Aufklärung, Band 27: Winckelmann 9783787328529, 9783787328536

Johann Joachim Winckelmann stilisierte sich gern als großer Neuerer und setzte sich von vorhergehenden Formen der Gelehr

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Aufklärung, Band 27: Winckelmann
 9783787328529, 9783787328536

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AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

Herausgegeben von Lothar Kreimendahl, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt Redaktion: Marianne Willems

Band 27 · Jg. 2015

Thema: winckelmann Herausgegeben von Elisabeth Décultot und Friedrich Vollhardt

F E LI X M EI N E R V E R L AG

ISBN 978-3-7873-2852-9  ·  ISSN 0178-7128 Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und sei­ ner Wirkungsgeschichte. – Herausgegeben von Lothar Kreimendahl, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt. – Redaktion: Dr. Marianne Willems, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für deutsche Philologie, Schellingstraße 3, 80799 München, E-Mail: [email protected] © Felix Meiner Verlag 2015. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber­ rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Bad Langen­salza. Printed in Germany www.meiner.de/aufklaerung

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Elisabeth Décultot, Friedrich Vollhardt: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 A BH A N DLU NGEN

Sebastian Kaufmann: Klassizistische Anthropometrie. Idealschöne Griechen vs. „entlegene Völker“ in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Althertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Martin Disselkamp: Winckelmanns Mythen. Vorläufige Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Helmut Pfotenhauer: Winckelmann-Kritik als Ursprung einer Autonomie-Ästhetik: Karl Philipp Moritz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Thomas Franke: Winckelmann-Apologien um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Lorenzo Lattanzi: Winckelmann et la storia dell‘estetica (1771–1872) . . . 103 Martin Dönike: Zwiespältige Einfalt. Johann Joachim Winckelmanns Dresdener Schriften über die Nachahmung zwischen Aufrichtigkeitsethos und Verstellungskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Tomas Sommadossi: Zwischen Ikonoklasmus, Prophetie und Kunstandacht. Klopstock und August Wilhelm Schlegel als Rezensenten Winckelmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Michael Multhammer: Johann Joachim Winckelmanns Versuch einer Allegorie im Kontext. Agonale Positionsbestimmungen zwischen Lessings Laokoon und Heinses Ardinghello . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Pascal Griener: La sculpture antique chez les modernes. A propos de Johann Joachim Winckelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Katherine Harloe: Winckelmann in the perspective of ‚Altertums­ wissenschaft‘. Christian Gottlob Heyne and Friedrich August Wolf . . . 219 k u r zbio gr a ph i e

Moritz Ahrens: Ludwig Heinrich von Nicolay (1737–1820) . . . . . . . . . . . . 239

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EINLEITUNG

Gerne sah sich Winckelmann als Urheber eines ganz Neuen: „Es sind einige Schriften unter dem Namen einer Geschichte der Kunst ans Licht getreten; aber die Kunst hat einen geringen Antheil an denselben: denn ihre Verfasser haben sich mit derselben nicht genug bekannt gemachet, und konnten also nichts geben, als was sie aus Büchern, oder von sagen hören, hatten“.1 Mit diesen einleitenden Worten aus der Vorrede zur Geschichte der Kunst des Alterthums setzte er sich nicht nur von den wenigen Autoren ab, die es vor ihm versucht hatten, eine Geschichte der Kunst zu entwerfen – so etwa Pierre Monier mit seiner Histoire des Arts.2 Er rechnete auch mit vielfältigen Formen der Gelehrsamkeit oder der Geschichtsschreibung ab, die – wie die antiquarische Wissenschaft oder die Tradition der Künstlerviten – in seiner Vorstellung weder dem Begriff der Geschichte noch demjenigen der Kunst in angemessener Weise Rechnung trugen. Eine solche Geste der Abgrenzung gegen frühere Modelle war ihm recht vertraut. Bereits zu seiner ersten Veröffentlichung, den Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauerkunst, bemerkte er brieflich im Jahr 1755: „Meine Absicht war, nichts zu schreiben, was schon geschrieben ist“.3 Diese Selbststilisierung als Neuerer blieb in der Rezeptionsgeschichte nicht folgenlos. Auch wenn von vornherein seine Leistungen als Historiker und Altertumswissenschaftler avant la lettre auf Kritik stießen, wie etwa die Reaktionen von Herder oder Heyne zeigen,4 wurde Winckelmann schon vor Goethe als „ein neuer Kolumbus“ gefeiert5 – eine Bezeichnung, die ihm von Vertretern 1 Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums. Text: Erste Auflage Dresden 1764, Zweite Auflage Wien 1776, hg. von Adolf H. Borbein u. a., Mainz 2002, X. 2 Pierre Monier, Histoire des arts, Paris 1698. 3 Winckelmann an Konrad Friedrich Uden, 3. Juni 1755, in: Johann Joachim Winckelmann, Briefe, hg. von Walther Rehm unter Mitwirkung von Hans Diepolder, 4 Bde., Berlin 1952–1957, Bd. 1, 171. 4 Christian Gottlob Heyne, Lobschrift auf Winckelmann [1778], in: Die Kasseler Lobschriften auf Winckelmann, hg. von Arthur Schulz, Berlin 1963, 17-27, hier 24f. Zu Heynes scharfer Kritik an Winckelmanns Fehlern als Historiker vgl. auch Christian Gottlob Heyne, Über die Künstlerepochen beym Plinius, in: C. G. H., Sammlung antiquarischer Aufsätze, 2 Bde., Bd. 1, Leipzig 1778, 165–235, hier 165 f.; Johann Gottfried Herder, Älteres kritisches Wäldchen, in: J. G. H., Werke in zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur, 1767–1781, hg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt am Main 1993, 11–62, hier 12–14, 25. 5 Johann Wolfgang Goethe, Winckelmann, in: Goethes Werke, hg. von Erich Trunz, 14 Bde, elfte, durchgesehene Auflage, München 1989, Bd. 12, 110; Friedrich Schlegel, Über das Studium der Griechischen Poesie, in: F. S., Kritische Ausgabe seiner Werke, 35 Bde., hg. von Ernst Behler

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6 Einleitung

‚neuer‘ Disziplinen im 19. Jahrhundert gerne gegeben wurde.6 In seiner monumentalen Winckelmann-Biographie schilderte Carl Justi Winckelmann als Begründer der Archäologie sowie der Kunstgeschichte und erklärte Deutschland damit mehr oder weniger explizit zur Geburtsstätte dieser Wissenschaften: „Die von [Winckelmann] begründete Überlieferung historischer Untersuchung alter Kunstwerke ist bis auf die neuere Zeit auf deutsche Wissenschaft beschränkt geblieben“, stellte er gegen Ende seiner Biographie fest. „Italien, das allein mitzählt, kennt nur antiquarische Deutungskunst. Alles andere sind nur matte ­Reflexe deutscher Arbeiten“.7 Von solchen Lobpreisungen ist die Forschung zwar seit langem abgerückt; doch dadurch hat sich das Bild des Autors nicht tiefgreifend verändert, Winckelmanns epistemologische Position in den wissenschaftlichen Feldern seiner Zeit sowie seine Verbindung mit früheren und späteren Wissensmodellen sind noch zu präzisieren. Der vorliegende Band kann dieses weite Feld nicht vermessen, sondern nur einige Schlaglichter auf neue Aspekte und Fragen der Forschung werfen. Dabei spielt der Beitrag Winckelmanns zur Anthropologie, Ethnologie, Mythologie oder Mythen-Forschung und philosophischen Ästhetik seit der Aufklärung eine zentrale Rolle. Elisabeth Décultot, Friedrich Vollhardt

u. a., Paderborn u. a. 1958 ff., Bd. 1, 365; Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, in: Schellings Werke, hg. von Manfred Schröter, München 1927 ff., Bd. 3 (E.), 396–398. 6 Franz Xaver von Wegele, Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, München, Leipzig 1885, 682; Eduard Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, München, Berlin 31936 (Erstausgabe: 1911), 389–393; Wilhelm Waetzoldt, Deutsche Kunsthistoriker, Bd. 1, Leipzig 1921. 7 Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, 3 Bde., Leipzig 1898, Bd. 220 (Erstausgabe: Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen, 3 Bde., Leipzig 1866– 1872). Vgl. auch: Carl Justi, Über die Studien Winckelmann‘s in seiner vorrömischen Zeit, in: Historisches Taschenbuch (1866), 129–202, hier 136 f.

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Sebastian Kaufmann Klassizistische Anthropometrie Idealschöne Griechen vs. „entlegene Völker“ in Win­ckel­manns Geschichte der Kunst des Althertums

I. Win­ckel­manns hellenozentrische Ethno-Ästhetik Wie der Ethnologe Fritz Kramer bereits in den 1970er Jahren herausgestellt hat, kann (und muß) Win­ckel­manns „Kunstgeschichte […] als ästhetische Anthropologie gelesen werden“,1 wobei Anthropologie nicht zuletzt in ihrer völkerkundlichen Variante2 zu verstehen ist; entwirft Win­ckel­mann doch einen idealen „anthropologischen Typus“, der sich in der klassischen Kunst der griechischen Antike manifestiere und an dem „die Physiognomie der menschlichen Rassen gemessen“ werden soll.3 Dies erörtert Win­ckel­mann, der über eine breite Kenntnis ethnographischer Literatur verfügte,4 ausführlich in seinem Hauptwerk, der 1764 zuerst und 1776 in zweiter, erweiterter Auflage erschienenen Geschichte der Kunst des Alterthums, die seine älteren kunsthistorischen und -theoretischen 1 Fritz Kramer, Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, Frank­ furt am Main 1977, 15. 2 Die Anthropologie des Aufklärungszeitalters spaltet sich generell in zwei Stämme auf: in die medizinisch-philosophische Anthropologie, für die „der ganze Mensch zur Disposition [steht]  – als untrennbare Einheit von Empfinden und Erkennen, Leib und Seele, Sinnlichkeit und Vernunft, Natur und Kultur, Determination und Freiheit“ und in jenen „andere[n] Zweig der Aufklärungsanthropologie, der sich mit systematischen Vergleichen zwischen den Völkern befasst. Im Zeitalter der Weltumsegelungen und der Entdeckung fremder Kulturen erkennt man, dass es nicht nur eine Natur des Menschen gibt. Bewohner fremder Länder und Menschen anderer Hautfarbe leben unter sehr verschiedenen klimatischen Bedingungen, sie bilden unterschiedliche Begabungen und kulturelle Fähigkeiten aus und stellen zunehmend eine auf Europa beschränkte Geschichte der menschlichen Gattung in Frage“. Alexander Košenina, Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008, 10–12. 3 Kramer, Verkehrte Welten (wie Anm. 1), 15. 4 Zu Win­ ckel­manns umfänglicher Lektüre von Berichten über Reisen etwa nach „Mauretanien, Sierra Leone, Jamaika, Japan oder Peru“ vgl. Elisabeth Décultot, Untersuchungen zu Win­ckel­manns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert. Aus dem Französischen übers. von Wolfgang von Wangenheim und René Mathias Hofer, Ruhpolding 2005, 156 f., hier 156. Zu Win­ckel­manns „Ethnographie der Kunst“ vgl. ebd., 101 f.

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Sebastian Kaufmann

Überlegungen aufgreift und zu einer umfassenden ethno-anthropologischen Ästhetik ausbaut. Win­ckel­manns Kunsttheorie gewinnt also – in durchaus zeit­ typischer Weise5 – „ihre Konturen aus der vergleichenden Völkerkunde“.6 Hatte Win­ckel­mann bereits in seinen epochemachenden Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und BildhauerKunst von 1755 mit besonderem Verweis auf die als „eine vollkommene Regel der Kunst“ gewertete Laokoon-Statue die These aufgestellt: „Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nach­ ahmung der Alten“,7 so bestimmt er die Kunst der griechischen Antike auch in seiner Geschichte der Kunst des Alterthums, als „die vornehmste Absicht dieser Geschichte“.8 Zwar schließe dies die Betrachtung „der Kunst der Aegypter, der Hetrurier, und anderer Völker“ nicht aus, doch sei deren „Abhandlung“ lediglich dazu tauglich, „unsere Begriffe [zu] erweitern, und zur Richtigkeit im Urtheil [zu] führen“, während allein die der altgriechischen Kunst „das Wahre“ dieser Begriffe und die „Regel im Urtheilen“ abgeben könne.9 Mit anderen Worten: Die Kunst aller Völker muß nach Win­ckel­mann anhand der absolut gültigen Maßstabsnorm der antiken Kunst Griechenlands beurteilt werden. Seine Ethno-­ Ästhetik beruht mithin auf der uneingeschränkten euro- bzw. hellenozentrischen Prämisse „des Vorzugs der Griechischen Kunst vor anderen Völkern“10 – einer Prämisse, die sich freilich als Ausgangs- und Endpunkt einer in sich zirkulären Begründung des vorausgesetzten Vorrangs erweist: Die wahre Kunst ist die Kunst der Griechen, weil die Kunst der Griechen die wahre Kunst ist. Allerdings bemüht sich Win­ckel­mann, diesen Zirkel zu verschleiern, indem er den Grund dieser ästhetischen Spitzenposition der griechischen Kunst als der allein wahren durch eine doppelspurige, sowohl klima- wie kulturtheoretische Argumentation nachzuweisen sucht. Schon in seinen Gedancken über die Nachahmung hatte Win­ckel­mann den klimatischen „Einfluß eines sanften und reinen 5 Vgl. hierzu Stefan Hermes, Sebastian Kaufmann, Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800. Zur Einführung, in: S. H., S. K. (Hg.), Der ganze Mensch – die ganze Menschheit. Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800, Berlin, Boston 2014, 1–16, sowie Sebastian Kaufmann, „Was ist der Mensch, ehe die Schönheit die freie Lust ihm entlockt?“ Völkerkundliche Anthropologie und ästhetische Theorie in Kants Kritik der Urteilskraft und Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: ebd., 183–211. 6 Jörg Robert, Ethnofiktion und Klassizismus. Poetik des Wilden und Ästhetik der ‚Sattelzeit‘, in: J. R., Friederike F. Günther (Hg.), Poetik des Wilden. Festgabe für Wolfgang Riedel, Würzburg 2012, 3–39, hier 20. 7 Johann Joachim Win­ckel­mann, Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, in: J. J. W., Kleine Schriften. Vorreden, Entwürfe, hg. von Walther Rehm, Berlin 1968, 27–59, hier 29. 8 Johann Joachim Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst des Alterthums, in: J. J. W., Schriften und Nachlaß, Bd. 4,1: Text, hg. von Adolf H. Borbein u.a., Mainz 2002, 128. 9 Ebd. 10 Ebd.



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Himmels“ auf die physioästhetische „Bildung der Griechen“ hervorge­hoben, die sodann durch die hinzukommende kulturelle Praxis „frühzeitiger Leibesübungen“ und ungezwungener Nacktheit in Gymnasien und Theatern noch „die edle Form“ erhalten habe;11 in seiner Geschichte der Kunst argumentiert er auf prinzipiell ähnliche Weise.12 Der Vorzug der griechischen Kunst vor der anderer Völker wird zunächst – ebenfalls wie schon in der früheren Schrift – auf die größere Schönheit der griechischen Menschen selbst zurückgeführt, die sich dem gemäßigten Klima Griechenlands verdanke.13 Win­ckel­mann stellt mithin einen Bezug zwischen Temperatur, Jahreszeitenfolge und der körperlichen Erscheinungsweise des Menschen her: Die Natur, nach dem sie stuffenweis durch Kälte und Hitze gegangen, hat sich in Griechenland, wo eine zwischen Winter und Sommer abgewogene Witterung ist, wie in ihrem Mittelpuncte gesetzt, […] und in Griechenland wird sie ihre Menschen auf das feinste vollendet haben.14

Der radikale Eurozentrismus, der dieser ästhetischen Ethno-Anthropologie zugrunde liegt, ist offensichtlich: In Griechenland, der kulturellen Wiege Europas, sei die Natur gleichsam zu sich selbst gekommen; Griechenland bilde den 11 Win­ckel­mann,

Gedancken über die Nachahmung (wie Anm. 7), 31. Widerspruch zwischen der klimatheoretischen Begründung des ästhetischen Vorzugs der Griechen und der historischen Einschränkung auf die klassische Antike soll durch das Zusatzargument der kulturellen Faktoren aufgelöst werden. So erklärt Win­ckel­mann die geringere Schönheit der modernen Griechen gegenüber ihren antiken Vorfahren durch ‚Rassenmischung‘ und kulturell-politische Veränderungen, die sich negativ auf ihre physische Bildung ausgewirkt hätten. Nichtsdestoweniger zeige sich der physioästhetische Einfluß des gemäßigten Klimas noch immer, da selbst die degenerierten Griechen der Gegenwart viel schöner seien als alle anderen Menschen: „Der Himmel ist zwar allezeit derselbe, aber das Land und die Einwohner können eine veränderte Gestalt annehmen […] Eben diese Betrachtung läßet sich über die heutigen Griechen machen. Denn nicht zu gedenken, daß ihr Geblüt einige Jahrhunderte hindurch mit dem Saamen so vieler Völker, die sich unter ihnen niedergelassen haben, vermischet worden, so ist leicht einzusehen, daß ihre itzige Verfassung, Erziehung, Unterricht und Art zu denken, auch in ihre Bildung einen Einfluß haben könne. In allen diesen nachtheiligen Umständen ist noch itzo das heutige Griechische Geblüt wegen dessen Schönheit berühmt, und je mehr sich die Natur dem Griechischen Himmel nähert, desto schöner, erhabner und mächtiger ist dieselbe in Bildung der Menschenkinder“. Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 21. 13 Zur antiken und französischen Klimatheorie als Hintergrund von Win­ckel­manns Ästhetik (sowie von weiteren deutschen Adaptionen im 18. Jahrhundert, v.a. bei Herder) vgl. GonthierLouis Fink, Von Win­ckel­mann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive, in: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder. 1744–1803, Hamburg 1987, 156–176, besonders 156–164; als ‚Vorläufer‘ von Win­ckel­manns Klimatheorie nennt Fink insbesondere Hippokrates, Bodin, Charron, Bouhour, Dubos, dʼEspiard, Buffon und Montesquieu; vgl. auch Thomas Franke, Ideale Natur aus kontigenter Erfahrung. Johann Joachim Win­ckel­manns normative Kunstlehre und die empirische Naturwissenschaft, Würzburg 2006, 89–96, sowie Décultot, Untersuchungen zu Win­ckel­manns Exzerptheften (wie Anm. 4), 98–100. 14 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 128 f. 12 Der

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‚Nabel‘ der Erde, den „Mittelpunct[ ]“ der Welt,15 und es habe deshalb (in der Antike) auch den idealschönen Menschentypus hervorgebracht. Konsequent bezeichnet Wickelmann daher alle Völker, die weit entfernt von Griechenland leben, als „entlegene[ ] Völker[ ]“.16 ‚Entlegen‘ ist dabei für ihn kein relationaler, vom jeweiligen Standpunkt abhängiger Begriff, sondern er bezeichnet buchstäblich eine Existenz an den peripheren Rand- und Extremzonen der Welt, fernab ihres gemäßigten und maßgeblichen Mittelpunkts. Aus dem griechischen Selbstbewußtsein größerer Schönheit gegenüber diesen „entlegenen Völkern“, die einer extremeren Natur ausgesetzt waren, resultierte nach Win­ckel­mann dann auch eine eigentümliche Kultur des physioästhetischen Wettstreits unter den griechischen Bürgern: Begünstigt durch die freizügige „Verfassung und Regierung von Griechenland“,17 seien „Wettspiele der Schönheit“18 veranstaltet worden, worin auch ein Ursprung der plastischen Kunst liege, da die schönsten und stärksten Menschen als „Belohnungen auf Leibes-Uebungen“ in Statuen verewigt worden seien, um „das Andenken einer Person auch durch seine [sic!] Figur zu erhalten“.19 Daß es sich bei der ‚Übertragung‘ der schönen Körperbildung der griechischen Menschen auf Statuen für Win­ckel­mann nicht bloß um einen mimetischen Vorgang im Sinne der Nachahmung der Natur (imitatio naturae) handelt, sondern um einen Idealisierungsprozeß, wird an einer prominenten Passage aus den Gedancken über die Nachahmung deutlich. Demzufolge ist die alltägliche Erfahrung körperlicher Schönheit lediglich der Ausgangspunkt für eine ‚platonische‘ Steigerung derselben gewesen: Diese häufigen Gelegenheiten zur Beobachtung der [schönen menschlichen] Natur veranlasseten die Griechischen Künstler noch weiter zu gehen: sie fiengen an, sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten […] der Cörper zu bilden, die sich über die Natur selbst erheben solten; ihr Urbild war eine blos im Verstande entworfene geistige Natur.20 15 Vgl.

auch Kramer, Verkehrte Welten (wie Anm. 1), 15: „Win­ckel­manns Anthropologie ist am Mythologem vom Mittelpunkt der Welt orientiert und deshalb prägnant ethnozentrisch“. – Zur Bedeutung des Konzepts der ‚Mitte‘ für Win­ckel­manns Kunsttheorie insgesamt vgl. Walter Bosshard, Win­ckel­manns Ästhetik der Mitte, Zürich, Stuttgart 1960. 16 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 145. 17 Ebd., 130. 18 Ebd., 129. 19 Ebd., 130. 20 Win­ ckel­mann, Gedancken über die Nachahmung (wie Anm. 7), 34. – Erik Forssmann, Edle Einfalt und stille Größe. Win­ckel­manns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst von 1755, Freiburg i. Br. 2010, 40, kommentiert diese Passage wie folgt: „Es zeigt sich, daß man von der Natur nur die sinnliche Schönheit erlernen kann, ideale Schönheit entsteht im Geiste des Künstlers mittels im Verstand entworfener Regeln“. Für Win­ckel­manns Programm einer modernen „Nachahmung der Alten“ folge daraus die Maxime: „Zuerst von den Griechen lernen, was schön ist, um sich dann mit ihrer Hilfe eine



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Auch seiner Geschichte der Kunst, in der diese (neu)platonische Dimension der Schönheit ebenfalls thematisiert wird, liegt das Konzept einer idealischen Schönheit zugrunde. Zunächst wird betont, daß die Schönheit „als der höchste Endzweck, und als der Mittelpunct der Kunst“21 zu begreifen sei, und das bedeutet für den ‚Humanisten‘ Win­ckel­mann: die menschliche Schönheit. Das Problem, das nun im Vordergrund steht, dreht sich freilich auch um das allgemeine, begriffliche „Wesen“ der Schönheit, aber dabei geht es ihm um den – nicht zuletzt in ethnisch-kultureller Hinsicht bedeutsamen – Urteilsaspekt: Wie kann es sein, daß die Urteile der Menschen (bzw. Völker) über das, was schön ist, auseinandergehen, wenn doch, wie Win­ckel­mann voraussetzt, ‚wahre‘ von ‚falscher‘ Schönheit unterschieden werden kann? Win­ckel­mann begründet diese Uneinigkeit der Menschen über das Schöne damit, daß „ein allgemeiner deutlicher Begriff [vom Wesen der Schönheit] unter die unerfundenen Wahrheiten gehöret“.22 Er meint damit nicht, daß es keinen solchen Begriff geben könne, sondern im Gegenteil, daß es sich um eine ‚Wahrheit‘ handle, die bisher bloß noch nicht ‚aufgefunden‘ worden sei. Allerdings ist er sich sicher: „Wäre dieser Begriff Geometrisch deutlich, so würde das Urtheil der Menschen über das Schöne nicht verschieden seyn, und es würde die Ueber­ zeugung von der wahren Schönheit leicht werden“.23 Diese Verschiedenheit des Urteils über das (menschlich) Schöne zeige sich dabei im Bereich der Kunst noch viel mehr als im Bereich der Natur, was Win­ckel­mann dadurch erläutert, daß menschliche Schönheit in natura mehr die Sinnlichkeit, in artibus hingegen mehr den Verstand anspreche, weshalb Kunstwerke, die „nach Begriffen hoher Schönheit gebildet, und mehr ernsthaft als leichtfertig sind, dem unerleuchteten Sinne weniger gefallen, als eine gemeine hübsche Bildung, die reden und handeln kann“.24 Indem er Kants Theorem vom ‚interesselosen Wohlgefallen‘ i­deale Schönheit im Geiste zu bilden. Wer den Apoll vom Belvedere als Ideal verinnerlicht hat, der ist imstande, auch die Natur mit den richtigen Augen zu sehen, sinnliche Schönheit in geistige zu verwandeln“ (ebd., 41). 21 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 142. 22 Ebd. 23 Ebd. – Der Begriff der ‚geometrischen Deutlichkeit‘ entspricht dem mathematischen Methodenideal der neuzeitlichen Philosophie seit dem 17. Jahrhundert (Hobbes, Descartes, Spinoza), das bis zu Kant in Geltung blieb. Die dem mos geometrico verpflichtete Argumentation beruht strikt auf dem logischen Prinzip von Grund und Folge und zeichnet sich deshalb durch Gewißheit und Evidenz aus. So heißt es beispielsweise in Descartes’ Meditationes de prima philosophia von 1641 über die darin enthaltenen philosophischen Beweise, es verhalte „sich hier wie in der Geometrie“, wo die Beweise „von allen für einleuchtend und gewiß gehalten werden, weil sie nämlich gar nichts enthalten, was nicht für sich betrachtet ganz leicht zu begreifen wäre, und nichts, worin nicht immer das Folgende mit dem Vorhergehenden genau zusammenhinge“. Descartes, Meditationes de prima philosophia, hg. von Lüder Gäbe, Hamburg 1959, 9 (Epistola [7]). 24 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 143.

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am Schönen antizipiert,25 bemerkt Win­ckel­mann hierzu abschätzig, es sei in letzterem Falle „nicht die Schönheit, die uns einnimmt, sondern die Wollust“.26 Indes ist damit noch immer kein ‚geometrischer‘ Begriff der Schönheit angegeben, sondern lediglich ex negativo bestimmt worden, daß Schönheit nicht mit Wollust vermengt werden dürfe, mithin nicht bloß sinnlich, sondern zugleich intellektuell zu erfahren sei. Statt allerdings sogleich einen ‚allgemein deutlichen‘ Begriff der Schönheit anzugeben, zieht sich Win­ckel­mann im Folgenden auf einen ‚intuitiven‘ Begriff der Schönheit zurück, der durch die Betrachtung und Nachahmung der griechischen als der wahrhaft schönen Kunst zu gewinnen sei. Er spricht auch von einem „verneinende[n] Begriff“, der die Frage nach den – vom griechischen – „verschiedene[n] Begriff[en] des Schönen“ betreffe, die als falsch zu erweisen seien; denn es könne „leichter […] von der Schönheit gesaget werden, was sie nicht ist, als was sie ist“.27 Diesem verneinenden Begriff liegt als Ausschlußkriterium offenkundig ein intuitiver Begriff zugrunde, der die Orientierung an der griechischen Schönheit präskriptiv nahelegt. Alle Nicht-Griechen könnten nur auf diesem Wege „das sanfte Gefühl der reinen Schönheit“28 erlangen – ohne einen genauen Begriff von der Schönheit hierfür zu benötigen. Beispielhaft verweist Win­ckel­mann auf die Lernpraxis des Schönschreibens: Auch die Kinder, die dies erlernen, würden schließlich nicht abstrakt mit Gründen von Beschaffenheit der Züge, und des Lichts und Schattens an denselben, worinn die Schönheit der Buchstaben bestehet, angeführet, sondern man giebt ihnen die Vorschrift ohne weiteren Unterricht nachzumachen.29

Ebenso wie diese Kinder sollen auch die Adepten der Griechen verfahren: Ohne sich rational mit den Gründen der Schönheit ihrer Werke zu beschäftigen, müssen sie diese einfach nur nachahmen, und schon gelangen sie wie von allein zum richtigen Schönheitsgefühl. Allerdings begnügt sich Win­ckel­mann nicht mit dieser Pragmatik ästhetischer Erziehung. Vielmehr versucht er im Weiteren, tatsächlich zu einem ‚be­ jahenden‘, ‚geometrisch‘ evidenten Schönheitsbegriff zu gelangen, indem er die physioästhetische Erscheinung der Griechen mit derjenigen anderer, ‚exotischer‘ 25 Vgl.

Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, Berlin 1913 (Akademie-Ausgabe, Bd. 5), 204 f.; zu Win­ckel­manns Vorwegnahme des kantischen Schönheitskonzepts vgl. bereits Carl Justi, Win­ckel­mann. Sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen, Zweiter Band: Win­ckel­ mann in Italien. Mit Skizzen zur Kunst- und Gelehrtengeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Erste Abtheilung, Leipzig 1872, 122: „Win­ckel­mann berührt hier den Unterschied des Schönen und Angenehmen, indem er dem Schönen das beilegt, was Kant [ein Vierteljahrhundert später] Interesselosigkeit nannte“. 26 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 143. 27 Ebd., 142. 28 Ebd., 144. 29 Ebd., 143 f.



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Völker vergleicht. Freilich kommt er auch damit aus seiner zirkulären Beweisführung nicht hinaus: Anstatt den wahren Begriff der Schönheit more geometrico zu verdeutlichen, präsentiert Win­ckel­mann klimatheoretisch basierte anthropometrische Überlegungen, die darauf hinauslaufen, physische bzw. physiognomische Abweichungen vom vorausgesetzten griechischen Idealtypus als quasi pathologische Deformationen zu erweisen. II. Ethno-Ästhetischer Relativismus vs. Essentialismus. Klimatheorie und Anthropometrie Der Streit über die Schönheit betrifft, wie Win­ckel­mann einräumt, nicht nur die Konkurrenz zwischen vergeistigter Kunst und sinnlicher Natur, sondern wird noch grundsätzlicher an den unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Vorstellungen von menschlicher Schönheit bei den verschiedenen Völkern, worauf „die Zweifeler wider die Richtigkeit der Begriffe der Schönheit“ verweisen. Win­ckel­ mann zitiert deren Behauptung, daß „die Begriffe des Schönen unter entlegenen Völkern, […] ihrer verschiedenen Gesichtsbildung zufolge, auch verschieden von den unsrigen seyn“ müssen.30 Diese Zweifler repräsentieren also einen ästhetischen Relativismus bzw. Differentialismus, während Win­ckel­mann selbst einen ästhetischen Absolutismus bzw. Essentialismus vertritt. Behaupten jene, daß es ethnisch-kulturell verschiedene Schönheitsideale gibt, die gleichberechtigt nebeneinander existieren, so argumentiert dieser dagegen für die absolute Wahrheit eines – nämlich des griechisch-europäischen – Schönheitsideals,31 angesichts dessen sich alle anderen „Begriffe des Schönen“ als defizitär, ja als unrichtig erweisen. Wie Thomas Franke überzeugend gezeigt hat, schließt Win­ ckel­mann dabei bis in Einzelheiten hinein an Buffons Ausführungen im Abschnitt „Variétés de lʼEspèce Humaine“ aus der Histoire Naturelle (1749–1758) an.32 Buffons Resümee gegen Ende dieses Abschnitts bildet in der Tat die Folie für die folgenden Argumente Win­ckel­manns, dessen Buffon-Lektüre denn auch durch Exzerpte in seinem handschriftlichen Nachlaß belegt ist.33 So hebt auch 30 Ebd.,

145. Winkler, Von Iphigenie zu Medea. Semantik und Dramaturgie des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer, Tübingen 2009, 58, macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, daß Win­ckel­manns „ästhetische[r] Eurozentrismus […] deutliche Spuren der Hellenen-Barbaren-Antithese aufweist, auch wenn Win­ckel­mann es hier vermeidet, den Begriff des Barbarischen zu verwenden“. 32 Vgl. Franke, Ideale Natur (wie Anm. 13), 110–116 („Win­ckel­manns Anwendung von Buffons biologischer Naturgeschichte des Menschen in der Geschichte der Kunst des Althertums“). 33 Vgl. Win­ckel­manns handschriftlicher Nachlaß in Paris, Bibliothèque national de France, cabinet des manuscripts, Fonds allemand, vol. 64, fol. 6a–b. Zu Win­ckel­manns „langen Aus­ züge[n] aus der Histoire naturelle Buffons (1707–1788), die bezeichnenderweise seine naturwis31 Markus

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schon Buffon den „Einfluß der Witterung“, vor allem die „Wirkungen“ von „große[r] Kälte“ und „übermäßige[r] Hitze“ auf die menschliche Körperbildung hervor und stellt einen direkten Zusammenhang zwischen gemäßigtem Klima und ‚wahrer Schönheit‘ her, die den normativen Maßstab zur Beurteilung aller anderen menschlichen Erscheinungsformen bildet: Der gemäßigste Himmelsstrich erstreckt sich vom vierzigsten bis zum fünfzigsten Grade. In diesen Gegenden findet man die schönsten und wohlgebildetsten Leute. […] Hier muß man das Muster nehmen, wornach man alle andere Schattierungen der Farbe und Schönheit beurteilen sollte; denn die beiden äußersten Grade sind von dem Wahren und Schönen gleich weit entfernt. Die gesittetsten Länder in diesem Erdstriche […] machen den schönsten und am besten gebildeten Teil des menschlichen Geschlechts aus, der sich auf dem ganzen Erdboden befindet.34

Win­ckel­mann reproduziert diese Ansicht Buffons, wie zu sehen sein wird, in allen wesentlichen Punkten, um den ästhetischen Relativismus zu widerlegen, der von der Gleichberechtigung unterschiedlicher Vorstellungen von menschlicher Schönheit ausgeht. Zunächst führt er zwei Beispiele solch divergierender Schönheitsideale an. Zum einen nennt er die abweichenden Ideale einer schönen Hautfarbe bei ‚schwarzen‘ Afrikanern und ‚weißen‘ Europäern: Während „viele Völker die Farbe ihrer Schönen mit Ebenholz […] vergleichen würden“, vergleichen „wir dieselbe mit Elfenbein“.35 Zum anderen verweist Win­ckel­mann, indem er weiter die virtuelle Argumentation seiner Gegner wiedergibt, auf Vergleiche „der Formen des [menschlichen] Gesichts mit Tieren“ bei jenen fremden Völkern, die dadurch die Schönheit von Gesichtsbildungen auf eine Weise hervorheben wollen, die „uns“ diese Gesichter „ungestalt und häßlich“36 erscheinen lassen. Für den ‚Humanisten‘ Win­ckel­mann kann menschliche Schönheit unmöglich durch Tierähnlichkeit bestimmt sein; die schöne Bildung des Menschen beruhe vielmehr auf dem physischen Durchscheinen des Geistigen als der anthropologischen Differenz zum Tier. Die spezifischen „Eigenschaften unseres Geschlechts“ würden durch derartige Ähnlichkeiten mit Tieren verwischt und so die „Harmonie“ sowie die „Einheit und Einfalt“,37 in denen die Schönheit bestehe, gestört werden. Damit antizipiert Win­ckel­mann seinen positiven bzw. bejahenden Begriff der Schönheit, was er durch den nachgeschobenen Zusatz „wie ich unten zeige“ eigens andeutet. senschaftlichen Hefte eröffnen“, vgl. Décultot, Untersuchungen zu Win­ckel­manns Exzerptheften (wie Anm. 4), 126–128, hier 126. 34 Georges-Louis Leclerc de Buffon, Allgemeine Naturgeschichte / Herrn von Buffons allgemeine Naturgeschichte. Eine freye mit einigen Zusätzen vermehrte Übersetzung nach der neuesten französischen Außgabe von 1769 [übersetzt von Friedrich Heinrich Wilhelm Martini], 7 Bde, Berlin 1771–1774, Bd. 6: Naturgeschichte des Menschen. Zweete Abtheilung, 936. 35 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 145. 36 Ebd. 37 Ebd.



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Im Folgenden sucht Win­ckel­mann die aufgeführten Gegenargumente der ästhetischen Relativisten, die am schönheitstheoretischen Essentialismus zweifeln, zu widerlegen. Er fängt dabei von hinten an, diskutiert also in einem ersten Schritt die Tierähnlichkeit der „entlegenen Völker“ als Abweichung(en) vom anthropologischen Idealtypus, d.h. als Kennzeichen ihrer Häßlichkeit,38 um sich danach der Frage nach der ästhetischen Bedeutung der Hautfarbe zuzuwenden. Exemplarisch werden zuerst schrägstehende „Augen […] wie an Katzen“ behandelt, wie sie sich gelegentlich sogar „unter uns [Europäern] finden und an Sinesen und Japonesen sein sollen, wie man an einigen Aegyptischen Köpfen in Profil sieht“.39 Für Win­ckel­mann handelt es sich bei solchen schrägstehenden Augen um die gleichsam pathologische „Abweichung“ von einer Norm, die er anthropometrisch begründen will. Offenbar unternimmt er nun also doch den Versuch, einen ‚geometrischen Begriff‘ menschlicher Schönheit zu entwickeln – allerdings nicht gemäß dem philosophischen Methodenideal einer Beweisführung more geometrico, sondern im Sinne einer physiologisch-physiognomischen Geometrie des menschlichen Gesichts. Sie beruht auf der Voraussetzung, daß die „Base […] des Gesichts […] das Creutz ist, wodurch dasselbe von dem Wirbel an in die Länge und in die Breite gleich getheilet wird, indem die senkrechte Linie die Nase durchschneidet, die horizontal[e] Linie aber den Augenknochen“.40 Die Richtung schrägstehender Augen falle nun von diesem Basiskreuz ab und schneide eine parallel zu jener horizontalen Linie durch den Augenmittelpunkt verlaufende weitere Linie, was die geometrische „Ursache“ ihrer Häßlichkeit sei, „denn wenn unter zwo Linien die eine von der andern ohne Grund abweichet, thut es dem Auge wehe“.41 Diese fundamentale geometrischästhetische Prämisse, die als ‚Beweisgrund‘ für die Häßlichkeit schrägstehender Augen dienen soll, bleibt freilich ein unbegründetes Postulat. Als eine weitere Abweichung vom rechten Mittelmaß, die Häßlichkeit erzeuge, führt Win­ckel­mann beispielhaft die „gepletschte Nase der Calmucken, der Sinesen, und anderer entlegenen Völker“ an. Sie wird nun zwar nicht durch 38 Hierzu

bemerkt Dimitri Liebsch, Die Geburt der ästhetischen Bildung aus dem Körper der antiken Plastik. Zur Bildungssemantik im ästhetischen Diskurs zwischen 1750 und 1800, Hamburg 2001, 64, daß die Vermessung der Körperbildungen der fremden Völker bei Win­ ckel­mann „keineswegs den ethnomethodologischen Fremdblick der Aufklärung auf den ‚edlen Wilden‘ teilt, sondern einen handgreiflichen Rassismus pflegt“. Freilich bleibt anzumerken, daß die Denkfigur des ‚edlen Wilden‘ im Vergleich mit dem abwertenden Gegenmodell des ‚tierischen Wilden‘ nicht minder einem „betont ethnozentrischen Kulturbewußtsein“ entspringt (Urs Bitterli, Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 32004, 374); es handelt sich eben auch nur um eine europäische Projektion. Vgl. auch das Standardwerk von Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden, Frankfurt am Main 21986. 39 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 146. 40 Ebd. 41 Ebd.

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eine ‚Störung‘ der Gesichtslinien selbst erklärt, wohl aber ebenfalls durch einen Widerspruch innerhalb der menschlichen Biometrie. So unterbreche die „tief gesenkt[e]“ Nase „die Einheit der Formen, nach welcher der übrige Bau des Körpers gebildet worden“.42 Zwar handle es sich bei der „gepletschte[n] Nase“, wie sie sich unter anderem bei Chinesen – die insofern mit doppelter Häßlichkeit (schräge Augen und eingesenkte Nase) gestraft wären – als ‚rassenphysiognomisches‘ Merkmal finde, nicht um eine Tierähnlichkeit. Allerdings stelle sie ein zum Tierschädel, bei dem „Stirn und Nase aus einem geraden Knochen“ gebildet sind, komplementäres Extrem dar, das ebenso wie dieser der „Mannigfaltigkeit in unserer Natur“43 widerspreche. Die ausgewogene, menschliche Mitte zwischen diesen beiden Extremen stellt für Win­ckel­mann dagegen „das sogenannte Griechische Profil [als] die vornehmste Eigenschaft einer hohen Schönheit“ dar: „Dieses Profil ist eine fast gerade oder sanft gesenkte Linie, welche die Stirn mit der Nase […] beschreibet“.44 Weshalb diese vertikale Einheit von Stirn und Nase, wie sie an griechischen Statuen zu beobachten ist, für Win­ckel­mann zum Inbegriff der höchsten menschlichen Schönheit wird, liegt auf der Hand: Sie stellt quasi das Gegenteil der horizontalen Einheit von Stirn und Nase beim Tierschädel dar und veranschaulicht so physiognomisch die anthropologische Differenz. Noch in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, die zwischen 1817 und 1829 gehalten wurden und in denen die klassizistisch-idealistische Kunst- und Schönheitstheorie ‚um 1800‘ ihre letzte große systematische Ausgestaltung erfährt, heißt es unter der Überschrift „Das griechische Profil“ in deutlicher Anknüpfung an Win­ckel­mann und mit Bezug auf die entsprechende Debatte zwischen den Anthropologen Peter Camper45 und Johann Friedrich Blumenbach:46 Dies Profil liegt in der spezifischen Verbindung der Stirn und Nase; in der fast geraden oder nur sanft gebogenen Linie nämlich, in welcher die Stirn sich zur Nase ohne Unterbrechung fortsetzt, sowie näher in der senkrechten Richtung dieser Linie auf eine zweite hin, welche, wenn man sie von der Nasenwurzel nach dem Kanal des Ohres zieht, mit jener ersten Stirn- und Nasenlinie einen rechten Winkel macht. In solcher Linie stehen Nase und Stirn durchgängig in der idealen schönen Skulptur zueinander, und es fragt sich daher, ob dies eine bloß nationale und künstleri42 Ebd. 43 Ebd.

44 Ebd.,

177. Peter Camper, Über die natürliche Verschiedenheit der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters [1786/1772/1786]. Übers. von Samuel Thomas Soemmering, Berlin 1792. 46 Vgl. Johann Friedrich Blumenbach, Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Nach der dritten Ausgabe und den Erinnerungen des Verfassers übersetzt, und mit einigen Zusätzen und erläuternden Anmerkungen herausgegeben von Johann Gottfried Gruber, Leipzig 1798 [Lateinischer Erstdruck: De generis humani varietate nativa liber, Göttingen 1775], 145–147. 45 Vgl.



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sche Zufälligkeit oder physiologische Notwendigkeit ist. / Camper, der holländische bekannte Physiologe, hat besonders diese Linie näher als die Schönheitslinie des Gesichts charakterisiert, indem er in ihr den Hauptunterschied der menschlichen Gesichts­bildung und des tierischen Profils findet und die Modifikationen dieser Linie deshalb auch durch die verschiedenen Menschenrassen verfolgt, worin ihm freilich Blumenbach (De varietate nativa, § 60) widerspricht. Im allgemeinen aber ist die angedeutete Linie in der Tat eine sehr bezeichnende Unterscheidung des menschlichen und tierischen Aussehens. Bei den Tieren bilden Maul und Nasenknochen zwar auch eine mehr oder weniger gerade Linie, aber das spezifische Hervortreten der tierischen Schnauze, die sich als gleichsam nächste praktische Beziehung zu den Gegenständen nach vorne drängt, bestimmt sich wesentlich durch das Verhältnis zum Schädel, an welchem das Ohr weiter herauf- oder herabgestellt ist, so daß nun die zur Nasenwurzel oder zum Oberkiefer – dahin, wo die Zähne einsitzen – fortgezogene Linie mit dem Schädel, statt wie beim Menschen einen rechten, hier einen spitzen Winkel bildet. Jeder Mensch hat für sich ein allgemeines Gefühl von diesem Unterschiede, der sich allerdings auf bestimmtere Gedanken zurückführen läßt.47

Hegel gibt also Camper gegen Blumenbach Recht, wenn er die durch eine gerade Nase gekennzeichnete Profillinie des menschlichen Gesichts – wie um die Mitte des 18. Jahrhunderts bereits Win­ckel­mann – als „eine sehr bezeichnende Unterscheidung des menschlichen und tierischen Aussehens“ begreift, die deshalb als „Schönheitslinie des [menschlichen] Gesichts“ gelten könne. Anders als der von Hegel erwähnte Camper „verfolgt“ Win­ckel­mann in seiner Geschichte der Kunst des Alterthums zwar nicht „die Modifikationen dieser Linie […] auch durch die verschiedenen Menschenrassen“, er wendet sich aber – nach den schrägstehenden Augen und der ‚gepletschten‘ Nase gewisser Völker – einer dritten ‚rassenphysiognomischen‘ ‚Abweichung‘ zu: dem „aufgeworfene[n] schwülstige[n] Mund“ der „Mohren“,48 der von ihm ebenfalls als häßliche (Fehl-)Bildung gewertet wird. Auch sie wird als eine spezifische Verwischung der anthropologischen Differenz beschrieben, denn es handle sich um eine gleichsam pathologische Entartung, um „ein überflüssiges Gewächs und ein[en] Schwulst“, den „die Mohren mit den Affen in ihrem Lande gemein haben“.49 Winckelmann reproduziert hier den zu seiner Zeit weitverbreiteten Topos von der Affenähnlichkeit des ‚Negers‘, und zwar anhand der ‚aufgeworfenen Lippen‘ – Kant spricht wiederholt von „Wurstlippen“50 –, die „Mohren“ und Affen gemeinsam seien. Interessanterweise widerspricht dieser Auffassung der Anatom und Anthropologe Samuel Thomas Soemmering in seiner 1785 erschienenen Abhandlung Über die körperliche Verschiedenheit des Negers vom 47 Georg

Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michael (= G. W. F. H., Werke, Bd. 14), Frankfurt am Main 21990, 383 f. 48 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 146. 49 Ebd. 50 Vgl. Immanuel Kant, Von den verschiedenen Racen der Menschen, Berlin 1912 (Akademie-Ausgabe, Bd. 2), 438, sowie I. K., Vorlesungen über Physische Geographie, Berlin 1923 (Akademie-Ausgabe, Bd. 9), 312 und 407.

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Europäer. Soemmering stellt zwar weder die Affenähnlichkeit der ‚Neger‘ noch die ‚aufgeworfene‘ Form ihrer Lippen in Abrede, sieht aber gerade in letzterer ein anatomisches Unterscheidungsmerkmal zwischen „Mohren“ und Affen, ­deren Ähnlichkeit sich lediglich auf „Augen und Nase“ beschränke: Wenn die Mohren durch Augen und Nase den Affen näher zu treten scheinen, so unterscheiden sie sich doch leicht von ihnen durch ihre Lippen, ob sie gleich lang, groß, aufgeworfen, wulstig, dick und mehr blaulich-schwärzlich, als schmutzig rosenfarb sind; denn die Affenschnauze hat keine Lippen, selbst des Orangs Utangs nicht.51

Freilich teilen Soemmering und Win­ckel­mann den klimatheoretischen Ansatz. Hält Soemmering nach seiner Aufzählung etlicher anatomischer Eigenschaften der ‚Neger‘ summarisch fest, es handle sich um „Einrichtungen, die das Land und Klima, worinn sie eigentlich zu leben bestimmt sind, verrathen“,52 so bemerkt Win­ckel­mann mit Blick auf den „schwülstige[n] Mund“ der „Mohren“, er sei von der „Hitze ihres Clima verursachet, so wie uns die Lippen von Hitze oder von scharfen, salzigen Feuchtigkeiten […] aufschwellen“.53 Ein bemerkenswerter Unterschied besteht aber in der jeweiligen (ästhetischen) Wertung der klimatisch bedingten Physiologie bzw. Physiognomie. Denn während Win­ckel­mann gemäß seiner Grundthese, das gemäßigte – griechisch-europäische – Klima bringe in diesem ‚Mittelpunkt der Natur‘ zugleich das idealschöne Mittel-Maß hervor, in den extremen Klimazonen hingegen herrsche das häßliche Über- oder Unter-Maß, betont Soemmering in relativistisch anmutender Urteilsenthaltung lediglich die perfekte Anpassung des ‚Negers‘ an das afrikanische Klima. Bei Win­ckel­mann heißt es entsprechend über die von ihm beschriebenen ‚Abweichungen‘ des äußeren Erscheinungsbildes entlegener Völker: Solche Bildungen wirket die Natur allgemeiner, je mehr sie sich ihren äußersten Enden nähert und entweder mit der Hitze, oder mit der Kälte streitet, wo sie dort übertriebene und zu frühzeitige, hier aber unreife Gewächse von aller Art hervorbringet.54

51 Samuel Thomas Soemmering, Über die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer (1785), hg. von Sigrid Oehler-Klein, in: S. Th. S., Werke, hg. von Jost Benedum und Werner Friedrich Kümmel, Bd. 15: Anthropologie, Stuttgart, Jena, Lübeck, Ulm 1998, 145–251 [Faksimile der Originalschrift], hier 182 [12]. 52 Ebd. 53 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 146. – Vgl. auch Kant, Von den verschiedenen Racen (wie Anm. 50), 438: „Der Wuchs der schwammichten Theile des Körpers mußte in einem heißen und feuchten Klima zunehmen; daher eine dicke Stülpnase und Wurstlippen. […] Übrigens ist feuchte Wärme dem starken Wuchs der Thiere überhaupt beförderlich, und kurz, es entspringt der Neger, der seinem Klima wohl angemessen, nämlich stark, fleischig, gelenk, aber unter der reichlichen Versorgung seines Mutterlandes faul, weichlich und tändelnd ist“. 54 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 146 f.



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Dagegen schreibt Soemmering gegen Ende seiner genannten Abhandlung: Ob aber der ursprüngliche Mensch, er mag sich nun von Asien oder sonst wo aus über die Erde verbreitet haben, zum Europäer veredelt, oder zum Neger ausgeartet sey, wage ich nicht zu entscheiden, denn man findet Eigenschaften im Bau des Negern, die ihn für sein Klima zum vollkommensten, vielleicht vollkommnern Geschöpf, als den Europäer, machen.55

Vollends deutlich wird die Differenz zwischen Soemmering und Win­ckel­mann anhand der Pflanzenmetaphorik, derer sich beide in diesem Zusammenhang bedienen. Auch wenn Soemmering Win­ckel­mann mit keinem Wort erwähnt, hat es fast den Anschein, als repliziere er auf ihn, wenn er dieselbe botanische Metapher aufgreift, diese aber – auf eine merklich an Rousseaus Lobpreis der unberührten Natur erinnernde Weise56 – ins Gegenteil verkehrt. Zunächst wieder Win­ckel­manns Wortlaut: „Denn eine Blume verwelket in unleidlicher Hitze, und in einem Gewölbe ohne Sonne bleibet sie ohne Farbe; ja die Pflanzen arten aus in einem verschlossenen finstern Orte“.57 Man vergleiche damit die Formulierungen Soemmerings: Wie viele Pflanzen verlieren nicht durch die Kultur das meiste ihrer wesentlichen Vollkommenheit? Die erzwungene scheinbare Pracht und Schönheit der vergänglichen Blüthe, zerstört, verdirbt, oder mindert oft die wichtigere Hauptbestimmung der Blume, die Fortpflanzungskraft, nebst dem Würkungsvermögen des ganzen Krautes!58

Obwohl Soemmering durch sein Pflanzenbeispiel die degenerative Wirkung der Kultur verdeutlichen will, die, laut seiner Pointe, auch die Menschen betreffe – weshalb von einer körperlich-geistigen Überlegenheit des Europäers über den ‚Neger‘ nicht unbedingt die Rede sein könne59 –, wohingegen Win­ 55 Soemmering,

Über die körperliche Verschiedenheit (wie Anm. 51), 249 [79]. vergleicht allerdings nicht Pflanzen, sondern Tiere im natürlichen und domestizierten Zustand miteinander: „Die Natur behandelt alle Tiere, die ihrer Sorge überlassen sind, mit einer Vorliebe, die zu zeigen scheint, wie eifersüchtig sie über dieses Recht wacht. Das Pferd, die Katze, der Stier, selbst der Esel haben in den Wäldern zumeist einen höheren Wuchs, und alle haben eine robustere Verfassung, mehr Kraft, Stärke und Mut als in unseren Häusern; sie büßen die Hälfte dieser Vorzüge ein, indem sie domestiziert werden, und man möchte fast sagen, daß all unsere Sorge, diese Tiere gut zu behandeln und zu ernähren, nur zu ihrer Entartung führt“ (Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit/Discours sur l’inégalité, hg. von Heinrich Meier, Paderborn 52001, 93). 57 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 147. 58 Soemmering, Über die körperliche Verschiedenheit (wie Anm. 51), 249 [79]. 59 Dementsprechend hält Soemmering fest, daß zwar „allgemein im Durchschnitt die Neger doch in etwas näher ans Affengeschlecht, als die Europäer, grenzen“; gleichwohl „bleiben [sie] aber drum dennoch Menschen, und über jene Klasse wahrer vierfüssiger Thiere gar sehr erhoben“ (ebd., 247 [77]). Und in – vom Durchschnitt abweichenden – Einzelfällen gelte überdies, daß ‚Neger‘ Europäer an körperlicher Schönheit und geistigem Vermögen übertreffen können: „Auch unter den Schwarzen giebts einige, die den Weissen ihren wahren Brüdern näher treten, 56 Rousseau

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ckel­mann ‚nur‘ auf die wohltemperierte Natur Griechenlands abhebt, ist die Gegensätzlichkeit der Positionen doch auffallend: Hier die Behauptung, allein ein gemäßigtes Klima bringe schöne Formen hervor, dort die Vorstellung einer vollkommenen (zweckmäßigen) Anpassung an die klimatischen Bedingungen und der Zweifel an einer ‚Veredelung‘ durch Kultur. Spricht Soemmering also am Ende seiner Abhandlung Über die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer erstaunlich neutral von einer in Relation zum Klima stehenden „vollkommensten“ körperlichen Beschaffenheit des ‚schwarzen‘ Afrikaners, so kommt Win­ckel­mann nach seinen exemplarischen Ausführungen über die „Unvollkommenheit“ der Körperbildungen „entlegener Völker“60 auf sein eigentliches Beweisziel – die alleinige Richtigkeit des griechisch-europäischen Schönheitsideals – zurück. Allerdings dreht sich seine Argumentation merklich im Kreis; die Behauptung, es handle sich bei den angeführten Körpermerkmalen um ‚Abweichungen‘, kann sich nur wieder auf die Ausgangsthese berufen: „Regelmäßiger aber bildet die Natur, je näher sie nach und nach wie zu ihrem Mittelpunct gehet, unter einem gemäßigten Himmel, wie im ersten Capitel angezeiget worden“.61 Bei dieser argumentativen Achsendrehung springt allerdings eine neue ‚Einsicht‘ heraus. Denn in umgekehrter Richtung wird aus dieser vermeintlich regelmäßigeren Bildung wiederum die größere Richtigkeit der an ihnen geschulten Schönheitsbegriffe abgeleitet: Folglich sind unsere und der Griechen Begriffe von der Schönheit, welche von der regelmäßigsten Bildung genommen sind, richtiger, als welche sich Völker bilden können, die, um mich eines Gedankens eines neuern Dichters zu bedienen, von dem Ebenbilde ihres Schöpfers halb verstellet sind.62

Mit diesem Zitat „eines neuern Dichters“,63 dem in der 2. Auflage von 1776 dann noch ein Ausspruch des Euripides zur Seite gestellt wird: „was nicht schön ist, kan nirgends schön seyn“,64 wird die zirkuläre Beweisführung für den ästhetischen Essentialismus um einen neuen Aspekt erweitert: den der Gottebenbildund manche aus ihnen sogar an Verstande, so wie auch schöner Bildung des Körpers übertreffen“ (ebd., 248 [78]). 60 Winkelmann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 146. 61 Ebd., 147. 62 Ebd. 63 Ebd., 256. – Franke, Ideale Natur (wie Anm. 13), 172, Anm. 85, vermutet mit guten Gründen, es handle sich um eine Anspielung auf Richard Blackmores The Nature of Man. Poem. In Three Books (London 1711), in dem es heißt: „These stupid Nations, this degenerate Race, / Can scarce the Being of their Maker trace, / Thoʼ Marks of Powʼr Divine shine bright on Natureʼs Face“ (A Collection of Poems on Various Subjects. London 1718, 197). 64 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 256. – Euripides: Phoen. 814; vgl. Win­ ckel­mann, Geschichte der Kunst des Althertums, Allgemeiner Kommentar, in: J. J. W. Schriften und Nachlaß, Bd. 4,3, hg. von Adolf H. Borbein u. a., Mainz 2007, 207.



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lichkeit des Menschen.65 Diese alttestamentarische Vorstellung, die sich zum Beispiel in Gen. 1, 27 findet: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn“,66 wird wenig später von Win­ckel­mann in einer onto-theologischen Spekulation über die „Ursachen des allgemeinen Schönen“ bzw. die „Quelle des höchsten Schönen“, das „gleichbedeutend ist mit der Vollkommenheit“,67 noch einmal aufgegriffen und vertieft. Damit will Win­ckel­ mann, nachdem er bisher nur „verneinend von der Schönheit gehandelt“, also gezeigt habe, was bzw. wer nicht schön ist, nun endlich auch einen „bejahende[n] Begriff“68 liefern. In einer neuplatonisch-idealistisch getönten Formulierung heißt es an der entsprechenden Stelle: Die höchste Schönheit ist in Gott, und der Begriff der Menschlichen Schönheit wird vollkommen, je gemäßer und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten Wesen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der Einheit und Untheilbarkeit von der Materie unterscheidet. Dieser Begriff der Schönheit ist wie ein aus der Materie durchs Feuer gezogener Geist, welcher sich suchet ein Geschöpf zu zeugen nach dem Ebenbilde der in dem Verstande der Gottheit entworfenen ersten vernünftigen Creatur.69

Diese Spekulation entspricht völlig der ästhetischen Idealisierungstheorie, die Win­ckel­mann bereits 1755 in den Gedancken über die Nachahmung entwickelt, wenn er dort von dem ‚geistigen Urbild‘ der Schönheit spricht, mittels dessen die griechischen Bildkünstler noch über die bloße Nachahmung der schönen (menschlichen) Natur hinausgegangen seien. Insbesondere klingt hier offenkundig das bekannte Diktum aus den Gedancken nach, das sinnlich-menschliche und idealisch-göttliche (erhabene) Schönheit unterscheidet und als die beiden – vereinigten – Grundelemente der griechischen Kunstwerke charakterisiert: „Die sinnliche Schönheit gab dem Künstler die schöne Natur; die Idealische Schönheit die erhabenen Züge: von jener nahm er das Menschliche, von dieser das Göttliche“.70 Bemerkenswert ist nun, welche Konsequenzen Win­ckel­mann in seiner Geschichte der Kunst daraus für die Beurteilung der Körperbildungen und Schönheitsvorstellungen fremder Völker zieht. Die hier von ihm aufgegriffene Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen wird insofern eingeschränkt, als die angeführten „entlegenen Völker“ in Win­ckel­manns Augen keinen vollen 65 Zu

Recht bemerkt Thomas Noll, Vom Glück des Gelehrten. Versuch über Jacob Burkhardt, Göttingen 1997, 286, über diese Gedankenführung Win­ckel­manns: „Eine gültige Norm ließ sich aus dieser Erklärung, die in einem circulus vitiosus nur eine weitere Prämisse ins Spiel bringt, kaum ohne Widerspruch gewinnen“. 66 Vgl. auch Gen. 5, 1 und Gen. 9, 6. 67 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 149. 68 Ebd., 148. 69 Ebd., 149. 70 Win­ckel­mann, Gedancken über die Nachahmung (wie Anm. 7), 35.

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Anspruch darauf erheben können. Denn sie weichen seines Erachtens nicht nur von dem als physioästhetische Regel fungierenden anthropologischen Ideal­typus des Griechen bzw. Europäers ab, sondern auch vom göttlichen Urbild. Sie sind demnach keine vollgültigen „Ebenbilde[r] ihres Schöpfers“ und damit auch – gemäß der aufgerufenen biblischen Anthropologie – gar keine Menschen im eigentlichen Sinn. Diese Völker gelten Win­ckel­mann nicht nur als physiognomisch ‚entstellt‘ – gleichsam als pathologisch deformiert71 –, sondern überdies als anthropologisch ‚verstellt‘ – gleichsam als dem Schöpfer mißlungene „vernünftige Creatur[en]“. Jedenfalls ist der Grieche bzw. der Europäer für Win­ckel­ mann Gott am ähnlichsten.72 III. „das widrige der Farbe“: Win­ckel­manns Opto-Ästhetik des „Mohren“ Win­ckel­mann führt also mehrere, miteinander verklammerte bzw. sich gegenseitig stützende Argumente für die universale Geltung der griechisch-europäischen Schönheitsbegriffe ins Feld: So seien die physiologisch-physiognomischen Merkmale exotischer Völker, die diese für schön halten, als Abweichungen von der griechisch-europäischen Regel zu begreifen (‚Übertreibungen‘, ‚Unterbrechungen‘, ‚Störungen‘), wohingegen allein die Körperbildung der Griechen bzw. Europäer regelmäßig sei, und zwar deshalb, weil sie der ‚gesunden‘ Regel entspricht. Diese Regel aber beruht nach Win­ckel­mann darauf, daß die Natur nur in einem gemäßigten Klima regelmäßige Bildungen hervorbringe, das wohltemperierte Mittel-Maß der Formen erzeuge, in dem die Schönheit bestehe (‚ununterbrochene Harmonie‘, ‚mannigfaltige Einheit‘, ‚gleichförmige Einfachheit‘). Überdies entspreche der ‚exotische‘ Mensch nicht der göttlichen Schöpfungsabsicht der „vernünftige[n] Creatur“. Damit leugnet Win­ckel­mann zwar nicht, daß es bei verschiedenen Völkern unterschiedliche Schönheitsideale gibt, unterscheidet aber strikt richtige und falsche Vorstellungen. Daß sich die Völker darüber, was am Menschen als schön zu gelten hat, nicht einig sind, spreche demzufolge nicht gegen einen objektiven, allgemeingültigen Begriff der Schönheit, sondern zeuge nur vom mangelnden ästhetischen Urteilsvermögen der „entlegenen Völker“, die nicht wissen, was in Wahrheit schön sei. 71 Vgl.

die treffende Beobachtung von Tanja van Hoorn, Physische Anthropologie und normative Ästhetik. Georg Forsters kritische Rezeption der Klimatheorie in seiner Reise um die Welt, in: Georg-Forster-Studien 8 (2003), 139–161, hier 147: „Nichteuropäische Varietäten […] erscheinen Win­ckel­mann als kranke, den widrigen Umständen geschuldete Abweichung vom Ideal“. 72 Wenn Fink, Von Win­ckel­mann bis Herder (wie Anm. 13), 176, feststellt, „daß von Buffon bis Kant und Meiners die weiße Rasse als die schönste, gottebenbildlichste betrachtet wurde“, dann gehört also zweifellos auch – und gerade – Win­ckel­mann in diese Reihe.



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Doch Win­ckel­manns Argumentation ist nicht nur zirkulär, sondern auch widersprüchlich. So behauptet er nach den vorigen Ausführungen plötzlich, die differenten Schönheitsvorstellungen der Völker würden lediglich die sinnliche Empfindung betreffen, nicht aber die verstandesmäßige Erkenntnis, da hinsichtlich „der allgemeinen Form […] beständig die mehresten und gesittetesten Völker in Europa so wohl, als in Asien und Africa übereingekommen [sind]; daher die Begriffe derselben nicht für willkührlich angenommen zu halten sind“.73 Auch wenn Win­ckel­mann offen läßt, was genau er hier unter „der allgemeinen Form“ versteht, widerspricht diese Aussage über den ästhetischen Konsens der Völker doch prima facie dem, was zuvor über die abweichenden Vorstellungen von menschlicher Schönheit ausgeführt wurde.74 Freilich schließt er dabei durch den Hinweis auf die „gesittetesten Völker“ e contrario die ‚unzivilisierten‘, ‚wilden‘ Völker aus. Offenbar kann sich Win­ckel­mann doch nicht mit dem Gedanken abfinden, daß Menschen, die über ein gewisses Maß an Kultur verfügen, die ästhetische Superiorität des griechischen Idealtypus bestreiten könnten. Denn evident ist: Die „allgemeinen Begriffe“, über die ein solcher Konsens herrsche, wie jetzt auf einmal behauptet wird, bleiben doch die Begriffe der „Harmonie“, der „Einheit und Einfalt […], als worinn die Schönheit besteht“,75 und dies sind laut Win­ckel­mann die Kennzeichen der griechisch-europäischen Schönheit. Daß Win­ckel­mann uneingeschränkt an seinem euro- bzw. hellenozentrischen essentialistischen Schönheitskonzept festhält, zeigt auch und gerade seine im weiteren Textverlauf geäußerte – auf den ersten Blick einigermaßen erstaunliche – Annahme, daß unter Umständen sogar ein „Mohr […] schön heißen“76 kann. Eingeleitet wird diese Reflexion durch Win­ckel­manns Wiederaufgreifen des schon angesprochenen, zunächst jedoch zurückgestellten Sachverhalts, daß „viele Völker die Farbe ihrer Schönen mit Ebenholz […] vergleichen würden, da wir dieselbe mit Elfenbein vergleichen“.77 Auch diese divergierende Vorliebe für eine dunkle oder helle Hautfarbe hatte Win­ckel­mann – wie die dann zuerst diskutierten Gesichtsformen – als möglichen Einwand der ästhetischen Relativisten gegen universalgültige Schönheitsbegriffe angeführt, den es zu entkräften gelte. Die Bedeutung der Hautfarbe wird von ihm nun erst an zwei73 Win­ckel­mann,

Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 147. Ideale Natur (wie Anm. 13), 114, bemerkt hierzu aufgrund seiner zentralen These der Beeinflussung Win­ckel­manns durch Buffon: „Die […] etwas überraschende Sentenz Win­ ckel­manns […] klärt sich auf, wenn man den Bericht Buffons danebenhält, daß die Rasse der senegalesischen Mohren ähnlich ‚edelgebildet wie die Europäer‘ seien, und ‚ebenso schöne Geschichtsteile, eine ebenso erhabene [Nase] und ebenso dünne Lefzen, als die Europäer haben […]. Sie haben auch eben solche Begriffe wie wir von der Schönheit.‘“ (Vgl. Herrn von Buffons allgemeine Naturgeschichte [wie Anm. 34], 886–889). 75 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 145. 76 Ebd., 148. 77 Ebd., 145. 74 Franke:

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ter Stelle erörtert, weil sie im Unterschied zu den Formen die Schönheit nicht konstituiere, sondern nur einen zusätzlichen Beitrag zur Schönheit der Formen leiste: Die Farbe „erhebet dieselbe [die Schönheit] überhaupt“78 – oder vermindert sie im entgegengesetzten Fall. Nicht weiter erstaunlich mutet im Kontext von Win­ckel­manns Ethno-Ästhetik seine These an, daß namentlich die weiße Farbe die Schönheit erhöht, die schwarze Farbe sie hingegen abschwächt. Auch dies wird gegen einen farbästhetischen Relativismus als objektiv-allgemeines Gesetz präsentiert.79 Die Farbe von Ebenholz sei mithin an sich weniger schönheitsfördernd als die von Elfenbein. Win­ckel­mann beruft sich – gemäß Newtons Farbenlehre – auf das physikalische (optische) Phänomen der Lichtreflexion, um dies zu begründen: „Da […] die weiße Farbe diejenige ist, welche die mehresten Lichtstrahlen zurückschicket, folglich sich empfindlicher macht, so wird auch ein schöner Körper desto schöner seyn, je weißer er ist“.80 Wie kommt Win­ckel­mann von dieser opto-ästhetischen These aber zu seiner Feststellung, auch ein ‚Schwarzer‘ könne schön sein? Diese Möglichkeit ist an zwei Bedingungen geknüpft, zum einen an die Voraussetzung schöner Körperformen bzw. Gesichtszüge, denen nach Win­ckel­mann ja ästhetische Priorität gegenüber der sekundären Qualität der Farbe zukommt, zum anderen aber an die Voraussetzung eines gewohnheitsmäßigen Übersehens der ‚widrigen‘ Schwärze. Dementsprechend schreibt er unter Berufung auf den 1701 postum erschienenen Reisebericht Francesco Carlettis81 (1573–1617): „Ein Mohr könnte schön heißen, wenn seine Gesichtsbildung schön ist, und ein Reisender versichert, daß der tägliche Umgang mit Mohren das widrige der Farbe benimmt und was schön an ihnen ist, offenbaret“.82 Die ‚schwarze‘ Hautfarbe verdiene also unter keinen Umständen den Vorzug vor der ‚weißen‘; der ‚Schwarze‘ könne folglich nicht wegen seiner Hautfarbe, sondern allenfalls trotz dieser schön sein – falls seine Gesichtsbildung schön ist. Daß dies für Win­ckel­mann eine Übereinstimmung mit den idealen Formen der griechisch-europäischen Physiognomie bedeutet, liegt auf der Hand. Ebenso ist auch seine ästhetische Hochschätzung der „Indianer“ sowie der „Georgianer[]“ und „Kabardinski“83 in den Gedancken über die Nachahmung zu verstehen. Sie werden nur deshalb als schön apostrophiert, weil Win­ckel­mann in ihnen ‚Verwandte‘ der antiken Griechen zu entdecken glaubt. 78 Ebd.,

147. vgl. Hanna Philipp, Win­ckel­mann und das Weiss des Rokoko, in: Antike Kunst 39 (1996), 88–99, die Win­ckel­manns Bevorzugung des Weißen im Kontext seiner Zeit verortet; zur Kritik hieran vgl. Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst, Kommentar (wie Anm. 64), 208. 80 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 148. 81 Der Reisebericht Ragionamenti sopra le cose da lui vedute ne suoi viaggi dellʼIndie occidentali e orientali, come dʼaltre paesi (Florenz 1701) schildert Carlettis Abenteuer- und Handelsreise nach Amerika und Arabien in den Jahren 1594–1606. 82 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 148. 83 Win­ckel­mann, Gedancken über die Nachahmung (wie Anm. 7), 31 f. 79 Hierzu



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Für den „Mohren“ heißt das: Bei Win­ckel­mann – wie bei vielen europäischen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts84 – ist die physiognomische ‚Entafrikanisierung‘ unerläßliche Bedingung dafür, schwarze Afrikaner als schön gelten zu lassen. Auch Win­ckel­manns ‚schöner Mohr‘ ist in Wirklichkeit ein ‚schwarzer Grieche‘, wobei überdies aufgrund des optischen Vorzugs der weißen gegenüber der schwarzen Farbe generell gilt, daß zwar ein schöner ‚Schwarzer‘ schöner sein kann als ein häßlicher ‚Weißer‘, aber der schönste ‚Schwarze‘ nie so schön wie der schönste ‚Weiße‘. IV. Das eigene Fremde: Vor der griechischen Klassik Insgesamt zeigt sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen Win­ckel­manns systematischer Ausschließung der ästhetischen Alterität, die sich auch und gerade in deren Angleichung an das Eigene bekundet, und dem konzeptionellen Zuschnitt seines idealistischen Klassizismus als einer strikten Ästhetik des Schönen. Nicht nur werden die „entlegenen Völker“ als ästhetisch (und anthropologisch!) minderwertig im Vergleich zu ‚uns und den Griechen‘ eingestuft oder bestenfalls – als „gesittetste Völker“ Asiens und Afrikas – gleichgeschaltet und in die Zustimmungspflicht genommen, wohingegen, so Win­ckel­manns Unterstellung, lediglich die ‚Unzivilisierten‘, ‚Wilden‘ auf dem Abweichenden, Unharmonischen, Maßlosen und Übertriebenen beharren, durch welches das Häßliche gekennzeichnet sei. Vielmehr wird andersherum auch dies alles aus dem normativen Konzept der griechischen Idealschönheit ausgeschlossen, selbst wenn es griechischem Boden entstammt. Für Win­ckel­mann sind also nicht nur nicht alle Menschen (wahre) Menschen, sondern auch nicht alle Griechen (wahre) Griechen. Die Bestimmung dessen, was ‚wahrhaft‘ griechisch und damit schön ist, erweist sich als höchst selektiv.85 Besonders deutlich wird dies an Win­ckel­ manns Beschreibung der Laokoon-Statue, die bei ihm zum Paradigma der griechischen Kunst und Schönheit avanciert. Formuliert er in den Gedancken über die Nachahmung seine berühmte Definition der griechischen Klassik als „eine 84 Man

denke z. B. an die entafrikanisierende Darstellung des ‚königlichen Sklaven‘ Oroonoko in Aphra Behns gleichnamiger Erzählung von 1688 oder an die des schönen ‚Hottentotten‘ auf dem Frontispiz zu Rousseaus Discours sur l’inégalité von 1755. 85 Diese spezifische Deutung der nachzuahmenden griechischen Antike durch Win­ckel­ mann bestätigt exemplarisch die Überlegung von Jochen Schmidt, Die Geschichte des GenieGedankens, 2 Bde., Heidelberg 32004, 1, 13 f., wonach das im 17. und 18. Jahrhundert zentrale ästhetische Postulat der Nachahmung der Antike, ebenso wie das der Naturnachahmung, jeweils auf bestimmten – von Fall zu Fall verschiedenen – Vorstellungen von der Antike oder der Natur beruht: „Die Nachahmung der Natur und die Nachahmung der antiken Vorbilder sind die beiden Ansatzpunkte der modernen Literaturästhetik. Ebenso wie die Nachahmung der Natur ist die Nachahmung der Antike prinzipiell vieldeutig. Denn sowenig wie die Natur gibt es die Antike, sondern nur Interpretationen der Antike, die den Geist der Zeit spiegeln, aus der sie stammen“.

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edle Einfalt, und eine stille Größe, so wohl in der Stellung als im Ausdruck“,86 so folgt daraus ja die Exklusion all derjenigen griechischen Kunstwerke, die nicht durch „edle Einfalt […] und stille Größe“ gekennzeichnet sind und mithin für Win­ckel­mann nicht zu den allein nachahmenswerten „Meisterstücke[n]“ gehören. Da die Statue des Laokoon – gemäß dem von Win­ckel­mann implizit zugrunde gelegten stoischen Tugendideal der Ataraxia – „bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele“ zeige und sich der „Schmerz“, den er durch die ihn würgende und zugleich beißende Schlange erleidet, „mit keiner Wuth in dem Gesichte und in der gantzen Stellung“ äußere, attestiert Win­ckel­mann dem Künstler „Weisheit“ und folgert daraus: „Griechenland hatte Künstler und Weltweisen [sic!] in einer Person“.87 Diese Bestimmung der ‚wahren‘ griechischen Künstler als (stoische) Philo­ sophen schließt alles ‚Wilde‘ in der ästhetischen Gestaltung als fehlerhafte Abweichung von der ruhigen, gesetzten Norm aus, wie Win­ckel­mann selbst am Gegenbeispiel reflektiert: „Alle Handlungen und Stellungen der Griechischen Figuren, die mit diesem Character der Weißheit [sic!] nicht bezeichnet, sondern gar zu feurig und zu wild waren, verfielen in einen Fehler, den die alten Künstler Parenthyrsis nannten“.88 Aus diesem Grund bedeutet „Nachahmung der Alten“89 für Win­ckel­mann gerade nicht Nachahmung der griechischen Archaik, die für ihn eine ‚wilde‘, exzessive Epoche war, sondern ausschließlich Nachahmung der ‚stillen‘, disziplinierten griechischen Klassik.90 Ausdrücklich trifft sein Tadel Aischylos, den ältesten der drei großen griechischen Tragödiendichter, dessen „Agamemnon […] zum Teil durch Hyberbolen viel dunckler geworden, als alles, was Heraklit geschrieben“.91 Ebenso wie Win­ckel­mann alles ‚Übertriebene‘ der menschlichen Körperformen und Gesichtszüge bei ‚wilden Völkern‘ als ‚Abweichung‘ vom griechisch-europäischen Schönheitsideal begreift, erscheint auch die tragische Dichtkunst des Aischylos als übertriebene (hyperbolische) Abweichung vom postulierten klassischen Ideal der ‚edlen Einfalt und stillen Größe‘.92 Das Wilde ist als das Archaische der griechischen Antike selbst inhärent und muß – ganz anders als fast ein Jahrhundert später 86 Win­ckel­mann, 87 Ebd.

88 Ebd.

89 Ebd.,

Gedancken über die Nachahmung (wie Anm. 7), 43.

29. stoischen Hintergrund dieses klassizistischen Programms vgl. Barbara Neymeyr, Laokoon als Prototyp stoischer Schmerzbewältigung? Win­ckel­manns Deutung im Kontext ästhetischer Kontroversen, in: B. N., Jochen Schmidt, Bernhard Zimmermann (Hg.), Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, 2 Bde., Berlin 2008, 1, 343–364, hier 356 f. 91 Win­ckel­mann, Gedancken über die Nachahmung (wie Anm. 7), 44. 92 Vgl. Bosshard, Win­ckel­manns Ästhetik (wie Anm. 15), 16: „Mit dem Übermäßigen, Ungemäßigten wird alles Ausgefallene, Ex-zentrische, Gesuchte diskrediert. Für das ‚Mittelmäßige‘, das ‚Normale‘ wird eine Lanze gebrochen. Dem Sonderfall versagt Win­ckel­mann die Anerken90 Zum



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in Nietzsches Abhandlung über Die Geburt der Tragödie (1872) – zugunsten der harmonischen Einheit, gegenüber der es als Störfaktor erscheint, eliminiert werden. Nur weil das ­eigene Wilde dergestalt aus der griechischen Antike ausgeschlossen wird, kann umgekehrt die griechische Antike als Ausschlußprinzip des fremden ‚Wilden‘ fungieren. Mit seiner Gegenüberstellung von wilder, extremer Archaik und ruhiger, gemäßigter Klassik konstruiert Win­ckel­mann ein kunsthistorisches Entwicklungsprinzip, wie es wenig später auch von den ‚Stürmern und Drängern‘ Herder und Goethe in modifizierter Weise in Anschlag gebracht wird. So zieht Win­ckel­ mann eine Parallele zwischen der zeitlichen Entwicklung der Künste und der des (individuellen) Menschen: Wie der Mensch verschiedene Lebensalter durchlaufe, die mit spezifischen Eigenschaften verbunden sind, entsprechend verhalte es sich auch bei den Künsten. Dabei denkt Win­ckel­mann insbesondere an den Übergang vom wilden Jugend- zum gesetzten Mannesalter, wenn er schreibt: „Das Heftige, das Flüchtige gehet in allen menschlichen Handlungen voran; das Gesetzte, das Gründliche folget zuletzt“.93 Diese Vorstellung überträgt er, wie gesagt, auch auf die historische Entwicklung der Künste sowie auf die persön­ liche Entwicklung der Künstler: „Die schönen Künste haben ihre Jugend so wohl wie die Menschen, und der Anfang dieser Künste scheinet wie der Anfang bey Künstlern gewesen zu sein, wo nur das Hochtrabende, Erstaunende gefällt“.94 Damit kommt Win­ckel­mann der um 1770 von Herder und Goethe vertretenen Ansicht vom ‚erhabenen‘ Ursprung der Kunst95 schon erstaunlich nahe, auch wenn die Bewertung dieser ursprünglichen Kunst bei ihm nahezu entgegen­ gesetzt ausfällt, indem er darin nichts Authentisch-Positives, sondern lediglich das zu überwindende Archaische erblickt, dessen exzentrische ‚Wildheit‘ er ablehnt. Obwohl er sein Lebensalter-Modell noch nicht zur Ineinanderblendung von Onto- und Phylogenese erweitert und folglich in den wilden Produktionen der jugendlichen Künste und Künstler keine Analogie zur ‚primitiven‘ Kunst der ‚Naturvölker‘ erblickt, die etwa für Herder und Goethe die Stufe der menschheitsgeschichtlichen Kindheit oder Jugend repräsentieren, gelangt Win­ckel­mann doch zumindest zu einer Übertragung seines Modells auf die eigene Gegenwart. Denn die für die griechische Archaik vorgeblich charakteristische Übertreibung (Parenthyrsos) als das „wahre Gegenteil“ der stillen Größe griechischer Klassik nung; im Mittleren und Gemäßigten kommt das Typische zum Ausdruck. […] Das Gemäßigte, nur das Gemäßigte ist ‚schön‘. Das Extreme widerspricht der Schönheit“. 93 Win­ckel­mann, Gedancken über die Nachahmung (wie Anm. 7), 44. 94 Ebd. 95 Vgl. hierzu Sebastian Kaufmann, Der ‚Wilde‘ und die Kunst. Ethno-Anthropologie und Ästhetik in Goethes Aufsatz Von deutscher Baukunst (1772) und Schillers philosophischen Schriften der 1790er Jahre, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4/1 (2013), 29–57, besonders 44 f.

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kennzeichne auch den schwülstigen Barockstil der eigenen Zeit, gegen den Win­ ckel­mann mit seinem klassizistischen Programm einer Nachahmung der Alten antritt.96 Archaik und Klassik in der Antike verhalten sich für ihn mithin so zueinander wie Barock und Klassizismus in der Moderne. Das Übertriebene sei „der gemeinste [verbreitetste] Geschmack der heutigen, sonderlich angehenden Künstler. Ihren Beyfall verdienet nichts, als worinn ungewöhnliche Stellungen und Handlungen, die ein freches Feuer begleitet, herrschen“.97 Diese barocke – wilde – Ästhetik will Win­ckel­mann zugunsten eines neuen – gesetzten – Klassizismus durch seine normative Theorie überwinden helfen, und diese Überwindung sieht er in der beschriebenen „Evolution der griechischen Kunst von einer jugendhaft-wilden Archaik zu einer männlich-gesetzten Klassik präfiguriert“.98 Daß Win­ckel­mann im Rahmen dieses ästhetischen Erneuerungsbestrebens auch eine rassenphysiognomische Ethno-Ästhetik mit dem Ziel der anthropometrischen Normalisierung menschlicher ‚Schönheitslinien‘ entwickelte, liegt in der Konsequenz seines Ansatzes. Wer alles Abweichende so vehement aus der vergangenen und gegenwärtigen eigenen (griechisch-europäischen) Kultur auszutreiben sucht, wird das Fremde, das ja schon per definitionem vom Eigenen abweicht, kaum als gleichwertig anerkennen. Win­ckel­manns ästhetische Abwertung fremder Physiognomien resultiert geradezu zwangsläufig aus seinem Bannfluch gegen das Wilde, Übertriebene, Undisziplinierte als das Andere des von ihm aufgestellten klassischen Ideals. Zugleich suchte, fand und lieferte Win­ckel­mann damit festen Halt und sichere Orientierung in der Epoche des ‚zweiten Entdeckungszeitalters‘, die sich in bis dahin nicht gekannter Weise mit dem kulturell Fremden konfrontiert und dadurch in ihrem überkommenen Selbstverständnis in Frage gestellt sah. Kulturrelativistischer Skepsis gegenüber der absoluten Gültigkeit der eigenen, europäischen Lebens- und Denkweise begegnet Win­ckel­mann im Medium seiner anthropologischen Ästhetik mit einem stabilen Wertesystem, das zudem die diskursive Ausschließung bzw. Assimilation jeglicher Alterität erlaubt. Werner Petermann bemerkt hierzu treffend: 96 Hierzu vgl. Monika Schrader, Laookoon – „eine vollkommene Regel der Kunst“. Ästhetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Win­ckel­mann, Mendelssohn, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Hildesheim/Zürich/New York 2005, 28 f., die auf Win­ckel­manns pejorativen Begriff des „Bezeichnenden“ abhebt: „Mit dem Vorrang des ‚Bezeichnenden‘ ziele die moderne Kunst auf ‚ungewöhnliche Stellungen und Handlungen‘; sie ist – wie Win­ckel­mann es nennt – durch Franchezza bestimmt und damit Ausdruck des ‚gemeinsten Geschmacks‘. […] Die Moderne bezeichnet er als das ‚wahre Gegenteil‘ der Antike. Als Kategorien der Moderne nennt Win­ckel­mann ‚Bewegung‘, das ‚Flüchtige‘, das ‚Heftige‘, Merkmale, die er als unvereinbar mit dem ‚guten Geschmack‘ bewertet“. Schrader übergeht dabei freilich, daß nach Win­ckel­mann die barocke Moderne eben diese Merkmale mit der griechischen Archaik teilt, die er deshalb als ‚wilde‘ Periode aus seinem Antike-Konzept ausschließt. 97 Win­ckel­mann, Gedancken über die Nachahmung (wie Anm. 7), 44. 98 Robert, Ästhetik des Wilden (wie Anm. 6), 20.



