Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die "Erfindung" der Psychiatrie in Deutschland 1770-1850 3525354371

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Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die "Erfindung" der Psychiatrie in Deutschland 1770-1850
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-„individuellen Umstände“ einer Krank­ heit angeglichen werden mußte hielt er die psychische Kurmethode für einen „bedeutenden Zuwachs, durch welchen die Grenzen der Heilkunde um ein ganzes Drittheil weiter hinausgestreckt“ würden. Dies werde die

medicinischen Fakultäten nötigen, „den vorhandenen zwey Graden noch einen Dritten, nemlich die Doctorwürde in der psychischen Heilkunde, zuzufügen“.143 Es waren solche Angebote und selbstpostulierten Fortschritte einer sich konstituierenden Wissenschaft der psychischen Heilkunde, auf die sich Har­ denberg in seiner Antwort auf das Langermannsche Reformkonzept bezog. „Durch die in neuem Zeiten gemachten Fortschritte in der Psychologie sowohl als in der Medicin, ist ganz unwidersprechlich ausgemacht, dass sich zur Heilung der Wahnsinnigen ungleich mehr beitragen lässt, als bisher in dem Baireuther Irrenhause und in noch vielen andern ähnlichen Instituten geschehen ist. Es leidet keinen Zwei­ fel, dass durch die gehörige Anwendung der psychischen Curmethode und Benut­ zung aller Fortschritte der Medizin überhaupt, einer weit bedeutendem Zahl von Irren der Gebrauch ihres Verstandes auf eine für sie wohltätige Weise und dauer­ hafter verschafft werden kann, als solches bisher der Fall gewesen ist.“ X4‘ J. C. Reil, Rhapsodieen S. 21. Ebd. S.27f. 143 Ebd. S. 25, 27. Diese Forderung wurde 1810 von der Universität Leipzig erfüllt, die einen Lehrstuhl für „psychische Therapie“ einrichtete, der mit Johann Christian August Heinroth besetzt wurde; s. Adalbert Gregor, J.C.A. Heinroth, in: Irrenärzte 1 S.60.

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Hardenberg sah ebenso wie Reil, daß eine Reform von St. Georgen und „anderer ähnlicher Institute“ nicht nur eine Verbesserung der Heilungschan­ cen der Kranken bedeutete, sondern zugleich die Voraussetzung für die Entwicklung der neuen Wissenschaft überhaupt darstellte, die er der staat­ lichen Förderung für wert hielt. „Es ist Pflicht des Staats, sowohl zum Besten der Unglücklichen, deren Verstand zerrüttet ist, an sich, als auch zur Erweiterung der Wissenschaft überhaupt, alle Anstalten zu treffen, welche zum Zweck führen können. Bei dem genauen Zusammenhang aller Theile der Medicin unter sich und der Gewalt der Vernunft über den Körper, lässt sich von der weitem Ausbildung der psychischen Curmethode eine entscheidender Gewinn nicht blos für die Cur der Irren, sondern auch für die ganze Medicin erwarten. Nur durch fortgesetzte Bemühungen den Zweck möglichst zu erreichen, wird es gelingen, diesem wichtigen und schwierigen Theil der Medicin diejenige Vollkommenheit zu geben, der für solche zum Besten der leidenden Menschheit zu wünschen ist, und der sich beinahe nur durch solche Institute errei­ chen lässt, wo alle Umstände herbeigeführt werden können, auf eine gründliche Theorie gestützte Erfahrungen zu machen und solche zur Erweiterung der Wissen­ schaft wieder zu benutzen.“144

Zu den wenigen Ärzten, die sich noch vor Reil publizistisch zur psychischen Kurmethode geäußert hatten, gehörte Johann Gottfried Langermann, den Reil in seinen „Rhapsodieen“ als einen der „vorzüglichsten psychischen Ärz­ te in Deutschland“ lobte. Auf diese Empfehlung bezog sich dann auch Har­ denberg in seiner Bayreuther Reformverfügung von 1805. Langermann, Er­ zieher von Novalis und Zeit seines Lebens befreundet mit Altenstein145, hatte 1797 seine Dissertation „De methodo cognoscendi curandique animi morbos stabilienda“ veröffentlicht, in der er für eine psychische Kurmethode auf der Basis „erzieherischer Maßregeln“146 eintrat. In seinem Bayreuther Reform­ plan erläuterte er nochmals die Grundannahme und den Ansatzpunkt für seine Heilmethode:

„Ich gehe davon aus,... dass die Ursache der Geisteszerrüttung ... nie allein und häufig gar nicht im Körper, d. h. in sinnlich erkennbaren krankhaften Veränderungen des lebenden Organismus, sondern im Gemüthe selbst, z. B. in der durch unvernünf­ tige Gewohnheiten, einseitige Anstrengungen und Uebung entstandenen Zerrüttung seiner Kräfte und Fähigkeiten und der dadurch verlorenen Macht eines vernünftigen Willens und einer verständigen Ueberlegung zu suchen sei. Dass nicht die vernünftige 144 Verfügung von v. Hardenberg an die Kammer zu Bayreuth, den Zustand des dortigen Irrenhauses zu St. Georgen betr. Berlin, den 16. Februar 1805 (Aus Ministerial-Acten)“, in: All. Zeitschrift für Psychiatrie 2. 1845 S. 589 ff., Zitat S. 589 f. auch für das vorhergehende Zitat. 145 S. Nachlaß Altenstein, Briefwechsel Nr. 21, in: DZA. 146 So Hans Laehr, J.G. Langermann, in: Irrenärzte 1 S. 49.

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sowohl als die unvernünftige Thätigkeit der Gemüthskräfte selbst in einem sinnlich unerkennbaren sublimen Processe thierischer Materie bestehen muß, will ich hier nicht bestreiten noch behaupten. Genug diese Kräfte können nur vom Gemüthe selbst aus durch Willkühr des Menschen erregt, geleitet und beschränkt werden. Die gros­ sen Kräfte, die in das menschliche Gemüth zu seiner Heilung und Erhaltung selbst gelegt sind, aufzusuchen und zu gebrauchen, das ist die Aufgabe, mit der sich ein Arzt, der Geisteszerrüttungen heilen will, beschäftigen muss.“147

Die Vertreter der psychischen Kurmethode nahmen das Vorhandensein ei­ nes unzerstörbaren inneren Kems in der menschlichen Natur an und knüpf­ ten damit an eine Grundannahme des aufklärerischen seelischen Gefähr­ dungsdiskurses an. Der Seelenanteil, der angeblich nicht erkranken konnte, war die Vernunft, das „Gewissensvermögen“ oder das moralische Empfin­ den. Ihm sollte mithilfe der psychischen Therapie wieder der beherrschende Platz in der Organisation der Seelenkräfte des Individuums verschafft wer­ den. Die nur geschwächte und überdeckte „Selbsttätigkeit des Geistes“ muß­ te durch das Vermögen des Arztes wieder „geweckt“ werden. Langermann verglich das ärztliche Vorgehen in seinem Bayreuther Reformplan mit dem des Pädagogen, „denn bei Erweckung und Ausbildung der Geisteskräfte im Kinde und jugendlichen Menschen hat man fast eben dieselbe Aufgabe und eben dieselben Mittel, wie bei Ordnung und Zurückbringung eines zerrüt­ teten Geistes zur Vernunft“. An dieser Stelle sei angemerkt, daß in diese Reihung Arzt - Pädagoge noch der Verweis auf die väterliche Aufgabe gehört und hätte angeführt werden können. Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hatte sich das Verständnis des Vaters in der aufklärerischen Öffentlichkeit zu einem an der Ausbildung der kindlichen Individualität und Subjektivität interessierten Vater gewandelt, der keineswegs mit purer Repression in der Familie be­ stimmte.148 Die Frage, inwieweit dieses Modell das Selbstverständnis der Reformirrenärzte in der Anstaltspraxis bestimmte, wird weiter unten bei der Untersuchung der Zwiefaltener Anstalt aufzunehmen sein. Die Behandlung der Irren sollte sich - laut Langermann - nach folgenden „Maximen“ richten: „die Idee in den Verrückten zu erregen, dass sie ihres Verstandes und ihrer Vernunft keineswegs beraubt“ und deshalb für „alle Thorheiten und für alle Handlungen, die den Pflichten und der Würde eines vernünftigen Menschen zuwider sind“, verantwortlich seien; eine „feste Ord­ nung“ und Hierarchie in der äußeren Organisation und im Tagesablauf zu etablieren, zu der auch „strenge Gerechtigkeit“ beim Umgang mit den Irren

147 Bericht des Medicinal-Raths Dr. Langermann (Anm. 130) S. 583 f. 148 S. dazu die anregende Untersuchung von Lynn Hunt, The Family Romance of the French Revolution. Berkeley 1992. 174

gehöre, die wiederum eine ärztliche Kontrolle der Wärter beinhalte; „Uebung und Anstrengung der Körperkräfte“ der Irren durch Garten- und Feld­ arbeit und „Uebung und regelmässige Ausbildung der Geisteskräfte und des Verstandes durch förmlichen Unterricht ... ohngefähr nach den Pestalozzi’schen Grundsätzen“ einzurichten, allerdings keinen „förmlichen Reli­ gionsunterricht und sogenannte Moralflehre, D.K.]“. Überhaupt solle auf die Mitwirkung von Predigern bei der psychischen Kur verzichtet werden, erklärte Langermann149, der damit die zu diesem Zeitpunkt allerdings schon fast abgeschlagene konkurrierende Berufsgruppe um die Behandlung der kranken Seele auszuschalten suchte. Für die Therapie und für die „Disciplin, unter welcher die Irren stehen“, sollte allein der Arzt oberste Weisungsbe­ fugnis und Verantwortung tragen. Der ärztliche „Curplan“ mußte nach Langermann darauf abzielen, „Alte­ rationen“ im Geist, aber auch im Körper des Kranken einzuleiten, wenn der Arzt dies für erforderlich hielt. Da Seele, Geist und Körper nicht vonein­ ander getrennt wirkten, wenn es auch noch immer unklar war, „ob die vernünftige sowohl als die unvernünftige Thätigkeit der Gemüthskräfte selbst in einem sinnlich unerkennbaren sublimen Processe thierischer Mate­ rie“ bestand, rechtfertigte die unbestreitbare Wechselbeziehung körperlicher und geistiger Reaktionen den Einsatz von Zwangsapparaturen wie das im Langermannschen Reformplan erwähnte Sturzbad und die „Elektrisir-Maschine“. Letztendlich dienten solche Maßnahmen in der Hand eines mora­ lisch vorbildlichen Arztes dazu, „die Macht der psychischen Kräfte im Men­ schen, ... wo sie der Natumothwendigkeit unterliegen, nach Willkühr zu erregen und zu leiten, bis Vernunft herrschend werde“.150 Diese Annahme „über das bei keiner Geistesstörung ganz vertilgbare Streben nach sittlicher Entwicklung, ... über die im tiefsten Wahnsinn noch immer erkennbare Anerkennung des Moralgesetzes“151 war zusammen mit Langermanns Ein149 „Prediger sind gewöhnlich keine Psychologen, ihre Kenntnisse sind zu beschränkt... Der theologische Emst ist gewöhnlich auch nicht der rechte Emst, der den Verrückten Scheu und Vertrauen einflößen oder die Geistesthätigkeit wecken könnte; denn auf viele Dinge, die bei Narren vorkommen, glauben diese Herren sich nicht ohne Verletzung ihrer Würde einlassen zu dürfen.“ (Bericht des Medicinal-Raths Dr. Langermann (Anm. 130), S. 583). 150 J.G. Langermann, Ueber den gegenwärtigen Zustand der psychischen Heilmethode der Geisteskrankheiten und über die erste, zu Bayreuth errichtete psychische Heilanstalt, Aufsatz v. 1805, abgedruckt in: All. Zeitschrift für Psychiatrie 2. 1845 S.601 ff., Zitat S. 602. Ein Überblick über die frühen therapeutischen Konzepte bei Michael Kutzer, Die Irrenheilanstalt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Anmerkungen zu den therapeutischen Zielsetzungen, in: Vom Umgang mit Irren. Beiträge zur Geschichte psychiatrischer Therapeutik. Hg. Johann Glatzel/Steffen Haas/Heinz Schott. Regensburg 1990 S. 63-82. 151 J.G. Langermann, Zustand S.602.

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Schätzung, daß die „absolute Unheilbarkeit der Verrückten noch immer unerkennbar“ sei, die Ursache für seine Unentschiedenheit in der Frage einer räumlich getrennten Unterbringung von Heilbaren und Unheilbaren in zwei unabhängigen Anstalten oder einer gemeinsamen Unterbringung in zwei Abteilungen einer „relativ verbundenen Heil- und Pflegeanstalt“. Beide Modelle fanden in der Folgezeit gleichermaßen ärztliche Befürworter und Gegner.152 Indes gerieten parallel zu dem Interesse der Mediziner an den

auch finanziell vorrangig vom Staat unterstützten Heil- und „Modellversuchs“-Anstalten die bis zur Jahrhundertmitte von den Heilanstalten ge­ trennten Pflegeanstalten in ein zunehmendes und nicht nur institutionelles „Abseits“. Langermann, der 1805 von Hardenberg als ärztlicher Irrenhaus-Direktor eingesetzt wurde, dem ein Kriegs- und Domänenrat als Verwaltungsdirektor zur Seite stand, leitete in St. Georgen während der kurzen preußischen Zeit von Bayreuth, das 1806 von den Franzosen besetzt wurde, folgende Reform­ maßnahmen ein.153 Er machte die psychische Kurmethode, praktiziert von einem fest angestellten Irrenhausarzt mit oberster Weisungsbefugnis in allen medizinischen Fragen und bei der Instruktion und Kontrolle des Pflegeper­ sonals, verbindlich, schaffte die dafür nötigen räumlichen und technischen Hilfsmittel an und führte eine innere Differenzierung der Kranken nach Geschlecht und Krankheitszustand (heilbar, unheilbar, rekonvaleszent) durch, zudem stellte er „ein paar wohleingerichteter Zimmer“ für reiche Kranke bereit, auch um „Kranken und Gesunden die irrigen und zum Theil schrecklichen Vorstellungen, welche mit dem Gedanken an Irrenhäuser ge­ wöhnlich verbunden sind, (zu) benehmen“. Dieses Bayreuther Konzept einer psychischen Heilanstalt wurde zum Vorbild bei weiteren Anstaltsplanungen in Preußen z. B. für die beiden mit Zustimmung der Stände im Jahr 1805 projektierten Einrichtungen in Halle154 und in Marienfeld, wo Vincke im aufgehobenen Zisterzienserkloster ein „allgemeines Irreninstitut“ für die Provinz Westfalen ansiedeln wollte.155

152 S. M. Kutzer, Irrenheilanstalt S.63ff.; D. Jetter, Grundzüge S. 36 ff. 153 Es geht hier nicht um die konkrete Umsetzung dieser Reformmaßnahmen, die mit Recht von G. Herzog, Krankheits-Urteile S. 139 ff., als ungenügend kritisiert wird - auch Langermann selbst war dieser Meinung, wie Herzog anführt (ebd.) -, sondern um das erste Konzept einer psychischen Heilanstalt. Die erneute „Verwahrlosung“ von St. Georgen im (seit 1810) bayrischen Bayreuth wurde in irrenärztlichen Kreisen immer wieder beklagt, von dem Medizi­ nalrat und Direktor der Anstalt 1822 aber geleugnet, s. Dr. v. Hirsch, Oikographie der Irrenheilanstalt zu St Georgen bei Baireuth, in: Zeitschrift für psychische Aerzte 1. 1822 S. 108 ff. 154 DZA, Gen. Direktorium - Magdeburg Nr. 10. 153 Bericht des Kammerpräsidenten v. Vincke über die Einrichtung eines „allgemeinen Irren 176

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In beiden Entwürfen für die wegen des Kriegsausbruchs nicht realisierten Anstalten wurde ihnen noch eine weitere Aufgabe zugedacht, die in Langermanns onzept fehlte, aber bei Reil und Hardenberg als Modell eines be­ stimmten Weges staatlich geförderter Professionalisierung der „Psychiatrie“ angesprochen worden war, nämlich auch als klinische Lehrinstitute für die medizinischen Fakultäten, also als Ausbildungs- und Beobachtungsstätten ür angehende Ärzte und für Medizinprofessoren zu dienen. Auch hier kon­ stituierte sich schon in der Anfangszeit der Irrenanstaltsgeschichte der für die Folgezeit wichtige Streitpunkt, wo und unter welcher Prioriätensetzung die fehlende „Semiotik und Nosologie des zerrütteten Geistes“156 entwickelt werden sollte. Sollten die Heilanstalten gewissermaßen „autonome“ Orte eigenständiger, anstaltsärztlicher Forschung und Praxis der psychischen Heilkunde sein oder institutioneller, klinischer Appendix der universitären allgemeinen Medizin werden?

Die Reform des preußischen „Irrenwesens“ nach 1807

1812 schrieb Langermann, mittlerweile Staatsrat und seit 1810 zuständig für die Reorganisation des preußischen „Irrenwesens“, in seinem von der Re­ gierung in Auftrag gegebenen Bericht über die Irrenanstalten in der Provinz Schlesien, in dem er die verbindlichen Grundsätze für die preußische Irren­ anstaltsreform, die sich an seinem Bayreuther Konzept orientierten, auf­ führte: „Eine solche Heilanstalt ... braucht nicht in der Nähe der Universität, noch in Verbindung mit den clinischen Anstalten derselben zu sein und nur diejenigen jun­ gen Aerzte, welche mit vielseitiger Bildung, besonderem Talent, und eigenthümlicher Neigung sich ganz zu Irrenärzten qualifiziren wollen, können darin Unterricht und Zutritt finden. Derjenige Theil der psychischen Heilkunde, welchen jeder practische Arzt lernen und anwenden sollte, läßt sich zweckmäßig in acadcmischen Vorlesungen vortragen und in klinischen Anstalten einüben, ohne Irrenhäuser zu besuchen.“157

Instituts für die Westphälischen Provinzen“ an das Westfälische Departement v. 2.5.1805, und „Entwurf zum Reglement für die Westphälische Irren-Anstalt in Marienfeld“, in: STAMS, KDK Münster, Fach 26 Nr. 27; s. auch M. Ester, Ruhe S. 355 ff. 156 Bericht des Medicinal-Raths Dr. Langermann (Anm. 130) S. 585. 157 Bericht des Ministers v. Schuckmann über die Resultate von Langermanns Inspektions­ reise an Hardenberg vom 9.11.1812, in: DZA, Staatskanzleramt, Allg. Polizei, Rep 74 J Nr. 13. Langermann (ebd.) hielt die „sehr schlechten Irrenhäuser zu Brieg und Jauer durch ihre sehr ungünstige Localität durchaus keiner Verbesserung fähig“ und schlug den Ausbau des aufge­ hobenen Klosters Leubus zu einer „eigentlichen“ Heilanstalt, verbunden mit einer „Anstalt für

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Der besondere Anspruch an die Persönlichkeit, den Charakter und die be­ rufliche Ethik des psychischen Arztes als Irrenanstaltsarzt - auf diesen Sta­ tus konzentrierte sich das entworfene Berufsbild - begründete sich aus der fast uneingeschränkten Machtausübung des Arztes über den Kranken, die ihm bei der Anwendung der psychischen Heilmethode bei Reil und Langermann zugestanden wurde. Der Arzt trat dem „Geisteszerrütteten“ ja gewis­ sermaßen als verkörpertes Prinzip der Vernunft entgegen, solange dessen eigenes Vemunftvermögen von Leidenschaften oder der Einbildungskraft überwältigt war. Diese Vater- und Lehrer-Rolle erforderte aber eine ständige Anstrengung auf Seiten des psychischen Arztes, seine eigenen, „die morali­ sche Würde und Wirksamkeit störenden Fehler“ zu beseitigen, und zwar in einem „Maasse in welchem sie jetzt im wirklichen Leben nirgends an­ getroffen - ja nirgends verlangt wird“. Diese Selbstkritik sollte auch das „Amtspersonal“ der Anstalt üben und sich dabei gegenseitig unterstützen, verlangte Langermann.158 Eben weil die Erkenntnis und Heilung der Irren bei der psychischen Kurmethode so entscheidend von der „moralischen Kraft“ und dem „festen Willen“ des Arztes abhing, konnte sein Wissen, untrennbar verknüpft mit seiner moralisch vorbildlichen Persönlichkeit, nur in enger Kooperation mit dem hospitierenden Assistenten und angehendem Irrenarzt weitergegeben werden. Diese theoretische Grundprämisse der ärzt­ lichen Reformer wurde von der kleinen Gruppe der Anstaltsärzte „der ersten Generation“ - Langermann verwies z. B. eine Anfrage der französischen Regierung 1828 über das Irrenwesen in Preußen zur Beantwortung lediglich an die Arzte von sieben Anstalten159 - mit Erfahrungen aus ihrer Praxis der psychischen Kurmethode gegenüber staatlichen Adressaten bekräftigt. So erläuterte beispielsweise der ärztliche Direktor der Königsberger Irrenan­ stalt, Medizinalrat Ungers, in seinem Bericht für die französische Regierung das Selbstbild des psychischen Anstaltsarztes: die unsicher Geheilten und Genesenden“, vor. Dieser Plan wurde 1830 realisiert, nachdem 1826 in Plagwitz eine Pflegeanstalt eingerichtet worden war; s. D. Jetter, Grundzüge S. 36. 158 Nicht näher nachgewiesenes Votum Langermanns aus den zwanziger Jahren, in: Allge­ meine Zeitschrift für Psychiatrie 2. 1845 S. 605 f. 159 Offenbar waren für ihn nur die Anstalten in Siegburg, Halle, Zeitz, Parchwitz, Marsberg, Königsberg und Neuruppin exemplarische Beispiele der preußischen Irrenreform. Ausgangs­ punkt der Anfrage und Zeichen des internationalen Rufs der preußischen Irrenanstaltsreform war der Wunsch des „französischen Gouvernements ... gegenwärtig mit der Verbesserung der Geistes-Krankenpflege beschäftigt“ nach Information über die juristische und administrative Ordnung der Irrenhäuser und die medizinische Behandlung; s. Schreiben des Ministeriums d. auswärtigen Angelegenheiten an das Ministerium d. geistl., Medicinal- u. Unterrichtsangelegen­ heiten v. 26.7.1828 mit Votum Langermanns in: DZA, Kultusministerium, Rep. 76 VIII A Nr. 3532.

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»Jeder Verwaltungsbehörde ist ein ärztlicher Vorstand gegeben. Ist dieser schon durch die Pflichten seines Standes hingewiesen, den Elenden und Jammernden mit aller Kraft der höhern Sittlichkeit als Rather und Helfer beizustehen, desto größer sind die Forderungen, die an ihn als Arzt der Irrenanstalt gemacht werden. Es genügt lange nicht, daß er eine Kunst übe, die ohnehin sehr oft an den eigenen Gebrechen scheitert, er muß sich vielmehr bemühn, auf die Fortschritte der Irrenheilkunde seine Forschung zu richten, um das ihm anvertraute Institut der größtmöglichsten Verede­ lung nahe zu bringen. Seiner Gewissenhaftigkeit insbesondere ist das Schicksal der Unglücklichen, oft genug das Wohl der Familien anvertraut ... Ein heilloses Begin­ nen sonach ist’s, läßt der Irrenarzt sich misbrauchen zum Unterdrücker der Freiheit dessen, der ihm allein Schutz und Rettung zu verdanken haben soll. Wohlwollen und Menschenfreundlichkeit, entschlossener Wille und ruhigste Besonnenheit sind die Eigenschaften des Irrenarztes, der, unterstützt durch vieljährige geprüfte Erfahrung, in der Fülle seiner moralischen Kraft die Geistesirren zur Selbsterkenntnis zurück­ zuführen vermag, wenn sie anders irgend einer Seelenregung noch fähig sind. Von ihm geht die Disziplin der Anstalt aus... In dem Geheilten sieht er das gelungene Werk seiner Mühen und Anstrengungen, und er befördert nicht nur dessen Entlas­ sung, auch durch eindringende Berathung trachtet er den Geretteten vor Rückfällen zu sichern. Seine Humanität umfaßt nicht minder die Unheilbaren, die, entfernt von der Theilnahme ihrer Angehörigen, in ihm den Vermittler mit dem gesellschaftlichen Vereine, wenn auch nicht erkennen, doch ahnen, und durch ihn aller Wohlthaten teilhaftig werden, die der Staat seinen ausgeschiedenen Gliedern angedeihen läßt.“160

Es waren solche Erklärungen zusammen mit Meldungen über Heilungser­ folge zwischen 50 und 35 Prozent161, die dem Irrenhausarzt bzw. dem ärztlichen Irrenhausdirektor einen Vorrang gegenüber dem praxisfemen Universitätsprofessor bei den staatlichen Adressaten verliehen, die Einrich­ tung von klinischem Unterricht an den Irrenanstalten bis zur Jahrhundert-

160 Bericht des Medizinalrats Prof. D. Ungers aus Königsberg v. 14.4.1829, ebd. 161 Seit Beginn der Heilanstaltsgeschichte gehörte der Nachweis einer hohen Rate an geheilt Entlassenen als Existenz- und Kostenlegitimation zu den wichtigsten Anliegen der Anstaltssta­ tistik gegenüber der staatlichen Verwaltung. Die angegebenen Zahlen - s. z. B. die tabellarischen Übersichten zum „Bestand, Zu- und Abgang“ in sämtlichen Irrenanstalten Preußens im Jahr 1834, in: DZA, Kultusministerium, Rep. 76 VIII A Nr.3533 - sind deshalb mit äußerster Vorsicht zu betrachten, da sie nichts aussagen über den hohen Anteil von Rückfälligen, der Langermann (s. Anm. 130) sogar über die Einrichtung von besonderen Anstalten für die „unsi­ cher Geheilten“ nachdenken ließ, nicht zuletzt um sie dort mit produktiver Arbeit zu beschäf­ tigen, anstatt sie einer erneuten kostenaufwendigen Heilbehandlung zu unterziehen oder sie für immer in einer Pflegeanstak zu verwahren. Soziale Faktoren, nämlich die Verweigerung der Reintegration in die vormalige Lebenswelt z. B. durch die Dorfgemeinschaften, ließen einen dauerhaften Heilungserfolg oftmals scheitern, s. dazu Kap. III.2.C. Auch eine nachträgliche zuverlässige Quantifizierung von „Geheilten“ und „Ungeheilten“ in den Irrenanstalten des frü­ hen 19. Jahrhunderts ist deshalb nicht möglich.

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mitte behinderten162 und die Anstaltsärzte die entscheidende Funktion bei der Nachwuchsrekrutierung, Ausbildung und „Schulenbildung “ der Irren­ ärzte beanspruchen ließ. Die zentralisierten staatlichen Heilanstalten wur­ den in Deutschland nicht nur der Raum, in dem die psychische Heilkunde praktisch erprobt wurde, sondern wo sie auch eine theoretische Form und Sprache erhielt.

Zentrales Klinikum oder kleine Einrichtungen und Privatanstalten in Württemberg?

Die geschilderte Entwicklung nahm in einem deutschen Staat kurzfristig eine andere Richtung. 1817 regte der württembergische Minister für das Kirchenund Schulwesen, Karl August Freiherr v. Wangenheim, die Gründung einer größeren „Heil- und Lehr-Anstalt für Seelenkranke“ in Verbindung mit der Universität Tübingen an, zur „Befriedigung von Wissenschaft und Staats Polizey“.163 Dieser Vorschlag wurde zur Begutachtung und weiteren Aus­ führung an den „Lehrer der psychischen Heilkunde“, den Tübinger Profes­ sor für praktische Philosophie Carl August Eschenmayer164 weitergegeben. In seinem Gutachten bezeichnete dieser einleitend den „Zweck einer auf der Universität neuzuerrichtenden Irrenanstalt“: „1) als Wohlthat der Menschheit überhaupt, insofern manche Irren die ohne vorher­ gegangene zweckmäßige Behandlung in den Irrenhäusern verlohren gehen und eine oft sehr langwierige Last ihrer Familien oder des Staats werden, noch gerettet und der menschlichen Gesellschaft wiedergegeben werden können. 2) Um das dunkle Gebiet der Seelenkrankheits-Lehre theils durch Anschauung und Versuche theils durch Theorie weiter zu erhalten und dadurch der Wissenschaft an sich einen allge­ meinen Nuzen zu gewinnen. 3) Das bisher auf den meisten Universitäten größten142 Hans-Heinz Eulner, Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Univer­ sitäten des deutschen Sprachgebiets. Stuttgart 1970 S.257ff.; D. Jetter, Grundzüge S. 39 ff., über die Auseinandersetzungen zwischen der Heidelberger medizinischen Fakultät und dem Heidelberger Anstaltsdirektor Roller, der die Errichtung der neuen badischen Heilanstalt Ille­ nau, die 1842 bezogen wurde, als autonome, auf die „Heilkraft der Isolierung“ setzende Anstalt und Ausbildungsstätte durchsetzte, in der allein Irrenheilkunde vermittelt wurde. 143 Schreiben v. 6.2.1817, in: HSTAS, E 11 Bü 51. Diese Quelle ist auch abgedruckt bei Gerhard Fichtner, Psychiatrie zur Zeit Hölderlins. Ausstellungskatalog. Tübingen 1980 S. 4041. Vgl. zur folgenden Auseinandersetzung auch O.-J. Grösser, „Tollhaus“ S. 385 f. 144 Eschenmayer, der auch ein medizinisches Staatsexamen abgelegt hatte, befaßte sich überwiegend mit Problemen im Grenzbereich von Philosophie und Medizin, begann ab 1813 Vorlesungen über Psychiatrie zu halten und setzte sich mit dem thierischen Magnetismus aus­ einander. 1817 erschien sein Buch: Psychologie in drei Teilen als empirische, reine und ange­ wandte. Zum Gebrauch seiner Zuhörer. (Stuttgart) Ndr. Frankfurt/M 1982.

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theils vemachläßigte Fach der psychischen Heilkunde als Lehranstalt für junge sich bildende Arzte und Psychologen in Aufnahme zu bringen und dadurch manchen Studierenden, welchen die praktische Anweisungen und Beobachtungen anderwärts fehlen, bessere Gelegenheit zu verschaffen.“165 Der letzte Punkt, daß die Anstalt „hauptsächlich der Bildung junger Ärzte

und Psychologen“ dienen sollte, stand im Mittelpunkt von Eschenmayers Überlegungen. Die Hauptaufgabe des dirigierenden ärztlichen Direktors

und zugleich Universitätsprofessors sei deshalb auch die Verbindung von theoretischem und praktischem Unterricht in der Anstalt, schrieb er. Ob­ jekte der Beobachtung sollten zunächst zehn bis zwölf „Heilbare“ aus dem Königreich sein, über deren Aufnahme allein der dirigierende Arzt entschei­ den sollte. Große Wichtigkeit maß Eschenmayer, der über keine nennens­ werten Erfahrungen als Arzt von Geisteskranken verfügte, den notwendigen Zwangs-“Mitteln und Apparaten“ zur Behandlung bei.

„Es ist durch Erfahrung bestätigt, daß bei Geisteskranken die gewöhnliche ärztliche Behandlung ihren Zweck meistens verfehle. Dagegen scheinen diejenige Mittel am meisten zu leisten, welche neben einer heroischen, oft gewaltsamen Einwirkung auf den Körper und die Sinnen zugleich die Einbildungskraft und das Gemüth auf einmal erschüttern. Dazu sind mancherlei Apparate und Anstalten nöthig, ohne welche die psychische Heilmethode sich nie einen guten Erfolg wird versprechen können.“ Eschenmayer folgte hier Reils Ausführungen in den „Rhapsodieen “, die er auch bei seinen weiteren Vorschlägen zur inneren Einrichtung und Admini­

stration zum Vorbild nahm. Die medizinische Fakultät der Universität Tübingen äußerte sich in ihrem Gutachten - unter dem Einfluß des damaligen Vizekanzlers der Universität und „Nestors“ der Tübinger Medizin, Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth, der bisher die „Heil-Versuche im Clinicum Tübingen“ an den dort unterzubringenden „ein biß zwey Kranken gemacht“166 hatte - skeptisch

gegenüber diesem Plan.167 Im Zentrum stand die Kritik an dem Konzept einer großen ausschließlich für Irre eingerichteten Anstalt, die schon aus Finanzierungsgründen - der Staat könne sie allein nicht tragen - die Gefahr in sich berge, ein „bloßer Aufbewahrungsort“ für „angesehenere Irre“ zu werden und der „große bezweckte Nutzen“ sich „auflöse in ein hergebrach­ tes Hinschlendem im Heil-Verfahren“. Vor allem sei es aber für keinen 1M Gutachten Prof. Eschenmayers v. 8.3.1817, in: Staatsarchiv Ludwigsburg (STAL), E 162 Bü 829. 166 Dies erwähnte ohne Autenrieths Namen zu nennen auch v. Wangenheim (wie Anm. 163). 167 Gutachten der medizinischen Fakultät an das Ministerium des Kirchen- und Schulwesens v. 6.4.1817, in: STAL, E 162 Bü 829.

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einzelnen Arzt zumutbar, ausschließlich und so viele Irre zu behandeln. Es sei „... ganz unmöglich, daß bei Verwirrten ein und derselbe Arzt in die Länge Eifer behalten könne, da die besten bekannten Irren-Anstalten im Durchschnitte noch weit nicht ein Drittheil, vielleicht im Ganzen kein Fünftheil solcher Kranken herzustellen im Stande waren, fällt das Vergnügen viele gerettet zu haben, hier größtentheils weg; da die Herstellung eines solchen Kranken, wenn sie auch gelingt, halbe und ganze Jahre erfordert, da in der Natur der Krankheit es liegt, unfolgsam, besonders gegen aerztliche Verordnungen zu seyn, weil unter 10 Irren oft kaum einer sich für krank hält, so ermüdet die Behandlung ewig wiederkchrender Widerspenstigkeit am Ende jede Geduld; das beständige Anhören desselbigen unvernünftigen Geschwätzes oder Tobens übertäubt zulezt völlig jeden freien vernünftigen Ideengang im Arzte selbst, und die Behandlung vieler Verwirrten ist mit wirklicher nie ganz entfembarer Gefahr für den Arzt selbst verbunden.“168

Autenrieth, seit 1819 Kanzler der Universität und Mitglied des Landtages, präzisierte 1820 sein Gegenkonzept einer dezentralen Unterbringung und Behandlung der Geisteskranken169, das dem Modell einer „gemeindenahen Psychiatrie“ nahekam, das später die Kritiker des durchgesetzten Großan­ staltswesens gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten. Er stellte darin Grundsätze auf, die den parallelen Bestrebungen der Reformadministration und der psychischen (Anstalts-)Arzte in Preußen und auch dem Aufbau eines Faches Psychiatrie an den Universitäten in Verbindung mit klinischen Ein­ richtungen für Geistesgestörte widersprachen. Sein leitender Gedanke „Verwirrte können nur, wenn sie einzeln oder in kleinen Parthien an einem IM Ebd. S. auch die Erklärung der med. Fakultät, verfaßt von Autenrieth, an den König von Württemberg v. 30. 4. 1811, in dem die Aufnahme eines gemütskranken Juden in das Tübinger Klinikum wegen Platzmangels und Extra-Kosten für Geschirr, koscheres Essen etc. abgelehnt wurde. „Das Clinicum kann für einen einzelnen Hebräer keine Einrichtung treffen, für deren Kosten 4 bis 5 Kranke anderer Religion erhalten werden könnten.“ In einem internen Schreiben an seine Kollegen erläuterte Autenrieth dazu: „Schon vor einigen Tagen kam von Stuttgart beyfolgende Anfrage wegen eines Narren. Ich gestehe, daß ich es so satt habe, Verwirrte aufzunehmen, um so mehr, wenn eine solche Störung in der Haußhaltung dadurch hervorgebracht wird, wie wenn man einem Juden besonders kochen muß ... Dabei gestehe ich, daß ich keine Neigung habe, diese Anstalt zu treffen [eine eigene Einrichtung für irre Juden zu initiie­ ren, D. K.], ich habe an Christen Narren genug und es hat mich schon genug gereut, überhaupt für Narren eine Einrichtung getroffen zu haben, sie sind die allerbeschwerlichsten Kranken, und dazu ist nun die Aufmunterung der höhem Behörden noch zu nehmen, die alle freywillig übernommenen Bemühungen ohne den mindesten Dank für Schuldigkeit, und es noch für eine Gnade halten, daß man sich bemühen darf.“ (Universitätsarchiv Tübingen (UAT), 68/18, Geisteskranke Patienten 1612-1820). 169 Schreiben Autenrieths an das Ministerium des Innern v. 25.10.1820, das er auf Aufforderung des Landtages vorlegte, in: STAL, E 163 Bü 812.

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Ort behandelt werden, Hoffnung haben, hergestellt zu werden“ - begrün­ dete seine Ablehnung von großen zentralisierten Kliniken, zumal das von Eschenmayer vorgeschlagene Modell für 10-12 Kranke ohnehin für die etwa 30 für Heilversuche geeigneten Personen, die jährlich in Württemberg er­ krankten170, zu klein und wiederum zu groß für den behandelnden Arzt sei, ohne daß dieser selbst psychisch ermüde. Autenrieth plädierte deshalb für die Unterbringung und Behandlung von Geisteskranken durch Ärzte in den Oberämtem, wo jeweils wenigstens „vier gesunde und gutverwahrte Zim­ mer“ in einem der öffentlichen Gebäude eingerichtet werden sollten. Die Oberamtsärzte sollten einer Berichtspflicht unterworfen sein und unter stän­ diger Aufsicht des Medizinal-Collegiums praktizieren. Letzteres habe auch „eine wissenschaftliche Belehrung“ zu veranlassen, „da so manche Ärzte selbst gar nicht mit der Natur dieses Übels, in seinen so verschiedenen

Formen bekannt sind, zuweilen nicht wissen, auf welchen Wegen sie Versu­ che zur Heilung anfangen sollen“. Zudem sollte „von Zeit zu Zeit eine Bekanntmachung des wissenschaftlich Wichtigen in den eingegangenen Be­ richten“ erfolgen. Aber auch „öffentliche Belehrungen über die Natur der Krankheit, ihre gewöhnliche Ursache, die Zeichen bey ihrem Anfänge, ihre täuschenden hellen Zwischenräume, über die Behandlung der Verwirrten“ hielt Autenrieth gegenüber „Verwandten und Umgebungen“ für notwendig. Zugleich sollte der Staat „... Privat-Heilungsanstalten begünstigen und die Aufsicht darüber führen. Aber er ist nicht reich genug, solche Anstalten in hinreichender Ausdehnung selbst zu halten, und sie gedeyhen auch nicht so unter seiner unmittelbaren Verwaltung, als wenn sie Privat-Anstalten sind, die niemand unternimmt, der nicht schon eine Neigung hat, in diesem schwierigen Fache etwas Ausgezeichnetes zu leisten“.

