde C dasselbe Schicksal erleiden wie A: Es könnte seine Aufgabe nur erfüllen durch ein D, das identisch ist mit dem C, das identisch ist mit dem A, das x besitzt, aber auch mit dem C, das identisch ist mit dem A, das y besitzt. So ginge es weiter ad infinitum. Man käme zu einer unendlichen Verschachtelung immer mehr Identitätsträger, aber nie zu einem A, das unmittelbar durch Übereinstimmung in allen Attributen mit einem B identisch sein könnte. Der einzige Ausweg aus dieser Verstrickung besteht darin, den Regress gleich beim ersten Schritt anzuhalten und sich klar zu machen, dass die Identität von A, die für den Vergleich von A mit B oder mit A auf relative Identität vorausgesetzt werden muss, von anderer Art ist, nämlich absolute Identität, keine Beziehung zu sich selbst. Dieses Argument gleicht in der Struktur einem Einwand, den 83 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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ich 1964 gegen die Möglichkeit erhoben habe, jedes Selbstbewusstsein könne (in meinem Fall, beispielsweise) Bewusstsein von etwas mit Bewusstsein von dessen Identität mit mir, also identifizierendes Selbstbewusstsein, sein. Es müsste dann doppelseitig sein, zusammengesetzt aus der Identifizierung und der Vorkenntnis von mir, die nötig ist, damit ich weiß, womit identifiziert wird. Wenn diese Vorkenntnis von mir, ebenfalls ein Selbstbewusstsein, ebenso doppelseitig wäre, entstünde ein sich endlos fortwälzender regressus, weil in die Vorkenntnis eine neue Vorkenntnis eingeschachtelt wäre usw. Jedes Selbstbewusstsein wäre dann an eine Kette unendlich vieler Wiederholungen, gebunden. 32 Die Vorkenntnis hat hier formal dieselbe Rolle wie die absolute Identität von A im obigen Argument. Die Übereinstimmung zeigt an, dass der beschriebene regressus ad infinitum nicht erst in die Problematik des Selbstbewusstseins (Sichbewussthaben) gehört, sondern schon bei der bloßen relativen Identität, wenn sie der absoluten entbehren soll, vorkommt. Das Besondere beim Selbstbewusstsein besteht darin, dass sich der Inhaber der absoluten Identität beim Sichspüren im affektiven Betroffensein von selbst aufdrängt, während er im Fall der relativen Identität erschlossen werden muss. Von Mengen war schon die Rede, und das wird in diesem Kapitel immer wieder geschehen. Wie das zu verstehen ist, zeigt folgender Rückgriff auf 2.1: Eine Gattung hat ihre Fälle und ihren Umfang, als deren Gesamtheit, in die alle Fälle und nur sie eingehen. Als eine Menge bezeichne ich einen Umfang, der eine Zahl (eine natürliche Zahl oder transfinite Kardinalzahl) hat. Es gibt auch pathologische Umfänge, die keine Zahl haben, im Gebiet des zwiespältigen Mannigfaltigen; davon wird nachher die Rede sein. Wenn der Umfang eine Menge ist, zeichnet er mit einem Schlag seine Fälle als solche und deren Gesamtheit als seinen Umfang, der alle Fälle und nur sie als Element enthält, Hermann Schmitz, System der Philosophie Band I: Die Gegenwart, zuerst Bonn 1964, S. 250 f.

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aus. Daraus ergibt sich die Monopolstellung der Mengen als Träger von Zahlen. Komplexe, in denen Teile durch paarende Verknüpfungen zusammenhängen, sind dazu nicht geeignet, weil sei einer (nur durch Mengen möglichen) zusätzlichen Einteilung bedürfen, damit festgestellt werden kann, aus wie vielen Teilen der Komplex besteht, wobei die Verknüpfungen selbst als Teile aufgefasst werden; die Art der Teile kann von Verknüpfung zu Verknüpfung wechseln, z. B. von Mörtel zu psychologischer Assoziation, und wird am Rande so schwach, dass der Komplex aufhört. Eine Menge hat dagegen eine genau bestimmte Zahl von Elementen, nämlich alle und nur die Elemente, die die Fälle der Gattung sind. Daher sind die Mengen unentbehrlich als die einzigen Träger von Zahlen, wodurch Zählen (und weiter Rechnen) möglich wird. Mengen sind teils Ganze mit mehreren Elementen, teils haben sie die Anzahl 1, so dass nur ein einziges Element (wenn auch als Fall mehrerer Gattungen) übrig bleibt. Wenn aus einer Menge mit der Zahl 1 ein Element weggelassen wird, bleibt der leere Umfang übrig, der eigentlich keine Menge ist, weil er keine Zahl (umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit) hat, aber als Menge (»leere Menge«) gilt, da er von den Mengen aus unmittelbar erreicht wird, und mit seiner fiktiven Zahl Null am Anfang der Zahlenreihe steht. Da Mengen A und B als identisch gelten, wenn nichts Element von A oder von B sein kann, ohne Element von A und von B zu sein, gibt es nur eine einzige leere Menge. Die Menge der Menschen auf einem menschenleeren Platz ist dieselbe Menge wie die Menge der Sorgen eines sorglosen Menschen oder die Menge der Hoffnungen eines hoffnungslosen. Mathematiker definieren die leere Menge gern durch eine absurde Bedingung, z. B. ein eckiger Kreis zu sein. Das geht nicht an, wenn Gattungen, wie hier, als Sachverhalte verstanden werden, denn ein Satz oder Spruch der einen Widerspruch zur logischen Folge hat, stellt keinen Sachverhalt und überhaupt keinen Gegenstand dar, weil er keinen stimmigen Sinn hat. Um eine leere Menge zu erhalten, muss man sich daher in der Erfahrungswelt umsehen. 85 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Mannigfaltigkeit

Um den für das Folgende grundlegenden Begriff der Einzelheit einführen zu können, benötige ich einige weitgehend übliche Definitionen. Jede Menge ist Untermenge einer Obermenge, wenn sie keine Elemente hat, die nicht auch Elemente der Obermenge sind. Also ist die leere Menge Untermenge jeder Menge und ist jede Menge Untermenge von sich selbst; ihre übrigen Untermengen sind die echten. Eine Menge ist unendlich, wenn sie auf eine echte Untermenge von sich umkehrbar eindeutig abgebildet werden kann. Eine Menge ist endlich, wenn keine Untermenge von ihr unendlich ist und sie einer Wohlordnung fähig ist, einer Anordnung in einer Reihe, in der jede Untermenge ein erstes Element hat. Eine endliche Menge ist größer als eine andere, wenn sie eine echte Untermenge hat, die auf diese andere umkehrbar eindeutig abgebildet werden kann. Eine Menge wird vermehrt, wenn die Elemente einer anderen Menge, die mit ihr kein gemeinsames Element hat, hinzugefügt werden. Eine Menge wird vermindert, wenn aus ihr eine Untermenge, die nicht die leere (ohnehin nicht abziehbare) Menge ist, abgezogen wird. Die Vermehrung bzw. Verminderung ist minimal, wenn es keine kleinere gibt. Das ist der Fall, wenn die hinzugefügte bzw. abgezogene Menge die Zahl 1 hat, weil jede Verminderung einer solchen Menge nur die leere Menge übrig lässt. Die Definitionen über die Größe (größer, vermehrt, vermindert, minimal) können auf die Zahlen übertragen werden, weil jede Menge eine und nur eine Zahl hat und die Größenordnung sich von den Mengen auf die Zahlen überträgt. Ich komme nun zur Einzelheit. Etwas ist einzeln, wenn es absolut identisch und Element einer Menge mit der Zahl 1 ist. Um zu zeigen, dass diese Definition mit zwei weiteren Definitionen äquivalent ist, will ich zunächst drei Sätze beweisen. Satz 1: Jede Zahl einer endlichen Menge wird von 0 aus durch eine endliche Menge von Schritten minimaler Vermehrung erreicht. Wenn die zu erreichende Menge die Zahl 1 (nur ein Element) 86 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Numerische Mannigfaltigkeit

hat, ist das selbstverständlich. Wenn sie mehr als ein Element hat, besitzt die nach Abzug einer Untermenge mit der Zahl 1 verbleibende echte Untermenge wegen der Wohlordnung ein erstes Element. Dessen Hinzunahme zu der bereits abgezogenen Menge vermehrt diese minimal. Nach einer endlichen Menge solcher Schritte ist die Menge ausgeschöpft und ihre Anzahl erreicht. Sonst müsste sie eine unendliche Untermenge enthalten. Satz 2: Jeder Gegenstand vermehrt die Anzahl einer endlichen Menge um 1, und alles, was die Anzahl einer endlichen Menge um 1 vermehrt, ist ein einzelner Gegenstand. Jede minimale Vermehrung einer Zahl ist eine Vermehrung um 1, weil die Verminderung einer Menge mit dieser Zahl sofort zur leeren Menge führt. Jeder einzelne Gegenstand ist Element einer Menge mit der Zahl 1 und vermehrt nach Satz 1 in einem der endlich vielen Schritte bis zum Erreichen einer höheren Anzahl die Anzahl der schon erreichten Untermenge um 1. Die zweite Hälfte des Satzes folgt aus der Definition der 1. Satz 3: Jeder einzelne Gegenstand ist Element einer endlichen Menge, und alles, was Element einer endlichen Menge ist, ist ein einzelner Gegenstand. Die erste Hälfte des Satzes ergibt sich aus der Definition der Einzelheit, die zweite Hälfte aus Satz 1, wonach die Anzahl einer endlichen Menge, also auch diese selbst, bei Wohlordnung in endlich vielen Stufen minimaler Vermehrung aufgebaut ist; dabei handelt es sich, wie im Beweis von Satz 2 gezeigt wurde, um Stufen der Vermehrung um 1, also durch ein einzelnes Element, so dass die Folge dieser Elemente die Menge ausfüllt. Aus den Sätzen 2 und 3 ergeben sich zwei weitere Charakteristiken der Einzelheit, die mit der zunächst eingeführten gleichwertig sind: 1. Einzeln ist, was die Anzahl einer endlichen Menge um 1 vermehrt. 87 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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2. Einzeln ist, was Element irgend einer endlichen Menge ist. Diese beiden neuen, mit der anfänglichen austauschbaren Definitionen der Einzelheit werden im Folgenden wichtig werden. Alles, was einzeln ist, ist Element einer (endlichen) Menge. Jede Menge hat eine und nur eine Zahl, und nur die Mengen (nicht auch die Komplexe) haben Zahlen. So viel wurde schon gezeigt. Daraus folgt, dass alles Einzelne zahlfähig ist, in dem Sinn, dass es Element (mindestens) einer Menge ist, die eine Zahl hat. Es fehlt nur noch die umgekehrte Angewiesenheit jeder Menge auf einzelne Elemente. Sie ergibt sich aus folgendem Satz: Satz 4: Alles, was eine Zahl hat, ist eine Menge, die entweder die leere Menge ist oder nur einzelne Elemente hat. Nur das Letzte, dass jede nichtleere Menge, weil sie eine Zahl hat, aus lauter einzelnen Elementen besteht, ist noch zu zeigen. Eine Zahl ist die umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit einer Menge auf eine Menge, wobei aus jeder Menge je ein Element, wobei jedes Element an die Reihe kommt, mit einem Element der (mit der ersten eventuell identischen) Partnermenge gepaart wird. Jedes solche Element ist also Element der Menge der Glieder eines Paares. Eine solche Menge ist endlich. Jedes Element einer Menge ist also auch Element einer endlichen Menge. Jedes Element einer endlichen Menge ist einzeln. Also ist jedes Element einer nicht leeren Menge dank des Umstandes, dass diese eine Zahl hat, einzeln. Insgesamt ergibt sich, dass Zahlen, Mengen und einzelne Gegenstände auf einander angewiesen sind: Alles Einzelne ist zahlfähig, d. h. Element einer Menge, die eine Zahl hat; jede Zahl ist Zahl einer Menge, und deshalb hat jede Menge, wenn sie nicht leer ist, nur einzelne Elemente. Mit jeder Zahl sind also zugehörig Mengen und (abgesehen von der leeren Menge) einzelne Gegenstände als deren Elemente da, und mit einzelnen Gegenständen immer auch zugehörige Mengen und Zahlen. Mannig88 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Numerische Mannigfaltigkeit

faltiges einzelner Gegenstände (auch in Komplexen) ist also immer zahlfähiges Mannigfaltiges von Elementen von Mengen mit Zahlen, und Mannigfaltiges mit einer Zahl ist immer Mannigfaltiges aus einzelnen Gegenständen oder Elementen einer Menge. Ich spreche dann von numerischem Mannigfaltigen, das gleichbedeutend ist mit Mannigfaltigem aus Einzelnem, gleich ob dieses in einer Menge oder einem Komplex organisiert ist. Auch alle Teile eines Komplexes sind Elemente von Mengen. Mit dem numerischen Mannigfaltigen ist ein erster großer Typ von Mannigfaltigkeit erreicht, für viele (fast alle) Menschen der nächstliegende und für nicht wenige, die sich freilich einer Illusion hingeben, der einzige. Dass gerade die Mengen die Träger der Zahlen sind und das zahlfähige Einzelne als Element umfassen, verdankt sich dem Umstand, dass sie der Umfang einer Gattung sind, die aus der Fülle absolut identischer Gegenstände die geeigneten als ihre Fälle bestimmt und zu dem Umfang sämtlicher und nur dieser Fälle zusammenfasst. Einzeln kann ein Gegenstand nur als Element einer Menge sein, d. h. als Fall einer Gattung, deren Umfang die Menge ist. Daher entsteht Einzelheit, wenn zur absoluten Identität das Fallsein einer Gattung hinzukommt. Damit ist eine neue und äußerst praktikable (für den theoretischen und praktischen Umgang wichtige) Bestimmung des Einzelnen gewonnen: Einzeln sind die (und nur die) absolut identischen Fälle einer Gattung. Daran werde ich mich im Folgenden halten. Man muss die Formulierung aber differenziert genug verstehen. Es genügt nicht, um einzeln zu sein, dass etwas einerseits absolut identisch und andererseits Fall einer Gattung ist. Nachher werde ich einen Typ des diffus chaotischen Mannigfaltigen vorführen, der in seinem Inhalt einerseits absolut Identisches zulässt, andererseits diesen Inhalt unter Gattungen stellt. Was dann aber fehlt, ist das Zutreffen von Gattungen auf etwas absolut Identisches als ihren Fall. Das zeigt sich daran, dass im diffus chaotisch Mannigfaltigen nicht wie im Einzelnen universal streuend quantifiziert werden kann (für jedes x: f (x), d. h. x hat die Be89 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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stimmung f), sondern nur summarisch (für alle x mit einer gewissen Eigenschaft: f (x)), so dass nichts davon als Einzelnes herausgegriffen werden kann. Das Verhältnis von absoluter Identität, Einzelheit und relativer Identität kann nun klar eingesehen werden. Ohne absolute Identität würde alles in einem Meer des Mannigfaltigen in völliger Selbstlosigkeit versinken. Wenn ihm zusätzlich zur absoluten Identität eine Gattung, deren Fall es ist, geschenkt wird, erhebt sich das absolut Identische zum Einzelnen. Wenn noch mindestens eine weitere Gattung hinzukommt, so dass das Einzelne zum Fall zweiter und vieler weiterer Gattungen wird, wird es relativ identisch. Die relative Identität fasst das Fallsein unter dieser und jener Gattung zu einem einzigen Fall mehrerer Gattungen zusammen. Daran ist nichts rätselhaft oder gar widersprüchlich. Ein uralter Denkfehler entspringt daraus, dass es den Anschein hat, bei dieser Gelegenheit müssten zwei Fälle und also auch zwei Sachen auseinanderfallen. Dieser Trug wird insbesondere dem Selbstbewusstsein gefährlich, wenn dieses als Zusammenfall von Subjekt und Objekt des Bewussthabens aufgefasst wird. Im 20. Jahrhundert erklären Rickert und Ryle, zwei führende Philosophen aus ganz unterschiedlichen Lagern, solchen Zusammenfall, wodurch Zweie zu Einem werden müssten, für unmöglich 33 , und Rehmke gab das Bewusstsein, weil es auch Selbstbewusstsein sei, als beziehungsloses Haben aus, weil er Beziehungen nur zwischen verschiedenen Partnern für möglich hielt. Dabei ist eine reflexive Beziehung, hier das Fallen einer Sache unter die Gattungen des Subjektseins für sich und des Objektseins für sich, so unproblematisch wie beim Selbstmord, einer handgreiflichen Form des Selbstbewusstseins. Jaspers schreibt: »Wenn ferner das Denken des Ich dieses als unmittelbaren Gegenstand dadurch auflöst, dass es das Sein dieser Unmittelbarkeit in der Verdoppelung des Sichaufsichselbstbeziehens aussagt, so sagt es als Wirklichkeit eines Seins etwas 33

Von mir zitiert ebenda S. 2

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Übergang zum nicht numerischen Mannigfaltigen

aus, das logisch unmöglich ist; nämlich dass ›Ich‹ eines ist, das zwei, und zwei, das eines ist.« 34 Als wenn Selbstmord logischunmöglich wäre! Aber schon Yajnavalkya in der Brihadaranyaka-Upanishad verkündet als Gipfel seiner altindischen Weisheit diesen Irrtum: nach dem Tode könne man kein Bewusstsein mehr haben, weil dann alles zum eigenen Selbst geworden sei, während die Möglichkeit von Bewusstsein an die Zweiheit Verschiedener gebunden sei. 35 Dabei ist Identität zwar immer auch eine Beziehung auf sich, aber in der gern als Standardfassung gewählten tautologischen Form »a = a« pathologisch verkürzt, weil die auch in diesem Fall (siehe oben) vorhandene Zweiheit der Gattungen, von denen etwas Fall ist, nicht zum Zuge kommt.

2.3 Übergang zum nicht numerischen Mannigfaltigen Den Übergang zum nicht numerischen Mannigfaltigen bewerkstellige ich durch den Nachweis, dass schon aus logischen Gründen nicht alles einzeln, also nicht alles Mannigfaltige numerisch sein kann. (Selbst wenn es nur eine einzige Sache gäbe, wäre diese im angegebenen Sinn numerisches Mannigfaltiges, weil 1 eine Zahl ist.) Ich führe den Beweis mit Hilfe der Widerlegung des zuerst von Kant 36 , aber missverständlich, formulierten Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung, dass für jedes Etwas (alles, was etwas ist) und jede Bestimmung als etwas jenes Etwas die Bestimmung entweder besitzt oder nicht besitzt. Dabei bediene ich mich der beiden unter 2.2 gewonnenen Zusatzkennzeichnungen der Einzelheit: Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt; einzeln ist, was Element einer endlichen Menge Karl Jaspers, Philosophie, 2. Auflage Berlin 1948, S. 306 von mir zitiert (nach der Übersetzung von Dreussen) wie Anmerkung 32, S. 246 36 Kritik der reinen Vernunft A 571, B599 f 34 35

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ist. Ich widerlege den Grundsatz durch den Nachweis, dass jeder beliebige Gegenstand, wäre er durchgängig bestimmt, vielmehr gänzlich unbestimmt wäre, was nicht der Fall sein kann. Die Widerlegung hat schon für sich weitreichende Folgen, die ich angebe. Ihre Tragweite wächst noch durch Nachweis der Äquivalenz des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung mit zwei weiteren Sätzen: erstens dem Satz, dass alles einzeln und daher alles Mannigfaltige numerisch ist, und zweitens dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Die Falschheit des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung überträgt sich damit auf diese beiden Sätze, wobei es sich im zweiten Fall aber nur darum handelt, dass dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten die unbeschränkte Allgemeingültigkeit über den Bereich des numerischen Mannigfaltigen hinaus bestritten wird. Die Gefahr von Fehlschlüssen ist dadurch aber nicht abgewendet, weil nicht sicher ist, wo der Bereich des numerischen Mannigfaltigen endet, da der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung schon für jeden einzelnen Gegenstand falsch ist. Den Gedankengang bis hierhin schreibe ich im Wesentlichen aus meinem Buch Kritische Grundlegung der Mathematik S. 69–76 ab. Mit der Widerlegung des Satzes, dass alles Mannigfaltige numerisch ist, ist der Übergang zum nicht numerischen Mannigfaltigen erreicht. Diesem Ergebnis lasse ich einen erkenntnistheoretischen Exkurs folgen. Er bezieht sich darauf, dass meine Beweise in diesem Kapitel »aus bloßen Begriffen«, wie Kant sagen würde, und nicht aus dem, was dieser als Erfahrung anerkennt, geführt und daher in Kants Sinn als metaphysisch unzulässig sind. Ich verteidige sie in diesem Exkurs gegen die Bedenken Kants und des Wiener Kreises, der solchen abstrakten Überlegungen aus verwandten Gründen die Fähigkeit zur echten Erweiterung der Erkenntnis bestreitet. Damit ist der Gedankengang in diesem Kapitel genügend skizziert. Den folgenden Satz habe ich wegen seiner großen Wichtigkeit und Tragweite als Hauptsatz bezeichnet. Er lautet: 92 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Übergang zum nicht numerischen Mannigfaltigen

Hauptsatz: Folgende drei Sätze sind äquivalent und falsch: (1) der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung, dass für alles irgendwie Bestimmte und jede Bestimmung als etwas das Bestimmte die Bestimmung entweder besitzt oder nicht besitzt, (2) der Satz: Alles ist einzeln, d. h. alles Mannigfaltige ist numerisch, (3) der Satz vom ausgeschlossenen Dritten: Für jede Behauptung A ist mindestens A selbst oder das durch Zusatz der Negation entstehende Negat (nicht A oder A nicht) wahr. Ich beweise den Hauptsatz in drei Schritten. Satz 1: Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung ist schon für jeden einzelnen Gegenstand falsch. Gemäß dem Grundsatz muss eine Regel der Paarung zwischen jedem Gegenstand und jeder Bestimmung angenommen werden, wobei dem Paar entweder ein positiver Wert (etwa ja) zugeordnet wird, wenn der Gegenstand die Bestimmung hat, oder ein negativer Wert (etwa nein), wenn er sie nicht hat. Es genügt, einen beliebigen Gegenstand G herauszugreifen. Die Paarung ist dann, mathematisch gesprochen, eine Funktion mit zwei Argumenten, deren erstes G ist und deren zweites alle Bestimmungen durchläuft, und dem Funktionswert, der in der angegebenen Weise positiv oder negativ ist. Die Argumente bilden geordnete Paare, in denen immer G das erste Glied ist und jede Bestimmung einmal als zweites Glied vorkommt. Die Menge der Glieder eines geordneten Paares ist eine endliche Menge, in diesem Fall fast immer mit der Zahl 2, nur dann, wenn G selbst eine Bestimmung ist, unter Umständen mit der Zahl 1. Jedes Element einer endlichen Menge ist ein einzelner Gegenstand. Wenn der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung zutrifft, muss also jede Bestimmung von etwas als etwas einzeln sein. Ich zeige nun, dass dies für G, also für jeden Gegenstand, unmöglich ist. Damit wird das Beweisziel erreicht sein. Eine Bestimmung b kann Bestimmung von G nur dadurch 93 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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sein, dass sie G zukommt. Sie ist erstes Glied (Referens) dieser Beziehung, deren zweites Glied (Relat) G ist. Dieser Beziehung entspricht die umgekehrte Beziehung von G zu b, dass G b bekommt. Beide Beziehungen entfalten dasselbe Verhältnis nach zwei Seiten. Jede Bestimmung muss dem, was sie bestimmt, zukommen. Das Zukommen einer Bestimmung zu etwas ist eine Bestimmung dieser Bestimmung. Sei Z1 das Zukommen von b zu G. Dan muss Z1 b zukommen. Dieses Zukommen Z2 von Z1 zu b ist eine Bestimmung von Z1 . Daher muss Z2 Z1 zukommen. Dieses Zukommen Z3 von Z2 zu Z1 ist eine Bestimmung von Z2 . Sie muss daher Z2 zustimmen. So geht es weiter ohne Ende. Diese Komplikation wäre für G keine Vereitelung, b dennoch zu bekommen, wenn die Reihe ein Ende hätte. Jedem Zukommen von der einen Seite entspricht ja ein Bekommen von der anderen. Das Verhältnis des Zukommens/Bekommens würde durch endlich viele Zwischenglieder kompliziert, aber nicht vereitelt werden. Etwa bei drei Gliedern würde G das Bekommen des Bekommens des Bekommens von b und schließlich b bekommen. Das wäre aber nur möglich, wenn G Endglied der von b absteigenden Reihe des Zukommens wäre, also Anfangsglied der aufsteigenden Reihe des Bekommens. Das wird dadurch ausgeschlossen, dass die absteigende Reihe ins Unendliche weiterläuft. Also kann G niemals b bekommen. Da G und b beliebig sind, ergibt sich: Alles ist in jeder Beziehung unbestimmt. Das stimmt nicht. Da aber die Deduktion korrekt ist, muss der Fehler an einer versteckten Voraussetzung liegen. Diese ist leicht gefunden. Es ist die Voraussetzung, dass jede Bestimmung einzeln ist. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Von dieser Art sind die Schritte durch zusätzliche Bestimmungen auf der absteigenden Leiter. Jeder von ihnen vermehrt die Anzahl der Stufen um 1. Wenn diese Konstruktion fallen gelassen wird, verschwindet die Schwierigkeit. Daraus ergibt sich: Zu jedem Bekommen einer Bestimmung für einen Gegenstand gehören Bestimmungen, die nicht einzeln sind. Als Weisen des Bekommens irgend einer Bestimmung sind sie zugleich seine 94 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Übergang zum nicht numerischen Mannigfaltigen

Bestimmungen. Daraus ergibt sich: Jeder Gegenstand kann durch einzelne Bestimmungen nur bestimmt werden, wenn er zugleich Bestimmungen hat, die nicht einzeln sind. Es wurde schon gezeigt, dass der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung auf einen Gegenstand nur zutreffen kann, wenn dessen Bestimmungen sämtlich einzeln sind. Das wurde ausgeschlossen, da der Gegenstand dann überhaupt keine Bestimmungen hätte. Damit ist Satz 1 bewiesen. Ich benütze nun diesen Beweis, um die Äquivalenz der drei Thesen des Hauptsatzes zu beweisen. Satz 2: Die Thesen 1 und 2 des Hauptsatzes sind äquivalent. Zur Implikation von 1 nach 2: Wenn der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung zutrifft, muss gemäß dem Beweis von Satz 1 jeder Gegenstand und jede Bestimmung eines Gegenstandes als Element einer endlichen Menge einzeln sein. Zur Implikation von 2 nach 1: Wenn jeder Gegenstand, der eine Bestimmung ist, einzeln wäre, wäre nach dem Beweis von Satz 1 alles völlig unbestimmt. Die Bestimmungsfunktion für geordnete Paare Gegenstand-Bestimmung hätte überall negativen Wert. Damit wäre dem Grundsatz der durchgängigen Bestimmung Genüge getan, da er bloß verlangt, dass der Wert entweder positiv oder negativ ist. Der Grundsatz wäre wahr. Damit ist Satz 2 bewiesen. Satz 3: Die Thesen 1 und 3 des Hauptsatzes sind äquivalent. Zur Implikation von 3 nach 1: Schon die Einschränkung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten auf Elementarsätze, in denen lediglich irgend einem Gegenstand eine Bestimmung zuoder abgesprochen wird, genügt zum Beweis der Implikation. Zur Implikation von 1 nach 3: Zu beweisen ist: Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung impliziert den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Nach den Regeln der Aussagenlogik (Implikationen mit falschem Vordersatz sind wahr) ist der vor-

95 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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stehende Satz wahr, wenn der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung falsch ist. Das aber ist nach Satz 1 der Fall. Beide Richtungen der Implikation, und mit ihnen die Äquivalenz, sind also abgesichert. Damit ist auch Satz 3 bewiesen und also der Beweis des Hauptsatzes abgeschlossen. Die Tragweite des bewiesenen Satzes verfolge ich zunächst nur für 1, die unmittelbaren Folgen der Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung, die mir aufgefallen sind. Ich nenne sie in bezifferten Sätzen, um mich später auf sie berufen zu können. Satz 4: Der allgemeine Determinismus (als Überzeugung) ist falsch. Wenn nämlich nichts durchgängig bestimmt ist, kann auch nichts durchgängig fremdbestimmt (fremdgesteuert) sein. Wer einen Determinismus behauptet, darf ihn nur noch für bestimmte, z. B. physikalische, Eigenschaften in Anspruch nehmen. Im psychologischen Bereich, etwa für Gesinnungen wird das schon viel schwieriger. Satz 5: Der Fatalismus ist falsch. Fatalismus ist die These, dass alles aus der Zukunft vorbestimmt ist, dass also kein Überschuss der offenen Zukunft dessen, was noch möglich ist, über die geschlossene Zukunft dessen, was noch nicht ist, aber einmal sein wird, in der Zukunft enthalten ist. In diesem Fall wäre alles Geschehen durchgängig bestimmt, weil genau nur das, was noch nicht ist, eintreten würde. Gegen diese Logik könnte man einwenden, dass sich dieselbe relative Unbestimmtheit, die sich aus Satz 1 ergibt, aus der geschlossenen Zukunft in die Gegenwart und Vergangenheit fortsetze, da sie jedem Gegenstand zugehört. Der Einwand übersieht, dass sich mit dem Eintritt in Gegenwart (dem Entstehen) die Form der Unbestimmtheit ändert. Vor dem Entstehen, hat sie in der offenen Zukunft die Gestalt von Alternativen der Möglichkeit. Es ist möglich, dass etwas geschieht, und auch, dass 96 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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es nicht geschieht. Mit dem Entstehen, und erst recht in der Vergangenheit, entfällt diese Alternativform. Dadurch vererbt sich die aus dem Fehlen durchgängiger Bestimmtheit folgende relative Unbestimmtheit zwar über das Entstehen und Vergehen hinweg, aber in schwächerer Form. Übrigens ist die Zukunft total offen, sofern als möglich alles anerkannt wird, was behauptet werden kann, ohne dass ein Widerspruch logisch folgt; denn aus einem Umdenken der Zukunft erfolgt kein Widerspruch. Die geschlossene Zukunft löst sich erst beim Entstehen, also nachträglich, aus der offenen Zukunft ab. Satz 6: Der Realismus ist falsch. Realismus ist die Überzeugung, dass die Welt vorläufig fertig ist, etwa in dem Sinn, dass ein Allwissender von ihr jederzeit ein bis ins Feinste durchgebildetes Inventar aufstellen könnte, wie von einem vererbten Vermögen, das nach dem Erbfall immer noch verändert werden kann. Offenbar setzt diese Vorstellung aber durchgängige Bestimmtheit jedes Gegenstandes voraus, die nach Satz 1 nicht gegeben ist. Die Folgerungen aus den Sätzen 2 und 3 notiere ich formlos. Satz 2 bringt mit sich die Anweisung, nach anderen Typen der Mannigfaltigkeit als dem numerischen zu suchen. Das soll im Folgenden geschehen. Außerdem enthält er die Warnung, die Domäne des numerischen Mannigfaltigen nicht zu überziehen. Diese Warnung richtet sich in erster Linie an die Mathematik, eine der großartigsten Unternehmungen der Menschheit, deren Erfolgen an Genialität fast nichts gleichkommt, von den Erfolgen in der Kunst abgesehen. Mathematik ist eigentlich der Versuch, überall da, wo sich in irgend welchen Ordnungsformen ein Ansatzpunkt bietet, mit allen Mitteln intellektueller Raffinesse die Domäne des numerischen Mannigfaltigen auf alles Mannigfaltige auszudehnen. Sie steht damit im Gefolge der pythagoreischen Parole »Der Zahl gleicht alles«, fortgesetzt in der jüdischchristlichen Formulierung »Gott hat alles nach Maß, Zahl und 97 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Gewicht geordnet« und der Universalkombinatorik von Lullus bis zu Leibniz, dessen Characteristica universalis Frege mit seiner Begriffsschrift fördern und der Anwendung näher bringen wollte. Im Bereich des numerischen Mannigfaltigen erzielt sie große Erfolge, aber sie kann nicht absehen, wo sie an die Grenzen stoßen wird, da schon in jedem einzelnen Gegenstand nichtnumerisches Mannigfaltiges lauert, und erfährt von der Grenzüberschreitung nachträglich durch die Antinomien der Mengenlehre, vor denen sie sich in Kartenhäuser flüchtet, von denen das Zermelo-Fränkel’sche Axiomensystem das bequemste und darum geläufigste ist. Durch Satz 3 wird ihr eines ihrer wichtigsten Beweismittel, der indirekte Beweis, zwar nicht genommen, aber beschnitten, nämlich mit dem Risiko der Grenzüberschreitung bei zu weitem Ausgreifen der ihm zugemuteten Tragweite belastet. So ist z. B. Zermelos indirekter Beweis, dass jede Menge wohlgeordnet werden kann, in dieser Allgemeinheit sicher falsch, wie sich an dem Auftreten pathologischer Mengen (vielmehr Umfänge) in Antinomien zeigt. Nur indem man diese, ohne sichere Erfolgsaussicht, mit künstlichen Vorrichtungen wie jenem Axiomensystem umgeht, kann man ihn aufrechterhalten. Ich lasse nun den angekündigten erkenntnistheoretischen Exkurs folgen. Kant bezeichnet in einer ausführlichen Anmerkung zur Vorrede seines Buches Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft die »Grenzbestimmung der reinen Vernunft« als den »Hauptzweck des Systems« seiner Vernunftkritik, da dieses »auf dem Satz« erbaut sei, »dass der ganze spekulative Gebrauch unserer Vernunft niemals worauf anders, als auf Gegenstände der Erfahrung gehen könne«. 37 Alle Erkenntnisansprüche der Metaphysik, die, wie er sie versteht, mit bloßen Begriffen über diese Schranke hinausgeht, weist er daher als eitle und hohle Anmaßung zurück. Die Strategie seines Angriffs 37

Akademieausgabe von Kants Schriften Band IV S. 474 und 475

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besteht darin, der Metaphysik die Erkenntnisquellen zur Erweiterung der Erkenntnis zu bestreiten. Dafür geht er von seiner Unterscheidung aller Urteile in analytische und synthetische aus, in dem Sinn, dass jene »bloß erläuternd« sind und »zum Inhalte der Erkenntnis nichts hinzutun«, während diese »erweiternd (…) die gegebene Erkenntnis vergrößern.« 38 Er beschränkt sich auf einfache Elementarurteile, in denen einem Satzsubjekt ein Prädikat zugesprochen wird, und fasst den Mangel analytischer Urteile so: »Analytische Urteile sagen im Prädikate nichts als das, was vom Begriffe des Subjekts schon wirklich, obgleich noch nicht so klar und mit gleichem Bewusstsein gedacht war.«38 Dagegen benötigen die synthetischen Urteile, um die Erkenntnis zu erweitern, die Stütze an einem im Urteil nicht enthaltenen Erkenntnisgrund. Dafür kommt nach Kant nur die Erfahrung auf der Grundlage von Empfindungen und die reine Anschauung in der Mathematik in Betracht. Die Metaphysik aus bloßen Begriffen hat nichts dergleichen und daher keinen Anspruch auf erweiternde Erkenntnis. Um der Aussicht vorzubeugen, eine solche Kritik könnte auch gegen meinen vorstehenden Beweis vorgebracht werden, schiebe ich diesen Exkurs ein. Kants Angriff auf die Erkenntnis aus bloßen Begriffen beruht auf einer zu schmalen Eingrenzung der Möglichkeiten, Erkenntnis zu erweitern, auf einen einzelnen Urteilsschritt, für den das betreffende Urteil freilich eine Hilfe und Stütze benötigt, aber nicht unbedingt in Gestalt einer zusätzlichen Beobachtung, sondern ebenso gut in Gestalt weiterer Urteile, so dass der Inhalt der Erkenntnis durch das Zusammenwirken vieler Urteile in logischen Schlüssen erweitert werden kann. So verfahren die Mathematiker. Als Andrew Wiles kürzlich die Fermat’sche Vermutung bewies, dass Gleichungen des Typs an + bn = zn für n > 2 ganzzahlig nicht lösbar seien, hat er sich nicht in die Bedeutung von »Potenz«, »ganze Zahl« und »Zwei« vertieft, son38

Ebd. S. 266 (Prolegomena usw.)

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dern ein gewaltiges Geflecht von Sätzen der algebraischen Zahlentheorie geschickt kombiniert. Allerdings muss man, Kant entgegenkommend, fordern, dass die verwendeten Urteile, wenn die Erkenntnis realistisch und nicht auf eine bloße Denkmöglichkeit beschränkt sein soll, an der Erfahrung gleichsam geerdet sein müssen, in dem Sinn, dass man die Gegenstände, von denen die Rede ist, empirisch kennt. Das ist aber in Kants Standardbeispiel eines analytischen Urteils – »Alle Körper sind ausgedehnt« – ebenso der Fall wie bei Gegenständen, die Bestimmungen bekommen, in meinem Beweis. Kants Standardurteil ist nicht aus der Luft beliebiger Begriffe gegriffen, sondern man ist auf Körper mit ihrer besonderen Ausdehnungsart gestoßen und hat sich durch Verwertung dieser Erfahrung im Zuge der Wortbildung darauf geeinigt, was man »Körper« nennen will. Ebenso erfährt man im Leben beständig, dass Gegenstände Bestimmungen als etwas bekommen. Anders verhält es sich freilich mit Gegenständen der Metaphysik nach Kant. Der Gott, wie er ihn versteht, ist der Erfahrung ebenso fremd wie die Seele. Wenn man diesen Unterschied und die gegenseitige Befruchtung der Urteile zur Erweiterung der Erkenntnis verkennt, müsste man die ganze Arithmetik für metaphysischen Begriffsspuk im Sinne von Kant halten. Kant entzieht sich dieser Konsequenz durch sein Missverständnis der Zahl als Produkt des Zählens, das sich der Mensch durch allmähliches Hinzufügen selbst zurechtmache, gestützt auf eine vermeintliche reine Anschauung (der Zeit?)28. Tatsächlich lernt aber der Mensch durch Zählen die Zahlen als umkehrbar eindeutige Abbildbarkeiten – zunächst etwa auf seine Finger – kennen und begreift durch Nachdenken über diese Erfahrung ihre Einordnung in nach der Größe gestufte Äquivalenzklassen, bis er auf die Idee der zwar anfangenden, aber endlosen linearen Progression kommt, die in den Peano-Axiomen ausformuliert ist; auf dieser Grundlage und mit geeigneten Definitionen lässt sich die Arithmetik entwickeln. Ein Verdacht gegen mangelnde Begründung metaphy-

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sischer Erkenntnisansprüche lässt sich gegen ein solches Verfahren nicht erheben. Einen ähnlichen Versuch, die auf Begriffe und nicht direkt auf empirische Beobachtung gestützte Erkenntnis von realistischem Erkenntnisgewinn fernzuhalten und auf dem Niveau analytischer Urteile im Sinn von Kant einzufrieren, hat im 20. Jahrhundert der Wiener neopositivistische Kreis mit Bezug auf Logik und Mathematik unternommen. Viktor Kraft, ein Teilnehmer an den Tagungen des Kreises, schreibt darüber: »Logik und Mathematik sagen nichts über die erfahrbare Wirklichkeit aus. Die Logik enthält keine Erkenntnis, sie gibt nicht die Grundlagen des Seins, sondern die Grundlagen gedanklicher Ordnung. Logische Beziehungen sind bloß gedankliche Beziehungen, sie bestehen nicht als tatsächliche Beziehungen innerhalb der Wirklichkeit, sondern nur als Beziehungen innerhalb des Darstellungssystems.« 39 »Die Sätze der Mathematik sind nicht synthetisch, wie Kant und Mill meinten, sondern analytisch.« 40 »Deshalb braucht man nicht nach einem Geltungsgrund für synthetische Urteile a priori zu suchen und dafür weder ›reine Vernunft‹ noch ›reine Anschauung‹, weder Intuition oder Evidenz noch auch Erfahrung in Anspruch zu nehmen.« 41 Wolfgang Stegmüller drückt das so aus: »Die Positivisten behaupten, dass die analytischen Erkenntnisse die einzigen apriorischen Erkenntnisse sind. Die analytischen Sätze sind aber stets tatsachenunabhängig; ihr Wahrheitswert folgt bereits aus den Bedeutungen. Und da die Bedeutungen stets durch die Regeln der Sprache festgelegt sind, kann man die analytischen Sätze nach Auffassung der Positivisten auch in der Weise charakterisieren, dass man sagt: Analytische Sätze (i. w. S.) sind diejenigen Sätze, deren Wahrheitswert durch die Regeln der Sprache fest-

39 40 41

Viktor Kraft, Der Wiener Kreis, 2. Auflage Wien / New York 1956, S. 28 ebenda S. 18 ebenda S. 19

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gelegt ist.« 42 Logik und Mathematik enthalten demnach nur Sprachregelungen, die völliger Willkür nur dadurch entzogen sind, dass sie vernünftig bleiben, d. h. eine einstimmige Ordnung der Gedanken ermöglichen müssen. Das gilt aber schon für gewöhnliche Spielregeln. Der Positivismus des Wiener Kreises behandelt die Denkgesetze als Konventionen, Logik und Mathematik als deren Ausführungsbestimmungen. Das ist falsch. Ein erster Hinweis ergibt sich aus dem Umgang mit Geld. Wer auch nur einfache Gleichungen wie (die von Kant bevorzugte) »7 + 5 = 12« nicht ernst genug nimmt, muss im Leben bitter dafür büßen. Gewichtiger als diese etwas spöttische Bemerkung ist die Reflexion auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, die das Gewicht logischer Tatsachen, über die man durch keine Konvention verfügen kann, offenkundig macht. Ich habe eben bewiesen, dass dieser Satz zusammen mit dem Grundsatz der durchgängigen Bestimmung und dem Satz, dass jeder Gegenstand einzeln und folglich alle Mannigfaltigkeit numerisch ist, falsch ist, jedenfalls nicht allgemeingültig. Andere Autoren, insbesondere die mathematischen Intuitionisten, haben andere Einwände geltend gemacht, besonders wegen angeblich unerlaubter Anwendung des Satzes auf unendliche Mengen. Er ist scharf umstritten. Wenn man ihn als bloße Konvention behandeln dürfte, wären die Mathematiker glücklich mit dem schön geordneten System der klassischen Aussagenlogik, in dem der Satz seine feste Stellung hat. Sie hätten damit ihre elegantesten Beweise, die indirekten, gerettet. Tatsächlich ist die Lage anders. Es ist eine ernste Sachfrage, ob der Satz vom ausgeschlossenen Dritten allgemeingültig ist oder nicht, nur mit Sachgründen, zu entscheiden wie irgend eine empirische Frage.

Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie Band II, 6. Auflage Stuttgart 1979, S. 227

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Typen nicht-numerischer Mannigfaltigkeit

2.4 Typen nicht-numerischer Mannigfaltigkeit 2.4.1 Chaotische Mannigfaltigkeit Als ich 1964, im 1. Band von System der Philosophie, zuerst meine Mannigfaltigkeitslehre vortrug, war die wichtigste Errungenschaft die Gegenüberstellung des numerischen (damals noch nicht so genannten) und des chaotischen Mannigfaltigen, das ich durch Mangel an Identität und Verschiedenheit charakterisierte; bei der Wahl des Wortes »chaotisch« bestimmte mich das Leitbild des Verschwommenen, nicht des Verworrenen, Unordentlichen, das aus einzelnen Teilen zusammengesetzt ist. Später sah ich mich genötigt, das chaotische Mannigfaltige in zwei Subtypen zu zerlegen. Ihren Unterschied kann man sich an dem gewandten Schwimmer verdeutlichen, der sich gegen den Widerstand eines relativ ruhigen, nämlich nicht zu sehr durch Wellenkämme gegliederten, Wassers vorwärts kämpft. Das gelingt ihm nicht auf einmal, weil ihm immer neue Fluten entgegenströmen, aber es wäre für ihn sinnlos, diese gegen einander als verschiedene Fluten abzugrenzen; sie gehen ohne Unterschied, ja ohne Verschiedenheit ineinander über. Anders verhält sich der Schwimmer zu seinem eigenen Körper. Wenn er die Verschiedenheit seiner Gliedmaßen und sonstigen Körperteile nicht berücksichtigte, wenn er sich bei ihrem Einsatz vergriffe, wäre er verloren. Dennoch sind sie ihm, der mit ganzer Aufmerksamkeit beim flüssigen Schwimmen ist, nicht als einzelne gegeben, wie dem Anfänge und Stümper, der sich noch bemühen muss, die Arme mit den Beinen zu koordinieren usw. und deshalb auf die einzelnen Gliedmaßen zu achten. Ein dem Schwimmen jenes Schwimmers vergleichbares Beispiel ist das Kauen fester Nahrung bei Mensch und Tier. Der Kauende berücksichtigt die Verschiedenheit der Nahrung, die er im Mund zu Bissen zerkleinert, von seinen dort angetroffenen Körperteilen; sonst würde er auch seine Zunge zerkauen. Das Kauen kann aber flüssig und wie automatisch vor sich gehen ohne Zuwen103 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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dung der Aufmerksamkeit, etwa, wenn man an einer Unterhaltung teilnimmt; nur relativ selten wird etwas einzeln vorkommen, etwa, wenn sich ein Bissen als zäh erweist oder ein Nahrungsrest sich an den Zähnen festsetzt. Die Nahrung entspricht dem Wasser im vorigen Beispiel. In beiden Beispielen zeichnen sich zwei Typen chaotischer Mannigfaltigkeit ab, die ich als den konfusen und den diffusen auseinander halte. Im konfus Mannigfaltigen fehlt es in der Tat, wie im chaotischen Mannigfaltigen überhaupt nach meinem ersten Ansatz, an Identität, nämlich – in meiner nun scharfen Begriffssprache – an absoluter Identität und an Verschiedenheit. Auf der anderen Seite, beim Schwimmer und beim Kauenden, kommt es dagegen auf das Vermeiden von Verwechslungen an; unter normalen Umständen, bei genügender Kompetenz für ihre Verrichtungen, sind sie vor Verwechslungen geschützt: Sie kennen sich aus, d. h., ihre relevanten Körperteile begegnen ihnen als solche mit absoluter Identität und Verschiedenheit, sogar in gehöriger Ordnung, aber – bei flüssigem, mehr oder weniger automatischem Ablauf der kompetent geführten Verrichtung – ganz oder weitgehend ohne Einzelheit. Diesem Typ des chaotischen Mannigfaltigen, bei dem es nicht an absoluter Identität und Verschiedenheit, wohl aber an Einzelheit fehlt, habe ich als den des diffusen Mannigfaltigen bezeichnet. Wie es möglich ist, dass im diffusen (chaotischen) Mannigfaltigen trotz des Fehlens der Einzelheit Ordnung herrscht, wird sich gleich zeigen. Genau besehen, muss man für beide Subtypen die absolute und die relative Form unterscheiden, also absolut und relativ konfus bzw. diffus Mannigfaltiges, weil in das konfuse auch diffuses oder numerisches, in das diffuse auch konfuses und numerisches eingemischt sein kann. Es ist aber für die Übersicht bequemer und einfacher, sich zunächst an die reinen, absoluten Formen zu halten. Absolut konfus mannigfaltig ist jedes homogene Kontinuum wie das Wasser des Beispiels oder eine durchdöste Frist. Auch die Andeutungsfülle eines zarten, dadurch unerschöpflich zur Vertiefung einladenden lyrischen Gedichts wie 104 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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eines Haikus oder Goethes Wanderers Nachtlied. Ein anderes gehört hierhin, ebenso das Aufgehen eines Gedankens, wenn etwa ein Redner schon weiß, was er sagen will, noch ehe er es sich klar gemacht hat, die Bewusstheit im Sinne der Würzburger denkpsychologischen Schule. Viel näher am täglichen Leben, ja fast ständiger Begleiter jedes Menschen im Alltag ist das konfuse Mannigfaltige in Gestalt der intensiven Größenveränderung, wenn etwas lauter oder leiser, heller oder dunkler, wärmer oder kälter, schneller oder langsamer, stärker oder schwächer wird. Dann wird etwas (ein Quantum) mehr oder weniger, eine Fülle nimmt zu oder ab, aber nicht wie bei extensiven Größen durch Zusatz oder Wegnahme von Stücken, die man abtrennen und wieder zusammensetzen könnte. Die Teile, die die wechselnde Fülle bilden, gehen im Ganzen, vielmehr völlig unter, ohne Einzelheit, aber auch ohne die absolute Identität, die sich im diffus chaotisch Mannigfaltigen durch die Gefahr der Verwechslung und den Schutz vor ihr verrät. Es wäre sinnlos, sich vor Verwechslung partieller Wärmen in einer Gesamtwärme schützen zu wollen. Wohl kann man einzelne Grade der Intensität unterscheiden, aber nur, wenn der Prozess intensiver Schwankung stillsteht. Dann kann man sogar, durch künstliche Zuordnung extensiver Größen, wie des Thermometers, den Stand zu messen versuchen. Aber sogar dann bleibt beim Vergleich unterschiedlicher Stufen einer intensiven Größe der quantitative Unterschied, das mehr und weniger von etwas, das man weder als einzeln isolieren noch im Zusammenwirken, wie bei den vor Verwechslung geschützten Körperteilen in flüssiger Bewegung, als dieses oder jenes noch vor Vereinzelung zum Vorschein bringen kann. Das Ausmaß des diffus chaotischen Mannigfaltigen kann erst später deutlich werden, wenn von leiblicher Kommunikation die Rede ist. Jetzt bietet sich dafür zunächst das Sprechen an, sowohl als Sprachgebrauch als auch als Mundgebrauch. Die satzförmige menschliche Rede, die nicht nur, wie die tierische, in Rufen und Schreien – bei Menschen: Ausrufen und Interjektionen – be105 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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steht, gehorcht jeweils einer Sprache, die aus Sätzen besteht. Das sind Regeln zur Darstellung einzelner (meist vieler) Sachverhalte, Programme oder Probleme in Sprüchen, womit meist weitere Zwecke verfolgt werden. Zur Sprache, die er spricht, verhält sich der flüssiger Rede mächtige Sprecher wie das Tier zu den Situationen, in denen es gefangen ist, instinktiv geführt von dem Programmgehalt ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit. Der Sprecher verhält sich nicht wählerisch zu den Sätzen seiner Sprache, wie der Koch zu den Rezepten aus dem Kochbuch, sondern greift blind, aber treffsicher in die Sprache hinein und holt die zu seiner Absicht passenden Sätze heraus, um sich von ihnen bei der Formulierung seiner Sprüche führen zu lassen, ohne sie je als einzelne anders als an diesen Sprüchen kennen zu lernen; er kann sie nur dadurch identifizieren, dass er Sprüche unterschiedlicher Gestalt, auch in verschiedenen Medien, als Sprüche desselben Satzes erkennt. Die Sprache ist ihm als diffus chaotisches Mannigfaltiges gegeben, in dem er vor Verwechslungen geschützt ist, so dass er sich selten vergreift, also ausgestattet mit absoluter Identität und Verschiedenheit, aber ohne Einzelheit ihrer Inhalte (der Sätze), jedoch mit überraschend hoch komplizierter Ordnung, über deren Möglichkeit und Quelle bald Aufschluss gegeben wird. Im diffusen Mannigfaltigen bewegt sich wie der Sprachgebrauch auch der Mundgebrauch beim Sprechen. Die artikulatorische Phonetik hat die Beteiligung der relevanten Körperteile daran vom Kehlkopf über hinteren und vorderen Gaumen, Nase, Mund und Zähne bis zu den Lippen genau analysiert, aber es wäre absurd, zu meinen, ein sprechender Mensch könne sich an deren einzelne Vorschriften beim Sprechen entlanghangeln. Vielmehr kennt sich der kompetente Sprecher in seinem Mund ebenso, wie bei jeder flüssigen Bewegung in den davon beanspruchten Körperteilen, ohne Weiteres aus, indem er blind, aber treffsicher, vor Verwechslungen geschützt, das von der Sprache zur Erreichung seiner Absicht im Augenblick Aufgegebene den Mundbewegungen abgewinnt. Ebenso verhält es sich bei jeder anderen Ausübung motorischer 106 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Kompetenzen flüssiger Bewegung, schon beim schlichten Gehen und Greifen und erst recht bei solchen Meisterstücken virtuoser motorischer Kompetenz wie dem Tanzen, Klavier- und Orgelspielen unter den erworbenen Kompetenzen, dem Balancieren zur Abwendung eines drohenden Sturzes unter den unwillkürlich dem Menschen zufallenden. In allen diesen Fällen wirkt der Mensch in einem Medium diffus chaotischer Mannigfaltigkeit. Konfuses, diffuses und numerisches Mannigfaltiges passen in einer linearen Aufbauordnung zusammen. Im konfusen Mannigfaltigen fehlt es sogar an Identität und Verschiedenheit. Im diffusen Mannigfaltigen kommen absolute Identität und Verschiedenheit hinzu, aber noch fehlt die Einzelheit. Im numerischen Mannigfaltigen ergänzt sich absolut Identisches durch Fallen unter eine Gattung zum Einzelnen und gewinnt durch Fallen unter mehrere Gattungen relative Identität. Dieses einfache Bild der Mannigfaltigkeitstypen wird kompliziert und abgerundet durch das Hinzutreten des (spaltbaren oder unspaltbaren) Verhältnisses. Kompliziert, weil das Verhältnis, zusammen mit der Beziehung, unter einen anderen Einteilungsgrund als den der Mannigfaltigkeit gehört, nämlich unter den Gesichtspunkt des Zusammenhangs. Abgerundet, weil sich ein weiterer Typ des Mannigfaltigen, das zwiespältige, erst als Verhältnis den übrigen Typen anschließen lässt und manches an diesen (im Bereich des diffusen Mannigfaltigen) erst als Verhältnis verständlich wird. Deswegen ist es unerlässlich, das Verhältnis in das Tableau des Mannigfaltigen aufzunehmen, auch wenn man dabei Überschneidungen in Kauf nehmen muss.

2.4.2 Unspaltbare Verhältnisse Verhältnisse und Beziehungen sind die beiden Haupttypen des Zusammenhangs. Verhältnisse sind ungerichtet, Beziehungen gerichtet von etwas, das sich bezieht (Referens) auf etwas, wo107 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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rauf es sich bezieht (Relat), eventuell (bei mehrstelligen Beziehungen) durch Zwischenstufen, die man durch Paare oder n-tupel (mit n > 2) 43 in der Rolle von Referens oder Relat ersetzen kann. Alle Beziehungen gehen aus Verhältnissen durch Spaltung hervor. Eine Landkarte, z. B. ist ein Inbegriff von Symbolen für Verhältnisse der Lage und des Abstandes; solche Verhältnisse werden in Beziehungen gespalten, sobald jemand die Karte in die Hand nimmt, um sich für einen Weg, den er vorhat, zu orientieren. Dann handelt es sich um die Beziehung seines Ausgangspunktes zum Zielort; er will der Karte die Richtung (Richtungen) des Weges und die Stationen auf dem Weg entnehmen. Meine Behauptung, dass alle Beziehungen aus der Spaltung von Verhältnissen hervorgehen, beweise ich mit der obligatorischen Umkehrbarkeit aller Beziehungen, die auf dem gegen die Richtung gleichgültigen Fundament des Verhältnisses, aus dem sie sich absondern, beruht. Keineswegs alle Richtungen sind umkehrbar wie die einer Beziehung. Das zeigt sich, außer an der unumkehrbaren Richtung des Blickes, an den Richtungen der Abläufe (Vorgänge, Prozesse). Während die Beziehung des Vaters zum Sohn durch Umkehrung in die Beziehung des Sohnes zum Vater zu diesem, dem ersten Referens, zurückführt, kann man die Reihenfolge der Stadien eines Ablaufs zwar umkehren, aber die Umkehrung kommt nicht zum Ausgangspunkt zurück, sondern setzt den Ablauf geradlinig in die Zukunft fort. Das liegt daran, dass sie statt eines invarianten Fundamentes, das die Beziehung am Verhältnis hat, den Fluss der Zeit voraussetzt, das Entstehen und Vergehen, in dem die Vergangenheit wächst, die Zukunft schwindet und die Gegenwart wechselt. Die Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen wird aber erst möglich, wenn die Einzelheit und das numerische Mannigfaltige erreicht sind. Das liegt daran, dass eine BezieEin n-tupel (sit venia verbo) ist eine Zusammenstellung der Glieder mit Beziehung, die sich von Mengen dadurch unterscheidet, dass dasselbe Glied mehrfach vorkommen kann.

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hung ohne Zahl nicht auskommt, sowohl die Zahl ihrer Stellen als auch die ihrer Teilnehmer. Die Tötung seiner selbst hat die Stellenzahl 2 und die Teilnehmerzahl 1, die Tötung eines Feindes die Stellen- und Teilnehmerzahl 2, die Anstiftung zur Tötung seiner selbst die Stellenzahl 3 und die Teilnehmerzahl (mindestens) 2. Beziehungen bedürfen der Zahl, um Ausgangsund Zielpunkt ihrer Richtung, die Rollen von Referens und Relat (selbst wenn beides dieselbe Sache als Fall zweier Gattungen ist), zu unterscheiden. Ungerichtete Verhältnisse haben dieses Bedürfnis nicht. Sie kommen auch ohne Einzelheit der Teilnehmer aus. Diese kann ganz oder teilweise fehlen. Dann ist das Verhältnis aber unspaltbar, d. h. zu der gegebenen Zeit nicht in Beziehungen spaltbar. Davon soll gleich die Rede sein. In das breite Spektrum unspaltbarer Verhältnisse will ich an den Beispielen, die mir aufgefallen sind und sich ohne Vorbereitungen mitteilen lassen, Einblick geben. Unspaltbare Verhältnisse gibt es durchaus auch im Bereich des numerischen Mannigfaltigen, also im Verhältnis zwischen einzelnen Teilnehmern. An erster Stelle nenne ich das gemeinsame Sägen mit der zweigriffigen Baumsäge, das Christian und Haas untersucht haben. 44 Beide Sägende übernehmen im Wechsel Initiative und Reaktion, aber ohne Bewusstsein vom Verhältnis des eigenen Beitrages zu dem des anderen. Die Größe ihrer Beteiligung schwankt, aber die Differenz wird unbemerkt vom Partner ausgeglichen. Keiner kann den Gegenspieler vom eigenen Werk trennen. Auch die Wahrnehmung der gemeinsamen Tätigkeit ist gemeinsam. Es ist gar nicht so leicht, absichtlich zu stören, weil man sich unwillkürlich auf den Partner einspielt. Es besteht kein Bewusstsein des eigenen Beitrags im Verhältnis zu dem des andern. Nur wenn einer die Arbeit ganz einstellt, merkt es der andere, aber zunächst nur als unvermitteltes Schwerergehen. Hiernach arbeiten die Sägenden an einem gemeinsamen Werk ohne gerichDas Folgende nach: Paul Christian, Renate Haas: Wesen und Formen als Bipersonalität, Stuttgart 1949, S. 9, 10, 11, 12, 19, 71

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tete Beziehung von sich zum Partner, vielmehr in unspaltbarem Verhältnis. Dabei bleibt unter normalen Umständen ihre Einzelheit erhalten: Keiner geht im bloßen Sägen auf, sie können sich auch unabhängig vom Partner auf andere Themen beziehen, z. B. beim Sägen darüber nachdenken, was sie nachher tun wollen. Diese nur partielle Versenkung kann man als relativ unspaltbares Verhältnis von einem absolut unspaltbaren unterscheiden, in dem die Teilnehmer sämtlich oder teilweise ganz gefangen sind. Ein anderes Beispiel eines unspaltbaren Verhältnisses im numerischen Mannigfaltigen bietet die Affektbesessenheit an. Zwar gibt es Fälle, in denen diese bis zur Selbstvergessenheit geht, aber das ist nicht immer so. Aus der Erfahrung des Psychiaters bestätigt Hadamik, dass sich Affektbesessenheit mit klarem Bewusstsein und Überlegung verträgt und vom Normalzustand hauptsächlich dadurch unterscheidet, dass für eine Auseinandersetzung mit dem Affekt keine Gegenvorstellungen verfügbar sind. 45 Der Besessene ist dann dem Affekt verfallen, ohne eine Beziehung zu ihm, die ihm eigene Stellungnahme und kritische Reflexion aus dem Abstand einer Richtung gestattete; er steht in unspaltbarem Verhältnis zu ihm und ist doch bei sich, als einzelne Person im Bann des Affektes, dessen Impuls ihm als einzelner gleichfalls wohl bewusst ist. Ein weiteres Beispiel unspaltbarer Verhältnisse unter lauter einzelnen Teilnehmern, die dann nicht Bewussthaber, sondern Bewussthaben 46 sind, wird nachher bei den disjunkten Beziehungen zur Sprache kommen. Besonders reichlich häufen sich die unspaltbaren Verhältnisse, in denen alle oder einige Teilnehmer nicht einzeln sind, so dass das Verhältnis dann ins chaotische Mannigfaltige hineinW. Hadamik, Leidenschaft und Schuld, in: Goldtdammers Archiv für Strafrecht, Jahrgang 1957, hier S. 104 und 108 46 Ich habe den Neologismus »die Bewussthabe« geprägt, weil mir die üblichen Worte »Vorstellung« oder »Perzeption« u. dgl. zu vieldeutig und verschwommen in der Bedeutung sind. Eine Bewussthabe ist eine Beziehung eines Bewussthabers auf etwas, das ihm bewusst ist. 45

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ragt. Besonders illustrativ sind die Ekstasen, die ich im nächsten Kapitel unter verschiedene Titel leiblicher Kommunikation einordnen werde. Für eine besondere Affektbesessenheit, die Ekstase eines Liebespaares, findet Goethe in seiner Ballade Die Braut von Korinth die interessante Formulierung: »Eins ist nur im andern sich bewusst.« Diese Liebenden gehen nicht, wie Wagners Tristan und Isolde, in der höchsten Lust unbewusster Selbstvergessenheit unter, aber sie sind nicht mehr bei sich, sondern nur noch im Partner sich ihrer selbst bewusst. Sie treten nicht mehr als einzelne Personen, die Beziehungen zu einander aufnehmen könnten, aus einander, sondern haben sich nur noch als Paar in unspaltbarem Verhältnis, und nur als Paar können sie zu etwas in Beziehung treten. Ein Partner einer solchen Paarbindung kann auch eine Maschine sein, ein Fahrzeug, das den Fahrer in den Rausch der Geschwindigkeit entführt. Davon berichtet kennerisch Znoj in seiner Psychologie des Motorrades. 47 »Idealerweise verschwindet das Motorrad aus dem Bewusstsein, es wird Teil des eigenen Ichs und damit der Persönlichkeit des Fahrers. 48 »Das Motorrad wird durch den Gebrauch zum erweiterten Selbst, es fängt buchstäblich an zu leben, weil wir durch das Motorrad hindurch die Straße und die Umgebung wahrnehmen« 49 Zur Ekstase wird dieses unspaltbare Verhältnis in einem »flow« genannten Ausnahmezustand, wobei »die Selbstbewusstheit (…) in die Handlung völlig aufgeht, sich buchstäblich darin auflöst und ein ›Glücksmoment‹ entsteht, das so stark ist, dass es immer wieder nach Wiederholung schreit.« 50 Vergleichbar sind Zustände solidarischer Faszination wie der hingerissene Gesang eines Chores unter einem charismatischen Dirigenten. Weicher, aber ebenso wirksam zur Enteinzelung und Bezie47 48 49 50

Hansjörg Znoj, Die Psychologie des Motorrads, Bern 2011 S. 27 S. 37 S. 70 und 69

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hungslosigkeit in unspaltbarem Verhältnis, sind die Ekstasen, die ich nachher als Ausleibungen charakterisieren werde, so die »sinnliche Ichhaltung«, die Hedwig Conrad-Martius durch »vollständige Gelöstheit, Inaktivität und Entspanntheit« charakterisiert, wenn nur noch »der Wind, der mich umspielt, die Wärme, die mich einhüllt, der Duft, der in mich eingeht« gespürt wird. 51 Mach beschreibt einen solchen Zustand als ekstatischen Hintergrund seiner positivistischen Weltanschauung: »An einem heitern Sommertage im Freien erschien mir mit einmal der Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend. Obgleich die eigentliche Reflexion sich erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze Anschauung bestimmend geworden.« 52 In einer verwandten Atmosphäre genießt Nietzsche am Silser See im Ober-Engadin eine Weile mittäglichen Behagens, die er in den ersten vier Zeilen seines Gedichtes Sils Maria so beschreibt: Hier saß ich wartend, wartend – doch auf Nichts, Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. 53 Dass Nietzsche ganz See, Mittag und Zeit geworden sein will, klingt nach Identifizierung, aber Identität ist symmetrisch, und dann müsste nicht nur Nietzsche zum See, sondern auch der See zu Nietzsche geworden sein, was nicht der Fall ist. Statt dessen hat er in der »gelösten sinnlichen Ichhaltung« nach ConradMartius seine Einzelheit, die dann nicht mehr eine Anzahl um Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung Band III, 1916, S. 404 (aus: Hedwig Conrad-Martius, Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt) 52 Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen, 3. Auflage Jena 1902, S. 23 53 Nietzsches Werke, Kritische Studienausgabe von Colli und Montinari, als Taschenbuch Berlin 1980, Band III S. 649 (Die fröhliche Wissenschaft, Lieder des Prinzen Vogelfrei) 51

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1 vermehrt, aufgegeben und ist in diesem Sinn ekstatisch im Silser See aufgegangen; er und dieser sind dann nicht mehr zwei. 54 Dass man dieses Verhältnis als Identität missversteht, liegt daran, dass Identität als paradoxe Überschiebung von Einheit und Zweiheit aufgefasst wurde, woraus sich die unter 2.2 erörterten Missverständnisse von Jaspers34 und anderen über das Selbstbewusstsein ergeben. Das unspaltbare Verhältnis, sofern es in der Ekstase zur Enteinzelung der Person wird, ist zwar Aufgehen in etwas, aber ohne die relative Identität, die gerade umgekehrt an Einzelheit gebunden ist. Dasselbe Missverständnis belastet die mit der beschriebenen sinnlich-passiven Ekstase eng verwandte mystische Ekstase des Aufgehens im »Meer der Gottheit«, wenn die unio mystica mit Identität verwechselt wird. »Ich bin Gott« sagte der islamische Mystiker Halladsch und musste dafür mit grausamem Tode büßen. Ich nehme nun Abschied von den Ekstasen und komme zu andersartigen Beispielen des unspaltbaren Verhältnisses unterhalb der Schwelle zum numerischen Mannigfaltigen. Bis ins konfuse Mannigfaltige, dem sogar die absolute Identität abgeht, reicht das unspaltbare Verhältnis im schon erörterten Fall der intensiven Größenunterschiede. Die Mannigfaltigkeit, deren unterschiedliche Fülle die jeweilige Größe oder Stärke des Lauten, Hellen, Warmen, Schnellen und der Kraft ausmacht, bietet keine Gelegenheit zum Schutz vor Verwechslungen, also nichts, was auf absolute Identität und Verschiedenheit hinweisen könnte. Erst recht gibt es darin nichts Einzelnes, das in Beziehung zu anderem Einzelnen treten könnte. Dennoch fehlt es darin nicht an Zusammenhang, allein schon durch die Richtungen des Aufstiegs oder Abstiegs. Es kann sich nur um ein unspaltbares Verhältnis im absolut konfus chaotischen Mannigfaltigen handeln. Ein besonders fruchtbarer Boden unspaltbarer Verhältnisse sind die Bewussthaben.46 Wenn man diese Verhältnisse heranIch erinnere an das Zitat aus einem Traktat des Scholastikers Walter Burley in der Vorrede.

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zieht, löst sich das alte Problem des Begleitbewusstseins auf. Sartre gibt für dieses, das von ihm so genannte präreflexive cogito, folgendes Beispiel: Ich zähle gerade die Zigaretten in meinem Vorrat und bin ihnen und der Zahl ihrer Menge mit ausschließlicher Aufmerksamkeit zugewandt. Wenn mich dann aber jemand fragt, was ich tue, antworte ich spontan, ohne Überlegung: »Ich zähle die Zigaretten.« Woher habe ich dieses zusätzliche Wissen hergeholt? Nicht aus nachträglicher Überlegung, aber auch nicht durch begleitende Selbstbeobachtung als zweite Bewussthabe neben der meiner Aufgabe, denn sonst wäre ich dieser nicht mit ausschließlicher Aufmerksamkeit zugewendet gewesen. Schon Aristoteles hat darüber nachgedacht. 55 Er neigt dazu, das Sehen selbst mit dem Begleitbewusstsein, zu sehen, zu identifizieren, aber macht sich den Einwand, dass man dann das Sehen sehen müsste, als ob es farbig wäre wie alles Gesehene, was doch nicht der Fall ist. Tatsächlich verhält sich das begleitende Bewussthaben des Bewussthabens zu diesem nicht viel anders als Nietzsche zum Silser See53 und der Mystiker zum Meer der Gottheit, in dem er aufgeht, nämlich ohne Einzelheit in unspaltbarem Verhältnis. Durch die Frage wird in dem Beispiel von Sartre das Verhältnis gespalten, und damit rückt die Bewussthabe der Bewussthabe als zweite einzelne Beziehung neben diese. Als schlichte Wahrnehmung habe ich eine solche bezeichnet, die ohne Distanzierung des Subjekts vom Objekt (etwa in Beobachterrolle) auskommt, also etwa einerseits die versunkene Wahrnehmung, wenn jemand z. B. in der gehörten Musik aufgeht, und andererseits die Wahrnehmung in akuter Lebensgefahr, z. B. im Straßenverkehr, wenn man unwillkürlich und instinktiv reagiert, um sich in Sicherheit zu bringen. Früher habe ich diese schlichte Wahrnehmung auf Verlust von Identität und Verschiedenheit im Verhältnis von Subjekt und Objekt, also auf chaotische Mannigfaltigkeit, zu-

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De anima 425b12–25

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rückgeführt. Neuerdings habe ich diese Erklärung kritisiert und statt dessen ein unspaltbares Verhältnis angenommen. 56 Ein sehr merkwürdiges und verstecktes Vorkommen des unspaltbaren Verhältnisses gibt es bei der Bewussthabe von Beziehungen. Um darauf hinzuführen, teile ich diese in zwei Gruppen ein. Die erste wird von den korrelativen Beziehungen gebildet, in denen schon durch die Bezeichnung dem Referens sein Relat zugewiesen wird, wobei diese Rollen tauschbar sind. Ich denke an oben/unten, vorher/nachher, Subjekt/Objekt, Zukommen/ Bekommen und alles dergleichen. Solche Beziehungen führen schon durch ihre Benennung die Bewussthabe sofort in die gewünschte Richtung und werden jetzt nicht mehr berücksichtigt. Beziehungen, die nicht korrelativ sind, nenne ich disjunkt, und in Bezug auf sie stelle ich einen Satz auf, den ich nummeriere, um später auf ihn zurückkommen zu können. Satz 1: Die Bewussthabe disjunkter Beziehungen ist ein unspaltbares Verhältnis. Als Beispiel wähle ich die Ähnlichkeit der Sonne mit dem Mond. Diese Beziehung ist disjunkt: Weder ist der Sonne als Relat einer nur auf sie gerichteten Bewussthabe eine Beziehung zur Ähnlichkeit anzumerken, noch eine zum Mond, und das Entsprechende gilt für Mond und Ähnlichkeit. Die Bewussthabe der Ähnlichkeit der Sonne mit dem Mond enthält drei einzelne Teilbewussthaben, in die sie zerlegt werden kann, aber es ist unmöglich, sie aus diesen wieder zusammenzusetzen. Die drei Bewussthaben bleiben einzeln, aber die Bewussthabe der Ähnlichkeit der Sonne mit dem Mond ist spurlos verschwunden. Das ist nicht nur intuitiv klar, sondern es lässt sich auch beweisen. Wenn die Bewussthabe der Ähnlichkeit R der Sonne a mit dem Mond b durch Zusammensetzung der drei Teilbewussthaben geHermann Schmitz, Wahrnehmung als Verhältnis, in: Näher dran? Zur Phänomenologie des Wahrnehmens, hg. v. Steffen Kluck und Stefan Volke, Freiburg 2010, S. 245–256

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bildet werden sollte, müssten zusätzliche Beziehungen zwischen ihnen bewusst gehabt werden, etwa R1 zwischen a und R mit zusätzlicher Bewussthabe a R1 R. Für die Zusammensetzung von a mit R1 wäre aus gleichem Grund eine zusätzliche Beziehung R2 und also eine zusätzliche Bewussthabe von a R2 R1 erforderlich, denn an der bloßen Bewussthabe von a war ja nichts von einer Beziehung (wie R1 ) zu R zu bemerken, und also müsste diese durch eine bewusst gehabte Beziehung R2 neu hergestellt werden. Man sieht sofort, dass R2 aus gleichem Grund ein R3 erfordert usw. in infinitum, so dass die Zusammensetzung der Bewussthabe der Ähnlichkeit der Sonne mit dem Mond aus den drei Bewussthaben von Sonne, Mond und Ähnlichkeit an der Zumutung einer unendlichen Fülle von Bewussthaben von Beziehungen scheitert. Durch Verallgemeinerung des Beispiels ergibt sich der Beweis von Satz 1, da ein Zusammenhang, dessen Zerlegung in Beziehungen ausgeschlossen ist, nur ein unspaltbares Verhältnis sein kann. Dieses besteht hier wieder einmal im numerischen Mannigfaltigen zwischen einzelnen Teilnehmern, die aber keine Bewussthaber, sondern Bewussthaben sind. Auf den Gedanken von Satz 1 bin ich durch den Anstoß gekommen, den ich an Kants Begründung seiner Ablehnung des zweiten Paralogismus der reinen Seelenlehre, ohne diesen gegen ihn retten zu wollen, genommen habe. Kant schreibt: »Denn die Einheit des Gedankens, der aus vielen Vorstellungen besteht, ist kollektiv und kann sich, den bloßen Begriffen nach, ebenso wohl auf die kollektive Einheit der daran mitwirkenden Substanzen beziehen (wie die Bewegung eines Körpers die zusammengesetzte Bewegung der Teile desselben ist) als auf die absolute Einheit des Subjekts.« 57 Zwischen den Teilen eines Körpers, etwa den Molekülen, gibt es viele Beziehungen, darunter solche der Zusammensetzung (Kohäsion). Kant ahnt nicht, dass dieses Modell auf die Bewussthabe von Beziehungen nicht übertragbar ist. 57

Kritik der reinen Vernunft A353

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Er hat keine Spur einer Idee von Verhältnissen, aus denen durch Spaltung Beziehungen hervorgehen, und schon gar nicht von unspaltbaren Verhältnissen. Der vorstehende Einblick in die Ausbreitung des unspaltbaren Verhältnisses auch unterhalb der Schwelle des numerischen Mannigfaltigen gibt mir Gelegenheit, ein schon mehrfach angesprochenes Rätsel am diffus chaotischen Mannigfaltigen aufzulösen. Dass der Umgang mit diesem durch absolute Identität und Verschiedenheit vor Verwechslungen geschützt ist, lässt sich verstehen, nicht ebenso aber die reichhaltige Ordnung, die dabei respektiert wird. Bloße Verschiedenheit ist ein zu grobes Instrument zum Ordnen. Tatsächlich ist aber die Sprache, der der kompetente Sprecher in flüssiger Rede bei seinem Sprachgebrauch gehorcht, mit fast unübersehbarer Feinheit durchgeordnet; die Sprachwissenschaft bemüht sich, dieser Ordnung beizukommen. Auch die Tiere, die der Einzelheit und numerischen Mannigfaltigkeit noch nicht teilhaftig sind, leben von Natur in wohlbestimmten Ordnungen. Sogar im konfusen Mannigfaltigen, bar der absoluten Identität, herrscht Ordnung, wie an der gerichteten Bewegung auf und ab bei Intensitätsschwankungen und an den homogenen Kontinuen zu erkennen ist, von deren Ordnungen, z. B. Dimensionszahl, die Mathematik zu berichten weiß. Diese Ordnungsfähigkeit schon im konfusen, erst recht aber im diffusen chaotischen Mannigfaltigen wird verständlich, wenn man einsieht, dass dieselben Zusammenhänge in zwei Formen vorkommen können: als numerisches Mannigfaltiges durch Beziehungen, die aus Verhältnissen abgespalten sind, und als unspaltbare Verhältnisse, die der Einzelheit ihrer Teilnehmer nicht bedürfen. Im Umgang der Tiere mit den Situationen, in denen sie leben, und der menschlichen Sprecher mit der Sprache, die sie in flüssiger Rede gebrauchen, werden dieselben Ordnungen ganzheitlich respektiert, die als Netze von Beziehungen von der nachkommenden Sprachwissenschaft oder Tiersoziologie mehr oder weniger erfolgreich rekonstruiert werden. 117 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Auf hohem intellektuellem Niveau hat der Unterschied den Typ des Gegensatzes zwischen einem anschauenden und einem diskursiven Verstand. Was sich einem anschauenden Verstand ganzheitlich als Tableau von Ordnungen präsentiert, kann man sich an Hand der Worte nahe bringen, mit denen Goethes Faust (Faust Vers 427–433) das Zeichen des Makrokosmos kommentiert. Goethe greift damit auf die Praxis der Alchemisten im Milieu seines Dr. Faust zurück; sie stellten ihre Weisheit in großen komplizierten Schaubildern (wie Robert Fludd) dem Leser mit einem Schlag vor Augen. Kant hat diese intuitive Vergegenwärtigung ganz unnötig mit Gottes intellectus archetypus und dessen Schöpferkraft zusammengeworfen. Ob man den anschauenden Verstand so hoch stellen soll, ist mir zweifelhaft. Er ist passiv auf das Gegebene angewiesen, während der diskursive Verstand, der mit Beziehungen operiert, das Gegebene wendig umordnen, überholen und neue Arrangements ausprobieren kann.

2.4.3. Zwiespältiges Mannigfaltiges In seinen bisher betrachteten Funktionen ergänzt das unspaltbare Verhältnis die ihm vorgegebenen Typen der Mannigfaltigkeit durch beziehungslosen Zusammenhang und macht damit die Möglichkeit von Ordnung noch unterhalb der Schwelle zur Einzelheit verständlich. Darüber hinaus bringt es einen weiteren Typ von Mannigfaltigkeit hervor, zu dem es sich spezialisieren kann: das zwiespältige Mannigfaltige. Ich bin darauf durch eine kuriose Anekdote gekommen, ein Jugenderlebnis des Philosophen Edmund Husserl, das diesen so anhaltend beschäftigt hat, dass er in seinen späteren Schriften häufig darauf zurückkommt. 58 In einem Panoptikum begegnete er als Student einer weiblichen Figur, die er für einen lebendigen Menschen hielt, bis 58

Quellenangaben in meinem Buch: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn

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er merkte, dass es eine Puppe war. Beim Übergang zu dieser Entlarvung präsentierte sich ihm eine unstimmige Erscheinung, in der die Züge von Frau und Puppe verwirrend durch einander gingen, nicht, als ob sich auf ein passiv vorliegendes Objekt nur sein Zweifel bezogen hätte, sondern mit einem Flackern anschaulicher Unentschiedenheit, das er als »zwitterhafte Überschiebungen (…) von Erscheinungen im Streite verschiedener Auffassungen« 59 charakterisiert. Auf dieses Zwischenstadium kommt es hier an. Trotz der Unvereinbarkeit dieser Auffassungen liegt kein Widerspruch vor, als ob dieselbe Figur zugleich lebendig und leblos wäre, sondern sie ist so wenig beides wie keines von beiden in einer Unentschiedenheit, die nicht Indifferenz ist, sondern dynamisch; man könnte sie als Konkurrenz verschiedener Sachen um Identität mit derselben Sache bezeichnen. Die konkurrierenden Sachen treten gleichsam nicht genug auseinander, um sich gegenseitig auszuschließen. Statt eines Widerspruchs entsteht daher ein Zwiespalt, an dem auch mehr als zwei Sachen beteiligt sein können. An kleinen Zwischenfällen dieser Art ist das Leben nicht sehr reich; neben der Wasserfallillusion, bei der fließendes Wasser sowohl in Ruhe als auch in Bewegung gesehen wird 60 , habe ich den Witzeffekt notiert, wobei Verwirrung und klare Übersicht zusammenfallen. 61 Wenn man die Identifizierung unvereinbarer Sachverhalte, worauf der Effekt beruht, nicht von Anfang an durchschaute, würde man gar nicht begreifen, worum es geht; wenn man aber nicht im selben Augenblick von der Kontamination verwirrt wäre, käme eine mehr oder weniger mühsame Analyse von Unsinn heraus statt eines Witzes, der mit heiterem Lachen quittiert wird, 1999, S. 85 Anmerkung 69, daraus zitiert in: Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg 2013, S. 59 f. 59 Husserliana Band IX, Dordrecht 1955, S. 195 (Phänomenologische Psychologie) 60 Tom Crane, The Waterfall Illusion, in: Analysis 48, Oxford 1988, S. 141– 147, hier S. 141 61 Kritische Grundlegung der Mathematik S. 63

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weil man den Triumph genießt, mitten in der Verwirrung klare Übersicht behalten zu haben. Das sind Nebensachen; seine Wichtigkeit im menschlichen Leben beweist das zwiespältige Mannigfaltige erst dann, wenn jeder sich auf sich selbst besinnt und dessen inne wird, dass er selbst als ganzer Mensch im Verhältnis zu den »Phasenmenschen«, die er im Lauf seines Lebens durchläuft, selbst zwiespältiges Mannigfaltiges ist. Nicht nur als Kind, Jüngling, Erwachsener und Greis ist der Mann immer ein anderer mit unvereinbaren Attributen, sondern in unzähligen Verwandlungen – schon der wechselnde Kenntnisstand genügt –, und doch immer derselbe Mensch. Ein Wissenschaftler, der das nicht anerkennt, kann nicht glauben, dass er jemals etwas lernt, auch durch Kritik, und dann ist er keiner, weil Wissenschaftler nur sein kann, wer bereit ist, aus Kritik zu lernen. Wenn jemand sich, wie Alfred Hoche 62, nur für die Folge der unzähligen »Phasenmenschen« hält, straft er sich Lügen, wenn er bei Ausbruch einer Feuersbrunst wegläuft, um sich zu retten, weil er um sein eigenes Leben fürchtet und nicht vor dem Tod eines künftigen Phasenmenschen. In gewisser Weise bin ich jeweils der Mensch, der ich gerade jetzt bin, denn an ihn werden alle Herausforderungen, die mich auf die Probe stellen, herangetragen, aber ich wäre entsetzt, wenn man mich nur für einen solchen Augenblicksmenschen hielte, nicht für den geschichtlichen Menschen, der sich entwickelt und bereit ist, in eine ungewisse Zukunft zu leben; für diesen sind die »Augenblicksmenschen« nur flüchtige Durchgangsphasen. In diesem Sinn konkurrieren die Phasenmenschen und der Mensch meiner ganzen Lebensgeschichte um Identität mit mir. Der Ausdruck »ganzer Mensch« hat demnach zwei Bedeutungen: Einerseits ist er der Mensch, der alle Lebensphasen umgreift, und als solcher ein Alfred Hoche, Zum Leib-Seele-Problem, in: Die Naturwissenschaften 12, 1924, hier S. 968: »Das Ich besteht aus Schichten, die aufeinander folgen und die für uns, durch eine gesetzmäßige Täuschung, zur Einheit verbunden werden.«

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einzelner Mensch, der mit anderen eine Gruppe bilden kann; andererseits ist er das Ganze, in dem dieser ganze Mensch und die Phasenmenschen um Identität mit mir konkurrieren, und das ist zwiespältiges Mannigfaltiges. Dieses Beispiel ist geeignet, die logische Struktur eines zwiespältigen Mannigfaltigen abzulesen. Es ist absolut identisch mit vielen Attributen, die für diese Identität wesentlich sind (2.1), aber diese Identität ist gestört, weil Verschiedenes, unter einander unvereinbar, um sie konkurriert. Es ist nicht einzeln, weil dank der Konkurrenz nicht entschieden werden kann, wie vieles es ist, so dass es nicht als Element einer Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist, in Betracht kommt, und nicht als etwas, das eine Anzahl gerade um 1 vermehrt. Mit dem Einzelnen teilt es aber die Fähigkeit, unter Gattungen zu fallen, z. B. im vorliegenden Fall unter die Gattung Mensch. Die Inhalte des zwiespältigen Mannigfaltigen, die sich in dynamischer Unentschiedenheit durchkreuzen, sind sämtlich einzeln, und dazu gehört auch das Ganze, wenn es, wie im Fall des Menschen, mit seinen Teilen in die Konkurrenz eintritt. Dann ist dieses Ganze doppeldeutig: einerseits das Ganze gegenüber den Teilen, andererseits das Ganze, das dieses Ganze und dessen Teile zwiespältig zusammenfasst. Diese Doppeldeutigkeit ist dann selber ein zwiespältiges Mannigfaltiges. Die Einheitsform eines solchen Mannigfaltigen ist das unspaltbare Verhältnis. Dieses Verhältnis bewahrt die konkurrierenden Inhalte davor, in einzelne auseinander zu fallen, für die nach Spaltung des Verhältnisses nur die Beziehung des Widerspruchs übrig bliebe, ein ausschließendes Entweder-Oder, im Fall der Husserl’schen Puppe: entweder Frau oder Puppe. Diese Entscheidung bleibt dem zwiespältigen Mannigfaltigen erspart, weil das Verhältnis unspaltbar ist; im wirklichen Leben tritt sie im Fall der Husserl’schen Puppe zum Glück bald ein – nicht an der zwitterhaften Erscheinung, sondern durch deren Auflösung –, nicht aber im Fall des Menschen. Durch das zwiespältige Mannigfaltige wird das unspaltbare Verhältnis für die Typen der Mannigfaltigkeit produktiv. Seine 121 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Ausbreitung über diese Typen reicht vom numerischen Mannigfaltigen über das chaotische mit seinen beiden Subtypen, dem diffusen und dem konfusen, hinweg. Mit dem zwiespältigen Mannigfaltigen bereichert es die Mannigfaltigkeit um einen weiteren Typ, den des Mannigfaltigen, das wegen einer nicht zum Widerspruch auflösbaren Unstimmigkeit mit gestörter absoluter Identität unspaltbar (in Beziehungen) zusammenhängt. Die Entdeckung des zwiespältigen Mannigfaltigen hat besondere Bedeutung für Logik und Mathematik wegen der Antinomien, die entstehen, wenn aus korrekt gebildeten Begriffen mit Hilfe tadellosen Deduktion Widersprüche abgeleitet werden können. Logik und Mathematik sind gegen diesen Unfall hilflos. Die Mathematiker flüchten sich vor den Antinomien der Mengenlehre, die wegen der grundlegenden Bedeutung dieser Disziplin auf (fast) die gesamte Mathematik durchschlagen, in Hilfskonstruktionen, die sich nur dadurch empfehlen, dass sie der mathematischen Beweisführung genügend Spielraum lassen und die bisher bekannten Widersprüche vermeiden, indem sie deren Formulierung umgehen. Einen Versuch, auch die übrigen Antinomien wie z. B. die seit der Antike bekannte Antinomie des Lügners mit logischen (semantischen) Mitteln zu heilen, unternahm Tarski durch Abstufung der verwendeten formalisierten Sprache in Objektsprache und Metasprache über die Sätze der Objektsprache in dem in Anmerkung 1 erwähnten Aufsatz. Es lässt sich aber zeigen, dass diese Methode einigen einschlägigen Antinomien, insbesondere der Antinomie von Hilbert und Ackermann, nicht gewachsen ist. 63 Ich habe mich ausführlich mit den Antinomien beschäftigt und den Mathematikern vorgeschlagen, die auftretenden Widersprüche auf die Verkennung des Mannigfaltigkeitstyps der in den einander widersprechenden Sätzen als Tatsachen behaupteten Sachverhalte zurückHermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg 2013, S. 115 f.