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Das entschieden eurozentrische Angebot, das Win­ckel­mann einem von ‚Moden des Fremden‘ […] exaltierten Europa mit seiner Ästhetik machte, während die anhaltende Entdeckung und Eroberung der Welt durch die europäischen Mächte in der Südsee und in Sibirien einem neuen Höhepunkt zustrebte, traf zweifellos einen Nerv.99

So diente paradoxerweise Win­ckel­manns umfassende Auseinandersetzung mit völkerkundlichem Wissen, sein intensives Studium von Reiseberichten, ethno­ graphischen und naturgeschichtlich-anthropologischen Schriften – wie freilich bei zahlreichen anderen zeitgenössischen Autoren auch – keinem anderen Ziel, als das geographisch und historisch Kulturell-Fremde im Diskursfeld der ästhetischen Theorie zu neutralisieren. Der Beitrag betrachtet Win­ckel­manns Kunst- und Schönheitstheorie in seiner Geschichte der Kunst des Althertums als ethno-anthropologische Ästhetik. Gezeigt wird, wie Win­ckel­mann den Idealtypus des klassisch-antiken Griechen zum Inbegriff ‚wahrer‘ menschlicher Schönheit erhebt, an dem sich die physioästhetischen Eigenschaften aller anderen Völker buchstäblich messen lassen müssen. In der eurozentrischen Perspektive seiner klima- und kulturtheoretisch grundierten Anthropometrie erscheinen für Win­ckel­mann diverse ‚exotische Nationalphysiognomien‘ als quasi pathologische Deformationen, als ‚häßliche‘ Abweichungen von der vorgegebenen physioästhetischen Norm. Herausgearbeitet wird nicht nur die zirkuläre Argumentationsstruktur von Win­ ckel­manns Ausführungen, deren Beweisziel identisch mit ihrer Ausgangsvoraussetzung ist, sondern auch der innere Zusammenhang der ästhetischen Negativwertung ‚fremder Rassen‘ mit seiner Ablehnung der griechischen Archaik, wie er sie bereits in den Gedan­ cken über die Nachahmung artikuliert. The article examines Win­ckel­mann’s theory of art and beauty in his Geschichte der Kunst des Althertums as an ethno-anthropological aesthetics. It points out how Win­ ckel­mann raises the ideal type of the classical antique Greek to the embodiment of ‚true‘ human beauty by which the physio-aesthetic qualities of all other peoples must be measured. From the eurocentric perspective of his anthropometry, based on climate and culture theory, various ,exotic‘ national physiognomies appear to Win­ckel­mann as pathological deformations or ‚ugly‘ deviances of the given physio-aesthetic standard. Not only Win­ckel­mann’s circular reasoning is analyzed in detail, but also the internal connection between the negative aesthetic evaluation of ‚foreign races‘ and his dismissive stance towards the Greek Archaic Period, articulated already in the essay Gedancken über die Nachahmung. Dr. Sebastian Kaufmann, Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Deutsches Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Platz der Universität 3, D-79085 Freiburg i. Br., E-Mail: [email protected]

99 Werner

Petermann, Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2004, 302.

Martin Disselkamp Win­ckel­manns Mythen Vorläufige Überlegungen

I. Eine von mehr als sechzig Abbildungen, die Karl Philipp Moritz in seine Götterlehre (1791) aufgenommen hat, zeigt, wie der Autor erläutert, die Parze Lachesis, zu deren Füßen „eine komische und eine tragische Maske“ liegen. Die Frage, in welcher Verbindung Lachesis, deren Aufgabe es ist, „den Lebensfaden“ zu spinnen,1 zum Tragischen und Komischen stehe, beantwortet sich allerdings nicht von selbst und verlangt nach Deutungsarbeit. Folgt man Moritz, so weisen die Masken die Gottheit als doppelwertiges Bild aus; beide Aspekte sind gleichzeitig vorhanden: Die tragische und komische Maske zu den Füßen der Parze ist eine der glücklichsten Anspielungen auf das Leben, wenn man einen Blick auf dasselbe mit allen seinen ernsten und komischen Szenen wirft, wozu der zarte jungfräuliche Finger der hohen Schicksalsgöttin den Faden drehet, indem die einen ihr nicht wichtiger als die andern sind.2

Ihre Ambivalenz teilt die Parze mit anderen mythologischen Figuren. In griechischen Göttererscheinungen, so will es die Götterlehre, ist Gegensätzliches derart miteinander verflochten, daß eine Seite die jeweils andere in sich faßt. ­Hephaistos, so häßlich, daß seine Mutter Hera ihn nach seiner Geburt vom Olymp wirft, ist ein begnadeter Kunsthandwerker; der Musaget und Kitharöde Apollon amtiert auch als Todesgott, der neun Tage lang Pestpfeile in das Lager der Griechen vor Troja versendet; Demeter, Göttin der Fruchtbarkeit, ist Mutter der Persephone, die die Hälfte des Jahres an der Seite von Hades unter den Schatten zu verbringen hat; Poseidon, fast so eindrucksvoll wie Zeus, steht dem Animalischen und den ungezähmten Elementargewalten nahe.3 Die Mehrdeutigkeit der Götter mag an Seelenwelten erinnern, in deren überdefinierter Bildsprache die Bedeutungen einander überlagern. 1 Karl

Philipp Moritz, Götterlehre, Berlin 1791, 48. Ebd., 51 f. 3 Ebd., 146, 109–112, 140–145; 117–120. 2

Aufklärung 27 · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISSN 0178–7128

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Mit ihrer Ambivalenz steht die Parze in Verbindung mit einem Kernpunkt der Kunstmetaphysik des Verfassers. Denn an den Künstlern, unter denen nach klassizistischer Doktrin die griechischen in allen Belangen führen, liegt es, durch „bildende Nachahmung des Schönen“ die Vollkommenheit der im Detail schmerzhaft widersprüchlichen Natur unter Beweis zu stellen. Wenn die Parze, die darin die griechische Mythologie insgesamt verkörpert, gleich­ mütig das Ernste und das Komische betrachtet, um sich als „schöne Tochter der Nothwendigkeit“4 über beides zu erheben, zeigt sie sich als Inbegriff dieser Kunstidee. Sie vertritt den Anspruch von Moritz‘ Götterlehre insgesamt, die Perfektion des Naturganzen vorstellbar zu machen. Freilich bedeutet dies auch, daß in der Schönheit mythologischer „Dichtungen“ das Obskure, Amorphe, Chaotische und Destruktive stets sichtbar bleibt: „Die Parzen bezeichnen die furchtbare, schreckliche Macht, der selbst die Götter unterworfen sind, und sind doch weiblich und schön gebildet“.5 Das Lachesis-Beispiel übernahm Moritz von einem anderen Kenner der Antike – von Johann Joachim Win­ckel­mann. Bezugspunkt, wenn nicht geheimes Angriffsziel von Moritz‘ Bemerkungen sind die Überlegungen zu derselben Gemme, die Win­ckel­mann in der Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch (1760) anstellt und später im Versuch einer Allegorie (1766) weiter ausführt. Im Stosch-Katalog erfährt die Parze mit den Masken eine Auslegung, von der Moritz nicht nur inhaltlich abweicht. Win­ckel­mann formuliert seine Überlegungen allerdings mit Vorsicht. Statt ein inneres Spannungsverhältnis zu notieren und die Frage seiner Deutung in Angriff zu nehmen, macht sich der Archäologe daran, den Verweischarakter der Zeichen zu entschlüsseln; er identifiziert die Darstellung als Allegorie: Les deux Masques de notre pierre peuvent signifier, que la Parque dispose des destins des Héros, dont le Masque Tragique est le symbole, également que des ceux des simples mortels, dont la vie privée est figurée par le Masque comique.6

Die Hypothese, der zufolge die komische und die tragische Maske eine ständeübergreifende Zuständigkeit der Schicksalsmacht andeuten, könnte sich allerdings kaum auf unmittelbare Evidenz berufen. Um die Interpretation nachvollziehen zu können, muß der Leser der Description des pierres gravées den eigenen Vorrat an Bildungswissen konsultieren und dem Verfasser auf einem Schleichweg folgen. Die Deutung stützt sich auf eine nicht ausdrücklich genannte Zwischenstation, die Win­ckel­mann erst im Versuch einer Allegorie benennt: Das Bindeglied zwischen den Theatermasken und der allgemeinen 4 Ebd.,

51. 48. 6 Johann Joachim Win­ ckel­mann, Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch dediée a Son Eminence Monsieur Le Cardinal Aléxandre Albani, Florenz 1760, 85, Nr. *385. 5 Ebd.,



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Aussage über die Parze bildet die seit dem 16. Jahrhundert unermüdlich wiederholte, in der Zeit der Aufklärung z. B. noch von Gottsched vertretene und ohne überzeugenden Grund auf Aristoteles’ Poetik zurückgeführte Regel, der zufolge eine tragische Fallhöhe hochgestellten Personen vorbehalten bleibt, während in der Komödie „Leute von mäßigem Stande“ auftreten.7 Nicht nur an der vorliegenden Stelle nimmt Win­ckel­mann auf poetologisches Wissen Bezug, um mythologische Darstellungen in der Kunst zu dechiffrieren. Im Versuch einer Allegorie ist es eine Gruppe von vier Musen mit einer komischen und drei tragischen Masken, von denen er annimmt, daß sie „die vier wesentlichen Theile vorstellen, welche Aristoteles der Tragödie giebt, nemlich die Anzeige des Inhalts, die Sitten, die Gedanken und der Ausdruck”.8 – Erst die Ständeregel macht jedenfalls die Bahn frei für die Auslegung, der zufolge die Gemme das Walten des Schicksals über Hohe wie Niedrige illustriert. Bezogen auf den Umgang mit mythologischen Motiven, aber auch darüber hinaus, scheint der Unterschied zwischen Moritz‘ und Win­ckel­manns Umgang mit derselben Abbildung geradezu eine Epochengrenze innerhalb des philhellenischen Neuklassizismus zu bezeichnen. Doch verhält es sich wirklich so? Die folgenden Überlegungen, die sich als durchaus vorläufig verstehen, gelten der Frage, welche Rolle Mythologisches in Win­ckel­manns Werk spielt und in welches Verhältnis sich der Archäologe zu Vor- und Nachgeschichte setzt, wenn er auf Mythenstoffe zu sprechen kommt. II. Zugegeben – ein Mythologe ist Win­ckel­mann nicht. Er entwickelt keine eigenen Theorien, die Entstehung, Beschaffenheit, Funktion und Bedeutung mythologischer Erzählungen betreffen;9 ebensowenig legt er es darauf an, einzelne Mythen philologisch-kritisch zu untersuchen oder ihre kultur- und religions­ geschichtliche Rolle zu beleuchten. Allerdings setzt er, wie wir sehen werden, eine Theorie mythologischer Bildlichkeit voraus. Insbesondere bekundet Win­ckel­mann kein Interesse an den wohl avanciertesten Mythentheorien seines Jahrhunderts. Solche beginnen, Mythenerzählungen in kulturhistorischer Perspektive als menschheitsgeschichtlich frühe Wissensform zu entdecken, deren Beschaffenheit und Funktion nicht auf der Grundlage neuzeitlicher Bewertungsmaßstäbe beschrieben werden können. 7 Johann

Christoph Gottsched, Schriften zur Literatur, hg. von Horst Steinmetz, Stuttgart 1972, 189. Vgl. Johann Joachim Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst, Dresden 1766, 76. 8 Ebd., 39. 9 Vgl. Raimund M. Fridrich, „Sehnsucht nach dem Verlorenen“. Win­ ckel­manns Ästhetik und ihre frühe Rezeption, Bern u. a. 2003, 8 f.

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Zu den Autoren, die sich unter diesen Gesichtspunkten den Mythen zuwandten, gehören Bernard de Fontenelle,10 vor allem jedoch Giovanni Battista Vico11 und Christian Gottlob Heyne.12 Obwohl Win­ckel­mann mit Heyne persönlich bekannt war und während seiner Jahre in Rom mit ihm im Briefkontakt stand, sind Spuren einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit seiner mythen­ bezogenen Altertumswissenschaft nicht dokumentiert.13 Darin, daß Win­ckel­ mann weder eigene mythologische Forschungen betreibt noch neueste Entwicklungen auf dem Gebiet der Mythenkunde verfolgt, unterscheidet er sich von ‚professionellen‘ Mythographen. Nicht ohne Grund nimmt jedenfalls die Win­ckel­mann-Forschung, soweit sie sich mit der Mythologiethematik beschäftigt, einen eher instrumentellen Umgang des Archäologen mit mythologischem Wissen an: Mythologie, so scheint es, ist die Brille, durch die Win­ckel­mann die antike Kunst betrachtet, oder das Wörterbuch, das ihm hilft, die Bedeutung antiker Kunstwerke zu entschlüsseln. Hingegen entwickelt Win­ckel­mann kein ästhetisches Interesse an den Mythen den 1724 publizierten Aufsatz De l’origine des fables gebe ich eine leicht greifbare deutsche Übersetzung an: Bernard Le Bovier de Fontenelle, Über den Ursprung der Mythen, in: B. L. B., Philosophische Neuigkeiten für Leute von Welt und für Gelehrte. Ausgewählte Schriften, hg. von Helga Bergmann. Übersetzung v. Ulrich Kunzmann, Leipzig 1991, 228–242. – Eine überzeugende neuere Überblicksdarstellung zur Mythenrezeption im 18. Jahrhundert fehlt. Christoph Jamme, Einführung in die Philosophie des Mythos, Bd. 2: Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt 1991, füllt diese Lücke nicht. Einen gut strukturierten knappen Überblick vor allem für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, der allerdings Win­ckel­mann ausspart, gibt Heinz ­Georg Held, Barbarische Geschichten, naturhafte Bildersprache, Allegorien der ‚Humanität‘. Zur Theorie des Mythos in der Kunstperiode, in: H. G. H. (Hg.), Win­ckel­mann und die Mythologie der Klassik. Narrative Tendenzen in der Ekphrase der Kunstperiode, Tübingen 2009, 189–215. 11 Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers. v. Vittorio Hösle und Christoph Jermann […]. Mit einer Einleitung […] von Vittorio Hösle, 2 Bde., Hamburg 1990. 12 Heynes Mythenforschungen sind über zahlreiche Veröffentlichungen verstreut. Für Überblicksdarstellungen vgl. Axel E.-A. Horstmann, Mythologie und Altertumswissenschaft. Der Mythosbegriff bei Christian Gottlob Heyne, in: Archiv für Begriffsgeschichte 16 (1972), 60– 85. Sotera Fornaro, I Greci senza lumi. L’antropologia della Grecia antica in Christian Gottlob Heyne (1729–1812) e nel suo tempo, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. I. Philologisch-historische Klasse 2004, Nr. 5, 105–195. Speziell zu Heynes späteren Urteilen über Win­ckel­mann, aber ohne Bezug auf Mythenfragen, Katherine Harloe, Win­ckel­mann and the Invention of Antiquity. History and Aesthetics in the Age of Altertumswissenschaft, Oxford 2013, 161–187. 13 Überliefert sind ein Brief von Heyne an Win­ckel­mann aus dem Jahr 1763 (Johann Joachim Win­ckel­mann, Briefe, in Verbindung mit Hans Diepolder hg. von Walther Rehm, 4 Bde., Berlin 1952–1957, Bd. 4, 95 f.), erhalten bzw. erschlossen sind mehrere von Win­ckel­mann an Heyne (Bd. 2, 342; Bd. 3, 69–72; 88–91; 111 f.; 140 f.; 143–147; 151–153; 242; 261; 305 f.; 357–359; 381), die zwar den Austausch von Neuigkeiten unter Altertumsforschern betreffen, jedoch keine Auseinandersetzung über Fundamentalfragen oder Reibungspunkte, und die im übrigen nicht frei von Zeichen ironischer Distanz sind. 10 Für



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selbst; sie fallen – anders als bei Karl Philipp Moritz – aus seiner Perspektive nicht in die Zuständigkeit der ästhetischen Urteilskraft und sind auch nicht Gegenstand der Stilgeschichte,14 sondern in erster Linie eine Angelegenheit der philologischen Propädeutik. Daß das Thema ‚Win­ckel­mann und die Mythologie‘ nicht als eigenständiger Forschungsgegenstand angesehen wird,15 ist nicht völlig unbegründet. Auch die folgenden Überlegungen stellen diesen Kenntnisstand nicht schlechthin in Frage. Schon stoffbedingt zeigt die griechische Mythologie im Werk des Archäologen allerdings überall Präsenz. Win­ckel­mann, so weiß man, erschließt, seinerseits auf den Spuren älterer Gelehrter, die antike Kunst, indem er sie mit der Hilfe mythologischer Überlieferungen deutet.16 Naheliegende Beispiele für eine solche „Hermeneutik“ finden sich in den Kunstbeschreibungen, die zu seinen wirkungsmächtigsten Texten zählen – denen des Apollo im Belevedere und des Laokoon; dort macht der Verfasser Gebrauch von einschlägigen literarischen Überlieferungen, allen voran von dem homerischen Hymnus auf Apollo und von Vergils Aeneis.17 Auf mythologische Stoffe greift Win­ckel­mann selbst dann zurück, wenn er dem Leser eigene Vorschläge für allegorische Bilder unterbreitet.18 Daß Win­ckel­mann ein Kenner einschlägiger antiker Quellen war, unter ihnen die homerischen Epen, Hesiods Theogonie und die Werke und Tage, die sogenannten homerischen Hymnen, die Tragiker, Kallimachos, die Bibliothek des Pseudo-Apollodoros, die Bibliothek des Diodorus Siculus, die Fabulae des Hyginus, Ciceros Traktat De natura deorum, Ovids Metamorphosen und das Reisewerk des Pausanias, muß nicht eigens belegt werden.19 Um die Kunst der 14 Vgl.

Carl Justi, Win­ckel­mann und seine Zeitgenossen, 3 Bde., Köln 51956, Bd. 3, 301. allerdings das Win­ckel­mann-Kapitel in Daniel Greineder, From the Past to the Future. The Role of Mythology from Win­ckel­mann to the Early Schelling, Oxford u. a. 2007, 24–32. 16 Nikolaus Himmelmann, Win­ ckel­manns Hermeneutik, Wiesbaden 1971. – Max Kunze, Der „rote Faden“ Win­ckel­manns – Homer, in: Rainer Wiegels u. a. (Hg.), Antike neu entdeckt. Aspekte der Antike-Rezeption im 18. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Osnabrücker Region, Möhnesee 2002, 243–251, geht über Himmelmann nicht hinaus. 17 Den Apoll im Belvedere – vgl. Johann Joachim Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst des Alterthums, hg. von Adolf H. Borbein u. a., Mainz 2002, 392–394 – identifiziert der Verfasser als Drachentöter; in dieser Rolle erscheint er im dritten Homerischen Hymnus an Apollon. Der Laokoon-Beschreibung (Johann Joachim Win­ckel­mann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Zweyte vermehrte Auflage, Dresden und Leipzig 1756, 22) liegt Vergil, Aeneis 2, 199–227 zugrunde. 18 Man vergleiche die mythologischen Bildideen im letzten Kapitel von Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 139–158. 19 Für einen Überblick über die griechischen Autoren, die Win­ckel­mann gekannt und verwendet hat, vgl. Susanne Kochs, Untersuchungen zu Win­ckel­manns Studien der antiken griechischen Literatur, Stendal 2005, 97–128. Für die Autoren der römischen Antike existiert ein solcher Überblick, soweit ich sehe, nicht. In den Exzerptheften sind Notizen enthalten, die sich auf Win­ckel­manns einschlägige Lektüre beziehen; vgl. z. B. André Tibal, Inventaire des Manuscrits de Win­ckel­mann déposées a la Bibliothèque Nationale, Paris 1911, 100; 113; 117; 128 f. 15 Vgl.

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Griechen zu erschließen, verwendet der Archäologe auch mythenkundliche Beiträge neueren Datums, während er umgekehrt wenigstens indirekt mit den eigenen Forschungen auf die zeitgenössische Mythographie einwirkt. Wollte die Forschung das Mythenthema gänzlich vernachlässigen, würde sie sich mindestens den Blick auf Voraussetzungen von Win­ckel­manns Beschäftigung mit den Kunstwerken der Antike versperren. Doch darüber hinaus legt sein Umgang mit Mytenstoffen Zeugnis von einer kritischen Grundbefindlichkeit der Altertumskunde ab, die Win­ckel­mann selbst wahrnimmt und sogar vertieft. Unter Inkaufnahme mancher Vorläufigkeiten schlage ich daher einen zusätzlichen Gesichtspunkt für die Betrachtung von Win­ckel­manns Umgang mit der Mythologie vor: Auch wenn der Archäologe keinen eigenen Beitrag zur Mythographie leistet, bereitet er eine Neubewertung mythischer Figuren und Geschichten vor.20 III. Wenn Win­ckel­mann auf die griechische Mythologie zurückgreift, knüpft er in mancher Hinsicht an die ebenso zahl- wie materialreichen und im übrigen hochdifferenzierten Traditionen neuzeitlicher Mythenrezeption an, die er gleichzeitig, eigene Absichten verfolgend, in eine Krise führt. Vergegenwärtigen wir uns, auf welche Weise Mythen in Win­ckel­manns Blick geraten. Das Interesse des Altertumskundlers an einschlägigen Stoffen steht im Zusammenhang mit dem Vorhaben, Kunst, wenn nicht allgemein die Kultur der Gegenwart an griechischen Mustern auszurichten. Die Dimensionen dieses Projekts sind nicht Gegenstand des vorliegenden Versuchs. Es mag genügen, auf den Zusammenhang mit der Arbeit an der Verbreitung des „guten Geschmacks“ zu verweisen – ein Stichwort, das Win­ckel­mann aus breit geführten Aufklärungsdebatten übernimmt und schon in der Eingangsformulierung seines Erstlingsaufsatzes von 1753 zur Geltung bringt.21 Näher besehen, nimmt Win­ckel­mann, wie im Fall der Lachesis-Gemme, seit seinen ersten Publikationen an, daß mythologische Figuren allegorische Bilder seien. Die Mythologie, so schreibt der Verfasser in der Erläuterung der Gedanken über die Nachahmung, ist überhaupt ein „Gewebe von Allegorie“.22 „Die 20 Vgl.

Markus Käfer, Aspekte zu Voltaires und Win­ckel­manns Auffassung von Geschichte und Mythologie, in: Mythe et identité dans la littérature de langue allemande. Actes […] réunis par J.-Ch. Margotton, Nizza 1994, 21–30, hier 28–30. 21 Win­ckel­mann, Gedanken über die Nachahmung (wie Anm.17), 1 f. Für den Zusammenhang zwischen „gutem Geschmack“ und Studium der Allegorien vgl. ebd., 42. 22 Johann Joachim Win­ ckel­mann, Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung, in: ­Gedanken über die Nachahmung (wie Anm. 17), 162. Zu Win­ckel­manns Allegorienlehre, die ich hier nicht im Einzelnen diskutiere, u. a. Peter-André Alt, Begriffsbilder, Tübingen 1995,



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Fabel“ wird auch „in der Malerey insgemein Allegorie genannt“.23 Doch vor allem ist die „Göttergeschichte […] nichts als Allegorie“.24 Allegorische Mythendeutungen sind über Win­ckel­manns Gesamtwerk verstreut. Beispiele lassen sich, wie wir gesehen haben, aus den Pierres gravées du feu Baron de Stosch, auch aus der Geschichte der Kunst des Alterthums, dem Versuch einer Allegorie und den Monumenti antichi inediti gewinnen. Der allegorische Charakter von Mythen unterliegt in Win­ckel­manns Werk keiner Nachweispflicht, sondern wird bereits vorausgesetzt.25 Mit der Annahme, daß mythologische Erzählungen allegorisch ausgelegt werden können, partizipiert Win­ckel­mann an Interpretationstraditionen und -methoden, die bis in das fünfte vorchristliche Jahrhundert zurückverfolgt werden können.26 Einschlägige antiquarische Beiträge, die Win­ckel­mann bekannt waren, sind von der Forschung aufgearbeitet worden.27 Von bestimmten älteren Beispielen der allegorischen Mythendeutung, allen voran Francis Bacons De sapientia veterum liber, unterscheidet sich Win­ckel­mann zusammen mit anderen Zeitgenossen darin, daß er in der Mythologie keinen verborgenen Weisheitsschatz sucht;28 Win­ckel­mann kannte Bacons Schrift und widmet ihm bei Gelegenheit eine Nebenbemerkung.29 Zeitgenössische Exempla allegorischer Mythendeutung findet man etwa in Benjamin Hederichs Lexicon der Mythologie (zuerst 1724), wo Allegorisches regelmäßig unter der Rubrik „Anderweitige Deutung“ verzeichnet ist.30 In der Altertumskunde des 18. Jahrhunderts werden allegorische und andere poetische oder historische Bedeutungen gegebenenfalls trennscharf auseinandergehalten.31 Auch Herder hält in dem Aufsatz Zum neuern Gebrauch der Mythologie (1767) ein allegorisches Verständnis bestimmter 434–446; Achim Geisenhanslüke, Der Buchstabe des Geistes. Postfigurationen der Allegorie von Bunyan zu Nietzsche, München 2003, 47–51. 23 Win­ckel­mann, Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung (wie Anm. 22), 132. 24 Ebd., 135. 25 Bernhard Fischer, Kunstautonomie und Ende der Ikonographie. Zur historischen Problematik von ‚Allegorie‘ und ‚Symbol‘ in Win­ckel­manns, Moritz‘ und Goethes Kunsttheorie, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur und Geistesgeschichte 64 (1990), 247–277, hier 250. 26 Luc Brisson, Einführung in die Philosophie des Mythos. Bd. 1. Antike, Mittelalter und Renaissance, Darmstadt 1996, 43. 27 Mathias René Hofter, Die Sinnlichkeit des Ideals. Zur Begründung von Johann Joachim Win­ckel­manns Archäologie, Stendal/Ruhpolding/Mainz 2008; vgl. dort 72–85 z. B. das Kapitel über Bellori. 28 Francis Bacon, De sapientia veterum liber, London 1609. 29 Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 136. 30 Vgl. z. B. Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon […], sorgfältigst durch­gesehen, ansehnlich vermehret und verbessert von Johann Joachim Schwaben, Leipzig 1770, Ndr. Darmstadt 1996, Sp. 520–522 (zu Bacchus) und 1636 f. (zu Minerva). 31 Vgl. z. B. Nicolas Fréret, Oevres complètes. Tome dix-huitième: Mythologie, Paris 1796, 5, über die Kyklopen.

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Mythen für legitim,32 und nicht einmal dem Allegorienkritiker M ­ oritz33 kommt es darauf an, die eigene Götterlehre ganz von Allegorien freizuhalten. Mit Blick auf die Mythologie konzentriert sich Win­ckel­manns Interesse auf solche Stoffe, die in der antiken Kunst ihren Niederschlag gefunden hatten beziehungsweise die von der Kunst in einem allegorisch bedeutungsträchtigen Sinn verwertet werden konnten. Damit ist auch ein Auswahlkriterium für seinen Umgang mit Mythenerzählungen vorgegeben: „Hercules giebt denen, welche die Fabel-Geschichte abhandeln, ein reiches Feld, für die Allegorie aber wenig.“34 Während seit langem bekannt ist, daß die Mythologie Win­ckel­manns Kunst­ hermeneutik mitbestimmt,35 muß jedenfalls auch umgekehrt gelten, daß der Archäologe eine bestimmte Weise der Mythenauslegung als selbstverständlich ansieht; gleich ob sie will oder nicht hat die mythologisch inspirierte Deutung der griechischen Kunst zugleich den Charakter einer Mytheninterpretation. Allerdings ist sich die Forschung darin einig, daß bei Win­ckel­mann die anschaubaren Kunstgegenstände selbst im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Für das Geschmacksprogramm, das Win­ckel­mann verfolgt, fällt Allegorien eine bedeutende Aufgabe zu: Als Bilder, die Ideen zur Anschauung bringen,36 sollen sie allgemein verständliche und akzeptierte Verständigungsmittel für die Ausbildung der neuen Geschmackskompetenz und Kulturformation abgeben. Insofern der Verfasser von dem Allegorienprojekt weitreichende Wirkungen erwartet, besitzt sein Ansatz durchaus optimistische Qualitäten. Daß Win­ckel­mann die Allegorien, die er zu solchen Zwecken vorsieht, in der Regel auf einer dichten Schicht mythologischer Überlieferungen aufruhen läßt,37 braucht nicht als Zufall zu gelten, noch ist es lediglich antiquarischen 32 Johann

Gottfried Herder, Zum neuern Gebrauch der Mythologie, in: Herders Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 1, Berlin 1877, 426–449, hier 443: „Zweitens: ein großer Theil der Mythologie ist Allegorie! Personificirte Natur, oder eingekleidete Weisheit! Hier belausche man die Griechen, wie ihre Dichterische Einbildung zu schaffen, wie ihre sinnliche Denkart Abstrakte Wahrheit in Bilder zu hüllen wußte, wie ihr starrendes Auge Bäume als Menschen erblickte, Begebenheiten zu Wundern hob, und Philosophie auf die Erde führte, um sie in Handlung zu zeigen“. 33 Zu Moritz‘ Allegoriekritik vgl. Ulrike Morgner, „Das Wort aber ist Fleisch geworden“. Allegorie und Allegoriekritik im 18. Jahrhundert am Beispiel von K. Ph. Moritz‘ „Andreas Hartknopf. Eine Allegorie“, Würzburg 2002. 34 Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 45. 35 Himmelmann, Win­ckel­manns Hermeneutik (wie Anm. 16). Himmelmanns These liegt die generelle Annahme zugrunde, daß die Interpreten antiker Kunstwerke vor Win­ckel­mann die Stoffe antiker Künstler eher in der römischen Geschichte gesucht hätten. Ob der Verfasser damit nicht zu sehr eine polemische Stoßrichtung von Win­ckel­mann selbst übernimmt, wäre genauer zu prüfen. 36 Greineder, From the Past to the Future (wie Anm. 15), 28–30. 37 Es sei allerdings darauf hingewiesen, daß sich Win­ckel­mann mit Blick auf die eigene Zeit nicht auf mythologische Stoffe beschränkt, sondern zum Beispiel, wo solche fehlen, auch Vorschläge für die Neuerfindung von Allegorien entwickelt.



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Traditionen oder ikonographischen Konventionen geschuldet. Der Archäologe nimmt an, daß mythologische Bilder in der Antike als jedermann verständliche Ausdrucksform im Umlauf waren: „Homers Götter, sagt jemand unter den Alten, sind natürliche Gefühle der verschiedenen Kräfte der Welt; Schatten und Hüllen edler Gesinnungen“.38 Daran knüpft der Versuch einer Allegorie für die Gegenwart des Verfassers an. Das Werk will den Lesern einen Vorrat von Bildern an die Hand geben,39 die sich durch einen hohen Grad an Wiedererkennbarkeit auszeichnen; wenn das Kriterium der Bekanntheit nicht erfüllt sei, werde man zum Beispiel die jeweils dargestellten Personen und ihre Bedeutung nur schwer erraten können.40 Allegorien sollen das Medium bilden, in dem eine an den Griechen orientierte Geschmackskultur zum Durchbruch kommen und in dem sie sich manifestieren könnte. Noch für die eigene Zeit scheint der Gelehrte vorauszusetzen, daß differenzierte mythologisch-ikonographische Kenntnisse als gemeinsamer Besitz aller Leser des Versuchs einer Allegorie vorhanden sind. Über Hermes vermerkt der Verfasser knapp: „Die Bedeutung des Beutels in seiner Hand ist bekannt.“41 Zu Poseidons Attributen zählt Win­ckel­mann das Pferd, „wovon die Bedeutung aus der Fabel bekannt ist.“42 Doch worin bestehen die Vorzüge der antiken Ikonographie? Win­ckel­mann ist davon überzeugt, daß die Griechen in der Frage der allegorischen Bildzeichen auf ideale Weise dem Gebot von Einfalt und Klarheit folgten. Maßstab für die Beurteilung von Kunstwerken und für die Überzeugungskraft von Kunstund Mythendeutungen ist zuletzt die Simplizität, die Win­ckel­mann bereits in seiner ersten Veröffentlichung zum ästhetischen Orientierungswert erhoben hatte. Die Bedeutung vorbildlicher allegorischer Darstellungen kann an klaren Unterscheidungsmerkmalen abgelesen werden.43 In „der Kunst“, so lehrt Win­ ckel­mann, soll „dem Verständigen alles klar und erwiesen seyn“.44 In Hinsicht auf das Deutliche orientiert sich der Archäologe an der Aufklärungsidee der 38 Win­ckel­mann,

Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung (wie Anm. 22), 162. Vgl. Markus Käfer, Win­ckel­manns hermeneutische Prinzipien, Heidelberg 1986, 163. Win­ckel­manns Homer-Rezeption hat in der jüngeren Forschung keine adäquate Berücksichtigung gefunden. Vgl. als Beispiel Franco Farina: Win­ckel­mann und Homer, in: Jürgen Dummer und Volker Riedel (Hg.), Homer im 18. Jahrhundert. Ein Kolloquium der Win­ckel­mann-Gesellschaft, Stendal 2012, 25–31. 39 Vgl. Fischer, Kunstautonomie und Ende der Ikonographie, (wie Anm. 25), 251. 40 Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 28. 41 Ebd., 40. 42 Ebd., 43. 43 Vgl. z. B. ebd., 61, wo Win­ckel­mann die Darstellung einer Mnemosyne kritisiert, weil ihr Erkennungsmerkmal – das in die Hand gestützte Kinn – zu unspezifisch und „dieses Bild nicht deutlich und bestimmt genug“ sei. Zu einem vergleichbaren Fall ebd., 133. 44 Ebd., 115.

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‚natür­lichen Zeichen‘.45 Danach verdienen solche Darstellungen beziehungsweise Auslegungen den Vorzug, deren Bedeutung aus dem Bild selbst gewonnen werden kann. Ohne ein Übermaß an zusätzlichen Kenntnissen aufwenden zu müssen, soll sich der Betrachter in die Lage versetzt sehen, die Abbildung mit der Botschaft in Verbindung zu bringen: „Deutlich aber wird das allegorische Bild seyn, wenn es eine nahe Beziehung auf das Abzubildende hat“.46 Allegorien, deren Sinn ohne weitere Hilfsmittel nur schwer oder gar nicht erschlossen werden kann, gelten als mißlungen.47 Mit diesem Programm partizipieren die Kunstdeutungen letztlich an Tendenzen der Allegoriekritik oder Allegorienskepsis, die sich im Aufklärungsjahrhundert auch mit Blick auf die Deutung der antiken Mythologie zu Wort gemeldet hatten. Auf die Frage, auf welche Konstellation das Programm darüber hinaus antwortet, komme ich später zurück. Win­ckel­mann setzt jedenfalls voraus, daß das allegorische Kunstidiom insgesamt, aber besonders auch die mythologischen Anteile daran eine jederzeit verwendbare und allgemeinverständliche Bildsprache sind: Szenen und Figuren der Mythologie erscheinen als Grundlage eines allegorischen Zeichensystems von allgemeinem Geltungsanspruch. Die Mythendeutungen wenden sich daher auch an Künstler der Gegenwart, denen sie eine semantische Grundausstattung an die Hand geben wollen. IV. Den antiken Überlieferungen mythologischen Charakters wendet sich Win­ckel­ mann, wie wir sehen konnten, nicht voraussetzungslos zu. Wer Genaueres über den Umgang des Archäologen mit mythologischen Stoffen in Erfahrung bringen möchte, gerät an die Mythographie der Frühen Neuzeit bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, die mit ihrem Gegenstand oft unter mythenkritischen Vorzeichen verfährt. Obwohl Karl Philipp Moritz dem Studium der griechischen Mythologie eine eigene Wendung gibt, setzt auch seine Götterlehre in Wirklichkeit die Entgötterung des Olymp voraus. Win­ckel­mann kannte und verwendete einschlägige Schriften – ja, er nimmt selbst mythenkritische Töne auf. Vor allem jedoch war er an der Distanzierung von der Mythologie beteiligt, die in den Mythenforschungen der Neuzeit stattfindet. – Mit der Mythenkunde der Aufklärung dürfte Win­ckel­mann spätestens in seiner Berliner Zeit in Kontakt geraten sein. Eine der meistverwendeten Einführungen, die vielfach wiederaufgelegte, allerdings erst lange nach der Berliner Zeit des angehenden 45 Fischer,

Kunstautonomie und Ende der Ikonographie (wie Anm. 25), 251–254. Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 30, auch ebd., 122. Vgl. Justi, Win­ ckel­mann und seine Zeitgenossen (wie Anm. 14), Bd. 3, 304; Hofter, Die Sinnlichkeit des Ideals (wie Anm. 27), 85. 47 Für ein Beispiel vgl. Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 93. 46 Win­ckel­mann,



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Altertumskenners erschienene Einleitung in die Götter-Lere (1763), entstammt der Feder von Christian Tobias Damm, dem „griechische[n] Orakel der Spreestadt“, dessen Unterricht Win­ckel­mann genossen haben muß.48 Eine eingehendere Untersuchung der Frage, in welchem Verhältnis Win­ckel­ manns Werk zur Mythographie der Aufklärung steht, liegt, soweit ich sehe, nicht vor. Doch steht der Archäologe mit mythographischen Schriften der Frühen Neuzeit im Dauerkontakt. Zu den einschlägigen Traktaten, auf die er sich beruft, gehören Klassiker des 16. und 17. Jahrhunderts – De Deis gentium von Lelio Gregorio Giraldi,49 die Mythologiae des Natale Conti50 und Gerhard Johannes Vossius‘ De theologia gentili.51 Zu nennen sind ferner aus dem 18. Jahrhundert die immerhin zum Teil einschlägigen Antiquitées expliquées von Bernard de Montfaucon,52 der seinerseits eifrig Conti ausschrieb, und Antoine Baniers Erläuterung der Götterlehre.53 Freilich wird man Win­ckel­mann mit der Vermutung kein Unrecht tun, daß er solche Schriften in erster Linie, wenn nicht ausschließlich als mythologische Kompendien und Nachschlagewerke verwendete, ohne sich eingehender mit den Mythentheorien zu befassen, die darin verarbeitet waren. Als einer der Wegbereiter für die Einsicht, daß die Kenntnis antiker Mythen etwa in Hinblick auf die Vorstellungen von Göttern und auf ihre Attribute nicht gut ohne Rücksicht auf ihre bildlichen Repräsentationen verfeinert werden konnte, besetzt umgekehrt Win­ckel­mann die Stelle einer Art von mythographischer Autorität und findet Beachtung in der einschlägigen Literatur. Johann Joachim Schwabe, der das Mythologische Lexicon von Hederich 1770 in gründlich überarbeiteter Fassung herausbrachte, greift, außer zu Montfaucon und zu verschiedenen Münz- und Gemmenkatalogen, zur Geschichte der Kunst der Alterthums, zum Katalog der Stoschischen Geschnittenen Steine und zu den 48 Justi,

Win­ckel­mann und seine Zeitgenossen (wie Anm. 14), Bd. 1, 42; zu Damm sonst auch 39–48. – Christian Tobias Damm, Einleitung in die Götter-Lere und Fabel-Geschichte der ältesten Griechischen und Römischen Welt. Nebst einem Anhang und nöthigen Kupfern, Berlin 1763. 49 Lilius Gregorius Gyraldus, De deis gentium libri sive syntagmata, Lugduni 1565. 50 Natalis Comitis Mythologiae, sive explicationum fabularum libri X, Venetiis 1581. 51 Gerhard Johannes Vossius, De theologia gentili, et physiologia christiana; sive de origine ac progressu idololatriae, Amsterdam 1641. Zu Vossius vgl. z. B. Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 33. 52 Bernard de Montfaucon, L’antiquité expliquée et representée en figures […]. Seconde édition, revue et corrigée, 5 Bde. und 5 Suppelementbde., Paris 1722–1724. Zu Montfaucon Win­ ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 21, 39 u.ö. 53 Ich führe die deutsche Übersetzung an: Anton [=Antoine] Banier, Erläuterung der Götterlehre und Fabeln aus der Geschichte, aus dem Französischen übersetzt, in seinen Allegaten berichtigt, und mit Anmerkungen begleitet, von Johann Adolf Schlegeln [ab Bd. 4 von Johann Matthias Schröckh], 5 Bde., Leipzig 1754–1766. Zu Banier z. B. Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 34.

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­ onu­menti antichi inediti, wenn es gilt, die bildliche Darstellung mythologiM scher Figuren zu beleuchten.54 Win­ckel­manns Umgang mit Mythenstoffen fußt jedenfalls auf den einschlägigen Bestandsaufnahmen, Stoffsammlungen und Abhandlungen, die seit der Renaissance vorlagen, damit aber auch auf der mythologiekritischen Arbeit, die geleistet worden war und an der sich mit besonderer Hingabe das Aufklärungsjahrhundert beteiligte. Distanz zu Mythenerzählungen homerischen Zuschnitts, vermischt mit Faszination, zeigen schon spätere antike Quellen. Als Beispiel sei Diodorus Siculus genannt, der in seiner Bibliothek aus dem ersten vorchrist­ lichen Jahrhundert wiederholt Mythenerzählungen in unterschiedlichen Versionen miteinander konfrontiert, sie in ihrer Glaubwürdigkeit skeptisch beurteilt und rationalisierenden Deutungen unterwirft. Unter welchen Druck Mythen unter Aufklärungsvorzeichen geraten konnten, demonstriert beispielhaft Banier, der sich dem Euhemerismus als der bevorzugten Option aufklärerischer Mythendeutung in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts verschreibt. Ihm zufolge sind Mythenerzählungen ursprünglich historische, im Verlauf ihrer Überlieferung allerdings korrumpierte Tatsachenberichte.55 Die euhemeristische Mytheninterpretation war Win­ckel­mann wohl nicht allein aus seiner Banier-Lektüre vertraut. Autoren der Aufklärung, die sich mit der Mythologie beschäftigten, stießen auf Ungereimtes, das nicht nach dem Muster von Ursache und Wirkung erklärt werden konnte, und, schlimmer noch, auf Abgeschmacktes und Sittenwidriges, das sogar das Handeln der Götter bestimmt. Poetologisch gelesen beteiligen sich die Mythenkritiker an Begründung oder Verteidigung einer Aufklärungsliteratur nach rationalistischen Maßstäben. Es ist nicht unangebracht, für das 18. Jahrhundert von einer grundlegenden Diskreditierung mythologischen Erzählens zu sprechen. Das „System der alten Götterlehre ist“, so beurteilt zum Beispiel der Banier-Übersetzer Johann Adolf Schlegel die Mythologie, so übel zusammen hängend, so widersprechend, so ungeheuer, daß nichts den Stolz der Menschen so sehr demüthigen kann, als die Betrachtung, daß nicht etwan bloß einige Blödsinnige und Aberwitzige, sondern sogar ganze Völker […], ja, außer einem kleinen verachteten Winkel der Welt, der ganze Erdkreis mit einem Munde dieses Gewebe von Thorheiten und Ungereimheiten für Wahrheiten gehalten haben.56

Viele zeitgenössische Beiträge zur „Fabellehre“ sehen sich unter solchen Voraussetzungen veranlaßt, die Beschäftigung mit Mythenstoffen eigens zu legi54 Für

Beispiele vergleiche man Hederich, Lexicon (wie Anm. 30), Sp. 340 f. zu Apollon sowie Sp. 1411 zu Jupiter. 55 Vgl. Sotera Fornaro, I Greci senza lumi (wie Anm. 12), 169–171. 56 Banier, Erläuterung der Götterlehre (wie Anm. 53), Bd. 1, 9. Vgl. auch Christian Tobias Damm, Einleitung in die Götter-Lehre und Fabel-Geschichte der alten Griechischen und Römischen Welt. Nebst einem Anhang und ganz neuen Kupfern. Neue völlig umgearbeitete Auflage, Berlin, bey Arnold Wever 1786, 1.



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timieren. Als Standardargument dient ihnen der Umstand, daß ohne einschlägige Kenntnisse weder die antiken Schriften noch die Kunstwerke älteren oder neueren Datums verstanden werden könnten. So liest man in Philipp Gottlieb Seegers Göttern der alten Griechen und Römer (1777): „alle Theile der Litteratur und der Künste des Alterthums finden in der Mythologie ihre Urquelle“.57 In die Abstandnahme von der antiken Mythenwelt ist Win­ckel­mann verwickelt, wenn er nicht sogar am Prozeß der Entzauberung mythologischer Überlieferungen mitwirkt; umgekehrt scheint aus seiner Sicht kein Anlaß bestanden zu haben, die phantastischen, fremdartigen und mysteriösen Aspekte der Mythologie als Teil der griechischen Kultur wahrzunehmen. Letztlich nicht sehr weit entfernt von zeitgenössischen Bewertungen, wenn auch funktionaler gedacht, sind jedenfalls Bemerkungen in den Monumenti antichi inediti, die Mythen als für den Volksgeschmack popularisierte Fassung naturreligiösen Wissens deuten. Wollte man Win­ckel­manns Feststellungen verallgemeinern, so wäre die Mythologie dafür zuständig, philosophische Einsichten in volkstümlichen Bildern allegorisch zu vermitteln: i primi institutori delle false religioni ed i primi filosofi, ch’erano poeti, per adattarsi al rozzo intendimento de’ popoli inculti, e per insegnar loro un’ Essere supremo che condiscende ai mortali, lo figurarono in sembianza umana.58

Der Philologe oder auch Philosoph, der solche Mythenstoffe vorfindet, mag freilich ein gewisses Maß an innerer Spannung verspüren, wenn er in der Rolle des Geschmackslehrers mit Hilfe derselben Gegenstände auf die eigene Zeit einwirken will. V. Ihre Nachhaltigkeit verdankt die neuzeitliche Distanzierung vom Mythos allerdings nicht der rationalistischen Kritik am spektakulär Vernunftwidrigen mythologischer Erzählungen. Von größerer Tragweite als die Zeugnisse einer mythenkritischen Stimmung, auch von größerer Aussagekraft über längerfristige Entwicklungen, sind die Verfahrensweisen, denen die Philologie, seit dem Beginn der Neuzeit mit besonderer Intensität, mythologische Überlieferungen unterwirft. Vor allem an ihnen hat Win­ckel­mann seinen Anteil.59 57 Philipp

Gottlieb Seeger, Die Götter der alten Griechen und Römer nach ihren Herkünften, Thaten, Nachkommenschaften, Tempeln, Vorstellungen, Benennungen und Bedeutungen nach Anleitung der klassischen Schriftsteller und der Werke der Kunst, Bd. 1, Frankfurt am Main 1777, V. 58 Johann Joachim Win­ ckel­mann, Monumenti antichi inediti spiegati ed illustrati, Roma 1767, Bd. 2, 1. Zur Diskussion der Stelle Greineder, From the Past to the Future (wie Anm. 15), 30 f. 59 Dabei unterscheide ich nicht zwischen dem Gelehrten und dem Kenner; zu dieser Kategorie z. B. Harloe, Win­ckel­mann and the Invention of Antiquity (wie Anm. 12), 65–104.

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Wenn der Archäologe von der Verwendung mythologischer Motive in bild-

lichen Darstellungen der Antike handelt oder zeitgenössischen Künstlern empfiehlt, solche zu verarbeiten, schneidet er die für das 18. Jahrhundert wichtigste Tradition gelehrter und künstlerischer Auseinandersetzung mit Mythen als allegorischem Material an: Mythologische Figuren, Motive und Erzählungen übernehmen in seinem Werk die Rolle eines ikonographischen Vorrats, dessen sich die Kunst bedient. Dem Versuch einer Allegorie (1766) zufolge darf man, „wann ein dunkles und unbekanntes Bild zu erklären vorkommt, als einen Grundsatz voraussetzen, daß man es in der Zeit der Fabel, oder in der heroischen Geschichte zu suchen habe“.60 Die neuzeitliche Mythenrezeption bildete einen ikonographischen Schwerpunkt aus.61 Für mythographische Schriften der Frühen Neuzeit im weitesten Sinn, die sich der Unterrichtung von Künstlern widmen oder sich auf die Deutung (nicht nur antiker) Kunst beziehen, ist der allegorisierende Umgang mit Mythenstoffen ein unverzichtbares Instrument – er ist eine naheliegende Form der Mythenaneignung. Die Mythenallegorien, wie Karl Wilhelm Ramler sie gegen Ende des Aufklärungsjahrhunderts lehrte, der seit 1787 Mitglied der Berliner Akademie der Künste war,62 verfügen über eine eigene Vorgeschichte. Die Spuren führen zu Joachim von Sandrart, der 1680 eine Iconologia deorum in seine Teutsche Academie aufnahm,63 vor allem jedoch zu Vincenzo Cartaris Imagini de i dei de gli antichi von 1556.64 Beide Werke waren Win­ckel­mann vertraut. Wohl wegen der reichen Vorarbeiten will sich der Archäologe bei seinen eigenen Überlegungen zur Mythenallegorie auf das Unbekanntere beschränken, etwa die „Abbildung der Götter“, „welche selten ist, und von wenigen oder 60 Johann

Joachim Win­ckel­mann: Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 10. einen Überblick vgl. Frank Büttner, Andrea Gottdang, Einführung in die Ikonographie. Wege zur Deutung von Bildinhalten, München 2006, 173–206. 62 Vgl. besonders Karl Wilhelm Ramler, Allegorische Personen zum Gebrauche der bildenden Künstler. Als ein Anhang zu K. W. Ramlers kurzgefassten Mythologie. Nebst einem Register über das ganze Werk, Berlin 1791. Für eine genauere historische Zuordnung wäre zu beachten, daß Ramler Versuchen widerspricht, nach dem Muster von Francis Bacon hinter der Mythologie ganze philosophische, politische oder naturkundliche Wissenssysteme aufzudecken. – Zu den Kunstakademien im Überblick Nikolaus Pevsner, Die Geschichte der Kunstakademien, München 1986, der allerdings nicht auf die Mythologie als Unterrichtsgegenstand eingeht. 63 Joachim von Sandrart, Iconologia deorum Oder Abbildung der Götter / welche von den Alten verehret worden: Aus den Welt-berühmtesten Antichen der Griechisch- und Römischen Statuen / auch Marmel- / Porfido-Stein / Metall / Agat / Onyx […] und andren Edelsteinen befindlichen Bildereyen […] Samt der eigentlichen Beschreibung / und Erklärung der Heidnischen Tempel-Ceremonien […], Nürnberg 1680. Zum Thema Jörg Jochen Berns, Mythographie und Mythenkritik in der Frühen Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung des deutschsprachigen Raumes, in: Herbert Jaumann (Hg.), Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, Berlin, New York 2011, 84–155, hier 132–135. 64 Vincenzo Cartari, Le immagini con la spositione de i dei de gli antichi, racolte per Vincenzo Cartari, Venedig 1556. 61 Für



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einzelnen alten, und noch von wenigern oder von niemand neuerer Scribenten angezeiget worden“.65 Win­ckel­mann nimmt allerdings wahr, daß sich die allegorische Mythendeutung in einer bedrängten Lage befinde; denn er unterscheidet zwischen ihren antiken und modernen Voraussetzungen. Zwar – der Archäologe verfolgt kein psychologisch oder anthropologisch vertiefendes Interesse an der antiken Mythologie und entwickelt kein kulturhistorisch differenziertes Bild von ihrem Gebrauch. So interessiert er sich zwar für die Frage, mit Hilfe welcher mythologischen Bilder die Griechen den Tod bezeichneten; hingegen entwickelt er auf dieser Grundlage keine Theorie, die das Verhältnis der Griechen zum Tod beträfe.66 Dennoch finden sich in seinem Werk Spuren eines historisierenden Blick auf die mythologische Allegorienpraxis der griechischen Antike. Winckel­­ mann ist sicher, daß allegorische Deutungen keine späten Rationalisierungen von Mythenerzählungen sind; auf den Spuren vor allem im Hellenismus entwickelter Vorstellungen nimmt er vielmehr an, daß die Götter bereits als allego­ rische Erfindungen aus Ägypten nach Griechenland kamen. Im Rahmen von Kulthandlungen bedienten sich die Griechen allegorischer Darstellungsweisen: Die Athener brachten „gekochtes und nicht gebratenes Fleisch zum Opfer” dar, „um dieselben hierdurch allegorisch zu bitten, die brennende schwüle Hitze von ihren Feldern abzuhalten.”67 Im Versuch einer Allegorie postuliert der Verfasser schließlich, daß bei den Griechen die Allegorie religiös begründet und daher „allgemein angenommen und bekannt“ gewesen sei. An vergleichbaren Voraussetzungen dafür, daß eine Sprache der Allegorien auf breiter Grundlage akzeptiert und praktiziert werden könnte, fehlt es hingegen, wie der Verfasser weiß, in seiner Gegenwart, denn „unsere Zeiten sind nicht mehr allegorisch wie das Alterthum“.68 Freilich – ihres religiösen bzw. kultischen Kontexts beraubt, verwandeln sich die mythologischen Allegorien in der neueren Zeit in einen Gegenstand der Wissensorganisation. Mit den mythographischen Traditionen, an die Win­ckel­mann anschließt, befindet sich der Archäologe darin im Einvernehmen, daß er mythologische Figuren in allegorisch interpretierbare Details zerlegt. Statt des integralen Erscheinungsbilds steht die Bedeutung von Attributen im Vordergrund. Damm etwa erklärt mit Blick auf Apoll: „Die Pfeile bezeichnen die Sonnen-Stralen: 65 Win­ckel­mann, 66

Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 33.

Ebd., 80 f. 53. 68 Ebd., 22. Vgl. auch Gedanken über die Nachahmung (wie Anm. 17), 40. Ferner Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung (wie Anm. 22), 152, wo es über die neuere Zeit heißt: „Bisher haben freylich die Erfinder der besten malerischen Allegorien noch immer aus den Quellen des Alterthums allein geschöpfet, weil man niemanden ein Recht zugestanden, Bilder für Künstler zu entwerfen, da denn also keine allgemeine Aufnahme derselben statt gefunden“. Zum Problem der Bekanntheit auch ebd., 160. 67 Ebd.,

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die Schönheit und Jugend ist ein Bild der schönen nie veralternden Sonne: und weil die Sonne weiß scheinet, so heißet sein Bogen silbern“.69 Wenn Win­ckel­mann seinerseits in der Allegorieabhandlung die antiken Darstellungskonventionen für einzelne Gottheiten erläutert, betrachtet er sie als Kompositfiguren, die aus einzelnen, auch in Auswahl deutbaren Accessoires zusammengesetzt sind. So besitzt Dionysos unter anderem ein rotes Gewand, das auf den Wein deutet; seine Rüstung steht mit dem Indien-Feldzug in Zusammenhang, und wegen seines dortigen Siegs trägt er einen Lorbeerkranz.70 Im Endeffekt lösen die allegorischen Deutungen mythologische Figuren und Erzählungen in Konglomerate bedeutungstragender Akzidenzien und „scheinbare[r] Kleinigkeiten“71 auf. Zu letzteren können auch Haarfarbe und Inkarnat, Ornamente und Basen oder Sockel von Statuen gehören.72 Als Beispiel sei eine Passage aus Win­ckel­manns Ausführungen über Athene angeführt: Wenn Pallas einen Oliven-Zweig hält, deutet es auf einen Sieg über den Neptunus, in Absicht des Namens welcher der Stadt Athen sollte gegeben werden. Der Sphinx auf ihrem Helme bedeutet die Klugheit. Mit einer Schlange kommt ihr der Name Hygiäa, oder Paeonia zu, welches so bekannt ist, daß mich wundert, wie Gronov eine solche Figur derselben für eine Circe nehmen können. Wenn auf der einen Seite atheniensischer Münzen ein Ochsen-Kopf mit Bändern ist, deutet es auf das Opfer dieser Göttinn, welches eine Kuh war, wie wir aus dem Homerus wissen.73

Analog liest Win­ckel­mann auch die homerischen Epen oder mythologische Erzählungen nicht im narrativen Zusammenhang und nimmt sie nicht in ihrer Totalität zur Kenntnis, sondern faßt sie als Reservoires einzelner Bilder auf, die sich für eine allegorische Auslegung eignen. Auch ihm selbst stehen mythologische Beispiele als Redeschmuck zu Gebote: „Der schönste Körper unter uns wäre vielleicht dem schönsten griechischen Körper nicht ähnlicher als Iphikles dem Herkules, seinem Bruder, war“.74 Als ikonographische Repositorien aufgefaßt, neigen die Mythenerzählungen dazu, unerzählbar zu werden. Es ist zuletzt diese Distanz- und Fragmentierungserfahrung, mit der sich Win­ckel­mann bei seiner Arbeit an einem allgemeinen Allegorienvorrat konfrontiert sieht. Es scheint, als wäre das Vorhaben, Allegorien, von denen viele auf Mythenstoffe zurückgehen, als Grundlage einer allgemeinen Bildsprache in Umlauf zu bringen, bereits innerhalb von Win­ckel­manns eigener gelehrter Arbeit kontrafaktisch motiviert. Als nicht unbegründet mag die Frage gelten, ob die Mittel, die Win­ckel­mann zum Einsatz bringen möchte, nicht bis zu einem gewissen Grad selbst von der Krankheit befallen sind, die es zu kurieren gilt. 69 Damm,

Einleitung in die Götterlehre (wie Anm. 56), 13. Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 41 f. 71 Ebd., 139. 72 Ebd., 102–114. 73 Ebd., 49. 74 Win­ckel­mann, Gedanken über die Nachahmung (wie Anm. 17), 10. 70 Vgl.



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Auf die Voraussetzungen, die er wahrnimmt, reagiert der Archäologe allerdings auch mit dem weiterreichenden Versuch, mythologische Allegorien auf die Unhintergehbarkeit der Natur zurückzuführen.75 Ausnahmsweise verfällt selbst ein antikes Kunstwerk der Kritik, wenn es diesem Kriterium nicht genügt,76 während Win­ckel­mann gleichzeitig zu allzu ‚scharfsinniger‘ Gelehrsamkeit auf Distanz geht. VI. Ein Bildreservoir von hoher Verbindlichkeit ließe sich unter den gegebenen Umständen aber nur mit Blick auf die Antike wiederherstellen. Die Wissenslücken, die die Zeit gerissen hat, willkürlich mit Erfindungen zu füllen, wäre „eben so wenig erlaubt, […] als dem Mangel einer Sprache durch neugemachte Worte [abzuhelfen], wenn wir dort, wie hier, wollen verstanden werden“.77 Allein unter Bezug auf schriftliche und bildkünstlerische Überlieferungen könnten die notwendigen Elemente einer allgemeinen Bildsprache auf Mythenbasis in der Neuzeit bestimmt werden. Um jedoch die überkommenen Kunstwerke verstehen zu können, müssen Kunstbetrachter entweder selbst eine umfassende Kenntnis mythologisch-allegorischer Bedeutungen besitzen oder die Hilfe von Experten und einschlägigen Schriften in Anspruch nehmen. Auch wer konzediert, daß Win­ckel­manns Deutungen ein geringeres Maß an philologischem Aufwand betreiben als diejenigen mancher Vorgänger,78 wird andererseits zugestehen, daß sie Leser von erheblicher Bildung voraussetzen. Das Beispiel der Parze mit den Masken nimmt sich in dieser Hinsicht als einer der weniger anspruchsvollen Fälle aus. Nur ein Leser, der gut mit Euripides‘ Werk vertraut ist, versteht, aus welchem Grund die Liebe mit einem Schlüsselbund dargestellt wird – „als Herr des Schlaf-Gemachs der Venus”.79 – Die Deutung von Plastiken, die in der Villa Borghese gefunden worden seien, als JunoKöpfe korrigiert Win­ckel­mann, denn „das liebäugelnde […] in der Gestalt und in dem Blicke der Augen, machet die Venus vor der Großheit der Augen der Juno kenntlich.” Ihre Überzeugungskraft entfaltet die Argumentation erst, wenn man weiß, daß Hera bei Homer stereotyp als βοῶπις (großäugig) bezeichnet wird.80 75 Diesen Aspekt betont besonders Käfer, Win­ ckel­manns hermeneutische Prinzipien (wie Anm. 38), 132–178. 76 Vgl. Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 53, über eine Darstellung der Peitho, der „Göttinn der Überredung”. 77 Ebd., 22. 78 Vgl. Hofter, Die Sinnlichkeit des Ideals (wie Anm. 27), 68 f., zu Lorenz Beger und seinem „Thesaurus Brandenburgicus“. 79 Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 47, unter Berufung auf Euripides, Hippolytos, V. 538. 80 Vgl. z. B. Homer, Ilias 14, 159, 222, 263.

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Doch nicht einmal unter den günstigsten Voraussetzungen könnten alle Bezüge, die der Archäologe annimmt, ohne die Hilfestellung eines Kommentars nachvollzogen werden. So erklärt Win­ckel­mann unter Berufung auf die Argonautika des Apollonios von Rhodos: „Ein Herold wird durch einen Caduceus bezeichnet, welchen Aethalides, der Herold der Argonauten trug, da er an die Lemnische Weiber abgeschicket wurde.”81 Um differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten zu gewährleisten, zieht Win­ckel­mann auch entlegene Stellen aus antiken Autoren heran. Die Semantik mythologischer Szenen, die wenigstens für einen modernen Betrachter keineswegs immer unmittelbar aus dem Bild selbst hervorgeht, ist nicht selten erst mit Hilfe von Kombinationen von Belegstellen zu erschließen oder zu begründen.82 All dies mag auch dann gelten, wenn man, wie Win­ckel­ mann selbst, ein hohes Maß an Bekanntheit mythologischer Stoffe unter den Lesern voraussetzt. Das Problem ist Win­ckel­mann selbst klar: Ihm zufolge hat „die gantze Allegorie […] etwas rätzelhaftes, und ist nicht für jedermann gemacht“.83 Um so mehr stellt sich dem Verfasser des Versuchs einer Allegorie die Aufgabe, allegorischen Bildern jeweils ihre antiken Bedeutungen zuzuordnen beziehungsweise diese Bedeutungen wiederherzustellen. Dabei setzt Win­ckel­ mann voraus, daß es grundsätzlich möglich sei, die Botschaften und Bezüge bildlicher Darstellungen ein für allemal zu fixieren, und nimmt den Kampf mit Fehldeutungen auf, um die allegorische Bildsprache der antiken Kunst wieder freizulegen. Es gilt, das vorhandene Wissen über die allegorische Deutung mythologischer Szenen zu korrigieren und zu erweitern. Das Zurechtrücken des bislang falsch Gesehenen ist eine Basisattitüde des Allegorientraktats, der sich kontinuierlich mit Fehldeutungen anderer Autoren, antiquarischen Irrmeinungen mit Blick auf die antike Kunst und mit Allegorien in der neueren Kunst auseinandersetzt, die Win­ckel­mann als fragwürdig bewertet. Der Bildhauer Ercole Ferrata (1610–1686) etwa sei „übel berichtet”, wenn er „der Terpsichore allein Federn an dem Kopfe gesetzet, und den anderen Musen 81 Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 67. Für weitere (nicht allein mytholo-

gische) Beispiele vgl. ebd., 58: „Die Beredsamkeit will man durch eine Biene angedeutet finden, weil Homerus vom Nestor sagt, daß aus dessen Munde eine Rede floß, die süsser als Honig war, und Theocritus giebt daher seinem Thyrsis einen Mund voll von Honig“. Ebd., 65: „Wenn die Alten auf ihren Zeptern oder Stäben einen Storch schnitzeten, und unten einen Hippopotamus, soll es andeuten, dass die Gewaltthätigkeit der Gerechtigkeit unterworfen sey“. Ebd. 85: „Des Winters Zeichen ist ein wildes Schwein, oder ein Frischling […], weil diese Tiere im Winter am fettesten und alsdenn in warmen Ländern am gesundesten zu essen sind“. Ebd., 95: Der Name Cäsar soll auf Münzen des Julius Cäsars durch einen Elephanten ausgedruckt seyn, weil der Elephant in der Punischen Sprache Cäsar heißt“. 82 In gewisser Weise diskutiert Win­ckel­mann dieses Problem mit sich selbst, indem er im Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, in: Gedanken über die Nachahmung (wie Anm. 17), 81 f., darauf eingeht. 83 Win­ckel­mann, Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung (wie Anm. 22), 160.



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nicht”;84 an der „Nachricht von einem weißen Schleyer der Venus“, die ein ungenannter „neuerer Scribent“ in Umlauf gebracht habe, meldet Win­ckel­mann Zweifel an.85 Der Überprüfung und Korrektur unterliegen auch Win­ckel­manns eigene Überlegungen in älteren Arbeiten.86 Gegebenenfalls muß sich sogar ein antiker Gelehrter wie Philostrat von Athen zurechtweisen lassen.87 So widmet sich der Archäologe der Absicht nach einer Rektifizierungsarbeit, die sich an antiken Vorgaben orientiert. Nicht nur im Versuch einer Allegorie erschließt ein eigenes Register die „verbesserten und erklärten Stellen alter und neuer Scribenten“. An andere Kundige und einen weiteren Kreis Interessierter gewendet, übernimmt die Wissenschaft von der antiken Kunst das Amt, den Betrachtern die Augen über die mythologischen Kunstbedeutungen zu öffnen. Auf diese Weise gerät der Versuch einer Allegorie jedoch in Konflikt mit dem eigenen Vorhaben, den Grund für Mythenallegorien als allgemeiner Verständigungsbasis zu legen; denn er besteht stattdessen in der Arbeit an den Quellen, in komplizierten Rekonstruktionen und in gelehrten Erläuterungen, die auf Papier gedruckt sind. Dies gilt auch dann, wenn man nicht mit Carl Justi geradezu von „gelehrten Küchenabfälle[n]“88 sprechen möchte, mit denen der Verfasser seine Leser abspeise. Als Einzelbeispiel für Win­ckel­manns Verfahren vergleiche man die Deutung von Attributen der Kybele, die der Archäologe auf das Basis von Textemendationen und Parallelstellen vorschlägt.89 VII. Doch im Rahmen von Rekonstruktionsversuchen will es nicht einmal gelingen, den Bezug zwischen Bild, Mythos und allegorischer Auslegung mit dem gewünschten Grad an Verläßlichkeit zu stabilisieren. Wenn schon antiken Mythographen bekannt war, daß Mythenerzählungen in Gestalt von Versionen vorlagen, die voneinander abwichen und einander widersprachen, so sehen sich erst recht philologisch geschulte Kenner der Frühen Neuzeit mit dem Umstand konfrontiert, daß keine Möglichkeit besteht, eine kanonische Fassung von Mythen herzustellen beziehungsweise die Vielzahl der Erzählungen, die sich auf dieselbe mythologische Figur oder dieselbe Folge von Handlungen beziehen, 84 Vgl.

z. B. Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 38. 52. Vgl. z. B. auch ebd., 74 (zu Casaubon). 86 Vgl. ebd., 55, über die Fehldeutung einer Ino als Juno Lucida in der Geschichte der Kunst der Alterthums. 87 Vgl. ebd., 54 f. 88 Justi, Win­ckel­mann und seine Zeitgenossen (wie Anm. 14), Bd. 3, 306, ferner ebd., 306– 310. 89 Win­ ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 47 f. Zu den Emendationen auch ebd., 90 f. 85 Ebd.,

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in Übereinstimmung miteinander zu bringen.90 Darüber, daß angesichts der historischen Distanz und der verlorenen oder mehrdeutigen Zeugnisse Fehler nicht vermieden werden können, ist sich auch Win­ckel­mann im Klaren, der die Vorläufigkeit der eigenen Überlegungen einräumt und „Muthmassung[en]“ zu einem legitimen und notwendigen Instrument der Altertumsforschung erklärt.91 Werfen wir einen Blick auf die Frage, auf welche Weise sich solche Vorbedingungen in der Abhandlung niederschlagen. Der Ungewißheit über mythologische Sachverhalte entsprechen die Pluralität von Interpretations- und Rekonstruktionsversuchen oder auch die Meinungsdifferenzen über Wesen und Beschaffenheit der antiken Mythologie und die Deutung einzelner Erzählungen, Figuren und bildlicher Darstellungen. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Bildsprache sieht sich Win­ckel­mann genötigt, in den Widerstreit der Meinungen einzugreifen und so die Abwesenheit einer verläßlichen und auf Naturverhältnisse zurückführenden Bildsprache zu demonstrieren. Die Erfahrung des Verworrenen hält schließlich Einzug in die Allegorien selbst: Mit welchem Maß an Arbitrarität sich Win­ckel­mann auseinandersetzen muß, zeigt der Umstand, daß der Versuch einer Allegorie einem Zeichen disparate Bedeutungen zuweisen muß.92 Statt einer allgemeinen Allegoriensprache Vorschub zu leisten, die dem Grundsatz der Simplizität folgt, dokumentiert der Versuch einer Allegorie die Auseinandersetzungen, die der Verfasser mit anderen Autoren führen muß. So spielt Win­ckel­manns Blick auf die antike Mythologie in der Welt gelehrter Komplikationen und Meinungsdivergenzen, nicht in derjenigen antikischer Einfalt. Auf die Hindernisse, die einem Versuch den Weg verlegen, Charakteristika von Einzelpersonen oder bestimmten Ländern in allegorischer Form auszudrücken, stößt Win­ckel­mann selbst im Versuch einer Allegorie.93 In solchen Schwierigkeiten melden sich erneut die Bedingungen zu Wort, auf die Win­ckel­mann mit seinem Projekt antworten möchte. Während dem Nachahmungsaufsatz zufolge der „Begriff[] des Ganzen, des Vollkommenen in der Natur des Alterthums“ regierte, entspricht die Konstellation, in die Win­ckel­ mann den Leser im Versuch einer Allegorie einführt, eher dem Begriff „des Getheilten in unserer Natur“.94 Der Allegorientraktat bringt deshalb auch nicht die Mythologie in ihrem antiken Bestand, wie Win­ckel­mann sie entwirft, den Lesern wieder näher, sondern unterstreicht die Entfernung, die zwischen Antikeentwurf und Neuzeit liegt. Doch darüber hinaus darf man vermuten, daß überhaupt mit der Vorstellung von einer in der Hauptsache allegorischen Mythologie der Griechen das Komplexe und Vielfältige im Bunde steht. 90 Vgl.

als Beispiel die Erläuterungen zum Kupferstich No. 20 in Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst des Alterthums (wie Anm. 17), CVIII. 91 Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie (wie Anm. 7), 39. 92 Vgl. ebd., 58 f., die Beispiele der allegorischen Verwendung der Bienen. 93 Ebd., 88. 94 Win­ckel­mann, Gedanken über die Nachahmung (wie Anm. 17), 14.



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Modern ist Win­ckel­manns Ansatz insofern, als er das Simplizitätsprogramm mit dem Nachweis der Hemmnisse verbindet, die seiner Umsetzung im Sinn einer allgemeinen Geschmackskultur entgegenstehen. – Es entspricht dieser Konstellation, daß der Versuch einer Allegorie schon bei frühen Lesern auf Kritik stieß; Win­ckel­manns Auslegungen mythologischer Szenen erweckten bei manchen Zeitgenossen den Eindruck des Weithergeholten und eines gewissen Maßes an Willkür.95 VIII. Den abschließenden Überlegungen sei ein kurzes Resümee vorausgeschickt: Der Allegorientraktat gibt Auskunft darüber, welche Rolle einer allegorischen Bildsprache mit starkem Bezug auf die antike Mythologie im Rahmen des Projekts zufallen sollte, den Geschmack auf eine griechische Grundlage zu stellen: Die griechische Antike ist als Gegenbild zur Erfahrungswelt des Autors entworfen – als die historische Epoche, die in der Kunst das allgemein Geltende (und in diesem Sinn Naturkonforme) repräsentiert. Als Verkehrsmünze des guten Geschmacks waren die Allegorien im Umlauf. Das Projekt einer Allegoriensprache hat daher Anteil an der kulturkritischen Stoßrichtung von Win­ckel­manns Philhellenismus. Es orientiert sich an antiker Simplizität und Allgemeinverbindlichkeit, die der Willkür und Spitzfindigkeit der Gegenwart gegenüberstehen.96 Unter den Gesichtspunkten von Einfalt und weiter Verbreitung mußte die ihrer Form nach allegorische Bildsprache dem Stoff nach in erster Linie mythologisch ausfallen. Die Überzeugung, daß umgekehrt die Mythologie eine allegorische Redeweise sei, konnte Win­ckel­mann aus starken mythographischen Traditionen übernehmen. Allegorisch ausgelegte Mythenbilder, die dazu neigen, das Vielfältige und Differenzierte zu reproduzieren, erwiesen sich allerdings als problematisches Instrument, wenn es galt, ein Gegenmodell der Simplizität und Ganzheit zu entwickeln. Eine Spur in Win­ckel­manns Werk führt aber über solche Spannungsverhältnisse hinaus. Aufzufinden ist sie zum Beispiel in den Erklärungen, die der Verfasser am Beginn der Geschichte der Kunst des Alterthums zu den im Band enthaltenen Kupferstichen abgibt. Soweit diese Erläuterungen nicht nur altertumskundliches Wissen vermitteln, dürfen sie als praktischer Anwendungsfall der Allegorienlehre samt ihres mythologischen Bezugsfelds gelten. Den vierzehnten Kupferstich kommentiert Win­ ckel­ mann folgendermaßen; dabei setzt er eine Nachricht Plutarchs voraus, der zufolge das Krommyonische Wildschwein Phaia nach der Ansicht einiger in Wirklichkeit „eine Straßen95 Für

einen Überblick über zeitgenössische Äußerungen zur Allegorie vgl. Justi, Win­ckel­ mann und seine Zeitgenossen (wie Anm. 14), Bd. 3, 297–311. 96 Vgl. Win­ckel­mann, Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung (wie Anm. 22), 149.

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räuberinn“ war, „die wegen ihres säuischen Lebens wäre eine Sau genannt“ worden:97 Dem Vierten Capitel [des ersten Teils] ist ein geschnittener Stein, und zwar einer der schönsten aus dem Alterthume, vorgesetzet, zu einem allgemeinen Begriffe von der Griechischen Kunst. Es stellet derselbe den Theseus vor, welcher die von ihm erschlagene Laja oder Phaya mit Reue und Mitleiden betrachtet. Plutarchus in dessen Leben gedenket dieser That nur im Vorbeygehen, und sonst keiner von allen alten Scribenten. Dieser Carneol war in dem Farnesischen Museo zu Neapel, und ist seit zwanzig Jahren aus demselben entwendet worden.98

Die vorliegende Erläuterung teilt mit weiteren den allegorischen Bezug auf die Kunst. Zwei Darstellungen des Menschen bildenden Prometheus deuten „auf den Anfang der Kunst“.99 Auch ohne ausdrücklichen Hinweis darf Vulcanus, den Thetis um eine neue Rüstung für Achill bittet,100 demselben Bezugsfeld zugerechnet werden. Bei einem Carniol, „welcher den Vater des Achilles Peleus vorstellt“, ist es nicht das mythologische Motiv, sondern die Anciennität des Kunstwerks, die eine Aufnahme unter die Abbildungen veranlaßt: Der Carniol dient „als ein Denkmal der ältesten Kunst der Griechen“.101 Um auf „Bildhauerey und Baukunst“ zu verweisen, läßt Win­ckel­mann einen Kupferstich aus den einschlägigen „ältesten Stücke[n]“ komponieren.102 Auch die Zuschrift ziert eine Kupferabbildung mit Kunstbezug. Zu sehen sind „Bellerophon nebst dem Pegasus […], als eine Deutung auf einen Herrn, welcher die schönen Künste befördert, liebet und kennet“.103 Es ist nicht abwegig, als teils offenes, teils verdecktes Thema der Abbildungen insgesamt die Kunst selbst zu betrachten. In welchem Sinn gerade der vierzehnte Kupferstich einen allgemeinen Begriff „von der Griechischen Kunst“ vermittelt, erschließt ein Seitenblick auf das Ende der Geschichte der Kunst. Dort identifiziert der Verfasser als Ursprung der Kunstgeschichte den Verlust der antiken Kunst, der die verbliebenen Reste um so wertvoller erscheinen lasse. Die Darstellung des Theseus und der Phaia ist im doppelten Sinn im Begriff, sich dem Zugriff zu entziehen: Plutarch referiert die Episode nur aus zweiter Hand; das Original des „schönsten“ Steins des Altertums hingegen ist verloren. So lenkt die Abbildung die Aufmerksamkeit auf

97 Plutarchs Lebensbeschreibungen der berühmtesten Griechen und Römer mit ihren Vergleichungen aus dem Griechischen übersetzet, und mit Anmerkungen versehen [von M. Johann Christoph Kind], 8 Bde., Leipzig, Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf 1745–1754, Bd. 1, 21. 98 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 17), Nr. 14, CVI. Vgl. auch Win­ckel­mann, Monumenti antichi inediti (wie Anm. 58), Bd. 2, 131. 99 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 17), Nr. 7, CVI; vgl. auch ebd., Nr. 5, CIV. 100 Ebd., Nr. 21, CVIII/CX. 101 Ebd., Nr. 15, CVI. 102 Ebd., Nr. 6, CIV. 103 Ebd., Nr. 3, CIV.



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Seltenheit, Bedeutsamkeit und Schönheit der antiken Kunst im allgemeinen;104 aber im selben Maß verweist sie auf sich selbst105 und wird ihrerseits Gegenstand der ästhetischen Betrachtung. Die Kunst, die vor allem auf sich selbst deutet, gibt jedoch bis zu einem gewissen Grad den Anspruch auf, als Verweismittel auf etwas anderes zu dienen.106 Sie arbeitet sogar, ohne dies zu beabsichtigen, einem neuen Umgang mit der Mythologie, wenn nicht einer neuen Art der Mythendeutung zu: Denn insofern Mythen bei Win­ckel­mann nur in der Form von Kunst erscheinen, werden sie in erster Linie Gegenstand der Anschauung; auch wenn sie selbst nicht Win­ckel­ manns Untersuchungsobjekt sind, trägt der Archäologe zu einem Wandel der Perspektive auf Mythenerzählungen bei, die nunmehr selbst als Kunstwerke angesehen werden können.107 Darin nähert sich Win­ckel­mann der Idee der Kunstautonomie an, wie Karl Philipp Moritz sie seiner Götterlehre zugrunde legt. Die Götterbilder dieses Beitrags zur Mythenkunde sind zuletzt, wenngleich unter der Voraussetzung eines gewandelten Kunstbegriffs, stets Symbole der Kunst selbst.108 Während Win­ckel­mann, wohl ohne es zu wollen, zeigt, daß die Mythologie, als allegorisches System von Verweisen betrachtet, nicht in der Lage war, die Ganzheit zu veranschaulichen, die er der Welt der Griechen zuschrieb, legt er gleichzeitig den Grund für ihre Neubelebung als Bilderwelt des Schönen. In diese Idee ist freilich das skeptische Urteil über die eigene Zeit, das Win­ ckel­manns Rückwendung in die Antike motiviert, schon aufgenommen. Eine Darstellung aus der griechischen Mythologie, die gewissermaßen auf dem Rückzug erhascht werden muß, weil sie einer vergangenen Zeit angehört, dürfte in der Gegenwart stets ein gewisses Maß an Fremdheit behalten. Der ihr eigene Platz ist zuletzt Win­ckel­manns Entwurf des antiken Griechenland. Das Muster einer 104 Folgt

man Fridrich, „Sehnsucht nach dem Verlorenen“ (wie Anm. 9), 57 u.ö., so bezeichnet die Abwesenheit, die den Wunsch hervorruft, Verlorenes wiederzugewinnen, überhaupt einen Kernpunkt von Win­ckel­manns ästhetischem Denken. 105 Zur Selbstreferentialität des Schönen bei Win­ckel­mann vgl. mit Blick auf Win­ckel­manns Konzeption des „Ideals“ Hofter, Die Sinnlichkeit des Ideals (wie Anm. 27), 129. 106 Vgl. Fischer, Kunstautonomie und Ende der Ikonographie (wie Anm. 25), 255, der diese Perspektive am Beispiel von Win­ckel­manns Kunstbeschreibungen, hier des Torso im Belevedere, entwickelt. 107 So schon Christoph Siegrist, Proserpina. Ein griechischer Mythos in der Goethezeit, ­Gießen 1962, 26–28. 108 Vgl. z. B. die Ausführungen von Moritz, Götterlehre (wie Anm. 1), 109, über Apollon als Gottheit, die auch zerstörende Kräfte repräsentiert; letztere gehen jedoch im schönen Ganzen auf. Damit wird Apollon, wie jedes Kunstwerk, zum verkleinerten Abbild des Naturganzen: „Den [Apoll als „Sonnenstrahl“] hüllt die Menschenbildung in sich ein, und hebt mit ihm zum Ideal der Schönheit sich empor, wo der Ausdruck der zerstörenden Macht selbst in die Harmonie der jugendlichen Züge sich verliert“. Für den theoretischen Kontext vgl. Karl Philipp Moritz, Über die bildende Nachahmung des Schönen, in: Werke, hg. von Horst Günther, 3 Bde., Frankfurt 1981, Bd. 2, 549–578.