Solange das geforderte Netz an gemeindenaher Versorgung noch nicht vor­ handen sei, forderte Autenrieth die Einrichtung einer Abteilung für Heilver­ suche in der Irrenanstalt Zwiefalten, deren Hauptzweck, die „bloße Ver­

wahrung von Verwirrten", beibehalten werden könne. Das Medizinalkollegium stimmte Autenrieth in seiner Stellungnahme grundsätzlich zu, d. h. sprach sich auch für den Verzicht auf die ursprünglich geplante Einrichtung einer größeren Heilanstalt in Verbindung mit der Uni­ versität Tübingen aus.171 Es äußerte sich allerdings kritisch über den Vor170 Die konkreten Zahlen, ergänzt um die Angabe, daß jährlich etwa 17-18 „gefährliche“ Irre zur Aufbewahrung in die Irrenanstalt Zwiefalten eingeliefert würden, sind der Antwort des Medizinal-Kollegiums auf das Autenrieth-Gutachten entnommen; Bericht an das Ministerium des Innern „einen Plan zu Heilanstalten für Gemüths- und Geisteskranke betr.“ v. 18.6.1821, in: STAL, E 163 Bü 812. 171 Ebd. 183

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schlag der Irren-Heilbehandlung in den Oberämtem. Die Oberamtsärzte hätten dort weder die nötige Zeit neben ihren zahlreichen Dienstobliegen­ heiten noch ausreichende Motivation und spezielle Kenntnis, diese Aufgabe zu übernehmen. Privatanstalten seien zwar wünschenswert, aber angesichts der Größe des aufzubringenden Kapitals nicht in der notwendigen Anzahl zu erwarten. So blieb, neben der Überlegung möglicherweise zwei kleine staatliche Heilanstalten für 12-16 „Unglückliche“ zu gründen, als konkrete Lösung des Heilanstaltsproblems allein der Vorschlag der Verbesserung der Zwiefaltener Irrenanstalt übrig. Es hieß also dort, den Heilungszweck stärker zu berücksichtigen und eine besondere Abteilung für Heilbare einzurichten. Dieser Weg wurde zunächst auch beschritten, bis am Ende der 1820er Jahre das Konzept einer großen zentralen psychischen Heilanstalt ohne Universi­ tätsanbindung erneut vom Medizinal-Kollegium diskutiert wurde und sich auch in Württemberg als Modell durchsetzte. 1834 wurde die Heilanstalt Winnenthal eröffnet, deren erster ärztlicher Direktor, Albert Zeller, der „somatischen“ Richtung in der psychischen Heilkunde angehörte. Diese wur­ de von seinem Schüler und zeitweiligen Assistenten Wilhelm Griesinger ausgehend von dessem berühmten Satz: „alle Geisteskrankheiten sind Gehimkrankheiten“ - Ende der 1840er Jahre zur ersten „naturwissenschaftli­ chen“ theoretischen Begründung der Psychiatrie entfaltet.172

Die Entwicklung der Irrenanstaltsreform in Preußen

In den ersten beiden Jahrzehnten blieb die Irrenanstaltsreform in Preußen noch fast ausschließlich Programm, geriet ihre Umsetzung nach den Anfän­ gen in den Anstalten in Neuruppin und Bayreuth ins Stocken. Die 1811 errichtete psychische Heilanstalt Sonnenstein bei Pirna im Königreich Sach­ sen übernahm die Rolle des vielbesuchten exemplarischen Modells für die Anstaltsreformer und erwarb den Ruf einer „vollkommenen Anstalt“173, in der die Langermannschen Reformmaßnahmen und ihr Kem, die psychische 172 Heinz-Peter Schmiedebach, Mensch, Gehirn und wissenschaftliche Psychiatrie. Zur therapeutischen Vielfalt bei Wilhelm Griesinger, in: Vom Umgang mit Irren. Hg. J. Glatzel u.a. S.83-105; Ders., Wilhelm Griesinger, in: Berlinische Lebensbilder 2. Mediziner. Hg. Wilhelm Treue/Rolf Winau. Berlin 1987 S. 109-131. 171 So z.B. Dr. Ruer an F.A. v. Spiegel am 3.11.1817 über die Ergebnisse seiner Reise zu verschiedenen deutschen Irrenanstalten, in: STAMS, Nachlaß F.A. v. Spiegel Nr. 542. Auch Dr. Elser, Arzt in der Württemberger Irrenanstalt Zwiefalten, besuchte 1825 auf Staatskosten die Heilanstalt Sonnenstein, um sich über die „physische und psychische Behandlung der Irren“ in Hinblick auf eine „Anwendung auf Zwiefalten“ zu informieren; Bericht Elsers über die Irren­ heilanstalt auf den Sonnenstein v. 18. 1 1.1825, in: STAL, E 163 Bü 29.

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Kurmethode, weitergeführt wurden.174 Die Wirksamkeit von Langermann in Preußen beschränkte sich auf Inspektionsreisen und Kommissionsberichte, wie 1818 der Berliner Medizinalrat und Mitglied des Medizinalkollegiums Kohlrausch feststellte, als er auf Anweisung von Minister Altenstein die vorhandenen Akten über die Reform der preußischen Irrenanstalten sichte­ te.175 Sein Bericht war für David Ferdinand Koreff bestimmt, den Leibarzt von Hardenberg, Vertrauten der Fürstin Hardenberg, Freund von Rahel Vamhagen und E.T. A. Hoffmann, Anhänger des Mesmerismus oder „thierischen Magnetismus“ und seit 1816 Professor an der Berliner Universität, der im Auftrag von Hardenberg eine Arbeit über die Verbesserung des Irrenwesens in Preußen anfertigen sollte176 und sich vermutlich für Irrenan­ stalten als Orte für den Einsatz seiner favorisierten Therapie interessierte.177 Dr. Kohlrausch kam bei seiner Recherche zu dem Resultat, 174 S. Gottlob Adolf Ernst v. Nostitz und Jänckendorf, Beschreibung der Königl. Säch­ sischen Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein 1-2. Dresden 1829. Der Autor war „Direc­ tor der wegen der allgemeinen Straf- und Versorgungsanstalten verordneten Commission“. Der Begriff Verpflegungsanstalt bezeichnete die Funktion der Anstalt für die Genesenden. Unheil­ bare Kranke wurden in die „Versorgungsanstalt“ Waldheim abgegeben. Die Wichtigkeit des Heilungszwecks betonte der Sonnensteiner Arzt Emst Pienitz (ebd. S. 175) und nannte folgende Ergebnisse für die Zeit vom 1.1.1818 bis 31.12.1826: „Bestand am Schlüsse d. Jahres 1817 177. Aufgenommen von Anfang 1818 bis Ende 1826 - 205. Als vollkommen Geheilte aus der Liste abgeschrieben - 75. Bei der Abtretung einiger Landestheile wurden an das Herzogthum Sachsen als dorthin Gehörende abgegeben - 33. In die Versorgungsanstalt zu Waldheim als unbedingt Unheilbare versetzt - 62. Verstorben 70. Insgesamt 240. Bleiben Bestand am Schlüsse des Jahres 1826 - 142. Von diesen befinden sich bereits in Urlaub - 19. Bleiben innerhalb der Anstalt selbst - 123.“ Pienitz verglich die Heilungsergebnisse in Sonnenstein mit denen in der Salpetriere, in Bethlem und St. Lucas, wo ein Viertel bzw. bei den beiden letzten Anstalten die Hälfte der Aufgenommenen geheilt werde. Im Sonnenstein sei das Verhältnis wie 48 zu 100. Pienitz machte aber den Zusatz: „Wir sind es jedoch der Wahrheit schuldig zu erwähnen, daß in Bethlem und St. Lucas noch Einige mehr geheilt werden würden, wenn nicht ein hartes Gesetz dort geböte, Jeden, der nicht binnen Jahresfrist in diesen Anstalten genas, zu entlassen. Aber Bethlem, St Lucas, die Salpetriere und die Charite sind begünstigt durch frische Fälle, die viel leichter heilbar sind und uns fast ganz fehlen.“(S. 179). S. allgemein zu dieser Anstalt auch Hans Eichhorn, Die Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein bei Pirna und ihre Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Psychiatrie, in: Zur Geschichte. Hg. A. Thom S. 49-57. 175 Undatierte Abschrift des Berichts von Dr. Kohlrausch an Altenstein [1818], dort auch die Aufzählung der Tätigkeit Langermanns, in: DZA, Staatskanzlcramt, All. Polizei, Rep. 74 JNr.31. 176 Hardenberg an Altenstein am 20.6.1818, in: DZA, Kultusministerium, Rep. 76 VIII A

Nr. 3462. 177 Zur politischen und wissenschaftlichen Rolle von Koreff in Preußen s. Martin Blanken­ burg, Der „thierische Magnetismus“ in Deutschland, in: Robert Darnton, Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich. Frankfurt/M 1986 S. 191-228. Koreff, der 1820 nach dem Stimmungsumschwung gegen den Magnetismus seinen Einfluß verlor und nach Paris zurückkehrte, lieferte die Arbeit über die Reform der Irrenanstalten nie ab; allgemein zur

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„... daß Alles Vorhandene sehr schlecht ist, und tief unter dem steht, was alle besser Unterrichteten jetzt von einem Staate wie der Preußische erwarten; ein Unglück, was meines Erachtens lediglich aus der Verfolgung entsteht, mit welcher die Idee des Allerbesten gewöhnlich gegen das Gute würckt. Hier in Berlin ist es am allerschlimm­ sten.“178

Minister Altenstein pflichtete diesem Urteil grundsätzlich bei. Er vermutete als einen Grund für diesen mißlichen Zustand das Fehlen von psychischen Ärzten und die mangelhafte Rezeption von Dr. Langermanns „Theorie“ und Erfahrungen in Bayreuth und unterstrich damit die Schlüsselrolle, die die Reformer den Ärzten einräumten. In einem privaten Brief an Koreff, in dem

sich Altenstein zustimmend über dessen geplante Arbeit über die Verbesse­ rung der Irrenstalten äußerte, beklagte er: „... daß es uns ganz an Männern zur Bearbeitung dieses Gegenstandes fehlt, wenn ich den Geh.-St. M. R. Langermann, wie es sich von selbst versteht, ausnehme. Dieser hat sich früher über diesen Gegenstand sehr offen ausgesprochen, als bey der Fränk. Verwaltung es Emst war und dem Willen die That folgte. Er hat viel geleistet. Wie ist er hier dafür geachtet und behandelt worden! Hat sich irgend eine Theilnahme dafür gefunden? ... Es hat ihm bisher sehr wehe gethan in einer Lage zu seyn, nichts für die Sache thun zu können, allein die gemachte Erfahrung mußte ihn warnen die Sache nicht Leuthen in die Hände zu geben, die wie Reil sie blos benützen wollten, ihm Verdruß zu machen. Weit entfernt das Verdienst in der Sache für sich behalten zu wollen, ist er bescheiden genug zuzugestehen, daß das Auffassen und Durchfüh­ ren seiner Idee mehr Verdienst seyn werde als das Anregen, und es würde ihn unendlich glücklich machen, wenn er die Beruhigung noch erlebte, die Sache beför­ dert zu sehen. Er hat auf jeden eignen Ruhm Verzicht leistend, früher alles dem Reil überlassen ... Betrachten Sie das Leben von Langermann, wie er überall zurückge­ setzt, übersehen, ja mißhandelt, doch ganz für die Sache lebt und Sie werden ihm zugestehen, daß ihm die Sache mehr ist als seine Persönlichkeit.“179

Altenstein erinnerte auch den Staatskanzler in seiner Antwort auf dessen „in dem geehrtesten Schreiben vom 20. d. M. ausgesprochene Theilnahme an der Vervollkommnung der Irren-Anstalten in dem Preussischen Staate“ an das begonnene Reformwerk. „Das unter hochdero obersten Leitung früher in Bayreuth neu gegründete Irrenhaus hat zu seiner Zeit mehr geleistet als

Verbreitung des Mesmerismus Walter Artelt, Der Mesmerismus in Berlin. Mainz 1965; Wil­ helm Erman, Der thierische Magnetismus in Preußen vor und nach den Freiheitskriegen. Aktenmäßig dargestellt. München 1925; Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesme­ rismus. Hg. Heinz Schott. Wiesbaden 1985; und der Bestand Rep. 76 VIII A Nr.2196 (wiss. Experimente und Erfahrungen) im DZA. 178 Kohlrausch an Altenstein, wie Anm. 175. 179 Altenstein an Koreff am 25.8.1818, in: DZA, Nachlaß Altenstein, Briefwechsel Nr. 20.

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irgend eine Anstalt dieser Art.“180 Altenstein ließ keinen Zweifel darüber bestehen, daß die Hauptursache für den Abbruch solcher positiver Reform­ versuche an dem Problem ihrer staatlichen Finanzierung lag. Gegenüber Koreff äußerte er resigniert: „Diese Theilnahme [an der Verbesserung der Irrenanstalten, D. K] kann aber auch von keinem Erfolg seyn, wenn die Generalcontrollc oder das Schatzministerium den gründlichsten Arbeiten blos entgegensetzen kann, ,es ist kein Geld da* ... Das Wich­ tigste, was Sie für die sämmtl. Irren-Anstalten bewirken können, ist der Satz, daß ohne Geld gar nichts zu bewirken sey, recht herauszuheben, und zu veranlassen, daß vorerst für diesen Gegenstand nur etwas, sey es auch noch so wenig zur Einrich­ tung und zum jährlichen Unterhalt ausgesezt werde. Mit der Forderung dessen, was ein so leichter Ueberschlag an die Hand giebt, läßt sich gar nicht hervortretten, ohne selbst für einen Kandidaten dieser Anstalten angesehen zu werden. Versuchen Sie es äusser dem Fürsten, ja versuchen Sie wie weit selbst der Fürst durchdringen kann. Was hilft alles andere. Es macht blos mißmutig.“181

Zwei Monate zuvor hatte Altenstein Hardenberg einen solchen finanziellen „Überschlag“ - 100 000 Reichstaler zur Einrichtung der Gebäude und 25 000 an jährlichem Unterhalt von Seiten des Staates als „ersten Schritt“, gewisser­ maßen als Anstoßfinanzierung für eine einzige Heilanstalt - unterbreitet und die Erwartung geäußert, daß die Provinzen später „Ersatz und Beyträge“ liefern könnten, „vorzüglich, wenn die Wunden des Kriegs mehr geheilt sind“.182 Doch kam es in der Folgezeit nicht zu dieser von Altenstein vorge­ schlagenen Kostenteilung. Der vorhergesehene „sehr bedeutende Aufwand“ an Geld für die neuen Heilanstalten bzw. für die notwendige „radicale, sowohl innere als äussere ganz veränderte Einrichtung“ der vorhandenen Irrenanstalten, deren Zustand „dem Staate wahrlich zur Schande gereicht“ - für Kultusminister Altenstein lag hier ein Versagen des Staatsauftrags „gegenüber der leidenden Menschheit“ vor183 - wurde den Provinzen allein abverlangt. So hatten z. B. die einzelnen rheinischen Regierungsbezirke die 143 000 Taler an Bau- und Einrichtungskosten für die 1825 errichtete erste Heilanstalt der vereinigten Rheinprovinz, Siegburg, aufzubringen. Nach ge­ setzlicher Vorschrift wurde die Grund- nicht die Gewerbesteuer dabei zur Hauptfinanzierungsquelle und belastete so vor allem die agrarische Ober­ schicht.184 Die Verwirklichung und Art der Ausführung der von den preußi180 Altenstein an Hardenberg am 25.6.1818, in: DZA, Kultusministerium, Rep. 76 VIII A Nr. 3462. 181 Altenstein an Koreff, wie Anm. 179. 182 Altenstein an Hardenberg, wie Anm. 180. 18i Zitate ebd. 184 D. Blasius, Wahnsinn S.26ff.; für die Unterhaltung der Anstalt hatte die Rheinprovinz

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sehen Reformern in aufklärerischer Tradition konzipierten Irrenanstaltsre­ form mit dem obersten Ziel der Heilung und der Wiederherstellung des einzelnen Seelenkranken zum Staatsbürger hing damit entscheidend mit ab von dem Ergebnis der Auseinandersetzungen um die Finanzierung der Heil­ anstalten zwischen den - diese als unnötige Einrichtung zugunsten von Ver­ wahranstalten für alle Irren ablehnenden - grundbesitzenden altständischen Vertretern und den sie befürwortenden städtischen bürgerlichen Repräsen­ tanten in den Provinzialständeversammlungen und Provinziallandtagen. Dirk Blasius hat die Konfliktstruktur dieser Auseinandersetzungen an­ schaulich am Beispiel der Gründungsgeschichte der Modellheilanstalt Sieg­ burg beschrieben. Eine gewisse Berechtigung läßt sich einem der Hauptar­ gumente für die Kürzung der Unterhaltskosten der in doppeltem Sinn ex­ klusiven Heilanstalt Siegburg, die durch einen rigiden Aufnahmemodus die große Gruppe der sogenannten Unheilbaren ausschloß und zudem einen Überhang an Patienten aus den bürgerlichen Schichten anzog185, nicht ab­ sprechen, nämlich daß die als heilbar Beurteilten nur einen Bruchteil der Irren ausmachten - 1825 wurden z. B. im Regierungsbezirk Aachen von den gezählten 313 Irren nur 17 als heilbar charakterisiert und daß deshalb das teure Heilanstaltsmodell das allgemeine Unterbringungsproblem der Kommunen nicht löse. Dieses traf nicht nur für die Rheinprovinz zu. In den 1818 von den preußischen Oberpräsidenten vorgelegten Berichten über die Situation der Irren in ihren Provinzen186 wird deutlich, daß sich die von den aufklärerischen Anstaltskritikem angeprangerten Verhältnisse seit dem Aus­ gang des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts nicht entscheidend ver­ ändert hatten. Die Irrenhäuser waren entweder wie z. B. die beiden in Schle­ sien noch mit Arbeitshäusern oder Zuchthäusern verbunden und ihre „innere Einrichtung“ und Organisation - wie nur durch Latten abgetrennte Verschläge, mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten an freier Luft und die ge­ bräuchliche Anstellung von invaliden Soldaten zu Irrenwärtem „von einer mehr oder weniger niedern Stufe von Cultur und Humanität“187 - verhin­ derte, selbst wenn ein behandelnder psychischer Anstaltsarzt vorhanden

1825 die Summe von 10 834 Talern aufzubringen, 1842 stiegen die Kosten dafür auf 35 264 Taler an, ebd. S. 31. 185 Ebd. S.33f. 186 Sie wurden im Zusammenhang mit Korcffs geplanter Arbeit über die Irrenanstaltsreor­ ganisation von Altenstein angefordert, allerdings nicht von allen Oberpräsidenten beantwortet; im DZA, Kultusministerium, Rep. 76 VIII A Nr. 3462, sind nur die Berichte von Vincke, Ingersleben, di Sposetti und Solms-Laubach vorhanden. 187 Bericht des Arztes der mit dem Arbeitshaus zu Jauer verbundenen Irrenanstalt, Anlage zum Bericht des Oberpräsidenten v. Merckel an Altenstein v. 17.9.1818 (Anm. 186).

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war, „daß ein zweckmäßiger Heilplan unterstützt würde“188; oder es fehlten in den preußischen Provinzen „ausschließlich zur Unterbringung der Irren bestimmte Anstalten gänzlich“. Oberpräsident Friedrich Graf zu Solms-Lau­ bach, der das für seine Provinz Jülich-Kleve-Berg konstatierte, fuhr in der bekannten Diktion aufklärerischer Anstaltskritik fort:

„Waren diese Unglücklichen vermögend, so überließ man sie bisher der Willkühr unbarmherziger Verwandten; sind sie arm und der öffentlichen Sicherheit gefährlich, so wirft man sie mit gemeinen Verbrechern zusammen in Gefängnisse oder verwahrt sie in Arbeits- und Armenhäusern mit den Fallsüchtigen und andern unheilbar kör­ perlich Kranken in demselben Local. Nur in dem hiesigen Bürgerspital, in dem Zuchthause zu Düsseldorf, in dem Alexianer-Kloster zu Neuß und in dem Armen­ hause zu Wesel sind nebenbei einige besondere Vorkehrungen zur Aufnahme der Irren getroffen.“189

Doch erfüllten diese - im Falle des Bürgerspitals waren es „14 enge, wenig erleuchtete, mit hölzernen Gittern versehene, naßkalte“ - „Behälter“, auch „Logen!“ genannt wie Solms empört vermerkte, keineswegs den humanen Erfordernissen. „Da die Logen alle neben einander liegen, so stören sich die Irren durch ihr Toben, auch geben die scharfen Ecken der Gitter und der innem Wände ihnen oft Anlaß zu bedeutenden Verletzungen.“ Solche Details beschrieb der Oberpräsident auch bei den anderen Einrichtungen. Negativ urteilte er auch über das Privat-Institut des (Krankenpflege-)Ordens der Alexianer, der im Rheinland eine Tradition in der Unterbringung und Ver­ sorgung von Irren besaß, dieser zähle „gegenwärtig nur noch rohe Menschen aus der niedrigsten Volksklasse zu Mitgliedern“. Zusammenfassend stellte der Oberpräsident fest: „Für die Heilung der Irren geschieht aus Mangel an einem psychischen Arzte und andern unentbehrlichen Hülfsmitteln nichts.“ Zugute kommen sollte die angestrebte Heilbehandlung - wie Solms-Lau­ bach errechnete - schließlich jedoch nur 130 heilbaren bei einer 1818 ange­ gebenen Gesamtzahl von 762 Irren in Jülich-Kleve-Berg; 170 Personen bestimmte er für eine Pflegeanstalt. „Der Rest, nämlich 462 unschädliche, unheilbare Wahnsinnige blieben der Pflege der betreffenden Familien unter der Aufsicht der Orts-Polizei überlassen.“ Ein noch dramatischeres Gefälle zwischen Anstalts- und Familienunterbringung kennzeichnete die Überle­ gungen des westfälischen Oberpräsidenten v. Vincke. Von den insgesamt 188 So Merckel an Altenstein, ebd.; s. zu den Rahmenbedingungen für das ärztliche Wirken in den Irrenhäusern und -abteilungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts Anton Müller, Die Irren-Anstalt in dem Königlichen Julius-Hospitale zu Würzburg und die sechsundzwanzigjäh­ rigen Dienstverrichtungen an derselben. Würzburg 1824; E. Horn, Öffentliche Rechenschaft (Anm. 127). 189 Bericht des Oberpräsidenten Graf zu Solms-Laubach an Altenstein v. 23.9.1818 (Anm. 186).

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1159 Irren in den drei westfälischen Regierungsbezirken Arnsberg, Münster und Minden im Jahr 1818 sei „kaum der 8te Theil zur Aufnahme“ in die einzige öffentliche Irrenanstalt Marsberg geeignet, schrieb Vincke und setz­ te die Kapazität bei der geplanten Erweiterung der verbundenen Heil- und Pflegeanstalt mit 120 heilbaren und 50 unheilbaren Personen an.190 Der Schlüssel zwischen der Gesamtzahl der Irren und dem Aufnahmevermögen der 1835 schließlich reformierten Anstalt änderte sich auch mit diesem Ein­ schnitt nicht grundlegend. Nach der Irrenenquete von 1834 durch den An­ staltsdirektor Dr. Wilhelm Ruer191 empfahl Vincke 1835, daß von den 1558 Irren in der Provinz 96 in die Heil- und 132 in die Pflegeanstalt Marsberg aufgenommen werden sollten.192 Ruer selbst gab eine etwas höhere Rate an „Anstaltsqualificanten“ an : 110 Irre für die Heil- und 180 für die Pflegeabteilung von Marsberg.193 Solche Zahlenverhältnisse verleihen der oben erwähnten Kritik an der Exklusivität der reformerischen Heilanstaltsplanung wie im Falle von Sieg­ burg eine gewisse Berechtigung, wenn sie auch von ihren altständischen Verfechtern nicht auf eine Ausdehnung der Heilungsaufgabe, sondern auf deren Verzicht überhaupt abzielte. Wie in Siegburg und Marsberg waren auch die anderen neuerrichteten194 und reformierten getrennten und verbundenen psychischen Heil- und Pfle­ geanstalten in Preußen, aber auch in anderen deutschen Staaten wie die Heilanstalt Winnenthal im Königreich Württemberg195, zur Aufnahme von

190 Oberpräsident Vincke an die Regierung in Münster am 5.7. 1824, in: STAMS, Reg. Münster Nr. 899. 191 Wilhem Ruer, Irrenstatistik der Provinz Westphalen mit Hinweisung auf die mcdicinisch-topographischen Verhältnisse sämmtlicher einzelnen Kreise derselben. Berlin 1837; s. zu den Ruerschen Enqueten auch Kap. III. 2. d dieser Arbeit. 192 Vincke an die Regierungen Münster, Minden, Arnsberg am 14.1.1835, in: STAMS, Reg. Münster Nr. 899. Zwischen 1825 stieg die Gesamtzahl der gezählten Irren geringfügig von 1428 (837 Männer, 591 Frauen) auf 1558 (909 Männer, 649 Frauen) an, ebd. 193 W. Ruer, Irrenstatistik S. 166f., als Gesamtzahl nannte er 1535 irre Personen für die Provinz Westfalen. Am 1.7.1835 waren davon 11 Personen in der Marsberger Heil- und 69 in der Pflegeanstalt untergebracht. Zwei Jahre später waren es 48 in der Heil- und 98 Personen in der Pflegeanstalt; s. Uebcrsicht des Zustandes der Irrenanstalt zu Marsberg bis Ende 1836, aus den Mittheilungen des Herrn Landtags-Commissarius und aus den Berichten der ständi­ schen Deputation zudammengestellt (DS), in: STAMS, Familienarchiv v. Landsberg-Vclen (Dep.), Provinziallandtag Nr. 41; s. auch Kap. III. 2. c dieser Arbeit. 194 Das waren die Heilanstalt Leubus (1830) und die Pflegeanstalt Plagwitz (1826), Greifs­ wald (1834) und Stralsund (1842), die Heilanstalt Owinsk (1838), die Pflegcanstalten Ander­ nach (1835) und Geseke (1841); außerhalb Preußens wurde 1827 die Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim im Königreich Hannover und 1834 die Heilanstalt Winnenthal im Königreich Württemberg neu errichtet; s. D. Jetter, Typologie S. 119 ff. 193 Heinrich Kreuser, Die Heil- und Pflegeanstalt Winnenthal. Fünfzigjähriger Anstaltsbe-

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circa zwanzig Prozent der insgesamt gezählten Irren berechnet. Die Auf­ nahmezahl für die kleine Gruppe der sogenannten Heilbaren lag noch unter dieser Relation.196 Das Konzept und die erste Umsetzung der Irrenanstalts­ reform bis zur Jahrhundertmitte zielte also nicht auf eine grundsätzliche Ablösung der familialen und/oder „dorfgemeinschaftlichen“ Unterbringung und Versorgung der Irren, sondern wollte zum einen die Gruppe der - wie uneinheitlich und ohne allgemeingültige Kriterien auch immer ärztlich er­ mittelten - Heilbaren erreichen und zum andern in alter Kontinuität die sogenannten für die Gesellschaft Gefährlichen auffangen. Vor allem die erste Gruppe galt es überhaupt erst einmal als Patientengruppe und zwar von den Anstaltsärzten selbst zu rekrutieren, d. h. den Verwandten (durch eine Auf­ klärung über die seelenkrankheitsheilende Aufgabe der Irrenanstalt) zu „ent­ reißen“, mögliche theologische und privatärztliche Konkurrenz dabei aus dem Feld zu schlagen und die „obrigkeitlichen Behörden“ von der „unver­ zeihlichen Nichtbeachtung solcher Kranken“ abzubringen. So klagte z. B. der Arzt der Siegburger Heilanstalt Dr. Maximilian Jacobi 1831:

„Die Familie kümmert sich bei einem so hartherzigen Verfahren [der zu späten Ablieferung der Irren in die Anstalt, D. K.] entweder um gar keine Entschuldigung oder sie sucht sie in dem augenblicklichen Wunsche, ihren Kranken nicht ohne Not von sich zu lassen, oder in den Besorgnissen für seinen Ruf und sein künftiges Fortkommen, wenn es heißt, daß er in der Irrenanstalt gewesen, oder in der Furcht vor dem Eindrücke, den seine Übergabe an die Irrenanstalt sogleich, oder bei seiner Wiedergenesung auf denselben etwa machen könnte und dgl. mehr. Es ist aber nur zu sehr bekannt, daß einigermaßen schwierig zu behandelnde Irre in der Regel nirgendwo härter und mit mehr Beschränkung ihrer Freiheit verpflegt werden, daß sie nirgend mehr den größten Mißhandlungen und dem schrecklichsten Verkommen in Unreinlichkeit ausgesetzt sind, als gerade bei ihren Angehörigen, da diesen auf der einen Seite gewöhnlich die Mittel fehlen, solche Kranke auf die am wenigsten peinigende Weise in den Äußerungen ihrer Wut, ihres Wahnes, oder ihrer Torheit zu beschränken, während auf der anderen Seite die Ansprüche dieser Unglücklichen auf früher genossene oder jetzt angemaßte Rechte, sich häufig grade bei den Ihrigen mit der rücksichtslosesten Leidenschaftlichkeit, die oft in die gefährlichste Tobsucht übergeht, zu äußern pflegt ... Auch geht deshalb der größte Teil der in Privatwoh­ nungen verpflegten schwerer erkrankten Irren durchgehends ungeheilt entweder eiricht Tübingen 1885; O.-J. Grosser, „Tollhaus“ S.389ff.; STAL, E 163 (Verwaltung der Staatskrankenanstalten) Bü 612ff. (Heilanstalt Winnenthal). 196 S. die tabellarischen Übersichten zum „Bestand, Zu- und Abgang“ in sämtlichen Irren­ anstalten Preußens im Jahr 1834, in: DZA, Kultusministerium, Rep. 76 VIII A Nr.3533; W. Köstlin, Beiträge zur Statistik der Geisteskrankheiten in Württemberg. Stuttgart 1840. Zur Geschichte der Irrenenqueten in den deutschen Staaten Julius Ludwig August Koch, Zur Statistik der Geisteskrankheiten in Württemberg und der Geisteskrankheiten überhaupt, in: Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde, Jg. 1878, Heft 3 S. 1-31.

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ner Lebensfristung in dem elendsten Zustande, oder einem frühen Tode entgegen... Zu verwundern ist aber, daß solchen Vorurtheilen selbst noch durch manche Arzte gehuldigt wird, und daß diese, die doch wissen ... wie die ganze Wohlfahrth des Kranken gemeiniglich von der zeitigen Anwendung der richtigen Maaßrcgeln für seine Wiederherstellung abhängt, so oft noch die Schuld auf sich laden, erst an solchen Kranken, vielleicht sogar ohne hinlänglichste Bekanntschaft mit diesen Zu­ ständen, eine Reihe von in einzelnen Fällen als wirksam gepriesenen Mitteln durch­ zuversuchen, und wenn sich diese ... unwirksam gezeigt, nach dem Verfluß der für die Behandlung günstigen Zeit diese Unglücklichen lieber ihrem schrecklichen Le­ bensschicksale preisgeben zu sehen, als zur rechten Stunde mit Entschiedenheit auf die Ergreifung von Maßregeln zu dringen, welchen eine so vielfältige glückliche Erfahrung das Wort redet, und dabei zumal das widersinnige Vorurteil zu bekämp­ fen, welches die Seelenstörungen als Krankheiten anzusehen lehrt, deren man sich zu schämen habe ... Noch viel häufiger aber fehlen in dieser Beziehung manche obrigkeitliche Behörden, durch die unverzeihliche Nichtbeachtung des Wohles sol­ cher Kranken und der ihrer Obsorge anvertrauten Gemeinden. Denn noch fortwäh­ rend ereignet sich gar nicht selten der Fall, daß solche Ortsbehörden von diesen unglücklichen Kranken nicht eher Notiz nehmen, als bis dieselben in einen Zustand geraten, der sie durch die nöthige Verwahrung und Bewachung Geldausgaben er­ heischt. Dann erst soll der oft seit Jahren versäumte Unglückliche weggeschafft und schleunig der Heilanstalt übergeben werden, für die er sich aber jetzt, durch ihre Schuld, in der Regel nicht mehr eignet. Weigert sich die Anstalt diese aus Gründen der Gefährdung der Wiederherstellung Heilbarer aufzunehmen, so wird der Ruf erhoben: als ob die Anstalt ihre Pflicht nicht gegen die Menschlichkeit erfülle.“197 Jacobi ist so ausführlich zitiert worden, weil seine von Professionsinteressen geleitete Beschreibung der verschiedenen Konfliktlinien zwischen den Irren bzw. ihren Angehörigen, ihrem sozialen Umfeld, den Physici, den ärztlichen Anstaltsreformem und den Ortsverwaltungen im nächsten Kapitel aus einer anderen Perspektive beleuchtet werden soll. Untersucht werden die Lebens­ umstände von Irren in der ländlichen Lebenswelt, die entsprechend dem sozio-ökonomischen Entwicklungsstand der Gesellschaft die größte Gruppe in den behördlichen Irren-Enqueten bis zur Jahrhundertmitte ausmachten198, in den beiden möglichen Existenzformen: als behördlich erfaßte und

197 Dr. Jacobi, Die Behandlung der an Irresein leidenden Kranken. Siegburg 24.5.1831, in: DZA, Kultusministerium, Rep. 76 VIII A Nr. 3463. 198 Für Württemberg fand W. Köstlin, Beiträge S.9f., die „Erfahrung bestätigt, daß die größere absolute und relative Menge der Irren den niedern Ständen angehört, und daß gerade die Stände, bei denen die Geisteskräfte am meisten in Anspruch genommen werden, der psy­ chischen Erkrankung am wenigsten ausgesetzt sind. Es fanden sich unter den 1087 Irren [ins­ gesamt in Württemberg, D.K.] nur 4 Gelehrte, 3 Geistliche, 8 Schullehrer, 4 Künstler. Die Zahl der Gewerbetreibenden und Handwerker mag etwas über 100 betragen“. W. Ruer, Irren­ statistik S. 10 f., zählte von den 1535 Irren in der Provinz Westfalen als zweitgrößte Gruppe

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einer »totalen Institution“199 überantwortete Insassen einer Irrenanstalt und als mehr oder weniger integrierte Mitglieder der ländlichen Lebenswelt. Zur folgenden exemplarischen Rekonstruktion des Lebens in einer öffent liehen Irrenanstalt und zwar in der Phase des Umbruchs zur psychischen Heil- und Pflegeanstalt wurde die Württemberger Einrichtung Zwiefalten während der Amtsperiode des zweiten Hausarztes Dr. Elser von 1817 bis 1837 gewählt. Welche Ausgrenzungsprozesse aus ihrer ländlichen weit einer Einlieferung von Irren in eine solche Anstalt vorausgingen, welche Wahrnehmungen, Ursachenerklärungen, Behandlungen, Umgangs weisen und nicht zuletzt auch materiellen und emotionalen Aspekte im so zialen Umfeld dabei zum Tragen kamen, soll in einem zweiten Schritt ein^ exemplarische Untersuchung der mehrheitlichen Gruppe von Irren, die noc in die ländliche Lebenswelt integriert waren - in einem Landkreis es öst chen Münsterlandes in der Provinz Westfalen - im annähernd g eic en Zeitraum klären.200 nach den 564 Personen „ohne Gewerbe“, 442 „aus dem Bauernstände“, als „zur dienenden Klasse gehörig und Tagelöhner“ gab er 116 Personen an, zu den ländlichen und städtischen Unterschichten zählten die aufgeführten 40 Hirten, 9 Näherinnen, 6 Soldaten, 2 Bergleute, 8 Bettler und Vagabunden; außerdem waren 3 Klosterschwestern aufgelistet und als Handwerker bezeichnete er 142 und „aus dem Bürgerstande“ 146 Personen, letztere waren wohl dem alten Mittelstand zugehörig, da Ruer „Rentner, Priester, Juristen, Ärzte, Lehrer, Studenten, Gym­ nasiasten, Civilbeamte und ihre Frauen“ mit 38 Personen wie auch 19 „Apotheker, Kauf- und

Handelsleute“ extra aufführte. 199 Erving Goffman, Über die Merkmale totaler Institutionen, in: Ders., Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/M 1973 S. 13 ff. 200 Diese Auswahl ist in beiden Fällen auch der besonders günstigen Quellenlage geschuldet. Die Ergebnisse der folgenden Untersuchung lassen sich aber für die Situation in den deutschen Ländern zu Beginn des 19. Jahrhunderts verallgemeinern, wie eine Auswertung von Quellen aus anderen Territorien ergibt; für den folgenden Anstaltsteil vgl. z. B. die ca. 450 Krankengeschich­ ten (1815-1849) aus der nassauischen Irrenanstalt Eberbach, in: Abt.430/1 des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden; dazu für einen ersten Überblick Hermann Niedergassel, Die Behandlung der Geisteskranken in der Zeit von 1815-1849 anhand alter Krankengeschichten, Diss. med. Mainz 1977; Ann Goldberg, Nymphomania in the Case-histories of a 19th Century Asylum, Diss. phil. University of California Los Angeles 1992 (Masch.). Für die Gültigkeit der im nächsten Kapitel dargelegten Untersuchungsergebnisse des Integrations- und Ausgrenzungs­ prozesses von Irren aus der ländlichen Lebcnswelt des Münsterlandes auch für die preußischen Provinzen Ostpreußen und Kurmark s. die Einzelfälle im Bestand Generaldirektorium des DZA, in denen Versorgungs- und Unterbringungsproblcme von Irren verhandelt werden; für die französische Zeit s. solche Einzelfälle in den Beständen: Rcp. 230, Westfälisches Weserde­ partement Nr. 677 (Bettler, Vagabunden und Wahnsinnige), sowie Rep. 240, Französisches Oberemsdepartement Nr. 806, 957, 958, im Niedersächsischen Staatsarchiv Osnabrück; des­ gleichen für das Territorium des Erzstifts Mainz und des Hochstifts Würzburg die Bestände VII W Nr. 478, 777, 1557, und V Nr. 1385, 1389, 1386, 1199, 1384, 16991, im Staatsarchiv

Würzburg.