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zuführen. 64 Weil diese Sätze einzeln sind, glauben die Mathematiker, auch die von diesen Sätzen dargestellten Sachverhalte müssten einzeln sein (ein numerisches Mannigfaltiges bilden) und könnten dann allerdings nicht einmal Sachverhalte sein, weil sie einen Widerspruch zur Folge hätten. Ich halte dagegen dafür, die Schuld an diesen Widersprüchen einem unerlaubten und unvorhersehbaren Übertritt aus dem numerischen Mannigfaltigen in das zwiespältige Mannigfaltige anzulasten, gemäß der unter 2.3 gerügten Tendenz der Mathematik, entgegen dem Hauptsatz (2.3) den Bereich des numerischen Mannigfaltigen über Gebühr auszudehnen. Aus der Beziehung des Widerspruchs zwischen den Sätzen folgt keineswegs eine ebensolche Beziehung der von ihnen beschriebenen Sachverhalte, sondern es kann sich auch um ein unspaltbares Verhältnis vom unstimmigen Typ des zwiespältigen Mannigfaltigen handeln, wie bei der Husserl’schen Puppe. Dann entsteht kein Widerspruch, weil die zwiespältig konkurrierenden Sachverhalte gleichsam nicht genug auseinanderkommen, um gegen einander ausgespielt zu werden. Statt eines Widerspruchs bleibt alles an ihnen in der Schwebe dynamischer Konkurrenz. Es fragt sich aber, was der Logiker und der Mathematiker mit dieser ontologisch befriedigenden Lösung anfangen können. Sie haben ja nur den zwischen den kontradiktorischen Sätzen abgeleiteten Widerspruch, der ihnen verbietet, einen davon für wahr zu halten, so wie ihnen die Ableitung verbietet, einen davon für falsch zu halten. Um Raum für die von der zwiespältigen Mannigfaltigkeit geforderte Schwebe zwischen beiden Unmöglichkeiten zu schaffen, muss der logische Formalismus entsprechend erweitert werden. Um Wege zu finden, wie das geschehen kann, habe ich die Antinomien in die beiden Gruppen der oberflächlichen und der radikalen eingeteilt. Ich erläutere den Unterschied am Beispiel der Antinomien von Mirimanow und von Russell. Die Antinomie von Mirimanow bezieht sich auf die 64

ebenda S. 109–137

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Menge (besser: den Umfang, da keine Menge in meinem Sinn vorliegt) aller fundierten Mengen. Eine Menge ist fundiert, wenn sie nicht am Anfang einer unendlichen Kette des Elementehabens steht, als eine Menge a, deren Element eine Menge a1 ist, ebenso a2 von a1 , a3 von a2 usw. ad infinitum Mirimanow stellt die Frage, ob die Menge (der Umfang) aller fundierten Mengen fundiert ist oder nicht. Fundiert kann sie nicht sein, denn dann würde sie Element ihrer selbst und also unfundiert (mit wechselseitiger Identifizierung aller an). Unfundiert kann sie, als Umfang aller und nur der fundierten Mengen, auch nicht sein, denn dann enthielte er eine unfundierte Menge in der Rolle von a1 . Aus der Antinomie von Mirimanow ergibt sich durch Einschränkung die Antinomie von Russell, bezüglich auf die Menge (den Umfang) aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten. Während die antinomische Menge Mirimanows alle unfundierten Mengen ausschließt, schließt die antinomische Menge Russells nur solche unfundierten Mengen aus, in denen alle an mit einander und mit a identifiziert sind. Die Antinomie von Russell ist oberflächlich, das heißt: ganz leicht zu heilen, weil nichts dafür spricht, dass die kritische Menge ihr eigenes Element ist oder nicht ist, sondern der Widerspruch nur daraus folgt, dass jede von beiden Annahmen die andere impliziert. Folglich braucht man nur zu einer Logik mit einfacher Unentschiedenheit überzugehen, um die Schwierigkeit los zu werden. Statt nur zwischen a und :a (nicht a) zu wählen, muss man a, :a und !a (unentschieden, ob a) zur Auswahl stellen, oder, anders ausgedrückt, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten um eine Stufe erweitern: Auf der oberen Stufe ist zu entscheiden, ob Entschiedenheit oder Unentschiedenheit vorliegt, und für den ersten Fall auf der unteren Stufe, ob a oder :a. Im Fall der Russell’schen Antinomie muss die Entscheidung für einfache Unentschiedenheit fallen. 65 Viel schwieNachgerade habe ich eingesehen, dass die Antinomie von Mirimanow nicht radikal ist. Sie ist nämlich durch einfache Unentschiedenheit lösbar,

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riger ist mit der Antinomie von Mirimanow zu verfahren, einer radikalen Antinomie deswegen, weil einfache Unentschiedenheit zu ihrer Auflösung nicht reicht. Der Grund ist, dass von einander unabhängige Beweise für beide zu einander kontradiktorischen Behauptungen vorliegen. Diese Beweise müssen respektiert werden; man kann ihr Ergebnis nicht durch die schlichte Behauptung einer einfachen Unentschiedenheit wegschaffen. Das gilt auch für die übrigen radikalen Antinomien. Zu ihnen gehört auch die aus der Antike bekannte Antinomie des Lügners, obwohl sie der Antinomie von Russell darin gleicht, dass keine unabhängigen Beweise für die kontradiktorischen Behauptungen geführt werden. 66 Da bei den radikalen Antinomien mit der einfachen Unentschiedenheit nichts auszurichten ist, bin ich zur iterierten Unentschiedenheit übergegangen. Die Wahrheit einer Behauptung, die Tatsächlichkeit eines Sachverhaltes kann nicht nur einfach unentschieden sein, sondern es ist auch möglich, dass unentschieden ist, ob unentschieden ist, ferner, dass unentschieden ist, ob unentschieden ist, ob unentschieden ist, dass p, usw. ad infinitum. Mit jedem Schritt der Unentschiedenheit über den ersten hinaus schrumpft die Unentschiedenheit, weil jede Unentschiedenheit, ob p, die Kraft einer Tatsachenbehauptung über p schwächt, auch dann, wenn es sich um eine Behauptung der Unentschiedenheit handelt. Ich habe mit eingehender Rechtfertigung eine Erweiterung der Aussagenlogik um endlichfache Unentschiedenheit in der Skizze eines widerspruchsfreien formalen Systems ausgeführt, das zu dem Ergebnis kommt: Immer nur auf einer einzigen Stufe der Iteration über der Grundstufe weil die bewiesenen Sätze, die den Widerspruch erzeugen, beide negativ sind. Das ist nicht der Fall bei den Antinomien von Cantor, Burali-Forti, Hilbert und Ackermann, Richard. Das sind radikale Antinomien im angegebenen Sinn. 66 Zur Antinomie des Lügners Kritische Grundlegung der Mathematik S. 117–120. (Auf S. 119 ist die Formalisierung der Wahrheitsbedingungen von Tarski zu kurz geraten. Sie muss natürlich wie unter 1.1 lauten.)

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ohne Unentschiedenheit kann Unentschiedenheit bestehen. 67 Daraus ergibt sich, dass auch mit endlichfacher Iteration der Unentschiedenheit den radikalen Antinomien nicht beizukommen ist. Es gibt ja keinen Grund dafür, anzunehmen, dass auf irgend einer n-fach höheren Stufe der Iteration für eine natürliche Zahl n den unabhängigen Beweisen der radikalen Antinomien oder den besonderen Tücken der Antinomie des Lügners besser mit Unentschiedenheit beizukommen wäre als auf der untersten Stufe einfacher Unentschiedenheit. Wenn aber die Unentschiedenheit bis zur kleinsten transfiniten Ordnungszahl, also zur unendlichfachen und damit unendlich schwachen Unentschiedenheit, vorgetrieben wird, bleibt im Endlichen einschließlich der Grundstufe ohne Unentschiedenheit alles offen, weil man vom Unendlichen nicht in Einzelschritten zum Endlichen übergehen kann. Dann ist die zur zwiespältigen Mannigfaltigkeit ohne Widerspruch erforderliche Schwebelage auch im logischen Formalismus abgebildet. Das ist mein Vorschlag zur Abbildung dieser Schwebelage auch im logischen Formalismus, leider ohne Berücksichtigung der dynamisch unstimmigen Konkurrenz die sich besonders am Beispiel der Husserl’schen Puppe abzeichnet. Von den Versuchen mit mehrwertiger Logik unterscheidet sich mein Vorschlag dadurch, dass er nicht mehr als zwei Wahrheitswerte einführt, sondern mit wahren oder falschen Behauptungen über Tatsachen der Unentschiedenheit auf verschiedenen Stufen auskommt. Er kommt nicht nur der formalen Logik und Mathematik bei der Auseinandersetzung mit den Antinomien zur Hilfe, sondern er dient auch zur Bewältigung von Aporien der Zeit. 68 Nur anhangsweise will ich von den Antinomien der Logik und Mengenlehre aus einen Blick auf die heute viel intensiver erörterten Paradoxien der Quantenphysik werfen. Ein besonders lebhaft diskutiertes Paradox betrifft die Überlagerung von 67 68

ebenda S. 123–132 Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg 2014, S. 178, 181

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Quantenzuständen, die Schrödinger zum Gedankenexperiment mit einer Katze veranlassten, die nach Begriffen der Quantenphysik sowohl tot als auch lebendig als auch keins von beiden sein müsste. Das ist natürlich Unsinn. Ein Widerspruch kann nicht wirklich sein. Vielmehr handelt es sich um zwiespältiges Mannigfaltiges, um einen Zwiespalt statt eines Widerspruchs. Schrödingers Katze ist eine Husserl’sche Puppe in anderer Aufmachung. 69 Eine andere Schwierigkeit betrifft die Verschränkung von Ereignissen, die wegen ihrer Entfernung, von einander nicht mit der für die Physik der Relativitätstheorie grundlegenden Beziehung der Signalübertragung durch Nahewirkung erklärt werden kann: Ich deute diese Verschränkung als ein unspaltbares Verhältnis, das ohne Beziehungen auskommt. 70 Im übrigen halte ich mich zurück, weil ich von Quantenphysik nicht genug verstehe.

2.4.4 Übersicht der Mannigfaltigkeitslehre Nach dem Überblick über Typen der Mannigfaltigkeit bleibt mir die Aufgabe der Zusammenfassung. Die Mannigfaltigkeitslehre, wie ich sie jetzt (nach Jahrzehnten der Reifung) verstehe, wird kompliziert durch die Durchdringung zweier Gesichtspunkte der Einteilung. Der erste davon ist die Mannigfaltigkeit selbst. Es gibt numerische Mannigfaltigkeit, chaotische Mannigfaltigkeit mit den beiden Subtypen der konfusen und der diffusen Mannigfaltigkeit, und zwiespältige Mannigfaltigkeit. Verklammert werden diese Typen durch den zweiten Gesichtspunkt, das unspaltbare (d. h. zur gegebenen Zeit nicht in gerichtete Beziehungen spaltbare) Verhältnis. Dieses ist eine Art von Zusammenhang. Zusammenhänge gibt es durch Beziehungen oder durch Verhältnisse. Alle Beziehungen beruhen auf der Spaltung 69 70

Kritische Grundlegung der Mathematik S. 137 Hermann Schmitz, Gibt es die Welt?, Freiburg 2014, S. 125 f.

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von Verhältnissen. Von den Verhältnissen sind einige spaltbar, andere unspaltbar. Der Zusammenhang durch unspaltbare Verhältnisse gestattet weitgehend gleiche oder ähnliche Ordnungen wie der Zusammenhang durch Beziehungen. Beide Formen des Zusammenhangs gibt es im numerischen Mannigfaltigen. In den übrigen Typen der Mannigfaltigkeit gibt es dagegen Zusammenhang nur durch unspaltbare Verhältnisse. Beim chaotischen Mannigfaltigen liegt das daran, dass Beziehungen nur zwischen einzelnen Teilnehmern möglich sind. Solche fehlen im absolut chaotischen Mannigfaltigen. Dass auch in diesem komplizierte Ordnungen möglich sind, wird den unspaltbaren Verhältnissen verdankt, die nicht auf Einzelheit der Teilnehmer angewiesen sind. Dieser Umstand kommt besonders dem diffusen Mannigfaltigen zugute, dem Milieu, in dem Tiere und Säuglinge immer leben und menschliche Personen in allen unwillkürlich gelingenden Verrichtungen, z. B. dem Sprachgebrauch und dem Mundgebrauch beim Sprechen. Die hoch komplizierten Ordnungen, mit denen das diffuse Mannigfaltige zusätzlich zu dem Schutz vor Verwechslungen ausgestattet ist, verdankt es den unspaltbaren Verhältnissen. Das zwiespältige Mannigfaltige gelangt nicht zu Beziehungen in sich wegen der Störung seiner absoluten Identität durch die dynamische Konkurrenz um diese, in der die Teilnehmer gleichsam verhakt sind, so dass sie nicht gerichtete Beziehungen zu einander aufnehmen können während sie an sich, abgesehen von dieser Konkurrenz, die sie zusammenschließt, einzeln sind. Die Milieus der Mannigfaltigkeit sind also sämtlich auch Milieus des unspaltbaren Verhältnisses, das sich aber im numerischen Mannigfaltigen mit der Beziehung in die Zusammenhänge teilen muss. Im chaotischen (konfusen oder diffusen) Mannigfaltigen ist es, von Mischungen mit dem numerischen Mannigfaltigen abgesehen, die einzige Form des Zusammenhangs und ermöglicht im diffusen Mannigfaltigen komplizierte Ordnungen. Das zwiespältige Mannigfaltige ist eine Spezialform des unspaltbaren Verhältnisses, das sich durch Unstimmig128 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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keit (Störung der absoluten Identität) ohne Widerspruch zu ihm spezialisiert. Durch das unspaltbare Verhältnis hängt das zwiespältige Mannigfaltige mit den anderen Typen der Mannigfaltigkeit zusammen.

2.5 Situationen und Konstellationen Bis hierhin mag der Leser des Kapitels sich fragen, was die umständlichen Ausführungen über Typen der Mannigfaltigkeit mit dem Begreiflichmachen des wirklichen Lebens der Menschen zu tun haben. Ganz fern liegt eine Antwort nicht. Die Einschränkung der Domäne des numerischen Mannigfaltigen im Mannigfaltigen überhaupt schiebt der Hypertrophie des pythagoreischen Gedankens, alles gleiche der Zahl oder sei nach Zahl, Maß und Gewicht geordnet, und damit dem immer stärker sich im Leben vordrängenden Versuch, der Zahl die Herrschaft über das Denken zu verschaffen – gipfelnd im Schrei nach Digitalisierung – einen Riegel vor, der das Nachdenken auf die Grundlagen der Mannigfaltigkeit zurückverweisen kann; auch das Eindringen in die präpersonale Grundschicht des Personseins wird auf diese Weise vorbereitet. Aber diese Überlegungen betreffen nicht die Denkweise der Menschen im Alltag und die Richtung, in die sie durch die einseitige Einstellung auf Einzelheit und numerische Mannigfaltigkeit gelenkt wird. Das wird anders, sobald die Abhängigkeit des numerischen Mannigfaltigen vom chaotischen unter dem neuen Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Situationen und Explikation in Konstellationen in den Blick kommt. Dann wird es möglich, den Singularismus und den daraus sich ergebenden Projektionismus grundsätzlich anzugreifen. Singularismus ist die Überzeugung, dass alles ohne Weiteres einzeln ist. Projektionismus ist die Meinung, dass alle Bedeutungen, durch die etwas wichtig wird, einem neutral gegebenen Stoff von sozusagen nackten Einzelwesen durch individual- oder artspezifische Bedürfnisse und Interessen aufgeprägt 129 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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werden. Der erste Philosoph, dem der Singularismus so selbstverständlich war, dass er gar keine Alternative – auch abwehrend – in Erwägung zog, war Kant 71 , ein extremer Projektionist Nietzsche. 72 Eine Weltanschauung, die durch Kombination beider Irrtümer entsteht, zeichnet sich in dem Bekenntnis ab, das im 6. Buch von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre die sogenannte schöne Seele, eine Pietistin, ihrem hochverehrten Onkel in den Mund legt: »Alles außer uns ist nur Element, ja ich darf wohl sagen, auch alles in uns, aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die des zu schaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten lässt, bis wir es außer uns oder an uns, auf eine oder die andere Weise, dargestellt haben.« 73 Ganz im Sinne der seit Demokrit und Platon herrschenden abendländischen Tradition des Psychologismus und der Introjektion spaltet der Oheim die Welt in Außen und Innen und vertraut dieses der Selbstgestaltung im Dienst einer höheren Ordnung an, indem er beides, Außen und Innen, zum bloßen Element – d. h. für Goethe: zu einem gleichgültigen oder gar feindseligen 74 Stoff – herabsetzt, dem eine schöpferische Kraft im Inneren aufprägen soll, »was sein soll«. Die Formulierung lässt offen, ob an eine verbindlich dem Belieben auferlegte Norm oder die Eigenmacht des Schöpfers, der sich selbst das Gesetz gibt, zu denken ist. Im zweiten Fall, den Nietzsche ausgeschlachtet hat, wird die Maxime des Oheims zum Freibrief für das Verfügen des Täters und Machers; im ersten Fall stellt sie sich in den Dienst des Diktats oft fragwürdiger Ideologien. GoeHermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Freiburg 2007, Band II S. 323–326 72 Hermann Schmitz, Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995, S. 340–345 73 In der von mir benützten Propyläen-Ausgabe von Goethes sämtlichen Werken steht die Stelle in Band 8, S. 343 f. 74 Vgl. z. B. Faust Vers 11507–11509 (der Teufel spricht); zu Goethes Elementbegriff: Hermann Schmitz, Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang, Bonn 1959, S. 303 f. 71

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thes Figur des Oheims der schönen Seele verkörpert die abendländische Tradition auf der Kippe zur gnadenlosen Technik. Dem Singularismus und Projektionismus stelle ich die Situationen und ihre Explikation mit Vernetzung der Explikate zu Konstellationen entgegen. Wenn man sich klar gemacht hat, dass Menschen an Einzelnes und dessen Vernetzung nur dadurch herankommen, dass sie aus Situationen mit binnendiffuser (chaotischer) Mannigfaltigkeit schöpfen und dass solche Situationen über die Weltspaltung hinweggehen, gewinnt die Rede des Oheims von einer schöpferischen Kraft einen neuen Sinn: Sie lehnt sich nicht mehr an das Schöpfertum Gottes und dessen vermeintlichen Ebenbildes Mensch an, sondern an die Gebärde des Schöpfens eines Gutes aus dem Wasser des Bemühens, eine vorgegebene Bedeutsamkeit zu bergen und durch Vereinzelung und Vernetzung umzugestalten. Die Bedeutsamkeit ist primär, nicht nachträglich durch Projektionen einem Stoff aufgeprägt, aber sie liegt nicht am Tag wie Kants kategorischer Imperativ, eine deutliche Norm, »was sein soll«, sondern muss gehoben, interpretiert, verwandelt, angeeignet werden. Wir sind, auch ohne eine uns reservierte Privatsphäre »in uns« (unserer Seele, unserem Bewusstsein) zu besitzen, verstrickt mit dem, was uns begegnet, in gemeinsame Situationen und können diese erst mehr oder weniger durchschauen, wenn wir uns mit dem, was vorgegeben und nicht »in« uns gesetzt ist, auseinandergesetzt haben. Das ist die Lehre, die ich im Folgenden zur Evidenz bringen will. Unter 2.2 wurde gezeigt, dass Einzelheit aus dem Zusammentreffen des Fallens unter eine Gattung mit absoluter Identität von etwas entsteht. Gattungen sind Sachverhalte (2.1). Damit ist der Singularismus auch schon widerlegt. Nichts ist ohne Weiteres, von sich aus, einzeln, sondern etwas ist einzeln nur durch Vermittlung einer Gattung, deren Umfang, in dem alle ihre Fälle und nur sie Platz haben, eine Menge ist, d. h. ein Umfang, der eine Zahl hat. Ferner gilt:

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Satz 1: Jeder Umfang, der keine Zahl hat, hat nicht nur einzelne Elemente. Jedes Einzelwesen ist Element einer endlichen Menge (2.2, Satz 3). Dazu ist auch jedes Einzelwesen Element einer Menge mit einer der Zahlen 1 oder 2, die sich durch Paarung (eventuell mit sich selbst) ergibt. Das folgt aus dem Beweis von Satz 1 in 2.2, wenn die minimale Vermehrung in minimale Verminderung umgesetzt wird. Mit der Paarbarkeit, die jedem einzelnen Element zukommt, ist aber auch die umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit des Umfangs gesichert, d. h., dass er eine Zahl hat. Wenn ein Umfang keine Zahl hat, können seine Elemente daher auch nicht alle einzeln sein. Gattungen sind Sachverhalte (2.1). Im Hinblick auf die gleich zu besprechenden Situationen empfiehlt es sich, sie mit den Programmen und den Problemen zur größeren Klasse der Bedeutungen zusammenzufassen. Das Verhältnis zwischen Sachverhalten und Problemen ist leicht zu bestimmen: Sachverhalte sind die Fraglichmacher, wodurch Problemträchtigkeit in das Seiende kommt (1.1). Ein Sachverhalt wird zum Problem, wenn sich diese Problemträchtigkeit bemerkbar macht. Dazu bedarf es keiner das Problem formulierenden Frage. Schon Tiere können stutzen und unsicher werden. Oft spürt man, dass etwas nicht stimmt, nicht in Ordnung ist, ohne den Schaden präzisieren zu können; die Wahnstimmung bei beginnender Schizophrenie ist ein generalisierter Dauerzustand dieser Art. Bei erwachsenen Personen sind unformulierbare Probleme etwa die verdeckten Konflikte der Neurotiker, die Psychotherapeuten (wie Psychoanalytiker) ins Bewusstsein zu heben versuchen. Ein Programm ist entweder eine Norm (Programm für möglichen Gehorsam, dass etwas sein oder nicht sein soll) oder ein Wunsch, dass etwas sein möge, Verpfändung des affektiven Betroffenseins an einen Sachverhalt in dem Sinn, dass dessen Realisierung zur Tatsache dem Betroffenen lustvoll nah geht, Ausbleiben der Realisierung

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dagegen leidvoll. 75 Aus den objektiven (neutralen) Sachverhalten sind die Programme weggewischt, dagegen gehören sie integral zu den subjektiven Sachverhalten des affektiven Betroffenseins, z. B. zum Bedrohenden das Abwehrprogramm (das nicht immer gelten muss; ein Programm für möglichen Gehorsam ist nicht auch gleich Programm für wirklichen Gehorsam). Die Sachverhalte, eventuell zusammen mit Programmen und Problemen, müssen also als Gattungen vorhanden sein, damit etwas als Fall dieser Gattungen einzeln werden kann. Wie werden sie bereitgestellt? Die Platoniker lassen sie in einem Himmel der Ideen wie von selbst da sein, aber dann könnte etwas ohne Weiteres einzeln sein, nicht erst als Fall einer Gattung. Dass es sich nicht so verhält, dass auch die Gattungen erst als Fälle einer Gattung einzeln sein können, ergibt sich aus dem allgemeinen über Einzelheit Gesagten. Wenn das auch auf Gattungen ausgedehnt wird, scheint sich ein regressus ad infinitum anzubahnen, sogar ein doppelter. Der erste regressus ist ontologisch: Jede Gattung müsste als Fall wieder unter einer Gattung stehen. Die Gattung Mensch ist z. B. ein Fall der Gattung Gattung von Lebewesen; wie man unendlich viele Gattungen dieser Art ausdenken sollte, ist nicht leicht zu sagen. Viel schwieriger ist der zweite, psychologische regressus. Um etwas als einzelnes zu finden, müsste für dieses eine Gattung gefunden werden, für diese wieder eine Gattung usw. ad infinitum. Das Bewusstsein (d. h. Bewusstgehabtwerden) von Einzelnem würde verstopft durch die unmögliche Zumutung, unendlich viele Gattungen bewusst zu haben. Einen Ausweg könnte es geben, wenn eine Gattung Fall ihrer selbst wäre. Dann würde keine weitere Gattung zu deren Vereinzelung benötigt. Von dieser Art ist die Gattung Gattung selbst: Die Gattung Gattung ist eine Gattung. Wenn diese Chance zum Erfolg führte, brauchte man zur Vereinzelung von etwas nur zu wissen, dass es unter eine gewisse Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg 2012, S. 11; zu Lust und Leid: der Selbe, Bewusstsein, Freiburg 2010, S. 111 f.

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Gattung fällt, ohne sich über eine Gattung dieser Gattung Gedanken machen zu müssen. Aber leider hilft das nicht. Die Gattung Gattung hat zum Umfang nämlich keine Menge, die eine Zahl hätte. Ich will das kurz begründen. Es gibt sicherlich mindestens so viele einzelne Gattungen wie Einzelwesen überhaupt; das folgt schon aus der Definition der Einzelheit. Der Umfang aller Einzelwesen ist also im Umfang aller einzelnen Gattungen enthalten, ebenso umgekehrt. Nach dem Potenzmengensatz der Mengenlehre kann eine Menge nie auf die größere Menge ihrer Untermengen (die Potenzmenge) umkehrbar eindeutig abgebildet werden. Für die Menge aller Einzelwesen, und entsprechend die Menge aller einzelnen Gattungen, würde das bedeuten, dass sie kleiner wäre als eine Teilmenge von ihr, was nicht der Fall sein kann. Dieses Ergebnis entspricht der Antinomie von Cantor von der Menge aller Mengen. Die Menge aller einzelnen Gattungen wäre also pathologisch, ein zwiespältiges Mannigfaltiges im Sinne meines Vorschlags für die Antinomien unter 2.4.3, und sicher keine Menge in meinem Sinn, kein Umfang, der eine Zahl hat. Nun wird im Beweis des Potenzmengensatzes allerdings der Satz vom ausgeschlossenen Dritten verwendet, der nach dem Hauptsatz (2.3) nicht allgemeingültig ist. Das ändert aber nichts. In dem Beweis handelt es sich darum, dass bei umkehrbar eindeutiger Abbildung einer Menge M auf die Menge U aller ihrer Untermengen eine gewisse Untermenge U1 keinen Partner m1 in M haben könnte, weil m1 genau dann zu U1 gehören würde, wenn m1 nicht zu U1 gehört. Der Fall liegt also analog wie bei der Antinomie von Russell. Wenn nun wie bei dieser statt des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten Unentschiedenheit zugelassen wird, gerät in M wegen m1 und in U wegen U1 zwiespältiges Mannigfaltiges hinein, und das eignet sich nicht als Partner in einem Paar einer umkehrbar eindeutigen Abbildung (2.4.3). Auch auf diese Weise bleibt dem Umfang aller einzelnen Gattungen also die Aussicht versperrt, eine Menge zu sein, die eine Zahl hat. Also kann er nach Satz 1 nicht aus lauter einzelnen Gattungen bestehen. Er wird antinomisch 134 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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und kann vor dem Widerspruch nur in der unter 2.4.3 angegebenen Weise durch Zwiespalt gerettet werden. Nachdem dieser bequeme Versuch, den Faden des unendlichen (ontologischen und hauptsächlich psychologischen) regressus abzuschneiden, nicht zum Erfolg geführt hat, sehe ich nur noch eine einzige Möglichkeit, die Vereinzelung (d. h. Verleihung der Einzelheit an etwas absolut Identisches durch das Fallsein unter einer Gattung) begreiflich zu machen, ohne das menschliche Bewussthaben von Einzelheit zu überfordern. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass nur einzelne Gattungen dazu geeignet seien. Dieser Ansatz hat in eine Antinomie geführt: der Umfang aller und nur der einzelnen Gattungen bestehe nicht nur aus einzelnen Gattungen. Er ist nicht ganz falsch, weil die Einzelheit von Gattungen bei der Vereinzelung ihrer Fälle wichtig ist, aber auch nicht ganz richtig. Man darf sich den Hervorgang der Gattungen in die Einzelheit nicht als schlagartiges Ereignis vorstellen. Eher gleicht er einer Geburt, einer Entbindung, die von einem Mutterschoß über einen Geburtsweg zum sichtbaren Erfolg führt. Den Geburtsweg markiert die These, die ich als Satz 1 unter 2.4.2 markiert habe, um jetzt darauf zurückkommen zu können: Die Bewussthabe disjunkter Beziehungen ist ein unspaltbares Verhältnis. Die Beziehung einer Gattung zu ihrem Fall, (z. B. mit dem unter 2.1 verwendeten Beispiel: der Gattung Ehemann der Xanthippe zu Sokrates) ist disjunkt. In der Kapsel des unspaltbaren Verhältnisses, der Bewussthabe dieser Beziehung, kann die werdende Gattung schon eine labile Bewussthabe der Einzelheit eines Falles bewirken. Man sieht das an kleinen Kindern, die mit »Da! Da!« auf etwas zeigen, also dieses schon als einzelnes erfassen und dafür auch über die Gattungen des Ortes, der Richtung, der Nähe verfügen, aber noch nicht als einzelne und schon gar nicht als benennbare Gattungen. Nicht anders ergeht es erwachsenen, personalen Denkern mit dem Inhalt der vorbegrifflichen Gattungen, die allen durch Definition konstruierten begrifflichen Gattungen zu Grunde liegen. Ich erinnere an die Beobachtung 135 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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von Wilhelm Betz22, der diese Fälle treffend so charakterisiert: »Man konstruiert also Fälle zu dem Begriff, aber man gibt nicht die Merkmale des Begriffs an, was man in vielen Fällen gar nicht kann.« 76 Das trifft sogar auf die abstraktesten Begriffe der Logik und Mathematik zu, auf Gattungen wie Beziehung, Menge, Mannigfaltiges usw., um vom Verhältnis zu schweigen, das diese Wissenschaften noch gar nicht entdeckt haben. Auch in den schon benannten und also vereinzelten Gattungen verbergen sich als Hintergrund werdende Gattungen, die noch nicht einzeln gefasst werden können. Das war Anlass für die Franzosen des 17. Und 18. Jahrhunderts, den Ausdruck »das Ich-weißnicht-was« (»Je-ne-sais-quoi«) für den sich näherer Bestimmung entziehenden Charme eines Kavaliers zu verwenden. 77 Platons Dialogfigur Laches, ein Feldherr, der sich in Tapferkeit auskennt, wird ratlos, als Sokrates ihn auffordert, zu sagen, was das ist 78 ; seine vereinzelnde Kenntnis dieser Gattung schwimmt auf dem Hintergrund erst zur Vereinzelung reifender Gattungen, für die demnach kein Wort zur Verfügung steht. Solche noch nicht explizit einzelnen Gattungen tun den expliziten den Dienst, für den Gattungen zur Vereinzelung nötig sind, ohne selbst weiterer Gattungen zu ihrer eigenen Vereinzelung zu bedürfen, da diese ihnen noch fehlt. Der Mutterboden, aus dem die Gattungen wie alle anderen Bedeutungen hervorwachsen und hervorwachsen müssen, wenn nicht das Bewussthaben der Einzelheit vor die unmögliche Aufgabe des Durchlaufens unendlich vieler Gattungen gestellt werden soll, sind die Situationen. Eine Situation ist Mannigfaltiges irgend welcher Art, das ganzheitlich (d. h. in sich zusammenhängend und nach außen mehr oder weniger abgehoben) zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse (d. h. im Inhalt wie Anmerkung 22, S. 58 Erich Köhler »Je ne sais quoi«, in Romanisches Jahrbuch 6, 1953/54, S. 21–59 78 Platon, Laches, 194b 76 77

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chaotisch mannigfaltige) Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme und/oder Probleme sind. Im präpersonalen Bereich ist die Bedeutsamkeit sogar absolut chaotisch, d. h. ohne Beimischung von Einzelnem, im personalen dagegen meist mit solcher Beimischung (relativ chaotisch). Ich gebe ein Beispiel für den ersten Fall. Der Säugling, der nach Nahrung dürstet oder unter Nässe leidet, spürt die relevanten Sachverhalte seiner Situation als Probleme zusammen mit dem, von seinem Geschrei verratenen, Programm einer Abwendung dieser Probleme, aber keine von diesen Bedeutungen wird ihm einzeln. Situationen können ganz nur aus Bedeutungen bestehen, wie eine Sprache nur aus Sätzen besteht, d. h. aus Regeln – das sind Normen, die beliebig häufigen Gehorsam zulassen – zur Formulierung von Sprüchen. Es gibt aktuelle und zuständliche, impressive und segementierte Situationen; die erste Alternative bezieht sich auf den zeitlichen Verlauf, die zweite auf die augenblickliche Gegebenheit. Eine aktuelle Situation kann sich von Augenblick zu Augenblick ändern und gestattet daher Beobachtung in beliebig kurzen zeitlichen Querschnitten. Ein Beispiel ist eine Gefahrensituation, z. B. im Straßenverkehr. Der Autofahrer, der auf regennasser, dicht befahrener Straße einem drohenden Unfall nur durch augenblickliches Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen entgehen kann, muss die relevanten Sachverhalte, die Probleme des drohenden Unfalls und der durch Abwehrreaktionen eventuell hinzukommenden Gefahren und die Programme möglicher Rettung mit einem Schlag erfassen und zweckmäßig reagierend beantworten, aber nicht oder wenigstens nicht alle einzeln, denn mit sorgfältiger Analyse verlöre er die zur Rettung erforderliche Zeit. Zuständlich ist eine Situation, wenn sie höchstens bei Katastrophen plötzlich umschlägt, sonst aber sich höchstens allmählich ändert, so dass eine Prüfung ihres Verlaufs erst nach längeren Fristen sinnvoll ist. Beispiele: eine Sprache, die von vielen Menschen gesprochen wird; die Persönlichkeit eines Menschen als seine von mir anderswo ausführlich ana137 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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lysierte zuständliche persönliche Situation; die Ordnung in einer menschlichen oder tierischen Familie; eine erworbene motorische Kompetenz, von der jede Ausübung eine aktuelle Situation ist; der Charakter, an dem man ein Ding als Ding eines Typs oder als dieses individuelle Ding (etwa einen Bekannten, den sein Gang, seine Stimme verrät) erkennt, in binnendiffuser Bedeutsamkeit beladen mit Protentionen (Sachverhalten, die meist erst bei Überraschung einzeln hervortreten, vorher aber selbstverständlich sind), Programmen (der sympathischen oder unsympathischen Anmutung bis zur Verführung oder Abstoßung, der Konvention, des Prestiges, der Brauchbarkeit) und eventuell mit Problemen. Impressiv ist eine Situation, deren Bedeutsamkeit mit einem Schlag zum Vorschein kommt, wie eine akute Gefahr der besprochenen Art, segmentiert eine Situation, deren Bedeutsamkeit immer nur in Ausschnitten zum Vorschein kommt, wie eine Sprache, die man flüssig in Vortrag oder Unterhaltung spricht. Aktuelle Situationen sind meistens impressiv, zuständliche segmentiert, aber es gibt auch aktuelle segmentierte Situationen wie ein Problem, an dem man beharrlich grübelt, und zuständliche impressive Situationen, wie den schon erwähnten Charakter einer Art oder eines Individuums. Situationen dieser vier Arten können sich vielfältig mischen und verbinden. Ein Gespräch ist eine aktuelle Situation, beladen mit zuständlichen Situationen, die sein »Klima« und oft seine Inhalte bestimmen, wie der Sprache, in der es geführt wird, den Persönlichkeiten (persönlichen Situationen) der Teilnehmer, den Konventionen, den relativ permanenten »Rahmenbedingungen« der (politischen, religiösen, ökomenischen, familiären oder sonstigen) Umstände und – last not least – der zuständlichen partnerschaftlichen Situation, die darüber entscheidet, wie die Teilnehmer mit einander auskommen, und sich bei jeder neuen Begegnung fortsetzt und wandeln kann. Eine impressive und eine segmentierte Situation können permanent oder gelegentlich zusammengehören. Permanent gehören an einem Ding zusammen der Charakter und das Gesicht, eine aktuelle segmen138 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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tierte Situation, die sich in typischer Weise wandelt, wenn sich das Ding z. B. dreht, nähert, beleuchtet oder beschattet wird. Gelegentlich gehören eine segmentierte zuständliche Situation und eine impressive (meist aktuelle, gelegentlich zuständliche) Situation bei Plakatierung zusammen, wann sich die segmentierte Situation zu einer impressiven prägnant zusammenzieht, wie die Persönlichkeit eines Menschen, in dem (manchmal trügenden) ersten Eindruck, den der Mitmensch von ihm gewinnt, oder eine gemeinschaftliche segmentierte Situation in einem Kunstwerk. Daran dachte Heidegger, als er in seinen Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes schrieb, dass ein Kunstwerk eine Welt aufstellen kann, wie nach seiner Meinung ein Schuhgemälde von van Gogh, das er als Darstellung schmutziger Bauernschuhe auffasst, ihm die bäuerliche Welt darstellt, eine segmentierte zuständliche Situation. Situationen sind das Element, in dem Menschen und Tiere leben, wie der Fisch im Wasser. Es gibt auffällige, prägnante Situationen, die im Gedächtnis bleiben, ein fesselndes Gesicht oder Porträt, eine eigenartige Naturstimmung, das Neue, das man auf einer Reise als Eindruck von der Lebensart fremder Menschen und aus ihren Werken mitnimmt, eine Wohnung, die einem kahl oder behaglich vorkommt, noch ehe man sich umgesehen hat, traumatische oder beglückende Erfahrungen, die man so leicht nicht vergisst. Die meisten Situationen aber werden durchlaufen, ohne als einzelne aufzufallen. Eine Situation braucht so wenig einzeln zu sein wir ihr Inhalt. Zuständliche Situationen fallen oft so wenig auf wie die Brocken der Nahrung. Wie diese sich beim Kauen erst vereinzeln, wenn ein Bissen sich als zäh erweist, tritt manche zuständliche Situation, die vorher selbstverständlich war, als einzelne erst hervor, wenn sie zerbricht oder Anstoß erregt, z. B. durch eine Protestbewegung. Tiere sind in Situationen gefangen. Ihr Verhalten hängt von deren Gehalt an Programmen und Problemen ab. Menschen vermögen kraft ihrer satzförmigen, d. h. den Sätzen einer Sprache 139 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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gehorchenden, Rede aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situationen einzelne Sachverhalte, einzelne Programme, einzelne Probleme, meist viele einzelne zusammen, zu entbinden. Das ist, wie sich gezeigt hat, jeweils kein schlagartiges Ereignis, sondern ein Reifungsprozess. Wenn dieser abgeschlossen ist, stehen die Explikate, sprachlich durch Namen gefasst, als einzelne zur Kombination in Netzen (als Konstellationen) zur Verfügung. Sie lassen sich nach Übereinstimmungen und Unterschieden – Dihairesis nach Platon und Aristoteles – ordnen, und relative Identität macht es möglich, eine Sache in verschiedene solche Netze einzuordnen, diese an ihr auszuprobieren, die Sache von dieser oder jener Seite in den Blick zu nehmen. Anders als mit sprachlicher, satzförmiger Rede – im Gegensatz zu den nur auf ganze Situationen bezogenen Rufen und Schreien der Tiere – lassen sich einzelne Bedeutungen nicht identifizieren. Das liegt aber nicht daran, dass sie als Erfindungen eines sprachgeleiteten Denkens von den Menschen auf die Dinge oder andere ihnen gegebenen Vorräte – das, was der Oheim in Goethes Lehrjahren »Element« nennt – aufgesetzt würden, sondern die sprachliche Rede wirft dem Menschen zu, was beim Austritt aus der Gefangenschaft in Situationen für ihn abfällt. Indem er noch einige weitere Geschenke sich zu eigen macht – insbesondere die Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen und die Fähigkeit zur Projektion des Einzelnen ins Nichtseiende durch Erwartung und Phantasie –, kann er Situationen auf das hin, worauf es ihm ankommt, rekonstruierend in den Blick nehmen und planend überholen; so wird er den Tieren überlegen. Erst durch die Ausreifung der Vereinzelung gewinnt das Einzelne festen Halt in stabilen und zugleich flexiblen Netzen; vorher konnte es nur labil und sporadisch zu Stande kommen. Obwohl der Mensch die Gefangenschaft in Situationen sprengen kann, vermag er sich nie aus diesen zu befreien. Woher sollte er sonst die Gattungen nehmen, die zur Vereinzelung nötig sind? Ursprünglich werden sie aus dem präpersonalen Leben geschöpft, das menschliche Personen in ihren unwillkürlich ge140 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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lingenden Verrichtungen mit den Tieren teilen, in gewisser Weise sogar noch bei ihrem sprechenden Umgang mit der Sprache, das allerdings mit dem Unterschied, dass Mehrsprachler die Sprache, in der sie sprechend jeweils gefangen sind, wechseln können, was den Tieren versagt bleibt. Sind die Bedeutungen, besonders die (als Gattungen verwendeten) Sachverhalte ausreichend explizit, können sie in neuen Gattungen kombiniert werden, ausdrücklich mit Hilfe von Definitionen. Dabei kommen die Menschen aber nicht umhin, aus den Situationen zu schöpfen, denen sie die Bausteine der Konstellationen entnehmen, und sich mit diesen Situationen auseinanderzusetzen, von denen sie präpersonal und im affektiven Betroffensein nicht losgelassen werden. Aus den Konstellationen, die sei errichten, wachsen wieder Situationen zusammen, die wieder expliziert werden, so dass neue Konstellationen entstehen, in die sich die Menschen abermals so einleben, dass daraus Situationen werden, in denen sie schwimmen wie der Fisch im Wasser. Dieser Wechsel von Situationen und Konstellationen ist der Grundrhythmus der Geschichte 79 in allen ihren Gestalten – von der Lebensgeschichte des Individuums bis zur Fach- und Völkergeschichte – angesichts von Herausforderungen, die das Entstehen mit sich bringt: Erst im Entstehen, also nachträglich, löst sich aus der offenen Zukunft dessen, was noch möglich ist, die geschlossene Zukunft, dessen ab, was vorher noch nicht war, aber künftig sein würde 80 ; dieses partielle Schließen der Zukunft verlangt beständige Anpassung in aktuellen Situationen. Die Situationen, aus denen das Explizieren und Kombinieren schöpft, werden nicht gemacht, sondern der Mensch taucht aus ihnen auf oder gleitet in ihn hinein; sie gehen ihm jeweils als Herausforderungen zur Explikation voran, die allerdings nicht ganz einHermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg 2014, S. 200–208: Der Gang der Geschichte 80 Ebenda S. 149–163, vgl. Hermann Schmitz, Gibt es die Welt?, Freiburg 2014, S. 121 79

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deutig vorgeschrieben, also immer auch Interpretation ist. Diese kann aber nicht aus einer vermeintlich allgemeinen Vernunft schöpfen, die inhaltsvolle Gesetze der Lebenserfahrung lieferte, wie Kant glaubte und seine Epigonen noch heute glauben, sondern nur aus konkreten Situationen, in die die Menschen, wie Heidegger sagt, »geworfen« sind. Der Universalismus eines Vernunftglaubens ist erst die halbe Aufklärung, die Stufe, auf der noch Kant stand; die deutsche Historische Schule der Spätromantik war, trotz aller ihrer Mängel, in der Aufklärung schon weiter. Alle die Gegner der Gattungen, Tatsachen und Bedeutungen, die das als abstrakte Objekte verwerfen und sich lieber an konkrete, mehr handgreifliche Gegenstände halten, seien dies nur Körper, Dinge, Sinnesdaten oder sonst etwas, mögen sich erinnern lassen, dass die Inhalte dieser Gegenstände zwar sehr konkret und massiv sein mögen – etwa feste Gegenstände, auf die man prallen und sich dabei Knochen brechen kann, – dass aber die Form der Einzelheit, ohne die sie sich diese konkreten Gegenstände nicht denken könnten, gar nicht so konkret ist, sondern abstrakter als gewisse Bedeutungen, nämlich vermittelt durch diese. Die Frage nach dem Ding an sich hinter den Situationen ist demnach falsch gestellt. Es ist die Frage, was in Wahrheit die Dinge seien, die in wechselnden Situationen dem einen Menschen so, dem anderen anders vorkommen. Diese Frage unterstellt einzelne Dinge – oder auch ein einziges einzelnes Ding, wie Spinozas Substanz –, die von den Situationen nur bekleidet und gefärbt würden, wie durch Kleider verschiedener Farbe, die man bei entsprechendem Vermögen wegziehen könnte, um am Grund des Wirklichen die Wahrheit zu finden, an der sich der Erkenntniswille beruhigen könnte. Es ist aber umgekehrt: Nicht einzelnen Dingen, die an sich sind, werden Situationen angehängt oder übergelegt, sondern einzelne Dinge gibt es nur durch Situationen, weil sie ihre Einzelheit den Bedeutungen (Sachverhalten, Gattungen) verdanken, die mit dem Werkzeug satzförmiger Rede aus Situationen hervorgeholt werden. 142 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

3. Leib und Gefühl

3.1 Der vergessene Leib Jeder (fast jeder) Mensch kennt Kopf- und Bauchschmerzen, Hunger, Durst, Wollust, Ekel, Frische und Müdigkeit; Zorn ist schon einmal in ihm aufgestiegen, ein Schauer ist ihm übergelaufen, Kummer hat ihn niedergedrückt, Freude ihn erleichtert. Das ist das Nächste und Natürlichste von allem, was ihm zustoßen kann, und es gibt ihm die Gewähr, dass es ihm selbst widerfährt; unbestreitbar ist ihm die Gewissheit, dass er selbst der Betroffene ist. Diese Gewissheit wird aber dadurch in den Hintergrund gedrängt, dass solche Ereignisse oder Zustände oft an Stellen vorkommen, wo der Mensch Teile seines Körpers vorfindet (Kopf, Brust, Bauch) oder vermutet (Gehirn, Herz usw.). Sie werden dann, weil sie am Körper stattfinden, in den Körper verlegt, als Empfindungen von Geschehnissen in diesem. Dadurch werden sie der unmittelbaren Gewissheit entrückt; denn von seinem Körper kann der Mensch sich distanzieren, ihn wie einen Fremdkörper in Augenschein nehmen und erforschen, ihn benützen und zurechtmachen, während er seinen Schmerz, seinen Hunger, seine Erleichterung wirklich selbst erleiden muss. Bei solcher Umdeutung leiblicher Regungen in empfundene Körperzustände übersieht man den damit verbundenen Wechsel der Räumlichkeit. Der Körper eines Menschen oder Tieres ist stetig ausgedehnt, von Flächen begrenzt und durch Flächen schneidbar, mit bestimmten und nach festen Mustern auch bei Bewegung sich durchhaltenden Lagen und Abständen seiner Teile. Alles Leibliche ist dagegen flächenlos. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, während man sie am eigenen Körper besehen und betasten kann. Leicht macht man sich den 143 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leib und Gefühl

Unterschied am Kopfschmerz klar. Er teilt sein Lokal mit dem Kopf, unter dessen massiven Formationen weichere vermutet werden, die – wie das Gehirn – zum Vorschein kommen, wenn man den Kopf aufschneidet. Dagegen ist der Kopfschmerz zwar wie der Kopf räumlich ausgedehnt, aber auf eine andere Weise, als eine verschwommen engende und eingeengte Masse, unscharf begrenzt, zwar von dynamischen Akzenten (Pochen, Hämmern, Klopfen) durchsetzt, aber nirgends schneidbar wie eine körperliche Masse, daher auch nicht in Teile zerlegbar. Der Raum des Leibes ist ein flächenloser Raum wie der des Schalls. Ich denke nicht einmal so sehr an die hörbare Richtung und Entfernung der Schallquelle wie an die Eigendynamik, die der Schall durch seine raumgreifenden Bewegungssuggestionen besitzt, die als Tanz- und Marschmusik auf Leiber überspringen und diesen Bewegungen eingeben. Auch Geräusche besitzen diese Eigendynamik, wie Hall und Echo, das dumpfe, schwerfällige Ausladen eines Brummens, die schrill ansteigende Spitzigkeit eines Pfiffs, die drängende und treibende Beweglichkeit eines Rhythmus von Trommelschlägen ebenso wie von Stimmen oder Musikinstrumenten. Der Raum des Leibes und der Raum des Schalls sind zwei Beispiele unter vielen für flächenlose Räume. Flächenlos ist auch der Raum der einprägsamen Stille, die als feierliche Stille – sei es aus feierlichem Anlass oder als Stille einer weiten, erhaben öden Landschaft – weit und dicht ist, als drückende Stille (z. B. eines heißen Mittags) ebenso dicht, aber enger und schwerer ist, als Stille eines unberührten Morgens aber weit, zart und locker. Flächenlos sind ferner die Räume des Wetters, des unauffälligen Rückfeldes, das man ständig durch kleine Bewegungen nach hinten (Zurücklehnen u. dgl.) in Anspruch nimmt, des Windes, dem man seine Richtung und daher die räumliche Bewegung seines Herkommens beim Auftreffen noch anmerkt, aber als Bewegung ohne Ortswechsel, solange man den Wind nicht in bewegte Luft umdeutet. Ein besonders treffendes Beispiel flächenloser Räume, von denen die Geometrie (seit ihrer Entstehung bei den Griechen) und die ihr 144 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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folgende gängige Raumvorstellung keine Notiz nimmt, ist das Wasser, wie es dem Schwimmer begegnet, der sich ohne optische Hilfsvorstellung vorwärts kämpft oder ruhig tragen lässt: ausgestattet mit Richtungen, nicht aber mit Punkten, Strecken oder Flächen. In dieses breite Spektrum, in das auch der Raum der frei sich entfaltenden Gebärde gehört, reiht sich der Raum des spürbaren Leibes ein. Das Fehlen der Fläche hat große Auswirkungen auf die Struktur flächenloser Räume. Sie können nicht dreidimensional, überhaupt nicht n-dimensional mit n Dimensionen sein, denn ohne Flächen gibt es keine Strecken und Punkte, ohne diese kein dreidimensionales Volumen. Ein Volumen anderer Art ist aber möglich und oft verwirklicht: ein dynamisches Volumen, gebildet aus der gleich (3.2) zu besprechenden Dynamik von Engung und Weitung, die als Spannung und Schwellung antagonistisch verschränkt sind. Am Schall kommt es vor im Unterschied der dunklen, tiefen Töne und Geräusche, die weit ausladen, schwerfällig, aber locker sind und der dichten, engen, spitzen, hellen; die Griechen nannten deshalb die hohen Töne »scharf«, die tiefen »schwer«. Das Volumen der einprägsamen Stille wurde schon benannt. Im spürbaren Leib handelt es sich um das Volumen der Leibesinseln. Der Leib entfaltet sich gewöhnlich zu einem Gewoge verschwommener Inseln, von denen einige konstant sind, während die meisten kommen und gehen. Eine davon ist die Ateminsel, die sich bei jedem Atemzug bildet und auflöst. Dabei führt anfangs die Schwellung, die sich allmählich, wenn auch in Sekundenschnelle, zum Übergewicht der Spannung verschiebt, bis diese unerträglich zu werden droht und durch die unumkehrbare leibliche Richtung des Ausatmens abgeführt wird. In solcher Weise dynamisch ist auch das Volumen des Schalls, der Stille, des Wassers für den Schwimmer. Ein anderes Beispiel ist der Kopfschmerz als enge, drückende und dennoch verschwommene Leibesinsel. In flächenlosen Räumen gibt es keine relativen Orte, die sich gegenseitig durch Lagen und Abstände an ihnen befindlicher 145 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Gegenstände bestimmen, d. h. identifizierbar machen. Das liegt daran, dass Lagen und Abstände als umkehrbare Beziehungen (2.4.2) nur an umkehrbaren Verbindungen abgelesen werden können, z. B. an Strecken oder Bändern. Solche sind aber nur an oder durch Flächen möglich. In flächenlosen Räumen gibt es dagegen zwar Richtungen, aber nur unumkehrbare. Für das Fehlen relativer Orte entschädigt der Raum des Leibes durch absolute Orte, die ohne Beziehungen der Lage und des Abstandes als absolut identisch diese bestimmt sind. Man erfährt einen absoluten Ort z. B. im Zusammenfahren als leibliche Engung bei Schreck oder auf einen unerwarteten Anruf hin. Ohne absoluten Ort könnte man nicht geschickt ausweichen, wenn sich eine wuchtige sichtbare Masse rasch drohend nähert (im harmlosesten Fall ein Schneeball). Man sieht dann ja nicht den eigenen Körper, kann ihn also auch nicht der Lage und dem Abstand nach auf die Gefahr einstellen; vielmehr heftet sich der Blick, eine unumkehrbare leibliche Richtung, an die Bewegungssuggestion, die den bevorstehenden Kurs des nahenden Objekts anzeigt, und überträgt diese Information in das gleich (3.2) zu besprechende motorische Körperschema, das die geschickte Anpassung dirigiert. Das kann er nur, weil der Betroffene sich hier weiß, an einem absoluten Ort; ein relativer, in Bezug auf das bedrohliche Objekt, steht ihm ja nicht zur Verfügung. Es gibt auch absolute Orte einzelner Leibesinseln. Ich zeige das gern am Beispiel vom Insektenstich. Wenn ein Jucken oder Brennen die Gegenwart eines Parasiten an einer Hautstelle zu verraten scheint, führt die dominante Hand blitzschnell und zielsicher an die gereizte Stelle, um den Störenfried zu vertreiben oder zu zerquetschen. Sie braucht an keinem relativen Ort aufgesucht zu werden und findet die gereizte Stelle mit unfehlbarer Richtungssicherheit auch dann, wenn diese im perzeptiven Körperschema (dem habituellen Vorstellungsbild vom eigenen Körper) noch gar nicht verzeichnet ist. Die Beobachtung zeigt, dass es ein viel ursprünglicheres, jederzeit einsetzbares System der Orientierung am eigenen Leib und Körper als das perzeptive Körper146 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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schema gibt, nämlich das motorische Körperschema, von dem nachher (3.2) die Rede sein wird. Das perzeptive Körperschema verführt dazu, aus dem Umstand, dass die leiblichen Regungen meist (nicht immer) an Körperstellen angesiedelt sind, den falschen Schluss zu ziehen, dass sie auch in diesen Stellen sich ereigneten, als bloß eigenartig (durch Propriozeption, Koinästhesie) empfundene oder wahrgenommene Geschehnisse im Körper. Das ist so, als ob der Schall einer Singstimme ein Ereignis im Stimmapparat der Sängerin (von der Lunge bis zu den Lippen) wäre und nicht etwas unvergleichlich anderes, das aus den Modifikationen ihres Stimmapparates hervorgeht. Die Kluft zwischen verschiedenen Raumstrukturen wird voreilig übersprungen. Nachdem ich schon so viel über den Leib gesprochen habe, ist es nötig, endlich zu erklären, wie ich das Wort genau verstehe. Als den Leib eines Menschen oder Tieres bezeichne ich die Gesamtheit all dessen, was jemand von sich (als zu sich selbst gehörig) in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers spüren kann, ohne sich der fünf Sinne und des aus ihren Erfahrungen (besonders denen des Sehens und Tastens) gebildeten perzeptiven Körperschemas (der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper) zu bedienen. Alles dies nenne ich »leibliche Regung«, und ich betrachte den Leib als den Inbegriff der leiblichen Regungen, die ich auf vier Gruppen verteile. An erster Stelle stehen die bloßen leiblichen Regungen, wie Schreck, Angst, Schmerz, Beklommenheit, Jucken, Kitzel, Ekel, Wollust, Erleichterung, Hunger, Durst, Frische, Müdigkeit, leibliches (»animalisches«) Behagen. Die zweite Gruppe wird von denjenigen leiblichen Regungen gebildet, durch die Gefühle den Betroffenen ergreifen, so dass sie zu seinen eigenen, nicht nur von ihm wahrgenommenen Gefühlen werden. In diesem Sinn ist z. B. vom Zorn als impulsiv ergreifende Macht das Zürnen als leibliche Regung zu unterscheiden, von der Trauer oder Freude als umhüllend ergreifender Atmosphäre des Trauern oder Sichfreuen, das freilich in allen solchen Fällen nicht in der bloßen 147 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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leiblichen Regung aufzugehen braucht, sondern auch personale Verarbeitung und Stellungnahme umfassen kann; das Nähere folgt unter 3.6. Diese beiden Gruppen fallen in das affektive Betroffensein. Die beiden folgenden Gruppen habe ich unter die leiblichen Regungen aufgenommen, weil sie sowohl der schon besprochenen räumlichen Ausdehnung nach als auch in Bezug auf Dynamik (3.2) und leibliche Kommunikation (3.3) dazu gehören, obwohl sie auch ohne nennenswertes affektives Betroffensein auskommen können. Es handelt sich an dritter Stelle um die Motorik, sofern sie nicht von außen wahrnehmbar, sondern am eigenen Leib spürbar ist, sowohl die willkürlich beeinflussbare als auch die unwillkürliche (wie Zucken, Zittern, Niesen). An vierter Stelle nenne ich die unumkehrbaren leiblichen Richtungen wie den Blick, die am Reagieren auf den Insektenstich belegten Richtungen des motorischen Körperschemas, das Ausatmen, das Schlucken (abgesehen von seiner Einordnung in das perzeptive Körperschema). Sie sind, wie der Blick zeigt, nicht immer an Bewegung gebunden. Jetzt ist die Frage zu prüfen, wie es möglich war, dass der Leib, dieses nächst Widerfahrende für jeden und die sicherste Gelegenheit, sich selbst zu spüren, mit seiner ausgeprägten – der Räumlichkeit nach schon erörterten – Eigenart der gedanklichen Aufmerksamkeit der Menschen auf sich selbst über Jahrtausende so gründlich entzogen werden konnte, dass er erst jetzt zwischen Seele und Körper wieder hervorgezogen wird. Meines Erachtens ist dafür verantwortlich ein radikaler Paradigmenwechsel des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses, der sich in Griechenland im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert ereignete und seither das Abendland überschattet, verstärkt und nach verschiedenen Seiten zugespitzt durch das Christentum und die Naturwissenschaft (mit der ihr sich anschließenden Technik). Ich bezeichne das neue Paradigma, dem der Leib zum Opfer fiel, als die Welt- und Menschspaltung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständ-

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lichung. Um ich verständlich zu machen, muss ich etwas ausholen und bis auf Homer zurückgehen. 81 In der Ilias wird menschliches Erleben und Verhalten als unzentriert und unabgeschlossen vorgeführt. Unzentriert, das heißt: Es gibt keine steuernde Zentralinstanz wie seit Platon die Vernunft, sondern der Mensch steht ohne eigene Hausmacht im Konzert leiblich in ihm lokalisierter Regungsherde, die wir uns etwa am Beispiel des uns noch geläufigen Gewissens klar machen können. Diese Regungsherde sind teils treibend, teils zurückhaltend. Ihr Zusammenspiel erlaubt sinnvoll koordiniertes Verhalten und charaktervolle Persönlichkeiten, so wie ja auch heutige Computer zum Teil sehr erfolgreich ohne zentrale Steuerung als neuronale Netze mit gegenseitiger Abstimmung auskommen. Dennoch ist der Mensch in der Mitte des Konzerts seiner selbst nie sicher, wie das Beispiel der Hauptfigur Achilleus zeigt. Diese Labilität wird durch die Unabgeschlossenheit des Erlebens gesteigert. Der Mensch kann sich nicht gegen Einflüsse abdecken, die wie Götter und Affekte (besonders Zorn) von außen in ihn eindringen und von ihm Besitz ergreifen. Er wird unberechenbar. Die Odyssee ist viel weiter auf dem Weg zur selbständigen Person. An die Stelle der Durchstimmtheit von leiblichen und göttlichen Impulsen tritt eine Schichtung dreier Bereiche: des göttlichen, des personalen und des leiblichen Bereiches. Odysseus schilt seinen Bauch, der ihn zum Essen treibt, da er lieber (über die Trennung von der Heimat) trauern möchte, bändigt sein im Zorn aufbegehrendes Herz (einen Regungsherd) und behandelt die Götter als kalkulierbare Mit- und Gegenspieler statt als ergreifende Mächte. Er kann sich objektivieren und daher seinen Gesichtsausdruck perfekt beherrschen, was in der Ilias noch nicht gelingt. In dieser Richtung, zur Meine umfangreichen Untersuchungen zu Homers Menschenbild in System der Philosophie Band II Teil 1 (S. 365–451) und Band III Teil 2 (S. 409–418) sind knapp zusammengefasst in: Der Weg der europäischen Philosophie Band I: Antike Philosophie, Freiburg 2007, S. 19–23: Das menschliche Selbstverständnis bei Homer

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Selbstermächtigung der Person gegen die ihr zufallenden unwillkürlichen Regungen, entwickelt sich, keineswegs geradlinig, das menschliche Selbstverständnis in Griechenland bis ins 5. Jahrhundert. Ich markiere diese Entwicklung durch Vergleich zweier fragmentarischer Zeugnisse aus dem 7. und 5. Jahrhundert. Der frühe Lyriker Archilochos redet einen Glaukos mit Versen an, die man in glattes Deutsch etwa so übersetzen kann: »Der Menschen Sinn steht so, wie Zeus ihn je nach dem von Tag zu Tag führt, und sie denken so, wie die Umstände sind, auf die sie stoßen.« 82 Dagegen steht ein Spruch Demokrits (aus der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts): »Die Menschen haben sich vom Geschick ein Bild geformt als Bemäntelung eigener Unberatenheit. Nur selten nämlich kämpft das Geschick gegen die Klugheit, das Meiste aber bringt wohlverständiger Scharfblick ins Gerade.« 83 Archilochos hält nicht viel von der Selbststeuerung der Menschen. Sie folgen der Führung durch Zeus, der aber nicht konsequent ist, sondern sie dem Einfluss der Umstände ausliefert. Ganz anders Demokrit: Tyche ist keine Macht, die wie der Zeus des Archilochos den Menschen dem Wechsel der Umstände ausliefert, sondern eine Projektion, die die Menschen sich zurechtgemacht haben, um das Versagen der Selbstbestimmung, zu der sie berufen sind, zu bemänteln. Wir besitzen leider viel zu wenig, nur abgerissene Zitate, vom Epoche machenden Werk Demokrits. Daher bleibt uns nur übrig, aus einem Fragment wie diesem den extrapolierenden Schluss zu ziehen, dass er die ergreifenden Mächte, die mit dem Menschen ihr Spiel treiben, zu Gespenstern herabsetzt, die vertrieben werden sollen, um die Welt für das klug selbstgesteuerte Handeln des Menschen frei zu machen.

Archilochos fr. 68 Diehl (Anthologia lyrica graeca, hg. v. E. Diehl, neu bearbeitet von R. Beutler, Faszirkel 3, Leipzig 1954, S. 30) 83 Diels und Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 8. Auflage Berlin 1954, 68 B 119. Tyche (lateinisch »fortuna«, von mir mit »Geschick« übersetzt) ist ein Schicksal, das mit Zufällen spielt 82

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Die Auseinandersetzung mit der Eigenmacht der unwillkürlichen Regungen ist ein vordringliches Thema in der griechischen Literatur vor und um 400 v. Chr. Das lässt sich besonders an zwei Topoi zeigen: Thymós und Lust. Der Thymós ist bei Homer der wichtigste treibende Regungsherd mit beträchtlicher Autonomie gegenüber der Person, deren Partner er ist. Diese breite Bedeutung bleibt in der klassischen Literatur um 400 virulent und setzt sich sogar noch bei Aristoteles durch 84 , doch spezialisiert sie sich zusehends auf einzelne Regungen, teils so allgemeine wie Eifer, Impuls, hauptsächlich aber in Richtung auf den Zorn. 85 Man kann das deutsche Wort »Mut«, das ein ähnliches Schicksal gehabt hat, zum Vergleich heranziehen: Von einer breiten, auf alle Formen emotionaler Zuwendung passenden Bedeutung, die sich heute noch in seiner Verwendung als Nachsilbe in zusammengesetzten Wörtern verrät, engt es sich auf die heutige Bedeutung von Angriffslust ein, wie »thymós« auf die von Zorn. Diese Spezialisierung reift aber lange nicht aus; wenn Philosophen des 5. Jahrhunderts die Schwierigkeit der Aufgabe betonen, den Thymós zu bekämpfen 86 und Medea im gleichbetitelten Drama des Euripides ihren Thymós anfleht, er möge ihre Kinder leben lassen, die sie gleich darauf, vom unbarmherzigen Thymós bezwungen, vor Zorn umbringt, wäre es ganz falsch, zwischen der alten Bedeutung des Wortes (Thymós als autonomer Regungsherd) und der neuen (Thymós als Zornerregung) entscheiden zu wollen. So unentschieden ist lange noch die Auseinandersetzung zwischen der Eigenmacht unwillkürlicher Regungen und ihrer Einordnung als Seelenzustände. Zur Lust: Sie war den Griechen bis zum 5. vorchristlichen Jahrhundert anscheinend unbekannt, jedenfalls hatten sie vorher kein passendes Wort dafür. »Hädonä« scheint damals zuerst so Politik 1327 b 40–1328 a 16 Ich habe die Bedeutungsentwicklung von »Thymós« sorgfältig verfolgt: System der Philosophie Band III Teil 2 S. 464–468 86 Diels und Kranz, wie Anmerkung 83, 22 B 85 (Heraklit), 68 B 226 (Demokrit), 87 B 58 (Antiphon Sophista) 84 85

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etwas wie Geschmack oder Geruch bezeichnet zu haben und dann auf die Bedeutung von »Lust« umgewidmet worden zu sein; Homer hat zwar ein ähnliches Wort (»Ädos«), verwendet es aber nur für entgangene Lust. Genossene Lust, wenigstens die geschlechtliche, hieß zuvor »(goldene) Aphrodite«, was sowohl die Göttin als auch den Glanz der Erotik meint, eine Atmosphäre, die nicht ins Privatleben abgekapselt ist, wie die Lust, die man auf eigene Faust genießt. 87 Diese späte Neubildung zeigt den für den Paradigmenwechsel ausschlaggebenden Impuls des Individuums an, sich mit seinen Errungenschaften in eine Privatsphäre zurückzuziehen. Das gelingt aber nicht gleich. Vielmehr tritt die Lust, statt sich sogleich vollständig privatisieren zu lassen, das Erbe der ergreifenden Mächte an, die nach der Ilias und der archaischen Lyrik 88 in das unabgeschlossene Erleben eindringen, und bringt nun den Menschen des 5. und 4. Jahrhunderts, der sich seiner Eigenmacht über die unwillkürlichen Regungen sicher sein will, in Verteidigungsstellung gegen die Lust: Ein Lieblingstopos jener Zeit (etwa auch der kaum erhaltenen mittleren Komödie) ist der Aufruf, nicht der Lust zu unterliegen. 89 Im 4. Jahrhundert gibt Antisthenes die Losung aus: »Lieber verrückt sein als Lust empfinden!« Aristhipp, der Kyrenaiker, findet eine feinere Lösung, die an die Haltung der Menschen von heute, im ironistischen Zeitalter, erinnert: »Ich halte (die Lust), aber ich werde nicht (von ihr) gehalten (d. h. gefesselt).« Er hat die Distanz gewonnen, in der er sich die Lust leisten kann, ohne ihr zu verfallen. In diesem Milieu nachhaltigen Bemühens um die personale Selbstermächtigung gegenüber den unwillkürlichen Regungen fand das Problem seine Lösung mit der Erfindung eines für die Folgezeit bis heute maßgebenden Paradigmas des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses: der Weltspaltung und der 87 88 89

so (für Geschlechtslust) Aristophanes Lysistrate Vers 163 Der Weg … (wie Anmerkung 81) S. 24–26 System der Philosophie Band III Teil 2 S. 485–488

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Menschspaltung durch die psychologistisch-reduktionistischintrojektionistische Vergegenständlichung. Man bediente sich dabei der Psyché, die dem (weit über diese Wende hinaus prägenden) Wortsinn nach das Leben im qualitativen Sinn (die Lebendigkeit) ist und nach Homer und dem Volksglauben im Tode als gespenstischer Totengeist die Glieder verlässt, nie aber als Regungsherd aufgefasst wird. Die Psyché wurde zur Seele als privater Innenwelt jedes Bewussthabers, in der dessen gesamtes Erleben eingeschlossen wurde, mit Zugang von außen nur durch die Sinneskanäle; so gewann die Person ein Haus, in dem sie Herr über die unwillkürlichen Regungen sein konnte. Zwischen den Innenwelten dieses Psychologismus beließ man die empirische Außenwelt, die aber von Demokrit (oder schon seinem Lehrer Leukipp) und später von Platon (Timaios) bis auf wenige Merkmalsorten – die unspezifischen, geometrisch charakterisierten Sinnesqualitäten, die seit 1600, an die antiken Vorbilder anknüpfend, zum Datenvorrat wurden, an dem die Physik die Ergebnisse ihrer Experimente prüft, weil sie gut intermomentan und intersubjektiv beständig, messbar und selektiv variierbar sind – und deren erdachte Träger (bei Demokrit und Platon Atome, später Substanzen) ausgeräumt wurde, um sie von ergreifenden, die menschliche Selbstbestimmung wie Demokrits Tyche durchkreuzenden Mächten zu reinigen. Diesem Reduktionismus folgte die Introjektion: Der Abfall der Ausräumung musste anderswo untergebracht werden. Man warf ihn, ohne viel darauf zu achten, in die Seelen, und bedachte dabei ausdrücklich die spezifischen Sinnesqualitäten; das Meiste – darunter Atmosphären, Situationen, flächenlose Räume, und was noch zu erwähnen sein wird: Halbdinge, Bewegungssuggestionen, synästhetische Charaktere – wurde übersehen und landete dann doch, wenn es sich nicht wegschaffen ließ, in verwandelter Gestalt in der Seele. Diese Introjektion vollendete das neue Weltverständnis, die Weltspaltung in eine ausgeräumte Außenwelt und überladene Innenwelten. Ihr korrespondierte die Menschspaltung, indem die Seele dem Körper als der anderen, 153 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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inferioren und halbwegs in die Außenwelt verwiesenen Hälfte des Menschen gegenübergestellt wurde. Kurz vor 350 schreibt der Platongegner Isokrates: »Man stimmt überein, dass unsere Natur aus dem Körper und der Seele zusammengesetzt ist, und niemand wird leugnen, dass von diesen beiden die Seele zur Herrschaft berufener und mehr wert ist.« 90 Aber schon bald nach 432 v. Chr. heißt es in der Grabschrift der Athener für die Gefallenen der Schlacht von Poteidaia: »Die Seelen nahm der Äther auf, die Körper aber die Erde.« 91 Die frühen Philosophen vor dem Paradigmenwechsel sehen das Weltganze dynamisch, als Wirken polar in einander greifender Kräfte, die (nach Heraklit) in gegenspänniger Fügung wie bei Bogen und Leier ein Ganzes ergeben, das auseinanderstrebend mit sich selbst übereinstimmt. Diese Dynamik verflacht danach zur Kinetik, wie das von Platon überlieferte Missverständnis zeigt, Heraklit habe gelehrt, dass alles fließt. Dieser hemmungslosen Bewegung werden starre Fixpunkte gegenübergestellt: Demokrits Atome (die er »Ideen« nannte), die Ideen bei Platon und (nicht weniger starr, obwohl dem Werdenden immanent) bei Aristoteles. Das Denkmodell von Form und Stoff setzt sich bei Demokrit, Platon und Aristoteles durch, bei jenem für uns nur schwach erkennbar, bei diesen deutlicher; es weist auf das Handwerk und zeigt damit schon die Technik-Affinität des neuen Paradigmas an, wie die Maxime des Oheims in Wilhelm Meisters Lehrjahre.73 Wie der Handwerker zu seinem Werkzeug, verhält sich nach Aristoteles die Seele zum Körper. 92 Die Wasserscheide zwischen dem alten und dem neuen Paradigma liegt bei den Denkern zwischen den Zeitgenossen Empedokles und Demokrit 93 , bei den Dichtern zwischen Aischylos Isokrates Antielosis § 180 Werner Peeck, Griechische Grobgedichte, Berlin (Darmstadt) 1960, S. 50 92 Eudemische Ethik 1241 b 18 93 Hermann Schmitz, Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit, Bonn 1988, S. 299–351 (zu Empedokles), S. 351–375 (zu Demokrit), S. 388–396 (zusammenfassende Würdigung und Vergleich) 90 91

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und seinem jüngeren Zeitgenossen Sophokles 94 und trennt damit Archaik von Klassik. Zu klassischem Ansehen gelangt das neue Paradigma in der Nachwelt aber erst durch die beherrschende Ausstrahlung der Philosophie von Platon und Aristoteles. Dabei ist Platon, was die psychologistisch-reduktionistischintrojektionistische Vergegenständlichung angeht, Epigone Demokrits. 95 Originell ist aber die Kompensation, die er dem Verlust ergreifender Mächte durch den der Außenwelt angetanen Reduktionismus und die Degradation des introjizierten Restes auf der Registrierung passiv dargebotene Seelenzustände durch Verlagerung der Ideale in die Transzendenz des Ideenreiches, die mit dem Nimbus des Prächtigen und Ersehnten ausgestattet wird, verschaffte; Platon ist so Urheber des Auswegs (soll man sagen: der Flucht?) aus der Ernüchterung in die Transzendenz. Der spürbare Leib ist jedoch in der Menschspaltung zwischen Körper und Seele wie in einer Gletscherspalte verschwunden. Es ist schwer zu sagen, in welchem Umfang und mit welcher Selbstverständlichkeit er vorher schon bekannt war. Etwas darüber kann man den erhaltenen Resten der Lehrschrift des eleatischen Philosophen Melissos entnehmen, der 450 v. Chr. die samische Flotte gegen die Athener kommandiert haben soll. Nach Melissos ist das Seiende ein Einziges, unübertrefflich stark, unendlich ausgedehnt, überall gleichmäßig, kein Körper, aber gesund und frei von Schmerzen. 96 Das hat nur Sinn, wenn Melissos das Seiende als spürbaren Leib mit unzerlegbarer Ausdehnung (s. o.) verstand und vom Körper unterschied. Dass die Autoren des neuen Paradigmas damit nichts anfangen konnten, verwundert nicht. Der Leib ist der Herd des affektiven BetrofHermann Schmitz, System der Philosophie Band II Teil 1 S. 457–461 und Band III Teil 2 S. 424–430; Der Weg … (wie Anmerkung 81) S. 26–28 95 Hermann Schmitz, Platon als Demokriter, in H. S., Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 348–363, wieder abgedruckt in: Platon im nachmetaphysischen Zeitalter, hg. v. Gregor Schiemann, Dieter Mersch und Gernot Böhme, Darmstadt 2006, S. 27–38 96 Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, Nachdruck 2014, S. 147 f. 94

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fenseins, und ihnen ging es nicht ums Betroffensein, sondern um das Gegenteil, um Selbstbestimmung und Selbstkontrolle. Die Autorität und der übermächtige Einfluss von Platon und Aristoteles hat ausgereicht, das Denken über den Leib über Jahrtausende fast zu unterbinden, abgesehen von metaphysischen und theologischen Projektionen, z. B. in der Kabbala, bei Jakob Böhme, Oetinger und Schelling. 97 In der Antike taucht das Thema noch zweimal auf, bei den Stoikern und bei Paulus. Schon Seneca hat sich darüber gewundert, was alles die Stoiker für Körper halten, nicht nur die Stimme, das Gehen, das Tanzen, sondern auch die Tugenden, die Wahrheit, die Monate und Jahreszeiten. Ich habe gezeigt, dass die vermeintlichen Körper der Stoiker vielmehr Leiber sind, mit dem Tonos als vitalem Antrieb aus Engung und Weitung, also leiblicher Dynamik (3.2). 98 Die Stoiker waren also im Gegensatz zur herrschenden Meinung, keine Materialisten wie ihre Antipoden, die Epikureer. Sie haben aber ihre Leibphilosophie verdunkelt, weil sie diese in die Seelenlehre einbauten, mit der sie der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung und vom mittleren Stoizismus an auch weitgehend dem Platonismus verfielen. Ganz ohne solche Konzessionen kommt im Urchristentum Paulus aus. 99 Die Menschspaltung ist ihm fremd; die Weltspaltung kommt gar nicht in seinen Horizont. Der Christ des Paulus steht als Leib (soma) im Bann der Mächte Geist und Fleisch, die ihn heimsuchen wie das Fieber und bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem kosmischen Paar Liebe – Streit (Groll) des Empedokles aufweisen, er lebt zwar in Erwartung der Erlösung im Geist, aber zwiespältig, da er vom Fleisch nicht loskommt. Man kann sich fragen, ob ich »soma« richtig mit »Leib« überSystem der Philosophie Band II Teil 1 S. 534–554, 578–586 Ebenda 497–503; Der Weg … (wie Anmerkung 81) S. 307–315; Der Leib (wie Anmerkung 96) S. 148–151 99 Hermann Schmitz, System der Philosophie Band II Teil 1 S. 507–528; Der Weg der europäischen Philosophie Band II: Nachantike Philosophie, Freiburg 2007, S. 23–32; Der Leib (wie Anmerkung 96) S. 151 f. 97 98

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setze, oder ob vielleicht der physische Körper gemeint ist. Gegen die zweite Seite der Alternative scheint mir die von Paulus ausgerufene Verschmelzung aller Gläubigen zu einem Leib mit Christus als Haupt zu sprechen. 100 Ein einziger physischer Körper aller kommt nicht in Frage, wohl aber solidarische Einleibung (3.3), wodurch Menschen in aktuellen Situationen (Aufruhr, Empörung, stürmischer Mut usw.) und Insekten (Bienen, Ameisen) in zuständlichen Situationen leiblich verschmelzen. Dass Paulus die Glieder des physischen Körpers zum Vergleich heranzieht, entspricht seinem protreptisch-rhetorischen Zweck, zumal phänomenologische Verfeinerung ihm unzugänglich ist. Nach jahrtausendelanger Vergessenheit des Leibes im philosophischen Denken wird dieses etwa ab 1800 für leibliche Erfahrungen wieder sensibel und offen, zuerst bei dem Franzosen Maine de Biran, der sich zwar in Anschauung und Sprache ganz am physischen Körper orientiert, aber mit der dadurch bedingten Umständlichkeit den Leib zum Thema macht und wichtig nimmt. 101 Den fünf äußeren Sinnen, die sein Vorgänger Condillac allein als Erfahrungsquellen gelten ließ, fügt er einen inneren Sinn hinzu, der im Gewahrwerden des eigenen Selbst durch eine gegen die Trägheit des eigenen Körpers kraftvoll ausgeübte Anstrengung bestehen soll; das sei die Quelle des Selbstbewusstseins und der Kategorien von Substanz und Kraft. Es handelt sich um einen gegen eine Hemmung sich durchsetzenden und an ihr wachsenden Impuls, der nicht an äußeren Widerständen, sondern im eigenleiblichen Spüren festgestellt wird, in meiner Ausdrucksweise (3.2): um gegen spannende Engung sich durchsetzende schwellende Weitung, eine Grundform des vitalen Antriebs, der der leiblichen Dynamik das Gepräge gibt. Diese Auseinandersetzung vollzieht sich in einer räumlichen AusdehRömerbrief 12, 4–6; 1. Korinther 12, 12–31 Ich stütze mich hier auf § 91 (Band II Teil 1 S. 591–598) von System der Philosophie: Maine de Biran (mit Bezug auf dessen Essai sur les fondement de la psychologie, 1812) 100 101

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nung, die Maine de Biran von dem Nebeneinander der Dinge unterscheidet und im Anschluss an Leibniz als einfache Stetigkeit des Widerstandes zu erfassen sucht; womit der erste Schritt zur Entdeckung flächenloser Räume getan zu sein scheint. Maine de Biran tastet sich an Erfahrungen heran, die der Sprache des Denkens seiner Zeit und Umgebung fern lagen. Wir Deutschen haben das Glück, mit den beiden Wörtern »Leib« und »Körper« einen Unterschied markieren zu können, an den sich alle anderen Kultursprachen, obwohl er ebenso in der Erfahrung wie in der Begriffsbildung scharf zu fassen ist, mit mühsamen Verrenkungen herantasten müssen. Während Maine de Biran nüchtern bleibt, stellt etwa gleichzeitig Schopenhauer in einer hochmetaphysischen, mit Leidenschaft vorgetragenen Konstruktion den Leib heraus. Er hält den sogenannten Willen, einen blinden und ziellosen, aber höchst gestaltungskräftigen Drang, für das Weltprinzip, das in erster Linie im Leib zur Erscheinung komme: Als die »philosophische Wahrheit« schlechthin verkündet er: »Mein Leib und mein Wille sind eines – oder was ich als anschauliche Vorstellung meinen Leib nenne, nenne ich, wenn ich desselben auf eine ganz verschiedene, keiner andern zu vergleichende Weise mir bewusst bin, meinen Willen –« 102 Zum Willen in diesem Sinn rechnet er in einer breiten Aufzählung an anderer Stelle alle leiblichen Regungen des affektiven Betroffenseins, z. B. »alles Begehren, Streben, Wünschen, Verlangen, Hoffen, Lieben, Freuen, Jubeln u. dgl.« ebenso wie Schmerzen, Lust und Unlust. 103 Der Leib in seiner Ausdrucksweise ist zwar der physische Körper, aber auf der anderen Seite, als Wille, das leiblich-affektive Betroffensein, das als Körper ausbreche und objektivierbar werde. Diese Identifizierung ist zwar voreilig und unhaltbar, aber das Neue und Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung Band I, § 18 der 2. Auflage (Werke hg. v. Freiherr v. Löhneysen Band 1 Darmstadt 1968, S. 161) 103 Ebenda Band III S. 529 f. (Über die Freiheit des Willens) 102

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Bahnbrechende daran ist die Ablösung vom dualistischen Körper-Seele-Schema der Weltspaltung: Die Seele kommt nicht mehr vor, die leiblichen Regungen manifestieren oder objektivieren sich ohne ihr Zutun am Körper. Von Schopenhauer 104 hat Nietzsche das Thema übernommen und zu einem eindrucksvollen Aufruf gegen die christliche Leibverachtung 105 ausgebaut. Dem dualistischen Glauben, Leib und Seele zu sein, hält er entgegen: »Leib bin ich ganz und gar und nichts außerdem.« Damit schießt er über das berechtigte Ziel hinaus. Zur Phänomenologie des Leibes trägt er nichts bei, denn er versteht den Leib nur anatomisch und physiologisch als Körper im Sinn der Naturwissenschaft, als Zellenstaat gemäß der Zellularpathologie Virchows. Nach Nietzsche ging das Thema ab 1900 zu den Phänomenologen über und wurde dabei mehr oder weniger zum Modethema. So wenig wie bei Nietzsche darf man aber dem Wort »Leib« trauen, als werde damit etwas Neues gesagt. Das gilt vor allem für die Ausführungen Husserls über den Leib. 106 Sie halten sich im Rahmen der dualistischen Menschspaltung. Für Husserl ist der Leib ein beseelter Körper, an sich nur tote Materie, die zum lebendigen Leib wird, wenn die Seele darin waltet, teils durch Empfindungen (er sagt »Empfindnisse«), teils durch Willkürbewegungen, mit denen sie den Körper als Werkzeug (Organ) gebraucht, ganz wie in der Vorstellungsweise der Platoniker.92 Dieses Walten der Seele nutzt Husserl zu einer der Tradition noch unbekannten Potenzierung des Dualismus: Die Seele ist gar nicht räumlich im Körper, sondern nimmt waltend nur indirekt am Raum (wohl auch an der Zeit) teil. Mit Husserl ist keine Milderung der Welt- und Menschspaltung zu hoffen. Seine Polemik gegen den cartesiDas Folgende beruht auf meinen Ausführungen in Der Leib (in Anmerkung 96) S. 157–169 zu Nietzsche und den Phänomenologen von Husserl bis Michel Henry. 105 »Von den Verächtern des Leibes« in Also sprach Zarathustra 106 posthum veröffentlicht in Ideen … Band II und im Krisisband (Husserliana Band VI) 104

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schen Dualismus ist insofern wohlfeil, als sie nur den Realismus des Descartes von einem idealistischen Standpunkt aus trifft, der den Graben nicht zuschüttet, sondern durch transzendentale Erhöhung der Subjektseite der nun »Bewusstsein« genannten Seele über die Außenwelt in eine schiefe Ebene versetzt, mit Degradation der Außenwelt zum bloßen intentionalen Projekt des Bewusstseins. Neben Husserl hat Scheler die Eigenständigkeit des »Leibphänomens« sowohl den körperlichen Organen als auch den Seelen- oder Bewusstseinszuständen gegenüber hervorgehoben. Von den Deutschen ist die Leibphänomenologie zu den Franzosen übergegangen. Sartre behandelt den eigenen Leib in L’être et le néant unter dem Titel des Körpers für sich mit einer verfremdenden Entrückung, die an Wittgensteins metaphysisches Subjekt9 denken lässt. Der Leib ist für ihn der Ausgangspunkt der Flucht in die Welt, das Überschrittene, dem ich mich immer schon entziehe. Er ist so weit wie die ganze Welt (weil immer dabei) und zusammengedrängt auf einen einzigen Punkt, den alle Dinge mir anzeigen und der ich bin, ohne ihn erkennen zu können. Detaillierte Aufschlüsse der Leibphänomenologie sind von dieser Sicht nicht zu erwarten. Merleau-Ponty ist wohl noch immer der beliebteste Autor in Diskussionen über den Leib, obwohl er nur vom Körper (le corps) spricht und tatsächlich das materielle, physische Ding meint, das Muskeln, Ohren und Lungen hat. Dennoch wird sein Wort stereotyp mit »Leib« übersetzt und das ist richtig. Im Deutschen nennt man den lebendigen Körper (im Gegensatz zur Leiche) »Leib«, und den meint Merleau-Ponty. Er denkt aus dem Unbehagen an der naturwissenschaftlichen Reduktion des Körpers, die Nietzsche begeisterte, und des ganzen Menschen. Obwohl sich dabei ein ungeheuer verfeinertes naturwissenschaftliches Bild ergibt, fällt das eigentliche Leben (in Initiative und Reaktion) aus, weil sich die Naturwissenschaft nur auf Messdaten stützt, die nicht leben. Dieses Leben will MerleauPonty dem Körper zurückgeben, indem er den ganzen Men160 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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schen in diesen einbezieht und dadurch die Einseitigkeiten des Materialismus und Spiritualismus vermeidet. Damit ist auch schon der Gegensatz seiner und meiner Verwendung des Wortes »Leib« (in Übersetzungen aus dem Französischen) angezeigt: Der Leib im Sinne von Merleau-Ponty ist der zur vollen Lebendigkeit aufgerüstete physische Körper, der Leib in meinem Sinn dagegen der spürbare Leib im Gegensatz zum sichtbaren und tastbaren Körper. Für diesen Leib hat Merleau-Ponty keinen Sinn. Er verwendet keinen Blick auf dessen Räumlichkeit und Dynamik. Die bloßen leiblichen Regungen kommen in seinem Buch nicht vor, erst recht nicht die leiblichen Regungen, die Träger und Vermittler ergreifender Gefühle sind. Sein Interesse gilt vordringlich der Abgrenzung gegen einseitige Standpunkte. Der seinige schwankt. Es finden sich monistische und mehr dualistische Formulierungen, einerseits »Ich bin nicht vor meinem Körper, ich bin in meinem Körper, oder vielmehr: Ich bin mein Körper«, andererseits: Der Körper ist die gewonnene oder verallgemeinerte Existenz und die Existenz eine beständige Inkarnation. (Was er »Existenz« nennt, erklärt Merleau-Ponty im Gegensatz zu Sartre nicht; in der Zeit des Erscheinens seines Buches war das Wort in Mode.) Dazwischen läuft ein KryptoKantianismus, der die Rolle des Subjekts als synthetischer Organisator eines formlosen Stoffes der Erfahrung »hinter der Bühne der Erscheinung« überschätzt. Im Einzelnen finden sich ebenso viele feine Beobachtungen wie phänomenologische Fehlgriffe, alles merkwürdig unscharf für einen Freund und Rivalen des scharfkantigen Sartre; ich verweise auf meine genaueren Analysen. 107 Der extravertierten, auf die Zuwendung zur Welt bedachten Leiblehre von Sartre und Merleau-Ponty setzt Michel Henry Von mir zu Merleau-Ponty: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 382–404; Der Weg … (wie Anmerkung 99) S. 800–810; Der Leib, Berlin 2011, S. 162–165. Diese Texte betreffen zum größten Teil Phénoménologie de la Perception (1948), das Hauptwerk des Autors, das im Inhalt weit über den Titel hinausgeht

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das entgegengesetzte Extrem entgegen, die Konzentration auf reine Innerlichkeit, eine Phänomenologie mit geschlossenen Augen. Das Leben in dieser Innerlichkeit ist für ihn abstandsund blicklose Selbstumschlingung (etreinte de soi) in reiner Affektivität, die er christologisch – ähnlich Meister Eckhart – als ewige Geburt des Sohnes durch Gott Vater deutet. Dieser Rückzug in rein innerliche Affektivität entspringt auch dem Entsetzen vor der Neutralität der nackten objektiven Tatsachen, die sich gleichgültig registrieren lassen. Henry entdeckt mit dieser Abstandnahme das Besondere der Subjektivität, ähnlich wie Kierkegaard, vor dem er den Zugang zum Leib voraus hat, mit dem er aber die Verwechslung der Subjektivität mit Innerlichkeit teilt, da er blind ist für leibliche Kommunikation, die Leiblichkeit, Subjektivität und affektives Betroffensein in alle Kontakte fortpflanzt. 108 Insgesamt ergibt sich, dass die Vergessenheit des Leibes, ausgelöst oder besiegelt durch die Welt- und Menschspaltung, vor meinen Bemühungen noch nicht überwunden war, so dass der Versuch, sie abermals in Erinnerung zu rufen, nicht unangebracht sein dürfte.