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allgemeinen Geschmacksbildung für Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts wird auch eine solche Darstellung vermutlich nicht abgeben können. Den Adepten der Altertumskunde steht sie allerdings als Studienobjekt zur Verfügung, das nähere Auskunft über die Singularität des Schönen verspricht. Obwohl kein Mythologe, ist Win­ckel­mann in Traditionen und Operationen der Mythendeutung tief verwickelt. Er nimmt auf breiter Front einschlägige antike Quellen und neuere mythographische Schriften zur Kenntnis und hat Anteil an der allegorischen Mythenauslegung, der er allerdings eine eigene Wendung gibt. Es ist jedoch gerade Win­ckel­manns kulturkritischer Anspruch, der innere Spannungen seines Umgangs mit Mythenstoffen sichtbar werden läßt. Aber gleichzeitig kündigt sich im Werk des Archäologen eine neue Weise der Mytheninterpretation an. Although not a mythologist, Win­ckel­mann is deeply involved in traditions and methods of interpreting greek myth. As a thorough connoisseur of ancient sources and recent mythographic writings he holds on to an allegorical perspective on myths. However, in the light of Win­ckel­mann’s cultural criticism concerning his own time, this method seems to provoke insuperable inconsistencies. At the same time, a new way of interpreting myths is taking shape in the archaeologist’s writings. PD Dr. Martin Disselkamp, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jägerstraße 22–23, 10117 Berlin, E-Mail: [email protected]

Helmut Pfotenhauer Win­ckel­mann-Kritik als Ursprung einer Autonomie-Ästhetik: Karl Philipp Moritz

Im Februar 1788 besucht Karl Philipp Moritz zum wiederholten Male den Belvedere-Hof des Vatikan, um die dortigen Statuen in Augenschein zu nehmen. In seinen Reisen eines Deutschen in Italien berichtet er später darüber.1 Ein Fest sei es allzeit, wenn eine Gesellschaft sich vereinige, „um die Statüen in Belvedere des Abends bei Fackelschein zu betrachten“. Man versäume diese Gelegenheit nie, denn es sei eine ganz eigene, privilegierte Art, „diese höchsten Werke der Kunst“ zu sehen. „Die allerfeinsten Erhöhungen werden dem Auge sichtbar, und dem was sonst noch einförmig schien, zeigt sich wiederum eine unendliche Mannigfaltigkeit“. Dieses Mannigfaltige mache jedoch nur ein einziges vollkommenes Ganzes aus. Man könne es als Schönes auf einmal sehen; der Begriff von Zeit verschwinde im dauernden Moment. Moritz kommt dann auf „Winkelmann“ zu sprechen. Er kritisiert dessen Beschreibung des berühmten Apollo (Abb. 1, S. 56) in der Geschichte der Kunst des Alterthums.2 Sie sei zu sehr zusammengesetzt, zu enumerativ, und verfehle damit jene Einheit des Mannigfaltigen, jenes „auf einmal“ der genuin ästhetischen Wahrnehmung. Moritz zitiert als Beleg Win­ckel­manns Assoziation mythologischer Bezüge, welche das Verständnis des Werkes befördern sollen: 1 Karl

Philipp Moritz, Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788, Teil III, Berlin 1793. Hier zitiert nach der Ausgabe: Karl Philipp Moritz, Werke in zwei Bänden, hg. von Heide Hollmer, Albert Meier, Bd. 2: Popularphilosophie. Reisen. Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1997, hier 753 ff.: Apollo in Belvedere. 2 Johann Joachim Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764. Hier: Zweyter Theil, Kap. 4: Von der Griechischen Kunst unter den Römern und unter den Römischen Kaisern, Abschnitt F: Unter dem Nero, Punkt b: Weggeführte Statuen aus Griechenland, unter welchen vermuthlich war aa. Der Vatikanische Apollo. Beschreibung desselben, 392–394. Hier zitiert nach der Kritischen Ausgabe sämtlicher Fassungen der Apollo-Beschreibung in: Helmut Pfotenhauer u. a. (Hg.), Frühklassizismus. Position und Opposition, Bibliothek der Kunstliteratur, Bd. 2, Frankfurt am Main 1995, 149 ff. (Text) und 486 ff. (Kommentar). Vgl. auch die Kritische Ausgabe der Geschichte der Kunst: Johann Joachim Win­ckel­mann: Geschichte der Kunst des Alterthums, Text: Erste Auflage Dresden 1764, Zweite Auflage Wien 1776, hg. von Adolf H. Borbein u. a. (Bd. 4.1), Mainz 2002, 780.

Aufklärung 27 · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISSN 0178–7128

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Eine Stirn des Jupiters, die mit der Göttin der Weisheit schwanger ist. – Augen der Königin der Göttinnen mit Großheit gewölbt – sein Haar scheint gesalbt mit dem Öle der Götter, und von den Grazien mit holder Pracht auf seine Scheitel gebunden.3

Wer diese Worte lese, so Moritz, werde in seiner Aufmerksamkeit auf Nebendinge gelenkt, auf Kunstexternes, auf Bedeutungen, die dem vor Augen stehenden Ganzen äußerlich seien. Kunstbeschreibung werde gekünstelt und führe von der Kunst weg. Der Genius der Kunst sei neben dem Verfasser dieser Beschreibung eingeschlummert, da er sie niederschrieb, resümiert Moritz. Diese Ausführungen sind eine Schlüsselstelle von Moritzens ästhetischer Begriffsbildung in den 80er und frühen 90er Jahren. Win­ckel­mann dient dabei als Katalysator. Ästhetische Theorie speist sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem wesentlichen Teil aus Win­ckel­mann-Kritik. Neben der ursprünglich erkenntnistheoretisch orientierten Philosophie sinnlicher Erkenntnis seit Baumgarten und Georg Friedrich Meier4 zählt sie zu den wichtigsten Impulsen Abb. 1 zur Bestimmung einer eigenen, von theologischen oder moralischen Vorgaben gelösten Logik ästhetischer Wahrnehmung und künstlerischer Produktion. Man weiß das von Lessing und dessen kritischer Referenz auf Win­ckel­manns Gedancken über die Nachahmung und deren Laokoon-Passagen. Lessings medientheoretische Differenzierung von bildender Kunst als Raumkunst und Poesie als Zeitkunst ist das prominenteste Beispiel für eine solche produktive Win­ckel­mann-Kritik.5 Moritz knüpft an Lessing an und geht über ihn hinaus. Seine Konsequenzen aus der Auseinandersetzung mit Win­ckel­mann sind die wohl am weitesten gehenden und in alle erdenklichen Bereiche der Begriffsbildung im Umgang mit Kunst vorangetriebenen Überlegungen im ausgehenden 18. Jahrhundert. 3 Moritz,

Werke, Bd. 2 (wie Anm. 1), 753. Joachim Ritter, Ästhetik, ästhetisch, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter u. a., Bd. 1, Darmstadt 1971, Sp. 555 ff. 5 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie, ­Berlin 1766. 4 Vgl.



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Dem gelten die folgenden Ausführungen. Sie zentrieren sich, immer im Hinblick auf das Vorbild Win­ckel­mann, in drei Themenkomplexen: 1. der Frage, wie Kunstwerke beschrieben werden können und der damit verbundenen Frage nach der Eigenlogik der Künste und der Übersetzbarkeit des bildkünstlerischen Eindrucks in Sprache; 2. der semiologischen Frage nach den der Kunst oder den Künsten angemessenen ästhetischen Zeichen; und schließlich 3. der Frage nach der Bedeutung des scheinbar Bedeutungslosen, der Verzierungen, der Ornamente, im Verhältnis zu den erhabenen Gegenständen der griechischen Plastik, ihrer Menschen-, Heroen- und Götterdarstellungen. Win­ckel­mann, so soll gezeigt werden, wird dabei als Anstoß gesehen – zur Kritik, zur Widerlegung, aber auch zum Weiterdenken der bei ihm angelegten Hinweise, die über eigene Positionen hinausführen. Win­ckel­manns Ausführungen werden wahrgenommen als das, was sie in der Tat auch sind: nicht dogmatisch klassizistisch, sondern oft ambivalent und durchlässig für Selbstüberbietungen. I. Die Apollo-Statue, frühhadrianische Marmorkopie nach einer Bronzeplastik des Leochares vom Ende des vierten Jahrhunderts v. Chr., gelangte 1509 in den Vatikan und 1511 in dessen Belvedere-Hof, von Bramante Ende des 15. Jahrhunderts angelegt.6 Dort fand sie ihren Platz neben der 1506 aufgefundenen Laokoon-Gruppe, dem schon im 15. Jahrhundert entdeckten Torso und zahlreichen anderen Statuen und Statuen-Gruppen.7 Papst Julius II. wollte sich mittels der antiken Zeugnisse als Neubegründer Roms versinnbildlichen lassen. In der Zeit der Gegenreformation dann begann man die Antiken zu vernachlässigen; sie wurden unter Bretterverschlägen verborgen und erst Anfang des 18. Jahrhunderts neu beachtet und restauriert. Aber noch zu Win­ckel­manns Zeiten waren sie in Nischen mit Holztüren untergebracht. Erst nach Win­ckel­manns Tod, 1769, wurde im Zuge des Umbaus des Museo Pio-Clementino, 1772–1773, ein repräsentativer architektonischer Rahmen für die Kunstwerke geschaffen. So hat sie dann Moritz gesehen. Im Grunde verdankt er sein Kunsterlebnis, die Betrachtung der freistehenden Statuen, dem Prestige und der Wirkung, die die Neubewertung durch Win­ckel­mann hatte.8 Denn diese hatte auch eine neue Präsentation zur Folge. Win­ckel­mann ist also nicht nur argumentativ der AusIch stütze mich im folgenden auf meinen Kommentar zu Win­ckel­manns Statuenbeschreibungen in: Pfotenhauer u. a. (Hg.), Frühklassizismus (wie Anm. 2), 498 ff. 7 Näheres ebd., 505 f. 8 Vgl. Georg Daltrop, Die Laokoongruppe im Vatikan. Konstanzer althistorische Vorträge und Forschungen, Heft 3, Konstanz 1982 und Hans Henrik Brummer, The Statue Court in the Vatican Belvedere, Stockholm 1970. 6

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gangspunkt, sondern auch Möglichkeitsbedingung der der Argumentation vorausgehenden neuen Kunsterfahrungen Ende des 18. Jahrhunderts. Win­ckel­mann, seit 1756 in Rom, um die vermeintlich griechischen Werke im Original sehen zu können, plant nach seinen ersten Eindrücken gleich eine Schrift Von dem Geschmack der Griechischen Künstler,9 in deren Mittelpunkt Kunstbeschreibungen stehen sollen: „Von den Statuen im Belvedere“. Dies wird zur Keimzelle der späteren Kunstgeschichte. Geplant sind neben Beschreibungen „nach der Kunst“, also zu Stil, Zeit, Technik, Material etc., vor allem Beschreibungen „nach dem Ideal“. In seinen handschriftlichen Vorarbeiten, die im heute sogenannten Florentiner und Pariser Nachlaß erhalten sind,10 zeigt sich, was damit gemeint ist. Die Beschreibung „in Absicht des Ideals“ soll entsprechend dem klassizistischen Primat des Gedanklichen in der Kunst, der Idea, den geistigen Entwurf des Werkes, die Erfindung, die Komposition in den Mittelpunkt stellen.11 Sie muß, um dieser Anforderung genügen zu können, nicht nur das Erhabene zum Gegenstand haben, sondern selbst erhaben werden. Win­ckel­mann spricht von einem Heldengedicht, das erforderlich sei.12 Kunstbeschreibung muß also selbst Kunst werden. Win­ckel­mann wird seine Beschreibungssprache der homerischen angleichen, nicht nur sich in deren Bilderwelt begeben, sondern auch den daktylisch-trochäischen Rhythmus des Hexameters in seiner Prosa imitieren.13 Dieses Postulat der Kunstgemäßheit der Kunstbeschreibung ist eine Überlegung, die dann für Moritz sehr wichtig werden wird und die er weiterdenkt. Win­ckel­mann sucht für sein Projekt stilistische Vorbilder in der antiken Literatur; er exzerpiert sich14 Stellen aus Homers Ilias,15 aus dessen Apollon-Hymnen oder aus dem Hymnus des Kallimachos. Der Mythos in antiker, besonders griechischer Darstellung liefert die inhaltlichen Bezugspunkte, der zürnende Gott, der mit Pfeilen bewaffnete, den Python erlegend, vom Olymp herabsteigend, der, dessen Adern und Sehnen ruhig und entspannt bleiben, weil er himmlischer Natur ist und dem Reich unkörperlicher Schönheiten angehört etc.16 Aber dieser Mythos ist auch der Form nach ein schöner, kunstgemäßer – ganz anders also als die herablassende aufklärerische Mythenkritik das sah, die in dieser Denkform nur ein rationales Defizit zu erkennen vermochte. Auch das wird für Moritz und seine spätere „Götterlehre“, die im Mythos eine „mythologische Dichtung“ beschreiben will, von 9 Pfotenhauer

u. a. (Hg.), Frühklassizismus (wie Anm. 2), 499 f. Angaben ebd. 501 f. 11 Vgl. Hans Zeller, Win­ckel­manns Beschreibung des Apollo im Belvedere, Zürich 1955, 25. 12 So in einem Brief an Adam Friedrich Oeser vom 20. März 1756; zit. nach Pfotenhauer u. a. (Hg.), Frühklassizismus (wie Anm. 2), 500. 13 Pfotenhauer u. a. (Hg.), Frühklassizismus (wie Anm. 2), 511. 14 Ebd., 503 f. Vgl. 579. 15 Bes. 1. Gesang, 43–52. 16 Ilias V, 340 ff.; vgl. Pfotenhauer u. a. (Hg.), Frühklassizismus (wie Anm. 2), 566 f. 10 Nähere



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Bedeutung sein. Und noch etwas, das Moritz dann zu denken geben wird und das er später ausführt, findet sich  – ansatzweise  – in Win­ckel­manns ApolloBeschreibung: das Bewußtsein der Unzulänglichkeit der Beschreibungssprache dem Gegenstand, dem anderen Medium, dem der bildenden Kunst, gegenüber. Win­ckel­mann nimmt Zuflucht zum Unsagbarkeitstopos: „Wie ist es möglich, es zu malen und zu beschreiben. Die Kunst selbst müßte mir rathen, und die Hand leiten […]“.17 Win­ckel­manns Hermeneutik,18 die seinen Statuenbeschreibungen zugrunde liegt, generiert also einerseits jene von Moritz kritisierte Häufung mythologischer Bezüge, die die Beschreibung in Segmente zerstückelt und ständig über das Sichtbare hinausweist, andererseits ist diese Hermeneutik aber eine zuinnerst ästhetische – poetisch ambitioniert und an einem poetisierten Mythos ausgerichtet, in Ansätzen sogar in Frage stellend, inwiefern angesichts der Eigenlogik von Bildkunst und sprachlichem Zeichen Kunstwerke überhaupt beschrieben werden können – Moritz also im Prinzip, wie gleich zu sehen ist, vorwegnehmend. Moritz hat im Vorgriff auf seine Reisen eines Deutschen in Italien und ihre Win­ckel­mann-Kritik 1788 in der Monatsschrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin19 einen Essay veröffentlicht mit der Titelfrage Inwiefern Kunstwerke beschrieben werden können? Er endet mit einem Rekurs auf Win­ckel­manns Apollo-Beschreibung. Unter dem Titel Die Signatur des Schönen ist er in Die große Loge oder der Freimaurer mit Wage und Senkblei von 1793 eingegangen. Noch in Italien, am 7. Juni 1788, schreibt Moritz an Goethe: „Da die akademische Monatsschrift in Berlin Beschreibungen von Kunstwerken verlangt, so arbeite ich an einem Aufsatze für diese Monatsschrift in wie fern Kunstwerke beschrieben werden können […]“.20 Moritz fügt hinzu, er habe dabei „Winkelmanns Beschreibungen von Apollo und Laokoon nachgelesen“ und auch im Homer geblättert. Das Resultat aus dem bisherigen Nachdenken sei gewesen, so in einem weiteren Brief an Goethe vom 9. August 1788,21 „daß das vollkommenste Gedicht, seinem Urheber unbewußt, allein die vollkommenste und richtigste

17 Ebd.,

511. Nikolaus Himmelmann, Win­ckel­manns Hermeneutik, Abhandlungen der Geistesund Sozialwissenschaftlichen Klasse der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur, Wiesbaden 1971, 589 ff. 19 1. Jg, Bd. 2, 1788, 4. Stück, 159–168; hier nach meiner Edition in: Helmut Pfotenhauer, Peter Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus, Bibliothek der Kunstliteratur, Bd. 3, Frankfurt am Main 1994, 372 ff. Kommentar: 748 ff. 20 Nach Hugo Eybisch, Anton Reiser. Untersuchungen zur Lebensgeschichte von Karl Philipp Moritz und zur Kritik seiner Autobiographie, Leipzig 1909, 231 f. 21 Ebd., 236 f. 18 Vgl.

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Beschreibung des Meisterstücks der bildenden Kunst sey“. Kunstbeschreibung habe also selbst eine schöne Gestalt anzunehmen.22 Das ist relativ neu. Vorher, vor etwa 1750, war man nicht auf die Idee gekommen, sich in die Kunstwerke in ihrer individuellen schönen Gestalt einzufühlen und sich ihnen hermeneutisch ästhetisierend gleichsam anzuschmiegen. Man beurteilte sie vielmehr nach einem normativen Rubrikenschema, das aus der Renaissance, etwa von Vasari und Alberti her, überliefert war, in der französischen Kunstliteratur, etwa bei Félibien oder de Piles ausdifferenziert wurde und bis zu Mengs und dessen Gedanken über die Schönheit und den Geschmack in der Malerei oder zu den Schriften von Goethes Freund Heinrich Meyer im ausgehenden 18. Jahrhundert hin Gültigkeit hatte.23 Demnach werden die Werke allesamt über einen Kamm geschoren und abgeurteilt nach den Kriterien Erfindung, Anordnung, Ausdruck, Zeichnung, Pinselführung. Kolorit, Beleuchtung, Helldunkel, Draperie bzw. Faltenwurf. Die Idee, der disegno, der sich in Erfindung, Anordnung, Zeichnung niederschlägt, steht gut klassizistisch vor dem Malerisch-Sinnlichen der Farbgebung, des Lichts.24 Win­ckel­manns historische Differenzierung der Kunstwerke und seine einfühlend ästhetisierende Annäherung an die Eigenheit der Werke bedeutet den Anfang der Abkehr von jener pauschalen Beurteilungsweise. Moritz und die Frühromantiker, die die literarisierende Kunstbetrachtung zum Programm machen, wie August Wilhelm Schlegel in seinen Gemählden von 1799,25 radikalisieren das, aber sie folgen – mehr indirekt als bewußt – Win­ckel­mann auch. Dennoch: In Moritz’ Schrift über die Kunstbeschreibung steht die Kritik im Vordergrund. Die vollkommenen Werke der bildenden Kunst seien selbst ihre beste Beschreibung. Ihre Beschreibung durch ihre eigenen Konturen faßten sie angemessener als jede Beschreibung durch Worte.26 Die Umrisse der Werke vereinigen; Worte können nur auseinander sondern. Deshalb zerreiße Win­ckel­ 22 Vgl. zum Folgenden meinen Kommentar in Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 749 ff., sowie meinen Aufsatz: „Die Signatur des Schönen“ oder „inwiefern Kunstwerke beschrieben werden können?“. Zu Karl Philipp Moritz und seiner italienischen Ästhetik, in: Helmut Pfotenhauer (Hg.), Kunstliteratur als Italienerfahrung. Reihe der Villa Vigoni, Bd. 5, Tübingen 1991, 67 ff. 23 Vgl. dazu ausführlich die beiden Bände der Bibliothek der Kunstliteratur: Pfotenhauer u. a. (Hg.), Frühklassizismus (wie Anm. 2); Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), sowie Ernst Osterkamp, Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen, Stuttgart 1991. 24 Wenn auch zwischen Poussinisten wie LeBrun und Rubenisten wie de Piles im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert umstritten, was die Gewichtung anbelangt. Vgl. Pfotenhauer u. a. (Hg.), Frühklassizismus (wie Anm. 2), Kommentar zu Win­ckel­manns Gedancken über die Nachahmung, 358 ff. 25 Die Gemählde. Ein Gespräch von W., in: Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, 2. Bd., 1. Stück, Berlin 1799. 26 Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 382.



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manns Beschreibung des Apollo das Ganze des Kunstwerks. Seine Beschreibung schade dem Kunstwerk mehr als sie ihm nütze, weil sie den Blick vom Ganzen abziehe und aufs Einzelne hefte. Am Anfang seiner Schrift bringt Moritz höchst merkwürdige Beispiele – nicht für angemessenere Beschreibungen durch Worte, sondern für gleichsam wortlose Beschreibungen; genauer: für die stumme zeichenhafte Repräsentation der Sache selbst. Moritzens Schrift ist eine Art semiotische Suchbewegung. Sie fahndet nach Zeichen, die als Zeichen nicht, wie die Logik es eigentlich will, von der zu bezeichnenden Sache geschieden sind, um auf diese zu verweisen, sondern die Sache unmittelbar, ungetrennt von ihr zur Anschauung bringen. Dafür steht ihm Philomele,27 die nach Ovids Metamorphosen28 ihrer Zunge beraubt wird. Tereus, der Gatte ihrer Schwester Prokne, hatte sie vergewaltigt und anschließend, um das Verbrechen zu vertuschen, ihre Zunge herausgeschnitten. Die stumme Philomele webt nun, wie Moritz sagt, „die Geschichte ihrer Leiden in ein Gewand, und schickte es ihrer Schwester, welche es aus einander hüllend, mit furchtbarem Stillschweigen, die gräßliche Erzählung las“.29 Prokne rächt sich an ihrem Gemahl, indem sie ihm ihrer beider Sohn zum Mahl vorsetzt. Im Schrecklichen aber ist, wie bei Moritz so oft, das Schöne enthalten: Jenes blutige Gewandt, das für sich selbst spricht, das keine weiteren Worte braucht. Aus Livius liest Moritz ähnliche Geschichten heraus, in denen sich das Grauen menschlicher Schicksale ins Schöne von deren Ausdruck durch unmittelbare, wortlose – Moritz könnte auch, in Anlehnung an seinen Gewährsmann Moses Mendessohn sagen – natürliche Zeichen verwandelt.30 So die Geschichte der Virginia,31 deren Vater sie öffentlich tötet, um sie vor dem Zugriff des Usurpators Appius Claudius zu bewahren. Der blutige Leichnam ist hier das für sich sprechende Zeichen, das den Plebejern unmittelbar einleuchtet und sie gegen den Unterdrücker zu den Waffen greifen läßt. Lessings Emilia Galotti war aus diesem Stoff hervorgegangen. Moritz interessiert an diesen Sujets nicht, wie Lessing etwa, das Mitleid, das sie erwecken könnten, sondern allein der ästhetische Mehrwert. Das könnte als kalter Ästhetizismus erscheinen, zeigt aber umgekehrt, daß für Moritz das Schöne immer dem Häßlichen abgerungen werden muß. Es ist der Hintergrund, vor dem der schöne Schein aufleuchtet. Eine Kunstauffassung ist das, die mit äußersten Spannungen arbeitet und nichts hat von einem kühlen, teilnahmslos geglätteten Klassizismus – auch darin übrigens Win­ckel­mann nicht unähnlich, der ja in seinen Gedancken über die Nachahmung die edle Einfalt und stille 27

Ebd., 372 f. VI, 428 ff. 29 Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 372. 30 Vgl. Mendelssohn, Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften, 1757; Ästhetische Schriften in Auswahl, hg. von Otto Best, Darmstadt 1986, 188. 31 Livius, Ab urbe condita III, 44 ff. 28

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Größe mit der Tiefe des Meeres vergleicht, über der die Oberfläche wüte.32 Klassizismus ist in seinen wichtigsten Vertretern, wie man sieht, komplexer und damit auch für künftige Ästhetik anschlußfähiger, als seine Verächter es wahrhaben möchten. Moritz geht nun in seinem Essay von der Frage der Beschreibung des Schönen, ohne diese abschließend zu klären, zu der nach dem Wesen des Schönen selbst über. Denn das echte Kunstwerk erkläre sich durch sich selbst; Worte müßten da aufhören.33 Das entspreche dem Wesen des Schönen: Ein Teil werde immer durch den andern und das Ganze durch sich selbst bedeutend. Am deutlichsten sichtbar werde diese in sich ruhende Vollkommenheit an der nackten menschlichen Gestalt. Durch die zarte Oberfläche der Haut hindurch schimmere die Bestimmtheit aller Teile. Alles Zufällige, alles Unorganisierte sei ausgeschlossen. Indes: Das Schöne leuchtet ja nach Moritz auf vor dem Hintergrund des Häßlichen. Wie, wenn dieses jenes kontaminiert? Wie, wenn man Kunst diesseits des Idealschönen der griechischen Skulptur und ihrer Darstellung der menschlichen oder übermenschlichen Gestalt ins Auge fassen will? Moritz muß sich diesen Fragen stellen, wenn er seine ästhetische Theorie über das winzige Segment antiker Plastik hinaus valide machen will. Das Schöne, so gibt er denn auch zu bedenken, könne auch in der innersten Natur verborgen sein, das Häßlichste könne ihm zur Unterlage dienen. Dann sei es unserer Sterblichkeit nur dunkel erahnbar, aber doch präsent. Hier nun kommt eine andere Komponente Moritzscher Begriffsbildung ins Spiel, die auch den späteren Titel des Essays erklärt: Die Signatur des Schönen. Diese Komponente ist eine metaphysische. Jedes Schöne, selbst das der vollkommenen Kunst, ist immer auch als ein Abbild eines Urbildes zu sehen: das der vollkommenen Schöpfungsordnung. Der Künstler ist zweiter Schöpfer. Das Kunstwerk ist Signatur dieser Schöpfung, dieser Vollkommenheit im großen Ganzen. Moritz knüpft hier an Leibniz’ Theodizee und Monadenlehre an und an den parallel dazu insbesondere seit Shaftesbury reaktualisierten Neuplatonismus.34 Nur so vermag er eine Zeichenlehre zu konstituieren, die es ihm erlaubt, auch eine Differenz von Zeichen und Bezeichnetem zu denken. Auch das vollkommene Kunstwerk, welches in der sinnlichen Erscheinung das Wesen des Schönen sichtbar macht, verweist demnach immer auch auf ein übersinnlich Schönes und Vollkommenes. Dadurch wird es zwar nicht umstandslos in Wortsprache übersetzbar, etwa durch mythologische Narrativierung im Stile Win­ckel­manns. Aber es wird einer höheren Sprache der Spuren und Signaturen zugänglich, welche es erahnbar machen. Die mit den 32 Pfotenhauer

u. a. (Hg.), Frühklassizismus (wie Anm. 2), 30. Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 374. 34 Vgl. Thomas P. Saine, Die ästhetische Theodizee. Karl Philipp Moritz und die Philosophie des 18. Jahrhunderts, München 1971. Dazu der Kommentar in Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 744 ff. 33 Pfotenhauer,



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Worten nie ganz wieder erlöschenden Bilder, so sagt Moritz,35 lassen auf dem Grunde unserer Einbildungskraft eine Spur zurück, die mit ihrem vollendeten Umriß das Schöne umschreibt. Das faßt dann jenes Schöne, das der bildende Künstler vor Augen stellt und, so muß man hinzufügen, das das höhere Schöne der göttlichen Schöpfung erahnen läßt. Dies ist jedoch eine höchst voraussetzungsreiche, weil spekulative Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Kunstbeschreibung. Moritz beläßt es hier beim Hinweis auf den Bild- und Gedichtcharakter der Beschreibungssprache als notwendiger Voraussetzung der Angemessenheit. Plausible Hinweise darauf, wie das in der Praxis der Kunstbeschreibung eingelöst werden könnte, wie also eine ekphrastische Alternative zu Win­ckel­mannn und seiner Apollo-Beschreibung nach den von ihm entwickelten Maßstäben aussehen könnte, gibt Moritz an dieser Stelle nicht. Zu sehr hat ihn die Radikalisierung des Win­ckel­mannschen Gedankens, nur Kunst könne Kunst beschreiben, das paradoxe Konzept also einer Sprache ohne Worte, zu philosophischen Hilfskonstruktionen und in den Bereich der Abstraktion geführt. An anderer Stelle gibt Moritz aber doch Hinweise dazu. Es handelt sich dabei um Strukturbeschreibungen von Kunstwerken. Von einem Gesichtspunkt oder Mittelpunkt aus soll das Zusammenstimmen der Teile evident werden.36 Als Beispiel wären die Ausführungen zu Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sistina im zweiten Teil der Reisen eines Deutschen in Italien zu nennen.37 In der Figur eines in sich gekauerten, in den Abgrund sinkenden Verdammten wird hier der geheime Mittelpunkt ausgemacht, von welchem aus sich die hinabstürzenden und hinaufsteigenden Bildmassen ringsum zu einem Ganzen fügen. Das Narrative der Apokalypse tritt zurück und eine rein bildimmanente, auf das Konstruktionsprinzip des Gemäldes bezogene Beschreibung tritt an dessen Stelle.38 Ähnliches in Bezug auf die Poesie: „Über ein poetisches Gemälde von Goethe“ heißt ein Abschnitt aus der sechsten Vorlesung „über den Styl“ von 1791. Er bezieht sich auf Werthers Brief vom 10. Mai.39 Auch hier werden die Linien vom „Umriß“ über die „Niedersenkung“ bis zum „kleinsten Gesichtskreise des Auges“ und wieder zurück zum „großen Umriß“ als formale Bewegung eines in sich geschlossenen Gebildes nachgezeichnet – fast ohne inhaltliche Referenzen, ganz und gar strukturell. Die über Win­ckel­mann hinausgehende Kunstbeschreibung führt zum Verlust ikonographischer und narrativer Gehalte. 35 Pfotenhauer,

Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 378. die kleine Schrift: Bestimmung des Zwecks einer Theorie der schönen Künste, wahrscheinlich 1789 entstanden, hier nach: Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 360 f.; vgl den Kommentar, ebd., 742 f. und 753. 37 Moritz, Werke, Bd. 2 (wie Anm. 1), 668 ff. 38 Vgl. den Kommentar in Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 753 f. 39 Moritz, Werke, Bd. 2 (wie Anm. 1), 911 ff. 36 Vgl.

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Die autonomie-ästhetische Theorie eines vollkommen sich selbst genügsamen Werkes hat also ihren Preis. Moritz ist es vorbehalten, ihn mit seiner Tendenz zur unerbittlichen Zuspitzung in kunstkritischen Belangen als erster kenntlich zu machen. II. Der Pinsel, den der Künstler führet, soll im Verstand getunckt seyn […] Er soll mehr zu dencken hinterlassen, als was er dem Auge gezeiget, und dieses wird der Künstler erhalten, wenn er seine Gedancken in Allegorien nicht zu verstecken, sondern einzukleiden gelernet hat.40

Mit diesen Worten enden Win­ckel­manns Gedancken über die Nachahmung. Es schließt sich nur noch der für die Idea-Konzeption des Klassizismus nachgerade obligatorische Hinweis darauf an, daß bildende Kunst demnach dichterisch sein solle, daß sie wie die Worte sprechen und Gehalte mitteilen müsse. Das von Plu­ tarch überlieferte Dictum des Simonides, bildende Kunst sei stumme Dichtung, wird als ultima ratio aufgerufen. Ein Jahrzehnt später widmet Win­ckel­mann diesem für ihn scheinbar selbstverständlichen ästhetischen Befund eine eigene Schrift: Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst nennt er sie.41 Die Allegorie ist, im weitläufigsten Verstande genommen, eine Andeutung der Begriffe durch Bilder, und also eine allgemeine Sprache, vornehmlich der Künstler, für welche ich schreibe: Denn da die Kunst, und vornehmlich die Mahlerey eine stumme Dichtkunst ist, wie Simonides sagt, so soll dieselbe erdichtete Bilder haben, das ist, sie soll Gedanken persönlich machen in Bildern.42

Indes: Wäre dies so selbstverständlich, wie es zunächst klingt, wären die folgenden langwierigen Erörterungen nicht nötig. Das Buch ist eine Anleitung zur praktischen Handhabung für Künstler. Aber nicht nur – es ist auch, vor allem im ersten Kapitel, eine semiologische Abhandlung, eine „Iconologie“, wie Win­ckel­ mann sagt. Denn wie und inwieweit die Bilder sprechen sollen, bleibt die Frage. Moritz wirft Win­ckel­mann im Hinblick auf seine Kunstbeschreibungen vor, daß sie zu sehr sprechend seien, daß sie – kunstfremd – den Bildern Bedeutungen implementierten. Win­ckel­mann selbst aber hat dieses Problem umstandsloser Beredtheit durchaus erkannt. Kunstwerke sollen sprechend sein, sagt er, aber auf eine ihnen eigene Weise, in einer eigenen, ikonischen Logik. „Ein jedes allegorisches Zeichen und Bild“, so dekretiert er gleich nach den einleitenden Sätzen 40 Gedancken

über die Nachahmung, in: Pfotenhauer u. a. (Hg.), Frühklassizismus (wie Anm. 2), 50. 41 Dresden 1766. Faksimile in: Win­ckel­mann, Kunsttheoretische Schriften IV. Studien zur deutschen Kunstgeschichte 339, Baden-Baden, Strasbourg 1964 42 Ebd., 2.



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seiner Schrift, „soll die unterscheidenden Eigenschaften der bedeuteten Sache in sich enthalten, und je einfacher dasselbe ist, desto begreiflicher wird es […]. Die Allegorie soll folglich durch sich selbst verständlich seyn, und keiner Beyschrift vonnöthen haben […]“. Die Natur, so fährt Win­ckel­mann, in überraschender Analogie zu Mendelssohn, fort, sei der Lehrer der – recht verstandenen – Allegorie.43 Ihre Sprache sei ihr näher als „die nachher erfundene Zeichen unserer Gedanken“. Sie gebe ein wahres Bild der Sachen. Symbole und Hieroglyphen werden im folgenden als willkürlich erfundene und nur durch Konvention verständliche Zeichen ästhetisch und semiologisch abgewertet.44 Der klassizistische Intellektualismus scheint sich selbst aufzuheben. Das ästhetische Zeichen, so deutet sich an, soll nicht mehr als Ausdruck eines in ihm nicht gegenwärtigen externen Gehaltes verstanden werden, sondern als in sich, in seiner sinnlichen Präsenz selbst bedeutend. Man glaubt an gewissen Stellen von Win­ckel­manns Schrift fast in einem Text von Moritz zu lesen. In der Monats-Schrift der Akademie vom Februar 1789 veröffentlicht Moritz einen Beitrag Über die Allegorie. Später übernimmt er ihn in seine Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente.45 Hier wird Win­ckel­mann nicht direkt genannt. Dennoch erscheint der erste Satz fast wie ein Zitat aus dessen AllegorieSchrift:46 „In so fern eine Figur sprechend ist, in so fern sie bedeutend ist, nur in so fern ist sie schön. – „ Aber gleich der nächste Satz rückt das zurecht – in erstaunlicher Analogie zum semiotischen Zurechtrücken in der Allegorie-Schrift Win­ckel­manns: Dies Sprechende und Bedeutende muß aber ja in dem rechten Sinne genommen werden: die Figur, in so fern sie schön ist, soll nichts bedeuten, und von nichts sprechen, was außer [ihr] ist, sondern sie soll nur von sich selber, von ihrem innern Wesen durch ihre äußere Oberfläche gleichsam sprechen, soll durch sich selbst bedeutend werden.47

In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können? – die Beantwortung der Frage mündet in eine Polemik gegen Win­ckel­mann. In wie fern eine Figur schön ist – diese Frage wird in unverhohlener Anknüpfung an den Kontrahenten Win­ ckel­mann semiologisch beantwortet. Nur an den Beispielen, die Moritz gibt, merkt man die andere Richtung, in die seine Forcierung des schon bei Win­ckel­ mann selbstreflexiv und selbstkritisch werdenden Klassizismus geht. Und damit geht er dann auch in semiotischen Fragen deutlich über Win­ckel­mann hinaus. 43 Ebd.,

3. Ebd., 5 f. 45 Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 401 ff. 46 Vgl. zum folgenden auch: Bernhard Fischer, Kunstautonomie und Ende der Ikonographie. Zur historischen Problematik von „Allegorie“ und „Symbol“ in Win­ckel­manns, Moritz’ und Goethes Kunsttheorie, in: DVJS 64 (1990), 247 ff. 47 Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 401. 44

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„Die Allegorie muß also, wenn sie stattfindet, immer nur untergeordnet und mehr zufällig sein; sie macht niemals das Wesentliche oder den eigentlichen Wert eines schönen Kunstwerks aus“.48 Moritz verabschiedet das Allegorie-Konzept theoretisch halbherzig, indem er es marginalisiert. Aber in der Praxis, anhand von Beispielen wird er deutlich: Eine Figur, die die Gerechtigkeit mit verbundenen Augen, das Schwert in der Linken und die Waage in der Rechten zeige, sei kunstfremd. Denn, so muß man hinzufügen, man sieht nicht, was das bedeutet. Das Schwert verweist nur aufgrund von kulturellen Konventionen auf die finale Ausübung von Gerechtigkeit, die Waage nur aufgrund zivilisatorischer Zuversicht auf unvoreingenommenes Abwägen; eviAbb. 2 dent, der Figur anzusehen, ist das nicht. Wie ist eine Fortuna, eine Allegorie der Gerechtigkeit, kunstgemäß darzustellen? Guido Reni malt sie „mit fliegenden Haaren, und mit den Spitzen der Zehen die rollende Kugel berührend“.49 (Abb. 2) Das leuchtet nach Moritz ein. Nicht weil man nach konventionellem Verständnis die Beweglichkeit, die Wechselhaftigkeit des Glücks seinem Begriff entsprechend erkennen kann, sondern weil man eine schöne Frauengestalt mit einem Putto sieht und sich „an dem Umriß und der Fülle dieser leicht und zart entworfenen Lichtgestalt“ erfreuen kann. Die rollende Erdkugel rundet nach Moritz’ Lesart das Bild im buchstäblichen Sinne – sie bedeutet nicht, sondern macht das Bild ästhetisch zu einem Ganzen. Ebenso die Aurora des Guido (Abb.3, S. 67): Sie erweckt keinen Gedanken an die Morgenröte, sondern führt uns eine Zusammensetzung schön gruppierter Figuren vors Auge. So weit wäre Win­ckel­mann nicht gegangen. Die Sixtinische Madonna beispielsweise in der ‚Königlichen Gallerie der Schildereyen in Dreßden’50 ist für ihn in den Gedancken über die Nachahmung ein ikonographisch festgelegtes Gemälde: „Madonna mit dem Kinde“, der Heilige Sixtus, die Heilige Barbara, „nebst zwey Engeln im Vordergrunde“.51 Win­ckel­mann kommt 48 Ebd.

49 403.Vgl.

auch die Kapitel zu Guido Reni in „Reisen eines Deutschen in Italien“ (wie Anm. 1), 715 f. 50 Gedancken über die Nachahmung; Pfotenhauer u. a. (Hg.), Frühklassizismus (wie Anm. 2), 34. 51 Ebd.



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Abb. 3

ins Schwärmen und löst damit die Regeln der klassifikatorischen Nüchternheit konventioneller Kunstbeschreibung auf; er übersetzt in seine ihm eigene Sprache und spricht von dem „Gesichte voll Unschuld“, von der „mehr als weiblichen Größe“, von der ruhigen Stellung, von der Stille, vom Großen und Edlen der „Contour“. Aber entscheidend ist das, was man nicht sieht: Das Kind auf den Armen der Madonna „ist ein Kind über gemeine Kinder erhaben, durch ein Gesicht, aus welchem ein Strahl der Gottheit durch die Unschuld der Kindheit hervorzuleuchten scheinet“.52 Win­ckel­mann dehnt den Begriff des allegorischen Zeichens, das seiner klassizistischen Sicht der Kunst als bedeutender entspricht, fast bis zur Unkenntlichkeit aus; Moritz marginalisiert ihn, um ihn dann praktisch zu verabschieden. Moritz widerspricht, indem er anknüpft. Bei beiden Autoren aber ist zu sehen: Klassizismus ist in diesen Jahren alles andere als ein Reservoir festgelegter Formeln und traditionsverhafteter Selbstverständlichkeiten. Klassizismus ist vielmehr ein Kessel brodelnder, auf Neuausrichtung drängender Begrifflichkeiten. Moritz ist dabei der Widerpart und Testamentsvollstrecker Win­ckel­manns zugleich. III. Mit der Erosion verbindlicher Bedeutungsbestände entsteht eine Art Vakuum: Zeichen, die tendenziell nichts mehr zu bedeuten haben, sondern nur noch sie selbst sind, sind von der Konvention her gesehen leer. Aber diese Leerstellen sind auch offen für neue ästhetische Konzepte. In genau diese hermeneutischsemiotische Ungewißheit platzen nun die damals sensationellen Wieder- und Neuentdeckungen der antiken Ornamentik. 52 Ebd.,

35.

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Helmut Pfotenhauer

Der deutsche Frühklassizismus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist zu einem beträchtlichen Teil Ornamentkritik.53 Gegen das Rokoko-Ornament, das Muschel- und Grottenwerk der sogenannten Rocaille, werden die Prinzipien der Einfalt, der Naturnähe, der Ruhe und der gemäßigten Bewegung ins Feld geführt. Man beruft sich in dieser Frage des guten Geschmacks auf Vitruv als antike Autorität. Dieser hatte in De architectura libri decem gegen den Überfluß der Verzierungen in der gemalten Baudekoration polemisiert. Er führt dagegen die Kriterien der Naturwahrheit, der Wahrscheinlichkeit und der Funktionsgerechtigkeit ins Feld. Vitruv ist gegen Lampenständer, welche kleine Tempel stützen müssen und gegen Pflanzenstengel, aus denen Mischwesen, halb Mensch, halb Tier, hervorsprießen. In Deutschland folgt ihm etwa der Dresdner Architekt und Architekturtheoretiker Friedrich August Grubsacius.54 Er wettert gegen den „goût baroque“, das „Grillen- und Muschelwerk“ im französischen Geschmack, die Bauverzierungen, die bloße Hirngespinste seien. Willkürliche Hervorbringungen der Einbildungskraft verletzen das Gebot der Einfachheit und das Prinzip der Ökonomie der Natur. Das in etwa ist der kaum bestrittene Diskussionsstand um die Jahrhundertmitte. Da dringen nun aus Italien beunruhigende Nachrichten an die Ohren der Kunstfreunde in den anderen Ländern Europas. Bei Resina nahe Neapel hatte man bereits 1707 anläßlich von Brunnenausschachtungen einige Statuen entdeckt. 1735 ging der Fundort zusammen mit anderen in der Umgebung von Neapel liegenden in den Besitz Karls III. von Bourbon über. Er ließ 1738 mit umfangreichen Grabungen beginnen, zunächst in Herculaeum, dann, ab 1748 in Pompeji und ab 1749 in Stabiae. Die Funde kamen ab 1740 in das eigens dafür eingerichtete Museum in Portici. Nicht zuletzt antike Malerei kam da ans Licht wie man sie in dieser Fülle und Frische vorher nicht gekannt hatte. Zwar wußte man in Rom seit dem 15. Jahrhundert von den sogenannten Titus-Termen und deren Wanddekorationen. Raffael und Giovanni da Udine hatten in ihren Grotesken der Vatikanische Logen und der Villa Madama daran angeknüpft.55 Aber dennoch war diese antike und in der Renaissance wiederbelebte Orna53 Vgl. zum Folgenden Helmut Pfotenhauer Klassizismus und Ornament. Die italienischen Verzierungen in der deutschen Kunstdiskussion des 18. Jahrhunderts, in: Frank-Rutger Hausmann u. a. (Hg.), „Italien in Germanien“ Deutsche Italien-Rezeption von 1750–1850, Tübingen 1996, 37 ff.; ders., Klassizismus als Anfang der Moderne? Überlegungen zu Karl Philipp Moritz und seiner Ornamenttheorie, in: Victoria von Fleming, Sebastian Schütze (Hg.), Ars naturam adiuvans. Festschrift für Matthias Winner, Mainz 1996, 583 ff., sowie den Kommentar zu Moritz: Vorbegriffe einer Theorie der Ornamente, in: Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 762 ff. 54 Kurze Untersuchung des Ursprungs der Verzierungen, der Veränderung und des Wachs­ thums derselben, bis zu ihrem itzigen Verfalle, in: Das neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit Leipzig 1759, 22 ff. 55 Vgl. das Kupferstichwerk von G. Volpato und G. Ottaviani: Loggie di Rafaele nel Vaticano, Rom 1772–1777.



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mentik halb in Vergessenheit geraten. Umso größer daher das Interesse für die neuen Funde. Es wurde eine herkulanische Akademie gegründet. Sie gab das exklusive neunbändige Kupferstichwerk der Pitture antiche d’Ercolano heraus.56 So breitete sich die Kenntnis der herculanischen und pompejianischen Wand­ male­reien schnell über ganz Europa aus. Die figürlichen Darstellungen, aber vor allem auch die Arabesken und Grotesken, wurden zur Mode und unzählige Male nachgeahmt. Auch Win­ckel­mann erliegt dem Reiz der neu entdeckten Malereien der Alten. In seiner Dresdner Frühschrift von 1755, den Gedancken über die Nachahmung, äußert er sich noch, fern aller Anschauung, mißbilligend. Allenfalls in Zeichnung und Ausdruck sei die Malerei der Alten auf der Höhe, die dieser Kunst möglich ist. In „Perspectiv, Composition und Colorit“ seien ihnen die Neueren überlegen.57 Selbst was Zeichnung und Ausdruck anlange, seien die Malereien an den Wänden des Herculanischen Theaters aber ein schlechtes Beispiel. Es seien „Mahlereyen von der Hand sehr mittelmäßiger Meister“. Man erkennt den charakteristischen Vorbehalt des eingefleischten Klassizisten: Da, wo diese Kunst Menschen, Helden und Götter darstellt, also die höchsten, die erhabenen Gegenstände, sei sie technisch schwach; von den Verzierungen der Alten ist noch gar nicht die Rede. Sie würden den Geboten der Einfachheit und Funktionalität widersprechen und in der Gegenstandshierarchie ohnehin nur ganz unten anzusiedeln sein. Win­ckel­mann kennt nur die zeitgenössischen Moden in Deutschland, „Unsere Schnirkel und das allerliebste Muschelwerck“.58 Das sei nicht besser als Vitruvs Leuchter, welche Schlösser und Paläste tragen sollen – unnützes Zeug und belanglos, da sie nichts bedeuten sollen. 1756 kommt Win­ckel­mann nach Rom; 1762 besucht er erstmals die Grabungsstätten bei Neapel. Sein Sendschreiben von den Herculanischen Ent­deckungen59 gibt darüber Auskunft. „Die allerschönsten [Malereien, H. P.] sind die Figuren der Tänzerinnen und der Centauren“, heißt es da, „welche von einem großen Meister Zeugniß geben: denn sie sind flüchtig wie ein Gedanke, und schön wie von der Hand der Gratien ausgeführet“.60 (Abb. 4 a, b, S. 70) Auch ein 56 Neapel 1757–1792; nachgedruckt in einer deutschen Ausgabe, hg. von G. Chr. Kilian: Abbildungen der Gemälde und Altertümer, welche seit 1738, sowohl in der verschütteten Stadt Herkulanum, als auch in den umliegenden Gegenden an das Licht gebracht worden, nebst ihrer Erklärung von Christoph Gottlieb von Murr, 8 Bde, 2. verb. Auflage 1793–1799, 1. Aufl. 1777. 57 Pfotenauer u. a. (Hg.), Frühklassizismus (wie Anm. 2), 43 f. 58 Ebd., 58. 59 An den Hochgebohrenen Herrn, Herrn Heinrich Reichsgrafen von Brühl, Dreßden 1762. Vgl. die Kritische Ausgabe der Schriften und des Nachlasses, Mainz 1966 ff. Hier: Bd. 2.1: Herkulanische Schriften I: Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen, hg. von Stephanie-Gerrit Bruer und Max Kunze, Mainz 1997, und Bd. 2.2: Herkulanische Schriften II: Nachrichten von den neuesten Herculanischen Entdeckungen, Mainz 1997. 60 An den Hochgebohrenen Herrn, Herrn Heinrich Reichsgrafen von Brühl, Dreßden 1762, 30.

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Abb. 4a

Abb. 4b

j­ un­ger Satyr, der ein Mädchen küssen will, oder ein alter Satyr mit einem Hermaphroditen haben es Win­ckel­mann angetan. „Wollüstiger kann nichts gedacht und schöner nichts gemalet seyn. Außerdem sind einige Frucht- und Blumenstücke in dieser Art Malerey unverbesserlich“. Win­ckel­mann gerät nun gerade gegenüber dem Bedeutungslosen ins Schwärmen. Der Augenschein überzeugt ihn. So ist es damals allen Besuchern der kampanischen Grabungsstätten ergangen. Win­ckel­mann schickt nach einem weiteren Besuch 1764 eine zweite Programmschrift der ersten hinterher, die Nachrichten von den neuesten Hercu­ lanischen Entdeckungen.61 Darin ist unter anderem von den „gemahlten Grotesken“ die Rede.62 Sie „sind das vollkommenste, was ich gesehen habe, nicht allein von alter, sondern auch von neuer Arbeit“. Sie seien sogar noch schöner als die „Loggie des Raphaels, sowohl von Erfindung und von Zierlichkeit, als von Ausführung“.63 Karl Philipp Moritz besucht Pompeji und Herkulaneum im Mai 1787. Er ist, wie er im zweiten Teil seiner Reisen eines Deutschen in Italien schreibt, entzückt von den ‚eingebrannten Malereien’, „so frisch und schön“ in der Farbe, als ob sie gestern erst aufgetragen worden wäre.64 Hier, bei dem Anblick dieses frischen jugendlichen Kolorits, erfülle die Idee des Altertums die Seele mit einem angenehmen Staunen. Moritz führt dann näher aus: 61 An

Hn. Heinrich Fueßli aus Zürich, Dresden 1764. Ebd., 24 f. 63 Vgl. auch die lobende Erwähnung der herculanischen Malereien in Win­ ckel­mann, Geschichte der Kunst (Krit. Ausg.) (wie Anm. 2), „Erster Theil, Viertes Capitel, fünftes Stück“, 534. 64 Moritz, Werke, Bd. 2 (wie Anm. 1), 570. 62



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Die Malerei besteht aus Arabesken, die aber durch ein reizendes Köpfchen in der Mitte, oder durch irgend eine mythologische Darstellung in einem Medaillon, immer einen schönen Vereinigungspunkt haben, wodurch die ausschweifende Phantasie gleichsam wieder zu einem Hauptgegenstande zurückgeführt wird.65

Man erkennt sofort, wie Moritzens immanenzlogische Fortentwicklung der ästhetischen Begrifflichkeit des Klassizismus – das Schöne, organisiert um einen Mittelpunkt, sich in sich selbst zur Vollkommenheit rundend – sich nunmehr bereits ohne jegliche Irritation, ohne Konflikt mit den eigenen theoretischen Prämissen, der antiken Ornamentik annehmen kann. Mit Win­ckel­mann braucht Moritz sich denn in diesem Punkt auch gar nicht mehr kritisch auseinanderzusetzen. Moritz war es denn vorbehalten, als erster eine Theorie der Ornamente zu erstellen, wenn auch lediglich in ‚Vorbegriffen’, meist Teile früherer Schriften kompilierend. Ab 1789, zurück aus Italien, wird Moritz von der preußischen Akademie der schönen Künste als Professor „der Theorie der schönen Künste und dahin gehörigen Wissenschaften der Mathematik, Perspektive und Architektur“ sowie als Mitarbeiter an der von der Akademie herausgegebenen Monatsschrift angestellt.66 Friedrich Anton Freiherr von Heinitz hatte 1786 die Reform der Akademie in Gang gebracht. Sie sollte beitragen zur „Allgemeinheit eines guten Geschmacks und uneingeschränkten Sorgfalt zu Verfeinerung aller Zweige der bürgerlichen Industrie, welche auf Kunst Beziehung haben“.67 Der vaterländische Kunstfleiß sollte veredelt werden; auf Manufakturen und Gewerbe war Einfluß zu nehmen. Neue ikonographische Verbindlichkeiten sollten bis in die Alltagskunst hinein etabliert werden. Die antike Ornamentik, die ja voraussetzungslos, ohne Wissen um höhere Gehalte verständlich und schön aufgefaßt wurde, schien dafür in besonderem Maße geeignet. Freilich war sie auch jetzt noch nicht unumstritten. Andreas Riem, der Mitherausgeber der Monatsschrift, polemisierte noch gegen die Arabeske und meinte damit immer noch das Rokoko-Ornament, dem es an Einfachheit und Erhabenheit fehle. Eine theoretische Grundsatzerklärung war also vonnöten; Moritz legte sie mit seinen Vorbegriffen zu einer Theorie der Ornamente 1793 vor. Der Abschnitt über die Arabesken beginnt mit dem Diktum des Horaz: „Malern und Dichtern war von jeher alles zu wagen erlaubt“.68 Moritz referiert die Einwände des Vitruv gegen diesen angeblich unverzeihlichen Mißbrauch der Kunst.69 Auf gewundenen Stengeln tanzen phantastische Wesen. Aus Blumen 65 Ebd.

66 Eybisch,

Anton Reiser (wie Anm. 20), 162. Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), Kommentar, 772; hier nach Andreas Riem, Über die Arabeske, in: Monatsschrift der Akademie der Künste, Bd. 1, 1788, 3. 68 Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 393. 69 Ebd., 394. 67 Vgl.

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wachsen Köpfe, die halb Mensch, halb Tieren ähnlich sind. Jedoch: „Alle diese Deklamationen der Kunstverständigen halfen aber nichts, da die Phantasie einmal zu spielen geneigt war“.70 Moritz erinnert an die Wiederentdeckung der Bäder des Titus: Es entstand ein neuer Zweig der Kunst, der durch den Zufall, daß in verschütteten unterirdischen Wohnungen oder Grotten, diese mutwilligen Spiele der Phantasie wieder aufgefunden wurden, seine Benennung des Grotesken erhielt, welche Benennung nachher zu einem allgemeinen Kunstworte wurde […].71

Moritz erinnert an die Logen des „Raphael“ im Vatikanischen Palast. Alles komme hier, „in der wunderbarsten Mischung“, zusammen:72 Tiere Masken, Laubwerk, Kameen, Vasen, Sirenen, Satyrn, Insekten etc. Dessen ungeachtet reihe sich aber doch alles zu einer gewissen Einheit. Man steige gleichsam eine Stufenleiter der Wesen hinauf. Ein schönes Labyrinth sei das, in welches sich das Auge verliere. Man sieht, wie Moritz hier noch an der klassizistischen Idea-Lehre kurz festzuhalten versucht, an der vertikalen Ausrichtung nach oben, wo der höchste Gegenstand, der vergöttlichte Mensch oder der Gott steht; um diese Bewegung nach oben dann aber in ein Labyrinth des ungeordnet Schönen zu verräumlichen. So steht denn auch in diesem Theorie-Potpourri neben dem Apollo vom Belvedere ein Abschnitt über die Säule, wobei die korinthische Säule mit ihrem Emporstreben und dem In sich selbst Zurückkrümmen des Kapitells der höchsten neoklassizistischen Ikone schlechthin, dem Apoll, gleichwertig erscheint. Dem Rahmen, der Vase sind Abschnitte gewidmet, sogar der Schnalle am Schuh. Der Rahmen73 isoliert ein Gemälde von seiner Umgebung und macht es erst dadurch zu einem in sich selbst Vollendeten; die Vase ist das Inbild des In sich Fassens und damit eine verwandte ästhetische Selbstbezüglichkeit. Selbst die Schnalle am Schuh,74 insofern sie durchbrochene Arbeit ist und die harte Eisenmasse auflockert, ist noch eine Spielart des schönen Geschmacks. Das Nützliche wird ins Ästhetische, seine bloße Funktion hinter sich Lassende gesteigert. Alltagskunst und höchste Hervorbringungen der Antike stehen so nebeneinander, alle unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten vereint. Selbstgesetzlichkeit, Autonomie rangiert vor der Idee des Höchsten, Übersinnlichen, der der Klassizismus bislang verpflichtet war. Moritz nutzt die Neuerungspotentiale Win­ckel­manns, um gleichsam mit ihm über ihn hinauszugelangen. 1790 veröffentlicht Kant seine Kritik der Urteilskraft. In ihr findet sich unter der Rubrik „Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Analytik des Schönen“ der be70 Ebd. 71 Ebd.

72 Ebd.,

395. 386. 74 Ebd., 448. 73 Ebd.,



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kannte § 16, der von den „Zeichnungen à la grecque“ spricht.75 Für Kant sind sie eine „freie Schönheit (pulchritudo vaga)“ im Gegensatz zur „bloß anhängenden Schönheit (pulchritudo adhaerans)“. Sie seien geradezu Inbegriff der Schönheit, weil sie keinen Begriff vom Gegenstand mehr voraussetzen, welcher dargestellt werden solle und der als ihr Externes, welches sie repräsentierten, ihnen übergeordnet wäre. Sie seien ohne äußeren Zweck und damit für sich bestehende schöne Gebilde. Der Klassizismus als Verehrung der Kunst der Alten und zugleich als Verabschiedung von Standards klassizistischer Kunstauffassung in ihrem eigenen Namen erhält höchste philosophische Weihen. Es ist nicht überliefert, ob Moritz davon Kenntnis hatte. Er wäre wohl auch nicht so weit gegangen wie Kant, dem es hier um Erkenntniskritik, um Kritik ästhetischer Urteilskraft, nicht um Kunst in ihrer historischen Erscheinung geht. Denn bei Moritz gibt es doch bei aller Formalisierung und Gegenstandsneutralität der Kunstauffassung immer auch noch die Schönheit des Menschen als Maßstab. Er gleicht darin eher Schiller, der 1793 in einem Brief an Körner Kants Favorisierung der arabesken Schönheit als reinster Schönheit kritisiert und jene Schönheit des Menschen als höchste Schönheit restituiert wissen wollte.76 Aber Moritz entscheidet sich in seiner Ornamentschrift nicht philosophisch, weder erkenntniskritisch noch anthropologisch. Sein Metier ist das experimentelle, versuchsweise Zusammenstellen des Verschiedenen, oft scheinbar Gegen­ sätzlichen, um tentativ und oft riskant in neue Bereiche des Ästhetischen vorzu­ stoßen. Win­ckel­mann vor allem ist ihm dabei immer wieder Katalysator gewesen. Ästhetische Theoriebildung bei Karl Philipp Moritz speist sich aus der kritischen Auseinandersetzung mit Win­ckel­mann. Somit ist die weitestgehende Theorie autonomer Kunst am Ende des 18. Jahrhunderts im Lichte der Wirkungsgeschichte Win­ckel­manns zu sehen. Dies wird hier an drei Themenkomplexen erörtert: der Frage, wie Kunstwerke beschrieben werden können und damit verbunden der Frage nach der Eigenlogik der Künste und der Übersetzbarkeit der Bilder in Sprache; der semiologischen Frage nach den der Kunst oder den Künsten angemessenen ästhetischen Zeichen; und schließlich der Frage nach der Bedeutung des scheinbar Bedeutungslosen, der Verzierungen, der Ornamente. The genesis of aesthetic theory in the works of Karl Philipp Moritz is founded on a critical dispute with Win­ckel­mann. So the most advanced theory of autonomous art at the end of the 18th century is to be seen as part of the impact of Win­ckel­mann.This here will be discussed on the basis of three topics: the question how works of art can be discribed and connected with this the question of the own logic of arts and the possibility of translation of pictures into language; the semiological question of the aesthetic 75 Immanuel

Kant, Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Wiesbaden 1957, 310. Vgl. auch Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 776. 76 Brief vom 25. Januar 1793. Vgl. Pfotenhauer, Sprengel (Hg.), Klassik und Klassizismus (wie Anm. 19), 776 f.

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signs appropriate to the arts; and finally the question of the meaning of the seemingly meaningless, the ornaments. Prof. Dr. Helmut Pfotenhauer, Leitung Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition, Universität Würzburg, Am Hubland, D-97074 Würzburg, E-Mail: helmut.pfotenhauer@mail. uni-wuerzburg.de Abbildungen Abb. 1: Apollo im Belvedere. Frühhadrianische Marmorkopie nach griechischem Original des 4. Jhds v. Chr. Ergänzungen von Montorsoli. Rom, Musei Vaticani, Cortile del Belvedere. Abb. 2: Guido Reni, La Fortuna, 1623, Öl auf Leinwand, Rom, Pinacoteca Vaticana. Abb. 3: Guido Reni, Aurora, 1612/14, Öl auf Leinwand, Rom, Casino Rospglioso Pallavicini. Abb. 4: Tänzerin. Le antichita di Ercolano esposte, Bd. 1, Napoli 1757, S. 103. Abb. 5: Tänzerinnen. Le antichita di Ercolano esposte, Bd., Napoli 1757, S. 95.

Thomas Franke Win­ckel­mann-Apologien um 1800

Win­ckel­manns Ruhm steht um 1800 auf dem Zenit. Mit Win­ckel­mann werden seit 1794 die antiken griechischen Werke als Erbe der Menschheit für die Französische Nation reklamiert und die bedeutendsten Exempla aus Rom nach Paris überführt.1 Ihre Aufstellung im Louvre erfolgte weitgehend nach der stilgeschichtlichen Ordnung2 der Geschichte der Kunst des Alterthums. Sein stilgeschichtliches Paradigma wird in den kunsthistorischen Disziplinen durch das 19. Jahrhundert hindurch und noch darüber hinaus dominieren. In Deutschland wird Win­ckel­manns Werk durch Carl Ludwig Fernows Edition Win­ckel­mann’s Werke „als klassisch“ anerkannt.3 Etwas anderes ist es jedoch mit seiner normativen ästhetischen Theorie. Der Weimarer Klassizismus um 1800 sieht sich zwar mit Win­ckel­mann nach wie vor darin einig, daß das antike griechische Schönheitsideal vorbildlich bleiben müsse, aber zum einen scheiterte Goethes Kunstpolitik der „Weimarer Preisaufgaben“ gegen historistische und romantische Kunsttendenzen,4 zum anderen hat sich die ästhetische Theorie spätestens seit Kant wesentlich gewandelt und damit auch die klassizistischen Grundlagen im engeren und weiteren Umkreis Goethes. Vor allem die „Weimarer Kunstfreunde“ Goethe, Johann Heinrich Meyer und Fernow arbeiten einerseits an einer modernen Version normativer Ästhetik, andererseits an einer Kanonisierung Win­ckel­manns als Gewährsmann eben dieses neuen Klassizismus. Das aber bedeutet, sich von Win­ckel­manns Klassizismus ästhetiktheoretisch zu differenzieren und ihn zugleich zu verteidigen. So wird die Win­ckel­mann-Apologie zu 1 Edouard

Pommier, Win­ckel­mann und die Betrachtung der Antike in Frankreich der Aufklärung und der Revolution, in: Akzidenzen, Flugblätter der Win­ckel­mann-Gesellschaft 2 (1992), 37 f. 2 Steffi Roettgen, Vom „Aggregat der Zufälligkeit“ zum „organischen Ganzen“. Kunstgeschichtliche Entwürfe zwischen Win­ckel­mann und Rumohr, in: Johann Heinrich Meyer, Kunst und Wissen im klassischen Weimar, hg. von Alexander Rosenbaum, Johannes Rößler und Harald Tausch, Göttingen 2013, 120–123. 3 Win­ckel­mann`s Werke, 8 Bde., hg. von Carl Ludwig Fernow, Heinrich Meyer und Johann Schulze, Dresden 1808–1820 (Weimarer Ausgabe), hier Bd. 1, 1808, 1. 4 Ernst Osterkamp, „Aus dem Gesichtspunkt reiner Menschlickeit“. Goethes Preisaufgaben für bildende Künste 1799–1805, in: Sabine Schulze (Hg.), Goethe und die Kunst, Ausst.-Kat., Frankfurt am Main, Weimar 1994, 320 f.

Aufklärung 27 · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISSN 0178–7128

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einem unverzichtbaren Argumentationsbestandteil solcher neoklassizistischen ästhetischen Theorien. Nach einem kurzen Abriß der wesentlichen Bestandteile der Kunstlehre Win­ckel­manns sollen diese Apologien im folgenden auf den zwei klassischen kunsttheoretischen Feldern Naturnachahmung und Ausdruck vorgestellt werden. I. Naturnachahmung: natura naturata Win­ckel­manns Interesse am Studium der Natur ist auffallend, wenn auch für seine Zeit nicht ungewöhnlich, und gut dokumentiert, seine umfangreichen Exzerpte aus den Jahren zwischen 1748 und 1755 zur Physik, Naturgeschichte und Erfahrungstheorie zeugen davon.5 Noch zu späteren Zeiten in Rom wünschte er sich „[…] in Ruhe zu genießen, und meine letzten Betrachtungen werden von der Kunst auf die Natur gehen“.6 Oder: „Ich fange itzo an, die Physik zu studiren, und werde mir nach und nach die besten Werke anschaffen […]“.7 Seine Schriften sind durchzogen von naturkundlichem Wissen seiner Zeit, denn er argumentiert in erster Linie naturwissenschaftlich. Dabei handelt Win­ckel­manns Lehre von der Schönheit als dem Wesen der Kunst mit theoretischem Aufwand zunächst die Erkenntnisproblematik einer Ästhetik ab, die auf Erfahrung beruht:8 Die Erkenntnis des Wesens der Schönheit sei gar nicht möglich, „wie in den mehresten Philosophischen Betrachtungen“, weil man hier eben nicht von allgemeinen Begriffen aus deduzieren könne. Das Wesen der Schönheit liege zwar „in der vollkommenen Uebereinstimmung des Geschöpfes mit dessen Absichten, und der Theile unter sich, und mit dem Ganzen derselben“, mithin in der Vollkommenheit, welche für den menschlichen Verstand aber unerreichbar sei. In dieser Frage müsse der Mensch sich damit begnügen, aus lauter einzelnen Stücken wahrscheinliche Schlüsse zu ziehen […] so bleibet unser Begriff von der allgemeinen Schönheit unbestimmt, und bildet sich in uns durch einzelne Kenntnisse, die, wenn sie richtig sind, gesammlet und verbunden, uns die höchste Idee Menschlicher Schönheit geben, welche wir erhöhen, je mehr wir uns über die Materie erheben können (S. 149).

Das harmonische Verhältnis eines Ganzen mit seinen Teilen, bzw. die Einheit in der Mannigfaltigkeit (S. 151), eine typische klassizistische Grundformel, wird 5 Vgl.

z. B. Win­ckel­manns handschriftlichen Nachlaß in Paris, Bibliothèque national de France, fonds allemand, vol. 64. 6 Brief an Felix Weisse, Rom, 28.12.1763, in: Johann Joachim Win­ckel­mann, Briefe, hg. von Walther Rehm, Bd. 2, Berlin 1954, Nr. 619, 366. 7 Brief an Johann Michael Francke, Rom, 7.4. 1764, in: Win­ckel­mann, Briefe (wie Anm.6), Bd. 3, 1956, Nr. 652, 32. 8 Vgl. insbesondere Johann Joachim Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764, 141 f., 147–151 und 154 f. Folgende Zitate mit Seitenangaben in Klammern im Haupttext nach dieser Ausgabe.



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hier nicht etwa als valides ästhetisches Vermögen des Menschen eingeführt, sondern als schwieriges Stückwerk, das das wesentliche Ganze wahrer Schönheit gar nicht erreicht. Die „Idee menschlicher Schönheit“ ist für Win­ckel­mann nicht etwa eine idea in platonischem Sinne, vielmehr Ergebnis einer induktiven Erfahrungsarbeit durch Naturbeobachtung, steigerungsfähig in der Summe der gesammelten Erfahrungen, hinreichend, aber nicht zureichend. Ihr Ergebnis ist das vom Menschen geschaffene Ideal des Menschen: Die Natur aber und das Gebäude der schönsten Körper ist selten ohne Mängel, und hat Formen oder Teile, die sich in anderen Körpern vollkommener finden oder denken lassen, und dieser Erfahrung gemäß verfuhren diese weise Künstler […] und wie eine Biene aus vielen Blumen sammlet, so blieben die Begriffe der Schönheit nicht auf das Individuelle einzelne Schöne eingeschränkt […], sondern sie suchten das Schöne aus vielen schönen Körpern zu vereinigen (S. 154).

In der zweiten Auflage der Geschichte der Kunst des Alterthums macht Win­ ckel­mann nochmals deutlich, worauf es ihm dabei ankommt: „Diese Wahl der schönsten Theile und deren harmonisches Verhältniß in einer Figur brachte die idealische Schönheit hervor, welche also kein metaphysischer Begriff ist“.9 Von hier aus läßt sich Win­ckel­manns erhabene Metaphorik auf den ihr zugrundeliegenden bescheidenen empiristischen Anspruch zurückführen: Die höchste Schönheit ist in Gott, und der Begriff der Menschlichen Schönheit wird vollkommen, je gemäßer und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten Wesen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der Einheit und der Untheilbarkeit von der Materie unterscheidet. Dieser Begriff der Schönheit ist wie ein aus der Materie durchs Feuer gezogener Geist, welcher sich suchet ein Geschöpf zu zeugen nach dem Ebenbilde der in dem Verstande der Gottheit entworfenen ersten vernünftigen Creatur (S. 149).

Die höchste Schönheit der menschlichen Gestalt ist anzustreben und der menschliche Begriff davon ist eben das Sammeln von Erfahrungen vor der menschlichen Naturgestalt in einem Begriff. Win­ckel­manns prometheische Zeugung des Ebenbildes Gottes gleich dem Schöpfergott bleibt eben doch auf die bloße menschliche Erfahrungserkenntnis verwiesen, vieles in einem zu begreifen, ein Vermögen, welches das Absolute niemals erreichen kann. Nach Win­ckel­mann ist also das menschliche Erkenntnisvermögen des Begriffs der menschlichen Schönheit gänzlich geschieden von einer Teilhabe an Göttlichem, dies ist festzuhalten. Win­ckel­manns heteronome Ästhetik des Ideals bleibt somit unbedingt auf die Erfahrung der gegebenen Natur (natura naturata) angewiesen. Diese empirische Idee als Grundlage von Win­ckel­manns Ideal-Lehre findet sich bereits in seiner Erstlingsschrift: „Die Kenner und Nachahmer der Griechischen 9 Johann

267.

Joachim Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst des Alterthums, 2. Aufl., Wien 1776,

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Wercke finden in ihren Meister-Stücken nicht allein die schönste Natur, sondern noch mehr als Natur; das ist, gewisse Idealische Schönheiten derselben […]“.10 Diese häufigen Gelegenheiten zur Beobachtung der Natur veranlasseten die Griechischen Künstler noch weiter zu gehen: sie fiengen an, sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten so wohl einzelner Theile als gantzer Verhältnisse der Cörper zu bilden, die sich über die Natur selbst erheben solten; ihr Urbild war eine bloß im Verstande entworfene geistige Natur.11

Win­ckel­manns Ästhetik beruht somit auf einem empirisch gewonnenen Urbilde im menschlichen Verstandesbegriff und nicht etwa auf metaphysische Ein­sichten. Auch Win­ ckel­ manns ästhetischer Zeugungsbegriff des prometheischen Künstlers bestätigt das. Der Begriff der Einheit (s.o.) ist das Auswahlkriterium der aus der Natur zu sammelnden und im Verstande zu vereinigenden Teile und zugleich die ästhetische Grundfähigkeit, eine neue Einheit eines Ganzen zu bilden: „Die Formen eines solchen Bildes sind einfach und ununterbrochen, und in dieser Einheit mannigfaltig, und dadurch sind sie harmonisch“.12 Die Fähigkeit zu solcher Einheitsstiftung nennt Win­ckel­mann in seiner Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen auch „innerer Sinn“, die Fähigkeit zur „Empfindung des Ganzen […] Zart muß dieser Sinn mehr, als heftig, seyn, weil das Schöne in der Harmonie der Theile bestehet […]“.13 Die Fähigkeit der Empfindung des Schönen ist nach Win­ckel­mann dem Menschen zwar von Natur aus eigen, „Es ist dieselbe, wie der poetische Geist, eine Gabe des Himmels, bildet sich aber so wenig, wie dieser von sich selbst, und würde ohne Lehre und Unterricht leer und todt bleiben“.14 Allein, ohne Unterricht ist der innere Sinn, mithin das Geschmacksvermögen, eben „leer“, er allein kann von sich aus die wahre Schönheit nicht begründen, seine Ausbildung bedarf einer Instanz von außen: „Es kann also die wahre und völlige Kenntniß des Schönen in der Kunst nicht anders, als durch Betrachtung der Urbilder selbst, und vornehmlich in Rom erlanget werden“.15 Mit „Urbilder“ aber meint Win­ckel­mann hier die griechischen Originalwerke, welche den wahren Geschmackssinn bewahren. Die griechischen Urheber selber allerdings hatten zur nötigen Korrektur ihrer eigenen bloß subjektiven inneren Empfindung keine anderen Vorbilder als die mannigfaltigen Erscheinungen der Natur vor Augen, aus denen sie sukzessiv ihre naturwahren idealen Werke zu einer harmonischen Einheit in der Mannigfaltigkeit zu bilden 10 Johann

Joachim Win­ ckel­ mann, Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, Dresden 1755, in: J. J. W., Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. von Walther Rehm, Berlin 1968, 30. 11 Ebd., 34. 12 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 150. 13 Johann Joachim Win­ckel­mann, Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen (1759), in: Win­ckel­mann, Kleine Schriften (wie Anm. 10), 219. 14 Ebd., 213. 15 Ebd., 222.



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verstanden. Die Empirie ist hier die entscheidende Instanz zur Bildung wahrer Kunst, keineswegs eingeborene innere Urbilder im Sinne von Platons Ideen. Win­ckel­mann Einheitsbegriff des inneren Sinns als sinnliches Bildungsvermögen bedarf des Zusammenwirkens mit der Naturbeobachtung. An keiner Stelle seines Gesamtwerkes führt Win­ckel­mann etwa metaphysische Alternativen auf. Freilich bleibt die Frage, warum die Moderne die Empire der antiken Künstler ihrer eigenen vorziehen sollte. Hier setzt Win­ckel­manns aufwendig dargelegte Theorie des Vorzugs der Natur der Griechen an: Bereits in den Gedancken … beschreibt er umständlich die klimatischen und genetischen Vorzüge und ihre Auswirkungen auf den menschlichen Habitus der antiken griechischen Nation, deren Körperkultur ihre natürlichen physischen Vorzüge zu noch idealeren Modellfiguren weiter ausbildete, welche die Künstler unbehindert beobachten konnten.16 Es ist die besondere Naturqualität im antiken Griechenland, welche in Win­ckel­manns Kunsttheorie der empirischen Gewinnung des Ideals ihren von der Moderne uneinholbaren Vorsprung generierte. Diesem Argumentationsgang räumt Win­ckel­mann im vierten Kapitel der Geschichte der Kunst des Alterthums noch einen besonderen Stellenwert in seiner systematischen Abhandlung von dem Wesentlichen der Kunst ein: Leichter als der positive Begriff des Schönen, dessen Problematik er ja ausführlich beschreibt (s.o.), sei der negative, welcher ausschließt, was nicht schön ist. Um einen denkbaren empirischen Schönheitsrelativismus der diversen menschlichen Rassen zu widerlegen, verbindet er einschlägige naturwissenschaftliche Klimazonentheorien der Zeit mit seinem ästhetischen Kriterium der harmonischen Einheit:17 Regelmäßiger aber bildet die Natur, je näher sie nach und nach wie zu ihrem Mittelpunct gehet, unter einem gemäßigten Himmel, wie im ersten Capitel angezeiget worden. Folglich sind unsere und der Griechen Begriffe von der Schönheit, welche von der regelmäßigsten Bildung genommen sind, richtiger, als welche sich Völker bilden können, die […] von dem Ebenbild ihres Schöpfers halb verstellet sind (S. 147).

Zusammenfassend läßt sich also konstatieren, daß Win­ckel­manns empiristische Schönheitslehre ihren Einheitsbegriff und damit auch den Begriff des Ideals konsequent auf die Erfahrung der Natur bezieht. In Folge davon ist die natura naturata unverzichtbarer Ausgangspunkt seiner heteronomen Ästhetik.

16 Win­ ckel­mann,

Gedancken (wie Anm. 10), 33 f.; Johann Joachim Win­ckel­mann, Erläuterung der Gedanken Von der Nachahmumg der griechischen Werke in der Malery und Bildhauerkunst (1756), in: Win­ckel­mann, Kleine Schriften (wie Anm. 10), 99–105. 17 Thomas Franke, Ideale Natur aus kontingenter Erfahrung. Johann Joachim Win­ckel­manns normative Kunstlehre und die empirische Naturwissenschaft, Würzburg 2006, 110–116.

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II. Naturnachahmung: natura naturans Nach dem Desaster der „Weimarer Preisaufgaben“ und der wachsenden Isolierung der Weimarer Kunstfreunde galt es nun, die normativen ästhetischen Grundbegriffe des Weimarer Klassizismus zu verteidigen. Hierzu gab Goethe in Zusammenarbeit mit den Kunstfreunden die kunsthistorisch wie ästhetiktheoretisch argumentierende Win­ckel­mann-Biographie Winkelmann und sein Jahrhundert (1805) heraus. In der neueren Forschung ist längst aufgezeigt worden, daß der dort von Meyer und Fernow abgehandelte kunsthistorische Abschnitt mit seiner historischen Begründung einer grundlegenden Defizienz der modernen Kunst im allgemeinen jeden optimistischen Nachahmungsklassizismus Win­ckel­mannscher Provenienz widerlegt.18 Außerdem war um 1800 bekanntlich die heteronome Ästhetik überhaupt, zumal Win­ckel­manns Kunsttheorie des Ideals, durch Kants transzendentale Ästhetik abgelöst geworden. Überdies ist an den multiperspektivischen Bestrebungen der einzelnen Beiträge in Goethes Win­ckel­mann-Buch sein mehr provisorisches denn geschlossenes Ganzes herausgestellt worden.19 Andererseits jedoch insistiert Goethe bereits in seiner Vorrede auf die „wohlerprobten Grundsätze“ der Weimarer Kunstfreunde.20 Hier soll es insbesondere um solche ästhetischen Grundsätze Goethes gehen, die er im ersten Teil der „Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns“ seines Win­ckel­mann-Buches selber beiträgt. Bezeichnender Weise bindet Goethe seine klassizistischen Überzeugungen in der „Skizze“ so an die Beschreibung des Lebens und Wirkens Win­ckel­manns, als ob dieser sie teilte. Im Abschnitt „Philosophie“ räumt Goethe nachdrücklich ein, daß eine Philosophie, welche von ihren hohen allgemeinen Begriffen auch der Übergang zu den besonderen ästhetischen Phänomenen gelänge, noch immer ein Desiderat sei. Eines sei hier zu bemerken, so Goethe, „[…] daß kein Gelehrter ungestraft jene große philosophische Bewegung, die durch Kant begonnen, von sich abgewiesen, sich ihr widersetzt, sie verachtet habe […]“ (S. 202). Win­ckel­mann allerdings, der schon zu seiner Zeit die Mängel der Philosophie, konkret zu werden, beklagt habe, sei es als echtem Altertumsforscher gelungen, sich bloß auf sein eigenes Fach zu beschränken und innerhalb der Grenzen 18 Johannes Grave, Win­ckel­manns „schlecht abgefundene Erben“. Zur Spannung zwischen Kunsttheorie und Kunstgeschichte bei Goethe, Meyer und Fernow, in: J. G., Hubert Locher, Reinhard Wegener (Hg.), Der Körper der Kunst. Konstruktionen der Totalität im Kunstdiskurs um 1800, Göttingen 2007, 38–46. 19 Grave, Win­ckel­mann (wie Anm. 19), 34–37. 20 Johann Wolfgang Goethe, Winkelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen. Herausgegeben von Goethe, in: J. W. G., Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. I: Sämtliche Werke, Bd. 19: Ästhetische Schriften II, 1806–1815, hg. von Friedmar Apel, Frankfurt am Main 1998, 12. Folgende Zitate mit Seitenangaben in Klammern im Haupttext nach dieser Ausgabe.



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des Geschmacks seine großen Kenntnisse zu gewinnen. Goethes Behauptung, Win­ckel­mann habe eben gar keine Philosophie gebraucht, tilgt dessen beträchtliche Anstrengungen, eine empiristische Kunstlehre gegen eine metaphysische ins Feld zu führen, aus. Dementsprechend bezeichnet Goethe schon zuvor im Abschnitt „Gewahrwerden griechischer Kunst“ Win­ckel­manns Erstlingsschrift Gedancken […] als „barock und wunderlich“, „daß man ihnen wohl vergebens daraus einen Sinn abzugewinnen suchen möchte […]“ (S. 188). Vielmehr überschreibt Goethe Win­ckel­manns umfangreiche Naturnachahmungslehre vom Ideal (natura naturata) mit einer Ästhetik des Bildungsprozesses (natura naturans), die er in Gestalt seiner Lebensbeschreibung als gelungene Selbstbildung einleitet. Goethe präsentiert Win­ckel­mann von Beginn an als Exemplum der ingeniösen Befähigung, ein „Ganzes“ hervorzubringen, „eine eigene Welt zu erschaffen“, und so in die Welt zu wirken (S. 178 f.). Dabei rückt er Win­ckel­mann in die Nähe zur antiken Natur der Griechen, in ihrem „harmonischen Behagen“ innerhalb „der lieblichen Grenzen der schönen Welt“, wo die Anschaung noch nicht „zerstückelt“ ist wie in der grenzen- und gestaltlos gewordenen spekulativen Moderne. Aus seiner dergestalt poietisch begreifenden antikeähnlichen Natur heraus sei Win­ckel­mann zeit seines Lebens dem Antikenstudium treu geblieben und habe sich stufenweise weitergebildet bis hin zur Kolumbus-­Entdeckung der Gesetzmäßigkeit der antiken Kunstgeschichte. Es ist die gestaltende Produktivität, der „Bildungstrieb“,21 welchen Goethe hier zum Schlüsselbegriff Win­ckel­manns erhebt. Von hier aus auch konzipiert Goethe seinen zentralen Abschnitt „Schönheit“, in welchem er Win­ckel­manns Ästhetik im Lichte seiner eigenen klassizistischen Überzeugungen fortschreibt. Auf bezeichnende Weise komponiert er dabei kunsttheoretische Gedanken Win­ ckel­manns zu seinem eigenen Ideal-Begriff hinzu: „[…] das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch“, leitet er ein. „Zwar kann sie ihn nur selten hervorbringen, weil ihren Ideen gar viele Bedingungen widerstreben, und selbst ihrer Allmacht ist es unmöglich, lange im Vollkommenen zu verweilen […]“ (S. 183). Diese traditionelle klassizistische Vorstellung, daß die Natur ihre eigene ideelle Konzeption in der Materie nicht vollkommen durchsetzen könne und erst der Künstler die eigentliche wahre Natur darstelle, entspricht Win­ckel­manns Darlegung der „Idealischen Schönheit“ in der Geschichte der Kunst des Alterthums.22 Goethe fährt fort:

21 Siehe

Meyers Beitrag zu den „Skizzen“ in Goethe, Winkelmann (wie Anm. 20), 215; vgl. dazu Angelika Jacobs, Empfindliches Gleichgewicht. Zum Antike-Bild in Goethes „Winkelmann und sein Jahrhundert“, in: Goethe-Jahrbuch 123 (2006), 107; Helmut Pfotenhauer, Fernow als Kunsttheoretiker in Kontinuität und Abgrenzung, in: Michael Knoche, Harald Tausch (Hg.), Von Rom nach Weimar. Carl Ludwig Fernow, Tübingen 2000, 43. 22 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm.8).

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Dagegen tritt nun die Kunst ein, denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft, und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt […] steht es in seiner idealen Wirklichkeit vor der Welt […] und erhebt, indem es die menschliche Gestalt beseelt, den Menschen über sich selbst […] um den Menschen zum Gott zu erheben (S. 183 f.).