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III. Zur Sozialgeschichte der Irren im frühen 19. Jahrhundert

1. Über Leben in einer staatlichen Irrenanstalt Im vorhergehenden Kapitel über die Reform von öffentlichen Unterbrin­ gungseinrichtungen für Irre ist als Ausdruck ihrer Fortentwicklung eine Ab­ folge von drei gleichsam idealtypischen Anstaltsmodellen - Tollhaus, Irren­ anstalt, psychische Heil- (und Pflege)anstalt - vorgestellt worden. Mit dem Begriff der psychischen Heilanstalt grenzten die aufklärerischen Reformer ihren Entwurf deutlich von den bestehenden öffentlichen Einrichtungen ab. Im neuen Namen war der „Sitz“ der Erkrankung beim Irresein, die Psyche - eine Neufassung gegenüber der alten theologisch besetzten Seele -, ebenso ausgedrückt wie der Anspruch, diese auch heilen zu können und zwar in einer „klinischen“ Anstalt als dem notwendigen Beobachtungs- und Wir­ kungsraum der ärztlichen Experten für die psychische Heilkunde. Die Umsetzung dieses Entwurfs zu Beginn des 19. Jahrhunderts stieß jedoch nicht allein auf politische Hindernisse. Selbst im Falle einer Neugrün­ dung oder - eher üblich - der Reform einer bestehenden Institution mit vorrangigem Detentionszweck in eine psychische Heilanstalt oder verbun­ dene Heil- und Pflegeanstalt wurde im Prozeß der Anstaltsumwandlung deutlich, daß die angenommenen Koordinaten der Reform selbst noch ge­ schaffen werden mußten. Weder konnten die Irrenanstaltsärzte den von den ärztlichen Teilnehmern der Reformbewegung postulierten Grad an psychia­ trischer Professionalisierung, d. h. an psychisch heilkundlicher Ausbildung und therapeutischer Praxis schon vorweisen und umsetzen, noch gab es eine größere Gruppe als heilbar beurteilter Insassen in den Anstalten. Auch an dem sozialen Rekrutierungsfeld (ehemalige Soldaten) und dem allgemeinen Verständnis von der Aufgabe der Anstaltswärter, die allein auf eine physi­ sche Kontrolle der Insassen zielte und im Falle der Wärterinnen vor allem hauswirtschaftliche Dienste meinte, änderte sich zunächst aller reformeri­ scher Kritik zum Trotz nicht viel. So wenig das sogenannte Anstaltspersonal also meist willens und in der Lage war, die therapeutischen Neuvorstellun­ gen der ersten Generation der Reformanstaltsärzte zu unterstützen, mußten diese sich auch erst noch ihre zentrale Rolle, d. h. ihre ärztliche Autonomie und oberste Weisungsbefugnis in der Institution Irrenanstalt, gegen die

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nichtärztlichen Verwaltungsdirektoren oder -Inspektoren und die beaufsich­ tigenden Regierungskommissionen erkämpfen. Zudem stellten sich die bau­ lichen Gegebenheiten in der Mehrzahl der deutschen Irrenanstalten, die in aufgehobenen Klöstern, ehemaligen Kasernen oder Schlössern eingerichtet waren, zur Ausführung des therapeutischen Kems des Reformprogramms, der psychischen Kurmethode, in der Regel als völlig ungeeignet heraus. Wie sich unter diesen Bedingungen der Prozeß der Anstaltsreform in den einzelnen Einrichtungen gestaltete, ist bisher nicht untersucht worden; si­ cherlich auch deshalb nicht, weil sein Ergebnis, die allgemeine Durchset­ zung des psychischen Heil- und Pflegeanstaltssystems als die vorherrschen­ de Form der Unterbringung, der administrativen Verwaltung und Diszipli­ nierung von Irren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in den europäischen Ländern und in Nordamerika, die historische und „psychiatriepolitische“ Aufmerksamkeit bisher absorbiert hat. Nach Foucault markiert diese An­ staltsform in der bürgerlichen Gesellschaft das Stadium in der Entwicklung der Disziplinarinstitutionen, in dem der äußere Zwang zur Disziplinierung von Abweichenden, wie er etwa im Arbeits-, Zucht- und Tollhaus üblich war1, ersetzt wurde durch einen von Verwissenschaflichung und Medizinalisierung gekennzeichneten Zwang zur inneren Disziplinierung, zum Selbst­ zwang. Das aufklärerische Heilungsparadigma des Irreseins mit seinem in­ stitutionellen Ausdruck in der psychischen Heilanstalt bedeutet und zielt nach dieser Interpretation auf eine Formveränderung der äußeren in eine verinnerlichte Kontrolle devianten Verhaltens2; die psychische Heilanstalt wird damit zugleich auch Sozialisationsinstanz zur Reintegration der „zu verbürgerlichenden“ Irren in die Gesellschaft.3 Der amerikanische Soziologe Erving Goffman hat die psychiatrische Kli­ nik - wie das Gefängnis, die Kaserne, das Arbeitslager, das Kloster - als „totale Institution“ beschrieben, in der die gesellschaftlich erworbene Iden­ tität bzw. das Ich des Individuums zerstört wird. Die Anstaltsinsassen erlit­ ten dort nicht nur in juristischem Sinne einen „bürgerlichen Tod“, um nach einem rationalen Plan für die offizielle Zielsetzung der Institution „umge­ schaffen“ zu werden.4 In einem wichtigen Punkt läßt sich gegen die Gleich­ setzung der Irrenanstalten mit den anderen von Goffman genannten Insti1 S. Hannes Stekl, Österreichs Zucht- und Arbeitshäuser 1671-1920. Institutionen zwi­ schen Fürsorge und Strafvollzug. Wien 1978; Ders., „Labore et fame“ - Sozialdisziplinierung in Zucht- und Arbeitshäusern des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung S. 119 ff. 2 M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft bes. S. 482 ff. 5 Diesen Aspekt betont M. Ester, „Ruhe-Ordnung-Fleiß“ S. 349 ff. 4 Erving Goffman, Über die Merkmale totaler Institutionen, in: Ders. Asyle S. 13-123.

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tutionen ein Einwand erheben. Wenigstens für den Zeitraum des frühen 19. Jahrhunderts gilt, daß das Ich der Irren bzw. der psychisch Kranken bereits vor der Einlieferung gravierend gestört und die soziale Identität und lebens­ weltliche Einbindung zusammengebrochen war. Das war geradezu die Vor­ aussetzung für ihre sogenannte „Anstaltsqualifikation “. Für die frühe psy­ chische Heilanstalt trifft also die zentrale Zweckbestimmung „Auslöschung des alten Selbst der Insassen“ nicht zu. Eine „Neuschaffung“ der Persön­ lichkeit des Insassen oder der Insassin war allerdings ausdrücklich das pro­ grammatische Ziel der Heilanstalten. Heilung meinte die Wiederherstellung eines selbstkontrollierten und sich „vernünftig“ verhaltenden Individuums. Doch muß untersucht werden, ob dieses Ziel nicht durch den Gebrauch der Ordnungs- und Organisationsmechanismen der totalen Institution in der Heilanstalt - Goffman nennt u. a. die Überwachung, Kontrolle und Steue­ rung aller Arbeits-, Kommunikations-, Verhaltens- und Lebensvorgänge schon beträchtlich von innen konterkariert wurde. Ob dieser Widerspruch zutage trat und wie die programmatischen Reformanstaltsziele umgesetzt wurden, soll in der folgenden Analyse des versuchten Transformationspro­ zesses des Irrenhauses Zwiefalten geklärt werden. Dieser begann mit der Amtsübernahme von Dr. Elser im Jahr 1817 und kam mit der Gründung von Winnenthal, einer ausschließlich für „Heilbare“ bestimmten psychischen Heilanstalt für Württemberg, 1834 zu einem vorläufigen Ende. Die folgende Rekonstruktion eines konkreten Reformversuchs soll nicht zuletzt die vom Ordnungssystem der Anstalt betroffenen „historischen Subjekte“, d.h. die Lebensbedingungen, Reaktionen und Aktionen der Insassen und Insassinnen sichtbar machen, die in der historiographischen Debatte über die Funktion und Einordnung der totalen Institution in ein umfassendes gesellschaftliches Entwicklungsmodell weitgehend vernachlässigt worden sind.5 Dieses kann allerdings nur durch eine Deutung der in dem administrativen und ärztlichen Diskurs deutlich werdenden Spuren geschehen. In dem Diskurs über das Irrenhaus sind die Stimmen der Irren direkt nur als störendes Lärmen und Schreien vernehmbar. Die Zwiefaltener Irrenanstalt entsprach bei Amtsantritt von Dr. Elser 1817 dem „oberen Durchschnitt“ öffentlicher Einrichtungen für Irre in Deutschland. Aus der Verbesserung des Ludwigsburger Tollhauses hervor­ gegangen, das selbst schon mit zeitgenössisch außergewöhnlichem Aufwand und mit frühaufklärerischem Impetus gegründet worden war, hatte das Ir­ renhaus in Zwiefalten gute Ausgangsbedingungen für die Umsetzung des

5 Dazu liegt bisher nur die medizinhistorische Dissertation von Hermann Niedergassel, Die Behandlung der Geisteskranken in der Irrenanstalt Eberbach im Rheingau in der Zeit von 1815-1849 anhand alter Krankengeschichten. Diss. med. Mainz 1977, vor.

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aufklärerischen Anstaltsmodells: Es war von anderen Anstalten etwa einem

Zucht- oder Arbeitshaus separiert, und es gab einen Hausarzt, der immerhin zaghaft begann, auch psychische Störungen zu behandeln.6 Zwiefalten re­ präsentierte damit sozusagen schon die zweite Stufe auf der „Entwicklungs­ skala“ der vorhandenen öffentlichen Institutionen zur Irrenunterbringung.7 Elsers ärztlicher Amtsbeginn fiel - und das wird auf den Reformversuch nicht unerheblichen Einfluß haben - in das Jahr der Auseinandersetzung über die zukünftige Form der öffentlichen Irrenversorgung im Königreich Württemberg. Das Ergebnis der Diskussion zwischen Regierung, Medizi­ nalkollegium und Tübinger Medizinprofessoren für Professor Autenrieths Vorschlag einer „gemeindenahen“ dezentralen Unterbringung und Behand­ lung der Kranken in kleinen Einrichtungen und Privatanstalten statt in einer zentralen staatlichen Heilanstalt lenkte nun - angesichts des aktuellen Man­ gels an den vorgeschlagenen dezentralen Einrichtungen - die öffentliche Aufmerksamkeit auf das bestehende Irrenhaus in Zwiefalten. Es sollte sich, wie Autenrieth auch selbst als Übergangslösung vorschlug, neben der De-

tentions- nunmehr auch vermehrt der Heilaufgabe widmen.8 Diese neue doppelte Aufgabenstellung, die sich als Postulat der allerhöch­ sten königlichen Billigung erfreute und vom Ministerium des Innern in di­ versen Verlautbarungen bekräftigt wurde, war allerdings sehr allgemein for­ muliert und erlaubte den an der Durchführung beteiligten Parteien, i.e. dem Anstaltsarzt, der Regierung des Donaukreises und ihrem Medizinalrat als unmittelbar beaufsichtigende Instanz, dem Stuttgarter Medizinalkollegium als oberster medizinischer Behörde und dem württembergischen Ministeri­ um des Innern, einen breiten Interpretationsrahmen für die Definition und Dringlichkeit von Reformmaßnahmen. Vor allem zwei entscheidende Fragen * S. dazu Kap. II. 2. 7 Der Versorgungsstandard privater Anstalten über deren Existenz und Verbreitung wir vor allem für England durch die Arbeiten von William L. Parry-Jones, The Trade in Lunacy. A Study of Private Madhouses in England in the Eigtheenth and Nineteenth Centuries. London 1972 und Erwin Ackerknecht, Private Institutions in the Genesis of Psychiatry, in: Bulletin of the History of Medicine 60. 1986 S. 387-396, informiert sind (für Deutschland fehlen vergleich­ bare Untersuchungen), differierte beträchtlich. Zumeist waren diese privaten Einrichtungen kleine Familienbetriebe, die ihr therapeutisches Wissen als Familiengeheimnis Weitergaben. Ihre Bedeutung und ihr Aufschwung in England Ende des 18. Jahrhunderts als florierender Ge­ schäftszweig auf dem kapitalistischen Markt hat keine Parallele auf dem Kontinent; vgl. dazu auch R. Porter, Mind-forg’d Menacles S. 136 ff. Anfang des 19. Jarhunderts gibt es gleichwohl eine gewisse Entwicklung auf diesem Markt in den größeren Städten, die die preußische Re­ gierung veranlaßte, die staatliche Kontrolle dieser Privathäuser in Berlin zu systematisieren; s. dazu Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Bestand des ehemaligen Deut­ schen Zentralarchivs Merseburg (DZA), Rep. 76, VIII B Nr. 1876. 8 S. Kap. II. 2.

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blieben offen. Welche der beiden angestrebten Anstaltsaufgaben, die alte der Verwahrung oder die neue der Heilung, sollte Priorität haben? Und auf welche Gruppen von Irren sollten sich die Heilungsbemühungen erstrecken? Diese Fragen wurden von den agierenden Parteien ihrem Zugang zur Irren­ frage und ihrer jeweils spezifischen Interessenlage folgend unterschiedlich beantwortet. Es entstanden parallele Diskussionsstränge, deren Gegenläu­ figkeit durch den überformenden gemeinsamen Verständigungsrahmen - das aufklärerische Anstaltsreform- und Heilungsprogramm - unerkannt blieb und eine Handlungsunfähigkeit erzeugte, die selbst die Durchführung klei­ nerer Verbesserungsmaßnahmen blockierte. Ende des Jahres 1817 stellte die Königliche Sektion der Kommunever­ waltung, an deren Stelle ein Jahr später die Regierung des Donaukreises trat, Dr. Elser die Frage nach der Anzahl von Insassen, die möglicherweise entlassen werden könnten, um für „gefährliche Irre“ Platz zu schaffen. Dieser behördlichen Erkundung lag kein aktueller „Handlungsbedarf“ zu­ grunde. Sie war damit ein deutliches Zeichen für die Kontinuität in der Auffassung der Administrationsbehörde von dem vorrangigen Zweck der Anstalt. Der Irrenarzt lieferte eine ausführliche Beschreibung von 13 Män­ nern und 3 Frauen von den insgesamt 44 Insassen und 24 Insassinnen, die entlassen werden könnten.9 Er teilte sie zwei Gruppen zu. Da gab es zunächst die Geheilten oder die von seinem Vorgänger zu Unrecht als irre Festgehaltenen, wie den ehemaligen Wagner Christian G., an dem „seit Jahr und Tag ... keine Spur von Wahnsinn mehr zu entdecken“ sei, „daß derselbe anmaßend und begehrlich ist, und - wenn man ihm seinen Willen nicht erfüllt, leicht in Jähzorn geräth, hat er noch mit vielen andern Men­ schen gemeinsam, die frey in der Welt herumlaufen“, stellte Elser fest. Er nutzte die Gelegenheit, seine vom Vorgänger differierenden und seiner Meinung nach ärztlich profunder begründeten Befunde darzulegen. Der ausschlaggebende Beweis für den Zustand der Gesundheit von Insassen, den er anführte, beruhte jedoch keineswegs auf einem besonderen Exper­ tenwissen. Alle acht von Elser als gesund entlaßbar charakterisierten Per­ sonen (sieben Männer und eine Frau) hatten diesen Zustand durch ihre Arbeitsfähigkeit unter Beweis gestellt. Über Heinrich G. aus Stuttgart z. B. schrieb der Anstaltsarzt:

9 Bericht Elsers an das Oberamt Münsingen am 1.12.1817, in: Staatsarchiv Ludwigsburg (STAL), E 163 (Verwaltung der Staatskrankenanstaken) Bü 778. - Zu Elsers Amtsperiode s. auch die mit meiner Interpretation differierenden Ausführungen von Rudolf Camerer/Emil Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt Zwiefalten 1812-1912. Zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Anstalt. Stuttgart 1912 S. 38 ff. 199

„(Er) gehet den ganzen Tag frey herum, ohne ein Kind zu beleidigen, arbeitete den ganzen Sommer als geschickter und thätiger Gärtner, und giebt sich auch mit Be­ dientenarbeit, mit Kleider- und Stiefelputzen ab, er könnte folglich bey jedem Gärt­ ner, nur nicht in Stuttgart, die nämliche Arbeit tun.“

Das galt nach Elser auch für Sebastian R., der ein „fleißiger Feld- und Hausarbeiter “ sei, solange er nicht „in Spielgesellschaften gerate und sich dem Brandtweintruncke“ ergebe, um dann „wie jeder andere Säufer“ auf­ brausend und streitsüchtig zu werden. R. könne also nicht in seine Heimat entlassen werden, wo ihn solche Gefahren leichter erwarteten als woanders und ihn Rückerinnerungen auf ein neues wahnsinnig machen könnten. Dies war nicht der einzige Fall, in dem sich Elser wegen der Schwierigkeiten bei der dörflichen und familiären Wiederintegration skeptisch über die dauer­ hafte Stabilität der Heilung eines Insassen zeigte, und damit auch zugleich sein ärztliches Votum für Entlaßbarkeit gegenüber der vorgesetzten Behörde absicherte. Mit grundsätzlichen „psychologischen Bemerkungen“ über die Rückfallursachen ehedem als geheilt Entlassener hatte Elser seinen Bericht auch eingeleitet und neben den erwähnten negativen persönlichen Erinnerun­ gen vor allem die mangelnde „Klugheit, Vorsicht und Liebe“ der Angehöri­ gen und Ortsvorsteher im Umgang mit den Zurückgekehrten angeprangert. Problemloser in Diagnose und Vorhersage des künftigen Geistes- und Gemütszustandes waren die Personen, die Elser als zweite Gruppe in seiner Auflistung der Entlaßbaren als „Thiermenschen“ führte. Über Leonard L. aus Wiesenbach im Oberamt Gerabronn urteilte er:

„L. ist ganz blödsinnig, mit dem Aufhören des geistigen Lebens ist der Organismus in die reine Vegetation zurückgetreten: alle Sinne haben sich auf einen, den Hun­ gersinn reducirt; das Emährungssystem hat sich auf Kosten der übrigen, besonders des geistigen Lebens auf eine übermäßige Stufe gehoben. Der Mensch ist eine gemä­ stete Fleischmasse, der sein Lager freywillig nie verläßt; er könnte also füglich einem andern, nur zu thätigen Irren den Platz räumen, und in einem andern Verwahrungs­ haus untergebracht werden.“ Auch bei Georg H. hatte - so der Arzt - „die Lebenstätigkeit das Gehirn verlassen und äußert sich nun vorzugsweise in den Gliedmassen, die er immer convulsivisch bewegt“; während sie sich bei Christine A. auf den „Geschlechtstrieb reducirt“ hatte. Seine Meinung über diese unheilbare Gruppe von Insassen und Insassinnen äußerte Elser in gehöriger „Subordi­

nation“, aber unvermißverständlich. „Solche Thiermenschen gehören nach meiner individuellen Überzeugung, die ich mir nicht als Mangel an Subordination, oder als unbefugte achtungswidrige Äußerung zu imputiren bitte, in ein Siechen- und nicht in ein Irrenhaus.“

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Hinter Elsers Versuch, Gruppen von Entlaßbaren zu bestimmen, stand mehr als nur die Erfüllung des Auftrages, auszuloten, wieviel Zellen bei Bedarf für die gefährlichen Irren frei gemacht werden könnten. Die „Geheilten“ bzw. die arbeitsfähigen, im Zustand der „Halbnarrheit“ verharrenden Irren und die „Cretinen“ sollten in die Heimat oder in andere Versorgungshäuser entlassen werden, um Platz für einen neuen Insassenkreis von sogenannten Heilbaren zu schaffen. Elsers Bemühungen richteten sich dabei zum einen auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der eingelieferten Irren allge­ mein, nicht zuletzt als Voraussetzung und Rahmenbedingung für eine ärzt­ liche psychische Behandlung. Zum anderen hoben sie jedoch auf die Wer­ bung von neuen Patienten vor allem aus den bürgerlichen Schichten ab, deren Angehörige - als einzige Bevölkerungsgruppe - von dem aufkläreri­ schen Heilungsparadigma von Seelenstörungen überzeugt waren und nach allgemeiner reformärztlicher Ansicht am ehesten dazu gebracht werden konnten, ihre Irren und zwar noch im Frühstadium ihrer Krankheit an eine Heilanstalt abzugeben. Beide Motive bestimmten Elsers Anträge 1819 und 1820 an die Regierung des Donaukreises, den sogenannten Fraterbau im ehemaligen BenediktinerKloster abzureißen.10 Auf die dortigen 26 Zellen - von insgesamt 85 für Irre verfügbaren Zellen in der Anstalt - könne verzichtet werden, erklärte er. Dahinter stand unausgesprochen die erwartete Reduzierung der Insassen­ zahl um die oben angeführten Gruppen. Ausdrücklich verwies Elser auf die niedrige Gesamtzahl der Insassen, die sich im Jahr 1820 auf 64 (34 Männer und 30 Frauen) belief. Der Fraterbau, der den Klosterhof von Süden nach Norden durchschnitt, behindere den nötigen „Luftzug“, argumentierte der Arzt, so daß sich vor allem die „Wasserdünste“ von den unter dem Haus durchfließenden Kanälen im gesamten Hause verbreiteten. Die Folge sei, daß in allen Erdgeschoßzellen Schwämme wüchsen. Im Fraterbau selbst seien die Erdgeschoßzellen „ohne Lebensgefahr schlechterdings nicht zu bewohnen und wären nicht einmal zu Criminalgefängnissen geeignet“. Zwar befürwortete die Regierung des Donaukreises auf Anraten ihres Kreismedi­ zinalrates Endres diesen Plan des vollständigen Abrisses des Fraterbaus und der Verlegung aller Irren in die oberen Stockwerke auch in den anderen Gebäuden gegenüber dem Ministerium des Innern11, das ihn jedoch nach der negativen „gutachtlichen Äußerung“ des Königlichen Medizinalkollegi-

10 Bericht Elsers an die Regierung des Donaukreises vom 25.6.1829, in: STAL, E 163 Bü 769. 11 Schreiben der Regierung des Donaukreises an das Ministerium des Innern vom 6.11.1820, in: Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HSTAS), E 146 (Ministerium des Innern) Bü 1730. 201

ums12 ablehnte.13 Die Ablehnung beruhte auf dem alten Verständnis von der Zielgruppe des Instituts. Es sei kurzsichtig, so das Gutachten der obersten Medizinalinstanz, die zufällig niedrige Zahl der Insassen zur Grundlage der weiteren Zellenberechnung zu machen.

„ImJ. 1816 waren 84 Zellen mit Irren besezt, und aus allen ärztlichen Jahresberichten ergab sich übereinstimmend mit Nachrichten aus andern Ländern, daß der Wahnsinn eine weit häufigere Erscheinung als ehemals geworden war. Eine solche Zeit kann wiederkehren.“14

Diese Vorhersage zielte nun keineswegs im Sinne des aufklärerischen Hei­ lungsoptimismus auf ein Ansteigen der Gruppe der heilbaren Irren, sondern meinte die alten Insassengruppen der „Tobenden“ oder Gefährlichen und insbesondere der „Unreinlichen“. „Die besonders herausgehobene ungesunde Beschaffenheit der Zellen im Erdge­ schoße des Fraterbaus (sind) ein, allen Zellen zu ebener Erde gemeinsames, Uebel. Diese Zellen sind aber durchaus nicht zu entbehren, weil man diejenigen Irren, welche ihre Nothdurft auf dem Boden verrichten und Speisen und Getränke ausgie­ ßen, in einem anderen Stockwerke nicht unterbringen kann. Eben der Mangel an genügsamen Zellen für solche unflätige Irre, bei welchen der Boden immer mit Wasser ausgereinigt werden muß, veranlaßte die Visitationskommission vom J. 1816 dem Anträge des damaligen Irrenarztes gemäß, die Einrichtung einiger weiterer solcher Zellen in mehreren damals ganz trocken befundenen Holzställen des Erdge­ schosses des Fraterbaues vorzuschlagen ... und leicht könnte man wieder in den Fall kommen, zum Schaden der Gebäude und zur großen Beschwerde der Anstalt solche unreinliche Irre in die obere Stockwerke verlegen zu müssen.“

Im abschließenden Entscheid des Innenministeriums wurde die Bestimmung der Zwiefaltener Anstalt und die Reduktion des Heilungsgedankens auf die alten Gruppen der Insassen dann deutlich ausgesprochen. „Das Irrenhaus ist nicht nur eine Verwahrungs- und Versorgungs-, sondern auch eine Heilanstalt sowohl für solche Irren, an welchen die Tobsucht bereits zum Aus­ bruche gekommen ist, als auch für Gemüthskranke und Blödsinnige; den letztem kann die Aufnahme in die Anstalt um so weniger versagt werden, als sie dem Publi­ cum durch Verwahrlosung von Feuer und auf mancherlei andere Weise gefährlich

12 Gutachtliche Äußerung des Medizinalkollegiums an das Ministerium des Innern vom 17.4.1821, ebd., auch für den folgenden Kontext. 13 „Erkenntnis“ des Ministerium des Innern an die Regierung des Donaukreises vom 23.6.1821, in: STAL, E 163 Bü 769, auch für den folgenden Kontext. 14 Wie Anm. 11. Die Anzahl der Insassen und Insassinnen der Zwiefaltener Anstalt im Zeit­ raum von 1817 und 1837 lag im Grenzbereich von 58 (1818) und 84 Personen (1827 und 1832) und pendelte vorwiegend zwischen 70-80 Personen; s. die Tabelle „Krankenbewegung 1812— 1912“, in: R. Cammerer/E. Krimmel, Zwiefalten, Anhang (unpaginiert).

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werden können, wenn sie nicht gehörig bewacht sind, und öfters wegen Versuchen zu eigner Verstümmelung oder zum Selbstmorde eingesperrt werden müssen, wozu es in ihren Familien und Gemeinden gewöhnlich an Gelegenheit fehlt.“

An dieser Auffassung scheiterten dann auch die von Elser und dem Ulmer Kreismedizinalrat Dr. Endres nach dessen Visitation von 1819 vorgeschla­

genen weiteren Anstaltsveränderungen, wie die Einrichtung von zwei größe­ ren Krankensälen für sechs bis acht ausdrücklich als nicht gefährlich be­ zeichnete, heilbare Irre als Kern einer Heilanstalt. Die Einzelzellenstruktur, Ausdruck des Gefängnisvorbildes, dem der Architekt bei den Umbau- und Einrichtungsmaßnahmen des Klosters 1812 gefolgt war, hatte ebenso wie die Inneneinrichtung der meisten Zellen mit Gittern und Staketen - geeignet „Löwen drin zu verwahren“15 - äußere Bedingungen geschaffen, die der Ausübung der psychischen Kurmethode unmittelbar entgegenwirkten. Doch beherrschte der Gedanke der vorrangigen Sicherungsaufgabe einer Irrenan­ stalt die Beamten des Stuttgarter Medizinalkollegiums und des Innenmini­ steriums aller Heilungsprogrammatik zum Trotz noch tief, so daß der Elsersche Plan eines Krankensaales von heilbaren Irren eine starke Abwehrre­ aktion hervorrief.

„Eine Heilanstalt in diesem Sinne kann nun aber keineswegs erhalten werden durch die gegenwärtig in Vorschlag gebrachte Einrichtung von 2 Krankenzimmern, in welchen je 6-8 Irre zusammen schlafen sollen. Das vormalige Medicinal Departement hat sich über diesen letzteren ... 1817 zuerst vorgebrachten Vorschlag mit Recht dahin geäußert, daß Krankensäle in einem Irrenhause nicht wie in Spitälern zulässig seyen, indem es viel zu gefährlich ist, mehrere auch mit der größten Vorsicht aus­ gewählte und so genau als möglich beaufsichtigte Irren Tag und Nacht beisammen zu lassen ... Auch ist beinahe zu bezweifeln, daß der Irrenarzt auf seine Verantwor­ tung 8-12 noch einer Heilung fähige Irren von den gegenwärtig in Zwiefalten vor­ handenen auszuwählen sich getrauen würde, welche in den beiden Krankensälen ohne Gefahr beisammen gelassen werden könnten.“16 Zwiefalten sollte als Heilanstalt fungieren, aber im Rahmen der baulichen Gegebenheiten und für die alten Insassengruppen. Auf dieser Grundlage war dem Arzt freie Hand für interne Verbesserungen gegeben - z. B. zur Ver­ wirklichung einer der reformerischen Kemforderungen, nämlich die immer wieder in dem behördlichen Schriftwechsel als unverzichtbar angesprochene Separation der Insassen (d. h. ihre Verteilung auf verschiedene Stockwerke und Gebäude) nach dem Geschlecht, nach der Ausdrucksform wie dem Grad des Irreseins und dem sozialen Status (der Angehörigen). In die ärzt15 So Kreismedizinalrat Dr. Endres in seinem Visitationsbericht der Anstalt an die Regierung des Donaukreises am 13.6.1825, in: STAL, E 163 Bü 770. 14 Wie Anm. 13.

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liehe Behandlung wurde von staatsbehördlicher Seite nicht eingegriffen, son­ dern im Gegenteil das Vertrauen auf die genuine Heilungskompetenz des Anstaltsarztes gegen dessen finanziell aufwendigen baulichen Veränderungs­ wünsche eingesetzt. Das war ein genialer, ebenso kostensparender wie zu­ gleich doch reformtreuer Schachzug, provoziert von den Medizinern in der Anstaltsreformbewegung selbst, die einer solchen Auslegung ihrer Fähigkeit und einer damit verbundenen Stärkung der ärztlichen Position in der Anstalt Tor und Tür geöffnet hatten. So hielt das Innenministerium dann auch 1821 dem Urteil des Kreismedizinalrats, „daß das Locale zu Zwiefalten zu einer Heilanstalt nichts tauge“, die erreichten ärztlichen Erfolge entgegen, näm­ lich, daß „doch unstreitig nicht wenige Irre in Zwiefalten geheilt werden“.17 Tatsächlich führte Elser in seinem ärztlichen Bericht vom April 1823 34 geheilt Entlassene zwischen 1818 und 1822 bei einer Aufnahmezahl von 75 Irren im gleichen Zeitraum an. Bis zu seinem Ausscheiden 1837 wird er immer wieder die außergewöhnlich hohe Heilungsquote der an sich als unheilbar geltenden, weil zu spät eingelieferten oder schon langjährig Irren in Zwiefalten z. B. im Vergleich zu der französischen Reformmodellanstalt Salpetriere hervorheben.18 Elser, der selbst auf die Relativität von Heilungs­ erfolgen in der erwähnten Nachweisung entlaßbarer Insassen von 1817 hin­ gewiesen hatte, brauchte diesen Beweis für den Erfolg seiner ärztlichen Therapiebemühungen dringend, um seine Position gegenüber der unmittel­ bar vorgesetzten Medizinalbehörde bei der Regierung des Donaukreises zu stärken. Der Ulmer Kreismedizinalrat Endres, der mit Elser zwar die Über­ zeugung von der baulichen Untauglichkeit des Instituts zu einer Heilanstalt teilte und die letztlich erfolglosen Anträge auf Umbaumaßnahmen für Heilungs- und Rekonvaleszenzabteilungen unterstützte, mißtraute jedoch von Beginn an Elsers Anwendung der psychischen Kurmethode. In seinem Anstaltsvisitationsbericht von 1822 kritisierte Endres ohne nä­ here Ausführungen zu machen, „daß die Irren in psychischer Hinsicht durchaus nicht richtig behandelt werden“.19 Zwar könne er dem Irrenarzte 17 Wie Anm. 13. 18 Ärztlicher Bericht über den Geistes- und Gemüthszustand der Wahn- und Blödsinnigen in dem Königl. Irren Institut zu Zwiefalten Georgii 1823, in: STAL, E 163 Bü 778. Mit Genugtuung schrieb Elser (ebd.): „Esquirol, einer der berühmtesten und glücklichsten Irren­ ärzte in Frankreich bemerkt: 1) daß die Heilung der Irren in dem Verhältniß von einem Drittheil zum ganzen stattfindet, ... 2) daß dieselbe von einem Viertheil bis zur Hälfte wechselt, 3) daß die Heilungen zahlreicher sind in Frankreich als in England, daß sie ferner viel seltener in Deutschland und Preußen seyen.... wenn man die unheilbaren Blödsinnigen und jene, welche schon 5-20 Jahre an Geistesstörungen litten, abrechnet, so kann man behaupten, daß hier [in Zwiefalten, D.K.] über die Hälfte genesen ist Und das in einer Anstalt, worin in Hinsicht auf zweckmäßigere Heilanstalten noch viel zu wünschen übrig bleibt.“ 19 Bericht des Regierungsraths Schott von Schottenstein und des Kreismedizinalrats Endres

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„das Zeugnis eines kenntnisvollen und in seinem Berufe eifrigen Mannes nicht versagen, allein Dr. Elser hat selbst zugestanden, daß eine richtige Behandlung der Irren für ihn um so schwerer sey, als er sich früher weder mit diesem Gegenstände beschäftigt, noch je eine Irren-Anstalt gesehen habe“. Das war nun aber keineswegs allein Elsers Problem. Die erste Generation der Anstaltsärzte brachte als besonderes Kapital meist lediglich ihr ärztliches Interesse und ihren Willen zur Reform der konkreten Anstaltssituation ein. Wissenschaftliche Kenntnisse in der Irren­ heilkunde wurden noch zehn Jahre später bei den Bewerbungen um die Stelle eines leitenden Arztes in der neuerrichteten Württemberger Heilanstalt Win­ nenthal im günstigsten - aber keineswegs üblichen - Falle im Tübinger Raum durch den Besuch von Autenriethschen Vorlesungen insbesondere zur ge­ richtlichen Medizin bzw. ganz allgemein wie im Fall des schließlich ausge­ wählten Albert Zeller durch „ein gründliches Studium des inneren und äuße­ ren Menschen“ nachgewiesen.20 Ersteres war angesichts des Fehlens eines Fachs Psychiatrie an den deutschen Universitäten in der Regel - dank der bedeutenden Rolle mehrerer Professoren der Tübinger medizinischen Fakul­ tät für die Formulierung von Theorien über Seelenstörungen21 - mehr als die meisten Bewerber für Anstaltsarztstellen aus und in anderen Regionen über die Visitation des Irrenhauses zu Zwiefalten an die Regierung des Donaukreises am 21.11.1822, in: STAL, E 163 Bü 772. 20 S. die Bewerbungen um die Stelle eines leitenden Arztes in der Heilanstalt Winnenthal 1831, in: STAL, E 163 Bü 612. Die Anforderungen des Medizinalkollegiums, das zu dieser Zeit schon in der Hand psychiatrisch interessierter Mediziner wie Heinrich Köstlin ist, geben zum einen die Breite der für notwendig gehaltenen Kenntnisse für das zu diesem Zeitpunkt noch nicht existente medizinische Spezialfach Psychiatrie als auch der sozialen Talente eines Irrenarztes wieder. „Es muß für diese Stelle nicht nur eine gründliche, wissenschaftliche Kennt­ nis der Heilkunde selbst und der ihre Grundlagen bildenden sogenannten Hülfswissenschaften, namentlich der physiologischen im weitern Sinne, sondern auch speciell eine nähere Vertrautheit mit der Anthropologie oder der Kunde von der geistig-leiblichen Natur des Menschen, gründ­ liche Kenntnis des Gegebenen in der psychischen Heilkunde, eigenes philosophisches und combinatorisches Talent, verbunden mit dem Talent der Naturbcobachtung für das eben so reiche, als vielfach noch dunkle und rauhe Gebiet der psychischen Krankheiten, sodann wahres Interesse, Neigung und Liebe für dieses eigenthümliche Feld der Thätigkeit, dabey Kenntnis der Menschen, der Verhältnisse des Lebens und der verschiedenen Classen der Gesellschaft, ein gewisser Grad von Welterfahrenheit und von der Gewandtheit, die Menschen nach ihrer Individualität aufzufassen und zu behandeln, endlich (was eine der wichtigsten, aber in der Anwendung schwierigsten Forderungen ist) ein nach Aussen und Innen gebildeter, zugleich fester und menschenfreundlich-milder Charakter und eine wohltätig wirkende Persönlichkeit gewünscht werden.“ (Aus dem Bericht des Medizinalkollegiums an das Ministerium des Innern über die Bewerber um die Stelle eines leitenden Arztes an der künftigen Irrenheilanstalt zu Winnenthal vom 21.6.1831, ebd.). 21 S. Kap. IV. 2.

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Deutschlands vorweisen konnten. Überdies zogen z. B. „Meisterschüler“ von

Professor Autenrieth eine Karriere in der prestige- und einflußträchtigen Württemberger Medizinaladministration, wo sie Medizinalpolitik machen konnten und im Falle der Brüder Köstlin zu Experten für psychiatrische Fragen avancierten22, einem Amt in der Irrenanstalt vor, so daß sich im

ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ein „Qualifikationssprung“ zwischen vi­ sitierenden Medizinern aus den Medizinalbehörden und dem Irrenanstalts­

arzt auftat. Solch ein Konflikt enstand zunächst auf mittlerer behördlicher Ebene zwischen Elser und dem Kreismedizinalrat Dr. Endres. Dieser operierte anfangs vorsichtig und Elser gegenüber gewissermaßen „pädagogisch“, in­ dem er z. B. dessen Wunsch auf die staatliche Finanzierung einer Informa­ tionsreise zu den „besten Irrenanstalten Teutschlands“ gegenüber dem Stutt­ garter Medizinalkollegium erfolgreich „auf das Kräftigste“ unterstützte und Elsers Angebot, später „über seine Erfahrungen über die bessern Einrich­ tungen anderer Irrenhäuser und ihre Anwendbarkeit auf das Institut zu Zwiefalten eine Relation zu erstatten “, begrüßte, dies vor allem wegen „der wohltätigen Folgen, welche dieselbe [Reise, D.K.] für die psychische und physische Behandlung dieser Unglücklichen haben müßte“. Die Regierung des Donaukreises schloß sich dieser Befürwortung an, unterbreitete jedoch dem Ministerium des Innern zugleich Endres Antrag, eine „ärztliche Com­ mission, etwa aus einem Mitgliede des Königlichen Medicinalcollegiums und dem Kreis-Medicinalrath bestehend“, für eine zukünftige gründlichere Vi­ sitation von Zwiefalten einzurichten. Endres wollte offenbar von Seiten der vorgesetzten Behörde eine Bestätigung seiner eigenen negativen Beurteilung der ärztlichen Behandlung.