3.2 Leibliche Dynamik Enge und Weite mit ihren Mischungsverhältnissen bilden eine mit dem Leib zusammengehörige Dimension. Der Leib ist immer auch eng und/oder weit, und jeder Eindruck von Enge und Weite ist auch ein leiblich-affektives Betroffensein, das in alle Sinneswahrnehmungen (durch leibliche Kommunikation) ausgelagert sein kann; ohne dieses Betroffensein würde bloßes ReVon mir zu Michel Henry, Immanenz als Falle des Lebens, in Philosophische Rundschau 42, 1995, S. 69–75; Rettung des Lebens durch das Christentum? Eine Auseinandersetzung mit Michel Henry, in Begriffene Erfahrung, Rostock 2002, S. 148–158

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gistrieren des passiv Vorfindlichen nur Größenunterschiede (z. B. schmal und breit) vorfinden, aber nicht Enge und Weite. Weite ist von sich aus nicht dynamisch, aber in jeder Enge wird das Wirken einer einschränkenden Kraft mitgespürt. Um diese Dynamik kommt der Leib in der Dimension von Enge und Weite nicht herum, wenigstens bei Bewusstsein; sie besteht in Tendenzen der Engung zur Enge hin und der Weitung zur Weite hin, wodurch die leiblichen Regungen irgendwo zwischen den Extremen reiner Enge und reiner Weite Platz finden. Dominant im normalen Zustand ist ihre antagonistische Verschränkung zum vitalen Antrieb, wobei die Engung eine gegen sie andrängende Weitung festhält und beide Tendenzen an einander wachsen. In diesem Verband bezeichne ich die Engung als Spannung, die Weitung als Schwellung, um für das Zurückhaltende der Engung, das Drängende der Weitung, das sich aus der Verschränkung ergibt, einprägsame Namen zu haben. Das Wort ›Schwellung‹ meine ich im Sinne des stark flektierten Partizips »geschwellt«, wie man von einem geschwellten Segel, einer stolz geschwellten Brust spricht, nicht im Sinne des schwach flektierten Partizips »geschwollen«, das eher auf Kraftlosigkeit hindeutet. Spannung und Schwellung verschränken sich zum Antrieb. Dass dieser in solcher Verschränkung besteht, zeige ich so: Wenn die Engung aus dem Verband, in dem sie Spannung ist, stoßartig aushakt, wie bei heftigem Schreck, ist der Antrieb erstarrt oder gelähmt; wenn die Weitung nach der anderen Seite ausläuft, wie bei Müdigkeit, im Dösen, nach der Ejakulation, ist er erschlafft. In reiner Form, ohne Abzielung auf etwas, kann man ihn an der unter 3.1 schon gestreiften Ateminsel des Leibes kennen lernen, die sich mit aus Spannung und Schwellung gebildetem dynamischem Volumen bei jedem Atemzug bildet und wieder löst. In sich ist der Antrieb also ziellos; seine Einsetzbarkeit ist die Vitalität, in der er die Grundschicht bildet, weshalb ich ihn als vitalen Antrieb bezeichne. Die beiden Oberschichten der Vitalität sind seine Reizempfänglichkeit und seine Zuwend163 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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barkeit. In jeder dieser beiden Schichten ist eine Auslese erforderlich. Die Auslese unter den Reizen wird durch den Programmgehalt der den Bewussthaber jeweils bestimmenden Situation geleistet. Wenn die Programme einzeln sind, werden sie Themen; sonst führen sie, wie bei den Tieren, unthematisch, instinktiv. Eine normal entwickelte Reizempfänglichkeit ist von der (aktuellen oder zuständlichen) Situation hinreichend mit Programmen für die Zuwendung des Antriebs versehen; wenn dieser nicht zu locker an ein Programm gebunden ist, wird er in dieser Beziehung zum Trieb. Triebe sind also nichts Ursprüngliches, sondern Produkte der Bindung des Antriebs in der Reizempfänglichkeit an Programme einer leitenden Situation und keineswegs die einzige Form solcher Bindung. Wenn diese nicht die nötige Prägnanz gewinnt, um Reize für die Zuwendung zu markieren, treten Störungen der Steuerung des Verhaltens ein, die den Eindruck der Verrücktheit machen können, obwohl sie nicht mit schizophrenen Störungen verwechselt werden dürfen. Die oberste Schicht der Vitalität, die Zuwendbarkeit des Antriebs, kann durch verschiedene Arten der Selektionsschwäche gestört sein. Dazu gehört an erster Stelle die Schwunglosigkeit, wenn es nicht gelingt, den Antrieb in Richtung der Programme zu mobilisieren, sei es wegen seiner Schwäche oder wegen seiner Sperrung durch überwiegende Spannung. Ferner kann die Zuwendung zu flach, zu flatterhaft durch mangelnde Scharfeinstellung ausfallen; ein solches Symptom wird neuerdings bei Jugendlichen oft beklagt. Schließlich kann der Antrieb zu wuchtig sein, um sich bei irgend einem Objekt festhalten zu lassen; das ist bezeichnend für das Krankheitsbild der Manie. Das breite Spektrum der leiblichen Regungen des vitalen Antriebs lässt sich unter zwei Gesichtspunkten gliedern, nach dem Verhältnis und der Bindungsform von Spannung und Schwellung. Es gibt Regungen mit insgesamt überwiegender Spannung oder überwiegender Schwellung und solche wo beide um das Gleichgewicht pendeln. Die Bindungsform kann kompakt oder rhythmisch sein. In kompakter Bindung haften Spannung und 164 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Schwellung zäh aneinander; ihre Gewichte können sich zwar verschieben, aber nur allmählich, wie beim Einatmen vom Überwiegen der Schwellung zu dem der Spannung. In rhythmischer Bindung flukturieren beide Impulse, so dass die Spannung, bald die Schwellung überwiegt, während dem Ganzen der Regung dennoch einer von beiden Impulsen das Gepräge geben kann. Ich gehe die großen Stationen nach Maßgabe des relativen Stärkegrades durch. Prominente Exponenten des vitalen Antriebs mit überwiegender Spannung sind Angst und Schmerz. Beide Regungen sind nah verwandt als expansiver Drang schwellender Weitung – ich spreche vom Impuls »Weg!« –, der von übermächtiger spannender Engung abgefangen wird. Wegen dieses Konflikts im vitalen Antrieb sind Angst und Schmerz peinvoll, quälend. Die Angst hat es leichter als der Schmerz. Sie kann sich auf den Weg machen, dem Impuls »Weg!« wenigstens ein Stück weit zu folgen, ohne dabei allerdings die übermächtige Spannung los zu werden. Das trifft sowohl für die (eventuell panische) Flucht zu als auch für den Totstellreflex des Geängsteten, der sich duckt und ängstlich jede Bewegung vermeidet. In beiden Fällen ist das Wovon des »Weg!« der Angst nicht so sehr der relative, durch Lage und Abstand bestimmte Ort, sondern der absolute Ort des Leibes. Zu jedem Bewussthaben einer Bedrohung gehört ein Ort, wo man getroffen werden kann, aber nicht immer ein relativer Ort, der durch Lage und Abstand zum Bedrohlichen bestimmt ist, denn oft fehlt es an solcher Bestimmtheit im Verhältnis zur Quelle der Bedrohung; dann aber ist es mindestens der absolute Ort, den der Geängstigte, um der Bedrohung zu entgehen, verlassen möchte, und diesem Ziel dient auch die Totstellreaktion, sich aus der ganzen Situation zu verabschieden, gerade dadurch, dass man am relativen Ort bleibt. Während also der Impuls »Weg!« der Angst der übermächtigen Hemmung wenigstens teilweise etwas abgewinnen kann, bleibt der entsprechende Versuch beim Schmerz erfolglos. Statt einer Flucht gelingt dem Gepeinigten nur der in die Weite ausbrechende Schrei 165 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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als symbolische Flucht, die ihn nicht wirklich mitnimmt, und das Aufbäumen und Stöhnen vor Schmerz sind vergebliche gleich wieder scheiternde Fluchtversuche, dem Ring übermächtiger Spannung zu entkommen. Angst ist eine einfachere, primitivere Regung als Schmerz, tritt wohl auch in der Stammesgeschichte der tierischen Evolution früher auf. Zu Angst genügt ein einfacher Konflikt von Drang und Hemmung, während Schmerz einen doppelten Konflikt erfordert, in dem sich das passive schmerzhafte Betroffensein und die aktive Stellungnahme in einander zu einem unauflöslichen Knäuel verstricken. Das zeigt sich an dem merkwürdigen Gegensatz der teils weitenden, teils engenden Schmerzgesten. Weitende Schmerzgesten sind der Schrei, das Stöhnen und das Aufbäumen als Versuche, dem Schmerz zu entkommen, engende Schmerzgesten das Ballen der Fäuste, das Zusammenbeißen der Zähne und der Lippen als Versuch, im Nahkampf dem Schmerz Widerstand zu leisten. Beides passt nicht zusammen: Man kann nicht dem nahetreten, dem man entfliehen will. Zu dieser paradoxen Mischung kommt es, weil der Schmerz, der den Gepeinigten heimsucht, selbst ein expansiver Drang ist, der in den vitalen Antrieb störend eingreift und durch engenden Widerstand abgefangen werden soll, indes der Impuls »Weg!« ihm zu entkommen strebt. Zwei expansive Impulse, der des heimsuchenden Schmerzes und der des »Weg!«, stolpern gleichsam über einander, und durch ihre Verstrickung in einander entsteht die übermächtige Hemmung, das Übergewicht der Spannung. Man kann auf drei Weisen etwas dagegen tun. Entweder befreundet man sich mit dem Schmerz, oder man nimmt den eigenen expansiven Impuls durch Entspannung zurück, oder man setzt sich mit ihm über die Hemmung hinweg. Im ersten Fall wird aus dem Konflikt Solidarität, da beide Impulse im Grunde die gleiche Richtung haben und mit diese Einsicht die Schärfe verlieren. Im zweiten Fall findet die Schmerzattacke keinen Widersacher mehr, an dem sie sich zu übermächtiger Hemmung auftürmen könnte. Im dritten Fall, 166 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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wie bei dem Soldaten, der im Eifer des Gefechts seinen Schmerz nicht spürt, kommt die Konstellation übermächtig das »Weg!« abfangender Hemmung gar nicht zu Stande. Am Schmerz zeigt sich besonders deutlich die Unzulänglichkeit der Einordnung des affektiven Betroffenseins unter die Seelenzustände, sei es als Empfindung oder als Gefühl oder – nach dem Kompromissvorschlag von Carl Stumpf – als Gefühlsempfindung. Im Schmerz gerät der Betroffene in Zwiespalt mit sich selbst. Einerseits ist der Schmerz ein Angriff, der ihn wie von außen trifft, ein Widersacher, mit dem er sich auseinandersetzen muss wie mit der reißenden Schwere, wenn er stürzt oder einen drohenden Sturz gerade noch abfängt; andererseits spürt er sich selbst im Schmerz, der ihm nicht fremd ist wie die als Überfall reißende Schwere, sondern sein eigener Zustand. Im Schmerz kann man nicht aufgehen wie in der Angst (etwa in einer der genannten Fluchtreaktionen), man muss sich mit ihm auseinandersetzen: Schmerz konfrontiert. Die unter 1.2 besprochene Doppelseitigkeit des affektiven Betroffenseins, passiv und aktiv zu sein, kommt am Schmerz exemplarisch zum Vorschein. Ihn als bloß vorfindbares Objekt mit passivem Verhältnis zum registrierenden Beobachter einer Seele oder eines Bewusstseins einzuordnen, verkennt die Dynamik. Bezüglich der Bindungsform unterscheiden sich Angst und Schmerz dadurch, dass sie bei Angst rhythmisch, bei Schmerz kompakt ist. Man kann den Unterschied an der Atemkurve ablesen. Vor Angst kann man keuchen. Das Keuchen entsteht, indem Schwellung expansiv an einer Hemmung aufläuft, kurz abbrechend dann rhythmisch wieder einsetzt. Niemand keucht vor Schmerz. Der expansive Impuls und seine Hemmung, oder vielmehr die gegenseitige Hemmung zweier expansiver Impulse, sind so dicht zum Knäuel verschnürt, dass kein Spielraum für rhythmische Lockerung vorhanden ist. Nicht immer, wie bei Angst und Schmerz, ist das Übergewicht der Spannung im vitalen Antrieb mit einer dramatischen Steigerung der antagonistischen Konkurrenz verbunden. Viel167 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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mehr kann das Übergewicht der engenden Spannung so stark werden, dass es der Schwellung nur geringen Spielraum lässt. Dazu kann es bei Beklommenheit, düsterer Sorge, Kummer, Schuldgefühl, Depression kommen. Die Schwellung macht sich dann nur noch in der diffusen Unruhe bemerkbar, womit der Bedrückte sein Thema umkreist. Ein anderes Beispiel ist die Aufmerksamkeit bei Mensch und Tier. Sie besteht in der Zuwendung des vitalen Antriebs in einer Wartestellung, die ihm von der Reizempfänglichkeit durch Auslese von Reizen an Hand eines von der Situation eingegebenen Programms auferlegt wird. Die schwellende Weitung besteht dann nur noch in der Erwartungshaltung, der Aussicht auf das Bevorstehende, wodurch sich die Aufmerksamkeit vom bloßen Hinstarren unterscheidet. In der Skala der Gewichtsverteilung von Spannung und Schwellung im vitalen Antrieb folgt auf das Übergewicht der Spannung ein ungefähres Gleichgewicht beider Tendenzen, wofür man sich auf die Kraftanstrengung (etwa beim Heben, Ziehen, Klettern) berufen kann. Die Bindungsform ist im Wesentlichen kompakt, kann aber durch rhythmische Reize (etwa Rufe) gelockert und aufgefrischt werden. Für das Übergewicht der Schwellung steht exemplarisch die Wollust. Wollust ist die lustvolle Mobilisierung eines Übergewichts der Schwellung im vitalen Antrieb. Ihre eindrucksvollste Gestalt ist die geschlechtliche Wollust bis zur Ekstase, doch gibt es auch viele ungeschlechtliche Formen der Wollust, von der mildesten bis zur heftigsten. Für milde Wollust ist etwa der Zustand bei gewissen Hautreizungen (schmeichelnde Frühlingsluft, Sonnenbad als entspanntes Ausstrecken des unbedeckten Körpers in Sonnenwärme, Gestreicheltwerden, Gekitzeltwerden) sowie beim genüsslichen Recken und Dehnen der Glieder. Schon stärker aktiv und rhythmisch betont ist die Wollust des starken Schwimmers beim Kampf mit den Wellen; auf den Gipfel treibt die Wollust des Saugens, des Schlürfens (etwa beim gierigen Trank eines Dürstenden), und erst recht die Wollust des Kratzens einer stark 168 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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juckenden Hautstelle. Wollüstig ist die Lust, hemmende Spannung immer wieder durch weitende Schwellung zu überwinden, ohne doch von ihr loszukommen; wenn der Durchbruch gelungen, die Spannung abgeschüttelt ist, spaltet sich der vitale Antrieb, und an die Stelle schwellender Weitung tritt die gleich zu besprechende privative Weitung. Daher ist die Bindungsform bei Wollust, wie bei Angst, wenigstens bei genügender Stärke rhythmisch. Sie bedarf der wiederholten Erprobung der überlegenen Schwellung an einem zwischendurch eingeschobenen Übergewicht der Spannung. Es wäre auch zu anstrengend (d. h. zu engend, zu spannungsvoll), ein Übergewicht der Schwellung über ständig starke Spannung gleichmäßig durchzuhalten. Nur die milde Wollust ist kompakter Bindung beider antagonistischen Tendenzen fähig und gewinnt ihre besondere Köstlichkeit aus der zarten, gleichmäßigen Reibung von Spannung und Schwellung. Ein vergleichbares Übergewicht der Schwellung über die Spannung, wie bei der Wollust, findet sich beim Zorn oder besser beim Zürnen als leibliche Ergriffenheit von Zorn, nur ist es dann nicht so lustvoll. Die Bindungsform ist beim Zürnen aber eher kompakt als rhythmisch. Keuchenden Atem als Anzeichen einer rhythmischen Bindung gibt es bei hinlänglich starker Wollust so gut wie bei Angst, beim Zürnen aber nur, wenn der Zorn gehemmt wird, also einschießende Spannung das Übergewicht der Schwellung durchkreuzt. Dennoch sind Wollust und Zorn verwandt. Beide streben einem abschließenden Ergebnis zu, bei dem die Schwellung die Mauer der Spannung durchbricht und dann umkippt: die Wollust dem Geschlechtsakt oder anderen Formen der geschlechtlichen Ekstase, der Zorn dem Racheakt. Die bisher besprochenen leiblichen Regungen sind Varianten der Gewichtsverteilung im vitalen Antrieb und können daher mehr oder weniger leicht durch bloße Umverteilung der Gewichte einander zu Hilfe kommen und einander unterstützen. Ganz besonders auffällig ist die Einmischung der Angst in Wol169 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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lust, z. B. im Gruseln (thrill) als Angstlust. Manche Menschen suchen angsterregende Situationen auf, um sexuelle Reizung zu spüren (z. B. die Achterbahn). Die gemeinsame rhythmische Bindungsform von Angst und Wollust legt die Überführung nahe. Aber auch der Schmerz, trotz seiner kompakten Bindungsform, eignet sich dazu. Der Masochismus hat zwar tiefere Hintergründe, aber die glatte Verbindung des Schmerzes zur Wollust über bloße Gewichtsverschiebung ist an ihm beteiligt. In die Mitte dieses weiten Bogens von Übergewicht zu Übergewicht führt die Konversion des Schmerzes in Kraftanstrengung, in die Mitte zwischen den Übergewichten. Dr. Read, der Protagonist der »natürlichen Geburt« ohne Medikamente, schreibt: »Die meisten von Medikamenten und Betäubungsmitteln verschonten, innerlich vollkommen vorbereiteten Frauen haben von ›Schmerzen‹ der Austreibungswehen nur sehr geringe oder gar keine Beschwerden; sie haben allerdings ein gutes Stück schwerer Arbeit zu leisten. Ihr Ächzen und Stöhnen ist das eines Mannes, der mit Erfolg an einem Seil zieht. Die physische Anspannung ist bis zum Äußersten gesteigert.« 109 Die Spannung leistet nicht nur den Widerstand, der die Schwellung davon abhält, aus dem vitalen Antrieb auszubrechen und als privative Weitung in Weite zu verdampfen, sondern erfüllt außerdem die Aufgabe, den Leib zur Einheit zusammenzuhalten. Man kann sich fragen, warum dieser nicht in die Leibesinseln zerfällt, die ihn gewöhnlich durchziehen. Ein Teil der Antwort ergibt sich aus den ganzheitlichen, nicht auf einzelnen Leibesinseln angesiedelten Regungen, die Scheler entdeckt und als Lebensgefühle bezeichnet hat. 110 Er nennt Mattigkeit und Frische, Behagen und Unbehagen. Mattigkeit unterscheidet sich von Müdigkeit. Müdigkeit kommt sowohl am ganzen Leib Grantley Dick Read, Mutter werden ohne Schmerz, 2. Auflage Hamburg 1953, S. 107 110 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Auflage Bern 1954, S. 350–354 109

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als auch im Kopf oder in den Beinen vor und wird durch Ausruhen vertrieben; Mattigkeit ist nur ganzheitlich und unabhängig vom Bewegungszustand. Man kann auch an die Tagesform – wie man nach dem Aufstehen zurechtkommt – und an den Schwung ganzheitlicher Gebärden (stolzes Sichaufrichten, demütiges Zusammensinken) denken, oder an den Eifer, mit dem jemand ganz bei einer Sache ist. Mögen auch einzelne Leibesinseln beteiligt sein, sie fügen sich dann einer ganzheitlich umgreifenden Regung ein. Solche ganzheitlichen leiblichen Regungen bilden einen Hintergrund, der meist zu schwach ist, um die teilheitlichen Regungen zu fassen und zusammenzubinden. Das perzeptive Körperschema kommt dafür zu spät, wie das schon besprochene Beispiel vom Insektenstich zeigt, wo Leibesinseln (Hand und gereizte Hautstelle) zusammenwirken, ohne auf es Rücksicht zu nehmen. Vielmehr ist es die Spannung im vitalen Antrieb, die die Leibesinseln zusammenhält. Wenn sie empfindlich nachlässt, zerfällt der Leib in nur noch locker oder kaum verbundene Inseln, etwa beim Einschlafen. 111 Daraus ergibt sich ein gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen Bildung und Schwund von Leibesinseln einerseits, Anstieg und Absinken der Spannung im vitalen Antrieb andererseits. Bei sehr starker Spannung fallen die Leibesinseln fast aus, als ob sich der Leib auf einen Punkt zusammenzöge. Zunehmende Entspannung lässt sie aufblühen, z. B. in der Wollust unter zarten Liebkosungen; Sartre spricht dann von einem Aufblühen des Fleisches 112, was hier eine poetische Umschreibung für Leibinselbildung ist. Auch bloß besänftigendes Streichen über die Stirn wirkt in dieser Weise. Bei noch weiter absinkender Spannung löst sich der Leib Johannes Linschoten, Über das Einschlafen, in: Psychologische Beiträge 2, 1955/56, S. 266–298, S. 278: »Arme und Beine verlieren ihren Platz, die Kenntnis von der Körperlage verliert sich. Nicht selten spürt man nur noch seinen Kopf, namentlich die Augen und den Mund, bevor auch diese Teile verschwinden. Manchmal sind es die Hände, die noch fortbestehen, obwohl die Arme bereits verlorengingen.« 112 Jean-Paul Sartre, L’être et le néant, Paris 1943 und öfter, S. 466 111

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in Inseln auf und löst sich die Schwellung mehr oder weniger als privative Weitung aus dem vitalen Antrieb ab. Diesen Zusammenhang kann man zu Entspannungsübungen nützen, z. B. im autogenen Training, wo Arme und Beine, Kopf und Sonnengeflecht angezielt werden, um Leibesinseln zu wecken, deren Freisetzung zur Entspannung führt. Die bisher betrachteten leiblichen Regungen sind Varianten des vitalen Antriebs. Andere entstehen durch dessen Spaltung. Aus der Spannung kann Engung als privative Engung abgespalten werden, aus der Schwellung Weitung als privative Weitung, aber nur teilweise, wenn nicht das Bewusstsein schwinden soll, das an den vitalen Antrieb gebunden ist. Die Hauptgestalt privativer Engung ist der Schreck. Er ist im Gegensatz zu Angst und Schmerz, denen er durch die sogar noch weiter getriebene Konzentration auf Engung nahe steht, kein Konflikt, da ohne Verschränkung antagonistischer Tendenzen, und deswegen auch nicht eigentlich quälend, aber verstörend, da das Band von Engung und Weitung, der Träger des normalen Lebens, reißt. Grundform des Schrecks ist der plötzliche Einbruch des Neuen, der Gegenwart abreißt, indem er Dauer zerreißt und die zerrissene Dauer ins Nichtmehrsein verabschiedet. Ich werde sie nachher als primitive Gegenwart in ihre Bedeutung für absolute Identität und personale Selbstzuschreibung verfolgen. Dieser Grundform entspricht wie der Schreck der Stich, der bei plötzlicher Enttäuschung als Zucken im Oberbauch gespürt wird; so etwas widerfährt Zeus, als ihm seine Gattin Hera eröffnet, dass sie seine Absicht, seinen Sohn Herakles aus einer anderen Beziehung zum mächtigsten Herrscher auf Erden zu machen, durch eine Intrige vereitelt hat (Ilias Gesang 19 Vers 125). Der privativen Engung entspricht auf der anderen Seite die privative Weitung mit der Hauptform der Erleichterung, die sich zur Wollust verhält wie der Schreck zu Angst und Schmerz. Wie diese beiden zehrt auch die Wollust von der Verschränkung zwischen Engung und Weitung, nur in umgekehrter Richtung, mit Übergewicht der Weitung als Schwellung. In der Erleichte172 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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rung (z. B. von einer schweren Sorge) ist der Widerstand der Spannung und damit die Schwellung geschwunden; der Betroffene fühlt sich frei und leicht, los von einem Bande, das ihn gehalten hatte. Diesen Übergang von Schwellung in privative Weitung kann man an der Schilderung ablesen, die Winckelmann von seiner enthusiastischen Betrachtung des Apolls im Belvedere gibt: »Mit Verehrung erfüllt, schien meine Brust sich zu erweitern und aufzuschwellen, ich nahm durch die mächtige Rührung, die mich über mich selbst hinaussetzte, einen erhabenen Standpunkt an, um mit Würdigkeit anzuschauen; eine selige Entzückung hob mich mit sanften Schwingen, dergleichen die Dichter der unsterblichen Seele geben, und leicht durch dieselben suchte ich mich bis zum Thron der höchsten Schönheit zu schwingen.« 113 Bruchlos geht in dieser Schilderung die mächtige, in der Brust als Schwellung spürbare Rührung in ein schwereloses, weil von Spannung befreites Fliegen und Schweben über, wie es der Mensch im Bann der Freude buchstäblich spürt, so dass er hüpft und einen Freudensprung macht, als ob er in Seligkeit schwebe, obwohl die Schwere seines Körpers sich nicht im Mindesten verringert hat. Extrem scharf als Bruch markiert ist der Übergang von Schwellung in privative Weitung dagegen in der geschlechtlichen Ekstase, wenn die Wollust mit endlichem Sieg der Schwellung auf dem spitzen Gipfel des Orgasmus den Widerstand der Spannung durchbricht und in einem Rausch des spannungslosen Versinkens einmündet, der die Enge des Leibes preisgibt und ins Unendliche zu versinken scheint, was der Ekstase einen Nimbus von Transzendenz verleiht. Von weicherer Art ist die privative Weitung in wohltätiger Müdigkeit. Ihr Merkmal ist eine weiche, gleichmäßige Schwere, die aber nichts Drückendes oder nach unten Reißendes hat, sondern nur als Behinderung des Aufrichtens schwer ist; solches Aufrichten wird dann aber auch nicht gesucht, und die Behinderung besteht nur Johann Joachim Winckelmann, Kleine Schriften, hg. v. W. Senff. Weimar 1960, S. 149 (Beschreibung des Apoll im Belvedere)

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darin, dass der Einsatz von Schwellung gegen Spannung, hier als Aufrichten, abgeschaltet ist und die aus der Schwellung frei gewordene Weitung zum Versinken in Bewusstlosigkeit, zum Einschlafen hin, ausströmen kann. Dadurch hat die Schwere wohltätiger Müdigkeit einen Zug von Erleichterung, wenn auch weicher und stiller als Freude und Entzücken; Schwere und Leichtigkeit schließen sich in ihr nicht mehr aus. Die Extreme privativer Engung und privativer Weitung können auch unvermittelt in einander umschlagen. Einen Fall berichtet Maxim Gorki. Als Knabe wagte er die Mutprobe, sich auf die Schienen zu legen und einen bergan fahrenden Güterzug über sich hinwegbrausen zu lassen. »Ein paar Sekunden lang erlebt man eine merkwürdige Sensation, man versucht, sich so flach wie möglich auf den Boden zu pressen und mit Aufwendung des ganzen Willens den leidenschaftlichen Wunsch zu bekämpfen, sich zu bewegen, den Kopf zu heben. (…) Wenn dann der Zug vorüber ist, liegst du eine Minute oder länger bewegungslos, unfähig, dich zu erheben, als schwämmst du hinter dem Zug her; und es ist, als dehnte sich dein Körper endlos aus, würde leicht, verschmelze in der Luft- und im nächsten Augenblick flögest du über die Erde.« 114 Um sein Leben zu retten, muss sich der Knabe gegen die Schwellung in seinem vitalen Antrieb, die ihn zum Anheben des Kopfes treibt, mit aller Willenskraft um eine die Schwellung niederpressende Spannung bemühen mit dem Erfolg, dass sein vitaler Antrieb in privativer Engung gelähmt ist und er bewegungslos liegen bleibt, bis die Weitung zurückkehrt, aber nicht gleich als Schwellung, sondern entsprechend der Zersetzung des vitalen Antriebs als privative Weitung eines unendlichen haltlosen Verströmens. Das ist ein Grenzfall. Unter normalen Umständen ist für die Vermittlung von Engung und Weitung an einander doppelt geZitiert aus: Eric Homburger Erikson, Kindheit und Gesellschaft, 2. Auflage Stuttgart 1965, S. 383 nach: Maxim Gorki: Erinnerungen an Tolstoi, Tschechow und Andrejew

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sorgt, nämlich nicht nur durch ihre Verschränkung zum vitalen Antrieb, sondern auch durch die leibliche Richtung, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führt und dabei die Engung mitnehmen kann, wie in der panischen Flucht vor Angst. Leibliche Richtungen, d. h. solche, die in die Dynamik des Leibes eingebaut sind und ihm nicht von außen zustoßen, sind stets unumkehrbar, führen also nie aus der Weite in die Enge. Ein Musterbeispiel ist der Blick, der als leibliche Regung außer im Gesichtsfeld auch als nachdenklicher »Blick nach innen« vorkommt – schon bei Aischylos 115 – und der Engung und Weitung gleichermaßen fähig ist, aber alternativ, nicht in Verschränkung zum vitalen Antrieb: Der enge Blick ist scharf auf ein Blickziel eingestellt, der weite Blick schweift und verliert sich in der Tiefe des Raumes. Eine unablässig tätige leibliche Richtung ist das Ausatmen, das die am Ende des Einatmens der Unerträglichkeit sich nähernde Spannung in die Weite abführt und so der beim Einatmen als dominante Schwellung einsetzenden Weitung wieder aufhilft. Wie der Blick kann das Ausatmen eng und weit sein, eng als stoßendes, gepresstes, weit als verlängertes. Eine leibliche Richtung aus der Enge in die Weite ist auch das Schlucken, wie es sich darbietet, wenn man sich von den Bildern der anschaulichen Körpervorstellung – von Schlund, Luftröhre, Magen u. dgl. – frei macht und es nur als leibliche Regung vergegenwärtigt. Dieses rein leibliche Schlucken gliedert sich in eine kurze Phase markanter Engung in der Gegend des Schlundes und anschließendes stoßartiges Loslassen der Engung in eine unumkehrbare Richtung, die wie beim Ausatmen in ungegliederte Weite (hier: Tiefe) führt. Allgemein kann man leibliche Richtung als Übergang aus der Enge in die Weite charakterisieren, der nicht wie die Schwellung mit der Engung antagonistisch

Aischylos Hiketiden Verse 407–409: »Not tut tiefes, Rettung bringendes Nachdenken, das starrende Auge, das nach Art eines Tauchers in die Tiefe geht.«

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verschränkt ist und sich auch nicht wie die privative Weitung von ihr abstößt. Die vielseitigste Gestalt leiblicher Richtung ist das motorische Körperschema. Ich stelle es, um zu klären, was gemeint ist, dem perzeptiven Körperschema gegenüber. Seit Paul Schilder in seinem gleichnamigen Buch 1922 das Körperschema einführte und als »das Raumbild, das jeder von sich hat« charakterisierte, hat man in der breit verteilten und lebhaft erörterten Übernahme seines Ausdrucks immer nur an das perzeptive Körperschema gedacht, das aus den Erfahrungen des Sehens und Tastens gebildete habituelle Vorstellungsbild vom eigenen Körper, das sich jeder Stellungsänderung anpasst. Es gliedert sich nach Abständen und Lagen der von außen zugänglichen Körperteile zu einander, die auf umkehrbaren Verbindungen nach beiden Richtungen abgelesen werden können, und kann sowohl den ganzen Körper umfassen als auch auf Ausschnitte beschränkt werden. Wenn ich, jetzt sitzend, die Augen schließe; kann ich mir recht genau vergegenwärtigen, wo sich, dem Abstand von und der Lage zu einander nach, meine dem Aufblick und der Selbstbetastung auffälligen Körperteile gerade befinden und wie sie sich bei näherer optischer oder taktiler Zuwendung ausnehmen würden. Wenn ich dann stehe, sind Lagen und Abstände andere geworden, aber das perzeptive Körperschema ist geblieben. So elegant, aufschlussreich und nützlich dieses Bescheidwissen auch ist, überzeugt man sich doch leicht, dass es sich nicht zur Führung flüssiger Bewegung eignet. Mag auch das Ergebnis gewisser Abstands- und Lageänderungen von Körperteilen nach tausendfältigen Erfahrungen im perzeptiven Körperschema noch so gut gespeichert sein, das reicht nicht zur Führung des Gehens in geordneten Bahnen, geschweige denn zum schwungvollen Tanzen. Wer sich zum Gehen nach Abstand und Lage (d. h. Winkeln) seiner Füße orientieren musste, käme höchstens schleppend von der Stelle. Es muss ein anderes System räumlicher Orientierung geben, das die flüssige Bewegung führt und vor Entgleisungen bewahrt. Der Hinweis auf ein sol176 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leibliche Dynamik

ches System ist schon zweimal vorgekommen. Im Beispiel vom vermeintlichen Insektenstich handelt es sich um die prompte Koordination von Hand und durch diese getroffener Hautstelle ohne Rücksicht auf Lage und Abstand; es wäre grotesk, dem Geplagten zuzumuten, in seinem perzeptiven Körperschema den Ort, wo sich die zum Schlag bereite Hand befindet, aufzusuchen, ehe er sich ihrer bedient. Das zweite Beispiel war das vom geschickten Ausweichen vor einer in drohender Näherung gesehenen wuchtigen Masse, das gelingt, obwohl man über Lage und Abstand des eigenen Körpers zu dieser nicht (namentlich nicht durch Augenschein) unterrichtet ist. Diesem Beispiel verwandt ist ein drittes. Wer in einer dichten Menge einander begegnender Menschen vorwärts kommen will, muss oft seine Schultern und Arme einziehen, um in einen Zwischenraum von wenigen Millimetern an Entgegenkommenden vorbei zu kommen, ohne anzustoßen. Das gelingt mit einer höchst subtilen Steuerung der betreffenden Körperteile, obwohl man über deren Lage und Abstand zum Nebenmann nicht unterrichtet ist; niemand denkt daran, seine Schultern und Arme entsprechend zu beaufsichtigen, was schon anatomisch schwierig wäre. Diese beiden Beispiele greifen schon auf Begegnendes über und gehören daher in die folgende Sektion über leibliche Kommunikation, sind aber auch hier schon brauchbar. In beiden Fällen leitet der Blick (auf die wuchtige Masse bzw. den Nebenmenschen) statt des perzeptiven Körperschemas die richtige Einstellung. Noch schlagender ist das vierte Beispiel, das wieder ganz im Rahmen des eigenen Körpers bleibt, vom Balancieren. Wer nach Ausrutschen von einem Sturz bedroht ist, rettet sich im günstigen Fall vor dem Hinfallen augenblicks durch subtil, auf das Feinste, abgestimmte Stellungsänderungen und Gewichtsverteilungen fast aller seiner Körperteile. Das Manöver ist viel zu kompliziert und plötzlich, um am perzeptiven Körperschema abgelesen zu werden. Es geschieht unwillkürlich in Abstimmung auf die eingreifende Macht der reißenden Schwere, die gegenständlich gar nicht zu fassen ist. Man weiß also nicht einmal, worauf man sich ab177 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leib und Gefühl

stimmt, und schafft es doch, gegen diese Macht das Gleichgewicht zurückzugewinnen. In diesen Fällen wird die flüssige und prompte Eigenbewegung von einem Schema räumlicher Orientierung geführt, das sich nicht in einem flächenhaltigen Raum an die Formen des eigenen Körpers und der nach Lage und Abstand bestimmten relativen Orte seiner Teile hält, sondern in einem flächenlosen Raum – dem Raum des Leibes (3.1) – mit absoluten Orten und Richtungen zurechtkommt. Ich bezeichne es als das motorische Körperschema. Nur dieses kommt als Führer flüssiger Bewegung in Betracht. Seine Richtungen sind unumkehrbar. Das ist nicht nur in den vier Ausnahmefällen so, sondern allgemein. Ich zeige das gern durch folgende Überlegung: Während das perzeptive Körperschema ebenso im Ganzen wie teilweise abgerufen werden kann, ist das motorische auf Ganzheit angewiesen, da die geführte Eigenbewegung meist alle Körperteile in Mitleidenschaft zieht. Dabei müssen ihm diese Teile der Gegend und Entfernung nach in konstanter Ordnung zur Verfügung stehen. Die rechte Hand muss immer die rechte sein, der rechte Fuß immer der rechte bleiben; die Verwechslung von rechts und links könnte schlimme Folgen für die Eigenbewegung haben. Ebenso muss trotz beliebiger Variationen der Körperstellung feststehen, was oben und unten, vorne und hinten, was näher und ferner von einander ist. Diese Unterscheidung der Richtungen und Gegenden verlangt eine Bezugsstelle, von wo aus etwas rechts oder links, mehr oben oder mehr unten als etwas usw. ist. Wäre diese Bezugsstelle etwa beim Autofahren im abgewinkelten rechten Ellenbogen, so wären beide Hände links, und die Rechs-linksUnterscheidung würde nicht mehr greifen. Von der Bezugsstelle aus können die zum Einsatz bestimmten (peripheren) Körperteile prompt und sicher erreicht werden, wie die vier beschriebenen Ausnahmefälle beweisen, aber wo ist das Zentrum, die Bezugsstelle? Im perzeptiven Körperschema könnte man sie durch bloße Umkehr der Richtung (von der Peripherie zum Zentrum) mühelos ermitteln, da die Verbindungen, an denen Lagen und 178 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leibliche Dynamik

Abstände abgelesen werden, sämtlich umkehrbar sind. Das ist hier aber nicht möglich. Zwar haben Psychologen Vorschläge gemacht 116 , die aber fragwürdig sind und jedenfalls nicht auf einen Blick durch Richtungsumkehr abgelesen werden können. Die Richtungen und Entfernungen von der Ausgangsstelle des motorischen Körperschemas zu den Körperteilen, wodurch deren konstante Anordnung gemäß dem Schema bestimmt wird, sind also unumkehrbar; es handelt sich nicht um umkehrbare Lagen und Abstände, wie im perzeptiven Körperschema. Im Rahmen der leiblichen Dynamik leitet das motorische Körperschema mit unumkehrbaren Richtungen zwischen absoluten Orten die flüssige Bewegung des Körpers; wie das geschieht, wissen wir nicht. Eine von diesen Richtungen, in das motorische Körperschema integriert, ist der Blick, der daher mit dem gesamten Schema ohne Reaktionszeit koagiert, es zu der geschickten Anpassung befähigend, die in allen beschriebenen Ausnahmefällen, an denen er beteiligt ist, zum Erfolg führt. Beim Erwerb anspruchsvoller motorischer Kompetenzen, wie des Schwimmens, des Tanzens, des Klavierspielens, wechseln sich perzeptives und motorisches Körperschema in der Führung ab. Der Lehrling richtet sich nach Lage und Abstand seiner einsatzbereiten Körperteile, wie sie im perzeptiven Körperschema verzeichnet sind; er bemüht sich, die neuen motorischen Forderungen in dieses einzubauen. Wenn er dabei Erfolg hat, erreicht er einen Wendepunkt, an dem die Kompetenz »sitzt«, die neue Kunst »beherrscht« wird. An diesem Punkt übernimmt das motorische Körperschema die Führung; der Könner braucht sich um Lage und Abstand nicht mehr zu kümmern, die Bewegung wird flüssig, die Finger gleiten wie von selbst über die Tasten, die Füße im richtigen Schwung und Takt über den Boden. Auch Edouard Claparède, Sur la localisation du Moi, in: Archives de Psychologie 19, 1925, S. 172–182, S. 172: »Mon moi, je le situe d’une façon très exacte dans le milieu de ma tête, au centre d’un plan horizontal qui passe parles deux yeux.«

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das Umgekehrte kommt vor, der Rückfall aus der Führung durch das motorische Schema in die Führung durch das perzeptive mit Verlust der Kompetenz. Einen solchen Fall erzählt der Sprecher in Heinrich v. Kleists Essai Über das Marionettentheater: Als er mit einem Jüngling, der durch bezaubernde Anmut seiner Bewegungen schon bewundernde weibliche Blicke auf sich zog, ein öffentliches Bad besuchte, hatte dieser zufällig die Stellung des Dornausziehers (einer anmutigen antiken Bronzeplastik) eingenommen und wollte das selbstgefällig seinem Freund zeigen, der aber um dem Narzissmus zu wehren, so tat, als bemerke er nichts davon. Darauf versuchte der Jüngling, ihn zu überzeugen, indem er die Pose wiederholte. Das misslang. Der Jüngling ließ nicht nach, stellte sich vor den Spiegel und übte alle die anmutigen Bewegungen ein, die ihm vorher unwillkürlich gelungen waren. Nach kurzer Zeit hatte er alle Anmut verloren. Der Fehler des Jünglings bestand darin, die Führung seiner Bewegungen vom motorischen Körperschema, das ihm virtuose Erfolge brachte, an das perzeptive preisgegeben zu haben. Engung, Weitung und Richtung sind die drei Grundtypen leiblicher Dynamik von Enge und Weite. Es gibt aber noch eine weitere Dimension, mit jener zwar verwandt, aber nicht auf sie zurückführbar. Ich bezeichne sie als die protopathisch-epikritische Dimension, wobei ich mich der Ausdrücke bediene, die der britische Neurologe Henry Head für die Unterscheidung der Sensibilität zweier Typen von Berührungen eingeführt hat. 117 Ich habe seine Unterscheidung auf alle leiblichen Regungen ausgedehnt. Was gemeint ist, kann ich mit dem inzwischen gesammelten Begriffsvorrat abstrakter als früher angehen. Epikritisch ist die Tendenz auf absolute Identität hin, auf etwas als dieses, verschieden von anderem, protopathisch dagegen die Tendenz zum konfusen Mannigfaltigen, die Neigung zum Verschwommenen, Grenzen und Orte Auflösenden. Es handelt sich nur Henry Head, The afferent nervous system from a new aspect, in: Brain 28, 1905, S. 99–115

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um Tendenzen, die nicht extrem ausgeprägt sein müssen. Protopathisch ist der Leib als Gewoge verschwommener Inseln und der vitale Antrieb in seiner ziellosen Grundform, während die beiden Oberschichten der Vitalität, Reizempfänglichkeit und Zuwendbarkeit des Antriebs, für ihre Auslesefähigkeit epikritischer Tendenz bedürfen. Anschaulicher wird die Charakteristik, wenn man die unter 3.3 zu besprechenden synästhetischen Charaktere zu Hilfe nimmt, die sowohl am eigenen Leibe gespürt als auch an Gegenständen wahrgenommen werden können. Epikritisch ist das Spitze, Scharfe, Schärfende, protopathisch dagegen das Dumpfe, Zufließende, Stumpfe, Ausstrahlende; jenes ist härter und heller, dieses weicher und dunkler. Bei Schmerz und Wollust ist die Unterscheidung leicht. Der dumpf ausstrahlende Bauch- und Eingeweideschmerz ist protopathisch, der helle, scharfe Zahn- und Stichschmerz epikritisch. Der spitze, schrille Schrei entspricht dem epikritischen Schmerz, das gedehnte Stöhnen und Röcheln dem protopathischen. Protopathisch ist die weiche, schmelzende Wollust, das Kosen der Haut (durch die Hand oder Frühlingsluft), epikritisch das wollüstige Prickeln und feine Stechen, das bei angenehmen Mischungen von Angst und Wollust den Rücken herabrieselt. Jucken ist lästig durch ein Übermaß protopathischer Tendenz, die zu schwellender Weitung aufregt, dieser aber nicht den nötigen Gegenhalt der Spannung liefert, da solche in dem protopathischen Milieu nicht Fuß fassen kann. Deswegen kommt dem zurückgehaltenen vitalen Antrieb das Kratzen mit den Fingernägeln zu Hilfe und setzt die engende Spannung, von der sich die Schwellung nun mit überwiegender Stärke absetzen kann, so dass das Kratzen wollustig ausgekostet wird, bis der Schmerz ihm ein Ende setzt. Wie dieses Beispiel zeigt, steht die protopathische Tendenz der Weitung nahe, die epikritische der Engung, und die entsprechenden Paarungen sind läufiger als die umgekehrten. Jedoch kommt auch protopathische Engung vor, ebenso epikritische Weitung. Als Beispiel für das Erste genügt der benommene Kopf am Morgen nach zu reichlichem Alkoholgenuss, eng und 181 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leib und Gefühl

dumpf. Epikritische Weitung empfindet, wer sich morgens mit frischer Kraft und festem, aber leichtem Schritt zu einer Wanderung aufmacht. In diesem Fall wird Spannung mit privativer Weitung durch die aus der Enge in die Weite führende leibliche Richtung des wandernden Aufbruchs zusammengeschlossen, und ein epikritischer Akzent kommt hinzu. Zwischen dem Paar Engung – Weitung und dem Paar protopathisch – epikritisch gibt es einen Unterschied in der Bindungsgeneigtheit. Engung und Weitung verschränken sich im vitalen Antrieb, können sich als privative Engung und privative Weitung zwar auch trennen, aber nur teilweise und mit fortbestehendem Antrieb, solange das Bewusstsein nicht aussetzt, und sogar Spannung und privative Weitung können durch Richtung noch zusammengehalten werden, wie das eben angeführte Beispiel vom Aufbruch zum Wandern zeigt. Im vitalen Antrieb regulieren Engung und Weitung sich gegenseitig durch antagonistische Konkurrenz. Solcher Regulation scheinen protopathische und epikritische Tendenz nicht zu bedürfen. Protopathischer Schmerz wird oft ohne epikritischen gespürt und umgekehrt. In der geschlechtlichen Ekstase wird der Leib auf dem spitzen Gipfel des Orgasmus erst epikritisch zusammengefasst und dann im erschlaffenden Rausch ebenso vollständig protopathischer Ergießung überlassen. Beim Dösen in der Sonne liefert sich der Leib ganz protopathischem Verschwimmen aus, während in heftigem Entsetzen und Erschrecken nur noch eine epikritische Spitze spürbar ist. Beide Tendenzen hängen nicht so von einander ab und greifen nicht so sehr in einander wie Engung und Weitung. Hiermit habe ich ein eigenständiges und, wenn ich mich nicht irre, ziemlich vollständiges System von Kategorien leiblicher Dynamik zusammengestellt, das sich auf Körperzustände nicht anwenden lässt. Die bisher vernachlässigte Unterscheidung zwischen dem spürbaren Leib und dem sichtbaren und tastbaren Körper (mit Fortsetzung in dessen naturwissenschaftliche Rekonstruktion mit Messdaten, Mathematik und hinzugefügten 182 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leibliche Kommunikation

Konstrukten) dürfte damit wesentlich an Schärfe gewonnen haben.

3.3 Leibliche Kommunikation Die leibliche Dynamik ist in der Dimension von Enge und Weite von vornherein kommunikativ. Das liegt zunächst an der Struktur des vitalen Antriebs, der als antagonistische Konkurrenz gegenläufiger Impulse eine Art von Dialog ist. Sodann ist der vitale Antrieb selbst ein affektives Betroffensein, und affektives Betroffensein ist kommunikativ, nämlich angewiesen auf das Zusammenwirken des passiven Betroffenseins von etwas, das betroffen macht, mit aktivem Eingehen darauf (1.2). Affektives Betroffensein ist der vitale Antrieb durch die engende Spannung, die die Weitung zügelt und zurückhält, so dass diese entweder unterliegt oder sich als Schwellung überwiegend durchsetzt oder gar als privative Weitung der Hemmung entkommt; die Durchsetzung und das Entkommen ziehen affektives Betroffensein (Stolz, Triumph, bzw. Befreiung, Erlösung) nach. Alle leiblichen Regungen, die im vitalen Antrieb und seinen Abspaltungen (privative Engung oder privative Weitung) Platz finden, sind affektives Betroffensein, manche von ihnen auch als Vermittler der Ergriffenheit von Gefühlen. Auf diese Weise ist die leibliche Dynamik in der Dimension von Enge und Weite immer eine Auseinandersetzung, ein Zutunhaben mit etwas, und insofern kommunikativ. Diese Kommunikation ist nicht auf den Rahmen des eigenen Leibes eines Individuums beschränkt. Sie gehört nicht in eine private Innenwelt. Der Innenwelt-Außenwelt-Dualismus der Weltspaltung ist dem Leib fremd. Er passt zur leiblichen Dynamik so wenig wie zu den Situationen. Zwar ist jeder Bewussthaber er selbst nur durch für ihn subjektive Tatsachen, und jede Person hat ihre Persönlichkeit als ihre zuständliche persönliche Situation, aber alle solche Besonderheiten werden überholt durch gemeinsame Situationen mit nicht auf 183 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leib und Gefühl

einzelne Individuen beschränkter binnendiffuser Bedeutsamkeit, und an der Bildung gemeinsamer Situationen hat die leibliche Kommunikation entscheidenden Anteil. Die leibliche Kommunikation verläuft in zwei Kanälen der leiblichen Dynamik. Der erste und wichtigste Kanal ist der vitale Antrieb, der über den Leib des jeweiligen Bewussthabers hinausgeht und diesen als gemeinsamer Antrieb mit vielem, was jenem widerfährt, zu einem Ganzen leiblicher Dynamik (auch einschließlich protopathischer und epikritischer Tendenz) zusammenschließt. Diesen Zusammenschluss bezeichne ich als Einleibung. Sie ist zunächst, als direkte Fortsetzung der antagonistischen Konkurrenz von Spannung und Schwellung, antagonistische Einleibung, eine Auseinandersetzung unter Partnern, die nur möglich ist, wenn wenigstens einer von diesen sich dem oder den anderen zuwendet. In dieser Auseinandersetzung geht es um die Dominanzrolle. Sie gehört der Partei, die im Besitz der Enge des übergreifenden Systems leiblicher Dynamik (einfacher gesagt: des übergreifenden Leibes) ist, des Quells der unumkehrbar aus der Enge in die Weite führenden leiblichen Richtungen, mit denen die übrigen Teilnehmer (einer genügt) gleichsam eingefangen werden können. Je nachdem, ob die Dominanz immer auf einer Seite bleibt oder fluktuiert, ist die Einleibung einseitig oder wechselseitig. Sie erstreckt sich nicht nur auf Bewussthaber oder leibliche Wesen, sondern kann auf alles Vorkommende übergreifen. Das wird möglich durch leibnahe Brückenqualitäten, die sowohl am eigenen Leib gespürt als auch am Begegnenden wahrgenommen werden können; dabei handelt es sich um Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere, die in die Erörterung einbezogen werden müssen, um die Ubiquität der Einleibung verständlich zu machen. Außer der antagonistischen Einleibung gibt es die solidarische, die darin besteht, dass viele Individuen von einem gemeinsamen vitalen Antrieb beherrscht werden, ohne ich einander zuzuwenden, z. B. in einer panischen Massenflucht, oder beim gemeinsamen Singen oder Sägen. Der andere Kanal leiblicher Kommunikation, neben dem 184 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leibliche Kommunikation

vitalen Antrieb, ist die privative Weitung. Die Kommunikation in diesem Kanal bezeichne ich als Ausleibung. Sie ist ein Trancezustand, in dem die Enge des Leibes mehr oder weniger an reine, formlose Weite preisgegeben wird, so dass kein Gegenstandsbezug stattfindet, sondern ein Versinken in etwas. Diese Versunkenheit wird produktiv, indem sie durch eine Verbindung mit einseitiger Einleibung nach Entdifferenzierung des Details der Umstände zur Begegnung mit reinen Arten (wie Ton, Licht, Duft, Wärme) führt. Gemäß dieser Übersicht werde ich nun die leibliche Kommunikation abhandeln. Außer der Struktur der leiblichen Dynamik bedarf es zur leiblichen Kommunikation eines Gegenstandsbezugs. Dieser muss nicht erst »von außen« an den spürbaren eigenen Leib herangebracht werden, sondern ist schon in ihm enthalten, z. B. in Gestalt des Schmerzes, der ja keineswegs nur ein eigener Zustand (wohl gar ein Seelenzustand, eine unangenehme Empfindung oder dergleichen) ist, sondern zwar eigener Zustand, aber auch eindringender Widersacher, mit dem man sich auseinandersetzen muss, von dem man gestellt wird (wie der Jäger das Wild und die Polizei den Verbrecher stellt). Der Schmerz ist also zwiespältig zwischen dem, was man als Leib von sich selbst spürt, und dem, was einem aufgeladen wird und zu bewältigen ist. Von dieser Art ist wohl auch der Fötus im Körper der Schwangeren. 118 Diese Beispiele führen auf den Gegenstandstypus, der für den Gegenstandsbezug der antagonistischen Einleibung an erster Stelle (schon in den primitiven Anfängen) in Betracht kommt. Es handelt sich um die von mir seit 1978 beschriebenen Halbdinge. Ein Halbding unterscheidet sich von Volldingen (Dingen im gewöhnlichen Sinn) durch zwei Merkmale: 1. unterbrechbare Dauer. Halbdinge sind da, verschwinden und kommen wieder, ohne dass es Sinn hat, zu fragen, wie sie die Zwischenzeit verbracht haben. 2. unmittelbare KausaliUte Gahlings, Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen, Freiburg 2006, S. 482–485

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Leib und Gefühl

tät: Während bei Dingen zwischen ihnen als Ursache und dem Effekt die Einwirkung steht (z. B. Stoß zwischen Stein und Zertrümmerung oder Verrückung des Glases, Einnahme zwischen Schlafmittel und Schlaf), fallen Ursache und Einwirkung bei Halbdingen zusammen. Von kurzfristig wechselnden Sinnesdaten unterscheiden sich die Halbdinge dadurch, dass sie wie die Dinge einen beharrenden Charakter mit wechselndem Gesicht haben, oder durch Macht. Bei der Aufzählung von Beispielen muss man sich immer vor Augen halten dass hier von Phänomenen in unwillkürlicher Lebenserfahrung die Rede ist, nicht von den Substituten, als die die Naturwissenschaft sie sich zurechtlegt. Das prototypische Halbding ist die Stimme (eines Menschen, einer Tierart). Sie erschallt, verstummt und erschallt wieder, aber zwischendurch ist sie nirgendwo geblieben. Man wird von ihr unmittelbar getroffen, ohne dass sie sich als Ursache hinter dem Stimmschall irgendwo versteckt gehalten hätte. Von diesem Schall unterscheidet sie sich: Er wächst, sie nicht. Sie bleibt sich auch durch oberflächliche Abwandlungen im Wesentlichen gleich, mit einem beharrenden Charakter, der so prägnant ist, dass man oft den Menschen an seiner Stimme erkennt. Andere Beispiele sind der Wind, der einen trifft, der elektrische Schlag (ohne schlagenden Arm, ohne die für den Wind bezeichnende Richtung seiner Herkunft), die reißende Schwere, die einen packt, wenn man stürzt oder sich gerade noch fängt, viele Geräusche (schrille Pfiffe, stechender Lärm, das rhythmische Tropfen des Wasserhahns), Melodien oder Probleme, die einen nicht loslassen, wiederkehrender Schmerz, Sorgen und Wünsche, die den Menschen beharrlich verfolgen, immer wieder hoch kommende Gefühle (Zorn, Scham, Bitterkeit), brütende Hitze und schneidende Kälte, die Nacht und die Zeit, wenn sie in Langeweile oder gespannter Erwartung unerträglich lang wird. Charakteristisch ist die Zudringlichkeit der Halbdinge, die sie ihrer unmittelbaren Kausalität verdanken, nicht als Ursachen hinter ihre Einwirkung zurückzutreten. Die Zudringlichkeit geht in 186 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leibliche Kommunikation

einigen Fällen, etwa beim Wind und der reißenden Schwere, so weit, dass die Halbdinge dem Schmerz darin gleichen, nur am eigenen Leib des Betroffenen gespürt werden zu können, aber allerdings darin vom Schmerz abweichen, dass der Betroffene sie nicht als etwas von sich selbst spürt, sondern nur als fremde Gewalten, die in seinen Leib eingreifen. Die Zudringlichkeit der Halbdinge schlägt die Brücke so unmerklich und bruchlos zum Leib, dass der vitale Antrieb das Angebot ohne Weiteres zur Auseinandersetzung mit den Halbdingen aufnehmen kann. Nun ist es wichtig, sich klar zu machen, dass die primitive antagonistische Einleibung in Halbdinge die Einzelheit unterläuft. Die Tiere und Menschen müssen den Schmerz schon aushalten, dem Wind standhalten, der reißenden Schwere beim Stürzen sich widersetzen, ehe sie merken, was das ist, d. h. ehe sie über eine explite Gattung und einen Namen verfügen, um sich davon Rechenschaft zu geben. Erst dann aber können sie das ihnen widerfahrende Halbding stabil als einzelnes haben und einordnen (2.2; 2.5). Die ursprüngliche Gegenstandsfindung geht also der Vereinzelung voraus. Aus der Reibung und Konfrontation in der Auseinandersetzung ergeben sich die gemeinsamen, den Bewussthaber und das ihm widerfahrende Gegenständliche umgreifenden Situationen, aus denen sich dann eine Kaskade von Explikationen, Konstellationen, neu aus diesen sich bildenden Situationen neuen Explikationen usw. ergibt. Bis dahin gibt es statt einzelner Sachen mit Beziehungen zwischen ihnen nur absolut identische Sachen in unspaltbaren Verhältnissen. Die ältere Phänomenologie hat die Stufe der Gegenstandsfindung zu hoch angesetzt, bei der von ihr ins Zentrum gestellten Intentionalität von Akten des Bewusstseins. Brentano, Husserl, Scheler und ihre Anhänger sind Singularisten und beachten nur einzelne, wenngleich nicht isolierte Gegenstände; nur auf solche beziehen sich die von ihnen viel beschworenen intentionalen Akte des Bewusstseins. Ihre Intentionalität kommt zu spät als ursprünglicher Zugang zu Gegenständen und begünstigt das Vorurteil des Projektionismus, zu 187 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leib und Gefühl

meinen, auf einzelne Sachen als primäre Gegenstände der Zuwendung würden nachträglich Gattungen und weitere Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) aufgesetzt. Von den Halbdingen geht nach der Vereinzelung die antagonistische Einleibung zu den Volldingen über. Ihr optisches Instrument ist der Blick, der von Seiten des Senders eine leibliche Richtung, für den Empfänger, den er trifft, ein Halbding mit unterbrechbarer Dauer und unmittelbarer Kausalität (wie die Stimme) ist. Jeder Blickwechsel erzeugt einen gemeinsamen vitalen Antrieb: Der Blick des Anderen trifft mich engend, ich werfe ihm den meinen, in die Weitung übergehend, zurück, der den Anderen engt, und so spielt sich die Verschränkung von Engung und Weitung zum gemeinsamen vitalen Antrieb ein. Da dieser die Konkurrenz beider Impulse um das Übergewicht ist, wird im Blickwechsel jeder Blick zum Anschlag auf Dominanz aus Gründen leiblicher Dynamik, ganz ohne Herrschsucht, im Gegenteil: Die unterwürfigsten Blicke, der liebevolle und der demütige, sind die dominantesten, weil sie rühren und der Gerührte den Stand (im übertragenen Sinn) verliert, so dass er sich nicht mehr wehren kann. Es ist nicht leicht, den fremden Blick Aug’ in Auge auszuhalten; wer ihm nicht gewachsen ist, senkt den seinen oder wird gefesselt. Daraus ergibt sich die Schlüsselrolle des auch nur kurzfristig verlängerten Blicks im erotischen Kontakt. Auch auf Tiere wirkt die Dominanz des Menschenblickes; sie kann über Leben und Tod entscheiden: Sobald der Dompteur von Großkatzen sie nicht mehr durch die Macht seines Blickes bändigt, ist er verloren. 119 Aber sogar der ruhende Löwe, der in gar keine Auseinandersetzung mit dem Menschen verwickelt ist, unterliegt diesem Blick. 120 Tiere haben für solche Max Kauffmann, Suggestion und Hypnose, Berlin 1923, S. 80 Ernst Mangoldt, Hypnose und Katalepsie bei Tieren im Vergleich mit der menschlichen Hypnose, Jena 1914, S. 38: »Wenn man einem ruhig daliegenden und noch so majestätisch unverwandt geradeaus schauenden Löwen in die Blicklinie tritt, so hält er nicht stand, dreht vielmehr alsbald sein mächtiges Haupt mit blinzelndem Auge zur Seite.«

119 120

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Wirksamkeit des Blickes ein feines Vorgefühl. Besucher afrikanischer Großaffen und japanischer Kleinaffen (wie ich auf einer Insel bei Hiroshima erfuhr) werden ermahnt, den Tieren nicht in die Augen zu schauen, weil es dann ungemütlich werden könnte: Das Tier könne den Anschlag des Blickes des Besuchers, dessen Kamera dagegen harmlos sei, auf sein Imponierstreben übel nehmen. So unbefangene, von menschlichen Sitten und Vorurteilen so freie Wesen wie Katzen und Affen bezeugen also die rein leibliche, von körperlicher Einwirkung freie Wirksamkeit des vitalen Antriebs in optischer Einleibung. Nicht nur im Angriff wirkt der Blick als Macht, sondern er hilft auch zur einträchtigen motorischen Verständigung. Unter 3.2 habe ich schon seine Leistung als leibliche Richtung beim anstandslosen Durchkommen in einer Masse einander begegnender Menschen hervorgehoben. Auf den bevölkerten Gehwegen großer Städte hasten abends viele Menschen, von denen jeder nur sein Ziel – vielleicht ein Kaufziel – im Sinn hat, an einander vorbei, ohne anzustoßen. Dabei muss jeder nicht nur den bevorstehenden Kurs des Nächsten, der ihm entgegenkommt, berücksichtigen, sondern auch die Kurse der daneben und dahinter Aufscheinenden, damit er nicht, jenem ausweichend, diesen in die Arme läuft. Diesen Erfolg durch Berechnung zu finden, wäre sehr schwierig und zu zeitraubend für die aktuelle Situation; die Passanten lösen sie durch antagonistische Einleibung mit beiläufigen Blicken, bei denen jeder an etwas anderes denkt. Der optischen Einleibung schließt sich die taktile an. Jeder Blickwechsel ist ein Ringkampf im übertragenen Sinn mit Wechsel des Übergewichts von Spannung und Schwellung. Ein Ringkampf im Kleinen ist der als Begrüßungsgeste übliche Händedruck mit so feiner und unwillkürlicher Abstimmung der Impulse, dass man von einem Koagieren ohne Reaktionszeit (wie zwischen den Gliedern eines Körpers beim Balancieren zum Abfangen eines drohenden Sturzes) sprechen kann. 121 Sol121

J. H. van den Berg, Der Händedruck, in: Rencontre/Encounter (Begeg-

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ches Ineinandergreifen von Aktion und Reaktion ohne vor die Reaktion eingeschaltete Pause ist ein Leitsymptom der Einleibung bei Mensch und Tier, etwa bei zusammen musizierenden, sägenden oder rudernden Menschen, Reiter und Pferd, Autound Motorradfahrern im Verhältnis zu ihrem Fahrzeug, sportlichen Wettkämpfen unter Menschen und verwandten Kämpfen unter Tieren 122 , Mutter und Säugling, Tieren in artspezifischen Ritualen. Eine besondere Chance, die die taktile Einleibung der optischen voraus hat, ist die Fähigkeit zur Feineinstellung der Stärke des eingesetzten vitalen Antriebs. Blicke sind wie Speere, die zwar nicht in den sicht- und tastbaren Körper, wohl aber in den spürbaren Leib eindringen. Dagegen kann die zarte Berührung tiefer als die stürmische in den Haushalt der Dynamik des berührten Leibes eindringen und über den gemeinsamen vitalen Antrieb Geborgenheit vermitteln, dabei aber auch auf den berührenden Leib zurückwirken. Wo dagegen der gemeinsame vitale Antrieb der Berührung hohe Wellen schlägt wie beim Ringkampf – auch dem erotischen –, kann er sich ausleben und sein Maß in freier Entfaltung finden. Daraus stammt das Glück leidenschaftlicher taktiler Einleibung im Kampf mit den Elementen, als Auseinandersetzung des kraftvollen Schwimmers mit den Fluten, des Bergsteigers mit Erde und Fels, des unbekleideten Menschen mit der heißen Luft im Sonnen- oder Schwitzbad. Mit den Elementen im Beispiel ist der Rahmen der Einleibung bloß unter Leibern bereits überschritten. Die Einleibung hält sich nicht in diesem Rahmen, sondern spricht auf alles Begegnende an, auch wenn es leiblos ist wie der Stein oder der Schneeball, der auf jemand zufliegt. Leiblose Gegenstände werden zur Teilnahme an der Einleibung durch leibnahe Brückennung, Festschrift für F. J. J. Buytendijk, hg. v. F. J. Langeveld, Utrecht/Antwerpen 1957 122 Z. B. dem (gefilmten) Kampf zwischen Kobra und Mungo, vgl. F. J. J. Buytendijk, Schlagfertigkeit und Reaktion, Kassel 1922, S. 24–26

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qualitäten befähigt, das sind solche, die ebenso am eigenen Leib gespürt wie an Gegenständen wahrgenommen werden können. Es handelt sich um Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere. Bewegungssuggestionen sind Vorzeichnungen einer Bewegung, die über das Maß der ausgeführten Bewegung, falls eine solche überhaupt stattfindet, hinausgehen, an ruhenden und bewegten Gestalten und an Bewegungen. Synästhetische Charaktere sind intermodale – quer über die Gegenstandsgebiete verschiedener Sinne wie des Sehens und Hörens verbreitete – Eigenschaften, die oft, aber nicht immer, den Namen spezifischer Sinnesqualitäten tragen, aber auch ohne solche Qualitäten vorkommen. Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere sind Träger impressiver Situationen, deren binnendiffuse Bedeutsamkeit mit ihrem Gehalt an Programmen (ihrem Nomos), aber auch an Sachverhalten und Problemen, von den Gegenständen her, denen sie anhaften, den Bewussthaber ebenso ansprechen (ihm etwas zu verstehen geben), wie wenn er die Brückenqualitäten am eigenen Leibe spürt, und oft eindringlicher vom Gegenstand als vom eigenen Leibe her. Dadurch werden solche Gegenstände ausdrucksvoll – denn Ausdruck ist eine solche impressive Situation – und befähigt zur Teilnahme an der Einleibung, auch wenn sie nicht von sich aus Leiber mit der Struktur der leiblichen Dynamik sind. An ihnen ist, mit Rilke (Archaischer Torso Apollos) zu sprechen, »keine Stelle, die dich nicht sieht«, obwohl sie nicht sehen können. Ich beginne mit den Bewegungssuggestionen. Spannung und Schwellung im vitalen Antrieb, ja Engung und Weitung überhaupt, sind selbst Bewegungssuggestionen. Eine Beobachtung von Hermann Strehle zeigt, wie der Schwellung als Bewegungssuggestion begegnender Gestalten eine gleiche Bewegungssuggestion am eigenen Leib antwortet: »Das Gefühl einer allseitigen Ausdehnung haben wir u. a. dann, wenn wir mit befreiendem Aufatmen einen Hochwald betreten oder einen unerwartet schönen Saal. Unwillkürlich weiten wir die Brust und machen uns größer, gerade so, als wollten wir uns der imponie191 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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renden Umgebung anpassen und würdig erweisen. Indem wir uns solchermaßen dehnen und strecken, haben wir das vitale Erlebnis des Raumeroberns und der Machterweiterung.« 123 Der Gang eines Menschen (oder Tieres) gewinnt sein charakteristisches Gepräge durch Bewegungssuggestionen, die sowohl am eigenen Leib des Gehenden gespürt als auch von außen wahrgenommen werden können. Er kann flink, flott, beschwingt oder im Gegenteil behäbig, schleifend, schleppend und dann entweder schlaff oder wuchtig sein. Im ersten Fall drücken sich darin Spannung und privative Weitung aus, die durch leibliche Richtung als Übergang aus Enge in Weite zusammengehalten werden und durch epikritische Züge bereichert werden; im zweiten Fall handelt es sich um einen protopathischen, kompakten vitalen Antrieb, der bei Schlaffheit schwach, bei Wucht stark ist. Grundlegend ist die Bedeutung der Bewegungssuggestionen für den Gebärdesinn, wodurch Eigenbewegungen zu Gebärden werden. Ein Augenaufschlag, als ausgeführte Gebärde winzig, kann durch Variation seiner Bewegungssuggestion eine Gebärde der Bitte, der Verführung, der Ergebenheit oder der Ironie sein. Es gilt als peinlich, auf nahe Menschen mit dem Finger zu zeigen, weil die Bewegungssuggestion der harmlosen kleinen Bewegung wie ein Dolch den Gezeigten aufspießt, aber nur, wenn diesen der Finger nicht berührt, damit die Bewegungssuggestion Gelegenheit hat, anschaulich über die ausgeführte Bewegung hinauszugehen. Die Gebärde des Stolzes, den Kopf etwas zurückzuwerfen und die Brust zu dehnen, hat geringes Ausmaß, wird aber als mächtig ausladende Schwellung, wie Strehle sie beschrieben hat, am eigenen Leib gespürt und imponiert so auch dem Betrachter. Ein anderes Beispiel für die Übertragbarkeit der Bewegungssuggestion zwischen Leib und begegnender Gestalt ist der Rhythmus. Rhythmus ist die Bewegungssuggestion einer Reihenfolge bloß als Sukzession, eventuell beladen

123

Hermann Strehle, Mienen, Gesten und Gebärden, München 1954 S. 45

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mit weiteren (z. B. tonalen) Bewegungssuggestionen. Weil er auf beiden Seiten vorkommt, bevorzugen Dichter für Gedichte, die »unter die Haut« gehen, d. h. leiblich spürbar ansprechen sollen, die stärker rhythmische, oft darin durch Reim noch gesteigerte Versform vor der minder rhythmischen Prosa. In stärkster Prägung kommt der Rhythmus akustisch vor, aber auch als Rhythmus der Gliederung eines Kirchenschiffs durch Pfeiler (Säulen) und Nischen, oder semantisch als rhythmischer »Parallelismus der Glieder«, das Stilprinzip der Psalmen. Er übersteht mühelos die Übersetzung aus einem Medium in ein anderes. Der prägnante Rhythmus der Anfangszeilen des Gedichts. Der römische Brunnen von Conrad Ferdinand Meyer wandert von der Bewegungssuggestion des Wassers in Berninis Brunnen vor der Peterskirche über die Verse des Dichters in das leibliche Spüren des Lesers oder Hörers, als stolze Aufrichtung in gelassen strömender Lebendigkeit ohne Krampf und Starrheit auf dem Gipfel. Unerschöpfliches Material zum Studium der Bewegungssuggestionen bietet die Musik. Sie bewegt sich, wenn die Schallquelle ihren Ort wechselt; das Äquivalent solchen Wechsels im flächenlosen Raum des Schalls ist als gehörte wirkliche Bewegung ein Näherkommen oder Fernerwerden der Musik oder ein Wechsel der Richtung, aus der sie kommt. In allen anderen Fällen scheinbarer Bewegung wird statt einer wirklich ausgeführten Bewegung eine Bewegungssuggestion gehört, eine musikalische Gebärde. Das Steigen und Sinken der Klänge je nach der Tonhöhe, etwa als Auf und Ab der Kadenz oder ihres poetischen Gegenstücks, des Distichons, ist kein Wechsel der hörbaren Richtung oder Entfernung, sondern eine mit synästhetischen Charakteren (Aufhellung und Verdunkelung des Klangs) verbundene Gebärde der ausfaltenden Aufrichtung und des abschließenden einfaltenden Sinkens. Auch alle anderen scheinbaren Bewegungen der Musik sind vielmehr Bewegungssuggestionen, Klanggebärden des Aufstrahlens und Versinkens, des Vorwärtsdrängens, der Drehung, des Ausweichens, der Zusam193 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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menziehung usw. Sie fahren den tanzenden und marschierenden Menschen in die Glieder und lassen sie Bewegungen ausführen, die der Schall nur vorzeichnet, bald protopathisch weich und ausladend wie beim Walzer, bald epikritisch eckig und abgehackt. Der Beladenheit mit Bewegungssuggestionen verdankt der Schall seine Geschichtlichkeit, d. h. die Fähigkeit, sich mit Dauer vollzusaugen und dadurch zu verstärken, weil sich in seinen Bewegungssuggestionen – in Klängen wie in Geräuschen, z. B. schrillen Pfiffen – leibliche Dynamik staut. Bei den Farben gibt es nichts dergleichen; eine morgens aufgezogene rote Fahne ist am Abend noch genauso rot, vom Wechsel der Beleuchtung abgesehen. Dieser in die Bewegungssuggestionen investierten Dynamik verdankt der Schall auch seine geschichtliche Formbarkeit, die die Musiker nützen, indem sie die Motive und Themen der Musik, die Bewegungssuggestionen sind, durch mannigfache Schicksale führen. Synästhetische Charaktere brauchen mit Synästhesien (Hören von Farben, Sehen von Tönen) nichts zu tun zu haben. Eine bunt zusammengeführte Liste solcher Charaktere, die beliebig ergänzt werden kann, ist diese: das Scharfe, Grelle, Sanfte, Spitze, Helle Harte, Weiche, Warme, Kalte, Schwere, Massige, Dichte, Glatte, Raue der Farben, Klänge, Geräusche, des Schalls wie der Stille, des hüpfenden und schleppenden Ganges, der Freude, des Eifers, der Schwermut, der Frische und Müdigkeit. Die leibliche Dynamik der synästhetischen Charaktere breitet sich über Sinnesqualitäten, Bewegungen, Zuwendungen des vitalen Antriebs (Eifer) und Gefühle (als leiblich ergreifende Mächte) aus. Frühlingsluft schmeichelt, weil sie mit dem Tonfall und den Gebärden, wodurch ein Schmeichler einen Menschen gewinnen will, das weich Sanfte, einen synästhetischen Charakter mit protopathisch weitender Note, gemein hat; es gibt aber auch eine festere, gespanntere sanfte Bestimmtheit. »Hart« klingt hart, »weich« klingt weich, ohne dass ein äußerer Grund für die Übertragung vom Taktilen ins Akustische angebbar wäre; der Gefühlston, auf den Wundt die synästhetischen Charak194 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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tere reduzieren wollte 124, kann der Grund nicht sein, denn zwar verwenden wir »hart« metaphorisch für Leid (»hartes Schicksal«, »ein harter Schlag«), aber das Entsprechende für »weich« will nicht funktionieren. Synästhetische Charaktere können sich sogar von allen Sinnesqualitäten lösen und auf ihre leibliche Dynamik zurückziehen, namentlich als Weite, Gewicht und Dichte einprägsamer Stille. Eine merkwürdige Geschichte aus dem Leben des Dichters Bertold Brecht bleibt unverständlich, wenn man nicht den in ein Sinnesdatum investierten synästhetischen Charakter, dessen leibliche Dynamik und die in dieser enthaltenen Ausdruckskraft einer impressiven Situation (mit binnendiffuser Bedeutsamkeit) berücksichtigt. Ruth Berlau, eine junge, aktive, gut verheiratete und viel umschwärmte Journalistin, suchte ihn im Herbst 1933 für ein Interview auf. Sie berichtet: »Ich stand also unschlüssig mit meiner Schreibmaschine vor dem Haus, als ich hinter mir ein leises ›Hallo‹ hörte. Dieses zarte fragende Rufen ist, wie ich später hörte, für viele Frauen sozusagen der Inhalt ihres Lebens geworden. Darauf haben sie gewartet, darauf haben sie gebaut, und davon haben sie geträumt.« Der Rufende war Brecht, dem die junge Frau sofort bis zur Hörigkeit verfiel, wie, da er sie schlecht behandelte, später dem Alkohol. 125 Brecht hatte offenbar eine Technik entwickelt, durch eigenartige akustische Modulation eines Ausrufs Frauen zu fangen. Leise, zart und fragend wird der Anruf genannt. Das genügt nicht zur eindeutigen Bestimmung seiner leiblichen Dynamik, aber man kann vermuten, dass diese viel Weite mit einem Hauch von Spannung und lockerer Fügung (»zart«) des vitalen Antriebs enthielt. Offenbar war die leibliche Empfänglichkeit der betroffenen Frauen auf diese

Wilhelm Wundt, Grundzüge der philosophischen Psychologie, Leipzig 1874, S. 452 f. 125 Marcel Reich-Ranicki, Berthold Brecht und seine Kreatur. Die Erinnerungen der Ruth Berlau, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Dezember 1985, Literaturseite 124

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Konstellation und die darin eingeschlossene Atmosphäre des Gefühls, das leibnahe Brückenqualitäten ähnlich besetzt wie als ergreifende Macht leibliche Regungen, dermaßen abgestimmt, dass sie dem Nomos, den Verheißungen der impressiven Situation, die alles dieses mit ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit umschloss, anstandslos verfielen. Ähnlich hintergründig bedeutsam sind Geruchs- und Geschmacksqualitäten durch den in sie eingelagerten synästhetischen Charakter: Das Weiche, Süße, Fette ist protopathisch und spannungsarm, das Bittere, Körnige, Raue epikritisch mit betonter Spannung. Lebensformen und Weltanschauungen können durch die damit verbundenen binnendiffusen Bedeutsamkeiten impressiver (oder auch segmentierter) Situationen geprägt sein. 126 Das Wählen von der Speisekarte wird von solchen Optionen hintergründig gelenkt. Sartre hat am Beispiel des klebrigen Honigs den Blick dafür geöffnet. 127 Man kann sogar die Personalstile der Musik großer Komponisten mit Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren bestimmen, wobei die dazu von Becking 1928 entwickelte Methode intuitiv die hier phänomenologisch entwickelten Zusammenhänge vorwegnimmt. 128 Mozarts Musik ist epikritisch und geprägt von Spannung und privativer Weitung, die durch leibliche Richtung vermittelt werden. Im synästhetischen Charakter entspricht sie der Farbe Gelb und dem Vokal i, während Beethovens Musik mit protopathischer Schwellung im starken

Henri Michaux (Turbulenz im Unendlichen. Frankfurt a. M. 1961, S. 67 und 75) trug von einer Meskalinvergiftung, in der er dem protopathisch weichen, gefälligen Ausdruck eines Mädchenbildes auf der Frontseite einer Illustrierten erlegen war, eine wochenlange protopathische Verstimmung seines Lebensgefühls (»Wonne des Zerfließens«) davon, bis ihn eine Strapaze auf dem herbstlichen Meer wieder zu der schroff abweisenden Seite seines Wesens zurückbrachte, in der er sich mit epikritischer Spannung wiederfand. 127 L’être et le néant S. 690–708: De la qualité comme révélatrice de l’être 128 Gustav Becking, Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle, Augsburg 1928 126

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vitalen Antrieb eher dem Rot verwandt ist. Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere können auch die Atmosphäre einer Stadt bestimmen. 129 Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere sind auf Grund ihrer gemeinsamen Verankerung in der leiblichen Dynamik austauschbar, wie eine Beobachtung von Otto König zeigt: »Ein (…) weitgehend interspezifisch gültiges ›Geh – weg‹Signal ist (…) der Geräuschkomplex des Zischens, Raschelns, Summens und Ratterns, der tatsächlich auf mannigfache Weise erzeugt, quer durch das Tierreich anzutreffen ist und von allen akustisch hinreichend ausgestatteten Wirbeltieren richtig verstanden wird. Das Schwanzrasseln einer Klapperschlange, das Zähneknirschen eines Siebenschläfers, das Drohguggern eines Murmeltiers, das Zischen einer Schlange, eines Geckos oder einer Meise, das Drohsummen einer Biene, eines Kolibris, oder das Fauchen einer Katze sind von prinzipiell ähnlicher Akustik, die auch der Mensch als drohend beziehungsweise alarmierend empfindet und entsprechend beantwortet. Kein noch so energischer ›Ruhe‹-Ruf bringt eine laut diskutierende Menschengruppe zu solch unmittelbarem Aufmerken wie ein einziges hell zischendes ›pssst‹ –« 130 Ein synästhetischer Charakter des Geräusches weckt als Erscheinung privativer Engung des Leibes, die auch den vitalen Antrieb einer mit ausgelassenem Eifer geführten Debatte zerreißt, eine Bewegungssuggestion alarmierten Auffahrens, die im Tierreich nach der geringsten Verstärkung in kopflose Flucht ausartet. Nachdem die vielseitigen Möglichkeiten der Einleibung, zunächst der antagonistischen, überschaubar geworden sind, wende ich mich den beiden Formen antagonistischer Einleibung zu, der einseitigen und der wechselseitigen. Einseitige Einleibung

Hermann Schmitz, Atmosphären, Freiburg 2014, S. 92–108: Die Atmosphäre einer Stadt 130 Otto König, Urmotiv Auge, München/Zürich 1975, S. 93 129

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findet immer statt, wenn jemand von etwas gefesselt ist, so dass die Rollen in dem gemeinsamen Antrieb starr verteilt sind: Der fesselnde Pol verfügt über die Enge, von der die Richtungen der gemeinsamen leiblichen Dynamik ausgehen, mit denen er den anderen, in diesem Bezugssystem passiven Partner gleichsam einfangen und dirigieren oder auf sich fixieren kann. Dabei ist, wenn die Beteiligten leiblich sind, die Unterscheidung der Bezugssysteme erforderlich. Der atemlose Betrachter eines gefährlichen Drahtseilaktes ist auf den Artisten fixiert, der in dem gemeinsamen Antrieb der Einleibung den dominanten Engepol innehat und den abhängigen Beobachter mit den von dort ausgehenden leiblichen Richtungen durch dessen unwillkürliche Mitbewegungen einfängt; der vitale Antrieb des Artistenleibes und der des Beobachterleibes können unabhängig davon viele Variationen der Gewichtsverteilung durchmachen. Der im gemeinsamen Antrieb passive Teilnehmer hat überdies die Chance, durch aktive Anpassung im Rahmen seiner passiven Rolle die Auslieferung zu kompensieren. Das ist der Fall in der schon mehrfach angesprochenen Szene geschickten Ausweichens vor der in drohender Annäherung gesehenen wuchtigen Masse, wenn keine genügende Information über den relativen Ort des eigenen Körpers zur Verfügung steht. Dann heftet sich statt dessen der Blick wie gebannt auf das drohende Objekt, den dominanten Partner der einseitigen Einleibung, und übernimmt aus dessen Bewegungssuggestionen den bevorstehenden Kurs, den er an das motorische Körperschema ohne Pause so weiterreicht, dass dieses zum geschickten Ausweichen befähigt wird. In anderen Fällen ist der passive Partner der betreffenden Bewegungssuggestion hilflos ausgeliefert. »Wildhüter und Gemsjäger erzählen oft von einer verräterischen Anziehungskraft, die ein in die Tiefe fallender Gegenstand auf den auf schmalem Felsengesimse stehenden Menschen ausübe. Es dränge fast unaufhaltsam, dem Stein nachzuschauen in den Abgrund, besonders wenn er nahe am Fuße abfalle; wer ihm nachschaue, sei unrettbar verlassen, und schon viele seien Opfer dieses sympathischen 198 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Zwanges geworden.« 131 Von ähnlicher Art hilfloser Fixierung auf den dominanten Partner einseitiger Einleibung, hier das zu vermeidende Hindernis, ist das eher komische Missgeschick, mit dem der Anfänger das trifft, was er vermeiden möchte: als Radfahrer den Baum, als Fußballschütze den Pfosten des gegnerischen Tores. Ein Extrem der Passivierung des abhängigen Leibes in einseitiger Einleibung wird mit der Hypnose durch den Blick erreicht. »Es empfiehlt sich hierzu, die Augen möglichst weit zu öffnen (…), ferner die Augachsen parallel in die Unendlichkeit zu richten und die Stirn in senkrechte Falten zu legen. Dadurch erhält der Blick des Hypnotiseurs etwas Fremdartiges, Traumverlorenes, zugleich aber etwas Strenges und unter Umständen Einschüchterndes.« 132 Dem Opfer der Hypnose wird auf diese Weise eine Weite angeboten, in die es gegenüber der dominanten Enge in den gemeinsamen Antrieb hineinschlüpfen kann, ohne aktiv zu werden; daher wird der Blickwechsel als Stätte wechselseitiger Einleibung vermieden, und der Hypnotiseur entgeht der Gefahr, vom Zurückblicken seines Opfers selbst hypnotisiert zu werden. Die einschüchternde Strenge spaltet durch privative Engung den vitalen Antrieb des passiven Leibes und ermöglicht dem aktiven Partner, sich mit seiner Enge an die Stelle der abgespaltenen Enge des hilflos der Weite ausgelieferten passiven Partnerleibes zu setzen. Wechselseitige Einleibung unterscheidet sich von der einseitigen konträr durch das Fluktuieren der Dominanzrolle, die sich die Partner wie einen Ball zuwerfen, mit rhythmischem Wechsel des Übergewichts von Spannung und Schwellung im gemeinsamen Antrieb, wie bei Angst und Wollust im vitalen Antrieb des Individuums. Ein wichtiger Überträger dieses Spiels ist der W. Hilger, Suggestion, Jena 1928, S. 23 zitiert diese Worte aus einem Aufsatz von Fr. v. Tschudi »Die Genesen«. 132 Max Hirsch, Hypnotismus und Suggestionstherapie. Vollständig neu bearbeitet von Leo Hirschlaff, Leipzig 1919, S. 108 131

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Blickwechsel, z. B. im Gespräch. Der in Anwesenheit des Angesprochenen Sprechende neigt dazu, Blickkontakt zu suchen, keineswegs in erster Linie, um die Wirkung seiner Worte zu kontrollieren, sondern um in einer ihm und dem Partner spürbaren Weise bei diesem anzukommen. Solange dominiert in der Einleibung der Angesprochene, als der für den Erfolg des Landeversuchs maßgebende Partner. Ein kleines Signal der Akzeptanz, nicht des Redeinhalts, sondern der leiblichen Zuwendung des Sprechers gibt diesem das Heft in die Hand, und fortan oszilliert die Dominanz in beim Gespräch kaum registrierten Schwingungen. Wenn dagegen der Sprecher den Blickkontakt vermeidet, kann er entweder mehr mit sich selbst beschäftigt oder mehr unsicher als dem Gespräch zugewendet sein, oder er sucht den (oder die) Partner in der passiven Rolle bei einseitiger Einleibung an sich zu binden. Sportliche Wettkämpfe (Boxen, Fechten, asiatische Kampfkünste) sind ebenso wie Gespräche hervorstechende Heimstätten wechselseitiger Einleibung, die unter Tieren und zwischen den Menschen und höheren Wirbeltieren ebenso funktioniert wie zwischen Mensch und Mensch. Der rhythmische Wechsel des Übergewichts von Spannung und Schwellung im Austausch der Dominanzrolle tendiert bei wechselseitiger Einleibung zu einer Steigerung des gemeinsamen vitalen Antriebs; die Partner können sich mit ihren Impulsen gegenseitig »hochschaukeln«. Ich habe dieses Phänomen als den Eugenie-Effekt bezeichnet, mit Bezug auf eine Stelle aus dem 6. Auftritt des 1. Aufzugs von Goethes Drama Die natürliche Tochter, wo der Herzog seine Tochter Eugenie vor den Gefahren hingerissenen Reitens warnt, dass sie sich »als wie ans Pferd gewachsen, voll Gefühl Der doppelten, zentaurischen Gewalt, Durch Berg und Tal, durch Fluss und Graben schleuder(s)t.« Diese Potenzierungsmacht der Symbiose wechselseitiger Einleibung ist nicht auf das Zusammenwirken leiblicher Bewussthaber wie Reiter und Pferd beschränkt, sondern funktioniert ebenso im Verhältnis mit Maschinen, etwa Auto und Motorrad. Der Hang zur Symbiose ist oft der Grund des Leicht200 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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sinnes am Steuer, wodurch die Fahrt »in Fluss und Graben« endet. Dabei steigt die Maschine zum alter ego auf, das als ebenbürtiger Partner imponiert. Das bezeugt aus eigener Erfahrung Hansjörg Znoj: »Das Motorrad wird durch den Gebrauch zum erweiterten Selbst, es fängt buchstäblich an zu leben, weil wir durch das Motorrad hindurch die Straße, die Umgebung wahrnehmen.« 133 Wechselseitige Einleibung zeigt sich hier als Quelle der von Konrad Lorenz so genannten Du-Evidenz, der Überzeugung, mit einem anderen Bewussthaber zu tun zu haben, im Ernst bei urteilsfähigen Personen nach der Kindheit freilich erst, wenn kritische Prüfung keine Einwände erhebt. In der Frage nach der Quelle der Du-Evidenz hat man sich bis fast zur Gegenwart mit Projektionstheorien beholfen, in dem Sinn, dass jemand sich die Überzeugung vom Du als anderem Bewussthaber verschafft, indem er in einen körperlichen Gegenstand auf Grund gewisser Indizien etwas hineindeutet, das ihn glauben lässt, dieser Gegenstand oder damit eng verbunden sei ein Bewussthaber wie er. Diese Projektion sollte nach alter Tradition mit dem logisch fragwürdigen Mittel des Analogieschlusses erfolgen, nach einigen neueren Meinungen (Lipps, Husserl) spontan durch Einfühlung oder Apperzeption. Den Widerlegungen der Analogieschlusstheorie habe ich eine neue Version hinzugefügt, die von der Unübertragbarkeit der Mitteilung durch Ausdruck in ein anderes Medium ausgeht. 134 Die Apperzeptionstheorie scheitert an ihrer Unfähigkeit, die Überzeugung vom wirklichen Dasein des eingefühlten vermeintlichen Bewussthabers zu erklären. Man pflegt den Schauspieler im Theater oder im Film als die gespielte Figur zu apperzipieren, aber der wäre verrückt, der glaubte, diese Figur wäre wirklich da, auf der Bühne oder auf der Leinwand. Die Du-Evidenz geht nicht davon Hansjörg Znoj, Die Psychologie des Motorrads, Zur Wechselwirkung von Mensch und Maschine, Bern 2011, S. 37 134 Hermann Schmitz, selbst sein. über Identität, Subjektivität mit Personalität, Freiburg 2015, S. 65–67 133

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aus, dass jemand auf Grund von Anzeichen erst vermutet, da sei ein anderer Bewussthaber, und das dann (etwa wegen gewisser Ähnlichkeiten) wirklich glaubt, und auch nicht davon, dass er sich von den Anzeichen ohne Überlegung zu solchem Glauben verführen lässt, sondern davon, dass ihm etwas angetan wird. Ihre Quelle ist nicht die Projektion, sondern die Konfrontation. In wechselseitiger Einleibung ist der eigene Antrieb in einen gemeinsamen so eingegangen, dass dem Bewussthaber die Führungsrolle in dem gemeinsamen Antrieb rhythmisch entzogen und wieder zugespielt wird; da mit dem vitalen Antrieb das Bewusstsein steht und fällt (siehe oben), erzeugt diese Erfahrung die Überzeugung, mit dem Partner wechselseitiger Einleibung auf gleichem Fuß zu stehen. Die daraus sich ergebende Du-Evidenz ist gewiss nicht untrüglich, aber sie schlägt die Brücke zwischen Menschen und Tieren, an denen sie sich spontan nicht weniger entzündet als unter Menschen. Auch das entscheidet gegen die Projektionstheorien, da sich an den Tieren kaum für die Projektion ausreichende Anzeichen finden lassen dürften. Solidarische Einleibung, das alternative Gegenstück zur antagonistischen, liegt vor, wenn Menschen oder Tiere ohne Zuwendung zum Partner einem gemeinsamen vitalen Antrieb erliegen. Das eklatanteste Beispiel ist die panische Massenflucht, wenn ein gemeinsamer Impuls aus Angst die Menschen treibt, wobei die Zuwendung so sehr fehlt, dass sie einander wie tote Gegenstände behandeln und besinnungslos umbringen. Andere Beispiele sind kollektiver Aufruhr aus Empörung oder stürmischer Mut einer Truppe beim Angriff. Diese Beispiele weisen homogenes Verhältnis der Beteiligten auf. Das ist keineswegs immer der Fall. Solidarische Einleibung mit verteilten Rollen kommt beim gemeinsamen Sägen mit der zweigriffigen Baumsäge vor, wie Christian und Haas es analysiert haben44, ebenso beim gemeinsamen Musizieren eines gut eingespielten Teams und beim Singen polyphoner Chöre; es würde den Gesang stören, wenn ein Sänger sich dem anderen zuwendete, statt mit ihm gemeinsam im Impuls des Singens aufzugehen. Aber aller202 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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dings bedarf solidarische Einleibung einer Ergänzung durch antagonistische, nämlich gemeinsame Fixierung auf eine Figur (etwa den Dirigenten) und/oder ein Thema, das die Richtung des gemeinsamen Impulses angibt; im Fall der Massenpanik ist es das »Weg!« der Angst. Wenn diese Zusammenfassung durch antagonistische Einleibung fehlt, kann die solidarische zwar zu Stande kommen, aber sie bleibt unvollkommen auf der Strecke, weckt Verlegenheit und Frustration. Das belegt folgende Szene aus dem Vorlesungsbetrieb einer Universität: »Der Hörsaal lag im vierten Stock. Im Fahrstuhl das gewöhnliche Bild. Er ist immer überfüllt, hält auf jeder Etage (…), und was für Fahrten im Aufzug charakteristisch ist: keiner sagt auch nur ein einziges Wort. Es ist so still, dass man glauben könnte, die Menschen hielten sogar den Atem an, um nur das summende und monotone Geräusch der Kabine nicht zu stören. Selbst wenn man sich gegenseitig auf die Füße tritt, ist diese Unannehmlichkeit in der Regel kein Grund, sich aufeinander aufmerksam zu machen. Denn in dieser Atmosphäre der völligen Stille, die weit davon entfernt ist, einer inneren Ruhe der auf- und abfahrenden Menschen zu entsprechen, würde schon das kleinste Wort wie ein großer Satz wirken. Nur einen Moment lang wäre man dem Schein nach Subjekt, um schon im nächsten Moment nichts mehr als das Objekt der Blicke und Gesten aller anderen zu sein. Und davor haben alle Angst. So begegnen sich über den Köpfen zwar viele Gedanken, die sich aber nie zu nahe kommen und einander ausweichen, so wie sich etwa auf der Straße Bekannte aneinander vorbeidrücken, die sich gerade nicht sehen wollen. Wahrscheinlich lastet der Druck der Stille auf den Meisten derart, dass sie darauf hoffen, irgend etwas möge passieren. Aber aus der Anonymität hinauszutreten, macht niemand den Anfang. Man steht zwar auf Körperfühlung nebeneinander, aber die Enge entschädigt die Leere nicht.« 135 Hier ist der gemeinHarald Wiener, Von Masken und Menschen. Ein paar Szenen aus dem Alltag des Genossen X, in: Kursbuch 41, 1975, S. 41

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same vitale Antrieb zwar stark, aber blind und ziellos, weil die Vitalität in den Oberschichten gestört ist. Die Reizempfänglichkeit ist zwar lebhaft, aber diffus und ohne Akzente, und die Zuwendung des Antriebs misslingt, weil keine Bündelung der solidarischen Einleibung durch Anbindung an eine antagonistische in ein zusammenfassendes Thema gelingt; niemand ergreift die Initiative, aus Furcht vor deren Abprallen in Scham, und auch kein zündender Reiz von außen kommt zu Hilfe. Deswegen macht sich der Antrieb nur als lähmende, leere Stille bemerkbar; die Leere ist seine Uneinsetzbarkeit. Die stärksten Anreize zur solidarischen Einleibung kommen aus dem akustischen Reich. An erster Stelle steht das gemeinsame Singen, das über die Teilnehmer gleichsam eine Stimmungsglocke zieht, die sie in solidarischer Einleibung zusammenschließt, wie in anderer Weise die feierliche oder alberne Hochstimmung eines Festes (mit und ohne gemeinsames Singen). Das integrierende Thema ist beim Singen das Lied. Das Singen von Kirchenliedern, Arbeitsliedern, Kriegs- und Kampfliedern, National- oder Klassenhymnen und Volksliedern ist die gängigste Einführung in solidarische Einleibung. Wesentlich ist dabei der Rhythmus, der, wie gesagt, als leibnahe Brückenqualität »unter die Haut« geht und das rhythmische Schwingen des vitalen Antriebs, damit auch den Atemrhythmus, egalisiert. Auf dem Rhythmus beruht auch die integrierende, solidarische Einleibung stiftende Kraft des Rufens, Klatschens, Trommelns. Was in der bürgerlichen Kultur das Klatschen im Theater oder im Konzert war, besorgt jetzt das rhythmische Rufen von den Rängen der begeisterten Zuschauer beim Fußballspiel. Der Ekstase nähert sich die solidarische Einleibung von Chor und Orchester in der Hand eines virtuosen, charismatischen Dirigenten, der als Zentrum der die solidarische Einleibung integrierenden antagonistischen Einleibung einerseits den dominanten Pol einseitiger Einleibung besetzt, andererseits aber auch selbst durch wechselseitige und daraus sich ergebende solidarische Einleibung mit den Sängern und Musikern verbunden und in das Ganze der 204 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Konzertgemeinschaft aufgenommen ist. Alle besprochenen Typen der Einleibung kommen hier zusammen. Schließlich ist noch eine weitere Einteilung der Einleibung wichtig, nämlich die in latente und patente Einleibung. Ich nenne eine Einleibung latent, wenn an ihr nur die unter 3.2 gestreiften ganzheitlichen leiblichen Regungen (wie die Scheler’schen Lebensgefühle) beteiligt sind, nicht auch die teilheitlichen, auf Leibesinseln verstreuten Regungen, sonst patent. Beides kann man sich am Gespräch klarmachen. Wenn sich jemand voll in einem Gespräch engagiert, bleiben seine Leibesinseln meistens stumm oder lenken ihn, wenn sie sich melden, von der Einleibung ab, die zum Gespräch erforderlich ist, schon wegen der dafür unerlässlichen Du-Evidenz vom Partner, die beim Ferngespräch, wo der Blickwechsel versagt ist, durch stimmliche Signale und Pausen getragen wird. Diese Einleibung ist latent, kann aber jederzeit patent werden, wenn der Partner z. B. eine unerwartete Bewegung auf den ins Gespräch Vertieften zu macht oder es diesem in seiner Betroffenheit von jenem »warm ums Herz« oder beklommen wird; dann können Leibesinseln sich melden. Schon während der latenten Einleibung können aber ganzheitliche leibliche Regungen spürbar wechseln. Ein einleuchtendes Beispiel macht Edith Stein aus: »Ich bin von einer anstrengenden Tagesarbeit ermüdet und habe den Eindruck, dass ich heute zu gar nichts mehr fähig bin. Da kommt ein Freund zu mir herein, der noch ganz frisch ist, er trägt mir ein Problem vor, das ihn gerade beschäftigt, und bald sind wir mitten in der lebhaftesten Diskussion, und von meiner Müdigkeit spüre ich nichts mehr.« 136 »›Unser‹ gemeinsames Tun geht frisch vorwärts und die Frische, als von dem einen ausgehend und nun beide erfüllend erlebt, wird zur Bekundung einer Kraft, an der

Edith Stein, Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 5, 1922, S. 156

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beide zehren, die ihr gemeinsames Eigentum ist.« 137 Der Freund hat die Schreiberin mit seinem frischen vitalen Antrieb angesteckt, der zum gemeinsamen Antrieb antagonistischer Einleibung mit dem potenzierenden Schwung des Eugenie-Effektes geworden ist. Frische und Mattigkeit (Erschöpfung nach der Tagesarbeit) sind ganzheitliche leibliche Regungen, die auf keinen einzelnen Leibesinseln angesiedelt oder verstreut sind. Der Leib geht bei der von Stein angesprochenen lebhaften Diskussion gewissermaßen im Eifer auf, einer ganzheitlichen leiblichen Regung, die sich über das Geschehen auf einzelnen Leibesinseln hinwegsetzt. Ein anderes Beispiel der Veränderung in fortwährender latenter Einleibung ist der Wechsel des Gesprächsklimas bei längeren Verhandlungen, wenn man zwischendurch zu Abend gegessen hat oder am nächsten Morgen wieder zusammenkommt. Das leibliche Geschehen in der Zwischenzeit hat den Anteil ganzheitlicher leiblicher Regungen am gemeinsamen Antrieb der antagonistischen Einleibung geändert, z. B. geglättet oder aufgeraut, wodurch die Einstellung unter den Verhandlungspartnern eine andere Richtung einschlägt. Im gegenwärtigen Zeitalter dürfte die praktische Leibvergessenheit neben der jahrtausendealten theoretischen erheblich zugenommen haben, in dem Sinn, dass vielen Menschen ihr Leib, der in ihrem Erleben eigentlich das Nächste ist, aus den Augen kommt, da sie sich im Interesse extravertierter Beschäftigung mit Arbeit und Konsum lieber an ihren Körper als ein technisches Werkzeug halten und diesen im Licht der Naturwissenschaft, die mit dem Leib wenig anzufangen weiß, prüfen und bearbeiten. Man kann sich fragen, wohin das leibliche Spüren solcher Menschen geraten ist, wenn es sich ihnen nicht in Schmerz, Hunger, Durst, Wollust, Müdigkeit, Kotausleerung und leiblichen Genüssen doch einmal aufdrängt. Die Antwort dürfte in vielen Fällen lauten können: Es hat sich in latente Einleibung zurückgezogen. Die Menschen sind heute noch leicht 137

Ebenda S. 169 f.