Bereits Win­ckel­mann läßt ja den Künstler die schönsten Teile zu einem idealen Ganzen zusammenfügen, um ein göttliches Ebenbild zu erzeugen.23 Doch während Win­ckel­mann den künstlerischen Bildungsprozeß zum Ideal allein über die Annäherung der empirisch gewonnenen Naturbegriffe für möglich hält, überschreibt Goethe diesen Weg durch eine Gleichsetzung der Naturproduktion des Menschen mit der menschlichen Produktion. Wie die Natur verfahrend wird prometheisch „abermals“ ein höchstes Geschöpf, und zwar als Kunstprodukt hervorgebracht, wodurch Win­ckel­manns umständliche naturwissenschaftliche Begrifflichkeit der naturwahren Schönheit des Ideals getilgt wird. Im Sinne von Immanuel Kants Analytik des Schönen läßt Goethe hier die Antike und die Ästhetik überhaupt bloß innerhalb der subjektiven Grenzen des menschlichen Geschmacksvermögens ein Ganzes gestalten, autonom, und nicht mehr heteronom auf die Erfahrung des Wesentlichen der Natur bezogen gedacht. Andererseits denkt Goethe hier eben auch wieder über Kant hinaus: Die künstlerisch-zweckmäßige „Schaffung gleichsam einer andern Natur“24 durch die „Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in einem Dinge“25 mittels der produktiven Einbildungskraft kann mit der organischen Produktion der Natur nur bedingt gleichgestellt werden. Nach Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft denkt lediglich die reflektierende Urteilskraft, „als ob“ die bildende Kraft der Natur in ihren organischen Produkten in sich selbst eine zweckmäßige Einheit zu einem Ganzen hervorbringen könne.26 Goethe hingegen bezieht im Abschnitt „Mengs“ das künstlerische Schaffen tatsächlich als natura-­naturansPrinzip unmittelbar auf Win­ckel­manns Kunstgeschichts-Modell, seine eigent­ liche „Kolumbus“-Tat, wie er herauszustellen sucht: Mit jenem „Gradsinn“ gleich der Antike habe Win­ckel­mann die Idee einer natürlichen Geschichte der Kunst gefasst, mithin sei mit ihm „die ganze Kunst als ein Lebendiges (ζωον) anzusehen, das einen unmerklichen Ursprung, einen langsamen Wachstum, einen glänzenden Augenblick seiner Vollendung, eine stufenfällige Abnahme, wie jedes andre organische Wesen“ vorweise (S. 192). Win­ckel­mann selbst hat 23 Ebd.,

149.

24 Immanuel

Kant, Kritik der Urteilskraft (1792), B 93, in: I. K., Werke in sechs Bänden, Bd. 5, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, 414. 25 Ebd., B 188. 26 Ebd., B XXXIII, B 290–293.



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seine eigene Metatheorie der Geschichte der Kunst denkbar schlicht gehalten. Im ersten Teil, viertes Kapitel der Geschichte der Kunst des Alterthums, „Drittes Stück. Von dem Wachsthume und dem Falle der Griechischen Kunst, in welcher vier Zeiten und vier Stile können gesetzet werden“, heißt es lapidar: Die Kunst unter den Griechen hat, wie ihre Dichtkunst, nach Scaligers Angeben, und wie Florus die römische Geschichte eintheilet, vier Hauptzeiten, und wir könnten deren fünf setzen. Denn so wie eine jede Handlung und Begebenheit fünf Theile, und gleichsam Stufen hat, den Anfang, den Fortgang, den Stand, die Abnahme und das Ende, worinn der Grund lieget von den fünf Auftritten oder Handlungen in theatralischen Stücken, eben so verhält es sich mit der Zeitfolge der Kunst.27

In seinem diesbezüglichen Abschnitt über den Beginn des Verfalls der Kunst heißt es noch: „Es mußte also die Kunst, in welche, wie in allen Wirkungen der Natur, kein fester Punct zu denken ist, da sie nicht weiter hinausgieng, zurück gehen“.28 Florus und Velleius Paterculus, den Goethe in diesem Zusammenhang auch noch aufführt, waren schon für Giorgio Vasaris Vite die traditionellen Gewährsquellen gewesen,29 ihnen gemeinsam ist der einfache Gedanke, daß der Fortgang der Geschichte mit den verschiedenen Alterstufen des menschlichen Körpers vergleichbar sei, ohne weitere Voraussetzungen anzustellen. Goethe gibt hier also Win­ckel­manns knappen Hinweisen eine entschiedene Richtung auf ein Gesamtverständnis von Kunst im Sinne des natura-naturans-Gedankens, der auch über Kants Ästhetik und Teleologie hinausgeht. Obschon Goethe bekanntlich im Abschnitt „Antikes“ die Produktion eines harmonischen Ganzen ostentativ bloß hypothetisch auf die Selbstspiegelung des ganzen Weltalls im Menschen hochrechnet,30 so kommen die Abschnitte „Schönheit“ und „Mengs“ ohne jede Ironie aus und relativieren ihren geradezu metaphysischen Gehalt keineswegs. Friedrich Schlegel schrieb am 15. Juli 1808 an seinen Bruder August Wilhelm: Suche ja Goetheʼs Buch über Win­ckel­mann zu bekommen […] [Goethe] hat sich doch ganz öffentlich zum Heidenthum bekant […] Das Buch wird viel Aufsehen machen, Schelling wird sich nun ohne Zweifel wieder zum Heidenthum bekennen, und es construiren wie es sich gehört.31 27 Win­ckel­mann,

Geschichte der Kunst, 2. Aufl. (wie Anm. 9), 451 f. Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 235. 29 Vgl. Giorgio Vasari, Le vite deʼ più eccellenti pittori, scultori e architettori […] (1568), Proemio delle vite, in: G. V., Le vite deʼ più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, 6 Bde., hg. von Rosanna Bettarini und Paola Barocchi, Firenze 1966–1988, Bd. 1, 1966, 21; Vasari, Seconda parte, proemio, in: ebd., Bd. 2, 1971, 7. Vgl. Julius Schlosser, Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte, Wien 1924, 277 f.; Giorgio Vasari, Kunsttheorie und Kunstgeschichte, hg. von Matteo Burioni und Sabine Feser, Berlin 2004, 141, Anm. 185. 30 Vgl. Angelika Jacobs, Empfindliches Gleichgewicht. Zum Antike-Bild in „Goethes Winkelmann und sein Jahrhundert“, in: Goethe-Jahrbuch 123 (2006), 110. 31 Zitiert nach der digitalen Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels […] Kri28 Win­ckel­mann,

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Heidentum meint hier in Verbindung mit Schelling natürlich Spinozismus, d. h. ein philosophisches System, in welchem die Welt nicht ein Werk Gottes ist, sondern Göttliches als Natur wirkt. Tatsächlich wird Friedrich Schelling wenig später einen zu Goethes Win­ckel­mann-Buch passenden philosophischen Überbau konstruieren, und zwar in seiner Aufsehen erregenden Rede Über das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur 32 vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaften am 11. Oktober 1807; Höhepunkt und Abschluß seiner Kunst-Philosophie, der ihm zugleich die Generalsekretärsstelle der 1808 neu gegründeten Bayerischen Kunstakademie einbrachte. Gleich Win­ckel­mann stellt Schelling sich dort die Aufgabe, das Wesen der Kunst als Verkörperung des Vollkommenen darzulegen und erklärt eben wie jener, daß die Urquelle der Kunst die Nachahmung des Wesentlichen der Natur ist.33 Schelling wirft nun das Problem auf, welcher Begriff des Wesentlichen der Natur denn überhaupt der wahre sei und erkennt in den „Theorien neuerer Zeit“ einen völlig falschen Naturbegriff. Denn es könne nicht darum gehen, durch bloße Naturnachahmung „ein völlig totes Bild“ hervorzubringen, welches die vollkommene schöne Natur niemals erreicht, da allein das „schaffende Leben“ in ihr das Vollkommene ausmache (S. 5). Schelling geht von dem geistigen tätigen „wirkenden Prinzip“ der Natur überhaupt aus (S. 11 f.). Diese positive Kraft unterwerfe „die Mannigfaltigkeit der Teile der Einheit eines Begriffs“. In der Natur unbewußt, im genialisch schaffenden Menschen teilweise reflexiv. Hierfür schwinge sich der Künstler in das Reich reiner Begriffe, der „in ihr schaffenden Idee“ auf (S. 16), den Naturgeist lebendig nachzuahmen und so selber Wahrhaftes erschaffend (S. 14). Die menschliche Teilhabe am schaffenden Naturprinzip (natura naturans) legt Schelling letztlich wieder in platonischen Begriffen dar, hinter solcher Metaphysik aber, die Schelling in seiner AkademieRede nur streift, steht allerdings sein eigenes großes transzendentales System des objektiven Idealismus: Ausgehend von Kants kritischem Idealismus, daß alle materiellen Erscheinungen nur in der menschlichen Anschauung gegeben sind, von Johann Gottlieb Fichtes idealistischer Schlußfolgerung, daß das Ich sich und das Nicht-Ich setzte, behauptete Schellings objektiver Idealismus die ursprünglichen Natur-Identität von Subjekt und Objekt, welche zunächst unbewußt nach Urbildern34 zweckmäßige Einheiten bildet und dann über organische senjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, hg. von Josef Körner, Bd. 1, Bern u. a. ²1969, 213–219. 32 Erstdruck Landshut 1807, dann in F. W. J. Schellingʼs Schriften, Erster Band, Landshut 1809, 341–396. 33 F. W. J. Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur, hg. von Lucia Sziborsky, Hamburg 1983, 3. Folgende Zitate mit Seitenangaben in Klammern im Haupttext nach dieser Ausgabe. 34 Vgl. Wolfhart Henckmann, „Etwas über das Verhältnis des Ideals zur Nachahmung der Natur in der Kunst“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), 435 f.



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Entwicklungsstufen im Menschen sich letztlich selbst reflektiert.35 Die Kunst wird bei Schelling seit seinem System des trancendentalen Idealismus (1800) zum „Organon“ solcher objektiven Identität.36 Erst das Genie überwindet durch die Gestaltung nach den Urbildern auch noch die reflektierende Spaltung von Subjekt und Objekt und offenbart ihre Identität zeitenthoben im Kunstwerk.37 An jener besagten irreführenden Hauptansicht der Naturnachahmung jedoch habe gerade auch Win­ckel­manns „herrliche Stiftung neuer Lehre und Erkenntnis“ nichts geändert, „so findet sich, daß auch mit dieser Lehre die Ansicht der Natur als bloßen Produkts, der Dinge als eines leblosen Vorhandenen fortbestand […]“ (S. 7). Schelling führt im Folgenden nun das Kunststück aus, Win­ ckel­mann einerseits als Lehrer der falschen Naturnachahmung zu kritisieren, andererseits im Namen Win­ckel­manns eine neue klassizistische Kunstlehre der natura naturans-Nachahmung zu dozieren; denn die Kunst zur Bildung objektiver Naturwahrheit zu verpflichten, ist gute klassizistische Tradition. „Wer kann sagen, daß Win­ckel­mann die höchste Schönheit nicht erkannt?“ (S. 8). Nur habe er eben in seiner Nachahmungslehre nicht darzulegen vermocht, wie man aus den geistigen Begriffen die konkreten Formen eines idealen Kunstwerks hervorbringe, Idee und Nachahmung der gegebenen Naturvorbilder fehlten da das „lebendige Mittelglied“. Was Schelling hier letztlich moniert, ist der der Win­ ckel­mannschen Lehre eigentümliche Hiatus zwischen Ideal und bloßer Empirie. „Und dennoch hat er so großes gewirkt! Er gehört durch Sinn und Geist nicht seiner Zeit, sondern entweder dem Altertum an, oder der Zeit deren Schöpfer er wurde, der gegenwärtigen“ (S. 10). Schelling bezieht sich in seiner AkademieRede immer wieder auf Goethes Win­ckel­mann-Buch, insbesondere die „Skizzen“, hier etwa auf Goethes Annäherung Win­ckel­manns an den Geist der Antike, und zugleich nimmt Schelling diesen für seine eigene klassizistische Lehre in Anspruch: Dazu verweist Schellings Win­ckel­mann-Apologie zunächst auf dessen kunst­historische Methodik als Grundlage der neuen Altertumskunde, dann aber nähert er Win­ckel­manns Kunsttheorie selbst der natura-naturansLehre an: Ihm zuerst ward der Gedanke, die Werke der Kunst nach der Weise und den Gesetzen ewiger Naturwerke zu betrachten, da vor und nach ihm alles andere Menschliche als Werk gesetzloser Willkür angesehen und demgemäß behandelt wurde (S. 10).

35 Ryscard

Pansiuk, Schellings Genieästhetik, Natur und Kunst in der transzendentalen Philosophie Schellings, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schelling-Univ. Jena, Geisteswiss. Reihe 35 (1986), 442 f. 36 Sechster Hauptabschnitt. Deduktion eines Allgemeinen Organons der Philosophie, §2 (2). 37 Klaus Düsing, Schellings Genieästhetik, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hg.), Philosophie und Poesie, Bd. 1, Stuttgart-Bad Canstatt 1989, 195 f., 199 f., 209 f.; Schelling, Verhältnis (wie Anm. 33), Einleitung, XXII.

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Schelling greift hier Goethes Win­ckel­mann-Interpretation von der lebendigorganischen Kunstgeschichte wieder auf und richtet Win­ckel­mann entsprechend auf seinen eigenen Klassizismus aus: Win­ckel­manns „Sehnsucht […] nach innigerer Erfahrung der Natur“ habe ihn schließlich die diesbezüglichen eigenen Mängel vorempfinden lassen. „Er selbst äußert in den letzten Jahren […] seine letzten Betrachtungen würden von der Kunst auf die Natur gehen […]“ (S. 11), wobei sich Schelling auf jenen Brief Win­ckel­manns an Felix Weisse beruft.38 Win­ckel­manns empiristische Kunstlehre des Ideals wurde also von der Meta­ physik in Gestalt des deutschen Idealismus wieder eingeholt und zu einem neuen Klassizismus umgebildet, der eben im Namen Win­ckel­manns sprach. Goethes Reaktion auf die Rede, die Schelling ihm am 17. Oktober mit der Bitte um eine Rezension übersandt hatte, war außerordentlich günstig. In einem Brief an Friedrich Jacobi vom 7. März 1808 schreibt er: Inwiefern ich von Schellings Rede, ihrer Anlage und Form nach, differenziere, weiß ich selbst nicht recht. Der Inhalt ist im Ganzen mit dem übereinstimmend, was die W. K. F., welche freilich keine Elohims sind, für wahr halten […].39

Goethe verfaßte die gewünschte Rezension,40 die jedoch in der Redaktion der Zeitung liegen blieb, wofür Goethe selbst gegenüber Eichstädt Verständnis äußerte,41 waren doch Rücksichten zu nehmen auf mögliche öffentliche Empörungen über den offensichtlichen Spinozismus Schellings. Anstelle von Goethes Rezension, die verloren ging,42 erschien erst 1813 eine Sammelrezension der „Weimarer Kunstfreunde“ mit einer unverfänglichen, summarischen Besprechung der Schellingschen Rede in den „Ergänzungsblättern“ der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung, die wohl Heinrich Meyer verfaßte.43 Heinrich Meyer ergriff jedoch schon 1809 in seinem Kommentar zu Win­ ckel­manns Geschichte der Kunst des Alterthums im Rahmen der mittlerweile von ihm herausgegebenen Edition Win­ckel­mannʼs Werke44 die Gelegenheit, 38 Siehe

oben Anm. 6. Sämtliche Werke (wie Anm. 20), Abt. II: Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 33: Napoleonische Zeit, Teil I: Von Schillers Tod bis 1811, hg. von Rose Unterberger, Frankfurt am Main 1993, Nr. 220, 279. 40 In einem Brief an den Redakteur der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung Heinrich Eichstädt vom 17.10. 1807 kündigt er die Rezension an: „Da man nicht Gutes genug davon sagen kann“; Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, Abt. IV, Bd. 19, Weimar 1895, Nr. 5441, 442. 41 An Eichstädt, 25.11.1809; vgl. Goethe, Briefe (wie Anm. 39), Nr. 427B, 515. 42 Vgl. den Stellenkommentar in Goethe, Briefe (wie Anm. 39), 914, Anm. zu 248, 23 f. – Zu Goethes Parteinahme für Schelling im Spinozismusstreit 1812 mit Jacobi vgl. John Erpenbeck, „Werden und Sein zugleich“, Goethe, Schelling, Jacobi und die Selbstorganisation in wissenschaftlicher Perspektive, in: Goethe-Jahrbuch 111 (1994), 196–198. Zum fortgesetzten Dialog zwischen Goethe und Schelling nach 1800 vgl. Jeremy Adler, Schellings Philosophie und Goethes weltanschauliche Lyrik, in: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), 157–163. 43 Vgl. Stellenkommentar in Goethe, Briefe (wie Anm. 39). 44 Win­ckel­mannʼs Werke (wie Anm. 3), Bd. 3: Win­ckel­mannʼs Geschichte der Kunst des 39 Goethe,



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Schellings Rede über Win­ckel­mann herauszuheben: „Jeder Verehrer Win­ckel­ manns muß diese Rede, in welcher Seite 348 seq. Win­ckel­manns Verdienst um die Kunst auf die würdigste Weise gedacht werden, theuer und werth seyn“.45 Damit bezieht sich Meyer ausdrücklich auf Schellings Win­ckel­mann-Apologie im Sinne der natura-naturans-Theorie. In dieser Hinsicht nimmt Meyer denn auch selber eine einschneidende Win­ckel­mann-Korrektur vor, wenn er in im 10. Buch, 1. Kap., § 7 der von ihm edierten Kunstgeschichte Win­ckel­manns den Originaltext verbessert, was er in seinen Anmerkungen genau festhält: Wir haben bedenken getragen, die erste Stelle, welche eben so unverständlich als unerfreulich ist, wieder in den Text aufzunehmen […] Die zweite Stelle leidet an ähnlichen Gebrechen wie die erste, und wurde von uns […] gleichfalls in die Anmerkungen verwiesen.46

Der von Meyer herausgezogene und in die Fußnoten verbannte Urtext der Geschichte der Kunst des Alterthums handelt von dem Künstler Lysippus, dem letzten Meister auf dem Höhepunkt der antiken griechischen Kunstgeschichte, mit dem sie ihre Vollkommenheit erreicht, als nämlich Lysippus die „Natur selbst“ nachahmt: […] daß die Kunst ein richtigerer Führer, als die Natur sey, kann auf einer Seite als richtig, auf der anderen als falsch betrachtet werden. Nichts entfernt mehr von der Natur als ein Lehrgebäude […] Dieser Künstler [Lysippus] suchte die Natur selbst nachzuahmen, und folgte seinen Vorgängern nur in so weit sie dieselbe erreichet […].47

Der von Meyer getilgte Zusatz Win­ckel­manns in der zweiten Auflage lautet: [Lysippus] verfuhr, so wie zu unsern Zeiten in der Philosophie und Medicin geschehen ist; er fieng da an, wo die Kunst angefangen hatte. In der Philosophie gehet man itzo auf Erfahrungen und man schließet nicht weiter als das Auge siehet und der Zirkel schließet; da fiengen die ersten Menschen an.48

Win­ckel­mann, ein Mann der Aufklärung, insistierte auf primärer Erfahrungserkenntnis. Seine Erkenntnistheorie des naturwahren Schönheitsideals sieht einen induktiven Annäherungsprozeß an das Wesen der Natur vor, der in der antiken griechischen Kunst über stilgeschichtliche Entwicklungsstufen jahrhundertelang verfolgt wurde. Win­ckel­mann beschreibt solche Annäherung stilgeschichtlich als Verflüssigung der jeweils tradierten und dann durch Naturbeobachtung weiterentwickelten idealisierenden Kunstformen bis hin zu Lysippus, dem reine, Alterthums, 1. Band, hg. von Heinrich Meyer und Johannes Schulze, Dresden 1809, LIX f., Anm. 99. 45 Ebd., LX; Meyer bezieht sich auf den Abdruck in Schellingʼs Schriften (wie Anm. 30). 46 Win­ckel­mannʼs Werke, (wie Anm. 3), Geschichte der Kunst des Alterthums, 4. Band, 1. Theil hg. von Heinrich Meyer und Johannes Schulze, Dresden 1815, 192, Anm. 182. 47 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 344. 48 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst, 2. Aufl. (wie Anm. 9), 693 f.

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mithin wellenförmige Naturformen gelangen.49 Eine empiristische Ästhetik der Natur nachahmenden Kunst bis hin zum Ideal war dagegen in der Epoche der klassizistischen Autonomieästhetik, zumal in ihrer idealistischen Ausprägung, sinnlos geworden. III. Ausdruck: „eine edle Einfalt, und eine stille Grösse“ In der Kunsttheorie im Umkreis des Weimarer Klassizismus wurden nicht allein erhebliche Anstrengungen unternommen, um Win­ckel­manns Lehre von der idealen Schönheit den neuen philosophischen Erkenntnissen anzugleichen, sondern auch seine Ausdruckslehre war in Hinblick auf den Wandel ästhetischer wie archäologischer Argumentationen und Auffassungen ausgleichend auszu­ legen. Gerade Win­ckel­manns Prinzip der Ausdrucksmäßigung war unter erheblichen Druck geraten, spätestens seitdem Aloys Hirt 1797 seinen viel beachteten Angriff gegen das Diktum von der ‚edlen Einfalt, stillen Größe‘ 50 in den Aufsätzen Laokoon51 und Versuch über das Kunstschöne52 publiziert hatte. Damit kam er nicht zuletzt auch dem seit dem späten achtzehnten Jahrhundert stark angewachsenen Interesse an gewaltsamen Darstellungen in der bildenden Kunst entgegen, welchem vor allem die französische theatralische Malerei der Davidschen Schule entsprach, die auch von den Weimarer Kunstfreunden in Hinblick auf die Weimarer Kunstausstellung ernst genommen wurde.53 Hirt suchte mit einem ganzen Katalog von archäologischen Befunden darzulegen, daß Win­ckel­ manns Dezenzgebot angesichts zahlreicher höchst grausamer Themenstellungen in den griechischen Bildwerken entschieden korrigiert werden müsse. Vielmehr nämlich sei das Hauptprinzip der antiken Werke und folglich der Kunst überhaupt das „Karakteristische“, worunter Hirt die das jeweilige Kunstthema adäquat realisierende Darstellung begriff, ohne jede mildernde Rücksichtnahme im Ausdruck und Pathos, sofern es nur inhaltlich motiviert war.54 So seufze Laokoon nicht etwa, wie Win­ckel­mann in seiner berühmten paradigmatischen Beschreibung der antiken Statuengruppe behauptet hatte, sondern habe in der höchsten Anstrengung verzweiflungsvollsten Ringens schlicht ausgeschrien.55

49

Vgl. Win­ckel ­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 224, 228. zu dieser Thematik Martin Dönike, Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus 1796–1806, Berlin, New York 2005, hier: 46. 51 [Aloys Ludwig Hirt], Laokoon, in: Die Horen, 12 (1797), 10. Stück, 1–26. 52 [Aloys Ludwig Hirt], Versuch über das Kunstschöne, in: Die Horen 11 (1797), 7. Stück, 1–37. 53 Vgl. dazu Dönike, Pathos (wie Anm. 50), 265–271. 54 Vgl. z. B. Hirt, Laokoon (wie Anm. 51), 23; Hirt, Kunstschöne (wie Anm. 52), 28 f., 34 f. 55 Hirt, Laokoon (wie Anm. 50), 8 f. Hirt nimmt stets allein Bezug auf Win­ckel­manns Lao50 Grundlegend



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Nun erweist sich allerdings Hirts strikte Entgegensetzung von Win­ckel­manns Ausdrucksdoktrin und dem eigenen allgemeinen Kunstprinzip des wahrhaften, charakteristischen Ausdrucks als polemische Zuspitzung, die Win­ckel­manns weitaus differenziertere Ausdrucksästhetik in den späteren römischen Jahren ignoriert. Während Win­ckel­mann in seiner Erstlingsschrift Gedancken (1755) das Vorbild der edlen Einfalt, Laokoons gemäßigtes Seufzen, noch stoizistisch motiviert, leitet er das Ausdrucksmäßigungs-Gebot in seiner Hauptschrift Geschichte der Kunst des Alterthums aus dem Hauptprinzip des Schönheitsprimats her: Das Wesen der Kunst liege demnach in ihrem Endzweck der Schönheit,56 welche für den Menschen nur annäherungsweise bestimmbar in der vollkommenen Einheit der Teile zu einem Ganzen bestehe (S. 149). Da nun in seiner konsequent diskursiven Theorie der Schönheit der bloße Einheitsbegriff überhaupt ihr praktisches Kriterium nur sein kann, wird in den „Formen der Schönheit“ eines Bildwerkes gemäß der harmonischen Einheit in der Mannigfaltigkeit idealerweise von allen individuell-besonderen Merkmalen abstrahiert. Die von Win­ ckel­mann so genannte „Unbezeichnung“, eine Idealform „höchster“ bzw. „reiner Schönheit“ ist „folglich eine Gestalt, die weder dieser oder jener bestimmten Person eigen sey“ (S. 150); ein spezifischer Ausdruck findet in der höchsten Schönheit nicht (mehr) statt. Andererseits muß Win­ckel­mann einräumen, daß die menschliche Natur von lebendigen Leidenschaften geprägt ist, daher seien auch Leidenschaften im Ausdruck außerhalb reiner Schönheiten darzustellen (S. 151). Solcher „Ausdruck der Leidenschaft“ sei aber in Rücksicht auf den Vorrang der Schönheit auf einen gewissen Grad einzuschränken, die der harmonischen Einheit „der Bildung nicht nachtheilig werden soll“ (S. 168 f.). Eine genauere theoretische Bestimmung seiner negativen Ausdrucksdefinition nimmt Win­ckel­mann nicht vor, sondern verweist direkt auf das Laokoon-Exemplum (S. 169 f.). Die Kunst besteht also darin, durch den Ausdruck nicht die primäre Schönheit zu tangieren, bei den Kunstinhalten Rücksicht auf die schönen Formen des Ganzen zu nehmen und dementsprechend sieht Win­ckel­mann selbst innerhalb seiner recht vagen Grenzen der Schönheit eine flexible Spannbreite und damit auch dynamische Steigerungsmöglichkeit im Ausdruck bereits vor: So kennzeichnet er das Besondere am schönen Stil, dem Höhepunkt der antiken Kunstgeschichte, dadurch, daß dieser die Verschiedenheit des Ausdrucks bedeutend vermehre (S. 232). Das Paradigma nun für den Ausdruck des schönen Stils ist Laokoon, dessen Ausdrucksintensivität Win­ckel­manns Kunstbeschreibung nach der Autopsie in Rom im Verhältnis zur früheren Dresdner Beschreibung noch erheblich steigert: koon-Beschreibung in den Gedancken über die Nachahmung; Win­ckel ­mann, Gedancken (wie Anm. 10), 43. 56 Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm. 8), 141 f. Folgende Zitate mit Seitenangaben in Klammern im Haupttext nach dieser Ausgabe.

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Laocoon ist eine Natur im höchsten Schmerze, nach dem Bilde eines Mannes gemacht, der die bewußte Stärke des Geistes gegen denselben zu sammeln suchet; und indem sein Leiden die Muskeln aufschwellet, und die Nerven anziehet, tritt der mit Stärke bewaffnete Geist in der aufgetriebenen Stirne hervor […] Unter der Stirn ist der Streit zwischen Schmerz und Widerstand, wie in einem Punkte vereiniget […] da, wohin der größte Schmerz geleget ist, zeiget sich auch die größte Schönheit […] kein Theil ist in Ruhe (S. 348 f.).

Bereits zuvor, in der zur Illustration der Ausdruckslehre vorgetragenen ­ aokoon-Passage heißt es: „[…] und alle Theile des Körpers sind leidend und L angestrenget, wodurch der Künstler alle Triebfedern der Natur sichtbar gemachet […]“ (S. 176). Insgesamt beschreibt Win­ckel­mann hier einen hochdramatischen Kampf zwischen Schmerz und Widerstand am bewegten Widerstreit von Seele und Physis; und doch erkärt er Laokoon zum Vorbild schlechthin für den angemessenen Ausdruck nach Maßgabe der idealen Schönheit. Bereits Friedrich Schiller zitiert Win­ckel­manns Laokoon-Beschreibung komplett, um eben diesen Aspekt des Leidens der sinnlichen Natur zum Vorbild für die pathetische Darstellung des erhabenen, übersinnlichen Prinzips zu erklären:57 Je entschiedener und gewaltsamer nun der Affekt in dem Gebiet der Tierheit sich äußert, ohne doch im Gebiet der Menschheit dieselbe Macht behaupten zu können, desto mehr wird diese letztlich kenntlich […] (S. 433).

Auch Goethes eigene Laokoon-Beschreibung Ueber Laocoon (1797), im ersten Heft seiner Zeitschrift Propyläen erschienen, läßt von Beginn an keinen Zweifel über den Ausdruck von extremen Leidenschaften in der LaokoonFigur:58 „[…] daß man das Werk schön nennen müsse, wird wohl niemand bezweifeln, welcher das Maß erkennt, womit das Extrem eines physischen und geistigen Leidens hier dargestellt ist“.59 Und wenn er in Laokoon „Streben und Wirken in einem Augenblick vereinigt“ sieht (ebd.), wird deutlich, daß auch er Win­ckel­manns Laokoon-Beschreibung in der Geschichte der Kunst des Alter­ thums („Unter der Stirn ist der Streit zwischen Schmerz und Widerstand, wie in einem Punkte vereiniget“) rezipiert hat. Goethe liest mit Win­ckel­mann an der Laokoon-Gruppe das Extrem des Leidens ab und hält zugleich wie dieser an ihrer harmonischen Schönheit fest: Jedes Kunstwerk muß sich als ein solches anzeigen, und das kann es allein durch das, was wir sinnliche Schönheit oder Anmut nennen […] daß die Gruppe des Laokoons, neben allen übrigen anerkannten Verdiensten, zugleich ein Muster sei von Symetrie und Mannigfaltigkeit, von Ruhe und Bewegung […] bei dem hohen Pathos 57 Schiller

zitiert nach der 2. Aufl. von Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst (wie Anm.9), 699. Vgl. Friedrich Schiller, Über das Pathetische (1793), in: F. S., Werke und Briefe, Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt am Main 1992, 434 f. 58 Vgl. Dönike, Pathos (wie Anm. 50), 98. 59 Goethe, Sämtliche Werke (wie Anm. 20), Bd. 18: Ästhetische Schriften I, 1771–1805, 490.



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der Vorstellung eine angenehme Empfindung erregen, und den Sturm der Leiden und Leidenschaften durch Anmut und Schönheit mildern (S. 491).

Goethe vollzieht hier die ganze dynamische Spannbreite des Ausdrucks unter dem Schönheitsprinzip nach, die Win­ckel­mann bereits eröffnet hatte.60 In seinem Propyläen-Aufsatz Der Sammler und die Seinigen (1798) setzt er sich gleichfalls mit der Thematik gewaltsamer Darstellung innerhalb der Grenzen der Schönheit auseinander. So läßt er dort im fünften und sechsten Brief u. a. einen „Fremden“, „Gast“, „Charakteristiker“ genannten, unschwer mit Hirt zu identifizierende Figur auftreten und zunächst mit dem „Oheim“ eine Debatte um den Vorrang von Schönheit oder Ausdruck führen, welcher dabei auf die Propyläen-Zeitschrift verweisend seinen Standpunkt formuliert: „Der Charakter verhält sich zum Schönen wie das Skelett zum lebendigen Menschen […] er bestimmt die Gestalt, er ist aber nicht die Gestalt selbst und noch weniger bewirkt er die letzte Erscheinung die wir, als Inbegriff und Hülle eines organischen Ganzen, Schönheit nennen“.61 Die Bedeutsamkeit des charakteristischen Ausdrucks wird hier nicht geleugnet, vielmehr als notwendige Voraussetzung eines jeden Kunstwerkes angesehen, dabei aber bleibt nach wie vor die Schönheit als Inbegriff des Ganzen die übergreifende Hauptinstanz.62 Auch solches fast gleichanteiliges Zusammenwirken von Schönheit und Ausdruck unter Beachtung des Schönheitsprimats ist durchaus mit Win­ckel­manns Ästhetik vereinbar, zumal, wenn seine späteren Schriften für dieses Thema in Betracht gezogen werden, in denen er dem Ausdruck systematisch noch mehr Gewicht zumißt. Im „Trattato preliminare“ (1767) weist er allein der höchsten Schönheit, und eben nur bei Figuren von Gottheiten, eine Darstellung in „Stille und Ruhe“, im „vollkommene[n] Gleichgewicht der Empfindungen“ zu.63 Bereits ein göttliches Handeln bewirke eine graduelle Minderung der Schönheit in der Kunst. „Daher wurde der Ausdruck, mogte er auch noch so groß seyn, nichts desto weniger so zugewogen, daß die Schönheit das Uebergewicht hat […]“ (S. 97). Schon den Götterbildern also räumt Win­ckel­mann hier einen großen Spielraum ein, weit mehr jedoch in den Figuren der Helden: Der Künstler, „da er das Schönste in den schönsten Bildungen wählen muß, ist in Hinsicht der Leidenschaften auf einen gewissen Grad des Ausdrucks eingeschränkt, welcher der Schönheit nicht nachtheilig werden soll“ (ebd.). Diese Formulierung schließt ein zwingendes 60 Anders

Dönike, Pathos (wie Anm. 50), 99, der in diesem Zusammenhang den Einfluß Hirts entgegen Win­ckel­manns Ästhetik sieht. 61 Johann Wolfgang Goethe, Der Sammler und die Seinigen, in: J. W. G., Sämtliche Werke (wie Anm. 59), 702. 62 Anders Dönike, Pathos (wie Anm. 50), 214 f., 219 f., der in diesem Zusammenhang wieder von Hirts Einfluß entgegen Win­ckel­manns Ästhetik ausgeht. 63 Zitat nach der Übersetzung von Heinrich Meyer, in: Win­ckel­mann’s Werke (wie Anm. 3), Bd. 7: Trattato preliminare oder vorläufige Abhandlung von dem Werk: Monumenti antichi inediti [Rom 1767]. Aus dem Italienischen übersetzt, Dresden 1817, 96.

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Übergewicht der Schönheit aus, wobei Win­ckel­mann zur Erläuterung wiederum auf das Laokoon-Exemplum verweist. Schönheit und Ausdruck erhalten nunmehr gleichen Anteil an der idealen Kunst. Vergleichbar heißt es in einem Zusatz der zweiten Auflage der Geschichte der Kunst des Alterthums, an der Win­ckel­mann zur gleichen Zeit arbeitete: „Die Schönheit würde ohne Ausdruck unbedeutend heißen können, und diese ohne Schönheit unangenehm […]“.64 Bis zu einem gewissen Grade relativiert Win­ckel­mann folglich das von ihm selbst aufgestellte Primat der Schönheit in der antiken Kunst, und das der ‚edlen Einfalt, stillen Größe‘ ohnehin, wobei er sogar so weit zu gehen bereit ist, haareraufende, schreiende Frauenfiguren zu verteidigen: Hier [in der „Action“] ist auch zu erwegen, daß in öffentlichen Denkmalen derjenige Ausdruck der leidenden Natur nicht statt findet, welcher ausser denselben in anderen nicht öffentlichen Werken sehr anständig seyn kann. Eine Person, sonderlich weib­liches Geschlechts kan in grosser Betrübnis und Verzweifelung sich die Haare raufend vorgestellet werden […].65

IV. Ausdruck: Der organologische Begriff des Ganzen Wenn Win­ckel­mann allerdings auch die Ausdrucksspannbreite bis hin zum Pathetischen sukzessive erweiterte, erhielt er doch zumindest auf systematischer Ebene den prinzipiellen Vorrang der Schönheit, zumal der höchsten Schönheit idealer Götterbilder, aufrecht. Diese Ungleichgewichtung wurde nun in der Tat in der klassizistischen Kunsttheorie um 1800 zu einem Problem und allmählich in Richtung auf eine prinzipielle Gleichgewichtung des Ausdrucks verschoben, wobei die Schwierigkeit darin bestand, die Autorität des großen klassizistischen Lehrgebäudes Win­ckel­manns möglichst wenig in Frage zu stellen; hier setzt denn auch die Win­ckel­mann-Apologie ein. Das ist bereits bei August Wilhelm Schlegel zu beobachten, der in mehreren Beiträgen seiner Zeitschrift Athenäum zunächst noch strikt gegen Hirts Prinzip des Charakteristischen im Laokoon polemisiert hatte.66 In der „Kunstlehre“ seiner Berliner Vorlesungen 1801 bis 1802 bekennt Schlegel sich zu Schellings System des transcendentalen Idealismus, der dort endlich den Widerspruch zwischen Materie und Geist durch Aufweis ihrer ursprünglichen Einheit gelöst und in der Kunst das philosophische Organon erkannt habe, solche Einheit der Identität zur Erscheinung zu

64 Win­ckel­mann,

Geschichte der Kunst, 2. Aufl. (wie Anm. 9), 318. Joachim Win­ckel­mann, Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alter­ thums, Dresden 1767, 60; vgl. Win­ckel­mann, Trattato preliminare (wie Anm. 63), 98 f. 66 Vgl. z. B. Athenäum, zweiten Bandes zweites Stück (1799), 226, 331 f. 65 Johann



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bringen.67 Die Kunst habe also das Schöne darzustellen und mittels der „allgemeinen Schöpferkunst […] wie die Natur selbständig schaffend, organisch und organisierend, lebendige Werke [zu]bilden […]“ (S. 258). Deshalb sei im Ideal „Körper und Geist bis zur vollständigen Harmonie in einander verschmolzen“, wie in den Werken der griechischen Antike (S. 247). Bei solchen Zusammenhängen verweist Schlegel ausdrücklich auch auf Karl Philipp Moritz’ Aufsatz Ueber die bildende Nachahmung des Schönen (1788), der bereits den Grundsatz der Nachahmung als selber schaffende Organisation formuliert hatte, allerdings, wie Schlegel anmerkt, noch ohne Kenntnis jenes „großen Zusammenhangs der Natur“, den erst Schelling klarzulegen vermocht habe (S. 258 f.). In der Kunstlehre nimmt Schlegel im folgenden auch die einzelnen Kunstgattungen durch und kommt auf die gattungsspezifische Besonderheit der Plastik zu sprechen, bei welcher aufgrund ihrer geschlossen-isolierten Stellung eine gewisse Ausdrucksmäßigung zu wahren sei. Hier kann nun auch Schlegel nicht umhin, auf Win­ckel­mann einzugehen: Win­ckel­mann und Hemsterhuys haben beyde behauptet, die alten Künstler hätten den Ausdruck bey Darstellung gewaltsamer Handlungen gemäßigt, oder Momente gewählt, wo er nicht den äußersten Grad erreicht haben durfte, weil er der Schönheit Eintrag thue […] Freylich kamen auch tragische Darstellungen vor, und so läppisch waren weder die alten Künstler noch Winkelmanns Meynung von ihnen, daß sie da süßliche Freundlichkeit angebracht hätten, wo das Furchtbare erwartet ward. Es wird nur behauptet, daß sie gesucht mit jedem Charakter der Form und des Ausdrucks den Grad von Schönheit zu vereinbaren, der dabey Statt finden konnte ohne jene zu zerstören. In Ansehung des Laokoon ist dieß in Anspruch genommen worden […] (S. 290 f.).

Während Win­ckel­mann bei Heldendarstellungen allenfalls konzediert, daß der Ausdruck der Schönheit nicht nachteilig sein dürfe, legt Schellings Apologie ihn dahingehend aus, daß die Schönheit den Ausdruck nicht behindern solle. Eine gleichanteilige Übereinstimmung beider schwebt Schlegel vor und stellt so zugleich implizit Win­ckel­manns Primat der Schönheit in Frage, entsprechend seiner Auffassung von der Kunst als organische harmonische Gestalt, in welcher Körper und Geist, Inhalt und Form, Ausdruck und Schönheit sich einander entsprechen. Die Weimarer Kunstfreunde hatten zunächst noch, herausgefordert durch Hirts Polemik, im Rahmen von Win­ckel­manns eigener Relativierung des Ausdrucksmäßigungsgebotes ihr klassizistisches Verhältnis zur Gewichtung von Schönheit und Ausdruck zu klären gesucht und so das Ausdrucksprimat der Hirtschen Ästhetik des Charakteristischen abwenden können. In der Folgezeit jedoch werden tatsächlich auch sie die Waage weiter zugunsten des Ausdrucks 67 August

Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über Ästhetik I, hg. von Ernst Behler, Paderborn u. a. 1989, 248. Folgende Zitate mit Seitenangaben in Klammern im Haupttext nach dieser Ausgabe.

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verschieben. Ihre sich daraus ergebende dezidierte Kritik und zugleich Apologie Win­ckel­manns stützt sich wie bei A. W. Schlegel auf einen mittlerweile kunsttheoretisch differenzierter definierten organologischen Begriff der traditionellen klassizistischen Formel von der Einheit in der Mannigfaltigkeit. Auch Goethe dachte bereits seit der Entstehung von Moritz’ Ueber die bildende Nachahmung des Schönen in organischen Kunstbegriffen. Mit Moritz war ihm die „Bildungskraft“ des schaffenden Genies, das wie die Natur ein lebendiges Ganzes als Inbegriff aller harmonischen Verhältnisse schöpft,68 ein gewohnter Gedanke. Doch organologische ästhetische Folgerungen waren solider auf den großen philosophischen Systemen Kants und seiner idealistischen Nachfolger begründbar. Heinrich Meyers Beitrag „Entwurf einer Kunstgeschichte des Achtzehnten Jahrhunderts“ in Goethes Winkelmann und sein Jahrhundert setzt im Abschnitt „Literatur, Methoden und Meinungen von 1775 bis 1800“ die Auseinandersetzung mit Hirts Ästhetik des Charakteristischen fort: Die Anhänger dieser Lehre scheinen ihren Standpunkt um eine Stufe niedriger zu nehmen als diejenigen, welche schöne Formen für den Gipfel der Kunst halten. Denn die Schönheit schließt den Charakter keineswegs aus, sondern sie veredelt denselben […].69

Nach wie vor suchen die Weimarer Kunstfreunde das Schönheitsprimat gegenüber Hirts Charakteristik aufrecht zu erhalten, zugleich aber den charakteristischen Ausdruck in einem neuen Ansatz zu integrieren. Meyer zeichnet zunächst am Leitfaden von Win­ckel­manns Stilgeschichte den Entwicklungsweg der Kunst vom übertrieben Bedeutenden des späten älteren Stils über den hohen bis hin zum schönen Stil, dem Höhepunkt der griechischen Kunstgeschichte. Von daher kann Meyer behaupten: Charakter mit Schönheit vereint kann ohnmöglich anders als in Produkten vollendeter Kunst erscheinen, und insofern haben jene allerdings Recht, welche die Schönheit als ein Vorrecht und Zeichen des höchsten Flors der Kunst ansehen. Die aber, welche in Kunstwerken hauptsächlich auf das Charakteristische dringen, weisen den Künstler auf den rechten Weg. Denn aus dem Bedeutenden hat, wie so eben dargetan worden, das Schöne sich entwickelt; wer hingegen von der Schönheit ausgeht, wird […] schwerlich je ein charakteristisches Ganzes erzielen (S. 161).

Gerade die Ausrichtung auf das charakteristische Ganze werde den Künstler zwingen, „zweckgemäß vollendet, plastisch zu denken“ (S. 169). Meyer nennt diesen neuen Aspekt eines charakteristischen schönen Ganzen auch „Forderung der Totalität“ (S. 175), oder auch „Einklang des Ganzen“ (S. 168). Mit die68 Vgl.

Karl Philipp Moritz, Ueber die bildende Nachahmung des Schönen, in: K. P. M., Werke, Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie, hg. von Heide Hollmer und ­Albert Meier, Frankfurt am Main 1997, 969–973. 69 Goethe, Winkelmann (wie Anm. 20), 160; mit Seitenangaben in Klammern im Haupttext nach dieser Ausgabe.



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sem Modell soll der charakteristische Ausdruck nicht etwa mit der Zeit durch Schönheit ersetzt werden, sondern erhält im Verhältnis zur Schönheit in der Kunst den Rang einer komplementären Komponente. Die „Einheit des Ganzen“ bzw. „lebendige Einheit“, welche nunmehr die Kunstgestalt auszeichnen soll, müssen „aus dem Innern heraus“ entwickelt werden (S. 168 f.). Hauptzweck der Kunst soll eben nicht die schöne Form schlechthin sein, Meyer fordert statt dessen die Einheit von schöner Form und bedeutsam-schönen Gehalt. In seiner Kritik an Anton Raphael Mengsʼ angeblich ausschließlich auf Formenschönheit ausgerichteten Malerei zieht Meyer die Konsequenz: „[…] daß die schönen Formen noch nicht Hauptzweck der griechischen Kunst waren, sondern sie sich nur aus dem Geist derselben entwickelten, als notwendiges Mittel zum Ausdruck schöner Gedanken […]“ (S. 99). Meyer verfolgt ein Gestaltungsmodell der Kunst, das zum einen der Schönheit als Endzweck verpflichtet bleiben und zugleich ein Ganzes in der Einheit von thematisiertem Gehalt (Idee) und seiner Ausdrucksform sein soll. Der charakteristische Ausdruck jedenfalls erhält nun insgesamt eine bedeutende Aufwertung und innerhalb des geforderten Kunstganzen von (schönem) Inhalt und Ausdrucksform die Parität; damit ist Win­ ckel­manns Schönheitsprimat auch bei den Weimarer Kunstfreunden relativiert. Von hier aus setzt Meyers Kritik und Apologie Win­ckel­manns an, die er im zweiten Teil der „Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns“ vorträgt: Unterdessen ist es wahrscheinlich, die Neigung zu schönen Formen, wodurch, wie bereits angemerkt worden, Mengs als Künstler sich auszeichnete, habe überwiegenden Einfluß auf Winkelmannen gewonnen, und ihn vermocht, die Schönheit unbedingt als Hauptprinzip der alten Kunst aufzustellen; eine Behauptung, welche allerdings wahr ist, solange man sie auf den ganzen Begriff von der Kunst ausdehnt, und hingegen eine höchst schädliche Wirkung haben muß, sobald man sie engherzig auf die Formen allein einschränkt, wie leider noch von Manchen geschieht (S. 215).

Meyers Schönheitsbegriff, dem eine Konzeption des Ganzen von Inhalt und Form zugrunde liegt, die sich gegenseitig entsprechen kann Win­ckel­manns formal entwickelte Schönheitsdefinition aus dem Einheitsbegriff nicht mehr genügen. In Win­ckel­manns diskursiv argumentierendem kunsttheoretischem System muß letztlich jeder Inhaltsausdruck bloß dem rein formalen Einheitsprinzip der Schönheit gemäß reguliert und damit reduziert werden. Win­ckel­manns klassizistische Grundformel von der Einheit in der Mannigfaltigkeit beschreibt allein die Formgestalt der Schönheit und nicht auch das Entsprechungsverhältnis von thematisiertem Gehalt und seiner charakteristischen Darstellung im Ausdruck. Meyers Win­ckel­mann-Apologie folgt unmittelbar: Im Übrigen ist gar nicht unwahrscheinlich, Winkelmann selbst sei dieses Unterschieds sich nicht mit völliger Klarheit bewußt gewesen, weil überall, wo er in seinen Schriften von der Schönheit der Teile spricht, es das Ansehen hat, als wäre er ausschließlicherweise der Form gewogen. Wird hingegen von einem vorzüglichen Kunstwerke überhaupt gehandelt, dann erglüht nicht selten sein großer, den Alten

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verwandter Geist, und verkündet mit poetischer Ergießung die hohen innern Schönheiten, die Idee, welche der Künstler durch das Mittel edler abgewogener Formen zur Erscheinung gebracht hat (S. 215).

In seinen poetischen Kunstbeschreibungen, zu denken ist hier etwa an die

Laokoon-Beschreibung, habe Win­ckel­mann demnach durchaus das Richtige verkündet, wie nämlich der Künstler seine Idee durch adäquate Ausdrucksformen realisiert habe. Meyers Totalitätsmodell einer lebendigen Einheit des Ganzen ist das entsprechende Gegenstück zu Goethes Konzeption des idealen Ganzen als Kunstproduktion nach dem natura-naturans-Prinzip in seinem Beitrag zu den „Skizzen“; und beide argumentieren dabei im Namen Win­ckel­manns. Meyers etwas unsystematische Überlegungen dazu lehnen sich in Begrifflichkeit und Intention eng an Carl Friedrich Fernows autonomieästhetische Theorie der ingeniösen, plastischen Kunstproduktion an. Fernow hatte bereits in Goethes Win­ckel­mannBuch mit Meyer zusammengearbeitet und im Rahmen seines „Entwurfs einer Kunstgeschichte“ die „Bemerkungen eines Freundes“ beigesteuert, Meyer wiederum kündigte dort Fernows Carstens-Biographie an.70 Fernow legte seine beiden großen Künstlermonographien über den Maler Asmus Jacob Carstens und den Bildhauer Antonio Canova (1806)71 die eigene Theorie der genialen Kunstschöpfung eines organischen Ganzen in lebendiger Einheit zugrunde, welche er ausführlicher in dem gegen Aloys Hirt gerichteten Aufsatz Über das Kunstschöne darlegt.72 Auch Fernow erhebt das Schöne zum Haupzweck der Kunst und erklärt dessen Wesen anhand Kants Ästhetik in der Kritik der Urteilskraft „zuvorderst nur subjektiv aus dem menschlichen Gemüte“ (S. 293). Das Gefühl des Schönen beruhe mithin allein auf der freien Tätigkeit der Gemütskräfte der Erkenntnisvermögen,73 auch darin Kants Begriff des interesselosen Wohlgefallens folgend. Von solcher Kantschen Grundlage aus konstruiert Fernow nun das „objektive Schöne“ als „harmonischen Gegenstand“ (S. 295 f.), der eben jenes subjektiv-harmonische Gefühl im Menschen erzeuge. Wieder mit Kant erläutert er das objektive Schöne mit der „freien Übereinstimmung des Inhalts und der Form zur Einheit eines in der blossen Betrachtung wohlgefälligen Ganzen“ (S. 301). So kann denn Fernow mit Kant behaupten, nur in der Kunst werde das Schöne zum Hauptzweck und erfülle sich dort allein nach ihren Gesetzen; folglich geht er von der Kunst-Autonomie aus, die nicht 70 Goethe,

Winkelmann (wie Anm. 20), 162. Ludwig Fernow, Leben des Künstlers Asmus Jacob Carstens. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1806. Carl Ludwig Fernow, Über den Bildhauer Canova und dessen Werke, in: C. L. F., Römische Kunststudien, Bd. 1, Zürich 1806, 1–248. 72 Carl Ludwig Fernow, Über das Kunstschöne, in: C. L. F., Römische Kunststudien (wie Anm. 71), 279–450. Folgende Zitate mit Seitenangaben in Klammern im Haupttext nach dieser Ausgabe. 73 Vgl. Kant, Kritik (wie Anm. 24), § 9, B 28. 71 Carl



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mehr hauptsächlich auf die Erkenntnis der Natur gerichtet ist.74 In Hinsicht nun auf die Erfindung der Kunst bringe der Künstler „neue volkommenere Gestalten, als die Natur“ hervor (S. 318). Auf „geniale Weise“ nämlich, „die eben so unbegreiflich ist, als der Zeugungsakt der Natur“, erfindet er mittels seiner Einbildungskraft durch idealische Nachahmung der Natur „ganz und von Grund aus neu gebildet[e]“ Gestalten, einem Schöpfer gleich. In seiner eigenen Lehre vom Ideal greift Fernow Kants genieästhetische, analogische Engführung von Kunst- und Naturprodukt auf, wonach die Einbildungskraft des Genies „gleichsam“ eine andere Natur schaffe.75 Die „Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einem Dinge“ in der Kunst,76 hat aus kritischer Sicht der teleologischen Urteilskraft dergestalt mit der Natur eine Einheit der Teile zu einem Ganzen gemeinsam, daß sich Teile und Ganzes kausal wechselseitig bedingen. Allerdings unterscheiden sie sich darin, daß das Naturprodukt den Zweck in sich selber trägt, da es sich selbst erzeugt,77 weshalb Kant der „bildenden Kraft“ organischen Lebens weit mehr Vermögen zuerkennt, als mit dem Begriff eines Analogon zur Kunst ausgesagt werde.78 Fernow jedoch reichen die Kantischen Bestimmungen immerhin aus, um die idealisierende Naturnachahmung dem Zeugungsakt der Natur selbst anzugleichen. Zugleich aber legt er nachdrücklich Wert darauf, mit Kants Transzendentalphilosophie keine Metapysik zu betreiben: „Wer seinen Flug noch höher richten […] sich zu den überirdischen Sfären emporschwingen, und das Urschöne in Gott, oder im Universum aufsuchen […] will, dem wünschen wir eine glückliche Reise […]“ (S. 302). Verglichen mit Win­ckel­manns heteronomer Naturerkenntnislehre des Ideals ist Fernows Idealbegriff bereits sehr verschieden. Der ästhetiktheoretische Fokus liegt nun auf der Kunstautonomie genialer naturähnlicher Kunstproduktion, nicht mehr auf empirischer Naturerkenntnis. Fernows Ideal-Begriff beruht denn auch nicht mehr auf der angenäherten Erkenntnis des Wesens der wahren Natur, sondern versteht sich als bloßes Kunstprodukt. Allerdings bleibt Fernow mit Win­ckel­mann dabei, daß das Ideal aus der Beobachtung und Synthese vieler einzelner Individuen entstehe und daher eine Gattung, keine Individuen vorstelle79 (S. 317). Sofern nun ein schöner Gegenstand idealisiert werde, erhebe sich auch seine Schönheit. Da nun zum würdigsten Gegenstand der Kunst überhaupt, der Mensch, auch die geistigen Anlagen und Eigenschaften der menschlichen Natur gehörten, der „Karakter“, sei der allgemeinmensch­liche Gattungscharakter „in Harmonie der sämtlichen Anlagen“ angemessen zu berücksichtigen (S. 350), was 74 Vgl.

Harald Tausch, Entfernung der Antike. Carl Ludwig Fernow im Kontext der Kunsttheorie um 1800, Tübingen 2000, 61 f. 75 Vgl. Kant, Kritik (wie Anm. 24), § 49, B 193. 76 Ebd., § 48, B 188. 77 Ebd., § 64, B 291 f. 78 Ebd., B 292 f. 79 Vgl. Win­ckel­mann, Gedancken (wie Anm. 10), 37.

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von Hirts ‚individuellem Charakteristischen‘ unbedingt zu unterscheiden sei. Allerdings erhebt nun auch Fernow die „Karakteristik“ zu einem wesentlichen Bestandteil seines eigenen ästhetischen Systems: Es komme nicht allein auf die bloße schöne Form des dargestellten Gegenstandes an, das Kunstschöne sei erst dann vollständig, wenn die schöne Form mit dem Inhalt völlig harmoniere, welches nur gelinge, „wenn das Misfällige des Inhaltes umhüllt [werde], ohne den Ausdruk desselben zu schwächen, und das Gefällige desselben erhöhet ohne die Wahrheit zu verletzen“ (S. 336), worunter Fernow versteht, daß die Wahrheit der Schönheit nichts von ihrem Wesent­lichen aufopfern dürfe (S. 445). Diesen ästhetische Grundbegriff der Einheit des Ganzen nennt Fernow in seinem CanovaAufsatz auch „durchgängige Einheit, das innige Zusammenstimmen aller Theile zu einem lebendigen bedeutenden Ganzen“,80 „organisch gebildetes Ganzes“81 in der Carstens-Biographie. Entstehen könne es laut Fernow allein durch den genialen Kunsttrieb des Künstlers, der eine schöpferische Idee vom Ganzen imaginiert, in dem sich Inhalt und Form völlig entsprechen. Das Ideal des Kunstschönen ist Werk des Genies, nicht der Nachahmung. Der Künstler wählt Stoff und Form selbst, eine radikale Abkehr von aller Repräsentationsästhetik,82 wie sie für Win­ckel­mann noch selbstverständlich war. Insgesamt bringt Fernow seine klassizistische Kunstschönheitsdefinition auf die Formel: „Idealität, Schönheit und Karakter machen also vereint den ganzen Kunstzwek aus“ (S. 430). Zum Abschluß wendet er sein Prinzip des Kunstschönen auf Hirts Streitschriften gegen Win­ckel­manns Diktum von der ‚edlen Einfalt, stillen Größe‘ an: Die Frage, ob Laokoons pathetischer Ausdruck durch Schönheit gemildert werde, sucht Fernow in einer Synopse von Win­ckel­manns Laokoon-Beschreibung in den Gedancken, Lessings Laokoon-Schrift (1766) und Hirts Laokoon zu beantworten. Allen gemeinsam sei ein Urteil aus mangelhaftem Prinzip. Win­ckel­manns „Seelengrösse“, Lessings „Schönheit“ und Hirts „Karakteristik“ hätten jeweils einen Teil der Wahrheit für sich. Win­ckel­mann und Lessing hätten darin recht, wenn sie zufällige, individuelle AusdrucksAffekte vermieden sehen wollten. Andererseits, und hier setzt Fernows Win­ ckel­mann-Apologie an, […] ist ebenfalls nicht zu leugnen, und wir glauben auch das weder Win­ckel­mann noch Lessing geläugnet haben würden, dass die Karakteristik oder die Wahrheit der Darstellung ein nothwendiger Bestandtheil jedes Kunstwerks […] sei (S. 435).

Fernow behauptet dabei nicht nur, daß Win­ckel­mann eben doch den wahren Ausdruck zum wesentlichen Bestandteil seiner Kunstlehre erhoben habe. Darüber hinaus korrigiert er auch Hirts polemische Unterstellung, Win­ckel­manns Theorie beschränke sich nur auf die Regel der ‚edlen Einfalt‘: 80 Fernow,

Canova (wie Anm.71), 47. 308. 82 Vgl. Tausch, Entfernung (wie Anm. 74), 40. 81 Ebd.,



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Indessen kann man Winkelmannen soviel nicht einmal Schuld geben, ohne ihm Unrecht zu tun; denn man sieht offenbar, dass er kein erschöpfendes Kunstprinzip aufzustellen gedacht hat, sondern bei seinem Prinzip der edlen Einfalt und stillen Grösse Wahrheit und Schönheit bereits voraussezte [ …] Man würde Winkelmann Unrecht thun, wenn man sein Prinzip für mehr halten wolte, als für den ersten Versuch sich in dem Gebiete der alten Kunst […] zu orientieren (S. 429).

Überdies, so Fernow in einer Fußnote, auf die Geschichte der Kunst des Alter­ thums verweisend, „nennt er ausdrüklich die Schönheit den höchsten Endzweck und den Mittelpunkt der Kunst […]“ (S. 429) Indem Fernow Win­ckel­mann bereits die prinzipielle Berücksichtigung aller drei wesentlichen Bestandteile des Kunstschönen attestiert, gemeindet er ihn seiner eigenen Kunsttheorie der organischen Einheit von Gehalt und Form ein und geht dabei noch über Meyers Win­ckel­mann-Apologie hinaus. Fernow projektiert freilich bereits seit 1806 seine große, nach seinem Tod von Meyer fortgesetzte Win­ckel­mann-Edition. So schreibt er an Karl August Böttiger, sicher auch mit Blick auf seine eigene Kunsttheorie: […] so würde eine Vergleichung der Winkelmannschen Ideen über Schönheit, Ideal, Geschmack pp. mit den späteren Entdeckungen der Filosofie über diese Gegenstände, mit denen er bewunderungswürdig gut zusammentrifft, u. besser als seine Tadler z. B. Hirt, ihm zugestehen wollen, sehr interessant seyn.83

Fernow sucht dabei allerdings mit seiner organologischen Genieästhetik innerhalb der ästhetischen Grenzen Kants zu bleiben, Metaphysik von „überirdischen Sphären“ will er ausdrücklich nicht betreiben. Genau das jedoch unternimmt Schelling in seiner Akademie-Rede unter deutlicher Zustimmung von Fernows Weimarer Kunstfreunden Goethe und Meyer. Ausgehend von seinem idealistischen System und dem davon abgeleiteten natura-naturans-Prinzip konzipiert er eine entsprechende organologische Ausdruckstheorie, die Win­ckel­manns eigene korrigiert und zugleich verteidigt: Wie oben bereits beschrieben erzeugt nach Schelling die schaffende Kraft, sei es die Natur, sei es das Künstlergenie, aus einem geistigen Begriff ein Ganzes, und zwar dergestalt, daß „das Wesen in der Form erscheine“,84 bis hin zur Ununterscheidbarkeit von Inhalt und Form. Hier gewinnt Schelling Anschluß an Meyers Forderung in Winkelmann und sein Jahrhundert, aus dem Inneren heraus eine lebendige Einheit zu gestalten, die Gehalt und Form zugleich ist. Und gleich Meyer kritisiert Schelling die „geistlose Nachahmung der schönen Formen“, die einseitig „zu einer verzärtelten charakterlosen Kunst“ führen (S. 18). Die wahre Vollendung der Form jedoch 83 Carl

Ludwig Fernow an Böttiger [vermutlich Weimar, Anfang 1806]; vgl. Carl Ludwig Fernow, „Rom ist eine Welt in sich“. Briefe 1789–1808, hg. von Margrit Glaser und Harald Tausch, Bd. 1, Göttingen 2013, Nr. 290, 545 f. 84 Schelling, Verhältnis (wie Anm. 33), 12. Folgende Zitate mit Seitenangaben in Klammern im Haupttext nach dieser Ausgabe.

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löse sich als Form selber auf, „und dies ist allerdings im Charakteristischen das letzte Ziel der Kunst“, da Form ohne Wesen, mithin Charakter nicht sein könne: „Charakteristische Schönheit ist daher die Schönheit in ihrer Wurzel“ (S. 20). In seiner klassizistischen organologischen Ausdruckstheorie, die typischerweise die gleichgewichtende Entsprechung von Schönheit und Ausdruck voraussetzt, sieht sich Schelling veranlaßt, Win­ckel­manns Ausdrucksmäßigung in das rechte Licht zu rücken: „Win­ckel­mann vergleichet die Schönheit mit dem Wasser, das, aus dem Schoß der Quelle geschöpft, je weniger Geschmack es hat, desto gesünder geachtet wird. Es ist wahr, daß die höchste Schönheit charakterlos ist […]“ (S. 18 f.). Schelling nimmt Bezug auf Win­ckel­manns Lehre von der höchsten Schönheit und löst die Vorrangigkeitsfrage wie schon Meyer mit dem Entwicklungsprozeß des Ideals nach Win­ckel­manns Stilgeschichte. Das Ideal schließe über den historischen Entwicklungsprozeß des Charakteristischen letztlich in den Bildern der „vollkommensten oder göttlichen Naturen“ sämtliche vorgängigen charakteristischen Darstellungsstufen in sich mit ein. Unter solcher Voraussetzung kann Schelling im Folgenden auf die bekannte Streitfrage der ‚edlen Einfalt, stillen Größe‘ eingehen: „Jene erhabene Schönheit […] wurde von der neueren Kunstlehre nach Win­ckel­mann nicht nur als höchstes, sondern als einziges Maß angenommen“ (S. 18). Doch eben nur für die höchste Schönheit könne das gelten, im übrigen müsse der Ausdrucksgrad nach Maßgabe der jeweiligen Aufgabenstellung der Kunst als auch der speziellen Kunstgattung bestimmt werden: Kann sich nämlich der Charakter zwar auch in Ruhe und im Gleichgewicht der Form ausdrücken: so ist er doch in seiner Tätigkeit erst eigentlich lebendig […] Hier stellt uns nun jene bekannte Vorschrift der Theorie dar, welche verlangt, die Leidenschaft in dem wirklichen Ausdruck so viel wie möglich zu mäßigen, damit die Schönheit der Form nicht verletzt werde (S. 22 f.).

Schelling setzt sich zusammen mit Win­ckel­mann von jener „neuen Kunstlehre“ ab, wenn er nun im Sinne der organischen Einheit von Inhalt und Form Ausdruck der Leidenschaft und Schönheit gleichermaßen zuläßt: Die Kräfte der Leidenschaft müssen sich also wirklich zeigen, es muß sichtbar sein, daß sie sich gänzlich empören können, aber durch die Gewalt des Charakters niedergehalten werden und an den Formen festgegründeter Schönheit wie Wellen eines Stromes sich brechen […] (S. 23).

Die Plastik allerdings sei hier relativ eingeschränkter, Schelling küpft dabei eng an A. W. Schlegels Kunstlehre an, deren Berliner Vorlesungsmanuskript er sich bekanntlich von diesem ausgeliehen hatte.85 Bei der Malerei immerhin sei sogar ein Übergewicht des Ausdrucks im Einzelnen möglich, wenn nur ein 85 Vgl.

zuletzt Stefan Knödler, August Wilhelm Schlegels Vorlesungen. Analoge und digitale Edition, in: literaturkritik.de rezensionsforum 9 (2014).



Win­ckel ­mann-Apologien um 1800 101

„Gleichgewicht im Ganzen“ erhalten bleibe (S. 22). Auch Schellings organologische Ausdruckslehre überschreitet bei gleichzeitiger apologetischer Absicht prinzipiell Win­ckel­manns Gebot der Ausdrucksmoderation und verlagert somit Win­ckel­manns Schönheitsprimat zugunsten des Ausdrucks in Richtung auf eine Gleichgewichtung. Goethe wird in den folgenden Jahren solche Tendenz weiter fortsetzen, zuletzt in der Schlußfassung von Philostrats Gemälde (1818), wenn er den höchsten Grundsatz der Antike nunmehr im Bedeutenden erkennt;86 damit ist auch Win­ckel­manns klassizistische Ausdruckslehre historisch endgültig überholt worden. Win­ckel­manns klassizistisches Lehrgebäude der antiken Kunstgeschichte steht um 1800 auf dem Zenit des Ruhms und wird vor allem im Kreise der Weimarer Kunstfreunde in Anspruch genommen, doch seine normative Kunstlehre gerät zugleich unter Rechtfertigungsdruck, insbesondere im Verhältnis zur Kunstautonomie und Genieästhetik seit Kants tranzendentaler Wende. Win­ckel­manns dem Empirismus der Aufklärungszeit verpflichtete Kunsttheorie kann zu Beginn des idealistischen 19. Jahrhunderts nicht mehr bestehen, seine heteronome Naturnachahmungslehre (natura naturata) wird daher von Goethe und dem klassizistischen Umkreis apologetisch im Sinne der natura naturans umgedeutet. Dementsprechend wird auch durch einen organologischen Begriff des Kunst-Ganzen, in welchem sich charakteristische Ausdrucksform und schöner Ideengehalt entsprechen, Win­ckel­manns Doktrin der ‚edlen Einfalt, stillen Größe‘ vereinnahmt. The classicistic system of theories regarding the art history of classic antiquity by Win­ ckel­mann had reached its peak of appreciation around 1800 and was mainly employed by the Weimarer Kunstfreunde association. Yet, Winckelmann´s normative aesthetics were subject to critical scrutiny against the backdrop of Kantian notions like the autonomy of art or his aesthetics of the artist as genius which constituted the transcendental turn. Win­ckel­mann´s art theory, which is closely intertwined with the empiricism of the Enlightenment, inevitably looses its ground in favour of idealistic trends of the early 19th century, as Goethe and his classicistic circles apologetically reinterpreted Win­ ckel­mann´s originally heteronormous mimetic theory (conceived as ‚natura naturata‘) in terms of ‚natura naturans‘. Accordingly, Win­ckel­mann´s doctrin of ‚edle Einfalt, stille Größe‘ are subseded by an organologic and holistic concept of art (‚Kunst-Ganzes‘), which is defined by the unity of a characteristic form of expression and notions of beauty. Thomas Franke, Universität Würzburg, Institut für deutsche Philologie /  Neuere Abteilung, Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturgeschichte, Am Hubland, D-97074 Würzburg E-Mail: [email protected]

86 Vgl.

Ernst Osterkamp, Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethischer Bild­ beschreibung, Stuttgart 1991, 209, 211.

Lorenzo Lattanzi Winckelmann e la storia dell’estetica (1771 – 1872)

Nella seconda metà del XVIII secolo la cultura accademica tedesca rivendica la fondazione di due discipline deputate allo studio dell’arte, „Ästhetik“ e „Kunstgeschichte“, e ne attribuisce la paternità, rispettivamente, a Alexander Gottlieb Baumgarten e a Johann Joachim Winckelmann, sottolineando il superiore valore scientifico delle loro scoperte rispetto a analoghi progetti concepiti in precedenza o in quegli stessi anni da studiosi francesi. All’articolo „Aesthetik“, nel primo volume della Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771), Johann Georg Sulzer, autorevole membro della classe di filosofia dell’Accademia delle Scienze di Berlino, nota come già all’inizio del secolo Jean-Baptiste Du Bos nelle Réflexions critiques sur la poésie et la peinture (1719) avesse fondato la sua teoria dell’arte su un principio psicologico generale, ossia il bisogno dell’anima di tenere impegnate le proprie forze, ma si affretta a chiarire che è stato il tedesco Baumgarten il primo a esporre nella sua completezza la „filosofia delle belle arti“, cui ha dato per l’appunto il nome di „estetica“, termine che significa in senso proprio „scienza del sentire“.1 In modo analogo, Christian Gottlob Heyne rivendica l’originalità di Winckelmann rispetto al francese Caylus nella Lobschrift auf Winckelmann, che ottiene il primo premio del concorso letterario promosso nel 1777 dalla Società delle Antichità di Cassel sul contributo apportato dallo studioso tedesco alla „Altertumswissenschaft“. Per il filologo dell’università di Göttingen, che a questa data tiene da anni anche corsi sull’arte antica, il principale merito di Winckelmann è di avere applicato le sue considerevoli conoscenze letterarie allo studio dell’arte antica, ribaltando il metodo degli antiquarî precedenti, i quali si interessavano a monete, gemme e statue solo nella misura in cui ritenevano che potessero contribuire a spiegare passi oscuri o controversi di autori antichi. Heyne riconosce che negli stessi anni Caylus segue in Francia un metodo simile, e possiede anzi 1 „Die

Philosophie der schönen Künste, oder die Wissenschaft, welche sowohl die allgemeine Theorie, als die Regeln der schönen Künste aus der Natur des Geschmacks herleitet. Das Wort bedeutet eigentlich die Wissenschaft der Empfindungen, welche in der griechischen Sprache Aistheses genennet werden“ (Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln, abgehandelt, Bd. 1 [A–J], Leipzig 1771, 20).

Aufklärung 27 · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISSN 0178 – 7128

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migliori competenze tecniche, ma non la profonda conoscenza delle letterature e delle lingue classiche, che permette a Winckelmann di concepire una sistematica storia dell’arte antica, integrando l’osservazione dei monumenti con l’analisi dei testi.2 I due paradigmi disciplinari presentano caratteri comuni. Innanzi tutto, ­l’Aesthetica di Baumgarten (1750 – 1758) e la Geschichte der Kunst des Altertums di Winckelmann (1764) sono considerate opere fondative in quanto stabiliscono, per l’appunto, i fondamenti scientifici di discipline che gli studiosi successivi devono non soltanto completare, ma potenziare. Nel momento in cui Baumgarten e Winckelmann sono riconosciuti come fondatori, l’uno dell’estetica, l’altro della storia dell’arte, le loro opere sono già divenute oggetto di una revisione, nei contenuti e nei metodi, e sono valutate nella prospettiva di ulteriori sviluppi scientifici. La definizione dell’estetica formulata da Sulzer nel 1771, „Philosophie der schönen Künste“, insieme alla precisazione che l’etimologia rimanda alla „Wissenschaft der Empfindungen“, presuppone un dibattito che negli anni precedenti coinvolge filosofi come Georg Friedrich Meier, successore di Baumgarten alla cattedra di metafisica e logica all’università di Halle, e Moses Mendelssohn, oltre allo stesso Sulzer. Quel dibattito modifica rapidamente quanto profondamente il progetto della „scientia cognitionis sensitivae“ annunciato da Baumgarten a conclusione delle Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735), riformulato nella Metaphysica (1739) e infine presentato – ma rimasto incompiuto – nell’Aesthetica. Mendelssohn e Sulzer non tardano a contestare la versione dell’estetica che Meier espone negli Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1748 – 1750), utilizzando le dispense dei corsi che Baumgarten tiene a Frankfurt an der Oder a partire dal 1742 e i paragrafi della Metaphysica relativi ai compiti dell’estetica: entrambi auspicano in sostanza che la nuova disciplina elabori una teoria generale della „Empfindung“ capace di stabilire principî per tutte le „schöne Künste“, anziché limitarsi alle „schöne Wissenschaften“ (poesia e eloquenza). In questa prospettiva, l’articolo „Aesthetik“ di Sulzer traccia un breve piano destinato a sviluppare le potenzialità della disciplina: sul piano teorico, si tratta di chiarire essenza e finalità delle belle arti, studiando l’origine delle „angenehme und unangenehme Empfindungen“, mentre dal punto di vista pratico bisogna determinare le diverse specie delle belle arti.3 2 Christian

Gottlob Heyne, Lobschrift auf Winckelmann, in: Arthur Schulz (Hg.), Die Kasseler Lobschriften auf Winckelmann, Berlin 1963, 17 – 29, qui 21 f. 3 Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste (nota 1), 20. Sul rapporto fra la nozione di „Empfindung“ e la teoria delle belle arti in Mendelssohn e Sulzer si vedano Jean-François Goubet, La discussion entre Meier et Mendelssohn sur les beaux-arts et les belles lettres, in: Revue germanique internationale 4 (2006), 107 – 119; Elisabeth Décultot, Kunsttheorie als Theorie des Empfindungsvermögens. Zu Johann Georg Sulzers psychologischen und ästhetischen Studien, in: E. D. und Gerhard Lauer (Hg.), Kunst und Empfindung. Zur Genealogie einer kunsttheo-



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Alla fine del XVIII secolo, l’introduzione di cattedre di estetica nelle maggiori università tedesche4 è sostenuta da una revisione ulteriore del paradigma scientifico della disciplina, che sposta l’accento dalla psicologia del sentimento all’analisi della facoltà del giudizio e vede nella Kritik der Urteilskraft di Kant una rifondazione del progetto di Baumgarten. Nell’edizione della Allgemeine Theorie der schönen Künste pubblicata nel 1792 da Christian Friedrich von Blankenburg, accresciuta con la letteratura relativa ai principali articoli, la bibliografia della voce „Aesthetik“ elenca, dopo l’Aesthetica di Baumgarten, pochi saggi italiani, francesi e britannici e un considerevole numero di opere di filosofi tedeschi, dagli Anfangsgründe di Meier al System der Aesthetik di Karl Heinrich Heydenreich (1790), e si conclude con una lunga analisi della Kritik der Urteilskraft.5 Non meno profonda appare la revisione dell’opera di Winckelmann suggerita da Heyne, che già nel contesto celebrativo della Lobschrift non esita a denunciare i limiti del suo metodo, in gran parte dovuti a un’immaginazione troppo vivace, inconciliabile con il „sangue freddo“ richiesto allo storico. Tradito dalla sua fervida immaginazione, Winckelmann finisce per considerare frutto di reali osservazioni circostanze che in un primo tempo riteneva congetture soltano possibili, e con la „fantasia“ compensa le lacune della sua educazione filologica e letteraria, che si aggravano a Roma per la scarsità di strumenti aggiornati e causano imbarazzanti errori nella sua narrazione storica e nella classificazione stilistica della Geschichte der Kunst des Altertums.6 A questa rigorosa disamina, approfondita in alcuni dei saggi accolti nella Sammlung antiquarischer Aufsätze (1778), Heyne fa seguire un programma essenziale di quanto resta da fare: richiama, in particolare, l’urgenza di un „repertorio“ delle opere conservate, in Italia e negli altri paesi europei, e l’istituzione di corsi di introduzione all’arte antica, precisando che i primi passi sono già stati compiuti in numerose università tedesche, dove lo „studio della bella antichità“ è organizzato in base alle diverse esigenze di studiosi e giovani aristocratici destinati a viaggiare in Italia.7 Proprio in questa prospettiva didattica, nel decennio successivo Heyne retischen Fragestellung in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2012, 81 – 101. 4 Sull’istituzionalizzazione della disciplina da Baumgarten a Kant si veda Dieter Kliche, Ästhetik/ästhetisch II: Die Institutionalisierung der Ästhetik, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart, Weimar 2000, 321 – 333. 5 Johann Georg Sulzer. Allgemeine Theorie der schönen Künste, in einzelnen, nach alpha­ betischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden Artikeln abgehandelt. Neue vermehrte Auflage, Bd. 1 (A–D), Leipzig 1792, 50 – 59. 6 Heyne, Lobschrift auf Winckelmann (nota 2), 23 f. 7 Op. cit., 24 – 27. Sui corsi di „Archäologie oder die Kenntniss der Kunst und der Kunstwerke des Altertums“ tenuti da Heyne si veda Susanne Adina Meyer, Il corso di archeologia di Ch. G. Heyne a Göttingen: l’antico all’università, in: Mario Pastore Stocchi (Hg.), Il primato della scultura. Fortuna dell’antico, fortuna di Canova, Bassano del Grappa 2004, 67 – 83.

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promuove ulteriori sviluppi disciplinari del paradigma scientifico che elabora a partire dall’opera di Winckelmann, favorendo l’affidamento di classi di storia dell’arte moderna al pittore Johann Dominicus Fiorillo, già insegnante di disegno all’università di Göttingen, nominato in seguito professore straordinario (1799) e, infine, ordinario alla prima cattedra tedesca di „Kunstgeschichte“ nel 1813. 8 È, dunque, in una forma molto rielaborata che i paradigmi delle discipline scientifiche di cui la cultura accademica tedesca rivendica la fondazione, nel nome dei pionieri Baumgarten e Winckelmann, varcano i confini nazionali. Pochi anni dopo la prima edizione della Allgemeine Theorie der schönen Künste di Sulzer, l’articolo „Aesthetik“ è accolto in traduzione francese in due vasti progetti enciclopedici, l’Encyclopédie pubblicata a Yverdon da Fortunato Bartolomeo De Felice (1775) e il Supplément della Encyclopédie di Diderot e D’Alembert intrapresa da Charles-Joseph Pancoucke, in associazione con altri editori di Parigi e Amsterdam, assicurando ampia diffusione internazionale alla definizione della disciplina filosofica fondata da Baumgarten.9 Quanto al modello di storia dell’arte delineato da Heyne a partire dall’opera di Winckelmann, nel 1779 gli editori milanesi Carlo Amoretti e Angelo Fumagalli premettono la Lobschrift alla traduzione italiana dell’edizione postuma della Geschichte der Kunst des Altertums, apparsa a Vienna tre anni prima, e lo stesso avviene nella traduzione francese di Michael Huber (1781) e nella nuova versione italiana di Carlo Fea (1783 – 1784).10 L’elaborazione parallela dei paradigmi disciplinari dell’estetica e della storia dell’arte mantiene accuratamente separati i modelli di studio dell’arte – filosofico e storico – introdotti da Baumgarten e da Winckelmann. Gli esponenti delle due comunità scientifiche che iniziano a formarsi (e a organizzarsi anche in comunità accademiche) sembrano concordi nel valutare l’opera dei due fondatori solo entro i confini degli ambiti di studio che hanno rispettivamente aperto (e delle corrispondenti discipline, procedendo nella loro istituzionalizzazione accademica). Dunque, il valore delle idee di Winckelmann riguarda la storia dell’arte e l’archeologia, e il fatto che alcuni suoi scritti e la sua stessa concezione  8

Si veda Heinrich Dilly, Kunstgeschichte als Institution. Studien zur Geschichte einer Disziplin, Frankfurt am Main 1979, 175 – 183.  9 Aesthétique, in: Encyclopédie ou dictionnaire universel raisonné des connaissances humaines. Supplément. Bd. 1, Yverdon 1775, 128 – 131; Esthétique (Beaux-Arts), in: Nouveau Dictionnaire pour servir de Supplément aux Dictionnaires des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, Bd. 2, Paris, Amtserdam 1776, 872 f. Sulla ricezione in Francia si vedano Élisabeth Décultot, Ästhetik/esthétique. Etapes d’une naturalisation (1750 – 1840), in: Revue de Métaphysique et de Morale (2002/2), 157 – 178, e Karlheinz Barck, Ästhetik/ästhetisch. V: Der europäische Begriffstransfer, in: Karlheinz Barck u. a (Hg.), Asthetische Grundbegriffe (nota 4), Bd. 1, 344 – 355. 10 Si veda Stefano Ferrari, Christian G. Heyne e la ricezione del Winckelmann nell’Italia del secondo Settecento, in: Neoclassico 19 (2001), 75 – 101.



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storiografica mostrino interessi di natura teorica per la bellezza e per l’arte non appare sufficiente per considerarli di pertinenza dell’estetica filosofica. Nella sua revisione del paradigma della Geschichte der Kunst des Altertums Heyne ignora la teoria del bello esposta nella sezione „Von dem Wesentlichen der Kunst“ del capitolo della prima parte dedicato all’arte dei Greci, nonostante sia posta a fondamento del „Lehrgebäude“ concepito da Winckelmann.11 Heyne precisa anche che non intende esaminare gli „scritti minori“, ossia i brevi saggi come la Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst (1758) e la Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst (1763), nei quali Winckelmann definisce l’atttitudine contemplativa del soggetto, che sente e apprezza la bellezza dell’opera d’arte: Heyne si limita a notare che quei saggi hanno contribuito a risvegliare l’interesse degli antiquarî per la bellezza dell’arte antica e a diffondere il buon gusto nel pubblico tedesco.12 D’altra parte, i filosofi non propongono una lettura alternativa. Gli autori che, alla fine del XVIII secolo, cominciano a riflettere sulla storia dell’estetica non pretendono di assegnare a Winckelmann un posto all’interno di questo paradigma scientifico, nonostante molte delle sue idee avessero suscitato un profondo interesse nei filosofi tedeschi che prendono parte al dibattito sulla nascente disciplina. Sulzer traduce prontamente in francese i Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (la traduzione appare sulla Nouvelle Bibliothèque Germanique tra l’estate del 1755 e l’inverno 1756) e nella Allgemeine Theorie der schönen Künste richiama le opinioni di Winckelmann non solo su teorie e tecniche artistiche (per esempio, sulla glittica e sull’allegoria), ma anche nella definizione di concetti generali, quali bellezza e grazia; tuttavia, i saggi di Winckelmann non sono inclusi nella bibliografia che Blanckenburg allega all’articolo „Aesthetik“ nel 1792 e neppure nel primo compendio storiografico della disciplina, l’Entwurf zur Geschichte und Literatur der Ästhetik von Baumgarten auf die neueste Zeit di Joseph Koller (1799), che contiene una rassegna bibliografica in gran parte ricavata dai supplementi di Blankenburg al dizionario di Sulzer. Questa attitudine è senza dubbio motivata anche da dichiarazioni dello stesso Winckelmann, che nel tentativo di definire un „bejahender Begriff“ della bellezza nella Geschichte der Kunst des Altertums sembra prendere le distanze dalla speculazione filosofica,13 e in diverse lettere degli ultimi anni critica gli interessi e i metodi dei filosofi, soprattutto dei connazionali. Sono affermazioni connesse alla rivendicazione dell’originalità e del valore scientifico dei suoi studî sull’arte, non soltanto rispetto all’antiquaria e alla letteratura artistica 11 Johann

Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums. Text: Erste Auflage Dresden 1764 – Zweite Auflage Wien 1776, in: J. J. W., Schriften und Nachlaß, Bd. 4.1, hg. von Adolf H. Borbein (u. a.), Mainz 2002, XVI, 240. 12 Heyne, Lobschrift auf Winckelmann (nota 2), 23. 13 Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums (nota 11), 250.