„Eine gewöhnliche Irrenhaus Visitation (ist) von zu beschränkter Dauer, als daß der Kreismedicinalrath hinreichende Gelegenheit hätte, das Einwirken des Arztes auf den psychischen Zustande der einzelnen Irren, der bei den sehr verschiedenen Ver­ anlassungen desselben auch sehr verschieden sich äußern muß, gehörig genau zu prüfen.“23

Das Stuttgarter Medizinalkollegium lehnte diesen Vorschlag mit dem Hin­ weis auf die Freiheit der ärztlichen Entscheidung über „specielle Heilverfah­ ren“ ab. Elser sei „ein in diesem Fache geübter und für seine Besorgung als tüchtig anerkannter Mann“. Schließlich könnten „die Berichte des Irrenarz-

22 S. H.-J. Grosser, „Tollhaus“ S.388 ff., zum Stuttgarter Mcdizinalkollegium. 23 Bericht der Regierung des Donaukreises an das Ministerium des Innern vom 27.11.1822, in: HSTAS, E 146 Bü 1730.

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H-'

tes über den Zustand und die Behandlung der Irren hinreichenden Aufschluß über seine zweckmäßige Thätigkeit geben“.24 Gerade diese ärztlichen Be­ richte enthüllten aber laut Endres - wie der Bericht der Regierung des Donaukreises an das Innenministerium ein Jahr später zitierte - „eine un­ verantwortliche Nachlässigkeit und Rohheit bei der ärztlichen Behandlung der Irren“.25 Die Kreisregierung unterstützte angesichts dieses Vorwurfs ausdrücklich den erneuten Antrag des Medizinalrats, „daß die ärztliche Behandlungsweise der Irren durch eine Commission untersucht werde“. Die Antwort des Stuttgarter Medizinalkollegiums26 nahm zunächst Bezug auf „den großen Theil“ von Endres Kritik, der „blos den Styl, die Form, Ord­

nung und den Gehalt der halbjährigen Berichte des Irrenhausarztes“ tadele. Demgegenüber beurteilte die Medizinalbehörde Elsers Berichte jedoch in doppelter Hinsicht durchaus als hinreichend. „Dem Zwecke einer Schilderung des Betragens der einzelnen Irren, wie sie z. B. zum behufe der Beurtheilung ihrer Entlaßbarkeit erforderlich ist, und in einer allgemeinen Übersicht der Behandlungsweise der Irren und ihrer Hauptresultate entsprechen diese Berichte hinlänglich, indem sie, wenn gleich allerdings nicht immer in ganz anständigen und abgemessenen Ausdrücken, ein unserer Ansicht nach treues Bild von dem Befinden der Irren und in der am Ende angehängten keineswegs gehaltlosen Zusammenstellung über den Bestand und Gang der ganzen Anstalt Aufschlüsse ge­ ben.“

Leicht spöttisch gegenüber dem Kreismedizinalrat, dem augenscheinlich die Bedürfnisse und Realitäten der obersten Medizinaibehörde fern waren, er­ gänzte die Stuttgarter Antwort: „Wenn aber mit diesen Berichten [Elsers, D.K.] eine lichtvolle Darstellung der verschiedenen Seelenzustände der Ir­ ren, des eingeschlagenen Heilverfahrens und seiner Resultate erwartet wird, so sind sie freilich nicht erschöpfend.“ Wie auch schon das Wörtchen „blos“ im Zusammenhang mit Endres Kritik an Stil und Form der Irrenarztberichte in der Einleitung der Replik des Medizinalkollegiums signalisiert hatte, ver­ stand die oberste Medizinalbehörde zu diesem Zeitpunkt die Beanstandun­ gen des Ulmer Medizinalrats noch nicht als das Einklagen einer bestimmten und anderswo auch schon erlangten Stufe an Formalisierung „psychiatri­ schen“ Wissens und an „Modernität “ in der Methode und Technik medizi­ nischer Verwaltung von Irren in Anstalten, wie sie beispielsweise Esquirol

24 Gutachten des Medizinalkollegiums über die Visitation des Irrenhauses zu Zwiefalten an das Ministerium des Innern vom 3.2.1823, in: ebd. 25 Bericht der Regierung des Donaukreises an das Ministerium des Innern vom 13.12.1824, in: ebd. 26 Bericht des Medizinalkollegiums an das Ministerium des Innern vom 8.2.1825, in: ebd.

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in der Pariser Salpetriere schon eingeführt hatte. Ein Detail sei als Beispiel dafür hier genannt, das der verwunderte Elser in seiner Reisereportage über diese Anstalt 1824 geschildert hatte. „Die Betten [der beiden Krankensäle, D.K.] sind sämmtlich niimcrirt und die Arzneyen werden nicht nach dem Namen der Patienten, sondern mit den Bettnummcm bezeichnet. Oben an der Wand jeden Bettes ist ein Kästchen befestiget, wo die nötigen Geräthschaften, das Weiszeug p. aufbewahrt wird.“27

Es war nicht genau diese Artikulation von „Rationalität“, die Endres ein­ forderte. Seine Kritik zielte gewissermaßen noch auf deren Vorstufe oder Voraussetzungen. Er wollte eine umfassendere Kontrolle des „Benehmens und der Diät“ der Irren in Zwiefalten, „die nicht gehörig beaufsichtigt seyen“. Zudem sollte dem Arzt von Seiten der Irren die „erforderliche Ach­ tung“ entgegengebracht werden, und schließlich sollte dieser auch alle „thunlichen Mittel zu ihrer [der Irren, D.K.] Besserung in Anwendung brin­ gen“.28 Endres suchte anhand von zwölf konkreten Fallgeschichten aus El­ sers ärztlichem Bericht von 1825 nachzuweisen, daß der Anstaltsarzt alle drei Gebote mißachtet hatte. Das Stuttgarter Medizinalkollegium ging in seiner Stellungnahme dazu an das Ministerium des Innern auf jeden einzel­ nen der aufgeführten Kritikpunkte ein. Die dabei zur Sprache kommenden Begebenheiten enthüllen Verhaltens- und Bewegungsspielräume der beteilig­ ten Irren in der Zwiefaltener Anstalt, die sowohl dem aufklärerischen Bild von einem Irrenhaus als anarchischer Höllenpfuhl (vor der Irrenanstaltsre­ form) wie der heute verbreiteten Vorstellung einer totalen Disziplinarinstitution entgegenlaufen. Der „unheilbare ganz gutmüthige närrische Heinrich G., dem ein Privat­ mann den Aufenthalt in seinem Hause gestattet“, hatte sich dort „bisweilen dem Trünke“ überlassen und war vom Irrenhausarzt mit „Einsperrung auf einige Tage gestraft“ worden. Während Endres den völligen Entzug der „gegönnten Freiheit“ forderte, billigte das Medizinalkollegium Elsers Maß­ nahme. Zweimal in der Woche zog es auch den „gewesenen Kostgänger des Irrenhauses“ Markus B. auf die Post, „um allda seinen Schoppen Wein zu trinken“, was für die Stuttgarter Behörde allein die Frage aufwarf, „warum sich ein gesunder Kostgänger im Irrenhause befinde? welche (Frage) jedoch wenigstens den Irrenarzt nicht allein angehen kann“. In noch zwei weiteren Fällen, die beide den Zugang von Irren zum Wirtshaus im nahegelegenen 27 Bericht Elsers an die Regierung des Donaukreises vom 9.10.1824, in: STAL, E 163 Bü 772. 28 Wiedergegeben in dem Bericht des Stuttgarter Medizinalkollegiums vom 8.2.1825 (Anm. 26), auch für die folgende Darstellung.

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Örtchen Zwiefalten dokumentieren, nahm Endres Anstoß an Elsers Umgang mit der „Alkoholfrage“. Zum Fall des Jakob S. kommentierte das Medizi­ nalkollegium:

„Bei dem unheilbaren Irren Jakob S., der fünf Jahre lang unbeweglich auf dem Bette lag, entdeckte der Arzt eine Neigung zum Branntweintrinken. Er befriedigte sie, und nun wurde der Kranke einer der willigsten Arbeiter, der aber seinen Wochenlohn jedes Mal im Wirtshause mit Essen und Branntweintrinken wieder verzehrt. - Wenn die Gemüthskrankheit dieses Menschen wirklich, wie schon ihre Veranlassung und ihre achtjährige Dauer befürchten lassen, unheilbar ist, warum sollte man ihn seine Lieblingsneigung nicht auf eine unschuldige Art befriedigen lassen? Und ist von ihrer Nichtbefriedigung nicht eine Wiederkehr des schlimmeren Zustandes zu erwarten?“

Das Wirtshaus war auch der Tatort des 80jährigen „unheilbar blödsinnigen “ Joseph R., der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, sein in der Anstalt erhaltenes Brot im Wirtshaus gegen Branntwein zu verkaufen. Die im Stutt­ garter Bericht genannte Begründung für sein Tun, daß er „seit längerer Zeit kränkelte“ und „sein Brod nicht genießen“ konnte, wurde offenbar von allen beteiligten Parteien akzeptiert, nicht aber die Wirkung, die es auf ihn hatte: „Durch diesen [Branntwein, D.K.] wurden seine Verdauungskräfte so ge­ stärkt, daß er nun kaum zu sättigen ist.“ Für das Medizinalkollegium fiel diese Angelegenheit in den Zuständigkeitsbereich des Irrenhausinspektors. Es riet der Regierung des Donaukreises, diesem einen Rechenschaftsbericht über die Verkaufstätigkeiten des Branntweintrinkers abzufordem. Unter Umgehung einer finanziellen Transaktion hatte der „seit 12 Jahren wahn­ sinnige“ Joseph K. seine „Eßgier“ im Wirtshaus befriedigt, indem er dort „einen halben Laib schwarzes Brod ... geschickt und schlau“ gegriffen und sogleich verschlungen hatte. Das war für Endres ein eindeutiges Zeichen für die mangelnde Aufsicht des Irrenhausarztes. Zugleich hatte der Ulmer Me­ dizinalrat beanstandet, daß dem Joseph K. die „periodische Befriedigung eines unmäßigen Appetits jedesmal gestattet“ werde. Das Medizinalkollegi­ um teilte die Ansicht von Endres nicht. Es verwies auf die Unmöglichkeit ein Urteil abzugeben, da die Gründe für die Handlungsweise des Arztes aus dessen Bericht nicht hervorgingen. Dieses galt auch für den Fall des „gutmüthigen trägen Irren“ Johann S., der „mit einem gesunden Appetite nach Tische bei den anderen Irren Nachlese hält und verzehrt, was sie übrig gelassen haben. Daß ihm dies in einem schädlichen Übermaße gestattet

werde, läßt sich doch nicht geradezu voraussetzen“, schrieb das Medizinal­ kollegium. Bedeutender erschien Endres Vorwurf der mangelnden Aufsicht bei dem „blödsinnigen kränkelnden Bernhard D.“, der „diejenigen, die ihm während seines Auf- und Abgehens auf seinem Pfade begegnen, mit Solda­ tenmanier auf die Seite (wirft)“. Das Medizinalkollegium meinte jedoch:

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„Ein Tadel läßt sich hierauf nur gründen, wenn der Kranke ohne Aufsicht Ungewamten begegnen kann.“ Und auch im Falle des „tollen“ Wilhelm S. verteidigte es Elser gegen die Anwürfe von Endres. Wilhelm S., „der stärkste Mann unter allen Irren, warf letzthin einen andern ebenfalls starken Irren wie einen 17jährigen Jungen um. Vorfälle dieser Art kommen wohl bisweilen in jedem Irrenhause vor und können ohne nähere Angabe der Umstände noch keinen Mangel an Aufsicht beweisen“. Das Medizinalkollegium unterstützte Elser aber nicht nur gegen den Vor­ wurf der mangelhaften Kontrolle, der immerhin in acht der zwölf Fallbei­ spiele von Endres erhoben worden war, sondern befand auch den einzigen Kasus für die fehlende Achtung und Autorität des Arztes im Irrenhaus als nicht überzeugend.

„Der verrückte Heinrich M. predigt im Hofe und ruft dem Irrenarzte Grobheiten zu, welche sich auf die Religionsschwärmerei des Erstem beziehen. - Auf den Grund des Ansehens, in welchem der Arzt bei den Irren steht, scheint sich uns eigentlich hier gar Nichts mit Billigkeit schließen zu lassen. Wenn sich aber bei der letzten Irrenhausvisitation triftigere Beweise von Mangel an Autorität des Letztem ergeben haben, so wären sie wohl hier anzuführen gewesen.“ Schließlich wiesen die Kollegiumsmitglieder auch den letzten der medizinalrätlichen Beanstandungen, die Unzweckmäßigkeit der ärztlichen Behand­ lung, zurück. In zwei Fällen hatte Endres dem Irrenarzt vorgeworfen, es an der „nöthigen Energie“ bei der Behandlung fehlen gelassen bzw. gar keine Therapie versucht zu haben. Ein von ihm angeführtes Beispiel war der „seit 30 Jahren blödsinnige“ Jakob W., der seit einem Vierteljahr angefangen hatte zu arbeiten und mit den Worten des Stuttgarter Berichts „bereut, es nicht bälder getan zu haben, (er) verdient sein Taschengeld und läßt sichs wohl seyn. Er belustiget die anderen Irren im Bade durch seine Schwimm­ künste“. Das Medizinalkollegium bemerkte weiter:

„Ohne die Gründe zu kennen, aus welchen der Irrenarzt bis jetzt noch Nichts Weiteres mit diesem Menschen zu seiner vielleicht möglichen Wiederherstellung an­ gefangen hat, möchten wir doch nicht mit dem Kreismedicinalrathe behaupten, daß dieser Irre bei dieser Behandlung auf dem Wege zum Rückfalle in die Verschlimme­ rung sey.“

In einem anderen Fall hatte Endres das Mittel, das Elser angewandt hatte, um Friderike H. und Louise D., „die stärksten Schreyerinnen auf dem Wei­ bergange“ zum Schweigen zu bringen, als unzweckmäßig kritisiert. „Wenn sie es gar zu arg machen, läßt man die tolle G. aus ihrer Zelle, worauf jene mäuschenstille werden und sich vor Schrecken in ihre Zellen flüchten.“ Das Urteil des Medizinalkollegiums über diese Elsersche Maßnahme war erneut

eher positiv:

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„Im Allgemeinen ist es nicht gerade zu verwerfen, daß ein unbändiger Irrer mittelst das Schreckens, den ihm ein anderer verursacht, zur Ruhe gebracht werde. Ob das Mittel im vorliegenden Falle zweckmäßig gewählt sey, läßt sich aus den obigen Angaben durchaus nicht entscheiden.“ In dem Konflikt zwischen Endres und Elser trat das Medizinalkollegium auf die Seite des Irrenarztes und empfahl dem Ministerium des Innern, Elser bei der Behandlung und Aufsicht im Irrenhaus freie Hand zu geben. Die Medizinalbehörde zeigte sich ausschließlich interessiert an einer Auskunft über die äußere Ordnung, „den Bestand und Gang“ und über die Entlas­ sungsumstände in der Zwiefaltener Anstalt, für die ihr Elsers Berichte zu­ friedenstellend erschienen. Beide Oberbehörden, das Medizinalkollegium wie das Ministerium des Innern, sahen Elser bis zum Ende der 1820er Jahre in der Rolle eines qualifizierten und tüchtigen Irrenhausarztes, der in der einzigen öffentlichen Anstalt Württembergs auf der Höhe des europäischen seelenkundlichen Wissens über die Beurteilung und Behandlung von Irren wirkte. Schließlich waren dafür auch staatliche Gelder verausgabt worden, wie die Finanzierung zweier Studienreisen von Elser nach Paris 1824 und ein Jahr später zur deutschen Modellheilanstalt auf dem sächsischen Son­ nenstein. Elser selbst ließ keine Gelegenheit verstreichen, gegenüber Endres und der Regierung des Donaukreises seine Kenntnis der neusten psychiatri­ schen Literatur - z. B. durch Einstreuen von Zitaten in seine ärztlichen Berichte - und seine freundschaftlichen Beziehungen zu den Berühmtheiten in diesem Feld hervorzuheben. So teilten laut Elser der französische Arzt Jean Esquirol, Schüler von Philippe Pinel und seit 1810 leitender Arzt der Salpetriere, sowie der ärztliche Direktor der Sonnensteiner Anstalt, Emst Pienitz, seine Grundsätze bei der psychischen Behandlung der Irren und bestätigten und lobten ausdrücklich Elsers ärztliche Fähigkeiten. Elser be­ merkte etwa in seinem Reisebericht über die Heilanstalt Sonnenstein: „Es ist eine erfreuliche psychologische Erscheinung, wenn 2 Arzte, die sich nie sprachen, über 60 Meilen von einander entfernt, durch eigenes Nachdenken und eigene vorurtheilsfreye Erfahrung zu dem nämlichen Resultat gelangt sind, als wenn sie Schüler eines Meisters in die nämliche Schule gegangen wären. Dies ist in Wahr­ heit der Fall mit Dr. Pienitz und dem Referenten. Derselbe schrieb mir unaufgefor­ dert in das Buch der Beschreibung von dem Sonnenstein: ,Dem ... Dr. Elser, der in Behandlung der Irren ganz meine Ansicht theilt, zum Beweise meiner Achtung und Ergebenheit*.“29

29 Bericht Elsers über die Irrenheilanstak auf dem Sonnenstein an die Regierung des Donaukreises vom 18.11.1825, in: STAL, E 163 Bü 29.

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Ein gut Teil an der Unwilligkeit der Oberbehörden, das irrenärztliche Wir­ ken näher zu untersuchen und die Unterbringungskonditionen der Anstalt zu verbessern, war Ergebnis des Einflusses der Autenriethschen Lösung des Irrenproblems innerhalb der Württemberger Reformbürokratie. Die Grund­ satzdiskussion über die Bestimmung des Zwiefaltener Instituts zu einer (über die alten Insassengruppen hinaus erweiterten) Heil- und Verwahrungsan­ stalt, die Elser mit gestärktem Selbstbewußtsein nach seinen beiden Reisen, neu entfachte, zeigte deutlich, daß eine Entscheidung zugunsten des schwer­ punktmäßigen Ausbaus von Zwiefalten zu einer Heilanstalt „durch die Hin­ tertür“ einer Generalreform nicht durchzusetzen war. Nach seiner Rückkehr aus Paris hatte Elser nämlich erneut seine Kritik an dem „Bauwesen und der inneren Einrichtung“ von Zwiefalten formuliert, die schließlich in dem Versuch gipfelte, „die höchste Staatsbehörde zu über­ zeugen, daß es räthlich wäre, das Institut theilweise oder in gänze anders­ wohin zu verlegen, wenn dasselbe seiner Bestimmung und seinem Zwecke als Heilanstalt entsprechen soll“: „In Hinblick auf die Lage von Zwiefalten hätte für eine Irrenanstalt keine unglück­ lichere Wahl getroffen werden können. Zwiefalten liegt in einem tiefen engen Thale von 3 Seiten mit Gebürg umgeben; in den Wintermonaten gehet die Sonne schon um 2 Uhr hinter dem düstem Tannengebürge gegen Südost unter, so daß man während dieser Zeit in den finstern Zellen des Erdgeschooßes auch einen groben Druck nicht zu lesen im Stande ist. ... In Wahrheit! - Wenn ein gemüthskranker Unterländer aus dem schönen Altwürttemberg die Steige von Huldstetten oder Hayingen herabfährt, oder ein Neuwürttemberger aus der schönen Gegend der Donau, der Riß oder des Bodensees in diesen Cul de Sac hineinkommt u. noch so viel Besinnungskraft besitzt, daß er vielleicht erwäget, er werde Jahre lang oder gar sein ganzes Leben in dieser Einöde zubringen müssen: welch' ein schweres Gefühl muß schon bey der Ankunft dessen krankes Gemüth erdrücken.“30 Das genaue Gegenbild hatte Elser auf dem sächsischen Sonnenstein besich­

tigt: „Die Aussicht auf dem Schlosse ist entzückend und wohl einer der schönsten Punkte in ganz Deutschland; hier wo sich das beengte Elbethal sich auf einmal öffnet, erblickt man von allen Seiten herrliche Gebürgsmassen, Wiesen, Fluren, Weinberge, Dörfer und Städte in mannigfalten Gestalten, die Thürme von Dresden, die Gegend bis gegen Meissen, gegen Westen bis an das Erzgebürg hin, östlich in blauer Ferne die laufenden Anhöhen der Lausitz, wie auf einer Mappe panoramisch ausgebreitet

30 Vorschlag Elsers an die Regierung des Donaukreises am 18.6.1824 „das Irreninstitut von Zwiefalten nach Weingarten oder wenigstens die Irrenheilanstalt nach Ammern unweit Tübin­ gen zu verlegen“, in: STAL, E 163 Bü 772.

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auch versicherte mich der Hausarzt daselbst Mcd.rath Dr. Pienitz, daß dieser malerische Anblick auf die schwermüthigen Irren einen wunderbaren Eindruck ma­ che."31

Es war aber keineswegs allein die „gesunde, angenehme Lage“ der besuch­ ten auswärtigen Irrenanstalten, die zuungunsten von Zwiefalten in die Waagschale fiel. Elser hatte als weitere nachahmenswerte fremde Regelun­ gen aufgezählt: die Freiheit des ganztägigen Umhergehens, die die Pariser Anstaltsinsassen genossen, „während die Unsrigen, die Arbeitenden ausge­ nommen, 21-22 Stunden in ihren dunkeln Zellen eingeschlossen bleiben, und dort aus Mangel an Zerstreuung ihre Geistesthätigkeit vollends einbüssen, weil sie des Nachmittags nur einige Stunden herausgelassen werden“; die gemeinschaftlichen Wohn- und Schlafzimmer und die besonderen Re­ konvaleszenzabteilungen; die einfacheren Anstaltsaufnahmebedingungen in Frankreich, die zur Folge hätten, daß die Irren „schon beim ersten Anfalle dorthin gebracht werden“, während sie in Württemberg erst als Unheilbare eingeliefert würden; die separate Unterbringung der „Vermöglichen“ und ihrem Stand angemessene Beschäftigung dort; zusammengefaßt das Bemü­ hen, der Irrenanstalt den Charakter einer „bürgerlichen Wohnung“ zu ver­ leihen wie auf dem Sonnenstein, wo „man keine Gitter, keine Staketen, keine doppelten Thüren mit Riegeln und Schraubenschlössem erblickt“.32 Diese baulichen und organisatorischen Verbesserungsvorschläge von Elser 1824/25 im Anschluß an seine Reisen nach Paris und Sachsen, die erneut das ärztliche Interesse an einer Veränderung der Zwiefaltener Insassenstruk­ tur - von „Unheilbaren“ aus den ländlichen Unterschichten in „heilbare“ Patienten aus bürgerlichen Schichten - reflektierten, waren zum großen Teil schon seit seinem Amtsbeginn in der behördlichen Diskussion. Neu war allerdings Elsers radikale Schlußfolgerung, daß ihre Einlösung - auch wegen des geringeren Kostenaufwandes - nach dem sächsischen Modell zwei ge­ trennte Einrichtungen erforderten: die Neuerrichtung einer separaten Heil­ anstalt (wie auf dem Sonnenstein) an einem anderen Ort als Zwiefalten, das als Verwahranstalt für die Unheilbaren (wie das sächsische Waldheim) wei­ terbestehen bleiben sollte. In eine „schöne“ Anstalt würden die „höheren Stände“ endlich ihre Irren abgeben, hoffte Elser. Zudem wären zwei Anstal­ ten in Württemberg auch dem Zahlenverhältnis zwischen einer Bevölkerung von 1,5 Millionen und einem im Vergleich zu den Nachbarstaaten Baden und Sachsen errechneten Erkrankungsanteil von ungefähr 300 Irren ange31 Bericht Elsers über die Irrenheilanstalt auf dem Sonnenstein (wie Anm.29). 32 Ebd. sowie Bericht Elsers über das Resultat seiner Reise nach Paris und Vorschläge für die Verbesserung des Irrenhauses am 9.9.1824, in: STAL, E 163 Bü 772.

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messen, argumentierte Elser. Das Medizinalkollegium wies in seiner Erwi­ derung abermals auf den besonderen Zweck der Anstalt hin und stellte zugleich die vorausgesetzte Annahme, daß die Anstalten der beste Ort für die Heilung von Seelenstörungen seien, in Frage:

„Seiner Hauptbestimmung nach ist das gegenwärtige Irrenhaus allerdings mehr ein bloser Verwahrungsort, in welchem übrigens sowohl die Menschlichkeit als das Interesse des Instituts selbst die Fortsetzung aller thunlichen Versuche zur Wieder­ herstellung der Verwahrten gebieten. Daß in einem solchem, im Grunde zur Detention der schlimmem Irren bestimmten Hause die Heilung seltener gelingen wird, ist begreiflich. Dagegen ist noch sehr zu bezweifeln, ob eben so viele Geisteskranke als gegenwärtig unter Behandlung einzelner Ärzte in ihrem Heimwesen geheilt werden, auch geheilt werden würden, wenn sie gleich beim Beginn ihres Übels in eine allge­ meine Heilanstalt für Irre, wie z. B. die Salpetriere in Paris gebracht würden.“35

Außerdem mochte das Medizinalkollegium der scheinbar problemlosen Be­ urteilung und institutionellen Trennung von heilbaren und unheilbaren Irren nicht folgen. „Überdies aber lassen sich die Geistes- und Gemüths-Krankheiten nicht so scharf in heilbare und unheilbare abtheilen, um auf diese Verschiedenheit eine Sonderung der Irren in zweierlei Anstalten zu grün­ den.“ Noch deutlicher als die Medizinalbehörde wies schließlich das Mini­ sterium des Innern das Ansinnen Elsers zurück, es sei Aufgabe des Würt­ temberger Staates, die Irrenheilungsprogrammatik zu seiner institutionellen Sache zu machen. „Abgesehen davon, daß die Bestimmung der bestehenden Staatsanstalt [Zwiefalten, D.K.] schon zu Folge ihres verhältnismäßig geringem Umfangs vorzugsweise in die Verwahrung von Irren, welche die öffentliche Sicherheit gefährden, und deren Hei­ lung aufgegeben ist, gesetzt werden muß, daß eine der Zahl der Bedürftigen auch nur annähernd entsprechende reine Heilanstalt für Irre zur Zeit unter die Zwecke des Staats nicht aufgenommen ist, und daß man mit Recht bezweifeln darf, ob hinreichender Grund für die Staatsverwaltung vorhanden sey, sich eine solche An­ stalt in der bemerkten Ausdehnung zur Aufgabe zu machen, so ist keineswegs dargethan, daß die Erreichung des mit der Verwahrung immerhin zu verbindenden Zwecks der Heilung durch die Verhältnisse zu Zwiefalten in einem Grade erschwert sey, der keinen andern Ausweg, als die Versetzung der Anstalt übrig lasse.“54

,J Bericht des Medizinalkollegiums an das Ministerium des Innern vom 8.2.1825, in: HSTAS, E 146 Bü 1730. 34 Mitteilung des Ministeriums des Innern an die Regierung des Donaukreises am 30.3.1825, in: STAL, E 163 Bü 772. Die Rolle der Privatanstalten wurde hier nicht erwähnt, wohl aber in der gutachtlichen Äußerung des Medizinalkollegiums (Anm. 33) angesprochen, in der nochmals die Frage aus der alten Autenrieth-Diskussion aufgeworfen wurde, „ob für den blosen Heil­ zweck der Staat mittelst einer eigenen Anstalt oder durch Begünstigung von Privatuntemehmungen besser Sorge tragen würde“.

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Im Klartext hieß das, der Anstaltsarzt solle sich im Rahmen der baulichen und administrativen35 Gegebenheiten um die bestmöglichen Heilungsbedin­ gungen bemühen. In Fragen, die die ärztliche Behandlung beträfen, wie die Separation der Insassen oder das Auffinden geeigneter Beschäftigungsmög­ lichkeiten, so versicherte auch die Regierung des Donaukreises, würden ihm keine Vorschriften gemacht.36 In der Tat hatten sich - parallel zur Reformdiskussion - Alltagsstrukturen in der Anstalt herausgebildet, die wesentlich von Elsers Krankenbeurteilung und Behandlung, von dem Ausmaß an sozialer Verhaltensabweichung auf Seiten der Irren, von ihrer Arbeitsfähigkeit und sozialen Schichtzugehörig ­ keit abhängig waren, und die das Leben für verschiedene Insassengruppen unterschiedlich bestimmten. Die Irrenanstalt war zu Beginn des 19. Jahrhun­ derts keineswegs wie der bisher dargestellte behördliche Reformdiskurs und mehr noch die Lektüre von verschiedenen frühen Anstaltsordnungen glauben machen könnten, ein eindimensionales, alle Insassen gleichermaßen umfas­ sendes (und funktionierendes) Disziplinarsystem mit ineinandergreifenden Kontrollmechanismen. Dies läßt sich zum Beispiel anhand einer Untersuchung der Bedeutung der beiden von Hannes Stekl betonten „wichtigen Instrumente im Disziplinarapparat der Zucht- und Arbeitshäuser* des 17. und 18. Jahrhunderts zur Durchsetzung „einer geregelten Lebensführung“ in der Zwiefaltener Irren­ anstalt zeigen. Weder setzte sich dort eine von der Anstaltsleitung - also fremdbestimmte - „minutiöse Zeitplanung“ anstelle der alten aufgabenbezo­ genen Verfügungsgewalt über die Nutzung der Zeit durch, noch „griff“ eine totale - mithilfe der spezifischen „Raumstruktur“ der Anstalten durchführ­ bare - äußere und innere Isolierung einschließlich einer vollständigen „hierarchisierten Überwachung“37 der Insassen. Diese beiden Disziplinarschritte waren während Elsers Amtsperiode in Zwiefalten keine das Anstaltsleben dominierende bzw. die Irren sozialisierende Faktoren. Zwar wurde jeder Tag durch feste, von der Administration vorgegebene Zeitpunkte für drei Mahlzeiten unterteilt, aber nicht nur die Kost, „gerin­ gere“ und „bessere“, differierte für unterschiedliche Gruppen, sondern auch die Verwendung und eigene Bestimmung der Zeit beim Essen selbst. Die von ” Elser hatte die Beantwortung der Frage gewünscht, wer - der Arzt oder der Inspektor „der erste Bediente“ der Anstalt sei und die Antwort erhalten, daß dieses vom jeweiligen Aufgabenkreis abhänge, und es keinen Grund gäbe, das zu ändern, ebensowenig wie die sorg­ fältige und staatlich kontrollierte Prüfung der Aufzunehmenden in die Anstalt. Bericht der Regierung des Donaukreises an das Ministerium des Innern vom 13.12.1824, in: HSTAS, E 146 Bü 1730. 37 H. Stekl, „Labore et fame“ S. 121 ff.

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Elser als „Thiermenschen“ bezeichneten Irren, d. h. die „unreinlichen “ und in ihren Lebensäußerungen extrem reduzierten Insassen, bekamen - ebenso wie die vom Arzt und von den sogenannten Irrenknechten als akut gefährlich

beurteilten Irren - ihre Schüssel mit Brotsuppe oder Fleischbrühe in die Zelle gestellt.38 Wie sie die Nahrung annahmen, z. B. diese überhaupt als solche erkannten und auf welche Weise sie sie aßen, wurde wiederum als Zeichen für ihren Geistes- und Gemütszustand beurteilt.39 Die Mahlzeiten hatten grundsätzlich einen zentralen Stellenwert im Leben in der Anstalt. Für die Insassen lag ihre Bedeutung angesichts des Mangels beinahe aller anderen sinnlichen Genüsse auf der Hand, und das Thema der erfüllten oder auch imaginierten und verlangten Befriedigung durch Essen nahm auch in den ansonsten eher knappen halbjährlichen ärztlichen Patientenberichten einen beachtlichen Platz ein. Als Beispiel sei Elsers Beschreibung des „Geistes­ und Gemüthszustands“ des 63jährigen ehemaligen Bibliothekars Georg P. angeführt.

„Ein fataler alter Knabe, mit dem nichts anzufangen ist! Er wäre im Stande, ein halb Dutzend Bediente, und ein Dutzend Köche zu beschäftigen; alle Tage ein neues Faß: bald sein Geburts-, bald sein Vermählungsfest; heute ist ihm ein Sohn geboren, morgen eine Tochter, heute möchte er das Geburtsfest des Kaisers Franz, morgen jenes des Hoch- und Deutschmeisters feyem p.p. - Sechs Schüsseln nicht mehr, und eine Boutaille Wertheimer, und ein paar Kelchgläschen Burgunder oder Frontignak! Wenn man alle seine schamlosen Anforderungen befriedigen wollte, so würden des Jahres 3000 fl. kaum hinreichen.“40

Im Gegensatz zu den in ihre Zellen eingesperrten Essern versammelten sich die übrigen Irren nach Geschlechtern getrennt zu einer gemeinsamen Mit­ tags- und Abendmahlzeit. Diese Einrichtung hatte Elser in Zwiefalten nach seinem Besuch der sächsischen Anstalt auf dem Sonnenstein eingeführt, wo ihn die Bürgerlichkeit des Hauses besonders am Beispiel des gemeinsamen Tafelns der Irren im Stil und mit allen Accessoires einer - so der Arzt „bürgerlichen Haushaltung“ beeindruckt hatte.41 Es ist anzunehmen, daß er mit der Nachahmung dieses Bestandteils bürgerlicher Lebensform sowohl eine Erziehungsabsicht verband, als auch den von ihm angestrebten Cha-

58 S. den „Entwurf zu einer gebesserten Speise-Ordnung im Irrenhaus“ des Irrenhausinspek­ tors Ege vom 4.6.1820, in: STAL, E 163 Bü 770. 39 Nicht immer waren die Beispiele so drastisch wie im Fall des Wilhelm S., bei dem Elser (Bericht an die Regierung des Donaukreises vom 25.6.1820, in: STAL, E 163 Bü 769) bemerkte: „mischt die Speisen mit seinem eigenen Koth und genießt sie so“. 40 Ärztlicher Bericht über den Geistes- und Gemüthszustand der Wahn- und Blösinnigen im Irrenhaus zu Zwiefalten zu Anfang des Jahres 1818, in: STAL, E 163 Bü 778. 41 Wie Anm. 29.

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rakter der Anstalt demonstrieren wollte. Die Umsetzung dieser Programma­ tik in die Praxis schien jedoch ein zweifelhaftes Ergebnis hervorzubringen. Diese Auskunft verdanken wir einem, alles andere als objektiven, aber un­ zweifelhaft bürgerlichen Beobachter, dem Stuttgarter Obermedizinalrat Dr. Heinrich Köstlin, der in seinem Visitationsbericht von 1835, auf den später noch zurückzukommen sein wird, eine gemeinsame Mahlzeit in der Anstalt schilderte. „Der Anblick jener sogenannten gemeinsamen Mahlzeiten war nicht erfreulich; an einem ungedeckten Tisch, an dem kein Wärter oder Wärterin Platz nimmt, aßen aus ihren Portionen-Schüsseln in Anordnung, einige Kranke stehend, andere sitzend, einige ohne Löffel, alle ohne Gabel und Messer und das ihnen unzerschnitten in der Gemüs-Portion vorgesezte Fleisch mit den Fingern fassend und mit den Zähnen zerreisend; weder vor, noch nach dem Essen wird etwas gesprochen oder gebetet.“42 In der anschließenden Auseinandersetzung über das Recht der Irren, Messer und Gabel - Symbole der Mündigkeit - zu benutzen, führte der leitende Arzt der Winnenthaler Heilanstalt Dr. Zeller, vom Medizinalkollegium um eine Stellungnahme gefragt, aus:

„Seitdem die genaue Sonderung der unruhigen von den ruhigen Kranken überall durchgeführt ist, findet man durchaus keinen Grund, warum man an denjenigen Tischen, wo ganz unverdächtige Kranke zusammen speisen, den Gebrauch von Mes­ ser und Gabel nicht gestatten sollte, da es doch Manchem höchst fatal wäre, für alle Speisen ohne Unterschied nur den Löffel zu haben. Ueberdieß sind die Messer vom abgerundet, auch die Gabeln halb stumpf, so daß, da außerdem während des Essens beständig ein Wärter resp. Wärterin zugegen ist, auch bei etwa entstehenden Strei­ tigkeiten, kein bedeutender Schaden damit angerichtet werden könnte. Kranke, die auch nur periodisch aufgeregt sind, erhalten fortwährend blos einen Löffel.“43 Genau auf diese angeführten Vorausetzungen bzw. die hier präsentierte Definitionssicherheit konnte Elser jedenfalls bis zur Gründung von Win­ nenthal mit der institutionellen Trennung von sogenannten Heilbaren und Unheilbaren - letztere mehr oder weniger identisch mit den in den Worten Zellers „verdächtigen “ und/oder „periodisch aufgeregten Irren — nicht zu­ rückgreifen. Seine Tischgesellschaft setzte sich aus den beiden in der Zuge­ hörigkeit wechselnden Gruppen von arbeitenden und unter dem kleinsten Nenner von andere-nicht-störenden Irren zusammen. Die Größe dieser Gruppen im Verhältnis zu den ganztägig Eingesperrten in Zwiefalten ist fast

42 Visitationsbericht des Obermcdizinalrats Heinrich Kösthn an das Stuttgarter MedizinalKollegium vom 15.7.1835, in: STAL, E 163 Bü 772. 45 Schreiben von Dr. Zeller an die Königl. Oberinspektion der „Detentionsanstalt Zwiefal­ ten“ am 13.12.1836, in: STAL, E 163 Bü 772.