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darauf einstellbar, mit Eifer bei einer Sache zu sein oder ihr angeödet mit kaum überwundener Trägheit zu begegnen. Beides sind ganzheitliche leibliche Regungen, die die patente Einleibung in gewissem Maß ersetzen können. Ausleibung, das Gegenstück zur Einleibung in der leiblichen Kommunikation, ist leibliche Kommunikation im Kanal der privativen Weitung, der Abspaltung von Weitung aus der Schwellung im vitalen Antrieb, wobei die engende Spannung, der Konkurrent der Schwellung, gleichfalls zurückgefahren wird, so dass immer mehr Weitung frei wird und der Bewussthaber den Halt an der Enge verliert, die in die Weite gleichsam ausläuft: ein Zustand der Versenkung und Versunkenheit in Kommunikation mit gegenstandsloser Weite, in die der Mensch in der Ausleibung gleichsam eintaucht. Ein Beispiel ist die »gefährliche Autobahntrance«, wenn der Fahrer auf langer, gerader, reizarmer Strecke die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert. Das ist nicht, wie Katzenstein 138 meint, allein die Folge von Monotonie und Müdigkeit, denn der Fahrer wäre, wenn er, statt zu fahren, die lange monotone Strecke zu Fuß zurückgelegt hätte, vielleicht von Mühen erschöpft gewesen, hätte aber kaum die Selbstkontrolle verloren, weil die ständige Weckung seines vitalen Antriebs im Gehen die leibliche Engung aktiv und ihn dadurch wach gehalten hätte. Verhängnisvoll wird die Eintönigkeit der Reize erst dadurch, dass er ohne Anstrengung im Fahrzeug sitzt und seine leibliche Dynamik in den Blick nach vorn legt. So kann die vernachlässigte Engung in privative Weitung auslaufen und ihm den Rückhalt an der Enge seines Leibes, der Quelle von absoluter Identität (3.4) und Subjektivität (3.5), nehmen. Die Autobahntrance ist ganz unproduktiv; bliebe es bei ihr, wäre kaum vertretbar, der Ausleibung so hohen Rang an der Seite der Einleibung zuzubilligen. Produktiv wird die Ausleibung erst, wenn sie sich auf halbem Wege – vor dem völligen Hypnose. Aktuelle Probleme in Theorie, Experiment und Klinik, hg. v. Alfred Katzenstein, Jena 1971, S. 82

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Versinken – mit der einseitigen Einleibung in einen Reiz verbindet, der sie fixierend aufhält. Dann wird sie fähig, in einer »Wesenschau« zwar nicht beliebige Universalien, wie die ältere phänomenologische Schule glaubte, aber konkrete Arten rein darzustellen. In meiner Universalientheorie 139 unterscheide ich von abstrakten Universalien (abstrakte Gattungen, halbabstrakte Halbarten) die konkreten Arten dadurch, dass bei ihrer Wiederkehr das Wiederkehrende als das Selbe rein hervortritt, was bei den abstrakten Universalien nicht gelingt. Man kann sich das an Tonqualität und Lautstärke klar machen. Beim Stimmen von Instrumenten hören Musiker genau denselben Ton; er behauptet sich, unabhängig von seiner Einbettung in Klangfarben und Lautstärken, in seiner für geübte Ohren unverwechselbaren Eigenart. Dagegen kann man nicht ebenso unmittelbar dieselbe Lautstärke hören, sondern nur durch Vergleich ausschließen, dass der eine Schall lauter oder leiser als der andere ist. Es gibt also nicht in allen sinnlichen Dimensionen gleiche Chancen für Prägnanzstufen, die zur Darbietung konkreter Arten genügen. Solche kommen aber nicht nur bei Sinnesqualitäten vor, sondern z. B. als die unverkennbare Stimme, die unverkennbare Lache eines Menschen, ja als seine einzigartige Zartheit oder Schmierigkeit, wenn man sich getraut, solche »Wesenseigenschaften« im Sinne von Metzger 140 auch unter tausend ähnlichen noch herauszukennen. Die Ausleibung, die das Detail der Umstände in einer Situation entdifferenziert und vernachlässigt, vermag dadurch, konkrete Arten rein herauszuschälen und als vielsagende Eindrücke zu präsentieren, wenn sie sich in einseitiger Einleibung von einem geeigneten Reiz abfangen lässt. Die beste Gelegenheit dafür ist das Starren in Glanz. Auf hohem Niveau religiöser Andacht gewährt sie diese Erfahrung im Einweihungserlebnis des zuletzt entwickelt in: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 84–96 140 Wolfgang Metzger, Psychologie, Dresden/Leipzig 1941, S. 61 139

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mittelalterlichen Mystikers Heinrich Seuse: »Als er noch ein anfangender Mensch war, trug es sich einmal zu, dass er am St. Agnes-Tag – es war nach dem Mittagessen des Konvents – in den Chor ging. Dort war er allein; er stand auf dem niederen Gestuhl an der rechten Seite. Und wie er da stand, des Trostes bar, und niemand in seiner Nähe war, da ward seine Seele entrückt, ob im Leib, ob außer ihm das wusste er nicht. Was er da sah und hörte, lässt sich nicht in Worte fassen. Es hatte weder Form noch bestimmte Art und hatte doch aller Formen und Arten freudenreiche Lust in sich. Des Dieners Herz verlangte danach und fühlte sich doch gestillt, sein Sinn war freudvoll und bewegt; Wünschen war ihm entfallen, Begehren entschwunden; er starrte nur in den hellen Abglanz, in dem er sich und alles um sich vergaß.« 141 Die Entdifferenzierung des Details, der Ausfall von ablenkenden Umständen und die Selbstvergessenheit machen die Versenkung in den Glanz als solchen möglich, und dieser erweist sich als ein vielsagender Eindruck von total binnendiffuser, also unaussprechlicher Bedeutsamkeit. Diese Ausleibung führt an den Rand der mystischen Ekstase, des Aufgehens in Gott wie in Glanz. Von ganz ähnlicher Art ist die sinnliche Ekstase der Ausleibung, von der als Beleg für absolut unspaltbare Verhältnisse unter 2.4.2 die Rede war. Wenn Nietzsche, eines schönen Mittags behaglich am Silser See sitzend, »bald des Lichts genießend, bald des Schattens«, »jenseits von Gut und Böse«, wartend, aber auf nichts, »ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel« geworden zu sein meint53, hat sich ihm nach Abschälung aller Umstände das, worin er aufgeht, in den absoluten, vielsagenden Eindruck eines Sees in heiterer, zeitlos dauernder Mittagsstille verwandelt. Wieder eine konkrete Art als impressive Situation. Entsprechend verhält es sich bei Conrad-Martius, wenn in »vollständiger Gelöstheit, Inaktivität Heinrich Seuse, Deutsche mystische Schriften, aus dem Mittelhochdeutschen übertragen von Georg Hofmann, Düsseldorf 1966, S. 20 f. (Das Leben des seligen Heinrich Seuse, 2. Kapitel)

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und Entspanntheit« nur noch der Wind, die Wärme, der Duft, die um sie sind und in sie eingehen, gespürt wird.52 Die Ausleibung wird in solcher versunkener Hingabe zur Offenbarung, indem sie den Menschen spüren lässt, was er nicht bloß relativ – bezogen auf die Umstände, Bedrängnisse und Zielsetzungen seiner Lebenslage – sondern absolut und an sich aus den Gehalten seiner leiblichen Kommunikation schöpfen kann: die konkreten, reinen Arten, über die er sonst hinweglebt. Nah verwandt ist die Offenbarungskraft tiefer Stille als konkreter Art bei der Ausleibung in eine weite Landschaft oder in die Mittagsstille eines von der Sonne bestrahlten abgeschlossenen Bezirks. Davon berichtet Mörike in seinem Gedicht Die schöne Buche nach einem Waldspaziergang, wo es ihm ähnlich wie Nietzsche am Silser See erging: Aber ich stand und rührte mich nicht, dämonischer Stille, Unergündlicher Ruh lauschte mein innerer Sinn. Eingeschlossen mit dir in diesem sonnigen ZauberGürtel, o Einsamkeit, fühlt ich und dachte nur dich!

3.4 Der Ursprung absoluter Identität Identität ist geschichtlich. Das ist ein Schlag ins Gesicht der herrschenden Meinung. Identität gilt als Angelegenheit der Logik in einem Bereich zeitloser Notwendigkeit. Dieses Vorurteil beruht auf dem Irrglauben des Singularismus, dass alles mit zeitloser Notwendigkeit einzeln sei und Identität dazu gehöre. Das gilt nach herrschender Meinung sogar für relative Identität von etwas mit sich selbst. Dass relative Identität geschichtlich ist, dem Entstehen und wohl auch dem Vergehen unterworfen, dürfte klar geworden sein. Sie ist das Fallen einer absolut identischen Sache unter mehrere Gattungen, setzt also numerische Mannigfaltigkeit einzelner Gattungen voraus, und damit deren Explikation aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situatio210 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Der Ursprung absoluter Identität

nen durch satzförmige Rede, die wir nur bei Menschen kennen. Satzförmige Rede ist sicherlich einmal entstanden und wird vermutlich einmal vergehen. Mithin ist relative Identität ein geschichtliches, wahrscheinlich von Zufällen abhängiges Ergebnis. Auch in unserer gewöhnlichen Lebenserfahrung kommt unablässig vieles vor, das mit nichts (also auch nicht mit sich selbst) identisch ist, nämlich bei jedem Umgang mit chaotischem Mannigfaltigen, z. B. im Sprach- und Mundgebrauch beim Sprechen. Wissenschaften wie Phonetik und Linguistik tun mit beachtlichem Erfolg ihr Möglichstes, um das chaotische Mannigfaltige in Konstellationen mit numerischer Mannigfaltigkeit umzuschöpfen, aber damit versetzen sie das wirkliche Geschehen in ein anderes Milieu, wodurch es vernünftig analysierbar wird. Viel radikaler, an die Wurzel unserer Überzeugungen, ja unserer Lebenssicherheit gehend, ist die Frage, ob auch absolute Identität geschichtlich ist. Mir scheint, dass man sie noch nie gestellt hat. Wenn sogar die absolute Identität und mit ihr die Verschiedenheitsfähigkeit entfällt, bleibt höchstens noch das absolut konfus chaotische Mannigfaltige (2.4.1). Es kommt in unserer gewöhnlichen Lebenserfahrung unablässig vor, mindestens in Gestalt der intensiven Schwankungen, wenn etwas lauter oder leiser, heller oder dunkler, wärmer oder kälter, schneller oder langsamer, stärker oder schwächer wird. Dann nimmt etwas zu oder ab, so dass vieles hinzukommt oder wegfällt, aber nichts von dem Vielen ist vereinzelbar wie bei extensiven Größen und nicht einmal verschiedenheitsfähig wie beim Umgang mit der Sprache und mit Körperteilen bei flüssiger Eigenbewegung, z. B. Sprechen, Gehen, Kauen, wobei wir auch ohne Vereinzelung durch absolute Identität und Verschiedenheit im Gegebenen vor Verwechslungen geschützt sind. Gegenüber dem Vielen in einem intensiven Quantum hat die Frage, ob man etwas darin verwechselt oder vor Verwechslungen geschützt ist, keinen Sinn, weil es darin vollständig an Identität und Verschiedenheit fehlt. Intensive Schwankungen ohne Anhalten auf einer Stufe bilden ein Kontinuum. Jedes ungegliederte Kontinuum ist 211 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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absolut konfus mannigfaltig, z. B. eine durchdöste Frist, wie Hersilie sie beschreibt: »Ich saß denkend und wüsste nicht zu sagen, was ich dachte. Ein denkendes Nichtdenken wandelt mich aber manchmal an, es ist eine Art von empfundener Gleichgültigkeit.« 142 Konfuses Mannigfaltiges kommt auch noch in einigen anderen Formen vor, die Einzelnes schon voraussetzen (2.4.1). Eine Welt wäre denkbar, die nur aus homogenen und/oder inhomogenen Kontinuen, etwa aus intensiven Schwankungen ohne Anhalten bestünde. Natürlich wäre in einer solchen Welt nichts zählbar und auch nicht alles eins, denn alles, was die Zahl 1 hat, ist numerisches Mannigfaltiges, dessen Inhalt einzeln ist. Wie kommt in solches absolut konfus chaotisches Mannigfaltiges absolute Identität hinein? Wie stößt sie dem Seienden zu? Die Frage ist sinnvoll, da absolute Identität sich nachweislich nicht von selbst versteht, nicht der gesamten Wesenheit alles Seienden von vornherein »tota sua entitate« eingegeben ist. 143 Die einfachste Auskunft wäre die Antwort: Absolute Identität wird dem Seienden durch Hinzutritt einer weiteren Eigenschaft, eben der absoluten Identität, verliehen. Entsprechend verhält es sich bei der Vereinzelung, wenn das schon absolut identische Seiende mit dem Fallsein unter einer Gattung und damit der Einzelheit beschenkt wird. Dieses Modell lässt sich auf die Entstehung absoluter Identität nicht übertragen, denn woran wollte diese verliehen werden? Um sie an etwas zu verleihen, müsste dieses schon absolut identisch sein, damit die Gabe eine Adresse hätte. Wenn nur konfuses Mannigfaltiges vorliegt, bedarf es also statt einer Ergänzung zur absoluten Identität des Gegenteils: eines Bruches oder Risses im Seienden, der dieses bis zum ZerGoethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 3. Buch, 17. Kapitel, Hersilie an Wilhelm 143 Ich spiele hier auf die leichtsinnige These von Leibniz in seiner Doktordissertation De principio individui an, alles Seiende sei tota sua entitate individuell. 142

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Der Ursprung absoluter Identität

reißen strapaziert, damit im Kontinuum ein Akzent gesetzt und etwas exponiert wird, das selbst und zur Verschiedenheit fähig ist. Dieser Bruch muss so stark sein, dass er nicht nur die im konfusen Kontinuum schon mögliche Veränderung – etwa die intensive Schwankung – fördert oder dämpft, sondern ein Anhalten erzwingt, das einen Freiraum (im Sinne von Bereich überhaupt) schafft, in dem etwas zu sich selbst kommen kann, statt in der Fülle unterzugehen. Diese Bedürfnisse sind in der normalen Lebenserfahrung tatsächlich erfüllt durch die privative Engung des Leibes in plötzlicher Ankunft des Neuen, das Dauer zerreißt, Gegenwart exponiert und die zerrissene Dauer ins Nichtsein verabschiedet. Ich bezeichne die so exponierte Gegenwart als primitive Gegenwart und unterscheide an ihr fünf Seiten oder Momente, die in absolut unspaltbarem Verhältnis zusammenhängen: das Hier des absoluten Ortes als Zusammenfahren oder –zucken unter dem Druck des Neuen, das Jetzt als absoluten Augenblick des Plötzlichen, das Sein als die Wirklichkeit, die ohne Spielraum zum Ausweichen den Betroffenen stellt (wie die Hunde auf der Jagd das Wild stellen), die Subjektivität (das Ich) als das affektive Betroffensein vom Andrang des Neuen und eben die absolute Identität, durch die sich etwas als dieses präsentiert. Die Fünfheit als Zahl ist ein nachträglicher Zusatz aus der entfalteten Gegenwart; in der primitiven Gegenwart selbst ist nichts zählbar. Gelegenheiten, bei denen primitive Gegenwart auftritt, sind etwa ein Schreck, ein heftiger Ruck oder Windstoß, ein plötzlich aufziehender überwältigender Schmerz, ein Schlag vor den Kopf, der die Besinnung raubt, ein Erstickungsanfall, ein Tritt ins Leere, der den Boden unter den Füßen wegnimmt. Man hat mir einen Widerspruch vorgehalten, weil ich einerseits das Bewussthaben an den vitalen Antrieb bände, andererseits die Erfahrung primitiver Gegenwart eine so totale privative Engung erfordere, dass dadurch der vitale Antrieb zerrissen würde, so dass die primitive Gegenwart nicht zu Bewusstsein kommen könne. Es ist nicht sicher, dass eine Voraussetzung dieses Arguments stimmt, nämlich, dass der vitale Antrieb voll213 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leib und Gefühl

ständig aufgelöst werden müsse; gesetzt aber auch, dass dies der Fall ist, leidet der Vorwurf an demselben Fehler wie der Aphorismus Wittgensteins in seiner logisch-philosophischen Abhandlung Nr. 5.631.7 Wittgenstein wollte als vorfindbar nur gelten lassen, was sich passiv dem Beobachter darbietet und so registrieren lässt, und leugnete daher »in einem wichtigen Sinne« das Subjekt; er übersah das ebenso vorfindbare affektive Betroffensein, das den Beobachter aktiv bedrängt. Solche Bedrängnis genügt schon zur Konfrontation und zur Präsenz, auch wenn die Ankunft noch nicht registrierbar vollzogen ist. In einem schweren Erstickungsanfall ist der Betroffene mit dem Tod schon konfrontiert, auch wenn er noch nicht tot ist, nicht nur wie jeder durch die Erwartung des Todes, sondern durch dessen drohende Anwesenheit in nächster Nähe. So könnte auch die primitive Gegenwart als Aussicht in noch nicht vollendeter privativer Engung zugegen sein, ohne sich zur bloßen Idee, zum Gedankending zu verdünnen. Die primitive Gegenwart erweist sich damit als Ursprung der absoluten Identität. Auch diese ist also kontingent, dem Entstehen und Vergehen ausgesetzt wie die relative Identität. Ihre Geschichtlichkeit greift noch tiefer als bei dieser die Sicherheit der Lebensgrundlagen an; denn wenn mit der Fähigkeit zur satzförmigen Rede die konsolidierte Einzelheit entfiele, wäre immer noch ein Leben in der Gefangenschaft geschlossener Situationen möglich, wie die Tiere es führen, ohne Ausgesetztheit in primitive Gegenwart aber nicht einmal dieses. Obendrein ist mit der primitiven Gegenwart erst ein Lichtpunkt des Selbstseins gesetzt; wie er auf das Seiende ausstrahlt, so dass um ihn herum alles absolut identisch wird, ist noch unklar. Die Aufklärung darüber ist aber einfach. Das Austragen der absoluten Identität über die primitive Gegenwart hinaus übernimmt der vitale Antrieb in leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation. Er schließt an die privative Engung an, die eine Abspaltung aus ihm ist, und hält durch seine engende Spannung die Perspektive auf sie offen, gleichsam als Nachhall oder Andeutung. Alles, was die 214 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leib und Person

Einleibung erreicht, wird dadurch mit absoluter Identität belehnt. Solche Ergänzung ist nun möglich, da die Einleibung ihre Teilnehmer für absolute Identität zugänglich macht. Diese Art der Übertragung reicht nicht so weit wie die, die in der Welt als entfalteter Gegenwart möglich wird, aber sie genügt für das Leben mit diffus chaotischer Mannigfaltigkeit. Der Leib ist also durch den vitalen Antrieb und dessen Abspaltung zur Enge hin Ursprung und Überträger absoluter Identität. Diese Zusammenhänge sind natürlich vor der Vereinzelung unspaltbare Verhältnisse und nicht Beziehungen. Daher erübrigen sich Prioritätsfragen wie diese, ob zuerst die primitive Gegenwart da ist oder der vitale Antrieb mit seiner Abspaltung zur Enge hin, in gleicher Weise, wie es für die passive und aktive Seite des affektiven Betroffenseins unter 1.2 gezeigt wurde.

3.5 Leib und Person Eine Person zeichnet sich dadurch aus, dass man ihr eine gewisse Selbständigkeit zutrauen darf, d. h. ein Verhältnis mit sich selbst, das sie befähigt, in angemessenem Umfang sich selbst zu bestimmen und dabei auch Verantwortung für sich zu übernehmen. Entscheidend dafür ist ihre Fähigkeit, sich für einen Fall verschiedener Gattungen zu halten, d. h. für identisch mit etwas. Ein türkischer Schuster in Kreuzberg ist z. B. ein Mann, ein Schuster, ein Türke, ein Berliner, ein Moslem, ein Familienvater, vielleicht auch ein Lotteriespieler, ein Fußballfan, ein Nothelfer usw.; er hält sich für identisch mit allen diesen Fällen verschiedener Gattungen. Das befähigt ihn, Akzente der Konzentration oder Vernachlässigung zu setzen, die Rollen in mehr oder weniger geschickter Weise zu kombinieren oder getrennt zu halten, die eine oder andere davon ganz abzustoßen und andere hinzuzunehmen usw. Dieses Vermögen ist die personale Selbständigkeit. Sie beruht also auf der Fähigkeit, einen Fall verschiedener Gattungen für sich selbst (oder umgekehrt, sich dafür) zu 215 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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halten. Dieses Vermögen bezeichne ich als Fähigkeit zu Selbstzuschreibung. Wegen seiner zentralen Wichtigkeit für das Personsein definiere ich: Eine Person ist ein Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Kleine Kinder vor dem Erwachsenwerden, das etwa 9 Monate nach der Geburt einzusetzen pflegt, und hochgradig Schwachsinnige (sogenannte Idioten), die das Vermögen entweder nie erlangt oder wieder verloren haben, sind demnach keine Personen, woraus aber keineswegs folgt, dass man sie geringschätzig behandeln sollte. Schizophrene sind dagegen Personen, die ihre Fähigkeit zur Selbstzuschreibung auch noch durch wahnhafte Selbstverkennungen erweisen. Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Selbstbewusstsein (besser: Sichbewussthaben). 144 Genau besehen, überkreuzen sich dabei zwei Typen von Identifizierungen, erstens für Gattungen a, b, c usw. die Identifizierung eines Falles von a mit einem Fall von b, einem Fall von c usw., zweitens die Identifizierung dieses Bündels von zu einem einzigen Fall vieler Gattungen identifizierten Gattungsfällen durch den Bewussthaber mit sich selbst. Jenes nenne ich die horizontale, dieses die vertikale Identifizierung. Aus allen horizontalen Identifizierungen, einzeln und gemeinsam, ist keine vertikale Identifizierung abzuleiten, wenn diese nicht schon in den horizontalen Identifizierungen enthalten ist, in der Weise, dass es dabei dem Bewussthaber schon bekannt ist, dass es sich um ihn selber handelt; das aber ist ihm bekannt nur durch die subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins. So viel wurde schon unter 1.1 eingesehen. Schon die bloße Tatsächlichkeit der dem Sichbewussthaben vorschwebenden Tatsachen, noch unabhängig von deren Inhalt, muss dem Bewussthaber zu verstehen geben, dass es sich um Wegen der Äquivokation des Wortes »Bewusstsein« ersetze ich den Ausdruck »Selbstbewusstsein« gern durch »Sichbewussthaben« und verstehe »Bewusstsein« nur noch als »Bewusstgehabtwerden durch einen Bewussthaber«. Statt »Bewussthaber« sagt man gewöhnlich »Subjekt«, aber dieses Wort ist ebenfalls störend äquivok.

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ihn selbst handelt. Das ist bei objektiven (oder neutralen) Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen oder schreiben kann, nicht der Fall; deshalb bedarf es der subjektiven Tatsachen, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann. Im Gegensatz zur Selbstzuschreibung ist die für die vertikale Identifizierung vorausgesetzte vorgängige Bekanntschaft mit sich ein nicht identifizierendes Sichbewussthaben, weil sonst dieselbe Komplikation horizontaler und vertikaler Identifizierung zurückkehrte, also eine weitere Vorbekanntschaft mit sich benötigt würde usw. in infinitum. Ein solches nicht identifizierendes Sichbewussthaben ist in Gestalt des affektiven Betroffenseins, das die ihm zugedachte Rolle tatsächlich übernehmen kann, auch schon gefunden. Es bleibt aber die Restfrage, wie ein identifizierungsfreies Sichbewussthaben überhaupt möglich ist. Es liegt doch nahe, anzunehmen, dass jemand sich selbst nur finden kann, indem er etwas zur Kenntnis nimmt, von dem er einsieht, dass es sich um ihn selbst handelt; das aber wäre schon eine Identifizierung. Wie ist es möglich, diese Klippe zu umgehen und sich selbst zu finden, ohne etwas mit sich zu identifizieren? Das ist möglich, wenn ein absolut identischer Gegenstand (etwas, das dieses ist) und das, was jemand im affektiven Betroffensein als sich selber spürt, in absolut unspaltbarem Verhältnis zusammenfallen, so dass ausgeschlossen ist, dass das, was jemand dann von sich selber spürt, ein konfus chaotisches Mannigfaltiges ist. Das unspaltbare Verhältnis ist nämlich keine Beziehung, während Identifizierung eine Beziehung ist. Um die Möglichkeit einer identifizierungsfreien Vorbekanntschaft eines Bewussthabers mit sich selbst einzusehen, muss also nur ein solches absolut unspaltbares Verhältnis nachgewiesen werden. Dafür bietet sich allein die primitive Gegenwart an, in der das Sichspüren im affektiven Betroffensein (das Ich-Moment) und das absolut Identische (das Dieses-Moment) in unspaltbarem Verhältnis verschmolzen sind. Die primitive Gegenwart gibt dem Betroffenen sich selbst als ich-hier-jetzt-dieses so unmittel217 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leib und Gefühl

bar zu spüren, dass er dafür keiner Identifizierung bedarf. Aus dieser Quelle schöpft das affektive Betroffensein sein Vermögen, in den für jemand subjektiven Tatsachen den zu finden, für den sie subjektiv sind, und die personale Selbstzuschreibung ihre auf das affektive Betroffensein gestützte Fähigkeit, für einen Fall verschiedener Gattungen den zu finden, der dieser Fall ist, dem sie zugeschrieben werden können. Sowohl das affektive Betroffensein als auch die Person sind also auf die primitive Gegenwart angewiesen. Die primitive Gegenwart steht allerdings nicht immer zur Verfügung, da sie – zum Glück – ein seltener Ausnahmezustand ist. Sie wird aber, wie schon unter 3.4 gesagt wurde, als das Extrem leiblicher Engung durch die Engung im vitalen Antrieb als mögliches Übermaß zugänglich gehalten. Der vitale Antrieb überträgt zusammen mit der absoluten Identität dem Bewussthaber die identifizierungsfreie Bekanntschaft mit sich. Auf diese Weise wird die leibliche Dynamik zur unumgänglichen Quelle des Personseins. Ohne Leib keine Person. Der Leib ist nicht nur die Quelle der Person, sondern auch ihr Unterbau, der als persönliche leibliche Disposition die später zu besprechende zuständliche persönliche Situation oder Persönlichkeit der Person trägt und ihr den Aufwand zum Einsatz auf der Grundlage leiblicher Kommunikation ermöglicht. Dafür sind zwei in der leiblichen Disposition jeweils speziell geformte Strukturen des vitalen Antriebs maßgeblich: seine Bindungsform (neben seiner Stärke) und seine Vitalität. Die drei Typen der Bindungsform (kompakt, rhythmisch schwingend, locker) gehen in die persönliche leibliche Disposition in einer Weise ein, die man gut fassen kann, wenn man die drei Konstitutionstypen nach Kretschmer 145, seinen vagen Konstitutionsbegriff vernachlässigend, auf die Bindungsform des vitalen Antriebs in der persönlichen leiblichen Dispositionen umwidmet. Allerdings muss Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter, 21./22. Auflage, Berlin/ Göttingen/Heidelberg 1955

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Leib und Person

der neben Schizothymikern und Zyklothymikern dritte Typ, den Kretschmer als viskosen Athleten nicht genügend analysiert, in der schärferen Charakteristik als Bathmothymiker durch Veit 146 herangezogen werden. Bathmothymiker, d. h. Stufenmütige, sind Menschen mit habituell kompaktem Antrieb, die, da ihr Antrieb ohne viel Schwingung oder Spaltung auskommt, langfristig gleichmäßig belastbar sind, bis es zu viel wird, weil der überlastete Antrieb nicht durch Schwingung oder Spaltung ausweichen kann; dann bleibt ihm nur die Stauung mit ruckartigem Übergang auf eine andere Stufe, extrem in der Form von Explosion oder Zusammenbruch. Bei Übergewicht der Spannung sind sie Phlegmatiker, die schwer in Bewegung zu setzen sind, bei Übergewicht der Schwellung Dynamiker, die sich schwer anhalten lassen, auch bei in beiden Fällen gleicher Stärke des vitalen Antriebs. Zyklothymiker haben einen vitalen Antrieb, der sich habituell im rhythmischen Wechsel des Übergewichts von Spannung und Schwellung ausleben kann, wobei durch Elastizität des Wechsels die abgehackten Stufen vermieden werden können. Auch bei ihnen gibt es die beiden Typen eines relativen Übergewichts zur Spannung oder Schwellung, aber modifiziert durch die dank der Schwingungsfähigkeit gesteigerte Anregbarkeit durch ergreifende Gefühle; daher bekommt der mehr spannungsbetonte Typ eine zur Beklommenheit geneigte, eventuell leicht depressive Note, der mehr schwellungsbetonte Typ eine euphorische, hypomanische. Der dritte, schizothyme Typ ist ebenso anregbar wie der zyklothyme, reagiert aber nicht durch Schwingung im Rhythmus von Spannung und Schwellung, sondern durch Abspaltung privativer Engung und privativer Weitung aus Spannung bzw. Schwellung. Die Abspaltung privativer Engung führt zur Bestürzung, Hans Veit: Die energetische Proportion der Athletikertemperamente, in: Zeitschrift für menschliche Vererbungs- und Konstitutionslehre 35, 1960, S. 303–319; Das soziale Verhalten der »bathmothymen« Athletikertemperamente, in: ebenda 36, 1961, S. 98–107

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Leib und Gefühl

während die Abspaltung privativer Weitung verschiedene Formen annehmen kann, z. B. als Schwärmerei (Entzücken wie bei Winckelmann113), ästhetisierende und spirituelle Zartheit, Ironie und Hinwegsetzen über die aktuelle Situation in strategischer Planung mit langfristigen Zielen. Auf diese Weise ist der Schizothymiker zwar durch Irritierbarkeit benachteiligt, kompensiert aber diesen Nachteil durch eine Distanzfähigkeit, die ihm den Ausweg aus der aktuellen Situation in eine umfassendere Perspektive gestattet. Für die Vitalität kommt es in der schon unter 3.2 besprochenen Weise, auch für die leibliche Disposition in den beiden Oberschichten über dem in sich protopathischen vitalen Antrieb, seiner Reizempfänglichkeit und seiner Zuwendbarkeit zu empfangenen Reizen, auf die epikritische Tendenz an, die auf beiden Ebenen für Auslese zu sorgen hat. Zentral wichtig ist die steuernde Wirksamkeit der Auslese in der Reizempfänglichkeit, orientiert am Nomos (Programmgehalt) der jeweils leitenden zuständlichen und aktuellen Situationen sowie bei Personen, die nicht mehr automatisch von einem solchen Nomos geführt werden, von den Absichten, die sie ihrer persönlichen Situation abgewinnen müssen. Die Auslese in der Reizempfindlichkeit steuert aber nicht nur die Richtung der Zuwendung des Antriebs, sondern auch dessen Dosierung beim Einsatz. Dabei haben Bathmothymiker eine Schwelle zu überwinden. Ludwig Ferdinand Clauß, ein Charakteristiker mit begnadeter Anschauungsgabe, beobachtet bei den von ihm so genannten Menschen färlischer Rasse – ein anderer Name für Bathmothymiker in meinem Sinn – gegenüber fremdartigen Reizen eine Sperrung »vor der alle seelische Bewegungsmöglichkeit zunächst erstarrt«; sie löse sich aber, »wenn das Fremde durch Gewöhnung nicht mehr fremd ist, und könne dann in strömende (z. B. erotische) Zuwendung umschlagen.« 147 Dies ist der für BathmothyLudwig Ferdinand Clauß, Rasse und Seele, 18. Auflage München 1943, S. 71 f.

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Gefühl und Fühlen

miker charakteristische stufenförmige Wechsel wenig dosierbaren Antriebs, den auch die Reizempfänglichkeit nicht bändigen kann. Bei Menschen anderer Art kann momentane Schwäche des Antriebs die Empfänglichkeit für Reize sogar begünstigen, weil er dann besser dosierbar wird. So beobachtet Gerda Walther eine gesteigerte Empfänglichkeit für die von einem Menschen ausgehende Atmosphäre, »wenn man selbst gerade innerlich ›müde‹ oder geschwächt und mit keiner besonders starken Konzentration einem anderen Gegenstand zugewendet ist.« 148 Wenn solche Schwäche in der leiblichen Disposition habituell wird, führt sie zu einer Überlastung der Reizempfänglichkeit, die der Nervenarzt Griesinger schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Zeitgenossen als »reizbare Schwäche« verhielt. 149 Diese Störung greift dann auch auf die weitere Auslese über, die die Zuwendbarkeit des Antriebs zu vollbringen hat, um für dessen Schwung die erforderliche Präzision und Beharrlichkeit bei der Zuwendung einzustellen. Wenn das nicht gelingt, ergibt sich das heute viel beobachtete »Zappelphilippsyndrom« der Jugendlichen.

3.6 Gefühl und Fühlen Die Bewussthaben einer Person sind zu einem beträchtlichen Teil ihre persönlichen Stellungnahmen, z. B. Beurteilungen (eines Sachverhalts als tatsächlich oder untatsächlich, eines Programmes als geltend oder ungültig) und Wollungen (mit doppelter Auseinandersetzung der Person; einerseits mit ihrer persönlichen Situation, der angesichts einer Herausforderung eine Absicht abgewonnen werden muss, andererseits mit ihrem vitaGerda Walther, Phänomenologie der Mystik, 2. Auflage Olten 1955, S. 77 149 Nach Andreas Steiner, Das nervöse Zeitalter. Der Begriff der Nervosität bei Laien und Ärzten in Deutschland und Österreich um 1900, Zürich 1964, S. 104 148

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len Antrieb, der zur Zuwendung zur Absicht gewonnen werden muss). Die wichtigste Neuerung der älteren phänomenologischen Schule (um Brentano, Husserl, Scheler) bei der Behandlung der Gefühle bestand darin, diese als intentionale Akte des Bewusstseins und damit als persönliche Stellungnahmen auszugeben. Bezeichnend ist dafür der summarische Überblick Brentanos über die Formen der Intentionalität, die er als spezifisches Merkmal sogenannter »psychischer Phänomene« auffasste: »In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehasst.« 150 Brentano versetzt die Gefühle mit dem Beispiel von Liebe und Hass auf ein und dasselbe Niveau mit den Urteilen, persönlichen Stellungnahmen. Scheler hat das für die sogenannten »seelischen« und »geistigen Gefühle« ausgebaut. Der Genitiv »des Bewusstseins« in der Rede von intentionalen Akten des Bewusstseins meint, dass die Gefühlsakte mit anderen Akten und sonstigen Inhalten (Husserl: »hyletischen Daten«) in einem Bewusstsein, einem Sammelbecken nach Art einer seelischen Innenwelt, zusammengefasst würden. Das ist ein völlig überflüssiges Überbleibsel der Weltspaltung (3.1); um die persönlichen Stellungnahmen zusammenzuhalten, genügt es, sie als Bewussthaben eines einzelnen Bewussthabers und diesen in Situationen aufzufassen, ohne diese Bewussthaben in einem privaten Sammelplatz abzulagern. Schon bei Erörterung des affektiven Betroffenseins hat sich ergeben, dass solche Einordnung des Fühlens und der Gefühle unter die persönlichen Stellungnahmen nicht richtig sein kann. Affektives Betroffensein ist aktiv nicht als eine eigenständige Initiative, zu der der Bewussthaber von sich aus greift, wie oft beim Denken im Sinne des Beurteilens und von dessen Vorstufen (Vermuten, Zweifeln, Überlegen), sondern antwortendes Eingehen auf etwas, das ihm freundlich oder feindlich nahe geht, Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, 1. Band, zuerst 1874, hg. v. Oskar Kraus Leipzig 1924, S. 125

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indem es ihn betroffen macht. Der Bewussthaber wird in seine Stellungnahme hineingezogen, die an der präpersonalen Wurzel unbeliebige Selbstverstrickung ist, von der Person allerdings auch willentlich überformt werden kann. Während dies für alles affektive Betroffensein gilt, ist das affektive Betroffensein von Gefühlen wie Zorn und Scham, Freude und Trauer, Furcht und Mut durch eine verschärfte Bindung ausgezeichnet, die mich veranlasst, dieses affektive Betroffensein mit dem besonderen Namen des Ergriffenseins (von Gefühlen) zu belegen. Es handelt sich darum, dass das ergreifende Gefühl in einer Anfangsphase des Ergreifens den eigenen Impuls des Betroffenen in Dienst nimmt, so dass dieser wie fasziniert mitgeschleppt wird und erst danach einen Spielraum erlangt, der es der Person gestattet, sich in Preisgabe oder Widerstand mit dem Gefühl, das sie ergriffen hat, auseinanderzusetzen. Man muss erst einmal richtig traurig oder richtig froh sein, mit den mehr zur Engung bzw. zur Weitung tendierenden Impulsen, um zur eigenen Trauer oder Freude Stellung nehmen zu können. Wer wirklich zürnt, muss erst einmal in Zorn geraten sein, ehe er in der Auseinandersetzung etwas damit anfangen kann. Zorn ergreift stürmisch, überfallartig; das Entsprechende gilt aber auch für Gefühle, die sich schleichend einnisten, sogar für den Neid, der eigentlich kein eigenständiges Gefühl ist, sondern Missgunst aus verhohlener Scham (wegen Zurückbleibens hinter dem von einem Anderen ganz oder teilweise verwirklichten Ich-Ideal) 151 , also mit einem zwiespältig gebrochenen Impuls ergreift. Wer ein Gefühl gleich an der Schwelle seines Eintritts mit einer fertigen Stellungnahme empfängt, wird nicht ergriffen, sondern entweder nur von einem flüchtigen Anflug des Gefühls gestreift (eben mal berührt), oder er tut nur so, als ob er ergriffen sei. Das ist anders bei bloßen leiblichen Regungen, die (wie Schmerz, Hun-

Hermann Schmitz, Von der Scham zum Neid, In: Leib Ort Gefühl, hg. v. M. Großheim, A. K. Hild, K. Lagemann, N. Trcka, Freiburg 2015, S. 19–34

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ger, Durst) nicht zugleich Vermittler des Ergriffenseins von Gefühlen sind. Wenn solche bloßen leiblichen Regungen nicht ganz plötzlich und überwältigend einbrechen, kann man von Anfang ihres Auftretens an zu ihnen Stellung nehmen, obwohl sie sich nicht passiv der Betrachtung darbieten, sondern aktiv nahe gehen. Auf diesem Unterschied beruht die besondere Schwierigkeit des Beobachters der Ergriffenheit von Gefühlen, verglichen mit der leichteren Beobachtung des Betroffenseins von bloßen leiblichen Regungen. Der Ergriffene ist durch seine anfängliche Hinfälligkeit an den ergreifenden Impuls im Verhältnis zu diesem von vornherein Partei und kann sich, auch wenn er dieser Auslieferung danach seine persönliche Stellungnahme entgegensetzt, aus dieser Befangenheit nur mehr oder weniger schwer in die neutrale Rolle des registrierenden Beobachters versetzen. Die anfängliche Fesselung des Ergriffenen durch das ihn ergreifende Gefühl geht ontologisch (im Sinne meiner Mannigfaltigkeitslehre, 2.4.2) darauf zurück, dass das Ergreifen anfangs ein unspaltbares Verhältnis ist, das dem Ergriffenen keine Gelegenheit lässt, eine Beziehung zu dem, was ihn ergreift, aufzunehmen. Dieses Verhältnis widerlegt nachdrücklich die emanzipatorische Tendenz, die bei der Weltspaltung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung (3.1) Pate stand. Es ging darum, der Person ein ihr gesamtes Erleben umfassendes abgeschlossenes Inneres (ihre Seele), in dem sie Herr im Haus sein konnte, zu verschaffen, und den von außen ergreifenden Mächten, die sie dabei irritieren könnten, nicht nur den Zutritt zu verwehren, sondern solche sogar zu verbannen, wofür die Außenwelt ausgeräumt wurde (Reduktionismus). Nun stellt sich heraus, dass die Gefühle als ergreifende Mächte diese Schranke und diesen Bann unterlaufen, indem sie sich zwar nicht an eine innerliche Seele wenden – eine Fiktion, von der im Fühlen nichts zu spüren ist –, aber an den Bewussthaber selbst, den sie ergreifen, betroffen machen, in Bann ziehen, bis er in personaler Emanzipation so 224 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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viel Selbstbestimmung zurückgewinnt, dass er sich in Preisgabe oder Widerstand mit der ergreifenden Macht auseinander setzen kann. Das affektive Betroffensein durch Gefühle ist also unverträglich mit der Einbettung des Betreffenden (d. h. betroffen Machenden) in eine private seelische Innenwelt, in der sich unwillkürliche Regungen als Zustände vorfinden lassen, die dem Bewussthaber (Subjekt) gestatten, von vornherein Beziehungen zu ihnen aufzunehmen, so dass er sie mit persönlichen Stellungnahmen zurechtweisen und bei Bedarf bändigen könnte (wie der Dompteur die Großkatzen119). Gefühle sind also keine Seelenzustände; sie fügen sich nicht in das Schema der Weltspaltung. Die Introjektion der Gefühle, die im Sinne dieses Paradigmas zuerst von Platon (schon früh) formuliert wird 152 , scheitert an der kausalen Überlegenheit der Gefühle, die den affektiv von ihnen Betroffenen ohne Rücksicht auf eine diesen schützende Schale der Privatheit seiner Innenwelt direkt angreifen und in Bann ziehen. Damit ist ein jahrtausendealtes Missverständnis der Gefühle überwunden. Um ihm etwas mehr Anschaulichkeit zu geben, werfe ich einen Blick auf die Auffassung vom Gefühl, die Kant in seiner Anthropologie entwickelt. Er kennt Gefühle auf der Grundlage von Lust und Unlust als deren Steigerungen in kurzfristiger Aufwallung (Affekte) oder einseitiger Verhärtung (Leidenschaften). Über Lust und Unlust äußert er sich in einem etwas verklausulierten Satz, ausgehend von der Gegenüberstellung der äußeren Sinne gegen den vom Gemüt affizierten inneren Sinn, der »als bloßes Wahrnehmungsvermögen (der empirischen Anschauung) vom Gefühl der Lust und Unlust, d. i. der Empfänglichkeit des Subjekts, durch gewisse Vorstellungen zur Erhaltung oder Abwehrung des Zustandes dieser Vorstellungen bestimmt zu werden, verschieden gedacht wird, den man den

Gorgias 513c: »Die Liebe zum Demos (zweideutig: Volk und Lustknabe), die in deiner Seele darin ist, widersteht mir (dem Sokrates).«

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Leib und Gefühl

inwendigen Sinn (sensus interior) nennen könnte.« 153 Lust und Unlust sind, in meiner Terminologie der Vitalität, für Kant demnach Kombinationen von Reizempfänglichkeit und Zuwendbarkeit, zwar nicht des vitalen Antriebs, von dem Kant nichts weiß, aber des Subjekts oder, genauer, des den inneren Sinn affizierenden Gemütes, das sich von gewissen Reizen zu verweilender oder abwehrender Zuwendung bewegen lässt. Sie sind unterworfen einer empirischen Anschauung durch den inneren Sinn, so dass sich die Affizierung durch das Gemüt in eine Seite der Wahrnehmung (innerer Sinn) und eine Seite der Vitalität (Gefühl der Lust und Unlust) aufteilt. Keine Notiz nimmt Kant vom affektiven Betroffensein, der direkten Heimsuchung des Subjektes oder Bewussthabers ohne ein diesen beherbergendes Gemüt, und erst recht nicht von der Sonderstellung des affektiven Betroffenseins von Gefühlen. Was er schildert, sind Seelenzustände, die sich passiv einer sie begleitenden Wahrnehmung darbieten. Das ist im Wesentlichen die seit Platon und Aristoteles herrschende Auffassung. Gefühle sind also weder persönliche Stellungnahmen noch Seelenzustände (moderner ausgedrückt: Bewusstseinsinhalte). Was sie sind, bedarf einer grundsätzlichen Neubestimmung. Ich schlage vor: Gefühle sind räumlich ergossene Atmosphären und leiblich ergreifende Mächte. Am Gefühl sind also Raum und Leib beteiligt. Die These von der Räumlichkeit der Gefühle stößt auf zwei starke Vorbehalte, nämlich erstens die fortwährende Orientierung an der Weltspaltung mit ihrer scharfen Sonderung des Äußeren vom seelisch Inneren, das nach Augustinus (De quantitate animae), Descartes und Kant unräumlich ist, und zweitens wegen des von der griechischen Geometrie und der ihr nachfolgenden Naturwissenschaft festgesetzten Leitbildes des Raumes, das Flächen voraussetzt und was nur durch Flächen

Anthropologie in pragmatischer Absicht, Akademieausgabe Band VII S. 153

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möglich ist: Lagen und Abstände über umkehrbaren Verbindungen mit dadurch sich gegenseitig identifizierenden relativen Orten, bezifferbare Stufung der Dimensionen bis zur Dreidimensionalität, durch Schnitte zerlegbare Figuren mit Rändern – als ob das der einzige Raum wäre. Von beiden Illusionen muss man sich frei machen. Über die Weltspaltung brauche ich nicht mehr zu sprechen. Das Dogma vom geometrischen Raum als Leitbild des Raumes schlechthin wird korrigiert vom Studium der flächenlosen Räume (3.1), denen sich nun der Gefühlsraum (der Raum der Gefühle) anschließt. Der Gefahr einer Verdinglichung der Gefühle wird durch ihre Einordnung unter die Halbdinge mit unterbrechbarer Dauer vorgebeugt. Gefühle kommen und gehen, ohne eines stetigen Zusammenhangs in der Zwischenzeit zu bedürfen. Sie werden wie Stimmen geweckt und verstummen, so dass ein Mensch von einem Gefühl ergriffen wird und sein Nachbar gleich neben ihm nichts davon zu merken braucht, und können unabhängig vom Durchwandern des Raumes dauern. Das spricht nicht gegen ihre Wirklichkeit, so wenig, wie das wirkliche Dasein von Kopf- oder Bauchschmerzen verdächtig ist, weil immer nur einer sie spürt. Eine Atmosphäre im hier gemeinten Sinn ist die ausgedehnte Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird. Nicht alle solche Atmosphären sind Gefühle. Ein Vergleich kann meine Auffassung der Gefühle als Atmosphären dem Verständnis näher bringen. Als Atmosphäre bezeichnet man gewöhnlich das Wetter, wobei ich nicht an das naturwissenschaftlich aus einem physikalisch-chemischen und einem psychologischen Anteil rekonstruierte Wetter denke, sondern an das wahrgenommene, das aus Anteilen des Sehens und des Spürens am eigenen Leibe zusammenwächst und nach Tages- und Jahreszeiten charakteristische Ausformungen (Morgen- und Abenddämmerung, Frühlings- und Herbstwetter usw.) annimmt. Dieses Wetter ist immer eine Atmosphäre im angegebenen Sinn, aber nur manchmal ein Gefühl, z. B. an hellen, heiteren, mäßig warmen und trockenen Tagen, wenn es mit einem 227 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leib und Gefühl

Gefühl der Freudigkeit und beschwingenden Frische über die Menschen kommt; Tersteegen dichtete: Gleich wie die Luft erscheint an angenehmen Tagen, So heiter, klar und still soll dein Gemüte sein. Drückendes, schwüles Wetter ergreift die Menschen mit einem Impuls der Schwermut. Wie die Tropenhitze eines schwülen Mittags wirkt, berichtet Sienkiewicz aus Sansibar: »Die Nebel verringerten die Hitze nicht, sondern vermehrten nur die Feuchtigkeit der Luft. Manchmal während des Tages wusste man gar nicht, woher den Atem schöpfen; gegen die Mittagszeit verfiel das Spital in Totenstille und traurige Ruhe; man hatte dann das sonderbare Empfinden, als schwebe eine Katastrophe über die Stadt – und wenn dann in dem allgemeinen Schweigen die Uhren zwölf schlugen, glaubte man, es müsse jetzt und jetzt etwas Schreckliches eintreten.« 154 Solches Wetter erweist sich als Gefühl durch die Ergriffenheit als Form des affektiven Betroffenseins von ihm: Der Betroffene muss sich dem ihn ergreifenden Impuls der Atmosphäre erst einmal hingeben, weil er zunächst beziehungslos in unspaltbarem Verhältnis an die ergreifende Macht gebunden ist. Anders verhält es sich mit einem trüben, regnerischen Wetter, das die Pläne eines Menschen (z. B. für einen Ausflug) durchkreuzt. Auch dieses Wetter weckt Gefühle, aber in vielen Fällen ist es nicht selbst ein ergreifendes Gefühl, sondern nur Gegenstand des Ärgers, indem es den Menschen keineswegs trübe oder schwermütig, sondern allenfalls verdrießlich stimmt. Eine ähnliche Metamorphose, bei der sich eine Atmosphäre manchmal zum Gefühl wandelt, lässt sich an der Stille beobachten. Beim ruhigen Arbeiten ist man öfters für eine Atmosphäre Henryk Sienkiewicz, Reisebriefe aus Afrika, deutsch v. J. v. Immendorf, 1902, S. 322, von mir zitiert aus: Max Löwy: Über eine Unruheerscheinung: Die Halluzination des Anrufs mit dem eigenen Namen (ohne und mit Beachtungswahn), in: Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 33, 1912, hier S. 62

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Gefühl und Fühlen

der ungestörten Stille dankbar, in der die Arbeit gedeihen kann, aber diese Stille kann ein unauffälliger Begleiter bleiben, der den Arbeitenden nicht geradezu angreift. Anders verhält es sich mit der einprägsamen Stille, die als feierliche Stille eines würdigen Anlasses oder einer weiten, öden Landschaft weit und dicht ist, als drückende Stille eines schwülen Mittags oder einer gespannten Atmosphäre unter Menschen noch dichter, aber enger und drückend schwer, als Stille eines unberührten Morgens zart und locker. Solche Stille zieht den empfänglichen Menschen als leiblich ergreifende Macht in deren Bann und erweist sich als Gefühl. Hiermit habe ich Atmosphären beschrieben, die Züge eines Gefühls annehmen können. Nun will ich umgekehrt von Gefühlen ausgehen, die sich als Atmosphären erweisen. Das nächste Beispiel wird wieder Gelegenheit geben, ein Gefühl als Atmosphäre mit anderen Atmosphären, die keine Gefühle sind, zu vergleichen, und zugleich über die Eigenart der Gefühle weiteren Aufschluss geben. Es handelt sich um die Trauer. Sie ist ein anspruchsvolles Gefühl mit einer Autorität, die dem Trauernden gebietet, sich in sie zu vertiefen und nicht durch oberflächliche Fröhlichkeit ablenken zu lassen; wenn er sich diesem Gebot entzieht, hat er hinterher ein schlechtes Gewissen, weil er seiner Verantwortung für den Ernst der Trauer nicht gerecht geworden ist. (Deshalb wirken die Versuche moderner Psychologen, die »Trauerarbeit« möglichst zu verkürzen, um aus dem Trauernden schnell wieder ein nützliches Glied der Gesellschaft zu machen, so frivol.) Aber nicht nur den Trauernden selbst, der sich gegen voreilige Tröstungsversuche unwillig sträubt, betrifft dieser Anspruch, sondern er strahlt auch als Atmosphäre der Trauer aus. Ich pflege das an dem von mir so genannten sozialen Gefühlskontrast zu zeigen. Wenn ein Fröhlicher ahnungslos in eine Gesellschaft tief trauriger Menschen kommt, wird er bei einiger Feinfühligkeit den Ausdruck seiner Fröhlichkeit etwas dämpfen, vielleicht scheu zurücktreten. Wenn dagegen ein Frischer in eine Gesellschaft von Matten kommt, mit denen er 229 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leib und Gefühl

etwas vorhat, wird er solche Zurückhaltung weniger angebracht finden; er wird sie mit Anrufen oder Berührungen aufzurütteln suchen und, wenn das nichts hilft, ihnen vielleicht eine Stärkung reichen oder den Arzt herbeiholen usw. Frische passt zu Fröhlichkeit, Mattigkeit zu Trauer; daher gibt es Anlass, nach dem Grund dieses Kontrastes zu fragen. Respekt vor den Trauernden kann es nicht sein, denn der würde im Gegenteil dazu verleiten, sie aufzurichten, um ihnen die Haltung des Stolzes und der Würde zurückzugeben. Vielmehr ist es die Autorität der Trauer selbst, die als Atmosphäre mit dem Anspruch, den Raum erlebter Anwesenheit ganz auszufüllen, von den Trauernden ausstrahlt und die in dieser Lage minder gewichtige Fröhlichkeit zurückdrängt. Die Mattigkeit erhebt keinen solchen Anspruch und ist weit entfernt davon, den Raum erlebter Anwesenheit ganz auszufüllen; zwar ist sie als Atmosphäre nicht nur den Matten spürbar – eine ganzheitliche, nicht auf Leibesinseln verteilte leibliche Regung –, sondern auch an der Haltung und dem Gehabe der Matten dem Beobachter ablesbar, aber sie beschränkt sich auf den Kreis der Matten, einen Ausschnitt aus dem Raum erlebter Anwesenheit. Was lehrt diese Beobachtung? Gefühle haben nicht nur ergreifende Mächtigkeit, sondern erheben auch Ansprüche, die sich bis zur gebieterischen Autorität für verbindlich (eventuell mit unbedingtem Ernst verbindlich) geltende Normen 155 steigern kann. Dieser Anspruch betrifft insbesondere den Raum der jeweils erlebten Anwesenheit (dessen, was als anwesend erlebt wird), den das Gefühl vollständig zu besetzen verlangt. Wenn dieser Anspruch auf Irradiation sich nicht durchsetzt, entsteht abermals ein Kontrast: Der Unglückliche ist von Pein und Widerwillen über den Glanz eines schönes Tages erfüllt. 156 Vgl. Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg 2012, S. 11– 23: Allgemeine Normenlehre 156 Belege in System der Philosophie Band III Teil 2: Der Gefühlsraum (zuerst Bonn 1969) S. 104 f. 155

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Gefühl und Fühlen

Von den Atmosphären, die Gefühle sind, unterscheiden sich die leiblichen Atmosphären dadurch, dass sie keinen so umfassenden Anspruch stellen: weder vom einzelnen Leib als Atmosphäre von dessen Mattigkeit, Frische oder Behagen, worin alle Leibesinseln eingetaucht sind, noch im gemeinsamen Antrieb solidarischer Einleibung, wenn die Leibesinseln in der ganzheitlichen Regung gemeinsamen Eifers aufgehen.137 Gefühle ergreifen (mit Ergriffenheit als besonderer Form des affektiven Betroffenseins), stellen Ansprüche, die bis zur verbindlichen Autorität für den Betroffenen gelangen können, und beanspruchen insbesondere die totale Erfüllung des Raumes erlebter Anwesenheit. Ihre Eigenart als Atmosphären und unter diesen zeichnet sich damit ab. Ich füge einige weitere Beispiele an. Von der Atmosphäre der Trauer war eben die Rede. Freude erhebt und erleichtert in der Weise privativer Weitung, die den engenden Druck der Schwere zurücktreten lässt. Der materielle Körper verliert nichts von seiner Schwere, aber vom Leib fällt diese weitgehend ab, so dass er einer levitierenden Tendenz folgt: Der Freudige hüpft und springt (»Freudensprung«), er »schwebt in Seligkeit«. Das ist keine eigene Kraftleistung, denn dazu kommt es auch, wenn der Freudige sich, etwa bei der Erleichterung von einer schweren Sorge, in die Freude fallen lässt, mit einer Bewegungssuggestion, die vielmehr nach unten geht. Die Freude selbst als Atmosphäre fängt ihn auf und hebt ihn nicht weniger als den, der von ihr gleich einen kraftvollen Schwung des eigenen Antriebs übernimmt. Ganz deutlich sind die in der Trauer aufgewiesenen Züge im Fall der Scham. Sie strahlt als Peinlichkeit, gleichsam als abgeblasste Randscham, auf die Anwesenden aus, wenn jemand sich beschämend benimmt, ohne sich selbst zu schämen, so dass eine Ansteckung des Gefühls durch ihn ausgeschlossen ist, und doch hat noch diese Randscham eine Autorität, die dem peinlich Berührten ein Verhalten vorschreibt, das in milderer, abgeflachter Form das des katastrophal Beschämten wiederholt: Dieser senkt den Blick, jener kneift die Augen etwas zu und möchte lieber weg 231 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leib und Gefühl

sein. Beim aktuellen Zorn treten wegen seiner stark konvergierenden, auf das Opfer scharf eingestellten Richtung die Züge atmosphärischer Ausbreitung zurück; es gibt aber auch einen Zorn als reine Atmosphäre, die nur durch das Vorgefühl der Furcht hindurch ergreift. »Grimm fasst dich«, ruft der böse Geist Gretchen in der Szene Im Dom des Faust (Vers 3806) zu; von keinem Zornigen ist die Rede, sondern der Zorn (Grimm) ist absolut, wie bei Paulus in der Aufforderung an die römischen Christen, sich nicht zu rächen, sondern »dem Zorn« Raum zu geben« 157 ; er meint zwar den Zorn Gottes, aber mit einer Absolutheit, die dem alten Testament nahe steht, wo Gottes Zorn als Ausfluss, als reißender Strom, der sich aus Gott ergießt, und nicht (nur) als zielgerichtete Strafaktion verstanden wird. 158 »Unheimliche Zornmacht wird gefühlt.« 159 So auch im archaischen Griechenland. Noch vor dem Erscheinen der Rachegöttinnen kommentiert Orestes den in ihm aufkeimenden Wahnsinn mit den Worten: »Nah dem Herzen macht sich Furcht zum Sang bereit, zum Tanz dabei im Ton des Grimms.« 160 Ganz ausgeprägt ist beim Zorn die Autorität, die dazu geführt hat, dass in neuerer Zeit das Wort »Empörung«, das Jakob Grimm noch bloß im Sinn eines Aufruhrs kannte, auf eine Steigerungsform des Zorns, der nach allgemeiner Anerkennung verlangt, umgewidmet wurde. Weniger die Autorität, desto mehr das Atmosphärische ist bei einer Nebenform des Zorns ausgeprägt, beim Ärger, der nicht so konsequent zielgerichtet ist, sondern mehr diffus streut. Dem Geärgerten ist alles ärgerlich, weil in eine Atmosphäre des Ärgers getaucht; er nimmt an lauter Kleinigkeiten Anstoß. Ganz atmosphärisch sind die beiden grundlegenden Gefühle, die allen anderen den Hintergrund geben und von mir als ZuRömerbrief 12, 19 Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, Freiburg 2010, S. 181– 186), auch zu anderen Zeugnissen eines archaischen Zornverständnisses 159 Rudolf Otto, Das Gefühl des Überweltlichen, München 1932, S. 147, bezüglich auf den indischen Gott Manyu (»Zorn«). 160 Aischylos, Choephoren, Vers 1024 f. 157 158

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Gefühl und Fühlen

friedenheit und Verzweiflung bezeichnet werden. Ich beziehe diese Worte nicht auf erreichte oder versagte Wunscherfüllung und Bedürfnisbefriedigung, sondern auf die Erfüllung des Gefühlsraums. Zufriedenheit ist eine dichte, tragende Erfüllung, die der Haltlosigkeit unruhigen Suchens vorbeugt; ein bezeichnendes Beispiel ist das Behagen als Gefühl der Geborgenheit in der Liebe eines Menschen oder eines harmonischen Freundeskreises, das den Ergriffenen als grundierende Atmosphäre seines Lebens begleitet, wohin er auch geht, im Gegensatz zu dem bloß leiblichen, »animalischen« Behagen in der Badewanne oder in einer warmen Stube, wenn es draußen kalt ist. Verzweiflung, von mir ausführlich studiert 161 , ist das Gegenteil der Zufriedenheit; sie bedrängt und beklemmt, leiblich engend wie die Trauer, aber nicht drückend wie diese, sondern haltlos, als eine Atmosphäre der Leere, die dem Ergriffenen nirgends Halt gibt, so dass er unruhig umgetrieben wird und doch nicht von der Stelle kommt. »Angestrengte Trägheit hält uns in Atem.« 162 So sagt es Horaz, der diesen Zustand von sich so beschreibt: »Ich mag nichts hören, nichts lernen, was mir aufhelfen könnte, bin den treuen Ärzten aufsässig, bin gram meinen Freunden, dass sie mich der tödlichen Dumpfheit entreißen wollen. Sag’ ihm, ich tue, was ich als schädlich empfinde, ich fliehe, was ich als heilbringend erkenne; in wetterwendischer Laune schwärme ich in Rom für Tibur, in Tibur für Rom.« 163 Man kann sich die Verzweiflung auch am ennui der Franzosen, einer mit Ekel gemischten Langeweile, verdeutlichen, und an der acedia der christlichen Wüstenväter, die, vom Mittagsdämon getrieben, aus ihrer Zelle liefen, weil sie nicht mehr einsahen, was sie da sollten, weshalb sie da waren. Hier löst ein Eindruck der Sinnlosigkeit die Verzweiflung aus, die aber auch spontan, ohne Reflexion, aus der Umgebung aufsteigen kann. Ich habe in diesem 161 162 163

wie Anmerkung 156, S. 219–244 Horaz, Briefe, 1. Buch, Brief 11 Vers 28: strenua nos exercet inertia. ebenda Brief 8 Verse 8–12, übersetzt von Wilhelm Schöne

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Leib und Gefühl

Sinn die Dämmerungsangst charakterisiert, die fahle, kühle Stimmung des verbleibenden Abends, wenn alles wie hinter Glas entrückt ist, befremdlich, noch anwesend, aber für die leiblichen Richtungen der Zuwendung nicht mehr erreichbar. 164 Den Zusammenhang der beiden Seiten des Gefühls, als räumlich ergossene Atmosphäre und leiblich ergreifende Macht, kann man besonders gut erfassen, wenn sie auseinandertreten. In Goethes Faust ruft Faust, Gretchens Zimmer als lüstern verliebter Spion betretend, spontan aus: Wie atmet rings Gefühl der Stille, Der Ordnung, der Zufriedenheit! 165 Niemand ist in dem Zimmer, als Faust es betritt; eine Übertragung durch Ansteckung von einem Anderen kommt also nicht in Frage. Was Faust betroffen macht, ist eine in dem Zimmer räumlich verbreitete Atmosphäre des Gefühls, eingebettet in eine zuständliche Situation stiller Ordnung. Er ist offen für diese Atmosphäre; ob sie ihn nur flüchtig anweht oder doch (aber nicht durchdringend) ergreift, wird nicht ganz klar. Leicht kann man sich aber einen Faust vorstellen, der von dem vielsagenden Eindruck dieses Ensembles tief betroffen wäre und an seiner lüsternen Skrupellosigkeit irre würde. Die Atmosphäre, die er anfangs bloß wahrnahm, wäre dann als ergreifende Macht auf ihn übergegangen. Entsprechendes könnte einem zerrissenen oder bösartigen Menschen in der friedvollen, einsamen Stille eines Kirchenraumes widerfahren, oder dem ernsthaften Besucher einer albernen Festveranstaltung (Karnevalssitzung, Popstarjubel u. dgl.), der von der aufdringlichen Atmosphäre erst abgestoßen wird, bis er schließlich selbst hineingerät. Das Fühlen eines Gefühls ist also auf zwei Weisen möglich: als bloßes Wahrnehmen der Atmosphäre und als Ergriffenheit durch System der Philosophie Band III Teil 1 (zuerst 1967): Der leibliche Raum, S. 153–166; Atmosphären, Freiburg 2014, S. 65–69 165 Vers 2691 f. 164

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Gefühl und Fühlen

sie. Der Übergang von der ersten zur zweiten Form der Gegebenheit ist besonders lehrreich, weil er zum Beweis dafür dienen kann, dass wirklich die Atmosphäre selbst das ist, was den Betroffenen ergreift und damit sein eigenes, von ihm übernommenes Gefühl ist. Gerade das Auseinandertreten in zwei Formen der Gegebenheit sichert die Identität des so Gegebenen. Dabei ist zu beachten, dass das Gefühl nicht etwa dadurch, dass es sich vor dem Ergreifen zeigt, zum Ding mit dreifacher oder mittelbarer Kausalität (gegliedert in Ursache, Einwirkung und Effekt) wird. Die Kausalität des Ergreifens gestattet nämlich keineswegs die Trennung von Ursache und Einwirkung (etwa Stein und Stoß), sondern das ergreifende Gefühl ist selbst als Halbding seine Einwirkung, wodurch es sich in dem Betroffenen einnistet und ihn in Bann zieht. Als ergreifende Atmosphären erweisen sich die Gefühle auch in der menschheitsweiten Kulturleistung des Wohnens, die nicht nur der Beherbergung von Menschen zum Schutz durch Mauern vor Wind, Wetter und Feinden dient, sondern Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum ist 166 , nicht nur als häusliche Wohnung, sondern z. B. auch als Kirche (im Sinn des Innenraumes), als japanisches Teehaus, als Garten. Da Gefühle in randloser Ergossenheit den Raum erlebter Anwesenheit ganz für sich beanspruchen, müssen sie, um für Menschen gestaltbar zu werden und nicht ins Unübersehbare, sofern es als anwesend erlebt wird, zu entweichen, durch Umfriedung in einen beschränkten Raum erlebter Anwesenheit eingefangen werden. Dort erfolgt die Gestaltung mit Hilfe von Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren als leibnahen Brückenqualitäten, von denen die Gefühle ähnlich Besitz ergreifen wie ergreifend von Leibern, z. B. im Fall von Brechts mit suggestivem Gefühl geladenen Ausruf »Hallo«125, der ohne seinen synästhetischen System der Philosophie Band III Teil 4: Das Göttliche und der Raum, zuerst 1977, S. 258–308: Wohnen als Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum

166

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Leib und Gefühl

Charakter belanglos gewesen wäre. Mit diesen Werkzeugen, die den Einlass der Gefühle in die Umgebung regulieren, verschaffen sich Menschen durch Züchtung oder Dämpfung von Gefühlen ein Gefühlsklima als Atmosphäre, in der sie sich aufhalten wollen, um sich von ihr berühren oder – wie in der Kirche – ergreifen zu lassen. In der häuslichen Wohnung dient dazu u. a. die Gestaltung der Wände, der Decke und des (blank belassenen oder mit Teppich belegten) Fußbodens, die Möblierung, die Regelung des Lichteinfalls, der Temperatur und der Geräusche. Während die häusliche Wohnung auch noch der Beherbergung, die Kirche dem Gottesdienst gewidmet ist, ist der Garten als Kunstgarten im Sinn der Gartenkunst ganz nur der Kultur der Gefühle durch ein angenehmes und erhebendes Gefühlsklima dienstbar. Einen Überblick über die Gefühle gewinnt man durch deren Schichtung, die, bezogen auf ihre Räumlichkeit als Atmosphären, die Struktur des Gefühlsraumes ist. Die Grundschicht wird von Zufriedenheit und Verzweiflung gebildet, Gefühlen, die nur erfüllte oder leere Weite sind, ohne in die Weite eingetragene Richtungen. Jedes Gefühl, unabhängig von seinem Typ, ist auch ein Gefühl von Zufriedenheit oder Verzweiflung. Auf diese Grundlage sind die gerichteten Gefühle eingetragen, die aber zunächst noch nicht thematisch gerichtete sind. Ein Thema im hier gemeinten Sinn ist ein von einer direkten Zuwendung angezielter einzelner Gegenstand oder auch eine zusammenhängende Gruppe solcher einzelner Gegenstände. Die Richtungen der Gefühle aus der zweiten Schicht sind aber diffus, Zuwendungen ohne Ziel. Beispiele sind die zentripetale Bangnis, die den Ergriffenen mit einer unbestimmten, allseitigen Bedrohung bedrängt, und die zentrifugale Sehnsucht, die unbestimmt ins Weite hinaus will, ohne Ziel. Das Zentrum ist in beiden Fällen der Betroffene, aber er ist dabei nicht thematisches Zentrum, sondern in einseitiger Einleibung so fixiert an das dominante Gefühl, dass er sich sich selbst nur indirekt, durch dieses vermittelt, zuwendet, obwohl er sich eindringlich spürt. Dem236 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Gefühl und Fühlen

gemäß gehen die Richtungen der Sehnsucht mehr durch ihn hindurch, als dass sie in ihm als abgehobenem Mittelpunkt einer Selbstzuwendung ihren Ursprung hätten. Bangnis und Sehnsucht verschmelzen in einem sowohl zentrifugal als auch zentripetal gerichteten Gefühl, das in der Goethezeit gern mit dem Merkwort »ahnungsvoll« gekennzeichnet wurde (etwa von Goethe, Hölderlin, E. T. A. Hoffmann): einem Gefühl gesteigerter, aber ambivalenter Bedeutungsfülle, die mit unbestimmten Verheißungen und Bedrohungen schwanger ist. Löwy154 sprach von Erwartungsgefühl. Dieses Gefühl ist ein Leitmotiv der beginnenden schizophrenen Psychose. Hölderlin, in der genialen Phase seiner beginnenden Psychose, gibt ihm in der ersten Strophe seines Hymnus Germanien deutlichen Ausdruck: Denn voll Erwartung liegt Das Land und als in heißen Tagen Herabgesenkt, umschattet heut Ihr Sehnenden! uns ahnungsvoll ein Himmel. Voll ist er von Verheißungen, und scheint Mir drohend auch, doch will ich bei ihm bleiben Zu dieser zweiten Schicht ziellos gerichteter Gefühle gehören auch die gegenstandslose Freude und Trauer, von der manche Zyklothymiker umstandslos befallen werden; Mörike beschreibt diese Ausgesetztheit gut in seinem Gedicht Verborgenheit. Wegen ihrer Weite als Atmosphären bezeichne ich alle Gefühle als Stimmungen. Zufriedenheit und Verzweiflung sind die reinen Stimmungen, weil sie noch keine Richtung haben. Gerichtete Gefühle bezeichne ich als Erregungen. 167 Die eben beschriebenen Gefühle sind reine Erregungen, weil sie noch nicht thematisch zentriert sind. Ein Gefühl ist thematisch zentriert, wenn es dem affektiv von ihm Betroffenen ein Thema (oder Themen) für seine Zuwendung anbietet. Die Richtungen der Gefühle haben Das naheliegende Fremdwort »Emotion«, das insbesondere Aufwallungen bezeichnet und z. B. für Sehnsucht nicht passt, ist mir zu vieldeutig.