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(specialmente alla tradizione delle „vite“ degli artisti),14 ma anche a altri campi del sapere, in particolare gli ambiti accademici della filosofia, della matematica e della teologia. Nella corrispondenza Winckelmann non nasconde le implicazioni sociali e economiche, oltre che culturali, di questa protesta, insistendo sulle complesse, lunghe e costose ricerche che deve affrontare in Italia, mentre nelle università tedesche un professore di metafisica o di morale, un teologo o un matematico si dedicano a inutili speculazioni senza neppure uscire dalle loro stanze.15 Quelle dichiarazioni di avversione o disinteresse sembrano confermate dall’assenza pressoché totale di riferimenti a scritti di filosofi e critici tedeschi nelle opere di Winckelmann e nei taccuini di estratti che dalla giovinezza agli ultimi anni documentano le sue letture; anche dalla corrispondenza emergono poche e confuse tracce della conoscenza di saggi di autori come Mendelssohn, Lessing e Sulzer.16 L’unica testimonianza di un contatto, almeno indiretto, con 14 Sul

rapporto di Winckelmann con gli studî di antiquaria, in particolare nell’opera di Montfaucon e di Caylus, e con la letteratura biografica si veda Élisabeth Décultot, Johann Joachim Winckelmann. Enquête sur la genèse de l’histoire de l’art, Paris 2000, 222 – 234, 267 – 271. 15 Si vedano le lettere a Georg Conrad Walther (23 ottobre 1764), Friedrich Wilhelm Schlabrendorff (19 ottobre 1965) e Johann Michael Francke (5 dicembre 1767): Johann Joachim Winckelmann, Briefe, hg. von Walther Rehm in Verbindung mit Hans Diepolder, Bde. 1 – 4, Berlin 1952 – 1957, qui Bd. 3, 1956, 62 f., 128, 329. Sulla polemica condotta nella corrispondenza da Roma contro la „Gelehrsamkeit“ degli accademici tedeschi si veda Martin Disselkamp, Die Stadt der Gelehrten. Studien zu Johann Joachim Winckelmanns Briefen aus Rom, Tübingen 1993 (Studien zur deutschen Literatur, 124), 115 – 132. 16 Alcune lettere a Leonhard Usteri nel corso del 1763 indicano che Winckelmann ha letto un saggio di Mendelssohn, inviatogli dall’amico zurighese, probabilmente le Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften, pubblicate nel 1757 sulla Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste e in seguito inserite con alcune modifiche e il titolo Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften nelle Philosophische Schriften apparse in forma anonima nel 1761. Winckelmann indica il saggio come „Das Werk von den Grundsätzen des Schönen in der Kunst“ e dichiara che potrebbe essergli utile per la Abhandlug von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst (15 gennaio 1763). In una lettera successiva (14 settembre), si dice deluso dall’articolo „Beau“ nell’Encyclopédie, che attribuisce a D’Alembert anziché a Diderot, e loda invece il saggio del filosofo tedesco, ironizzando sulle simpatie francofile di Federico II: „Ihr Philosoph, den Sie mir geschenkt, hat beßer gedacht; schade, daß er ein Deutscher ist, würde der Potsdamische Held sagen: es ist eins von den besten Büchern, welche ich gelesen habe.“ L’identificazione con Mendelssohn è confermata da una tarda lettera a Francke (6 febbraio 1768), in cui Winckelmann ricorda di aver fatto arrivare un volumetto del filosofo berlinese, e aggiunge di aver avuto occasione di vedere a Roma alcuni scritti degli autori che l’ex collega lo ha invitato a leggere, tra cui Mendelssohn e Lessing, mentre altri li conosce solo di nome. Si veda Winckelmann, Briefe (nota 15), Bd. 2, 283 f., 344; Bd. 3, 367. Di Lessing dichiara di non aver letto ancora nulla, quando riceve da Schlabrendorff alcuni estratti del Laokoon (16 agosto 1766), come conferma nella stessa data a Walther, che nel frattempo gli ha spedito il saggio. Si veda Bd. 3, 199 f. Numerosi contatti indiretti sono documentati con Sulzer nel corso degli anni, come documenta già una lettera a Usteri del 27 novembre 1762, ma non risulta che Winckelmann abbia letto saggi del filosofo. Si veda Bd. 2, 273.



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l’estetica di Baumgarten è un accenno agli Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften di Meier, l’autore che diffonde la teoria del maestro ancora prima della pubblicazione dell’Aesthetica: il riferimento è contenuto in una nota dell’incompiuta descrizione della pinacoteca di Dresda redatta alla fine del 1752, durante il soggiorno di Winckelmann a Nöthnitz, e indica dunque una lettura precoce dell’opera di Meier, pubblicata tra 1748 e 1750. Convinto che per apprezzare la bellezza di un dipinto sia necessario innanzi tutto guardare, e avere molte occasioni di vedere opere d’arte, Winckelmann paragona l’inutile fatica di determinare con precisione i caratteri che distinguono lo stile del Parmigianino da quello di altri artisti allo sforzo necessario per seguire le lunghe dimostrazioni di Meier, che certo non possiede il dono di infiammare i suoi lettori: Man könte an diesem Orte von mir fordern wollen, die eigentlichen Unterscheidungszeichen der Manier dieses Künstlers [Parmigianino] von andern Künstlern anzugeben. Es verhält sich mit den Schönheiten der Gemählde wie mit der Schönheit überhaupt. Man fragte einen alten Philosophen: Was ist die Schönheit? Ich rede von Aristoteles; Laßet, gab er zur Antwort, diese Frage für die Blinden. Komm und siehe, stehet im Evangelio. Man würde unendliche Umstände angeben müssen, diese Merkmale nur einigermaßen zu bestimmen, und bey jemand der ohne Genie gebohren, oder nicht Gelegenheit hat, dergleichen Werke oft zu sehen, würde es fast eine eben so vergebliche Mühe seyn als in Meiers Anfangs-Gründen der schönen Wissenschaften eine Kette von Millionen definitionen für Leute ist, die eben so wenig von dem Feuer, das Prometheus den Göttern gestohlen, haben, als der Verfasser selbst davon bekommen hat. 17

Il polemico accenno, fondato sull’antitesi tra osservazione e pretesa deduzione del bello – attitudini associate, rispettivamente, a Aristotele (e all’evangelista Giovanni) e a Meier – sembra confermare l’opinione degli interpreti di Winckelmann, storici dell’arte e archeologi, letterati e artisti, che nel corso del XIX secolo, pur ignorando quel frammento (pubblicato nel 1923), ricavano dalla Geschichte der Kunst des Altertums l’impressione che Winckelmann conoscesse almeno in qualche misura l’estetica di Baumgarten, ma avvertisse nei confronti di quella disciplina filosofica un disinteresse confinante con l’avversione, e su questa base negano la pertinenza della sua riflessione sulla bellezza dell’arte all’ambito scientifico e accademico dell’estetica. All’inizio del secolo questa convinzione è rafforzata dalla potente interpretazione della vita e dell’opera di Winckelman presentata nella raccolta di saggi che Goethe pubblica con il titolo Winckelmann und sein Jahrhundert nel 1805. Contrariamente alla scelta di Heyne di ignorare le esperienze che hanno formato il „carattere morale“ di Winckelmann,18 Goethe prende spunto dalla pubblicazione 17 Johann

Joachim Winckelmann, Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe, hg. von Walther Rehm, Berlin, New York 2002, 8. L’incompiuta descrizione venne pubblicata da Hermann UhdeBernays nel terzo volume dello Jahrbuch der Sammlung Kippenberg nel 1923. 18 Heyne, Lobschrift auf Winckelmann (nota 2), 19.

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di una trentina di lettere all’amico di gioventù Hieronymus Dietrich Berendis per abbozzare in una serie di „schizzi“ un „ritratto“ della sua personalità: Goethe stesso individua a partire dal „carattere“ gli elementi costitutivi dell’opera nel suo complesso, mentre Johann Heinrich Meyer e Friedrich August Wolf esaminano i risultati scientifici della sua opera per la storia dell’arte e l’antichistica alla luce della sua formazione culturale, piuttosto che professionale in senso stretto. Per Goethe l’idea di una storia dell’arte che Winckelmann concepisce a Roma, intuendo che le singole opere vanno studiate in base all’epoca e allo stile, è una rivoluzione di portata epistemologica, la conquista di un territorio della conoscenza che il buon senso degli antichi, abituato a andare diritto alle cose, aveva presagito, ma la barbarie moderna ha dimenticato, e che Winckelmann (ri)scopre come „un nuovo Colombo“ proprio grazie alla sua affinità con lo spirito antico: Doch bald erbob er sich über die Einzelheiten zu der Idee einer Geschichte der Kunst, und entdeckte, als ein neur Kolumbus, ein lang geahndetes, gedeutetes und besprochenen, ja man kann sagen, ein früher schon gekanntes und wieder verloren Land. [...] Man mag in eine Kunst oder Wissenschaft hieneinblicken, in welche man will, so hatte der gerade, richtige Sinn der alten Beobachter schon manches entdeckt, was durch die folgende Barbarei und durch die barbarische Art sich aus der Barbarei zu retten, ein Geheimnis ward, blieb [...].19

Spetta a Meyer, il più stretto collaboratore delle iniziative artistiche promosse da Goethe a Weimar, definire questa svolta epistemologica sul piano disciplinare, rileggittimando Winckelmann in quanto fondatore della storia dell’arte rispetto alla revisione avviata da Heyne, che agli occhi dei „Weimarer Kunstfreunde“ rischia di mettere in discussione quel primato, anche se lo riconosce formalmente. Memore della critica di Heyne, Meyer concede che è lecito considerare la Geschichte der Kunst des Altertums solo l’inizio di un edificio che va ancora costruito, ma protesta che Winckelmann ha posto fondamenta solide e stabili, „große Grundlagen, welche unbeweglich feste stehen“, perché la sua affinità con la „antike Natur“ descritta da Goethe gli ha permesso di presagire – torna il termine, „geahndetes“ usato da Goethe per descrivere la scoperta di qualcosa di gli antichi avevano appunto presagito l’esistenza – le soluzioni giuste ai problemi più importanti. Considerando lo stato della ricerca sull’arte antica, Meyer non vede significativi progressi rispetto all’opera di Winckelmann nella classificazione degli stili e nella definizione di criterî generali di valutazione, e conclude che la collaborazione della sua cultura letteraria e del suo genuino senso dell’arte, „Kunstsinn“, appare ancora insuperata. 20 19 Johann

Wolfgang Goethe, Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns I, in: Winckelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen, herausgegeben von Goethe, in: J. W. G., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 6.2: Weimarer Klassik 1798 – 1806, hg. von Victor Lange u. a., München 1988, 349 – 381, qui 362. 20 Johann Heinrich Meyer, Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns II, in: Winckelmann und sein Jahrhundert (nota 19), 386, 388. Una risposta alle critiche avanzate da Heyne agli errori



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La scelta di rileggere l’opera di Winckelmann alla luce della sua personalità intellettuale e morale, lungi dal mettere in discussione il suo ruolo di fondatore della storia dell’arte, finisce per mitizzarlo. Parallelamente, l’immagine che emerge dal ritratto di Goethe e anche dal saggio di Wolf sembra opporsi, in termini più o meno espliciti, a una valutazione dei suoi scritti dal punto di vista della filosofia moderna e, in particolare, dell’estetica. In Winckelmann rivive quella „antike Natur“, propria soprattutto dei Greci nell’epoca classica, che realizza cose uniche e inattese impiegando tutte le qualità umane in uguale misura, mentre i moderni applicano singole forze a uno scopo determinato e, se mettono insieme un certo numero di capacità, riescono anche a fare cose straordinarie: Der Mensch vermag gar Manches durch zweckmäßigen Gebrauch einzelner Kräfte, er vermag das Außerordentliche durch Verbindung mehrerer Fähigkeiten; aber das Einzige, das Unerwartete leistet er nur, wenn sich die sämtliche Eigenschafften gleichmäßig in ihm vereinigen. Das letzte war das glückliche Los der Alten, besonders der Griechen in ihrer besten Zeit; auf die beiden ersten sind wir Neuern vom Schicksal angewiesen.21

Per comprendere la molteplicità degli oggetti del mondo, l’essere umano quasi inevitabilmente rinuncia all’unità delle proprie forze e sperimenta una violenta scissione, „eine Zerteilung der Kräfte und Fähigkeiten, eine Zerstückelung der Einheit“, tanto che persino gli antichi si trovavano in difficoltà nel coltivare le diverse scienze. Per un moderno il rischio di disperdersi in una varietà di conoscenze incoerenti è maggiore, a meno che non riesca a compensare quella frammentazione con la pienezza della propria personalità, come è accaduto a Winckelmann, fedele nei suoi studî allo spirito antico con cui ha vissuto: per quanto divagasse nei campi dello scibile, per piacere o per necessità, non ha mai abbandonato l’antichità, in particolare la cultura greca.22 Già questa caratterizzazione suggerisce come, per Goethe, Winckelmann non potesse avere nulla a che fare con l’estetica filosofica, non solo perché oggetto privilegiato delle sue ricerche è l’arte greca, ma perché il suo approccio intellettuale, espressione di uno spirito antico, è inconciabile con il metodo di quella scienza filosofica moderna.

della Geschichte der Kunst des Altertums dal punto di vista filologico e storico è affidata a Wolf, il quale concorda con il collega di Göttingen (senza citarlo) sul fatto che a Roma Winckelmann, entusiasmato dalla bellezza e sprovvisto di adeguati strumenti bibliografici, non riuscì a mantenere l’equilibrio tra la freddezza intellettuale che registra con cura un gran numero di particolari e il „fuoco“ che li ricompone in una sintesi, e si abbandonò a un ingiustificato disprezzo nei confronti di filologi e storici, ma in compenso seppe elevarsi a una prospettiva generale dell’arte nella sua evoluzione storica e stilistica. Si veda Friedrich August Wolf, Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns III, in: Winckelmann und sein Jahrhundert (nota 19), 397 f. 21 Goethe, Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns I, in: Winckelmann und sein Jahrhundert (nota 19), 351. 22 Op. cit., 352.

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Immune dall’incurabile male che scinde la sana forza dell’essere umano in molteplici capacità separate – „jene kaum heilbare Trennung in der gesundenen Menschenkraft“ – Winckelmann non considera la bellezza come Baumgarten e Meier, che distinguono le facoltà conoscitive e pratiche nelle quali si manifesta la forza dell’anima, sulle premesse della psicologia empirica di Christian Wolff, la scienza che descrive tutti i fenomeni psichici osservabili nell’esperienza (mentre la psicologia razionale spiega quei fenomeni in base all’essenza spirituale dell’anima). È in questo contesto che nasce l’estetica: Baumgarten comincia a tracciarne i confini nella Metaphysica, in particolare nella sezione in cui rielabora la psicologia empirica wolffiana, nella misura in cui riferisce alla „cognitio sensitiva“, accanto ai sensi e alla fantasia, una serie di facoltà che Wolff riserva alla sfera intellettuale, quali „perspicacia“ – l’unione di „acumen“ e „ingenium“ – e „iudicium“, funzione che Baumgarten attribuisce anche ai sensi, identificando il giudizio sensibile con il gusto.24 L’opposizione tra studio dell’antichità e filosofia compare in termini espliciti nel paragrafo „Philosophie“, dove Goethe ricorda che Winckelmann si lamenta con amarezza dell’influenza dei filosofi del suo tempo (si riferisce evidentemente alle proteste contenute in alcune lettere). Nota dapprincipio come da sempre i filosofi pretendano di abbracciare e, in tal modo, subordinare tutte le conoscenze e attività umane nella prospettiva di un sapere universale, suscitando il dissenso di quanti coltivano altre scienze o svolgono professioni pratiche; in seguito, tuttavia, Goethe osserva che, in tempi recenti, il criticismo kantiano, „jene große philosophische Bewebung, die durch Kant begonnen“, ha determinato una rivoluzione che nessuno si è potuto permettere di ignorare, a eccezione degli „Altertumsforscher“, i quali, occupandosi di quanto di meglio l’umanità abbia prodotto nella sua storia, possiedono solide conoscenze e un gusto sorprendentemente sicuro. Da questo punto di vista, Goethe giudica curioso che Winckelmann non abbia frequentato da giovane le lezioni sull’arte antica tenute a Lipsia da Johann Friedrich Christ, perché sotto la sua guida avrebbe individuato molto prima il 23

23 In

una sola occasione, nel paragrafo dedicato al „Charakter“, Goethe si riferisce in modo specifico alla sfera estetica, ma solo per ribadire la sua estraneità alla concezione filosofica moderna, cioè a un’estetica intesa in senso disciplinare, che sottopone il sentimento a principî generali: „Auch finden wir bei ihm keine ausgesprochenen Grundsätze; sein richtiges Gefühl, sein gebildeter Geist dienen im Sittlichen, wie im Ästhetischen, zum Leitfaden“. Si veda op. cit., 375. 24 Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica. Metaphysik. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Günter Gawlick und Lothat Kreimendahl, Stuttgart, Bad Canstatt 2011 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung, I/2), 284 – 329. All’inizio dell’Aesthetica Baumgarten richiama in questa prospettiva le disposizioni naturali del „felix aestheticus“: „facultas acute sentiendi“, „imaginatio“, „perspicacia“, „memoria“, „dispositio poetica“, „dispositio ad saporem non publicum, immo delicatum“ (gusto), „dispositio ad praevidendum et praesagiendum“, „dispositio ad significandas perceptiones suas“, cioè la parte sensibile della „facultas characteristica“. Si veda Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik. Lateinisch-Deutsch, hg. von Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, Bd. 1, 32 f.



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proprio ambito di studî e non si sarebbe dovuto preoccupare dei filosofi.25 Questo accenno di Goethe è sviluppato nel saggio che Wolf dedica alla formazione filologica e storica di Winckelmann, quando descrive il suo infruttuoso soggiorno alla facoltà teologica di Halle, tra la primavera del 1738 e l’inverno del 1740. Durante quel corso di studî, secondo Wolf, Winckelmann non imparò nulla che avrebbe potuto tornargli utile in seguito nelle sue ricerche sull’arte antica, ma a quella data nessuna università tedesca avrebbe potuto offrirgli granché, tranne forse Lipsia, dove Christ si occupava già allora dell’arte antica nel suo „Collegium litterarium“; a tale proposito, Wolf ritiene comunque verosimile che negli anni seguenti, a Nöthnitz, tra 1748 e 1754, o a Dresda tra dicembre 1754 e settembre 1755, Winckelmann possa aver avuto tra le mani fascicoli manoscritti dei corsi di Christ, che circolavano tra conoscitori e amatori sassoni.26 Proprio in questo contesto compare l’affermazione esplicita del disinteresse di Winckelmann per la scienza filosofica fondata da Baumgarten. Tra i fattori che contribuirono alla rinascita degli studî classici nella cultura tedesca della seconda metà del XVIII secolo, Wolf non manca di citare la „deutsche Geschmackslehre“ di cui richiama l’etimologia greca negli Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften di Meier: „Ästhetik von αἴσθω, ich schmecke“. Ricorda che Winckelmann viveva ancora in Germania quando Baumgarten pubblicò il primo volume dell’Aesthetica nel 1750, ma esclude che abbia mostrato interesse sia per questa disciplina filosofica, sia per il metodo pedagogico annunciato due anni dopo da Johann Bernhard Basedow nella dissertazione Inusitata et optima honestioris juventutis erudiendae methodus (1752). Winckelmann si mantenne al di fuori del vasto, ma sterile dibattito suscitato in Germania da quelle due scienze ignote agli antichi, e in fondo ancora poco diffuse al di fuori dei confini tedeschi: W. erlebte die Frankfurter Ästhetik noch in Deutschland (1750), welcher zwei Jahre später die erste Basedowische Ankündigung der Inusitata et optima methodus erudiendae juventutis honestioris nachfolgte. Beide den Alten unbekannte, und noch jetzt nicht weit über unsere Grenzen gekommene Wissenschaften haben seitdem in Deutschland so viel Papiere gefüllt, und so viele Köpfe leer gemacht, daß die Anfänge derselben wohl ein beiläufiges Andenken verdienen, wenn gleich W, an keiner von beiden Anteil nahm.27

La distanza dell’opera del fondatore della storia dell’arte rispetto all’estetica filosofica – illustrata da Wolf nell’opposizione tra la figura di Christ, ideale precursore di Winckelmann, e quella di Baumgarten, pioniere di un approccio radicalmente diverso allo studio dell’arte – è un motivo che attraversa l’intera 25 Goethe,

Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns I, in: Winckelmann und sein Jahrhundert (nota 19), 370 – 372. 26 Friedrich August Wolf, Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns III, in: Winckelmann und sein Jahrhundert (nota 19), 393. 27 Op. cit., 394.

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storiografia ottocentesca e caratterizza ancora la sintesi di Wilhelm Waetzold all’inizio del XX secolo. Da un lato, Waetzold celebra in Christ il „Vorläufer“ di Winckelmann, indiscusso „Begründer der deutschen Kunstwissenschaft“, in quanto ha emancipato lo studio dell’arte antica dal groviglio delle discipline antiquarie ancora comprese da Christ nella rubrica de re litteraria; dall’altro, accennando ai corsi del „Vater der Ästhetik“ Baumgarten, che Winckelmann ha seguito all’università di Halle, individua proprio in quell’esperienza accademica l’origine della sua avversione per la speculazione astratta dei filosofi, e della scelta di privilegiare l’esperienza, l’osservazione diretta delle opere d’arte.28 Un ruolo decisivo nella definizione di questo luogo comune della letteratura critica ha svolto la monografia di Carl Justi Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen, originariamente pubblicata tra 1866 e 1872 e riveduta con il titolo Winckelmann und seine Zeigenossen nel 1898. Justi si confronta con Winckelmann in un clima culturale dominato dallo storicismo e dall’emergere della storiografia positivista, che non risparmia critiche all’impianto normativo della Geschichte der Kunst des Altertums e ritiene ormai inutile aggiornare l’opera sul piano scientifico, come era accaduto nella prima metà del XIX secolo.29 Nel ripercorrere la vita e l’opera di Winckelmann sullo sfondo della cultura e della società della sua epoca Justi avverte una pressante esigenza di carattere disciplinare, quella di tracciare una linea di demarcazione tra „Archäeologie“, la storia dell’arte antica di cui Winckelmann ha posto le basi fin dalla seconda metà del XVIII secolo, e „Kunstgeschichte“, la storia dell’arte medievale e moderna, disciplina accademica più giovane, che a questa data è ormai da tempo ricondotta a un diverso paradigma fondativo, quello delineato da Carl Friedrich von Rumohr nelle Italienische Forschungen (1827 – 1831).30 Ma un’altra questione disciplinare emerge dalla sua narrazione. Quando ricostruisce il soggiorno di Winckelmann all’università di Halle, Justi prende posizione sul difficile rapporto tra storia dell’arte e estetica, un rapporto su cui egli ha certo riflettuto in questi anni, considerando la sua formazione e la sua carriera accademica. Justi studia a Marburg con lo storico della filosofia antica Eduard Zeller e discute nel 1859 una tesi di dottorato dal titolo Historisch-philosophischer Versuch über die ästhetischen Elemente in der platonischen Phi28 „Die Berührung des Begründers der Kunstgeschichte mit dem Vater der Ästhetik hatte bei Winckelmann nur zur Folge den Abscheu vor den in Zimmer ausgebrüteten metaphysischen Grillen der Weltweisen und die Sehnsucht nach lebendigen Kunstanschauung, als einizg möglichen Rechfertigung und Quelle aller Kunstschreiberei“ (Wilhelm Watzold, Die Begründung der deutschen Kunstwissenschaft durch Christ und Winckelmann, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 15 [1921], 165 – 186, qui 171). 29 Adolf Heinrich Borbein, Winckelmann und die Klassische Archäologie, in: Thomas W. Gaehtgens (Hg.), Johann Joachim Winckelmann 1717 – 1768, Hamburg 1986 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 7), 289 – 299, qui 291 f. 30 Dilly, Kunstgeschichte als Institution (nota 8), 22 f, 85 – 89.



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losophie, con cui ottiene anche l’abilitazione con un incarico di insegnamento per l’archeologia e la storia dell’arte; diventa professore straordinario (1867) e poi ordinario (1869) di filosofia a Marburg, anche se soggiorna a lungo in Italia per svolgere le ricerche necessarie a completare la sua monografia su Winckelmann, e proprio nell’anno in cui pubblica il secondo volume (1872) è chiamato a succedere a Anton Springer alla cattedra di „Kunstgeschichte“ a Bonn.31 Dunque, negli anni in cui lavora a Winckelmann und seine Zeigenossen – modello degli studî monografici che dedicherà in seguito ad artisti, da Diego Velazquez und sein Jahrhundert (1888) ai due volumi del suo Michelangelo. Beiträge zur Erklärung der Werke und des Menschen (1900 e 1909) – Justi approda all’insegnamento della storia dell’arte, abbandonando la storia della filosofia e i suoi interessi per l’estetica antica. Justi apre la narrazione del periodo degli studî universitari di Winckelmann lamentando lo scarsità e la mediocre qualità dei corsi di letteratura e arte classica che l’università di Halle poteva offrire al giovane „eroe“ – come lo definisce nell’introduzione al primo volume – destinato a fondare la storia dell’arte antica a dispetto delle umili origini, che lo avevano indotto a iscriversi alla facoltà di teologia per accedere alle borse di studio destinate agli studenti poveri. Riprendendo l’idea avanzata da Wolf in Winckelmann und sein Jahrhundert, Justi confronta la dispersione degli insegnamenti di antichistica a Halle con i segnali di una rinascita degli studî classici ravvisabili in altre università tedesche, in particolare nelle lezioni tenute da Christ a Lipsia.32 Come nel saggio di Wolf, anche in queste pagine di Justi le personalità di Christ e di Baumgarten emergono in un simbolico contrasto: da un lato, l’assenza a Halle di un professore come Christ, che avrebbe potuto risvegliare già in quegli anni l’interesse di Winckelmann per l’arte antica, e procurargli conoscenze che dovette in seguito faticosamente procurarsi da solo; dall’altro, la presenza di filosofi come Baumgarten, esponenti di quella „Schulphilosophie“ che Winckelmann avrebbe censurato nella Geschichte der Kunst des Altertums. Tuttavia, rispetto allo schizzo biografico di Wolf, lo scrupolo documentario che sostiene la narrazione di Justi porta alla luce relazioni tutt’altro che superficiali tra il filosofo che a questa data aveva delineato il progetto dell’estetica e l’irresoluto studente di teologia che, una ventina d’anni dopo, avrebbe concepito a Roma l’idea di una storia dell’arte. 31 Herbert

von Einem, Carl Justi 1832 – 1912, in: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 7/2 – 3 (1972), 216 – 230. 32 Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, hg. von Walther Rehm, Köln 51956, Bd. 1, 67. Nel seguito della narrazione, Justi assegna a Christ una posizione di rilievo nell’ambiente di antiquari, conoscitori e artisti sassoni in cui Winckelmann concepisce i Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst e cita numerosi giudizi di Christ sull’arte antica e moderna per mostrarne l’affinità con le idee esposte nei Gedanken, pur dubitando che Winckelmann abbia conosciuto gli scritti del professore di Leipzig. Si veda Bd. 1, 415 ff.

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Justi esordisce dichiarando, con una certa solennità, che Winckelmann seguì con insolita diligenza le lezioni di logica, storia della filosofia e metafisica tenute da Baumgarten – „Keinen hallischen Professor hat Winckelmann fleißiger gehört als Baumgarten“ – e sottolinea che il corso dedicato dal filosofo all’enciclopedia nel semestre invernale del 1739 – 1740 fu l’unico che Winckelmann frequentò per intero durante il soggiorno a Halle, come documenta la lettera di un compagno di studî alla facoltà di teologia, Gottlob Burchard Genzmer, indirizzata a Johann Arnold Ballenstedt nell’estate del 1768.33 Secondo Justi, Winckelmann fu anzi testimone della nascita dell’estetica – „Die Gründung der Wissenschaft des Schönen hatte sich unter Winckelmanns Augen in Halle vollzogen“ – dal momento che Baumgarten tenne corsi sulla disciplina ben prima di pubblicare l’Aesthetica (1750) e forse iniziò a trattarne i fondamenti nel suo ultimo anno di insegnamento a Halle, prima di trasferirsi a Frankfurt an der Oder alla fine del 1740; in ogni caso, nel periodo in cui Winckelmann segue i suoi corsi, Baumgarten aveva illustrato la definizione generale e le applicazioni dell’estetica nella Metaphysica (1739),34 e doveva occuparsene anche nelle sue lezioni sull’enciclopedia filosofica.35 Questa ricostruzione è contraddetta da numerose circostanze: innanzi tutto, come attestano i suoi biografi, Baumgarten tenne il primo corso di estetica nel semestre invernale 1742 – 1743 a Frankfurt, e solo nel semestre invernale 1745 – 1746 Meier, che gli era succeduto a Halle, cominciò a insegnare la disciplina in questa università, basandosi proprio sulle dispense del primo corso del maestro;36 ammesso poi che Winckelmann abbia seguito le lezioni di metafisica di Baumgarten, non lo avrebbe sentito parlare dell’estetica, perché nei corsi tenuti a Halle fino al 1739 il filosofo non seguiva ancora la sua Metaphysica, ma impiegava come manuale gli Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit di Gottsched (1733). Quanto al corso sull’enciclopedia filosofica, la cui frequenza da parte di Winckelmann è documentata dalla lettera di Genzmer, è improbabile che, nel contesto di un’introduzione generale alla filosofia e alle parti che la compongono, trovasse spazio l’esposizione formale di una disciplina che Baumgarten stava ancora delineando; in ogni caso, le parole di Genzmer, „wegen der Büchererkenntniß“, chiariscono che Winckelmann 33 „Er

studirte mit mir in Halle 1739 und 40, hielt aber kein Collegium ganz aus, außer Alexand. Gottl. Baumgartens Publicum, worin er die Encyclopädie vortrug; und dieses wegen der Büchererkenntniß, die dabey vorkam“ (Winckelmann, Briefe [nota 15], Bd. 4, 1957, 173). 34 Baumgarten, Metaphysica (nota 24), 282 f., 288 f., 304 f., 312 f., 320 f., 362 f. 35 Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen (nota 32), 91. 36 Si veda Georg Friedrich Meier, Alexander Gottlieb Baumgartens Leben [Halle 1763], hg. von Dagmar Mirbach, in: Alexander Aichele, D. M. (Hg.), Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus, Hamburg 2008 (= Aufklärung 20 [2008]), 353 – 373, qui 360. Baumgarten stesso suggerisce quella datazione nella prefazione dell’Aesthetica, dove ricorda il corso tenuto nel 1742 a Frankfurt. Si veda Baumgarten, Ästhetik (nota 24), Bd. 1, 3 f.



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non aveva seguito quel corso dall’inizio alla fine per allargare i proprî orizzonti filosofici, ma piuttosto per colmare rapidamente le lacune della sua formazione scolastica, cui già in questi anni cerca di porre rimedio attraverso risorse enciclopediche di ogni genere (dizionarî, compendî, miscellanee, bibliografie, cataloghi e indici di riviste), come mostrano i suoi taccuini di estratti.37 Justi ignora o travisa queste circostanze per suggerire che Winckelmann ha potuto conoscere a Halle, almeno in qualche misura, i principî di quella „Wissenschaft des Schönen“ di matrice platonica cui Baumgarten diede nuova vita, „diese[r] von ihm erneuete[n] platonische[n] Wissenschaft“. La tesi di una filiazione antica dell’estetica è decisamente insolita all’epoca in cui le prime storie della disciplina, a partire dalla Geschichte der Ästhetik di Robert Zimmermann (1858), ne rivendicano l’origine moderna, fissata dalla sua costituzione in quanto „philosophische Wissenschaft“ tra Baumgarten e Kant, e relegano le teorie dei filosofi antichi sulla bellezza e sull’arte alla „Vorgeschichte der Ästheti“.38 La lettura di Justi si riallaccia alle ricerche che aveva condotto sotto la guida di Zeller sugli „elementi estetici“ nella filosofia di Platone, con l’intento di ricostruirne la teoria del bello e dell’arte, ma soprattutto di far emergere l’ispirazione di carattere poetico, che a suo parere anima la speculazione del filosofo greco e trova espressione formale nei suoi scritti: in tal senso, Justi vede in Platone il modello del „felix aestheticus“ descritto all’inizio dell’Aesthetica (§§ 28 – 37) e nella sua opera – nel pensiero e nella forma in cui esso viene esposto – il nucleo originario della disciplina che già nella Metaphysica (§ 533) Baumgarten definisce „scientia sensitive cognoscendi et proponendi“, nonché „philosophia gratiarum et musarum“.39 Questa lettura permette a Justi di riconoscere un aspetto del progetto filosofico di Baumgarten che, in quegli stessi anni, storici dell’estetica come Zimmermann e Schasler tendono a ignorare, tradendo nel loro giudizio su Baumgarten e sulla sua „scuola“ – categoria largamente arbitraria, nella quale comprendono, oltre a Meier, filosofi quali Mendelssohn, Sulzer, Johann August Eberhard e Johann Joachim Eschenburg – un’insofferenza diffusa nella storiografia ottocentesca verso la cultura della Aufklärung.40 Quando nota che Baumgarten 37 Sulle

ansie enciclopediche che nutrono una parte considerevole dei taccuini di estratti raccolti da Winckelmann a partire proprio dal suo periodo di studî a Halle, si veda Décultot, Johann Joachim Winckelmann (nota 14), 59 – 66. 38 Nella prefazione Zimmermann dichiara che la storia dell’estetica inizia nel momento in cui essa assume l’aspetto di una specifica scienza – „mit deren Auftreten als besondere Wissenschaft“ – ma ammette che la riflessione sui concetti dell’estetica ha preceduto la sua costituzione scientifica, ragione per cui intende trattare almeno in sintesi le discussioni dei filosofi antichi sui principali oggetti dell’estetica, il bello e l’arte, come una „Vorgeschichte“ della disciplina. Si veda Robert Zimmermann, Aesthetik. Erster, historisch-kritischer Theil: Geschichte der Ästhetik als philosophische Wissenschaft, Wien 1858, XII f. 39 Baumgarten, Metaphysica (nota 24), 282 f.; Baumgarten, Ästhetik (nota 24), 26 – 33. 40 Zimmermann, Geschichte der Ästhetik als philosophische Wissenschaft (nota 38),

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concepì presto l’idea di rimediare alle lacune dell’educazione umanistica con gli strumenti della „Schulphilosophie“, Justi riconosce alle origini dell’estetica l’intenzione di ricucire lo strappo consumato nel XVII secolo tra filosofia e poesia, metodo geometrico e sistema delle arti liberali, un progetto che caratterizza l’elaborazione della disciplina dal suo annuncio nelle Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus alla matura concezione dell’Aesthetica, dove Baumgarten assegna alla „scientia cognitionis sensitivae“, in quanto „theoria artium liberalium“, oltre alla funzione epistemologica, di natura propedeutica e didattica rispetto alla logica, il compito di fornire principî ragionevolmente fondati agli „studia humanitatis“ e, per questa via, di migliorare la condotta morale nelle circostanze della vita comune.41 Justi sembra pensare che su quel terreno le discipline fondate da Baumgarten e da Winckelmann avrebbero potuto instaurare una collaborazione, che tuttavia non si è realizzata, come egli conclude citando un passo della Geschichte der Kunst des Altertums, nella versione del testo stabilita da Meyer nel 1811 per il quarto volume della raccolta dei Winckelmann’s Werke patrocinata da Goethe: da die Weltweisheit größtentheils geübt und gelehret worden von denen, die durch Lesung ihrer düstern Vorgänger in derselben, der Empfindung wenig Raum lassen können, und dieselbe gleichsam mit einer harten Haut überziehen lassen, hat man uns durch ein Labyrinth metaphysischer Spitzfindigkeiten und Umschweife, geführet, die am Ende vornehmlich gedienet haben, ungeheure Bücher auszuhecken und den Verstand durch Eckel zu ermüden.   Aus diesen Gründen ist die Kunst von philosophischen Betrachtungen ausgeschlossen geblieben, und die großen allgemeinen Wahrheiten, die auf Rosen zur Untersuchung der Schönheit und von dieser näher zu der Quelle derselben führen, da dieselben nicht auf das einzelne Schöne angewendet und gedeutet worden, haben sich in leeren Betrachtungen verloren.42

Il brano non compare nella prima edizione della Geschichte der Kunst des Altertums, perché Meyer rielabora l’edizione postuma apparsa a Vienna nel 1776, ossia la controversa redazione del testo approntata da Friedrich Justus Riedel sulla base dei materiali che Winckelmann aveva raccolto con l’intento di ripubblicare l’opera in forma ampliata e corretta. La polemica contro il „labirinto di cavilli metafisici e di errori“ prodotto dall’attitudine libresca della maggioranza dei filosofi è inserita in un luogo strategico del testo, in apertura della seconda 159 – 186; Max Schasler, Ästhetik als Philosophie des Schönen und der Kunst. Erster Theil: Kritische Geschichte der Aesthetik, Berlin 1872, 347 – 373. 41 Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen (nota 32), 90 f. Si veda Baumgarten, Ästhetik (nota 24), 12 f. 42 Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums (nota 11), 239, 241. Sull’edizione delle opere di Winckelmann curata da Carl Ludwig Fernow e da Johann Heinrich Meyer, con la collaborazione di Johann Karl Hartwig Schulze, si veda Élisabeth Décultot, Constructions éditoriales d’un mythe. L’élaboration des Winckelmann’s Werke à Weimar (1808 – 1820), in: Revue germanique internationale, 1 – 2 (2005), 23 – 34.



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sezione del capitolo sull’arte dei Greci, dove Winckelmann determina un „concetto positivo“ del bello: se i principî generali non sono applicati per illustrare la bellezza di singole opere d’arte, la speculazione filosofica non può che condurre a considerazioni astratte. Sia che Winckelmann – conclude Justi – si riferisca proprio all’estetica di Baumgarten parlando di „leere Betrachtungen“, sia che nella sua opera abbia semplicemente ignorato la scienza filosofica che aveva visto nascere a Halle, il suo atteggiamento non rivela solo mancanza di „philosophischer Sinn“, ma annuncia la „Divergenz“ che da allora ha separato i rappresentanti del „Kunstwelt“ da quanti si occupano di arte per interessi esclusivamente speculativi.43 Nonostante la lettura platonizzante dell’opera di Baumgarten, dovuta ai suoi studî filosofici giovanili, sembri sollecitare Justi a individuare tra estetica e storia dell’arte uno spazio di collaborazione che gli appare storicamente possibile all’epoca della loro fondazione, l’esperienza intellettuale di Winckelmann dimostra che quel connubio non si è mai realizzato e prefigura una separazione sempre più profonda nell’evoluzione delle due discipline nel corso del XIX secolo, la scissione che ha indotto lo stesso Justi a compiere una scelta di campo accademico, dal contestato ambito dell’estetica antica a quello emergente della storia dell’arte moderna, negli anni in cui lavora alla monografia su Winckelmann. Quando Justi, tra 1866 e 1872, torna a confrontarsi con la vita e l’opera di Winckelmann, in un’epoca in cui storici dell’arte e archeologi si limitano in genere a celebrare in convenzionali occasioni accademiche la personalità del fondatore della disciplina, un rinnovato interesse per il pensiero di Winckelmann emerge nelle narrazioni della storia dell’estetica, che in questi anni cominciano a apparire in Germania. Nel 1858 Zimmermann pubblica la Geschichte der Ästhetik als philosophische Wissenschaft come prima parte, a carattere storico-critico, della teoria estetica che espone in seguito nella Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft (1865), inaugurando un paradigma storiografico accolto nelle successive opere di Hermann Lotze (1868)44 e di Max Schasler (1872), e applicato ancora da Benedetto Croce nell’articolazione di Teoria e Storia nell’Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale (1902).45 Nell’intro43 Justi,

Winckelmann und seine Zeitgenossen (nota 32), 91. Lotze, Geschichte der Aesthetik in Deutschland, München 1868. Il manuale ­costituisce il settimo volume della serie Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit pubblicata dalla Historische Kommission della Bayerische Akademie der Wissenschaften in 24 volumi tra 1864 e 1913. 45 Su questa paradigma storiografico si veda Luigi Russo, Palermo 1988 (Aesthetica Preprint, 19), 23 f, 123 – 128. Un’eccezione a questo modello di storia disciplinare alla fine del XIX secolo è l’opera di Stein Die Entstehung der neueren Ästhetik (1886), che individua l’origine della riflessione estetica moderna nel classicismo francese alla fine del XVII secolo e ne ricostruisce l’evoluzione lungo una linea essenzialmente classicista, attraverso l’estetica britannica e francese, fino al dibattito degli autori svizzeri, italiani e tedeschi, che si conclude proprio con Winckelmann, perché nella sua concezione estetica sembra riassumersi l’intera questione, come 44 Hermann

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duzione Zimmermann osserva che è passato più di un secolo dalla pubblicazione dell’Aesthetica di Baumgarten, eppure, dopo la rassegna di Koller nell’Entwurf zur Geschichte und Literatur der Ästhetik (1799) non sono comparse narrazioni sistematiche della storia dell’estetica e le sole fonti disponibili sono brevi introduzioni di carattere storico ai corsi di estetica tenuti da autorevoli filosofi tedeschi nei primi decenni del secolo, come Karl Wilhelm Ferdinand Solger nelle sue Vorlesungen über Ästhetik (1829) e Hegel nell’introduzione delle Vorlesungen über die Ästhetik pubblicate da Heinrich Gustav Hotho tra 1835 e 1838.46 Era stato proprio Hegel a suggerire in quel contesto una rapida ma suggestiva valutazione dell’opera di Winckelmann nella prospettiva dell’estetica. In un passo della „Historische Deduktion des wahren Begriffs der Kunst“, Hegel inserisce Winckelmann alle origini del processo speculativo che condusse dapprima lo spirito poetico e al tempo stesso filosofico di Schiller a esprimere l’esigenza di conciliare nell’educazione estetica l’antitesi di „realtà“ e „concetto“, „necessità“ e „libertà“, „particolare“ e „universale“, che Kant si era limitato a porre sul piano soggettivo delle idee della ragione (per quanto riguarda l’estetica, dal punto di vista del giudizio riflettente), e permise in seguito a Schelling di superare l’astratta opposizione tra soggetto e oggetto nell’unità dell’Idea, riconosciuta come unico principio della conoscenza e dell’esistenza: Ohnehin war früher schon Winckelmann durch die Anschauung der Ideale der Alten in einer Weise begeistert, durch welche er einen neuen Sinn für die Kunstbetrachtung aufgethan, sie den Gesichtspunkten gemeiner Zwecke und blosser Naturnachahmung entrissen und in den Kunstwerken und der Kuntgeschichte die Kunstidee zu finden mächtig aufgefordert hat. Denn Winckelmann ist als einer der Menschen anzusehen, welche im Felde der Kunst für den Geist ein neues Organ und ganz neue Betrachtungsweisen zu erschliessen wussten.47

Pur precisando che l’opera di Winckelmann non ha esercitato un’influenza decisiva sulla costituzione di una teoria scientifica dell’arte, Hegel propone un paradigma alternativo alla lettura goethiana, evocando al posto della scoperta di un territorio inesplorato della ricerca storica (paragonata da Goethe all’impresa di Colombo) la creazione di un nuovo organo dello spirito destinato a rivoluzionare il modo di vedere l’arte, liberandola da un rapporto semplicemente mimetico con la natura e orientandola a cercare nelle singole opere, e nell’evoluzione complessiva della „Kunstgeschichte“, la „Kunstidee“, il contenuto spirituale che trova espressione sensibile nell’arte. Al di là di questo apprezzamento, riferendosi a Winckelmann nel contesto della „deduzione storica del vero concetto dell’arte“ che prende avvio da Kant, Stein anticipa nella prefazione e chiarisce nell’ultimo capitolo. Si veda Karl Heinrich Stein, Die Entstehung der neueren Ästhetik, Stuttgart 1886, 370 – 414. 46 Zimmermann, Geschichte der Ästhetik als philosophische Wissenschaft (nota 38), Vf. 47 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in: G. F. H., Werke, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986, Bd. 13, 92.



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Hegel separa la posizione di Winckelmann da quella dei filosofi tedeschi suoi contemporanei, ossia Baumgarten e gli esponenti della „Wolffische Schule“ che, come sostiene all’inizio dell’introduzione, pretesero di fondare una scienza filosofica concepita come „Wissenschaft des Sinnens, des Empfindens“, in quanto consideravano le opere d’arte solo in rapporto ai sentimenti che suscitano, e perciò la chiamarono „Ästhetik“, nome che Hegel ritiene inadeguato per designare quella che, in senso proprio, è la „Philosophie der schönen Kunst“, ma decide di conservare nelle sue lezioni, nella misura in cui esso si è imposto nel linguaggio comune.48 Questa valutazione del pensiero di Winckelmann si inserisce in una concezione dell’estetica, intesa appunto come filosofia dell’arte bella, che intende ricomprendere dialetticamente la storia universale – sul piano cronologico e geografico – di tutte le belle arti, compresa la „Kunstgeschichte“: in questa prospettiva, Hegel accoglie nel suo sistema estetico l’ideale della scultura greca concepito da Winckelmann e ne descrive genesi, maturazione e declino nei termini della Geschichte der Kunst des Altertums (con qualche riserva dovuta alle nuove acquisizioni archeologiche), ma limita storicamente la validità della bellezza „classica“ dei Greci al periodo compreso tra l’arte „simbolica“ degli antichi popoli orientali e la moderna arte „romantica“.49 L’idea alla base dell’interpretazione di Hegel – l’affinità di Winckelmann con la speculazione post-kantiana, piuttosto che con l’estetica del suo tempo – riaffiora variamente nelle storie dell’estetica nella seconda metà del XIX secolo. Il brano dell’introduzione delle Vorlesungen über die Ästhetik è citato con enfasi dall’hegeliano Schasler, che nella dedica della Kritische Geschichte der Aesthetik al suo maestro Karl Rosenkranz rende omaggio anche ai due „Heroen des Gedankens“ Aristotele e Hegel, mentori di tutti i filosofi: l’elogio di Hegel, commenta Schasler, dimostra come „ein grosser und reiner Geist“ sappia celebrarne un altro, anche se appartengono a sfere molto distanti.50 La narrazione di Zimmermann non aderisce direttamente alla lettura delle Vorlesungen über die Ästhetik di Hegel, ma la posizione di Winckelmann nello schema evolutivo della „Historische Deduktion“ hegeliana sembra essergli ben presente. Fin dall’introduzione della Geschichte der Ästhetik, Zimmermann si confronta criticamente 48 Op.

cit., 13. Hegel prosegue la polemica contro la concezione settecentesca dell’estetica quando discute le opinioni comuni sull’arte, in particolare l’idea che l’opera d’arte è prodotta per i sensi, per cui la „schöne Kunst“ dovrebbe suscitare sentimenti gradevoli, „die angenehme Empfindung“: in questa prospettiva, Mendelssohn e gli altri filosofi dell’epoca – „aus Moses Mendelssohns Zeiten“ – identificarono lo studio delle belle arti con l’analisi dei sentimenti che le opere d’arte possono suscitare, e del modo in cui un sentimento sgradevole, come la paura, può diventare piacevole nell’arte, senza capire che il sentimento non può mai sollevarsi oltre l’astratta soggettività del singolo. Si veda op. cit., 52 f. 49 Ernst H. Gombrich, Hegel und die Kunstgeschichte, in: Neue Rundschau 88/2 (1977), 202 – 219. 50 Schasler, Kritische Geschichte der Aesthetik (nota 40), 386.

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con la prospettiva idealistica e hegeliana, notando come la speculazione filosofica a partire da Schelling assuma un carattere eminentemente estetico, nella misura in cui pone a fondamento l’intuizione intellettuale: nella bellezza sembra realizzarsi quel superamento del dualismo di libertà e necessità, razionalità e sensibilità, che Schiller considerava ancora (nella prospettiva kantiana) un „imperativo“ della ragione pratica, e la filosofia dell’arte viene identificata con la conoscenza assoluta –nell’idealismo trascendentale di Schelling – o ritenuta la sua fase iniziale, la prima delle forme in cui si manifesta il processo dello Spirito Assoluto – nel sistema di Hegel. Zimmermann dubita che tale pretesa „Erhöhung“ speculativa abbia favorito l’arte e soprattutto la critica, ridotta al compito di sancire la legittimità di ogni singola forma assunta storicamente dalla produzione artistica in quanto stadio necessario nello svolgimento assoluto dell’idea, e al contempo la sua illegittimità rispetto all’intero processo, con la conseguenza di diffondere, da un lato, un soggettivismo restio a accogliere le opinioni altrui, „der intoleranteste Subjectivismus“, e, dall’altro una placida indifferenza, „der indifferente gemüthliche Quietismus“, che hanno finito per screditare non solo la critica, ma anche la sua „Mutter und Quell“, la scienza madre dell’estetica. In tale situazione Zimmermann ritiene più che mai necessario uno sguardo panoramico sulla storia dell’estetica per individuare in una specie di mappa i punti in cui la „philosophische Wissenschaft des Schönen und der Kunst“ ha preso le strade sbagliate.51 La Geschichte der Ästhetik costituisce in questo senso una propedeutica storico-critica all’esposizione sistematica della teoria estetica di Zimmermann, concepita come una „Wissenschaft der Form“ nella prospettiva della metafisica „realista“ di Johann Friedrich Herbart in opposizione alla concezione idealistica e hegeliana della forma come espressione di un contenuto spirituale.52 Dopo aver riassunto nel primo libro la „Vorgeschichte der Ästhetik“, esaminando le teorie di Platone, Aristotele e Plotino e accennando ai pochi episodî significativi nella „grosse Lücke“ della storia dell’estetica dal III al XVIII secolo (l’emergere della fantasia nella letteratura ecfrastica, il sublime nel saggio dello Pseudo-Longino, la metafisica agostiniana del bello, la „rinascita“ della filosofia antica nel Rinascimento, il primato delle scienze naturali e della speculazione metafisica nel pensiero di Bacon, Descartes, Spinoza e Leibniz), Zimmermann considera l’epoca che avvia – ma non compie ancora – la fondazione dell’estetica in quanto scienza filosofica, dalla sua „Einführung“ nell’Aesthetica di Baum51 Zimmermann,

Geschichte der Ästhetik als philosophische Wissenschaft (nota 38), IX–XII. „terreno“ per la trattazione teorica della Ästhetik, come Zimmermann si esprime nell’introduzione, è preparato in particolare nel quarto e ultimo libro della Geschichte der Ästhetik, dedicato all’estetica del XIX secolo, che distingue le teorie variamente riconducibili a „Idealismus“ (Fichte, Schelling, Friedrich Schlegel, Schleiermacher e Schopenhauer), „Historismus“ (Solger, la „historische Aesthetik“ di Hegel e della scuola hegeliana, in particolare Friedrich Theodor Vischer e Christian Hermann Weisse) e „Realismus“ (Herbart e la sua scuola). 52 Il



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garten alla sua „Reform“ nella Kritik der Urteilskraft di Kant (1750 – 1790).53 La narrazione si articola in tre sezioni, come nel libro precedente e nei successivi: l’estetica tedesca di Baumgarten e della sua scuola (Meier, Mendelssohn, Sulzer, Eschenburg e Eberhard) fino a Lessing; le teorie dei „Nicht-deutsche Aesthetiker“, ossia i filosofi francesi54 e britannici, e pochi autori olandesi e italiani; infine, il gruppo dei „Künstler und Kunstfreunde“, Winckelmann, Mengs e Goethe, che non appaiono legati a nessuna scuola filosofica, ma basano direttamente le loro teorie sull’osservazione e sulla pratica dell’arte. In questa ricostruzione della fase iniziale del processo con cui l’estetica ha conquistato l’autonomia di una scienza filosofica – una storia programmaticamente moderna, e ostentatamente tedesca, al punto che autori di altre nazionalità possono entrarvi solo in quanto „Nicht-deutsche“ – la riflessione di Winckelmann appare separata, già nella struttura formale del libro, non solo dalle teorie di Baumgarten e degli esponenti della sua scuola, ma anche dall’estetica di Lessing, al quale Zimmermann riconosce un ruolo di mediatore tra Baumgarten e Kant. A suo parere, Lessing concorda ancora con Baumgarten nel ricondurre la bellezza della forma a un concetto oggettivo di perfezione, intesa sui presupposti della metafisica leibniziana come armonia di una molteplicità nell’unità, ma si avvicina alla prospettiva di Kant nella misura in cui fonda il sentimento del piacere sulla coscienza che il soggetto acquista della propria „Realität“, come Lessing si esprime fin dal 1757 in una lettera a Mendelssohn, che solleciterà l’amico a individuare nelle tarde Morgenstunden (1786) l’ambito estetico del „Billigungsvermögen“, intermedio tra il dominio conoscitivo e quello pratica, anticipando la tripartizione kantiana delle facoltà nella Kritik der Urteilskraft.55 Questa interpretazione dell’estetica di Lessing, che verrà ben

53 Della fondazione filosofica della disciplina, resa possibile dalla „Reform“ kantiana, Zimmermann tratta nel libro seguente, in cui esamina, oltre a Kant, la teoria di Herder, in opposizioe all’estetica kantiana, e la posizione di Schiller. 54 Zimmermann riconduce le teorie francesi (in particolare Du Bos, Batteux, Diderot) alla tradizione aristotelica dell’imitazione della natura, o della „belle nature“. A questo proposito, accenna alla recente „Uebertragung“ dell’estetica tedesca in Francia, favorita inizialmente dal platonismo di Victor Cousin, che si oppose alle correnti sensiste e materialiste e aprì la strada alla diffusione dell’idealismo tedesco, e proseguita in forma più diretta negli Etudes esthétiques di Adolphe Pictet (1856), che rielabora l’estetica dell’hegeliano Vischer. Si veda op. cit. 220 f. 55 Op. cit., 201 – 203. Zimmermann si riferisce alla lettera indirizzata da Lessing a Mendelssohn il 2 febbraio 1757, nel contesto della loro corrispondenza sulla tragedia. Si veda Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 11/1: Briefe von und an Lessing 1743 – 1770, hg. von Helmuth Kiesel u. a., Frankfurt am Main 1987, 165 – 169, qui 166.

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presto contestata da Lotze56 e da Schasler,57 fa risaltare ancora di più l’isolamento di Winckelmann nella cultura filosofica e letteraria tedesca dell’epoca, tanto più che Zimmermann solleva qualche dubbio anche sulla sua affinità con gli altri „Kunstfreunde“, ai quali pure lo associa: non senza un intento provocatorio nei confronti del paradigma storiografico della Deutsche Klassik, lo storico dell’estetica denuncia l’atteggiamento propagandistico – „Es war Göthe’s ausgesprochene Tendenz für Winckelmann’s ausschliessliche Verehrung der Antike Propaganda zu machen“ – con cui Goethe, dopo il suo viaggio in Italia, utilizza le idee di Winckelmann per incoraggiare una riforma della poesia e delle arti figurative, e precisa che, se quel programma non ebbe il successo sperato, non fu tanto per la fronda dei Romantici, quanto per l’intimo conflitto vissuto da Goethe tra l’adesione all’estetica del bello ideale e il „Naturalismus“ degli scritti giovanili, che sopravvive nelle opere della maturità.58 L’opacità dei rapporti tra la riflessione di Winckelmann e la coeva estetica tedesca sembra dovuta, in generale, alla difficoltà di individuare principî filosofici nei suoi scritti, una difficoltà che Zimmermann ammette fin dall’inizio delle pagine che gli dedica, e spiega con l’inclinazione di Winckelmann a contemplare, piuttosto che a riflettere: „Seine ganze Natur war mehr anschauend als reflektirend.“ In tal senso, richiama il brano della Geschichte der Kunst des Altertums, in cui Winckelmann attribuisce la rarità di „philosophische Betrachtungen“ nella conoscenza dell’arte all’attitudine dei filosofi a leggere più che a osservare, e lamenta di aver cominciato a riflettere troppo tardi sulla bellezza, ma in quelle parole non vede – come Justi qualche anno dopo – la critica di Winckelmann all’estetica di Baumgarten, bensì la modesta ammissione dei suoi limiti in campo filosofico, tipica di un grande uomo: „So bescheiden, eines grossen Mannes würdig, drückt sich Winckelmann über den philosophischen Theil seiner Aufgabe aus, wo er sich selbst nicht recht zu Hause fühlen möchte.“59 Alla tendenza 56 Lotze mette in dubbio la lettura formalista dell’estetica di Lessing proposta da Zimmermann e sottolinea piuttosto l’avversione per una speculazione astratta sull’arte, che accomuna Lessing e Winckelmann. Si veda Lotze, Geschichte der Aesthetik in Deutschland (nota 44), 17, 28 f. 57 Per Schasler Lessing e Winckelmann fondano una „objektive Kunstkritik“ in opposizione al carattere astratto della speculazione di Baumgarten sull’arte, anche se, nel comune carattere oggettivo, che determina uno stadio della riflessione più maturo, la critica di Winckelmann mantiene un carattere intuitivo rispetto a quello propriamente riflessivo di Lessing. Si veda Schasler, Kritische Geschichte der Aesthetik (nota 40), 63, 378 f. 58 Zimmermann, Geschichte der Ästhetik als philosophische Wissenschaft (nota 38), 355 f. 59 Op. cit., 319. Zimmermann si riferisce alla conclusione del brano: „Lange, aber zu spät, habe ich derselben [der Schönheit] nachgedacht, und in dem schönsten und reifen Feuer der Jahre ist mir ihr Wesen dunkel geblieben, daher ich nur unkräftig und ohne Geist von denselben reden kan [sic]; meine Bemühung kan [sic] indessen andern der Antrieb zu gründlichern und von der Gratie begeisterten Lehren werden“ (Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums [nota 11], 241).



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di Winckelmann a osservare più che a riflettere si aggiungono le sue smisurate conoscenze antiquarie, che interrompono di continuo, e dunque disturbano la considerazione puramente estetica, „die rein ästhetische Betrachtung“, dell’arte. Ma lo storico dell’estetica deve farsi largo nella straordinaria ricchezza dei materiali raccolti da Winckelmann, escludendo dalla sua prospettiva gli indiscussi meriti dello storico dell’arte, per cercare lui il pensatore che ha riflettuto da filosofo sulla belezza: Nur auf diesen aber ist hier unser Augenmerk zu richten. Winckelmann, der Kunsthistoriker, der Kenner des Altertums, der feinsinnige Beurtheiler des Schönen und Erhabenen liegt über alle Zweifel erhaben, die Zierde und der Stolz der Nation hier ausserhalb des Kreises unserer Betrachtung, die sich lediglich an Winckelmann, den philosophischen Denker über das Schöne wendet.60

Da questo punto di vista, Zimmermann critica soprattutto i Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, rimproverando a Winckelmann di trarre i principî estetici semplicemente dall’osservazione delle opere dell’arte antica, che egli assume come una „positive Grundlage“ della sua analisi: tale attitudine positivista appare a Zimmermann inconciliabile con la ricerca filosofica in generale, e con una „Philosophie des Schönen“ in particolare, in quanto considera come data la regola che andrebbe invece cercata.61 Quanto alla Geschichte der Kunst des Altertums e a altri scritti concepiti a Roma, Zimmermann dà atto a Winckelmann di assumere un approccio più filosofico nel tentativo di definire la bellezza, e sottolinea l’origine essenzialmente platonica di questa riflessione. Riconosce „der heimliche Platoniker“ nella diffidenza nei confronti del piacere dei sensi, identificato con la seduzione del colore, che induce Winckelmann a attribuire il sentimento del bello a un „innerer Sinn“ spirituale nella Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst (1763), e non manca di ricordare che, in questo saggio, Winckelmann rivendica il ricorso a „concetti platonici“: „Sie werden hier sagen, mein Liebster, ich stimme mit Platonischen Begriffen an, die vielen diese Empfindung absprechen könnten; Sie wissen aber, daß man im Lehren, wie in Gesetzen, den höchsten Ton suchen muß, weil die Saite von selbst nachläßt: ich sage, was seyn sollte, nicht was zu seyn pflegt […]“.62 Zimmermann accenna a un possibile rapporto fra la teoria di Winckelmann e l’estetica di Baumgarten a proposito della distinzione dei compiti della sensibilità e dell’intelletto nella percezione e nella valutazione della bellezza, ma solo per chiarire che Winckelmann la concepisce in termini platonici, in riferimento alla teoria del piacere 60 Zimmermann,

Geschichte der Ästhetik als philosophische Wissenschaft (nota 38), 314. Winckelmman’sche Aesthetik fängt gerade da an, wo eine echte Kunstphilosophie aufhören müsste, indem diese die Regel gibt, jene sich als gegeben voraussetzt“ (op. cit., 316). 62 Winckelmann, Kleine Schriften (nota 17) 217. Si veda Zimmermann, Geschichte der ­Ästhe­t ik als philosophische Wissenschaft (nota 38), 322 ff. 61 „Die

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intellettuale nel Filebo: „Der Ausdruck in der Kunstgeschichte, dass der Sinn es empfindet, der Verstand erkenne weist nach der Baumgarten’schen Schule; seine eigene Andeutung auf den platonischen Sprachgebrauch im Philebos.“63 Un chiaro „Rest“ del platonismo di Winckelmann appare infine a Zimmermann, conformemente alla sua interpretazione della metafisica platonica del bello nel primo libro della Geschichte der Ästhetik, l’idea di una bellezza assolutamente indefinita dal punto di vista formale e espressivo, priva di tratti individuali, ossia la „Unbezeichnung“ che Winckelmann attribuisce alla „höchste Schönheit“ e illustra con la celebre metafora dell’acqua di sorgente, tanto più sana e pura, quanto meno ha gusto.64 Nonostante Zimmermann non ignori le contraddizioni e le oscillazioni con cui Winckelmann si riferisce a Platone nei suoi scritti, la conclusione – „So wurzelt Winckelmanns Lehre ihrem Wesentlichen nach im Boden der Platonischen Aesthetik.“ – indica che a suo parere le radici filosofiche della sua riflessione sul bello vanno cercate essenzialmente nella tradizione platonica,65 ammettendo occasionali contaminazioni con le altre scuole del pensiero antico, ma escludendo la filosofia moderna, in particolare la metafisica e l’epistemologia leibniziana alla base dell’estetica di Baumgarten. Questa idea attraversa la storiografia ottocentesca fino a trovare una radicale affermazione all’inizio del XIX secolo in Freiheit und Form di Ernst Cassirer (1916). Abbandonando la prospettiva disciplinare degli storici dell’estetica, Cassirer esamina l’origine e l’evoluzione della „ästhetische Formwelt“ nel XVIII secolo come un episodio fondamentale della storia intellettuale tedesca tra Leibniz e Hegel, e in quel processo continuo, in cui la metafisica leibniziana offre spunti dapprima alle „poetiche critiche“ di Gottsched, Bodmer e Breitinger, poi all’estetica di Baumgarten, infine a Lessing e a Herder – vede in Winckelmann un brusco momento di rottura, provocato dall’improvvisa e vivida intuizione del mondo delle forme dell’arte greca, che egli cerca di comunicare con le idee della filosofia platonica: Wie er in der Betrachtung des Schönen zu den griechischen Urbildern hinstrebt, so ist er innerhalb seines nächsten Bildungskreises fast der einzige, der von Leibnizischen Lehren nicht berührt wird – sondern über sie hinweg greift er auf Platon und der Platonismus der Renaissance zurück, um hier den Ausdruck und die Rechtfertigung seiner Gesamtansicht zu finden.66 63 Op.

cit., 323. Si veda Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums (nota 11), 246: „Die Schönheit wird durch den Sinn empfunden, aber durch den Verstand erkannt und begriffen [...]“. 64 Zimmermann, Geschichte der Ästhetik als philosophische Wissenschaft (nota 38), 329 – 334. Si veda Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums (nota 11), 252. 65 Sul rapporto con la filosofia platonica si vedano Ulrike Gertrud Maria Rein, Winckelmanns Begriff der Schönheit. Über die Bedeutung Platons für Winckelmann, Bonn 1972, e Markus Käfer, Winckelmanns hermeneutische Prinzipien, Heidelberg 1986, 106 – 121. 66 Ernst Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, bearbeitet von



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Zimmermann, tuttavia, non si limita a indicare l’origine platonica della riflessione estetica di Winckelmann e, nel momento in cui riconosce nell’ideale di una bellezza assoluta un elemento caratteristico della metafisica platonica del bello, ricorda l’interesse che quell’ideale suscita in Schelling. Secondo Zimmermann, Winckelmann tende ancora a confondere dominio etico e estetico e finisce per attribuire il grado più alto della bellezza all’essenza divina, all’unità e all’indivisibilità di un essere puramente spirituale, cui il concetto umano del bello dovrebbe conformarsi per quanto possibile,67 senza preoccuparsi di spiegare come si possa pensare nell’infinito il processo che dà forma, „Bildung“, e costituisce l’essenza del bello. Proprio queste dichiarazioni, commenta in conclusione, valsero a Winckelmann l’apprezzamento di Schelling, insieme al rimprovero di non essersi spinto oltre in quella direzione: „Aber gerade diese Stelle ist es gewesen, welche ihrem Verfasser das Lob eines Schelling eingetragen hat, ein Lob, bedenklicher freilich, als mancher Tadel.“68 Zimmermann si riferisce, citandone alcuni passaggi, a un brano del discorso Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur tenuto alla Bayerische Akademie der Wissenschaften nell’ottobre 1807, nel quale Schelling dà atto a Winckelmann di aver opposto alla comune concezione mimetica dell’arte l’idea che l’artista debba produrre una „idealische[r] und über die Wirklichkeit erhabne]r] Natur“ e in tal modo esprimere concetti spirituali, ma constata che in questa teoria la natura appare ancora un mero prodotto, anzichè una forza produttiva, „eine[r] lebendige[n] schaffende[n] Natur“. Winckelmann ha certo conosciuto la somma bellezza – „Wer kann sagen, daß Winckelmann die höchste Schönheit nicht erkannt?“ – ma solo nei suoi elementi separati, bellezza del concetto e bellezza della forma, senza cogliere il legame, il „Mittelglied“ che riesce a tenerli uniti, senza comprendere, cioè, come le forme siano prodotte a partire dal concetto, e perciò ha tentato di raggiungere l’essenza a partire dalla forma, con un metodo che Schelling definisce regressivo, „rückschreitend“, e ritiene incapace di pervenire all’incondizionato. È a questo punto che il filosofo nota, con le parole commentate da Zimmermann, come nella concezione di Winckelmann venga a mancare quell’evento miracoloso, il „Wunder“ per cui il condizionato von Reinold Schmücker (Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Bd. 7), Hamburg 2001, 135. 67 „Die höchste Schönheit ist in Gott, und der Begriff der Menschlichen Schönheit wird vollkommen, je gemäßer und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten Wesen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der Einheit und der Untheilbarkeit von der Materie unterscheidet. Dieser Begriff der Schönheit ist wie ein aus der Materie durchs Feuer gezogener Geist, welcher sich suchet ein Geschöpf zu zeugen nach dem Ebenbilde der im Verstande der Gottheit entworfenen ersten vernünftigen Creatur“ (Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums [nota 11], 250). Si veda Zimmermann, Geschichte der Ästhetik als philosophische Wissenschaft (nota 38), 327. 68 Op. cit., 328.

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si fa incondizionato, l’umano diventa divino.69 Schelling precisa, tuttavia, che la teoria di Winckelmann va considerata la causa occasionale piuttosto che efficiente, „mehr die veranlassende als die bewirkende Ursache“, di quel fraintendimento dell’essenza dell’arte in rapporto alla natura, e, a conclusione, celebra la sua eccezionale personalità intellettuale e morale: Er stand in erhabener Einsamkeit, wie ein Gebirg, durch seine ganze Zeit: kein antwortender Laut, keine Lebensregung, kein Pulsschlag im ganzen weiten Reiche der Wissenschaft, der seinen Streben entgegenkam. Als seine wahren Genossen kamen, da eben wurde der Treffliche dahingerafft. Und dennoch hat er so Großes gewirkt! Er gehört durch Sinn und Geist nicht seiner Zeit, sondern entweder dem Altertum an, oder der Zeit, deren Schöpfer er wurde, der gegenwärtigen.70

A Schelling Winckelmann appare isolato nel suo tempo, distante da contemporanei sordi alle sue aspirazioni e scomparso proprio nel momento in cui avrebbe potuto confrontarsi con spiriti più affini: estraneo al secolo in cui vive, Winckelmann appartiene all’età antica (come Goethe aveva sostenuto due anni prima), o alla nuova epoca che ha contribuito a creare, al presente. L’impressione che Winckelmann, nel riflettere sul bello e sull’arte, pensasse come un uomo dell’antichità, o come un uomo del primo Ottocento, ma, in ogni caso, non come un uomo – e tanto meno come un filosofo – del Settecento, non sembra estranea a Zimmermann. Certo, nella prospettiva critica della Geschichte der Ästhetik, egli evita la contaminazione di vita e opera, caratteristica delle commemorazioni accademiche, compreso l’elogio della „Akademierede“ di Schelling, ma la posizione che assegna a Winckelmann sembra confermare il giudizio del filosofo idealista, e in fondo anche la lettura di Hegel, che suggerisce una linea evolutiva di carattere culturale, se non strettamente filosofico, da Winckelmann a Schiller, fino allo stesso Schelling. Escluso ogni rapporto con le teorie dei filosofi tedeschi della Aufklärung, i soli concetti propriamente filosofici (sebbene incoerenti) alla base della riflessione di Winckelmann sulla bellezza sono per Zimmermann, quelli che egli ricava da Platone, e che Schelling a sua volta ritrova nella sua opera per svilupparli nella prospettiva idealistica. Non troppo diversa appare la posizione di Winckelmann nella Kritische Geschichte der Ästhetik di Schasler, anche se determinata nella prospettiva hegeliana: la contemplazione dell’arte antica permette a Winckelmann di sottrarsi alla riflessione astratta di Baumgarten e di condurre, nella dialettica della storia, all’estetica dell’epoca seguente. Certo, scrivendo nel 1872, Schasler non ignora la circostanza, documentata nel primo volume della monografia di Justi, che 69 „Das

Wunder, wodurch das Bedingte zum Unbedingten gehoben, das Menschliche ein Göttliches werden sollte, bleibt aus; der magische Kreis ist gezogen, aber der Geist, der sich in ihm fassen sollte, erscheint nicht, umfolgsam dem Rufe dessen, der eine Schöpfung durch die bloße Form für möglich hielt“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur, hg. von Lucia Sziborsky, Hamburg, 1983, 8). 70 Op. cit., 9 f.



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Winckelmann ha seguito a Halle le lezioni di Baumgarten, ma, accogliendo l’interpretazione del biografo, legge il passo dell’edizione postuma della Geschichte der Kunst des Altertums in cui Winckelmann accusa i filosofi di aver trasformato la riflessione sul bello in un „labirinto di cavilli metafisici“ come una testimonianza dell’avversione che ha maturato a contatto dei tesori dell’arte antica per l’arido e sterile insegnamento di Baumgarten. Sullo sfondo della polemica di Hegel contro l’intellettualismo astratto della Aufklärung, Schasler ritiene che con Winckelmann si abbandoni all’improvviso l’atmosfera nebbiosa e soffocante della „abstrakte[n] Verstandesreflexion“, e dichiara ciò che Zimmermann si limita a suggerire, ossia che l’opera di Winckelmann è un primo passo verso l’estetica successiva: „wenn die spätere Aesthetik im Stande gewesen ist, sich zu dem Ueberblick eines erweiterten Horizonts zu erheben, so dürfen wir nicht vergessen, dass es hauptsächlich seine Schriften gewesen sind, die ihn als Staffel gedient haben.“.71 D’altra parte, sempre per reazione alla riflessione astratta di Baumgarten, Winckelmann definisce concetti estetici generali osservando le opere dell’arte antica, e perciò privilegia la scultura rispetto alle altre forme del bello artistico: il suo „Zurückgehen auf die Antike“ costituisce una limitazione unilaterale della sua concezione estetica, ma indica un progresso speculativo, proprio in quanto avvia il necessario superamento della teoria di Baumgarten.72 Se nel corso del XIX secolo la cultura letteraria e artistica tedesca denuncia l’estraneità della personalità e dell’opera di Winckelmann all’estetica filosofica, adottando strategie e finalità diverse (dalla rivendicazione di una differenza quasi „antropologica“ sostenuta da Goethe in Winckelmann und sein Jahrhundert alla constatazione di una precoce scissione disciplinare, documentata da Justi nel primo volume di Winckelmann und seine Zeitgenossen), la pertinenza della sua riflessione sulla bellezza dell’arte al discorso scientifico, se non all’ambito accademico dell’estetica è rivendicata nella seconda metà del secolo dagli storici della disciplina, solo venendo a patti con l’ostilità e l’indifferenza che Winckelmann dimostra, in generale, nei confronti dei filosofi della sua epoca, e in particolare verso i connazionali. Come mostra la Geschichte der Ästhetik di Zimmermann, primo esempio di un paradigma sviluppato dagli storici seguenti, a prescindere dall’indirizzo speculativo che orienta la narrazione (come nel caso di Schasler), l’esame del pensiero di Winckelmann si inserisce in un libro decisivo nella concezione dell’opera, dedicato al periodo in cui Baumgarten avvia la fondazione scientifica dell’estetica, compiuta a fine secolo da Kant, 71 Schasler,

Kritische Geschichte der Aesthetik (nota 40), 380 f. cit., 385 – 386. A differenza di Zimmermann, tuttavia, dal punto di vista filosofico Schasler vede in questo „ritorno all’antico“ un approccio aristotelico, che accomuna Winckelmann a Lessing e distingue entrambi dal „platonismo“ di Baumgarten, il quale, appunto come Platone, considera l’arte sulla base di concetti generali. In tal senso, egli riformula, in un significato diverso, l’accenno di Justi all’ispirazione platonica dell’estetica di Baumgarten. Si veda op. cit., 378. 72 Op.

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ma non riconosce alcuna significativa relazione tra le sue idee e quel processo, e i nomi dei soli filosofi che compaiono sono quelli di Platone, Plotino e Schelling. In questo quadro, Winckelmann occupa una posizione paradossale rispetto all’estetica del suo tempo: rivolto all’indietro, verso l’età antica, quando, proprio secondo Zimmermann, l’estetica vive ancora la sua preistoria, o proteso verso il secolo successivo, verso la filosofia idealistica, che demolisce la concezione settecentesca della „Ästhetik“, rifiutandone persino il nome, come avviene nella Philosophie der Kunst di Schelling, o mantenendolo per mera convenzione, come si decide a fare Hegel.73

73 Nella

storiografia filosofica dalla seconda metà del XIX ai primi decenni del XX secolo soltanto Alfred Baeumler ha contestato questa conclusione nel suo studio sul problema dell’irrazionalità – intesa come scoperta e riflessione sull’individualità – nell’estetica e nella logica del XVIII secolo. Sottraendosi alla prospettiva disciplinare della storia dell’estetica aperta da Zimmermann, Baeumler connette la riflessione sul „gusto“„, che ha origine alla fine del XVII secolo, al problema del „giudizio“ alla base dell’estetica tedesca da Baumgarten a Kant: si tratta di riferire il particolare in quanto tale (senza negare la sua unicità individuale) a un principio generale. In questa prospettiva, Baeumler avvicina il metodo induttivo con cui Winckelmann definisce il concetto del bello nella Geschichte der Kunst des Altertums alla teoria del „iudicium“ nell’Aesthetica di Baumgarten: „Hier ist Winckelmann dem Grundgedanken Baumgartens unmittelbar nahe: die Schönheit ist nicht Sache der Deduktion, könnte man diesen Satz frei wiedergeben sondern der Induktion. Die Induktion ist aber das Grundproblem der Aesthetica“ (Alfred Baumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft [Halle 1923], Darmstadt 1967, 107.