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unmöglich anzugeben, da Elser in seinen Berichten darüber keine Auskunft gab.44 Für ihn gehörten bis auf die „Thiermenschen“45 alle anderen Irren grundsätzlich zunächst zu den Heilbaren mit dem Anspruch auf eine ärzt­ liche Behandlung, auf Beschäftigung und damit auf Bewegungsräume in und außerhalb der Anstalt. Wie schon aus den Fallgeschichten erkennbar war, die Endres als Beispiele für fehlende Kontrolle, falsche ärztliche Behandlung und verspielte Autorität angeführt hatte, bezeichneten auch die Elserschen Klassifikationen des Geistes- und Gemütszustandes der Insassen und Insas­ sinnen wie blöde, toll und rasend keineswegs die beiden Lebensaltemativen in der Anstalt, nämlich entweder ganztägige oder zeitweilige Einsperrung mit einem gewissen eigenen Verfügungsgrad über Bewegungsräume und Zeitverwendung. Und auch ein Unheilbarkeitsurteil war wie ebenfalls dort ersichtlich nicht gleichbedeutend mit dem andauernden Eingeschlossenwer­ den.46 Beide Daseinsformen wurden jedoch von Elser aufgegeben und waren zu­ gleich auch eingebettet in ein Straf- und Belohnungssystem im Rahmen seiner Interpretation der psychischen Kurmethode. Gab es wenigstens geringfügige Möglichkeiten für die noch handlungsfähigen Betroffenen, z. B. durch ein bestimmtes Wohlverhalten, dem Schicksal des ständigen Eingesperrtseins zu entgehen und damit die eigenen Uberlebenschancen in der Anstalt zu verbes­ sern? Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, sind noch einige Ausführungen zu den Lebensbedingungen in der Anstalt notwendig. Daß die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gruppe tatsächlich eine Frage von Leben und Tod sein konnte, wurde von dem Irrenarzt selbst in seinen Verhandlungen um Verbesserungen in der Unterbringung hervorgehoben. Nach Elser und Medizinalrat Endres bestand in mehrerer Hinsicht ein größeres Risiko für das Leben der dauernd Eingeschlossenen. Sie liefen zum einen in Gefahr, sich wegen des Daueraufenthalts in den feuchten Zellen, insbesondere in den für die Tobenden befestigten bzw. für die „Unreinli­ chen“ bestimmten Zellen in den Erdgeschossen der Klostergebäude, körper­ liche Krankheiten wie „Diarrhöen, hydropische Anschwellungen, Scorbut und andere catarrtische Krankheitsformen“47 zuzuziehen. Zum anderen wa-

44 Köstlin nannte in seinem Visitationsbericht 1835 (wie Anm.42) 10-11 männliche (von insgesamt 48) und 11-12 weibliche (von insgesamt 23) Irre, die zu den Tischmahlzeiten zu­ sammenkamen. 45 Diese Charakterisierung verwandte Elser z.B. in seinem ärztlichen Bericht von 1818 (wie Anm. 40) 3 mal bei Männern und 5 mal bei Frauen. 46 Elser gab 1823, 1828, 1833 und 1837 in seinen ärztlichen Berichten 26, 32,31 und 264-18 (Blödsinn mit Manie) „Blödsinnige“ an. 47 So Endres in seinem Anstaltsvisitationsbericht an die Reg. des Donaukreises vom 13.6.1825, in: STAL, E 163 Bü 770.

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ren sie besonders betroffen von den zeitgenössisch als äußerst gesundheits­ zerstörend geltenden Auswirkungen der ihnen angeblich spezifisch anhaf­ tenden „Unreinlichkeit“, d.h. eines eigenen, ihnen sozusagen innewohnen­ den „ekelhaften“ Geruchs, und sie waren besondere Leidtragende der ärzt­ lich beklagten organisatorischen Unmöglichkeit, ihre Ausscheidungen so schnell und vollständig wie eigentlich nötig aus den Zellen entfernen zu können.48 Elser bestritt die Wirkung des herkömmlichen und üblicherweise praktizierten Räucherns der Zellen mit Wacholder und versuchte erfolg­ reich, die Anschaffung von Ventilatoren zu erzwingen, indem er 1820 den Anstaltsinspektor beschuldigte, den Tod des Irren D. „wegen nicht ange­ wandter Sorgfalt bei der Luftreinigung“ verursacht zu haben.49 Neben diesen Gefahren für die Gesundheit des Körpers drohte den beständig Eingesperr­ ten im Urteil des Irrenarztes aber auch der endgültige, völlige Niedergang aller Geistes- und Gemütskräfte „infolge der Einsamkeit und Langeweile“, die im Winter noch verstärkt durch die völlige Dunkelheit in den Zellen hervorgerufen würden und die Irren in ein „dumpfes Hinbrüten“ treibe. War schon damit ein Verlöschen von ärztlichen Heilungshoffnungen angespro­ chen, wurde deren definitives Ende durch eine sich angeblich mit der Zeit entwickelnde, noch verheerendere Auswirkung dieser andauernden Zellen­ unterbringung markiert. Im Jahr 1831 meldete die Regierung des Donau­ kreises dem Innenministerium Elsers Report von der alarmierenden Zunah­ me des „Lasters der Selbstbefleckung “ bei den dauernd eingeschlossenen Irren und zwar „nicht nur bei den jungen Leuten, sondern selbst bei den Männern“. Sie stellte sich hinter den dringenden erneuten Vorschlag Elsers, „in den Höfen bedeckte Gänge“ zu bauen, um die Irren mehr als „nur auf einige Stunden hinauslassen“ zu können. Daneben unterstützte die Kreisre­ gierung Elsers Vorschlag, „die Irren während des Sommers beständig im 48 In allen Visitationsberichten wurde beim Betreten der Anstalt ein „sehr unangenehmer Geruch“ (so z. B. im Visitationsbericht von 1822, Anm. 19) von den Besuchern konstatiert. Das Herauszögem der Reparatur bzw. einer von Elser beantragten Neueinrichtung der Badeeinrich­ tungen in Zwiefalten auf Seiten der Ministeriaibürokratie kann als ein Indiz für deren Mißtrauen gegenüber dem Heilungsparadigma von Irrsinn gedeutet werden. - Welche grundsätzliche sym­ bolische Bedeutung der Geruchsfragc zukam, wird in Elsers Reisebericht über die sächsische Heilanstalt auf dem Sonnenstein (Anm. 29) deutlich. Er lobte: „Der Besucher wird nicht durch einen ekelhaft stinkenden Geruch zurückgestoßen, wie in so manchen anderen Irrenhäusern in und außer Deutschlands“. Das war ein eindeutiges Zeichen für die buchstäblich durchgängige, d.h. auch die Körper der Irren erfaßt und sie vom Stigma des Anderssein befreit habende Bürgerlichkeit dieser Heilanstalt. 49 Bericht des Oberinspektors Ege an die Regierung des Donaukreises vom 20.5.1820, in: STAL, E 163 Bü 778, dort das Zitat aus dem ärztlichen Bericht, der Irre D. sei „durch die eingesperrte Stubenluft so welk geworden, daß er immer kränkele, und wohl gar an der Abzehrung sterben werde“.

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Freien und im Winter ebenfalls den ganzen Tag im Versammlungssale“ sich aufhalten zu lassen. Konkret bedeutete dieser Antrag die erneute Bitte um die Einstellung von mehr Wärtern und Wärterinnen. Mit dem 1825 im Visitationsbericht er­ wähnten „Wärter-Personal“, d.h. vier „Irrenknechte“, ein Krankenwärter, vier Mägde, eine Krankenwärterin und eine Köchin, über die zwei „Irren­ meister“ und eine „Irrenmutter“ die Aufsicht hatten, war es nur möglich, die Gruppe der dauernd Eingeschlossenen - trotz Elsers Überzeugung von

der heilsamen Wirkung des Aufenthalts im Freien - ein bis zwei Stunden täglich auf den Hof zu führen und einen Spaziergang in der Woche zu unternehmen. Zusätzlich zu ihren Aufsichts- und Pflegeaufgaben waren die Irrenknechte mit Haus- und Gartenarbeiten und die Mägde mit „Waschen, Putzen und Nähen“ in dem Wirtschaftsbetrieb, den die Anstalt gleichzeitig abgab, beschäftigt.

„Will man aber den Irren mehr Bewegung, mehr Freiheit im Umgang und einen längeren Aufenthalt in der Luft gestatten, so ist dieses Personal offenbar schon aus dem Grund zu klein, weil zur Erledigung eines Wahnsinnigen im Anfalle der Wuth 3-4 starke und des hiezu nöthigen Manövres kundige Personen erforderlich sind. Auf 24 Irren werden sechs Wärter kaum hinreichend seyn, um in dem Salon, im Garten, den Höfen, in den Tollstuben, beym Baden und beim Tisch die gehörige Aufsicht zu führen und Sicherheit zu gewähren.“50 Diese Ambivalenz, einerseits für die Irren mehr Freiheit wegen der größeren Heilungschancen zu fordern und andererseits im gleichen Atemzug vor ihren jederzeit möglichen „Anfällen von Wut“ zu warnen, führte in der Praxis doch wieder zur Dominanz des alten Kontroll- und Sicherheitsansatzes. So wurden die männlichen Wärter nach ihrer Fähigkeit ausgesucht, die Irren „bändigen“ zu können. Fast ausnahmslos kamen sie aus früheren Militär­ diensten31 und waren deshalb vertraut mit einem Disziplinarsystem, in dem der Prügelstrafe eine hervorragende Rolle zukam. In der Interaktion zwi­ schen den Wärtern und der Gruppe der sogenannten tobenden und/oder gefährlichen Irren spielte die körperliche Auseinandersetzung die entschei­ dende Rolle. Da das körperliche In-Schach-halten-können der „tobenden“ Irren die grundsätzliche Daseinslegitimation der Wärter ausmachte und ihr Wertsystem prägte, konnte die Gruppe von Insassen, deren Ausdrucksform

50 Auf die Verhältnisse der Zwiefaltener Anstalt bezogen, hieß diese Forderung eine Ver­ doppelung des Anstaltspersonals; Visitationsbericht des Medizinalrats Endes an die Regierung des Donaukreises, in: STAL, E 163 Bü 770. 51 Von den 32 Bewerbern um die Irrenmeisterstelle im Jahr 1822 kamen 25 aus Militär- und 2 aus Gendarmeriediensten; s. „Tabelle über die Competenten um die erledigte Irrenmeistcrstelie zu Zwiefalten“, in: STAL, E 163 Bü 748.

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von Irresein mit physischer Kraftentfaltung gekoppelt war, oftmals auch ihren Respekt erringen - entsprechend etwa dem Ansehen, das jedem extrem

starken Knecht in einem ländlichen Dienstverhältnis auch entgegengebracht wurde. Dies hatte in gewisser Weise eine Positionsaufwertung des Betref­ fenden im Sozialgefüge Anstalt zur Folge, konnte aber auch - im Falle die Furcht vor der Kraft des Irren überwog - auf die Lebensbedingungen des beteiligten männlichen Irren eine sehr negative Auswirkung haben, denn die Wärter hatten an dem Urteil der Gefährlichkeit, das die dauernde Einsper­ rung nach sich zog, nicht unerheblichen Anteil. Der Elsersche Bericht über den 26jährigen, ehemaligen Soldaten Michael S. aus Neresheim beschreibt diese Ambivalenz.

„Michael S. ist in dem ärztlichen Berichte [von Elsers Vorgänger, D.K.] wegen seiner außerordentlichen Stärke als ein sehr gefährlicher Mensch beschrieben, und in der That: allemal hat ein epileptischer Anfall auch die Tobsucht zur Folge; außer dem Anfall aber spricht er so vernünftig, daß man auch nicht die mindeste Spur von Geistesstörung an ihm bemerkt. Hiedurch und weil sich der Mensch in hohem Grade zu verstellen weiß, traute man anfänglich zu viel, bis wir endlich von der Wahrheit des ärztlichen Berichtes selbst überzeugt wurden. Er fiel nämlich beym Holzsägen plötzlich die Knechte mit solcher Wuth an, daß ihn 2-3 Mann kaum zu bändigen vermochten. Hierauf wurde (er) aus Gründen der notwendig gewordenen Sicherheit in seiner Zelle eingeschlossen. Er schob die Schuld auf die Knechte und drohte ihnen mit Rache und obgleich der Hausarzt ihn zu überzeugen suchte, das diese an der gefänglichen Haft ganz unschuldig seyen, so griff er dennoch einmal von dem bos­ haften Friedrich H. aufgehetzt, den Krankenwärter an; zum Glück hatte dieser den Befehl erhalten, sich nie dem S. allein zu nahen, sondern immer sich von einem Sekundanten begleiten zu lassen. Nun erblickten wir alle einen Grad von Wuth, dergleichen uns noch nie unter die Augen gekommen! Als ihm schon die Zwangswe­ ste mit unsäglicher Mühe - alle 5 Knechte schwitzten, als wenn sie par force gejagt worden wären - [angelegt worden war, D.K.], sprang er rasend auf den Hausarzt los und wollte denselben mit Fuß und Kopf gleich einem wüthenden Stiere in Ge­ genwart wenigstens 12 Personen widerstehen. Den folgenden Tag wurde der Vor­ gang genauer untersucht: die Schuld kam wirklich auf den H. hinaus und S. bat flehend um Verzeihung, wurde aber, um in der Folge seine Wuth zu bändigen mit 6 Karbatschenstreichen bestraft. Er hielt die Strafe mit mannhafter Resignation aus und gestand selbst, daß er sie wohl verdient habe. Diese Strafe hatte wirklich den erwünschten Erfolg. S. ist seit 9-10 Wochen dem Anschein nach der gutmüthigste Mensch. Die Offizianten und Knechte fürchten ihn aber noch immer, und er mußte deswegen 2 Monate die Zwangsweste tragen.“52

52 Ärztlicher Bericht über den Geistes- u. Gemüthszustand der Wahn- u. Blödsinnigen in dem Königl. Irreninstitut zu Zwiefalten, Georgii 1823, in: STAL, E 163 Bü 778.

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I Nicht zufällig verfiel der Arzt in diesem Patientenbericht mehrmals in die „Wir-Form“. Schließlich waren es die Wärter, die anders als Elser, der nur einmal täglich seine dreiviertelstündige Runde machte, einen direkten, ganz­ tägigen Kontakt zu den Irren hatten und auf deren Beobachtungen und Urteil er angewiesen war. Die Irrenknechte, die am untersten Ende der Bedienstetenhierarchie angesiedelt waren, teilten überdies eine gemeinsame Raumerfahrung mit den Irren. Sie bewohnten ebenfalls Zellen in dem ehe­ maligen Kloster. Der Ablauf des Anstaltslebens war in hohen Maße von der Art des Um­ gangs des Anstaltspersonals mit den Irren geprägt. Dies um so mehr, als es eben noch keine Ordnung der Anstalt gab, die anderen Normen folgte als denen der ländlichen Gesellschaft, der Wärter, Wärterinnen, Insassen und Insassinnen gemeinsam angehörten. Im Falle von Zwiefalten waren bei feh­ lender Hausordnung auch die informellen Dienstinstruktionen noch nicht von besonderen „medizinisch-wissenschaftlich“ begründeten Verhaltensan­ leitungen bestimmt. Die nicht zu Unrecht am Beispiel der Patientenberichte von dem Ulmer Medizinalrat Endres beklagte „unsystematische“ Amtsfüh­ rung von Elser, der z.B. eindeutige „Lieblingspatienten “ hatte, über die er längere Berichte verfaßte, während er über andere Insassen keine Aufzeich­ nungen machte und sich für die weiblichen Irren durchgehend weniger in­ teressierte, verstärkte die Freiräume und damit die Bedeutung des „Anstalts­ personals“. Eine Tatsache, der Elser im übrigen auch Rechnung trug, indem er die Anträge der Bediensteten auf höhere Entlohnung und zusätzliche materielle Zuwendungen gegenüber der Regierung des Donaukreises meist unterstützte.53 Zudem duldete er den Zuverdienst der beiden Irrenmeister, die Fremde gegen Entgelt durch die Anstalt führten. Doch war sich der Irrenarzt gleichzeitig wohl bewußt, daß die männlichen Wärter in Zwiefal-

53 Bei der Visitation von 1822 z.B. bat die Krankenwärterin um Erhöhung ihres Jahreslohns von 40 auf 50 fl., was ihr auf Fürsprache des Irrenhausinspektors Ege, unterstützt von Elsers Bemerkung, „daß der Dienst der Bittstellerin sehr beschwerlich sey, indem sie auch die Wäsch der unreinen Irren zu besorgen habe“, auch gewährt wurde. Ein Zeichen der geschlechtsspezi­ fisch ungleichen Entlohnung war die gleichzeitige Aufbesserung des Jahresgehalts des Kran­ kenwärters von 60 auf 65 fl., „wiewohl er keine solche ekelhafte Verrichtungen hat wie die erstere“, wie der Bericht der Regierung des Donaukreises (an das Ministerium des Innern vom 27.11. 1822, Anm.23) feststellte. An der Spitze des Anstaltspersonals standen die beiden Irren­ meister. Die negative Antwort auf das bei der Visitation von 1828 vorgebrachtc Gesuch des Irrenmeisters S. „um Bewilligung eines Zehrgeldes bei der Begleitung der Irren in die Wirthäuser zu Zwiefalten“ enthielt die Angabe seines Jahresgehalts von 300 fl. in Geld, freier Wohnung, 4 Klafter Brennholz und Medikamentenfreiheit; s. Bericht der Regierung des Donankreises an das Ministerium des Innern über die Visitation der Irrenanstalt zu Zwiefalten vom 6.10. 1828, in: HSTAS, E 146 Bü 1730.

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ten untauglich waren, seine ärztlichen Therapieversuche zu unterstützen. Nach seinem Besuch der Salpetriere lobte er das dortige Anstaltspersonal:

„Den ,gens de Service* ist es strenge verboten, die Irren durch Schläge zu mißhan­ deln, und da diese im Fall einer guten Aufführung einer lebenslänglichen sorgenfreyen Verpflegung entgegensehen; da ferner die barmherzigen Schwestern nicht so wohl um Lohn dienen, sondern aus christlicher Liebe sich diesem schweren Krankendienst widmen, und da endlich der Lohn eines Dienstmädchens sich jährlich auf 120 Francs nebst einem Schoppen Wein täglich und einer guten Kost beläuft, so hat man unter dem weiblichen Gesinde in Paris die Auswahl, und darf wirklich einer menschen­ freundlichen Behandlung der Irren versichert seyn.“54

Eine solche „menschenfreundliche Behandlung** war nun insbesondere wich­ tig für die Gruppe von Insassen, die Elser überhaupt empfänglich für eine differenzierte über die physische Kontrolle hinausgehende menschliche

Kommunikation hielt und ärztlich mit der psychischen Kurmethode behan­ delte. Welches Verhalten „qualifizierte“ im zeitgenössischen Sprachgebrauch nun einen Insassen oder eine Insassin für diese Patienten-Gruppe? „Sichere“ Ausschlußcharakteristika waren: das Beherrschtwerden von „tierischen Lei­ denschaften“ wie Hunger- oder Geschlechtstrieb, „fehler- oder mangelhaf­ ter Bau des Denkorgans“55 und offener Widerstand gegen den Arzt, die Wärter oder das Eingesperrtsein überhaupt. Im behördlichen Schriftwechsel wurden die behandlungswürdigen Irren als „gutmüthig“, „nicht unflätig“

und „ordentlich“ gekennzeichnet.56 Diese Eigenschaften schienen insbeson­ dere tauglich, die Erwartungen der Beamten an ein männliches Mitglied aus dem alten „Bürgerstand “ und aus dem „Bauernstand“ zu beschreiben, denen die meisten Irren in Zwiefalten angehörten.57 Sie bildeten auch die Voraus­ setzung für die „hermeneutische“ Verständigungsbereitschaft von Elser. Sein Eingehen auf die persönliche Geschichte eines männlichen Irren stieg mit der Höhe des sozialen Ranges. Doch betonte Elser ausdrücklich seine Fä­ higkeit, in die „psychische Sphäre“ der „ungebildeten Landleute“ herabstei­ gen zu können und dort „eine empfängliche Bauem-Psyche“ zu finden.

54 Bericht Elsers an die Reg. d. Donaukreises über seine Reise nach Paris vom 9.9.1824, in: STAL, E 163 Bü 772. ” So definierte Elser die „Blödsinnigen“, die einzige Gruppe von Irren, bei denen er eine körperliche Grundlage des Irreseins einräumte; s. seine Ausführungen im Anhang des ärztlichen Berichtes von 1818, in: STAL, E 163 Bü 778. >b S. Visitationsbericht von 1823 (wie Anm. 24); Bericht des Medizinalkollegiums an das Ministerium des Innern am 8.2. 1825 (wie Anm. 33); Visitationsbericht des Medizinalkollcgiums an das Ministerium des Innern vom 15.8.1825, in: HSTAS E 146 Bü 1730. 57 S. Anm. 71.

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„In der That muß sich, nach meinem Dafürhalten, der Arzt in Sprache und Beneh­ men zu dem gemeinen Volke herablassen, ohne sich den Respect zu vergeben, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Mit Vornehmtun erreicht man diesen Zweck selten oder gar nicht.“58 Diese proklamierte Distanz ließ Elser im Umgang mit den Irren jedoch durchaus vermissen. Er ärgerte sich zum Beispiel öfters sehr direkt über manche Insassen und kam keineswegs der Forderung nach einer leiden­ schaftslosen Ausschaltung „privater“ Gefühle im Arzt - Patient Verhältnis nach. So schrieb er z. B. in seinem Bericht über den Barbier Gottfried F.:

„Ein eingebildeter Geck voll der widersinnigsten Vorstellungen und dabey in hohem Grade anmaßend; er fand sich anfänglich höchlich beleidiget, als ich ihn nicht als College behandelte, - dagegen bin ich auch ,Hofmedicus’! Alle Tage leidet er an einer neuen Krankheit: heute ist sein Kopf geschwollen ... - morgen hat er seine Nase verbrannt, er will eine Brandsalbe; sodann hat sich in der Nacht ein ungeheurer Bruch gebildet, man muß ... ein Bruchband appliciren! Wenn man alle seine einge­ bildeten Krankheiten heilen wollte, eine ganze Officie wäre kaum hinreichend ... An Heilung des alten Narren ist nicht zu gedenken. Er ist ein Narr und bleibt ein Narr sein Leben lang.“59

Elser charakterisierte die Insassen und Insassinnen von Zwiefalten häufig mit beleidigenden und sarkastischen Ausdrücken und scheute auch - wie im fol­ genden Zitat - nicht vor politischen Assoziationen zurück. Seine Beschrei­ bungen ließen die Irren jedoch - mit Ausnahme der von ihm als „thierisch“ definierten Gruppe - als Subjekte und unterschiedliche Individuen bestehen. Martin M. aus Heidenheim wurde „von seiner Gemeinde, welche Vertrauen in seine Rechtlichkeit und vorzüglich in seinen Geldbeutel setzte, zum ersten Ortsvorsteher, Ober- und Stabsschultheiß gewählt. Zum Unglück gab ihm Gott zu seinem neuen Amte nicht auch den Verstand. Mißgriffe in der Amtsführung in Verbindung mit den Unruhen und Gefahren des Krieges verrückten dem geistesarmen Narren dermaßen das Concept, daß er völlig von Verstände hiehergebracht werden mußte und seit dritthalb Jahren sind alle Versuche, seine Geisteskräfte zu bessern, fruchtlos gewesen ... Sooft ich dieses Gesicht erblicke, erinnere ich mich unwillkürlich an den herku­ lischen Fleischer in Paris, den der Jakobiner Klubb gegen seinen Willen zum Präsi­ denten gewählt und den der Italiäner Gorani - in Girtanners [?] Annalen der fran­ zösischen Revolution - so wie den ehemaligen Marquis mit so meisterhaften Zügen geschildert hat. - Noch gebe ich die Hoffnung nicht auf, den gutmüthigen Mann den nächsten Sommer wieder zur Vernunft zu bringen.“60

58 Ärztlicher Bericht über den Geistes- und Gemüthszustand der Wahn- und Blödsinnigen in der König!. Irrenanstalt Zwiefalten. Georgii 1837, in: STAL, E 163 Bü 779. ” Ärztlicher Bericht von 1818, wie Anm. 40. "> Ebd.

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Die bei Martin M. unter der Spalte „Ursache“ des Irreseins im ärztlichen Bericht nochmals extra genannte „unglückliche Amtsführung“ gehörte wie „mißlungene Handelsspekulation “, „getäuschte Hoffnung einer Anstellung“ und „Prozeßsucht“ zu den besonders von Männern erlittenen „Folgen des bürgerlichen Gesellschaftsvereins“. In einem längeren Anhang zum ärztli­ chen Bericht von 1818, in seinen „allgemeine(n) Schlußfolgen“, erklärte

Elser die beinahe doppelt so große Anzahl von männlichen gegenüber den weiblichen Irren in Zwiefalten61 „aus der Staatseinrichtung, aus dem gesell­ schaftlichen Leben und dem bürgerlichen Verhältnisse des Mannes zum Weibe“.

„Bei dem Mann ist der Geist, beym Weibe das Gemüth vorwakend; jener trägt die schwere Last der Erhaltung seiner Familie auf seinen Schultern, indes das Weib die Obsorge der häuslichen Ordnung zu ihrem Geschäftstrieb wählt. Beim Mann herrscht Aktivität, beym Weibe Passivität, jener wirkt nach Aussen, diese nach Innen; jener strebt nach Ehre, Ansehen und Reichthum, diese nach Genuß und Sinnlichkeit; jener geräth in der bürgerlichen Gesellschaft mit weit mehr Nebenbuh­ lern auf dem Kampfplatz der Leidenschaften in Conflikt als das Weib, welches oft die ganze Woche nie aus dem häuslichen Zirkel tritt.“62

Da also beim Mann der Geist und bei der Frau das Gemüt „vorwalte“, so schlußfolgerte Elser, der die neue Theorie von der Polarisierung der Ge­ schlechtscharaktere63 auf sein Gebiet übertrug, sei der Mann „vorzugsweise zu Geisteszerrüttungen, die Frau dagegen zu Gemüthskrankheiten geneigt“. Waren demnach „Ehrgeiz, Hochmuth, Habsucht, verunglückte Spekulatio­ nen, aber auch Eifersucht, Zorn“ Ursachen für das Irrewerden von Män­ nern, waren in Elsers Aufzählung bei Frauen die auslösenden Faktoren „ver­ unglückte Liebschaften, unbefriedigter Geschlechtstrieb, eheliches Unglück und die sogenannten deprimierenden Leidenschaften, als Kummer, Sorgen, Furcht, Gram, körperliche Mißhandlung bei physischer Schwäche“. Vor allem der zuletzt aufgeführte Anlaß paßte nun allerdings nicht in seinen Erklärungsrahmen von den besonderen Geschlechtscharakteren, der auf eine 61 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts überwog die Anzahl der männlichen die der weiblichen Irren in staatlichen Anstalten. Erst danach mit der Etablierung eines institutionellen Anstalts­ systems als vorherrschende Unterbringungsform für psychisch Abweichende kehrte sich dieses Verhältnis allmählich um. Elaine Showalter, The Female Malady. Women, Madncss, and Englisch Culture, 1830-1980. London 1987 S. 51 ff., erklärt diesen Prozeß, „ehe rise of the Victorian madwoman“, für England mit der „feminization of poverty“ und dem Aufstieg der psychiatrischen Profession mit ihrer gesellschaftlich einflußreichen Theorie von der besonderen Anfälligkeit der Frauen für psychische Krankheiten, „bccause the instability of their reproductive Systems interfered with their sexual, emotional, and rational control . « Wie Anm.55. 61 S. dazu die Ausführungen in der Einleitung dieser Arbeit

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sich allmählich durchsetzende soziale Realität in den neuen Schichten des Bürgertums Bezug nahm und gerade den idyllischen Charakter der sich ergänzenden Anlagen und Tätigkeitsbereiche der Eheleute herausstrich. Doch war Elser andererseits in der Irrenanstalt mit den Folgen von brutaler körperlicher Gewaltausübung des Ehemannes gegenüber der Ehefrau kon­ frontiert, die eine Wirklichkeit in der ländlichen Gesellschaft war, aus der die Mehrheit der Irren in Zwiefalten stammte. Diese auseinanderdriftenden theoretischen und erfahrenen Realitäten verband Elser in seinen inkongru­ enten theoretischen Überlegungen zur Verursachung von Geistes- und Ge­ mütskrankheiten, die zum größeren Teil der Annahme von den besonderen Geschlechtscharakteren und ihrer Bedeutung für seelische Störungen folgten und mit weniger „ideologiegeleiteten“ Beobachtungen der Zwiefaltener Irren vermengt waren. Elsers Auffassung von den angeblich bei Frauen im Gegen­ satz zu den bei Männern nicht sozial veranlaßten, sondern körperlich inhä­ renten und deshalb materiell begründeten Ursachen für das Irresein, führte jedoch zu seinem geringen Interesse an den weiblichen Irren und an ihrer ärztlichen Behandlung in der Anstalt. So gab er bei den Frauen unter der Spalte „Ursachen“ für das Irresein fast durchweg „unbefriedigter Begat­ tungstrieb“, „thierischer Geschlechtstrieb“ und „Geilheit“ an und rückte damit die Insassinnen der Anstalt fast geschlossen in die Gruppe der unbe­ handelbaren, verachteten „thierischen“ Irren. Mit dieser Charakterisierung war gleichzeitig auch eine Assoziation zu unzähmbaren, aggressiven Wilden verbunden, die wie die „Tobenden“ zum Teil physischen Widerstand gegen das Eingesperrtsein leisteten, dies aber eher „hinterrücks“ taten. So häufen sich bei den weiblichen Irren ärztliche Zuschreibungen wie „Hottentottin“, „unzüchtiges Tier“, „gefährliche Wilde“, „tückische Katzennatur, die jeden Mann angreift“, „Marder- und Wieselnatur“.64 Der Dreh- und Angelpunkt der psychischen Kurmethode lag - und dies keineswegs nur in Elsers Interpretation - in der Wiederherstellung der Herr­ schaft der immateriellen Vernunft mit immateriellen, pädagogischen Mitteln des Irrenarztes.65 Die Vernunft, definiert als Fähigkeit zur Kontrolle und Balance der Leidenschaften, erforderte primär eine nichtgestörte Tätigkeit des Geistes vor einer des Gemüts. Insofern war nach diesem Verständnis der psychischen Kurmethode, wie Elser feststellte, „die Geisteskrankheit des Mannes auch eher zu heilen, als die Gemüthskrankheit des Weibes, und zwar aus dem Grunde, weil der Mann eher Raison annimmt, als das Weib“. Elser gebrauchte nicht zufällig den Ausdruck „Raison annehmen“ aus dem Begriffsumfeld der zeitgenössischen Pädagogik. 64 S. die ärztlichen Berichte Elsers 1818 bis 1837. 65 Zur psychischen Kurmethode s. Kap. II. 2.

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„Ungezogene Kinder und Narren gleichen sich in vielen Hinsichten: bey beiden üben die Leidenschaften ein regelwidriges Übergewicht über das Erkenntnis- und Begehmngsvermögen aus. Bcyde müssen auf psychischem Wege zu moralischen und ver­ nünftigen Menschen erzogen werden.“

Dies sollte nach den Erläuterungen des Zwiefaltener Anstaltsarztes gesche­ hen „durch Erregung anderer Leidenschaften, durch Beschäftigung, Zer­ streuung, Arbeit, Musik pp. - durch Liebe, Zutrauen, Zusprüche usw., wel­ che zuverläßig mehr leisten, als eine ganze Apotheke“.66 Diese Aufzählung faßt die verschiedenen Mittel, die Elser bei seiner ärzt­ lichen Behandlung in Zwiefalten auch gebrauchte, zusammen. So versuchte

er, bei einzelnen Irren durch Verständnis und Eingehen auf deren vorherr­ schende, die Geistestätigkeit monopolisierende Idee oder Vorstellung, Ver­ trauen zu gewinnen, und sie im Dialog von ihren Irrtümern zu überzeugen, wie z. B. im Fall des Sekretärs Friedrich K. aus Wildbad, über den Elser berichtete:

„Hält sich für den ehelich erzeugten Sohn des Herzogs Carl mit Höchstdessen Gemahlin Franziska, betrachtet des Höchstseligen Königs Majestät blos als Reichs­ verweser und sich als den rechtmäßigen Thronerben. In dieser irrigen Voraussetzung erließ er vor einigen Monaten ein Manifest, worin er das geheime Cabinet constituirt ... Bei meiner Ankunft dahier möchte er wohl die Rolle Eduard VI spielen und sich meiner als Werkzeug seiner herrschsüchtigen Absichten bedienen, indem er das An­ sinnen an mich stellte, zu seinem Entkommen ihm hilfreiche Hand zu biethen. Als ich mich nun hiezu nicht verstehen wollte, stellte er sich mit einem ächt königlichen Anstande ... vor mich hin und sprach: ,Gehet!1 In der Folge kam ich wieder zu Gnaden und betheuerte ihm ganz ernsthaft: Ich hätte die Herzogin Franziska ganz genau gekannt und sey auch so glücklich gewesen, Ihr persönlich bekannt zu seyn, und ich wisse ganz zuverlässig und bestimmt: Höchstdieselbe sey zur Zeit als er, K., geboren worden sey, schon wenigstens 50-54 Jahre alt gewesen, hätte folglich kein Kind mehr gebären können - irgend ein schadenfroher Mensch müsse ihn also zum Besten gehabt haben usf. Er stutzte und sprach ganz verblüfft und kleinlaut: a dicu! Obgleich die Idee von seiner erlauchten Geburt, denn er stehet in dem Wahnsinn, er sey in seiner frühesten Jugend von den Feinden seiner höchsten Familie mit einem andern verstorbenen Kinde in Wildbad verwechselt worden, fest in das Gehirn ... eingekeilt ist, so gebe ich doch die Hoffnung nicht ganz auf, dieselbe ... herauszu­ reißen.“67 Zur Zerstreuung und Ablenkung der Irren von ihren falschen Auffassungen und Perzeptionen verordnete Elser täglichen Hofgang, Spaziergänge und für

die männlichen Irren einmal in der Woche einen Besuch im Wirtshaus. Zur 66 Zitate aus „Allgemeine Schlußfolgen“, im Anhang des ärztlichen Berichtes von 1818. 67 Ärztlicher Bericht von 1818.

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Unterhaltung und „Erholung der Irren in den Hofräumen“ wurden „folgen­ de Spielwerke“ angeschafft: „eine Schaukel, eine englische Trille, eine Ke­ gelbahn, ein Damenbrett, Würfel, Karten, Kegelbrett mit einem Kreisel an der Schnur“.68

Das (Ein-)Uben der bürgerlichen Gesprächskultur, zu der auch das Lesen von Zeitungen und die Benutzung einer kleinen Bibliothek gehörte, sollte nach dem Willen Elsers in sogenannten Konversationszimmem stattfinden. Deren Einrichtung nach dem Amtsantritt Elsers, ein klares „Lockangebot“ für die Patienten aus den neuen bürgerlichen Schichten, provozierte aller­ dings auch einige behördliche Unmutsäußerungen. So bemerkte etwa das Stuttgarter Medizinalkollegium,

„namentlich die Conversationszimmer dürften sich in Zukunft durch die Erfahrung als minder nützlich erweisen. Einrichtungen in Irrenhäusern großer Hauptstädte oder in nur den Reichen zugänglichen Privatanstalten lassen sich, da in beiden die über­ wiegende Anzahl der Aufgenommenen den gebildeten Ständen angehört, nicht immer geradezu auf ein Institut übertragen, welches größtentheils nur der Zufluchtsort solcher Unglücklichen aus dem gemeinen Volke ist.“69 In einem anderen Zusammenhang, doch mit ähnlicher Stoßrichtung gegen die übertriebene Bevorzugung der kleinen Zahl der „Vermöglichen “ im Ir­ renhaus, lehnte das Ministerium des Innern später den Antrag auf noch weitere Abteilungen, differenziert nach Stand und Vermögen der Irren, mit dem Argument ab, dem Reichen könnte ohnehin „manche Bequemlichkeiten und Genüsse, an welche er gewöhnt ist“, verschafft werden. Es sei „für Manchen vielleicht geradezu heilsam ..., wenn er die verschiedenen Abmar­ kungen und Unterscheidungen der bürgerlichen Gesellschaft im Irrenhaus nicht mehr, sondern sich hier nur als Mensch dem Menschen gegenüberge­ stellt findet“.70 Angesprochen war damit die kleine Gruppe, die Elser in

seinem ärztlichen Bericht von 1828 als „aus den gebildeten Ständen“ stam­ mend auswies. Er zählte 13 Mitglieder dazu (bei einer Gesamtzahl von 86 Irren), davon waren 10 „vermöglich“, d.h. mußten für ihre Unterbringung

selbst zahlen.71 Für diesen Kreis gab es zwar die Konversationszimmer, aber 68 „Anbringen“ der Regierung des Donaukreises an das Ministerium des Innern v. 6.11.1820, in: HSTAS, E 146 Bü 1730. 69 Gutachtliche Äußerung des Medizinalkollegiums an das Ministerium des Innern v. 17.4.1821, in: HSTAS, E 146 Bü 1730. 70 Ministerium des Innern an die Kreisregierung in Ulm am 30.3.1825, in: STAL, E 163 Bü 772. 71 Ärztlicher Bericht Elsers über den Geistes- und Gemütszustand der Irren in der Irrenan­ stalt zu Zwiefalten, Georgii 1828, in: STAL, E 163 Bü 779. In seiner Übersicht über „Stand und Gewerbe“ der Irren nannte Elser noch den „Bürgerstand“, zu dem er 39 Personen zählte

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keine „ihrem Stand angemessene Arbeit“ in der Anstalt72, obwohl einzelne der „Gebildeten“, ausschließlich Männer, ihren früheren Tätigkeiten in Zwiefalten weiter nachgingen. So wurden z. B. dem ehemaligen Juristen Columban A. „zur Wiederbelebung der Vernunft“ juristische Bücher zum Über­

setzen gegeben. Elser referierte:

A. „übersetzte den lateinisch verfaßten Standeseid der öffentlichen Anwälte beym ehemaligen Kammergericht zu Wetzlar sprachrichtig ins Französische, Italiänische und Englische, machte auch Auszüge aus den Büchern: allein er blieb dessen unge­ achtet Visionär; er spricht mit dem vor seinen Augen schwebenden Geiste, gestikulirt heftig, springt plötzlich auf und stampft und stampft auf den Boden, bis ihm der helle Schweiß ausbricht.“73

Elser war, wie auch dieses Beispiel zeigt, kein Anhänger des ärztlichen Ansatzes, im Rahmen der psychischen Kurmethode im Irrenhaus die Insas­ sinnen und Insassen Arbeit um der Arbeit willen leisten zu lassen, wie dies zur gleichen Zeit der Arzt der Irrenabteilung in der Berliner Charite, Emst Hom, propagierte. Dieser ließ alle männlichen und weiblichen Irren „aus den hohem und geringem Ständen“ Sandsäcke tragen und mit Holzgeweh­ ren exerzieren.74 Die Arbeit stand allerdings sogar noch mehr als bei Hom im Zentrum von Elsers psychischer Heilmethode. Sie war geradezu der Erfolgsschlüssel

und den „Bauernstand“ mit 34 Mitgliedern. Kontinuierliche Zahlenangaben über „Stand und Gewerbe“ der Irren fehlen, dürften sich aber in dem hier angeführten Bereich bewegt haben; in dem letzten ärztlichen Bericht von 1837 nannte Elser 7 „Honoratioren“, die wohl identisch mit den 7 aufgeführten Personen waren, die selbst zahlten; vgl. auch Anm.72. 72 Die Folgen schilderte Medizinalrat Endres in seinem „Visitationsbefund“ vom 13.6.1825 (wie Anm. 47): „Im Zwiefalten befinden sich gegenwärtig 8 Irre, welche auf eigene Rechnung leben und eine bessere Kost haben, aber hinsichtlich der Wohnung und Bedienung, der Be­ handlung und Unterhaltung den übrigen gleichgestellt sind. Es sind einige Geistliche von beyden Confessionen da, die oft fürchterlich lärmen und toben, schimpfen und lästern, und selbst zu Thätlichkeiten gegen die Wärter übergehen, und bey denen der Grund dieser Aufwallungen meines Erachtens darin zu suchen ist, daß sie mit den übrigen Irren zusammen leben, wie diese eingesperrt sind, und eine gleichförmige Behandlung erfahren. Diese gleichförmige Behandlung und der Umstand, daß in Zwiefalten nur die Irren aus den niedrigsten Ständen beschäftiget werden können, und es dort bloß solche Arbeiten giebt, zu denen sich der Kaufmann, der Schulmeister, der Schreiber, der Beamte u.s.w. nicht hergiebt, sind wohl die vorzüglichste Ursache der Abneigung, welche unter den gebildeten Ständen gegen diese Anstalt allgemein beobachtet wird.“ 73 Ärztlicher Bericht Elsers über den Geistes- und Gemüthszustand der Irren in der Irren­ anstalt zu Zwiefalten, Georgii 1823, ebd. 74 S. Ernst Horn, Öffentliche Rechenschaft über meine zwölfjährige Dienstführung als zweiter Arzt des Königl. Charite-Krankenhauses zu Berlin. Berlin 1818 S. 251 ff.