167

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Leib und Gefühl

mit den leiblichen Richtungen die Unumkehrbarkeit gemein, aber sie führen nicht wie diese aus der Enge in die Weite, sondern kommen aus der Weite hervor, aber ohne Quelle ihres Ursprungs, und gleichen damit dem Wind und der reißenden Schwere. Wie diese Halbdinge kommen sie über den Betroffenen, der ihnen doppelt ausgesetzt ist, durch seine Ergriffenheit und dadurch, dass er sie nicht zu einer Quelle ihrer Herkunft zurückverfolgen kann, um sich mit dieser auseinanderzusetzen. Aus diesem Grund nenne ich solche Richtungen abgründig und spreche metaphorisch von der Windnatur der Erregungen. Die dritte, besonders reich besetzte Schicht des Gefühlsraumes wird von den thematisch zentrierten Gefühlen (oder Erregungen) gebildet. Sie wurden in der älteren Phänomenologie, etwa von Bollnow, als die eigentlichen Gefühle, die einen Gegenstand hätten, von den gegenstandslosen Stimmungen unterschieden. Das ist viel zu einfach. Damit leistet man dem Vorurteil Vorschub, Gefühle mit Denken und Wollen auf das Niveau intentionaler Akte zu versetzen150 und als persönliche Stellungnahmen zu einem bestimmten Gegenstand misszuverstehen. Besser ist es, sich den thematisch zentrierten Erregungen mit einem gestaltpsychologischen Begriffspaar zu nähern. Dann bemerkt man, dass die Rede vom Gegenstand eines Gefühls in den meisten Fällen doppeldeutig ist, weil dieser Gegenstand nach zwei Seiten gegabelt ist. Der Gestaltpsychologe Wolfgang Metzger unterschied in seiner Analyse zentrierter, hauptsächlich optischer, Gestalten zwischen Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt. 168 Verankerungspunkt ist für ihn die Stelle, von wo her die Gestalt sich anschaulich aufbaut. Verdichtungsbereich die Stelle, wo sich ihr Gepräge anschaulich sammelt, beim Blatt etwa jener der Ansatz am Stiel, dieser der gezackte Umriss. Ich habe seine Unterscheidung mit einiger Abänderung auf Gefühle übertragen. Im Fall der Freude ist der Unterschied sogar in der gewachsenen Sprache durch Präposi168

Wolfgang Metzger, Psychologie, 5. Auflage Darmstadt 1975, S. 178–183

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Gefühl und Fühlen

tionen markiert. Es gibt Freuden über etwas (etwa einen beruflichen Erfolg) und Freuden an etwas (etwa am Anblick einer schönen Landschaft), die nicht auch Freuden an und über etwas sind. Der Kandidat, der eine Prüfung eben glimpflich bestanden hat, freut sich über die ihm dadurch eröffneten Aussichten, der Kandidat mit glänzendem Prüfungsverlauf dagegen, sowohl an der bestandenen Prüfung als auch über diese. Ebenso gibt es viertens gegenstandslose Freuden. Im Falle der Furcht vor einem potentiellen Mörder ist dieser der Verdichtungsbereich, der Tod der Verankerungspunkt der Furcht, und der Mörder nicht nur als Agent des Todes, wie ein beiläufiger Gehilfe, sondern als die Hauptsache, weil in der zentrierten Gestalt der Verdichtungsbereich und nicht, wie in der Überlegung, der gefürchtete Effekt im Vordergrund steht. Dem Zorn ist Verdichtungsbereich das Wesen (bei Personen immer ein Lebewesen), dem man zürnt, Verankerungspunkt dagegen der Sachverhalt, worüber man zornig ist. Im Fall der Scham ist Verankerungspunkt das Beschämende – ein Makel, ein Versagen –, Verdichtungsbereich aber der Beschämte, der sich aber nicht immer schämt, da es auch beschämte Unverschämte gibt. Was ist in allen diesen Fällen der Gegenstand des Gefühls? Man wird kaum einen Grund dafür finden, sich zwischen den beiden Möglichkeiten zu entscheiden. Der Fall der Liebe liegt etwas anders. In meiner Analyse der Liebe und ihrer Geschichte 169 habe ich den Wendepunkt beschrieben, der im hohen oder späten Mittelalter – genauer: seit Gottfried von Straßburgs Tristan – dadurch eintritt, dass der Verdichtungsbereich den Verankerungspunkt abwirft. Bis dahin wurde nach dem herrschenden Verständnis um eines Verankerungspunktes willen – des Guten (Platon), Gottes (Augustinus), der Schönheit, der Tugend, des Anstandes der geliebten Frau (Minnesänger) halber – geliebt, was zuerst Gottfried nachdrücklich verwirft; seither wird das geliebte Wesen um seiner selbst willen geliebt, ohne Stütze in einem Verankerungspunkt. 169

Hermann Schmitz, Die Liebe, Bonn 1993

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Leib und Gefühl

Für Gestalten im Sinne der Gestaltpsychologie ist das Bedürfnis nach Abrundung, nach Vollständigkeit, bezeichnend, so wie im Distichon der Hexameter den Pentameter hereinruft. 170 Das Entsprechende zeichnet sich an den Gefühlen ab, wenn der Verdichtungsbereich, den ich im Gegensatz zu Metzger, der freilich nicht an Gefühle dachte, für trennbar vom Verankerungspunkt halte, ohne Verankerungspunkt durch seine Unabgeschlossenheit auffällt. Das ist beim Grauen der Fall. Grauen ist ein Entsetzen, d. h. eine mit leiblicher Angst erlebte Furcht mit einem Verdichtungsbereich, den man fürchtet, aber ohne Verankerungspunkt, der Aufschluss darüber gäbe, wovor man sich zu fürchten hat. Wegen dieses Fehlens ist das Grauen unheimlich, weil man den Inhalt oder Sinn der Bedrohung nicht erfährt. Im Grimm’schen Märchen vom Räuberbräutigam wird die Braut von dem ihr unheimlichen Bräutigam, vor dem sie Grauen empfindet, in ein Haus geführt, in dem eine Stimme ihr zuruft, dass sie in einem Mörderhaus ist. Damit hat das Grauen seinen Verankerungspunkt gefunden, den Tod von Mörderhand, und ist zur konsolidierten, abgerundeten Furcht geworden. Das Beispiel macht einen Grund dafür deutlich, warum ich für das Verständnis thematisch zentrierter Erregungen die gestaltpsychologische Auffassung der intentionalen vorziehe: Die Leistung der thematisch zentrierten Gefühle besteht darin, Atmosphären des Gefühls, die bereits von Richtungen durchzogen sind, eventuell durch Vorstufen hierdurch eine abgerundete Gestalt zu geben. Dafür genügt manchmal, wie dem neueren Liebesverständnis, ein Verdichtungsbereich; in anderen Fällen, wie beim Grauen, ist die Gestalt als bloßer Verdichtungsbereich noch nicht geschlossen und dadurch unheimlich, während der Verankerungspunkt sie schließt und dadurch in diesem Fall dem Bedrohlichen die Unheimlichkeit nimmt. Ich schließe nun die Behandlung der Gefühle und wende mich zum Fühlen. Ich unterscheide genau zwischen dem Gefühl 170

Vgl. dazu das Gedicht von Mörike: Häusliche Szene

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Gefühl und Fühlen

und dem Fühlen eines Gefühls. Ob es Gefühle gibt, die niemand fühlt, können wir nicht wissen, so wenig, wie wir entscheiden können, ob es Farben gibt, die niemand sieht. Wir kennen nur gefühlte Gefühle. Dieses Fühlen kann ein bloßes Wahrnehmen sein, das zwar durch antagonistische Einleibung an dem wahrgenommenen Gefühl teilnimmt, aber ihm fremd bleibt. Es kann sich um ein bloßes flüchtiges Berührtwerden handeln, wobei das Gefühl das affektive Betroffensein nur streift und nicht in es eingeht. Die dritte und wichtigste Chance des Fühlens ist die Ergriffenheit. Dann geht das Gefühl so in das affektive Betroffensein des Betroffenen ein, dass das, was er als sich selbst dabei spürt, vom Gefühl eingenommen ist. In diesem Sinn ist es zu seinem eigenen Gefühl geworden. Das hat nichts mit Einlagerung des Gefühls in seinem Inneren zu tun, in so etwas wie Seele, Gemüt, Bewusstsein. Ein solches Inneres wäre ihm ein Äußeres, nämlich etwas, wozu er selbst erst irgend einen Zugang finden müsste. Statt dessen durchdringen ergreifende Gefühle ihn selbst, den Bewussthaber. Ein Gefühl, das in diesem Sinn das eigene ist, muss man am eigenen Leib spüren. Die Ergriffenheit ist immer leiblich, wie der Bewussthaber selbst, der nur aus der Quelle seiner Leiblichkeit Person sein kann (3.5). Zum Erweis dieser These dient mir die erstaunliche Gebärdensicherheit des Ergriffenen. Der Freudige lebt seine Freude mit lachenden Augen, heller Stimme, beschwingtem Gang, befreitem Atem aus. Der Kummervolle versteht sich darauf, zu stöhnen und schlaff wie gebrochen zu sitzen, der Beschämte weiß den Blick zu senken und zu erstarren, der Zornige mit blitzenden Augen, schneidender Stimme und geballten Fäusten seinem Gegner gegenüberzutreten, der Verzweifelte gellend aufzulachen usw. Das sind komplizierte Arrangements, die jemand, der nicht so ergriffen ist, nur mühsam oder mit Kunst einigermaßen glaubhaft nachstellen könnte, aber dem Ergriffenen gelingen sie, und sei er noch so ungeschickt, ohne Anstrengung ganz von selbst. Offenbar gibt ihm das ergreifende Gefühl die passenden Bewegungssuggestio241 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leib und Gefühl

nen ein. Man darf diesen Zusammenhang aber nicht zu eng sehen. Obwohl Gefühle nur durch leibliche Regungen hindurch ergreifen, entspricht keineswegs jedem Gefühl eine ihm und nur ihm zugeordnete leibliche Regung. Auch sind daran nicht nur teilheitliche, auf Leibesinseln untergebrachte leibliche Regungen beteiligt, sondern in großem Umfang auch ganzheitliche leibliche Regungen, z. B. den ganzen Leib durchziehenden Haltungen und Gebärden, in denen die davon angesprochenen Leibesinseln nur eine Nebenrolle spielen. Eine einzige, aber bezeichnende Ausnahme von der dadurch Gefühlen eingegebenen Gebärdensicherheit macht das Mitleid. Es ist meist nicht so lebhaft, dass es aus dem Zwiespalt zwischen einem bloßen Anflug und der Ergriffenheit ganz herauskäme. Mit der vollen Ergriffenheit fehlt dann auch die Gebärdensicherheit. Wer seinem Mitleid Ausdruck geben will, muss sich oft verlegen fragen, wie er dafür die richtige, zugleich taktvolle und dennoch persönlich zugewandte, nicht stereotype Form finden soll. Nur wenn einmal das Mitleid so spontan und stürmisch ist wie eigenes Leid, entfällt das Problem, und die Gebärde, die Form des Ausdrucks, versteht sich von selbst. Die Gefühle greifen in erster Linie leiblich beim vitalen Antrieb an. Sie haben es leicht, wenn dieser formbar ist, entweder durch den Rhythmus des Schwingens vom Übergewicht der Engung oder Weitung oder durch deren Abspaltbarkeit nach beiden Seiten. Daher sind von den drei Typen mit verschiedener Bindungsform des Antriebs in der leiblichen Disposition (3.5) die Zyklothymiker und die Schizothymiker für die Ergriffenheit besser begabt als die Bathmothymiker, deren kompakter Antrieb schwerer aufzurühren ist. Die Schizothymiker haben allerdings mit der Abspaltung privativer Weitung eine Distanzierungsmöglichkeit, die aber erst nach der Anfangsphase der Auslieferung des eigenen Impulses an das Gefühl zum Zuge kommt. Ihre auf Spaltbarkeit des vitalen Antriebs beruhende leichtere Ergreifbarkeit dürfte im Allgemeinen etwas unstetiger, gleichsam eckiger ausfallen als die weicher schwingende rhythmische 242 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Gefühl und Fühlen

Reaktion der Zyklothymiker. Die Gefühle können aber auch am gemeinsamen vitalen Antrieb solidarischer Einleibung angreifen, manchmal mehr als direkt am eigenen Leib eines Individuums. Panische Flucht, stürmischer Mut und gemeinsame Begeisterung geben davon ebenso Zeugnis wie das gemeinsame Singen, das zunächst eine ganzheitliche leibliche Atmosphäre solidarischer Einleibung um die Singenden ausbreitet, die aber wie von selbst von Gefühlen befallen wird und dann wie eine Stimmungsglocke den Chor umhüllt. Nichts eignet sich so sehr wie das gemeinsame Singen von Volksliedern, Kirchenliedern, Kampfliedern, gemeinsame Ergriffenheit anzustiften. Das ändert aber nichts daran, dass diese immer nur am eigenen, in die solidarische Einleibung integrierten Leib jedes einzelnen Sängers zum Zuge kommt. Die dritte Komponente des Fühlens, nach der Wahrnehmung des Gefühls und nach der Ergriffenheit, ist die persönliche Stellungnahme, die einsetzen kann, wenn die Anfangsphase mit unspaltbarem Verhältnis von Mensch und ergreifendem Gefühl verflogen ist und die Person durch Spaltung des Verhältnisses eine Beziehung zu dem Gefühl aufnehmen kann. Dann kann sich aus Preisgabe und Widerstand sowie deren Mischung ein mehr oder weniger kultivierter, auch von der Kultur und Gesellschaft, in der das Individuum lebt, mitgeformter Stil des Umgangs mit Gefühlen bilden, ein persönlicher Stil des Fühlens. Damit hängen die großen Unterschiede der Empfindlichkeit für Gefühle zwischen Menschen hauptsächlich zusammen. Einzelne Episoden der Lebensgeschichte, in der persönlichen Situation auch über das Einwachsen durch Vergessen (d. h. Entkleidung von der Form der Einzelheit und numerischen Mannigfaltigkeit) hinweg fortwirkend, können bei dem einen Menschen Gefühle wecken, die bei dem anderen mangels solcher Erfahrungen stumm bleiben. Außerdem ist die Gesamtform der persönlichen Situation der Empfänglichkeit für Gefühle mehr oder weniger günstig. Manche wehren mit ihrer Fassung solche Empfänglichkeit ab und entziehen sich der Stimme ihres Leibes, sofern er für 243 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Leib und Gefühl

Gefühle offen ist, obwohl auch sie von der leiblichen Verwurzelung ihres Personseins nicht loskommen. Andere bilden ihren Leib zur Resonanz auf Gefühle aus. Es gibt auch Stile solcher von kollektiven leiblichen Dispositionen getragenen Unterschiede der Resonanzfähigkeit für Gefühle, die Populationen, ja Generationen und Zeitalter prägen können. 171

Vgl. Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 113–120: Leib und Geschichte

171

244 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

4. Welt

4.1 Die Vorgeschichte der Welt Die Welt, die ich in diesem Kapitel behandle, ist das singulare tantum, die Welt, die es nur einmal gibt. Was gehört zu ihr? Die übliche Antwort lautet: »alles« (mit Ausnahme eventuell des Transzendenten, das manche Gläubige »über« der Welt annehmen). Markus Gabriel nennt sie in seinem Buch Warum es die Welt nicht gibt (Berlin 2013) »den Bereich aller Bereiche«. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie lese ich am Anfang des Artikels Welt: »Von jeweils einer Welt als sinnvoller Ganzheit kann die Welt als Totalität alles Seienden unterschieden werden.« 172 Der Sinn des Wortes »alles« ist dieser: Etwas ist alle x, wenn etwas, falls es ein x ist, dazu gehört, und, falls es nicht ein x ist, nicht dazu gehört. Nach der Formulierung von Rentsch könnte also nur Seiendes zur Welt gehören. Das ist nicht haltbar. In der Welt mischen sich unzertrennlich Seiendes und Nichtseiendes. Sonst könnte es in ihr z. B. kein Entstehen und Vergehen geben, denn Entstehen ist Übergang dessen, was noch nicht ist, ins Sein und Vergehen Übergang dessen, was ist, in etwas, das nicht mehr ist. Die schmale Scheibe dessen, was dazwischen ist, wäre ein winziger, nicht abtrennbarer Ausschnitt der Welt ohne die Dynamik des Entstehens und Vergehens. Nun wird dieses von Metaphysikern und (neuerdings) von Physikern für Schein erklärt, aber davon ist wenig zu halten, wie sich noch zeigen wird. Außerdem gehört aber noch viel anderes Nichtseiendes zur Welt, z. B., was die Menschen träuHistorisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter, K. Gründer, G. Gabriel, Band 12, Basel 2004, S. 407 (Formulierung von Th. Rentsch)

172

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Welt

men und nachher als nicht seiend durchschauen, was übrig bleibt, wenn sich Hoffnungen und Befürchtungen als Illusion erweisen, fiktive Phantasieinhalte. Dem Eingeständnis, dass auch dieses zur Welt gehört, pflegen Anhänger der These von Rentsch172 mit der Behauptung auszuweichen, in solchen Fällen gehöre nicht der Inhalt der Täuschung oder Fiktion, sondern nur die entsprechende Bewussthabe zur Welt. Diese Reservation kann so lange gelten, wie man die Bewussthaben im Zuge der Weltspaltung in einem Bewusstsein oder einer Seele ablagert, gleichsam verdickt zu Zuständen dieses Mediums. Das ist aber ganz überflüssig und wird widerlegt durch das Beispiel des affektiven Betroffenseins, das nicht in einem Inneren – einem Geist nach Art eines Theaters, wie Hume meinte – abgelagert wird, wozu der Bewussthaber, dessen Stellung zu seinem Inneren bei Philosophen unklar und umstritten ist, erst noch einen Zugang finden müsste; viel mehr wird der Bewussthaber selbst, dem etwas nahe geht, unmittelbar affektiv betroffen. Und was kann nicht alles affektiv betroffen machen? Sogar nüchternste Sachzusammenhänge, in den Augen eines mathematischen oder naturwissenschaftlichen Entdeckers. Wenn aber die Bewussthaben (vulgo Vorstellungen) keine Ablagen in einer Innenwelt sind, sondern bloß Beziehungen des Bewussthabers auf das, was ihm bewusst ist, dann ist die Bewussthabe leer ohne diesen Inhalt seines Bewusstseins (d. h. Bewusstgehabtwerdens) oder höchstens noch eine persönliche Stellungnahme dazu, die ohne ihren Inhalt eine Stellungnahme zu nichts wäre. Dieser bewusste Inhalt, auch wenn er, wie bei Illusionen, nicht ist, gehört also mit den Bewussthaben unzertrennlich zur Welt. Die Welt ist eine Mischung von Seiendem und Nichtseiendem. Die These, sie sei »die Totalität alles Seienden«, ist also unhaltbar. Sie scheitert auch daran, dass die Welt nicht nur einen Stoff, sondern auch eine Form hat, und dass der Stoff – und sei er auch alles Seiende – auch in anderer Form als in der Form der Welt vorliegen könnte. Was alles ist aber die Welt? Die nächste Antwort lautet: Sie 246 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Die Vorgeschichte der Welt

ist die Totalität alles Einzelnen. Das wäre die passende Antwort für alle Singularisten, die der Überzeugung sind, alles sei ohne Weiteres einzeln, auch das Nichtseiende, wie Leibniz voraussetzt, wenn er behauptet, Gott habe aus allen möglichen Welten die beste als die wirkliche ausgesucht. (Zum Vergleich müsste er alles einzeln vor sich haben.) Der Singularismus ist eine Selbsttäuschung durch Auslassen nötiger begrifflicher Unterscheidungen. Selbst wenn man annimmt (was nicht zutrifft), dass alles absolut identisch ist, folgt nicht, dass alles einzeln ist. Absolut identisch ist, was, wenn vieles ist, von etwas verschieden ist; damit wird nichts über die 1 gesagt, während Einzelheit die 1 und damit die Zahl (und Gattungen mit ihren Umfängen und Fällen) voraussetzt (3.2). Unter den Singularisten stechen besonders die Nominalisten hervor, nach deren Meinung erst einmal einzelne Sachen da sind, aus denen die Menschen durch vergleichende Analyse oder Quasi-Analyse, die Carnap in Der logische Aufbau der Welt so exakt wie möglich logisch zu rekonstruieren unternimmt, einzelne Abstrakta herausfischen, die sie dann zu Abstraktiora kombinieren. Der Grundfehler dieses Versuchs besteht in der Umkehr der Reihenfolge, Gattungen als Abstraktions- und Kombinationsprodukte den einzelnen Fällen nachzuschicken, obwohl Einzelheit nur dadurch möglich ist, dass etwas absolut identisch und zugleich Fall einer Gattung ist (3.2). Da aus der Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung folgt, dass jeder einzelne Gegenstand Bestimmungen hat, die nicht einzeln sind (3.3), würde man mit der These des Singularismus für jeden Gegenstand gewisse Bestimmungen von ihm aus der Welt herauskomplimentieren, was nicht statthaft ist. Schon dadurch erledigt sich der Vorschlag. Die nächste etwas weniger anspruchsvolle Bestimmung des Weltinhaltes könnte lauten: Zur Welt gehört alles Seiende, das Fall einer Gattung ist, einschließlich des Nichtseienden, das vom Seienden nicht abgelöst werden kann. Dieser Vorschlag ist der Aufgabe schon sehr viel besser angepasst, denn er lässt auch das nicht-numerische Mannigfaltige zu, sogar das konfuse, dessen 247 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Inhalte nicht einmal absolut identisch sind. Ferner kann etwas unter Gattungen fallen, wenn es zwar absolut identisch, aber nicht einzeln ist, weil die Gattung nicht auf es als dieses absolut Identische zutrifft, sondern nur auf es unter vielen, so dass universell nicht streuend (für jedes x), sondern nur summarisch (für alle x) quantifiziert werden kann. Der Vorschlag wäre gut, nur lässt er die Frage offen, woher denn die Gattungen kommen. Es hat sich herausgestellt, dass den Menschen ein Bewusstsein einzelner Fälle, wenigstens mit stabiler und zusammenhängender Einzelheit, nur durch Bewussthabe einzelner Gattungen und ihrer Kombination zu Konstellationen möglich ist, und ein Bewussthaben einzelner Gattungen nur, wenn diese aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden und dann zu weiteren Gattungen zusammengestellt werden (2.5). Mit dem Nominalismus ist also auch der Platonismus zu verwerfen, der die Gattungen einfach hinnimmt, als seien sie in einem Ideenhimmel von selbst da. Der dritte Vorschlag hat dieselbe Schwäche wie der zweite, dazu zu verführen, die Ebene der Betrachtung von vornherein zu hoch anzusetzen, auf einem Niveau, wo schon Gattungen für die je nach dem streuende oder summarische Subsumtion von einzelnen oder noch nicht einzelnen Fällen verfügbar sind. Diesen Fehler machen z. B. Naturwissenschaftler – meist naive Singularisten –, die uns als physikalische Kosmologen oder biologische Evolutionstheoretiker darüber belehren, was vor uralten Zeiten geschehen sei, z. B. in den ersten drei Sekunden des Universums nach dem Urknall, als ob es immer so viele einzelne Sekunden und eine in kleinere Abschnitte zerlegbare (extensive) Zeit gegeben haben müsste. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass die einzelnen Fälle, die Gattungen und die Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme), eine Vorgeschichte haben, in der sie aus tieferen Stufen mit andersartiger Ordnungsform im nicht numerischen Mannigfaltigen hervorgehen. Wir können freilich, als Wissenschaftler, nur vom heute erreichten Standpunkt der Vereinzelung aus sprechen, und nur das tue 248 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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auch ich, indem ich Gattungen bereitstelle, die spezifisch auf die tieferen Schichten der Voraussetzung des von uns erreichten höheren Standpunktes zutreffen, so gut, wie ich mit Feststellung objektiver Tatsachen über für jemand subjektive Tatsachen spreche, ohne er zu sein (1.1). In dieser Weise werde ich an die Welt von ihrer Vorgeschichte her herantreten, indem ich mir den dritten Vorschlag – Welt als Inbegriff aller Fälle von Gattungen des Seienden und des ihm anhängenden Nichtseienden zu denken – im Prinzip zu eigen mache, aber abgesehen von der Einschränkung der Welt auf die Perspektive eines Beobachters, der von vornherein über Gattungen verfügt, als wären sie ihm geschenkt, wie vom platonischen Ideenhimmel gefallen, und nicht geschichtlich entbunden. Die ursprüngliche Voraussetzung der Welt ist die primitive Gegenwart, die nach 3.4 den Akzent im absolut konfus chaotischen Mannigfaltigen (2.4.1) setzt, der absolute Identität einführt. Das Urkontinuum, das auf diese Weise unterbrochen wird, kann man sich am Besten am Beispiel der intensiven Steigerung klar machen, wenn etwa etwas Leises lauter, etwas Warmes wärmer wird. Dann kommt viel Lautstärke, viel Wärme hinzu und macht sich als mehr laut, mehr warm bemerkbar, aber dieses Viele ist durch ein absolut unspaltbares Verhältnis so sehr zu einer Masse verschmolzen, dass es aussichtslos wäre, darin nach Verschiedenem zu suchen oder sich gar gegen Verwechslung des einen mit dem anderen schützen zu wollen. Erst mit der primitiven Gegenwart setzt die Verschiedenheitsfähigkeit ein, lange vor der Unterscheidbarkeit, denn Unterschiede gibt es erst, wenn etwas sich »in« etwas – nämlich in den Gattungen, dessen Fall es ist – von etwas unterscheidet, und das ist erst beim Einzelnen der Fall, während bloße Verschiedenheit nicht darauf angewiesen ist, »in« etwas von etwas verschieden zu sein. Die primitive Gegenwart, die die Verschiedenheitsfähigkeit in das Mannigfaltige einführt, ist die Gegenwart, die der plötzliche Andrang des Neuen aus dem absolut konfusen Mannigfaltigen abreißt, indem er Dauer zerreißt und die zerrissene Dauer ins 249 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Vorbeisein, ins Nichtmehrsein, verabschiedet. Genau besehen, wird erst durch diesen Riss das Urkontinuum zur Dauer, die aber nicht total zerrissen wird, sondern, wie sich noch zeigen wird, zum Teil als unzerrissene Dauer der zerrissenen anhaftet und mit dem Riss zusammen die reine Modalzeit, die Zeit des Entstehens und Vergehens noch vor der Gliederung in Früheres und Späteres, ausmacht. Die primitive Gegenwart hat fünf Seiten, deren Zahl aber eine Zutat aus dem Rückblick nach der Vereinzelung ist und in der Verschmelzung der fünf Seiten oder Momente durch absolut unspaltbares Verhältnis untereinander keine Rolle spielt. Ich habe diese fünf Seiten durch die Formel charakterisiert: Hier-jetztsein-dieses-ich. Diese fünf Seiten will ich nun erläutern. Das Hier der primitiven Gegenwart ist die Enge, in die durch den plötzlichen Andrang der Betroffene (die fünfte Seite, das Ich-Moment) getrieben wird, in der Terminologie der leiblichen Dynamik: das Extrem privativer Engung, das der Betroffene im Zusammenzucken spürt. Dies ist ein streng absoluter Ort, der nicht nur ohne Lagen und Abstände, wodurch sich die relativen Orte, die zu sagen gestatten, wo etwas ist, unterscheiden, auskommt, sondern auch ohne das andere, urtümlichere System räumlicher Orientierung, das unter 3.3 als das motorische Körperschema beschrieben wurde, in dem absolute Orte durch unumkehrbare Richtungen verbunden sind. Das Hier der primitiven Gegenwart nimmt am Abriss der Gegenwart aus dem Urkontinuum teil, das ihm gegenüber zur Weite wird, aber nicht am Abschied ins Vorbeisein und damit nicht an der Verwandlung des Urkontinuums in zerrissene und unzerrissene Dauer. Das Jetzt der primitiven Gegenwart ist das Plötzliche im Andrang des Neuen, der Gegenwart aus dem Urkontinuum abreißt, indem er plötzlich ist, d. h. Dauer zerreißt und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein, ins Nichtmehrsein verabschiedet. Durch das Plötzliche wird das Urkontinuum der konfusen Mannigfal250 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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tigkeit zur Dauer und erhält eine zeitliche Seite. Das spezifisch Zeitliche, das dem Raum fehlt, ist der Abschied ins Nichtmehrsein, das Plötzliche. Dadurch wird die Perspektive in die Vergangenheit geöffnet. Wittgenstein weist einmal auf den Zirkel hin, der entsteht, wenn man den Zugang zur Vergangenheit der Erinnerung anvertraut: »Weiß er, dass es Erinnern ist, weil es durch Vergangenes hervorgerufen wurde? Und wie weiß er, dass es Vergangenes ist? Den Begriff der Vergangenheit lernt ja der Mensch, indem er sich erinnert.« 173 Der Fehler, der den vermeintlichen Zirkel verschuldet, steht im letzten Satz. Die Erinnerung findet die Vergangenheit schon vor und füllt sie; eröffnet wird die Perspektive in die Vergangenheit vom Jetzt der primitiven Gegenwart. Von der Vergangenheit wird die primitive Gegenwart durch den Riss des Abschieds getrennt; desto inniger hängt sie mit der Zukunft zusammen, in der Gestalt des in sie eindringenden Neuen. Diese Zukunft ist von anderer Art als die unseres gewöhnlichen Umgangs mit der Zeit. Die Zukunft im gewöhnlichen Sinn ist das Bevorstehende, das noch nicht ist, auf das wir uns aber in der Haltung des Erwartens beziehen, weil wir es vereinzeln. Beziehungen erfordern einzelne Glieder, im Gegensatz zu unspaltbaren Verhältnissen (2.4.2). In der primitiven Gegenwart ist nichts einzeln. Ihre Zukunft ist das Neue, das entsteht, indem es in unspaltbarem Verhältnis in sie eindringt und durch Abreißen und Exponieren Gegenwart erzeugt. Ich bezeichne diese beziehungslose Zukunft als Appräsenz und deren Zusammenhang mit der durch sie hervorgerufenen Gegenwart als Präsenz-Appräsenz. Das Jetzt der primitiven Gegenwart ist der absolute Augenblick ohne Beziehung zum Früheren oder Späteren, zum Vergangenen oder Zukünftigen. Der absolute Augenblick unterliegt Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen Teil 2 Kapitel 13 (Werkausgabe in 8 Bänden, Band 1, Frankfurt a. M. 1984 (7. Auflage 1990), S. 579)

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keiner Metrik, ist weder lang noch kurz, kein Zeitpunkt. Seit der Antike hat man sich mit dem Paradox beschäftigt, das die Wirklichkeit der Zeit bestreitet, weil das Seiende in ihr nur ein dauerloser Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft sei. Dieses Scheinproblem 174 hat mit dem absoluten Augenblick nichts zu tun. Die Verwandtschaft zwischen beiden besteht nur in der Dauerlosigkeit, die dem Zeitpunkt durch Verkürzung der Dauer bis zum Verschwinden zukommt, dem absoluten Augenblick der primitiven Gegenwart aber durch Zerreißen und Verabschieden der Dauer. Das Sein der primitiven Gegenwart (die Wirklichkeit, die Existenz, das Dasein) ist wie jedes Existenz-Inductivum (wie auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) kein Attribut, also belanglos für die absolute Identität einer Sache, dass sie diese und keine andere ist; daher kann dieselbe Sache sowohl (ohne Widerspruch) sein als auch nicht sein, wofür ich das Vergangene, an das man sich erinnert, als Beispiel angegeben habe (2.1). Daraus folgt, dass es kein Kriterium des Seins geben kann, kein Unterscheidungsmerkmal, das, zirkelfrei formulierbar, das Seiende vom Nichtseienden schiede. Ein solches Kennzeichen müsste trennscharf sein; solche Trennschärfe ist unmöglich, wenn etwas, wie das, woran sich jemand erinnert, auf beiden Seiten Platz hat. Man kann die Wirklichkeit nicht in einen zur Unterscheidung genügenden Begriff fassen, sondern nur von ihr gepackt werden. Das Gepacktwerden von der Wirklichkeit in der primitiven Gegenwart hat die Eigenart, dass es ohne Spielraum ist. Die Begegnung mit der Wirklichkeit hat den Spielraum, mehr oder weniger aufdringlich zu sein, und zwar im Allgemeinen je nach dem Maß der leiblichen Engung: Je beengter einer ist, desto näher ist ihm die Wirklichkeit. Die primitive Gegenwart ist das Extrem leiblicher Enge, und deswegen ist die WirkVgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg 2014, S. 168–173

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lichkeit unausweichlich nahe: Man wird von ihr gestellt, wie das Wild auf der Jagd von den Hunden. Das Dieses der primitiven Gegenwart ist das absolut Identische, das durch die Enge (das Hier) und das Plötzliche (das Jetzt) dem Urkontinuum abgewonnen wird. Es ist die Urform absoluter Identität, wie eine durch Abreißen der Gegenwart aus der zerrissenen Dauer exponierte Spitze, gleichsam die verkörperte Negation des Andersseins. Seinen Inhalt gewinnt es an dem fünften, dem Ich-Moment der primitiven Gegenwart mit dem es, wie mit deren anderen Momenten in unspaltbarem Verhältnis zusammenhängt. Das Ich der primitiven Gegenwart ist das, was jemand im affektiven Betroffensein als sich selbst spürt, indem ihm etwas so nahe kommt, dass er unweigerlich merkt, dass er selbst der davon Betroffene ist. In der primitiven Gegenwart hat diese Selbstgegebenheit die besonders reine Form, die durch die Exposition des Dieses im Abriss der Gegenwart, im Hier, Jetzt und spielraumlosen Sein, bereitet wird. Zur Exposition (Aussetzung) des Dieses kommt es, indem etwas aus dem Urkontinuum heraustritt, statt in verschwommenem Gleichmaß des Urkontinuums mitzuschwimmen, und das ist das Ich-Moment, die Subjektivität der primitiven Gegenwart in Gestalt der aktiven Seite des affektiven Betroffenseins, die unter 1.2 als Gesinnung aufgedeckt wurde, als das zum Betroffenwerden, damit es affektiv wird, gehörige, ursprünglich unbeliebige Eingehen auf das, was betroffen macht. Dieses aktiv-passive Doppelgesicht des affektiven Betroffenseins ist also unentbehrlich, um dem absolut Identischen einen Inhalt zu geben, so wie dieses dem Bewussthaber durch sein unspaltbares Verhältnis mit ihm die Mühe erspart, sich selbst zu finden, indem er im regressus ad infinitum immer neuer Identifizierungen hinter sich herläuft. So gehören das Dieses und das Ich der primitiven Gegenwart, absolute Identität und Subjektivität, an der Wurzel unzertrennlich zusammen. 253 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Das Hier, das Jetzt, das Dieses und das Ich entspringen, wie aus der Analyse ersichtlich ist, erst in der primitiven Gegenwart, während das Sein nur in sie eintritt und in ihr das Gesicht der Spielraumlosigkeit annimmt, wodurch es unverkennbar wird. Es hat insofern eine Sonderstellung unter den fünf Momenten. Die primitive Gegenwart ist eine extreme Engung aus der Weite des Urkontinuums. Ihr antwortet, gleichsam als Rückstoß, eine entsprechende Weitung auf drei Schienen: Leib, Raum und Zeit. In der Schiene des Leibes bildet sich der vitale Antrieb aus Engung und Weitung sowie der Gegensatz epikritischer Tendenz zur absoluten Identität und protopathischer Tendenz zum konfusen Mannigfaltigen des Urkontinuums; so entsteht die leibliche Dynamik. In der Schiene des Raumes stehen sich der absolute Ort und die Weite, zu der das Urkontinuum im Verhältnis zum Hier der primitiven Gegenwart geworden ist, gegenüber; der Rückstoß erfolgt in Gestalt unumkehrbarer leiblicher Richtungen, die von der Enge des absoluten Ortes aus in die Weite eindringen, etwa als Blick und motorisches Körperschema. Wie weit dessen Bahnen gespannt sein können, kann man den Bahnen der Zugvögel, die deren motorischem Körperschema eingeprägt sind, entnehmen; zusätzliche Hilfen ihrer Orientierung unterstützen die habituelle Führung durch das motorische Körperschema. In der Schiene der Zeit gelingt der Rückstoß mit Hilfe der unzerrissenen Dauer, die beim Abriss der Gegenwart durch den Andrang des Neuen gleichsam mitgerissen und damit zur Dauer geworden, aber nicht selbst zerrissen, sondern der zerrissenen und ins Vorbeisein verabschiedeten Dauer angeheftet (assoziiert) ist. Aus dem Zusammenwirken des mit der primitiven Gegenwart eingetretenen Bruches und Abschieds mit dem Fortbestand unzerrissener Dauer ergibt sich die Zeit als Konkurrenz von Vergehen und Fortwähren im Wechsel des Entstehens und Vergehens, noch ohne Reihenfolge des Früheren und Späteren und ohne zeitliche Abstände, weil ohne Vereinzelung, die erst beim Übergang zur Welt möglich wird. So etwas wie ein Kompromiss von Vergehen 254 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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und Verweilen ist die zeitliche Gegenwart, die vom Jetzt der primitiven Gegenwart (dem absoluten Augenblick) unterschieden werden muss. Die zeitliche Gegenwart kann vom Zerreißen der Dauer eng zusammengedrückt oder von unzerrissener Dauer gedehnt werden (z. B. in Langeweile), also mehr oder weniger lang sein, wobei Länge nicht metrisch, sondern als mehr oder weniger weit ohne bestimmtes Maß zu verstehen ist; nie aber wird die zeitliche Gegenwart zum bloßen Zeitpunkt, der nur als Gedankending einer Limes-Konstruktion der Verkürzung von Zeitlängen in einer schon bis ins Einzelne gegliederten Zeit höherer Stufe möglich ist. Raum, Zeit und Leib sind demnach Gestaltungen desselben Gegensatzes von Enge und Weite, zur absoluten Identität oder zum konfusen Mannigfaltigen hin. Mit einander beruhen sie auf dem plötzlichen Andrang des Neuen in primitive Gegenwart. Die Zeit beruht auf dem Extrem privativer Engung, wodurch das zur Dauer gewandelte Urkontinuum bis an den Rand des Nichtseins und über eisen Rand hinaus ins Vorbeisein verfolgt wird. Dem Raum entspricht dagegen der vitale Antrieb, in dem Enge und Weite als Engung und Weitung ohne Abschied verbunden und durch Richtung vermittelt sind. So gehören Raum, Zeit und Leib zusammen und dürften ein gemeinsames Schicksal haben. Auf dieser Grundlage bildet sich eine sehr fruchtbare und stabile Lebensform, die mit dem Urkontinuum (z. B. in Gestalt des Dösens), der primitiven Gegenwart (z. B. in Gestalt des Aufschreckens), der leiblichen Dynamik und der leiblichen Kommunikation auskommt und im Wesentlichen das Leben der Tiere umfasst, auch das der Säuglinge umfassen würde, wenn diese als Frühgeburten nicht so unselbständig wären. Der Mannigfaltigkeitstyp dieses Lebens ist die diffus chaotische Mannigfaltigkeit mit absoluter Identität und Verschiedenheit, aber höchstens schwachen Spuren von Einzelheit, und statt mit Beziehungen als Form des Zusammenhangs mit unspaltbaren Verhältnissen, die an Ordnungsfähigkeit den Beziehungen nicht 255 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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sehr nachstehen, aber allerdings weniger wendig in Zerlegung und Zusammensetzung neuer Zusammenhänge sind. Ich nenne dies das Leben aus primitiver Gegenwart. Für Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme, Probleme) ist in diesem Leben reichlich gesorgt, sowohl durch das leiblich-affektive Betroffensein als auch durch die Reibungen in der antagonistischen Konkurrenz von Spannung und Schwellung im vitalen Antrieb und in der antagonistischen Einleibung. Diese Bedeutungen werden im Leben aus primitiver Gegenwart aber nicht oder nur wenig und selten vereinzelt; zu Gestalten treten sie zusammen in Form von Situationen, sowohl aktuellen als auch zuständlichen, die dem tierischen Leben Ordnung und Orientierung geben. Tiere sind in Situationen gefangen; sie werden von ihnen ebenso geführt wie wir Menschen beim flüssigen Sprechen von der Sprache, die wir gerade sprechen, geführt werden, ohne Besinnung und Reflexion, eventuell sogar ohne zu merken, dass es diese Sprache ist. An diesem Modell kann man sich die Art des tierischen Bewussthabens recht gut klarmachen. Die tierische Aktivität besteht darin, dass der vitalen Antrieb des Tieres dem Programmgehalt (Nomos) der jeweils maßgebenden Situationen (einschließlich des Zusammenwirkens aktueller und zuständlicher Situationen) zugewendet wird. Der gewaltige Unterschied von Menschen besteht nur darin, dass der Mensch den Gehorsam gegen die Sprache, die er spricht, zur Darstellung und Kombination einzelner Bedeutungen im Interesse der Verfolgung seiner wechselnden Zwecke benützt, während der Gehorsam gegen Situationen im tierischen Leben sozusagen Selbstzweck ist. Besonders große Bedeutung besitzt in diesem Leben die solidarische Einleibung, da die Tiere durch den gemeinsamen Antrieb der Einleibung in gemeinsame Situationen eingehen und nicht eigenwillig aus ihnen ausscheren können. Aktuelle Situationen halten in solidarischer Einleibung Vogelschwärme zusammen, zuständliche Situationen in Insektenstaaten die Bienen und Ameisen. Zur Vereinzelung einzelner Sachen kann es im Leben aus primitiver Gegenwart kommen, nicht ebenso zur Vereinze256 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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lung und Kombination von Gattungen, die durch Konstellationen die sporadischen Vereinzelungen auffangen und in stabile Zusammenhänge einordnen könnten. Dies ist freilich nur ein Idealtypus tierischen Lebens, der irgend welche Abweichungen, wenn sie beobachtet werden, nicht ausschließen soll. Ich spreche noch kurz die Entwicklung der fünf Momente der primitiven Gegenwart im Leben aus primitiver Gegenwart durch. Der tierische Raum ist ein Richtungsraum, in dem sich die unumkehrbaren, leiblichen Regungen des Blickes und des motorischen Körperschemas mit den ebenso unumkehrbaren Richtungen der Bewegungssuggestionen begegnender Reize kreuzen, beide eingehüllt in Situationen. Die Auseinandersetzung erfolgt durch Einleibung als leibliche Verarbeitung vielsagender Eindrücke, etwa so, wie ich es am motorischen Körperschema des Menschen beim geschickten Ausweichen vor einer in drohender Näherung gesehenen wuchtigen Masse und auf bevölkerten Gehwegen gezeigt habe. Auch abgründige Richtungen, wie der Wind und die reißende Schwere, spielen in den tierischen Richtungsraum hinein; ob Tiere auch von Gefühlen ergriffen werden können, lasse ich offen. Die Zeit des Tieres ist die schon beschriebene, reine Modalzeit mit Entstehen und Vergehen, aber ohne frühere und spätere Daten und Abstände zwischen ihnen. Einen Zukunftshorizont hat das Tier in Gestalt der Programme im Nomos von Situationen, wodurch es auf etwas aus ist, z. B. in Hunger, Durst und Paarungsverlangen; vom menschlichen Erwarten unterscheiden sich diese Programme dadurch, dass sie keine Beziehungen zu einzelnen Gegenständen (oder Bedeutungen) sind, sondern Anweisungen zu antagonistischer Einleibung (z. B. in das zu fressende Beutetier), die mit absoluter Identität ohne Einzelheit auskommt. Das Sein ist im unbegriffenen Gepacktwerden von ihm dem Tier ebenso gegenwärtig wie dem Menschen, aber ohne den weiten Horizont, den diesem die Gegenüberstellung von Sein und Nichtsein zu voller Breite gibt; daher kennen die Tiere keine Phantasie, Planung, Hoffnung und Furcht mit Export der Einzelheit ins Nicht257 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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seiende. Das Dieses der primitiven Gegenwart, die absolute Identität, ist den Tieren vertraut und schützt sie vor Verwechslungen in allen Leistungen flüssiger Motorik ebenso wie den Menschen; dies ist der Bereich, in dem der Mensch, auch der personale, am meisten präpersonal, am meisten Tier ist. Das Ich der primitiven Gegenwart, der affektiv betroffene Bewussthaber, ist bei den Tieren gleichsam nackt, da nicht eingehüllt in eine sich lebenslang entwickelnde persönliche Situation und persönliche Eigenwelt, aus der das Fremde durch Neutralisierung subjektiver Bedeutungen ausgeschieden ist. Solche Neutralisierung ist dem Tier fremd; wenn es etwas Eigenes wie sein Territorium gegen Eindringlinge verteidigt, schützt es seinen Lebensraum, der durch eine es leitende zuständliche Situation seiner Lebensführung zugewiesen ist, in antagonistischer Einleibung gegen Feinde, denen es in gemeinsamem vitalen Antrieb verbunden ist. Tiere haben keine persönlichen Erinnerungen, wohl aber Gedächtnisse, die bei ihnen als spezielle Situationen nicht einer persönlichen Situation, sondern der leiblichen Disposition angeschlossen sind. 175

4.2 Übergang zur Welt Das Leben aus primitiver Gegenwart, mein Idealtypus vom Leben der Tiere, ist eine sehr stabile und erfolgreiche Lebensform, die keiner Ergänzung bedarf. Man wende nicht ein, zusätzlich zu den Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, in denen die Tiere gefangen sind, müssten weitere Umstände aus der Welt herbeigeschafft werden, um dieses Leben möglich zu machen, etwa Sonne, Erde und Meer und alles, was die Naturwissenschaft mit Hilfe allgemeiner Naturgesetze an zusätzlichen Voraussetzungen bereithält. Damit macht man die Perspektive des Vgl. Hermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg 2010, S. 132–136: Erinnerung und Gedächtnis

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vernünftig denkenden und sprechenden Menschen ohne Rechtfertigung zum allgemeingültigen Kanon. In dieser Perspektive gibt es lauter Einzelnes in numerischer Mannigfaltigkeit, das durch Beziehungen verknüpft ist, z. B. einzelne relative Orte, wo etwas ist, einzelne relative Augenblicke, wann etwas ist, einzelne Menschen, Bäume, Gattungen, Zahlen usw. Das gehört zur Weltform; der Stoff der Welt, der so geformt ist, kann ebenso gut in anderer Form vorliegen, so dass z. B. das, was wir »Sonne, Erde, Meer« nennen, nicht so abgeteilt wie für uns in einem einzigen Ganzen (der Welt) zusammensteht, durch Beziehungen verknüpft, sondern aufgeteilt in Situationen eingefangen ist, die durch integrierende binnendiffuse Bedeutsamkeit dem Leben Orientierung geben. Das ist keine Phantasie und auch keine bloße Interpretation des Lebens der Tiere, denn es hat sich schon herausgestellt (2.5), dass einzelne Gattungen, ohne deren Anwendung die breitgestreute Einzelheit in der Welt den Menschen nicht aufgehen könnte, ihnen nicht zu Bewusstsein kämen, wenn solche Gattungen nicht aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen, ursprünglich also aus dem Leben aus primitiver Gegenwart, geschöpft werden könnten. Die Bibel und die Stoiker haben das Nachsehen: Das Leben der Tiere, das Leben bloß in Situationen, ist nicht auf den Menschen angelegt. Dass dieser sich der Führung durch den Nomos von Situationen entledigen und eigene Konzepte in Form von Konstellationen dagegen setzen kann, ist ein unvorbereitetes Ereignis, das durch sein satzförmiges Sprechen ausgelöst wird. Nur auf diese Weise können Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen herausgelöst und einzeln identifiziert werden. Dafür bedarf der Mensch einer Sprache, die ihm Sätze zur Verfügung stellt, d. h. Regeln, nach denen handelnd der sprechende Mensch einzelne Bedeutungen explizieren und durch Beziehungen zu Konstellationen vernetzen kann. Ein sehr altes und weit verbreitetes Vorurteil besagt, die Sprache sei in erster Linie zur Verständigung (speziell zur Mitteilung von Gedanken) da. »Der 259 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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soziale Charakter der Rede und die Übermittlung von Gedanken durch das Wort« behaupten nach Ammann 176 heute »die grundlegende Stellung in der Betrachtung sprachlicher Erscheinungen.« So macht man einen Nebeneffekt des menschlichen Sprechens zur Hauptsache. Was dieses zur tierischen Rede hinzubringt, ist nicht die Verständigung, denn dazu bringen es die Tiere mit ihren Rufen und Schreien auch, wenngleich anders, nämlich durch Umgang mit unzerlegten Situationen. Das Neue an der menschlichen Rede ist ihre explikative Leistung, die Entbindung und Vernetzung einzelner Bedeutungen. Dazu gelangt der Mensch aber nicht durch eigene Erfindung, sondern, indem er den Regeln, d. h. den Sätzen, einer Sprache folgt. Dadurch (nicht durch grammatische Gliederung, die üblich, aber prinzipiell entbehrlich ist) wird die menschliche Rede satzförmig. Eine Sprache ist eine Situation, die nur aus ihrer Bedeutsamkeit in Form eines Nomos besteht, nämlich aus Regeln – d. h. Nomen (Programmen für möglichen Gehorsam) mit beliebiger Wiederholbarkeit des Gehorsams – für die Darstellung und Kombination einzelner Sachverhalte, Programme und/oder Probleme in der Rede. In diesem Sinn haben die Tiere keine Sprache, wenn auch eine Rede aus unterschiedlichen Lauten mit spezifischer Auslösewirkung. Wie kommen die Menschen an die Sprache, den Schlüssel zum Aufschließen der Tür des Gefängnisses der Situationen, in dem die Tiere steckenbleiben, von innen? Das ist das übel beleumdete und schon längst als unlösbar abgetane Problem vom Ursprung der Sprache, ein echtes Problem, da Sprache dem Menschen offenbar nicht angewachsen und auch nicht durch Sprechen, wie Gang durch Gehen, erworben worden ist, weil die Sprache als zuständliche Situation schon da sein muss, damit ihr sprechend gehorcht werden kann. Von dem Ursprung der Sprache zu sprechen, ist freilich unangemessen; es kann mehr Hermann Ammann, Die menschliche Rede, zuerst Lahr 1928, Nachdruck Darmstadt 1969, S. 128

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als einen Ursprung gegeben haben, vor allem für rudimentäre Sprachen, die nur einen schmalen Bestand einzelner Gattungen freisetzen, und vielleicht auch nur unreifer, erst auf dem Weg zur Vereinzelung befindlicher Gattungen, die trotzdem, wie das »Ich-weiß-nicht-was« der Franzosen77, zur Steuerung des Blickes und des Verhaltens ausreichen können. Vielleicht ist die von Karl v. Frisch entdeckte »Tanzsprache« der Bienen von dieser Art. Hier interessiert nur ein solcher Ursprung der Sprache, der auf so breiter Front einzelne Bedeutungen und unter ihnen einzelne Gattungen freisetzt, dass mit ihrer Hilfe weit ausgreifende und beliebiger Verlängerung fähige Netze von Konstellationen über die Welt geworfen werden können. Über die Gestalt eines solchen, gewissermaßen definitiven, Ursprungs der Sprache konkurrieren zwei gegensätzliche theoretische Ansätze: »Der Hauptunterschied zwischen denjenigen Theorien, die heute als sinnvoll angesehen und diskutiert werden, ist daher das Kriterium, ob Sprache als etwas angesehen wird, was sich langsam und kontinuierlich aus tierischer Kommunikation entwickelt hat (dies vertritt die sogenannte gradualistische Sichtweise), oder ob es sich um eine sprunghafte, ›saltotorische‹ Folge von Genmutationen oder sogar, wie Bickerton vermutet, einen einzigen massiven Mutationsschritt handelt, der mit dem Auftreten der Spezies homo sapiens sapiens einhergeht.« 177 Die erste Hypothese, die von Evolutionsbiologen (wie heute Tomasello) bevorzugt wird, halte ich für unwahrscheinlich, weil sie nicht erklärt, wie es zur Sprache als abgerundeter Situation kommt, die der kompetente Sprecher trotz ihres unerschöpflichen binnendiffusen Reichtums an Sätzen mit einem Schlage inne hat – nicht etwa nach Art eines Kalküls das Sprachverständnis rekonstruierend, wie Chomsky meint. Wahrscheinlicher ist mir die zweite Ansicht, aber ohne die biologische Deutung auf Mutationen, die mir überflüssig zu sein scheint. Welcher Vorzug vor den Tieren mag es dem Menschen ge177

Andrea Schulz, Sprache aus dem Nichts?, Frankfurt a. M. 2000, S. 298

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stattet haben, die Gefangenschaft in Situationen zu verlassen und in die Welt als das Feld beliebiger Vereinzelung überzutreten? Natürlich darf man sich nicht auf das Denken oder vergleichbare Vorzüge berufen, die ihrerseits die satzförmige Rede voraussetzen. Der gesuchte Vorzug muss vor dieser Schwelle liegen, in einem Bereich, der seiner Struktur nach grundsätzlich auch den Tieren zugänglich wäre, ihnen aber verschlossen geblieben ist. Ich finde einen solchen Bereich in der leiblichen Dynamik. Mit dem Menschen teilen die Tiere den vitalen Antrieb und dessen Abspaltung zur Enge hin (privative Engung), denn sie können stutzen und erschrecken. Dagegen fehlt es ihnen, vielleicht bis auf kümmerliche Reste, an privativer Weitung; auch ihre Freuden, wie das Hochgefühl des Hundes bei der Erwartung und Ankunft eines geliebten menschlichen Herren (beiderlei Geschlechts), hat mehr von Schwellung als von Erleichterung. Ludwig Klages sieht den Nachteil des Tieres im Verlust der Ferneempfänglichkeit, die der Mensch mit der Pflanze teile. 178 Dabei handelt es sich nicht um eine Ferne großer Abstände, sondern um eine Qualität des Entrückten und Unberührbaren, die sogar dem Raubvogel unzugänglich ist, wenn er aus großer Höhe auf seine Beute blickt, da er auf diese als sein nächstes Ziel in antagonistischer Einleibung fixiert ist. Der Mensch dagegen kann sich in das Unberührbare vertiefen, z. B. in eine Landschaft. Ihm ist, anders als den Tieren, die Ausleibung in die Tiefe des Raumes möglich, oder der Blick nach innen, »das starrende Auge, das nach Art eines Tauchers in die Tiefe geht« nach Aischylos.115 Daran zeigt sich die Überlegenheit des Menschen über das Tier in privativer Weitung. Ich nehme an, dass zur Zeit des Sprachursprungs ein mächtiger Schub privativer Weitung über Menschen kam und sie vom Druck der aktuellen Situationen ständiger Herausforderung in Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, 3. Auflage München/Bonn 1954, 35. Kapitel und andere Stellen, von mir referiert in: Der Weg der europäischen Philosophie Band 2, Freiburg 2007, S. 657

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Übergang zur Welt

antagonistischer Einleibung entlastete, wozu auch die nachher zu besprechende Begegnung mit der Fläche beigetragen haben dürfte. Außer in aktuellen Situationen lebten die Menschen damals schon in zuständlichen Situationen, die wegen der Entlastung durch privative Weitung mit den aktuellen Situationen nicht mehr so dicht verzahnt waren, dass sie von diesen übertönt wurden. Es kann sich um zuständliche Situationen der Lebensordnung, des Brauchtums, der religiösen oder anderen Feste oder Rituale gehandelt haben. Diese zuständlichen Situationen konnten nun an sich selbst besser zum Vorschein kommen und auf die aktuellen Situationen, von denen sie sich zurückgezogen hatten, in anderer Weise angewendet werden, nämlich zur Analyse, um sie durchsichtig zu machen. Jemand kann dann die Erfindung gemacht haben, eine solche zuständliche Situation als Regelwerk zu benützen, um aktuelle Situationen durch Explikation von Bedeutungen aus ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit zu klären. Damit wäre die erste Sprache, gleich als ganze Situation dem Mensch in die Hand, um nicht zu sagen: in den Mund, gefallen. Dass sie mundgerecht würde, d. h. ein Lautkleid ihrer Sätze erhielt, verdankt sie ihrer Anwendung auf die aktuellen Situationen, wobei die Herausforderungen antagonistischer Einleibung durch stimmliche Reaktionen des vitalen Antriebs in solidarischer Einleibung der Beteiligten erwidert wurden, mit der Folge, dass die Gemeinsamkeit solidarischer Einleibung ein gemeinsames Lautbild der Sprache zu Stande brachte. Eine allmähliche Sprachentwicklung wäre dann nur der Ausbau und die Verfeinerung einer Sprache, die von Anfang an als ganze – als zuständliche Situation, als Nomos – da war. 179 Die Sprache, einmal da, erwies sich als ein ungeheuer mächtiges Instrument zur redenden Darstellung und Identifizierung von Sachverhalten, Programmen und Problemen, die als einzelne aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen freiVgl. dazu von mir: Da Reich der Normen, Freiburg 2012, S. 235–249: Der Ursprung der Sprache

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gelegt wurden, und zur Kombination solcher Bedeutungen zu Konstellationen, mit denen die ausgebeuteten Situationen rekonstruiert und überholt werden konnten. Dieser Prozess hätte irgendwo stecken bleiben können; ihm kam aber ein anderer Prozess zu Hilfe, der über das selbständig gewordene Umgehen mit allerlei Einzelnem weit hinausführte und diesem Umgehen einen Rahmen schuf, die Struktur eines Feldes, in dem alle mögliche Vereinzelung unterkommen konnte. Dieser zweite Prozess lag nicht mehr in der Hand der Menschen, sondern nahm sie mit. Es handelt sich um die Entfaltung der primitiven Gegenwart, anknüpfend bei jedem ihrer fünf Momente, denen die Chance der Vereinzelung zuteil wurde, um Fortsetzungen aus sich hervorwachsen zu lassen, in denen, statt bloß absolut identischer Gegenstände mit unspaltbaren Verhältnissen im Leben aus primitiver Gegenwart, einzelne Gegenstände in Beziehungen zusammenhängen. Das Ergebnis war die Welt, in der ein unabsehbarer, beliebig erweiterbarer Vorrat von Gattungen Gelegenheit gibt, sich an allem mit Vereinzelung zu versuchen, selbst wenn diese nicht zu Ende geführt werden kann, sondern sich – wie beim absolut konfusen Mannigfaltigen, in dem es nicht einmal absolute Identität gibt – mit ganzen Massen begnügen muss, über die nur summarisch quantifiziert werden kann. Die Welt ist für die Menschen also einerseits das fünffach strukturierte Feld der ihnen zugänglichen Einzelheit und andererseits der Vorrat alles dessen, was, weil es unter Gattungen steht, Gelegenheit gibt, sich im Seienden (dem Wirklichen) und dem damit unlöslich verbundenen Nichtseienden daran zu versuchen, wie weit die Vereinzelung sich treiben lässt. Mit dem affektiven Betroffensein (der Subjektivität) und der leiblichen Kommunikation wird die absolute Identität in die Welt übertragen und für die Vereinzelung bereitgestellt. Die Welt ist entfaltete Gegenwart. Mit den fünf Seiten dieser Entfaltung will ich mich nun beschäftigen.

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4.3 Die Welt als entfaltete Gegenwart 4.3.1 Der Raum Die primitive Gegenwart zeichnet nur einen streng absoluten Ort aus, inmitten der Weite, in die dann im anschließenden Leben aus primitiver Gegenwart unumkehrbare leibliche Richtungen führen, die Weite in Gegenden gliedernd. Die Vereinzelung durch Entbindung von Gattungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen macht es möglich, dem absoluten Ort des Leibes (sowie den absoluten Orten von Leibesinseln) einzelne relative Orte anzuschließen, die zu sagen gestatten, wo etwas ist, und sich gegenseitig durch Lagen und Abstände bestimmen (identifizierbar machen). Lagen und Abstände können nur an umkehrbaren Verbindungen abgelesen werden, wobei der Abstand sogar in beiden Richtungen, vor und nach der Umkehrung, derselbe ist. Die leiblichen Richtungen sind aber unumkehrbar. Um zu umkehrbaren Verbindungen übergehen zu können, bedarf es eines leibfremden Mediums. Dieses Medium ist die Fläche, die als unverhofftes, unableitbares Geschenk dem Menschen zuteil wird. Mit der Fläche beginnt die Entfremdung des Raumes vom Leib. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, während man sie als glatte Oberfläche des eigenen Körpers besehen und betasten kann. Der leibliche Raum, der Raum des Lebens aus primitiver Gegenwart, ist flächenlos wie der Raum des Schalls oder des Wassers für den Schwimmer. In diesen Räumen gibt es keine umkehrbaren Verbindungen, namentlich keine Strecken und Punkte. Solche werden erst im Abstieg von der Fläche, durch Eintragung in diese oder an Bruchstellen (Kanten bzw. Ecken) möglich. Die Fläche ist dagegen unmittelbar zugänglich, wenn auch nicht ganz ohne Schwierigkeit, da sie dem Sehen durch Glanz und Schatten, dem Tasten durch unglatte Beschaffenheit von Oberflächen verdeckt wird. erst von der Fläche her erschließt sich der Unterschied der Dimensionen des Raumes. Das gilt auch für drei265 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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dimensionale Körper. Wir glauben, sie unmittelbar zu sehen, aber wir sehen eigentlich nur ihre Oberflächen oder die Schnittflächen, wenn sie aufgeschnitten werden, wohinter die dreidimensionale Masse sich weiter unsichtbar verbirgt. Diese Zerlegung des Körpers in eine Fassade (die Oberfläche) und ein ewig unzugängliches Innen hat etwas Paradoxes. Das wird anschaulich an der Abendmahlstheorie von Descartes. Es handelt sich um die mysteriöse Verwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi, ein Dogma der katholischen Kirche. Descartes erklärt sie sich so: Bei der Konsekration durch den Priester in der Messe verwandelt Gott das Brot in Fleisch, den Wein in Blut, belässt aber die Oberfläche des Brotes und des Weines, so dass für die sinnliche Wahrnehmung, der das massive Innere entzogen ist, alles beim Alten bleibt. 180 So unzugänglich ist das massive Innere fester Körper, dass sich ein Wunder darin verstecken kann: Das Rätsel verschwindet, wenn man das Volumen der Körper nicht mehr als dreidimensional auffasst, sondern als dynamisch, wie das Wasser dem sich gegen es vorkämpfenden Schwimmer begegnet. So, ohne Zerlegung in Oberflächen und Inneres, bietet sich das Volumen im Leben aus primitiver Gegenwart dar, und ich zweifle sehr, ob Tiere jemals mit Flächen zu tun haben. Das Geschenk der Fläche ist von großem Wert für die personale Emanzipation, die Erhebung des Menschen als Person aus dem Leben aus primitiver Gegenwart. Die sich quer dem Blick und dem Vordringen des berührenden und tastenden Körpers in den Weg stellende Fläche fängt den Druck der Herausforderungen antagonistischer Einleibung mehr oder weniger ab und entlastet so den Menschen von der Befangenheit in aktuellen Situationen der Auseinandersetzung; er gewinnt Spielraum Oeuvres des Descartes, hg. v. Adam und Tannery, Band 7, Paris 1904, S. 248–256 (Meditakones de prima philosophia, Verteidigung gegen Arnauld, S. 348 ff. der Originalausgabe); Brief an Mesland Februar 1645 (?), ebenda Band 4, Paris 1901, S. 163–170

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für privative Weitung und mögliche Besinnung, womit ich eben den Ursprung der Sprache in Verbindung gebracht habe. In der begegnenden Fläche gewinnt der Mensch einen Spielraum für das Eintragen umkehrbarer Verbindungen, zwischen den Zielen seines Blickens und Berührens; er lernt, spielerisch zu zeichnen, figürlich oder unfigürlich. So lernt er den Umgang mit umkehrbaren Verbindungen, darunter solchen, die den unumkehrbaren Zug der leiblichen Richtungen in die Weite umkehren, und zum eigenen Körper, wo auch sein Leib zu finden ist, zurückzukehren. Er lernt im buchstäblichen und im übertragenen Sinn, auf sich zu reflektieren, sich als Objekt unter Objekten zu finden und den eigenen Körper wie die Umgebung nach Lagen und Abständen aufzugliedern. Daraus erwächst das perzeptive Körperschema. Ich vermute, dass der Weg dahin dem Menschen durch die Parasiten an seiner Haut gebahnt wurde, die seinen Händen den Weg zur abwehrenden Selbstbetastung wiesen. Für die Raumform bietet das Geschenk der Fläche mit der Möglichkeit, Netze umkehrbarer paarender Verbindungen zwischen den Zielen der Richtungen leiblicher Zuwendung zu probieren, die Chance der Ergänzung des leiblichen Richtungsraumes aus dem Leben aus primitiver Gegenwart zum Ortsraum aus relativen Orten, die gestatten, zu sagen, wo etwas ist, wo es geblieben ist, wohin es sich bewegt hat. Die einzelnen Richtungsziele können vom Zusammenhang in unspaltbaren Verhältnissen befreit und durch Lagen und Abstände über umkehrbaren Verbindungen zwischen ihnen zu einander in Beziehung gesetzt werden. Mit Hilfe von Punkten und Strecken, die sinnfällig aus Kanten und Ecken dargestellt werden können, kann von den Flächen zur dritten, voluminösen Dimension aufgestiegen werden, und durch Ansetzen von Flächen an Flächen mit Winkeln lassen sich dreidimensionale Volumina umranden, so dass die geometrische Auffassung der Körper als dreidimensionale Gebilde, statt der dynamischen nach Art des Schall- und Atemvolumens, möglich wird. Die Einführung des Ortsraumes als System relativer Orte 267 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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muss eine begriffliche Schwierigkeit überwinden, die mit der unerlässlichen Voraussetzung von Ruhe verbunden ist. Innerhalb des Ortsraumes ist Ruhe als Beharren am Ort, Bewegung als Wechsel des Ortes definiert. Das lässt sich nur halten, wenn der Ort durch Lage und Abstand an ihm befindlicher Objekte zu ruhenden Bezugsobjekten identifiziert wird. Wenn diese Bezugsobjekte sich nämlich bewegten, ohne dass die Objekte an dem zu identifizierenden Ort gleichförmig mitliefen, hätten sich deren Lagen und Abstände zu den Bezugsobjekten geändert, ohne dass sie die Stelle gewechselt hätten; sie hätten sich also sowohl bewegt (durch Wechsel des Ortes) als auch geruht (durch Verharren am Ort). Ruhe und Bewegung wären nicht mehr unterscheidbar. So weit darf es nicht kommen, wenn der Ortsraum seine Orientierungsleistung behalten soll. Ruhe der Bezugsobjekte ist also Voraussetzung für die Einführung relativer Orte; andererseits sind relative Orte Voraussetzung für die Einführung der Ruhe, sofern diese als Beharren am Ort verstanden wird. Der Ort setzt Ruhe, Ruhe setzt den Ort voraus; das ist ein Zirkel, der die begriffliche Einführung eines Ortsraumes verhindert, wenn nicht auf ein vorgängiges Ruheverständnis zurückgegriffen wird. Ein solches kann nur den Ortsraum fundierenden Schichten flächenloser räumlicher Organisation abgewonnen werden, dem leiblichen Raum und dem Gefühlsraum. Es gibt ruhige Abendstimmung, ruhige Gelassenheit, ruhiges Wasser, das den Schwimmer in Rückenlage trägt. Aus solchen Erfahrungen weiß man, was Ruhe ist und kann im Raum Gegenstände finden, die einen ruhigen Eindruck machen. An solche Gegenstände kann man bei der Einführung eines Ortsraumes – eines Systems relativer Orte – anknüpfen. Die Feinjustierung, was sich für den planenden und prüfenden Umgang als ruhend bewährt, kann man dann weiteren Erfahrungen und Erprobungen überlassen. Dieses Verfahren ähnelt dem nachher zu besprechenden bei der Einführung von Uhren mit Voraussetzung gleichförmiger Bewegung. Man muss sich zunächst auf den bloßen Eindruck der Gleichförmigkeit verlassen, den man 268 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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anschließend nach praktischen und wissenschaftlichen Bedürfnissen zurechtrücken kann. Das vorgebrachte Argument für die Unselbständigkeit des Ortsraumes, der für zirkelfreie begriffliche Einführung tiefere Schichten der räumlichen Organisation voraussetzt, wird nicht berührt durch das Relativitätsprinzip (von Galilei), wonach die Entscheidung über Ruhe oder Bewegung von dem gewählten Bezugssystem abhängig ist: In einem geschlossenen Raum ruhen Objekte, die beim Blick aus dem Fenster oder von außen als bewegt imponieren. Diese Relativität erfordert höchstens den Wechsel des Ortsraumes, der ja keineswegs für immer derselbe sein muss, oder vielmehr die Verschachtelung von Ortsräumen in einander, betrifft aber nicht die notwendige Voraussetzung von Ruhe der Bezugsobjekte bei dessen Einführung. Die noch weitergehende Relativierung in der Einstein’schen Relativitätstheorie braucht hier nicht berücksichtigt zu werden. Sie betrifft lediglich die Anpassung sogenannter Naturgesetze an die Zwecke physikalischer Prognose und der dadurch ermöglichten technischen Anwendungen und setzt einen etablierten Ortsraum allein schon für die Zeitmessung – nach Extensivierung der Dauer zur Zeitstrecke – längst voraus. Hier handelt es sich um die Bedingungen für die Einführung von Ortsräumen. Der genaue Begriff eines relativen Ortes kann nach dieser Vorbereitung etwa so gefasst werden: »Wenn F Frist ist und A ein Gegenstand aus der Menge G der Gegenstände, die sich während einer Teilfrist von F (sie kann auch F sein) in Beziehungen der Lage und des Abstandes zu allen während der gesamten Frist F ruhenden Objekten befinden, dann ist der relative Ort von A während einer Teilfrist f von F die Menge aller geordneten Paare, bestehend aus einem Element g von G als erstem und einer Teilfrist von F als zweitem Glied, sofern diese g während der betreffenden Teilfrist zu allen während der gesamten Frist F ruhenden Objekten gleiche Lagen und Abstände haben, wie A während f.« (Die Frist F ist die Zeit der Dauer des betreffenden Ortsraumes, der aus den geordneten Paaren der angegebenen Art besteht.) 269 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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4.3.2 Die Zeit Die Entfaltung der Gegenwart im Raum gelingt so gut, dass ihre eben als unerlässlich nachgewiesenen Vorstufen vergessen werden können. Im Raum achten die Menschen fast nur noch darauf, wo etwas ist, wohin und wovon weg etwas (einschließlich ihrer selbst) sich bewegen muss, um etwas zu erreichen; dass sie mit jeder flüssigen Bewegung in den Richtungsraum des Lebens aus primitiver Gegenwart zurückfallen (4.1), kommt ihnen kaum je zu Bewusstsein. Ähnlich gut gelingt die Verdrängung der Abkunft der Welt aus der Entfaltung der primitiven Gegenwart an deren anderen nicht-zeitlichen Momenten, dem Sein, der Identität, der Subjektivität. Die Unterscheidung des Wirklichen vom Unwirklichen gelingt im Alltag selbstverständlich; niemand fragt, woher er den Maßstab nimmt, da doch eine zirkelfrei formulierbare Unterscheidung (ein Kriterium der Wirklichkeit) ausgeschlossen ist. Darüber, dass die Identität, in entfalteter Gestalt als relative Identität, für selbstverständlich gehalten wird, habe ich im Vorstehenden genug geklagt. Die Subjektivität wird fast nur im Zusammenhang mit personaler Selbstzuschreibung beachtet; deren Voraussetzungen hängen vom Leib ab, den ich gerade erst aus der Gletscherspalte jahrtausendelanger Vergessenheit hervorgezogen habe. So gut gelingt nach vier Seiten die Entfaltung der Gegenwart. Mit ihrer zeitlichen Seite steht es anders. Die Entfaltung des Jetzt der primitiven Gegenwart ist auf halber Strecke liegen geblieben. Dadurch werden die Menschen, wenn auch meist ohne Besinnung darauf, an die Abhängigkeit der Welt von ihrem Ursprung, dem Geschehen der primitiven Gegenwart im plötzlichen Andrang des Neuen, erinnert. Sie erfahren unablässig das Vergehen der unter dem Druck dieses Andrangs zerrissenen Dauer. Die Tragödie des unablässigen Abschieds von dem, was nicht mehr ist, wird durch die damit verbundenen anderen tragischen Züge der Zeit – die Flüchtigkeit der Gegenwart, die Auslieferung an eine undurchsichtige Zukunft – zum Zittern des Lebens ausgebaut. 270 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Diese Unvollkommenheit der zeitlichen Entfaltung der Gegenwart, die sich auch in theoretischen Aporien bemerkbar macht 181 , dürfte damit zusammenhängen, dass es in der Zeit kein Analogon der Fläche gibt, eines leibfremden Geschenks an die Entfaltung, das dieser die Gelegenheit gibt, sich über ihren Ursprung hinwegzusetzen. Der Fluss der Zeit, dass die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt, verstrickt die Menschen aber nicht nur in die Grausamkeit des Abschieds von dem, was nicht mehr ist, sondern leistet ihnen auch unentbehrliche Hilfe beim Ernten der Früchte der Entfaltung der Gegenwart zur Welt. Es geht um die Hilfe beim Spalten der Verhältnisse in Beziehungen. Wenn das nicht gelänge, hätte der Mensch nicht viel von seiner satzförmigen Rede, die ihm die Konstruktion von Netzen aus Bedeutungen zur Vereinzelung beliebiger absolut identischer Gegenstände als Fälle von Gattungen gestattet. Er könnte dann zwar besser die Situationen, aus denen er bei der Vereinzelung schöpft, durchschauen, sich davon Rechenschaft geben, aber er könnte nicht beweglich mit ihnen umgehen; er müsste sich an die gegebenen Verhältnisse halten, statt sie in Beziehungen zu zerlegen und durch Umknüpfen der Beziehungen andere Verhältnisse auszuprobieren. Er wäre in der Lage des Besitzers einer Landkarte, der die darin enthaltenen Informationen über Lagen und Abstände zwar ablesen, aber nie dazu benützen kann, sich auf den Weg zu machen. Beziehungen unterscheiden sich von Verhältnissen dadurch, dass sie gerichtet sind, von etwas (Referens) auf etwas (Relat), eventuell durch etwas (Zwischenglieder). Wie findet man aus Verhältnissen die Richtung, die man zu ihrer Spaltung einschlagen muss? Das ist nicht so leicht, wie man denken mag. Der Spaltung wird vom Verhältnis kein Ansatzpunkt geboten; alles ist mit allem gleichmäßig verknüpft. Die Wahl einer Richtung zum Eindringen in Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg 2014, S. 168– 181: Aporien der Zeit

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das Verhältnis setzt voraus, dass schon mehrere Richtungen zur Auswahl vorliegen. Der Spaltende kann aber nicht anders in das Verhältnis eindringen, als indem er eine von mehreren möglichen Richtungen einschlägt. Von sich aus hat er keine Gelegenheit, das vorausgesetzte Angebot dieser Möglichkeiten bereitzustellen. Sein Wählen müsste die Richtung erst finden und schon gefunden haben. In dieser Verlegenheit kommt ihm die Richtung des Flusses der Zeit zu Hilfe. Indem sein Blick – der optische oder der Blick bloßer Vergegenwärtigung – über das Verhältnis gleitet, wächst die Vergangenheit und schrumpft die Zukunft, nicht umgekehrt. Damit hat er schon die Richtung gefunden; der Fluss der Zeit, der seinen Blick in eine Richtung führt, hat sie ihm geschenkt, durch das Wachsen der Vergangenheit, die Spur des Zerreißens der Dauer mit Abschied ins Vorbeisein. Die Tragik der Zeit, die den Menschen in die Rolle des Verlierers gegen das Schicksal bringt, erhebt ihn auch zum Gewinner, indem sie ihm durch das Spalten der Verhältnisse in Beziehungen die Chance gibt, sich vor diesem Schicksal frei zu bewegen. Die Zeit in der Welt wird von drei Komponenten gebildet: Dauer, Modalzeit, Lagezeit. Die Dauer ist so etwas wie der Stoff der Zeit, der von der Modalzeit und anschließend von der Lagezeit geformt wird. Sie zerfällt, wie schon gesagt wurde, in die im Vergehen (ins Vorbeisein, Nichtmehrsein) zerrissene und die dieser assoziierte unzerrissene Dauer, die hauptsächlich in Gestalt zuständlicher Situationen vorliegt, in kleinteiligen »Paradestücken« auch als Zeitgestalt, musikalisch (z. B. Melodien) oder leiblich (Gang, Atmung). Die Modalzeit ist eine Einteilung von Zeitinhalten in vergangene, gegenwärtige und zukünftige mit dem Fluss der Zeit, dass die Vergangenheit 182 wächst, die Mit den Wörtern »Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft« bezeichne ich im Folgenden Massen von Zeitinhalten, die entsprechenden Eigenschaften einer solchen Masse anzugehören, dagegen als Vergangensein bzw. Gegenwärtigkeit bzw. Zukünftigkeit.

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Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt. Vergangen ist, was nicht mehr ist; gegenwärtig ist, was ist in der Weise, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein; das Wort »Zukunft« ist dagegen doppeldeutig: Es bezeichnet einerseits das, was noch nicht ist (aber einmal sein wird), andererseits das, was noch möglich ist. Wie sich beides zueinander verhält, wird gleich erörtert. Die Lagezeit besteht in der Beziehung des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen. Als Beziehung setzt sie, anders als die Modalzeit, Vereinzelung voraus, ist also erst in der Welt möglich. Sie kommt als modale Lagezeit in der Verbindung mit der Modalzeit vor und ist als reine Lagezeit, abstrahiert von der Modalzeit, die Zeit der theoretischen Physik (nicht der physikalischen, namentlich experimentellen Praxis), ein Abstraktionsprodukt ohne Stütze in der Erfahrung, das die Beziehungen wieder in ein spaltbares Verhältnis zusammenzieht (wie eine Landkarte die Abstände). Ich beginne die Erörterung mit der Dauer. Was die Menschen denken, liegt oft weit ab von dem, was sie erleben. Das trifft besonders auf die Dauer zu. Die Menschen erleben sie im Wechsel entspannten Verweilens unzerrissener Dauer mit dem Druck des bis zum Zerreißen gespannten Geschehens unter dem Andrang des Neuen; sie denken sich die Dauer als gleichmäßiges, vom Pulsieren des Spannungsgrades unberührtes Verfließen wie Newton: »Die absolute Zeit fließt gleichmäßig, und mit einem anderen Namen heißt sie Dauer.« 183 Die so verstandene Dauer ist eine extensive Größe, eine solche, die durch Schnitte in Teile zerlegt und aus diesen wieder unversehrt zusammengesetzt werden kann. Sie dient dazu, Veränderungen in der Dimension der Geschwindigkeit, d. h. nach Graden der Schnelligkeit oder Langsamkeit, zu messen. Veränderung hat zwei Dimensionen. Eine davon ist die Phasenfolge. Sie stimmt bei Isaac Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, Definition VIII, Scholium (Newtons Werke, Facsimile-Nachdruck der Ausgabe London 1770–1785, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, Band 2 S. 6)

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stetiger Veränderung von A nach B (z. B. einer Bewegung auf festgelegter Bahn) für schnellere und langsamere Veränderung überein. Die andere Dimension ist die Dauer. Sie ist bei schnellerer Bewegung kürzer, bei langsamerer länger. Geschwindigkeit ist also die Gestalt der Dauer einer Veränderung. Um diese Dauer so zurechtzumachen, dass sie als extensive Größe zur Bemessung der Geschwindigkeit taugt, ist ihre Projektion in den Raum vermöge der gleichförmigen Bewegung einer Uhr erforderlich. Man versteht dann die Zeit räumlich, nach Art einer Strecke, deren Länge man mit der geraden oder gebogenen Bahn vergleicht, die von der Bewegung der (natürlichen oder künstlichen) Uhr überstrichen wird. Geschwindigkeit ist dann Weg durch Zeit, genauer der Quotient der Division des Maßes der durchlaufenen Strecke durch das Maß der Zeitstrecke; je kürzer diese, je größer also der Quotient (bei gegebener Bahn) ist, desto schneller ist die Bewegung. Das Entsprechende gilt für intensive Veränderungen, die durch räumliche Bewegungen an Messapparaten gemessen zu werden pflegen. Der Haken in dieser Auffassung der Geschwindigkeit besteht in ihrer Angewiesenheit auf die gleichmäßige Bewegung einer Uhr. Wann ist eine Veränderung gleichmäßig oder gleichförmig? Genau dann, wenn sie weder schneller noch langsamer wird. Anders kann man Gleichförmigkeit nicht bestimmen. Dann aber kann man Geschwindigkeit, also Schnelligkeit oder Langsamkeit, nicht ohne Zirkel mit Hilfe der Gleichförmigkeit einführen. Die Auffassung der Dauer als extensive Größe (Zeitstrecke) ist also ungeeignet, begrifflich zu bestimmen, was als Geschwindigkeit einer Veränderung gemessen werden soll. Um darüber klar zu werden, muss man nach einem von der Verräumlichung zur extensiven Größe unabhängigen Verständnis der Dauer suchen. Wenn dieses gefunden ist, kann sich die Extensivierung als nützlich erweisen, ja als unentbehrlich, um die Geschwindigkeit zu messen. Mit der Dauer verhält es sich wie mit der Wärme. Wärme ist intensiv, aber zwecks Messung wird sie auf eine für gleichförmig gehaltene räumliche Bewegung (des Quecksilbers 274 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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im Thermometer) abgebildet, in der Hoffnung, dass beide Veränderungen im Ausmaß einander entsprechen. Das ist offensichtlich nicht der Fall, weil die Bewegung laut Voraussetzung gleichförmig variiert, die Wärme aber sprunghaft. Man begnügt sich mit ungefährer Anpassung. Die Länge und Kürze der Dauer bei schnellerer oder langsamerer Veränderung ist demnach nicht als extensive, skalierbare Länge und Kürze zu verstehen, sondern als Qualität, die intensiver Mehrung und Minderung fähig ist. Dabei handelt es sich um den schon besprochenen Gegensatz von Vergänglichkeit und Fortwähren, zerrissener oder zerreißender und ins Vorbeisein verabschiedeter Dauer, und unzerrissener Dauer, die den Abschied übersteht. Mit zunehmender Schnelligkeit wird die Veränderung flüchtiger, vergänglicher, hastiger, enger, gepresster, dichter zusammengezogen; umgekehrt ist die langsamere Veränderung offener zur Weite hin, lockerer, entspannter; sie lässt sich gleichsam mehr Zeit. Hierbei handelt es sich um synästhetische Massencharaktere, die ebenso wie an der Dauer am Schall vorkommen, im Gegensatz heller, hoher Töne und Geräusche zu dunklen und dumpfen, sowie am gespürten, eigenen Leib im Gegensatz von Frische und Müdigkeit. Der dunkle Schall klingt locker, weich, schwerfällig, weit ausladend, dumpf und dröhnend im Gegensatz zum beweglichen, spitzen, festen, kompakten, dabei zarteren Wesen des hellen, hohen Schalls. Ähnlich verhalten sich die Masseneigenschaften einprägsamer Stille, z. B. drückender Mittagsstille gegen zarte Morgenstille. Auf diese Weise sind Länge und Kürze der Dauer einer Veränderung Variationen einer intensiven Größe, eingespannt in den Gegensatz epikritischer Engung in Richtung auf primitive Gegenwart und protopathischer Weitung in Richtung auf das unerschöpfte Urkontinuum. Nun will ich die These von der intensiven Natur der Dauer durch Beispiele bekräftigen. Zunächst wähle ich die Dauer der Töne und Klänge. Eine langgezogene Phrase eines gregorianischen Chorals lässt sich nicht in Teile zerlegen und aus diesen 275 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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wieder zusammensetzen. Eine Lachsalve Ha-Ha-Ha klingt bei gleicher Uhrdauer ganz anders als die gregorianische Phrase. Zwar misst man die Länge der Töne mit kurzen Tönen aus, etwa einen Ganzton mit zwei halben Tönen. Dabei muss man sich, wenn man nicht Uhren zu Hilfe nimmt, auf die intuitive Abschätzung zweier sukzessiv gehörter Töne als halb so lang verlassen und prüfen, ob sie zum selben Zeitpunkt wie der Ganzton begonnen und zum selben späteren Zeitpunkt aufgehört haben. Damit hat man bereits eine extensivierende Umdeutung des Schalls vorgenommen, denn in dessen flächenlosem Raum kommen weder Punkte noch Strecken vor. Nach dieser Umdeutung kann man über extensive oder intensive Größe der Dauer nicht mehr urteilen. Ebenso intensiv wie die Dauer der Töne ist die Dauer der Bewegung im Raum. Ich denke zunächst an die ungleichförmige Bewegung, die stetig schneller oder langsamer wird. Wäre ihre Dauer eine extensive Größe, so könnte sie in Teile zerlegt werden, von denen jeder eine Geschwindigkeit hätte, da das Ganze, als extensive Größe aufgefasst, sie als Quotient von Weg durch Zeit messbar besitzt. Tatsächlich könnte aber kein Teil eine solche Geschwindigkeit haben, weil diese sich beständig ändert. Die Differentialrechnung ersetzt diesen Mangel durch die Momentangeschwindigkeit, die aber keine Geschwindigkeit ist, sondern der Limes konvergenter Geschwindigkeitsänderungen. Die Geschwindigkeit als Dauer einer ungleichförmigen Bewegung kann also keine extensive Größe sein, wohl aber in eine solche umgedeutet werden. Für die Dauer einer gleichförmigen Bewegung besteht dieses Hindernis der Extensivierung nicht, aber sie kann nur begrifflich bestimmt und beobachtet werden, wenn man sie in Teile zerlegt und unter diesen einen Wechsel der Geschwindigkeit ausschließt, und solche Zerlegung in Teile bedarf wieder der Anlehnung an eine räumliche Strecke, wie bei der Uhr. Man kann als weiteren Beleg für die intensive Natur der Dauer diesen Beispielen die erlebte Zeitraffung an die Seite 276 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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stellen. Manchmal vergeht die Zeit wie im Fluge, manchmal dehnt sie sich uferlos, beglückend als verweilende Gegenwart, quälend als Langeweile. Diese Beispiele zeigen, wie wenig homogen die Dauer ist. Newtons Vorstellung von ihrem gleichförmigen Fluss stammt aus ihrer Umdeutung ins Räumliche und Extensive mit Hilfe der Uhr. Aus derselben Quelle stammt das Vorurteil, die Zeit könne nicht schneller oder langsamer verlaufen, sondern nur im unerbittlichen Gleichtakt. Dieser Gleichtakt ist eine Folge ihrer Egalisierung mit Hilfe der angeblich gleichförmigen Bewegung einer Uhr. Die Zeit, von der dann die Rede ist, ist eine extensivierende Überformung der Dauer, und diese ist als intensive Größe breit gestreut und vieler Tempi fähig; erst das Bedürfnis der Menschen nach einer überall übereinstimmenden Zeitordnung prägt ihr das Gleichmaß auf. Näher betrachtet, hat nach dem Gesagten die intensive Dauer nicht nur eine einzige Dimension ihrer Vermehrung oder Verminderung, sondern zwei solche Dimensionen, die aber in einander verschränkt sind: intensive Länge und intensive Dichte. Sie stehen in umgekehrt proportionalem Verhältnis: Je kürzer, desto dichter, enger und gepresster ist die Dauer (als intensive, nicht als mit der Uhr gemessene), und je länger und weiter, desto lockerer und entspannter, sei es gelassen oder in schlaffer Passivität wie bei Langeweile, die dann wieder als Frustration bedrängen kann. Diese Polarität wird übergangen und weggewischt, wenn die Menschen daran gehen, die Zeit zwecks Messung zu egalisieren. Sie sind dazu genötigt, weil sie nicht mehr wie die Tiere vom Nomos der Situationen, in denen sie leben, geführt werden, sondern vermöge ihrer satzförmigen Rede aus Situationen ausbrechen, diese in den Griff nehmen und umgestalten können. Dafür brauchen sie eine Orientierung, die sie sich selbst geben können, indem sie das Gegebene geeignet umdeuten. Eines der wichtigsten Einsatzgebiete solcher Umdeutung ist die Dauer. Um überleben zu können, benötigen die Menschen Zeitmessung und Zeiteinteilung und zu diesem Zweck die Egalisierung der Dauer durch Projektion in den Raum mit Hilfe der 277 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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gleichförmigen Bewegung einer Uhr. Die Natur ist so freundlich, ihnen eine Gelegenheit dazu in Gestalt der als gleichförmig imponierenden Bewegung himmlischer Signale zur Verfügung zu stellen. Die Menschen haben die dadurch ermöglichte Kunst des Umgangs mit der Dauer so perfektioniert, dass sie deren Intensität kaum noch bemerken, gleich als ob sie von der Wärme nur noch dadurch Notiz nähmen, dass sie das Thermometer ablesen. Ich beschließe nun die Untersuchung der Dauer und wende mich zur Modalzeit und anschließend zur Lagezeit. Die Wirklichkeit der Modalzeit, die ich 1964 (System der Philosophie Band I) wegen ihrer Bestimmung durch die Unterschiede von Sein und Nichtsein so genannt habe, wird von verschiedenen Seiten bestritten: von Metaphysikern, die – im Christentum mit Rücksicht auf Gott – alles sub specie aeternitatis betrachten, neuerdings von Physikern, die im Gefolge der Relativitätstheorie und ihrer Anwendung auf die Quantenphysik aus der Zeit im Rahmen einer Raum-Zeit-Union so etwas wie eine vierte Dimension des Raumes und eine statische Blockzeit machen wollen, und von analytischen Philosophen (wie Mellor), denen Subjektivität zuwider ist und damit die Modalzeit, in der sie eine »bloß subjektive« Abspiegelung der Lagezeit sehen. Gegen solche Einwände setze ich meine Gründe zur Rehabilitation einer voll wirklichen Modalzeit. Diese sind teils ad hominem, teils ad rem gerichtet. Ad hominem gehen die Gründe, die Wissenschaftlern nachweisen, dass ihre eigenen Ansprüche auf wissenschaftliche Tätigkeit mit einer Leugnung der Modalzeit unverträglich sind. Dabei wende ich mich besonders an die Naturwissenschaftler. Für ihre Theorien mag die Leugnung der Modalzeit bequem sein, aber die Theorien sind keine Wissenschaft, wenn es keine Bestätigung für sie gibt, und dazu ist – ganz besonders in der Physik – das Experiment erforderlich. Der Experimentator stellt sich aber notwendig auf den Boden der Modalzeit, deren Wirklichkeit er damit anerkennt, denn das Experiment ist nur sinnvoll, wenn er beim Anfang noch nicht 278 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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weiß, was herauskommen wird, so dass sein Kenntnisstand dann nicht mehr der vorige ist; das aber sind Ausdrücke, die nur im Rahmen einer Modalzeit Sinn haben. Aber auch der Wissenschaftler, der die Bestätigung seiner Aufstellungen nicht erst von einem Experiment erwartet, muss sich zur Modalzeit bekennen, wenn er seiner wissenschaftlichen Haltung treu bleiben will. Zu dieser gehört nämlich die Bereitschaft, seine Aufstellungen kritisch prüfen zu lassen, statt sich von vornherein für unfehlbar zu halten. Damit bekennt er sich zu der Bereitschaft, von der Kritik etwas zu lernen, das er bei der ersten Aufstellung seines Ergebnisses noch nicht weiß, und sei es nur dessen von kompetenten Kritikern bestätigte Stichhaltigkeit, so dass sein Kenntnisstand dann gleichfalls nicht mehr der vorige ist. Auch das impliziert, wie im Fall des experimentellen Naturwissenschaftlers, ein Bekenntnis zur Modalzeit. Das wichtigste Argument ad rem, also ohne speziell disponierte Adressaten, geht davon aus, dass ohne Modalzeit nichts jetzt ist; es fehlt dann die ausgezeichnete Gegenwart, die z. B. das dritte Jahrtausend christlicher Zeitrechnung vorläufig allen anderen Jahrtausenden dadurch voraus hat, dass es die Gegenwart beherbergt. Wenn aber nichts jetzt ist, hat auch der einzelne Mensch keinen ihm mit unweigerlicher Einschränkung angewiesenen zeitlichen Standpunkt in seinem Leben, auf den er – mit Heideggers Ausdruck – »geworfen« ist. Sein Leben durchläuft zwar frühere und spätere Zustände, die jeweils anders bestimmt sind, aber sie sind gleichmäßig Zustände seiner eigenen Lebensgeschichte, von denen ihm zeitlich keiner nähersteht als ein anderer. Auf seinen Kenntnisstand bezüglich besagt das z. B., dass er als Kind nicht so viel weiß wie der erfahrene Gelehrte, zu dem er später geworden sein mag, aber er hat keinen Anlass, sich eher für den Gelehrten als für das Kind oder umgekehrt zu halten. Der Unterschied im Kenntnisstand gleicht dem zwischen seinem Kopf und seinen Füßen, wenn ihm im Kopf warm und in den Füßen kalt ist, und beide Körperteile mit ihren Zuständen sind ihm in gleicher Weise zugänglich. Diese Vorstellungsweise 279 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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kommt mir so wirklichkeitsfremd vor, dass sie mir zu genügen scheint, die Leugnung einer Modalzeit zu widerlegen. Man kann noch das Argument anschließen, dass bei Einebnung des Unterschiedes zwischen Schonsein des Gegenwärtigen und Nochnichtsein des Zukünftigen zwar das Zukünftige so gut wirklich wäre wie das Gegenwärtige, aber doch nicht alles Offenbarsein dieses Zukünftigen, so dass wenigstens ein Rest des Nochnichtseins bliebe. Dieses Argument wird allerdings den nicht überzeugen, der bestreitet, dass er, wenn er weiterlebt, noch irgend etwas lernen kann. Ich glaube nicht, dass ein Vernünftiger so denken wird. Schließlich bezeugen zwei schon gewonnene grundsätzliche Ergebnisse die Wirklichkeit der Modalzeit: der Ursprung der absoluten Identität in der primitiven Gegenwart (3.4), deren Spur in die Weltzeit die Modalzeit ist, und die vorhin nachgewiesene Unentbehrlichkeit des Flusses der Zeit für das Spalten der Verhältnisse in Beziehungen. Mit der Entfaltung der Gegenwart zur Welt kann der Modalzeit eine Lagezeit aufgeladen werden, weil die Möglichkeit beliebiger Vereinzelung Gelegenheit gibt, den Fluss der Zeit durch einzelne Daten zu gliedern. Ein Datum ist eine Menge gleichzeitiger, d. h. gemeinsam gegenwärtiger Ereignisse, die entlang dem Wachsen der Vergangenheit und entsprechender Verminderung der Zukunft nach Anzeichen der Erinnerung, Berichten und Übereinkunft zu einer Reihenfolge des Früheren und Späteren verbunden werden, wobei sie sich überschneiden. Damit die Überschneidung nicht überhandnimmt, greift man aus der Menge ein charakteristisches Ereignis heraus und beschränkt das Datum als Datum dieses Ereignisses auf die Menge der mit ihm gleichzeitigen Ereignisse. Die Überschneidung wäre nur vermeidbar, wenn man die Daten bis zur Dauerlosigkeit verkürzte; das ist aber eine gedankliche Fiktion. Da die Zukunft durch die Möglichkeit projizierender Vereinzelung für das beziehende Erwarten geöffnet ist, kann die lagezeitliche Reihenfolge in sie hinein, fortgesetzt werden. So ergibt sich eine Reihe vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Gegenwarten in 280 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Gestalt von Daten, in der die echte, unmittelbare zeitliche Gegenwart zu einem Datum unter Daten nivelliert ist, mit der Folge, dass die Rede von Gegenwart äquivok wird: Entweder ist die echte, unmittelbare Gegenwart gemeint, die gegenwärtige Gegenwart, wie man tautologisch sagen muss, oder irgend eine Gegenwart, ein Datum, das auch vergangen oder zukünftig sein kann. Diese Doppeldeutigkeit und Tautologie ist ein Zeugnis für die Abkunft der Lagezeit aus der Modalzeit; ohne Orientierung am Fluss der Zeit, am Wechsel der Gegenwart beim Wachsen der Vergangenheit und Schrumpfen der Zukunft, wüsste man gar nicht, welche Zeitinhalte (Dinge, Ereignisse, Zustände usw.) zu einem Datum zusammengestellt werden sollten. Von der Bindung an die (echte) Gegenwart kann die Lagezeit befreit werden, indem man nach ihrer Aufstellung unter allen Daten ein Datum als die Mitte auszeichnet, von dem die Reihe nach beiden Seiten geordnet wird; es kann sich z. B. um das vermeintliche Datum der Geburt Christi oder der Flucht Mohameds handeln. Über das begriffliche Verhältnis von Modalzeit und Lagezeit, die Frage, ob eine durch die andere definiert werden kann und gegebenenfalls welche durch welche, ist in der analytischen Philosophie viel diskutiert worden; das noch lesenswerte Buch von Bieri 184 gibt darüber Aufschluss. Die Bevorzugung der Lagezeit führte zu dem Versuch, die Gegenwart und damit die Modalzeit durch die sogenannte reflexive-token-Analyse lagezeitlich zu definieren, nämlich »gegenwärtig« als »gleichzeitig mit dieser Äußerung«. Obwohl man in England merkwürdig lange diesen (von Reichenbach ausgehenden) Vorschlag gepflegt hat, ist er ersichtlich unlogisch. Das zeigt sich schon bei der Selbstanwendung: Die Äußerung »Diese Äußerung ist gegenwärtig« hätte nach der token-reflexive Analyse den Sinn von: »Diese Äußerung ist gleichzeitig mit dieser Äußerung«, also mit sich selbst, aber jede Äußerung ist gleichzeitig mit sich selbst, und doch ist nicht jede Äußerung gegenwärtig. Außerdem ist die Analyse 184