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In the late eighteenth century German culture lays claim to the scientific constitution of two disciplines devoted to the study of art, ‘Ästhetik’ and ‘Kunstgeschichte’. Eminent personalities of the academic world, such as Sulzer in his widespread article „Ästhetik“ from the first volume of the Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771) and Heyne in his influential Lobschrift auf Winckelmann (1776), emphasize the original achievements of Baumgarten and Winckelmann as the alleged founders of aesthetics and art history respectively. The spokesmen of both emerging academic communities agree to keep those two modes of studying art – philosophical and historical – strictly apart. Accordingly, the specific task of assessing and further developing Winckelmann’s scientific accomplishments pertains to art history and archaeology: the theoretical concern with beauty that underlies the historiographical concept of Winckelmann’s Geschichte der Kunst des Altertums is not regarded as a matter of aesthetics. This stance is supported by the circumstance that Winckelmann, in his major work, apparently takes distance from modern philosophical speculation about art and furthermore ignores the aesthetics of Baumgarten and his disciples, with the exception of a polemic hint to Meier’s Anfangründe aller schönen Wissenschaften. During the nineteenth century, art historians and archaeologists, as well as exponents of German literature and art, declare with different strategies and objectives Winckelmann’s indifference if not aversion towards Baumgarten’s aesthetics. Goethe’s epoch-making Schilderung Winckelmanns in Winckelmann und sein Jahrhundert (1805) stresses a quasi-anthropological difference between Winckelmann’s „antike Natur“, which made him to discover a new territory of learning, and the intellectual attitude of modern pholosophers. Justi remarks, however, in Winckelmann und seine Zeitgenossen (1866 – 1872), the possibly premature distancing of art history and aesthetics, as he confronts his need to demarcate the younger discipline of ‘Kunstgeschichte’, i.e. the history of modern art, from ‘Archäologie’. In the meanwhile, the early German historians of aesthetics begin to claim their right to read Winckelmann in search for the „philosophischen Denker über das Schöne“, as Zimmermann writes in his Geschichte der Ästhetik als philosophische Wissenschaft (1858), without disputing the greater relevance of his merits as an art historian. Zimmermann’s work, conceived as the historical-critical part of the theory later presented in his Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft (1865), establishes the model for subsequent historiographical accounts, notably Schasler’s Kritische Geschichte der Aesthetik (1872), although the two historians arrange their narratives according to different concepts of aesthetics. Zimmermann’s „Wissenschaft der Form“ barely conceals the author’s sympathy with Herbart’s Realism, while Schasler proudly vindicates the Hegelian perspective of his „Philosophie des Schonen und der Kunst“. Zimmermann denies any relation between Winckelmann’s reflection on beauty and Baumgarten’s theory, and in fact any relation with the aesthetics of the Aufklärung. By contrast, he argues that Winckelmann took from Plato the sole philosophical (though inconsistent) concepts underlying his definition of beauty, notably the idea of an absolute „höchste Schönheit“. Schelling had referred to that very idea in his lecture Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur (1807), although he reproached Winckelmann to have missed the „wonder“ by which the conditioned raises to the unconditioned, as Zimmermann recalls. So, in a way, Zimmermann substantiates the opinion expressed by Schelling in his Winckelmann’s praise, that the eighteenth-century scholar was a foreigner to his own time and rather belonged to Antiquity or to the nineteenth century, inasmuch as he contributed to build the new epoch. A similar reading was suggested

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by Hegel’s reference to Winckelmann in the introduction to Hotho’s edition of the Vorlesungen über die Ästhetik (1835). In his view, Winckelmann’s attempt to disclose the „Kunstidee“ in the „Kunstgeschichte“ moves the speculation on beauty forward into the context of post-Kantian aesthetics, at the beginning of a process that will end with Schelling. Schasler specially refers to Hegel’s scheme in his interpretation of Winckelmann’s „Zurückgehen auf die Antike“ as the dialectical overcoming of Baumgarten’s abstract intellectualism and a further step towards the aesthetics of the following age. In the early historiographical accounts of the discipline, Winckelmann is thus given a paradoxical position in relation to the German aesthetics of his own time: on the one hand, he looks back to Antiquity, when, according to Zimmermann, aesthetics was still living its prehistory; on the other hand, he points towards early nineteenth-century philosophy, where the original concept of aesthetics is contested as a purely subjective „Wissenschaft des Sinnes, des Empfindens“ (in Hegel’s phrase), and the very name „Ästhetik“ is either rejected, as in Schelling’s Philosophie der Kunst, or kept by convention, as Hegel resolves to do. Im späten achtzehnten Jahrhundert erhebt die deutsche Kultur Anspruch auf die wissenschaftliche Konstitution von zwei bestimmten Disziplinen, die der Kenntnis der Kunst gewidmet sind: der ‘Ästhetik’ und der ‘Kunstgeschichte’. Hervorragende Vertreter der akademischen Welt, wie Sulzer in seinem weit verbreiteten Artikel „Ästhetik“ aus dem ersten Band der Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771) und Heyne in seiner einflußreichen Lobschrift auf Winckelmann (1776), heben die originellen Leistungen von Baumgarten und Winckelmann als den ‘Begründern’ der Ästhetik beziehungsweise der Kunstgeschichte hervor. Die Fürsprecher der beiden entstehenden akademischen Disziplinen sind einverstanden, die beiden Modelle der Kunsterkenntnis – das philosophische und das historische – genau auseinanderzuhalten. Dementsprechend gilt die Bewertung und Weiterentwicklung von Winckelmanns wissenschaftlichen Ergebnissen als eine spezifische Aufgabe der Kunstgeschichte und Archäologie: Das theoretische Interesse an der Begriffsbestimmung der Schönheit, das der historiographischen Auffassung von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums eigentlich zugrunde liegt, wird nicht als der Ästhetik zugehörig betrachtet. Eine Rechtfertigung für diese Verteilung der Komptenzbereiche konnte zwar in dem Umstand gefunden werden, dass Winckelmann in seinem Hauptwerk von der philosophischen Spekulation über die Kunst Abstand nahm und die Baumgartensche Ästhetik, abgesehen von einem polemischen Hinweis auf Meiers Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, keineswegs beachtete. Während des neunzehnten Jahrhunderts betonen viele Kunsthistoriker und Archäologen sowie einige prominente Vertreter der deutschen Literatur Winckelmanns fehlendes Interesse an Baumgartens Ästhetik, wenn nicht gar seine Abneigung ihr gegenüber, und greifen dabei auf verschiedene Strategien zurück. Goethes epochale Schilderung Winckelmanns in Winckelmann und sein Jahrhundert (1805) markiert eine quasi anthropologische Differenz zwischen Winckelmanns „antike[r] Natur“, die es ihm ermöglicht habe, ein neues „Land“ des Wissens zu entdecken, und der geistigen Haltung moderner Philosophen. Justi konstatiert seinerseits in Winckelmann und seine Zeitgenossen (1866 – 1872) die frühe Abgrenzung von Kunstgeschichte und Ästhetik und setzt sich da-



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bei selbst mit der Forderung auseinander, die jüngere Disziplin der ‘Kunstgeschichte’, d.h. die Geschichte der modernen Kunst, von der ‘Archäologie’ abzugrenzen. Allerdings erheben auch die frühen deutschen Historiker der Ästhetik Anspruch darauf, Winckelmann als den „philosophischen Denker über das Schöne“ zu lesen, wie es Zimmermann in seiner Geschichte der Ästhetik als philosophische Wissenschaft (1858) formuliert, ohne damit die größere Relevanz von Winckelmanns Verdiensten als Kunsthistoriker zu bestreiten. Diese Geschichte der Ästhetik, die Zimmermann als den „historisch-kritischen“ Teil der in seiner späteren Allgemeinen Ästhetik als Formwissenschaft (1865) dargelegten Theorie verstand, bildet das Modell für nachfolgende historiographische Darstellungen, besonders für Schaslers Kritische Geschichte der Ästhetik (1872), obgleich die zwei Historiker ihre Erzählungen nach verschiedenen Begriffen der Ästhetik anordnen: In seiner „Wissenschaft der Form“ verbirgt Zimmermann nicht seine Sympathie für Herbarts Realismus, während Schasler die Hegelsche Perspektive seiner „Philosophie des Schönen und der Kunst“ mit Stolz behauptet. Zimmermann bestreitet jede Beziehung zwischen Winckelmanns Reflexion über die Schönheit und Baumgartens Theorie, ja sogar jede Beziehung zur Ästhetik der Aufklärung. Er behauptet dagegen, Winckelmann übernehme von Plato die einzigen philosophischen (doch inkonsequenten) Begriffe, die seiner Definition des Schönen zugrunde liegen, insbesondere die Idee einer absoluten „höchste[n] Schönheit“. Darauf hatte sich Schelling in seiner Akademierede Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur (1807) bezogen. Doch hatte er Winckelmann vorgeworfen, das „Wunder, wodurch das Bedingte zum Unbedingten gehoben […] werden sollte“, zu vermissen, wie Zimmermann erinnert. Damit bestätigt Zimmermann in gewisser Hinsicht die Meinung, die Schelling in seinem Lob auf Winckelmann äußert, dass der Gelehrte des achtzehnten Jahrhunderts ein Fremder in seiner eigenen Zeit gewesen sei und eher zur Antike oder zum neunzehnten Jahrhundert gehöre, indem er dazu beigetragen habe, die neue Epoche aufzubauen. Eine ähnliche Lektüre schlägt Hegel in Bezug auf Winckelmann in der Einleitung zu Hothos Ausgabe der Vorlesungen über die Ästhetik (1835) vor. Hegel zufolge bringe Winckelmanns Versuch, die „Kunstidee“ in der „Kunstgeschichte“ aufzudecken, die Reflexion über die Schönheit im Rahmen der nach-kantischen Ästhetik nach vorne. Damit stehe Winckelmann am Beginn eines Prozesses, der mit Schelling endet. Schasler bezieht sich speziell auf Hegels Idee in seiner Deutung von Winckelmanns „Zurückgehen auf die Antike“ als die dialektische Überwindung von Baumgartens abstraktem Intellektualismus und eine „Staffel“ in Richtung auf die spätere Ästhetik. So nimmt Winckelmann in den frühen historiographischen Darstellungen der Disziplin eine paradoxe Position im Hinblick auf die deutsche Ästhetik seiner Zeit ein: Einerseits scheint er in die Antike zu schauen, wo die Ästhetik – nach Zimmermanns Ansicht – ihre „Vorgeschichte“ hatte; andererseits verweist er auf die Philosophie des frühen neunzehnten Jahrhunderts, wo der ursprüngliche Begriff der Ästhetik als einer rein subjektiven „Wissenschaft des Sinnes, des Empfindens“ (in Hegels Formulierung) in Frage gestellt wird, und wo selbst der Terminus „Ästhetik“ entweder abgelehnt wird, wie in Schellings Philosophie der Kunst, oder nur konventionell verwendet wird, wie in Hegels Vorlesungen. Dr. Lorenzo Lattanzi, Via Paolo Mantegazza, 20, 61122 Pesaro, Italia, [email protected]

Martin Dönike Zwiespältige Einfalt Johann Joachim Win­ckel­manns Dresdner Schriften über die ­Nachahmung zwischen Aufrichtigkeitsethos und Verstellungskunst

Johann Joachim Win­ckel­manns 1755 erschienene Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst gelten zu Recht als ein Grundtext des deutschen, wie auch des europäischen (Neo) Klassizismus und damit zugleich eines Griechenkultes, der sich weit über das 18. Jahrhundert hinaus als eine kulturprägende Kraft erwiesen hat.1 Helmut Pfotenhauer hat darauf aufmerksam gemacht, daß die zunächst in einer Auflage von nur etwa 50 bis 60 Exemplaren gedruckte Schrift (Abb. 1, S. 136), die ihren Verfasser gleichsam über Nacht berühmt machte, keineswegs widerspruchsfrei, sondern von argumentativen Spannungen geprägt ist, die das ganze Werk durchziehen und als solche signifikant für die wissenschafts- und ästhetikgeschichtliche Lage um die Mitte des 18. Jahrhunderts sind.2 So sind bereits im ersten 1 Win­ckel­manns

Dresdner Schriften liegen in verschiedenen Editionen vor, von denen bislang jedoch lediglich diejenigen in der Faksimile-Ausgabe seiner Kunsttheoretischen Schriften (Baden-Baden 1962) sowie in der von Walther Rehm herausgegebenen Ausgabe der Kleinen Schriften vollständig sind, insofern sie auch die dem Sendschreiben angehängte Nachricht von einer Mumie in dem Königlichen Cabinet der Alterthümer in Dreßden mit abdrucken. Im folgenden werden die Dresdner Schriften nach der letztgenannten Edition zitiert: Johann Joachim Win­ckel­mann, Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. von Walther Rehm. Mit einer Einleitung von Hellmut Sichtermann, Berlin 1968, 27–144. – Vorzüglich kommentierte Editionen der drei Hauptschriften bieten darüber hinaus Helmut Pfotenhauer, Ludwig Uhlig und Max Kunze, siehe: Bibliothek der Kunstliteratur, Bd. 2: Frühklassizismus. Position und Opposition: Win­ ckel­mann, Mengs, Heinse, hg. von Helmut Pfotenhauer, Markus Bernauer und Norbert Miller, Frankfurt am Main 1995, 9–148; Johann Joachim Win­ckel­mann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Sendschreiben, Erläuterung, hg. von Ludwig Uhlig, Stuttgart 1995; ders., Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. Senschreiben. Erläuterung, hg. von Max Kunze, Stuttgart 2013. Für 2016 ist eine Neuedition der Dresdner Schriften im Rahmen der Reihe ­„ Johann Joachim Win­ckel­mann. Schriften und Nachlaß“ (Mainz 1996 ff.) angekündigt. 2 Helmut Pfotenhauer, [Kommentar zu] Johann Joachim Win­ckel­mann. Gedancken über die Nachahmung, in: Bibliothek der Kunstliteratur (wie Anm. 1), 344–428; ders., Win­ckel­manns Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und BildhauerKunst. Ein Kommentar, in: Il confronto letterario 12 (1995), Nr. 23, 23–40. Zu der Bedeutung

Aufklärung 27 · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISSN 0178–7128

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Abb. 1

Satz der Schrift („Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden“) alter normativer Klassizismus und neuer historischer Relativismus „auf erstaunliche Weise zusammengezwungen“. Gleiches gilt im Hinblick auf das Schönheitsideal (empirisch fundiert beziehungsweise platonisch inspiriert) oder, hier besonders prägnant, den Nachahmungsbegriff: „Der eintzige Weg für uns, groß, ja wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“ – so lautet die bekannte, von Win­ckel­mann bewußt paradox formulierte Wendung, die beides, „klassizistische Rückorientierung und modernes Selbstbewußtsein“, in sich vereint.3 von Win­ckel­manns Exzerpierpraxis für die „Reihe von kräftigen Widersprüchen und tief gehenden Brüchen“ innerhalb der Gedancken siehe auch Élisabeth Décultot, Untersuchungen zu Win­ ckel­manns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert, Ruhpolding 2004, 59–61. 3 Win­ckel­mann, Kleine Schriften (wie Anm. 1), 29; Pfotenhauer, Win­ckel­manns ­Gedan­cken (wie Anm. 2), 27–30; vgl. auch ders., 250 Jahre Win­ckel­manns „Gedancken über die Nach­



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Man tut also in der Tat gut daran, Win­ckel­mann nicht „auf Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit hin [zu] lesen“, vielmehr ist Win­ckel­manns Klassizismus gerade in seinen diskursiven Verwerfungen auch heute noch aufschlußreich und, wie die kritische Rezeption etwa bei Lessing, Herder, Goethe und Moritz zeigt, gerade in seinen Ambivalenzen äußert produktiv.4 Um einen besonderen Fall dieser Ambivalenz, nämlich die Spannung zwischen programmatischem Aufrichtigkeitsethos und praktizierter Verstellungskunst, zwischen theoretisch propagierter Einfalt und einer zugleich praktisch ins Werk gesetzten Vervielfältigung des Autors, soll es im Folgenden gehen. I. Win(c)kelzüge eines Literaten Als Erstlingswerk, das ihrem zum damaligen Zeitpunkt so gut wie unbekannten Verfasser den Weg nach Rom und damit zu einer bedeutenden Karriere als Gründer der Archäologie und Kunstgeschichte ebnen sollte, sind die Gedancken über die Nachahmung wiederholt Gegenstand eingehender Analysen und Interpretationen gewesen.5 Eher in den Hintergrund getreten sind dabei jedoch zwei, genau genommen sogar drei Texte, die Win­ckel­mann der zweiten, 1756 erschienenen Auflage der Gedancken über die Nachahmung angefügt hat und die sich unmittelbar auf diese beziehen. Es handelt sich bei diesen hinzugefügten Texten um das sich mit den 1755 erschienenen Gedancken kritisch auseinandersetzende anonyme Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, dem sich eine separate Nachricht von einer Mumie in dem Königlichen Cabinet der Alterthümer in Dreßden anschließt, sowie schließlich die Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung in der Malerey und Bildhauerkunst, in der Win­ckel­mann die erste Schrift erläutert und zugleich auf die Einwände der zweiten Schrift, also des Sendschreibens, antwortet.6 ahmung“. Ein Klassiker des Klassizismus?, Stendal 2006 (Akzidenzen. Flugblätter der Win­ckel­ mann-Gesellschaft, 16). 4 Pfotenhauer, Win­ckel­manns Gedancken (wie Anm. 2), 30. 5 Vgl. die Bibliographie in der von Max Kunze herausgegebenen Ausgabe der Dresdner Schriften: Win­ckel­mann, Gedancken [2013] (wie Anm. 1), 226–232. 6 Win­ckel­mann, Kleine Schriften (wie Anm. 1), 27–59 (Gedancken), 60–89 (Sendschreiben), 90–96 (Nachricht von einer Mumie), 97–144 (Erläuterung). Zu der im Folgenden skizzierten Konstellation der Texte vgl. Martin Dönike, Anonymität als Medium inszenierter Öffentlichkeit: Das Beispiel Win­ckel­mann, in: Stephan Pabst (Hg.), Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit, Berlin, Boston 2011, 151–175, besonders 155–158. Ausgehend von derselben Textgrundlage untersucht dieser Aufsatz die Funktion des von Win­ckel­mann fingierten Streits für die Konstituierung von Autorschaft und Autorität einer bis dahin unbekannten Gelehrtenfigur. Demgegenüber konzentriert sich der vorliegende Aufsatz auf die Spannungen zwischen dem von Win­ckel­mann propagierten Ideal der ästheti-

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Obwohl das Sendschreiben namentlich nicht gekennzeichnet war, glaubte Johann Christoph Gottsched seinen Verfasser eindeutig identifizieren zu können. Und so präsentierte er in seiner Rezension der Dresdner Schriften, die im November 1756 in der Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit erschien, kurzerhand den mit Win­ckel­mann befreundeten Dresdener Diplomaten, Kunstsammler und -schriftsteller Christian Ludwig von Hagedorn (1712–1780) als dessen Autor: Ein großer Liebhaber der Künste, der Herr Leg.[ations] R.[at] von Hagedorn, hat an den Herrn Winkelmann, als Verf. des Tractats, ein weitläuftiges Sendschreiben, über die Ged. von der Nachahm. der griechischen Werke, abgelassen. Dieses geht von der 40sten bis a.[n] d.[ie] 98ste Seite, und hält Anmerkungen in sich, die sowohl von dem feinen Geschmacke, als von der großen Belesenheit des Herrn Leg. Raths zeugen.7

Win­ckel­mann wiederum, so Gottsched weiter, habe, da „[a]uf eine so freundschaftliche Aufforderung eines großen Kenners gewiß eine artige Antwort [gehört]“, die Einwände seines „Freunde[s]“ Hagedorn in der Erläuterung beantwortet.8 Die gelehrte Kennerschaft beider Verfasser, Win­ckel­manns und Hagedorns, betonend, schließt Gottscheds Rezension mit dem quasi salomonischen Urteil, daß es letzten Endes unmöglich sei zu entscheiden, wessen Argumenten der Vorzug zu geben sei: Es ist indessen ein großes Vergnügen, alles das zu lesen, was dieser freundschaft­liche Streit zweener großen und gelehrten Kenner der schönen Künste hervor gebracht hat. Wenn man den einen liest, so giebt man ihm recht: und wenn man die Antwort liest, so zweifelt man, ob sie nicht eben so gründlich ist. Wie gut wäre es um die kaiserliche Akad.[emie] der Künste in Augsp.[urg] bestellet, wenn sie viel solche Mitglieder hätte!9

Für Gottsched war das Problem der Autorschaft damit gelöst. Aus heutiger Sicht stellt es sich allerdings so dar, als ob er mit seiner mühelosen Identifikation Hagedorns als dem Verfasser des Sendschreibens gegen eben die Gebote der Klugheit und Vernunft verstieß, die er als junger Mann selbst angemahnt hatte: 1725 war Gottsched mit den Vernünftigen Tadlerinnen, einer Moralischen Wochenschrift nach englischem Vorbild, an die Öffentlichkeit getreten. Die Absicht, den allfälligen falschen Schein zu tadeln und zu entlarven, wird von dem Titelkupfer, das mit dem Vers „Weh dem der thöricht ist und dennoch klug will schen wie auch ethischen Einfalt und den von ihm zu diesem Zweck eingesetzten Verstellungskünsten. 7 [Johann Christoph Gottsched], [Rez.] Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, zweyte vermehrte Auflage, Dresden und Leipzig 1756 […], in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 6 (1756), Windmond [November], 859–868, hier 860. 8 Ebd., 867. 9 Ebd., 868.



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heißen!“ des Dichters Friedrich Ludwig Rudolph von Canitz unterschrieben ist, programmatisch in Szene gesetzt (Abb. 2). Vor Augen geführt wird hier die für das Projekt der Aufklärung charakteristische Metaphorik des Enthüllens und Entdeckens, des Demaskierens und Entlarvens, mittels derer Gottsched den Anspruch formuliert, das tugendhafte ‚wahre Sein‘ mit Hilfe der „prüfende[n] Vernunft“ vom lasterhaften „falschen Schein“ zu unterscheiden.10 Dreißig Jahre später nun war Gottsched jedoch an dem einst von ihm selbst formulierten auf klärerischen Anspruch gescheitert: „[K] lug heißen“ wollend, sollte er sich als „thöricht“ erweisen, denn tatsächlich war nicht Hagedorn noch irgend ein anderer „Freund“ Win­ckel­manns, sondern dieser selbst der Verfasser des namentlich nicht gekennzeichneAbb. 2 ten Sendschreibens und damit aller drei Schriften: „Was meine Dreßdner Schriften betrifft“, so hat Win­ckel­mann selbst in einem Brief an seinen Freund Genzmer in aller Deutlichkeit erklärt,

10 Vgl. die dem Titelblatt vorangestellte „Erklärung des Kupfers“: „Die Laster hüllen sich in Tugendlarven ein, / Ihr tadelhaftes Thun beliebt und schön zu machen. / Die prüfende Vernunft entdeckt den falschen Schein, / Und reitzet den Satyr die Thorheit auszulachen. / Die Katze zeigt ein Bild der schlauen Schmeicheley, / Die doch zuletzt ergrimmt, die Pfoten hebt und kratzet. / Der Hund zu lincken Hand, entwirft die Raserey, / Womit der Unverstand von Tod und Rache schwatzet. / Die Unschuld sitzt dabey, sie schreibt und läst uns lesen, / Was klug, was ungereimt, was lachenswerth gewesen“ (Die Vernünftigen Tadlerinnen 1725–1726. Herausgegeben von Johann Christoph Gottsched. Im Anhang einige Stücke aus der 2. und 3. Auflage 1738 und 1748, 2 Bde., hg. von Helga Brandes, Hildesheim u. a. 1993, hier Bd. 1, o. S.). – Der Umstand, daß Gottsched sich zum Zwecke der Entlarvung der Laster mit den Tadlerinnen selbst der Maske einer fiktiven Verfasserinnen-Gesellschaft glaubte bedienen zu müssen, gehört dabei natürlich mit zu den Paradoxien seines aufklärerischen Vorhabens. Vgl. hierzu das Nachwort der Herausgeberin ebd., 1–30, besonders 2–4, sowie Regina Nörtemann, Schwache Werkzeuge als öffentliche Richterinnen. Zur fiktiven weiblichen Herausgeber- und Verfasserschaft in Moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 72 (1990), H. 2, 381–403, besonders 384–387.

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so habe ich nur zu erinnern, daß das Sendschreiben nicht von Hrn. von Hagedorn, Königl. Pohln. Legat. Rath wie sich Hr. Gottsched eingebildet ist, welches ihn der Verleger sagen können, sondern es ist von mir selbst.11

Win­ckel­manns knappe Richtigstellung des grundlegenden Irrtums, den Gottsched begangen hatte, gibt – anders als das Titelkupfer der Vernünftigen Tadlerinnen – den Getäuschten und nicht den Täuschenden der Lächerlichkeit preis. Konsequent wird damit Gottscheds Urteilsvermögen, ja seine Qualifikation als Kritiker bezweifelt. Ganz in diesem Sinne hat Win­ckel­mann auch an anderer Stelle die „unglaubliche“ Beschränktheit Gottscheds und seines Kreises in Fragen der Kunst kritisiert.12 Der auf den Gebrauch kritischer Vernunft pochende Großkritiker Gottsched hatte sich im Falle der Dresdner Schriften also täuschen lassen und sich, statt der Wahrheit auf den Grund zu gehen, leichtsinnigerweise auf seine Einbildungskraft verlassen. Daß das auf der Aufspaltung bzw. Verdoppelung des Autor-Ichs basierende Täuschungsmanöver für den zeitgenössischen Leser indes grundsätzlich durchschaubar war, zeigt die Rezension der Dresdner Schriften, die Friedrich Nicolai kurz nach derjenigen Gottscheds in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste publizierte. „Schade!“, so heißt es dort mit Blick auf den anonymen Verfasser des Sendschreibens in scheinbar beiläufigem Ton, tatsächlich aber wohl nicht ohne Spitze gegen den getäuschten Gottsched, „daß dieser Ungenannte, wie man aus allem urtheilen kann, niemand anders ist, als der Verfasser der Gedanken selbst. Wir hätten gewünscht, Deutschland zu zween Winkelmannen Glück wünschen zu können“.13 Dort, wo Gottsched zwei Autoren zu erblicken geglaubt hatte und sich weitere Gelehrte solchen Niveaus als Mitglieder der Augsburger Akademie der Freien Künste und Wissenschaften wünschte, erkennt Nicolai nur einen und beklagt, daß Deutschland tatsächlich nicht einmal, wie Gottsched glaubte, zwei, sondern nur einen Autor wie Win­ 11 Johann Joachim Win­ckel­mann, Briefe. In Verbindung mit Hans Diepolder hg. von Walther Rehm, 4 Bde., Berlin 1952–1957, hier Bd. 1, 314 (an Gottlob Burchard Genzmer, 20. November 1757). Das „dessein“ zweier neuer Schriften, die unmittelbar an die Gedanken über die Nachahmung anknüpfen sollten, hatte Win­ckel­mann bereits Anfang Juni 1755 gegenüber Konrad Friedrich Uden erwähnt: „Ich arbeite itzo an einer Schrift, worinn ich diese meine Schrift selbst angreifen [werde], um diesen Leuten, denen ich beißende Wahrheiten sagen werde, eine Freude zu gleicher Zeit zu machen. Die Zweifel sollen aufs höchste getrieben werden, und der Druck soll von jemand anders besorget werden. In einer folgenden Schrift aber, welche ich zu gleicher Zeit entwerfe, soll alles beantwortet werden“ (ebd., 171). Vgl auch die Briefe an Hieronymus Dietrich Berendis vom 4. Juni 1755 (ebd., 177) und vom 25. Juli 1755 (ebd., 180) sowie an den Baron Stosch, Anfang Juni 1756 (ebd., 227). 12 An Johann Georg Wille, Mitte August 1757 (Win­ckel­mann, Briefe [wie Anm. 11], Bd. 1, 294 f.). 13 Friedrich Nicolai, [Rez.] Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke […]. Zweyte und vermehrte Auflage. Dreßden und Leipzig 1756 […], in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 1 (1757), 2. Stück, 332–347, hier 41.



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ckel­mann vorweisen kann. Die Hoffnung auf die Mehrung kluger Köpfe mußte sich einstweilen also mit diesem Fall einer quasi schizophrenen Aufspaltung zufriedengeben. II. Win­ckel­mann hinter den Spiegeln Sofern es nicht als wenig „glücklicher Einfall“14 oder eine „bloße, nicht ernstzunehmende Fingerübung“15 abgetan wurde, ist das von Win­ckel­mann selbst inszenierte Scheingefecht von der Forschung unterschiedlich gedeutet worden: Als ein „in die Polemik verdrängtes Bekenntnis und somit Dokument eines inneren Zwiespalts“, der „ein Ventil sucht, das es dem Rigoristen erlaubt, wenigstens einmal gegen den Stachel des eigenen Dogmas zu löcken“;16 als Ausdruck eines psychologischen Komplexes und Symptom intellektueller Ortlosigkeit;17 als didaktische Inszenierung eines platonischen Dialogs;18 als „intellektuelle[r] Auftakt zur Überwindung des aus der barocken Rhetorik stammenden Gegensatzes von Klassisch und Modern“19oder – und dies scheint am überzeugendsten – als direkte Konsequenz einer gelehrten Lesemethode, die danach verlangt, das in Exzerptheften angesammelte Wissen so intensiv und vollständig wie möglich auszuwerten.20 Win­ckel­mann hatte, wie er selbst berichtet, eine ursprünglich längere Textversion der Gedanken über die Nach­ahmung für die Publikation kürzen müssen – was lag also näher, als dieses nolens volens zunächst einmal 14 Carl

Justi, Win­ckel­mann und seine Zeitgenossen, 3 Bde., Köln 51956, Bd. 1, 493–499, hier 497. Justi hat Sendschreiben und Erläuterung als ein bloßes Flickwerk betrachtet: „Er hat sichs freilich mit diesen Nachschriften auch etwas bequem gemacht. Seine ganze Kunst bestand darin, daß er aus den Abfällen seines ersten Entwurfs wohl oder übel etwas, das wie zwei neue Ganze aussah, zusammenflickte. […] Man kann noch vielfach die Stellen bezeichnen, wo die Bestandteile der beiden Schriften aus der ursprünglichen herausgeschnitten sind“ (ebd.). 15 So die Kritik Pfotenhauers an den älteren Deutungen bis zu Ludwig Uhlig. Siehe Pfotenhauer, Kommentar (wie Anm. 2), 383. 16 Werner Hofmann, Rollentausch oder: „Wer allgemein sein will, wird nichts …“, in: W. H. (Hg.), Johann Tobias Sergel 1740–1814, München 1975, 9–25, hier 19; ders., Das entzweite Jahrhundert: Kunst zwischen 1750 und 1830, München 1995, 71. 17 Vgl. Wolfgang Lange, Watteau und Win­ckel­mann oder Klassizismus als antik drapiertes Rokoko, in: DVjs 72 (1998), 376–410, der Win­ckel­manns „Positionswechsel“ als „Indiz“ dafür wertet, „wie unsicher und schwankend, wie ambivalent und unbestimmt, im hohen Maße labil die Anschauung Win­ckel­manns in Sachen Kunst war“ (ebd., 382). 18 Frederick C. Beiser, Diotima’s Children. German Aesthetic Rationalism from Leibniz to Lessing, Oxford u. a. 2009, 159. 19 Steffi Roettgen, „Höfliche Freyheit“ und „blühende Freyheit“. Reiffenstein, Winckelmann und die deutsche Ornamentkritik um 1750, in: Das achtzehnte Jahrhundert 37 (2013), H. 2, 234– 250, hier 250. 20 Élisabeth Décultot, Theorie und Praxis der Nachahmung. Untersuchungen zu Win­ ckel­ manns Exzerptheften, in: DVjs, 76 (2002), 27–49, hier 39; dies., Untersuchungen (wie Anm. 2), 26 und 58 f.

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Ausgeschiedene nachträglich wieder zu verwenden und dabei womöglich sogar um weitere Argumente zu ergänzen?21 Mit der Abfolge von Gedanken, Sendschreiben und Erläuterung orientiert sich Win­ckel­mann strukturell an Vorbildern, die seinen Zeitgenossen hinreichend bekannt gewesen sein dürften. Wie ein Blick in Gottscheds bereits oben erwähnte Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit verdeutlicht, waren Sendschreiben sowie auf diese bezogene Erläuterungen und Antworten durchaus übliche Formen der öffentlichen Auseinandersetzung. In demselben Band, in dem Win­ckel­manns Gedanken über die Nachahmung rezensiert wurden, finden sich eigenständige Beiträge meist anonymer Verfasser, die ihr kritisches Anliegen in Form eines offenen Briefes vortragen: so zum Beispiel das „Schreiben an Herrn Pastor Fuchs, unweit Dresden auf dem Lande, wegen seines im hamb. Correspondenten eingerückten Artikels“, das „Schreiben eines Gelehrten aus Wien, das voltairische Sinngedicht auf der Kaiserinn=Königinn Majestät betreffend, nebst der Antwort eines hiesigen Gelehrten“ sowie das in Versen formulierte „Sendschreiben an Herrn H. die Herausgabe seiner Poesien betreffend“.22 Darüber hinaus unterrichten Rezensionen von unlängst erschienenen Sendschreiben anderer Verfasser, die vor allem polemischen, aber auch rein informativen Zwecken dienen.23 Win­ckel­mann strukturiert sein Fiktionsspiel entlang solcher Muster einer gelehrten „Streitkultur“.24 Mit dem Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in Malerey und Bildhauerkunst fingiert er sowohl inhaltlich als auch formal die Schrift eines anonymen Kritikers, gemeinsam mit der Erläuterung der Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in Malerey und Bildhauerkunst setzt er dieser eine, so der vollständige Titel, „Beantwortung des Sendschreibens über diese Gedanken“ entgegen. Auch wenn beide Schriften, anders als ursprünglich

21 Win­ckel­mann an Uden, 3. Juni 1755: „Meine Absicht war nicht, sie unter meinem Namen drucken zu laßen, und also hatte ich mit großer Freyheit geschrieben, und hier, wo alles der Paßion des Königs gegen die Mahlerey nachgeäffet, gewißen Leuten, die brilliren wollen, ziemlich Beere vorgeleget, woran sie würden zu nagen gehabt haben. Ich durfte aber dieses nicht thun, ohne sie vorher einer Person, die über mich zu disponiren hat, vorzulegen. Die Schrift gefiel und man wünschte, sie so bald als möglich gedruckt zu sehen. Ich hatte diese Erklärung als einen Befehl anzusehen, und es war kein anderer Weg, als auf meine Kosten. Mein Beutel setzte mir gewiße Grenzen, und ich warf sehr viel weg und mußte auch bedächtlicher verfahren (Win­ckel­ mann, Briefe [wie Anm. 11], Bd. 1, 170 f.). Mit der „Person, die über mich zu disponiren hat“, dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach Winckelmanns Beichtvater Leo Rauch gemeint sein. 22 Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 6 (1756), Aerntemond, 622–626 (unterzeichnet von Johann Gottfried Reichel); ebd., Herbstmond, 696–701 (wohl von Gottsched); ebd., Weinmond, 771–778 (unterzeichnet von Koltiz). 23 Siehe etwa ebd., Hornung, 126–136 bzw. ebd., Heumond, 560. 24 Zum Begriff der „Streitkultur“ vgl. das Vorwort in: Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings, hg. von Wolfram Mauser und Günter Saße, Tübingen 1993, XI–XIII.



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geplant,25 gemeinsam mit der Erstlingsschrift in einem Band publiziert wurden, so bewegte sich Win­ckel­mann damit doch noch immer im Rahmen des damals Üblichen: Gerade in Folgeauflagen einer Schrift war es durchaus gang und gäbe, dem neu aufgelegten Text neben Ergänzungen auch Sendschreiben anderer Autoren, vorzugsweise Gelehrter, anzufügen und somit Text und Kritik gemeinsam in einem Band zu publizieren. Win­ckel­mann ahmt also die zeitgenössischen Muster gelehrter Auseinandersetzung gekonnt nach und überführt damit die Idee der Nachahmung, der ja seine Erstlingsschrift gewidmet ist, auf eine sehr spezifische Weise in die Praxis.26 Durch den Hinweis auf die konventionelle Struktur der Dresdner Schriften wie auch die Rekonstruktion der oben erwähnten mal mehr, mal weniger rationalen Gründe für Win­ckel­manns Entscheidung, sich selbst hinter der Maske eines anonymen Kritikers anzugreifen, um diese Kritik anschließend wiederum zu widerlegen, droht jedoch das eigentlich Widersprüchliche, Ambivalente und Fragwürdige seiner Vorgehensweise aus dem Blick zu geraten. Denn auch wenn ein erfahrener Kritiker wie Friedrich Nicolai das von ihm durchschaute Scheingefecht in seiner Rezension nicht offen kritisierte, so mußte Win­ckel­manns „Spiegelfechterei“27 in seinen wie auch den Augen der Zeitgenossen zumindest irritierend, wenn nicht gar dubios und anstößig erscheinen – und dies in mindestens zweierlei Hinsicht. 1. Aufrichtigkeit, Einfalt und Verstellung Indem Win­ckel­mann im Sendschreiben in die Rolle seines Gegners schlüpft und hinter dessen Maske agiert, gerät er zunächst einmal ganz offensichtlich in Konflikt mit den Imperativen der Aufrichtigkeit bzw. Redlichkeit, die als vernünftige Tugenden bereits seit den 1720er Jahren in Moralischen Wochenschriften wie etwa Gottscheds Vernünftigen Tadlerinnen, aber auch einer Vielzahl von aufklärerischen Romanen und Traktaten propagiert wurden. Den Hintergrund dieses Ideals bilden dabei bekanntlich die meist höfisch geprägten Klugheitslehren des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, von deren Anweisungen vor allem zur Verstellungskunst man sich demonstrativ absetzen wollte.28 25 In

seinem Brief an Uden vom 3. Juni 1755 (Win­ckel­mann, Briefe [wie Anm. 11], 171) spricht Win­ckel­mann noch davon, daß der „Druck“ des Sendschreibens „von jemand anders besorgt werden“ solle. 26 Zu Win­ckel­manns Nachahmungsbegriff in den Gedanken und seiner Verbindung zu der von ihm praktizierten Exzerpierkunst siehe Décultot, Untersuchungen (wie Anm. 2), 61–78. 27 Justi, Win­ckel­mann und sein Zeitgenossen (wie Anm. 14), Bd. 1, 497. 28 Vgl. dazu Wolfgang Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1971; Georg Stanitzek, Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen 1989, 92–116. Martens bringt das Op-

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Dieses Ideal der gegen Verstellung und Falschheit gesetzten Redlichkeit und Aufrichtigkeit hat auch Win­ckel­mann für seine eigene Person in Anspruch genommen. Über sein Verhältnis zu seinem Dienstherrn, dem Reichsgrafen Bünau, schreibt er beispielsweise 1749 an den von ihm als „redlicher Freund“29 bezeichneten Mediziner Konrad Friedrich Uden: „Die Art und Weise, wie ich mit meinen Herrn umgehe ist ohne Verstellung, ohne Zierlichkeit mit derjenigen Freiheit und Heftigkeit, wie ich mit meinen Freunden handele“.30 Ganz ähnlich sollte er sich auch noch sechs Jahre später, also just 1755, mit Bezug auf den Leibarzt des Kurprinzen, den Italiener Giovanni Lodo­vico Bianconi, äußern: Nachdem […] er gesehen, daß ich nicht der Mensch bin, der von Höflichkeiten zu profitiren suchet, und allezeit den ehrlichen Mann mache, so daß er mir bisher ge­ wißer maßen obligiret ist, so zeiget er sich mit aller Aufrichtigkeit, die mir irgend ein Mensch mercken laßen.31

Win­ckel­manns Selbstbild des ehrlichen, aufrichtigen, redlichen und einfältigen Menschen wurde auch von seinen Zeitgenossen in ihren Erinnerungen kolportiert. So schreibt etwa sein ehemaliger Kollege, der Seehausener Konrektor Johann Gottfried Paalzow, in seiner Kurzgefaßte[n] Lebensgeschichte und Character des Herrn Präsidenten und Abt Winkelmannes in Rom von 1764: „Denn wahrlich besaß er den höchsten Grad einer natürlichen Redlichkeit und Aufpositionsverhältnis aus der Sicht der Moralischen Wochenschriften wie folgt auf den Punkt: „Der Hof ist ein Feld der Heuchelei, der Kabalen und Intrigen, […]. Redlichkeit und Aufrichtigkeit haben hier keine Stätte“ (348). Darauf, daß die höfische Gesellschaft tatsächlich in gleich doppelter Hinsicht für den Aufrichtigkeits-Diskurs des 18. Jahrhunderts relevant ist, nämlich als „negatives Gegenbild“ der Unaufrichtigkeit und Verstellung wie auch als der „historische Ort, an dem jene Kultur der Aufrichtigkeit einen ihrer Ursprünge hat“, haben Simon Bunke und Antonio Roselli, Kleines Lexikon der Aufrichtigkeit im 18. Jahrhundert, Hannover 2014, 107 und 187–189, aufmerksam gemacht. – Zur barocken Verstellungskunst siehe August Buck, Die Kunst der Verstellung im Zeitalter des Barocks, in: A. B., Studien zu Humanismus und Renaissance. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1981–1990, hg. von Bodo Guthmüller u. a., Wiesbaden 1991, 486–509; zu den „Metamorphosen der Verstellungskunst“ in der Neuzeit und den aufklärerischen Traktaten siehe Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992, 10–50; zum häufig unterschlagenen Stellenwert der Aufrichtigkeit schon im Barock siehe Claudia Benthien, Steffen Martus (Hg.), Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert, Tübingen 2006. Ein Überblick über die literarische Wirkung beider Konzepte seit der Antike bis in die klassische Moderne findet sich bei Achim Geisenhanslüke, Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur, Darmstadt 2006. 29 Win­ckel­mann, Briefe (wie Anm. 11), Bd. 1, 90 (31. August 1749). 30 Ebd., 90 f. 31 An Berendis, 25. Juli 1755 (ebd., 179). Vgl. Win­ckel­mann an Johann Georg Wille, 18. Au­ gust 1756 (ebd., 241); an Salomon Gessner, 14. November 1761 (ebd., Bd. 2, 186); an Graf Wallmoden, 24. Januar 1767 (ebd., Bd. 3, 232), an Johannes Wiedewelt, 9. September 1767 (ebd., 315).



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richtigkeit gegen seine Freunde und Verwandte, Arme und Verlassene“.32 Adam Friedrich Oeser berichtet, daß es Win­ckel­mann „ganz unmöglich“ gewesen sei, „sich zu verstellen“;33 Johann Jakob Bodmer wiederum urteilte 1781 mit Blick auf Win­ckel­manns Briefe: „Aber über alles gehet seine Wärme für seine Wahrheiten, seine Aufrichtigkeit, und die Unerschrockenheit Meinungen zu sprechen, von denen er wußte daß sie beleidigten“.34 Gegen die Verstellung bzw. Höflichkeit (im doppelten Wortsinne) wird hier, bei Win­ckel­mann und den Bekannten seines Umkreises, das Ideal eines freien Umgangs und einer ungekünstelten und damit unzweifelhaften Aufrichtigkeit unter Freunden respektive gleichberechtigen Menschen gesetzt.35 Aufrichtigkeit und Redlichkeit wurden in der Mitte des 18. Jahrhunderts immer wieder in einen engen Zusammenhang mit dem Begriff der ‚Einfalt‘ gestellt. In deutlicher Abgrenzung von den Künsten der Verstellung heißt es z. B. in der 1751 in Nürnberg erschienenen Wochenschrift Der Redliche: Es wird aber der Redliche mehr gebohren und von der Natur gebildet, als daß er von der Kunst gemacht wird: wo dieses nicht wäre, würde man heutzutag mehr Redlichkeit finden, als vor Alters, weil wir es in der Kunst, und fast in allen Künsten so weit gebracht haben, daß die Alten und ihre Bemühungen nicht einmal mit den unsern können verglichen werden: alleine so ist leider die Redlichkeit mit der Einfalt der Alten verschwunden. Diese Einfalt, wir meynen aber eine edle und ächte Einfalt, die sich von der Dummheit wie Licht und die Egyptische Finsterniß unterscheidet, ist eine Quelle der Redlichkeit.36

Wie in Win­ckel­manns Gedanken über die Nachahmung, so wird auch hier, im Redlichen, der Verlust der „edle[n] und ächte[n] Einfalt“ der Alten beklagt, deren Natürlichkeit einer ‚Gekünsteltheit‘ weichen mußte, die die Gegenwart gleichsam als Verfallsepoche erscheinen läßt. Über die Konsequenzen dieses Verlusts an „Einfalt“ äußert sich Der Redliche wie folgt: Seit dem die Handlungen der Menschen nicht mehr nach dieser Einfalt schmecken, seit dem unser Thun und Bezeigen gegen unsern Nächsten mehr gezwungen, als 32 Ebd.,

Bd. 4, 188; vgl. auch ebd., 186 („seine überall bekannte Ehrlichkeit und unverstellte Redlichkeit“). 33 Ebd., 207. 34 Ebd., 337. Vgl. auch Johann Wolfgang Goethe, Ungedruckte Winkelmannische Briefe [1804], in: J. W. G., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hg. von Karl Richter u. a., München 1985 ff., Bd. 6.2, 192: „W.[inckelmann] schadet sich durch seine Aufrichtigkeit“. 35 Dies betrifft insbesondere auch die aufgeklärte Gelehrtenrepublik, vgl. hierzu Ernst Osterkamp, Johann Joachim Winckelmanns „Heftigkeit im Reden und Richten“. Zur Funktion der Polemik in Leben und Werk des Archäologen, Stendal 1996. 36 Der Character des Redlichen, in: Der Redliche. Eine Wochenschrift 1 (1751), 1. Stück, 9–16, hier 10. Als „[e]ine andere Quelle der Redlichkeit“ benennt der Text „die Lieben des Nächsten“: „Diese Nächsten Liebe muß ehehin ebenfalls weit bekannter gewesen seyn, als jetzo. Dies bezeugen die Folgen derselben, welche man in den Geschichtsbüchern findet. Man trift bey den Alten mehr Eintracht an, als bey uns […]“ (ebd., 10 f.).

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natürlich ist, seitdem die Verstellung die nöthigste Eigenschaft eines Menschen der zu leben wissen will, worden ist, seitdem der Schmeichler und Betrüger ein Galant’ Homme, und die Falschheit Politik genennet wird, seit dem kan man die Redlichen an allen Orten ohne grosse Mühe abzählen.37

Mit Gezwungenheit, Verstellung, Schmeichelei, Betrug und Falschheit werden hier diejenigen höfischen bzw. privatpolitischen ‚Laster‘ genannt, gegen die eine Besinnung auf die „edle und ächte Einfalt“ als eine der „Quellen“ wiederzubelebender Redlichkeit empfohlen wird. Mit Blick auf Konstellationen wie diese hat Georg Stanitzek von einem moralischen „Willen zur Einfalt“ gesprochen, der sich seit etwa der Mitte des Jahrhunderts in „vehementen Invektiven gegen jede Form der Verstellung, gegen jede Form des – nicht nur politischen – Scheins“ geäußert habe.38 Begriffe wie ‚Einfalt‘, ‚Redlichkeit‘ und ‚Aufrichtigkeit‘ wurden von den zeitgenössischen Schriftstellern dabei, wie schon erwähnt, häufig synonym verwendet. So erklärt etwa Zedlers Universal-Lexicon, daß „Einfältigkeit, oder einfältig seyn […] in der H. Schrift die Aufrichtigkeit des Herzens“ bedeute, „Aufrichtigkeit“ wiederum gleichbedeutend mit „Redlichkeit und Treuhertzigkeit“ sei und „Redlichkeit“ schließlich eine „Eigenschafft des menschlichen Gemüths“ sei, welche „auch Aufrichtigkeit genennet wird“.39 Auch wenn sich die einzelnen Konzepte der Aufrichtigkeit, Redlichkeit und Einfalt graduell voneinander unterschieden, so verbindet doch alle die Vorstellung eines Korrespondenz- bzw. Transparenzverhältnisses von Innen und Außen, Denken und Sprechen, Fühlen und Handeln, kurz: von äußerlich erkennbarem Zeichen und Innerem des Subjekts.40 Es ist, mit anderen Worten, ein Verhältnis der Eindeutigkeit, das jegliche Ambivalenz von vornherein ausschließt. Angesichts der hier skizzierten ethisch-moralischen Dimension des Begriffes der Einfalt sollte die von Win­ckel­mann in den Gedanken über die Nachahmung aufgestellte Forderung, die „edle Einfalt und stille Größe“ der griechischen Kunstwerke nachzuahmen, denn auch keinesfalls als bloß ästhetisches Postulat verstanden werden. Wie seine berühmte Laokoon-Deutung in den Gedanken 37 Ebd.,

10.

38 Stanitzek,

Blödigkeit (wie Anm. 27), 100. Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste […], Leipzig u. a. 1732 ff., Bd. 2 (1732), Sp. 2164 (s. v. „Aufrichtigkeit“), Bd. 8 (1734), Sp. 544 (s. v. „Einfältigkeit“), Bd. 30 (1741), Sp. 1639 (s. v. „Redlichkeit“). – Bei Zedler findet sich natürlich auch die negative Bedeutungsvariante des Begriffes Einfalt/Einfältigkeit im Sinne von „Alberkeit und grosse[r] Unwissenheit“ (lat. stultitia) verzeichnet (ebd., Bd. 8, Sp. 544). 40 So heißt es auch im Redlichen: „[M]it einem Wort, man trift bey ihm [dem Redlichen, M. D.] eine vollkommene und tugendhafte Übereinstimmung seiner innern und äusern Handlungen an“ (Der Redliche [wie Anm. 34], 14). Vgl. auch Bunke, Roselli, Kleines Lexikon der Aufrichtigkeit (wie Anm. 27), 9, 14–22. – Zum anthropologisch-moralischen Identitätsbegriff des 18. Jahrhunderts siehe Geitner, Die Sprache der Verstellung (wie Anm. 27), 47, zu der mit der Maxime der Aufrichtigkeit einhergehenden Sehnsucht nach Identität aus systemtheoretischer Perspektive Stanitzek, Blödigkeit (wie Anm. 27), 92 f. und 96. 39 Johann



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über die Nachahmung zeigt, impliziert die ästhetische Einfalt bei Win­ckel­mann zugleich eine ethisch-moralische Dimension: Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Grösse, so wohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele. Diese Seele schildert sich in dem Gesicht des Laocoons, und nicht in dem Gesicht allein, bey dem heftigsten Leiden. Der Schmertz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Cörpers entdecket, und den man gantz allein, ohne das Gesicht und andere Theile zu betrachten, an den schmertzlich eingezogenen Unter-Leib beynahe selbst zu empfinden glaubet; dieser Schmertz, sage ich, äussert sich dennoch mit keiner Wuth in dem Gesichte und in der ganzen Stellung. […] Der Schmertz des Cörpers und die Grösse der Seele sind durch den gantzen Bau der Figur mit gleicher Stärcke ausgetheilet, und gleichsam abgewogen. Laocoon leidet, aber er leidet wie des Sophocles Philoctetes: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser grosse Mann, das Elend ertragen zu können.41

Ästhetisch vorbildhaft ist die Laokoonfigur laut Win­ckel­mann insofern sie trotz des durch die Schlangen verursachten „heftigsten Leiden[s]“ nicht „wüten[d]“ und verzerrt, sondern „ruhig“ erscheint. Als Grund hierfür führt Win­ckel­mann die „große und gesetzte Seele“ Laokoons an, welche die normalerweise zu erwartende psychische Reaktion im Sinne eines stoischen Ethos abmildert. Die äußere Erscheinung Laokoons ist somit unmittelbarer Ausdruck seiner inneren Haltung, die sich an Gesicht und Körper „schildert“; umgekehrt ist die sichtbare Oberfläche in ihrer Ruhe und Ausgeglichenheit transparent auf den ethischen Kern des dargestellten Subjekts. „[E]dle Einfalt“ läßt sich somit auch bei Win­ ckel­mann nicht nur als ein ästhetisches, sondern als ein ethisches Ideal in dem oben skizzierten Sinne begreifen, bei dem Innen und Außen, Überzeugungen 41 Win­ckel­mann, Kleine Schriften (wie Anm. 1), 43. – Zum Begriff der ‚Einfalt‘ siehe vor allem Wolfgang Stammler, „Edle Einfalt“. Zur Geschichte eines kunsttheoretischen Topos, in: Gustav Erdmann, Alfons Eichstaedt (Hg.), Worte und Werte. Festschrift Bruno Markwardt, Berlin 1961, 359–382, der auf die traditionelle Bedeutung von Einfalt (simplicitas) als Menschen- und Tugendideal im Sinne von Offenheit, Unschuld und Lauterkeit hinweist. Stammler zufolge liegt Win­ckel­manns Leistung darin, die „edle Einfalt“, die für diesen das griechische Volk „körperlich wie seelisch“ besessen hatte, „in vorher nicht erfaßter Vertiefung“ idealisiert zu haben (ebd., 382); vgl. auch August Langen, Der Wortschatz des Pietismus, Tübingen 1954, 362–365; ders., Der Wortschatz des 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Wortgeschichte, hg. von Friedrich Maurer und Heinz Rupp, Bd. 2 Berlin 1974, 31–244, hier 97 f.; Claudia Henn-Schmölders, Simplizität, Naivetät, Einfalt. Studien zur ästhetischen Terminologie in Frankreich und in Deutschland 1674–1771, Zürich 1974, 190–226. Deutlich von Win­ckel­manns Begriffsverwendung geprägt ist der Eintrag in Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste […], Bd. 1, Leipzig 1771, 294–298. Vgl. schließlich auch Reinhard Brandt, „… ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe“, in: Thomas W. Gaehtgens (Hg.), Johann Joachim Win­ckel­mann 1717–1768, Hamburg 1986, 41–53.

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und Handeln im Sinne einer unverstellten Aufrichtigkeit in eins fallen. Dieses Ineinander von Ethik und Ästhetik hat Hugh Honour als charakteristisch für die Epoche des Neoklassizismus bezeichnet und dabei als Gegenentwurf zu der auf Illusion und Täuschung abzielenden Kultur des vorausgehenden Rokoko erklärt: Significantly, the aesthetic qualities which artists wished to embody in their works, and which the theorists extolled, had ethical connotations – truth, purity, nobility, honesty – the exact reverse of those to which they objected in he Rococo – irrationality, licentiousness (in its several meanings), frivolity and deception.42

Techniken des trompe-l’œil wie auch Verfahren des künstlerischen Illusionismus überhaupt sind in dieser Perspektive ebenso verabscheuenswert wie Täuschung, Schwindel und Betrug.43 Beide, sowohl die ästhetische als auch die moralische „Einfalt“ (im Sinne einer gegen Täuschung und Verstellung gerichteten Aufrichtigkeit), sind also für Win­ckel­mann vorbildhaft. Vor diesem Hintergrund betrachtet, aber steht das von ihm wiederholt formulierte Ideal der Einfalt in einem markanten Widerspruch zu der von ihm mit Sendschreiben und Erläuterung verfolgten Verfahrensweise: Während Win­ckel­mann sich sowohl in seinen Briefen als auch in den Gedanken über die Nachahmung zum Fürsprecher einer Einfalt im Sinne der Simplizität und Eindeutigkeit wie auch der Transparenz von Innen und Außen, Seele und Körper, Sagen und Tun macht, bedient er sich in der fingierten Auseinandersetzung von Sendschreiben und Erläuterung der Maske eines fiktiven Gegners und handelt damit faktisch unaufrichtig. Sagen und Tun, Denken und Handeln fallen auseinander, aus eindeutiger Einfalt wird eine mehrdeutige Vielfalt. Auch auf struktureller Ebene, so ließe sich pointiert sagen, verweist die Vielfalt von Win­ckel­manns Dresdner Schriften gewissermaßen zurück in das Zeitalter des Barock, den Gilles Deleuze durch die „ins Unendliche gehende Falte [frz. ‚pli‘, M. D.]“44 charakterisiert sah: Hinter der programmatischen Einfalt (frz. 42 Hugh Honour: Neo-Classicism, in: The Age of Neo-Classicism, Ausstellungskatalog London, The Royal Academy and the Victoria and Albert Museum, [London] 1972, XXI–XXIX, hier XXII f. 43 Zum letztendlichen Bruch der Kunst des „Neoklassizismus“ mit der jahrhundertealten mimetischen Tradition als Folge der ethisch-ästhetischen Ablehnung jeglicher Täuschung siehe ebd., XXV; vgl. auch Robert Rosenblum, Transformations in Late Eighteenth Century Art, Princeton 1970, 146–191; Matthew Craske, Art in Europe 1700–1830. History of the Visual Arts in an Era of Unprecedented Urban Economic Growth, Oxford, New York 1997, 145–217. Vor diesem Hintergrund kommt der von Adam Friedrich Oeser entworfenen Titelvignette zu Win­ckel­manns Gedanken über die Nachahmung, die den griechischen Maler Timanthes vor seinem Gemälde zeigt (vgl. Abb. 1, S. 136), eine besondere Bedeutung zu, insofern ihr eher barock denn klassizistisch anmutender trompe-l’œil-Charakter als eine Art visuelle Analogie zu dem textuellem Täuschungsmanöver erscheint, das Win­ckel­mann in der zweiten Auflage seiner Dresdner Schriften inszeniert. 44 Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main 52012, 11: „Der Barock verweist nicht auf ein Wesen, sondern vielmehr auf eine operative Funktion, auf ein



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‚simplicité‘, lat. ‚simplicitas‘/‚simplex‘: ‚Einfachheit‘, wörtlich: ohne Falte bzw. ein-fältig) verbirgt sich eine Vielfalt (frz. ‚multiplicité‘, lat. ‚multipli­citas‘/‚multiplex‘: Vielfalt, viel- bzw. mannigfaltig), die im Zusammenspiel von Gedanken, Sendschreiben und Erläuterung eine bisweilen alles andere als simple Kompliziertheit (frz. ‚compliqué‘, lat., ‚complex‘) erreicht. Man kann Gottsched somit durchaus eine gewisse Naivität (im heutigen Wortsinne der Arglosig- bzw. Leichtgläubigkeit) vorwerfen, insofern er Win­ ckel­manns Scheingefecht nicht durchschaut und irrtümlicherweise Hagedorn als Verfasser des Sendschreibens identifiziert hat, der im Jahr zuvor tatsächlich eine anonyme Lettre à un amateur de la peinture veröffentlicht hatte.45 Mit gleichem Recht ließe sich aber auch Win­ckel­mann das unredliche Spiel mit dem Schein, seine mit der Absicht zu täuschen verbundene Verwandlungs- und Verstellungskunst, kurz: seine Unaufrichtigkeit vorwerfen, mit der er bewußt genau gegen diejenigen Tugend- und Interaktionsideale der Aufklärung verstößt, die er ansonsten gerne für sich selbst in Anspruch genommen und als ethisches wie auch ästhetisches Ideal propagiert hat.46 2. Charlataneria eruditorum Die hier mit Blick auf das Ideal der Einfalt und Aufrichtigkeit skizzierte Fragwürdigkeit von Win­ckel­manns Vorgehen läßt sich darüber hinaus aber auch noch in anderer Hinsicht konstatieren. 1715 waren in Leipzig Johann Burckhardt Menckes De Charlataneria eruditorum declamationes duae erschienen, in denen dieser die „Charlatanerie oder Marktschreyerey der Gelehrten“ anhand zahlreicher Beispiele darstellte und im Sinne des galanten Anti-Pedantismus kritisierte.47 Sein Vorsatz, so schreibt Mencke im Vorwort, sei es dabei geweCharakteristikum. Er bildet unaufhörlich Falten. […] Die ins Unendliche gehende Falte ist das Charakteristikum des Barock“. 45 [Christian Ludwig von Hagedorn], Lettre à un Amateur de la Peinture avec Des Eclaircissemens Historiques Sur Un Cabinet Et Les Auteurs Des Tableaux qui le composent. Ouvrage entremêlé de Digressions sur la vie de plusieurs Peintres modernes, Dresden 1755. Wie Win­ckel­ mann in einem Brief an Berendis dankbar bemerkt (Win­ckel­mann, Briefe wie [Anm. 11], Bd. 1, 180), hat Hagedorn in seiner Lettre dessen Gedanken über die Nachahmung lobend erwähnt. Siehe ebd., 336 f. 46 Siehe hierzu Karl-Heinz Göttert, Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München 1988, 101–135, wo auf den tiefgreifenden Wandel in der Kommunikationsauffassung hingewiesen wird, der sich seit dem Beginn der Aufklärung im frühen 18. Jahrhundert beobachten lasse, nämlich die „Abkehr von allem Künstlichen im Zeichen von Natürlichkeit“ und hin zu einem Ideal der Offenheit: „Gegenüber Klugheit und Höflichkeit […] kommt es zur Propagierung einer ‚wahren‘ Darstellung bzw. ‚echten‘ Beziehung“ (ebd., 101). 47 Johann Burkhard Mencke, De Charlataneria eruditorum declamationes duae, Leipzig 1715; ders., Zwey Reden von der Charlatanerie oder Marktschreyerey der Gelehrten. Nebst ver-

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sen „zu entdecken, was vor Schmincke und Fürnisses sich einige bedienen, die Unvorsichtigen an sich zu locken, und zu zeigen, wie viel Eitelkeit in allen Wissenschaften verborgen liege“.48 Unter dem Namen „Charlatan“ will Mencke dabei einen „Possenreisser, Gauckler und Marcktschreyerischen Großsprecher“ verstanden wissen; das zeitgenössische wie auch das heutige Wortverständnis bezeichnen damit aber zugleich einen Schwätzer, Aufschneider, Schwindler und Quacksalber. Das Titelkupfer der in Amsterdam verlegten lateinischen Ausgabe von 1715 zeigt einen solchen Quacksalber, postiert auf einer provisorischen Bühne, von der herab er dem auf dem Marktplatz versammelten Publikum seine Ware, allem Anschein nach eine Medizin, anpreist (Abb. 3). Assistiert wird dieser mit Perücke und Degen in der galanten Mode der Zeit gekleidete Scharlatan von einem Mann in orientalischem Kostüm zu seiner Rechten sowie einem schwarzen Gehilfen, der einem Kunden gerade eine Abb. 3 Flasche des Produkts verkauft. Im Vordergrund sind zwei Akrobaten zu erkennen, im Hintergrund zwei weitere Personen: zum einen eine aufwendig frisierte Dame, die vor einem Vogelkäfig schiedener Autoren Anmerckungen. Mit Genehmhaltung des Hn. Verfassers nach der letzten vollständigsten Auflage übersetzt, Leipzig 1716. Mit Johann Gabriel Bernhard Büschels Über die Charlatanerie der Gelehrte seit Menken (Leipzig 1791) sollte noch mehr als siebzig Jahre später eine Fortsetzung der beiden Reden erscheinen. – Zu Menckes Werk und der zeitgenössischen Diskussion um den gelehrten Betrug im allgemeinen vgl. Leonard Forster, „Charlataneria eruditorum“ zwischen Barock und Aufklärung in Deutschland, in: Sebastian Neumeister, Conrad Wiedemann (Hg.), Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, 2 Bde., Wiesbaden 1987, 203–220; István Gombocz, De Charlataneria eruditorum. Johann Burkhard Mencke as a forerunner of the enlightened satrie, in: Daphnis 28 (1999), 187–200; Marian Füssel, ‚Charlataneria Eruditorum‘. Zur sozialen Semantik des gelehrten Betrugs im 17. und 18. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 27 (2004), 119–135. Zu recht betont Füssel, daß die Scharlatanerie „als eine Art Scharnier zwischen dem Jahrhundert der Dissimulatio und der Aufrichtigkeitsemphase der Aufklärung angesehen“ werden kann (ebd., 121 f.). 48 Dies und das folgende Zitat: Mencke, Zwey Reden (wie Anm. 45), o. S. (Vorrede).



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sitzt, zum anderen, zwischen den Vorhängen, eine männliche Figur, offenbar ein Hanswurst. Alle diese auf der Bühne befindlichen Personen haben in der einen oder anderen Weise mit dem Thema der Verkleidung, der Täuschung, des eitlen Schauspiels, kurz: mit dem Verhältnis von Schein und Sein zu tun. Unter dem durchweg vornehm gekleideten Publikum, das sich um die Bühne schart, ist ein Mann in dunkler Kleidung hervorgehoben, der auf einem Esel – als dem Sinnbild der Dummheit und Leichtgläubigkeit – sitzt. Es liegt nahe, in diesem Zuschauer einen Gelehrten zu sehen, da diese traditionell Schwarz trugen. Sein Pendant hat er in dem rechts neben der Bühne erkennbaren Affen, einem literarischen Topos zufolge das Bild des geistlos nachäffenden Gelehrten. Bekrönt wird die ganze Szene schließlich von einem an dem Baldachin der Bühnenkonstruktion angebrachten Spruchband, auf dem die Worte „Muntus fult tezibi“ (i. e.: ‚Mundus vult decipi‘ – ‚Die Welt will betrogen sein‘) stehen. Mit diesem Motto und der von ihm ausgiebig genutzten Schauspielmetaphorik stellt das Titelkupfer die gelehrte Scharlatanerie in den Kontext der Vorstellung von der Welt als Theater: Das Gerüst auf dem Marktplatz wird zur Bühne des täuschenden Scheins, auf dem der Gelehrte als „marcktschreyerischer Großsprecher“ auftritt, um die Leichtgläubigen unter seinem Publikum zu betrügen. So heißt es in Menckes erster Rede hinsichtlich der Titelsucht: Gleichwie die Marcktschreyer ihre schönen Privilegia und herrlichen Zeugnisse allenthalben auszubreiten pflegen, also findet man unter denen Gelehrten nicht wenige, die ihren grösten Ruhm und Vergnügungen in neuen wohl ausgekünstelten Ehren=Tituln suchen.49

Menckes Scharlatane geben vor, gelehrter zu sein als sie sind. Dazu ist ihnen fast jedes Mittel recht, sei es nun die gegenseitige Lobhudelei, das Erfinden vielversprechender Buchtitel, das Fälschen historischer Quellen oder auch das offene Selbstlob – das den beiden Reden Menckes angefügte Register ist voll von solchen Schwindeleien. Als eine Erscheinungsform der gelehrten Scharlatanerie werden hier nun auch die „Streit=Schrifften“ und die „Begierde vieler Gelehrten darnach“ vermerkt. Die entsprechenden Ausführungen lassen aufmerken, insofern sie belegen, daß der fingierte Angriff auf die eigene Schrift schon zu Anfang des 18. Jahrhunderts offensichtlich so geläufig war, daß Mencke ihn wie selbstverständlich als eine der von ihm verurteilten Schwindeleien aufgreifen und wie folgt schildern konnte: Andere Bücher=Schreiber hingegen suchen ihnen [ihren Büchern, M. D.] mit Fleiß einen Wiedersacher, durch dessen Bestreitung Sie berühmt zu werden verhoffen. Diese ärgert nichts mehr, als wenn sich Niemand über Sie ärgern will, und daher erdencken sie, wie Seneca sagt: „allerhand abgeschmackte Possen, welche gescheiten Leuten kaum im Schlaffe einkommen würden;“ Ja, damit es nur das Ansehen habe, 49 Ebd.,

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als hätten Sie was Neues erfunden, so scheuen sie sich nicht alles was der Vernunfft und denen Sinnen gemäß ist, anzufechten, in der eintzigen Absicht, einen berühmten Gegner zu bekommen, mit dem Sie sich auf das ziehrlichste nach Klopf=Fechter Manier herumb schlagen könten. Und wenn über Verhoffen auch diese Kriegs=List fehl schlägt, so fangen sie selber an wieder ihre eigne Geburth auf das greulichste zu wütten: massen von dem Poeten Garopolus bekant ist, daß er sein Gedicht von Carl dem Grossen in einer offentlichen Censur sehr scharff durchgezogen hat.50

Mencke beschreibt hier eine dreifach gestufte Strategie noch unbekannter Autoren, berühmt zu werden, wobei die Tatsache, daß sie dies über den gegnerischen Widerspruch statt über die kollegiale Zustimmung zu erreichen gedenken, Ausdruck der verkehrten Welt der Scharlatanerie ist: Zunächst bemühen sie sich um einen ‚realen‘ Gegner, der ihre Schriften aus eigenem Antrieb kritisiert. Findet sich kein solcher Kritiker, so greifen sie die Schriften anderer, vorzugsweise berühmter Gelehrter in der Absicht an, mit diesen dadurch in einen Streit zu geraten, der ihren eigenen Bekanntheitsgrad steigert. Wenn sich auch auf diese Weise kein Gegner findet, so bedienen sie sich schließlich des letzten Mittels und attackieren ihr eigenes Erzeugnis selbst in einer öffentlichen Kritik. Über das oben als Beispiel erwähnte Gedicht des Hieronymus Garopolus, Sekretär des Prinzen von Palestrina im 17. Jahrhundert, äußert sich Mencke nicht weiter. In den Annotationen der deutschen Übersetzung jedoch wird auf einen Autor aus neuerer Zeit verwiesen, der ebenfalls seine eigene Schrift angegriffen habe, sie lautet: Hier führet D = = J = im Iourn. Litter. 1715 T. VII. p. 164. bey Durchgehung dieses Werckes, noch den Grimaret an, welcher Molliers Leben beschrieben, und nach der Zeit eine sehr einfältige Censur darüber hat drucken lassen, damit er nur Gelegenheit hätte auf selbige zu antworten, und die Vortreflichkeit seiner Schrifft Jedermann desto deutlicher vor Augen zu legen.51

Bei dem angeführten Autor handelt es sich um Jean-Léonor le Gallois de Grimarest (1659–1713), dessen Biographie La Vie de Molière (1705) in einer anonymen Lettre Critique a Mr. de *** sur le livre intitulé la vie de Mr de Molière attackiert und von ihm in einer Adition a la vie de Mr de Molière contenant une reponse a la critique que l’on faite (beide 1706) wiederum beantwortet wurde.52 Tatsächlich kam schon bald nach seinem Tod der Verdacht auf, daß Grimarest nicht nur der Verfasser der Adition, sondern auch der anonymen Lettre sei, wobei man sich stets auf dessen Sohn als Gewährsmann berief: „M. de Grimarest le fils m’a avoué que la critique que l’on fit à la suite de la vie de Molière était aussi l’ouvrage de feu son père“.53 50

Ebd., 56 f. 57. 52 Jean-Léonor Le Gallois de Grimarest, La Vie de M. de Molière. Édition critique par Georges Mongrédien, Paris 1955 (hierin enthalten auch Lettre und Adition). 53 So Claude Brossette mit Berufung auf Grimarests Sohn Charles Honoré in einem Brief 51 Ebd.,



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Doch nicht nur bei Figuren wie Grimarest und Mencke, sondern – zeitlich etwas näher – auch bei einer Person aus Win­ckel­manns engerem Dresdener Freundeskreis läßt sich dieses Wissen um die fingierte Polemik als eines der „Mittel[,] in der gelehrten Welt berühmt zu werden“, nachweisen. In seinem 1736 unter eben diesem Titel veröffentlichten satirischen ‚Lehrbuch‘ gab Christian Ludwig von Hagedorn (also genau der Hagedorn, den Gottsched für den Verfasser des Sendschreibens gehalten hatte) seinen „Schülern“ unter anderem den folgenden, natürlich satirischen Rat: Vielleicht dürfet ihr euch, durch Verdienste, manchen Widersacher zuziehen. Solchen Anfällen, müßt ihr, gleich, in den ersten Lehr=Stunden, vorbeugen. In solcher Absicht wird ein Widersacher leicht erdichtet, den ihr euren Zuhörern, als einen würcklichen, doch heimlichen Gegner vorstellet, und muthig widerleget. Ihr werdet demselben, ohne weitläuftiges Erinnern, so schwache Gründe beylegen, daß euch solche die Widerlegung nicht sauer machen können. Hierauf werdet ihr befugt seyn, sicher zu frohlocken; und, wenn ihr Beyfall gefunden, seyd ihr vielleicht im Stand, manchen Gegner, der euch unbekannt war, würcklich abzuschrecken.54

Man muß also gar nicht an so entfernter Stelle suchen wie Carl Justi, der vermutete, daß Win­ckel­mann als Vorbild für sein Scheingefecht zwei satirische Schriften gedient hätten, die 1754 anonym im Mercure de France erschienen waren.55 Belege für die Kenntnis der fingierten Polemik als Strategie zur Aufmerksamkeitssteigerung und der quasi prophylaktischen Immunisierung gegen Kritik sind im 18. Jahrhundert ubiquitär und lassen sich, wie gesehen, sowohl bei Mencke als auch im unmittelbaren Umfeld Win­ckel­manns bei Hagedorn finden. In allen Fällen jedoch gilt die fingierte Auseinandersetzung als ein ­anstößiges und deshalb tadelnswertes Delikt, das im Ruch der Scharlatanerie und des Betruges steht.56 Wer sein eigenes Werk angreift ist ein Scharlavom 9. April 1731 an den Dichter Jean-Baptiste Rousseau (zitiert nach Grimarest, La Vie de Molière [wie Anm. 50], 24). – Zu vergleichbaren Fällen inszenierter Debatten etwa bei Lessing und Wieland siehe Dönike, Anonymität (wie Anm. 6), 159 f. 54 [Christian Ludwig von Hagedorn], Die Mittel in der gelehrten Welt berühmt zu werden, o. O. 1736, 114. 55 Justi, Win­ckel­mann und seine Zeitgenossen (wie Anm. 14), Bd 1, 493 f. Es sind dies die beiden aus der Feder von Charles Nicolas Cochin stammenden Schriften Supplication aux Orfévres, Ciseleurs, Sculpteurs en bois pour les appartements & autres, par une société d´Artistes (Mercure de France, Decembre 1754, 178–187) und Lettre à M. L´Abbé R*** sur une très mauvaise plaisanterie qu´il a laissé imprimer dans le Mercure du mois de Décembre 1754, par une société d´Architectes, qui pourroient bien aussi prétendre être du premier mérite & de la premiere réputation, quoiqu´ils ne soient pas de l´Academie» (Mercure de France, Fevrier 1755, 148–171). Eine Übersetzung der beiden Texte erschien 1759 in der von Friedrich Nicolai herausgegebenen Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 2, Berlin 1759, 1. Stück, 1–31. 56 Vgl. Georg Paul Hönn, Betrugs=Lexicon, worinnen die meisten Betrügereyen in allen Ständen, nebst denen darwider guten Theils dienenden Mitteln entdecket, Coburg 31724, insbesondere die dortigen Einträge zu den „Bücher=Schreibern“ (83–85), „Gelehrten“ (169–172) und

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tan und sich verstellender Betrüger, mit dessen Aufrichtigkeit es nicht weit her sein kann. III. Von Schlangen und Tauben Wie das Beispiel Menckes und Hagedorns zeigt, konnte Win­ckel­mann für das von ihm inszenierte Scheingefecht auf ein Muster fingierter Polemik zurückgreifen, das seit dem 17. Jahrhundert geläufig und noch im 18. Jahrhundert präsent war – und sei es auch nur in satirischer Reflexion. Mit dem Rückgriff auf dieses Muster ging er jedoch zugleich, dies sollte deutlich geworden sein, das Risiko ein, nicht nur als unredlicher Charakter, sondern in aller Härte als Betrüger entlarvt zu werden. Wenn dem aber so ist – und der breite zeitgenössische Diskurs um die Scharlatanerie der Gelehrten wie auch um das stigmatisierende Laster der Verstellung sprechen dafür –, warum setzte Win­ckel­mann sich dann einer solchen Gefahr aus, die nicht nur seinen Ruf als aufgeklärtes Individuum, sondern auch seine zukünftige Existenz als Gelehrter zu beschädigen drohte?57 Dazu nur einige Anmerkungen:58 Es ist nicht zu leugnen, daß Win­ckel­mann mit dem von ihm selbst verfaßten Sendschreiben zunächst einmal Aufsehen erregen wollte. Zwar hatten die in einer nur geringen Auflage publizierten Gedancken über die Nachahmung nach seiner eigenen Aussage einen „unglaublich Beyfall“59 erhalten, doch war die Nachhaltigkeit dieses Erfolgs alles andere als sicher. Win­ckel­mann, das darf nicht vergessen werden, hatte im Oktober 1754 seine Stelle als Bibliothekar im Dienste des Reichsgrafen Heinrich von Bünau gekündigt und lebte seitdem ohne Anstellung, versehen lediglich mit einer kleinen Pension, in Dresden. Eine anfangs dort angemietete „Stube“ nebst „Kammer und Vorzimmer, alles tapissirt, vor 6 Thlr. Monatlich“ mußte er schon nach einem Monat wieder aufgeben, da die ihm avisierte Zuwendung vorerst ausblieb. Win­ckel­mann zog daraufhin zu dem Maler Adam Friedrich Oeser, seinem, wie er an Berendis schreibt, „eintzige[n] Freund“ in Dresden, der ihm eine „Stube, ohne Kammer […], Monatlich vor 2 Rthlr. 12 Gr.“ überließ.60 Ob die ihm quasi als Gegenleistung für seine Konversion zum Katholizismus in Aussicht gestellte „Journalisten“ (202). Während „Gelehrte“ nach Hönn beispielsweise dann betrügen, „[w] enn sie ihren Schrifften selbst verfertigte Carmina, darinn sie solche bester massen loben und recommandiren / vorsetzen / und dem Leser damit /als ob es ein anderer gelehrter Mann vor sich gethan /einen blauen Dunst vor die Augen machen“ (170), wird letzteren u. a. die Fingierung von Rezensionen vorgeworfen. 57 Es entbehrt vor diesem Hintergrund nicht einer gewissen Absurdität bzw. Kurzsichtigkeit, wenn Winckelmann in einem Brief an Stosch vom 26. Juli 1760 eine Zeit herbeiwünscht, die „Charlatanerie unserer Zeit zu entlarven“. (Winckelmann, Briefe [wie Anm. 11], Bd. 2, 94). 58 Vgl. ausführlicher dazu Dönike, Anonymität (wie Anm. 6), 162–172. 59 An Berendis, 4. Juni 1755 (Win­ckel­mann, Briefe [wie Anm. 11], Bd. 1, 176). 60 An Berendis, 29. Dezember 1754 (ebd., 160 f. und 163)



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Italienreise tatsächlich stattfinden würde, ob er in Italien bleiben oder ob nach Dresden zurückehren würde – das alles war damals, trotz diverser Versprechungen, offen und der Erfolg seiner Schrift damit für ihn von existentieller Bedeutung.61 Der mit Hilfe eines fingierten anonymen Autors in Szene gesetzte Streit sollte ihm also ganz offensichtlich dazu verhelfen, seine Erstlingsschrift bekannter zu machen und damit als Autor zu einer mehr als nur lokalen Prominenz zu gelangen.62 Das karrierestrategische Potential des von ihm inszenierten Scheingefechts ist mit dieser Aufmerksamkeits-Strategie jedoch noch nicht ausgeschöpft. Win­ckel­ mann bedient sich des fingierten Sendschreibens nämlich nicht allein zu dem Zweck, Aufmerksamkeit zu generieren, sondern er nutzt es auch dazu, einige, wie es in einem seiner damaligen Briefe heißt, „unwürdige Leute“ zu verspotten, „denen man die Aufsicht über die größte Gallerie der Welt und über die Antiquen anvertrauet“ habe.63 Diesen „unwürdige[n] Leuten“, die allesamt unter der Protektion des mächtigen Ministerialsekretärs Carl Heinrich Heinecken standen (namentlich der Unterinspektor der Dresdner Gemäldegalerie Matthias Oesterreich, der Verwalter des kurprinzlichen Münzkabinetts Johann Gottfried Richter und der Vizeinspektor der Statuensammlung, Johann Cronawetter), konnte Win­ ckel­mann im Sendschreiben hinter der Maske eines anonymen Kritikers, wie er schreibt, „beißende Wahrheiten“ sagen, ohne dafür mit seinem eigenen Namen einstehen zu müssen.64 Daß es angesichts der in Sachsen herrschenden strengen Zensurvorschriften, die hohe Strafen für diejenigen vorsahen, die Angehörige des Staats- und Verwaltungsapparates kritisierten, unumgänglich war, sich eines solchen Schutzschildes zu bedienen, dürfte offensichtlich sein.65 61 Daß er nur zwei Jahre in Rom bleiben wolle und seine eigentliche Hoffnung sich auf eine Anstellung in Dresden richte, berichtet Win­ckel­mann in Briefen an Uden, 3. Juni 1755 (Win­ckel­ mann, Briefe [wie Anm. 11], Bd. 1, 172), an Nolte, 3. Juni 1755 (ebd., 174), an Bünau, 5. Juni 1755 (ebd., 177) und an Berendis, 25. Juli 1755 (ebd., 178 und 180). 62 Schon Carl Ludwig Fernow, der erste Herausgeber der Win­ckel­mannschen Werke, hat das Zusammenspiel von Sendschreiben und Erläuterung dahingehend erklärt, daß es Win­ckel­mann in erster Linie darum gegangen sei, die Wirkung seiner Erstlingsschrift „noch vollständiger“ zu machen. Siehe Win­ckel­mann’s Werke, hg. von Carl Ludwig Fernow u. a., 11 Bde., Dresden 1808–1825, hier Bd. 1, Vorrede, XIV. Daß diese Strategie aufging, zeigt neben der internationalen Resonanz schon allein die Tatsache, daß die zweite Auflage der Gedancken über die Nachahmung nicht nur von Gottsched und Nicolai, sondern auch von Klopstock rezensiert wurde. Siehe Friedrich Gottlieb Klopstock, Eine Beurtheilung der Win­ckel­mannschen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in den schönen Künsten, in: Der nordische Aufseher 1760, 150. Stück, 187–204. 63 An Uden, 3. Juni 1755 (Win­ckel­mann, Briefe [wie Anm. 11], Bd. 1, 171). 64 Ebd.; vgl. auch an Uden, 1. Juni 1756 (ebd., 225 f.). 65 Hierzu wie auch zu der Tatsache, daß Win­ckel­mann natürlich davon ausging, daß er früher oder später als Verfasser aller drei Texte identifiziert werden würde, weshalb er sich schon vorab der Protektion des Königs versicherte, vgl. Dönike, Anonymität (wie Anm. 6), 164–167.

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Indem Win­ckel­mann das Schreiben eines anonymen Kritikers fingiert, schafft er sich schließlich nicht allein ein Forum, in dessen Rahmen er gegen konkurrierende „Kenner und Gelehrte“ polemisieren kann, sondern die Vorwegnahme fremder Kritik ermöglicht es ihm darüber hinaus auch, die im Sendschreiben gegen sich selbst angeführten Einwände in der abschließenden Erläuterung souverän zu widerlegen und damit am Ende als ‚Sieger‘ aus dem vermeintlichen Streit hervorzugehen. Durchaus im Einklang mit seiner Nachahmungstheorie, die darauf abzielt, durch Nachahmung unnachahmlich zu werden, verfolgt Win­ ckel­mann in seinen Dresdner Schriften nichts anderes als die Überbietung der Kritik durch ihre vorwegnehmende Nachahmung in Form einer Selbstkritik. Ist das von Win­ckel­mann mit den Dresdner Schriften inszenierte Schein­ gefecht damit aber letzten Endes nicht doch ein betrügerisches „Mittel, um in der gelehrten Welt berühmt zu werden“, die „dreiste Täuschung“ eines gelehrten Scharlatans also, der mit der Vervielfältigung seines Autor-Ichs dem von ihm selbst propagierten Ideal „edle[r] Einfalt“ Hohn spricht? Um zu verstehen, ­warum Win­ckel­mann in seinen Dresdner Schriften das von ihm selbst vertretene ethisch-ästhetische Einfalts-Ideal unterläuft und dabei bewußt das Risiko auf sich nimmt, als gelehrter Scharlatan entlarvt zu werden, muß man sich die bereits erwähnte äußerst prekäre Situation noch einmal genauer vor Augen führen, in der er sich in der Zeit vor seiner Abreise nach Rom befand: Dadurch, daß er mit Blick auf seine Italienreise zum Katholizismus konvertiert war (auch dies übrigens ein Akt der Verstellung)66 und seine bisherige Anstellung als Bibliothekar in Nöthnitz aufgegeben hatte, hatte Win­ckel­mann seine ohnehin schon eingeschränkten Karriereoptionen, sofern er sie nicht in Italien würde verwirklichen können, radikal auf den Dresdener Hof eingeengt. Dieser Hof war nun aber keine dem Ideal nach egalitäre Gelehrtenrepublik, sondern eine noch immer von den politischen Klugheitslehren des 17. und frühen 18. Jahrhunderts geprägte Welt, in der es ratsam war, sich der Techniken der Simulation und Dissimulation zu bedienen, statt sich auf die Tugenden der Einfalt und Aufrichtigkeit zu verlassen.67 66 Gegenüber seinem Freund Berendis hatte Win­ckel­mann schon im September 1754 die ihm von Seiten seines Beichtvaters als „conditio sine qua non“ bedeutete Konversion zum Katholizismus u. a. mit dem Argument zu rechtfertigen gesucht, daß „allein“ dies sein „Unglück“ sei, „daß ich kein Mittel sehe, zu meinem Zweck zu gelangen, ohne einige Zeit ein Heuchler zu sein“ (Win­ckel­mann, Briefe [wie Anm. 11], Bd. 1, 152). Zu Win­ckel­manns Konversion als „Theatercoup im Interesse seiner Karriere“ vgl. auch Walter Jens, Der große Aufsteiger: Johann Joachim Win­ckel­mann in seinen Briefen, in: Eberhard Müller (Hg.), „… aus der anmuthigen Gelehrsamkeit“. Tübinger Studien zum 18. Jahrhundert. Dietrich Geyer zum 60. Geburtstag, Tübingen 1988, 53–66, hier 60 f. – Aus ähnlichen Gründen auf Techniken der Verstellung zurückgreifen mußte Win­ckel­mann bekanntlich auch im Falle seiner Homosexualität, siehe dazu Heinrich Detering, Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Win­ckel­mann bis zu Thomas Mann, Göttingen 1994, 39–77. 67 Natürlich läßt sich diese heuristische Grenzziehung zwischen Hof und Gelehrtenrepublik



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Die bereits zuvor zitierte Wochenschrift Der Redliche (1751) stellt in ihrem zweiten Stück unter der Überschrift „Seyd klug wie die Schlangen, und ohne Falsch wie die Tauben“ eine „Betrachtung über das Sinnbild des Redlichen“ an, welches auf dem Titelblatt sowie noch einmal auf einer separaten Vignette abgebildet ist. Zu sehen ist dort eine von einem Adler gehaltene Rocaille-­Kartusche, in deren Zentrum sich das besagte „Sinnbild“, eine Taube umringt von einer Uroboros-Schlange, befindet. Zur Erläuterung dieser auf das Matthäus-Evangelium (10,16) anspielenden Darstellung heißt es: Die Taube und die Schlange sind Sinnbilder, theils der unverfälschten Aufrichtigkeit und Menschenliebe, und theils der Klugheit und Vorsichtigkeit, die einen redlichen Mann, von einem doppelherzigen Geist nach der Mode so wol als von einem Dummen, der sich in seiner natürlichen Gestalt zeiget, weil er nicht geschickt ist, eine andre anzunehmen, unterscheiden: jene machen seinen eigentlichen Gemüths Character aus; und die Klugheit setzt ihn in den Stand auch in den gefährlichsten Fällen seinen Character redlich zu behaupten.68

Formuliert wird hier eine paradoxe Ausnahmesituation, in der es auch dem „redlichen Mann“ erlaubt ist, in einer anderen als seiner „natürlichen Gestalt“, also verstellt, zu agieren. In „gefährlich[en] Fällen“ sind Vorsicht und Klugheit nicht nur zulässig, sondern werden dem Redlichen sogar angeraten, um sich und seinen aufrichtigen Charakter gegen die Bedrohung durch die „Arglistigen“, „Heuchler“ und „Betrüger“ zu schützen. 69 Ursula Geitner hat auf den der biblischen Allegorie von Taube und Schlange unmittelbar vorausgehenden Satz: „Sehet, ich schicke euch wie Schafe unter die Wölfe“ als den „eigentliche[n] Bezugspunkt“ einer solchen „Aufklärungsmoral“ hingewiesen: Diese verteilt „die Tugend-Laster-Dichotomie und damit Aufrichtigkeit und deren Gegenteil auf zwei Personenkreise, die Tugendhaften und die Lasterhaften“. Die Gewißheit der ersteren, „nicht auf die Seite der Lasterhaften zu gehören“, legitimiert deren okkasionellen „Gebrauch schlangenhafter Klugheit“, dies jedoch nur „aus mit Blick auf die historische Realität nicht aufrecht erhalten: Ebenso wie der immer wieder für seine Verstellungspraxis kritisierte Hof zugleich einer der Schauplätze der Genese des Aufrichtigkeitsideals war, ebenso war die vermeintlich tugendhafte Gelehrtenrepublik ein Ort, an dem (wie Menckes Reden, nicht zuletzt aber auch Win­ckel­manns Dresdner Schriften zeigen) Täuschung und Verstellung immer wieder zum Einsatz kamen. Ein Beispiel für den Versuch, Hofleben und Aufrichtigkeit miteinander zu vermitteln, findet sich bei Johann Michael von Loën, Der redliche Mann am Hofe, oder, Die Begebenheiten des Grafens von Rivera. In einer auf den Zustand der heutigen Welt gerichteten Lehr- und Staats-Geschichte, Frankfurt am Main 1740; dazu: Wolfgang Martens, Der redliche Mann am Hofe. Politisches Wunschbild und literarisches Thema im 18. Jahrhundert, Oldenburg 1993. Zu Ideal und Wirklichkeit der Gelehrtenrepublik siehe Lorraine Daston, The Ideal and Reality of the Republic of Letters in the Enlightenment, in: Science in Context 4 (1991), 367–386. 68 Seyd klug wie die Schlangen, und ohne Falsch wie die Tauben. Betrachtung über das Sinnbild des Redlichen, in: Der Redliche. Eine Wochenschrift 1 (1751), 2. Stück, 17–24, hier 18 f. 69 Ebd., 20.