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zur Einlösung der Heilungsabsicht der Anstalt75, meinte jedoch „produkti­

ve“ Arbeit in der Ökonomie des Irrenhauses oder auch Tagelöhnerarbeit der Irren in der Landwirtschaft der Zwiefaltener Umgebung. Diese umfaßte agrarische und handwerkliche Tätigkeiten ebenso wie Arbeiten zur Unter­ stützung der Irrenknechte, Mägde und Krankenwärter, die zum Teil eine ganztägige Abwesenheit von der Anstalt nach sich zogen und für die auch ein geringer Geldlohn gezahlt wurde. Elser charakterisierte beides, den „freyen Ausgang“ wie die Entlohnung der Irren, die ihr Geld meist sofort im Wirtshaus umsetzten, sowohl als Bestandteil des pädagogischen Belohnungs- (und Straf)systems für angemessenes Arbeitsverhalten - was in der Realität wohl in den meisten Fällen schlicht die Auszeichnung der Arbeits­ fähigkeit hieß - wie als Übung für die spätere gesellschaftliche Wiederinte­

gration.76 Mit dieser Begründung erlaubte Elser ausgewählten weiblichen Irren auch den Aufenthalt im Haushalt der beiden Irrenmeister. Doch klagte er selbst über das Fehlschlagen dieses Versuchs gegenüber Medizinalrat Endres:

„Zwar hätten die beiden Irrenmeister die Verpflichtung, gegen eine jährliche Zulage von Holz die weiblichen Irren in ihre Wohnungen aufzunehmen, und unter der Aufsicht ihrer Ehefrauen mit weiblichen Arbeiten zu beschäftigen, allein diese hätten wie er sicher in mehreren Jahresberichten wiederholt bemerkt habe, weder Zeit noch Beruf sich mit den weiblichen Irren abzugeben, und sehen nur jene gern in ihrer Wohnung, die ihnen durch Dienstleistungen Nutzen schaffen; der übrigen würden sie bald müde und überdrüssig; es entstehe Zwietracht und Verdruß von beiden Seiten, und die Folge davon sey, daß die Wahnsinnige wieder ihre Zelle wandern müsse, und allda vor langer Weile endlich blödsinnig und folglich unheilbar werde.“77

Elser wandte er bei seiner Therapie kaum pharmazeutische Mittel an, da er - wie die Mehrzahl seiner in- und ausländischen Kollegen - den Wahnsinn für „psychischen, immateriellen Ursprungs“ hielt. Zwar seien zur Unterstüt­ zung der psychischen Behandlung, z. B. eines Wahnsinnigen mit einer fixen 75 Vgl. die Bemerkung im Visitationsbericht von 21.11. 1822 (wie Anm. 19): „Nach dem bestimmt ausgesprochenen Willen des Königlichen Ministeriums des Innern soll jedoch das Irrenhaus nicht blos ein Detentionsort, sondern zugleich auch eine Heilanstalt seyn. Durch eine gehörige Beschäftigung der Irren könnte dieser wohlthätige Zweck noch am leichtesten erreicht werden.“ 76 Rechtfertigung der Institutsvorsteher an die Regierung des Donaukreises vom 17.5.1832, in: STAL, E 163 Bü 779. 77 Diese Schilderung sollte den (schließlich erfolgreichen) Antrag auf die Anstellung einer „Irrenmutter“ für die weiblichen Irren unterstützen. Sie sollte die Aufgabe der Beaufsichtigung von den Ehefrauen der Irrenmeister übernehmen und damit der geringeren Heilungsrate der Anstaltsinsassinnen, die aus dem Mangel an geeigneten „weiblichen Arbeiten“ erklärt wurde, ein Ende machen; s. Visitationsbericht vom 21.11.1822 (wie Anm. 19).

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Idee, „herabstimmende, ableitende Mittel ... immerhin von therapeutischer Wichtigkeit“ wie „der Aderlaß, der Schröpfkopf, der Blutegel, die Laxire, das Brechmittel“. Er fuhr jedoch ausdrücklich fort: „Aber nocheinmal: damit ist der kranke Geist oder das kranke Gemüth noch nicht geheilet, so wenig als man im Stande wäre, einem ungezogenen Jungen seine Unarten auszulaxiren.“78 In diesem Sinne antwortete Elser auch 1828 auf die Vorwürfe eines ungenannten Kritikers „des gegenwärtigen Zustandes der hiesigen Ir­ renanstalt“, der offenbar die ungenügenden und zu seltenen „physischen Heilversuche“ des Irrenarztes getadelt hatte.79 Elser stellte richtig, daß „physische Heilversuche allerdings angestellt (werden), wenn eine vernünf­ tige Indication, und noch einige Hoffnung zur Wiedergenesung, vorhanden ist. Die Seelenheilkunde befindet sich aber, wenn es die Arzte sich und den Layen aufrichtig bekennen wollen, noch im Zustand der Kindheit“. Zwar gäbe es „zahllose Mittel“, die ein „verwirrtes Chaos“, aber keine Heilungs­ erfolge heraufbeschworen hätten. Da aber eben die „moralischen, psychi­ schen Ursachen der Seelenstörung weit häufiger als die physischen“ seien, so stellte Elser unter Berufung auf Esquirol fest, und „die krankhafte Reaction von der Seele ausgehet, muß auch durch unmittelbare Einwirkung auch die Seele wieder in den Normalzustand zu rück kehren“. Selbstbewußt reihte Elser die Zwiefaltener Anstalt und damit seinen Behandlungsansatz in die Reihe der berühmten Modellanstalten ein. „In Paris und selbst auf dem Sonnenstein in Sachsen, wo doch lauter heilbare Irre sich befinden, ist der Verbrauch von Apothekermitteln verhältnismäßig eben so ge­ ring als in Zwiefalten. Pienitz wurde deswegen ebenfalls von vielen Aporisten geta­ delt; er kann aber so wenig wie ich gegen seine aus der Erfahrung abstrahirte Überzeugung handeln. Die meisten Irren genasen hier, wie in Paris und Sonnenstein auf psychischem Wege ohne Apothekermittel.“80

Um die Irren von ihrer die Seelenstörung verursachenden Leidenschaft ab­ zulenken und andere Gefühlserregungen zu provozieren sowie zur Strafe für sogenannte „Böswilligkeit“, bediente sich Elser allerdings eines Mittels phy­ sischer Einwirkung: der „körperlichen Züchtigung“. Dies hatte er in seinem Reisebericht über den Sonnenstein 1825 ausführlich erläutert und auf den 78 Elser, Allgemeine Schlußfolgen, in: Ärztlicher Bericht von 1818 (wie Anm.40). 79 Bericht Elsers über den gegenwärtigen Zustand der Irrenanstalt an die Regierung des Donaukreises vom 23.2.1828, in: STAL, E 163 Bü 760. 80 Ebd. vgl. auch die zahlreichen Hinweise Elsers auf den mangelhaften Erfolg von phar­ mazeutischen Mitteln bei der Therapie der Irren in seinen ärztlichen Berichten. Außerdem zitierte Elser des öfteren zur Unterstützung dieser Position Ausführungen von Berühmtheiten des Faches, z. B. das ärztliche Vermächtnis des Vorstehers des Würzbürger Juliusspitals, Dr. Anton Müller im ärztl. Bericht vom April 1828.

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Dissens mit Pienitz in diesem Punkt hingewiesen. In seinen ärztlichen Be­ richten wurden von Beginn an Prügel als effektive Maßnahme zur Diszipli­ nierung tobender Irrer und als Strafe bei „widerspenstigem “ Verhalten ein­ zelner Insassen und Insassinnen erwähnt. Die Aufforderung der Regierung

des Donaukreises im November 1831 an die beiden Vorsteher des Irrenhau­ ses „zur ausführlichen Berichterstattung ... in welchen Fällen, in welchem

Umfang, und mit welcher Legitimation dieselben bisher gegen die Irren eine körperliche Züchtigung haben eintreten lassen“81, war daher ein Zeichen für die gestiegene Sensibilität der Württemberger Administration gegenüber den Rechten und der Menschenwürde der Irren. Elser spielte in seiner 16-seiti­ gen Rechtfertigungsschrift die Anwendung körperlicher Züchtigungen her­ unter. „Der Bestand der Irren im August 1817 betrug bey meiner Ankunft 67 Individuen männlichen und weiblichen Geschlechts, von diesem Zeitpunkt bis jetzt wurden aufgenommen ... 286. Von diesen 286 Individuen wurden in einem Zeitraum von 14 Jahren körperlich gezüchtiget: 9 Männer und 4 weibliche Irre.“82 Elsers ausführliche Darstellung der „Prügelkur“ - nach einem Begriff von Johann Christian Reil - im Rahmen der psychischen Kurmethode zur Er­ weckung von Schmerz, zur Ablenkung vom Wahnsinn und zur Wiederher­ stellung des Realitätssinnes sollte vor allem seine „Belesenheit “ in der zeit­ genössischen psychiatrischen Literatur beweisen, da sie von Elser selbst gar nicht angewandt wurde. Dagegen konnten seine Ausführungen über die kör­ perliche Züchtigung als „Correktionsstrafe“ und Disziplinierungsmittel, um den Irren ihre Bosheiten und Unarten“ abzugewöhnen - analog den Dres­ surmitteln von Reitern und Kutschern83 vor allem unter dem Gesichts­ punkt der Achtung der Menschenwürde und der „bürgerlichen Ehre“ der Irren seine Kritiker nicht befriedigen. Das Stuttgarter Medizinalkollegium, in dem seit 1828 der Autenrieth-Schüler Dr. Heinrich Köstlin als Sachver­ ständiger für psychiatrische Fragen wirkte und damit auf dieser höchsten

81 Erlaß der Regierung des Donaukreises an die Vorsteher der Irrenanstalt in Zwiefalten v. 21.11.1831, in: STAL, E 163 Bü 813. 82 Bericht der Institutsvorsteher [gcschr. von Elser, D.K.] „über die Correctionsstrafen, mit welchen die Irren bisher belegt worden sind“ an die Regierung d. Donaukreises v. 6. 12. 1831, ebd. 8J Ebd. „Der Reiter und der Kutscher dressiert sein ungezogenes Pferd mit der Peitsche und dem Sporn bis es zahm und gehorsam wird. Der Naturforscher und Zoonom vergleicht den Bau und die Struktur der Organe des Thieres mit jenen der Menschen und der Psycholog darf, ohne die Gesetze der Humanität zu verletzen, in Hinsicht auf die Seelenthätigkeit den geistes­ kranken Menschen mit dem Thiere vergleichen, und das wäre eine noch unbetretene Bahn, auf welche ein Psychologe sich Ehre und Verdienst erwerben könnte!“

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Ebene der Medizinalverwaltung die „Modernität“ in diesem Feld repräsen­ tierte84, bestätigte in seinem Gutachten über die Elsersche Rechtfertigungs­ schrift die Meinung des Ulmer Medizinalrats Dr. Endres, daß sich nämlich letztlich hinter Elsers diversen theoretischen Darlegungen seiner psychischen Kurmethode nichts anderes als der alte Straf- und „Repressions“ansatz und keineswegs eine wissenschaftlich fundierte psychische Behandlung der Irren

verberge.85 Elser berücksichtige bei seiner „Apologie der Prügel“ nicht die Individualität der Kranken, die die persönliche Krankheitsausformung und den Krankheitsverlauf bestimme und eine allgemeine Rechtfertigung der körperlichen Züchtigung auch als Disziplinierungsmittel verbiete. Mit deut­ licher Spitze gegen Elsers professionelles Ungenügen, beispielsweise das Krankheitsbild der Monomanie erkennen zu können, deren Entdeckung im Mittelpunkt der zeitgenössischen Bemühungen um eine theoretische und institutionelle Ausformung des Expertenstatus der „psychischen Arzte“ stand86, wurde im Stuttgarter Gutachten festgestellt: „Es folgt z. B. keineswegs, daß, wenn ein an partieller Verrückheit Leidender eine unsittliche That mit allen (äußeren) Zeichen der Absichtlichkeit begeht, die körper­ liche Züchtigung bei ihm anwendbar sey, ebenso wenig, daß bei dem einer periodi­ schen Manie Unterworfenen, wenn er in der freyen Zwischenzeit sich mit vollem Bewußtseyn einer gewaltthätigen, oder Andere verletzenden That schuldig macht, die Prügel das zweckmäßigste Correktionsmittel seyen.“

Handele der oder die Irre nicht im Zustand der Willensfreiheit und werde trotzdem gestraft, verursache die körperliche Züchtigung „Aufregung, Furcht und Erbitterung, Haß und Widerspenstigkeit“, handele er oder sie im Zustand der Willensfreiheit habe der Gebrauch der Prügelstrafe „etwas Erniedrigendes, die Persönlichkeit Verletzendes, Beschimpfendes; sie trägt in ihrer Vollziehung für den Gestraften sowohl als für die Zuschauenden am meisten den Charakter einer die Person herabsetzenden Gewalt“. Der Vorwurf des Medizinalkollegiums bei dieser Auseinandersetzung um die körperliche Züchtigung, Elser sei nicht mehr auf dem neuesten Stand des Fachs der psychischen Heilkunde, wurde drei Jahre später von dem Obermedizinalrat Heinrich Köstlin in seinem Bericht über die Visitation der

84 Im Stuttgarter Mcdizinalkollegium entstanden ab 1828 unter maßgeblicher Beteiligung des Obermcdizinalrats Heinrich Köstlin Pläne zur Errichtung einer weiteren und ausschließlich dem Heilzweck dienenden Irrenanstalt, die schließlich 1834 zur Errichtung der Anstalt in Winnenthal führten, s. O.-J. Grösser, „Tollhaus“ S. 389 ff. 85 Note des Königl. Medizinalkollegiums an die Regierung d. Donaukreiscs v. 15.9.1832, in: STAL, E 164 Bü 813. 86 S. Kap. IV. 2.

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I

Zwiefaltener Anstalt 1835 bestätigt.87 Köstlin kritisierte Elsers Behandlungs­ methode, sein ungenügendes Ausfüllen der (professionellen) Verhal­ tenserwartungen an einen Irrenarzt und seine fehlende Autorität im ArztPatient Verhältnis sowie seine mangelhafte Wissenschaftlichkeit bei der Or­ ganisation der ärztlichen Beobachtung. Köstlins Bericht markiert in doppelter Hinsicht einen Bruch. Er beendete die bisherige eher nachlässige und der Anstalt einen relativ autonomen Raum zugestehende behördliche Aufsicht. Zugleich machte er einen zeitgenössisch modernen Standard in der medizinischen Behandlung und Verwaltung der Irren, der an sich konstitutiv für die neuen Heilanstalten wie Winnenthal war, auch für das - nun eindeu­ tig als hauptsächliche Verwahrungsanstalt definierte - Institut in Zwiefalten geltend. Abschließend soll ein wichtiges Phänomen, an dem Köstlin in Zwiefalten bei seiner Visitation 1835 Anstoß nahm, ausführlicher geschildert werden, das u. a. die Anstalt aus der Perspektive der Medizinalreformbürokratie zum überholten Typus der alten Irrenanstalt, aller Reformbemühungen Elsers zum Trotz, machte. Gleich zu Beginn seines Visitationsberichts kritisierte Köstlin - unter dem Stichwort „die Amtsführung des Institutsarztes“ - El­ sers schlecht geführte oder gar fehlende „formelle Belege und Documente“, die auf die Art der „Erforschung, Beobachtung und Besorgung“ seiner „Pfleglinge“ schließen lasse. Der Arzt habe „von keinem eine Krankheitsge­ schichte, oder eine fortlaufende Aufzeichnung von Notizen für diese Ge­ schichte, aus der Aufenthaltszeit des Kranken in der Anstalt aufzuweisen“. Die „einzigen vorhandenen Daten“ seien die Aufnahmeberichte der Di­ strikts- oder lokalen Ärzte, die „alle in einem Fascikel zusammengelegt“ seien. Elsers „Nationallisten“ der Aufgenommenen gäben allein in tabellari­ scher Form Krankheitsbenennung und -Ursache an. Sektionsberichte der in der Anstalt verstorbenen Irren seien nicht vorhanden und das „Tagbuch“, das der Irrenarzt vorlegte, „in welchem chronikenartig einzelne, bey einzel­ nen Kranken vorgekommenen Erscheinungen je nach den Monatstagen ... aufgezeichnet sind“, war nur bis zum Ende des Jahres 1833 geführt, „weil, wie er angab, seither sich kein Stoff mehr ergeben habe“. Von den halbjäh­ rigen Berichten an die Kreisregierung verwahrte Elser keine Konzepte, da er „alles im Gedächtnis trage“. Zur Entrüstung Köstlins hatte er auch die Ordinationsbücher dem Apotheker als Beleg für dessen Medikamentenrech­ nung überlassen und bewahrte zudem die Erlasse der Medizinalsektion und der Kreisregierung „ohne eine erkennbare Ordnung“ auf. Schriftlichkeit,

87 Visitationsbericht des Obermedizinalrats Köstlin über die Irrenanstalt Zwiefalten an das Medizinalkollegium v. 15.7.1835, in: STAL, E 163 Bü 772.

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Vollständigkeit, Systematik und die Beachtung der Zeitdimension bei der Führung der Krankenakten waren, wie Köstlin ausführte, jedoch sowohl die Basis des praktischen Behandlungserfolgs wie des allgemeinen wissenschaft­ lichen Fortschritts in der Psychiatrie. Die Durchsetzung dieser methodi­ schen Grundsätze in der Verwahranstalt Zwiefalten war nach der Gründung der Winnenthaler Heilanstalt 1834 - zur Kontrolle und zur Ergänzung der dortigen Krankenbeobachtungen - unabdingbar geworden.88 Der Tod Elsers 1837 machte der nach Köstlins Visitationsbericht begonnenen Diskussion um die „Notwendigkeit einer Veränderung in der Person des leitenden Arz­ tes an der Irrenanstalt in Zwiefalten “89 ein Ende und gab den Weg frei für die „Neuorganisation der Anstalt“90 unter Dr. Karl Schäffer, der mit weni­ ger innerer Widersprüchlichkeit dem neuen „wissenschaftlich orientierten“ Irrenarztbild entsprach und u. a. die baulichen Veränderungen durchsetzte, die Elser knapp 20 Jahre zuvor vergeblich eingeklagt hatte.

88 Ebd. „Eine gründliche Untersuchung und fortgehende Beobachtung des psychischen und physischen Zustandes der einzelnen ist die Grundlage und erste Bedingung eines richtigen und vernünftigen Benehmens nicht etwa nur in der therapeutischen, sondern überhaupt in der gesammten äußeren Behandlung und Leitung der Irren. Nur für eine ganz verwerfliche, mit Unkenntnis oder Mißachtung des mannigfachen inneren Proccsses der psychischen Krankhei­ ten verbundenen Ansicht von der Verwahrung der Irren kann mit der Aufnahme in der Ver­ wahrungsanstalt selbst eines als unheilbar angenommenen Kranken seine Geschichte für immer abgeschlossen seyn. Wie für die Krankenbehandlung, ebenso ist es von der wissenschaftlichen Seite und von Seiten der hierinn der Verpflegungsanstak ... obliegenden Verpflichtung von hoher Wichtigkeit, daß in ihr die psychischen Krankheiten nach ihren verschiedenen Durch­ gangsstadien und Übergängen, nach ihren Ausgängen, und nach den materiellen organischen Veränderungen, welche sie zurücklassen, mit Aufmerksamkeit beobachtet und studiert werden; und dieser Gesichtspunkt tritt nunmehr, nach der Gründung einer besondem Heilanstalt und der häufigeren Benutzung derselben von psychischen Kranken im früheren Stadium mit ver­ mehrter Stärke ein, die Forderung nemlich, daß die Beobachtung und das Studium dieser Krankheiten durch ihre Entwicklungsstufen, ihre verschiedenen Zeiträume und Endigungen hindurch in den beyden Anstalten mit übereinstimmendem Eifer und im Zusammenhang eines gleichen wissenschaftlichen Bestrebens verfolgt und durchgeführt, und für die möglichst voll­ ständige Einsicht in die concreten Krankheitsfälle und hiemit für die wissenschaftliche Einsicht und Erkenntnis überhaupt fruchtbar gemacht werden.“ 89 S. z. B. den Bericht des Medizinalkollegiums an das Ministerium des Innern v. 7.1 1.1835, in: STAL, E 163 Bü 779. 90 Dieser Begriff bei O.-J. Grösser, „Tollhaus“ S.388.

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2. Irre in der ländlichen Lebenswelt

Die folgende Untersuchung91 basiert auf der Auswertung des Aktenbestan­ des über „Irre und Wahnsinnige“ aus dem Landratsamt des Kreises Waren­ dorf (Regierungsbezirk Münster) im Nordrhein-Westfälischen Staatsarchiv Münster.92 Die Laufzeit der Akten reicht von 1810 bis 1892, mit deutlichem auch quantitativen Schwergewicht der „Fälle“ aus der ersten Jahrhundert­ hälfte. Es handelt sich hauptsächlich um Meldungen der Bürgermeister von Sassenberg, Everswinkel, Freckenhorst, Beelen, Ostbevern, Hoetmar, Altund Neuwarendorf an den Landrat, in denen als irre beurteilte Personen angezeigt werden, die für die jeweilige Dorfgemeinschaft angeblich nicht länger tragbar sind. Die Bürgermeister bitten, diese außerhalb entweder im Polizeigefängnis der Kreisstadt zu arretieren oder sie einzuweisen in die einzige öffentliche westfälische Irrenanstalt Marsberg im Sauerland93, die an sich nur für Irre aus dem Herzogtum Westfalen - zu dem der Landkreis Warendorf nicht gehörte - zuständig war. Vereinzelt wenden sich auch Angehörige und Nachbarn in diesem Zusammenhang direkt an den Landrat, wenn der Ortsvorstand sich weigert, ihre Einsperrungsgesuche weiterzulei­ ten. In einigen der gemeldeten Fälle geht es um Versorgungsstreitigkeiten zwischen Verwandten, die nach dem Allgemeinen Preußischen Landrecht grundsätzlich zum Unterhalt der irren Angehörigen verpflichtet waren. Schließlich kommen dem Landrat Meldungen über die schlechte Behandlung einzelner Irrer zu, und diese wenden sich selbst in Briefen an den Landrat, um über ihre Unterbringungssituation und ihre Nahrungssorgen zu klagen. Insgesamt lassen sich im Untersuchungszeitraum von 1810 bis 1848 acht­ undvierzig solcher einzeln überlieferten Fälle ausmachen. Zum Vergleich: Bei der Irrenzählung von 1824, als die Bürgermeister dem Landrat Listen mit sämtlichen Irren ihrer Bezirke einzureichen hatten, wurden im Land­ kreis Warendorf dreiundfünfzig Personen aufgeführt, deren Alter, Stand, Krankheitsgattung und Unterbringungsform vermerkt wurden.94 Diese 91 Sie ist eine überarbeitete Fassung meines Aufsatzes: „Irre und Wahnsinnige“. Zum Pro­ blem der sozialen Ausgrenzung von Geisteskranken in der ländlichen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts, in: Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Studien zur historischen Kul­ turforschung 3. Hg. Richard van Dülmen. Frankfurt/M 1990 S. 178-214. 92 Staatsarchiv Münster (STAMS), Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 1024-1032, 1034, 1097. Zu den sozio-ökonomischen Strukturen im Landkreis Warendorf Bettina Schleier, Territorium, Wirtschaft und Gesellschaft im östlichen Münsterland, 1750-1850. Diss. phil. Bochum 1989 (Monographie 1991). 9J Über Gründung und Anstaltsorganisation von Marsberg s. M. Ester, „Ruhe - Ordnung - Fleiß“ S.355 ff. 94 Diese Listen befinden sich im angegebenen Bestand des STAMS.

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Quelle wird in die Untersuchung ebenso einbezogen wie die Enquete von 1829, die der Marsberger Anstaltsdirektor Dr. Ruer anfertigte. Danach gab es im Landkreis Warendorf sechzig Irre.95 Von diesen 1829 listenmäßig erfaßten sechzig Personen gehörten neun zum Kreis der als unintegrierbar gemeldeten achtundvierzig Irren. Ihr Anteil macht damit zu diesem Zeit­ punkt fünfzehn Prozent der Gesamtgruppe aus. Bei vielen der beim Landrat angezeigten, nicht mehr vom Dorfverband tolerierten Personen (30 Männer, 18 Frauen) ist ein längerer Schriftwechsel überliefert. Das begründet sich in den preußischen Verwaltungsvorschriften über Einweisung in eine Irrenan­ stalt, die in den 1830er Jahren nach der Gründung der reformierten Heil­ anstalten noch verschärft wurden. Nachdem der Landrat die Meldung des Bürgermeisters erhalten hatte, forderte er bei übereinstimmender Meinung ein ärztliches Gutachten an. Danach mußte die Zustimmung des Anstalts­ direktors zur Aufnahme eingeholt werden, schließlich ein standardisierter Aufnahmefragebogen für die Irrenanstalt von einem zweiten Arzt ausgefüllt werden. Abschließend mußte die Regierung in Münster noch ihre Erlaubnis erteilen. Sollte die betreffende Person keinem „Heilungsversuch“ mehr un­ terzogen, sondern in die Pflegeanstalt eingewiesen werden, die im Falle von Marsberg noch mit der Heilanstalt kombiniert war, war zudem noch eine gerichtliche „Blödsinnigkeitserklärung“ nötig. Vor der Umwandlung von Marsberg in eine reformierte Heilanstalt 1835 mit einer Vergrößerung der Aufnahmekapazität für alle Irren der Provinz Westfalen ließ eine dort nur in Ausnahmefällen mögliche Unterbringung Auswärtiger den Schriftwechsel zwischen Bürgermeister und Landrat ebenfalls anwachsen, da beide darauf bedacht waren, der jeweils anderen Seite die Verantwortung für das Unter­ bringungsproblem zuzuschieben.

a) Materielle und emotionale Aspekte der Versorgung in der Dorfgemeinschaft Bevor die Ursachen für die Meldung an den Landrat, d. h. für den ge­ wünschten Ausschluß einer als irre beurteilten Person aus dem dörflichen Versorgungssystem untersucht werden, soll dieses zunächst kurz skizziert werden. Die oben erwähnten Irrenlisten von 1824 sind in diesem Zusam­ menhang eine wichtige Quelle, da sie von allen - also auch von den ohne aktenkundliche Streitigkeiten integrierten - Irren berichten. Unter der um­ ständlich formulierten Spalte „Betrag der jährlichen Verpflegungskosten, wovon sie bezahlt werden, von der Familie oder Gemeinde oder bezahlt

95 Wilhelm Ruer, Irrenstatistik der Provinz Westphalen mit Hinweisung auf die medicinisch-topographischen Verhältnisse sämmtlicher einzelnen Kreise derselben. Berlin 1837.

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werden können“, die das staatliche Interesse spiegelt, die Finanzierungsres­ sourcen für die Unterbringungskosten in der geplanten Reformanstalt aus­ zuloten, informierten die Bürgermeister über die Unterbringungssituation zumeist in folgender Form - „wird von ihrem Bruder, der Heuerling ist, ernährt“. Die angefragten Kostenbeträge wurden in keinem Fall genannt, allenfalls Angaben gemacht wie - „die Familie ist ganz arm und leidet an allem Mangel, daher können von ihr die Verpflegungskosten in einer Irren­ anstalt nicht gezahlt werden“. Die vorhandenen Mittel in den Gemeindeund Armenkassen wurden von den Dorfvorständen also nicht aufgedeckt. Ob dies auch eine Form der Opposition gegen die Errichtung einer staatli­ chen Provinzialirrenanstalt darstellte, mit qua Gesetz geregelter Pflicht der Heimatgemeinde für die Unterhaltskosten bedürftiger Irrer aufzukommen, die die Gemeindekassen weit mehr zu belasten drohte als eine von Fall zu Fall entschiedene Unterstützung unter Beibehaltung der familialen Unter­ bringung, sei dahingestellt. Dieses Argument hatten zumindest die Landräte von Minden, Ravensberg, Tecklenburg und Lingen in den 1770er Jahren gegen den Plan der preußischen Administration, dort eine Irrenanstalt ein­ zurichten, vorgebracht.96 Diese von den kommunalen Kosten ausgehende Argumentation scheint nach den Listen von 1824 durchaus stimmig. Von den aufgeführten dreiundfünfzig Irren (27 Männer, 26 Frauen) lebten nur drei im Armenhaus, zwei davon auf Kosten der Gemeinde, die dritte Person wurde von „mildtätigen Eingesessenen“ dort unterhalten. Zwei weitere Irre wurden aus Armenmitteln und eine wiederum von „wohltätigen Eingesesse­ nen“ unterstützt; alle drei lebten wie die übrigen siebenundvierzig Personen in den Haushalten ihrer Verwandten.97 Das „Versäumnis“ der Bürgermeister auch die jährlichen familialen Ver­ pflegungskosten einzutragen, läßt sich leicht erklären, wenn man die Bemer­ kung unter der Spalte „Charakter, Beschäftigung und Gewerbe“ in den Irrenlisten in die Untersuchung einbezieht. In zweiundzwanzig der aufge­ führten Fälle waren die Irren „produktiv“ tätig, d. h. arbeiteten als Dienst­ mägde oder Ackerknechte, beschäftigten sich mit Viehhüten und „geringen Bauemarbeiten“, verrichteten „grobe Hausarbeiten“, nähten, spannen und strickten, „drehten das Seilenspinners Rad“ und „emähr(t)en sich“ im Ein­ zelfall „als Schäfer selbst“. Beschäftigungscharakterisierungen wie Dienst­ magd und Ackerknecht deuten auf ein bestehendes Dienstverhältnis hin. 96 STAMS, Kriegs- und Domänenkammer (KDK) Minden Nr.388; Regierung Minden-Ra­ vensberg Nr. 1473. 31 Vgl. die Tabelle bei W. Ruer, Irrenstatistik S. 119, in der unter der Spalte „Unterbringung“ (der Irren im Landkreis Warendorf) vierzig Personen bei Verwandten, vier auf Kosten der Gemeinde und zwei in der Anstalt aufgeführt werden.

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Jedenfalls trug diese Gruppe Irrer als Mitglieder des Haushaltes zu dessen Existenzsicherung bei und machte die Frage nach ihren Verpflegungskosten hinfällig. Dies gilt in eingeschränkter Form vermutlich auch für die fünfzehn Personen, für die die Bürgermeister die „Beschäftigungsspalte “ nicht aus­ füllten, da der „völlige Müßiggang“ vermerkt wurde. Sechzehnmal trugen sie nämlich „tut gar nichts“ ein, oft unter Zufügung von Bemerkungen wie - „hat auch gar keine Geschicklichkeit dazu“ oder „zu jeder Beurteilung, wozu nur ein geringes mehreres als thierisches Vermögen gefordert wird, durchaus unfähig“, „ganz und gar unklug“, „spielt mit Ackergerätschaften und bringt sie abseiten“. Hatten diese Menschen, die in keinen Arbeitszusammenhang mehr zu integrieren waren, keine Verwandten oder waren diese akzeptierte Arme gab es die Praxis des „Umherquartierens“ im Dorf. Jeder Haushalt mußte den Betreffenden oder die Betreffende für eine bestimmte Zeit aufnehmen und ernähren, konnte sich aber für eine gewisse Summe davon freikaufen. Im westfälischen Raum wurde nach 1800 das „Umherquartieren“ aber nur noch selten praktiziert, im Landkreis Warendorf nur in einem Fall während des Untersuchungszeitraums, sondern für die Aufnahme eines arbeitsunfähigen Irren eine Summe aus der Gemeinde- oder Armenkasse gezahlt, im Schnitt zwanzig Reichstaler jährlich. Die Einquartierung stellte damit eine Neben­ erwerbsquelle dar, vorausgesetzt, der oder die Irre verhielt sich „ruhig“ und „folgsam“ und brauchte keine Bewachung; ein Risiko, das auf sich zu neh­ men von einer gewissen Armutsgrenze abhing. So stellte der Bürgermeister von Hoetmar fest: „Etwas vermögende Eingesessene wollen solche auch nicht aufnehmen, nur dürftige Eingesessene tun dies.“98 Die Frage nach den emotionalen Aspekten in der Irrenversorgung der ländlichen Gesellschaft, z. B. nach der Behandlung und Zuwendung, hat zu berücksichtigen, daß Gefühlswerte und -ausdrucksformen historisch und kulturell vermittelt sind, auch abhängen von der Organisation der materiel­ len Produktion. Angesichts der knappen und ständig von außen bedrohten Ressourcen und der geringen oder gar nicht vorhandenen Überschüsse in der ländlichen Ökonomie machte die körperliche Arbeitsfähigkeit einen zen­ tralen gesellschaftlichen Wert aus. Den Irren wurde ebenso wie allen Haushaltsmitgliedem eine möglichst große Arbeitsleistung abverlangt. Um diese zu erhalten, wurden sie - angesiedelt zwischen Gesinde- und Kindstatus, 44 von den 53 Personen in den Irrenlisten von 1824 waren unverheiratet, 21 Irre zwischen 16 und 30 Jahre und 29 Irre zwischen 30 und 50 Jahre alt von Seiten der Haushaltsvorstände oftmals (legitimen) Zwang ausgesetzt. So

98 STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 1026.

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lautete ein Passus im Kontrakt zwischen der Gemeinde Sassenberg und einem Kötter über die Unterbringung des „schwachsinnigen“ 27 Jahre alten Bernhard R. im Jahr 1818: „Muß er den Burschen so halten, verpflegen und versorgen, als wenn es seyn eigenes Kind wäre. Auch nöthigenfalls züchti­

gen, und wenn er sich nicht will züchtigen lassen, darüber Anzeige ma­ chen.“99 Zum 52jährigen Johannes D. bemerkte der Hoetmarer Bürgermei­ ster in seiner Aufstellung beispielsweise: „Eigensinnig, unfolgsam, träge, arbeitet ungern und nur, wenn er mit Strenge dazu angewiesen wird.“100 Diese „Strenge“ produzierte nicht allein den häufig beklagten „Ungehor­ sam“ der Irren und ihre angebliche Unlenkbarkeit bei ländlichen und häus­ lichen Arbeiten, sondern auch die am meisten gefürchtete Widerstandsform:

das Weglaufen, im zeitgenössischen Sprachgebrauch das „sinnlose Herum­ treiben“ und „Umherstreifen“, das z. B. in Erntezeiten den „Brotherrn“ emp­ findlich treffen konnte. Immerhin arbeiteten die Mehrzahl der in den Irren­ listen geführten Personen in der Landwirtschaft bzw. waren dort unterge­ bracht: elf bei der bäuerlichen „Oberschicht“, den Schulzen und Colonen des Landkreises, vier bei Köttern, sieben bei der landlosen Unterschicht der Heuerlinge, drei bei Tagelöhnern; außerdem waren drei Arbeitsknechte und zwei Mägde als selbständig eingetragen. Nur sechs Personen gehörten Haushalten an, die dem ländlichen Gewerbe zugerechnet werden: fünf We­ ber und ein Seilspinner. (Für die anderen Personen fehlen die Angaben.) Der Fall des Bauern V., der dem Landrat 1831 gemeldet wurde, scheint auf typische Weise das Selbstverständnis und die Handlungsweisen der Be­ teiligten zu erhellen. Angezeigt wurde V. durch einen Boten, der folgende Beobachtung zu Protokoll gab: „Am 22. des Monats kam ich am Garten des Meyers V. zu Marienfelde vorbei, wo ich sah, daß der V. seinen blödsinnigen Bruder in der Nähe des Hauses hin und her stieß, worauf die Frau des erstem hinzukam und ihn ins Haus zog. Der blödsinnige V. blutete am Kopf und schrie mehrmalen, er habe ja nichts getan, man möge ihn doch zufrieden lassen.“

Während der nachfolgenden Verhandlung stritt der Bauer diesen Vorfall zwar ab, betonte jedoch:

„Mein Bruder, der seit mehreren Jahren blödsinnig, ist bisweilen und besonders seit kurzem so eigensinnig, daß keiner in meinem Hause mit ihm umgehen kann, da er dies auch häufig äußert. Da er schwachsinnig ist, so wird alle Schonung mit ihm gebraucht, nur wenn seine Halsstarrigkeit übertrieben wird, weise ich denselben mit derben Worten zurecht.“

99 Ebd. Nr. 1097.

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100 Ebd. Nr. 1026.