Peter Bieri, Zeit und Zeiterfahrung, Frankfurt a. M. 1973

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zirkelhaft, denn sie setzt voraus, dass diese Äußerung gegenwärtig ist, was nicht selbstverständlich ist, da die Gegenwartsgewissheit trügen kann (wofür Goethe viele Beispiele gibt 185 ). Darüber hinaus ist jede begriffliche Reduktion der Modalzeit auf die Lagezeit unmöglich, weil Vergangensein, Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit (in Sinne von Nochnichtsein) ExistenzInductiva (2.1) sind, die lagezeitlichen Grundbegriffe des Früheren und Späteren dagegen Attribute; jede Umdeutung von Existenz-Inductiva in Attribute ist unzulässig. Aussichtsreich ist dagegen das umgekehrte Verfahren, die lagezeitlichen Attribute modalzeitlich zu umschreiben, ohne sie in Existenz-Inductiva umzudeuten. Die modalzeitliche Definition des Früherseins kann so lauten: A ist früher als B, wenn A vergangen ist, wenn B gegenwärtig ist. Dieses »wenn« ist zweifach zu verstehen, gemäß einer Fallunterscheidung: B ist wirklich gegenwärtig, dann ist A vergangen, oder B ist nicht gegenwärtig, aber, wenn B gegenwärtig wäre, wäre A vergangen. Dieser grammatische Irrealis hat folgenden Sinn: In jeder möglichen Welt, die sich von der wirklichen Welt nur durch Verschiebung der Gegenwart auf ein anderes Datum und die damit verbundenen Verschiebungen des Vergangenseins und der Zukünftigkeit unterscheidet und in der B gegenwärtig ist, ist A vergangen. Wegen des Irrealis wird durch diese Begriffserklärung das Frühersein nicht zum Existenz-Inductivum gemacht. Die Definitionen von »später« und »gleichzeitig« folgen demselben Schema. Aus der Lagezeit filtert die theoretische Physik durch Vernachlässigung des modalzeitlichen Hintergrundes eine reine Lagezeit ab, in der es nichts gibt, das jetzt ist, d. h. keine vor allen anderen Daten (vergangenen und künftigen Gegenwarten) ausgezeichnete zeitliche Gegenwart eines jeweils einzigen, aber Vgl. Hermann Schmitz, Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang, Bonn 1959, S. 212–216; System der Philosophie Band II Teil 1: Der Leib, S. 270; Das Ganz-Andere. Goethe und das Ungeheure, in: Goethe und die Verzeitlichung der Natur, hg. v. P. Matussek, München 1998, S. 414–435

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wechselnden Datums. Beim Nachweis der Wirklichkeit einer Modalzeit habe ich gezeigt, dass der Physiker zur wissenschaftlichen Bestätigung seiner Theorie in die Modalzeit hinabsteigen muss, wo etwas jetzt im Gegensatz zu noch-nicht (nicht etwa nur zu später) ist. In der Theorie kann es zweckmäßig sein, davon zu abstrahieren. Dann fragt sich aber, woher die Maßgabe für die Anordnung der früheren und späteren Zeitinhalte zu nehmen ist, wenn die Orientierung am Fluss der Zeit ausfällt. Die Relativitätstheorie wählt statt dessen die Richtung der Signalübertragung durch Licht. In der reinen Lagezeit gibt es zwar unterscheidbare Richtungen, aber keine Möglichkeit, eine davon auszuzeichnen. Die reine Lagezeit ist mit allen ihren Inhalten wie eine Landkarte, eine Sammlung spaltbarer Verhältnisse, aus denen Richtungen hervorgehen, von denen keine vor den anderen ausgezeichnet ist. Die Physiker bilden sich zwar ein, mit irreversiblen Prozessen wie dem Wachsen der Entropie der Zeit eine Richtung geben zu können, aber das ist ein Missverständnis. Jeder in der reinen Lagezeit beschreibbare Ablauf kann durch bloße Umkehr der Reihenfolge in die Gegenrichtung umgewendet werden, ohne dass ein Grund zu finden wäre, eine Richtung vor der anderen zu bevorzugen. Um bei der Entropie zu bleiben: In einer reinen Lagezeit kann man nicht entscheiden, ob Glassplitter aufsteigen und sich zu einem Wasserglas vereinigen, ob Filme rückwärts laufen, Menschen rückwärts gehen und ihre Sprüche von hinten nach vorne sprechen, oder ob das Gegenteil der Fall ist. Für dieses kann sich nur der Physiker als lebender Mensch entscheiden, indem er in die Modalzeit herabsteigt. Die sogenannten irreversiblen Prozesse sind vom Standpunkt einer Theorie, die nur mit der reinen Lagezeit operiert, in Wirklichkeit bloß monotone Funktionen, in denen der Wert der abhängigen Variablen bei Steigerung der unabhängigen niemals absinkt, ohne dass eine Richtung ausgezeichnet würde. Es verhält sich wie bei der Potenzfunktion natürlicher Zahlen, in der trotz der Monotonie die Richtung von der Wurzel zur Potenz so wenig ausgezeichnet ist wie die umgekehrte Richtung. Vorhin 283 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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wurde darüber hinaus gezeigt, dass sogar die bloße Spaltung eines Verhältnisses, in diesem Fall des Verhältnisses des Früheren und Späteren in einer reinen Lagezeit, des Beistandes der Modalzeit bedarf. Die Beschränkung auf eine reine Lagezeit als Zeitform ist also schon deshalb für die Bestimmung des Inhalts der Welt nicht geeignet, weil sich die Richtung des Ablaufs von Prozessen mit ihr nicht fassen lässt. Es handelt sich um ein Kunstprodukt der Abstraktion für spezielle Zwecke theoretischer Prognose. Die Lagezeit ist nicht wirklich von der Modalzeit ablösbar. Im Gegensatz dazu ist eine Modalzeit ohne Lagezeit nicht nur denkbar, sondern wirklich. Ich spreche dann von reiner Modalzeit. Bei personalen Menschen kommt sie wohl nur in hyperkinetischen oder (seltener) hypokinetischen Ausnahmezuständen vor, wie in Wut, Panik, Ekstasen, sowohl in kollektiven als auch in individuellen wie dem »flow« des Motorradfahrers.50 Sie dürfte aber für Tiere und Säuglinge die normale Zeit sein, in der sie leben. In der reinen Modalzeit taucht die Einzelheit noch nicht oder höchstens labil und sporadisch auf, und statt der Beziehung gibt es unspaltbare Verhältnisse, aber zu Vergangenheit und Zukunft auf verschiedene Weise: Die Perspektive in die Vergangenheit ist durch die Erfahrung des Vorbeiseins im Zerreißen der Dauer geöffnet, aber der Abschied ist gedämpft durch die von Husserl entdeckte, wenn auch singularistisch missverstandene Retention 186 , das intensive Absinken der Gegenwart, und überwölbt durch zuständliche Situationen, die der Abschied nicht angreift. Die Zukunft dringt dagegen im Andrang des Neuen als Appräsenz so unmittelbar in Gegenwart ein, dass sie sich nicht als Spielraum für Erwartungen öffnet, wohl aber in Situationen für Programme und Protentionen zugänglich ist. Protentionen im hier gemeinten Sinn sind Sachverhalte, auf die man unwillkürlich gefasst ist, in der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen, aus der sie für Personen bei Überraschung und Ent186

Wie Anmerkung 181, S. 70–74, 241–248

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täuschung einzeln hervortreten, während für das Tier die Situation, mindestens die aktuelle, einfach abreißt. Weder die Programme noch die Protentionen beziehen sich in reiner Modalzeit auf Einzelnes, wenn auch schon auf absolut Identisches, das vom Nomos einer Situation zum Zugriff freigegeben wird. Die reine Modalzeit, eine Zeit des Entstehens und Vergehens, bleibt hinter der Lagezeit nur dadurch zurück, dass sie nicht durch einzelne Daten gegliedert ist. Die Gliederung durch in Früher-Später-Ordnung gereihte Daten, das Spezifikum der Lagezeit, braucht nicht durch Abstände metrisiert zu sein. Das Bedürfnis zusätzlicher Metrisierung wurde von prominenten Zeitdenkern verkannt, so von Leibniz 187 und in seiner Abhandlung über die Zeit bis fast zum Schluss von Aristoteles. 188 Eine prämetrische Lagezeit kommt in der Erfahrung allerdings selten vor. Ein packendes Beispiel ist der Bericht eines Flüchtlings von seinem Abstieg in dem durch einen terroristischen Flugzeugangriff zum Einsturz gebrachten World Trade Center am 11. September 2001: »I couldn’t tell how long we’d been in there. Time has vanished. There was no time. There was only descent. There was only counting and walking and counting, circling around again and again.« 189 Was der Berichterstatter beschreibt, ist eine prämetrische Lagezeit, gegliedert nach Daten im beständig sich wiederholenden Abstieg von Stockwerk zu Stockwerk, aber ohne zeitliche Abstände, die von der auf das Entkommen gerichteten Angst übergangen werden. Die Metrisierung der Zeit durch Abstände zwischen den Daten ist dem Berichterstatter so selbstverständlich, dass er ihren Ausfall als Zeitlosigkeit interpretiert. Die Metrisierung der Zeit wird möglich durch die für gleichEbenda S. 276–279 Ebenda S. 301–310 189 Brian Charles, The numbers. The World Trade Center, von: Thomas Bellers (Hg.): Before and After. Study from New York, New York 2002, S. 11 f.; von mir übernommen aus: Hartmut Rosa, Beschleunigung, Frankfurt a. M. 2005, S. 28 187 188

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förmig gehaltene Bewegung einer Uhr, die es gestattet, einer Strecke im Raum eine entsprechende Zeitstrecke zuzuordnen. Das räumliche Nebeneinander gestattet den Vergleich verschiedener Zeitstrecken, der sonst nur in der Erinnerung an sukzessive Darbietungen möglich wird. Die Dauer, eigentlich eine intensive und ohne Ordnung gestreute Größe, wird auf diese Weise extensiv und gleichförmig, indem ein Maß für die Länge der Abschnitte zwischen den Daten festgelegt werden kann. Die am Sonnenstrand oder am Fixsternhimmel als Uhr abgelesene Zeit wird z. B. in Jahre, Tage, Minuten, Sekunden gegliedert. Mit Hilfe solcher Abstände können die Daten in der metrisierten – anders als in der prämetrischen – Lagezeit ohne Überschneidungen abgegrenzt werden. Die zur Zeitmessung benötigte Raumstrecke kann gerade sein, wie bei Sand- und Wasseruhren, oder eine geschlossene Kurve, am Besten ein Kreis. Diese Lösung hat den Vorteil, mit der Längengleichheit der durchlaufenen Einheitsstrecken vom und bis zum Ausgangspunkt, gleichförmige Bewegung vorausgesetzt, die Gleichheit der Dauer der Durchlaufungen zu sichern, während die Längengleichheit der in gerader Bewegung durchlaufenen Teilstrecken mit zusätzlichem Vergleich und Messung gesichert werden muss. Zugleich liefert die periodische Bewegung eine natürliche Skalierung der Zeit. In beiden Fällen wird aber die Konstanz eines zum Start der Bewegung gewählten relativen Ortes vorausgesetzt, so dass die unter 4.3.1 erörterte Problematik der Ruhe bei Einführung eines Ortsraumes auch auf die Zeitmessung abfärbt. Ob es die egalisierte und extensivierte Dauer als metrisierte Lagezeit »gibt«, ist eine müßige Frage. Es gibt sie so sehr und so wenig wie die Luft und den elektrischen Strom, d. h. die Auffüllung von Halbdingen zu Volldingen im Interesse kausaler Durchordnung und Übersichtlichkeit der Welt. Anders könnten die Menschen nicht überleben, da sie nach Ausbruch aus dem Gefängnis der Situationen nicht mehr instinktiv von Programmen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit aktueller und zuständlicher Situationen gesteuert werden, sondern sich selbst 286 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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zurechtfinden müssen. Dazu benötigen sie zwecks Zeitmessung und Zeiteinteilung eine extensivierte und egalisierte Dauer. Diese ist zwar von ihnen gemacht, aber nicht willkürlich, sondern in spontaner und danach planmäßig ausgebauter Reaktion auf unabweisbaren Bedarf. Wenn dieser Bedarf befriedigt ist, reizt es die Menschen, die zu seiner Befriedigung erworbene und erprobte Kunst dem Luxus des Wechsels ihrer Bedürfnisse dienstbar zu machen. Den Volldingen als konstanten Ursachen potentieller, absehbarer Einwirkungen werden als weitere Konstanten allgemeine Naturgesetze übergestülpt, die in weit dichterem Zusammenhang voraussehen lassen, was man bei Eingriffen in den Gang des Geschehens zu erwarten hat und wovor man sich hüten sollte. Die Zeitmessung passt sich diesen aus im Experiment bewährten Regeln der Prognose verallgemeinerten vermeintlichen Naturgesetzen an. Ein Beispiel ist die spezielle Relativitätstheorie, eine Reaktion auf die experimentell erforderlich gewordene Umstellung von Prognosen für die Messung der Geschwindigkeit von Lichtstrahlen. Wenn durch solche Neuerungen die Prognosefähigkeit breiter und sicherer wird, gibt es keinen Grund zum Einhalten auf dem eingeschlagenen Weg naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts. Die Phänomenologie befindet sich im besten Einvernehmen mit der Relativitätstheorie, da es gar keine Reibungsflächen gibt. Die Relativierung durch die Relativitätstheorie betrifft nur die Metrik der extensivierten und egalisierten Lagezeit. Diese läuft nicht mehr einfach parallel zum Fluss der Zeit, sondern muss von diesem aus durch komplizerte Umrechnung gefunden werden, um sie den revidierten Naturgesetzen anzupassen. Von den Hintergründen, für die die Phänomenologie sich interessiert – die intensive Dauer, die Modalzeit, den Fluss der Zeit, das Geschehen der primitiven Gegenwart – nimmt die Physik und mit ihr die Relativitätstheorie keine Notiz. Die Modalzeit vereinigt sich mit der extensivierten und metrisierten Lagezeit zur modalen Lagezeit, der Zeit, die die Menschen kennen als die Zeit, in der sie gewöhnlich leben. Dabei 287 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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gewinnt die Lagezeit von der Modalzeit die Richtung des Wachstums aus dem Wachsen der Vergangenheit dessen, was vorbei ist, die Modalzeit von der extensivierten Lagezeit die Gliederung in Teilstrecken zwischen Daten. Die modale Lagezeit umfasst das Entstehen und Vergehen, d. h. den Übergang – in nicht bloß zeitlichem Sinn, spricht man doch auch von in einander übergehenden Farben – von Nochnichtsein in Sein und von Sein in Nichtmehrsein, und gibt ihren Inhalten einen zeitlichen Ort, der die Frage wann? zu beantworten erlaubt, wie der räumliche Ort die Frage wo? Die modale Lagezeit kann nicht leer sein: als Modalzeit nicht, weil Entstehen und Vergehen etwas voraussetzen, das entsteht und vergeht; als prämetrische Lagezeit nicht, weil deren Daten Mengen von Zeitinhalten sind; als Dauer nicht, weil diese eine intensive Größe ist wie die Wärme; als metrisierte Lagezeit nicht, weil diese zur intensiven Dauer nur deren Verräumlichung mittels gleichförmiger Bewegung hinzubringt. Die modale Lagezeit ist nicht ein Rahmen, der bloß umfasst, was sich in ihr abspielt und auch ohne solchen Rahmen auskommt, sondern sie ist ihr eigener Inhalt in der Form der modalen Lagezeit: zuerst das Entstehen und Vergehen, das Zerreißen der Dauer durch den Gegenwart exponierenden Andrang des Neuen, der unzerrissene Dauer übrig lässt, in die das Neue Seiendes nachschiebt, so dass sich Vergehen und Entstehen die Waage halten; sodann die von der Entfaltung der primitiven Gegenwart in die Welt gebrachte Lagezeit mit einzelnen Daten und gegen den Andrang des Neuen der Erwartung geöffneter Zukunft; schließlich die Einführung messbarer Zeitabstände durch Extensivierung der Dauer. Alles, was diese Ereignisse und Zustände durchmacht, ist in der modalen Lagezeit, und sie ist nichts als das, was sich auf diese Weise abspielt. Ein brennendes und für das menschliche Selbstverständnis zentrales Problem betrifft die Zukunft der modalen Lagezeit. Es handelt sich um die Frage, ob und in welchem Maße die Zukunft geschlossen (als Inbegriff dessen, was noch nicht ist, aber sein 288 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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wird) oder offen (als Inbegriff dessen, was noch möglich ist) ist, insbesondere, ob die offene Zukunft einen Überschuss über die geschlossene hat und, wenn ja, welchen. Wenn die Zukunft nur die geschlossene ist, steht für alles im voraus fest, was sein wird; alles Gegenwärtige ist dann aus der Zukunft determiniert. Man kann nichts mehr daran ändern. Dann lohnt es sich nicht mehr, sich Mühe zu geben, wie Amiel einmal eine Stimmung beschreibt, die ihn ergriffen hat. 190 Das Gegenteil, dass die offene Zukunft einen Überschuss über die geschlossene hat, ergibt sich aus dem unter 2.3 bewiesenen Satz, dass der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung für jeden beliebigen Gegenstand falsch ist. Das gilt auch für jeden zukünftigen Gegenstand. Ein solcher ist also immer nur unvollständig bestimmt. Von einem unvollständig bestimmten Gegenstand kann es aber keine genaue, d. h. bezüglich jeder möglichen Bestimmtheit als etwas zutreffende Kopie geben. Eine solche Kopie des Zukünftigen müsste aber das Gegenwärtige sein, wenn sich die Zukunft auf das beschränkte, was (nur) noch nicht ist. Im Gegenteil eröffnet jede unvollständige Bestimmtheit verschiedene Möglichkeiten der Bestimmung. Diese Möglichkeiten sind ein Überschuss der offenen Zukunft über die geschlossene. Es fragt sich nun, wie weit dieser Überschuss geht. Möglich ist alles, was sich ohne Widerspruch denken lässt, genauer gesagt: Jeder Sachverhalt kann eine Tatsache sein, und jeder Spruch einer Behauptung, der keinen Widerspruch zur logischen Folge hat, stellt einen Sachverhalt dar. Demnach ist in der Zukunft alles möglich, denn aus ihr kann man alles wegdenken, ohne dass ein Widerspruch entsteht, wenn auch ein Umräumen ihres Inhalts nötig wird. Der Überschuss der offenen Zukunft über die geschlossene ist also unbeschränkt, abgesehen von trivialen analytischen Tatsachen, die bei Strafe eines Wider»Il ne vaut pas la peine de se donner de la peine.« (H. F. Amiel, Journal intime ed. par L. Bopp, Genf 1958, Band III, S. 89 Aufzeichnung vom 24. 04. 1850)

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spruchs logisch notwendig sind. Die geschlossene Zukunft setzt der offenen keine Schranke; sie ist in dieser enthalten, wird aber erst durch das Entstehen aus dieser ausgesondert. Die geschlossene Zukunft ist insofern eine nachträgliche Zukunft dessen, was vor dem Entstehen noch nicht gewesen ist; was in ihr einzeln ist, lässt sich zwar schon vorher ansprechen, aber erst durch das Entstehen kommt es dazu, dass es vorher zu dem gehört hat, was noch nicht war, aber einmal sein würde. Ein altes Argument für den Fatalismus, das von Aristoteles und Cicero überliefert (vielleicht von Aristoteles ausgedacht) ist 191 und bis heute umstritten wird 192 , ist so gebaut: Das Bevorstehen irgend eines zukünftigen Zeitinhaltes kann im Voraus, gegenwärtig sowohl als auch in der Vergangenheit, sowohl behauptet als auch bestritten werden, sei es von derselben Person oder von mehreren, die mit einander diskutieren. Dann ist nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten mindestens eine der beiden zu einander kontradiktorischen Behauptungen wahr. Aus der Wahrheit einer Behauptung folgt aber die Tatsächlichkeit des behaupteten Sachverhalts. Mit dem wahren Spruch ist also jetzt schon die Tatsächlichkeit des Bevorstehens des behaupteten Sachverhalts besiegelt, auch wenn noch niemand wissen kann, welcher von beiden Sprüchen wahr ist. Daraus kann man wegen der Beliebigkeit des ausgewählten Falles schließen, dass für gar keinen Inhalt der Zukunft offen ist, ob er entstehen wird oder nicht. Der Fehler des Argumentes besteht darin, nur von der geschlossenen Zukunft Notiz zu nehmen, also von dem, was sich durch wirkliches Entstehen als etwas bewährt, das zuvor noch nicht war, aber einmal sein wird. Man vergleiche die beiden Sätze: »Eine zutreffende Vorhersage dessen, was noch nicht ist, Aristoteles De interpretatione Kapitel 9 (18a28–19b4); Cicero De fato Kapitel 21, 27–29, 37 192 R. M. Gale (ed.), The Philosophy of Time. A Collection of Essays, London 1968, S. 169–291 191

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aber sein wird, ist jetzt schon wahr«, »Eine zutreffende Vorhersage dessen, was sein wird oder nicht sein wird, ist jetzt schon wahr.« Der erste Satz ist wahr, und darauf beruft sich das Argument; er betrifft aber nur die geschlossene Zukunft. Der zweite Satz betrifft die offene Zukunft, ist aber sinnlos, weil es eine Voraussage dessen, was sein wird oder nicht sein wird, nicht geben kann; sie müsste je offen lassen, ob es sein wird oder nicht sein wird, und wäre dann keine Voraussage. Das Argument rechnet aber nur mit der erst nachträglich, in der anschließenden Gegenwart und Vergangenheit, ausgesonderten geschlossenen Zukunft, die nachträglich allerdings feststeht, und beweist ganz richtig, dass in dieser geschlossenen Zukunft nichts mehr offen ist. Die nachträgliche Entscheidung darüber, was zu ihr gehört, die erst durch das Entstehen fällt, wird ignoriert und die daraus nachträglich resultierende Zukunft auf die ganze Zukunft projiziert, so dass für die offene Zukunft von vornherein kein Platz mehr bleibt. Die Offenheit der Zukunft hat eine Folge in der Frage nach einer Strömung des Flusses der modalen Lagezeit. Der Fluss der Zeit hat seine Richtung vom Wachsen der Vergangenheit und Schrumpfen der Zukunft, und dabei bleibt es, gleich ob man ihm eine regressive oder eine progressive Strömung zuschreibt. Regressiv ist der Andrang des Neuen, der Dauer zerreißt und in die Vergangenheit des Nichtmehrseins verabschiedet; daher passt zur primitiven Gegenwart und zur reinen Modalzeit die regressive Strömung. Progressiv wäre ein Druck von der Vergangenheit her mit der Gegenwart an der Spitze, die sich in die Zukunft hineinfrisst, doch ist dies vielleicht ein Mythos eines naiven Kausaldenkens, das hinter jedem Geschehen einen Motor vermutet, während es sich darum handelt, dass das Fortwähren unzerrissener Dauer dem Andrang des Neuen immer wieder Angriffspunkte für aktuelle Situationen bietet. Jedoch kommt die Offenheit der Zukunft der Vorstellung einer progressiven Strömung entgegen, unter der Voraussetzung, dass die modale Lagezeit ihre eigenen Inhalte ist. Eine Zukunft, die als geschlos291 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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sene noch nicht ist und sich im Entstehen regressiv in die Gegenwart stürzen könnte, steht in der offenen Zukunft vor dem Entstehen nicht fest; sie wächst mit dem Entstehen im Fluss der Zeit in die Zukunft hinein. Das ist ein Grund, diesem Fluss eine progressive Strömung zuzuschreiben.

4.3.3 Das Sein Das Sein ist im Geschehen der primitiven Gegenwart und manchmal in der reinen Modalzeit sehr packend gegenwärtig, in leiblicher Enge am Rande des Vorbeiseins deutlich bis zum Gestelltsein von ihm ohne Spielraum. Das Nichtsein steht ihm dann aber nur mit einem schmalen Abschnitt gegenüber, als Nichtmehrsein der zerrissenen Dauer. In der Welt entfaltet das Sein sich zum Gegenteil des Nichtseins in der vollen Breite des Nichtseienden, verliert dabei aber an Eindringlichkeit, so dass es meist nur noch als Klassifikationsmerkmal des Seienden benützt wird, wenn man sich vor Illusionen hüten will. Mit dieser Lockerung der Eindringlichkeit mag es zusammenhängen, dass es der Einzelheit gelingt, in der Welt die Grenze vom Seienden zum Nichtseienden zu überspringen. Das ist die Voraussetzung für die spezifisch personalen Fähigkeiten des Menschen, sich zu erinnern, zu erwarten, zu hoffen und zu fürchten, zu phantasieren, zu planen und zu wagen. Alles das vermögen die Tiere nicht, da sie nicht zur Emanzipation des Seins in der Welt gelangen und schon gar nicht zur Projektion von Einzelnem ins Nichtseiende. Der Umgang mit Einzelnem im Nichtseienden stößt aber an die Schwierigkeit, dass es sich in den meisten Fällen nicht eindeutig kennzeichnen lässt. Eine Ausnahme macht das Erinnern, da die Vergangenheit mit allem Nichtmehrseienden zur wirklichen Welt gehört. An ein vergangenes Ereignis kann man sich genau so eindeutig erinnern, wie man seine Aufmerksamkeit auf ein gegenwärtiges richten kann. Bei fiktiven Gegenständen 292 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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und solchen der Zukunft ist das unmöglich. Sie können allerdings im Netz der phantasierten Geschichte oder der auf die Zukunft gerichteten Erwartung eine Stelle haben, an der sie durch eine in diesem Rahmen eindeutig bezeichnende Eigenschaft oder Beziehung eingebunden sind, aber an diese Stelle passen immer unendlich viele Fälle von Gattungen aus möglichen Welten, ohne dass man wissen kann, in welche mögliche Welt der betreffende Gegenstand gehört. Für eine poetische Figur gibt es immer unendlich viele Kandidaten, die nur die Bedingung erfüllen müssen, alle Merkmale zu besitzen, die der Dichter ihnen zuschreibt oder offensichtlich unterstellt. Man kann zwar auch nicht alle Attribute eines gegenwärtigen oder vergangenen Gegenstandes kennen, aber man kann sie eindeutig kennzeichnen, als diejenigen, die er in der wirklichen Welt besitzt; das Entsprechende ist für fiktive Gegenstände nicht möglich, weil man nicht sagen kann, in welche mögliche Welt sie gehören. Gleiches gilt für die Inhalte der offenen Zukunft. Auch sie gehören noch nicht zur wirklichen Welt, weil nicht feststeht, welche von ihnen noch nicht sind, aber einmal entstehen werden. Sie haben unendlich viele Attribute, von denen die wenigsten bekannt sind, während die übrigen, je nachdem, wie sie ausfallen, für unendlich viele verschiedene Gegenstände reichen. Das ist der Grund dafür, dass die Erwartung sich im Gegensatz zur Erinnerung gewöhnlich und legitimerweise auf Sachverhalte und nicht auf Individuen richtet, also z. B. darauf, dass ein Kind mit gewissen Eigenschaften und Beziehungen geboren werden wird, aber nicht auf dieses Kind, das zwar im Netz der Erwartungen seinen festen, eindeutig bestimmten Platz hat, ohne dass man aber wüsste, welches Kind es sein wird.

4.3.4 Die Identität Die Entfaltung der absoluten Identität in der Welt besteht darin, dass sich die absolute Identität zur relativen Identität von etwas 293 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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mit etwas ergänzt, indem ein absolut identischer Gegenstand verschiedene Gattungen als ihr gemeinsamer Fall bündelt. Nachdem der erste, entscheidende Schritt zum Übergang in die Welt, die Explikation einzelner Gattungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen mit anschließender Kombination zu Konstellationen, getan ist, bietet schon die Subsumtion (das Fallen) unter eine einzige Gattung der dadurch einzelnen absolut identischen Sache die Gewähr, in einem konsolidierten, nach Unterschieden geordneten Netz von Gattungen aufgefangen und stabilisiert zu werden. Die relative Identität, wodurch sie nicht nur einmal in einem solchen Netz befestigt ist, macht die Sache vielseitig; welcher gewaltige Gewinn für diese daraus abfallen kann, hat sich unter 3.5 daran gezeigt, dass die Selbstzuschreibung und Selbstbestimmung der Person nur auf diese Weise möglich ist. Eine noch höhere Stufe der Wendigkeit und Beweglichkeit wird durch relative Identität erreicht, wenn dieselbe Sache durch ihr Fallsein nicht nur an verschiedene Stellen eines Netzes von Bedeutungen andockt, sondern auch an verschiedene, eventuell gegensätzliche Netze, wodurch sie auf verschiedene Weisen, die gegen einander ausgespielt werden können, beleuchtet wird. Diese Möglichkeit zu erkennen und auszuarbeiten, war die Leistung der vorplatonischen Sophisten, die von Platon zu Unrecht denunziert worden sind, besonders des Protagoras, der in diesem Sinn »die schwächere Rede zur stärkeren machen«, »über jede Angelegenheit entgegengesetzte Reden führen« wollte und dazu zwei Bücher Antilogien verfasste. 193 Es handelt sich um die Entdeckung der Nuance, die keineswegs einer böswilligen Verdrehungskunst zu dienen braucht, sondern im Gegenteil dazu verhelfen kann, einer von Vorurteilen herabgesetzten Sache eine bessere Würdigung in einer anders konzipierten Sichtweise zu verschaffen. Diese Kunst ist unentbehrlich, wenn es gilt, unverträglich scheiVgl. Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie Band I, Freiburg 2007, S. 135

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nende Überzeugungen und Programme, je aus dem Nomos eigenständiger Situationen der Kultur oder Tradition stammend, auf einander abzustimmen. Wer die Kunst der Nuance beherrscht, hat einen weiteren Horizont und ist potentiell klüger als der Dogmatiker, der immer gleich die richtige Antwort oder wenigstens die Methode, diese zu finden, zur Hand hat. Zu solcher gehobenen Intelligenz befähigt die relative Identität den Menschen.

4.3.5 Die Subjektivität Der zuvor bloß absolut identische Bewussthaber wird in der Welt zum einzelnen Subjekt und zur Person, indem er sich durch Selbstzuschreibung als Fall verschiedener Gattungen versteht; ob er sich dabei vergreift, z. B. in wahnhafte Selbstverkennung, darauf kommt es nicht an. Die präpersonalen Voraussetzungen dieser Personwerdung sind aus den Abschnitten 1.1 und 3.5 bekannt. Selbstzuschreibung ist nur möglich durch Vorbekanntschaft mit sich in einem identifizierungsfreien Sichfinden, das im affektiven Betroffensein stattfindet, wobei dieses für die Freiheit von Identifizierung auf die primitive Gegenwart angewiesen ist, in der das identifizierende Scihfinden durch unspaltbares Verhältnis zwischen dem affektiv betroffenen Bewussthaber und einem absolut identischen Etwas ersetzt wird. Wer der Bewussthaber ist, darüber geben die objektiven Tatsachen, wie die Polizei sie ermitteln kann, keine Auskunft, wohl aber führt von den subjektiven Tatsachen zu den objektiven ein Weg durch Abschälung der Subjektivität, durch Neutralisierung. Dies sei ins Gedächtnis gerufen. Um sich in der Welt zurechtzufinden, benötigt der personale Bewussthaber außer den bisher erörterten Errungenschaften – des Fallseins unter einem System einzelner Gattungen, der Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen, der Projektion von Einzelheit ins Nichtseiende – eine weitere Voraussetzung: 295 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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die Neutralisierung subjektiver Bedeutungen (Tatsachen, untatsächliche Sachverhalte, Programme, Probleme) durch Abfallen der Subjektivität für ihn. Man sieht das an schweren Träumen, wenn sich der Träumer vor Not und Verlegenheit nicht zu helfen weiß und froh ist, wenn er, erwachend, merkt, dass es nichts gewesen ist. In einem solchen Traum sind jene Voraussetzungen erfüllt; er kann sogar hoffen und fürchten, also Einzelnes ins Nichtsein projizieren; und doch ist er gelähmt, weil er sich nicht in Sachlichkeit distanzieren, Möglichkeiten nicht kühl und kritisch abwägen kann, sondern in seiner bedrängten Subjektivität befangen bleibt. Im Leben aus primitiver Gegenwart sind alle Bedeutungen für jemand subjektiv, so auch im Leben des Säuglings; noch vor Ablauf des ersten Lebensjahres pflegt beim normalen Menschen das Erwachsen zu beginnen, die Entfremdung auf Grund der Entlassung gewisser Tatsachen in Neutralität. Das Kind fühlt sich vom Fremden gestört. Am Gegensatz zu diesem bildet sich allmählich das Eigene heraus, auf der Grundlage der subjektiv gebliebenen Bedeutungen. Das Eigene, das sich lebenslang entwickelt und verschiebt, hat zwei Gestalten; die persönliche Eigenwelt (im Gegensatz zur persönlichen Fremdwelt) und die persönliche Situation. Zur persönlichen Eigenwelt gehören alle für die Person subjektiven Bedeutungen und solche Sachen, für die der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, dass sie existieren, für die Person subjektiv ist; es können auch viele Illusionen und Phantasiegebilde dazu gehören, so dass auch untatsächliche Sachverhalte berücksichtigt werden müssen. Volkstümlicher gesagt: Zur persönlichen Eigenwelt gehört alles, woran die Person in Zuneigung oder Abneigung (Abwehr) »hängt«. Zur persönlichen Fremdwelt gehören alle Bedeutungen, die aus der persönlichen Eigenwelt durch Neutralisierung ausgeschieden sind, und alle Sachen, für die der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, dass sie existieren, von dieser Art ist. Zur persönlichen (zuständlichen) Situation gehört, was die Person innerhalb ihrer persönlichen Eigenwelt sich selbst 296 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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zurechnet, insbesondere also die für sie subjektiven Bedeutungen. In der persönlichen Situation treiben und reiben sich, gleitend wie zähflüssige Massen, viele partielle Situationen, teils retrospektive wie Kristallisationskerne der Erinnerung, die wie Halbdinge vergessen werden und (auch mit Modifikationen) wieder auftauchen, teils präsentische Situationen wie Standpunkte, habituelle Interessen, der Sprachschatz, die Gesinnung, die Fassung, die Lebenstechnik, und prospektive Situationen, die (oft schwer fassbar) andeuten, worauf die Person hinaus oder wovon sie weg will; diese können auch im Streit liegen. Die Herausschälung des Eigenen am Gegensatz zu dem durch Neutralisierung und Entfremdung in die persönliche Fremdwelt Verwiesenen ist personale Emanzipation. Da aber die Person ohne die Verankerung in der leiblichen Dynamik (vitaler Antrieb, primitive Gegenwart) nicht einmal zur Selbstzuschreibung käme, bedarf sie einer zur personalen Emanzipation gegenläufigen personalen Regression, die die Neutralisierung und Verfremdung resubjektivierend zurückfährt und sich dem Leben aus primitiver Gegenwart wieder annähert. Bloße personale Regression würde zur Fassungslosigkeit mit Verlust der Selbstbestimmung führen, personale Emanzipation ohne das Gegengewicht personaler Regression dagegen zur Verflüchtigung der Selbstgewissheit, weil das Eigene am Gegensatz zum Fremden festgemacht bliebe, statt an der Unmittelbarkeit des Sichspürens im leiblich-affektiven Betroffensein. Tatsächlich gehen beide Tendenzen im Allgemeinen – mit exzentrischen Ausnahmen – Kompromisse ein. Deswegen verläuft die personale Emanzipation nicht gleichmäßig, sondern in Stufen. Ich spreche von Niveaus der personalen Emanzipation. Ein Niveau ist höher als das andere, wenn es auf Grund von mehr Neutralisierung eine deutlichere Abhebung des Eigenen vom Fremden (Entfremdeten) ermöglicht. Von jedem höheren Niveau der personalen Emanzipation aus ist jedes niedrigere ein Niveau personaler Regression. Der Nachweis von Niveaus der personalen Emanzipation ge297 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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lingt besonders klar am Beispiel der zuerst von Aristoteles und heute wieder in der analytischen Philosophie diskutierten Akrasie. Ein Musterbeispiel ist der faule Bettgenießer, der morgens mit der Einsicht, wegen einer wichtigen Erledigung sofort aufstehen zu sollen, erwacht, es aber so schön wohlig und warm im Bett findet, dass er dennoch liegen bleibt. Das ist keine »weakness of will«, wie die analytischen Philosophen meinen. Sein Wille wäre schwach, wenn er entweder keine Absicht bildete oder dieser nicht seinen vitalen Antrieb zuwendete. Tatsächlich bildet er sogar zwei entgegengesetzte Absichten, von denen die eine, der Subjektivität des affektiven Betroffenseins nähere, den Zuschlag des vitalen Antriebs erhält. Er steht auf zwei Niveaus personaler Emanzipation, von denen das niedere, als Niveau personaler Regression, sich durchsetzt. Der Übergang zu einem höheren Niveau findet im umgekehrten Fall statt, wenn jemand mit einem Ruck seines vitalen Antriebs eine Hemmung, Bequemlichkeit oder Widerwärtigkeit überwindet. Zwei Niveaus personaler Emanzipation vereinigt ein Mensch, der sich selbst Mut zuspricht, seine Scham oder seinen Zorn belächelt oder beschämt oder einer lustigen Laune ein bemessenes Stück weit die Zügel schießen lässt. Die Person hat von sich aus keinen festen Stand zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression. Für die Selbstzuschreibung bedarf sie der Vereinzelung und Neutralisierung, zu der dafür vorausgesetzten identifizierungsfreien Kenntnis von sich aber der Resubjektivierung mit mehr oder weniger weit getriebener Einschmelzung der Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden. Sie bedarf der Integration beider Tendenzen. Diese gelingt gelegentlich durch zwei darauf angelegte Abläufe einer natürlichen Technik, durch Lachen und Weinen. 194 Das reicht aber nicht aus. Um sich im Zwiespalt von perVgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie Band IV S. 114–131; Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1990, S. 159–166; selbst sein, Freiburg 2015, S. 138–155

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sonaler Emanzipation und personaler Regression dauerhaft zu stabilisieren, gibt sich die Person eine Fassung. Fassung ist das, was man verliert, wenn man die Fassung verliert. Sie ist spielerische Identifizierung der Person durch sich selbst mit etwas, das eindeutiger ist als sie. Spielerische Identifizierung besteht darin, etwas ohne Verwechslung und ohne Fiktion als etwas anderes zu nehmen. Das einfachste Beispiel ist die Bildnahme. Wenn man nicht auf das Bild als Bild reflektiert, sieht man es nicht als Bild, sondern als das Abgebildete, etwa als Landschaft oder, wenn es sich um ein gelungenes Porträt handelt, als das fesselnde Gesicht eines Menschen. Ebenso nimmt man den Schauspieler als die gespielte Figur, sowohl auf der Bühne als auch besonders im Film, wo nicht einmal der Schauspieler als Mensch zugegen ist. Dass in solchen Fällen keine Verwechslung vorliegt, sollte klar sein. Kein Kinobesucher wird in einem Hitlerfilm den Schauspieler mit Hitler verwechseln, als triebe dieser in nächster Nähe sein Unwesen. Dass aber auch keine Fiktion vorliegt, ergibt sich aus einer Abnormität spielerischer Identifizierung. Echte Identifizierungen sind umkehrbar, und das gilt auch für fiktive. Wenn ich sage, als Kaiser Wilhelm II hätte ich eine andere Flottenpolitik gemacht, fingiere ich mich als den Kaiser und den Kaiser als mich. Die Identität spielerischer Identifizierung ist dagegen unumkehrbar. Der Schauspieler in der Rolle Hitlers wird als Hitler gesehen, aber Hitler doch nicht als dieser Schauspieler, sondern als die bekanntlich verstorbene geschichtliche Persönlichkeit. Niemand wird der Meinung sein, die im Bild gesehene Landschaft mit weitem Horizont habe auf der schmalen Bildtafel Platz. Jesus, ein Stück Brot brechend, sagt beim Abendmahl: »Das ist mein Leib.« Er hütet sich vor der Umkehrung, zu sagen: »Mein Leib ist das.« Dann läge nämlich die Frage allzu nah: »Weiter nichts?« Die Fassung ist von dieser Art. Ein Mensch, der sich nicht nur mit seiner Fassung identifizierte, sondern auch umgekehrt diese mit sich verwechselte, wäre eine unflexible Karikatur wie aus den Komödien von Molière. Zur Fiktion wird die Fassung, wenn 299 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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sie bloß aufgesetzt ist; so etwas ist aber nur ein Zusatz zu einer unwillkürlichen Fassung, die der Kenner unter dem Spiel entdecken kann. Die voll lebendige Person schöpft aus einer Fülle von Möglichkeiten mit unwillkürlichem Einsatz ihrer Fassung und behält bei dieser Schöpfung eine Wendigkeit, die sich den Umständen nicht verschließt. Die Fassung kann auch wechseln. Jugendliche identifizieren sich schwärmerisch mit wechselnden Vorbildern, aber nur spielerisch, denn der würde für verrückt gehalten, der auch umgekehrt glaubte, das Vorbild sei er. Oft besteht der Wechsel der Fassung in einem Wechsel des Niveaus personaler Emanzipation bzw. Regression. Der sogenannte Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., der Vater Friedrichs des Großen, vereinigte auf solche Weise Pflichteifer und Verantwortungsgefühl mit brutaler Rücksichtslosigkeit, Herrschsucht und Jähzorn, Verzagtheit und Tatenscheu in der Außenpolitik mit expansiver Triebhaftigkeit als Familientyrann und derber Gemütlichkeit ohne Schroffheiten im Kreis seiner Kameraden im Tabakskollegium. 195 Oft ist solcher Wechsel des Niveaus der Fassung und personaler Regression an das soziale Umfeld gebunden und bleibt dann abgestimmt auf die persönliche Situation, wie programmiert. Wenn er sich ganz unvorhersehbar verselbständigt, entsteht das Krankheitsbild der Hysterie (eventuell bis zum Anschein der Persönlichkeitsspaltung). Etwas anderes als dieser ruckartige Wechsel der Fassung ist ihre geschmeidige Anpassung, die ihrer stabilisierenden Leistung nicht im Wege steht. Dadurch entwickelt sie sich dem Mitmenschen gegenüber zu einem intelligenten Fingerspitzengefühl des Eingehens. Sie ist immer auch leiblich, da sie zwischen personaler Emanzipation und leiblicher Dynamik vermittelt. Durch ihre Anpassungsfähigkeit wird sie zum feinsten Fühler der Einleibung. Ihr Schwingen macht es möglich, den Anderen am eigenen Leib zu spüren und dadurch einen vielsagenden Eindruck zu empfangen. Hermann Hoffmann, Das Problem des Charakteraufbaus, Berlin 1926, S. 130–135

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Man sagt dann, man habe sich eigentümlich berührt gefühlt. Wer auf den Anderen eingeht, muss seiner Fassung Spiel lassen, ohne sie aufzugeben; wer sei starr festhält, sieht am Mitmenschen vorbei. Die Fassung stabilisiert nicht nur zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression, sondern auch im Verhältnis von persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt. Zwischen beiden Teilwelten gibt es breite Grauzonen, in denen die Subjektivität in Neutralität gleichsam ausläuft, so dass die Grenze zwischen dem Bekenntnis des Nahegehens und der sachlichen, distanzierten Feststellung verschwimmt. Um sich in diesen Grauzonen zu behaupten, benötigt die Person eine Projektion ihrer Fassung, die von den für sie subjektiven Bedeutungen hinlänglich gelöst ist, um auch noch in ihrer persönlichen Fremdwelt Aufnahme zu finden. Sie gibt sich eine objektivierbare, neutralisierbare Form. Insbesondere stabilisiert sie sich nach dem Vorbild etablierter Menschentypen, z. B. als preußischer Offizier, Gentleman, Kavalier, kokette Verführerin, treusorgende Mutter usw. Der Mensch gibt sich eine Form, indem er sich behauptet und zugleich in die Objektivität entlässt. Auch das ist ein Gelingen seiner Fassung, kein falsches Spiel. Eine weitere stabilisierende Leistung vollbringt die Fassung im Verhältnis zum Mitmenschen. Dieser gewinnt von der Person, die er erblickt, oft schon bei der ersten Begegnung einen vielsagenden Eindruck, in dem sich die ganze Persönlichkeit des Anderen wie in einem Plakat zusammenzuziehen scheint. Dieser erste Eindruck kann täuschen, aber er gewährt dem Mitmenschen einen analytischen Zugang zur persönlichen Situation des Anderen, vom Ganzen zum Detail weiterer Erfahrungen, mit denen er den ersten Eindruck abklärt, ergänzt, korrigiert oder bestätigt. Durch diesen analytischen Zugang hat der Mitmensch einen uneinholbaren Vorzug vor der erblickten Person. Diese kann von sich selbst keinen vielsagenden Eindruck haben, im Sinn einer impressiven Situation, die die ganze binnendiffuse Bedeutsamkeit ihrer persönlichen, segmentierten Situation mit 301 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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einem Schlage zum Vorschein bringt. Sie kann einem solchen vielsagenden Eindruck nur synthetisch näher kommen, indem sie aus einzelnen Erfahrungen mit sich lernt. Der Vorteil des Mitmenschen vor ihr zeigt sich daran, dass er eher als sie zu pauschalen Urteilen über sie befähigt ist, indem er sie z. B. als zuverlässigen Menschen oder als Leichtfuß, als Streber, kurzentschlossen, kühn, Feigling, edelgesinnt, vornehm tuend usw. charakterisiert. Wer sich selbst solche pauschalen Urteile über sich herausnimmt, überzieht seine Kompetenz. Um diese Überlegenheit des Mitmenschen zu kompensieren, hält ihm die Person ihre Fassung als ein Ganzes von sich entgegen. Da sie aber ebenso den Mitmenschen erblickt wie er sie, entwickelt sich in der Begegnung ein nach beiden Seiten prinzipiell ausgewogener Konflikt von Blick und Fassung, der aber für Dominanz einer Seite offen ist. Diese vierte Funktion der Fassung, die Stabilisierung im Verhältnis zum Mitmenschen, gibt noch am Ehesten Anlass zu Angeberei und Auftrumpfen, aber sie ist im Kern so urwüchsig und so wenig aufgesetzt wie die drei anderen Funktionen, die Vermittlung zwischen Emanzipation und Regression, die Formfindung und die elastische Aufgeschlossenheit. Man darf in den Ausdruck »spielerische Identifizierung« nichts Verspieltes hineinhören. Spielerische Identifizierung kann tödlicher Ernst sein. Ich habe den Ausdruck im Hinblick auf den Schauspieler gewählt, der eine Figur spielt und dabei im Allgemeinen ganz bei der Sache ist. Der Inhalt der Fassung wird teilweise von der Berufs- und Familienrolle bestimmt. Wichtiger noch ist, was der Psychiater Jürg Zutt als innere Haltung herausgearbeitet hat. 196 Sie ist gleichsam die Geste, womit die Person entgegennimmt, was auf sie zukommt. Zutt gibt folgendes Beispiel: »Manche Haltungen, Jürg Zutt, Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963, S. 1–81: Die innere Haltung.

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die aus bestimmten Wesenszügen hervorgehen, können fast dauernd die innere Haltung und damit das Handeln eines Menschen bestimmen, so Aufrichtigkeit, Stolz, Liebenswürdigkeit, Bedächtigkeit. Aus diesen Grundhaltungen heraus entwickeln sich die Nuancen von Einzelhaltungen, wie z. B. Entgegenkommen, Abweisen, Begrüßen, Verabschieden.« 197 Andere Beispiele sind misstrauische Vorsicht, sanfte Bestimmtheit, Jovialität oder Komplexe wie Freuds analer Charakter (ordentlich, sparsam, eigensinnig) oder der von Tellenbach beschriebene Typus melancholicus von Menschen, die vitale Unsicherheit durch ein Übermaß von Gewissenhaftigkeit, Fürsorge, Dienstbarkeit und Einordnung kompensieren, dabei aber der Mutlosigkeit und Selbstvorwürfen ausgesetzt sind. 198 Mit ihrer Fassung steht die Person an verschiedenen Fronten der Auseinandersetzung im Bemühen um Stabilisierung und Selbstbehauptung. Die Fassung gehört zur persönlichen Situation, die sich in den aktuellen Situationen solcher Auseinandersetzung lebenslang in Bewegung befindet und Verschiebungen durchmacht. Daran sind die Prozesse der personalen Emanzipation und personalen Regression, der Explikation aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der persönlichen Situation und der Implikation in diese beteiligt. Sie können sich überschneiden. Die personale Emanzipation pointiert das Eigene und das Fremde und übergeht dabei Nuancen des affektiven Betroffenseins, die in die binnendiffuse Bedeutsamkeit zurücksinken; die personale Regression verwischt die Konturen des Eigenen und Fremden, wirkt aber explizierend durch starke Eindrücke, auf die der Mensch im leiblich-affektiven Betroffensein gestoßen wird. Darüber hinaus, und hauptsächlich, geschieht die Implikation durch Einheilen des Einzelnen in das Ganze der persönlichen Situation im Wege des Vergessens, das ein Wechsel des Mannigfaltigkeitstyps vom numerischen zum chaotischen Mannigfalti197 198

Ebenda S. 14 Hubert Tellenbach, Melancholie, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1961

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gen ist, mit der Chance für das Einzelne, aus dieser Verschwommenheit wie ein Halbding mit unterbrechbarer Dauer in derselben oder einer gewandelten Gestalt wieder aufzutauchen. Dazu kommt eine weitere Front der Auseinandersetzung, an der die persönliche Situation, nicht unmittelbar aber die Fassung beteiligt ist: die Auseinandersetzung der Person mit ihrer eigenen persönlichen Situation. Sie beherrscht die erste Phase des Wollens, die Absichtbildung. Es ist ein großes Verdienst von Hans Thomae, mit guten empirischen Gründen die alte und in der älteren Phänomenologie seit Husserl erneuerte Missdeutung des Willens als zwischen Motiven eigenmächtig entscheidende Instanz widerlegt zu haben. 199 Viel eher ist das Wollen in seiner ersten Phase, der Absichtbildung angesichts einer Herausforderung, ein intelligenter Umgang der Person mit ihrer eigenen persönlichen Situation, um dieser ein einstimmiges Programm abzugewinnen, manchmal in der Rolle eines diplomatischen Vermittlers zwischen divergierenden Stimmen, manchmal (im Fall der Willensleichtigkeit nach Klages 200 ) durch einfaches Ablesen. Hier zeigt sich besonders deutlich der Unterschied zwischen der persönlichen Situation und der Seele (oder dem Bewusstsein) im alten Sinne, die (das) als Wohnsitz oder Zubehör des Subjektes gedacht wurde, nicht in Gegenstellung. Nach diesem ersten Schritt des Wollens, den ich sowohl für wichtige Lebensentscheidungen wie auch für banale Entschlüsse wie das Wählen von der Speisekarte nachgewiesen habe 201, muss noch der vitale Antrieb zur Zuwendung zu der gebildeten Absicht gewonnen werden, damit aus der Absicht Wollen wird; so steht die wollende Person in der Mitte zwischen ihrer persönlichen Situation und ihrer leiblichen Disposition (3.5). Sie wird ihre persönliche Situation niemals los, taucht aber beständig unter Hans Thomae, Der Mensch in der Entscheidung, München 1960 Ludwig Klages, Grundlagen der Charakterkunde, 9. Auflage Zürich 1948, S 29 201 Hermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg 2010, S. 99–107 199 200

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Anfang und Ende der Welt

sie ab ins Leben aus primitiver Gegenwart, schon in allen routinierten Verrichtungen wie dem Sprechen als Sprach- und Mundgebrauch und der gesamten flüssigen Motorik, z. B. beim Gehen, Greifen, Kauen und Tanzen.

4.4 Anfang und Ende der Welt Die Welt ist kein Komplex, der von sich aus bestünde, sondern ein Gesicht, das mit Nichtseiendem vermischtes Seiendes dem Menschen zeigt, wenn er es mit satzförmiger Rede anspricht. Dadurch werden einzelne Gattungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen herausgeholt und zu Netzen ausgestaltet, von denen beliebige absolut identische Gegenstände als Fälle von Gattungen eine stabile und zusammenhängende Einzelheit erlangen können. Diese kann ins Nichtseiende verlängert werden, und Verhältnisse können so in Beziehungen gespalten werden, dass das Denken sich unter dem Einzelnen mit veränderlichen Konstellationen frei bewegen kann. Wenn aber die Fähigkeit satzförmiger Rede erlischt, ist auch die Welt nicht mehr da, weil sie nichts als eine Erscheinung ist, die auf diese Rede eingeht. Da aber die Menschen hoffen können, dass ihnen ihr Vermögen nicht abhanden kommt, macht es für sie keinen Unterschied, ob die Welt immer da ist oder nur, wenn sie auf ihre Art reden können. Wenn dies nicht mehr der Fall sein sollte, wären zwar Raum und Zeit, einzelne Sachen und Personen in ihnen, mit etwas identische Gegenstände nicht mehr da, aber nichts spricht dagegen, dass es noch Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit und Leben aus primitiver Gegenwart geben könnte, auch mit rudimentären Formen von Raum und Zeit wie Richtungsraum und reine Modalzeit. Viel drastischer wäre das Verschwinden, wenn auch noch der Andrang des Neuen ausfiele und mit ihm das Geschehen der primitiven Gegenwart. Dann wäre nicht einmal mehr absolute Identität möglich und alles, mit Ausnahme absolut konfus chaotischer Mannigfaltigkeit, 305 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Welt

wäre mit einem Schlage weg. Es braucht ja nicht immer etwas Neues zu passieren, aber die Dimension des Betroffenwerdens vom plötzlichen Andrang des Neuen muss offen bleiben, um mit der primitiven Gegenwart den Urakzent zu setzen, aus dem absolute Identität herstammt. Entstehen muss möglich bleiben. Die leibliche Dynamik, in der als vitaler Antrieb nach der Seite der Engung das Geschehen der primitiven Gegenwart sich fortsetzt, dürfte die Gewähr dafür geben. Unter denselben Bedingungen wie das Ende der Welt steht ihr Anfang. Deswegen ist es naiv, einfach vorauszusetzen, sie habe immer bestanden, soweit man zurückrechnen kann, und es gelte nur noch, ihren früheren Zustand zu ermitteln. Es ist naiv, das Geschehen in den ersten Sekunden nach dem Urknall untersuchen zu wollen, wenn man nicht sicher ist, dass jemand mit satzförmiger Rede dabei gewesen ist. Die Einzelheit dürfte knapp werden und versiegen, ehe so viele einzelne Sekunden beisammen sind, wie man bis zum Urknall braucht. Die Zeit, wie wir sie kennen, die modale Lagezeit, überhaupt eine Lagezeit mit der Dimension des Früheren und Späteren, kann es so wenig wie einen Ortsraum gegeben haben, ehe der Mensch satzförmig reden lernte; und selbst dann wird es noch gedauert haben, bis er die Uhr und damit die Möglichkeit metrischer Extensivierung der intensiven Dauer entdeckte. Vielleicht hat ihm die Begegnung mit der Fläche (4.3.1) dabei geholfen; das könnte geschehen sein, als er anfing, in der Fläche zu zeichnen. Dann wäre die Zeit vielleicht etwas mehr als 30 000 Jahre alt.

4.5.5 Das naturwissenschaftliche Weltbild Seit etwa 1600 wird das seit der Spätantike herrschende christliche Weltbild auf dem Boden des durch die germanischen Völker erweiterten weströmischen Reiches vom naturwissenschaftlichen Weltbild abgelöst, zunächst mit dem Begriffsapparat des 306 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Das naturwissenschaftliche Weltbild

Mechanismus 202, dem sich im 19. Jahrhundert die Elektrooptik und auf deren Basis im frühen 20. Jahrhundert die Revolution durch die auseinander strebenden Systeme der Relativitätstheorie und Quantenphysik anschließen. Das naturwissenschaftliche Weltbild beruht auf der Weltspaltung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung. Der Psychologismus dient ihm dazu, naturwissenschaftlich nicht beherrschbare Erfahrungsmassen in die abschließbaren Gefängnisse der Seelen abzuschieben. Der Reduktionismus erlaubt den für den Erfolg der Naturwissenschaft an der Wurzel entscheidenden Kunstgriff: die Reduktion der aus der Außenwelt aufzusammelnden Daten auf solche Sorten, die für statistische und experimentelle Zwecke durch intermomentane und intersubjektive Identifizierbarkeit, Messbarkeit und selektive Variierbarkeit optimal geeignet sind, nämlich die unspezifischen Sinnesqualitäten. Damit greift die Naturwissenschaft (um 1600 über Epikur, Lukrez und Gassendi, von dem Locke abhängt) auf Demokrit zurück, der nach Aristoteles 203 nur Gestalt, Anordnung und Lage im Raum zuließ; man (vielleicht er selbst) hat die Liste noch etwas verlängert, aber die Reduktionsidee blieb dieselbe. Die Introjektion verhilft dazu, den Abfall der reduktionistischen Abschleifung, der aber zum größten Teil vergessen und übersehen wurde (3.1), in den Seelen abzuladen. Auf dieser stark verkürzten Abstraktionsbasis errichtet die Naturwissenschaft, geführt von der Physik als Leitwissenschaft, ihr zum Lohn für großen Scharfsinn und gewissenhafte Sorgfalt unerhört erfolgreiches Lehrgebäude bewährter Vorhersagen, die der Menschheit durch die Maschinentechnik die seit Jahrtausenden vergeblich gesuchte Kunst geregelten Zauberns ermöglichen. Die Naturwissenschaft erreicht das teils mit Beobachtung (z. B. der Himmelskörper), hauptsächEduard Jan Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin/ Heidelberg/New York 1956 203 Metaphysik 1042b 11–15 202

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lich aber durch gezielte Versuche mit selektiver Variation von Variablen (Experimente), die durch Auswertung der Ergebnisse immer breitere und feinere Vorhersagen gestatten. Mit Zusatz von Gedankendingen, die aus anschaulichen Modellvorstellungen (Partikeln, Ströme usw.) gewonnen sind, und mathematischer Kalküle gewinnen die Physik und die ihr durch Gebrauch ihrer Untersuchungsinstrumente zur Begründung sich anschließenden Naturwissenschaften einen Kanon bewährter, aber stets der Revision und Verbesserung ausgesetzter Regeln für die Prognose des von den natürlichen Abläufen und nach Eingriff in diese vernünftig Erwartbaren. Die Güte der Prognose entscheidet über den Erfolg der Naturwissenschaft. Deshalb sind die im Unrecht, die durch die Entdeckung von Kuhn, dass die Physik ihre großen Fortschritte durch sprunghaften Wechsel des Paradigmas macht, an der Idee eines stetigen Fortschritts der Naturwissenschaft irre geworden sind. Auf die theoretischen Ansätze kommt es dafür nicht an, sondern nur darauf, dass die Prognosen besser werden. So weit ist die Arbeit der Naturwissenschaft theoretisch sauber legitimiert. Das wird anders, sobald die bislang bewährten Regeln der Prognose in allgemeine Naturgesetze umgedeutet werden. Das hat den Vorteil, dass die Prognose durch eine Retrospektive ergänzt werden kann, da allgemeine Naturgesetze auch für die Vergangenheit gelten, sowohl über lange Zeitabstände (Millionen oder Milliarden Jahre) als auch über ganz kurze (Milli- oder Femtosekunden). Auf diese Weise kann man die menschliche Neugierde durch Belehrung darüber, wie es zu dem gekommen ist, was die Menschen gegenwärtig erfahren, befriedigen, und die Naturwissenschaft gewinnt eine zweite, historische Kompetenz über die Belehrung über das Erwartbare hinaus. Sie wird zum naturwissenschaftlichen Weltbild. Der Überstieg von bislang bewährten Regeln der Prognose zu allgemeinen Naturgesetzen ist illegitim. Es kann keine allgemeinen Naturgesetze geben, wenn die Zukunft, wie unter 4.3.2 nachgewiesen wurde, unbeschränkt offen ist. Durch allgemeine 308 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Das naturwissenschaftliche Weltbild

Naturgesetze würde aus der offenen Zukunft die geschlossene zum Teil abgelöst werden, obwohl die ganze geschlossene Zukunft zwar in der offenen enthalten ist, aber sich erst nach dem Entstehen ablöst, als das, was dann nachträglich noch nicht gewesen sein wird. Aber auch abgesehen von dieser (außer logischen Trivialitäten) grenzenlosen Offenheit der Zukunft entbehrt jedes allgemeine Naturgesetz insofern der empirischen Grundlage, als es höchstens bis zur Gegenwart bestätigt werden kann, so dass diese Bestätigung ebenso wie für das aufgestellte Gesetz für jedes andere verwendet werden kann, das von einem beliebigen Zeitpunkt an, der frühestens der gegenwärtige ist, irgend etwas anderes vorhersagt. Diese beliebige Vorhersagbarkeit bei gleichem empirischem Fundament zeigt, was allgemeine Naturgesetze eigentlich sind: Regeln der Vorhersage, die sich bisher bewährt haben und an denen man bis auf Weiteres festhält, weil man sich nicht planlos einer ungewissen Zukunft überlassen will und für die Vernünftigkeit von Plänen keine andere Grundlage hat als die Erwartung nach den bisher bewährten Regeln. Ob und ab wann diese nicht mehr gelten, kann man nur abwarten. Die retrospektive Verwendung der Regeln als allgemeine Naturgesetze hat wegen des großen Aufwands an Scharfsinn und Sorgfalt und der Übereinstimmung der Ergebnisse verschiedener Zugänge der Erforschung hohe Plausibilität, aber auf einer brüchigen Grundlage in Logik und Erkenntnistheorie. Vor allem zwei Schwachstellen sind es, die eine zureichende Begründung eines naturwissenschaftlichen Weltbildes vereiteln. Die erste ist der Singularismus. Ihn hat die Naturwissenschaft aus dem spätmittelalterlichen Nominalismus (Wilhelm von Ockham) geerbt, wie die Weltspaltung aus der Antike. Die Naturwissenschaft geht wie selbstverständlich von einzelnen Gegebenheiten aus, von Messdaten, die an einzelnen Befunden aus den privilegierten Merkmalsorten erhoben werden, und abstrahiert daraus unter Zusatz theoretischer Terme ihre Begriffe (Gattungen) und Theorien, während doch das Einzelne nur un309 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Welt

ter Voraussetzung einzelner Gattungen, von denen es Fall ist, den Halt hat, der für theoretische Bearbeitung nötig ist. Die Naturwissenschaftler müssen also, um zu Einzelnem (wie einzelnen Messwerten) zu kommen, von vorausgesetzten Gattungen ausgehen, die ihrerseits wieder aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen geschöpft werden müssen. Sie müssten also von Situationen ausgehen, wie der Historiker, der eine vergangene Zeit im Licht ihrer eigenen Denkweise statt der heute gewohnten darstellt. Damit würde die Naturwissenschaft aber den Trick Demokrits preisgeben, auf dem ihre Exaktheit beruht: die Beschränkung auf die Stützung der Theorie durch einzelne Exemplare aus besonders handlichen Merkmalsorten, deren Vereinzelung zu solchen Exemplaren ganz naiv als ursprüngliche Gegebenheit vorausgesetzt wird. Die zweite Schwachstelle ist noch leichter evident zu machen. Es handelt sich um die Zeit. Die Naturwissenschaft hat keinen Begriff von Modalzeit. Sie kann nicht sagen, was es bedeutet, dass etwas jetzt ist, also nicht nur an einem datierten Zeitpunkt in der Früher-Später-Ordnung, sondern an dem, der gerade jetzt ist. Andererseits ist sie, um überhaupt eine wissenschaftlich ansehnliche Begründung ihrer Aufstellungen zu erhalten, genötigt, in die Modalzeit hinabzusteigen und sich mit dem Unterschied dessen, was jetzt, nicht mehr und noch nicht ist, zu befassen. Das gilt besonders für das Experiment, aber allgemeiner für jedes Lernen. Lernen ist nur in der Modalzeit möglich, nicht in der bloß lagezeitlichen Ordnung des Früheren und Späteren, weil diese keinen zeitlichen Standpunkt zur Unterscheidung des Anfängers, der den Kursus noch vor sich hat, vor dem danach geprüften bereithält. Zwar gibt es in der bloßen Lagezeit einen Zeitpunkt vor dem Lernerfolg und einen Zeitpunkt danach, aber unter diesen Zeitpunkten keinen, auf den der Lernende eher als auf einem anderen angesiedelt wäre, weil keiner derjenige ist, auf dem er gerade jetzt (in seiner modalzeitlichen Geworfenheit) steht. Der Naturwissenschaftler will aber über die Richtigkeit seiner Annahmen etwas lernen. Deshalb muss 310 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Das naturwissenschaftliche Weltbild

er in die Modalzeit hinab oder herab steigen, obwohl er für sie keinen Begriff hat. Die Modalzeit aber gehört zur Welt. Dann kann aber der Naturwissenschaftler die Welt nicht erklären. Er muss ja, um als Wissenschaftler bestehen zu können, etwas in der Welt sich zu eigen machen, wovon er mit den Mitteln seiner Theorie keinen Begriff hat. Er müsste also erstens etwas erklären, was er als Teil des zu Erklärenden schon voraussetzen muss, um seiner Erklärung Gewicht zu geben, und zweitens eben dies voraussetzen, ohne sagen zu können, worum es sich handelt, wenn er nicht aus seiner Theorie herabsteigt und als lebendiger Mensch von seiner Vertrautheit mit dem Leben Gebrauch macht. Das naturwissenschaftliche Weltbild taugt also nicht zur Erklärung der Welt. Darüber hinaus scheint es an mindestens einer Stelle inkonsistent zu sein. Es handelt sich um die Konservierung von Information bei ihrer Übertragung in der sinnlichen Wahrnehmung. Ein Mensch sieht z. B. einen Baum auf einer Wiese. In der physikalischen Erklärung dieses Vorgangs kommt weder der Baum noch das Sehen vor, sondern ein Transport von Lichtwellen oder Photonen, die etwa von Quantenfeldern abgestrahlt werden und nach Auftreffen auf ein Sinnesorgan (die Netzhaut) durch elektrische Ströme ersetzt werden, die zum Gehirn wandern und dort Nervenzellen anregen. Wie die nach allen Richtungen strahlenden Photonen in so starker Konzentration auf die winzigen Netzhäute treffen können, dass sie die für den Baum auf der Wiese nötige Information vermitteln, ist schon kaum einzusehen. Aber danach wird es noch rätselhafter. Johannes v. Müller hat im 19. Jahrhundert das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien aufgestellt, wonach die Sinnesempfindung nicht von der Art des ursprünglichen Reizes, sondern von dem davon getroffenen Sinnesorgan bestimmt wird. Der Hirnforscher Gerhard Roth hat dieses Gesetz auf die Übertragung von den Sinnesorganen ins Gehirn ausgedehnt. Für den wahrgenommenen Inhalt kommt es demnach nicht mehr spezifisch auf das beteiligte Sinnesorgan und die Art der Übermitt311 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Welt

lung zum Gehirn an, denn die sei in allen Fällen gleichartig elektrisch, wobei die Differenzierungen, die noch beim Auftreffen des Reizes auf das Sinnesorgan und die erste Verarbeitung dort vorhanden seien, verloren gingen. Entscheidend sei vielmehr die Stelle der Verarbeitung im Gehirn, wie nach v. Müller das Sinnesorgan. 204 Wenn das zutrifft, enthält das naturwissenschaftliche Weltbild drei Axiome, die mit einander eine Erklärung der Wahrnehmung vereiteln: 1. Informationen aus der Umwelt kommen zum Wahrnehmen nur auf dem Weg über Rezeptoren (Sinnesorgane), deren Informationsertrag über Nerven zum Gehirn geleitet wird. 2. Bei dieser Leistung werden die betreffenden Botschaften ihrer Differenzierung beraubt. 3. Wahrnehmen entsteht nur im Gehirn oder auf dem Weg über das Gehirn. Wenn es sich so verhält, fehlt im Gehirn für die Wahrnehmung eines Baumes auf einer Wiese diejenige Information, die der Wahrnehmende braucht, um mit dem, was er wahrnimmt – sei dieses nur ein Baum oder etwas physikalisch definiertes anderes – so gedeihlich umzugehen, wie es im Leben zu gelingen pflegt. Vor allem aber verliert dann das Vertrauen der Naturforscher auf ihre eigenen Beobachtungen seine Berechtigung. Der Gehirnforscher z. B. muss doch an Apparaten einigermaßen zuverlässig Zahlen für Messdaten ablesen. Wenn aber auf dem Weg ins Gehirn die dafür erforderliche Information verloren geht, wie soll er dann noch sicher sein, richtig abgelesen zu haben? So macht durch die drei Axiome die Naturwissenschaft sich selbst unmöglich. Das ist die Inkonsistenz, auf die ich hinweisen wollte.

Gerhard Roth, Erkenntnis und Gehirn. Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit, in: Siegfried J. Schmidt (Herausgeber): Der Diskurs des radikalen Konstruktionismus, Frankfurt a. M. 1994, S. 229–255, hier 234

204

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5. Rückblick auf das Abendland

5.1 Das heidnische Altertum Die archaische Zeit des griechischen Denkens wird gegen die klassische als die Zeit der Vorsokratiker abgegrenzt, so dass Sokrates als die Zäsur erscheint. Von ihm wissen wir nichts Zuverlässiges. Nur die platonischen Dialoge geben ihm für uns Farbe, aber wir können nicht entscheiden, wie viel davon sokratisch oder platonisch ist. Eine Vermutung will ich mir trotzdem erlauben. Unter den sicher frühen Dialogen Platons sticht eine Gruppe, die Ion, Protagoras und Hippias minor umfasst, durch zwei sie von anderen Dialogen unterscheidende Merkmale hervor: Sokrates wird als Eristiker, noch nicht als der logisch und moralisch stets überlegene Meisterdenker, vorgeführt, und die Sophisten werden nicht moralisch (als verlogene Betrüger) denunziert, sondern nur als dümmlich bieder (Hippias) oder verschroben (Prodikos) herabgesetzt oder gar respektvoll behandelt (Protagoras). Der Eristiker Sokrates spielt die Einheit der Tugend als lehrbarer berechnender Kunst gegen das unwillkürliche Können aus gemeinsamen, zuständlichen Situationen aus. Es liegt nahe, anzunehmen, dass dieses Porträt der geschichtlichen Wirklichkeit näher kommt, zumal es auch die Animosität der Athener gegen Sokrates verständlicher macht, als der moralisch und logisch immer überlegene Meisterdenker, den Platon seit Apologie, Kriton und Gorgias aus Sokrates machte, um ihn zur Waffe gegen die attische Demokratie aufzurüsten. Wie es aber auch um Sokrates stehen mag, ich kann nicht zugeben, dass an seine Figur, so groß auch ihre Ausstrahlung war, ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Den-

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Rückblick auf das Abendland

kens gebunden wäre. Ich setze einen solchen vielmehr bei Demokrit. Wie ich das meine, will ich nun erklären. Unter der Abstraktionsbasis einer Kultur verstehe ich den Bereich, aus dem sie ihre grundlegenden Begriffe schöpft, die den Theorien und Bewertungen, wie sehr diese auch abweichen, die Perspektive vorgeben. Die Abstraktionsbasis alter Kulturen bestehen meist in standardisierten, typisierten vielsagenden Eindrücken (impressiven Situationen) wobei die Polarität des Männlichen und Weiblichen eine Leitfunktion ausübt, so bis in unsere Zeit noch in China mit Yang (männlich, stark, hart, hell) und Yin (weiblich, schwach, weich, dunkel), mit den Wu Xing (Elementen und Wandlungsphasen) und den Wesenheiten der acht Grundzeichen des I Ging; die chinesische Medizin diagnostiziert und therapiert nach solchen (z. B. am Puls abgelesenen) Eindrücken und dem davon aufgespannten Analogiensystem. 205 Ebenso in der Struktur, etwas anders im Inhalt ist die Abstraktionsbasis der frühen griechischen Denker beschaffen. Das Weibliche wird mit dem Flinken, Unruhigen, Endlosen, das Männliche mit dem Sperrigen, Beharrlichen, Begrenzenden assoziiert, mit negativer Bewertung bei den Pythagoreern laut der von Aristoteles 206 überlieferten, bis ins späte Altertum (noch bei Proklos) wirksamen Gegensatztafel, mit positiver bei Parmenides (flammenhaft, flink, hell, geschmeidig, weiblich im Gegensatz zur schwerfällig-sperrigen, unkundigen Nacht) und Empedokles (die wirbelnde Aphrodite als Liebe gegen den verdrossenen Streit oder Groll). Auch das Gegensatzpaar des Anaximenes (das entspannte Warme gegen das gespannte Kalte) gehört hierhin. Sogar Demokrit ist nicht frei von Resten dieser Denkweise. Das Leichte erklärt er manchmal in seinem neuen Sinn durch große Zwischenräume zwischen den Atomen, gelegentlich aber auch als das Zarte und Warme, im Geist des parFranz Hübotter, Die chinesische Medizin zu Beginn des XX. Jahrhunderts und ihr historischer Entwicklungsgang, Leipzig 1929 206 Metaphysik 986a 23–26 205

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Das heidnische Altertum

menidischen Flammenprinzips. 207 Die polaren Prinzipien werden von Parmenides auch »Kräfte« genannt und haben bei den archaischen Denkern stets dynamischen Charakter, der dem leiblich Spürbaren nahe steht. Auf den Gipfel kommt dieser archaische Dynamismus bei Heraklit, der die Konvergenz des Divergenten, also die Harmonie des Auseinanderstrebenden, in der Gegensätzlichkeit und durch diese mit sich im Einklang zu sein, als das Feuer zu der Invariante erhebt, deren Kehrseite die Variation des Entstehens und Vorgehens ist. Er erschaut die Vielfalt des Geschehens als die Bedeutsamkeit eines vielsagenden Eindrucks und kann daher das Weltgeschehen auch als Rede (Logos) und Meinung (Gnome) ausgeben, nicht eines Sprechers, sondern als Bedeutsamkeit, gleichsam als Sprache der Dinge. Das alles klingt eher poetisch, ist aber insofern realistisch, als hier Einzelheit nicht wie später als selbstverständlich vorausgesetzt wird, sondern, wie es in der Tat geschieht, bedeutsamen Situationen (hier: vielsagenden Eindrücken) über Explikation einzelner Bedeutungen abgewonnen wird. In dieses archaische Denken hinein platzt die Aletheia des Parmenides, die untrügende Evidenz, die er einem ekstatischen Ausnahmezustand entnahm, in dem sich ihm alles so unmittelbar und zwingend aufdrängte, dass er das Seiende im Ganzen als ein anwesendes zusammenhängendes Eines verstehen musste, wie ein ungeheuer dicht gepacktes und fest verschnürtes Paket. Diese Evidenz legte er sich, noch mit dem Mittel mythischen Denkens, als Offenbarung einer Göttin zurecht, zu der er, entführt von wunderbaren Stuten, abseits des ausgetretenen Weges der Menschen gelangt zu sein wähnte. Dennoch ließ er sich auf diesen ausgetretenen Wegen mit einer der Aletheia nachgeschickten Kosmogonie und Kosmologie ein, die der trügerischen Erscheinung gerecht werden sollte, die übrig bleibt, wenn man aus der Ekstase in den gewöhnlichen Zustand zurückgekehrt ist. Den Theophrast De sensibus §§ 61 f. und 75 bei Diels und Kranz, wie Anmerkung 83, 68A135

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Rückblick auf das Abendland

Ausnahmezustand des Parmenides, den ich mit dem verwandten Bericht des Physiker-Philosophen Ernst Mach über seine Einweihung in seine subjektlose Weltanschauung »an einem schönen Sommertag im Freien«, wo ihm die Welt somit seinem Ich als eine einzige Masse von Empfindungen erschien, verglichen habe, wird kein anderer geteilt haben; geschichtlich wirksam wurde er aber durch die Gegenüberstellung von Sein und Schein, die den ionischen Naturphilosophen (vor Anaxegoras) noch fern lag. Mit dieser scharfen Unterscheidung des wahren Kerns von der Schale der Erscheinungen arbeiteten die Schüler oder Adepten des Parmenides weiter. Es handelt sich um Zenon, Melissos und Leukipp, die sich der gemeinsamen Aufgabe widmeten, den auf sie inkonsequent wirkenden, zwischen Einheit und Vielheit schwankenden PaketMonismus des Parmenides, der nur aus seinem Ausnahmeerlebnis verständlich wird, nach der einen oder anderen Seite aufzulösen. Zenon und Melissos wurden konsequente Monisten. Zenon kritisiert mit seinen Paradoxien Parmenides, sozusagen im Innenverhältnis der eleatischen Schule, während er ihn im Außenverhältnis gegen Empedokles in einem Dialog verteidigte. Er stellte sich das Eine ohne jede Vielheit als körperlich unendlich ausgedehnt vor; Melissos dagegen verstand dieses Eine als unendlich ausgedehnten körperlosen Leib, der gesund und schmerzfrei sei, mit starkem vitalen Antrieb gemäß dem Grundsatz: »Nichts ist stärker als das wahrhaft Seiende.« Dagegen löste Leukippos den Paket-Monismus zur Vielheit hin auf, mit der noch auf die Lehre des Parmenides Rücksicht nehmenden Entscheidung: »Das Seiende ist das Volle, das Leere ist Nichtseiendes, aber es ist.« Auf diese Weise gelangte er zur Atomphysik, mit der er den Diakosmos des Parmenides, dessen Kosmologie in der Sicht der gewöhnlichen Menschen, fortsetzte und verfeinerte, auch mit dem Wort »Diakosmos« an Parmenides anknüpfend. Eine ganz enge, auch literarische Denkgemeinschaft, die wir aber biographisch nicht aufschlüsseln können, verbindet Leu316 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Das heidnische Altertum

kipp mit Demokrit. Bei diesem verbindet sich die Entgegensetzung von Sein und Schein, das Erbe des Parmenides in der Version Leukipps, mit der Welt- und Menschspaltung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung, die schon unter 3.1 erörtert wurde. Das macht seine geschichtliche Schlüsselstellung aus. Der demokritische Mensch ist schon in seine seelische Innenwelt zurückgezogen, in der er sich Bilder der Außenwelt macht, die auch täuschen können 208 ; er kann nicht aus der Innenwelt herauskommen, um das Zeugnis der Sinne zu kontrollieren und diese bei der Deutung der Außenwelt zu überholen. 209 Der Motor solcher Verkapselung ist auch bei ihm das Streben nach Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen: »Das unbotmäßige Leid einer schmerzerstarrten Seele verjage durch Vernunft!« 210 Man soll Herr seiner Lüste sein, den schweren Kampf mit dem Thymós (Zorn oder Regungsherd im alten Sinn) bestehen, vor sich selbst die meiste Scheu haben, die von Unanständigem abhält. Die personale Emanzipation ist bei Demokrit schon so weit entwickelt, dass er sich in die Position eines Richters versetzt, der dem Körper zu Hilfe kommt, weil die Seele diesen als ihren Knecht missbraucht. 211 Die Menschspaltung ist ihm selbstverständlich. Auf der anderen Seite, vom parmenidisch-leukippischen Erbe mit der Kontrastierung von Sein und Schein und der Deutung des Vollen als Atom her, steht bei Demokrit eine völlig neue Abstraktionsbasis da, die nicht mehr auf typisierten impressiven Situationen, sondern auf privilegierten Merkmalsorten beruht Demokrit nannte nach Aristoteles drei solche Sorten: Gestalt, Anordnung und Lage im Raum. Die Liste kann leicht verlängert werden; es handelt sich um die unspezifischen (mehreren Sin208 209 210 211

Wie Anmerkung 83, 68b119 Ebd. 68B125 Ebd. 68B290 Ebd. 68B159

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Rückblick auf das Abendland

nen gemeinsamen) Sinnesqualitäten. Die Auswahl ist so geschickt getroffen, dass sie noch heute den Datenvorrat ausmacht, an dem die Physik ihre Theorien in Experimenten prüft, weil die unspezifischen Sinnesqualitäten in besonderem Maß intermomentan und intersubjektiv identifizierbar, messbar und selektiv variierbar, daher für Experiment und Statistik geeignet sind. Die nicht privilegierten spezifischen Sinnesqualitäten werden in der Seele entsorgt. Platon ist im Timaios dieser Neuerung gefolgt, aber ohne eine genaue Liste der privilegierten und nicht privilegierten Qualitäten. Er schließt sich in der Physik den Atomisten an: Die durch Sein statt Schein privilegierten Qualitäten, denen die Einbettung in Situationen verloren gegangen ist, erhalten statt dessen ihre Stütze in erdachten Trägern, den Atomen. Später hat man an deren Stelle die abstrakteren Substanzen gesetzt. So noch heute: Wenn wir von einem Ding – z. B. einem Möbelstück, einem Schiff (des Theseus) – sagen, es habe eine gewisse Zeit überdauert, behandeln wir es als eine Substanz mit Eigenschaften, meinen aber eigentlich eine zuständliche Situation, die sich in höchstens allmählichem Wandel (auch bei Stoffwechsel) so lange gehalten hat; dafür, dass wir die Situation zur handfesten Substanz gleichsam verdicken und den Eigenschaften als deren Träger gegenüberstellen, worüber sich schon Locke lustig gemacht hat, können wir uns nicht rechtfertigen. Die alte Abstraktionsbasis war auch abstrakt, wegen der mit Typisierung vielsagender Eindrücke verbundenen Vereinseitigung; die demokritische ist ebenso abstrakt, aber obendrein reduktionistisch, gerade so, wie die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung es verlangt. Sie schneidet aus dem Gegebenen die binnendiffuse Bedeutsamkeit der Situationen und das Atmosphärische weg. Die Situationen werden durch Konstellationen, Beziehungsnetze zwischen einzelnen Knoten (zunächst Atomen), ersetzt; zum Symbol dieses Konstellationismus wird das Buchstabengleichnis: Leukipp und Demokrit erklärten sich nach Aristoteles die starken Schwankungen der Erscheinung schon bei geringem Wechsel der Atom318 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Das heidnische Altertum

konfiguration mit dem Vergleich, dass auch Tragödie und Komödie aus denselben Buchstaben bestünden. 212 Die archaische Dynamik des Zusammenwirkens gegensätzlicher Kräfte wird abgelöst durch eine Kinetik des haltlosen Wandels mit zugesetzten Invarianten, stabilen Fixpunkten (Ideen, wie Demokrit seine Atome nannte, später Naturgesetzen); dieser Wechsel zur bloßen Kinetik ereignete sich auch unabhängig von den Atomisten, wie die von Platon und Aristoteles schon für das 5. Jahrhundert (Kratylos) bezeugte Verflachung des heraklitischen Prinzips der Harmonie aus Gegensatz zu der pseudo-heraklitischen Formel »Alles fließt« aufzeigt. Dem entspricht die am Vorbild handwerklichen Formens orientierte Gegenüberstellung von Form und Stoff, wobei die stabile Invariante das Modell der Formung des Schwankungen ausgesetzten Stoffes abgibt. Dieses Motiv ist in den spärlich erhaltenen Fragmenten Demokrits nur durch Anspielungen, etwa für Formung der Natur der Menschen durch Erziehung, Zufall oder Weisheit, belegt 213 ; Leitmotiv wird es bei Platon und Aristoteles, bei dem es für das Verhältnis der Seele zum Körper neben das vom Körper als Knecht der Seele tritt. 214 Mit dieser Konzeption ist Demokrit fast schon ein moderner Mensch, mit allen problematischen Konsequenzen des Singularismus und Konstellationismus, moderner als Platon; deshalb war es angebracht, so lange bei ihm zu verweilen. 215 Seine schriftliche Hinterlassenschaft, die von Thrasyllos so sorgfältig Aristoteles De generatione et corruptione 315b14 f. Wie Anmerkung 83, 68B33 und 197 214 Aristoteles 1242a18 (Eudemische Ethik) bzw. 212a8.19 f. (De anima) 215 Die flüchtigen Andeutungen, mit denen ich mich bei diesem Rückblick auf das Abendland begnügen muss, sind für die älteren griechischen Denker bis auf Demokrit von mir sorgfältig ausgeführt und begründet worden; ich nenne folgende Werke: Anaximander und die Anfänge der griechischen Philosophie, Bonn 1988; Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit, Bonn 1988 (dazu: Nachlese zu Parmenides, in: Hermes 129, 2001, S. 459–466), Der Weg der europäischen Philosophie Band I, Freiburg 2007, S. 19–131. 212 213

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Rückblick auf das Abendland

gesammelt und herausgegeben wurde, wie die des Aristoteles von Andronikos, ist verloren und nur durch verstreute Zitate und Berichte aus zweiter Hand belegt. Anhaltende geschichtliche Wirkung entfaltete er durch die Übernahme seiner Konzeption durch die das Abendland prägenden Denker Platon und Aristoteles, nämlich der Welt- und Menschspaltung bei beiden, des Singularismus und Konstellationismus, den Aristoteles wieder korrigiert, jedenfalls bei Platon. 216 Nur auf das letzte Thema will ich hier eingehen; dass Platon die Welt- und Menschspaltung übernimmt und die Seele, in antithetischer Stellung zum Körper, zweckmäßig (durch Einteilung in Schichten) für die Beherrschung der unwillkürlichen Regungen durch die vernünftige Person einrichtet, liegt auf der Hand und darf hier übergangen werden. Der Konstellationismus drückt sich in dem von ihm wie von Leukipp und Demokrit bevorzugten Buchstabengleichnis aus. 217 Die besondere Gestalt des Konstellationismus ist bei Platon der Elementarismus 218, womit er Ernst Mach (Die Analyse der Empfindungen, 1. Kapitel: Antimetaphysische Vorbemerkungen) nahe steht. Ich verstehe darunter die AuffasÜber Platon und Aristoteles habe ich so viel und eingehend geschrieben, dass ich nur ganz Weniges davon anzudeuten brauche, da man sich leicht anders unterrichten kann; ich erwähne: Die Ideenlehre des Aristoteles, Bonn 1985, 2 Bände in 3 Büchern: Band I Aristoteles, 1. Teil: Kommentar zum 7. Buch der Metaphysik, Teil 2: Ontologie Noologie Theologie; Band II: Platon und Aristoteles; Der Weg der europäischen Philosophie Band I, Freiburg 2007, S. 139–306; System der Philosophie Band II Teil 1 S. 462–497 und Band III Teil 2 S. 484–498; Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2033, S. 348–363 (Nachdruck in: G. Schiemann u. a. (Hg.), Platon im nachmetaphysischen Zeitalter, Darmstadt 2006, S. 27–38); Mario Egger (Hg.), Philosophie nach Kant, Berlin 2014, S. 341–355: Platonismus im Werk Kants und danach. 217 Die wichtigsten Stellen des Buchstabengleichnisses sind in Platons Dialogen: Kratylos 423e–425a, 434a.b; Politeia 402a-c; Theätet 201e, 202e, 206a.b, 207b–208b; Sophistes 253a; Politikos 277e–278e; Philebos 16c–17b, 18ad. 218 Der Weg der europäischen Philosophie Band I S. 231–239: Der theoretische Elementarismus, S. 239–242: Der politische Elementarismus 216

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Das heidnische Altertum

sung, dass jede Bestimmtheit als etwas einzeln ist und die Gegenstände sich durch Zusammensetzung solcher atomarer Bestimmtheiten stückweise aufbauen lassen. Die Erkenntnis wird dann zu einer Art Inventar der zu erkennenden Sache in Gestalt ihres Logos, der – tunlichst in dihairetischer Gliederung nach Gattungen und spezifischen Differenzen – durch Aufzählung der wesentlichen Merkmale angibt, was die Sache ist. Dieser Elementarismus führt Platon zu paradoxen Konsequenzen und Problemen wie die Selbstanwendung der Ideen (dass die Gerechtigkeit gerecht ist, die Gleichheit gleich und nichts weiter, die höchste Schönheit bloß noch sehr schön usw.) und die Verabsolutierung relativer Bestimmtheiten, hauptsächlich aber zu einer unauflöslichen Aporie angesichts der Frage, wie die Einheit des Ganzen aus den Bausteinen der Bestimmtheiten zu Stande kommt. Platon kann sie sich nur als Klammer denken, als zusätzliche Bestimmtheit, die die übrigen Bestimmtheiten verklammert. Damit läuft er einem regressus ad infinitum in die Arme, denn jetzt fragt sich, welche Klammer zweiter Stufe die Klammer erster Stufe mit dem, was diese verklammert, verklammert, und so geht es über alle Klammern n-ter Stufe ins Unendliche fort. An diesem Regressproblem, das Platon am Beispiel des Großen darstellt 219 , während es dank einer dem Alexander von Aphrodisias unterlaufenen Verwechslung fortan den unzutreffenden Namen des Dritten Menschen bekommen hat 220 , scheitert die schöne dihairetische Ordnung des Ideenreiches vom Guten an der Spitze bis zu den niedersten (»unzerschneidbaren«) Arten, die Platon in Politeia und Phaidros vorlegt. 221 In der politischen Philosophie verschafft der Elementarismus dem Staatsideal Platons seine despotischen Züge. Platon kennt nicht die Einheit, die einer Gemeinschaft durch spontanen Zusammenhang in gemeinsamen Situationen zuwächst, 219 220 221

Parmenides 132a.b Hermann Schmitz, Platon und Aristoteles, Bonn 1985, S. 194–214 Ebd. S. 166–193 und Der Weg usw. Band I S. 163–174

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Rückblick auf das Abendland

sondern politische Einheit nur durch Verklammerung, womit eine Elite die widerspenstige Masse zusammenhält, wie die Vernunft in der Seele die unwillkürlichen Regungen bändigt. Originell ist bei Platon die Kompensation des Reduktionismus der Weltspaltung, der die empirische Außenwelt vom Atmosphärischen und damit von ergreifenden Mächten reinigt 222 , durch Versetzung des gefühlsmäßig Erhebenden in die Transzendenz der Ideen. Die Ideenlehre der platonischen Dialoge ist allerdings sehr zwiespältig. Durch die einschlägigen Dialoge zieht sich der Gegensatz zweier unvereinbarer Auffassungen von den Ideen; ich habe sie als die selektiv idealisierende und die universell stabilisierende Auffassung einander gegenüber gestellt. Die selektiv idealisierende Auffassung macht aus den Ideen preiswürdige Ideale mit den Leitbildern des Guten, Schönen und Gerechten und das höchste Ziel für das Streben der Seele. Sie begünstigt die Gemeinschaft mit den Ideen, um diese der Seele zugänglich zu halten. Das ist offenbar die eigene Sicht und Intention Platons. Die universell stabilisierende Auffassung hat ein erkenntnistheoretisches Motiv: Das vernünftige Sprechen benötigt die Ideen als Anhaltspunkte, um sich im vermeintlich haltlosen pseudo-heraklitischen Allfluss sprechend zurechtzufinden. Da man über alles sprechen will, braucht man Ideen auch von Minderwertigem, und dann eignet sich wegen der Selbstanwendung das Ideenreich nicht mehr zur Idealisierung. Statt dessen benötigt diese Auffassung starre, isolierte Ideen, die als Fixpunkte gleich Sternen Orientierung geben. Ich habe diesen Zwiespalt als literarische Spiegelung eines Parteienkampfes in der innerakademischen Diskussion interpretiert, wobei Platon die Ideenfreunde, die unter diesem Namen im Sophistes vom Gesprächsführer (einer Maske Platons) angegriffen

Reste solcher ergreifender Mächte finden sich noch in Platons Mythen, so im Phaidros in der Eros-Rede des Sokrates, die aber dieser selbst danach als scherzhafte Spielerei ausgibt (Phaidros 265c).