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Gründen der Defensive“ sowie nicht zuletzt „der Aufklärung zuliebe“.70 Auch wenn der Tugendhafte sich also hin und wieder den Wolfspelz überstreift, so bleibt er, um im Bilde zu bleiben, trotzdem ein redliches Schaf, das in der Welt der Wölfe lediglich zu überleben versucht. Ohne Zweifel befand Win­ckel­mann sich in der seiner Abreise nach Rom vorausgehenden Dresdener Zeit in einer ähnlichen Situation, wie sie Der Redliche als Voraussetzung für den legitimen Gebrauch kluger Verstellung beschreibt. In der Konfrontation mit weltgewandten Höflingen, wie etwa dem aufgrund seiner hohen Stellung äußerst einflußreichen Ministerialsekretär Carl Heinrich Heinecken, wäre es allzu einfältig gewesen, wenn Win­ckel­mann sich im Sendschreiben in seiner „natürlichen Gestalt“ gezeigt hätte. Um sich in der von Konkurrenzdruck geprägten höfischen Welt Dresdens zu behaupten, die für ihn notgedrungen zu einer seiner zentralen Karriereoptionen geworden war, mußte Win­ckel­mann geradezu zwangsläufig auf ursprünglich am Hof entwickelte Verhaltenslehren und -techniken zurückgreifen und darum – zumindest zeitweise – die edle Einfalt durch eine täuschende Vielfalt ersetzen.71 Aus dieser Perspektive betrachtet läßt sich Win­ckel­mann denn auch kein moralisches Vergehen vorwerfen, da nicht nur Aufrichtigkeit, sondern auch Klugheit notwendige Eigenschaften des Redlichen sind. Win­ckel­manns bloß defensiver Gebrauch ‚schlangenhafter‘ Klugheit ändert somit nichts an seiner grundsätzlichen Tugendhaftigkeit. Ganz im Gegenteil: Letzten Endes ermöglicht es ihm erst die Verstellung, zu „zeigen“, wie es in einem Brief an den Freund Uden heiß, „daß noch Wahrheit in der Welt ist, und daß auch ein Liebling des ersten Ministers, und andere Personen, die durch ihn ihr Glück gemacht haben, nicht schrecken können“.72 * In dem von ihm 1805 herausgegebenen Werk Winkelmann und sein Jahrhundert hat Goethe fast genau fünfzig Jahre nach ihrem Erscheinen die Dresdner Schriften Win­ckel­manns wie folgt charakterisiert: So sehr W.[inckelmann] schon hier auf dem rechten Wege erscheint, so köstliche Grundstellen diese Schriften auch enthalten, so richtig das letzte Ziel der Kunst darin schon aufgesteckt ist; so sind sie doch, sowohl dem Stoff als der Form nach, dergestalt barock und wunderlich, daß man ihnen wohl vergebens durchaus einen Sinn abzugewinnen suchen möchte, wenn man nicht von der Persönlichkeit der damals in

70 Geitner,

Die Sprache der Verstellung (wie Anm. 27), 38 f. der von Win­ckel­mann auch noch in Rom eingesetzten Techniken der Maskierung und Verkleidung siehe Klaus Schneider, Natur – Körper – Kleider – Spiel. Johann Joachim Win­ckel­ mann. Studien zu Körper und Subjekt im späten 18. Jahrhundert, Würzburg 1994, 125–133. 72 An Uden, 1. Juni 1756 (Win­ckel­mann, Briefe [wie Anm. 11], Bd. 1, 226). 71 Zu



Zwiespältige Einfalt 159

Sachsen versammelten Kenner und Kunstrichter, von ihren Fähigkeiten, Meinungen, Neigungen und Grillen unterrichtet ist […].73

Auch wenn Goethe das Wort „barock“ im Allgemeinen – und so auch hier – als ein epochenunabhängiges Wertungsadjektiv verwendet, das ihm zur Bezeichnung vor allem des Merkwürdigen, Verschrobenen und Wunderlichen, des Phantastischen und Unkonventionellen dient, so scheint es nicht abwegig zu sein, dem Wort im vorliegenden Kontext auch einen historischen Index zuzuschreiben, der auf die dem Klassizismus vorausgehende Epoche des Barock verweist. Win­ ckel­mann, so dürfte deutlich geworden sein, agiert in seinen Dresdner Schriften nicht nur als der gerade, edle, einfältige und aufrichtige Charakter, als den wir ihn, nicht zuletzt aufgrund der von Goethe in Winkelmann und sein Jahrhundert gegebenen Charakteristik, zu kennen glauben.74 Die Dresdner Schriften sind gewissermaßen noch „barock“, insofern sie auf Muster gelehrter und höfischer Simulationspraxis rekurrieren, die man gemeinhin mit dem 17. und frühen 18. Jahrhundert verbindet. Im Rückgriff auf diese Muster und Techniken dienen die Dresdner Schriften zugleich aber der Durchsetzung eines neuen, an der griechischen Einfalt orientierten Klassizismus, der Barock und Rokoko ästhetisch wie auch moralisch überwinden wollte. In seinen Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst hat Johann Joachim Win­ckel­mann die „edle Einfalt und stille Größe“ zu einem der „allgemeine[n] vorzügliche[n] Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke“ erklärt und zugleich als „das wahre Kennzeichen der Griechischen Schriften aus den besten Zeiten“ bezeichnet. Der vorliegende Beitrag fragt, inwieweit Win­ckel­manns Dresdener Schriften selbst diesem Ideal entsprechen. Die Spannungen, die sich zwischen dem von Win­ckel­mann propagierten Ideal der Einfalt einerseits und der von ihm in seinen Dresdner Schriften über die Nachahmung praktizierten Verstellungskunst andererseits beobachten lassen, zeigen ihn als einen Autor, der noch tief in der Gelehrtenkultur des 17. und frühen 18. Jahrhunderts verwurzelt ist, zugleich aber mit allen – erlaubten wie auch unerlaubten – Mitteln an deren Überwindung arbeitet. In his Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (Thoughts on the Imitation of Greek Works in Painting and the Art of Sculpture), Johann Joachim Winckelmann declared the „noble simplicity and calm 73 Johann

Wolfgang Goethe: Winkelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen (1805), in: J. W. G., Sämtliche Werke (wie Anm. 33), Bd. 6.2, 358 (Abschnitt: Gewahrwerden griechischer Kunst). 74 Ebd., 375 (Abschnitt: Charakter): „W. war durchaus eine Natur, die es redlich mit sich selbst und mit andern meinte, seine angeborne Wahrheitsliebe entfaltete sich immer mehr und mehr, je selbständiger und unabhängiger er sich fühlte, so daß er sich zuletzt die höfliche Nachsicht gegen Irrtümer, die im Leben und in der Literatur so hergebracht ist, zum Verbrechen machte“; ebd., 376: „Seine Mittel sind edel; er zeigt sich selbst auf dem Wege zu jedem Zweck redlich, gerade, sogar trotzig und dabei klug und beharrlich“.

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grandeur“ as something that „generally characterises the excellence of Greek masterpieces“ and „really distinguishes Greek writings of the best periods“. This paper examines in how far Winckelmann’s Dresdner Schriften are consistent with this ideal. The tensions that can be seen between Winckelmann’s ideal of simplicity on the one hand and the art of disguise practiced in his Dresdner Schriften on the other, are evidence of an author who was still deeply rooted in the scholarly culture of the 17th and early 18th century, but who, at the same time, used all – legitimate and illegitimate – means to overcome this tradition.

Dr. Martin Dönike, Germanistisches Institut, Martin-Luther-Universität, HalleWittenberg, Ludwig-Wucherer-Str. 2, D-06099 Halle (Saale), E-Mail: [email protected] Abbildungen Abb. 1: Johann Joachim Win­ckel­mann, Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, Dresden 1755, Titelblatt (SLUB Dresden/­Deutsche Fotothek, Rudolph Kramer, 7/1966). Abb. 2: Die Vernünftigen Tadlerinnen, Erster Jahr-Theil, Halle und Leipzig 1725, Frontispiz. Abb. 3: Johann Burkhard Mencke, De Charlataneria Eruditorum Declamationes duae, Amsterdam 1715, Frontispiz.

Tomas Sommadossi Zwischen Ikonoklasmus, Prophetie und Kunstandacht Klopstock und August Wilhelm Schlegel als Rezensenten Win­ckel­manns

In seinem Beitrag zur Denkschrift Win­ckel­mann und sein Jahrhundert (1805) bezeichnet Goethe den in Stendal gebürtigen Kunsthistoriker bekanntermaßen als einen „gründlich gebornen Heiden“.1 Obwohl die pauschale Formel der Komplexität von Johann Joachim Win­ckel­manns Einstellung zu Religion und Kirche nicht gerecht wird, ist sie dennoch in vielerlei Hinsicht treffend, nicht nur weil Win­ckel­mann weniger aus Überzeugung als vielmehr aus Eigennutz – wenn auch nicht ohne Überwindung und Gewissenskonflikt, wie der Briefwechsel nahelegt – von der evangelischen zur katholischen Kirche wechselte,2 damit er auf diese Weise von Dresden nach Rom reisen durfte und dank der Kontakte mit hohen Prälaten an der päpstlichen Kurie allerlei Sammlungen antiker Plastik einsehen und studieren konnte. Ein weiterer, gewichtigerer Grund, um Goethes Ansicht zu teilen, ergibt sich aus dem äußerst geringen Interesse des Deutschrömers für die kunsttheoretische sowie -historische Erfassung von Werken sakralen Inhalts. Es erübrigt sich an dieser Stelle die Rede davon, daß sich „Win­ckel­mann als Vermittler eines in der griechischen Antike vorgegebenen Formenschatzes, einer aus den griechischen Beispielen abgeleiteten Poetologie, d. h. einer KunstTechnik-Lehre“ verstand,3 weshalb er den Fokus seiner ästhetischen Reflexion auf das altertümliche Schönheitsideal setzte und diesem in seiner Kontinuität bis in die Gegenwart hinein Vorbildcharakter bescheinigte. Trotz des von Win­ckel­ mann geäußerten Bewußtseins „um die Unwiederholbarkeit der griechischen 1 Johann

Wolfgang von Goethe, Win­ckel­mann, in: J. W. G., Goethes Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 12: Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen, hg. von Erich Trunz und Hans Joachim Schrimpf, München 81978, 96–129, hier 105. 2 Zum Thema der Konversion im Briefwechsel vgl. Adolf Düppengießer, Der ‚gründlich ­geborne Heide‘. Religion, Theologie und Kirche bei Win­ckel­mann, Diss. Passau 1981, 427–436. 3 Markus Käfer, Johann Joachim Win­ckel­mann. Von der Historie zum Nachahmungspostulat, in: Win­ckel­mann-Gesellschaft (Hg.), Altertumskunde im 18. Jahrhundert. Wechselwirkungen zwischen Italien und Deutschland, Stendal 2000 (Schriften der Win­ckel­mann-Gesellschaft, 19), 121–132, hier 126.

Aufklärung 27 · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISSN 0178–7128

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Kunst“ konnte die Antike nach wie vor „sowohl eine konstitutive und normative als auch eine regulative und methodische Geltung haben“.4 Das heißt jedoch bei weitem nicht, daß Win­ckel­mann, der im Rahmen der um die Mitte des 18. Jahrhunderts auf deutschem Boden fortgeführten Querelle des Anciens et des Modernes entschieden für die Alten Partei ergriff, die neuzeitlichen Tendenzen der (zumeist sakralen) bildenden Kunst außer acht läßt. Im Gegenteil: Neuzeitliche Autoren und Werke sind bei ihm sehr wohl vertreten, dennoch bekommen sie keinen Vorzug eingeräumt, da sie selbst bei aller Wertschätzung weniger in ihrer Eigenständigkeit anerkannt, sondern bestenfalls als Belege für die Regenerierfähigkeit des ursprünglichen Modells angeführt werden.5 Diese Einstellung zur neueren Kunst, um hier eins vorwegzunehmen, was es nachfolgend ausführlicher abzuhandeln gilt, wird nirgends so ersichtlich wie an Win­ckel­manns Beschreibung von Raffaels Sixtinischer Madonna aus der Dresdner Gemäldegalerie: Das Andachtsbild wird ausschließlich in seiner strukturalen Affinität mit der antiken Plastik gewürdigt. Gerade der kritische, keineswegs demütige Umgang mit sakralen Kunstwerken, angefangen bei Raffael, brachte Win­ckel­mann den Tadel seiner Rezensenten ein. Sowohl Friedrich Gottlieb Klopstock, der 1760 die Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755) im Nordischen Aufseher besprach,6 als auch August Wilhelm Schlegel, der 1812 die erste deutsche Gesamtausgabe von Win­ckel­manns Werken für die Heidelbergischen Jahrbücher ausführlich rezensierte,7 bemängeln an Volker Riedel, Zwischen Klassizismus und Geschichtlichkeit. Goethes Buch Win­ckel­mann und sein Jahrhundert, in: International Journal of the Classical Tradition 13/2 (2006), 217–242, hier 220. Vgl. dazu das Schlußwort zur Geschichte der Kunst, wo es heißt: „Wir haben […] gleichsam nur einen Schattenriß von dem Vorwurfe unserer Wünsche übrig; aber desto größere Sehnsucht nach dem Verlornen erwecket derselbe, und wir betrachten die Copieen der Urbilder mit größerer Aufmerksamkeit, als wir in dem völligen Besitze von diesen würden gethan haben. Es geht uns hier [bei der Betrachtung der überlieferten antiken Kunstwerke, TS] vielmals, wie Leuten, die Gespenster kennen wollen, und zu sehen glauben, wo nichts ist: der Name des Alter­ thums ist zum Vorurtheil geworden; aber auch dieses Vorurtheil ist nicht ohne Nutzen“. Johann Joachim Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst des Alterthums, Teil 2, Wien 1776, 880. 5 Von Win­ckel­manns umfangreicher Kenntnis der neuzeitlichen Kunst legt u. a. die Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst (1763) exemplarisch Zeugnis ab. Vgl. Johann Joachim Win­ckel­mann, Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. von Walther Rehm, Berlin 1968, 211–233, Kommentar 451–477. 6 Friedrich Gottlieb Klopstock, Eine Beurtheilung der Winkelmannischen Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in den schönen Künsten, in: Der nordische Aufseher 3 (1760), 150. Stück, 258–269. Im folgenden zitiert nach F. G. K., Ausgewählte Werke, hg. von Karl August Schleiden, München 1962, 1049–1054. 7 Johann Joachim Win­ ckel­ mann, Win­ ckel­ mann’s Werke, hg. von Carl Ludwig Fernow, Heinrich Meyer und Johann Schulze, 4 Bde., Dresden 1808–1811; August Wilhelm Schlegel, Win­ckel­mann’s Werke [Rezension], in: Heidelbergische Jahrbücher der Litteratur 5/5–7 (1812), 65–112. Im folgenden zitiert nach: A. W. S., Sämmtliche Werke, hg. von Eduard Böcking, Bd. 12: 4



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Win­ckel­manns Art der Kunstbetrachtung und besonders an seinem AllegorieVerständnis die geringe Beachtung des religiösen Repertoires. Die von Klopstock und A. W. Schlegel verfolgte religiöse Perspektive auf Win­ckel­mann bildet den Gegenstand der vorliegenden Studie. Zuerst soll an zwei Werkanalysen Win­ckel­manns, der Beschreibung der Sixtinischen Madonna und des Apollo von Belvedere, dessen nahezu ikonoklastische Abwendung von einem religiös vermittelten ästhetischen Modell dargestellt werden.8 Im zweiten und dritten Abschnitt werden die Auseinandersetzungen mit der Kunsttheorie des Zeitgenossen von Seiten der beiden Rezensenten (in chronologischer Reihenfolge) einzeln umrissen: Dabei gilt es aufzuzeigen, inwiefern Klopstock und Schlegel, die beide christliche Mythologeme gegen den Kult der Antike ausspielen, den eigentlichen historischen Wert von Win­ckel­manns Kunstideal verkennen.9 Der Ausblick gilt schließlich einer skizzenhaften kulturhistorischen bzw. geistesgeschichtlichen Kontextualisierung der beiden Rezensionen vor dem Hintergrund des sich um 1800 vollziehenden Epochenumbruchs. I. Win­ckel­manns Ikonoklasmus Es reicht ein Blick in die Gedancken über die Nachahmung, um sich Win­ckel­ manns „Entfernung von aller christlichen Sinnesart“, um erneut mit Goethe zu sprechen, zu vergegenwärtigen.10 Man darf sich nicht von den mit Pathos geladenen Imperativen („Sehet die Madonna“) bzw. Ausrufen („Wie groß und edel ist ihr gantzer Contour!“) im ersten Absatz der in dieser Schrift enthaltenen Beschreibung von Raffaels Sixtinischer Madonna täuschen lassen.11 Win­ckel­ mann geht es hier, wie den folgenden Absätzen unmittelbar zu entnehmen ist, Vermischte und kritische Schriften, Teil 6, Leipzig 1847 (Nachdruck Hildesheim, New York 1971), 321–383. 8 Der Begriff des Ikonoklasmus in bezug auf Win­ckel­mann versteht sich hier in Anlehnung an Helmut Feld, Der Ikonoklasmus des Westens, Leiden u. a. 1990 (Studies in the History of Christian Thought, 41), 260–264. 9 Was A. W. Schlegels Win­ ckel­mann-Rezeption anbelangt, gilt es nachfolgend aus pragmatischen Gründen zumindest die Kontraste in der Erfassung von sakraler Kunst zu umreißen. Für eine Darstellung davon, wie „der Win­ckel­mannsche Klassizismus als Hintergrundvoraussetzung in die romantische Kunstkritik eingeht“, verweise ich exemplarisch auf Lothar Müller, Achsendrehung des Klassizismus. Die antiken Statuen und die Kategorie des ‚Plastischen‘ bei Friedrich und August Wilhelm Schlegel, in: York-Gothart Mix, Jochen Strobel (Hg.), Der Europäer August Wilhelm Schlegel. Romantischer Kulturtransfer – romantische Wissenswelten, Berlin 2010 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 62), 57–75, hier 58. 10 Goethe, Win­ckel­mann (wie Anm. 1), 101. 11 Johann Joachim Win­ ckel­ mann, Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, in: J. J. W., Kleine Schriften (wie Anm. 5), 27–59, hier 46.

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lediglich um den Nachweis der Wirksamkeit der Lehre von ‚edler Einfalt‘ und ‚stiller Größe‘, welche „[d]as allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke“ darstellt und sich der mittelitalienische alte Meister exemplarisch zu eigen zu machen gewußt hatte.12 In der entsprechenden Passage der Gedancken findet ein Wortschatz Anwendung, der, wenngleich teilweise lyrisch konnotiert, eindeutig auf objektive, fachmännische Bildbeschreibung abzielt. Das Augenmerk liegt auf Stellung und Kontur der Mutter Gottes, auf der Verteilung, Körperstellung und Gestik der Heiligenfiguren, auf deren Kleinformat im Verhältnis zur statuarischen Größe Marias. Eine theologische Bildauslegung bleibt hier ansonsten aus, genauso wie eine devotionale Deutung der Leinwand. Die rein formalistische Herangehensweise an das christliche Kunstwerk ist ferner durch den Vergleich betont, den Win­ckel­mann zur Erfassung der aus der Pose der dominierenden Figur der Madonna hervorgehenden majestätischen Ausstrahlung anstellt: Raffael habe sie „in derjenigen Stille“ ausgeführt, „welche die Alten in den Bildern ihrer Gottheiten herrschen liessen“.13 Die wertneutrale Erfassung des religiösen Sujets unter Rekurs auf ein Kunstmodell aus vorchristlicher Zeit läßt sich in zweierlei Hinsicht verzeichnen. Auf der einen Seite hat der Rückgriff auf das altertümliche Muster Raffael zu jenem „allgemeinen Schönen und zu Idealischen Bildern desselben“ verholfen, denen (eigentlich unabhängig vom Inhalt) statuarische Würde und Größe in einfältiger Erhabenheit zugrunde liegen;14 dies trifft auf Raffael insofern zu, als er durch die „Begegnung mit der Welt der römischen Antike […] den Ausgleich zwischen dem Profanen und Sakralen, dem Realen und Idealen, dem lebensvoll beobachteten Detail und der kunstvollen Komposition, dem Raum und der Fläche, der Zeichnung und der farblichen Modulation“ erreichte.15 Auf der anderen Seite wohnt der Raffael-Lesart ein nicht zu unterschätzendes Irritationspotential inne, das im Spannungsfeld von Empfindsamkeit, Klassik und Romantik durchaus kontrastierende Reaktionen ausgelöst haben mag. Win­ckel­ manns religiöse Indifferenz tritt noch ausdrücklicher zutage, sobald er Dresden verläßt und, in Rom angekommen, die antike Plastik vor Ort aus unmittelbarer Nähe zu studieren beginnt. Wie Feld hervorhebt, liegt auf der Hand, „[d]aß das Anliegen Win­ckel­manns im tiefsten ein religiöses ist“, was „an keiner anderen Stelle so deutlich wie in seiner Beschreibung des Apollo von Belvedere“ wird, „die er zuerst in seiner Geschichte der Kunst des Altertums (1764), dann in einem erweiterten Nachtrag zu derselben gibt“.16 Aber wohlgemerkt: Das hier thematisierte ‚religiöse‘ Anliegen sprengt den Rahmen jeglicher Orthodoxie, gleich welcher Konfession, und nimmt insofern ikonoklastische Züge an, als es 12 Ebd.,

43. 46. 14 Ebd., 37. 15 Düppengießer, Der ‚gründlich geborne Heide‘ (wie Anm. 2), 229. 16 Feld, Der Ikonoklasmus (wie Anm. 8), 263. 13 Ebd.,



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mit der Evokation eines archaischen Kultes (offensichtlich ästhetisch verklärt) verbunden ist, dessen inspirative Kraft man sich im Rahmen unmittelbaren ästhetischen Erlebens immer wieder von neuem vergegenwärtigen kann. Es geschieht gerade in diesem Zusammenhang, daß Win­ckel­mann „die Fülle der evozierten Assoziationen bis an die Grenze des Sagbaren spannt“17 und sich als Kunstbetrachter in eine himmlische Vision auf hellenischem Boden projiziert: Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses Wunderwerks der Kunst, und ich nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen. Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben, wie diejenige, die ich wie vom Geiste der Weißagung aufgeschwellet sehe, und ich fühle mich weggerückt nach Delos und in die Lycischen Hayne […]: denn mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schönheit.18

In einem ähnlichen Ton fordert Win­ckel­mann seinen Leser auf, sich einer entsprechenden Gemütsverfassung zu öffnen, um jenem Inbegriff des Idealschönen zu begegnen, „welches in einem großen Verstande der sich über die Materie erheben können, entworfen und mit einer Hand, die zu Bildung höherer Wesen bestimmt war ausgeführet worden“:19 „Gehe mit deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten, und versuche ein Schöpfer einer Himmlischen Natur zu werden, um den Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen: denn hier ist nichts Sterbliches, noch was die Menschliche Dürftigkeit erfordert“.20 Als hermeneutisches Instrument empfiehlt sich eine Seele, „die mit natürlicher Empfindung des Schönen begabt ist und in Entzückung gegen das was die Natur übersteigt; kan gesetzet werden“.21 Daß das die Natur Übersteigende ein griechischer, kein christlicher Gott ist, ist durchaus erklärungsbedürftig. Damit kommen wir zurück zu Raffael. Das Element, das es ermöglicht, den Apollo und die Madonna in der Genealogie der Kunst auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, ist die beide Werke gleichermaßen prägende ‚selige Stille‘.22 Der Ausdruck mutet lediglich in der Wortwahl pietistisch an. Es ist in erster Linie das Bildnis des – wie ein Erlöser avant la lettre – Leben spendenden Apolls, der den Maßstab setzt, damit in Raffaels Marienbildnis ein Echo der antiken Magnifizenz widerhallen kann. Diese Art Wiederaufnahme eines – ästhetisch konzipierten – heidnischen Götterkultes um die Mitte des 18. Jahrhunderts „überrascht […] uns doch nicht wenig, wenn 17 Sabine

Schneider, Die schwierige Sprache des Schönen. Moritz’ und Schillers Semiotik der Sinnlichkeit, Würzburg 1998 (Epistemata Literaturwissenschaft, 231), 138. 18 Johann Joachim Win­ckel­mann, Beschreibung des Apollo im Belvedere in der Geschichte der Kunst des Alterthums, in: J. J. W., Kleine Schriften (wie Anm. 5), 267 f., hier 268. 19 Johann Joachim Win­ ckel­mann, Beschreibung des Apollo im Belvedere (Fassungen im ­Pariser Manuskript, zweiter Entwurf), in: J. J. W., Kleine Schriften (wie Anm. 5), 275–278, hier 275. 20 Win­ckel­mann, Apollo (Geschichte der Kunst) (wie Anm. 18), 267. 21 Win­ckel­mann, Apollo (Pariser Manuskript) (wie Anm. 19), 276. 22 Win­ckel­mann, Apollo (Geschichte der Kunst) (wie Anm. 18), 267.

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nunmehr auch […] die Erleuchtung und Erlösung der Welt […] nicht mehr von dem ewigen Licht der göttlichen Trinität […], sondern von einer Epiphanie des Delphischen Gottes in seinem Bilde erwartet wird“.23 Daß die christliche Kunst mitsamt ihrer Botschaft zu einer sekundären, aus altgriechischem Gedankengut abgeleiteten Erscheinungsform herabgestuft wird, ist keine Bagatelle. Damit leitet Win­ckel­mann ein säkularisiertes Kunstverständnis ein, auf das Rehm aufmerksam gemacht hat: „Die Stille […] erweckt eine Religion, eine Andacht der Kunst, eine gewissermaßen verweltlichte Religion, die alte Gedanken in neue Zusammenhänge aufnimmt“;24 Win­ckel­mann wußte das Wort [Stille] aus […] religiösen Zusammenhängen herauszunehmen und in eine neue weihevolle Verbindung mit dem als göttlich verehrten Schönen zu bringen, um ihm auch dann und nun für einen weiten weltlichen Zusammenhang die Würde zu erhalten und auch den besonderen innerlichen Seelenton. In diesem Sinne darf man mit Recht behaupten, erst durch ihn, nicht etwa durch Tersteegen oder durch Klopstock, bei denen das Wort noch ganz im religiösen Zusammenhang erscheint, […] habe das Wort ‚Stille‘ in der neueren Zeit, im neudeutschen klassischen Sprachbereich seinen eigentümlichen, empfindsamen und zugleich sakral-feierlichen Gefühlswert erhalten.25

Die semantische Neubesetzung von Begrifflichkeiten wie der Stille, die in der deutschen Geistesgeschichte von der mittelalterlichen Mystik über das Barock bis hin in den Pietismus und in die Empfindsamkeit hinein eine lückenlose Überlieferung religiöser Prägung genossen hatten, signalisiert einen markanten Bruch mit der Tradition.26 Feld betont am Beispiel der Apollo-Beschreibung die Ironie des Schicksals, daß Win­ckel­mann im Übergang zwischen zwei Konfessionen ein religionsloser Grenzgänger bzw. Freidenker werden mußte: Eine größere Negation barocker Religiosität und Ikonographie ist kaum denkbar. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten dieses an […] Paradoxen nicht armen Zeitalters, daß Win­ckel­mann, um sie aussprechen zu können, erst katholisch werden mußte.27

Es sei an dieser Stelle eine weiterführende Anmerkung zu Win­ckel­manns Erlebnissen als Katholik in Rom angeschlossen, die möglicherweise zu einer genaueren Kontextualisierung verhelfen kann. Es ist zusätzlich eine ironische Tatsache, daß erst in den römischen Schriften die radikale Position des Archäologen in bezug auf die grundsätzliche Kompromißunfähigkeit des antiken Ideals gegenüber Kontaminationen von Seiten der Religion ihren vollendeten 23 Feld,

Der Ikonoklasmus (wie Anm. 8), 264. Rehm, Götterstille und Göttertrauer. Aufsätze zur deutsch-antiken Begegnung, Salzburg 1951, 107. 25 Ebd., 107 f. 26 Vgl. August Langen, Der Wortschatz des 18. Jahrhunderts, in: Friedrich Maurer, Heinz Rupp (Hg.), Deutsche Wortgeschichte, Bd. 2, Berlin, New York 31974 (Grundriß der germanischen Philologie, 17), 31–244, hier besonders 136–140. 27 Feld, Der Ikonoklasmus (wie Anm. 8), 264. 24 Walther



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Ausdruck erlangt. Man kann ohnehin annehmen, daß die päpstliche Kulturpolitik für Altertümer das klassizistische (d. h. heidnische) Kunst- und Menschenbild Win­ckel­manns weiter bestärkt haben mag. Wenngleich der Deutschrömer in engstem Kontakt mit der römischen Kurie stand und den beiden zu seiner römischen Zeit amtierenden Päpsten, Benedikt XIV. und Clemens XIII., sogar persönlich begegnen durfte,28 äußerte sich Win­ckel­mann kritisch gegenüber den Umständen im damaligen Kirchenstaat, wo, so heißt es im Briefwechsel, angeblich „die Gelehrsamkeit vollends unterdrücket“ wurde.29 Diese plakative Aussage ist bei weitem relativierungsbedürftig, zumal Benedikt XIV. die Kultur im damaligen Rom in entscheidendem Maße unterstützte. Er bemühte sich beispielsweise um die Apostolische Bibliothek, er schloß dieser ein neu gegründetes Museum für christliche Altertümer an (daraus entstanden später die Vatikanischen Museen), gründete Gelehrtenakademien, vermehrte die Bestände des heutigen Kapitolinischen Museums und förderte die Publikation des Giornale de’ Letterati, eines der bedeutendsten gelehrten Periodika im damaligen italienischen Kulturraum.30 Des weiteren leitete der Papst ein umfassendes Restaurierungsprogramm ein, dem die Erhaltung eines Großteils des antiken architektonischen Erbes (nicht zuletzt des Kolosseums) bis in die heutige Zeit zu verdanken ist. Das leitende Prinzip des päpstlichen Vorhabens mag Win­ckel­mann allerdings wohl mit Skepsis wahrgenommen haben, zumal es dabei der kirchenstaatlichen Intelligenzija vornehmlich um die Sicherung einer idealen Kontinuität zwischen der heidnischen und der altchristlichen Antike ging, die beide in Rom ihren Mittelpunkt hatten und dementsprechend zusammengehörten. So erklärt Greco: Le stesse ricerche archeologiche, tese a recuperare la memoria storica non solo della Roma dei martiri cristiani ma anche della Roma pagana, appaiono mirate a utilizzare in una linea di continuità la grandezza di quel patrimonio storico al servizio del progetto culturale e politico del pontefice: un progetto secondo il quale, la Chiesa, 28 Win­ckel­mann

hatte in Rom zuerst als Bibliothekar von Kardinal Alberigo Archinto, dem ehemaligen Nuntius in Dresden, gewirkt, bevor er nach dessen Tod in den Dienst des Kardinals Alessandro Albani wechselte und zum Berater für die Aufstellung von dessen Antikensammlung in der neu erbauten gleichnamigen Villa an der Porta Salaria avancierte; ab 1763 wurde er Oberaufseher über die Antikesammlungen in Rom. Zu Win­ckel­manns römischer Zeit vgl. Adolf H. Borbein, Johann Joachim Win­ckel­mann in Rom, in: Uwe Israel, Michael Matheus (Hg.), Protestanten zwischen Venedig und Rom in der Frühen Neuzeit, Berlin 2013 (Schriftenreihe des Deutschen Studienzentrums in Venedig, N. F. 8), 65–85; Hellmut Sichtermann, Win­ckel­mann in Italien, in: Thomas W. Gaehtgens (Hg.), Johann Joachim Win­ckel­mann 1717–1768, Hamburg 1986 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 7), 121–160. 29 Johann Joachim Win­ ckel­mann, Briefe, Bd. 1: 1742–1759, hg. von Walther Rehm, Berlin 1952, 306. 30 Vgl. Gaetano Greco, Benedetto XIV. Un canone per la chiesa, Roma 2011 (Profili, N. S. 52), 262–267; Claudia Lega, La nascita dei Musei Vaticani. Le antichità cristiane e il museo di Benedetto XIV, in: Bollettino dei monumenti, musei e gallerie pontificie 28 (2010), 95–184.

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rinnovata nel rigore religioso dei suoi appartenenti, nell’osservanza dei precetti e in continuità con la religiosità dei primi cristiani, è in grado di raccogliere l’eredità della Roma antica, affermando quindi l’eternità della città se non dello Stato temporale cui appartiene, sotto l’egida della Chiesa‘.31

Die konkrete Ausführung dieses Plans implizierte jedenfalls eine Funktions­ veränderung der monumenti antichi zu religiösen Zwecken. Durch eine im frühneuzeitlichen Rom etablierte Praxis wurden altertümliche Ruinen in die Verfügung von Kongregationen bzw. religiösen Gruppierungen übergeben, die sich einerseits zu deren Sanierung und Erhalt verpflichteten, diese jedoch zugleich zum eigenen Nutzen beanspruchen durften und häufig in Kirchen und sonstige Kultuseinrichtungen umbauten. Benedikt XIV. spielte dabei eine besonders wichtige Rolle, als er beispielsweise auf dem Gelände der Diokletiansthermen, wo seit dem 16. Jahrhundert bereits zwei Kirchen errichtet worden waren, eine dritte, heute nicht erhaltene Kirche (Sanctus Isidorus in Thermis) erbauen ließ; nicht zuletzt konsekrierte er 1756 das Kolosseum als Märtyrerstätte und setzte damit dessen Verfall ein Ende.32 Vor dem Hintergrund der angestrebten Konvergenz von Antike und Christen­ tum in der Denkmalpflege in Win­ckel­manns römischen Jahren kann man abschließend festhalten, daß der Papst die römische Gelehrsamkeit keineswegs benachteiligt, aber doch „in eine Richtung gelenkt hatte, die Win­ckel­mann fremd sein mußte und fremd blieb“.33 Und genauso fremd blieb Win­ckel­mann dem Verstehen mancher seiner deutschen Rezensenten: Diese suchten in seinen Schriften vergeblich nach dem Geist der christlichen Religion, während Winckel­mann indes „eine Art natürlicher Religion vor[schwebte], wobei jedoch Gott als Urquell des Schönen und kaum als ein auf den Menschen sonst bezügliches Wesen erscheint“.34 II. Klopstocks „bewegte“ Ansichten Daß der Autor der Apollo-Beschreibung und der Dichter des Messias (1748) nicht auf derselben intellektuellen Wellenlänge sein konnten, versteht sich nahezu von selbst. Der Zufall wollte es, daß Win­ckel­mann und Klopstock im selben 31 Greco, Benedetto XIV (wie Anm. 30), 264 f. Zitat im Zitat aus Carla Benocci, Il cardinale Gaspare di Carpegna tra rinnovamento religioso e collezionismo archeologico illuminato. Una figura di mediazione attenta al mondo spagnolo, in: José Beltrán Fortes (Hg.), Illuminismo e Ilustración. Le antichità e i loro protagonisti in Spagna e Italia nel XVIII secolo, Roma 2003 (Bibliotheca italica, 27), 65–83, hier 69. 32 Vgl. Susanna Pasquali, Roma antica. Memorie materiali, storia e mito, in: Giorgio Ciucci (Hg.), Roma moderna, Roma, Bari 2002, 323–347, besonders 326–330. 33 Elisabeth Garms-Cornides, Zur Kulturpolitik der römischen Kurie um die Mitte des 18. Jahr­ hunderts, in: Gaehtgens (Hg.), Win­ckel­mann (wie Anm. 28), 179–193, hier 189. 34 Goethe, Win­ckel­mann (wie Anm. 1), 124.

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Jahr (1755) jeweils eine Abhandlung in den Druck gaben, die in nuce die Leitlinien ihrer Poetik enthielt. Bei dem einen handelte es sich um die Gedancken über die Nachahmung, von denen soeben die Rede war; bei dem anderen um den als eine Apologie konzipierten Aufsatz Von der heiligen Poesie, in dem Klopstock seine Thesen zur theologisch umstrittenen Gattung des Bibelepos vortrug.35 Ein weiteres Werk des Zufalls besteht darin, daß Klopstock eine der ersten umfangreichen Erörterungen des schriftstellerischen Erstlings des Altertumsforschers zu verdanken ist.36 Daß diese sich trotz der im ersten Absatz erwiesenen kollegialen Reverenz als ein Verriß erweist, erschließt sich aus der eben beschriebenen Konstellation, zumal Klopstock die eigene religiöse Anschauung auf Win­ckel­manns Kunstbegriff überträgt, in der Absicht, diesen in seinen Grundannahmen zu widerlegen. Um seinen Standpunkt klarzumachen, deutet Klopstock die Gedancken auf die Herausbildung von methodischen und inhaltlichen Oppositionspaaren hin. Die Rezension ist nach einem regelmäßigen Muster aufgebaut: Auf Zitate von Win­ckel­mann folgen jeweils Kommentare von Klopstock. In ihrem Argumentationsgang basiert sie auf einer doppelten interpretatorischen Verzerrung der besprochenen Vorlage: Zum einen urteilt der Verfasser über bildende Kunst von einem literarästhetischen Gesichtspunkt her, er betrachtet sie „mit seinen poeti­ sierenden, vergeistigenden Augen“ und verkennt dabei „die medienästhetische Eigenart der Malkunst“ sowie auch der Bildhauerei gänzlich;37 zum anderen rezipiert er Win­ckel­manns Nachahmungstheorie nicht als Formprinzip, was sie eigentlich ist, sondern als inhaltliche Vorschrift. Aus diesen Prämissen leitet er wiederum zweierlei ab: die Unwirksamkeit der Allegorie als Ausdrucksform und die Unzulänglichkeit der antiken Vorbilder für die Erfassung der Vorstellungswelt der Modernen. Sein Vorhaben ist es dabei, das Griechentum mit seiner für Klopstock historisch überholten heidnischen Mythologie und das im Germanentum verankerte christliche Kulturgut gegeneinander auszuspielen; ersteres gilt es in seiner Signifikanz abzuschwächen, zugunsten der Aufwertung des Einheimischen. Zunächst möchte der Kritikführende das Postulat der Nachahmung der Alten, das Win­ckel­mann als die einzige Möglichkeit für ‚unnachahmliches‘ Kunstschaffen ansieht, in seiner Tragweite relativieren, indem man es ausschließlich für jene „Arten der Schönheiten“ gelten läßt, „die sie [die Alten] erschöpft 35 Vgl.

Friedrich Gottlieb Klopstock, Von der heiligen Poesie, in: F. G. K., Ausgewählte Werke (wie Anm. 6), 997–1009. 36 Vgl. Henry Caraway Hatfield, Win­ckel­mann and his German Critics 1755–1781. A prelude to the Classical Age, Morningside Heights 1943 (Columbia University Germanic Studies, N. S. 15), 78–86. 37 Klaus Hurlebusch, Apparat zum Werk im ganzen, in: Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Abt. Werke, Bd. 7/2: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Text/Apparat, hg. von K. H., Berlin, New York 2003, 231–445, hier 268.

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haben“.38 Daran knüpft eine Frage an – „Haben zum Exempel die Griechen die Vorstellungen ausdrücken können, die wir uns von Engeln machen müssen? –,39 welche das der medialen Fokusverschiebung innewohnende „grandiose[] Mißverständnis“ verrät,40 das Klopstocks Auseinandersetzung mit dem Win­ckel­ mannschen Klassizismus kennzeichnet. Die Stellungnahme zur Darstellbarkeit von Engeln (stellvertretend für das gesamte Figurenrepertoire der Dogmatik), an der Klopstock die Überlegenheit der modernen sakralen Kunst bzw. Literatur (vor allem seiner eigenen) gegenüber der an der Klassik orientierten festmacht, bezeugt, daß sich die Rezension weniger als ein eigenständiger Beitrag zur Kunstästhetik, als vielmehr als ein Nachtrag zu der seit gut zwei Jahrzehnten andauernden poetologischen Diskussion über biblische Epopöen und deren theologische Implikationen erweist. Der Ausbruch des Theoriegefechts zu diesem Gegenstand datiert auf den Anfang der 1740er Jahre zurück, als der in Leipzig ansässige Johann Christoph Gottsched und die Züricher Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger eine erbitterte Kontroverse führten, in deren Mittelpunkt die vom Leipziger verworfenen, von den Schweizern hochgelobten überirdischen Szenerien des Paradise Lost (1667) von John Milton standen. Um es kurz zu fassen, sei nur daran erinnert, daß die umfangreiche Milton-Apologie aus Bodmers Feder, die Critische Abhandlung von dem Wunderbaren (1740), die poetische „Vorstellung der Engel in sichtbarer Gestalt“ (davon handelt der zweite Abschnitt) nachdrücklich fordert.41 Selbstverständlich kommt es hierbei nicht auf die Flügelfiguren tout court an. Abstrahierend vom Fallbeispiel eröffnet die poetische Handhabung der göttlichen Offen­barung „dem Dichter einen Freiraum im Übernatürlichen, es schenkt ihm eine Lizenz“,42 um in den abgebrochenen und kurtzbegriffenen Erzehlungen der H[eiligen] Scribenten das leere und mangelnde mit solchen Umständen in den Begegnissen [zu] ersetzen und aus[zu]füllen, welche mit dem geoffenbahreten ein Gewebe in einem ordent­ lichen Zusammenhang ausmachen.43

38 Klopstock, Eine Beurtheilung (wie Anm. 6), 1050. Vgl. Win­ ckel­mann, Gedancken (wie Anm. 11), 29: „Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“. 39 Ebd. 40 Eduard Beaucamp, Klopstock contra Win­ ckel­mann. Aus der Frühzeit deutscher Kunstkritik, in: Herbert Beck, Peter C. Bol, Eva Maek-Gérard (Hg.), Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert, Berlin 1984 (Frankfurter Forschungen zur Kunst, 11), 253–272, hier 253. 41 Vgl. Johann Jakob Bodmer, Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. In einer Vertheidigung des Gedichtes Joh. Miltons von dem verlohrnen Paradiese, Zürich 1740 (Nachdruck: Stuttgart 1966), 29–52. 42 Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006 (Palaestra, 323), 145. 43 Bodmer, Critische Abhandlung (wie Anm. 41), 50.



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Die Dichtung beteiligt sich auf diese Weise an einer Aufgabe, die bis dahin der Theologie vorbehalten war. Die „Erlaubnis in der Religion zu dichten“,44 legt Klopstock, der sich zu Anfang der 1750er Jahre vorübergehend unter dem direkten Einfluß Bodmers befand – für einige Monate sogar als Gast in dessen Züricher Haus lebte –, seinem theoretischen System zugrunde. Die damit verbundene Verschiebung des klassisch-aristotelischen Mimesisbegriffes hin zur Nachahmung der Religion soll eine Generation „noch ungeborner Künstler“ hervorbringen (Klopstock imaginiert offensichtlich sich selbst an deren Spitze), die „noch viel was anders sagen würde, als die Griechen haben sagen können“.45 Wohlgemerkt: Die hier thematisierte Erwartung auf eine Erneuerung und Weiterentwicklung der Kunst weg von einer epigonalen Abhängigkeit von überlieferten Mustern ist für Klopstock genauso wie für Win­ckel­mann ein vordringliches Anliegen. Nur die Anregungen, wie dies zu erreichen wäre, deuten auf gegensätzliche Einschätzungen des künstlerischen Anspruchs hin. Win­ckel­ mann plädiert für eine „Erweiterung der Kunst“,46 die lediglich kunstimmanent durch den Ausbau des Zeichensystems für bildlich vermittelte Signifikation erfolgen kann, d.h. durch den Einsatz eines „Verfahren[s] des Allegorisierens […], um zu mythologischen Darstellungen zu gelangen, die dem modernen Weltbild adäquat wären“:47 Denn der „Mangel“ an einem „gelehrten Vorrath“ von „bedeutende[n] und sinnlich gemachte[n] Zeichen von Dingen, die nicht sinnlich sind“, verschlägt den Künstler in eine „Einöde“, der er „allein durch den Weg der Allegorie, durch Bilder, die allgemeine Begriffe bedeuten“, entkommen kann.48 Demgegenüber schwebt Klopstock auf dem Weg zu einem kunstreligiösen Literaturverständnis hin ein vollständiger Paradigmenwechsel vor, zumal er weniger die Entfaltung dichterischer Ausdrucksmöglichkeiten durch die Adap­ tation der Bibel anstrebt, als es ihm umgekehrt vielmehr darum geht, „nach poetischer Denkungsart, dasjenige, was uns die Offenbarung lehrt, weiter zu entwickeln“.49 Daß ferner neben der heiligen Geschichte die „Geschichte meines Vaterlandes“ als bevorzugter Themenkreis der Nachahmung der Klassiker entgegengehalten wird, mag nicht verwundern, sofern man das Erscheinungsdatum der Beurtheilung berücksichtigt.50 Dieses fällt nämlich mitten in die Übergangphase zwischen der Psalmendichtung und der Entdeckung der nordischen Mythologie, als sich bei Klopstock eine weitreichende patriotische Wende 44 Klopstock,

Von der heiligen Poesie (wie Anm. 35), 999. Eine Beurtheilung (wie Anm. 6), 1050. 46 Win­ckel­mann, Gedancken (wie Anm. 11), 55. 47 Auerochs, Die Entstehung (wie Anm. 42), 409. 48 Win­ckel­mann, Gedancken (wie Anm. 11), 56. 49 Klopstock, Von der heiligen Poesie (wie Anm. 35), 999. 50 Klopstock, Eine Beurtheilung (wie Anm. 6), 1052. Hervorhebung im Original. 45 Klopstock,

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vollzieht,51 deren Zusammenhang mit dem prophetischen Dichteramt Kaiser wie folgt auf den Punkt bringt: Patriotische und religiöse Wirkung gehen für Klopstock […] nicht nur nebeneinander her, sie gehen sogar auseinander hervor. Schon die Portenser Abschiedsrede versteht das Projekt des großen religiösen Heldengedichtes über den Messias zugleich als Verherrlichung des eigenen Volkes, das damit auf dem Felde der höchsten dichterischen Gattung alle anderen Völker zu überflügeln unternimmt […]. Was Klopstock […] herbeisehnt, [ist] die Verherrlichung des Vaterlandes durch eine neue, aus dessen Schoße kommende dichterische und religiöse Verkündigung […].52

Tritt die biblische Heilsgeschichte (bisweilen auch in heimatlichem Gewand) an die Stelle des antiken Mythos, so kann den wirkungsästhetischen Erfordernissen der neuen Kunst durch die Stilmittel der alten, d. h. mit ‚edler Einfalt‘ und ‚stiller Größe‘, in keiner Weise Genüge getan werden. „Die Erneuerung eines christlich-mythischen Bewußtseins in der Dichtung“ mit dem Ziel, „jene mythischen Restbestände zu mobilisieren, die sich jenseits des Feldes mythologischer Gelehrsamkeit, wo ihre poetische Unwirksamkeit garantiert war, erhalten hatten“,53 fordert den Dichter auf, in der Erfassung des Göttlich-Erhabenen den Stil derart anzupassen, als würde man „von einem Hügel auf ein Gebirge“ steigen.54 Um erneut mit Kaiser zu sprechen: „Klopstock kennt keine Eigenständigkeit der Dichtung: religiöse Dichtung ist religiöse Verkündigung“ – was wiederum eins impliziert: „Die höchste Art von Gott zu denken und die höchste, die erhabene Art von ihm zu sprechen, gehören untrennbar zusammen“.55 Da ein Künstler, um „den Versöhner der Menschen einigermaßen würdig abzubilden“, „alle Kräfte seines Genies anstrengen, und sich den großen Empfindungen, welche die Religion gibt, ganz überlassen“ muß, liegt nahe, daß hierfür „die stille Größe ein wenig zu ruhig ist“.56 Die schneidende Kritik an Win­ckel­manns 51 Vgl.

Katrin Kohl, Friedrich Gottlieb Klopstock, Stuttgart 1990 (Sammlung Metzler, 325), 91–96; Harold Betteridge, Klopstocks Wendung zum Patriotismus, in: Hans-Georg Werner (Hg.), Friedrich Gottlieb Klopstock. Werk und Wirkung, Berlin 1978, 179–184. 52 Gerhard Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Frankfurt am Main 21973, 276. 53 Heinz Gockel, Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff in Aufklärung und Frühromantik, Frankfurt am Main 1981 (Das Abendland, N. F. 12), 100. 54 Klopstock, Von der heiligen Poesie (wie Anm. 35), 1001. 55 Gerhard Kaiser, Klopstock. Religion und Dichtung, Gütersloh 1963 (Studien zu Religion, Geschichte und Geisteswissenschaft, 1), 329 und 345. 56 Klopstock, Eine Beurtheilung (wie Anm. 6), 1051. Auffällig ist, daß Klopstock den mit der ‚stillen Größe‘ eng verknüpften Begriff der ‚edlen Einfalt‘ in seinem Win­ckel­mann-Kommentar nicht einmal erwähnt: „Plausibel wird das Desinteresse der Heiligen Poesie an der Einfalt nicht nur im Hinblick auf die dezidiert formulierte Absicht, auch im Zusammenhang des ‚Heiligen‘ den kunstvollen Gebrauch der Sprache ihrem einfältigen vorzuziehen, sondern vor allem mit der Akzentuierung des Moments der Mannigfaltigkeit und der Fülle, das die Konzeption der Heiligen Poesie […] Klopstocks bestimmt“. Joachim Jacob, Heilige Poesie. Zu einem literarischen



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Axiom des klassischen Schönen rührt von einem wirkungspsychologischen Konzept her, mit dem die Zurückweisung der Allegorie kausal zusammenhängt. Um ihrer privilegierten Position an der Seite der Theologie in der Propagierung geoffenbarter Wahrheiten gerecht zu werden, hat die Poesie für Klopstock all ihr Vermögen auf die Bewegung der Seele des demütig-frommen Adressaten zu setzen. Dies kann nur dann erfolgen, wenn der Kunstschaffende von „starken Ausdrücken“ Gebrauch macht,57 um den beim Publikum vorausgesetzten „von Einbildungskraft und Gefühl bewegte[n] Glaube[n]“ auf sinnlich-empfindendem Wege zu beanspruchen und folglich zu stärken.58 So lautet eine einschlägige Passage aus der Heiligen Poesie: Ist es das Herz, so der Poet angreift, wie schnell entflammt uns dies! Die ganze Seele wird weiter, alle Bilder der Einbildungskraft erwachen, alle Gedanken denken größer. Denn obgleich einige Leidenschaften eine gewisse ruhige Art zu denken ganz unterbrechen, so feuert uns doch überhaupt das bewegte Herz an, schnell, groß und wahr zu denken. Welche neue Harmonie der Seele entdecken wir dann in uns! Mit welchem ungewohnten Schwunge erheben sich die Gedanken und Empfindungen in uns! Welche Entwürfe! welche Entschlüsse!59

Die Vereinnahmung des Herzens kann jedenfalls nur unter der Voraussetzung gelingen, daß das rationale Erkenntnisvermögen im kunsthermeneutischen Prozeß dem sinnlichen Bewußtsein von vornherein untergeordnet bleibt. Religiöse Wahrheiten „müssen […] in eine Mitteilungsform gebracht werden, die fähig ist, die Seele in ihrer denkend-fühlend-wollenden Totalität anzusprechen“.60 Gerade deswegen ist die allegorische Einkleidung besonders unvorteilhaft, weil deren Auslegung „einer intellektuellen Entschlüsselung durch den sich einschaltenden Verstand“ bedarf, also „die Täuschung unmöglich macht und derart die Wirkung schwächt“.61 Klopstock scheut sich nicht davor, Allegorien als ‚uninteressant‘, ‚gezwungen‘ und in ihrer Repräsentation ‚unvollständig‘ abzustempeln, da „sie oft gar nicht oder doch sehr mühsam verstanden werden“.62 Indem er auf diese Weise von Win­ckel­mann Abstand nimmt, reiht er sich ein in die Tradition der Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997 (Studien zur deutschen Literatur, 144), 232. 57 Klopstock, Von der heiligen Poesie (wie Anm. 35), 1006. Die Stärke des Ausdrucks ist für Klopstock eine Eigenschaft der biblischen Sprache, wie er auch in der Win­ckel­mann-Rezension (wie Anm. 6, 1051) in bezug auf ein Gemälde Raffaels andeutet: „Raphaels Christus am Ölberge […] hat nichts von dem, was die Schrift so stark ausdrückt, indem sie sagt: Und es kam, daß er mit dem Tode rang, und heftiger betete“. 58 Klaus Hurlebusch, Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724–1803), in: Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 19, Berlin, New York 2000, 271–275, hier 273. 59 Klopstock, Von der heiligen Poesie (wie Anm. 35), 1004. 60 Wilhelm Große, Studien zu Klopstocks Poetik, München 1977, 104. 61 Christian Hippe, Superiorität der Dichtung. Klopstocks Beziehung zur bildenden Kunst, Würzburg 2013 (Epistemata Literaturwissenschaft, 759), 127. 62 Klopstock, Eine Beurtheilung (wie Anm. 6), 1051.

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sensualistisch angelegten Allegorie-Kritik, die aus der Dubos-Rezeption hervorgeht und in der Frühphase der deutschen Ästhetik wiederum von Bodmer ausschlaggebend beeinflußt wurde. Um mit Alt zusammenzufassen: „Hinter Bodmers hartnäckiger Weigerung, Miltons Werk als Allegorie aufzufassen, steckt der Glaube an die Vieldeutigkeit des ästhetischen Sinns. Das ist […] für die Aufklärung ein geradezu revolutionärer Vorstoß“, der „der künftigen Debatte über den bildhaften Stil neue Wege“ erschließt.63 An Bodmer, der „die Allegorie nicht mehr für das beste Mittel hält, um die metaphysischen Dimensionen der Schöpfung auf angemessene Weise zu erfassen“,64 knüpft Klopstock unmittelbar an und ergreift in der Win­ckel­mann-Kritik erstmalig (der Themenkomplex wird in der Heiligen Poesie nicht behandelt) gegen die Allegorie als Instrument der Dichtung bzw. bildenden Kunst Partei.65 Dank der Spitzenstellung dieser Reflexion über die Allegorie im Umfeld einer soteriologisch orientierten Poetik kommt der Rezension, nachträglich betrachtet, ein programmatischer Wert zu, der Klopstocks dichterischen Werdegang maßgeblich prägte, insofern angenommen werden darf, daß Klopstock […] seine poetische Praxis tatsächlich nicht als allegorische und selbst­ redend auch noch nicht als symbolische im klassisch-klassizistischen Sinn [versteht] […]. In Klopstocks Dichtung entwickelt der literarische Text stattdessen […] ein Bewusstsein für seine kognitive und mediale Komplexität, die tatsächlich weder im Horizont der Allegorie noch des Kunst- oder Anschauungssymbols gedacht werden kann.66

Zum Einstieg in den nächsten Abschnitt soll eine letzte Anmerkung der Tatsache gelten, daß Klopstock seine Abneigung gegenüber der Allegorie mit einer Kritik an Raffael verbindet, die noch einmal die agonale Spannung mit Winckel­­ mann markiert. Die skeptische Ansicht bezüglich der ‚zu ruhig‘ anmutenden ‚stillen Größe‘ wird zum einen durch die Betrachtung des Christus am Ölberg (heute im New Yorker Metropolitan Museum) veranlaßt; am Beispiel des Heiligen Michaels (Louvre) wird zum anderen festgestellt, kein Maler habe bis dato die „heilige Geschichte würdig vorzustellen“ gewußt.67 Daran anknüpfend sei eins vorweggenommen: Trotz des Wandels der epistemischen Einstellungen im Übergang von der Empfindsamkeit zur Romantik geht Raffael auch bei August Wilhelm Schlegel als Stein des Anstoßes hervor. Die von Klassik und Romantik geteilte Öffnung auf das Griechentum ist für Schlegel nicht Grund genug, um 63 Peter-André

Alt, Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen 1995 (Studien zur deutschen Literatur, 131), 383. 64 Ebd. 65 Vgl. Hurlebusch, Apparat (wie Anm. 37), 267. 66 Frauke Berndt, Poema/Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750, Berlin, New York 2011 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung, 44), 129. 67 Klopstock, Eine Beurtheilung (wie Anm. 6), 1050. Hervorhebung im Original.



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einem Formprinzip zuliebe den metaphysischen Reiz der vorzüglichsten religiö­ sen Gemälde preiszugeben. III. Schlegels keusche neue Mythologie Genauso wie Klopstock vermochte Win­ckel­manns dezidierte Distanzierung von den ästhetischen Ansprüchen sakraler Kunst auch August Wilhelm Schlegel zu irritieren. Wie eingangs erwähnt, bezog Schlegel erst 1812 aus Anlaß des Erscheinens der Gesamtausgabe Stellung. Obschon die Edition für Schlegel „längst ein Bedürfniß“ war, rezensiert er sie nicht besonders wohlwollend.68 Dies legt der Ansatz der Besprechung deutlich genug nahe, wo Schlegel an erster Stelle über ganze Seiten mit aufdringlicher Akribie auf einzelne „Fehler der Schreibart“ sowie auf die „logischen und grammatischen Mängel“ eingeht,69 weswegen er dem Autor ein „geringes philologisches Talent“ bescheinigt; W ­ in­ckel­mann habe überhaupt „wenig natürliche Anlage“ gehabt, „die Sprache zu handhaben“, sowohl die eigene als auch die der antiken Autoren, wie es sich „in den häufigen falschen Auslegungen und unglücklichen Versuchen zu Verbeßerungen des Textes der alten Schriftsteller“ verrät.70 Vom furor philologicus zu Beginn der Besprechung geht es anschließend zu den einzelnen Schriften Win­ckel­manns über, die Schlegel systematisch Revue passieren läßt. Aufmerksamkeit verdienen besonders die Seiten zum Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst (1766), die die Kernaussagen zum Thema der vorliegenden Arbeit enthalten. Schlegels Kritik der AllegorieAbhandlung setzt mit einer gnadenlosen Bemerkung ein: „Man kann wohl ohne Bedenken sagen, daß der Gegenstand dieser Schrift W.s theoretisches Vermögen überstieg“.71 Der Vorbehalt bezieht sich vor allem auf die terminologische Ungenauigkeit im Umgang mit Begrifflichkeiten, die für den romantischen Theoretiker als „verschiedene[] Arten der menschlichen Zeichensprache“ zu betrachten wären:72 „Er mischt Alles durch einander, Personifikationen allgemeiner Begriffe, beigelegte Zeichen, sinnbildliche Handlungen, endlich bloße Anspielungen auf einzelne Ereignisse“.73 Um so bedenklicher ist für Schlegel – genauso wie für Herder –, daß Win­ckel­mann sich weder über den Unterschied zwischen Allegorie und Symbol im klaren gewesen zu sein scheint, noch ein konsequentes methodisches System zu entwickeln wußte, zumal „das Wort ‚Allegorie‘ bei 68 Schlegel,

Win­ckel­mann’s Werke (wie Anm. 7), 321. 333. 70 Ebd., 325. 71 Ebd., 345. 72 Ebd. 73 Ebd., 345 f. 69 Ebd.,

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ihm in nicht weniger als vier verschiedenen Bedeutungen vorkommt“.74 Eine allgemeine Darstellung davon, was Win­ckel­mann unter Allegorie versteht und was Schlegel dagegen einwendet, soll allerdings an dieser Stelle aus pragmatischen Gründen ausbleiben. Es sei stellvertretend auf Agazzi verwiesen, die zusammenfassend Schlegels Einspruch insofern für illegitim hält, als die Differenzierung von Allegorie und Symbol erst nach dem Tode des Archäologen und besonders in der frühromantischen Epoche in den Mittelpunkt der gelehrten Debatte gerät und sich erst im Denken Goethes in einer elaborierten theoretischen Form etabliert.75 Die Begriffsgeschichte beiseite lassend möchte ich hingegen bei gleichzeitiger Berücksichtigung weiterer zeitgenössischer Quellen eine Einordnung der Position Schlegels gegenüber Win­ckel­mann in die romantische Kunsttheorie versuchen. Besonderes Gewicht ist der Tatsache einzuräumen, daß Schlegels Konfrontation mit dem klassizistischen Kunsthistoriker in puncto Allegorie über das definitorische Problem teilweise hinausgeht und den Anlaß zu einer theologischen Abrechnung der Modernen mit den Alten bietet. Hält Win­ckel­ mann fest, „daß die Anzahl von guten neueren Allegorien sehr geringe sey“,76 entgegnet Schlegel plakativ, die Kunst der Modernen sei Win­ckel­mann „ein versiegeltes Buch“ gewesen, denn „sonst hätte er sehen können, daß die großen Meister längst und weit über seinen Begriff geleistet hatten, was er von der Malerei begehrte, nämlich ‚die Vorstellung unsichtbarer, vergangner und zukünftiger Dinge‘“.77 Aus den von Schlegel angeführten Beispielen für die moderne Kunst wird nicht nur die ausgeprägt religiöse Veranlagung des Rezensenten ersichtlich, sondern auch die radikale Divergenz gegenüber dem 74 Ebd.,

347. Ähnlicher Meinung ist auch Herder, nach dessen Ansicht Win­ckel­mann den Allegorie-Begriff „zu weitläufig“ versteht: Das Wort umfasse bei ihm „alles Bedeutende, selbst die historischen Attribute der Kunstwerke, er schweift selbst bis ins Gebiet der Allegorie der Sprache, wo sie gar nicht Kunst ist“. Johann Gottfried Herder, Denkmal Johann Win­ckel­manns, in J. G. H., Werke in zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hg. von Martin Bollacher, Stuttgart 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker, 95), 630–673, hier 667. Zur terminologischen Überlappung von Allegorie und Symbol bei Win­ckel­mann vgl. ferner Gockel, Mythos (wie Anm. 53), 58–66. 75 Vgl. Elena Agazzi, Introduzione, in: Johann Joachim Win­ckel­mann, Saggio sull’allegoria, specialmente per l’arte, hg. und übers. von E. A., Argelato 2004, 7–25, hier 12: „Nota infine [Schle­gel] che Meyer ha cercato, con il suo commento, di sciogliere l’ambiguità tra simbolo e allegoria, facendosi interprete di una distinzione che Win­ckel­mann sembra ignorare del tutto. Un punto cruciale, questo. Bisogna tuttavia chiedersi quanto sia legittima quest’ultima critica, considerato che la divaricazione fra i due termini si accentua dopo la morte dell’antichista (1768) e diventa un tema centrale del periodo preromantico, per caratterizzarsi poi in modo più sicuro nel pensiero di Goethe espresso nelle Maximen und Reflexionen“. 76 Johann Joachim Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst, Dresden 1766, 135. 77 Schlegel, Win­ ckel­mann’s Werke (wie Anm. 7), 350. Zitat im Zitat aus Win­ckel­mann, ­Gedan­cken (wie Anm. 11), 58.

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Archäologen in der Festlegung der methodischen und kulturellen Grundlagen für die Entwicklung eines Kanons für die Kunst. Während Win­ckel­mann den Akzent ausschließlich auf „die kunsthistorische Ebene und mit ihr [auf] de[n] geschichtliche[n] Prozeß“ setzt, weswegen er sich „[a]llegorische Naturdeutung […] ebenso wie spekulative (und inzwischen anachronistische) Vermutungen über die metaphysische Dimension seiner Sinnbilder“ versagt,78 scheint sich August Wilhelm Schlegel die Ansichten seines Bruders Friedrich zu eigen zu machen, indem er zwischen den Zeilen für die Etablierung einer neuen Mythologie plädiert, die unvermeidlich eine christliche sein muß. Die Urbilder der Alten hätten in der Überlieferung in die Moderne hinein ihre ästhetische Produktivität für „alle übernatürliche und überhaupt alle wahrhafte Dichtung“ eingebüßt, weil ihre Semantik „[a]uf der unauflöslichen Verschmelzung eines wirksamen Daseins mit einer allgemeinen, für alle Menschen Eines Zeitalters, Eines Stammes, Eines Glaubens gültigen Bedeutung“ beruht.79 So folgert Schlegel: „Es ist aus damit, sobald der Glaube an jene Urbilder und der Sinn dafür verloren geht“.80 Dies soll jedenfalls längst nicht bedeuten, daß das moderne Zeitalter nicht seinen neuen Glauben poetisch in Anspruch nehmen kann, um neue Urbilder verfügbar zu machen. Denn – mit diesem Gedanken setzt Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie (1800) ein – „das höchste Heilige“ darf keineswegs „im Dunkel dem Zufall überlassen“ werden, geschweige denn „immer namenlos und formlos bleiben“: Es gilt im Gegenteil, „aus der tiefsten Tiefe des Geistes“ eine „neue Mythologie“ herauszubilden, die jenes höchste Heilige in symbolischer Gestalt andeutungsweise (fragmentarisch) greifbar macht.81 Daß Allegorie und neue (christliche) Mythologie in der Moderne unmittelbar miteinander zusammenhängen, hatte Friedrich Schlegel in zwei von der Forschung bisher nur sporadisch beachteten Fragmenten aus den Philosophischen Lehrjahren prägnant ausgedrückt: „Der einzige Stoff d[er] wahren Allegorie ist Religion“, denn „[j]ede Allegorie bedeutet Gott und man kann von Gott nicht anders als allegorisch reden“.82 Ein ähnliches Argument möchte A. W. Schlegel gegenüber Win­ckel­mann am Beispiel gewichtiger Gewährsmänner untermauern. Genannt werden in einem Atemzug Leonardo da Vinci – mit zwei Gemälden (die eigentlich von Bernardino Luini stammen), die „die Aufnahme des 78 Alt,

Begriffsbilder (wie Anm. 63), 443. Win­ckel­mann’s Werke (wie Anm. 7), 347. 80 Ebd. 81 Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie, in: F. S., Kritische Friedrich-Schlegel-­ Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hg. von Hans Eichner, München, Paderborn, Wien 1967, 311–329, hier 312. 82 Friedrich Schlegel, Philosophische Fragmente. Zweite Epoche, in: F. S., Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 18: Philosophische Lehrjahre 1796–1806 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796–1828, hg. von Ernst Behler, München, Paderborn, Wien 1963, 195–422, hier 267 (§ 869) und 347 (§ 315). 79 Schlegel,

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Christenthums bei den verschiedenen Religionsparteien“ bzw. „das Geheimniß der Dreieinigkeit“ sinnbildlich darstellen,83 – ferner Giotto, Mantegna, Michel­ angelo – und natürlich Raffael mit der Disputa (aus den Stanzen im Aposto­ lischen Palast), die nicht weniger als „das ganze Mysterium des Christenthums“ umfaßt.84 Win­ckel­manns apodiktische Aussage, die Geschichte der Heiligen sei „der ewige und fast einzige Vorwurf der neueren Mahler seit einigen Jahrhunderten“, man habe „sie auf tausenderley Art gewandt und ausgekünstelt, daß endlich Ueberdruß und Eckel den Weisen in der Kunst und den Kenner überfallen muß“,85 möchte Schlegel, wie man sich leicht vorstellen kann, nicht wahrhaben: Nicht zufällig beruft er sich auch noch auf Raffaels Heilige Cäcilia (Pinacoteca Nazio­nale zu Bologna), ein Gemälde, das „den Triumph der geistlichen Musik über die weltliche allegorisch vorstellt“.86 Die Beschäftigung mit Raffael konnte zu diesem Zeitpunkt bei Schlegel bereits auf eine längere Vorgeschichte zurückblicken, die genauso wie bei Win­ckel­ mann in Dresden ihren Ausgangspunkt gehabt, jedoch von Anfang an andere Wege eingeschlagen hatte.87 Wenn auch nicht in vergleichbar schwärmerischen Akzenten gehalten, erinnert der Hinweis auf die musterhafte bildliche Adaption der katholischen Doktrin bei Raffael an einschlägige Seiten des Gesprächs Die Gemählde aus dem zweiten Band des Athenaeums von 1799. Das frühromantische Programm, das dort durch den Beitrag der Figur der Loui­se zur Sprache kommt und die Überwindung der Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten mittels der Verklärung derselben ins Universal-Religiöse erwägt,88 wird wiederum am Beispiel der Sixtinischen Madonna als „das höchste Gelingen der Synthese von Ausdruck und christlichem Ideal“ erprobt.89 Die Ausführung des Schlegelschen Arguments führt allerdings weit über die von Win­ckel­mann hervorgehobene edle Kontur hinaus. Hierzu pointiert Müller:

83 Schlegel,

Win­ckel­mann’s Werke (wie Anm. 7), 350. 351. 85 Win­ckel­mann, Gedancken (wie Anm. 11), 55. 86 Schlegel, Win­ckel­mann’s Werke (wie Anm. 7), 351. 87 Zur religiösen Verklärung der historischen Figur Raffaels in der Lyrik August Wilhelm Schlegels vgl. Klaus Manger, Statt „Kotzebuesieen“ nur Poesie? Zu den lyrischen Dichtungen August Wilhelm Schlegels, in: Mix, Strobel (Hg.), Der Europäer (wie Anm. 9), 77–92, bes. 80–84. 88 Folgendermaßen lautet der programmatische Beitrag Louises zum Gemäldegespräch: „Und so sollte man die Künste einander nähern und Uebergänge aus einer in die andere suchen. Bildsäulen belebten sich vielleicht zu Gemälden, […] Gemälde würden zu Gedichten, Gedichte zu Musiken; und wer weiß? so eine feierliche Kirchenmusik stiege auf einmal wieder als ein Tempel in die Luft“. August Wilhelm Schlegel, Die Gemälde. Gespräch, in: A. W. S., Sämmtliche Werke (wie Anm. 7), Bd. 9: Vermischte und kritische Schriften, Teil 3, 3–101, hier 13. 89 Lothar Müller, Nachwort, in: August Wilhelm Schlegel, Die Gemählde. Gespräch, hg. von L. M., Amsterdam, Dresden 1996, 165–196, hier 192. 84 Ebd.,



Klopstock und A. W. Schlegel als Rezensenten Winckelmanns 179 Anders aber als bei Win­ckel­mann und generell in der klassizistischen Tradition erscheint Raffael nicht vordringlich als derjenige neuere Künstler, der aus dem Studium der antiken Statuen die Vollkommenheit seiner Zeichnung gewinnt und durch sie zur Vollendung seiner Kunst voranschreitet. Im Mittelpunkt steht vielmehr, im Blick auf die knienden Heiligenfiguren des Gemäldes, seine Funktion als Kultgegenstand.90

Die Idee von einer Kunstandacht im musealen Kontext geht auf die 1797 erschienenen Herzensergießungen von Wackenroder und Tieck zurück, denen zufolge Bildersäle […] Tempel seyn [sollten], wo man in stiller und schweigender Demuth […] die großen Künstler […] bewundern, und mit der langen, unverwandten Betrachtung ihrer Werke in dem Sonnenglanze der entzückendsten Gedanken und Empfindungen sich erwärmen möchte.91

Die These, daß der „Genuß der edleren Kunstwerke dem Gebet“ gleichzusetzen ist, schwingt in Schlegels im Rahmen eines fiktiven Museumsbesuchs stattfindendem Gemälde-Gespräch nach wie vor mit.92 Hier vergegenwärtigt sich ­Louise, wie intensiv sie bei der Betrachtung des Gesichtes der Madonna in affektiver Rührung mitgenommen wurde, weshalb sie im rückblickenden Bericht in larmoyante Töne verfällt: „Wie ich hinaufgestiegen bin, um ihr nahe in’s Anlitz zu schauen, kann ich nicht leugnen, es ist ein sanfter Schauer über mich gekommen, und meine Augen sind naß geworden“.93 Die Distanz zu Win­ckel­mann, der in seiner Allegorie-Schrift die christliche Demut als „eine Selbstverläugnung“ im Sinne einer „gewaltsamen und mit der menschlichen Natur streitenden Fassung“ abstempelt, erscheint inkommensurabel.94 Kein Wunder also, daß sich der Rezensent keineswegs mit den bei Win­ckel­mann lakonisch aufgezählten „Symbole[n] des Frühen Christentums […] Taube, Fisch, Segelschiff, Leier und Anker“ begnügen kann, geschweige denn mit „de[m] Boden eines Trinkglasses [sic], auf dem Isaaks Opfer dargestellt ist“.95 Um bei Raffael zu bleiben, ist ferner zu erwähnen, daß die beiden von August Wilhelm Schlegel in der Rezension angeführten Bildbelege für gelungene 90 Ebd.,

194. Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, in: W. H. W., Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1: Werke, hg. von Silvio Vietta, Heidelberg 1991, 51–145, hier 106. Vgl. Markus Buntfuß, Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette, Berlin, New York 2004 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, 89), 115–120. 92 Ebd. 93 Schlegel, Die Gemählde (wie Anm. 88), 87. 94 Win­ckel­mann, Versuch (wie Anm. 76), 14. 95 Elena Agazzi, Mythoserzählung bei Herder, in: Heinz-Georg Held (Hg.), Win­ ckel­mann und die Mythologie der Klassik. Narrative Tendenzen in der Ekphrase der Kunstperiode, Tübingen 2009 (Reihe der Villa Vigoni, 22), 139–150, hier 149. Vgl. Win­ckel­mann, Versuch (wie Anm. 76), 87. 91 Wilhelm

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religiöse Allegorien ebenfalls im Zweiten Nachtrag alter Gemälde von dessen Bruder Friedrich, zuerst erschienen in der Zeitschrift Europa (1805), nicht nur Erwähnung, sondern die höchste Anerkennung finden.96 Die Thesen Friedrich Schlegels, die hinsichtlich ihrer religiösen Inbrunst für sich selbst sprechen, schlagen quasi eine ideale Brücke zwischen der von beiden Geschwistern gemeinsam erlebten frühromantischen Phase und August Wilhelms nachträglicher Abrechnung mit dem Klassizismus Win­ckel­manns – nicht zuletzt deshalb, weil sich der 1808 zum Katholizismus übergetretene Friedrich in seiner publizistischen Tätigkeit explizitere Äußerungen zur katholischen Kunst erlauben konnte als sein Bruder, dessen „katholische[] Sympathien von jeher nur prédilection d’artiste gewesen“ sein sollten.97 Während für Win­ckel­mann die Fügung von ‚edler Einfalt‘ und ‚stiller Größe‘ das ordnende, strukturelle Kennzeichen für die Darstellung des Körpers in der antiken Plastik bildet, aus dem alle Bedeutsamkeit hervorgeht – deshalb „beschreibt er die Madonna wie eine Statue“ –,98 hat bei Schlegel der allegorische Überbau die Oberhand über die deskriptive Erfassung des tatsächlich Dargestellten. So sei „[d]as herrschende Prinzip in dem Bilde der heiligen Cäcilia […] das innigste Gefühl der Andacht, die im irdischen Herzen nicht mehr Raum findend in Gesänge ausbricht“;99 noch expliziter wird dies bei der Thematisierung der Disputa, wo Friedrich Schlegel mit Bezugnahme auf die ‚heidnische Muse‘ indirekt gegen Win­ckel­mann und die Neuklassizisten zu polemisieren scheint: Aber nicht bloß der göttliche Anhauch des Parnaß, oder einer heidnischen Muse und bloß spielend in Bildern dichtender Fantasie war die Quelle, welche den Raffael begeisterte und der die Poesie seiner Gemälde entquoll; sondern das Licht der Wahrheit war über ihn ausgegossen, und alle Seligkeiten und Geheimnisse des Himmels standen offen vor ihm, daß er sie nachbilden sollte in Farben und Bildern, zur Verherrlichung der Kirche und des göttlichen Glaubens. […] [D]iese malerische Poesie [steht], in der Krone seiner Werke, in der Disputa, den ganzen Himmel umfassend, vor uns; und deutet uns erst recht die hohe Bestimmung des Raffael selbst und der katholischen Kunst überhaupt, welche er zu vollenden und auf den Gipfel der Vollkommenheit zu bringen, berufen und gesendet war.100

Es steht außer Frage, daß das frühromantische Gedankengut August Wilhelm Schlegel bis hin zu der Zeit der Wiener Vorlesungen permanent beschäftigte, 96 Vgl. Friedrich Schlegel, Zweiter Nachtrag alter Gemälde, in: F. S., Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, Bd. 4: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, hg. von Hans Eichner, München, Paderborn, Wien 1959, 79–115, hier besonders 100 ff. 97 Alfred von Martin, Romantischer ‚Katholizismus‘ und katholische ‚Romantik‘, in: Gisela Dischmer, Richard Faber (Hg.), Romantische Utopie – utopische Romantik, Hildesheim 1979, 14–36, hier 23. Der französische Ausdruck ist einem Brief Schlegels von 1846 entnommen. 98 Heinz Gockel, Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. Vorträge und Aufsätze, Würzburg 2005, 121. 99 F. Schlegel, Zweiter Nachtrag (wie Anm. 96), 100. 100 Ebd., 101.



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zumal er sich erst dann um eine systematische Erfassung desselben bemühte.101 Jedenfalls war zu diesem Zeitpunkt „die große und kühne Epoche der Frühromantik vorbei, in der Friedrich Schlegel und Novalis mit dem hybriden Plan hatten spielen können, eine neue Bibel zu schreiben; jetzt will [A. W.] Schlegel die Religion gegen den Übergriff der Poesie verteidigen“.102 In diesem Zusammenhang schlägt auch die Rezension einen konservativen, nahezu provinziellen Ton an, bedingt dadurch, daß Schlegel am Rande seines Theoretisierens über das Wechselverhältnis von Mythos und Theologie unbeabsichtigt denselben Fehler zu begehen scheint, vor dem er anderenorts – in seiner Rezension des einschlägig betitelten Gedichts La guerre des dieux (1799) von Évariste de Parny aus dem dritten Band des Athenäum – ausdrücklich gewarnt hatte.103 In der Beurteilung des französischen Textes, der „die Überwindung der Mythologie durch das Christentum“ thematisiert,104 zieht der Rezensent eine klare Grenzlinie zwischen dem Interesse der (transzendentalen) Poesie und den Ansprüchen der theologischen Dogmatik: „Schlegels Kritik ist […] so deutlich, weil er einmal wieder feststellen muß, daß [bei Parny] die Mythologie mit einem Maßstab gemessen wird, der ihr nicht zukommt, mit dem Maßstab des moralisierenden Naturalismus religiöser Provenienz“.105 Obwohl die von den Romantikern gepflegte ‚Symbolik‘ der ‚innern Anschauungen‘ unmittelbar aus dem religiösen Erbe hervorgeht,106 darf ihr das Christentum nicht „mit dem Anspruch der ausschließlichen Heilslehre“ entgegentreten – denn sonst „wird notwendig der poetische Charakter der Mythologie zurückgedrängt zugunsten der theologischen Aussage“.107 Führt man sich bei der Lektüre des Abschlusses der Win­ckel­mann-Rezension dieses ambitionierte Programm vor Augen, so könnte man wie Aeneas beim Anblick Hectors im Traum ausrufen: Quantum mutatus ab illo! In krassem Widerspruch zu allen vorangegangenen, durchaus berechtigten theoretischen Ausführungen qualifiziert Schlegel im Finale mit einer spießigen, moralisie101 Vgl.

René Wellek, Geschichte der Literaturkritik 1750–1950, Bd. 1: Das späte 18. Jahrhundert, das Zeitalter der Romantik, Berlin 1978 (Komparatistische Studien, 7), 315 f. Zum Zusammenhang von Religion und Poesie vgl. besonders Schlegels erste Vorlesung, in: A. W. S., Kritische Schriften und Briefe, Bd. 5: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Teil 1, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart 1966, 17–28, besonders 23–25. 102 Kaiser, Klopstock (wie Anm. 55), 327. Vgl. Dirk von Petersdorff, August Wilhelm Schlegels Position in der Entwicklung des romantischen Diskurses, in: Mix, Strobel (Hg.), Der Europäer (wie Anm. 9), 93–106. 103 Vgl. August Wilhelm Schlegel, La guerre des dieux [Rezension], in: A. W. S., Sämmtliche Werke (wie Anm. 7), 92–106; Gockel, Mythos (wie Anm. 53), 251 f., hat auf die Rezension aufmerksam gemacht. 104 Gockel, Mythos (wie Anm. 53), 251. 105 Ebd., 252. 106 Schlegel, La guerre (wie Anm. 103), 95. 107 Gockel, Mythos (wie Anm. 53), 252.

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renden Bemerkung die Idee der deutschen Klassik als Ganzes pauschal ab. In einem Hinweis auf Goethes Denkschrift, bei der sich der kleine Kreis der vorliegenden Arbeit schließt, greift Schlegel jene nicht genauer präzisierten „Dinge“ (man möge bitte die vorsichtig vage Wortwahl beachten) an, die Goethe sich bemüht hat, „vor das Publikum zu bringen“, während sie „nur in den Beichtstuhl gehören“.108 Was bei aller Kleinbürgerlichkeit hinter der Aussage steckt, ist das Auseinandergeraten zweier, wenn auch zum Teil auf ähnlichen Prämissen (wie z. B. dem Philhellenismus) aufbauender Kunst- bzw. Weltanschauungen, an deren Kontrast der allmähliche Aktualitätsverlust und demzufolge die Historisierung des Standpunktes Win­ckel­manns nach 1800 festzumachen ist.109 Es ist nämlich der Kontrast zwischen einer nicht zuletzt (homo-)„erotisch motivierte[n], phantasmatisch gesteigerte[n] und radikal subjektivierte[n]“ Kunsthermeneutik,110 bei der die Momente des Betrachtens, Fühlens, theoretischen Reflektierens und sprachlichen Darstellens der natürlichen Körperlichkeit ineinander fallen, und einem jenseits aller Unmittelbarkeit in symbolischer Artikulation deklinierten Kunstbegriff, der allen moralischen Empfindlichkeiten der Zeit Rechnung trägt, zumal er eins für sich beansprucht:111 die „Verlagerung des Gottesbegriffes von außen nach innen, von den Göttergelagen des Olymp zur Eucharistie, von den Abenteuern der Götter unter den Menschen zum Menschen als Gottessohn, dem die Mission zur Verkündung des Reiches Gottes aufgegeben war“.112 Ein solcher „intellektueller Prozeß“, der zu Beginn „das ganze Gegenteil von schlichtem Glauben“ dargestellt haben mag,113 scheint um 1812 bei Schlegel aufgrund eines Kurzschlusses von philologischer Pedanterie und einer vereinfachenden Moraltendenz teilweise in Stagnation zu verfallen. So als 108 Schlegel,

Win­ckel­mann’s Werke (wie Anm. 7), 382. Vgl. Heinrich Detering, Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Win­ckel­mann bis zu Thomas Mann, Göttingen 2002, 42 f. 109 „Insgesamt zeigt sich in der hier aufgewendeten philologischen Akribie, mit der die Auseinandersetzung geführt wird, die Kluft, die die neue Generation vom Vorbild der früheren trennt. Die Wissenschaft will die Identifikation oder Abwehr ersetzen  – Win­ckel­mann ist historisch geworden“. Helmut Pfotenhauer, Kommentar. Johann Joachim Win­ckel­mann. Gedancken über die Nachahmung. Rezeption und Wirkung, in: H. P., Markus Bernauer, Norbert Miller (Hg.), Bibliothek der Kunstliteratur, Bd. 2: Frühklassizismus. Position und Opposition. Win­ckel­ mann, Mengs, Heinse, Frankfurt am Main 1995 (Bibliothek deutscher Klassiker, 127), 393–428, hier 428. 110 Sabine Schneider, Die Laokoon-Debatte. Kunstreflexion und Medienkonkurrenz im 18. Jahrhundert, in: Claudia Benthien, Brigitte Weingart (Hg.), Handbuch Literatur & visuelle Kultur, Berlin, Boston 2014 (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, 1), 68–85, hier 78. 111 Vgl. Eckart Goebel, Charis und Charisma. Grazie und Gewalt von Win­ckel­mann bis Heidegger, Berlin 2006, 18–21 und 28–30. 112 Gerhard Schulz, Romantik. Geschichte und Begriff, München 1996 (Beck’sche Reihe, 2053), 16. 113 Ebd., 15.