Dies habe er auch in besagtem Fall getan, da der Bruder seine Wäsche zur Reinigung nicht habe hergeben wollen. Dieser sei nun wie schon öfters in solchen Fällen zu den im benachbarten Kirchspiel wohnenden Verwandten gegangen, werde aber wohl demnächst zurückkehren. Im übrigen glaube er, eher „die Hülfe der Polizei hinsichtlich meines blödsinnigen Bruders in Anspruch nehmen zu dürfen, nicht aber wegen einem Verfahren zur Unter­ suchung gezogen zu werden, indem es bekannt ist, daß er ein halsstarriger Kopf ist, welcher, wenn er nach freiem Willen handeln kann, durchaus nicht zu bändigen wäre“. Er quittierte die landrätliche Verwarnung, seinen Bruder nicht mehr zu mißhandeln, „widrigenfalls eine gerichtliche Untersuchung gegen ihn eingeleitet werde“ - Landrat Graf von Schmiesing hatte V.’s pro­ tokollarisch festgehaltene Verteidigung am Rand mit der Bemerkung „Blöd­ sinn, V. ohne Zweifel mißhandelt“, versehen - mit der selbstbewußten Er­ widerung, diese ruhig erwarten zu wollen. Der Schreiber notierte seine Aus­ sage, „daß er seinen Bruder mit Worten zurecht gewiesen, sei wahr und glaube er hierzu wohl befugt zu sein, da er und niemand sonst mit ihm umgehen könne“.101 Das Weggehen „nach fremden Häusern und Örtern“, mit dem der Bruder V. reagiert hatte, war offensichtlich oft die einzige Möglichkeit, sich bru­ taler Behandlung zu entziehen, eröffnete aber insbesondere den Menschen, die unter die bürgermeisterliche Charakterisierung „hat keine Begriffe, gar keinen Verstand“ fielen, also in keinen Arbeitszusammenhang einzubeziehen waren, keine besseren Lebensbedingungen. Im November 1820 wurde in der Gemeinde Sassenberg eine „herumirrende wahnsinnige Weisbsperson, ganz zerlumpt bekleidet“ vom Landsturm aufgegriffen. Die Frau kannte ihren Namen und Wohnort nicht. Sie hatte an der Wade eine frische Wunde von einem Hundebiß, und es waren ihr sämtliche Zehen an den Füßen erfroren. Sie sei, berichtete der Bürgermeister, so „hülflos wie nur irgend jemand auf Erden, wirklich erbarmungswürdig“. Auch sei sie nur für vier Groschen täglich „bei ganz geringen Leuten unterzubringen gewesen, da ihres ab­ schreckenden Äußeren wegen sie keiner gern aufnehmen wollte“. Uber die Ursache ihres „Unglücks“ klärte schließlich die Mitteilung des Landrates von Beckum auf, in dessen Landkreis ihr mit viel Mühe ermittelter Geburts­ ort lag. Sie war Halbschwester eines Tagelöhners und „schon mehrmals von ihm entflohen. Dieser weigert sich, sie zu verwahren und zu unterhalten“.102 Noch viermal finden sich in den Akten des Warendorfer Landkreises im Untersuchungszeitraum derartige Fälle, die stets mit dem Rücktransport auf Kosten der Heimatgemeinde und der Versicherung der zuständigen Bürger-

101 Ebd. Nr. 1025.

102 Ebd. Nr. 1030.

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meister abschließen, nun für andere Unterbringung und bessere Behandlung gesorgt zu haben. Betroffene stellten die behaupteten Erfolge von Versorgungsübereinkom ­ men jedoch öfters in Beschwerdebriefen und bei Bittbesuchen beim Landrat in Frage. Irre waren im Kontext dörflichen und obrigkeitlichen Handelns dieser Zeit keineswegs nur „stumme Opfer“. So forderte der „geistesschwa­ che“ Schustergeselle W. in mehreren Briefen an den Landrat eine andere Unterkunft, „da er nachts nicht im Heu liegen“ könne, was sein Meister verlange, eine Lohnauszahlung sowie „mehr Ruhe für meinen Verstand“, andernfalls wolle er wieder in „den Arrest“ gebracht werden. Auf Anfrage bestätigte der Amtmann von Harsewinkel, daß W. „bei seinem Meister von den übrigen Gesellen zu viel vexiert worden, daher seine Beschwerden“.103 Der „blödsinnige “ Schneider G. erschien im April 1847, einen Monat nach seiner Entlassung aus der Marsberger Heilanstalt, in der landrätlichen Be­ hörde und erklärte, „daß er ohne Beihilfe aus Armenmittel unmöglich fertig werden könne. Namentlich fehle es ihm an Kartoffeln, nicht nur zur Nah­ rung, sondern auch zum Pflanzen“. Vergebens habe er sich bisher um Un­ terstützung an den Armenvorstand und an den Herrn Amtmann gewandt. G.’s Appell mußte auf den Landrat Freiherr von Twickel überzeugend ge­ wirkt haben. Er wies den Amtmann von Harsewinkel an, „dafür zu sorgen, daß der Mann, wenn er, wie es scheint, bedürftig ist, die nötige Unterstüt­ zung erhält“. Der Amtmann, unangefochten durch adelige Fürsorgehaltung, antwortete knapp. „Der Bittsteller hat ein Besitztum, worauf nur 50 Reichs­ taler Schulden haften und ist nicht in der Lage, daß er der Unterstützung der Gemeinde bedürfe.“ Allerdings wolle er den Angehörigen aufgeben, ihn „gehörig“ zu beaufsichtigen und angemessen zu beschäftigen. Doch damit war G.’s elenden Lebensbedingungen wohl kein Ende gesetzt. Im Sommer des folgenden Jahres suchte er den Landrat wiederum zweimal auf. Er „be­ klagte sich, soweit aus seiner verworrenen Aussage zu entnehmen war, über schlechte Behandlung und Gelegenheit etwas zu verdienen. Sein Antrag schien dahin zu gehen, ihn wieder in die Irrenanstalt zu fördern“. Sichtlich belästigt und ohne diesmal auf die Nahrungssorgen des Schneiders einzuge­ hen, urteilte von Twickel: „Das aussichtslose Herumschweifen dieses un­ glücklichen Menschen ist für ihn wie für das Publicum gleich gefährlich. Es darf dieses nicht ferner geduldet werden.“ Auf seine Anweisung, die Unter­ bringung und Beschäftigungsart des „geistesverwirrten Schneiders“ schärfer zu beaufsichtigen, da Dr. Ruer dessen Unterbringung in der Pflegeanstalt abgelehnt habe, rechtfertigte sich der Amtmann, daß er den Weber H., den ,w Ebd. Nr. 1025.

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Schwiegersohn des G., „schon mehrmals protokollarisch angehalten habe, seiner Verpflichtung genügender nachzukommen“. Zugleich habe er „dem Gemeindevorsteher zur Pflicht gemacht, dem H. bei der Beaufsichtigung und Beschäftigung des G. mit Rat und Tat beizustehen, insbesondere aber auch darauf zu sehen, daß letzterer zu Hause gehörig verpflegt und mit Schonung behandelt werde“. Auch Gendarm und Polizeidiener seien „mit geeigneter Weisung versehen“.104

b) Die Symptome und Ursachen des Irreseins aus dörflicher Sicht Welches Verhalten als „irre“, „geistesverwirrt“ oder „geisteskrank“ - die letzte Bezeichnung drückte keine Abgrenzung oder eine andere Qualität in der zeitgenössischen Verwendung durch „Laien“ aus - definiert wurde, be­ stimmten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem sich die Psych­ iatrie als institutionelles und wissenschaftliches System erst zu etablieren beginnt, noch ausschließlich Angehörige und Nachbarn, also das soziale Umfeld des Kranken.

„Es ergibt sich darum, daß, was psychisch normal ist, zu einem hohen Grade von den Anschaungen der jeweiligen Gesellschaft abhängt ... und daß das Urteil der jeweiligen Gesellschaft darüber, ob jemand geisteskrank ist, im Grunde genommen nicht von irgendwelchen überall vorkommenden und sich gleichenden Symptomen abhängt ... Diese Relativität der Symptome erstreckt sich auch in unserer eigenen Gesellschaft auf verschiedene Klassen und Stände.“105

In einer historischen Untersuchung kann es nicht darum gehen, „überzeit­ liche“ Krankheitsbilder etwa von gesellschaftlich produzierten zu unter­ scheiden, noch das Vorhandensein geistiger Krankheit in einer sozialhisto­ rischen Diskussion überhaupt aufzulösen, sondern über die Analyse der Vorstellungen und der Umgangsweise einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe mit dem Abweichenden, Hinweise auf ihre spezifische Normen und Wertesysteme zu erhalten. Am häufigsten meldeten die Bürgermeister Personen in ihrem Dorf oder Bezirk, die plötzlich in „tobenden Wahnsinn gefallen“ waren und nun ent­ weder für die Dorfgemeinschaft „öffentlich“ gefährlich waren und/oder deren Familienmitglieder und Haushaltsangehörige „um Leib und Leben“ fürchteten. Bei den 48 Einzelfällen wurde sechzehnmal „tobender Wahn­ sinn“ gemeldet. Der plötzliche und in dieser Form auch wieder verschwin104 Ebd. 104 Erwin Ackerknecht, Kurze Geschichte der Psychiatrie. Stuttgart 31985 S.3f. 243

dende Charakter dieses Irreseins zeigte sich im Vergleich mit den Irrenlisten von 1824, in denen nur achtmal diese Bezeichnung eingetragen wurde, sie­ benmal mit dem Zusatz „ohne öffentliche Gefährlichkeit“. In den so be­ schriebenen Fällen ging es um ausgeführte oder angedrohte Gewaltakte, die jedoch im Dorf nicht als kriminell im Sinne von juristischer Verantwortlich­ keit der Täter beurteilt wurden. Dem Landrat mußten dafür die Gründe dargelegt werden. In diesem Zusammenhang waren die Aussagen der Nach­ barn und Familienmitglieder und des Bürgermeisters selbst, als Angehöriger der Dorfgemeinschaft, von zentraler Bedeutung. Warum jemand den dörf­ lichen Verhaltenskonsens aufkündigte, also die vermuteten Ursachen des Irreseins, gehörten in manchen Fällen zur Begründung der „Unzurechnungs­ fähigkeit“ und wurden der vorgesetzten Behörde ebenfalls mitgeteilt. Fast alle gemeldeten Fälle zeigen, daß es eine Dialektik von Zuschreibung bzw. Definition von Irresein in der ländlichen Gesellschaft und von dort geübten Ausdrucksformen von Seiten der abweichenden Personen gab, die ihr Irre­ sein zumeist in kulturell verständlicher Form artikulierten.106 Die öffentliche Gefährlichkeit eines oder einer tobenden Wahnsinnigen manifestierte sich bei den Beobachtern vor allem anderen in der - die bäu­ erliche Gesellschaft existentiell treffenden - Drohung, Brand zu legen oder einen solchen „unbeabsichtigt“ etwa durch den Verlust der Kulturtechnik Feuer zu beherrschen, zu verursachen.107 Der „Besitzer eines ansehnlichen Colonats“, Wenzel H., im Januar 1818 „in einen Wahnsinn, der an Tollheit gränzt, gerathen“, sei - das bestätigten sein Knecht und seine beiden Nach­ barn - unter anderem „mit gezücktem Säbel heraus geritten und habe Mord und Tod gedroht, er wolle die ganze Bürgerschaft in Brand stecken“. Schon im Frühjahr 1817, erklärte zudem einer der Zeugen, habe H. „durch seine Fenster geschossen und zugleich die Fensterscheiben eingeschlagen“.108 Der Arbeit suchende Schustergeselle W., der 1846 wegen eines versuchten Betru­ ges mit Papiergeld angezeigt wurde und vielleicht zur möglichen Entlastung aussagte, er leide seit drei Jahren an „indes wieder gebesserter Geisteskrank­ heit“ galt erst „geistesverwirrt“, als „die vorliegende Tatsache“ bekannt wur­ de, daß „er auf Befehl des heiligen Laurentius die Stadt Warendorf hatte 106 Das bestätigen die Arbeiten von M. MacDonald, Mystical Bedlam, und Eric MidelSin, Melancholy, Obsession: Insanity and Culture in 16th Century Germany, in: Understanding Populär Culture. Hg. Steven L. Kaplan. Berlin/New York 1984 S. 113-145. 107 Zur „kriminellen“ Brandstiftung in der ländlichen Gesellschaft s. Regina Schulte, Feuer im Dorf, in: Räuber, Volk und Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutsch­ land seit dem 18. Jahrhundert. Hg. Heinz Reif. Frankfurt/M 1984 S. 100-152; Dies., Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts, Oberbayern 1848 bis 1910. Reinbek 1989 S. 41-117. 108 STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 1034. fort,

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anstecken wollen“. Seine Absendung nach Marsberg kam schließlich auf Betreiben des Landrates gegen den Willen der Gemeinde, die ihn „als guten Arbeiter“ bei einem Meister untergebracht hatte, zustande. W. hatte von Twickel nämlich bei einem seiner Beschwerdebesuche wiederum angedroht, falls ihm nicht gewährt werde, was er verlange, „werde er die hiesige Stadt anzünden“.109 In vielen der Fälle gehörte die Branddrohung zum „Standardrepertoire“ der beschriebenen Merkmale „tobenden Wahnsinns“ oder seiner befürchte­ ten Folgen und wurde umgekehrt auch von Irren selbst als Ausdruck ihres Zerfalls mit der Dorfgemeinschaft oder ihren Verwandten ohne konkrete Ausführungsabsicht gebraucht. Die „geistesschwache“ Elisabeth G. z. B., Tochter „eines Kötters in schlechten Verhältnissen“, zeigte sich - so der Bürgermeister von Beelen - „höchst eigensinnig und widerspenstig, habe seit einigen Tagen Neigung zum Herumtreiben und spräche von Selbstmord und Brandstiftung“.110 Doch hatte die Branddrohung nicht nur symbolische Be­ deutung wie das Beispiel des „geisteszerütteten“ S. aus Sassenberg, „der die Feldzüge nach Frankreich 1814/15 mitgemacht (hatte) und nach seiner Rückkehr eine Grad von Blödsinnigkeit zeigte“, verdeutlichte. Nachdem S. seine Schwester nach deren Ankündigung, das gemeinsam bewohnte Haus verkaufen zu wollen, um als Dienstmagd nach Münster zu gehen - „ich habe als 26jährige ledige Frau es beschwerlich genug, mich selbst zu ernähren“ aus dem „Haus vertrieben“ hatte, und sie ihrer Aussage nach „ihr ganzes Hab und Gut dem Schicksal überlassen mußte“ - „wobei ich hauptsächlich meine Kuh bedaure, die er jedoch vielleicht nicht mißhandeln wird“ -, zündete er nach erfolgtem Verkauf das Haus an. Um sein Irresein zu do­ kumentieren, schrieb der Bürgermeister an den Landrat über die Lebenswei­ se des S.: „Er lebte roh und wild, genoß unzubereitete Speisen, hat kaum die notdürftigsten Kleider, dennoch wies er jede Gabe von sich und lebte allein.“111 Eine solche Beschreibung kam der alten bis Mitte des 18. Jahr­ hunderts allgemeingültigen Vorstellung von den Irren als Tiere nahe. Diese Konnotation war sicher nicht unbeabsichtigt, auch wenn der Bürgermeister auf den ersten Blick nur die Lebensbedingungen des S. nach dem Auszug der Schwester geschildert hatte. Militärpersonen112 galten - das bestätigen sowohl die Irrenlisten wie die einzeln überlieferten Meldungen an die Landräte - als besonders gefährdet, in den „tobenden Wahnsinn“ zu verfallen. So stellte der Sassenberger Bür109 Ebd. Nr. 1025. 1,0 Ebd. Nr. 1029. 1,1 Ebd. Nr. 1030. 112 Zur Steilung der Militärpersonen und ihrer Angehörigen in der städtischen Sozialstruktur im späten 18. Jahrhundert Jürgen Kocka, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800. Bonn 1990 S. 104-108.

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germeister im Fall S. den Antrag, der Staat solle statt der Gemeinde die Verpflegungskosten in Marsberg übernehmen, da „die Geisteszerüttung des S. doch wohl nur als Folge der mitgemachten Feldzüge zu betrachten ist, ... solches auch noch näher nachzuweisen ich erbötig bin“. Auch der oben erwähnte Kötter H. bedrohte wohl nicht zufällig mit gezücktem Säbel um­ herreitend die Dorfgemeinschaft. Die Einberufung in den Militärdienst 1808 hatte laut ärztlichem Gutachten den ersten Einbruch in seine bis dato gefe­ stigte Existenz verursacht.

„Der Wenzel H., jetziger Anerbe, ein fleißiger Schulknabe, im 13 bis 15ten Jahre ein getreuer Hirt der ihm anvertrauten Schafherde seines Vaters und im 15-21(ten) Jahre ein arbeitsamer Fuhrknecht bei anderen Leuten, als ihn das Jahr 1808 zum Militärdienst aufforderte, nicht daran gedenkend, daß ihm ein alter noch jetzt tra­ gender Fußschaden davon ausschließen könne, wollte die dadurch heruntergestimm­ ten Saiten seiner sonst munteren Laune durch geistige Getränke wie sein Vater in Wohlklänge bringen, aber vergebens, eine tiefe Melancholie überfiel ihn, in welcher er vor sich hinging, nicht mehr arbeitete und oft die Worte sagte, ob er wohl für 100 Reichstaler vom Militärdienst freikommen könne.“

Wie bedrohlich allerdings die Einberufung zum Militärdienst im Einzelfall sein konnte bzw. eingeschätzt wurde, machte der Bericht des Bürgermeisters von Ostbevern 1847 klar, in dem als mögliche Ursache für den Selbstmord des Ackerknechts dessen „Notierung bei der diesjährigen Militäraushebung“ genannt wurde.113 Der Bürgermeister von Harsewinkel hielt bei dem 36jährigen Otto E. folgende Eintragung in die Irrenliste für nötig: „3/4 Jahr bei den französischen Truppen gedient“. Sein Everswinkler Amtskollege ver­ merkte unter der Spalte „Ursache und Dauer der Gemütskrankheit“ bei dem Schulzensohn und Ackerknecht W.: „von früherer Abneigung gegen den Soldatenstand, Zurechnung zu demselben und Entlassung nach einem hal­ ben Jahr.“ Auch ehemalige Offiziere wie der berittene Grenzaufseher und Leutnant a.D. von L. waren von schwerer Gemütskrankheit bedroht. 1846 verfiel von L. in solch einen „krankhaften Zustand daß schon Bändigungs­ mittel angewandt werden“ mußten.114 Die sozialpsychologischen Auswirkungen der „napoleonischen Erschütte­ rungen“ auf die Bevölkerung, die Werner Blessing für Bayern ausgemacht hat, jene „Umbruchkrise und Verstörung“, die einen Mentalitätswandel aus­ lösten bzw. den Abbau traditionaler Muster beschleunigten, lassen sich für das östliche Münsterland für die Devianzindikatoren Wahnsinn und Selbst­ mord nicht bestätigen. Die Kriege, Truppendurchmärsche und Einquartie1U STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 606 (< 1887“). 114 Ebd. Nr. 1030.

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„Der Selbstmord im Kreis 1819-

rungen - bei Blessing auslösende Faktoren der Umbruchkrise - während der sogenannten Franzosenzeit in Westfalen und die anschließenden Kriege der Alliierten zogen im Landkreis Warendorf keine „kollektive Flucht aus eta­ blierten Verhaltensmustem“ nach sich.115 Allerdings wurde in der ländlichen

Gesellschaft der ersten Jahrhunderthälfte der Soldatenstand als gefährlich für das notwendige Gleichgewicht der Seele, des Gemüts und der Leiden­ schaften angesehen.

Die Verletzung einer weiteren „Norm der hausväterlichen Ordnung“ war den Dörflern ein wichtiges Symptom des Irreseins, das mit zu dem Bild des „tobenden Wahnsinns“ gehörte, nämlich der Bruch mit den Regeln des Gehorsams und der Unterordnung im hierarchisch organisierten Haushalt sowie unverhältnismäßige - von den Nachbarn konstatierte - Ausübung von Gewalt des männlichen Haushaltsvorstandes gegenüber der Ehefrau, den Kindern und dem Gesinde.116 Diese Form der Normverletzung provozierte bei Zeugen oftmals auch Bestrafungswünsche. Die Grenze zwischen Krimi­ nalität und Irresein war bei diesen Fällen in der Einstellung der ländlichen Gesellschaft noch in der ersten Jahrhunderthälfte nicht klar konturiert. So hielt es der Bürgermeister von Freckenhorst im Jahr 1831 für „höchst not­ wendig, daß der bisweilen an Tobsucht leidende Franz H. mal abwechselnd

bei Wasser und Brot eingesperrt werde, indem er neuerdings seine Mutter geschlagen hat und fast täglich im Hause Unordnung und Störung veran­ laßt“.117 Der schon erwähnte Wenzel H. wurde so gewalttätig, „daß seine Frau und alles Hausgesinde vor ihm fliehen und die Polizei ihn an die Kette legen mußte“. War der tobende Wahnsinn an sich eine Form des Irrsinns, der aufgrund seiner physischen Komponente vorzüglich Männern zugeschrieben wur­ de118, konnten aber auch Frauen im Einzelfall zur „tobenden Furie“ werden. 115 Werner Blessing, Umbruchkrise und „Verstörung“. Die „Napoleonische“ Erschütterung und ihre sozialpsychologische Bedeutung, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichtc 42. 1979 S. 75-106, Zitat S. 78; Ders., Umwelt und Mentalität im ländlichen Bayern. Eine Skizze zum Alltagswandel im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 29. 1979 S. 1-42; Ders., „Der Geist der Zeit hat die Menschen sehr verdorben...“. Bemerkungen zur Mentalität in Bayern um 1800, in: Reformen im rheinbündischen Deutschland. Hg. Eberhard Weis. Mün­ chen 1984 S. 229-250. 116 Vgl. zu diesem Symptom auch die Patientenakten des Arztes Richard Napier aus dem 17. Jahrhundert bei M. MacDonald, Mystical Bedlam S. 128 ff. 1,7 STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 1027. 118 Vgl. Elaine Showalter, The Female Malady. Die Autorin untersucht „how, in a particular cultural context, notions of gender influence the definition and, consequently, the treatment of mental disorder“. (S. 5) Für diesen Zusammenhang s. auch Carroll Smith-Ros en berg, Weibliche Hysterie. Geschlechtsrollen und Rollenkonflikt in der amerikanischen Familie des 247

„Die Frau des Tagelöhners S. ist im höchsten Grade unklug, tobt und gebärdet sich dermaßen, daß ein Unglück zu beförchten steht“, meldete der Bürgermeister von Harsewinkel im August 1817 und drängte vier Wochen später mit dem Satz, „daß Mann und Kinder Lebensgefahr befürchten müs­ sen“, den Landrat zur Unterbringungsentscheidung. Im angeforderten Gut­ achten erläuterte der „praktizierende Arzt“, in diesem Zeitraum den dörfli­ chen Beobachtungskriterien noch sehr „nah“ und eindeutig „parteiisch“:

„Bei ihr begann das Übel schon vor Jahr und Tag und sprach sich durch eine unsinnige, wie ich vernehme auch nicht entferntest gegründete, Eifersucht aus. In­ zwischen verschlimmerten sich die Vermögensumständc des geplagten Mannes und nun gesellten sich bei seiner unglücklichen Frau zu jenem fatalen Irrwahn, wovon sie wie von einem Gespenste gequält ward, noch die leidige, sie Tag und Nacht folternde Furcht, in gänzlichen Armuth zu gerathen. ... Auf den Mann mußte alle Schuld fallen, und da er anfangs der verachtete Gegenstand eines verschlossenen Kaltsinns war, so ward er, bei steigender Verstandesverwirrung, das Stichblatt einer tobenden Furie. ... Zur Zeit der luciden Intervalle ist die Gemütskranke zu allerlei, im gemei­ nen häuslichen Leben vorkommenden Hausarbeiten gut zu vermögen, nur muß der ewige Antipode ihrer Lebenslust, der arme Ehemann, nicht in die Quere kommen.“119

Die im Fall S. durchaus begründete „Furcht in gänzliche Armuth zu gera­ then“, erschien den ländlichen Beobachtern eine plausible Ursache des Irr­ sinns, von dem im Landkreis besonders arme Frauen betroffen wurden. An dem Prozeß des Übergangs von Verarmungsfurcht in Wahnsinn nahmen mindestens die Nachbarn von Anfang an teil. Bei der „vom Wahnsinn über­ fallenen“ Kötterfrau E. war der Dorfvorstand von Ostbevern 1838 bereit gewesen, helfend einzugreifen. „Ich sowohl als mehrere Eingesessene hiesigen Kirchspiels, denen die Umstände des E. näher bekannt waren, hielten dahin, daß die Ursache dieser Geisteszerüttung hauptsächlich in den Nahrungs-Sorgen zu finden sind, denn der E. habe 8 größten­ teils noch ganz kleine Kinder zu Hause und er selbst besitze eine ganz kleine mit sehr schweren Lasten und vielen Schulden belastete Kötterei. Im strengsten Sinne des Wortes könne E. arm genannt werden. Nach genommener Rücksprache mit den Armenvätem ließ man dem E. alles Mögliche aus Armen-Mitteln zukommen, indem man dadurch hoffte, die Gesundheit der Ehefrau wieder hergestellt zu sehen, auch ließ man derselben ärztliche Hilfe und Arzney verabreichen.“120

Die „tobenden Wahnsinnigen“ zerstörten für jeden sichtbar und gewaltsam Form und Regeln der ländlichen Existenzsicherung. Dabei setzten sie zu19. Jahrhunderts, in: Listen der Ohnmacht Hg. Claudia Honegger/Bettina Heintz. Frankfurt/M 1981 S.276-300; E. Fischer-Homberger, Krankheit Frau; Yannick Ripa, La Ronde des folles. Femme, folie et enfermement au XIXe siede. Paris 1986. 119 STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 1025. 120 Ebd. Nr. 1028.

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meist kulturell verständliche Zeichen wie Brandandrohung, Gewalt gegen Haushaltsangehörige und Zerstörung eigener materieller und unter Umstän­ den statuszuweisender Güter wie Fensterscheiben, Hausrat und Ackergeräte. In der ländlichen Gesellschaft wurden während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber auch noch weitere Formen des Irreseins benannt. Gemein­ sam waren der Schwermut, Skrupulosität, dem religiösen Wahn und ver­ rücktem Müßiggang, daß die beobachteten Symptome im Gegensatz zu denen des tobenden Wahnsinns zumeist keinen so plötzlichen existentiellen Bruch markierten. Um einer Person diese Formen des Irrsinns zuzuschrei­ ben, mußten Merkmalsbündel zusammengefaßt werden. Eine klare Abgren­ zung und eindeutige Bestimmung verschiedener „Krankheitsbilder“ gab es in der ländlichen Gesellschaft dieser Zeit nicht. Ende des 18. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde in der aufklärerischen Öffentlichkeit der „religiöse Wahnsinn“ und sein angebliches Anwachsen zu einem vieldiskutierten Thema. Dabei wurden u.a. zwei Thesen vertreten, zum einem von dem Vorzug der katholischen Religion für die geistige Ge­ sundheit der Gläubigen und zum anderen von der größeren Anfälligkeit der Frauen, „durch religiöse Vorstellungen überwältigt zu werden“.121 Die erste Behauptung wird von Ruers Irrenstatistik der Provinz Westfalen relativiert. Danach gehörten 1829 insgesamt 935 Irre der katholischen, 556 der evan­ gelischen und 17 der jüdischen Religionsgemeinschaft an, 27 waren „nicht confirmiert“. Die Gesamtzahl der evangelischen Irren verhielt sich zur Ge­ samtzahl der evangelischen Bevölkerung wie 1:962, der katholischen Irren zur katholischen Bevölkerung wie 1:786, der jüdischen Irren zur jüdischen Bevölkerung wie 1:758. In Ruers Aufstellung über die „psychische(n) Ursa­ chen des Irreseins“ in Westfalen standen „Religionsschwärmerei und Religionsscrupel“ mit 51 Fällen an der Spitze, davon lebten 27 im Regierungs­ bezirk Münster. Die geschlechtsspezifische Betroffenheit von dieser Form des Irreseins wird indes in dieser Tabelle bestätigt. Von den 51 Irren waren 34 weiblich, im Regierungsbezirk Münster sogar 20 von den 27 Personen.122 Im überwiegend katholischen Landkreis Warendorf finden sich in den Akten nur fünf einzeln überlieferte Fälle „religiösen Wahnsinns“. Auffällig ist, daß es nur wenige schriftlich festgehaltene Äußerungen von Pfarrern in diesem Zusammenhang gibt. Auch die Bürgermeister und die dörflichen Zeugen sind mit dieser Charakterisierung zurückhaltend. Fragen, wie die 121 Detlef Feldmann, Die „religiöse Melancholie“ in der deutschsprachigen medizinisch­ theologischen Literatur des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Diss. med. Kiel 1973 S. 54. Zur Genese der Theorie von der religiösen Melancholie im 18. Jahrhundert Markus Schär, Seelennöte S. 98 ff. 122 W. Ruer, Irrenstatistik S. 169, 22 ff.

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Kompetenzen zwischen Klerus und Ärzte abgegrenzt und geregelt wurden,

und wer welche Formen von Religiosität als krankhaft beurteilte und zur Anzeige beim Landrat brachte, können anhand des Warendorfer Quellen­ materials nur ansatzweise diskutiert werden.123 In dem dringenden Gesuch des Sassenberger Bürgermeisters um Aufnah­ megenehmigung für die Tagelöhnerin Franziska M. in die Marsberger Ir­ renanstalt 1842 fehlen die sonst üblichen Benennungen und Charakteristika ihres Irreseins. Es wird lediglich mitgeteilt, daß „Franziska M. sehr schwer zu beaufsichtigen“ sei, da „sie jede Gelegenheit benutzt, sich zu entleiben oder zu beschädigen“. Das Gutachten des Kreisphysikus bestätigte die zeit­ genössische ärztliche Auffassung vom religiösen Wahnsinn, der „vorzüglich den Weibern von sehr lebhafter Einbildungskraft und eingeschränktem Ver­ stände eigen“ sei124 und berichtete von den sozialen Zeichen, die Frau M. im Verlauf ihrer Krankheit gesetzt hatte. „Die Ehefrau M., arbeitsam, reli­ giös, von ihren Bekannten geachtet“ - so Dr. Fischer - habe vor mehreren Jahren ein silbernes Kreuz gefunden, daß sie an einen Juden für 20 Silber­ groschen verkaufte. Später bekam sie Skrupel und „der Gedanke peinigte sie füchterlich, nie diese Verbrechen gebeichtet“ zu haben. Sie sprach über ihre Angst, „sich dadurch dem Teufel verkauft zu haben, fürchtet(e) jeden Augenblick zur ewigen Verdammnis abgeführt zu werden“. So verließ sie schließlich „ihr eigenes Haus, um bei Nachbarn zu schlafen“ und begann, „ihre Wirtschaft zu vernachlässigen, der sie früher mit großer Liebe vorge­ standen“. Laut ärztlichem Gutachten „hackte sie sich dann die linke Hand fast ganz ab, denn diese Hand hätte dem Juden das Kreuz verkauft“.125 Die Angst nicht erlöst zu werden, führte „religiöse Wahnsinnige“ öfters als andere Geisteskranke zu selbstzerstörerischen Handlungen bis hin zum Selbstmord.126 125 Die historische Erforschung von Frömmigkeitsformen und religiösen Kommunikations­ strukturen während der Auflösung der alten ständischen Ordnung in Deutschland steht noch immer am Anfang, dazu Wolfgang Schieder, Religion in der Sozialgeschichte, in: Sozialge­ schichte in Deutschland 3. Hg. Ders./Volker Sellin. Göttingen 1987 S. 9-31; zu den Reak­ tionen der Kirchenhierarchie und der aufgeklärten Staatsbürokratie auf eigengesetzliche For­ men von Volksfrömmigkeit Fintan Michael Phayer, Religion und das Gewöhnliche Volk in Bayern in der Zeit von 1750-1850. München 1970; Werner Blessing, Staat und Kirche in der Gesellschaft. Institutionelle Autorität und mentaler Wandel in Bayern während des 19. Jahr­ hunderts. Göttingen 1982; Jonathan Sperber, Populär Catholicism in Nineteenth Century Germany. Princeton 1984. 124 W. Perfect, Verschiedene Arten des Wahnsinns. Leipzig 1789, zit nach D. Feldmann, „Melancholie“ S. 54. 125 STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 1034. 126 Vgl. die Beschreibungen der aus religiösen Gründen „mentally disturbed patients“ bei M. MacDonald, Mystical Bedlam S. 133 ff., und der Selbstmörder aus religiösen Gründen bei

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Die religiöse Verursachung des Irreseins wurde auch bei dem „Kötterei­ besitzer“ Hermann W. erst von dem gutachtenden Arzt mit der Diagnose „religiöse Skrupel“ behauptet. Dieser vermerkte, „daß er wie sein toter Vater oft die geringfügigste Handlung für eine große Gewissensache oder Sünde

hielt“. Der Bürgermeister von Milte hatte zuvor bei seinem Besuch in Be­ gleitung des Gendarmen zur Prüfung von W.’s Gesundheitszustand vorsich­ tiger festgestellt: „Er redete nur im allgemeinen von Theologie und Pfilosofie und es scheint, daß er nicht anders geheilt werden kann als in der Irrenan­ stalt zu Marsberg.“ Der Pfarrer gab eine medizinische, „somatische“ Erklä­ rung ab. Die Geisteskrankheit des W. habe vor zwei Jahren begonnen, sich aber durch die Hilfe einiger Nachbarn, die ihn dazu brachten, wieder zu arbeiten, gebessert. Dann habe er jedoch an einem der heißesten Tage meh­ rere Stunden in der brennenden Sonnenhitze auf dem Feld gearbeitet und heftiges Kopfweh bekommen. Um die Schmerzen zu stillen, habe er anhal­ tend kaltes Wasser über den Kopf gegossen. Gleich am anderen Tag sei eine Geistesverwirrung aufgetreten, die so zugenommen, daß er nun wahnsinnig sei. Über den Verlauf dieses Wahnsinns berichteten „Freunde und Nach­

barn“, daß der W. sich zunächst „oft in religiösen Anschauungen und Be­ trachtungen verloren“ habe, nicht mehr arbeitete und „seinen Ackerpflug mit unsinnigen Handelsspekulationen vertauschte“. Dadurch „zum Hohn und Gelächter anderer geworden“, habe er sich jedoch für klüger als sie

gehalten, sei ganze Nächte aus dem Haus gegangen und habe Bauern aus dem Schlaf geweckt, um ihnen Holz und Federvieh abzukaufen. Über die schließliche Behandlung des Kötters im Dorf äußerte sich der Physikus in

seinem Gutachten kritisch:

„Seiner Freiheit beraubt, in einer Stube eingesperrt und von Wächtern bewacht, die er für Bauernjungen, Flegel, Bengel ausschalt und dafür manche Portion Prügel erhielt, wurde er ein völliger maniacus, so daß er den Ofen und die Wände seiner Stube einstieß, die Fenster mit Steinen einwarf, überwälltiget und an Ketten gelegt werden mußte.“127

Dems./Terence R. Murphy, Slcepless Souls. Suicide in Early Modern England. Oxford 1990 S. 201 ff., und bei M. Schär, Seelennöte. Allerdings wurde in nur einem Fall religiöser Wahnsinn in den Meldungen über Selbstmorde im Landkreis Warendorf genannt und zwar bei der einzi­ gen Frau, der achtzehn registrierte Selbstmörder zwischen 1819 und 1850 gegenüberstanden. Sechsmal wurde als Selbstmordursache von den Bürgermeistern eine nicht weiter beschriebene „Gemütskrankheit“ angegeben. Die Selbstmordhäufigkeit erfuhr im angegebenen Zeitraum kei­ ne Steigerung; Selbstmorde wurden nicht in jedem Jahr amtlich bekannt und kamen ansonsten ein- bis zweimal jährlich zur Anzeige. STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 606. 127 Ebd. Nr. 1032.

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Auch bei dem wegen Selbstmordgefahr und „Beleidigung der öffentlichen Sittlichkeit" gemeldeten Kötter L. erfahren wir nichts über den Inhalt seiner nach ärztlicher Aussage „zu große(n) Religiosität" und seiner „schwärmeri­ sche^) Religionsbegriffe bei einem gar begränztem Bauren Verstände, durch Nahrungssorgen und schlechte Jahre herbeigeführt“.128 Demgegen­ über wurde das religiöse Anliegen des „professionslosen“ Heinrich D. aus Freckenhorst in seinen erhaltenen Briefen deutlich, die er unfrankiert an den wenig erfreuten Kreisphysikus schickte, der ihn vor Gericht für „blödsinnig" erklärt hatte. D. beschuldigte den Arzt, ihn zu hindern, Menschen „vom Tode zu befreien", was ihm mit Hilfe eines „Himmelsbrotes" möglich sei.129 Keine Erlösungsbotschaft, sondern einen stellvertretenden Besitzanspruch auf Kloster Vinneberg machte der Köttersohn Johann R. in mehreren Ein­ gaben an die Regierung und den Landrat geltend.130 Er protestierte damit gegen die Übergabe der Klostergebäude zur Emeriten-Anstalt und hatte vermutlich - ebenso wie die in der Irrenliste von Freckenhorst als „aufge­ hobene Nonne“ geführte Catharina I. - die Folgen der Säkularisation nicht „bewältigt“. Catharina I.’s Krankheit „ist partiell auf einen fixen Wahn - es gibt keinen Gott, keine Religion mehr - sich beziehende Verstandesverwir­ rung“, war in der Spalte „Gattung der Gemütskrankheit" auf der Irrenliste eingetragen. An einer neu durchgesetzten gesellschaftlichen Norm, der allgemeinen Schulpflicht, scheiterte auch die Köttersfrau Maria M. 1818, die ihren Wi­ derspruch gegen die Kirche als Vertreterin der Obrigkeit richtete. Nach Auskunft des Bürgermeisters weigerte sie sich, ihre Kinder zur Schule zu schicken, wurde „rasend und schrie, es wären ihre Kinder nicht mehr". Danach lief sie „heimlich“ in die Kirche, warf den Leuchter vom Altar, zerstörte die „Communikantenbank“ und zerriß das Meßbuch. Die Aussage ihres Mannes, sie sei jetzt „wieder ganz vernünftig“, und er wisse ihre „kleinen Anfälle von Wahnsinn“, die sie „seit ihrem letzten Wochenbette“ habe, jedesmal vorher, rettete Frau M. vor der Einsperrung, die der Bür­ germeister alternativ zur ärztlichen Behandlung dem Landrat zur Entschei­ dung angetragen hatte.131 Immer wieder befanden sich die Bürgermeister in dem Konflikt zwischen dem alten Verhaltensmuster der Einsperrung und Korrektion von Irren und neuer (bürgerlicher) oberbehördlich geforderter Umgehungsweise mit dem Irresein, nämlich dessen Beurteilung als Krankheit, die in den Bereich ärzt­ licher Begutachtung und Behandlung fiel.132 Dies gilt uneingeschränkt auch IM Ebd. Nr. 1027. 129 Ebd. 1,0 Ebd. Nr. 1029. ni Ebd. Nr. 1030. 132 Die Gleichzeitigkeit beider Einstellungen und die Verschiebung zugunsten der Verleihung eines Krankheitsstatus in England und Nordamerika R. Porter, Mind-Forg’d Manacles 252

noch für die 1830er und 40er Jahre, als die Anstalt in Marsberg bereits in eine reformierte Irrenheilanstalt umgewandelt und die Korrektionsabsicht nicht mehr auch Ausdruck der bestehenden Unterbringungsituation war. Das Bestreben, einen irren Menschen einzusperren und zu bestrafen, schob sich vor allem in den Vordergrund bei den beschriebenen Fällen von Unge­ horsam.