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Das heidnische Altertum

werden, unter Führung des jüngeren Sokrates gegen sich hat 223 ; beide Parteien haben sich aus verschiedenen Motiven heraus zur Erfindung der Ideen zusammengefunden. Das Wesentliche der Neuerungen des Aristoteles besteht, abgesehen vom Abschied von der Transzendenz der Ideen, in der Überwindung des Elementarismus. Dem inventarisierenden Erkenntnisideal Platons stellt Aristoteles seine Entdeckung der prädizierenden Aussage entgegen, aus der sich die Möglichkeit ergibt, mit der Prädikation verschiedenen Fragerichtungen zu folgen, statt nur das Wesen einer Sache durch Aufzählung ihrer wesentlichen Merkmale zu bestimmen. Die typisierten Antworten auf die verschiedenen Fragerichtungen sind die aristotelischen Kategorien. Jedoch hat das eigentlich gesuchte Seiende (das Wesen namens »Ousia«) für Aristoteles nicht in der Form der prädikativen Aussage Platz. Das Erste, die immanente Idee, das erste Wesen, wird nicht in der Weise gesagt, wie etwas von etwas gesagt wird. 224 Insbesondere reicht nicht die platonische Aufzählung von Bausteinen einer Sache. Es ist, sagt Aristoteles, ein Fehler, alles von etwas Ausgesagte für ein jeweils Eines, einen besonderen Gegenstand, zu halten 225 , und durch die Anreihung von Gattungen und Differenzen in der Definition erreicht man nicht das Wesen der Sache, sondern nur den Stoff. 226 Hinter dem Aussagbaren steht die immanente Idee im Stoff 227, die vollendete Differenz im Gegensatz zu der in der diharetischen Aufzählung letzten 228 ; sie ist der prägnante Akzent, wodurch der Stoff etwas ist 229 , d. h. eine bestimmte Gestalt annimmt. Das Denkmodell der aristotelischen Ideenlehre ist das Der Weg der europäischen Philosophie Band I S. 141–158: Platon und die Ideenfreunde 224 Metaphysik 1030a10–14, 1037a29 225 Sophistici Elenchi 169a33–35 226 Metaphysik 1042b10–14, vgl. 1022a33–35, 1023a35-b2 227 Metaphysik 1037a29 f. 228 De partibus animalium 644a2 f., 643a24 229 Metaphysik 1041b7–9 223

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Rückblick auf das Abendland

gestaltpsychologische der Figur vor einem verschwimmenden Hintergrund, die nie ganz zu sich kommende, immer vom passiv schwankenden Stoff in ihrer Reinheit getrübte immanente Idee als das eigentlich Seiende. Prototyp ist der lebendige Organismus, dem die Verschwommenheit des Stoffes zwar die exakten Maße nimmt 230 , nicht aber die geschlossene Form, zu der er immer wieder heranreift. Mit diesem Modell des lebendigen Organismus, angewandt auf die Polis, wendet sich Aristoteles gegen die despotische Staatsidee Platons. An die Stelle der starren Schichtung von Regierendem und Regiertem setzt er das spontane, gewachsene Einvernehmen der guten Bürger, deren Tugend in der doppelten Fähigkeit besteht, selbst zu regieren und sich von anderen regieren zu lassen. 231 Dabei treibt er das Modell des lebendigen Organismus, in dem der Einzelne zum Ganzen gehört wie die Hand zum Körper, aber so weit, dass er sich nur für die Gesundheit dieses Organismus interessiert und dem Staat Heilmittel zur Selbsterhaltung anbietet, aber blind ist für die politische Dynamik, die auch durch »schöpferische Zerstörung« (Schumpeter) fruchtbar werden kann. Der Grund dieser konservativen Einseitigkeit besteht darin, dass Aristoteles nur die Chancen für die Prägnanz der Form anzielt und den Stoff nur als passives, verschwommenes Milieu sieht, nie als Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, der ihre Möglichkeiten als Angebote abgelauscht und aus ihr durch Vereinzelung freigesetzt werden können. Frei von dieser Befangenheit ist seine Stellung gegen Platon in der Individualethik. Platon bestimmt im Politikos das Wesen des Staatsmannes durch die Aufgabe, nicht zu richten, zu reden oder Krieg zu führen, sondern durch Erziehung und Heiratsplanung das genau ausgewogene Verhältnis kecker und sanfter Wesensart seiner Untertanen herzustellen, wobei es weder bei der Vorbereitung des Menschen-

230 231

De generatione animalium 778a4–6 Politik 1277b13–16

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materials noch bei der Aussiebung des Ausschusses ohne Gewalt abgeht. Auf die ausgewogene Mitte kommt es für die Tugend auch dem Aristoteles an, aber er setzt nicht so kalkulatorisch wie der Konstellationist Platon auf die mit exakter Wissenschaft ermittelbare Genauigkeit, sondern er vertraut das Finden der richtigen Mitte dem intuitiven Takt des hinlänglich begabten Einzelnen an, der durch Sozialisation und Gewöhnung in ein gebildetes Können hineinwächst und sich auch Schwankungen leisten kann, solange er nicht das Gleichgewicht über dem eigenen Schwerpunkt verliert. Unter den hellenistischen Philosophenschulen nach Platon und Aristoteles fallen die Stoiker dadurch auf, dass sie, wenigstens anfangs (unter Führung durch Zenon und Kleanthes), vom spürbaren Leib ausgehen, mit dem vitalen Antrieb unter dem Titel des Tonos als Prinzip ihres Welt- und Menschenverständnisses. Die Stoiker waren keine Materialisten; was man an ihrer Lehre als Körper missversteht, sind vielmehr Leiber. Da sie aber mit der Seelenvorstellung an der Welt- und Menschspaltung festhielten, kam diese Originalität nicht deutlich heraus; überdies hatte schon das dritte Schulhaupt, Chrysipp, kein Verständnis für Leiblichkeit und verschob die Lehre zum Rationalismus hin. Die mittlere Stoa näherte sich dann dem Platonismus. Eine Überraschung bringt dann noch am Ende des Altertums der heidnische Neuplatonismus. Sein Schöpfer Plotin ist denkwürdig als Entdecker der Vieleinigkeit in der oberen, geistigen Welt. Es handelt sich um einen Mannigfaltigkeitstypus der Innigkeit, in der die Teilnehmer unzertrennlich, in gegenseitiger Durchdringung mit Übergang in einander, zusammenhängen, doch so, dass ihre individuelle Eigenart gewahrt bleibt. Plotin äußert sich darüber so: »In der oberen Welt ist der eine Gott alle Götter, und jeder ist alle, die zwar ihren besonderen Kräften nach andere sind, der ein-vielen Gesamtkraft nach aber alle einer oder vielmehr einer-alle; auf einen Schlag beisammen sind sie und jeder ist wiederum gesondert in abstandlosem Abstand, ohne sinnliche Gestalt, sonst wäre der eine hier, der andere wo325 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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anders und nicht der Einzelne in sich selbst jeder.« 232 Plotin kämpft mit dem logischen Widerspruch; was er meint, kann man mit den Begriffen meiner Mannigfaltigkeitslehre widerspruchsfrei als absolut unspaltbares Verhältnis ausweisen, sei es vom Typ der zwiespältigen Mannigfaltigkeit oder auch von dem der numerischen wie im Fall der Bewussthabe disjunkter Beziehungen (2.4.2 Satz 1). Diese Innigkeit der geistigen Welt geht nach Plotin durch bloße Entspannung als schwächende Zerstreuung, ohne Weltschöpfer oder einen anderen konstruktiven Neuansatz, in die Sinnenwelt über und dabei doch nicht ganz verloren. Vielmehr bleibt ein ähnlich inniger Zusammenhang zwischen den in den Körpern überall gegenwärtigen Seelen bestehen, als gegenseitige Sympathie, mit der Plotin (statt mit Signalübertragung) die optische Wahrnehmung erklärt. Diese Sympathie ist so etwas wie die Verschränkung, die nach der neuesten Quantenphysik, die sich damit dem Weltbild Plotins nähert, jede Signalübertragung – die grundlegende physische Beziehung gemäß der Relativitätstheorie – überholt. Mit dieser Konzeption unterläuft Plotin, und mit ihm die Gefolgschaft der an ihn anschließenden heidnischen Neuplatoniker, ebenso die Welt- und Menschspaltung wie den Konstellationismus. Keine Philosophenschule vor Hegel steht dem Platonismus so fern wie der antike heidnische Neuplatonismus. Es ist ein Treppenwitz der Philosophengeschichte, dass gerade die Denker, die Platon mehr als andere beinahe vergöttern und als unumstößliche Autorität ausgeben, mit der Konzeption ihrer Philosophie radikal von Platon abweichen und aus der von ihm gelegten Schiene des traditionellen abendländischen Denkens ausbrechen. Plotin stellt an die Spitze seines Lehrgebäudes das Eine, das er aber sehr zwiespältig behandelt. Einerseits sucht er, als asketischer Mystiker, es von allen Bestimmtheiten – sogar von der, auch nur Eines zu sein – zu reinigen, andererseits experimenEnneaden V 8 [31] 9, 14–22, d. h.: 5. Enneade, 8. Abhandlung, Kapitel 9, Zeilen 14–22, 31. Schrift in chronologischer Anordnung nach Porphyrios

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Das heidnische Altertum

tiert er mehrfach mit der Annäherung des Einen an das Viele, etwa mit dem Gedanken: Wir können nicht alles mit einem Schlag als das Eine, das alles ist, fassen, sondern müssen Stücke herausheben und das Einzelne dem Ganzen entgegensetzen, obwohl diese Zerlegung künstlich ist und sich beim Blick auf die wahre Natur der Sache nicht halten lässt; nur durch diese Beschränktheit unseres Begreifens entsteht die Alternative von Immanenz und Transzendenz. 233 In dieser Richtung hat der späteste heidnische Neuplatonist, Damaskios, weitergedacht und das prä-immanente Eine, wie ich mich ausgedrückt habe, ins Auge gefasst, das Eine, das in der Form völliger Einfachheit alles ist, dem wir uns aber nur von ferne ahnend nähern können, während es uns beim Versuch gedanklichen Zugriffs entgeht. Diese Konzeption wandert ins westkirchliche Christentum wie ein Fremdkörper mit Johannes Scotus Eriugena ein, der das Verhältnis Gottes mit den Dingen (seienden und sogar nichtseienden) sowie das als Leben gefasste Verhältnis der Universalien (Gattungen und Arten) zu den Individuen in dieser Weise versteht, aber ohne die erkenntnistheoretische Resignation des Damaskios: Der christliche Gott, wie Pseudo-Dionys – eine maßgebliche Autorität für Johannes – ihn zeichnet, ist so mächtig, dass der Denker mit Bezug auf ihn sogar den logischen Widerspruch wagen darf, weil er darauf vertraut, dass Gott nicht einmal vor diesem kapituliert, sondern durch seine Kraft, Widersprüche auszuhalten, nur noch mehr erhoben wird. Später hat Nikolaus von Kues diesen Faden aufgenommen. Auf dem anderen, gleichsam rechten, Flügel des heidnischen Neuplatonismus errichtet Proklos ein von solchem Zwiespalt freies konsolidiertes Schichtensystem des Abstiegs vom Einen, wobei aber immer nur das Untere vom Oberen abfällt, während das Obere in seinem Hervorgang (Prohodos) trotz seines Beharrens in sich dem Unteren immer gegenwärtig bleibt.

233

Vgl. Enneaden VI 2 [43] 3, 20–32

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Rückblick auf das Abendland

5.2 Das christliche Jahrtausend Jesus, ein junger Handwerkersohn aus Nazareth, wurde von der Idee überwältigt, das Reich Gottes sei gerade im Kommen, in Gestalt eines furchtbaren Gerichtes über alle Menschen, bei dem die meisten umgebracht oder mit schweren Strafen belegt, einige Auserwählte aber verschont und belohnt würden; er fühlte sich berufen, diese Auserwählten um sich zu sammeln, und durchzog daher als Landprediger, Anhänger sammelnd, die Umgebung. Als den Kern seiner Botschaft verkündete er, alle etablierten Schranken zwischen Menschen, namentlich die sozialen Schichten und Geltungsunterschiede, seien vor der Wucht des Bevorstehenden zunichte geworden, es komme nur noch auf die unmittelbare Nähe von Mensch zu Mensch, die büßende Vorbereitung auf das Gericht und die Anerkennung seiner Vorreiterrolle an. Nachdem er eine stattliche Schar gesammelt hatte, zog er nach Jerusalem, um dort der Ankunft des Gottesreiches den letzten Anstoß zu geben. Zu diesem Zweck wurde ein ungeschickter Aufstand angezettelt, den die Römer mit leichter Hand niederschlugen; anschließend ließen sie, mit Billigung der jüdischen Priesterschaft, den Anführer Jesus hinrichten. Die von diesem ins Leben gerufene Bewegung kam dadurch aber nicht zum Stillstand, weil der tote Jesus von einzelnen seiner Anhänger, auch in einer Gruppe, und sogar in einer Massenvision von 500 Teilnehmern gesehen wurde. 234 Daraus entsprang die ätiologische Legende, der Gekreuzigte müsse aus dem Grab auferstanden sein. In Paulus fand diese Legende, zusammen mit der Ankündigung des unmittelbar bevorstehenden Gottesgerichtes mit Erlösung der Gemeinde der Auserwählten, eine so gewaltig in die Breite wirkende Stimme, dass die Flamme des christlichen Glaubens nicht mehr zu löschen war. Dies scheint mir, bei aller Unsicherheit über das Geschehen in den ersten Jahrzehnten nach dem Auftreten Jesu, die wahr234

Paulus 1. Korinther 15, 5–8

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Das christliche Jahrtausend

scheinlichste Erzählung vom Ursprung des Christentums zu sein. Jedenfalls passt dazu das Jesusbild der synoptischen Evangelien. 235 Sie präsentieren Jesus als einen rücksichtslos entschlossenen Fanatiker, der alle Schranken und Bindungen zwischen den Menschen niederreißt, um diese mit gleichsam nackt gewordener Mitmenschlichkeit der drohenden Katastrophe zuzuwenden, in der selbst die Erwählten nichts mehr als ohnmächtige Knechte Gottes sind. Man darf die spontane Nächstheit von Mensch zu Mensch, die dabei gefordert wird, nicht mit Liebe verwechseln. Die Ausdrücke für Liebe (agape) und Lieben (agapan) kommen bei den Synoptikern nur spärlich vor, fast nur bei Wiederholung der alttestamentarischen Forderung, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Die Gebote der Liebe zum Widersacher und des Abwehrverzichts sind Paradoxe prägnanter Entkräftung der hergebrachten Rollen von Freund und Feind (wie sämtlicher anderer hergebrachter Rollen) und so wenig Zeugnisse dauerhafter Liebe, dass die geliebten Widersacher dem unmittelbar bevorstehenden Gotteszorn im Endgericht preisgegeben werden. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter verdreht Jesus die Fragestellung, wer der Nächste sei, den man laut jüdischem Gesetz heben soll. Hier ist es ein unglückliches Unfallopfer. Jesus dreht die Frage so, dass als Nächster nicht dieser prämiiert wird, sondern der Nothelfer, der frei von dem Hochmut jüdischer Rollenträger ist, die zuvor die Hilfeleistung unterlassen hatten. Es geht also nicht mehr um die Liebe, sondern um das Nächster-sein. Die Botschaft des Gleichnisses ist: Sei spontan, lasse alle Vorurteile außer Acht, geh unmittelbar auf den Mitmenschen zu. Das ist die Stimmung der Mobilmachung zum Aufbruch in das anbrechende Gottesreich. Etwa fünfzig Jahre nach den Synoptikern haben vernünftige Männer in Ephesus den Kopf geschüttelt über so viel Auf-

Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 199, S. 115– 118: Der synoptische Jesus

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regung, nachdem man von der angekündigten Katastrophe nichts gemerkt hatte, dafür aber der Einfluss der Gnostiker für weitere Verwirrung sorgte. Sie beschlossen, die Botschaft Jesu so darzustellen, wie sie in milderem, abgeklärtem Licht erschien, und zwar – nach der im Altertum beliebten pseudepigraphischen Methode – durch den Mund von Jesus selbst, und erfanden das Johannesevangelium, in das sie eine Sammlung von Wundertaten Jesu einflochten, um die Autorität seiner Verkündigung zu stärken. So entstand die Figur des johanneischen Jesus 236 und eine Verkündigung, die mit der in den synoptischen Evangelien wenig gemein hat. In ihrem Mittelpunkt steht die Liebe, aber wohl gemerkt – in allen johanneischen Schriften, auch im 1. Johannesbrief – immer nur im Kreis der Genossen in der Gemeinde, der Aristokraten der Auserwählung. Sie können mit Freimut vor Gott zum Gericht antreten, weil dieses sie gar nicht betrifft, sondern nur die Verkündigung einer Entscheidung ist, die die Ungläubigen selbst durch ihren Unglauben getroffen haben. Die Gläubigen aber sind nicht ohnmächtige Knechte, sondern Freie mit der Macht, Kinder Gottes zu werden, indem sie den Erlöser Jesus durch ihr Bekenntnis zu ihm aufnehmen. Dieser ist auch nicht mehr der fanatische Vorkämpfer, der seinen Rang herausstellt, sondern gibt sich als Apostel aus, den Gott der Vater, der größer als er sei, gesandt habe. Während Jesus in den synoptischen Evangelien als leidenschaftlicher, lebendiger, facettenreicher Mensch hervortritt, ist er bei Johannes abstrakter gezeichnet, als literarische Figur, die eindringlich schöne Grundsätze verbreitet und merkwürdige Wunder tut. Das Christentum der Westkirche (auf dem Boden des weströmischen Reiches, erweitert durch die Germanen) orientiert sich hauptsächlich an den synoptischen Evangelien, während im Osten die Tradition der johanneischen Schriften herrscht und das dort schon heimische Motiv der Vieleinigkeit und wech-

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ebenda S. 118–121: Der johanneische Jesus

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Das christliche Jahrtausend

selseitigen Durchdringung mit der entsprechenden neuplatonischen Spekulation vereinigt. In Adolf Hitler in der Geschichte habe ich beide Entwicklungslinien verfolgt; hier beschränke ich mich auf den westkirchlichen Raum. In ihm beherrscht während eines knappen Jahrtausends, das ich deswegen das »christliche Jahrtausend« nenne, (von 312–1303, vom Edikt von Mailand bis zum Sturz des Papstes Bonifaz des Achten) das Christentum vollkommen die Geister und Gemüter und vollbringt an ihnen seine Erziehungsarbeit. Diese umfasst zwar auch wohltätige Hilfe in der Not im Zeichen christlicher Nächstenliebe, aber ohne vollen Erfolg, da die Christen ebenso mit äußerster Brutalität vorgehen. Viel durchschlagender und auf die Dauer einflussreicher ist eine andere Prägung der Menschen durch das Christentum: die Bindung des affektiven Betroffenseins an das zentrale Thema der Macht (zunächst Gottes) mit dem Köder des Interesses des Individuums am eigenen Glück oder Unglück in einem transzendenten Weiterleben nach dem Tode. Es gibt wohl keine andere Religion, die das private Glücksinteresse des Einzelnen, sein Verlangen nach ewiger Seligkeit und seine Furcht vor ewigen Höllenstrafen, so sehr in den Vordergrund ihrer Verkündigung gestellt hätte wie die christliche. Die Befriedigung dieses Interesses hängt nach christlicher Lehre ganz und gar von der Gunst oder Ungunst des allmächtigen Machthabers Gott ab. Dadurch rückt diese Macht zum zentralen Thema des affektiven Betroffenseins auf. Macht war für dieses auch schon vorher ein wichtiges Thema, aber neben anderen Themen wie Ehre und Ansehen, Familie, Liebe und Freundschaft, Alter, Krankheit und Tod. Alle diese anderen Themen treten nun unter das zentrale Interesse an Gottes Macht und Gunst, da von dieser Unterordnung alles für das zentrale Interesse an transzendenter Befriedigung abhängt. Augustinus, der maßgebende Wegweiser ins christliche Jahrtausend, verspricht den Gläubigen einen bequemen Heilshandel auf Grund eines Sonderangebotes Gottes mit kurzer Laufzeit: Für ein paar Pfennige, in Gestalt eines gottgefälligen Lebenswandels auf Erden, können sie den unermess331 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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lichen Schatz ewiger Seligkeit erwerben. 237 Anders als die Erziehung zur Nächstenliebe wurde die Erziehung zur Bindung des affektiven Betroffenseins an die Macht ein nachhaltig durchschlagender Erfolg des christlichen Jahrtausends; er hat die Lösung von Gott überstanden und wirkt bis heute auf die Begeisterung im »baconischen Zeitalter« für technischen Fortschritt der Naturbeherrschung nach. Dieser Erfolg hat die Kräfte mobilisiert, aktivierend durch die Alarmstimmung, die sich durch die Sorge für das bedrohte eigene Seelenheil mit der Unterwerfung unter die Macht Gottes verband. Im Islam ist diese Unterwerfung mindestens ebenso stark ausgeprägt, hat aber keine aktivierende Wirkung, weil sie sich mit dem Fatalismus verbindet, dass alles ohnehin so kommt, wie Gott will. Leitfigur und Protagonist des christlichen Jahrtausends ist Augustinus; deswegen wird es genügen, dessen Geist und Tendenz aus seinen Schriften herauszulesen. 238 Augustinus ist radikaler Eudämonist. Alle wollen glücklich sein. Nichts als Glück ist das Ziel des menschlichen Lebens, ihm sind alle speziellen Willensregungen untergeordnet. Die Guten sind selbstverständlich nur deshalb gut, die Christen nur deshalb Christen, weil sei ein glückliches Leben erstreben. Glück ist Privatsache. »Durch das Glück eines anderen Menschen wird keiner glücklich.« 239 Jeder soll auf eigene Faust sein Glück bei Gott suchen und den Mitmenschen anspornen, Gleiches zu tun; das ist nach Augustinus der Sinn des Gebots: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Notwendig und zureichend für Glück ist der Genuss der Gegenwart Gottes mit Lust und Freude. Nur Gott dürEnarrationes in Psalmos 93, 24 und 102, 12 Ich stütze mich hier auf meine Darstellung in: Der Weg der europäischen Philosophie Band II, Freiburg 2007, S. 36–52. Dort sind die Belegstellen angegeben, die ich hier weglasse. 239 De libero arbitrio II, 52 (19): Beatitudine autem atterius hominis non fit alter beatus. Leibniz dachte anders, als er definierte: »Lieben ist seine Lust in eines andern Glückseligkeit suchen.« (Philosophische Schriften hg. v. Gerhardt Band VII S. 75, Erklärung einiger Worte) 237 238

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Das christliche Jahrtausend

fen wir genießen, als das, was wir um seiner selbst willen lieben, weil es uns glücklich macht; alles andere dürfen wir nur benutzen. Diese Begründung ist freilich widersprüchlich, weil hiernach nicht Gott unser Glück ist, das wir um seiner selbst willen suchen, sondern der Genuss der Gegenwart Gottes, Gott selbst aber nur, was uns glücklich macht, also Mittel zum Zweck dessen, was wir um seiner selbst willen suchen; auch Gott wird von Augustinus nur benützt. Nur der Umweg über Gott unterscheidet dieses Glücksideal von dem der Yankees, vom Glück im Allgemeinen, das die amerikanische Verfassung als Menschenrecht (pursuit of happiness) freigibt. Ruckartig und endgültig wendet sich Augustinus von der noch kurz vorher vertretenen und seither verworfenen Lehre, dass Glauben und Wollen eigene Leistung des Menschen ist und nur das Vollbringen bei Gott steht, 396 zur Gnadenwahl in dem Sinn, dass Gott aus der durch die Erbsünde verdammten Masse der Menschen Einzelne zur Besserung aussiebt, andere aber nur zu dem Zweck erschafft, sie zu den äußersten Strafen zu bestimmen, damit die Geretteten erkennen, was ihnen ohne Gottes Barmherzigkeit geblüht hätte, und das Entsetzen ihnen den Mund stopft. Diese Prädestinations-Reprobationslehre ist in der Kirche umstritten geblieben, aber von Thomas von Aquino, dem maßgebenden Kirchenlehrer, im Grundsatz übernommen worden. Man könnte vermuten, dass solche Vorherbestimmung des transzendenten Schicksals die Aktivität lähmen würde. Das ist für Augustinus keineswegs der Fall. Die Aussicht, dass bei Weitem die Meisten zu den Verworfenen gehören, wirkt abschreckend und alarmierend. Das Schicksal eines Menschen für die Ewigkeit richtet sich nach seinem Zustand am Tag seines Todes: Ein liederlich verlebter Sterbetag löscht alle Heilsanwartschaft eines ganzen Tugendlebens aus. Daher muss der Christ stets gut wachsam und vorbereitet sein. Die kleinteilige Zerlegung der täglichen Lebensgeschichte durch misstrauische Bewachung der eigenen unwillkürlichen Regungen – besonders auf geschlechtlichem Gebiet – ist durch Augustinus im westkirch333 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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lichen Christentum durchgesetzt worden. Die Tendenz der Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen, die schon im klassischen Altertum die Welt- und Menschspaltung motivierte (3.1) und den hellenistischen Philosophenschulen die Richtlinie gab, wird auf diese Weise vom Christentum nicht nur gewaltig verdichtet und verschärft, sondern auch ausgeweitet, da sie bei den Alten nur für die gebildete Oberschicht den Maßstab abgab, nun aber für alle Menschen als Christen verbindlich wurde. Zudem wird dabei das affektive Betroffensein zu nachhaltiger Verschüchterung herausgefordert, weil wir nach Augustinus mit Furcht und Zittern an unserer Erlösung arbeiten sollen, da es Gott Freude mache, in der Senke der Zerknirschung Ruinen aufzurichten. Augustinus vergleicht diese Furcht vor dem doch geliebten Gott mit der Furcht einer züchtigen Ehefrau, die ihren Mann liebt, aber fürchtet, von ihm verlassen zu werden, und daher auf eigenes Wohlverhalten achtet. Augustinus steht zwischen den Zeiten. Während er, rückwärtig gewandt, mit dem christlichen Jahrtausend in seinem Gefolge den antiken Anspruch auf Selbstbeherrschung gegen die unwillkürlichen Regungen intensiv und extensiv verschärft, arbeitet er andererseits durch die scharfe Unterscheidung zwischen Benützen und Genießen der modernen technischen Gesinnung vor, die darauf ausgeht, alles für das Belieben der Menschen nutzbar zu machen. Nur Gott ist zu lieben; die ganze Welt mit allem, was es darin an Sinnendingen gibt, ist zu verachten, aber für die Notdurft dieses Lebens zu benützen, als ob man sie nicht benützte, d. h. lieblos und gleichgültig. Der Körper wird auf diese Weise zur bloßen Maschine, deren Aufgabe es ist, dem Willen zu gehorchen, da die Gerechtigkeit nach Augustinus darin besteht, dass Gott dem Menschen, der Geist dem Körper und die Vernunft den Fehlern befiehlt. Dagegen vergeht sich der Körper namentlich dann, wenn das männliche Geschlechtsteil einmal nicht dem Willen gehorcht, der zur Aktion anzusetzen befiehlt; wenn so ein Ausfall bei Adam vor dem Sündenfall nicht

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Das christliche Jahrtausend

vorgekommen sein sollte, würde Augustinus ihm die sonst so verpönte Wollust bei der Zeugung gönnen. Im Verhältnis der Menschen zu einander führt das einseitig eudämonistische Privatverhältnis zu Gott – Gehorsam als Weg zum Glück – zur Isolierung und Uniformierung der Individuen. Wer zu den Prädestinierten gehört, ist auf Erden nicht zu erkennen. Der Wille eines Menschen ist für den anderen undurchschaubar. Das einhellige Streben der Urchristen, die »ein Herz und eine Seele« waren 240 , wird atomisiert. Deren Erkennungsmerkmal, zur verfolgten Gemeinschaft der Auserwählten inmitten der bösen Welt zu gehören, ist durch die Ausbreitung des Christentums auf alle unbrauchbar geworden. Die isolierten Einzelchristen können nur noch durch Uniformierung im Verband der Kirche zusammengehalten werden. Jede Privilegierung intimer Beziehungen wird verpönt. Die Mutter soll jede spezielle Liebe zu ihren Kindern in sich abtöten, und Entsprechendes gilt für alle anderen Verwandtschaftsbeziehungen. Was gehen einen dann noch die Tränen der Mütter, der Tod der Magd und die Krankheit des Bruders an? Die ordnungsgemäße Liebe verlangt, sich über so etwas mit dem Entschluss hinwegzusetzen, den Armen das Evangelium zu predigen. Der gute Christ darf in seiner Frau nur die Kreatur Gottes lieben, die er im christlichen Sinn zu reformieren hat; als Ehefrau soll er sie hassen, nicht aber den Menschen, der sie ist. Die so des Intimen ledige Zuwendung wird zur allgemeinen Menschenliebe, allerdings durchkreuzt durch die grausame Einsicht, dass nur wenige zur Heiligkeit auserwählt, die Meisten aber von Gott verworfen sind und dann die Bestimmung haben, lieblos zur Förderung des Glücks der Erwählten benützt zu werden. Eine weitere Einschränkung besteht darin, dass die Liebe nicht dem Menschen gilt, wie er ist, sondern so, wie du willst, dass er sei – nämlich ein durch und durch frommer Christ. Wie Augustinus am Anfang des christlichen Jahrtausends, 240

Apostelgeschichte 4, 32

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steht Meister Eckhart an dessen Ende, der Zeit und der Vollendung nach, als der Antipode Augustins, der in den Zitaten und Anspielungen seiner Predigten öfter vorkommt als jeder andere »Meister«. Augustinus verzettelt sich im ohnmächtigen Erschrecken vor der unberechenbaren Macht Gottes mit tiefster Ergebenheit gegen diesen; Eckhart entdeckt ein Verfahren, durch Radikalisierung der augustinischen Demut Gottes mächtig zu werden und eine Selbstsicherheit zu erlangen, die der kleinteiligen misstrauischen Selbstbeobachtung von Fehltritten auf dem Weg zum Glück bei Gott enthoben ist. 241 Als Dominikaner folgt Eckhart der Gottesidee seines prominentesten Ordensgenossen, des Thomas von Aquino, der Gott als das an sich bestehende Sein selbst (ipsum esse subsistens) bestimmt hatte, mit der These: »Gott ist das Sein.« Er versteht das Sein, anders als Thomas als Existenz, im Sinn der Antwort auf die Frage, ob etwas ist. 242 Das bei Thomas rätselhaft bleibende Problem, wie noch etwas außer Gott sein kann, wenn Gott das Sein selbst ist, löst Eckhart, indem er den Dingen außer Gott ein vollständiges Sein abspricht und nur ein Sein zubilligt, das ewig im Anfang ist (wie das Wort nach dem Johannesprolog), als Übergang des Seins in die Dinge im Sinne einer immer erst werdenden Geburt Gottes in ihnen, gleichsam einer gefrorenen Geburt, wie Damaskios sich ausdrückt. In diesem Sinn ist die Existenz aber allen seienden Dingen gemein: Gott muss sich in sie alle ergießen, er gibt allen Dingen gleich. Für die Gnade Gottes, an der Augustinus hing, ist dann kein Platz mehr. »Gott ist nicht zu bitten, dass er uns das Licht seiner Gnade einflöße oder irgend etwas dergleichen, sondern dies ist zu erbitten, dass wir würdig seien Ich stützte mich hier auf meine Eckhart-Darstellung (Der Weg der europäischen Philosophie Band II S. 155–171), wo auch die Belegstellen zu finden sind, und verweise außerdem auf die etwas ältere Darstellung in: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 161–178. 242 Lateinische Schriften Band II, Stuttgart 1954–1992, S. 575: Was ohne Gott und also ohne das Sein ist, ist nichts, d. h. ohne ob es ist (an est). (Expositio libri Sapientiae 13, 1) 241

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Das christliche Jahrtausend

anzunehmen. Gott gibt immer oder nie, allen oder keinem.« Das ist seine Gerechtigkeit im Sinne völliger Ausgeglichenheit, die Seinsweise Gottes und zugleich die Tugend des Menschen, der sich durch völlige Passivität, Gelassenheit und Abgeschiedenheit von jedem bevorzugendem Eigeninteresse, wie dem Augustins am eigenen Glück des Gott-genießens, dem Einfluss Gottes öffnet. Der Gerechte nimmt Gott gefangen; er zieht ihn wie eine ausgeleerte Saugpumpe in sich hinein, er nötigt Gott, sich in ihn zu ergießen. Eckhart versteht diese Selbstpreisgabe als den Gipfel der Demut, der Tugend Augustins: »Der wahrhaft demütige Mensch braucht Gott nicht zu bitten, er kann Gott gebieten. Die Höhe der Gottheit hat es auf nichts abgesehen als auf die Tiefe der Demut.« »Dieser demütige Mensch ist Gottes so gewaltig, wie er seiner selbst gewaltig ist.« Die Macht, an die das Christentum das affektive Betroffensein gebunden hat, ist bei Eckhart reif geworden zur Übertragung von Gott auf den Menschen, also zur Ablösung von ihrem jeweiligen Träger. Damit hat das Christentum seinen Dienst für die es beerbende Folgezeit getan, aber erst in theologischer Spekulation; die Anwendung auf die Praxis, mit Hilfe von Naturwissenschaft und Technik, folgt erst drei Jahrhunderte später. Meister Eckharts Rezept – Machtergreifung durch Unterwerfung und Angleichung – kehrt in säkularisierter Form wieder in dem Losungswort, das Francis Bacon dem naturwissenschaftlich-technischen Zeitalter auf den Weg gibt: natura non nisi parendo vincitur, »Die Natur lässt sich nur durch Gehorchen besiegen.« Der Wille des Gerechten reicht sogar an die Allmacht heran. »Mit dem Willen vermag ich alles.« Das behauptet Eckhart schon in den frühen Reden der Unterweisung. Der Gerechte darf auch alles, sogar wüten wie das Feuer, da ihn nur das allgemeine Interesse, nicht ein Partikularinteresse oder gar ein Eigeninteresse, bewegt. Seine Gerechtigkeit ist eine Gleichgültigkeit, die sich von der Gleichgültigkeit im üblichen Sinn, der aus Interesselosigkeit, nur durch das Interesse an eben dieser Gleichgültigkeit unterscheidet. Sie schließt die allgemeine Men337 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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schenliebe (ohne jede Bevorzugung) ein, aber nicht die bei Augustinus die Dominanz des privaten Glücksstrebens kompensierende Uniformierung. Eckhart wendet sich immer nur an den Einzelnen und seine Vernunft. Mit Augustinus teilt er aber die Ablehnung aller speziellen intimen Bindungen in gemeinsamen Situationen, die als Motive der Bevorzugung von der Gerechtigkeit abführen würden. Die Botschaft Eckharts hat trotz ihrer exzentrischen Züge und der päpstlichen Zensur, die nicht auf sich warten ließ, gleich und in der Folgezeit stark ausgestrahlt, gerade auch mit dem Motiv des Machtgewinnens durch Selbstpreisgabe mit Resignation auf Eigeninteresse, so bei Johannes von Sterngassen, in Taulers Predigten und dem Buch von der Nachfolge Christi (Imitatio Christi, angeblich das »nach der Bibel gelesenste Buch der Welt« 243 , Thomas von Kempen wohl irrig zugeschrieben): 244 Diese Resonanz zeigt, dass Eckhart mit seinem Entwurf der Machtübernahme von Gott, die aber Gott mitnimmt und sich nicht von ihm ablöst, einen Nerv der Zeit getroffen hat. Merkwürdig ist aber, dass zwei Jahrhunderte später, als die protestantische Reformationsbewegung die Bindung des affektiven Betroffenseins an die Allmacht Gottes als zentrales religiöses Motiv wieder aufnimmt, das Motiv der Machtergreifung durch Selbstentäußerung keine Rolle mehr spielt; dieses Motiv wandert vielmehr in die Anfänge der naturwissenschaftlich-technischen Weltanschauung im folgenden 17. Jahrhunderts hinüber. Luther 245 und Calvin 246 stellen sich dagegen der Herausforderung durch Gottes Allmacht mit einer unverblümten, rücksichtslosen Offenheit, die dem christlichen Jahrtausend und seinem Vordenker Augustinus fernlag. Calvin ist der erste Christ, der die vorhin bei Augustinus bemerkte (und für das christliche Jahrtausend leitmotiviMaria Alberta Lücker, Meister Eckhart und die Devotio Moderna, Leiden 1950, S. 10 244 Der Weg der europäischen Philosophie Band II S. 172–174 245 Adolf Hitler in der Geschichte S. 199–209: Luther 246 Ebenda S. 209–220: Calvin und der Calvinismus 243

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Das christliche Jahrtausend

sche) Widersprüchlichkeit (oder gar Lebenslüge) aller religiösen Zielsetzung konsequent vermeidet: dass angeblich Gott als höchstes Ziel gesucht und geliebt wird, eigentlich aber das eigene Glück durch lustvolle Gegenwart bei Gott, so, dass dieser doch nur Mittel zum Zweck ist. Mit den düstersten Farben malt Calvin die unberechenbare, Prädestination und Reprobation einschließende Allmacht Gottes aus und verbietet zugleich jede Reflexion des Einzelnen darauf, was seine bedingungslose Unterworfenheit unter diese Allmacht für sein Glück oder Unglück bedeutet, zu Gunsten des unbedingten Einsatzes für die Sache und den Ruhm Gottes in der Welt. Von dieser radikalen Entschiedenheit unterscheidet sich Luthers Frömmigkeit durch eine ambivalente Unruhe, die sich der einförmigen Schienung entzieht und für Zweifel und Anfechtungen offen ist. Luthers Glaube hat dadurch moderne, quasi existenzialistische Züge, als ein Kierkegaard’scher Sprung, eine extremer Skrupulosität und Verdammungsangst abgewonnene paradoxe Mutprobe des Vertrauens auf die Gnade eines Gottes, der von sich aus keinen zureichenden Grund für dieses Vertrauen liefert. Eine entfernte Ähnlichkeit mit Eckharts Machtbewusstsein hat Luthers Bauen auf eine Gebetsmacht, die kraft der von Gott versprochenen Erfüllung der Gebetswünsche Wunderwerke zu vollbringen und alles möglich zu machen vermöge, doch fehlt ihm die mittelalterliche Selbstsicherheit Eckharts und die Unumstößlichkeit des Glaubens so sehr, dass er sogar mit der Anfechtung zu kämpfen hat, dass Gott mit seinen Verheißungen lügen könnte. 247 Dies genüge zur Theologiegeschichte des christlichen Jahrtausends. In der Philosophiegeschichte scheint mir der wichtigste Ertrag dieses Zeitalters in der konsequenten Abwendung von der neuplatonischen Vieleinigkeit zum Singularismus und Konstellationismus zu bestehen. Dieser Prozess ist größtenteils eingewickelt in die scholastischen Erörterungen zum Universalienproblem, hängt aber auch mit dem Verständnis der Einheit 247

ebenda S. 204 f., 206

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Rückblick auf das Abendland

zusammen. Aristoteles hatte das Eine ausdrücklich als das Ungeteilte oder Unteilbare (adihaireton) ausgegeben, also als das Einfache oder Zusammengesetzte (mit starker Bindung wie beim lebendigen Organismus, im Gegensatz zum zusammengewürfelten Haufen), versteht darunter aber unterschiedslos das analytisch Eine (was Fall einer Gattung ist) und das numerisch Eine (was einzelner Fall einer Gattung ist). Die Scholastiker übernahmen dieses Bedeutungsgeflecht zusammen mit dem aristotelischen Grundsatz, dass Seiendes und Eines gleichen Umfang haben (austauschbar sind). Diese Identifizierung führte faktisch zur Beschlagnahme des Seienden für das numerisch Eine, das Einzelne und das numerische Mannigfaltige mit lauter einzelnen Inhalten, also zum Singularismus, aber auch zur Degradation des Vielen, das als Geteiltes nur mit Schwierigkeit beim Seienden als dem Einen und Ungeteilten unterkam. 248 Solches Vieles konnte sich als anerkannt Seiendes höchstens als vieles Eines, also nur als numerisches Mannigfaltiges, behaupten. Das wirkte sich auf das Universalienproblem aus. Dessen neuplatonische Version stand den Scholastikern im Werk des Johannes Scotus Eriugena vor Augen. Dieser deutete das Leben als die Vieleinigkeit des Allgemeinen und Individuellen, ihre wechselseitige Durchdringung und ihr Aufgehen in einander. Begrifflich genauer handelt es sich nach meiner Deutung (5.1) um ein unspaltbares Verhältnis in zwiespältiger oder numerischer Mannigfaltigkeit. Daran haben die Scholastiker aber nicht angeknüpft, sondern an Boethius. 249 Dieser hatte in seinem zweiten Kommentar zur Einführung des Porphyrios in die Kategorienschrift des (Pseudo-) Aristoteles die Universalien zu bloßen von den Dingen abgezogenen Gedankenbildungen herabgestuft, mit der Begründung, dass etwas nur als Eines SeienVgl. von mir: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 31–40; selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität, Freiburg 2015, S. 18–20 249 Zum Folgenden vgl. von mir: Der Weg der europäischen Philosophie Band II, Freiburg 2007, S. 53–86: Das Universalienproblem 248

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Das christliche Jahrtausend

des sein könne, aber nicht zugleich Eines und mehreren Dingen gemeinsam oder in diesen. Darauf fußt im 12. Jahrhundert Petrus Abaelardus, um den Universalien das Sein abzusprechen. Dass keine Sache universal sei, beweist er, Boethius folgend, so: Alles, was ein Eines ist, ist ein Eines der Zahl nach, d. h. diskret in eigener Wesenheit (discretum in propria essentia), aber Gattungen und Arten, die mehreren Sachen gemeinsam sein müssen, können nicht der Zahl nach Eines und also überhaupt nicht Eines sein, also – nach dem aristotelisch-scholastischen Axiom – auch nicht Seiendes. Die Reduktion des Seienden auf das numerisch Eine, das Einzelne und des Mannigfaltigen auf numerische Mannigfaltigkeit wird hier axiomatisch vorausgesetzt, und damit wird dem heidnischen Neuplatonismus die Tür zugeschlagen; denn nach neuplatonischer Lehre ist alles seiend und selbst nur durch innigen Zusammenhang eines in Beziehungen nicht spaltbaren Verhältnisses und verliert sich, wenn auch nur allmählich, selbst, wenn es diesen Zusammenhang verlässt, wie Plotin sagt: »Alles, was auseinandertritt, setzt sich von sich selbst ab.« 250 Diese Argumentation auf der Grundlage eines fraglos vorausgesetzten Singularismus ist der Kerngedanke der gemeinscholastischen – von Thomas von Aquino und Duns Scotus geteilten – Ablehnung der Universalien; daneben finden sich Begriffsverwirrungen, wie die von asymmetrischen (Subsumtion) und symmetrischen (Identität) Beziehungen und Fehlschlüsse, die sich aus der Abwesenheit des unbestimmten Artikels im Lateinischen ergeben. 251 Thomas von Aquino formuliert den nicht formal fehlerhaften Kerngedanken so: »Wenn dem Menschen seinem Begriff nach Gemeinsamkeit zukäme, dann würde in jeder Sache, in der Menschheit angetroffen wird, auch Enneaden V 8 [31] 1, 27 f. etwa so: Socrates est homo, homo est universale, ergo Socrates est universale. Diese Logik soll nur durch Elimination der Universalien zu heilen sein. Hätte man deutsch gesprochen und gesagt, Sokrates ist ein Mensch, ein Mensch ist ein Universale, hätte man den Fehler sofort gemerkt. Siger von Brabant und Thomas von Aquino merken ihn nicht.

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Gemeinsamkeit angetroffen, und das ist falsch, weil in Sokrates überhaupt keine Gemeinsamkeit angetroffen wird, sondern, was auch immer in ihm ist, individuiert ist.« 252 Das ist derselbe Gedanke wie bei Abaelard, dieselbe axiomatische Absage an den Neuplatonismus, nach dessen Lehre etwas nur dadurch selbst ist, dass es zugleich gemeinsam ist. Thomas weicht demgemäß vor der Wirklichkeit der Gattungen und Arten in eine Repräsentationstheorie aus, wonach ein Bild (similitudo) in der Seele, ein individueller Gegenstand, viele untereinander ähnliche individuelle Gegenstände repräsentiert. So in De ente et essentia, wo er das Universalienproblem thematisch behandelt; in anderen Schriften stellt er die Art über das Individuum. Unter den großen Scholastikern ist Johannes Duns Scotus der einzige, der Verständnis für die nicht-numerischen Formen der Mannigfaltigkeit aufbringt. 253 Damit ist es vorbei, seit Wilhelm von Ockham den bis dahin eher latenten Singularismus und Konstellationismus der scholastischen Denkweise mit unerhörter Rigorosität hervorkehrt. 254 Er bestreitet nicht nur die Universalien (Gattungen und Arten), sondern auch die Beziehungen, um die Welt in lauter einzelne Gegenstände aufzulösen. Seine zentrale Botschaft fasst er in dem Satz zusammen: »Jede Sache, die von jeder anderen Sache wirklich verschieden ist, ist wahrhaft eine Sache von sich, weil abgezogen ihrer Washeit und ihrem Wesen nach von jeder anderen Sache; daher gibt es in der Wirklichkeit nichts außer absoluten Sachen.« 255 Das geht so weit, dass er auch die Akzidentien, von denen er wenigstens die De ente et essentia Kapitel IV: Si enim communitas est de intellectu hominis, tune in quocunque inveniretur humanitas invenuretur communitas. Et hoe falsum est, quia in Socrate non invenitur communitas aliqua, sed quidquid est in eo individuatum est. 253 Der Weg der europäischen Philosophie Band II S. 113–118 254 zu Wilhelm von Ockham ebenda S. 79–83 und 133–154 255 Ordinatio I d.30q.2, Opera theologica IV 321, 10–12: Omnis res realiter distincta ab omni alie re est vere res a se quia absoluta secundum quidditatem et essentiam ab omni alia re; igiturpraeter res absolutas nihil est in re. 252

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Die Neuzeit

Qualität noch gelten lässt, so verabsolutiert, dass sie auch ohne tragende Substanz (wenn Gott es will) bestehen können, bis zu dem Extrem, dass Denken und Wollen auch ohne jemand, der denkt und will, möglich wären. 256 Wilhelm nimmt hier Lichtenberg (und dessen positivistische Gefolgsleute) vorweg, der das »cogito« des Descartes verbesserte in: »Es denkt, so wie man sagt: Es blitzt.« Diese radikale Streichung hat Konsequenzen, die Wilhelm mit mehr oder weniger Geschick auf vielen Gebieten durchführt: für die Kausalität, die Bewegung, das Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, die Weltordnung, das technische Machen, die Quantität einschließlich der Zahl, das Kontinuum. Zugleich ist Wilhelm der erste Projektionist, der den nackten einzelnen Sachen Bestimmungen oder Bedeutungen erst von der Seele oder dem Verstand durch Benennungen verleihen lässt, sozusagen als Sinngebungen für das Sinnlose. Der singularistisch-konstellationistische Rigorismus Wilhelms hat die im späten Mittelalter mächtige Bewegung der Nominalisten angefacht und der modernen Naturwissenschaft einen tragenden Pfeiler ihrer naiv vorausgesetzten Ontologie geliefert. Es ist kein Zufall, dass gleichzeitig mit Wilhelm die ontologisch-logische Kombinatorik, die den Konstellationismus nur auszuschöpfen sucht, einsetzt, von Raimundus Lullus bis zur Hochblüte bei Leibniz.

5.3 Die Neuzeit Eine große, nicht enden wollende Diskussion und Literatur gibt es seit langer Zeit über das Verhältnis von Mittelalter und Neuzeit, teils über die Epochengrenze, teils über die Abhängigkeit oder Selbständigkeit des Neuen, ob es sich etwa um eine Säkularisierung religiöser Formationen oder einen legitimen Neuansatz gehandelt habe. Ich halte diese Auseinandersetzungen 256

Ordinatio IV q.9, Opera theologica VII 155, 15–18

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Rückblick auf das Abendland

für überflüssiges Bereden eines Scheinproblems. Es gibt gar keinen Epochenwandel und keinen Gegensatz zwischen Mittelalter und Neuzeit, sondern verschiedene neuartige Strömungen oder Bewegungen der Denk- und Lebensweise, die sich überkreuzen. Mit dem Sturz des Papstes Bonifatius VIII. geht die unbedingte transzendente Autorität des Christentums zu Ende. Philipp der Schöne von Frankreich und sein Kreis nehmen sie nicht mehr ernst und unterwerfen sich den Papst im Exil in Avignon. Meister Eckhart dreht die Ohnmacht der Christen vor dem allmächtigen Gott um. Wilhelm von Ockham überträgt das Von-sichsein (a se), die Auszeichnung Gottes des Vaters in der göttlichen Trinität, auf alles Seiende einschließlich der Akzidentien und liefert es in dieser Gleichgültigkeit einem technischen Machen aus, das nicht mehr wie bei Aristoteles als Handeln nach Leitbildern, sondern als bloße Umlagerung im Raum, also als Einladung zu beliebigem Probieren, verstanden wird. 257 Das Triumvirat der drei Zeitgenossen Philipp – Eckhart – Wilhelm öffnet eine Perspektive, die sich erst ganz allmählich durchsetzt, besiegelt erst fast fünf Jahrhunderte später mit der Ablösung des Christentums durch die Aufklärung in der Führerschaft der öffentlichen Meinung. Von Anfang an aber tastet sich das Abendland in dieser neuen Perspektive vor. Bis zum entscheidenden, alles umwälzenden Neuansatz in der Neuzeit, dem Beginn des naturwissenschaftlich-technischen, »baconischen« Zeitalters, vergehen seit dem Sturz Bonifaz VIII. drei Jahrhunderte, die ich nicht einheitlich zu charakterisieren vermag. Die auffallendsten Neuerungen in dieser Zeit sind die maritime erdumspannende Expansion, die protestantische Reformation, die Kultur der Renaissance in Italien und die Wiederkehr des alten Denkens in typisierten vielsagenden Eindrücken (magia naturalis). Die maritime Expansion, nahegelegt Der Weg der europäischen Philosophie Band II S. 144 (nach Wilhelm von Ockham, Expositio in libros Physicorum Aristotelis II c.1 § 4, Opera philosophica IV 219)

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Die Neuzeit

durch Abschätzungen des Aristoteles und Eratosthenes, kompensierte die Sperrung der Wege nach dem Osten durch die Türken. Die protestantische Reformation ist bruchlose Fortsetzung der Auseinandersetzung mit der Allmacht Gottes, dem zentralen Thema mittelalterlicher Religiosität; ihr Eigentümliches, die Betonung des individuellen Weges zu Gott, ist schon in Meister Eckhart ausgeprägt und keineswegs dessen Privatsache, sondern, wie der große Erfolg seiner Predigten vor den Beginen zeigt, der Religiosität schon um 1300 angemessen. Die Kultur der Renaissance in Italien, dem Mittelalter allmählich entwachsend bis zur kurzen Hochblüte um 1500, ist ein einmaliges, lokal und zeitlich abgekapseltes Ereignis; Alfred v. Martin hat darauf hingewiesen, dass bei ihrem Übergang in die gegenformatorische Kultur des Barock gesellschaftliche Ideale auftauchen, in denen der Geist des mittelalterlichen Rittertums wieder durchzubrechen scheint. 258 Die Wiederkehr der archaischen Abstraktionsbasis des Denkens in typisierten vielsagenden Eindrücken (statt auf der Grundlage leicht ablesbarer Merkmale), die ich an Paracelsus studiert habe 259, setzt eine Unterströmung im Mittelalter fort 260 und durchbricht den Bogen einer ernüchterten Denkweise, die über drei Jahrhunderte hinweg Wilhelm von Ockham und Hobbes verbindet. Der Anbruch des baconischen Zeitalters mit dem Ziel der Naturbeherrschung durch mathematisch-naturwissenschaftliche Kenntnisse und Maschinentechnik ist keine Neuschöpfung, sondern greift auf antike und mittelalterliche Vorgaben zurück. Von der Antike erbt er die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung. Der Reduktionismus – die Reinigung der empirischen Außenwelt von potentiell ergreifenden Mächten mit Ersatz durch privilegierte MerkmalAlfred v. Marten, Soziologie der Renaissance, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1949, S. 121–124 259 Der Weg der europäischen Philosophie Band II S. 190–210 260 Vgl. von mir: Der unerschöpfliche Gegenstand, zuerst Bonn 1990, S. 22 f. Anmerkung 6. 258

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sorten, die für Experiment und Statistik günstig sind – liefert der Naturwissenschaft die für sie brauchbare Abstraktionsbasis, während die Introjektion in die vom Psychologismus bereitgestellten Innenwelten das für die Naturwissenschaft nicht brauchbare Material in für sie unwichtigen Nebenschauplätzen unterbringt. Vom christlichen Jahrtausend übernimmt die Intention auf Naturbeherrschung den Machtinstinkt, der durch die Bindung des affektiven Betroffenseins an die Macht Gottes als zentrales Thema ausgebildet wurde. Dazu gehört freilich die Übernahme der auf Gott projizierten Macht in die eigenen Hände des Menschen, aber auch sie ist schon mittelalterlich, wie die Figur des Meisters Eckhart erweist und auch der Missbrauch nahelegt, den die Verwalter göttlicher Macht mit der ihnen verliehenen Autorität getrieben hatten, den transzendenten Machtanspruch ins Menschlich-Allzumenschliche herabziehend. Hätte Bonifaz VIII. seinen Hochmut und sein Privatinteresse nicht so übertrieben, würde Philipp der Schöne nicht so leichtes Spiel mit ihm gehabt haben, und die Beispiele ließen sich häufen. Eine unentbehrliche mittelalterliche Voraussetzung des baconischen Zeitalters ist ferner der von Wilhelm von Ockham ausstrahlende Nominalismus mit entschlossener Durchsetzung eines singularistischen Konstellationismus. Die Welt stellt sich dieser Deutung wie ein riesiges Netz einzelner Knoten dar, das im Zuge der Naturbeherrschung dazu bestimmt wird, von den Menschen nach deren Belieben umgeknüpft zu werden. Dass die Form der Einzelheit nur durch Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit möglich ist, aus denen Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) geschöpft werden müssen, damit Gattungen zur Verfügung stehen, um deren Fall, etwas absolut Identisches, mit Einzelheit zu bekleiden, fällt dann nicht ins Gewicht und kommt nicht in den Gesichtskreis. Der Naturwissenschaftler geht mit Konstellationen um, als könnten sie sich selbständig machen. Allerdings ist diese in der Relativitätstheorie gipfelnde Denkweise in der Quantenphysik an ihre Grenze gestoßen. Diese neuartige Disziplin überschreitet mit ihren theoretischen 346 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Konzepten das numerische Mannigfaltige und trifft auf chaotische Mannigfaltigkeit (Bose-Einstein-Statistik), zwiespältige Mannigfaltigkeit (Überlagerung von Zuständen) und unspaltbare Verhältnisse (Verschränkung). Das erregt aber nur Staunen und Verständnislosigkeit, weil man die verfügbaren Begriffe, die für widerspruchsfreie Interpretation ausreichten, nicht zur Kenntnis nimmt. Eine Schlüsselstellung für die Rezeption der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung im baconischen Zeitalter nimmt Descartes ein. Diese Rezeption setzte, weil es ihr um die neue Abstraktionsbasis ging, beim Reduktionismus an und gewann dadurch materialistische Züge (Gassendi, Hobbes). So wäre sie damals nicht haltbar gewesen, auch schon nicht wegen des fortbestehenden Einflusses der christlichen Religion. Descartes baute dem Denken eine Brücke vom bloßen Reduktionismus zum Ganzen der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung, so dass auch diejenigen, denen es auf die Seele und deren Beziehung zu Gott ankam, in dem neuen Weltbild auf ihre Kosten kommen konnten. Das ist seine Leistung für die Integration der Weltanschauung im baconischen Zeitalter. Sein schroffer Dualismus, der als philosophische These heute (mit Recht) verschrien ist, war damals sinnvoll. Schon bei ihm und erst recht in der Folgezeit steigern sich die Philosophen mit ihrem Innenweltglauben in ein Immanenzdogma hinein, wonach der Bewussthaber mit den Vertretern von Gegenständen seiner Außenwelt in seiner Innenwelt allein gelassen und der Verlegenheit ausgesetzt ist, wie er zu den vertretenen Gegenständen, die er dann nicht mehr besuchen kann, die Brücke schlagen soll. 261 Ein Beispiel von Kant: »Wenn wir äußere Gegenstände für Dinge an sich gelten lassen, so ist schlechterdings unmöglich Stellenangaben zu entsprechenden Zeugnissen von Leibniz, Locke, Hume, Kant und Fichte bei Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 91

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zu begreifen, wie wir zur Erkenntnis ihrer Wirklichkeit außer uns kommen sollten, indem wir uns bloß auf die Vorstellung stützen, die in uns ist. Denn man kann doch außer sich nicht empfinden, sondern nur in sich selbst, und das ganze Selbstbewusstsein liefert daher nichts, als lediglich unsere eigenen Bestimmungen.« 262 Die Verschärfung des Innenweltkonzepts zum Immanenzdogma wirkt sich in etwas verwickelter Weise in einer Verschärfung des Konstellationismus aus. Man kann das schon bei Locke beobachten. Der Bewussthaber wird von den Dingen der Außenwelt zwar mit Ideen gefüttert, mit diesen im Kabinett seines Geistes aber allein gelassen, so dass er keine anderen unmittelbaren Gegenstände mehr hat. Dadurch geraten diese Ideen in eine zweideutige Zwischenstellung: Einerseits sind sie Ideen von etwas, das erkannt werden sollte, andererseits aber die einzigen faktisch verfügbaren Gegenstände der Erkenntnis. Die Aufgabe inhaltlicher Bestimmung des Gegenstandes der Erkenntnis verschiebt sich daher in die Aufgabe einer dem Zustand des Geistes entsprechenden Zusammensetzung der Ideen. Das gilt besonders, wenn es sich um Substanzen handelt, die den Geist mit Ideen beliefern. Die Substanz ist für Locke eine Illusion aus Unaufmerksamkeit (inadvertency) des Geistes, die dazu verführt, an die Stelle vieler zu einer Sache verbundener Ideen eine einfache Sache als deren vermeintlichen Träger zu setzen. So verschiebt sich die ursprüngliche Aufgabe inhaltlicher Bestimmung eines Gegenstandes in die Aufgabe, eine Konstellation von Ideen zu finden, die eine Illusion korrigiert. Kant erhebt diese Verschiebung zum Prinzip der Verstandestätigkeit. Er ersetzt die Bestimmtheit als Fall von etwas, wodurch Einzelheit ermöglicht wird, durch die Verknüpfung (Synthesis) vieler von vornherein einzelner Gegenstände, an deren selbstverständlicher Gegebenheit er als Singularist keinen Zweifel hat: Jede einzelne Vorstellung wäre »der anderen ganz fremd, 262

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Die Neuzeit

gleichsam isoliert, und von dieser getrennt« ohne Spontaneität der Synthesis 263 des Verstandes, dessen Denken aber nicht selbst im Erkennen besteht, sondern das Verbinden und Ordnen des gegebenen Stoffes ist. 264 Die Anschauung bietet das Mannigfaltige, das ihr gegeben ist, der Einbildungskraft an; diese setzt es zusammen, und der Verstand bringt den Begriff – so nennt Kant, was sich »Gattung« nenne – als Vorstellung der Einheit des Zusammenhangs bei. 265 »Alsdann sagen wir, wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben.« 266 Anwendbar für die Erkenntnis werden die Begriffe also durch Konstruktion eines Zusammenhangs. Dieser Ersatz inhaltlicher Bestimmung durch eine Konstruktionsregel für Konstellationen leitet Kants Verfahren auch außerhalb der Erkenntnistheorie. In der Moralphilosophie ersetzt er alle materialen praktischen Prinzipien durch die bloße Form eines allgemeinen Gesetzes der Tauglichkeit von Maximen (praktischen Grundsätzen) zum allgemeinen Naturgesetz. Das Recht bestimmt er als Lösung einer Konstruktionsaufgabe ohne inhaltliche Vorgaben bezüglich auf ein Maximum kompossibler Spielräume für die Willkür der Rechtsgenossen, das Schöne als Zweckmäßigkeit für ein Zusammenpassen von Verstand und Einbildungskraft im freien Spiel miteinander (gleichsam einer Gemütsgymnastik). Die Rigorosität dieses Formalismus scheint ihm allerdings manchmal unheimlich zu werden. So ergänzt er den bloß formalen kategorischen Imperativ durch die inhaltliche Vorschrift, vernünftige Wesen nie nur als Mittel zu einem Zweck zu behandeln, und das freie Spiel im Wohlgefallen am Schönen stützt er, damit es nicht fade wird, durch Anleihe bei der Moral. 267 ebenda A97 ebenda B145 265 Kritik der Urteilskraft, 3. Auflage 1799, S. 145 266 Kritik der reinen Vernunft A104 267 Wie Anmerkung 265, S. 214; Kants Brief an Reichardt vom 15. 10. 1790, Akademieausgabe Band XI S. 228 Z. 21–29 263 264

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Die großen metaphysischen Systeme der Neuzeit – von Spinoza, von Leibniz und noch von Kant – sind »Begriffsdichtungen« (Friedrich Albert Lange), die die weltanschaulichen Optionen ihrer Autoren begrifflich ausarbeiten. 268 Dabei wird nichts grundsätzlich Neues entdeckt; vielmehr werden gleichsam die Denkfiguren der von Platon und Aristoteles eingefädelten Tradition auf dem Schachbrett der Systematik verschoben und tauschen die Plätze. Ein wesentlich neues Motiv taucht erst gleich nach Kants Hervortreten mit seinen drei Kritiken in Gestalt der Ich-Intuition Fichtes auf, mit der dieser in geschichtlich folgenreicher Weise begrifflich nicht zur Klarheit kommt. Es handelt sich darum, dass Fichte der erste Philosoph ist, der merkt, dass, wenn von ihm die Rede ist, es sich tatsächlich um ihn selber handelt. Was ist daran so Besonderes? Warum bedarf es dazu eines Neueinsatzes der Philosophie? Die Geschichte des europäischen Denkens, Dichtens und religiösen Fühlens ist auf Schritt und Tritt von Selbstreflexion durchzogen. Dabei stellt der Mensch sich in den Zusammenhang des Alls des Seienden (einschließlich der Transzendenz) und bestimmt sich reflektierend seine Position darin. Die Subjektivität, die sich dadurch ergibt, ist positional. Das Bezugssystem, in dem ihr Platz bestimmt ist, wird einer Gesamtschau (Weltanschauung) vorgelegt, die sich passiv zur besinnlichen Betrachtung und Erwägung darbietet: Es wird in dieser Weise vorgefunden. Darin kommt auch der Inhaber des durch positionale Subjektivität ausgezeichneten Platzes vor, aber nicht mehr, dass er es selber – der mit der Gesamtschau – ist, wenn er das nicht schon weiß und von vornherein in das große Gemälde eingetragen hat. Das ist aber nicht selbstverständlich, wie die Tradition bis zu Fichte noch angenommen hatte; vielmehr ist die betreffende Notiz in dem passiv der Vorfindung Dargebotenen nicht mehr enthalten. Woher weiß ich, dass der da ich ist? Es muss doch zu dem obVgl. von mir: Der Weg der europäischen Philosophie Band II S. 249–296 und 316–421 sowie: Was wollte Kant?, Bonn 1989

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jektiv Gegebenen noch etwas hinzukommen, das mir sagt, dass es sich um mich handelt. Descartes ist von diesem Problem gänzlich unberührt. Er sagt zwar »cogito«, aber wenn er dem Ding nachforscht, das hier in der ersten Person des Singulars vorgeführt wird, findet er nur eine Seele unter anderen in einer Position gegenüber dem Ausgedehnten und unter Gott. Nach Descartes findet unter dem Einfluss der versachlichenden Sichtweise der Naturwissenschaft eine Entsubjektivierung statt, in der die naive Sicherheit, im Gegebenen sich selbst vorzufinden, verloren geht, mit Höhepunkt bei Hume6, Lichtenberg (siehe oben) und noch bei Wittgenstein.7 Bei Kant verdünnt sich das cartesische »cogito« (»Ich denke«, transzendentale Apperzeption) zu einem »Bewusstsein überhaupt« 269 , das niemand mehr ist, sondern nur noch die Perspektive der Gesamtschau, die sich vom Inhaber des Platzes der positionalen Subjektivität in der Welt gelöst hat. Deshalb ist es irreführend, wenn Heidegger von einem »Aufstand der neuzeitlichen Subjektivität« seit Descartes spricht. Vielmehr ist das Subjekt in einem Prozess des Denkens von Descartes bis Kant gleichsam verdampft. Das alles habe ich unter 1.1 schon genauer ausgeführt, und dabei habe ich die Fragestellung durch die Unterscheidung der subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins mit ihrer reicheren Tatsächlichkeit von den objektiven (neutralen) Tatsachen beantwortet. Hier geht es um den Anteil Fichtes. Er ringt darum, die positionale Subjektivität zu einer strikten Subjektivität (in meiner Terminologie) zu ergänzen, die darüber Auskunft gibt, was zu einem Menschen, den ich in der Welt vorfinde, dadurch hinzukommt, dass er ich ist. Bei diesem Ringen zeigt ihn folgende Nachlassnotiz: »Das Schlimmste ist, dass es sich gar nicht objektiv denken, sondern nur innerlich fühlen lässt. Mein Ich, nicht das deinige. Wo ist der Unterschied? Freilich habe ich nur äußere Kennzeichen angegeben. Es scheint man kann nicht recht fixieren. – Das beste ist: es ist durchaus 269

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kein erzeugtes, sondern ein unmittelbar immanentes Wissen. – Wie ist die Vorstellung meines Schmerzes, u. des Schmerzes eines andern verschieden? Wer dieses sagt, findet es.« 270 Einmal scheint er der Lösung in Gestalt der subjektiven Tatsachen ganz nahe zu kommen, als er in § 9 der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre die Bestreiter der strikten Subjektivität, die sich mit der positionalen (dem Menschen an einem Platz in der objektiven Welt) zufrieden geben wollen, den Unterschied am »gemeinen Sprachgebrauch« durch zwei Verwendungsarten des Wortes »ich« klar zu machen sucht: Wenn Peter Schulze bei Bekannten überraschend zu Besuch kommt und im Vertrauen, man werde ihn an seiner Stimme erkennen, auf die Frage, wer da sei, mit »Ich bin es« antwortet, fungiert das Wort als bloßes Pronomen, nicht aber, wenn der Kunde, den ein Schneider beim ungeschickten Hantieren mit einer Nadel sticht, mit dem Schrei protestiert: »Das bin ich, Sie stechen mich.« Nun zeigt das Wort eine für den Kunden subjektive Tatsache seines affektiven Betroffenseins an, wie bei der von der Frau vermissten Verwendung in der missglückten Liebeserklärung und den übrigen Misslichkeiten des Peter Schulze nach 1.1. Ebenso liegt es nahe, an eine Stelle aus der frühen Rezension des Aenesidemus – dem ersten Zeugnis der Ich-Intuition Fichtes – zu denken: »Freilich, A. will einen objektiven Beweis für die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Was mag er sich dabei denken? Oder ob ihm die objektive Gewissheit etwa ungleich vorzüglicher scheint als die – nur – subjektive? Das: Ich denke hat nur subjektive Gewissheit, und so viel wir uns das Selbstbewusstsein Gottes denken können, ist Gott selbst für Gott subjektiv.« 271 Die subjektive bzw. objektive Gewissheit kann ich mir nur als Evidenz subjektiver bzw. objektiver Tatsachen zurechtlegen, das subjektive Sein Gottes nur als für diesen subjektive Tatsache. Fichte-Gesamtausgabe Abteilung II Band 6 S. 94 Z. 16–27 (Materialien zur Wissenschaftslehre 1801/02) 271 Fichte-Gesamtausgabe Abteilung I Band II S. 65 f. 270

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Aber Fichte will sich nicht auf das affektive Betroffensein stützen und beruft sich daher zur Rechtfertigung der strikten Subjektivität nur auf unmittelbares Wissen, etwa eine intellektuelle Anschauung als »das unmittelbare Bewusstsein, dass ich handle«, »wodurch ich weiß, »dass ich es tue«, ohne die ich »weder Hand noch Fuß bewegen« könne. 272 In einem Brief an seinen Nachfolger Reinhold erklärt er sich über seinen Grundsatz vom Ich: »Zum Beispiel die Seele meines Systems ist der Satz: Das Ich setzt schlechthin sich selbst. Diese Worte haben keinen Sinn, und keine Wert ohne die innere Anschauung des Ich durch sich selbst, die ich sehr oft im Diskurs aus Menschen entwickelt habe, die mich gar nicht begreifen konnten, und sodann vollkommen begriffen: es wird gesagt: dass ein Ich, und etwas ihm entgegengesetztes, ein Nicht-Ich sei, geht schlechthin allen Operationen des Gemüts voraus; und dadurch werden sie erst möglich. Es ist gar kein Grund, warum das Ich Ich, und das Ding nicht Ich sei, sondern diese Entgegensetzung geschieht absolut.« 273 Diese Vorgängigkeit einer absoluten Unterscheidung kann ich nur so verstehen, dass der Unterschied subjektiver und neutraler Tatsächlichkeit für jede Sammlung von Tatsachen schon vorausgesetzt ist. Das Unvermögen Fichtes, seiner Ich-Intuition eine klare Begründung zu geben, hat böse Folgen für seine philosophische Entwicklung und die großen geschichtlichen Weiterungen der Fichte-Rezeption ergeben. Zunächst versucht es Fichte mit dem Rückzug der Subjektivität von allen als vermeintlich nur objektiven Tatsachen in die Tathandlung eines absoluten Ichs, das nur sich selbst tut und weiter nichts. Als diese Abgelöstheit sich wegen der Begrenzung des Ichs durch ein Nicht-Ich als unhaltbar erweist, ersetzt Fichte sie durch das Schweben der EinbildungsZweite Einleitung in die Wissenschaftslehre § 5, Fichte-Gesamtausgabe Abteilung I Band 4 S. 216 f. 273 Fichte an Reinhold 2. Juli 1795, Fichte-Gesamtausgabe Abteilung III Band 2 S. 344 272

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kraft zwischen den unvereinbaren Gegensätzen von Endlichkeit und Unendlichkeit, Begrenztheit und Unbegrenztheit, also – in der Sprache meiner Mannigfaltigkeitslehre – durch zwiespältiges Mannigfaltiges. Zunächst sucht er den Zwiespalt durch eine »Wechselwirkung des Ich mit sich selbst« abzufangen, widerruft aber diese Lösung in der Schlussbemerkung des folgenden, der praktischen Philosophie gewidmeten § 5 von Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, abermals im Namen der produktiven Einbildungskraft, durch einen unauflöslichen Zirkel, der nun »der Grundstein des ganzen Gebäudes« der Wissenschaftslehre sein soll: »Dies, dass der endliche Geist notwendig etwas Absolutes außer sich setzen muss (ein Ding an sich) und dennoch von der anderen Seite anerkennen muss, dass dasselbe nur für ihn da sei (ein notwendiges Noumen sei), ist derjenige Zirkel, den er ins Unendliche erweitern, aus welchem er aber nie herausgehen kann.« 274 Diese Schraube ohne Ende garantiert nach Fichte zwar die Sicherheit und Überlegenheit seines Gedankengebäudes, besteht aber eigentlich in einem unablässigen gegenseitigen Dementi zweier gegensätzlicher Ansichten, das Fichte wenige Jahre später als Quelle des Nihilismus verworfen hat, um sich aus dem Schwindel der Reflexion in die Dogmatik einer »Mystik mit dem Holzhammer« zu retten. Unmittelbar nach Fichtes Auftreten mit seiner Wissenschaftslehre haben Friedrich Schlegel und Friedrich v. Hardenberg (Novalis) dessen Anregung in gemeinsamem »Fichtisieren« ebenso begeistert wie verständnisvoll aufgegriffen und weitergeführt. Novalis überwand das Dilemma des transzendentalen Zirkels, der Schraube ohne Ende von Abhängigkeit und Unabhängigkeit des Ichs, indem er aus dem Problem die zwischen Unvereinbaren schwebende Seinsweise als Ich selber machte. Friedrich Schlegel entdeckte die Möglichkeit, aus der Not des Zirkels eine Tugend schrankenloser Wendigkeit zu machen, in Gestalt der romantischen Ironie, jeden Standpunkt auf274

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geben und eben deshalb auch jeden Standpunkt einnehmen zu können; Fichte hatte diese Haltung als das absolute Abstraktionsvermögen vorgezeichnet. Ironie im gewöhnlichen Sinn besteht darin, hinter einer Stellungnahme zu etwas eine andere durchsichtig zu verstecken; die romantische Ironie verallgemeinert diese Technik durch die Beliebigkeit der Standpunkte. Sie hat zwei Seiten: rezessive Ironie als unbeschränkte Rückzugsmöglichkeit und produktive Ironie als unbeschränkte Möglichkeit des Eingehens auf etwas. Dafür zwei Belege von Friedrich Schlegel: Rezessive Ironie: »Wir müssen uns über unsere eigene Liebe erheben, und was wir anbeten, in Gedanken vernichten können; sonst fehlt uns, was wir auch für andere Fähigkeiten haben, der Sinn für das Weltall.« 275 Produktive Ironie: »Ein recht freier und gebildeter Mensch müsste sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit und in jedem Grade.« 276 Diese Initiative hatte ungeheure geschichtliche Folgen. Sie läutete das ironistische Zeitalter ein, das sich mit immer größerer Mächtigkeit bis heute und in die Zukunft hinein über das Abendland ausbreitet. Im 19. Jahrhundert hatte es zunächst die aristokratische Gestalt des weltschmerzlichen Dandytums 277 ; seither ist die rezessive Ironie zur Coolnes (zur Haltung, cool zu sein) vulgarisiert, und die produktive zum »Zappen«, zur beliebigen flüchtigen Selbstbedienung aus dem unerschöpflichen Angebot der (heute meist elektronischen) Maschinentechnik, z. B. mit Fernsehen, Computer, Reisen. Diese Wendigkeit bricht den Menschen das Rückgrat eines konsequenten eigenen Wollens zu Gunsten des Wählens aus vorfabrizierten Angeboten für kurze Lebensstrecken; die Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Band II S. 131 (Über Goethes Meister) 276 Ebenda S. 160 (Lyceums-Fragment 108) 277 Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, Freiburg 2010, S. 111– 126: Der Dandy als ironische Existenz 275

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Dichte dieser Angebote verdeckt die Möglichkeiten eigenen Gestaltens durch Eingreifen in noch ungeformte Möglichkeiten (binnendiffuser Bedeutsamkeit von Situationen), die unter dem Schienennetz der Angebote kaum noch sichtbar sind. Schelling hat Fichte gar nicht verstanden, Hegel diesen nur oberflächlich, indem er nicht auf das Potential der Einbildungskraft, des absoluten Abstraktionsvermögens und des transzendentalen Zirkels achtete. Dafür aber hat Hegel reiches Verständnis für die Gefahren der romantischen Ironie, die aus einem – virtuos gewendeten – Missverständnis der strikten Subjektivität hervorging. Er greift sie als die »Spitze der sich als das Letzte erfassenden Subjektivität« an, als »die Eitelkeit alles sittlichen Inhalts der Rechte, Pflichten, Gesetze, – das Böse- und zwar das in sich ganz allgemeine Böse«, dem die Ironie obendrein »die subjektive Eitelkeit, (…) sich selbst als die Eitelkeit alles Inhalts zu wissen, und in diesem Wissen sich selbst als das Absolute zu wissen«, verleihe. 278 Dieser Gefahr sucht Hegel zu steuern, indem er die Subjektivität zwar anerkennt, aber nur, sofern sie sich einer objektiven Institution unterordnet und diesen Dienst zu ihrer eigenen, höchst persönlichen Sache macht. Bezüglich der Religion nimmt sich das so aus: »Religion ist meine Angelegenheit, ich bin persönlich dieser darin, aber ich soll darin sein, – eben nach meinem Wesen, nicht meine Partikularität darin geltend machen, sondern vielmehr mich über sie stellen, über sie hinaus sein, – abstrahieren, – ich soll als objektiv mich darin verhalten; es ist gerade mein OBJEKTIVES Sein. (…) Diese Objektivität – die ebenso sehr Subjektivität – macht allein die Religion aus.« 279 Im Zuge dieser Vermittlung zwischen dem subjektiven Einzelnen und dem objektiv Allgemeinen, im Kampf gegen die Ausschweifung der strikten Subjektivität in die Souveränität Grundlinie der Philosophie des Rechts, § 140 f. Akademieausgabe Band 18, Hamburg 1995, S. 23, Z. 12–38 (aus dem Entwurf einer Antrittsrede als Professor in Berlin 1818)

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ironischer Wendigkeit – einer schon früh von Hegel übernommenen Aufgabe – entwickelt Hegel seine eigentümliche dialektische Denkform der Vermittlung im Gegensatz unvereinbarer Seiten. In der Sprache meiner Mannigfaltigkeitslehre lässt sich diese Denkform so charakterisieren, dass Hegel die numerische Mannigfaltigkeit ablehnt – teils verachtet, wie an der Artenvielfalt der Natur, teils als Schein zu entlarven sucht –, aber auch von chaotischer Mannigfaltigkeit nichts wissen will, so dass ihm nur die zwiespältige Mannigfaltigkeit bleibt, in die er unvereinbare Gegenteile, die er gegen einander ausspielt, zusammenführen will, und zwar mit dem Treibmittel des logischen Widerspruchs. Schon Trendelenburg hat richtig bemerkt, dass dieser nicht weiter führt als bis zum Unmöglichen oder Sinnlosen, aber anders verhält sich der widerspruchsfreie Zwiespalt, der vorliegt, wenn zwei logisch unvereinbare (einander widersprechende) Behauptungen Sachverhalte darstellen, die durch ein unspaltbares Verhältnis so innig zusammenhängen, dass sie nicht in die Beziehung des Widerspruchs treten können. Das bequemste Beispiel ist die Husserl’sche Puppe. Die verwirrende Erscheinung, die Husserl in den Augenblicken der Entlarvung der vermeintlichen Frau als Puppe vor Augen stand, war selbstverständlich nicht sowohl eine Frau als eine Puppe; vielmehr war dieses Ganze, ein wirklich begegnender Gegenstand so gut wie jeder andere, dynamisch unentschieden, ob es eine Frau oder eine Puppe sei. Ich bestimme diese dynamische Unentschiedenheit, im Gegensatz zu der trägen oder statischen Unentschiedenheit, etwa im Kontinuum (durchdöste Frist, Wasser für den Schwimmer), gern durch die Formulierung, dass zwei Gegenstände – hier Frau und Puppe – um Identität mit demselben Gegenstand konkurrieren; die einander widersprechenden Behauptungen lauten dann: »Das da ist eine Frau«, »Das da ist eine Puppe«. Hegel freilich kennt den Unterschied zwischen Widerspruch (der Behauptungen) und Zwiespalt (der behaupteten Sachverhalte) so wenig, wie er sonst benützt wird, aber sein Ziel ist die lawinenartig wechselnde Integration (Konkretisierung) 357 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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von Gegenteilen in einem Zwiespalt, in dem sie so »aufgehoben« (zugleich vereitelt und bewahrt) sind, wie Frau und Puppe in der Husserl’schen Puppe. Seine Rezepte dafür sind ziemlich einfach, z. B. die vermeintliche Unvereinbarkeit von Ansichsein (absolute oder relative Identität) und Sein für anderes (z. B. Verschiedenheit). Logisch besteht keine Schwierigkeit, geschweige denn ein Widerspruch; Hegel erzeugt dessen Anschein aber, indem er die Gegenteile dynamisiert, so dass das Ansichsein die Züge einer Sperrung, eines Verschlusses, erhält, das Sein für anderes aber Züge von Öffnung oder Hingabe. Hegel anthropomorphisiert also logische Verhältnisse, als seien sie Kräfteverhältnisse unter Menschen. Empirisch fruchtbar wird dieses Verfahren in der Dialektik der Standpunkte, die durch Aufdeckung der von der binnendiffusen Bedeutsamkeit einer Situation verdeckten Widersprüche den Standpunkt, der diese Situation ist, zerbricht und vorwärts treibt; Hegel übt dieses Verfahren besonders in der Phänomenologie des Geistes (und vorher an Judentum und Christentum in den theologischen Jugendschriften) aus. Es ermöglicht ein besseres Verständnis der geschichtlichen Dynamik als bei Aristoteles (5.1). In der unbeabsichtigten Nachfolge Fichtes teilt sich die philosophische Behandlung der strikten Subjektivität in die beiden kontradiktorischen Stränge der Existenzphilosophen und der Positivisten. Die Positivisten (von Comte ist nicht die Rede) machen reinen Tisch. Der rote Faden durch ihre Bestrebungen und Entwicklungen ist die Entsubjektivierung. Die beginnt mit der Leugnung des Subjekts bei Mach und Avenarius8, der nur Vorfindungen ohne Vorfindenden und Vorgefundenes (ohne Subjekt und Objekt) festzustellen vermag, weil er sich auf ein dem Vorfinden passiv dargebotenes Material beschränkt. Als nächste Entwicklungsschicht folgt der logische Positivismus, der einer am Vorbild der Physik orientierten Einheitswissenschaft (eventuell auch auf psychologischer Grundlage) nachhängt, gegen Metaphysik polemisiert und (mit Carnap) Lichtenbergs impersonale Umdeutung des cogito (Es denkt statt Ich denke, Elimina358 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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tion des Subjekts) vertritt. Danach folgt die Schicht der Philosophie der normalen Sprache (ordinary language philosophy), die sich von der mathematischen Logik wieder distanziert und im Anschluss an Wittgenstein auf die (sprachlichen) Konventionen pocht, die angeblich den »ganz normalen Menschen« vom Philosophen unterscheiden und z. B. mir verbieten würden, mich, wenn ich angesprochen werde oder von mir spreche, darauf zu besinnen, dass es sich tatsächlich um mich selber handelt und nicht um den Menschen, der meinen Namen trägt, als ob dem irgendwie anzumerken wäre, dass ich er bin, obwohl ich in der Tat er bin. (Das damit angesprochene, unter 1.1 gelöste Rätsel ist ein hübsches Beispiel der angeblichen Scheinprobleme, von denen die ordinary language philosophy die Philosophen therapeutisch befreien will.) Nachdem sich aber die sogenannte Normalsprache als Phantom erwiesen hatte, ging dem Positivismus die Methode der Entsubjektivierung aus, aber er rettete sich, indem er sich dem naturwissenschaftlichen Weltbild und einer diesem aufgeladenem materialistischen Metaphysik (o Carnap!) mit waghalsigen Behauptungen über die Leistungsfähigkeit des Gehirns in die Arme warf. Der Positivismus ist eine negative oder umgekehrte FichteRezeption durch Verweigerung der strikten Subjektivität. Sein Antipode, die Existenzphilosophie, hält an der strikten Subjektivität fest, aber nur in der von Fichte hinterlassenen Schwebelage als rezessiv entfremdete Subjektivität, die in den objektiven als vermeintlich allen Tatsachen keinen Ort mehr hat und zwiespältig im Gegensatz von Beschränktheit und Unbeschränktheit schwebt. Die Ausgestaltung dieser »exzentrischen Position« beginnt bei Kierkegaard, der das Schweben als die Angst interpretiert, mit der der Geist, schwindlig durch die im Schweben gewonnene Freiheit, nach Art des bekannten Höhenschwindels in die eigenen Möglichkeiten (statt der ihm entzogenen objektiven Tatsachen seines Seins) hinabschaut und sodann die Endlichkeit packt, um sich daran zu halten. Das ist eine treffende Charakteristik der Reaktion vieler Denker, die sich aus dem Erschrecken 359 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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vor der rezessiv entfremdeten strikten Subjektivität in ein »Gehäuse« (Jaspers) flüchten 280 , wie schließlich auch die vier prominenten Vorkämpfer dieser Subjektivität: Fichte, Friedrich Schlegel, Heidegger und Sartre. Die breite Kierkegaard-Rezeption beginnt erst nach 1900 in Deutschland; ihr Vormann ist zunächst Jaspers. Noch aber fehlt eine Theorie, die dem existenzphilosophischen Anliegen eine begrifflich gefasste Gestalt gibt. Eine solche Theorie liefert erst Heidegger, wenigstens für den Leser, der die rhetorisch aufgerauten Fragmente seiner Darstellung in Sein und Zeit passend zusammenstellt. Husserl war hinter die strikte Subjektivität in die positionale zurückgefallen, indem er ein reines Ich in die Region eines reinen Bewusstseins versetzte, von wo aus dieses Ich die Welt konstituieren sollte; darüber nachzudenken, dass dieses Ich nicht irgend jemand, sondern er selber war, fiel ihm nicht ein, da er sich in die Position des bloßen Vorfindens eines passiv gegebenen Materials nach Wittgenstein7 zurückgezogen hatte, wo nur ein metaphysisch verdünntes, weltloses Subjekt9 übrig bleibt. Gegen diese Banalisierung wollte Heidegger die strikte Subjektivität wenigstens als rezessiv entfremdete wieder zur Geltung bringen. Dieses Ziel benennt er treffend, aber noch tastend in der frühen Besprechung der Psychologie der Weltanschauungen von Jaspers (1919–1921) als »die spezifische Regions- und Sachgebietsfremdheit des ›ich‹, dass jede versuchte regionale Bestimmung – eine solche also, die einem Vorgriff entspringt auf so etwas wie Bewusstseinsstrom, Erlebniszusammenhang – den Sinn des ›bin‹ ›verlöscht‹ und das ›ich‹ zu einem vorstellungsmäßig feststellbaren und einzuordnenden Objekt macht.« 281 Um dieses Ziel, den Rückfall von der rezessiv entfremdeten strikten Subjektivität in eine bloß positionale zu korrigieren, zu erreichen, Vgl. Michael Großheim, Politischer Existenzialismus, Tübingen 2002 Martin Heidegger Gesamtausgabe Band 9: Wegmarken, Frankfurt a. M. 1976, S. 29 f.