Ein anderer Verstoß gegen soziale Verhaltensregeln war die „öffentliche Unsittlichkeit“, wobei das Bedeutungsspektrum von „unsittlichem Verhal­ ten“ breit gefächert war. „Unsittlich verhält sich alles in allem der oder die, welche(r) sich anderen Dingen widmet als seiner Arbeit, seinem Zuhause oder der Mehrung seines Vermögens.“133 Diese Charakterisierung haben Arlette Farge und Michel Foucault für die zeitgenössische Verwendung des Begriffs Unsittlichkeit in den „Lettres des cachet“ Mitte des 18. Jahrhun­ derts gebraucht. Sie trifft auch für die dörflichen Aussagen im Landkreis über „Müßiggang“, „Umhertreiben“ und „Straßentumult“ von Personen zu, deren geistige Verantwortlichkeit für jene „polizeiwidrigen Exzesse“ aber erst noch von Fall zu Fall geklärt werden mußte. So meldete der Bürgermei­ ster von Harsewinkel 1840 den Schneider G., „welcher an einer Art Ver­ rücktheit leidet und in diesem Zustand die Lust und Liebe zu jeder Arbeit verliert, folglich sich dem Müßiggänge hingeben muß“. Er bat um „Abfüh­ rung des G. zur Heilanstalt“ für ein halbes Jahr, wofür er einen landrätlichen Verweis einstecken mußte.

„Wie wenig sie sich übrigens mit den derfalsigen Bestimmungen bekannt gemacht haben, geht aus dem Antrag auf */2jährige Absendung des G. nach Marsberg hervor; gerade als wenn dies eine Correktionsanstalt wäre, oder als ob sie die Heilung des Kranken binnen dieser Frist verlangten.“ In der Tat hatte Landrat von Twickel die Ambivalenz in der Einstellung des Bürgermeisters gegenüber G.’s Irresein richtig gedeutet. Zwei Jahre später der Schneider war nicht nach Marsberg gebracht worden - stellte der Harsewinkelner Bürgermeister einen neuen Antrag auf „Abführung“ des G., dieses Mal in die Korrektionsanstalt, d.h. in das Landarmen- und Arbeits­

haus Benninghausen.

S. 110 ff.; Mary Ann Jimenez, Madness in Early American History: Insanity in Massachusetts from 1700 to 1830, in: Journal of Social History 20. 1986 S. 25-44; George Rosen, Social Attitudes to Irrationality and Madness in 17th and 18th Century Europe, in: Journal of the History of Medicine 18. 1963 S. 220-240. *” Arlette Farge/Michel Foucault, Familiäre Konflikte. Die „Lettres de cachet“ aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M 1989 S. 35.

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„Meines Erachtens ist die Lebensweise des G. keine Geisteskrankheit, sondern nur Trägheit im Arbeiten, woran er sein Lebtage noch keine besondere Lust gezeigt und sucht durch Bettelei durch die Welt zu kommen, läßt seine Frau und Kinder darben, da er noch jung und rüstig genug ist, um seine Familie ernähren zu können. Die früher erwähnte Geisteskrankheit, möchte ich glauben, ist nur mehr Verrücktheit in Scheu vor Arbeit gewesen, da er vernünftig genug ist, auf Bettelei auszugehen und wenn es ihm launet, auch arbeiten zu können.“134 Auch „ganze Tage im Bett zu bleiben“, sich „unausgekleidet am Tage“ hineinzulegen, „unausgekleidet im blossen Hemde im Hause herumzuirren“ oder „des Nachts vom Hause fortzubleiben“, galt als Symptom für Irresein und nicht für Unsittlichkeit und moralische Schuld. Doch verwischte sich diese Unterscheidung zumeist in der Diktion der Dörfler, wenn sie über irre Personen aussagten. Die Gamspulerin und ehemalige Dienstmagd Marianne S. war schon zweimal wegen „Hangs zur Unzucht in der Correktionsanstalt Benninghau­ sen“ gewesen, als sie 1837 53jährig auf „dringenden Wunsch“ des Bürger­ meisters und „des gesamten Armenvorstandes “ in die Irrenpflegeanstalt ge­ bracht werden sollte. Obwohl sie „laut dem Zeugnisse ihrer sie stets umge­ benden Bekannten sich immer ruhig und verträglich verhält, auch der Arbeit nicht abhold“ war, erfüllte sie nicht alle Kriterien für eine problemlose Integration in ihrem Dorf.

„Die S., obgleich wie bereits gesagt, immer ruhig und auf der Straße niemand belästigend, zeigt beim Ausgehen ein so auffallendes Wesen, wodurch sie die Blicke auf sich zu ziehen suchet, daß dieses auf Fremde einen, bei den ausgezeichneten Anstalten der Provinz und der Bedeutendheit unseres Armenfonds eine sehr ungün­ stige Meinung hervorbringt. Außerdem hat es bei allen Vorkehrungen doch nicht beseitigt werden können, daß die S. besonders gegen die Dunkelheit und am Abende Haufen von Gassenjungen um sich versammelt, die sie dann reizen und ärgerliche Auftritte hervorrufen.“ In dieser Antragsbegründung war nicht von Irrsinn oder Geisteskrankheit die Rede. Sie zielte eher auf eine Unterbringung in Benninghausen, wäre nicht der einleitende Passus im Schreiben des Bürgermeisters: „Nach dem auf wiederholter sorgfältiger Untersuchung gegründeten ärztlichen Gutach­ ten des Kreisphysikus gehört die S. zu jenen Wahnsinnigen, die mit einer fixen Idee behaftet sind, die indes über andere Gegenstände der Vernunft gemäß zu urtheilen vermögen.“ Damit „qualifizierte“ sie sich bei Landrat

134 Der Fall G. in: STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 1025. Zur Anstalt in Ben­ ninghausen s. Martin Gunga, Medizin und Theologie in der öffentlichen Sozialfürsorge des 19. Jahrhunderts am Beispiel des Landarmen- und Arbeitshauses Benninghausen 1820-1945. Tecklenburg 1984. 254

und Münsteraner Regierung, denen die öffentliche Gefährlichkeit ihrer un­ kontrollierten „Unzucht“ offenbar einleuchtete, für die Irrenanstalt.135 Das war zunächst nicht der Fall bei der - auch gerichtlich bestätigt „blödsinnigen“ Epileptikerin Maria F., für die 1836 ein Aufnahmegesuch in die Pflegeanstalt gestellt wurde. Maria F. war nicht „gemeingefährlich“ im Sinne von rasendem, zerstörendem oder unsittlichem, sexuell bedrohlichem Verhalten. Sie gefährdete Mitglieder der Dorfgemeinschaft durch den „Schrecken“, der in der Alten Gesellschaft als unmittelbarer Verursacher körperlicher und seelischer Krankheiten galt. Maria F. war in der Gemeinde Hoetmar „herumquartiert“ worden, bis sie während eines epileptischen An­ falls in offenes Feuer fiel und sich schwere Brandwunden im Gesicht zuzog. Der Anblick ihres entstellten Gesichtes und die Furcht, Zeuge oder Zeugin weiterer epileptischer Anfälle zu werden, konnte „den Schrecken“ auslösen. Die Wirkungen der Vorstellungs- oder Einbildungskraft auf den Körper und die Seele - seit dem 16. Jahrhundert in der Medizin als „Imaginatiotheorie“ beschrieben - wurden in der ländlichen Gesellschaft noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr ernst genommen. Die Idee oder der Anblick von bestimmten Krankheiten, besonders der fallenden, von Unglück und Verbre­ chen konnte sich demnach in stoffliche Wirklichkeit umsetzen. Insbesondere galt das leib-seelische Gleichgewicht, das dem im wörtlichen Sinn Ein-druck des Schreckens widerstehen mußte, bei den Personengruppen als gefährdet, die sich in Grenzsituationen befanden, wie Heranwachsende und Schwange­ re.136 Auf eben diese wies der Bürgermeister von Hoetmar nochmals hin, als die Regierung in Münster die Unterbringung von Maria F. mit Zweifeln an ihrer Gefährlichkeit - als genereller Aufnahmevoraussetzung in die Marsber­ ger Irrenpflegeanstalt - zunächst zurückwies. Der Bürgermeister führte aus:

„Sie ist auch gemeingefährlich durch ihre epileptischen oft öffentliche Zufälle für Kinder, für Personen von schwachen Nerven und vorzüglich für Schwangere, worauf diese Zufälle heftig wirken und ganz wahrscheinlich bisher nicht immer ohne nach­ teilige Folgen bleiben. Sie verfolgt oft die Schulkinder mit einem Stecken, und wenn auch die Größeren ihr leicht entgehen, so entsetzen sich doch die Kleinen vor ihrem verstörten und durch Brandnarben verzerrten Gesicht.“137

m STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 1027. 156 E. Fischer-Homberger, Aus der Medizingeschichte der Einbildungen, in: Dies., Krank­ heit Frau S. 10ff.; B. Duden, Geschichte unter der Haut S. 164ff.; R. Porter, Monsters and Madmen S. 88 ff.; M. Schär, Seeiennöte S.67, beschreibt die Furcht der Dorfgemeinschaften vor den Leichen von Selbstmördern: und als Caspar Pfenniger in Stäfa auf Befehl der Obrigkeit im Kirchhof bestattet werden soll, wendet die Dorfehrbarkeit ein, ,dass solches nimmer sein könte, willen dieser Ort hart an der Kirchen, auch schwangere Weiber, Kinder und sonsten viel Volks aus der unteren Wacht darüber oder darunbent in die Kirchen gehen müssen*.“ 137 STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 1026.

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c) Das „Aushandeln“ der Toleranzgrenzen gegenüber abweichendem Verhalten Der Inhalt von „Gemeingefährlichkeit“ wurde im Dorf von Fall zu Fall be­ stimmt und „ausgehandelt“. Dieses Etikett war gleichbedeutend mit dem Ausschluß aus der Dorfgemeinschaft. Vorausgegangen waren dieser Beurtei­ lung und Meldung an den Landrat dörfliche Integrationsbemühungen, deren Ausmaß von mehreren Faktoren beeinflußt war. So hing die Toleranz und Hilfe im Dorf wesentlich mit ab von der Stellung und Einbindung der „auf­ fälligen“ Person in ein Verwandschaftssystem. Ledige und verwitwete Perso­ nen ohne Verwandschaftsnetz wie die beiden letztgenannten Frauen Marian­ ne S. und Maria F. fielen schon wegen - Außenstehenden - nicht unüber­ windbar scheinender Verhaltensauffälligkeiten unter das dörfliche Urteil der Gemeingefährlichkeit. Nach 1835 konnte die größere Bereitschaft für diese Personengruppe eine Aufnahme in Marsberg zu beantragen, auch von finan­ ziellen Überlegungen seitens der Gemeinde unterstützt sein. Der niedrigste Unterbringungssatz für arme Irre betrug in der reformierten Irrenanstalt zunächst 25 Reichstalerjährlich. Das lag im Bereich der Kosten, die aus den Gemeinde- und Armenkassen auch für die jährliche Unterbringung einer oder eines nicht arbeitsfähigen Irren im Dorf gezahlt werden mußte. Doch wäre der Eindruck, arme Irre ohne Verwandte seien schnell abge­ schoben worden, verfehlt. Die Kostenseite der Irrenfrage bestimmte ent­ scheidend das geringe Interesse der Verwalter der ländlichen Armen- und Gemeindekassen, ein Dorfmitglied in Marsberg unterzubringen. Es mußten schon erhebliche Integrationsprobleme bestehen, bevor die Aufnahme „ge­ meingefährlicher“ Irrer insbesondere in die Pflegeanstalt gewünscht wurde. Hier gab es nicht einmal mehr die Hoffnung, daß „Heilversuche“ mit posi­ tivem Ergebnis die lebenslange Finanzierung durch die Gemeinde noch ab­ wenden konnten. Zur Unterbringung auf Kosten der Armen- und Gemein­ dekassen kam es nach 1824 - nach den Irrenlisten befand sich 1824 keine Person aus dem Landkreis Warendorf in der Marsberger Irrenanstalt - nur sechsmal bei den verbleibenden 39 einzeln überlieferten Fällen seit 1825. Davon wurden vier Irre in die Pflege- und zwei in die Heilanstalt gebracht. Zu finanziellen Lasten der Angehörigen wurden sechs Irre in die Heil- und zwei in die Pflegeanstalt eingeliefert. Die Gemeinden versuchten, auf jede nur mögliche Weise sich ihren Un­ terhaltsverpflichtungen zu entziehen, wie z. B. der erbitterte Streit zwischen dem Geburtsort der „in völlige Tobsucht verfallenen“ 72jährigen ledigen Magd Catharina R., Greffen, und ihrem letzten Wohnort, Sassenberg, wo „sie das Unglück hatte, ihren Verstand zu verlieren“, zeigt.138 Hilfestellun-

158 STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 1025.

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gen leistete manchmal auch der Landrat, der - allerdings nicht ausdrücklich - riet, die neue oberbehördliche (bürgerliche) Einstellung gegenüber den Irren zur Kostenersparnis der Gemeindekassen auszunutzen. Er schlug in zwei Fällen vor, die 15 Reichstaler für eine gerichtliche Blödsinnigkeitser ­ klärung, die eben vor der Aufnahme in die Pflegeanstalt notwendig war, vorläufig einzusparen, indem zunächst der Heilungsversuch in der Irrenheil­ anstalt verlangt werden sollte, der mit keinen finanziellen Vorleistungen verbunden war. Dieses Ansinnen „unterlief“ die Aufgabenstellung der Heil­ anstalt und die Reform-Absichten der Regierung. Hier teilte Landrat von Twickel139 die skeptische bis ablehnende Einstellung der ländlichen Gesell­ schaft gegenüber dem Heilungsparadigma und gegenüber dem ärztlichen Urteil über die Möglichkeiten der Wiederintegration aus Marsberg entlas­ sener Irrer. Zwar ging der Anstaltsleiter Dr. Ruer in seinen Entlassungsgutachten auf die Kriterien für eine Einbindung in die ländliche Gesellschaft ein, betonte die „Arbeitslust“, die Friedlichkeit und Folgsamkeit der zu Entlassenen und ihre Sehnsucht nach Heimat und alten Eltern als Zeichen ihrer wiederge­ wonnenen „Normalität“. In allen Fällen wurde ihm jedoch von Seiten der Dorfgemeinschaften ihr anderes Erfahrungswissen entgegengehalten. Im Falle des Ackerknechts Bartold W. fürchtete sein früherer Brotherr, „daß er sich wieder schwachsinnig zeigt, und sich mehrere Tage und Wochen ohne Erlaubnis entfernt und zwecklos herumtreibt“. Zudem warnte der Bürger­ meister im April 1839 vor einer sofortigen Entlassung, „da sich vielleicht noch Spuren von Geistesverwirrung in jetziger Jahreszeit an ihm zeigen werden, welches man besonders im Frühjahr und Herbst an ihm wahrge­ nommen hat“. Der Marsberger Anstaltsdirektor ging auf diese Bedenken ein und verlangte erst zwei Jahre später, im Oktober 1841, nun „unabweich­ lich“, „den Versuch zu machen, W. seinen bürgerlichen Verhältnissen [I] zurückzugeben“, da dieser seit Jahren keine periodischen Geistesstörungen mehr erlitten habe. Wiederum verweigerte der Bürgermeister die Rücknahme und bat den Landrat, daß W. „vorerst nicht seiner Heimat übergeben werde, indem er durch seine früheren Bekanntschaften resp. früheren Schulgänger zum Branntweintrinken angeleitet und was gewiß unausbleiblich sein würde, die Näckereien der übrigen nicht geduldig ertragen würde“. Doch dieses 139 R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution S. 448 ff., zum Landratsamt als „quasi ständischer Schirm“ zwischen staatlichen Behörden und dem „sozialen Alltag der städ­ tischen und der ländlichen Gesellschaft, der die Interessen des Adels sicherte“. Zum Landrau­ amt und zur Besetzung der Landraustellen im Regierungsbezirk Münster zwischen 1815 und 1860 Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770-1860. Vom Herrschafustand zur regionalen Elite. Göttingen 1979 S. 386 ff.

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Mal setzte sich Dr. Ruer durch. W. wurde entlassen und der Ortsvorstand meldete zwei Monate später, daß der Knecht „fleißig und zur Zufriedenheit seines Brotherrn“ arbeite.140 Weniger glücklich endete der Fall des an „schwärmerischer Religiosität“ erkrankten Heinrich D., an dessem schlechten „Sozialprofil“ im Dorf eine Wiederintegration - allen Bemühungen Ruers zum Trotz - von vornherein scheitern mußte. Schon der Landrat versah die Ausführungen des Anstalts­ direktors - „D. hat sich durch die eifrigste Hülfeleistung in unserer Brauund Bäckerei sehr nützlich gemacht - mit der Randbemerkung: „hat seine Rolle gut gespielt“. Er gab dem Bürgermeister von Freckenhorst zwar auf, für ein Unterkommen des D. nach dessen Entlassung zu sorgen, fügte aber hinzu: „Falls sie dessen ehrlichen Erwerb nicht für gesichert erachten möch­ ten, auf seine Detention in Benninghausen anzutragen.“ Diesem Vorschlag folgte der Bürgermeister sofort. Er stellte einen Detentionsantrag und wies darauf hin, daß er keine Unterkunft für D. habe finden können, „da der Name und die Lebensart des D. bekannt“ seien und zählte zur Begründung dessen alte „Verfehlungen“ auf: D. hätte keine Profession erlernt, sich still­ schweigend für zwei Jahre entfernt, sei wegen Betrugs in Criminaluntersuchung gesessen und nur wegen Blödsinnigkeit mit Strafe verschont worden, habe sich mit unnützen Schreibereien beschäftigt und sei nur mit Strenge in Schach gehalten worden, auch habe er in seiner Jugend bei seinem früheren Brotherrn kein löbliches Zeugnis verdient. Der Landrat leitete die Bitte des Bürgermeisters an die Regierung weiter und fügte hinzu, daß D.’s „ganzer Lebenswandel und frühere Erziehung bisher keine Bürgschaft geben, daß es demselben Emst sei, sich ehrlich zu ernähren“. Die Regierung in Münster sah jedoch keinen Grund für eine Detention gegeben. Dr. Ruer protestierte ebenfalls gegen eine Verbringung nach Benninghausen. Eine dortige Einwei­ sung „dürfte D. schwerlich vor einem Rückfall bewahren“. Er „erlaube“ sich, „im Interesse unseres Kranken auf die Mißlichkeit einer solchen Versetzung aufmerksam zu machen“. D. habe „vom frühen Morgen nicht selten bis in die Nacht ruhig und ohne allen Zwang gearbeitet, dergestalt, ... daß seine Fähigkeit schwerlich bezweifelt werden kann, sich einen ehrlichen Unterhalt zu verschaffen“. Damit war der Konflikt jedoch nicht beseitigt. Als letzte „Widerstandshandlung“ gegen die nach Meinung des Dorfes ungerechtfer­ tigte Entlassung in die Heimat, weigerte sich der Landrat, D. - wie bei Entlassenen üblich - aus der Anstalt abholen zu lassen und ließ erst nach einer in scharfem Ton gehaltenen Aufforderung dieses von „einem möglichst billig gedungenen Fußboten“ tun. Heinrich D. wurde schon ein Jahr später 140 Wie Anm. 138.

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in die Pflegeanstalt nach Marsberg zurückgebracht und starb 1843 dort „an den Folgen eines Schlagflusses“.141 Zu beträchtlicher Hilfeleistung waren Nachbarn und Freunde bereit, wenn es darum ging, die Existenz eines bestehenden Haushaltes und einer Familie zu erhalten, deren Vorstand „vom Wahnsinn überfallen“ wurde. Sie bewach­ ten unter Umständen einen „tobenden“ Bauern rund um die Uhr in seinem Haus, hielten bei Feuergefahr - der Schneider G. zündete nachts Licht an und „legte einen Karrenvoll Fichtenzweige aufs Feuer“ - Wache oder über­ nahmen die kleinen Kinder „rasender“ Mütter wie im Fall der gegen die Schulpflicht opponierenden Maria M. Zunächst ging es vordringlich darum, die Kontinuität des bäuerlichen Familienalltags zu bewahren, auf Besserung zu warten und aus Kostengründen - im Interesse von (vermögenderen) Ver­ wandten und Gemeinde - eine Meldung so lange wie möglich hinauszuschie­ ben. Erst wenn der ökonomische Zusammenbruch unaufhaltsam schien, wurde die Einlieferung vorzugsweise des irren Ehemannes in die Heilanstalt verlangt. Die Frau des Schankwirts und Kleinhändlers V. bat darum, „damit der Untergang abgewendet werde, welche unseren häuslichen Verhältnissen sonst droht“.142 Aus eben diesen Gründen beantragte die Frau des „Pferde­ kötters“ L. dessen Entlassung aus Marsberg, „weil es ihr ohne Ruin ihres Vermögens nicht ferner möglich sei, die Verpflegungskosten zu bestreiten“. „Sie behauptet“, teilte der Landrat der Regierung mit, „durch Hilfe ihrer Nachbarn im Stande zu sein, jedem Unglücke vorkommenden Falles vor­ beugen zu können. Die Nachbarn derselben, Lütge-Besselmann und Brockröttger, haben erklärt, zu jeder Zeit zur Hülfeleistung bereit zu stehen und sich für etwa anzurichtendes Unglück mit verbürgt“.143 Wirtschaftlicher Ruin wurde auch von dem Bauern M. aus Hoetmar 1845 gefürchtet, sollte sein Stiefsohn in die Marsberger Irrenanstalt eingewiesen werden. Dieser hatte einen Knecht seines Vaters mit der Axt lebensgefähr­ lich verletzt. Nicht durch den Bürgermeister, sondern durch einen Zeitungs­ bericht war der Landrat auf diese Tat des „wahnsinnigen Bauernsohnes“ aufmerksam geworden und hatte eine sofortige Absendung nach Marsberg verlangt. M. versuchte nun mit Unterstützung des Hoetmarer Bürgermei­ sters, die Gemeingefährlichkeit seines Stiefsohnes herunterzuspielen. Diese „ließe sich nicht dartun“, der Verletzungsfall stehe vereinzelt da und werde vielleicht durch dessen Krankheitszustand - er liege zur Zeit im Bett bedingt, und vielleicht sei er auch durch den Beschädigten gereizt worden, argumentierte der Bürgermeister und machte die Relativität des Begriffs Gemeingefährlichkeit damit nochmals deutlich.144 Auch nach der Reform und Erweiterung der Marsberger Irrenanstalt wur­ de diese zunächst keineswegs in dem Maße „angenommen“ wie die behörd141 Ebd. Nr. 1027.

142 Ebd. Nr. 1028.

141 Ebd. Nr. 1029.

144 Ebd. Nr. 1026.

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liehe Bedarfsplanung, z. B. die Reuersche Enquete, es berechnet hatte. Nach wie vor kam dem Modell der Selbsthilfe bzw. der gemeindlichen Versorgung der Irren in der Dorfgemeinschaft die Priorität in der ländlichen Gesell­ schaft zu. „Der Erfolg [der Aufnahme in die Anstalt, D. K.] hat den ange­ zeigten Bedürfnissen nicht entsprochen“, wurde in der „Übersicht des Zu­ standes der Irrenanstalt zu Marsberg bis Ende 1836“ konstatiert.145 Ende 1834, beim Beginn der Erweiterungsarbeiten, waren 71 Irre (11 heilbare, 60 unheilbare) dort untergebracht gewesen. Bis Oktober 1836 wuchs deren Anzahl auf 139 (44 heilbare, 95 unheilbare Irre), jedoch blieben 36 Heilund 45 Pflegestellen unbesetzt. Der westfälische Oberpräsident von Vincke, der schon 1803 als damaliger Landrat in Minden im Auftrag Freiherr vom Steins den Plan einer reformierten Provinzial-Irrenanstalt, die aufgrund der politischen Verhältnisse nicht zur Ausführung gelangte, vorgelegt hatte146, klagte 1836, „daß bisher auch die längst vollkommen eingerichtete Heil-An­ stalt so wenig benutzt wird, daß der bedeutende dadurch der Provinz ver­ anlaßte Aufwand, bedauert werden zu müssen scheint“.147 Die Zahl der Anstaltsinsassen stieg jedoch kontinuierlich, aber erst 1840 wurde die „etat­ mäßige Höhe“ mit 219 Irren (97 heilbaren, 122 unheilbaren) erreicht.148 Welchen Anteil hatten die Kreisphysici an diesen Einweisungsergebnissen, nachdem sich doch - nach v. Vincke - „die Behörden [gemeint sind in diesem Zusammenhang die Landräte, D. K.] so lässig zeigen, den unglück­ lichsten und beschwerlichsten Kranken die Wohlfahrt der Aufnahme zu gewähren!“149

d) Wahrnehmung und Behandlung der Irren im zeitgenössischen Ärzte-Spektrum

Seit 1803 bestand in Preußen eine gesetzliche Regelung der Aufnahme in eine Irrenanstalt. Dem Aufnahmeantrag des Landrats mußte mindestens ein ärztliches Gutachten über den Geisteszustand der irren Person beigefügt 145 Druckschrift, in: STAMS, Familienarchiv v. Landsberg-Velen (Dep.), Provinziallandtag Nr. 41. 146 STAMS, KDK Münster, Fach 26 Nr. 47. Den Plan entworfen hatte Johann Christian Reil (DZA, Rep. 74 J Nr. 31), dessen Buch, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen, eine Initialfunktion für die Irrenanstaltsreform ausübte; vgl. Kap. II. 2. dieser Arbeit. 147 STAMS, Regierung Münster Nr. 899. 148 „Bericht Seitens der ständischen Deputation d. d. 20. März 1841, über die Wirksamkeit und die Verwaltung der Anstalt in den Jahren 1837 bis 1840“, Druckschrift, in: STAMS, Familienarchiv v. Landsberg-Velen (Dep.), Provinziallandtag Nr. 45. 149 STAMS, Regierung Münster Nr. 899.

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werden.150 Diese behördliche Auflage führte in den meisten Fällen zum ersten Kontakt der gemeldeten Personen im Landkreis mit einem akade­ misch ausgebildeten Arzt überhaupt, nämlich dem zuständigen Kreisphysi-

cus des Bezirks. Eine Geistes- oder Gemütsstörung wurde zuerst von den Angehörigen und Nachbarn, also sogenannten medizinischen Laien, festge­ stellt und - wenn sie ihnen gemeingefährlich erschien - dem Ortsvorstand

gemeldet. In der Regel überzeugte sich der Bürgermeister dann zusammen mit dem Gendarmen nochmals „offiziell“ von der Anzeige, indem er die

angeblich irre Person aufsuchte oder weitere Zeugenaussagen zu Protokoll nahm. Seine Kompetenz, über das Irresein eines Dorfmitglieds abschließend urteilen zu können und als Dorfvorstand die Meldung an den Landrat zu verantworten, war im Untersuchungszeitraum unbestritten. So schrieb 1817 der Bürgermeister von Everswinkel an den damaligen Landrat Freiherr von Kettler:

„An der unverehelichten Maria Anna K., welche hier allein für sich wohnte, bemerk­ ten ihre Nachbarn seit kurzem Spuren von Schwachsinn und zeigten mir solches an. Ich begab mich in deren Wohnstube und fand wirklich, daß diese Person ihres Verstandes beraubt war.“151 Noch 1845 wurde „zur Beurteilung des Blödsinnigkeitszustandes“ des oben erwähnten M., der einen Knecht mit der Axt niedergestreckt hatte, dessen Stiefvater zuerst von Amtmann Becker, dem früheren Bürgermeister von Hoetmar, und nicht vom Kreisarzt vernommen. Becker „bemerkt(e) dazu“, daß „eine Heilung des Blödsinns nicht zu erwarten“ sei.152

Die vorliegenden Quellen geben keine Auskunft darüber, ob die Angehö­ rigen oder Irren sich an Laienheiler, also dörfliche nicht-approbierte Ver­ trauenspersonen oder Wundärzte153 um Hilfe wandten. Akademische Ärzte

wurden jedenfalls nur in Ausnahmefällen und oft auch nur für einen kurzen Zeitraum von reicheren Bauern konsultiert. Diese Tatsache kann geradezu als Nachweis ihres guten Vermögensstandes und ihrer städtischen Orientie150 K. Dörner, Bürger S. 230. Aufnahmebedingung war eine gerichtliche Blödsinnigkeitser­ klärung, für die zwei Ärzte gutachten mußten. Dieser Vorschrift wurde in der (Marsberger) Praxis jedoch nicht immer gefolgt, zum einen wegen der damit verbundenen Kosten und zum anderen wegen des Arguments von Anstaltsdirektor Ruer, diese Prozedur hätte einen negativen Einfluß auf den in der Heilanstalt einzuleitenden Genesungsprozeß. 151 STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 1024. 152 Ebd. Nr. 1026. 153 Zu der wichtigen Heilergruppe der Handwerkschirurgen (Bader, Barbiere, Wundärzte) s. Sabine Sander, Handwerkschirurgen. Sozialgeschichte einer verdrängten Berufsgruppe. Göt­ tingen 1989; Robert Jütte, Ärzte S. 17 ff., 89 ff., über das „Angebot an medizinischer Versor­ gung“ und die Wahl des Heilers.

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rung dienen. In der Regel galt die lakonische Auskunft der im Auftrag des Landrates gutachtenden Kreisärzte über die auffällige Person: „Wurde nie ärztlich behandelt.“ Das lag sicherlich auch an den hohen Honorarforde­ rungen der approbierten Arzte, die z.B. im Jahr 1838 für eine Gemütszu­ standsuntersuchung zwei Reichstaler verlangten154 und deren Klientel folge­ richtig den Ober- und Mittelschichten und zwar vornehmlich der Städte angehörte. Wesentlicher nämlich noch als die Armutsschranke war das Miß­ trauen der ländlichen Bevölkerung insgesamt gegenüber dem offiziellen Medikalsystem und seinen Vertretern, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts auf dem Land auch geringer präsent war als in den Städten und hier konkurrierte mit der Volksmedizin, deren Vorstellungen, Erklärungen und Behandlungsmethoden in eine Kosmologie eingebunden waren, die der auf­ klärerischen Gesundheitspropaganda als Aberglaube galt.155 Dieser beklagte „Aberglaube“, die „Idolenz“ und „Stumpfheit“ der Landbevölkerung setzten der von Staat und sich professionalisierender Ärzteschaft vorangetriebenen Medikalisierung eine bis weit ins 19. Jahrhundert andauernde Resistenz entgegen.156 Diese Konfliktstruktur, die in der sozialhistorischen Forschung für die „Körpermedizin“ untersucht wurde, läßt sich bei der Irrenbehandlung auf dem Land ebenfalls wiederfinden. So gab es große Zweifel an den Heilungs­ erfolgen der akademischen Ärzte und Wundärzte im Landkreis Warendorf. Die Gemeinde Ostbevern ließ zwar schließlich der irren Kötterfrau E. „ärzt­ liche Hilfe und Arznei verabreichen“, stellte diese Tatsache gegenüber dem Landrat aber in den Kontext, nichts unversucht gelassen zu haben, der die Erfolgslosigkeit der ärztlichen Bemühungen - „allein der zerüttete Geistes­ zustand der Ehefrau E. nahm immer mehr und mehr zu, so daß sie nun den Verstand vollends verloren zu haben scheint“ - zwingend erscheinen ließ.157 Bei dem vermögenderen „Köttereibesitzer“ W. vermerkte der gutachtende

154 STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 1025. 155 Volksmedizin. Probleme und Forschungsgeschichte. Hg. Elfriede Grabner. Darmstadt 1967; Jutta Dornheim/Wolfgang Alber, Ärztliche Fallberichte des 18. Jahrhunderts als volkskundliche Quelle, in: Zeitschrift für Volkskunde 78. 1982 S. 28-43. 156 S. dazu C. Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert; Ute Frevert, Krank­ heit als politisches Problem, 1770-1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizi­ nischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung. Göttingen 1984 bes. S. 23-149; die Beiträge in Patients and Practioners. Lay Perceptions of Medicine in Pre-Industrial Society. Hg. Roy Porter. Cambridge 1985; Judith Devlin, The Superstitious Mind. French Peasants and the Supematural in the Nineteenth Century. New Haven 1987 S.43ff. 157 STAMS, Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 1028.

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Kreisarzt 1826 über dessen zurückliegende ärztlich behandelte „Verstandes­ verwirrung“ und die dörfliche Meinung darüber:

„Der Sage nach hat hiefür denselben keine Arznei etwas genutzet, sondern ist er durch ländliche Arbeiten und geistliche Beihülfe vor und nach davon, von seiner Scrupulösität jedoch nicht ganz hergestellt worden.“158

Das Mißtrauen gegenüber offizieller ärztlicher Behandlung konnte sich auch in dessen grundsätzlicher Verweigerung ausdrücken. Die Frau des Kötters W. klagte dem im landrätlichen Auftrag untersuchenden Kreisarzt, daß ihr „schwermütiger“ Mann „durchaus von keinem Arzt oder von Arzneien was wissen (wolle) und könne sie ihm auch auf keine Weise medicin, wenn solche auch aus Armenmitteln verabreicht würde, beibringen“.159 Auch eine be­ hördlich eingeleitete Behandlung bot dafür keine Gewähr. 1838 beantwor­ tete der Kreis- und Medicochirurg Kranefuß in dem Marsberger Aufnah­ mebogen für die Witwe S. die Frage - „welche Mittel, sowohl pharmaceutische als psychische, sind gleich nach dem Ausbruche und späterhin im Verlaufe der Krankheit und in welcher Reihenfolge, in welchen Gaben und in welchen Zwischenräumen angewendet worden?“ - mit der Erklärung: „Eine Behandlung wurde von mir versucht, doch stellten sich unbesiegbare Hinder­ nisse in den Weg, die die Ausführung unmöglich machten. Einmal habe ich eine soluti Kali tartaris und tart. stibiat. gr. [Brech- und Abführmittel, D.K.] verordnet, allein die Kranke war durchaus nicht zum Nehmen der Arznei zu bewegen. Physisch [!] hat man auf sie eingewirkt durch ermunterndes Zureden pp.“160

Die Frage nach den Heilmitteln in dem gedruckten Aufnahmebogen, der nach 1835 in Gebrauch war, setzte einen Grad der Medikalisierung im Sinne von durchgesetzter ärztlicher Kontrolle über die Irren und ein umstandsloses Befolgen ärztlicher Anweisungen voraus, die den Realitäten in der ländlichen Gesellschaft offenbar nicht entsprach. An diesem aus der Sicht der Physici beklagenswerten Zustand hatten die Angehörigen der Irren wesentlichen An­ teil, da sie das ärztliche „uneigennützige“ Wirken behinderten. Doktor Ja­ kobi beschwerte sich in seiner „Krankheitsgeschichte des Wenzel H. : „In diesem doch ruhigeren Zustande [an der Kette, D. K.] befindet er sich noch jetzt, da die wenigsten bisher angewandten Mittel: der Tartaris tartarisat die Gratiolae [Weinstein, D.K.] in Abkochung hinreichende Blutentziehungen ausgenommen, nach den eingegangenen Nachrichten der ihn behandelnden Ärzte nur höchst un­ vollkommen haben angewandt werden können, in seinem Hause wegen der Unglück158 159 Ärzte 160

Ebd. Nr. 1032. Ebd. Nr. 1029. Zur Kontinuität des Nichtbefolgens ärztlicher Anweisungen R. Jütte, S. 213 ff. Ebd. Nr. 1025.

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liehen Ehe, welche er mit seiner kinderlosen Frau führt, am wenigsten eine Kur möglich ist, und die Vormünder meiner an dem Schicksale dieses Mannes theilnehmenden, ganz uneigennützigen ärztlichen Hand nicht die ihrige geben wollen.“ Kreisarzt Jacobi zog daraus die Konsequenz und riet dem Landrat, „... daß wegen der Schwierigkeiten, welche ich dadurch finde, daß ich den Vormund A. nicht dazu bewegen kann, den H. unter Aufsicht in seinem Hause zu nehmen, ihn mit Landarbeiten bei einiger Besserung zui beschäftigen, und ihm die vorzuschreibenden Arzneien pünktlich einzugeben, nur e-

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Lanyons Seelenbalance wird nicht nur erschüttert wie im Fall von Utterson, er wird sterben an seiner Beobachtung und an seinem neuen Wissen, das n

Ebd. S.98. Ebd. S.99. 13 Im Erscheinungsjahr des Romans, 1886, hielt Sigmund Freud in Wien seinen ersten Vor­ trag über männliche Hysterie, der nach eigener Aussage seinen Gegensatz zum medizinischen Establishment öffentlich deutlich machte; siehe Peter Gay, Freud. A Life for Our Time. New York/London S. 53 f. 14 R. Stevenson, Dr.Jekyll S. 101. 12

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