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kombiniert Heidegger das Erbe Kierkegaards mit einer ganz anderen Schultradition, der aristotelisch-thomistischen. Thomas von Aquino hatte die Realdistinktion von Sein (esse) und Wesen (essentia) in den Geschöpfen gelehrt, dass also beide Bestandteile, außer in Gott, wirklich verschieden und im Seienden enthalten seien. Die spätmittelalterlichen Thomisten hatten daraus den Unterschied zweier Formen des Seins gemacht, das Sein als Existenz und das Sein als Essenz. Heidegger kommt mehrfach darauf zurück. Sein origineller Beitrag besteht darin, diesen Existenzbegriff zum Verständnis der Existenz im Sinne von Kierkegaard, der strikten Subjektivität, heranzuziehen. Die Thomisten hielten Existenz und Essenz für zwar verschieden (außer bei Gott), aber unzertrennlich verbunden. Heidegger lässt das nur noch für das Vorhandene (in einer Bedeutung des von ihm mehrsinnig verwendeten Wortes) gelten, nicht aber für die menschliche Person, die er, seltsam genug, in »das Dasein« umbenannte. In diesem Dasein ist nach seiner Lehre die Essenz von der Existenz abgespreizt, so dass es zwar ist, aber ohne festen Bestand dessen, was es ist; sein Wesen (das, was es ist) besteht in seinen Möglichkeiten, die es erst noch zu sein hat, so dass es ist, was es wird beziehungsweise nicht wird, und damit ebenso sich vorweg ist wie hinter sich zurückbleibt (d. h. sich sich selbst immer noch schuldet). Diese Entrückung des Was des Daseins von seinem (»nackten«). Dass in bloße Möglichkeit mit Beladung durch die Aufgabe, diese Möglichkeiten, die das Dasein von sich aus nicht einmal thematisch erfassen kann, erst noch zu übernehmen, bezeichnet Heidegger als die Geworfenheit des Daseins. Damit ist die Aufgabe gelöst, die positionale Verankerung des »ich« in einer Region des Seienden zu kappen und die strikte Subjektivität als rezessiv entfremdete freizulegen; denn die Verankerung würde eine feststellbare essentia erfordern, aber diese wird durch die Entrückung in bloße Möglichkeit vereitelt. Die Unbestimmtheit des eigenen Was als noch ausstehende Möglichkeit erfüllt das Dasein mit Angst, ganz im Sinne des 361 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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Kierkegaard’schen Höhenschwindels im Herabblicken auf die eigenen Möglichkeiten; vor dieser Angst flüchtet sich das Dasein im Verfallen an das begegnende vorhandene Seiende, das ihm mit fest zum Dass gehörigem Was Aufgaben des Besorgens stellt, durch die seine Möglichkeiten konkrete Gestalt annehmen, es aber auch dazu verführt, sich selbst nach Art des Vorhandenen (mit bloß noch positionaler Besonderheit) misszuverstehen. Dann bricht die Angst aus, die das Dasein als »nacktes Dass im Nichts der Welt« zurücklässt und ihm zeigt, was es eigentlich ist, ihm zugleich aber seine als feste Aufgaben des Besorgens konkret gewordenen Möglichkeiten wieder entzieht. Das Dasein kann sich dann zwar noch entschlossen auf seine ihm durch die Angst erschlossene Eigentlichkeit, seine eigentümliche Unbestimmtheit, konzentrieren, aber ohne zu wissen, was es mit ihr anfangen soll; es müsste in entschlossener Ratlosigkeit verharren. Um einen Ausweg aus dieser Sackgasse eigentlicher Existenz zu finden, dreht Heidegger sein Konzept der Geworfenheit um; diese ist nun nicht mehr die Ausgesetztheit, etwas (als Möglichkeit) erst noch sein zu müssen, um überhaupt etwas zu sein, das man aber noch nicht erfassen kann, sondern Geworfenheit ist nunmehr die Kontingenz, schon in einer Welt zu sein, in der man auf die gegebenen Umstände zurückgreifen kann, namentlich auf eine Tradition, die nun nicht mehr Anlass ist, sich im Verfallen misszuverstehen, sondern als eigene Möglichkeit in neuer Form wiederholt werden kann. Mit dieser Wiederholungsaufgabe versorgt Heidegger das eigentlich existierende Dasein und erspart ihm damit die entschlossene Ratlosigkeit. Freilich hat er damit sein ursprüngliches Anliegen, die strikte Subjektivität gegen die bloß positionale wieder zur Geltung zu bringen, preisgegeben; das ist der Grund dafür, dass die Konzeption von Sein und Zeit für ihn nur eine Zwischenlösung ist, hinter die er bald in eine dualistische Anthropologie nach Art der Plessner’schen (mit Identifizierung von Geworfenheit und Verfallen) zurückfällt, sowie in andere Ansätze. Nach Heidegger hat Sartre mit seinem Buch L’être et le néant 362 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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das Verständnis der strikten Subjektivität gefördert. Seine Beiträge sind oft abwegig, wenn auch immer präzise und kontrollierbar formuliert, enthalten aber manche originelle und weiterführende Anregungen zur strikten Subjektivität. Diese betreffen hauptsächlich die Zwiespältigkeit des personalen Menschseins, die Sartre allgemein als Anwesenheit bei sich als Abstand von sich (présence à soi comme distance de soi) charakterisiert und an Beispielen wie der Unredlichkeit (mauvaise foi) oder dem unauffälligen Begleitbewusstsein eigenen Tuns (cogito préréflexif) belegt, in beiden Fällen über das Ziel hinausschießend, da er die Fassung (4.3.5) zu Unrecht als unredlich denunziert und das Begleitbewusstsein (2.4.2) keinen Zwiespalt zu enthalten braucht; aber als Hinweis auf Zwiespältigkeit der Person sind seine Hinweise dennoch lehrreich. Ebenso abgewogen muss man über seine Lehre vom Blick sprechen, die darin völlig schief ist, dass er das Zurückblicken, den Blickwechsel, nicht gelten lässt, aber die Auffassung der Du-Evidenz gründlich von dem Vorurteil reinigt, diese käme durch ein Hineinlegen in ein Objekt zu Stande, und die Überlegenheit des Blickenden beim Erfassen der Persönlichkeit des Erblickten in einer Weise hervorhebt, die ich unter 4.3.5 als Herausforderung zur Kompensation durch die Fassung des Erblickten näher bestimmt habe. Überhaupt ist Sartres Buch mit Anregungen gespickt, wenn man das, was er sagt, nicht wörtlich übernimmt, sondern das Beste daraus macht; seine Bemerkungen über le mal (aus Anlass seines Augenleidens) waren für mich der Anstoß zur Entwicklung meines Konzepts der Halbdinge. Nachsicht muss man mit Sartre haben, wenn er mit der Figur des logischen Widerspruchs umgeht, als sei das die natürlichste Sache von der Welt. Es ist eine Unart der Existenzphilosophen, sich vor der Logik als wilde Männer zu gebärden, wie schon Heidegger, wenn er in Was ist Metaphysik? behauptet, die Logik werde hinweggespült vom Wirbel eines ursprünglicheren Fragens.

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5.4 Bilanz In diesem kursorischen Rückblick auf das Abendland habe ich mich an Philosophie und Religion gehalten, nicht nur, weil ich dafür noch am Ehesten kompetent bin und die Analyse hier mehr als auf anderen Gebieten zugleich im Detail getrieben und im Zusammenhang gehalten werden kann, sondern auch, weil dies die zentralen Kulturzweige sind, die in alle anderen prägend einwirken. Dies bedeutet aber nicht, dass es sich um die größten Meisterleistungen und Glanzstücke der abendländischen Kultur handelte. Diese Kultur übertrifft im Reichtum, erreichtem Niveau und Ausstrahlungskraft auf vielen Zweigen alles, was andere Kulturen zu bieten haben, auch wenn diese ihr in mancher Hinsicht überlegen sind. Europäische Musik, Dichtung, bildende und Baukunst, Mathematik, Naturwissenschaft, Technik und Medizin haben Höchstleistungen vollbracht; die Hauptfiguren des Zivilrechts und der strafrechtlichen Zurechnung sind schon im Altertum ausgearbeitet und in der Neuzeit systematisch geschliffen worden; die Politik hat in einem langen Entwicklungsprozess gelernt, dem launischen Schwanken des Staatswillens durch Sonderung der Institutionen für Bildung und Ausführung des Staatszweckes im modernen Parteienstaat vorzubeugen. 282 Die zentralen Kultursysteme, Philosophie und Religion, sind dahinter zurückgeblieben. Sie haben es an derjenigen Besonnenheit fehlen lassen (Aristoteles und zum Teil Locke ausgenommen), zu der die Philosophen, die auch auf die Religion bestimmend eingewirkt haben, mehr als andere berufen gewesen wären. Der Talisman der europäischen Kultur, der Schlüssel zu ihrem Erfolg ist die Kultur der freien, öffentlich zugänglichen Diskussion mit kritischer Prüfung aller Ansprüche auf Glauben und Gehorsam an Erfahrung und Logik. Dieses Instrument wurVgl. Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg 2012, S. 287– 314

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de ihr gesichert durch die Geburtsstunde des Abendlandes in der Schlacht bei Salamis und zeitweilig aus der Hand genommen durch die orientalische Priesterkultur der römischen Kirche von 529 n. Chr. (Schließung der neuplatonischen Akademie) bis ins 12. Jahrhundert (Wiederkehr des Aristoteles). Jetzt droht eine Wiederkehr dieses Entzugs durch die »Islamisierung des Abendlandes« (ein zu Unrecht von den herrschenden Sprachreglern verpöntes Schlagwort). Wenn aber der Geist der freien Diskussion im Abendland gerettet werden kann, ist es wohl noch möglich, alle geschichtlichen Verfehlungen wettzumachen. In einer Diskussionskultur gibt die Philosophie, das Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung, den Rahmen der Themenstellung vor. Die abendländische Philosophie hat sich überwiegend durch das Interesse an Macht bestimmen lassen. Bei ihrer grundlegenden Paradigmenwahl, der Welt- und Menschspaltung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung (3.1), ging es um die Selbstermächtigung der Person im Verhältnis mit ihren unwillkürlichen Regungen. Dieses Interesse ist den Philosophen von Platon bis zu Husserl (mit Ausnahme des heidnischen Neuplatonismus) eingeprägt geblieben. Dazu kam später der Dienst der Philosophie als Magd der christlichen Theologie der Allmacht Gottes, wobei freilich die Magd ihre Herrin umgarnte, und noch später der von Descartes bis zu Kant, Fichte und Marx/Engels proklamierte philosophische Aufbruch zur Naturbeherrschung als Ansporn für Naturwissenschaft und Technik. Die Unterwerfung der Natur unter den Geist war auch das leitende Prinzip der Metaphysik Hegels. Diese herrschende Tendenz warf mit der Energie einer Zentrifuge die unmittelbar nächsten Wurzeln und Bereiche menschlicher Lebenserfahrung aus dem Wege an den unscheinbaren Rand: den spürbaren Leib mit seiner Dynamik und der leiblichen Kommunikation, die Atmosphären des Gefühls, die Subjektivität des affektiven Betroffenseins, die Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, unter diesen die vielsagenden Eindrücke. Die Typen der Man365 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Rückblick auf das Abendland

nigfaltigkeit und des Zusammenhangs wurden übersehen mit Ausnahme der numerischen, durch Beziehungen zusammenhängenden Mannigfaltigkeit, aus der sich das Konstruieren und Planen, mit geschickter Anpassung an das in diesem Rahmen Gegebene, Konstellationen zurecht machen konnte. Besonders auffällig ist das Hinweggehen über den Leib. Er ist nicht nur jedem als das Nächste alltäglich vertraut, etwa in Hunger und Durst, Frische und Müdigkeit, sondern auch dafür entscheidend, dass über das absolut konfuse Mannigfaltige des Kontinuums und der steigenden und fallenden Intensitäten hinaus etwas (absolut Identisches) da ist (3.4), für jeden Bewussthaber, dass er es selbst ist (1.1; 4.1), für jede Person, dass sie durch Selbstzuschreibung Person sein kann (3.5). Trotzdem ist er den Menschen so aus dem Blick ihrer begreifenden Aufmerksamkeit gekommen, dass keine abendländische Sprache außer der deutschen ein einfaches Wort für ihn zu haben scheint, so dass die Franzosen, Engländer, Italiener, Spanier usw. sich mit mühsamen Umschreibungen für eine am Tage liegende, leicht bestimmbare Sache behelfen müssen. Dafür, dass ich die spezifische Räumlichkeit und Dynamik des Leibes aufgedeckt habe, strafen mich die Fachkollegen mit Nichtbeachtung. Die Philosophen hassen den Leib, weil er ihr dominantes Interesse an abgehobener personaler Souveränität stört. Von Kant ist der Ausspruch überliefert: »Viel Organ- und wenig Vitalsinn ist der glücklichste Zustand in dem ein Mensch sein kann.« 283 Mit »Vitalsinn« meint Kant den Leib, mit »Organsinn« den Sinn der Werkzeuge (Organe) des Körpers, deren sich die Seele (oder die Person, die Vernunft) beim Umgang mit der Außenwelt bedient. Die Philosophen haben den Leib verdrängt und den Menschen aus Körper und Seele (oder Geist) zusammengesetzt. Der sichtund tastbare Menschenkörper ist ohne Zweifel da, die Seele mit Immanuel Kant’s Menschenkunde, oder philosophische Anthropologie, nach handschriftlichen Vorlesungen hg. v. F. Ch. Starke, Leipzig 1831 (Nachdruck Hildesheim 1976), S. 69

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ihren Derivaten (Geist, mind, Bewusstsein usw.) aber eine Pufferzone, eingeschoben zwischen ergreifende Mächte und den Bewussthaber, als müsse dieser, statt unmittelbar angegangen zu werden, erst einmal in seinem Inneren nachsehen, was da eigentlich los ist, das ihn bedrängt. So haben die Philosophen den Menschen gründlich verzerrt, und die Welt nicht weniger, indem sie die Naturwissenschaft dazu verführten, ihr höchst verdienstvolles Vorhersagesystem zu einem naturwissenschaftlichen Weltbild aus allgemeinen Naturgesetzen auszubauen, das zwar sehr interessant, suggestiv und plausibel ist, aber dazu verführt, über all die aufgezählten Tatsachenmassen, die schon die Philosophen vernachlässigt hatten, mit noch mehr kecker Selbstgewissheit hinwegzugehen, weil die reduktionistische Abstraktionsbasis dafür nicht zureicht. Die Hilfe, mit der manche Philosophen solche Einseitigkeit durch Ausflüge in Transzendenz (wie Kants übersinnliche Welt) zu kompensieren versuchen, führt zu einer Entwertung des Gegebenen durch Gedankenspiele und Kartenhäuser. Die abendländische Kultur, mit Philosophie und Religion als traditionellen Wegweisern, gleicht einem herrlich entwickelten Organismus mit krankem Kopf; ohne diesen wäre sie ein Körper ohne Kopf. Was soll man dazu sagen? Die abendländische Kultur hat zu einseitig das berechtigte Interesse des Individuums in den Vordergrund gestellt. Das beginnt mit ihrer Prägung durch die Welt- und Menschspaltung zur Selbstermächtigung der Person, die zur Herrschaft über ihre unwillkürlichen Regungen mit einer privaten Innenwelt ausgestattet wird. Die Einseitigkeit steigert sich durch die Verankerung der christlichen Religion im privaten Glücksinteresse des Einzelnen (Erlösung oder Verdammung nach dem Tode). Sie erneuert sich, als die Aufklärung vom Christentum die Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema Macht erbt, diese Macht aber von der Projektion auf Gott in die eigenen Hände des Menschen übernimmt, durch das Bündnis der Aufklärung mit dem Kapitalismus, der jedem Individuum die Lizenz beschert, die ungeheuren Machtmittel der 367 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Rückblick auf das Abendland

modernen Maschinentechnik in den Dienst seines von Reichtum gestützten Beliebens zu stellen, wenn es nur einige formale Regeln einhält. Der jüngste Gipfel dieses Individualismus ist das Zusammentreffen des dynamistischen Konstellationismus der modernen Maschinentechnik mit der ironistischen Verfehlung rezessiv-produktiver Wendigkeit, wodurch dem Individuum die scheinbare Souveränität kurzfristigen Wählens aus einem überreichen Angebot technisch bereitgestellter Möglichkeiten zufällt, die eigene Gestaltungskraft aber durch Verstrickung in ein immer mehr verdichtetes Schienennetz abgenommen wird. Es wäre aber falsch, diesen abendländischen Individualismus nur negativ zu bewerten. Er hat nach manchen Ansätzen (Stoa, Christentum) den von der Aufklärung inspirierten, in der Amerikanischen und Französischen Revolution besiegelten Respekt von der Würde jedes einzelnen Menschen eingeführt, der eine großartige Errungenschaft ist, wenn man das inzwischen viel missbrauchte Wort »Würde« richtig versteht: als die passive Würde, nicht allzu brutal und verächtlich behandelt, aber auch nicht ganz gleichgültig liegen gelassen zu werden, nicht als die aktive Würde, allerlei Ansprüche lautstark zu erheben und an einem Konzert anspruchsvoller Konkurrenten teilzunehmen. Außerdem kann der Individualismus produktive Kräfte freilegen, die aus der Originalität unbehindert sich entfaltender Individuen hervorgehen. Der einseitig akzentuierte Individualismus sollte aber von Gegengewichten eingeholt werden. Der Mensch, mit dem höchst labilen Aufbau seiner Personalität über dem Leben aus primitiver Gegenwart 284 , ist viel zu schwach, um den Kult seiner Individualität als höchsten Wert mit Aussicht auf Erfolg zu pflegen. Er scheitert damit schon am Tod, der für solche Ansprüche ein unüberwindliches Schreckbild ist. Ich bewundere den AusVgl. Hermann Schmitz, selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität, Freiburg 2015, S. 73–137, davon S. 119–137 unter dem Titel: Die Labilität der Person

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spruch des Kaisers Augustus auf dem Totenbett, mit dem er aus einer Komödie Menanders zitierte: »Klatscht Beifall, Freunde, das Schauspiel ist zu Ende.« Der Kaiser verstand sich als Mensch im Sinne eines Schauspielers, der eine ihm vom Schicksal zugedachte Rolle mit vielen Improvisationen zu spielen hat und, wenn er gut improvisiert hat, zufrieden abtreten kann; warum soll er seine Erwartungen darüber hinaus projizieren? Die Schwäche der labilen Person ist ihre Stärke, anders als Pascal meinte, der den Menschen einem schwankenden, aber denkenden Schilfrohr verglich; das Rohr ist fähig zur Resonanz, zum Auffangen des Impulses ergreifender Mächte, wozu ein robuster Stamm oder Fels, weil zu starr, nicht in der Lage wäre, und aus der Resonanz erwächst eigene Gestaltung, die sich auch des Denkens bedient, mehr noch aber der Phantasie. Das menschliche Leben ist dazu da, Antwort zu geben, in der etwas Gehaltloses Gestalt annimmt. Dazu muss es sich öffnen und darf nicht in der verspannten Enge des einseitigen Individualismus verharren. Die Entdeckung oder Wiederentdeckung des Leibes, der leiblichen Kommunikation, der Gefühle als Atmosphären, der vielsagenden Eindrücke, der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situationen könnte einen Weg zu solcher Öffnung weisen. Mehr aus dem Leibe zu leben, Sonne, Wind, Sand und Wasser an der nackten Haut zu spüren und sich den Elementen hinzugeben, zu wandern wie die Jugend der Jugendbewegung nach 1900, könnte neben vielen anderen, auch weniger expansiven Übungen dabei helfen, den Spielraum der Gegenwart zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart intensiver als durch technischen Fortschritt zu durchmessen. 285 Die Öffnung müsste aber auch politisch, nicht nur individuell sein. Ich habe vorgeschlagen, die Parole der Französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« zu ergänzen durch die Parole des Proklos: »Alles in Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, besonders S. 175–180

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Rückblick auf das Abendland

allen, aber eigentümlich in einem jeden.« Damit meine ich, die auf dem Boden des weströmischen Reiches mit dem Christentum und seinen Erben gewachsene Tradition zu verbinden mit der oströmischen Tradition, in der der Geist der johanneischneuplatonischen Vieleinigkeit weitergetragen (wenn auch inzwischen in sehr degenerierter Form) und durch Chomjakow angemessen säkularisiert worden ist. Dafür habe ich die Metapher der Wiedervereinigung des römischen Reiches eingesetzt. 286

Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 396– 405

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Personenregister

Abaelard 341, 342 Ackermann, Wilhelm 122, 125 Adam 334 Aischylos 16, 154, 175, 232, 262 Alexander von Aphrodisias 321 Amiel, Henri-Frédéric 289 Ammann, Hermann 260 Anaxegoras 316 Anaximenes 314 Andronikos 320 Antiphon Sophista 151 Antisthenes 152 Archilochos 150 Aristipp 152 Aristophanes 16 Aristoteles 16, 114, 140, 151, 154, 155, 156, 226, 285, 290, 298, 307, 314, 317, 318, 319, 320, 323, 324, 325, 339, 340, 344, 345, 350, 358, 364, 365 Augustinus 226, 239, 331, 332, 333, 334, 335, 336, 337, 338 Augustus (Kaiser) 369 Avenarius, Richard 46, 358 Bacon, Francis 337 Bälz, Erwin 61 Beethoven, Ludwig van 196 Berg, Jan Hendrik van den 189 Berlau, Ruth 195 Bernini, Gian Lorenzo 193 Betz, Wilhelm 74, 136 Bickerton, Derek 261

Bieri, Peter 281 Boethius 340, 341 Böhme, Gernot 36 Böhme, Jakob 156 Bollnow, Otto Friedrich 238 Bonifaz VIII. 331, 344, 346 Brecht, Bertold 195, 235 Brentano, Franz 20, 187, 222 Burali-Forti, Cesare 123 Burlay, Walter 12, 113 Busche, Jürgen 36 Buytendijk, Frederik Jacobus Johannes 190 Calvin, Johannes 338, 339 Cantor, Georg 123, 134 Carnap, Rudolf 247, 358, 359 Charles, Brian 285 Chomjakow, Alexei Stepanowitsch 370 Chomsky, Noam 261 Christian, Paul 109, 202 Chrysipp 325 Cicero 290 Claparède, Édouard 179 Clauß, Ludwig Ferdinand 220 Comte, Auguste 358 Condillac, Étienne Bonnot de 157 Conrad-Martius, Hedwig 112, 209 Crane, Tom 119 Damaskios 327, 336 Demmerling, Christoph 36

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Personenregister

Demokrit 16, 130, 150, 151, 153, 154, 155, 307, 310, 314, 317, 318, 319, 320 Descartes, René 10, 160, 226, 266, 343, 347, 351, 365 Dick-Read, Grantly 170 Dijksterhuis, Eduard Jan 307 Eckhart (Meister Eckhart) 162, 335, 336, 337, 338, 339, 344, 345, 346 Empedokles 16, 154, 156, 314, 316 Engels, Friedrich 365 Epikur 307 Eratosthenes 345 Erikson, Eric Homburger 174 Euripides 151 Fichte, Johann Gottlieb 10, 11, 50, 347, 350, 351, 352, 353, 354, 355, 356, 358, 359, 360, 365 Fludd, Robert 118 Frege, Gottlob 79, 82, 98 Freud, Sigmund 303 Friedrich der Große 300 Friedrich Wilhelm I. 300 Frisch, Karl von 261 Gabriel, Markus 245 Gage, Phineas 72 Gahlings, Ute 35, 185 Galilei, Galileo 269 Gassendi, Piere 307, 347 Gehring, Petra 37 Goethe, Johann Wolfgang von 54, 105, 111, 118, 130, 140, 200, 212, 234, 237, 282 Gogh, Vincent van 139 Gorki, Maxim 174 Gottfried von Straßburg 239 Griesinger, Wilhelm 221 Griffero, Tonino 35 Grimm, Jakob 232

Großheim, Michael 34, 48, 360 Grundmann, Herbert 34 Guckes, Barbara 58 Haas, Renate 109, 202 Hadamik, W. 110 Halladsch 113 Hartmann, Nicolai 60 Hasse, Jürgen 35 Head, Henry 180 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 326, 356, 357, 358, 365 Heidegger, Martin 10, 11, 29, 35, 36, 139, 142, 279, 351, 360, 361, 362, 363 Henry, Michel 161, 162 Heraklit 151, 154, 315 Hilbert, David 13, 122, 125 Hilger, Wilhelm 199 Hirsch, Max 199 Hirschlaff, Leo 199 Hitler, Adolf 25, 26 Hobbes, Thomas 59, 345, 347 Hoffmann, E.T.A. 237 Hoffmann, Hermann 300 Hölderlin, Friedrich 237 Homer 149, 151, 152, 153 Horaz 233 Hübotter, Franz 314 Hume, David 9, 18, 20, 44, 46, 82, 246, 347, 351 Husserl, Edmund 14, 20, 37, 118, 159, 160, 187, 201, 222, 284, 304, 357, 360, 365 Ilting, Karl-Heinz 35 Isokrates 154 Janich, Peter 36 Jaspers, Karl 90, 113, 360 Jesus 299, 328, 329, 330 Johannes Duns Scotus 341, 342

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Personenregister

Johannes Scotus Eriugena 327, 340 Johannes von Sterngassen 338 Kant, Immanuel 10, 20, 81, 91, 92, 98, 99, 100, 101, 102, 116, 118, 130, 131, 142, 225, 226, 347, 348, 349, 350, 351, 365, 366, 367 Katzenstein, Alfred 207 Kauffmann, Max 188 Kierkegaard, Søren 162, 339, 359, 360, 361, 362 Klages, Ludwig 262, 304 Kleanthes 325 Kleist, Heinrich von 180 Köhler, Erich 136 König, Otto 197 Kotarbiński, Tadeusz 41, 43 Kraft, Viktor 101 Kratylos 319 Kretschmer, Ernst 218, 219 Kuhn, Wilfried 308 Landweer, Hilge 36 Lange, Friedrich Albert 350 Lauterbach, Johanna 35 Leibniz, Gottfried Wilhelm 48, 77, 98, 158, 212, 247, 285, 332, 343, 347, 350 Lembeck, Karl-Heinz 37 Leukipp 153, 316, 317, 318, 320 Lichtenberg, Georg Christoph 343, 351, 358 Linck, Gudula 35 Linschoten, Johannes 171 Lipps, Theodor 201 Locke, John 307, 318, 347, 348, 364 Lorenz, Konrad 201 Lorenzen, Paul 29 Löwy, Max 228, 237 Lücker, Maria Alberta 338 Lukrez 307 Luther, Martin 338, 339

Mach, Ernst 9, 18, 112, 316, 320, 358 Maine de Biran, François-PierreGonthier 18, 157, 158 Mangoldt, Ernst 188 Martin, Alfred von 345 Marx, Karl 365 Melissos 155, 316 Mellor, Hugh 278 Menander 369 Merlau-Ponty, Maurice 160, 161 Metzger, Wolfgang 208, 238, 240 Meyer, Conrad Ferdinand 193 Michaux, Henri 196 Mill, John Stuart 101 Minkowski, Eugène 28 Mirimanow, Dimitrij 123, 124, 125 Mittelstaedt, Horst 34 Mohamed 281 Molière 299 Mörike, Eduard 210, 237, 240 Mozart, Wolfgang Amadeus 196 Müller, Johannes von 311, 312 Nagel, Thomas 50 Newton, Isaac 273, 277 Nida-Rümelin, Julian 76 Nida-Rümelin, Martine 76 Nietzsche, Friedrich 112, 114, 130, 159, 160, 209, 210 Nikolaus von Kues 327 Novalis 354 Oetinger, Friedrich Christoph 156 Ogawa, Tadashi 35 Otto, Rudolf 232 Pahl, Sascha 31 Paracelsus 345 Parmenides 314, 315, 316, 317 Pascal, Blaise 369 Paulus 17, 156, 157, 232, 328

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Personenregister

Philipp der Schöne 344, 346 Platon 16, 74, 130, 136, 140, 149, 153, 154, 155, 156, 225, 226, 239, 294, 318, 319, 320, 321, 322, 323, 324, 325, 326, 350, 365 Plessner, Helmuth 362 Plotin 325, 326, 341 Porphyrios 340 Proklos 314, 327, 369 Protagoras 294 Pseudo-Dionys 327 Raimundus Lullus 98, 343 Rehmke, Johannes 90 Reichenbach, Hans 281 Reich-Ranicki, Marcel 195 Reinhold, Karl Leonard 353 Rentsch, Thomas 245, 246 Richard, Jules 125 Rickert, Heinrich 90 Rilke, Rainer Maria 191 Rosa, Hartmut 285 Roscelin, Johannes 81 Roth, Gerhard 59, 311 Russell, Bertrand 123, 124, 125, 134 Ryle, Gilbert 90 Sartre, Jean-Paul 114, 160, 161, 171, 196, 360, 362, 363 Schäfer, Hans 34 Scheithauer, Herbert 67 Scheler, Max 9, 20, 60, 160, 170, 187, 205, 222 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 156, 356 Schilder, Paul 176 Schlegel, Friedrich 27, 354, 355, 360 Schmitt, Carl 34 Schmitz, Hermann 36, 37, 42, 43, 84, 127, 130, 133, 141, 154, 155,

156, 197, 201, 223, 230, 232, 239, 244, 252, 258, 271, 282, 294, 298, 304, 321, 329, 347, 355, 364, 368, 370 Schopenhauer, Arthur 47, 73, 158, 159 Schrödinger, Erwin 127 Schulte, Günter 72 Schulz, Andrea 261 Schulz, Johannes Heinrich 34 Schumpeter, Joseph Alois 324 Seneca 156 Seuse, Heinrich 209 Sienkiewicz, Henryk 228 Siger von Brabant 341 Singer, Wolf 59 Sloterdijk, Peter 36 Sokrates 80, 135 Sokrates der Jüngere 323 Sophokles 16, 155 Spinoza, Baruch de 44, 45, 142, 350 Stegmüller, Wolfgang 101 Stein, Edith 205, 206 Steiner, Andreas 221 Strehle, Hermann 191, 192 Stumpf, Carl 167 Tarski, Alfred 41, 42, 122 Tauler, Johannes 338 Tellenbach, Hubertus 21, 303 Tersteegen, Gerhard 228 Thomae, Hans 28, 304 Thomas von Kempen 338 Thomas von Aquino 333, 336, 341, 342, 361 Thrasyllos 319 Tomasello, Salvatore 261 Trendelenburg, Friedrich Adolf 357 Truscheit, Karin 67 Tschudi, Friedrich von 199 Veit, Hans 219

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Virchow, Rudolf 159 Wagner, Richard 111 Waldenfels, Bernhard 37 Walther, Gerda 221 Werhahn, Hans 34 Weyl, Hermann 48 Wiener, Harald 203 Wiles, Andrew 99 Wilhelm von Champaux 81 Wilhelm von Ockham 309, 342, 343, 344, 345, 346 Wimmer, Reiner 36 Winkelmann, Johann Joachim 173, 220

Wittgenstein, Ludwig 11, 47, 50, 160, 214, 251, 351, 359, 360 Wundt, Wilhelm 194 Xanthippe 80 Yajnavalkya 91 Zenon von Elea 316 Zenon von Kition 325 Zermolo, Ernst 98 Znoj, Hansjörg 111, 201 Zutt, Jürg 302

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1 (Zahl) 12, 82, 85, 86, 91, 94, 113, 121, 212, 247 Abbildbarkeit, umkehrbar eindeutige 12, 82, 85, 88, 100 Abendmahlstheorie 266 Abgeschiedenheit 337 Ablauf 108, 284 Abschied 250, 251, 254, 255, 270, 271, 272, 275, 284 Absicht 20, 70, 220, 221, 222, 298 Absichtbildung 304 Abstand 143, 145, 146, 165, 176, 177, 178, 179, 227, 250, 254, 257, 265, 267, 268, 269, 271, 285, 286 Abstraktionsbasis 307, 314, 317, 318, 345, 346, 347, 367 Abstraktionsvermögen, absolutes 355, 356 acedia 233 Affektbesessenheit 110, 111 ahnungsvoll 237 Akrasie 298 Akt, intentionaler 20, 47, 187, 222, 238 Akzidentien 342, 344 Alarmstimmung 332 Aletheia 315 Allgemeines 340 Allmacht 338, 339, 345, 365 Analogieschluss 201 Anderskönnen 65, 68

Angst 62, 165, 166, 167, 169, 170, 172, 175, 181, 199, 202, 203, 240, 285, 359, 361, 362 Angstlust 170 Anschauung, intellektuelle 353 Antinomie 13, 14, 98, 122, 123, 124, 126, 134, 135 Antinomie, oberflächliche 123, 124 Antinomie, radikale 123, 125, 126 Antinomie des Lügners 122, 125, 126 Antipode 359 Antrieb, vitaler 17, 18, 19, 20, 156, 157, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 174, 175, 181, 182, 183, 184, 185, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 195, 197, 198, 199, 200, 202, 204, 206, 207, 213, 214, 215, 218, 219, 220, 221, 222, 226, 242, 243, 254, 255, 256, 258, 262, 263, 297, 298, 304, 306, 316, 325 Anzahl 12, 82, 85, 87, 94, 112, 121 Aporie 321 Aporien der Zeit 126 Apperzeption 201 Appräsenz 251, 284 Äquivalenzrelation 82 Ärger 232 Arithmetik 100 Art 75 Art, konkrete 208, 209, 210 Art, reine 185, 210 Artikel, unbestimmter 341 Ateminsel 145, 163

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Sachregister

Atmosphäre 20, 21, 28, 30, 147, 152, 153, 196, 197, 203, 221, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 240, 365, 369 Atmosphäre, leibliche 231, 243 Atmosphärische, das 318, 322 Atmung 272 Atom 16, 153, 317, 318, 319 Atomphysik 316 Attribut 30, 75, 77, 80, 83, 121, 252, 282, 293 Aufgeschlossenheit, elastische 302 Aufklärung 24, 142, 344, 367 Aufmerksamkeit 168 Aufruhr 202 Augenblick, absoluter 213, 251, 252, 255 Augenblick, relativer 259 Ausatmen 148, 175 Ausdruck 191, 201 Ausgeglichenheit 337 Ausleibung 19, 32, 112, 185, 207, 208, 209, 210, 262 Auslese 164, 168, 220, 221 Ausnahmezustand 316 Ausnahmezustand, ekstatischer 315 Ausweichen 177, 198 Außenwelt 11, 16, 17, 153, 154, 155, 183, 224, 307, 322, 347, 348, 366 Autobahntrance 207 Autorität 21, 229, 230, 231, 232 Axiomsystem, ZermoloFränkel’sches 98 Balancieren 107, 177, 189 Bangnis 236, 237 Bathmothymiker 219, 220, 242 Bedeutsamkeit 131 Bedeutsamkeit, binnendiffuse 15, 19, 21, 29, 106, 137, 138, 140,

184, 191, 195, 196, 209, 210, 248, 258, 259, 263, 265, 284, 286, 294, 301, 303, 305, 310, 318, 324, 346, 356, 358, 365, 369 Bedeutung 21, 22, 23, 57, 132, 136, 137, 141, 142, 188, 248, 256, 259, 260, 261, 263, 264, 271, 315, 346 Bedeutung, neutrale 29 Bedeutung, objektive 29 Bedeutung, subjektive 29, 258, 196, 301 Begleitbewusstsein 114, 363 Begrenztheit 354 Begriff 74, 75, 79, 99, 100, 101, 136 Behagen 170, 231, 233 Behagen, animalisches 233 Behauptung 43, 80, 289, 290 Beklommenheit 168, 219 Benützen 334 Berührung, zarte 190 Bestimmtheit 321 Bestimmung 75, 77, 80, 91, 93, 94, 95, 289, 348, 349 Betroffensein, affektives 11, 16, 19, 20, 21, 25, 26, 27, 28, 32, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 60, 61, 62, 63, 64, 71, 72, 73, 76, 84, 133, 141, 148, 155, 156, 158, 162, 167, 183, 213, 214, 216, 217, 218, 222, 223, 225, 226, 228, 231, 241, 246, 253, 264, 295, 298, 303, 331, 332, 334, 337, 338, 346, 351, 352, 353, 365, 367 Betroffensein, leiblich-affektives 162, 256, 297, 303 Bettgenießer, fauler 298 Bewegung 191, 192, 193, 194, 268, 274, 276 Bewegung, flüssige 176, 178, 179, 211, 270 Bewegung, gleichförmige 268, 274, 276, 277, 278, 288

378 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Sachregister

Bewegung ohne Ortswechsel 144 Bewegung, ungleichförmige 276 Bewegungssuggestion 144, 146, 153, 184, 191, 192, 193, 194, 196, 197, 198, 231, 235, 241, 242, 257 Beweis, indirekter 13, 98 Bewussthabe 110, 114, 115, 116, 135, 246, 248, 326 Bewussthaben 19, 33, 34, 47, 113, 114, 135, 136, 213, 221, 222, 248, 256 Bewussthaber 9, 16, 18, 19, 21, 24, 46, 48, 49, 54, 110, 116, 153, 164, 184, 201, 202, 207, 216, 217, 218, 222, 223, 224, 225, 226, 241, 246, 253, 258, 295, 347, 348, 366, 367 Bewusstsein 19, 20, 131, 133, 160, 167, 172, 182, 187, 202, 222, 241, 246, 304, 367 Bewusstsein überhaupt 351 Bewusstseinsinhalte 226 Beziehung 13, 14, 22, 31, 32, 62, 63, 82, 91, 94, 101, 107, 108, 109, 110, 111, 113, 114, 115, 116, 117, 122, 127, 128, 136, 140, 146, 187, 215, 217, 224, 225, 243, 246, 251, 255, 257, 259, 264, 271, 273, 284, 293, 305, 341, 342, 357, 366 Beziehung, disjunkte 115, 135, 326 Beziehung, korrelative 115 Bezugsobjekt 268, 269 Bezugsstelle 178 Bezugssystem 198 Bibel 259 Biene 261 Bildnahme 299 Bindung, kompakte 164, 169, 170 Bindung, rhythmische 165, 169, 170 Bindungsform 164, 167, 168, 169, 218, 242

Blick 17, 108, 148, 175, 177, 179, 188, 189, 190, 198, 199, 207, 231, 254, 266, 363 Blick nach innen 175, 262 Blickwechsel 188, 189, 199, 200, 205, 363 Bose-Einstein-Statistik 347 Brückenqualität, leibnahe 184, 190, 191, 196, 204, 235 Buchstabengleichnis 318, 320 Bundesgerichtshof 68 Charakter 138, 186 Charakter, synästhetischer 153, 181, 184, 191, 193, 194, 195, 196, 197, 235, 236 China 314 Chor 204 Choral, gregorianischer 275 Christentum 8, 9, 148, 278, 327, 329, 330, 331, 334, 335, 337, 344, 367, 368, 370 Coolness 355 Dämmerungsangst 234 Dandytum 355 Dasein 252 Datum 257, 280, 281, 282, 283, 285, 286, 288 Dauer 19, 33, 172, 194, 213, 249, 250, 251, 252, 254, 255, 269, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 286, 288, 291 Dauer, egalisierte 287 Dauer, extensivierte 287 Dauer, intensive 277, 287, 288, 306 Dauer, unterbrechbare 21, 30, 185, 188, 227, 304 Dauer, unzerrissene 250, 254, 255, 272, 273, 275, 288, 291 Dauer, zerrissene 249, 250, 253, 254, 270, 272, 275, 292

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Definition 141 Degradation des Vielen 340 Demut 336, 337 Denken 19, 222, 238, 262, 305, 343, 369 Denkform, dialektische 357 Determinismus 13, 63, 68, 69, 71, 72, 96 Diakosmos 316 Dichte, intensive 277 Dieses 253, 254, 258 Differenz, vollendete 323 Dimension 265, 267, 306 Ding 185, 186, 235, 318 Ding an sich 142 Dirigent 204 Diskussion 364, 365 Diskussion, innerakademische 322 Disposition, kollektive leibliche 244 Disposition, leibliche 218, 220, 221, 242, 258, 304 Distichon 193, 240 Dominanz 184, 188, 199, 200, 302 Dösen 163, 182, 255 Drang 158, 166 Dreidimensionalität 227 Dritter Mensch 321 Dualismus 159, 160, 183, 347 Du-Evidenz 201, 202, 205, 363 Durst 206, 224, 257, 366 Dynamik, archaische 319 Dynamik, geschichtliche 358 Dynamik, leibliche 17, 18, 156, 157, 179, 182, 183, 184, 185, 188, 191, 194, 195, 197, 198, 207, 214, 218, 254, 255, 262, 297, 300, 306 Dynamik, politische 324 Dynamiker 219 Dynamismus, archaischer 315 Ecke 265, 267 Edikt von Mailand 331

Effekt 186, 235 Eifer 70, 171, 194, 206, 207, 231 Eigene, das 23, 296, 297, 298, 303 Eigenschaft 79, 293, 318 Eigenwelt, persönliche 258, 296, 301 Einatmen 165, 175 Einbildungskraft 353, 354, 356 Eindruck, erster 139 Eindruck, vielsagender 208, 209, 234, 257, 300, 301, 302, 314, 315, 318, 344, 345, 365, 369 Eine, das 326, 327, Eine, das prä-immanente 327 Eines 341 Einfühlung 201 Einheit 11, 321, 322, 339 Einheit der Tugend 313 Einleibung 17, 19, 32, 184, 189, 190, 191, 197, 200, 205, 207, 215, 257, 300 Einleibung, antagonistische 184, 185, 187, 188, 189, 197, 203, 204, 206, 241, 256, 257, 258, 262, 263, 266 Einleibung, einseitige 184, 185, 197, 198, 199, 200, 204, 208, 236 Einleibung, latente 205, 206 Einleibung, optische 189, 190 Einleibung, patente 205, 207 Einleibung, solidarische 157, 184, 202, 203, 204, 231, 243, 256, 263 Einleibung, taktile 189, 190 Einleibung, wechselseitige 184, 199, 200, 201, 202, 204 Einschlafen 171, 174 Einwirkung 186, 235, 287 Einzelheit 13, 15, 22, 23, 24, 30, 31, 32, 33, 43, 83, 86, 87, 89, 90, 91, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 112, 113, 114, 117, 118, 128, 129, 131, 133, 135, 136, 142, 187, 212,

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Sachregister

214, 243, 247, 248, 255, 257, 259, 264, 284, 292, 305, 306, 315, 346, 348 einzeln 11, 12, 13, 14, 15, 32, 86, 87, 88, 89, 91, 92, 94, 95, 104, 105, 110, 121, 128, 131, 133, 136, 137, 139, 164, 210, 212, 247, 248, 251, 285, 321, 340 Ejakulation 163 Ekel 233 Ekstase 33, 111, 112, 113, 168, 204, 284 Ekstase, geschlechtliche 169, 173, 182 Ekstase, mystische 209 Ekstase, sinnliche 209 Elektrooptik 307 Elementarismus 320, 321, 323 Emanzipation, personale 224, 266, 297, 298, 299, 300, 301, 303, 317 Emotion 237 Empörung 232 Endlichkeit 354 Enge 17, 19, 162, 163, 173, 175, 180, 182, 183, 184, 185, 192, 198, 199, 207, 238, 250, 253, 254, 255, 262, 292 Engung 17, 145, 146, 156, 157, 163, 165, 172, 174, 175, 180, 181, 182, 188, 191, 207, 218, 223, 242, 252, 254, 255, 275, 306 Engung, privative 172, 174, 182, 183, 197, 199, 213, 214, 219, 250, 255, 262 ennui 233 Entbindung 135 Enteinzelung 111, 113 Entfaltung der Gegenwart 271, 280 Entfaltung der primitiven Gegenwart 264, 270 Entfernung 178, 179 Entfremden 296, 297

Entropie 283 Entschiedenheit 124 Entsetzen 240 Entspannung 171, 172, 326 Entstehen 33, 96, 97, 108, 141, 245, 250, 254, 257, 285, 288, 290, 291, 292, 306, 309 Entsubjektivierung 351, 358, 359 Enttäuschung 172 epikritisch 180, 181, 182, 184, 192, 194, 196, 220, 254, 275 Erbsünde 333 Ereignis 54, 56 Erfahrung 99, 100, 364 Ergriffenheit 183, 224, 228, 231, 234, 238, 241, 242, 243 Ergriffensein 223, 224 Erinnerung 251, 258, 280, 293, 297 Erkenntnis 321 Erkenntnistheorie 349 Erleichterung 172, 174, 231, 262 Ernst, unbedingter 21, 230 Ernüchterung 155 Erregung 237, 238 Erregung, reine 237 Erregung, thematisch zentrierte 238, 240 Erscheinung 305 Erstickungsanfall 213, 214 Erwachsen 296 Erwarten 251 Erwartung 140, 284, 288, 293, 309 Erwartungsgefühl 237 Erzeugerschaft 78 Essenz 361 Eugenie-Effekt 200, 206 Evangelien, synoptische 329, 330 Evidenz 42 Existenz 30, 77, 78, 79, 80, 252, 336, 361 Existenz-Inductivum 30, 77, 80, 252, 282

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Existenzphilosophen 358, 363 Existenzphilosophie 359 Experiment 278, 279, 287, 308, 310, 318 Explikation 21, 33, 129, 131, 141, 187, 210, 263, 294, 303, 315 Fahrlässigkeit 70 Fahrlässigkeit, unbewusste 61, 67 Fall 15, 18, 22, 48, 74, 75, 80, 81, 83, 84, 85, 89, 90, 133, 135, 215, 216, 218, 247, 249, 294, 295, 310, 340, 346, 348 Farbe 194, 241 Fassung 18, 243, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 363 Fassungslosigkeit 297 Fatalismus 13, 96, 290, 332 Ferneempfänglichkeit 262 Fichte-Rezeption 353, 359 Figur 324 Fiktion 246, 299 Fixierung 203 Fläche 143, 145, 163, 226, 265, 266, 267, 271, 306 Fleisch 156 Fluss der Zeit 22, 31, 108, 271, 272, 280, 281, 283, 287, 291, 292 Folge, logische 80, 85 Form 154, 259, 301, 319, 324 Formalismus 349 Formfindung 302 Fortwähren 254, 275, 291 Fötus 185 Frage 132 Fraglichkeit 42 Französische Revolution 368, 369 Freiheit 11, 58, 59, 61, 64, 65, 66, 69, 73 Freiheit des Beliebens 64, 65 Freiheitsproblem 11, 63, 64 Fremde, das 23, 258, 297, 298, 303

Fremdwelt, persönliche 296, 297, 301 Freude 173, 174, 194, 223, 231, 237, 238, 241, 262 Frische 170, 194, 206, 230, 231, 275, 366 Früheres 250, 251, 254, 273, 280, 282 Fühlen 222, 224, 234, 240, 241, 243 Funktion, monotone 283 Furcht 223, 232, 239, 240, 257 Fußballspiel 204 Gang 192, 194, 260, 272 Gattung 15, 18, 22, 30, 32, 33, 48, 51, 53, 74, 75, 79, 80, 81, 83, 84, 85, 89, 90, 91, 107, 121, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 140, 141, 142, 187, 188, 210, 212, 215, 216, 218, 247, 248, 249, 257, 259, 261, 264, 265, 293, 294, 295, 305, 310, 340, 342, 346 Gattung, abstrakte 75, 208 Gattung, begriffliche 135 Gattung, vorbegriffliche 135 Gebärde 145, 171, 192, 193, 242 Gebärdensicherheit 241, 242 Gebärdesinn 192 Gedächtnis 258 Gedanke, pythagoreischer 129 Gedicht 104 Gefühl 17, 20, 21, 26, 28, 30, 44, 45, 47, 147, 161, 183, 186, 194, 196, 219, 222, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 240, 241, 242, 243, 244, 257, 365, 369 Gefühl, gerichtetes 236, 237 Gefühl, thematisch zentriertes 237, 238 Gefühlskontrast, sozialer 229

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Sachregister

Gefühlsraum 227, 233, 236, 238, 268 Gegend 178, 265 Gegenstandsbezug 185 Gegenstandsfindung, ursprüngliche 187 Gegenwart 19, 78, 96, 108, 172, 213, 251, 252, 253, 254, 270, 271, 272, 273, 281, 282, 284, 291, 309 Gegenwart, ausgezeichnete 279 Gegenwart, entfaltete 213, 215, 264, 369 Gegenwart, primitive 19, 22, 23, 28, 172, 213, 214, 217, 218, 249, 250, 251, 252, 253, 254, 255, 256, 258, 265, 270, 275, 280, 287, 288, 291, 292, 295, 297, 305, 306, 369 Gegenwart, verweilende 277 Gegenwart, zeitliche 255, 281, 282 Gegenwärtigkeit 272, 282 Gehen 107, 176, 207, 211, 305 Geist 156 Gelassenheit 337 Gelb 196 Geltung, verbindliche 21 Gemütsgymnastik 349 Genuss 332, 333 Geräusch 144, 186, 194, 197 Gerechtigkeit 337, 338 Geschichte 141 Geschichtlichkeit 194, 214 Geschlechtsakt 169 Geschwindigkeit 273, 274, 276 Gesetz der spezifischen Sinnesenergie 311 Gesicht 138, 186, 305 Gesinnung 60, 61, 62, 63, 64, 68, 70, 71, 72, 73, 96, 253 Gesinnung, moderne technische 334 Gespräch 138, 200, 205 Gestaltpsychologie 240

Gestaltung 369 Gestaltungskraft 368 Geworfenheit 310, 361, 362 Glanz 208, 209 Gleichgültigkeit 337 Gleichnis vom barmherzigen Samariter 329 Gleichzeitiges 273 Glück 331, 332, 333, 335, 336, 337, 339 Glücksinteresse, privates 367 Gnadenwahl 333 Gnostiker 330 Gott 100, 118, 131, 232, 247, 278, 327, 329, 330, 331, 332, 333, 334, 335, 336, 337, 338, 339, 344, 345, 346, 347, 351, 361, 365, 367 Gottesgericht 328 Grauen 240 Grauzone 301 Greifen 107, 305 Größe, extensive 105, 211, 273, 274, 276 Größe, intensive 105, 275, 276, 277, 286, 288 Grundsatz der durchgängigen Bestimmung 12, 23, 69, 91, 92, 93, 95, 96, 102, 247, 289 Haiku 105 Halbart 75, 208 Halbding 21, 30, 153, 185, 186, 187, 188, 227, 235, 238, 286, 297, 304, 363 Haltung 242 Haltung, innere 302, 303 Händedruck 189 Hautreizung 168 Heilsanwartschaft 333 Hemmung 166, 167, 183 Hier 250, 253, 254 Hintergrund 324

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Historiker 310 Hitze 186 Hoffnung 257 Hunger 60, 206, 223, 224, 257 Husserl’sche Puppe 14, 121, 123, 126, 127, 357, 358 Hypnose 199 Hysterie 300 i (Vokal) 196 Ich 250, 253, 254, 258 Ich, absolutes 353 Ich-Intuition 350, 352, 353 Ich-weiß-nicht-was 136, 261 Idee 319, 321, 322, 323, 348 Idee, immanente 323, 324 Ideenfreunde 322 Identifizierung 19, 112, 216, 217, 218, 253, 295, 299 Identifizierung, horizontale 216, 217 Identifizierung, spielerische 299, 302 Identifizierung, vertikale 216, 217 Identität 30, 31, 77, 83, 84, 91, 103, 104, 107, 112, 113, 114, 120, 121, 210, 211, 235, 270, 341, 357 Identität, absolute 12, 13, 14, 19, 22, 23, 30, 31, 32, 48, 75, 80, 83, 84, 89, 90, 104, 105, 106, 107, 113, 117, 128, 129, 131, 172, 180, 207, 211, 212, 213, 214, 215, 218, 249, 252, 253, 254, 255, 257, 258, 264, 280, 293, 305, 306, 358 Identität, gestörte absolute 122 Identität, relative 12, 22, 23, 30, 31, 32, 82, 83, 84, 90, 107, 113, 140, 210, 211, 214, 270, 293, 294, 295, 358 Idiot 216 Illusion 246, 292, 296 Immanenzdogma 347, 348

Imperativ, kategorischer 349 Implikation 303 Indeterminismus 63, 71, 72 Individualethik 324 Individualismus 368, 369 Individuelles 340 Individuum 327, 331, 367, 368 Initiative 65, 66, 70, 71, 73, 222 Inkonsistenz 312 Innenwelt 9, 10, 11, 16, 18, 19, 20, 46, 153, 183, 222, 225, 246, 317, 346, 347, 367 Innerlichkeit 162 Innigkeit 325, 326 Insekten 157 Insektenstaaten 256 Insektenstich 146, 171, 177 Intensität 105, 278, 366 intensive Mehrung 275 intensive Schwankung 105, 211, 212, 213 intensive Steigerung 249 intensive Größenveränderung 105 intensiver Größenunterschied 33, 113 intensives Quantum 211 Intentionalität 187, 222 Interpretation 142 Introjektion 16, 19, 20, 26, 130, 153, 225, 307, 346 Intuitionisten, mathematische 102 Invariante 319 Inventar 321 Ironie, rezessive 355 Ironie, romantische 354, 355, 356 Ironie, produktive 355 Islam 24, 332 Islamisierung des Abendlandes 365 Isolierung 335 Jahrtausend, christliches 331, 338, 339, 346

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Jetzt 250, 251, 253, 254, 255, 270 Johannesevangelium 330 Jucken 181 Jugendbewegung 26, 369 Kabbala 156 Kadenz 193 Kälte 186 Kante 265, 267 Kapitalismus 367 Kardinalzahl, transfinite 84 Kategorie 323 Kauen 103, 211, 305 Kausalität 56, 70 Kausalität, mittelbare 235 Kausalität, unmittelbare 21, 30, 185, 186, 188 Kind 27, 66, 135, 216, 296 Kinetik 319 Klang 194, 275 Klatschen 204 Klavierspielen 179 Koagieren ohne Reaktionszeit 189 Kombinatorik 343 Kommunikation, leibliche 17, 19, 105, 111, 162, 177, 184, 185, 207, 210, 214, 218, 255, 264, 365, 369 Kompatibilismus 69 Kompetenz, motorische 138 Komplex 85, 88, 89, 305 Konfrontation 202, 214 Konstellation 22, 129, 131, 140, 141, 187, 211, 248, 257, 259, 261, 264, 294, 305, 318, 346, 348, 349, 366 Konstellationismus 318, 319, 320, 326, 339, 342, 343, 346, 348 Konstellationismus, dynamischer 368 Kontakt, erotischer 188

Kontingenz 362 Kontinuum 104, 117, 211, 213, 357, 366 Kopfschmerz 144, 145 Körper 16, 17, 18, 103, 143, 146, 147, 148, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 176, 177, 179, 182, 190, 198, 206, 231, 265, 266, 267, 317, 319, 320, 325, 334, 366 Körperschema, motorisches 146, 147, 148, 176, 178, 179, 180, 198, 250, 254, 257 Körperschema, perzeptives 146, 147, 148, 171, 176, 177, 178, 179, 180, 267 Kotausleerung 206 Kraftanstrengung 168, 170 Kratzen 168, 181 Kriterium der Wirklichkeit 270 Kriterium des Seins 252 Kunst 313 Labilität 149 Lachen 298 Lage 143, 145, 146, 165, 176, 177, 178, 179, 227, 250, 265, 267, 268, 269, 271 Lagezeit 272, 273, 278, 280, 281, 282, 284, 285, 287, 288, 306, 310 Lagezeit, metrisierte 286, 287, 288 Lagezeit, modale 22, 273, 287, 288, 291, 306 Lagezeit, prämetrische 285, 286, 288 Lagezeit, reine 273, 282, 283, 284 Länge 255, 275, 276 Länge, extensive 275 Länge, intensive 277 Langeweile 233, 255, 277 Langsamkeit 273, 274 Lautstärke 208 Leben 327, 340

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Leben aus primitiver Gegenwart 256, 257, 258, 259, 264, 265, 266, 267, 270, 296, 297, 305, 368 Lebenslüge 338 Leere 233 Leib 16, 17, 18, 19, 25, 28, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 165, 170, 171, 173, 178, 181, 182, 183, 184, 185, 187, 190, 191, 192, 199, 206, 213, 215, 218, 226, 231, 241, 243, 244, 254, 255, 265, 267, 270, 275, 325, 365, 366, 369 Leib, körperloser 316 Leibesinsel 18, 145, 146, 170, 171, 172, 205, 206, 230, 231, 242, 265 Leibinselbildung 171 Leibvergessenheit 206 Leid 242 Leitbild 344 Lernen 310 Liebe 233, 239, 329, 330, 335 Logik 102, 364 Luft 286 Lust 16, 20, 151, 152, 225, 226 Macht 63, 64, 66, 73, 186, 189, 225, 226, 228, 229, 234, 331, 332, 337, 346, 365, 367 Machtergreifung 338 magia naturalis 344 Manie 164 Mannigfaltiges, absolut diffuses 104 Mannigfaltiges, absolut konfuses 104, 113, 211, 212, 249, 264, 366 Mannigfaltiges, chaotisches 13, 28, 31, 103, 110, 122, 128, 129, 211, 303, 304 Mannigfaltiges, diffuses 13, 15, 31, 33, 89, 104, 105, 106, 107, 117, 122, 128

Mannigfaltiges, identisches 29 Mannigfaltiges, konfuses 13, 15, 31, 104, 105, 107, 113, 117, 122, 180, 212, 217, 247, 254, 255 Mannigfaltiges, nichtnumerisches 14, 64, 98, 247, 248 Mannigfaltiges, numerisches 12, 13, 14, 15, 28, 31, 33, 79, 89, 91, 92, 97, 98, 103, 104, 107, 108, 109, 110, 113, 116, 117, 122, 123, 128, 129, 212, 303, 340, 347 Mannigfaltiges, relativ diffuses 104 Mannigfaltiges, relativ konfuses 104 Mannigfaltiges, zwiespältiges 14, 29, 31, 33, 84, 107, 118, 120, 121, 122, 123, 126, 127, 128, 129, 134, 354 Mannigfaltigkeit 11, 28, 107, 127 Mannigfaltigkeit, absolut konfuse 305 Mannigfaltigkeit, chaotische 30, 104, 114, 127, 131, 347, 357 Mannigfaltigkeit, diffuse 107, 127, 215, 255 Mannigfaltigkeit, konfuse 127, 250, 251 Mannigfaltigkeit, nichtnumerische 342 Mannigfaltigkeit, numerische 32, 127, 129, 210, 211, 243, 259, 326, 340, 341, 357, 366 Mannigfaltigkeit, zwiespältige 30, 127, 326, 340, 347, 357 Männliches 314 Maschine 334 Masochismus 170 Massencharakter, synästhetischer 275 Massenflucht, panische 184, 202 Mathematik 13, 97, 99, 102, 122, 123

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Mattigkeit 170, 171, 206, 230, 231 Mechanismus 307 Melodie 186, 272 Menge 12, 82, 84, 85, 86, 88, 89, 121, 131, 134, 136 Menge, endliche 12, 86, 87, 88, 91 Menge, fundierte 124 Menge, leere 85, 86, 88 Menge, unendliche 86 Mengenlehre 98, 122, 134 Mensch 14, 15, 21, 45, 60, 103, 139, 140, 168, 187, 190, 200, 202, 211, 243, 256, 257, 258, 259, 261, 262, 264, 265, 267, 286, 287, 292, 305, 337, 346, 351, 366, 367, 368, 369 Mensch, ganzer 120, 121 Menschenliebe, allgemeine 335, 337 Menschspaltung 16, 18, 148, 153, 155, 156, 159, 162, 317, 320, 325, 326, 334, 365, 367 Metaphysik 98, 99, 100, 358, 359 Metrisierung 285 Minnesänger 239 Mitleid 242 Mitmensch 301, 302 Mitmenschlichkeit 329 Mittelalter 343, 344, 345 Modalzeit 272, 273, 278, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 287, 288, 310, 311 Modalzeit, reine 250, 257, 284, 285, 291, 292, 305 Möglichkeit 289, 324, 361, 362 Momentangeschwindigkeit 276 Monist 316 Moral 58 Moralphilosophie 349 Motorik 17, 32, 148, 258, 305 Motorrad 111 Müdigkeit 163, 170, 173, 174, 194, 205, 206, 275, 366

Mundgebrauch 105, 106, 128, 211, 305 Musik 193, 194, 196 Musizieren 202 Mut 298 Mut, stürmischer 202 Nächstenliebe 331, 332 Nacht 186 Nahegehen 51, 54, 301 Naturbeherrschung 345, 346, 365 Naturgesetz 269, 287, 308, 309, 319, 367 Naturwissenschaft 15, 17, 38, 148, 159, 186, 206, 258, 278, 307, 308, 309, 310, 337, 343, 346, 351, 365, 367 Neandertaler 22 Neid 223 Neue, das 19, 172, 213, 250, 251, 254, 255, 270, 273, 284, 288, 291, 305, 306 Neuplatonismus 325, 326, 327, 341, 342, 365 Neutralisierung 23, 56, 258, 295, 296, 297, 298 Neutralität 57, 296, 301 Neuzeit 343, 344 Nichtmehrsein 78, 172, 250, 251, 272, 288, 291, 292 Nichtseiendes 140, 245, 246, 247, 252, 257, 258, 264, 292, 305, 316 Nichtsein 22, 77, 78, 213, 255, 257, 278, 292, 296 Nihilismus 354 Niveau der personalen Emanzipation 297, 298, 300 Niveau der personalen Regression 297, 298 Nochnichtsein 280, 282, 288 Nominalismus 309, 346 Nominalist 43, 247, 343

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Nomos 191, 196, 220, 256, 257, 259, 260, 263, 277, 285, 295 Norm 132 Norm, verbindlich geltende 230 n-tupel 108 Null 85 Oberfläche 266 Obermenge 86 Objekt 11, 90, 114, 267 Objekt, abstraktes 142 Objektivierung 51 Objektivität 45, 49, 57 Orchester 204 ordinary language philosophy 359 Ordnung 32, 104, 106, 117, 118, 178, 256 Organismus, lebendiger 324 Orgasmus 173, 182 Ort, absoluter 146, 165, 178, 179, 213, 250, 254, 265 Ort, relativer 145, 146, 165, 178, 198, 227, 250, 259, 265, 267, 268, 269, 286 Ortsraum 22, 267, 268, 269, 286, 306 Paket-Monismus 316 Panmathematismus 13 Peano-Axiome 100 Peinlichkeit 231 Person 16, 18, 19, 20, 21, 32, 45, 60, 70, 72, 110, 111, 113, 128, 132, 149, 150, 151, 153, 183, 215, 216, 218, 220, 221, 223, 224, 241, 243, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 320, 361, 363, 365, 366, 367, 369 Persönlichkeitsspaltung 300 Phantasie 140, 257, 369 Phänomenologie 287 Phantomglied 18

Phasenfolge 273 Phasenmensch 14, 120, 121 Philosophie 364, 365, 367 Phlegmatiker 219 Physik 153, 273, 278, 282, 287, 307, 308, 318, 358 Plakat 301 Plakatierung 139 Planung 257 Platoniker 133 Platonismus 34, 248, 325, 326 Plötzliche, das 213, 250, 251, 253 Polarität 314 Positivismus 11, 359 Positivismus, logischer 358 Positivisten 358 Potenzmengensatz 134 Prädestination 333, 339 Prädikation 323 Präsenz-Appräsenz 251 Preisgabe 223, 225, 243 Privatsprache 50 Probieren 344 Problem 15, 19, 21, 41, 43, 57, 106, 132, 133, 137, 138, 139, 140, 186, 188, 191, 248, 256, 259, 260, 263, 296, 346 Problem, subjektives 57 Prognose 287, 308 Programm 15, 19, 21, 29, 41, 42, 43, 57, 106, 132, 133, 137, 138, 139, 140, 164, 168, 188, 191, 221, 248, 256, 257, 259, 260, 263, 284, 285, 286, 296, 304, 346 Programm, subjektives 57 Projektion 15, 22, 131, 140, 150, 201, 202, 274, 277, 301 Projektionismus 129, 131, 187 Projektionist 343 Protention 138, 284, 285 protopathisch 180, 181, 182, 184, 192, 194, 196, 220, 254, 275

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Sachregister

Prozess, irreversibler 283 Psalmen 193 Psyché 153 Psychologismus 16, 130, 153, 307, 346 Psychose, schizophrene 237 Punkt 145, 265, 267, 276 Pythagoreer 314 Qualität 275, 343 Quantenphysik 15, 24, 126, 127, 278, 307, 326, 346 Quantifikation, partikuläre 79, 81 Racheakt 169 Rationalismus 325 Ratlosigkeit, entschlossene 362 Raum 28, 226, 227, 251, 254, 255, 265, 270, 274, 276, 277, 278, 286, 305 Raum, flächenhaltiger 17, 178 Raum, flächenloser 17, 21, 144, 145, 153, 158, 178, 193, 227, 276 Raum, geometrischer 227 Raum, leiblicher 268 Räumlichkeit der Gefühle 226 Rausch 173, 182 Reaktion, spontane 67 Realdistinktion 361 Realismus 13, 23, 24, 97 Rechenschaftsfähigkeit 66, 72 Rechnen 85 Recht 349 Rede 21, 41 Rede, menschliche 260 Rede, satzförmige 15, 21, 23, 105, 140, 142, 211, 214, 262, 271, 277, 305, 306 Rede, tierische 260 Reduktionismus 16, 153, 155, 224, 307, 322, 345, 347 Reformation 345

Regel 260, 287, 308, 309 Regression, personale 297, 298, 299, 300, 301, 303 Regressproblem 321 Regung, bloße leibliche 45, 147, 161, 223, 224 Regung, ganzheitliche 170, 231 Regung, ganzheitliche leibliche 171, 205, 206, 207, 242 Regung, leibliche 17, 20, 143, 147, 148, 158, 159, 161, 163, 172, 175, 180, 183, 196, 230, 242, 257 Regung, teilheitliche leibliche 171, 205, 242 Regung, unwillkürliche 16, 150, 151, 152, 153, 225, 317, 320, 333, 334, 365, 367 Regungsherd 149, 151, 153, 317 Reich Gottes 328 Reizempfänglichkeit 163, 164, 168, 181, 204, 220, 221, 226 Relativitätsprinzip 269 Relativitätstheorie 127, 269, 278, 283, 287, 307, 326, 346 Religion 364, 367 Repräsentationstheorie 342 Reprobation 333, 339 Resonanz 369 Resubjektivierung 298 Retention 284 Retrospektive 308 Rhythmus 144, 192, 193, 204, 219, 242 Richtung 108, 109, 110, 113, 145, 178, 179, 180, 186, 236, 237, 240, 255, 271, 272, 283, 284, 288 Richtung, abgründige 238, 257, 291 Richtung, leibliche 175, 176, 182, 184, 188, 189, 192, 196, 198, 234, 238, 254, 265, 267 Richtung, unumkehrbar leibliche 148

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Sachregister

Richtung, unumkehrbare 108, 146, 179, 250, 257 Richtungsraum 257, 270, 305 Ringkampf 189, 190 Rot 197 Rückfeld 144 Ruf 140, 260 Rufen 105, 204 Ruhe 268, 269, 286 Sache, einzelne 305 Sachverhalt 15, 19, 21, 29, 33, 41, 42, 43, 51, 56, 78, 81, 85, 106, 123, 131, 132, 133, 137, 138, 140, 141, 142, 188, 191, 221, 239, 248, 256, 259, 260, 263, 284, 289, 290, 293, 346 Sachverhalt, neutraler 133 Sachverhalt, objektiver 133 Sachverhalt, subjektiver 133 Sachverhalt, untatsächlicher 42, 57, 80, 296 Sägen 33, 109, 110, 184, 202 Säkularisierung 343 Satz 21, 41, 80, 85, 106, 259, 263 Satz vom ausgeschlossenen Dritten 13, 92, 93, 95, 102, 124, 134, 290 Saugen 168 Säugling 21, 128, 137, 255, 284, 296 Schadenfreude 61 Schall 17, 144, 145, 147, 193, 194, 265, 275, 276 Scham 204, 223, 231, 239, 298 Schein 316, 317, 318 Schiff (des Theseus) 318 Schizothymiker 219, 220, 242 Schlag, elektrischer 186 Schlucken 148, 175 Schmerz 60, 165, 166, 167, 170, 172, 181, 182, 185, 186, 187, 206, 213, 223

Schmerzgesten 166 Schnelligkeit 273, 274, 275 Scholastiker 342 Schöne, das 349 schöpferisch 26, 27, 131 Schreck 146, 163, 172 Schrei 140, 165, 166, 181, 260 Schuld 59, 68, 71 Schwäche, reizbare 221 Schweben 353, 359 Schwellung 145, 163, 164, 165, 167, 168, 169, 170, 172, 173, 174, 175, 181, 183, 184, 191, 192, 196, 199, 200, 207, 219, 256, 262 Schwere 173, 174, 231 Schwere, reißende 167, 177, 186, 187, 238, 257 Schwermut 194, 228 Schwimmen 103, 179 Schwimmer 145, 190, 265, 266, 268 Schwingung 219 Schwunglosigkeit 164 Seele 9, 16, 18, 19, 20, 100, 131, 148, 153, 154, 155, 159, 160, 167, 224, 241, 246, 304, 307, 317, 318, 319, 320, 322, 326, 347, 366 Seelenzustand 167, 185, 225, 226 Sehnsucht 236, 237 Seiendes 245, 246, 247, 252, 264, 288, 292, 305, 316, 340, 341, 361 Sein 22, 42, 77, 78, 213, 245, 252, 253, 254, 257, 270, 278, 288, 292, 316, 317, 318, 336, 341, 361 Selbstanwendung 321 Selbstbeherrschung 334 Selbstbestimmung 64, 150, 156, 225, 294, 297 Selbstbewusstsein 84, 90, 113, 216 Selbstermächtigung 150, 152, 317, 334, 365, 367 Selbstmord 90, 91 Selbstpreisgabe 337, 338

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Selbstsicherheit 336, 339 Selbststeuerung 71 Selbstverständnis, menschliches 150, 152, 288 Selbstverstrickung, unbeliebige 60, 223 Selbstzuschreibung 18, 21, 22, 172, 216, 217, 218, 270, 294, 295, 297, 298, 366 Selbstzuwendung 237 Sichbewussthaben 216, 217 Signalübertragung 283, 326 Singen 184, 202, 204, 243 Singularismus 15, 129, 130, 131, 210, 247, 309, 319, 320, 339, 340, 341, 342 Sinnenwelt 326 Sinnesdaten 186 Sinnesqualität, spezifische 318 Sinnesqualitäten, unspezifische 307, 317, 318 Situation 15, 19, 21, 22, 24, 29, 33, 34, 106, 117, 129, 131, 132, 136, 137, 139, 140, 141, 142, 153, 164, 165, 168, 183, 187, 210, 211, 214, 220, 222, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 265, 271, 277, 284, 286, 294, 295, 305, 310, 315, 318, 324, 346, 356, 358, 365, 369 Situation, aktuelle 137, 138, 141, 157, 189, 220, 256, 263, 266, 285, 286, 291, 303 Situation, gemeinsame 131, 183, 184, 187, 256, 313, 321 Situation, impressive 138, 191, 195, 196, 209, 301, 314, 317 Situation, partielle 297 Situation, persönliche 19, 138, 183, 218, 220, 221, 243, 258, 296, 297, 300, 301, 303, 304 Situation, präsentische 297 Situation, prospektive 297

Situation, retrospektive 297 Situation, segmentierte 138, 196, 301 Situation, zuständliche 137, 138, 139, 157, 234, 256, 258, 260, 263, 272, 284, 286, 313, 318 Situation, zuständlich partnerschaftliche 138 Skalierung 286 Sophisten 294, 313 Sorge 57, 186 Spannung 145, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 181, 182, 183, 184, 191, 192, 195, 196, 199, 200, 207, 214, 219, 256 Späteres 250, 251, 254, 273, 280, 282 Speisekarte 196 Sperrung 220 Spielraum 252, 267, 292 Spielraum der Gegenwart 369 Sprache 21, 32, 41, 106, 117, 137, 138, 141, 211, 256, 259, 260, 261, 263, 366 Sprachgebrauch 105, 106, 117, 128, 211, 305 Spruch 41, 42, 48, 80, 85, 106, 289, 290 Stadt 197 Standpunkt 358 Stellungnahme, persönliche 19, 221, 222, 224, 225, 226, 238, 243, 246 Sterbetag 333 Stich 172 Stille 144, 145, 194, 195, 203, 204, 210, 228, 229, 275 Stimme 21, 186, 188, 208, 227 Stimmung 237, 238 Stimmung, reine 237 Stoa 368

391 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Sachregister

Stoff 154, 259, 272, 319, 323, 324 Stöhnen 166, 181 Stoiker 18, 156, 259, 325 Stolz 192 Strafrecht 59 Strecke 145, 265, 267, 276, 286 Strom, elektrischer 286 Strömung 291 Subjekt 9, 10, 11, 23, 46, 47, 90, 114, 216, 225, 226, 351, 358, 359, 360 Subjekt, einzelnes 295 Subjektivität 10, 11, 19, 22, 28, 51, 52, 53, 55, 56, 57, 62, 64, 71, 162, 207, 213, 253, 264, 270, 278, 295, 298, 301, 350, 353, 356, 365 Subjektivität, positionale 10, 350, 351, 360, 362 Subjektivität, rezessiv entfremdete 359, 360, 361 Subjektivität, strikte 10, 11, 351, 352, 353, 356, 358, 359, 360, 361, 362, 363 Substanz 16, 153, 318, 348 Subsumtion 294, 341 Subsumtion, streuende 248 Subsumtion, summarische 248 Symbiose 200 Sympathie 326 Synästhesie 194 Sythesis 348, 349 Takt, intuitiver 325 Tanzen 107, 176, 179, 305 Tatsache 11, 42, 43, 48, 49, 54, 56, 57, 70, 78, 80, 132, 142, 289, 296 Tatsache, analytische 289 Tatsache, neutrale 11, 48, 50, 54, 56, 217, 351 Tatsache, objektive 11, 48, 49, 50, 51, 52, 54, 56, 57, 59, 72, 75, 76, 162, 217, 249, 295, 351, 352, 353, 359

Tatsache, subjektive 11, 28, 29, 49, 50, 51, 52, 54, 56, 57, 58, 59, 72, 75, 76, 77, 183, 216, 217, 218, 249, 295, 351, 352 Tatsächlichkeit 11, 43, 54, 56, 57, 78, 125, 216, 290, 351 Tatsächlichkeit, neutrale 353 Tatsächlichkeit, subjektive 353 Täuschung 246 Technik 131, 154, 337, 365 Teil 105 Thema 164, 236, 237 Thymós 151, 317 Tier 21, 32, 60, 65, 66, 103, 106, 117, 128, 132, 139, 140, 141, 168, 187, 188, 189, 190, 200, 202, 214, 255, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 266, 277, 284, 285, 292 Tod 214, 239, 331, 368 token-reflexive-Analyse 52, 53, 281 Ton 208, 275, 276 Tonos 156, 325 Totstellreflex 165 Tradition, oströmische 370 Trägheit 207 Training, autogenes 172 Transzendenz 155, 173, 322, 323, 367 Trauer 223, 229, 230, 231, 233, 237 Traum 296 Trieb 164 Trommeln 204 Tugend 325, 337 Tugendleben 333 Typus melancholicus 303 Übergang 288 Uhr 268, 274, 276, 277, 278, 286, 306 Umfang 84, 89, 124, 131, 134, 247 Umfang, der leere 85

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Sachregister

Umfriedung 235 Umkehrbarkeit 62, 108 Unabhängigkeit 63, 66, 69, 70, 71, 72 Unbehagen 170 Unbegrenztheit 354 Unbestimmtheit 361, 362 Unendlichkeit 354 Unentschiedenheit 124 Unentschiedenheit, einfache 124, 126 Unentschiedenheit, iterierte 125 Unentschiedenheit, unendlichfache 126 Unglück 331, 339 Uniformierung 334, 338 unio mystica 113 Universalien 74, 327, 340, 341, 342 Universalienproblem 339, 340, 342 Unlust 20, 225, 226 Unruhe 168 Unterlassung 70 Untermenge 86 Untermenge, echte 86 Unterschied 103, 140, 249, 294 Unumkehrbarkeit 238 Urheber 66, 70 Urheberschaft 70, 71 Urknall 306 Urkontinuum 249, 250, 253, 254, 255, 275 Ursache 70, 186, 235, 287 Ursprung der Sprache 260, 261, 267 Urteil, analytisches 99, 101 Urteil, synthetisches 99 Veränderung 273, 274, 275 Verankerungspunkt 238, 239, 240 Verantwortung 64, 215, 229 Verantwortung, moralische 59, 60, 70

Verantwortung, sittliche 58, 61, 63, 64, 65, 66, 67, 69, 71 Verantwortungsbewusstsein, normales sittliches 66, 67, 68 Verantwortungsfreiheit 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73 Verbindung, umkehrbare 146, 176, 227, 265, 267 Verdichtungsbereich 238, 239, 240 Vereinzelung 22, 32, 105, 131, 133, 135, 136, 140, 187, 188, 211, 212, 215, 248, 254, 256, 257, 261, 262, 264, 265, 271, 273, 280, 298, 310, 324 Verfehlung, ironistische 368 Verfehlung, konstellationistische 24 Vergangenheit 78, 97, 108, 251, 252, 271, 272, 280, 281, 284, 288, 291, 292, 308 Vergangensein 272, 282 Vergänglichkeit 275 Vergegenständlichung, psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische 16, 148, 149, 153, 155, 156, 224, 307, 317, 318, 345, 347, 365 Vergehen 108, 245, 250, 254, 257, 270, 272, 285, 288 Vergessen 243, 303 Verhalten, rationales 65, 69 Verhältnis 13, 14, 22, 32, 62, 63, 94, 107, 108, 109, 113, 117, 127, 128, 136, 140, 271, 272, 284, 305 Verhältnis, absolut unspaltbares 110, 209, 213, 217, 249, 250, 326 Verhältnis, relativ unspaltbares 110 Verhältnis, spaltbares 128, 273, 283 Verhältnis, unspaltbares 14, 19, 31, 32, 33, 62, 63, 64, 109, 110, 111,

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Sachregister

112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 121, 123, 127, 128, 129, 135, 187, 215, 224, 228, 243, 251, 253, 255, 264, 267, 284, 295, 340, 341, 347, 357 Verklammerung 322 Vernunft 9, 149, 317, 338, 366 Vernunft, allgemeine 142 Verschiedenheit 13, 31, 103, 104, 106, 107, 113, 114, 117, 211, 213, 249, 255, 358 Verschränkung 127, 163, 172, 175, 188, 326, 345 Verschüchterung 334 Verstand, anschauender 118 Verstand, diskursiver 118 Verständigung, motorische 189 Versunkenheit 185, 207 Vertrauen 339 Verwechslung 104, 105, 106, 113, 117, 128, 211, 249, 258, 299 Verweilen 255, 273 Verzweiflung 233, 236, 237 Viele, das 327 Vieleinigkeit 325, 330, 339, 340, 370 Vitalität 163, 164, 181, 204, 218, 220, 226 Vogelschwärme 256 Vollding 185, 188, 286, 287 Volumen 266 Volumen, dreidimensionales 145, 267 Volumen, dynamisches 145, 163 Vorbeisein 19, 22, 250, 254, 255, 272, 275, 284, 292 Vorbild 300, 301 Vorfinden 360 Vorgefühl 232 Vorhandene, das 361, 362 Vorsokratiker 313 Vorstellung 246

Wählen 65, 67, 69, 70, 73, 196, 272, 355 Wahlfreiheit 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70 Wahnstimmung 132 Wahrheit 41, 42, 43, 78, 125, 290 Wahrheitsverständnis, faktizistisches 43 Wahrnehmen 19, 241 Wahrnehmung 17, 33, 226, 243, 311, 312, 326 Wahrnehmung, schlichte 114 Walzer 194 Wärme 274, 275, 278, 288 Wasser 145, 265, 266, 268 Weibliches 314 Weinen 298 Weite 17, 162, 163, 175, 180, 182, 183, 184, 185, 192, 195, 199, 207, 236, 237, 238, 250, 254, 255, 265, 267, 275 Weitung 17, 145, 156, 157, 163, 165, 168, 172, 174, 175, 180, 181, 182, 188, 191, 207, 223, 242, 254, 255, 275 Weitung, privative 19, 169, 170, 172, 173, 174, 176, 182, 183, 185, 192, 196, 207, 219, 220, 231, 242, 262, 263, 267 Welt 22, 23, 24, 33, 46, 215, 245, 246, 247, 249, 254, 258, 259, 261, 262, 264, 270, 271, 272, 273, 280, 282, 284, 286, 288, 292, 293, 294, 295, 305, 306, 311, 342, 346, 351, 367 Welt, geistige 325, 326 Welt, mögliche 293 Weltanschauung 350 Weltbild, naturwissenschaftliches 24, 306, 307, 308, 309, 312, 359, 367 Weltform 259

394 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Sachregister

Weltspaltung 11, 16, 17, 18, 19, 24, 131, 148, 152, 153, 156, 159, 162, 183, 222, 224, 225, 226, 227, 246, 307, 309, 317, 320, 322, 325, 326, 334, 365, 367 Weltverständnis, menschliches 152 Wendigkeit 300, 354, 355, 357, 368 Wesen 361 Wesenschau 208 Wesenseigenschaften 208 Westkirche 330 Wetter 144, 227, 228 Widerspruch 85, 97, 119, 121, 122, 123, 124, 126, 127, 129, 135, 213, 289, 290, 326, 327, 357, 358, 363 Widerstand 223, 225, 243 Wiener Kreis 101, 102 Willensfreiheit 58, 59, 66, 73 Willensleichtigkeit 304 Willensmangel 68 Wind 144, 186, 187, 238, 257 Wirklichkeit 42, 77, 213, 252 Witz 119 Wohlordnung 86 Wohnen 235 Wohnung 236 Wollen 19, 72, 73, 238, 304, 333, 343, 355 Wollung 221 Wollust 168, 169, 170, 171, 172, 173, 181, 199, 206, 335 Wollust, milde 169 Wunsch 57, 132, 186 Würde 368 Yang 314 Yankee 333 Yin 314 Zahl 12, 81, 82, 84, 85, 86, 88, 89, 91, 97, 100, 108, 109, 129, 131, 132, 134, 212, 213, 247

Zahl, natürliche 84 Zählen 81, 82, 85, 100 zahlfähig 12, 88, 89 Zeit 29, 33, 186, 248, 251, 252, 254, 255, 270, 271, 272, 274, 277, 278, 283, 284, 285, 286, 305, 306, 310 Zeitalter, baconisches 344, 345, 346, 347 Zeitalter, ironistisches 27, 152, 355 Zeiteinteilung 33, 277, 287 Zeitgestalt 272 Zeitmessung 33, 269, 277, 286, 287 Zeitpunkt 252, 255, 276, 309, 310 Zeitraffung 276 Zeit-Situation 33 Zeitstrecke 269, 274, 286 Zentrum, thematisches 236 Zerstreuung 326 Zirkel 268, 274, 354 Zirkel, transzendentaler 354, 356 Zorn 147, 169, 223, 232, 239, 298, 317 Zudringlichkeit 186, 187 Zufriedenheit 232, 233, 236, 237 Zugvögel 254 Zukommen 94 Zukunft 96, 97, 108, 251, 252, 270, 271, 272, 273, 280, 281, 284, 288, 291, 293, 309 Zukunft, geschlossene 22, 33, 78, 96, 97, 141, 289, 290, 291, 292, 309 Zukunft, offene 22, 33, 96, 97, 141, 289, 290, 291, 292, 293, 309 Zukünftigkeit 272, 282 Zürnen 147, 169 Zusammenhang 107, 113, 116, 117, 127, 128, 255, 267, 341, 349 Zusammenhang, beziehungsloser 118 Zustand 54, 56

395 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

Sachregister

Zuwendbarkeit 163, 164, 181, 220, 221, 226 Zuwendung 204, 222, 226, 234, 236, 237, 304 Zwang 64, 65

Zweck 72 Zwiespalt 119, 127, 135, 167, 298, 357, 358, 363 Zyklothymiker 219, 237, 242, 243

396 https://doi.org/10.5771/9783495818039 .

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