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wäre die ehemals „in den Formen und dem großen einfachen Gepräge des klassischen Altertums bezeichnet[e]“ Kunst nun einer allzu „keusche[n] Schönheit des Gefühls“ zum Opfer gefallen.114 IV. Ausblick Mit dem Schwinden der „stabilisierende[n] und tröstende[n] Funktion des Mythos“ in der Dämmerung des Ancien Régime sieht sich die Intelligenz der Auflösung aller Totalitäten ausgesetzt.115 Als Reaktion wird von mehreren Seiten das System der Religion in den Vordergrund gerückt: Als das Ausmaß der Destruktion sichtbar zu werden begann, gab es warnende Stimmen. Es ist auffällig, daß vor allem Dichter und Theoretiker der Poesie (Herder, Hamann, Klopstock, Vertreter des Sturm und Drang usw.) mit einer Art von heiligem Entsetzen bemerken, daß mit der totalen Auflösung der Religion und des Mythos die kaum in Umrissen sich abzeichnende neue Gesellschaft das traditionelle Mittel ihrer eigenen Legitimation aus der Hand gegeben hatte.116

Klopstocks und August Wilhelm Schlegels religiös veranlagte Kritiken an Win­ckel­mann, die zeitlich das revolutionäre Zeitalter einrahmen, ordnen sich in diese geistesgeschichtliche Konstellation ein. Stellt man sie in historischer Perspektive nebeneinander, legen sie, bei genauerem Hinsehen, neben ihrem jeweiligen kunsttheoretischen Ertrag von dem tiefgreifenden kulturellen Umbruch zwischen dem Ausgang des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts Zeugnis ab. Klopstocks in die Win­ckel­mann-Besprechung in nuce eingegangenes nationalistisches Ideal, dem die Religion als Gesetz zugrunde liegt, war ab initio zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Im Spannungsfeld der pronominal betitelten Oden Wir und Sie (1766) und Sie, und nicht Wir (1790) wird der Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland sowie die entsprechende bittere Enttäuschung über den Verlauf der Ereignisse gefaßt: Hieß es einst übermutig: „Vor Uns entflöhen Sie!“, so schlägt im nachhinein ein resignierter Ton an: „Ach du warest es nicht, mein Vaterland, das der Freyheit / Gipfel erstieg, Beyspiel strahlte den Völkern umher: / Frankreich wars!“.117 Das sind Verse, 114 Schlegel,

Vorlesungen (wie Anm. 101), 237. Frank, Die Dichtung als ‚Neue Mythologie‘, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt am Main 1983 (edition suhrkamp, 1144), 15–40, hier 20. Die Formulierung ‚Auflösung aller Totalitäten‘ lehnt sich para­ phrasierend ebenfalls an Frank an, ebd., 21. 116 Ebd., 21. 117 Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Abteilung Werke, Bd. 1/1: Oden. Text, hg. von Horst Gronemeyer und Klaus Hurlebusch, Berlin, New York 2010, 276 f. und 468 f., hier 277 (V. 31) und 468 (V. 11–13). Der Hinweis auf die beiden Oden ist Kohl, Klopstock (wie Anm. 51), 98, zu verdanken. 115 Manfred

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die ein klare historische Bestandsaufnahme vor Augen führen: „Dort das revolutionäre Frankreich, das durch seine Revolution eine „neue Zeit“ eröffnet, hier das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das an den Umwälzungen im Nachbarland überwiegend nur als Zuschauer teilnimmt“.118 Die heilige Poesie weiß hierzu auch nichts Bahnbrechendes beizutragen, um aus der historischen Sackgasse zu verhelfen. Gleich nach der Wende um 1800 bahnt sich die reaktionäre Tendenz der Romantik an. Ausschlaggebend ist im historischen Kontext der Napoleonischen Zeit die Einsicht, daß die Romantiker wohl auf sofortige oder baldige Umbildung des Wirklichen verzichten müssen […]. Die Bejahung des Vorläufigen und der Verzicht auf sofortige Zielerfüllung führt dann schließlich zur Bejahung des Alten. Die romantische Seele fühlt sich nicht stark genug, noch weiter das Unmögliche zu begehren und gleitet zurück in die Arme der Tradition.119

August Wilhelm Schlegel blickt auf Win­ckel­mann aus der Perspektive eines durchaus traditionellen Religionsverständnisses, in dessen Rahmen die metaphysische, transzendentale Dimension durch das Sicheinschalten einer konservativen, moralischen bzw. moralisierenden Instanz in ihrer Reichweite beträchtlich einschrumpft. Wenn Schlegel Win­ckel­mann (und mit ihm Goethe) in den Beichtstuhl weist, appelliert er an jene Religion, um mit Heinrich Heine zu sprechen, in deren ersten Dogmen eine Verdammnis alles Fleisches enthalten ist, und die dem Geiste nicht bloß eine Obermacht über das Fleisch zugesteht, sondern auch dieses abtöten will um den Geist zu verherrlichen

 – eine Religion, durch deren unnatürliche Aufgabe ganz eigentlich die Sünde und die Hypokrisie in die Welt gekommen, indem eben, durch die Verdammnis des Fleisches, die unschuldigsten Sinnenfreuden eine Sünde geworden, und durch die Unmöglichkeit ganz Geist zu sein die Hypokrisie sich ausbilden mußte.120

In diesem Geiste diskreditiert Schlegel den ihm als anstößig geltenden natürlichen Menschenkörper, den Win­ckel­mann an den antiken Statuen über alles bewundert hatte.

118 Vgl.

Arno Herzig, Inge Stephan, Hans G. Winter, Einleitung, in: dies. (Hg.), „Sie, und nicht Wir“. Die Französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland, Hamburg 1989, I–VI, hier I. 119 Georg Mehlis, Die deutsche Romantik, München 1922 (Bibliothek der Weltgeschichte, 3), 72. 120 Heinrich Heine, Die romantische Schule, in: H. H., Werke, Bd. 4: Schriften über Deutschland, hg. von Helmut Schanze, Frankfurt am Main 1968, 166–298, hier 169.



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Klopstocks und A. W. Schlegels Rezensionen (veröffentlicht 1760 bzw. 1812) von Winckel­­ manns Gedancken über die Nachahmung und der Gesamtedition seiner Werke fallen besonders kritisch aus. Wie der vorliegende Beitrag darlegt, beanstanden beide Besprechungen die geringe Beachtung sakraler Kunst durch Win­ckel­mann, dessen klassizistisches Formprinzip theologische Deutungen eines Kunstwerks grundsätzlich ausschließt. Gegen das sich verabsolutierende Postulat der Nachahmung der Antike spielt Klopstock ohne Berücksichtigung medienästhetischer Unterschiede sein eigenes Programm ‚heiliger Poesie‘ aus, das die Verkündigung religiöser Werte in patri­ otischem Gewand anstrebt. Schlegel nimmt dagegen eine zweideutige Position ein: Einerseits formuliert er am Beispiel des ‚göttlichen‘ Raffael eine raffinierte Apologie der religiösen Allegorie, in der er allerlei frühromantisches Gedankengut reflektiert; andererseits diskreditiert er das apollinische Schönheitsideal des ihm als anstößig geltenden natürlichen Körpers, indem er es apodiktisch mit dem Maßstab der christlichen Moral beurteilt. An letzterem läßt sich die von Heinrich Heine aufgezeigte reaktionäre Kehrseite des romantischen Zeitgeists nach 1800 festmachen. In 1760 and 1812 respectively, Klopstock and A. W. Schlegel’s published their critical reviews of Win­ckel­mann’s Gedancken über die Nachahmung and the complete edition of his writings. This article shows that both reviewers stimatise the limited attention paid to sacred art by Win­ckel­mann, whose classicist principle of form precludes any theological interpretation of works of art. As a response to the absolute postulate of the imitation of antiquity, Klopstock appeals to his own programme of ‘holy poetry’, which pursues the proclamation of religious and patriotic values; however, in doing so, he does not consider the peculiarities of the mediality of visual art. Schlegel occupies an ambiguous position: on the one hand, he proposes a theoretically elaborate apology of religious allegory (with particular emphasis on the ‘divine’ Raphael), whose arguments root in the pre-romantic body of thought; on the other hand, he discredits the Apollonian ideal of natural beauty of the body, which he might have perceived as scandalous, by judging it apodictically from the perspective of Christian morality. The latter aspect points to the reactionary flipside of the romantic Zeitgeist after 1800, denounced by Heinrich Heine. Tomas Sommadossi, Freie Universität Berlin, Friedrich Schlegel Graduiertenschule, Habelschwerdter Allee 45, D-14195 Berlin, E-Mail: [email protected]

Michael Multhammer Johann Joachim Win­ckel­manns Versuch einer Allegorie im Kontext Agonale Positionsbestimmungen zwischen Lessings Laokoon und Heinses Ardinghello

I. 1766 oder: Was leistet die Allegorie für die Kunst? Das Jahr 1766 war bedeutsam für eine neue historische Bestimmung der Alle­ gorie: Was sie leisten kann, was die Grenzen ihrer Möglichkeit sind oder in welchen Künsten sie sinnvoll zur Anwendung kommen kann.1 In eben diesem Jahr erschienen zwei Abhandlungen, wovon die eine bestimmend in der weiteren Diskussion um den Gegenstand (zumindest für die Literatur) wurde, die andere hingegen heute beinahe vergessen ist und bereits in der Zeit vergleichsweise wirkungslos geblieben war. Ich spreche natürlich zum einem von Gotthold Ephraim Lessings kunsttheoretischer Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie,2 die neue Maßstäbe in der Wahrnehmung des Verhältnisses der Künste setzte. Die andere Schrift ist Johann Joachim Win­ckel­manns Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst,3 mit der er nicht mehr an seinen fulminanten Erfolg anknüpfen konnte, der ihm mit seinen beiden Auflagen der Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst [1755,21756]4 beschieden war. Aus der Retrospektive betrachtet, 1 Zur

allgemeinen Begriffsbestimmung aus literaturwissenschaftlicher Sicht siehe Bernhard F. Scholz, [Art.] Allegorie 2, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3 Bde., hg. von Georg Braungart u. a., Berlin, New York 2000, hier Bd. 1, 40–44; dort auch weitere Literatur. Einführend und kontrastierend zu Symbol und Metapher siehe Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 62009. Zu den Grundproblemen der Forschung immer noch instruktiv Peter-André Alt, Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen 1995, 3–35. Für einen historischen Überblick siehe [Art.] Allegorie, Allegorese, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, 10 Bde., Tübingen 1992 ff., hier Bd. 1, Sp. 330–392. 2 Im folgenden zitiert nach der Ausgabe Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe, hg. von Friedrich Vollhardt, Stuttgart 2012. 3 Johann Joachim Win­ckel­mann, Versuch einer Allegorie besonders für die Kunst, Dresden 1766. Im folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert. 4 Johann Joachim Win­ckel­mann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke

Aufklärung 27 · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISSN 0178–7128

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ergibt sich das Bild, daß hier ein arrivierter und allseits geachteter Gelehrter – Win­ckel­mann – nicht nur von der jüngeren Generation überholt, sondern gleichsam überrollt wird. Wir werden Win­ckel­mann kopfschüttelnd am Rande stehen sehen, unbeteiligt an den Ereignissen, die die weiteren kunsttheoretischen Diskussionen des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus bestimmen sollten und die in den großen Systementwürfen des deutschen Idealismus gipfeln. So hält es Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik 5 zwar noch für nötig, Win­ckel­manns Versuch einer Allegorie zu erwähnen, um ihn allerdings im gleichen Atemzug zu disqualifizieren: „Auch Win­ckel­mann hat ein unreifes Werk über die Allegorie geschrieben, in welchem er eine Menge von Allegorien zusammenstellt, größtenteils aber Symbol und Allegorie verwechselt“.6 Diese Aussage hängt in erster Linie mit der Stellung der Allegorie bei Hegel selbst zusammen und ist weniger eine objektive Beurteilung der Bemühungen Win­ ckel­manns. Sie ist bereits eine Frucht der kunsttheoretischen Überlegungen seit den 1770er Jahren. Win­ckel­mann habe schlichtweg seine Begriffe nicht sauber genug getrennt und verwechsle Allegorie nur allzu oft mit dem nahe verwandten, aber eben nicht identischen Symbol. Innerhalb Hegels Begriffsbestimmung der Allegorie, systematisch angesiedelt zwischen Rätsel7 einerseits und der Trias von Metapher, Bild und Gleichnis andererseits, ergibt sich eine völlig andere Konzeption: Ihr nächstes Geschäft besteht deshalb darin, allgemeine abstrakte Zustände oder Eigenschaften sowohl aus der menschlichen als auch der natürlichen Welt – Religion, Liebe, Gerechtigkeit, Zwietracht, Ruhm, Krieg, Frieden, Frühling, Sommer, Herbst, in der Malerei und Bildhauerkunst, hg. von Ludwig Uhling, Bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1995. Siehe hierzu grundlegend Elisabeth Décultot, Johann Joachim Win­ckel­mann. Enquête sur la genèse de l’histoire de l’art, Paris 2000. Zur Biographie ferner Wolfgang Leppmann, Win­ckel­mann. Ein Leben für Apoll, Berlin 1996. Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte der Gedanken siehe Martin Dönike, Anonymität als Medium inszenierter Öffentlichkeit: Das Beispiel Win­ckel­mann, in: Stephan Pabst (Hg.), Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit, Berlin, Boston 2011, 151–175. Zur Vorgeschichte siehe Thomas DaCosta Kaufmann, Antiquarianism, the History of Objects, and the History of Art before Win­ckel­mann, in: Journal oft he History of Ideas 62/3 (2001), 523–541. 5 Zur Allegorie siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, in: G. W. F. H., Werke in 20 Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 13, Frankfurt am Main 82003, 511–516. Die Kritik an Win­ckel­manns Versuch, 514. 6 Ebd. 7 Der Begriff ‚Rätsel‘ lehnt sich im Hegelschen Verständnis nah an den des Symbols an: „Das Rätsel aber gehört der bewußten Symbolik an und unterscheidet sich von dem eigentlichen Symbol sogleich dadurch, daß die Bedeutung von dem Erfinder des Rätsels klar und vollständig gewußt und die verhüllende Gestalt, durch welche sie erraten werden soll, daher absichtlich zu dieser halben Verhüllung auserwählt ist. Die eigentlichen Symbole sind vor- und nachher unaufgelöste Aufgaben, das Rätsel dagegen ist an und für sich gelöst, weshalb denn auch Sancho Panza ganz richtig sagt: er habe es viel lieber, wenn ihm erst das Auflösungswort und dann das Rätsel gegeben werde“ (ebd., 509).

Johann Joachim Winckelmanns Versuch einer Allegorie im Kontext



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Winter, Tod, Fama – zu personifizieren und somit als ein Subjekt aufzufassen. Diese Subjektivität aber ist weder ihrem Inhalte noch ihrer äußeren Gestalt nach wahrhaft an ihr selbst ein Subjekt oder Individuum, sondern bleibt die Abstraktion einer allgemeinen Vorstellung, welche nur die leere Form der Subjektivität erhält und gleichsam nur ein grammatisches Subjekt zu nennen ist.

Es ist nach Hegel die Allegorie, „in welcher hauptsächlich die Herrschaft der abstrakten Bedeutung über die äußere Gestalt zum Vorschein kommt“.8 Ihre primäre Aufgabe ist es, ganz im Gegensatz zum Rätsel, die bestimmten Eigenschaften einer allgemeinen Vorstellung durch verwandte Eigenschaften sinnlich konkreter Gegenstände der Anschauung näherzubringen, doch nicht des halben Verhüllens und rätselhafter Aufgaben wegen, sondern gerade mit dem umgekehrten Zweck der vollständigsten Klarheit, so daß die Äußerlichkeit, deren sie sich bedient, für die Bedeutung, welche in ihr erscheinen soll, von der größtmöglichen Durchsichtigkeit sein muß.9

Gerade hierin unterscheidet sich die Auffassung Hegels am deutlichsten von der Win­ckel­manns. Geht es dem einen um klare Deutlichkeit, so liegt der ästhetische Reiz der Allegorie für Win­ckel­mann durchaus im Bereich des Rätselhaften, insofern die Zusammenstellung gut und damit auch mit dem entsprechenden Bildungshintergrund entschlüsselbar ist. Offensichtlich vor Augen liegen muß die Verbindung trotz der geforderten Einfachheit in der Allegorie allerdings nicht – darin besteht nach Win­ckel­mann ihr ästhetischer Mehrwert. Aber dazu später ausführlicher. Weitaus weniger reserviert war man kurz nach dem Erscheinen des Versuchs einer Allegorie. In einer Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek aus dem Jahre 1771 bespricht der Direktor der Kunstmuseen Kassel und Professor am Collegium Carolinum Rudolph Erich Raspe das Werk durchaus wohlwollend.10 Es ist eine nicht unkritische und bisweilen auch ein wenig distanzierte, aber nie ablehnende Besprechung.11 Sie ist Bestandteil einer umfassenden Sichtung kunsttheoretischer Neuerscheinungen – Raspe war allem Anschein nach der erste Rezensent der Allgemeinen deutschen Bibliothek, wenn es um dergleichen Schriften ging.12 Im vorliegenden Fall hat man noch ganz deutlich den 8 Ebd.

9 Ebd.,

511.

10 Allgemeine

biographische Angaben finden sich in Uwe Meier, [Art.] Raspe, Rudolf Erich, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 21, Berlin 2003, 164–166; eine ältere Darstellung ist Rudolf Hallo, Rudolf Erich Raspe, ein Wegbereiter von deutscher Art und Kunst, Stuttgart 1934; zu Raspes Lehrtätigkeit siehe Eberhard Mey, Rudolf Erich Raspe als Professor am Collegium Carolinum, in: Andrea Linnebach (Hg.), Der Münchhausen-Autor Rudolf Erich Raspe. Wissenschaft, Kunst, Abenteuer, Kassel 2005, 98–104. 11 Rudolph Erich Raspe, [Rez.] Win­ckel­mann, J. J.: Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek, Anh. 1771–1791 (1771), Anh. 1–12. Bd., 1. Abt., 391–395. 12 So finden sich darunter etwa Rezensionen zu Johann Joachim Win­ckel­manns Histoire de

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Eindruck, daß die Verdienste, die sich Win­ckel­mann mit den Gedanken über die Nachahmung erworben hatte, mit in die Waagschale der Kritik geworfen werden. Immerhin nennt er den Versuch einer Allegorie ein „schätzbare[s] Buch“, das zwar keine vollständige Darstellung der Allegorie enthalte, aber den Weg zu einer solchen anzeige. Das entspricht soweit Win­ckel­manns eigener Einschätzung. Es sei erfreulich, daß sich ein Gelehrter der Sache angenommen und für Künstler ein Verzeichnis der Allegorien durch die Geschichte erstellt habe. Auf Vollständigkeit könnte so ein Unterfangen ohnehin niemals abzielen. Raspe betont in Übereinstimmung mit Win­ckel­mann (und damit auch Quintillian), daß es bei der Allegorie darauf ankomme, Begriffe durch Bilder anzudeuten. Es kommt daher „bey Erklärung derselben alles auf die Intention des Redners, Dichters und Künstlers“ an.13 Raspe betont ferner die historische Abhängigkeit der Allegorie für das Verständnis. („Die Zeit ändert alles“).14 Eine ahistorische, mithin schlichtweg systematische Darstellung müßte ihr Ziel notwendig verfehlen, Allegorien sind jeweils nur im historischen und kulturellen Kontext ihrer Entstehung zu verstehen. Gerade deshalb ist die äußerste Vorsicht geboten, „wenn wir nicht unsere Begriffe den Alten aufallegorisieren wollen“.15 Abhilfe schaffe einzig und allein eine grundsolide Gelehrsamkeit: „eine genaue Kenntnis der Schriften der Alten, ein scharfes Auge bey den Monumenten ihrer Kunst und eine richtige Wissenschaft ihrer Begriffe. Wer diese nicht hat, der bleibe vom Heiligthum der Allegorie weg“.16 Auch Win­ckel­mann hält sich nicht immer an diese Regeln, aber dennoch ist sein Werk voll von klugen, allen voran aber neuen Beobachtungen. Die abschließende Bewertung bleibt ambivalent, es sei ein nützliches Buch, wenngleich aber auch nicht ohne Fehler. Ein ganz großer Wurf sei Win­ckel­mann allerdings nicht mehr geglückt. Für wen Raspe Sympathien hegt, kann man anhand seiner Gegnerschaft erschließen: denn Win­ckel­ mann wäre niemals so abgeschmackt wie ein gewisser „H. C. A. K. der in jeden [sic] geflügelten Genius ein Amoreichen und in alten Abbildungen von Skeletten die Gottheit des Todtes zu finden weiß“.17 Diese Invektive richtet sich selbstredend gegen Christian Adolf Klotz, mit dem Raspe auch in eine Fehde verstrickt war. Daß Raspes Besprechung der lessingschen Replik18 entsprechend positiv ausfiel, kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Vielleicht kann man l’art chez les anciens; Gotthold Ephraim Lessings Wie die Alten den Tod gebildet [1769]; Christian Gottlob Heynes Einleitung in das Studium der Antike [1772] oder auch Christoph Gottlieb von Murrs Bibliothèque de peinture, de sculpture et de gravure [1770]. 13 Raspe, [Rez.] Win­ckel­mann (wie Anm. 11), 392. 14 Ebd. 15 Ebd., 393. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Rudolph Erich Raspe, [Rez.] Lessing, G. E.: Wie die Alten den Tod gebildet, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek, 1765–1796 (1771), 14. Bd., 1. St., 73–80.

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diese Bemerkungen auch als Indiz dafür deuten, daß sich die Kampfplätze schon deutlich verschoben hatten und Win­ckel­mann keiner der satisfaktionswürdigen Kombattanten mehr war. Seine Schrift wurde mit der gebührenden Höflichkeit zur Kenntnis genommen. Das mag für sich selbst sprechen. II. Win­ckel­manns Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst Win­ckel­mann selbst ist sich – wie er zu Beginn seiner Vorrede freimütig zugesteht – ein wenig unsicher hinsichtlich der Anlage seines Werkes. Die eigentlich wünschenswerte Zielsetzung, einen historischen Überblick der Verwendungsweise der Allegorien in unterschiedlichen Feldern der bildenden (und poetischen) Kunst zu geben, sei nicht einlösbar,19 zu unübersichtlich sei das Material und die schiere Menge verhindere eine Auseinandersetzung mit Einzelaspekten. Ein Handbuch im strikten Sinne sei sein Versuch also nicht, vielmehr der Auftakt zu einem solchen. In elf Kapitel unterteilt Win­ckel­mann seinen Versuch einer Allegorie und will dergestalt zumindest ein möglichst weites Spektrum abbilden.20 Er sortiert die Verwendungsweise der Allegorie zum einen thematisch, zum anderen aber immer auch historisch, indem er konsequent zwischen der Verwendung in der Antike (bei den Alten) und moderneren Arten der Allegorie (bei den Neueren) unterschiedet. Diese historische Unterscheidung ist keineswegs wertfrei. Anknüpfend an seine Gedanken über die Nachahmung liegt seine klare Präferenz auf den antiken Vorbildern, die die Form allegorischer Darstellung noch in Reinheit, und das heißt auf möglichst einfache Weise ins Werk gesetzt hätten. Die ‚edle Einfalt und stille Größe‘ sieht Win­ckel­mann also auch in den Allegorien verwirklicht. So kann es nicht verwundern, daß er seine theoretischen Begriffsbestimmungen der Allegorie nicht primär abstrakt und begriffslogisch, sondern anhand der antiken Verwendungsweise ent­wickelt. 19 „Mit

keiner meiner Schriften bin ich furchtsamer gewesen, als mit dieser, hervorzutreten, weil ich meine Absicht nicht erreichen können, und befürchte die Erwartung derselben erfüllet zu haben. Denn ich kann kein Repertorium liefern auf alle Fälle für diejenigen welche allegorische Bilder suchen, sondern ich gebe, was ich von alten und einigen neueren Bildern gefunden, und eine Anleitung andere aus alten Nachrichten ziehen“ (Win­ckel­mann, Versuch [wie Anm. 3], Vorrede, III). 20 „Dieser Versuch einer Allegorie besteht aus elf Capiteln. Die erste handelt von der Allegorie überhaupt; das zweyte von der Allegorie der Götter; das dritte von bestimmten Allegorien, vornehmlich allgemeiner Begriffe; das vierte von Allegorien, die von Begebenheiten und von Eigenschaften und besondern Früchten der Länder genommen sind; das fünfte von Allegorien der Benennungen der Sachen und Personen; das sechste von Allegorien in der Farbe, in der Materie, an Geräthen und Gebäuden; das siebente von zweifelhaften Allegorien; das achte von erzwungenen und ungegründeten Allegorien; das neunte von verlohrenen Allegorien; das zehnte von einigen guten und brauchbaren Allegorien der Neueren, und das eilfte enthält einen Versuch von neuen Allegorien aus dem Alterthum“ (Win­ckel­mann, Versuch [wie Anm. 3], 1).

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Dieses erste Kapitel, das gleichsam die Programmatik entwirft, nach der in der Folge die einzelnen historischen Stationen abgeschritten werden und das Material gesichtet wird, soll daher im Folgenden im Fokus stehen. Denn es ist genau der Abschnitt, in dem sich Win­ckel­mann verkalkuliert, was die fernere Entwicklung kunsttheoretischer Reflexion betrifft, wie zu zeigen sein wird. Win­ckel­mann setzt mit einer allgemeinen Explikation ein: „Die Allegorie ist, im weitläufigsten Verstande genommen, eine Andeutung der Begriffe durch Bilder, und also eine allgemeine Sprache“.21 Abstraktes wird, so läßt sich die Darstellung verdichten, sinnlich zur Anschauung gebracht – mithin entsteht in der Allegorie eine ‚Sprache der Bilder‘. Eigentliches und Uneigentliches gehen eine feste Verbindung ein. Oder in Win­ckel­manns Worten: Die eigentliche Bedeutung des Worts Allegorie, welches die älteren Griechen noch nicht kannten, ist, etwas sagen welches von dem was man anzeigen will, verschieden ist, das ist, anders wohin zu zielen, als wohin der Ausdruck zu gehen scheint, auf eben die Art wie wenn ein Vers eines alten Dichters in ganz verschiedenen Verstande angewendet wird. In folgenden Zeiten aber ist der Gebrauch des Worts Allegorie erweitert, und man begreift unter Allegorie alles, was durch Bilder und Zeichen angedeutet und gemahlet wird; […].22

Erstmals scheint hier auch die von Win­ckel­mann angenommene enge Beziehung von bildender Kunst und Poesie auf, genau jene Verbindung, gegen die Lessing zeitgleich Einspruch erhebt. Win­ckel­mann selbst allerdings entwickelt diese Beziehung historisch-empirisch – die Sprache und die darstellende Kunst seien seit jeher komplementär zu einander. So dienen ihm die Hieroglyphen als natürliche Zeichen, der ursprüngliche Zusammenhang zwischen Schrift und Bild war demnach der eines einfachen Verweises. Eine dergestalt ‚einfache Allegorie‘ ist für Win­ckel­mann auch die höchste Form, denn „[d]ie Allegorie soll folglich durch sich selbst verständlich seyn, und keiner Beyschrift vonnöthen haben“.23 Es fällt nicht schwer, hier unterschwellig die frühneuzeitliche Emblematik kritisiert zu hören. Sie ist diejenige Form, auch wenn Win­ckel­mann das nicht offen ausspricht, die unter den Neueren im Vergleich zu den Alten eine Schwundstufe darstellt.24 Die Allegorien sind eben nicht mehr einfach, natürlich und aus sich selbst heraus verständlich, sondern bedürfen der Erläuterung durch zusätzlichen Text – inscriptio und subscriptio. Daß poetische Werke selbst allegorisch oder eben emblematisch sein können, allen voran die barocken Trauer­ 21 Ebd., 22 Ebd. 23 Ebd.

2 (Hervorhebungen M. M.).

24 Win­ ckel­mann

stellt damit eine ganze Tradition in Frage, siehe hierzu die allgemeinen Ausführungen von Erich Kleinschmidt, Denkform im geschichtlichen Prozeß. Zum Funktionswandel der Allegorie in der frühen Neuzeit, in: Walter Haug (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979, 388–404.

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spiele, wie ­Albrecht Schöne deutlich gezeigt hat,25 bedenkt Win­ckel­mann freilich nicht. Das Bild ist bei Win­ckel­mann indes nicht zu ersetzen, es speist sich aus der Natur selbst: „Es ist also hieraus zu schließen, daß die ältesten Zeichen der Gedanken muthmaßlich bildliche Vorstellungen derselben gewesen“.26 Zu voller Entfaltung kam die Allegorie im klassischen Griechenland, sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Poesie. Ihren Ausgang nahm diese Praxis in der „Wissenschaft“, die „in die Bildersprache eingekleidet“27 wurde. Es ist ein quasi-pädagogischer Zug, abstrakte Wahrheiten – mithin „Weisheit“ – in Bilder zu kleiden, um sie allgemein verständlicher zu machen. Über diesen Umweg fand die Allegorie auch in die Poesie, vorbildlich ausgeführt bei Homer: „Er verwandelte in sinnliche Bilder die Betrachtungen der Weisheit über die menschlichen Leidenschaften, und gab dadurch seinen Begriffen gleichsam einen Körper, welchen er durch reizende Bilder belebte“.28 Homer bewege sich aber – das bleibt der Fakt – innerhalb der engen Grenzen dessen, was im Bereich des Poetischen an Allegorien möglich sei. Alles ist ohnehin nicht in Allegorien auszudrücken, ganz allgemein etwa Tugend und Laster, sie sind ebenso wenig darstellbar wie das Göttliche – darauf hatte schon sein Gewährsmann Plato hingewiesen. Die sinnliche, bildliche Komponente kann die Allegorie nicht entbehren, ein Moment in der Anschauung muß gegeben sein. Alles was von alten Allegorien in Figuren erscheint, ist in zwo Gattungen, und diese Bilder können theils als abstracte theils als concrete Bilder betrachtet werden. Abstracte Bilder nenne ich diejenigen, die ausser der Sache auf welche sie sich beziehen angebracht sind, so daß sie nicht als mitwirkende Bilder zu Bedeutung eines anderen Bildes dienen, sondern obgleich allezeit in Beziehung und Anspielung auf etwas ausser denselbsen, dennoch vor sich bestehen, und diese wären in engen Verstande Sinnbilder zu nennen, und sind dasjenige, was man sonst Emblemata nennet. Concrete Bilder hingegen würden diejenigen heißen, die theils in anderen Zeichen mit denjenigen Bildern verbunden sind, auf welche jene eine Beziehung haben.29

Gerade hinsichtlich des ‚abstracten Bildes‘ ist ein Wissen um den Kontext des Dargestellten unentbehrlich, insofern es gleichsam eine Handlung in der Zeit vorstellt, davon jedoch nur einen Ausschnitt präsentiert: Diese Allegorien sind wie ein augenblicklicher Punct in einem Gemälde vorgestellet, und wie hier vorausgesetzt wird, daß das Gedächtniß der anschauenden Personen das Vorhergehende und Nachfolgende derselben Geschichte bey sich ergänze.30

25 Albrecht

Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 31993. Versuch (wie Anm. 3), 4.

26 Win­ckel­mann, 27 Ebd.,

7. 8. 29 Ebd., 19. 30 Ebd. 28 Ebd.,

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‚Concrete Bilder‘ hingegen sind viel mehr selbsterklärend, die vorgestellten Figuren führen die Attribute, auf die sie verweisen oder die sie vorstellen sollen, selbst mit sich. Der interessantere und auch weitaus komplexere Fall ist zweifelsohne der erstere. Auch wenn Win­ckel­mann es für überzogen hält, „es sey die Allegorie so weit zu treiben, daß man so gar eine Ode würde mahlen können“, so schließt das keineswegs die Vorstellung aus, daß mittels der Allegorie Vorgänge in der Zeit dargestellt werden können. Die Allegorie könnte dergestalt eine quasi-narrative Funktion im Bereich der bildenden Künste übernehmen. Einerseits verweist das auf ein historisches Problem mit den Allegorien der Alten: nicht alle allegorisch dargestellten Vorgänge lassen sich präzise rekonstruieren – es fehlt schlichtweg das Kontextwissen, mithin die fehlenden und von Betrachter erst noch zu ergänzenden Bestandteile der Geschichte, die ins Werk gesetzt wurde. Andererseits kann diese Eigenschaft für die Generierung neuer Allegorien fruchtbar gemacht werden. Win­ckel­mann nennt hier drei mögliche Wege. Erstens, „alten Bildern eine neue Bedeutung zu geben, und bekannte Allegorien in neuem und eigenem Verstande zu gebrauchen, und in diesem Verstande gehöret die Hälfte des Bildes dem, der es neu anwendet“.31 Der Künstler erhält also hinsichtlich der Allegorie die Lizenz, neue Kontexte selbst anzulegen, respektive das ursprüngliche Bild in einen neuen, zunächst vielleicht auch noch überraschenden Zusammenhang zu stellen – darin bestünde die genuine Leistung der Adaption. „Der zweyte Weg ist, Allegorien aus Gebräuchen, Sitten und Sprichwörtern des Alterthums, wenn diese nicht sehr unbekannt sind, zu ziehen“.32 Nach Win­ckel­mann ist es also durchaus opportun, auf das klassische Bildungsgut zurückzugreifen und sich selbst kreativ zu betätigen, distinkte Vorbilder braucht es dafür nicht. Die Vorliebe für die Antike kann hier nicht verwundern, wenngleich Win­ckel­mann allerdings keinen Fingerzeig gibt, warum dieses Vorgehen auf klassische Stoffe beschränkt bleiben soll. Es wäre ja durchaus denkbar, auch nationale Traditionen (Stoffe, Sprichwörter, etc.) als Vorlagen für die Allegorie zu nutzen. Die christ­liche Überlieferung ist voll davon  – eine dezidierte Abgrenzung findet indes nicht statt.33 Ein dritter möglicher Weg führt über das heroische Exempel. Ausgangspunkt für die Allegorie ist hierfür eine „so wohl heroische als wahre Geschichte, aus welcher ähnliche Vorfälle auf die vorzustellende Begebenheit […] angebracht werden“.34 Dieser dritte Weg hat mit dem ersten gemein, daß wiederum die Kontexte bekannt sein oder aber sich doch einfach erschlie31 Ebd., 32 Ebd. 33 Ein

27.

möglicher Grund mag für Win­ckel­mann darin liegen, daß „unsere Zeiten […] nicht mehr allegorisch [sind] wie das Alterthum, wo die Allegorie auf die Religion gebauet und mit derselben verknüpft, folglich allgemein angenommen und bekannt war“ (ebd., 22). Wie Win­ckel­ mann indes zu dieser Diagnose kommt, bleibt im Dunkeln. 34 Ebd.

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ßen lassen müssen – eine grundlegende Einfachheit der Bilder ist auch hier von Nöten. Diese Forderung ist aber kein Hindernis, sie entspricht vielmehr völlig den normativen Forderungen, die Win­ckel­mann an die Allegorie stellt. Einfachheit ist ihm nicht nur notwendige Eigenschaft, sondern vielmehr absoluter Maßstab für die Qualität der Allegorie, wie er in seinen Ausführungen mehrfach betont. „Die Einfalt bestehet in der Entwerfung eines Bildes, welches mit so wenig Zeichen als möglich ist, die zu bedeutende Sache ausdrücke, und dieses ist die Eigenschaft der Allegorien in den besten Zeiten der Alten“,35 denn „[d]urch die Einfalt entstehet die Deutlichkeit“.36 Wiederum wird hier die Dignität in der Ausführung an die klassische Antike angeschlossen – nur dort ist die Allegorie in puris naturalibus zu finden. Für die Dichtkunst gilt das nicht in gleicher Weise, denn sie hält sich in der Wahl ihrer Gegenstände nicht an die klassischen Vorgaben. War die bildende Kunst der Antike ihrem „Endzwecke“ nach immer darauf ausgerichtet, „[l]ieblich“ zu sein, hielt sich die Literatur nicht an diese grundlegende Prämisse – ihr war das Häßliche schon immer nachahmungswürdiger Gegenstand (die „wütendende Notwendigkeit […] des Horatius“, die „dichterische Zwietracht des Petronius“ oder die „Teufeleyen des Miltons“).37 Die schöne Kunst ist daher immer die bildende Kunst. Der Dichtkunst hingegen liegt das Liebliche fern. Der Versuch einer Allegorie ist vor allem eine Sammlung von Beispielen aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Künste und Epochen. Was sich inhaltlich als Stärke begreifen läßt – Win­ckel­mann schreibt ja tatsächlich für den Künstler –, das hat allerdings seine Kostenseite hinsichtlich der begrifflichen und auch systematischen Stringenz. Peter-André Alt benennt die Probleme deutlich: „Die Erfolglosigkeit der Abhandlung erklärt sich aber auch aus ihrer recht verwirrenden Argumentation, die nachzuvollziehen häufig Schwierigkeiten bereitet“.38 Die Gründe dafür sind vielfältig, nicht zuletzt gelingt es Win­ckel­mann nicht, die von ihm immer wieder implizierte sensualistische Wirkungsästhetik mit seinem „rationalistischen Zweckdenken“39 in Einklang zu bringen. Diese methodischen Schwierigkeiten wurden von den Zeitgenossen gesehen und deutlich benannt.40 Allen voran Moses Mendelssohn übte schon vor dem Erscheinen des Versuchs grundlegende Kritik.41 Ein weiterer Punkt, der in der Forschung bisher kaum 35 Ebd., 36 Ebd.

37 Ebd.,

30.

31. Begriffsbilder (wie Anm. 1), 435. 39 Ebd. 40 Zu den Kritikpunkten von Ramler, Diderot, Moritz und Herder siehe Alt, Begriffsbilder (wie Anm. 1), Zweiter Teil, Kap. I. 41 Moses Mendelssohn, Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften, in: M. M., Ausgewählte Werke, Studienausgabe, hg. und eingel. 38 Alt,

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thematisiert wurde, ist die grundsätzliche Simplizität des Modells, das Win­ckel­ mann aus idealistischer, neuplatonischer Perspektive mit normativer Zielsetzung entwirft. Einfachheit – Deutlichkeit – Lieblichkeit: das ist das Dreigestirn, unter dem die Allegorie zu stehen habe, wenn sie funktionieren soll.42 Das alles findet sich prototypisch, und damit auch verbindlich, in der antiken Kunst repräsentiert, Homer sei daher als Vorlage für Allegorien völlig ausreichend. Dergestalt kommt auch die Dichtung zu ihrem Recht. „Dichtkunst und Malerei sind im allegorischen Ausdruck aufeinander bezogen; in ihm wird jene sinnlich und diese gedanklich“.43 Eine klare Hierarchie der unterschiedlichen Künste läßt sich dabei nicht erkennen,44 die Literatur kann als Inspirationsquelle für Allegorien der bildenden Kunst dienen, selbst aber auch wiederum allegorisch verfahren. Gleiches gilt umgekehrt – die antike Plastik kann zum Kristallisationspunkt des Mythos werden, den sie vertritt und der im Nachvollzug neu entsteht.45 Mit seinem Versuch einer Allegorie hatte sich Win­ckel­mann zweifelsohne noch tiefer in die bereits in der Nachahmungsschrift und deren Nachtrag angelegten Widersprüche verstrickt. Der Rettungsversuch der eigenen Positionen scheiterte, nicht zuletzt deshalb, weil gleichzeitig eine äußerst ambitionierte Schrift zur Kunsttheorie erschien: Lessings Laokoon. In dieser wollte Lessing  – höflich, wenn auch bestimmt – dem Win­ckel­mannschen Indifferentismus Einhalt gebieten. Die auch noch im Versuch grundgelegte Formel des ‚ut-pictura-poesis‘ sollte von Christoph Schulte, Andreas Kennecke und Grażyna Jurewicz, 2 Bde., Darmstadt 2012, hier Bd. 1: Schriften zur Metaphysik und Ästhetik 1755–1771, 173–213, zur Kritik an Win­ckel­mann, 181–184. „Eine andere Art Gedanken zu malen, kann vermittelst der Allegorie ausgeführt werden. Man sammelt die Eigenschaften und Merkmaale eines abtracten Begriffs, und bildet sich daraus ein sinnliches Ganze, das auf der Leinwande durch natürliche Zeichen ausgedrückt werden kann. […] Indessen muß sich der Künstler hüten, daß seine Allegorien nicht allzu spitzfindig werden; sie müssen sowohl natürlich als anschauend sein, das ist, die Beschaffenheit des Zeichens muß in der Natur des Bezeichneten gegründet seyn; aber wir müssen die Uebereinstimmung mit so leichter Mühe einsehen können, daß wir mehr an die bezeichnete Sache gedenken, als an das Zeichen. Der Künstler muß also betrachten, daß er zwar mit unserer Seele, aber nur mit ihren untern und sinnlichen Kräften reden soll; sobald Ueberlegung, Nachdenken und Anstrengung des Witzes erfordert wird, um die Bedeutung der Zeichen zu errathen, hören sie auf, sinnlich zu seyn“ (ebd., 181 f.). Mendelssohn lehnt die für Win­ckel­manns Konzept der Allegorie wesentliche intellektuelle Komponente der Allegorie in Gänze ab. 42 Siehe hierzu auch Günter Niklewski, Versuch über Symbol und Allegorie. Win­ckel­mann – Moritz – Schelling, Erlangen 1979, 17–36. 43 Ebd., 33. 44 Zur Geschichte der paragone delle arti siehe Eric Achermann, Das Prinzip des Vorrangs. Zur Bedeutung des Paragone delle arti für die Entwicklung der Künste, in: Herbert Jaumann (Hg.), Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, Berlin, New York 2011, 179–209. 45 Zu Win­ ckel­manns Technik der Beschreibung siehe Friedrich Vollhardt, Laokoon, Aias, Philoktet. Lessings Sophokles-Studien und seine Kritik an Winkelmann, in: F. V., Jörg Robert (Hg.), Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung, Berlin, Boston 2013, 175–200.



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ihre Gültigkeit verlieren, eine klare Abgrenzung der Künste und dessen, was sie jeweils darstellen können, war Lessings primäre, selbst gestellte Aufgabe. Der Allegorie kommt dabei eine Schlüsselstellung zu. III. Von der Schädlichkeit der „Allegoristerey“ für die Kunst – Lessings Laokoon Lessings Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie hatte eine lange Inkubationszeit und damit einhergehend eine bewegte Vorgeschichte. Es sind genau jene zwölf Jahre zwischen dem Erscheinen der Gedanken über die Nachahmung und dem Laokoon, in der sich die kunsttheoretischen Überlegungen beider Autoren in agonaler Weise voneinander entfernen. Während die Allegorie auch 1766 weiterhin „als Schlüsselbegriff Win­ckel­mannscher Kunsttheorie anzusehen ist“,46 verfolgte Lessing in der Zwischenzeit einen anderen Weg. Ihren Ausgang nimmt Lessings Beschäftigung mit der Skulpturengruppe Laokoon bereits 1756. Moses Mendelssohn hatte Lessing in einem Brief auf Win­ckel­manns neu erschienene Gedancken über die Nachahmung aufmerksam gemacht und somit die Initialzündung für die eingehendere Beschäftigung gegeben.47 Knappe zehn Jahre später war die Erwartungshaltung der Freunde groß, als Lessing ihnen das aus dieser langjährigen Beschäftigung hervorgegangene Werk ankündigte. Gleichzeitig mutmaßten sie und mit ihnen die gelehrte Öffentlichkeit, daß diese Schrift aller Wahrscheinlichkeit nach ein enormes Konfliktpotential in sich bergen würde.48 So schreibt Christian Felix Weiße aus Leipzig an Johann Nicolaus Meinhard: 46 Barbara E. Borg, Allegorie der Kunst – Kunst der Allegorie. Win­ ckel­manns „Kunstbeschreibungen“ als archäologischer Kommentar, in: Glenn W. Most (Hg.), Commenaries – Kommentare, Göttingen 1999, 282–295, hier 287. 47 Der Brief Mendelssohns ist Teil des sogenannten Briefwechsels über das Trauerspiel, datiert auf die erste Dezemberhälfte 1756, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen u. a., Frankfurt am Main 1985–2003, hier Bd. 3, 686–693. „Ich habe ihre Kunststücke nicht gesehen, aber Win­ckel­mann, (in seiner vortrefflichen Abhandlung von der Nachahmung der Werke der Griechen) dem ich einen feinen Geschmack zutraue, sagt: ihre Bildhauer hätten ihre Götter und Helden niemals von einer ausgelassenen Leidenschaft dahin reißen lassen. Man fände bei ihnen allezeit die Natur in Ruhe (wie er es nennt) und die Leidenschaften von einer gewissen Gemütsruhe begleitet, dadurch die schmerzliche Empfindung des Mitleidens gleichsam mit einem Firnisse von Bewunderung und Ehrfurcht überzogen wird. Er führt den Laokoon z. E. an, den Virgil poetisch entworfen, und ein griechischer Künstler in Marmor gehauen hat. Jener drückt den Schmerz vortrefflich aus, dieser hingegen läßt ihn den Schmerz gewissermaßen besiegen, und übertrifft den Dichter um desto mehr, je mehr das bloße mitleidige Gefühl, einem mit Bewunderung und Ehrfurcht untermengten Mitleiden nachzusetzen ist“ (ebd., 690 f.). 48 Vgl. auch Bengt Algot Sǿrensen, Lessings Laokoon und Win­ckel­mann, in: Lessing Yearbook/Jahrbuch 36 (2004/2005), 69–78.

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Lessing hat mir auch von seiner Abhandl[ung], die, wie ich höre, unter der Presse ist, gesagt: Da andere immer eine Vergleichung zwischen der Malerei und Poesie angestellet, will erzeigen, worinnen sie von einander abgehen und die Grenzen bestimmen: er hat auch Willens, Win­ckel­mann verschiedne Fehler aufzudecken, und da dieser, wie ich sicher weiß, die Kritik nicht leiden kann, und überhaupt die deutschen Gelehrten für elende Insekten ansieht, so könnte der Streit leicht interessant werden …49

Und bereits ein halbes Jahr zuvor liegt die Konfrontation in der Luft, wie Friedrich Nicolai gegenüber Hagedorn meint: Eine große Neuigkeit ists vermutlich für Sie, wenn ich Ihnen sage, daß Lessing, (der jetzt hier ist) eine Abhandlung von den Grenzen der Malerei und Poesie unter der Feder hat, die in der Tat sehr wichtig sein wird. Ketzern wird er freilich nicht wenig; aber so viel ich im Reden merke, so wird er viel Paradoxen mit vieler Scharfsichtigkeit durchzusetzen suchen. Z. E. er behauptet, das die schönen Formen in der Malerei das Hauptwerk sein müssen; hieraus leitet er alles her, was Win­ckel­mann aus der stillen Größe herleitet. Mit Win­ckel­mann ohnedem wird er in großen Streit geraten. Er behauptet, quod bene notatum: daß der ganze antiquarische Teil seiner Gesch[ichte] der K[unst] [i. e. Win­ckel­manns Geschichte der Kunst des Althertums] auf seichten Stützen beruhe. In vielen Stücken bin ich wirklich selbst erstaunt, zu sehen, wie dreist Win­ckel­mann manches behauptet. Sollte W. hierauf kommen (wozu noch einige Hoffnung ist), so glaube ich, er wird sich mit L. nicht vertragen können, so verträglich auch L. ist; denn W. scheint durchaus keinen Widerspruch leiden zu wollen.50

Die Freunde erwarten – sicherlich nicht zu Unrecht – den Polemiker Lessing. Es mag daher verwundert haben, daß die direkte Auseinandersetzung mit Win­ ckel­mann nicht stattfindet. Der Autor der Gedancken wird eingangs des Laokoons namentlich erwähnt, bleibt dann aber im Hintergrund, direkte Angriffe gibt es nicht. Trotzdem bleibt Win­ckel­mann dabei als durchgängige Folie in der Abhandlung gegenwärtig. Die Beteuerung Lessings hingegen, die Gedancken über die Nachahmung erst kurz vor Vollendung der Schrift zu Gesicht bekommen zu haben, ist reine Camouflage. Sie dient einzig dazu, sich nicht en detail mit Win­ckel­mann auseinandersetzen zu müssen. Ein genauerer Blick auf die Vorgeschichte des Laokoon, und damit von Lessings Verständnis der Allegorie, ist daher unumgänglich. Die Unterschiede zwischen den kunsttheoretischen Auffassungen oder Konzeptionen Lessings und Win­ckel­manns wurden in den letzten Jahren mehrfach deutlich gemacht,51 allein die zentrale Rolle, die dabei der Allegorie zu fällt, 49 Christian

Felix Weiße an Johann Nicolaus Meinhard, Leipzig, 1. März 1766, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke, in Zusammenarbeit mit Karl Eibl u. a. hg. von Herbert Göpfert, Bd. 1–8, München (auch Darmstadt) 1970–1979, hier Bd. 6, 866 f. 50 Christoph Friedrich Nicolai an Christian Ludwig von Hagedorn, Berlin, ~ Herbst 1765, in: ebd., 867. 51 Die Anzahl der Publikationen ist mittlerweile Legion, so daß hier auf eine ausführliche



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nur im Einzelfall eingehender beachtet.52 Auch wenn Lessing sich im Laokoon nicht an vielen Stellen explizit zur Allegorie äußert, so sind die entsprechenden Passagen doch von maßgeblichem Gewicht. Schon gleich in der Vorrede, in der Lessing seine grundsätzliche Absicht formuliert, kommt der Allegorie – hier in der abfälligen Bezeichnung „Allegoristerey“ – eine zentrale Funktion zu: Ja diese Aftercritik hat zum Theil die Virtuosen selbst verführet. Sie hat in der Poesie die Schilderungssucht, und in der Mahlerey die Allegoristery erzeuget; indem man jene zu einem redenden Gemählde machen wollen, ohne eigentlich zu wissen, was sie mahlen könne und solle, und diese zu einem stummen Gedichte, ohne überlegt zu haben, in welchem Maasse sie allgemeine Begriffe ausdrücken könne, ohne sich von ihrer Bestimmung zu entfernen, und zu einer willkührlichen Schriftart zu werden.53

Diese einleitenden Worte enthalten schon einen Großteil der Antinomien, die Lessing gewillt ist, aufzulösen und dabei nicht weniger unternimmt, als eine ganze Tradition – ‚ut-pictura-poesis‘ – vom Kopf auf die Füße zu stellen. Beide künstlerischen Darstellungsweisen, die Dichtung ebenso wie die Malerei (und die übrigen bildenden Künste, darf man ergänzen), überschreiten ihre naturgegebenen Grenzen in unzulässiger Weise. Die Kunstkritik hat diese wechselseitigen Anmaßungen übersehen oder doch toleriert und wurde zur bloßen „Aftercritik“. In der Poesie, der eigentlich die Darstellung von Handlungen wesenhaft ist, wie Lessing im weiteren Verlauf ausführt, herrsche eine schädliche „Schilderungssucht“ vor. Sie verfalle zusehends darauf, in der genauen Beschreibung ihre Natur zu verraten. Man denke etwa an die in der Zeit erfolgreichen physikoteleologischen Panoramen wie Barthold Hinrich Brockes Irdisches Vergnügen in Gott oder Albrecht von Hallers Lehrgedicht Die Alpen.54 Hier wird die Naturschilderung nachgerade zum Endzweck der Dichtung. Dagegen versinkt die Malerei in der – despektierlich so genannten – „Allegoristerey“. Sie erweitert ihren Wirkungsbereich dahingehend, Handlungen vorstellen zu wollen. Hier wird Win­ckel­mann zur Folie, man erinnere sich nur an die von ihm angedachte Auflistung verzichtet wird. Stattdessen sei verwiesen auf den umfassenden Beitrag mit den aktuellen Forschungsdiskussionen und der entsprechenden Literatur im Lessing-Handbuch. Siehe Monika Fick, Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, dritte, neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 2010, 257–288. Dieses Interesse an der Gegenüberstellung der beiden Positionen ist vergleichsweise neu, gerade hinsichtlich der unterschiedlichen Konzepte von ‚Allegorie‘ findet sich bisher kaum Substantielles. Wenngleich schon nicht als Beleg, so kann es doch als Hinweis für das Phänomen gedeutet werden, daß der seinerzeit wegweisende Sammelband Formen und Funktionen von Allegorie, herausgegeben von Walter Haug, der aus einem DFG -Symposion hervorgegangen ist, diese Wegmarke noch nicht in systematischer Weise würdigen und trennscharf beschreiben konnte. Lessing und Win­ckel­mann bringen es zusammen auf gerade einmal acht Einträge im Register. Eine Auseinandersetzung mit den gewichtigen Bestimmungen der Allegorie dieser beiden Autoren ist also dringend geboten. 52 So bei Sǿrensen, Lessings Laokoon und Win­ckel­mann (wie Anm. 48). 53 Lessing, Laokoon (wie Anm. 2), 9. 54 Vgl. etwa Christoph Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, Stuttgart 1974.

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Möglichkeit, wenn schon keine ganze Ode, so doch Teile von Handlungen in der Allegorie zum Ausdruck zu bringen und die Ode so ‚ins Bild zu setzen‘. Redende Gemälde und stumme Gedichte sind die Folge des Umstandes, abstrakte Begriffe in den Künsten vorstellen zu wollen, die gar nicht dafür gedacht sind. Lessing gibt Beispiele dafür, wie die Verwendung von Allegorien in der Kunst ursprünglich gedacht war: Eine Frauensperson mit einem Zaum in der Hand; eine andere an eine Säule gelehnet, sind in der Kunst allegorische Wesen. Allein die Mäßigung, die Standhaftigkeit bey dem Dichter, sind keine allegorische Wesen, sondern bloß personifirte Abstracta.55

Und weiter erläutert er knapp: Von dieser Art sind die Attribute, welche die alten Dichter in ihre Beschreibungen etwa noch einflechten, und die ich deswegen zum Unterschiede jener allegorischen, die poetischen nennen möchte. Diese bedeuten die Sache selbst, jene nur etwas ähnliches.56

Aufgrund der spärlichen Aussagen zum allgemeinen Stellenwert der Allegorie kann es nicht verwundern, daß Win­ckel­mann Lessings Laokoon zunächst zustimmend zur Kenntnis nahm. In einem Brief an Johann Michael Francke vom September des Jahres 1766 schreibt er in beinahe väterlichem Ton: „Des Herrn Lessings Schrift habe ich erhalten; sie ist schön und scharfsinnig geschrieben; aber über seine Zweifel und Entdeckungen hat er viel Unterricht nöthig“.57 Schon einen Monat zuvor hatte Win­ckel­mann dem Hofbuchhändler Georg Conrad Walther den Erhalt der Schrift des ihm bis dato unbekannten Lessing bestätigt: Das mir gütigst übermachte Buch des Herrn Lessings [!] habe ich richtig erhalten, und ich ziehe meine Meynung von demselben zurück, die mir vergeben ist, da ich von diesem gelehrten Manne vorher nichts gelesen hatte, und wenn derselbe vor meiner Abreise aus Deutschland durch etwas bekannt gewesen, konnte ich es ebenfalls nicht wissen, weil mein Gehirn mit alten fränkischen Chroniken und Leben der Heiligen, und dergleichen angefüllet war. Es wird, wo ich kann, demselben auf würdigste Art geantwortet werden.58

Win­ckel­mann wird Lessing die in Aussicht gestellte Antwort schuldig bleiben, denn innerhalb kurzer Zeit hat sich seine Meinung radikal geändert. Schon im November – offensichtlich nach eingehenderer Lektüre des Laokoon – war Win­ ckel­mann mehr als verstimmt. Ihm muß der Angriff bewußt geworden sein, den Lessing auf seine kunsttheoretischen Überlegungen unternommen hatte. Gerade im Kontrast zu seinem Versuch einer Allegorie mußten sich die Positionen als 55 Lessing,

Laokoon (wie Anm. 2), 89. Ebd., 90 f. 57 Johann Joachim Win­ckel­mann an Johann Michael Francke, 10.9.1766, in: Lessing, Werke und Briefe (wie Anm. 47), Bd. 5/2, 681. 58 Johann Joachim Win­ckel­mann an Georg Conrad Walther, 16.8.1766, in: ebd., 680. 56



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unvereinbar zeigen. Die offene Auseinandersetzung scheute er hingegen, resignierend zieht er sich zurück, wie eine briefliche Mitteilung an Philipp Baron von Stosch nahelegt: Lessings Buch habe ich gelesen; es ist schön geschrieben, obgleich nicht ohne bekannte Fehler in der Sprache: dieser Mensch hat so wenig Kenntniß, da [daß?] ihn keine Antwort bedeuten würde, und es würde leichter seyn einen gesunden Verstand aus der Uckermark zu überführen als einen UniversitätsWitz, welcher mit Paradoxen sich hervorthun will. Also sey ihm die Antwort geschenckt. Dieses aber bleibt unter uns.59

Man täuscht sich wohl nicht, wenn man hier auch Verbitterung fühlt. Auf eine detaillierte Widerlegung verzichtet Win­ckel­mann und verweist stattdessen auf die „Paradoxen“, die nicht mehr sind als die Äußerungen eines „UniversitätsWitz“ – die sachliche Auseinandersetzung wird zugunsten einer Invektive ad personam übergangen. Hier wird freilich Stellung bezogen gegen eine Art der Buchgelehrsamkeit, die Win­ckel­mann selbst auch nicht fremd ist. Allein er hat Lessing in der eigenen Wahrnehmung die Anschauung der Originale voraus (die auch für Heinse wieder eine zentrale Rolle spielen wird). Das muß als Widerlegung genügen. Vielleicht aber war Win­ckel­mann zwischenzeitlich auch Lessings Abhandlung über die Fabel in die Hände gefallen und ihm wurde die ganze Tragweite von dessen Überlegungen zur Allegorie bewußt. Hier hätte er – auch wenn das Spekulation bleibt – genauer nachlesen können, wie es Lessing mit der Allegorie hält. Denn Lessings Fabeltheorie war zum eigentlichen Feld der Auseinandersetzung um die Allegorie bestellt – nicht Win­ckel­mann, sondern Antoine Houdar de la Motte bekleidete dort eingangs die gegensätzliche Position, die Lessing so häufig brauchte, um seine eignen Gedanken in Form der Opposition in Stellung zu bringen und zu entwickeln.60 Dort heißt es gleich zu Beginn: 59 Johann Joachim Win­ ckel­mann an Philipp Baron von Stosch, 15.11.1766, in: ebd., 684. Siehe hierzu auch die Darstellung bei Leppmann, Win­ckel­mann (wie Anm. 4), 243 f. 60 Zu diesem polemischen Verfahren in Hinblick auf die religionskritischen Schriften siehe Michael Multhammer, Lessings Rettungen. Geschichte und Genese eines Denkstils, Berlin, Boston 2013. Es folgen auf Antoine Houdar de la Motte Richer, Breitinger und Batteux als weitere Gegenpositionen. Zur Zusammenstellung dieser siehe Wilfried Barner u. a., Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, München 61998, 227: „Lessing wollte aber nicht nur die zahlreichen Fabeldefinitionen um eine weitere vermehren, sondern nachweisen, daß seine eigene Definition das Wesen der Fabel besser und angemessener erklärte. Deshalb mußte er sich mit früheren Erklärungen auseinandersetzen. Nur scheinbar ist seine Auswahl willkürlich: er will keinen vollständigen Überblick über die Fabeltheorie des frühen 18. Jahrhunderts geben, sondern nur die „vornehmsten Erklärungen prüfen“. Die Spreu ist also bereits vom Weizen gesondert. De la Motte, dessen Name am Beginn der eigentlichen Fabeltheorie steht, macht auch bei Lessing den Anfang. Die Bedeutung De la Mottes als Bahnbrecher wird noch dadurch unterstrichen, daß Lessing die Abhängigkeit der Nachfolger Richer (1729), Breitinger (1740) und Batteux (1748) zeigt. Die verkürzte Zitierweise soll den Eindruck der Ähnlichkeit und mangelnden Originalität nur noch verstärken“.

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Dieser Mann, welcher nicht sowohl ein großes poetisches Genie, als ein guter, aufgeklärter Kopf war, der sich an mancherlei wagen, und überall erträglich zu bleiben hoffen durfte, erklärt die Fabel durch eine unter die Allegorie einer Handlung versteckte Lehre.61

Hier begegnen wir also wieder jenen Abstrakta, diesmal in Form einer moralischen Lehre, die in der Allegorie aufscheinen sollen.62 Nach einer Reihe von Beispielen formuliert Lessing seinen eigenen Standpunkt: Folglich ist es eben so klar, daß die Fabel nicht bloß eine allegorische Handlung, sondern die Erzehlung einer solchen Handlung sein kann. Und dieses ist das erste, was ich wider die Erklärung des de la Motte zu erinnern habe.63

Die Handlung selbst kann also nie allegorisch sein. Und so dekonstruiert Lessing weiter: Aber was will er mit seiner Allegorie? – Ein so fremdes Wort, womit nur wenige einen bestimmten Begriff verbinden, sollte überhaupt aus einer guten Erklärung verbannt sein. – Und wie, wenn es hier gar nicht einmal an seiner Stelle stünde? Wenn es nicht wahr wäre, daß die Handlung der Fabel an sich selbst allegorisch sei? Und wenn sie es höchstens unter gewissen Umständen nur werden könnte?64

Lessing bestreitet hier die grundgelegte Prämisse. Wer die Allegorie zum Fundament der poetischen Fabel mache, habe das fundamentale Verhältnis beider nicht verstanden. Vielmehr ist der Begriff der Allegorie dazu angetan, allgemeine Verwirrung zu stiften, da nur wenige „einen bestimmten Begriff“ damit verbinden. Lessings Fazit hinsichtlich der Allegorie in poetischen Texten fällt dementsprechend vernichtend aus: „Man begnüge sich nur, die Fabel, in Ansehung des allgemeinen Lehrsatzes, bloß allegorisch zu machen; und man kann sicher glauben, eine schlechte Fabel gemacht zu haben“. Diesen Hintergrund gilt es mit zu bedenken, wenn sich Lessing im Laokoon zum grundsätzlichen Verhältnis von Dichtung und bildender Kunst äußert. Die berühmte Formulierung aus dem XVI. Kapitel gewinnt dadurch eine noch deutlichere, polemische Abgrenzung zu den Positionen Win­ckel­manns: Wenn es wahr ist, daß die Malerey zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nehmlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulirte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältniß zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geord61 Gotthold

Ephraim Lessing, Vom Wesen der Fabel, in: Lessing, Werke und Briefe (wie Anm. 47), Bd. 4, 345–376, hier 347. 62 Das ist hier analog zu Lessings dramentheoretischen Überlegungen gedacht: auch auf dem Theater reiche es nicht, einen moralischen Lehrsatz in eine poetische Form zu kleiden, wie noch Gottsched in seiner Critischen Dichtkunst empfahl. 63 Lessing, Vom Wesen der Fabel (wie Anm. 61), 348. 64 Ebd.



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nete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Theile neben einander existiren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Theile auf einander folgen. Gegenstände, die neben einander oder deren Theile neben einander existieren, heissen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften, die eigentlichen Gegenstände der Malerey. Gegenstände, die auf einander, oder deren Theile auf einander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.65

Handlungen lassen sich nicht in Form der Allegorie darstellen, wie Lessing argumentierte, da der eigentliche Gegenstand der Poesie aber die Handlung ist, ist die Allegorie nicht für die Dichtung. Diese Diagnose läßt sich aus dieser Stelle ableiten. Das Nachdenken über die Reichweite der Allegorie – wie hier dargestellt – ist nur eine Vorstufe, die Konsequenzen, die sich daraus ergeben sind von enormer Reich- und auch Tragweite. Diese Folgerungen können hier nicht mehr dargestellt werden. Friedrich Vollhardt hat das en detail herausgearbeitet.66 Es sei nur noch auf eine grundsätzliche Tendenz hingewiesen, die sich aus der Ablehnung der Allegorie für Lessing ergibt, denn diese betrifft nicht weniger als die Rangfolge der Künste. Die paragone delle arti kehrt sich um: bei Lessing findet sich eine ganz klare Präferenz für die Dichtung, mithin handelt es sich beim Laokoon auch ganz eigentlich um eine Abrechnung mit den bildenden Künsten. Diese Umwertung ist auch von der nachfolgenden Generation nicht wieder rückgängig zu machen, wie das Beispiel Heinse zeigt. IV. Wilhelm Heinse – die Allegorie als „sinnliche Unsinnlichkeit“ Der um eine Generation jüngere Wilhelm Heinse (1746–1803) war ein junger Mann von zwanzig Jahren, als sich Win­ckel­mann und Lessing 1766 um die Möglichkeiten und Reichweite allegorischer Darstellungen in den Künsten stritten. Der junge Heinse hatte diese kontroversen Auffassungen begleitend zur Kenntnis genommen. Er kannte Win­ckel­manns Versuch einer Allegorie – zumindest in Ansätzen. Mittlerweile sind wir mit der vorzüglichen Edition der nachgelassenen Schriften Heinses in einer sehr komfortablen Position.67 Wir können die Genese seiner eigenen Gedanken und Positionen anhand seiner Lektüren relativ genau nachvollziehen. So findet sich in seinen Notizheften auch ein kurzes Exzerpt des Versuchs über die Allegorie überliefert,68 das wohl während

65 Lessing,

Laokoon (wie Anm. 2), 115. Laokoon, Aias, Philoktet (wie Anm. 45). 67 Wilhelm Heinse, Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlass, hg. von Markus Bernauer u. a., 5 Bde., München 2003, hier Bd. 1. 68 Ebd., 886–888. 66 Vollhardt,

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Heines Aufenthalt in Rom entstanden sein dürfte.69 Gekannt haben dürfte er das Werk schon zuvor, wie eine briefliche Mitteilung an Schmidt nahelegt.70 In diesem Falle hätte Heinse Win­ckel­manns Text also erneut zur Hand genommen, um ihn genauer oder vielleicht auch nur mit einem bestimmten Ziel erneut zu studieren. Letzteres scheint mir insofern wahrscheinlich, als daß es sich um eine sehr selektive Lektüre handelte: Heinse exzerpierte lediglich das erste Kapitel von Win­ckel­manns Abhandlung, das auch uns hier als Ausgangspunkt für die Bestimmung der Allegorie gedient hat. Als zweites Indiz könnte man die unmittelbare Nähe zu den Notizen zu Lessings Laokoon begreifen, die sich beinahe unmittelbar, unterbrochen nur durch einige Notizen zu aktuellen Beobachtungen in Rom, anschließen. Hier wird von Heinse in der Tat so etwas wie eine kontrastive Lektüre angestrebt. Dieses Verfahren verwundert bei Heinse nicht, er suchte häufig – Lessings Strategie durchaus verwandt – einen Gegenpol, zu dem er Stellung beziehen konnte.71 „Ein solcher Fixpunkt ist die Figur Johann Joachim Win­ckel­manns“.72 Die Notizen Heinses sind zunächst einmal – bezogen auf den Umfang des Werkes – schmal zu nennen. Sie umfassen in der Handschrift lediglich drei und eine viertel Seite. Umso gewichtiger scheint die Auswahl dessen, was Heinse interessiert hat. Und das ist vor allem zweierlei. Zum einen interessieren ihn die allgemeinen Begriffsbestimmungen der Allegorie und die historische Herleitung dieser durch Win­ckel­mann: „Allegorie. Ist eine Andeutung der Begriffe durch Bilder. (Eigentlich den Esel meinen u[nd] auf den

69 So

legt das zumindest die Datierung des entsprechenden Notizheftes N10 nahe. an Herrn Sekretär Schmidt, Halberstadt, im März 1774. „Hier übersende ich Ihnen, mein lieber Mädchenschmidt, Ihre Bücher; und bitte Sie, mir die Geschichte der Kunst und ­Ueber die Allegorie von Winkelmann zu übersenden; ich packe jetzt die Bücher zusammen, die ich aus Vater Gleims Bibliothek habe, um sie heute oder Morgen früh hintragen zu lassen und diese 2 fehlen noch in dem Verzeichnisse, das ich davon gemacht habe“ (zit. nach Eduard Grise­ bach, Das Goethe´sche Zeitalter der deutschen Dichtung. Mit ungedruckten Briefen Wilhelm Heinse´s und Clemens Brentano´s, Leipzig 1891, 163 f.). 71 Elisabeth Décultot hat in ihrem Aufsatz Heinse als Leser Win­ckel­manns. Eine kritische Beleuchtung, in: Markus Bernauer, Norbert Miller (Hg.), Wilhelm Heinse: Der andere Klassizismus, Göttingen 2007, 86–98, diese doppeldeutige Strategie der Nähe und Distanz deutlich herausgearbeitet: „Perfide Hinweise auf Win­ckel­manns Interpretationsfehler, entschiedene Widerlegung seiner zentralen ästhetischen Vorschriften, radikale Umdeutung einiger der von ihm beschriebenen Kunstwerke: All die ihm zur Verfügung stehenden rhetorischen Mittel scheint Heinse eingesetzt zu haben, um seinen Publikationen einen deutlichen Anflug von Anti-Win­ ckel­mannianismus zu verleihen“. Und weiter heißt es: „Dennoch lässt diese allzu eindeutige Gegensätzlichkeit gerade aufgrund ihrer Eindeutigkeit tiefe Zweifel aufkommen. Bei dem RedeStrategen und scharfen Polemiker Heinse sind all die ausgeprägten Zeichen der Missbilligung – wie übrigens der Zustimmung – mit großer Vorsicht anzunehmen“ (ebd., 86 f.). 72 Cord-Friedrich Berghahn, „Zum weiteren Gebrauch für künftige poetische Werke“. Wilhelm Heinse: Forschung und Philologie 2002–2010, in: Zeitschrift für Germanistik (NF) 21/1 (2011), 345–356, hier 347. 70 Heinse

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Sack schlagen.) Alles was durch Bilder u[nd] Zeichen angedeutet wird“.73 Hinzu kommt die historische Komponente im Sinne einer Abfolge der Entstehung der Künste: „Die Gedancken mahlen ist unstreitig älter, als dieselben schreiben“.74 Richtig zu überzeugen scheinen Heinse die Ausführungen Win­ckel­manns nicht. Während dieser in seinem Versuch breit diskutiert, was im Altertum als Allegorie gelten konnte, kommentiert Heinse in seinem Exzerpt lapidar: „Viele auf Münzen u[nd] an Gebäuden der Alten unverständl[ich], vielleicht warens auch keine Allegorien“.75 Hier ist schon ein gewisser Gleichmut zu spüren. Denn offenbar verband Heinse mit der erneuten Lektüre eine Hoffnung. Der Hauptteil des Exzerpts umfaßt Win­ckel­manns Ausführungen, wie der Künstler zu neuen Allegorien kommen kann. Hier zeigt sich Heise deutlich interessierter und fügt nach den drei Möglichkeiten, die Win­ckel­mann nennt (siehe oben), Beispiele hinzu – spielt gleichsam mit den von Win­ckel­mann angedachten Möglichkeiten. Darüber bricht das Exzerpt unvermittelt ab und wird auch nicht weiter fortgeführt. Heinse hatte das Buch offensichtlich zur Seite gelegt. Deutlich intensiver hatte sich Heinse mit Lessings Laokoon beschäftigt. Er kannte das Werk sehr genau. Davon zeugt auch das ausführliche Exzerpt, das zwischen Zustimmung und Ablehnung, emphatischer Übernahme und dezidierter Kritik changiert. Direkter Parteigänger war Heinse, so viel kann man vorweg sagen, in keinem der beiden Fälle, und dennoch versäumte er es nicht, vielfältige Konsequenzen aus Lessings Überlegungen zu ziehen, wie bemerkt, ohne diesem blind zu folgen.76 In diesem Rahmen ist eine ausführliche Beschreibung der verwickelten und in sich äußerst komplexen Aneignungsgeschichte nicht möglich, es stehen daher nur diejenigen Passagen im Fokus, die sich direkt mit der Allegorie und deren direktem begrifflichen Umfeld auseinandersetzen. Heinse setzt an der grundlegenden Definition nach Aristoteles an: „Eine Handlung besteht aus Anfang, Mittel [!] und Ende. Der Maler ahmt das Mittelere nach, weil man am leichtesten Anfang u[nd] Ende daraus errathen kann“.77 Direkt auf diese Beobachtung folgt das zentrale Zitat aus Lessings Laokoon zur ‚Aftercritik‘, das oben bereits angeführt wurde. Hier wird das kontrastierende Verfahren Heinse besonders deutlich, denn Win­ckel­manns Ausdeutung wird direkt gegenübergestellt. In den Worten Heinses: „Der Ausdruck einer so großen Seele geht weit über die Bildung der schönen Natur. Der Künstler mußte die Stärke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er dem Mamor einprägte.) W[inckelmann] vom Laokoon“.78 73 Heinse, 74 Ebd.

75 Ebd. 76 Eine

Aufzeichnungen (wie Anm. 67), 886.

Zusammenfassung findet sich bei Charis Goer, Ungleiche Geschwister. Literatur und Künste bei Wilhelm Heinse, München 2006, 122–133. 77 Heinse, Aufzeichnungen (wie Anm. 67), 918. 78 Ebd.

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Heinse zieht aus dieser Kontrastierung der Positionen sein eigenes Fazit, in gewohnt drastischer und direkter, sexuell freizügiger Diktion:79 Jedes Kunstwerk soll vollkommen seyn; und zu jeder Vollkommenheit gehört ein Ganzes. Also alle die einzelnen Figuren, wozu man noch etwas denken muß, sind nicht vollkommen u[nd] befriedigen den Geist nicht, als der Zorn u[nd] Bogen beym Vatikanischen Apollo, die Hand vor der Fotze u[nd] die Brust der Mediceinischen Venus, der Borghesische Fechter, der den Arm vorhält u[nd] wohin über sich schaut.80

Das geht eindeutig gegen Win­ckel­manns Konzeption der Allegorie, die niemals in der Lage wäre, Vollkommenheiten in Heinses Sinn vorzustellen. Die notwendige Beschäftigung des Geistes wird hier zum Haupthinderungsgrund auf dem Weg zu einer vollkommenen Darstellung. Was im ‚Kleinen‘ schon nicht funktionieren kann, scheitert vollständig, wenn man zu komplexeren Gegenständen übergehen will. Daher folgert Heinse auch konsequent: „Geschichtsmahler ist ein wahrer Widerspruch; da ein Mahler nur einen Moment vorstellen kann, und Geschichte nothwendig eine Reyhe von Begebenheiten erheischt“.81 Dies ist ihm Anlaß, erneut auf die Vorstellung von Abstracta im Allgemeinen zu sprechen zu kommen: Unter den Attributen, mit welchen die Künstler ihre Abstracta bezeichnen, giebt es eine Art, welche eigentlich nichts allegorisches haben, sondern als Werkzeuge zu betrachten sind, deren sich die Wesen, welchen sie beygelegt werden, falls sie als wirkliche Personen handeln sollten, bedienen würden oder könnten – diese sind auch für den Dichter.82

Die Handlung selbst kann in der Malerei nicht vorgestellt werden, es ist lediglich möglich, Attribute („Werkzeuge“) Personen beizuordnen, die sie als Handelnde kennzeichnen. Allegorisch ist dies im Sinne Wincklemanns freilich nicht. Die Handlung in der Zeit ist – soweit folgt Heinse Lessing durchaus – nicht Gegenstand der Malerei im eigentlichen Sinne. Aber auch Lessing habe das Wesen der genuinen Unterschiede der Künste nicht deutlich genug erkannt, sein Fazit zum Laokoon, mit dem Heinse das Exzerpt schließt, lautet: „Lessing schränkt die Poesie zu sehr ein, sie kann sich auch verweilen. Aber die Mahlerey kann eine Person nicht doppelt vorstellen, ohne alle Täuschung zu verlieren“.83 Man sieht schon, die Diskussion hat sich bereits deutlich verlagert: der Allegorie kommt keine zentrale Stellung mehr zu, weder bei Lessing, noch bei Heinse. Die Allegorie ist beinahe zum Paradox verkommen: 79 Siehe

hierzu auch Peter Kofler, Wilhelm Heinse und Aby Warburg: Korrekturen an Lessings ‚Laokoon‘, in: P. K. (Hg.), Ekstatische Kunst – besonnenes Wort: Aby Warburg und die Denkräume der Ekphrasis, Bozen 2009, 129–144, hier insbesondere 136 f. 80 Heinse, Aufzeichnungen (wie Anm. 67), 918 f. 81 Ebd., 923. 82 Ebd. 83 Ebd., 928.



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Im Grunde ist jede Allegorie ein Widerspruch, eine sinnliche Unsinnlichkeit; ein Zwiespalt, etwas für den Sinn, was bloß für den Geist seyn soll, Schlangen und Tauben gepaart. Sie macht deßwegen auch fast nie Effect; denn der Sinn, das Auge kann sie nie recht genießen […].84

Gerade aber die Sinnlichkeit wird bei Heinse zum Zentrum seiner Kunstauffassung und auch Kunstbeschreibung. Es geht primär um Schönheit,85 nicht mehr um Verweise, die der Verstand erst aufzulösen hätte und somit auch gegen die Programmatik Winkelmanns.86 Die Allegorie wird abgelöst von einer alternativen Ekphrasis, die Heinse in seinen Gemäldebriefen entwickelt und eingeübt, im Ardinghello zur Meisterschaft befördert hatte. Im Ardinghello, dem ersten deutschen Kunstroman – nicht Künstlerroman im eigentlichen Sinne87 – hat die Allegorie keinen Platz mehr.88 Es dominieren andere Techniken der Vergegenwärtigung von bildender Kunst. Mit dem Verzicht auf die Allegorie kommt ein Moment in den Roman, das dazu beiträgt, diesen in seiner Haltung als antiklassizistisch zu bezeichnen. Die tradierten Modelle der Kunstbeschreibung und ihre ‚Übersetzung‘ ins Medium der Dichtkunst hat Heinse auch mit dem Verzicht auf die Allegorie als Gestaltungsmittel hinter sich 84 Wilhelm

Heinse, Von der Italienischen Reise 1780–1783; zit. nach Alt, Begriffsbilder (wie

Anm. 1), 434. 85 Hierzu exempli gratia Michele Cometa, La voluttá del dolore. Il Laocoonte nell’Ardin­ ghello di Heinse, in: Cultura Tedesca 19 (2002), 47–66. 86 Die Beobachtung auch schon bei Karl Detlev Jesse, Heinses Stellung zur Bildenden Kunst und ihrer Ästhetik. Zugleich ein Beitrag zur Quellenkunde des Ardinghello, Berlin 1901, 78 f.: „Ablehnend durchaus verhält sich Heinse auch gegen die übermässige Bewertung der allegorischen Darstellung für die Malerei, welche Win­ckel­mann vertritt. Er verwirft gegen Win­ckel­ mann und Mendelssohn die Allegorie in der Malerei durchaus. ‚Alle Allegorien thun in der Mahlerey nicht gut; der Sinn will Wirklichkeit, weil er der Traumbilder nicht gewöhnt ist; den allgemeinen Glauben bey Religion ausgenommen.‘ Ja, er bezeichnet die Allegorie als ausser­ wesentlich für die Kunst, als einen Widerspruch und eine sinnliche Unsinnlichkeit“. 87 Sauder spricht treffend von einem ‚Renaissance-Roman‘. Siehe Gerhard Sauder, Fiktive Renaissance: Kunstbeschreibungen in Wilhelm Heinses Roman ‚Ardinghello‘, in: Silvio Vietta (Hg.), Romantik und Renaissance: Die Rezeption der italienischen Renaissance in der deutschen Romantik, Stuttgart 1994, 61–73. 88 Wenn im Ardinghello von der ‚Allegorie‘ oder ‚allegorisch‘ gesprochen wird – und das kommt kaum zehn Mal vor – so mag folgendes Beispiel dafür charakteristisch sein: „Im vierten und letzten Zimmer, beim Eingang das erste und größte, ist alles bloß nach Raffaels Zeichnungen und Anlage, bis auf zwei Figuren, die er selbst in Öl ganz ausgemalt hat, nämlich die Gerechtigkeit und Gütigkeit, welche, obgleich nur allegorisch und wenig bedeutend, doch mit ihrer Wahrheit und Wirklichkeit alles von Julio Romano und Fattore niederschlagen. Es kömmt einem vor, als ob Raffaels warmes Leben kalt geworden wäre; er ist’s, und ist’s nicht mehr. Er selbst ist ganz lebendig: hier sind’s nur seine Masken. Es fehlt die Bestimmtheit in allen Teilen, fehlen die feinen entscheidenden Züge, die nur von der schöpferischen Phantasie allein unmittelbar in die Hand quellen. Man muß sich zwingen, die Personen wirklich zu sehen; bei ihm kann man nicht anders“ (Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseligen Inseln. Kritische Studienausgabe, hg. von Max L. Baemer, Stuttgart 1998, 211.

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gelassen. Die Theoriediskussionen spielen im Roman selbst schon keine Rolle mehr, der Kampfplatz war schon in den Jahren zuvor verlassen worden – Verlierer und Gewinner eindeutig bestimmt. Im Jahr 1766 erscheinen zwei kunsttheoretische Schriften, die in ganz unterschiedlicher Weise die Stellung der Allegorie betonen. Während Johann Joachim Win­ckel­mann in seinem Versuch einer Allegorie besonders für die Kunst den unbedingten Nutzen der Allegorie betont, verwirft Gotthold Ephraim Lessing gleichzeitig diese Form in seinem Laokoon. Wirkmächtig wurde die zweitgenannte Position, wie an den Überlegungen Wilhelm Heinses gezeigt werden soll. In 1766 two art-theoretical writings appear that emphasize the position of allegory in very different ways. While Johann Joachim Win­ckel­mann emphasizes the unconditional benefit of allegory in his Versuch einer Allegorie besonders für die Kunst, Gotthold Ephraim Lessing discards at the same time this form in his Laocoon. The second-mentioned position was more convincing as will be exemplified by the considerations of Wilhelm Heinse. JProf. Dr. Michael Multhammer, Universität Siegen, Neuere deutsche Literatur, Adolf-Reichwein-Straße 2, D-57068 Siegen, E-Mail: multhammer@germanistik. uni-siegen.de

Pascal Griener La sculpture antique chez les modernes A propos de Johann Joachim Win­ckel­mann

Pour Caroline van Eck 1

Dans son livre Art and Agency (1998), Alfred Gell exprime l’ambition de produire une théorie générale et anthropologique de l’objet qui dépasse les frontières européennes et n’accorde aucun statut spécifique à l’objet d’art.2 D’où son rejet de l’approche esthétique, considérée comme réductrice, et par trop liée à un mode occidental d’appropriation de l’œuvre créée. Certes, au chapitre VII de son ouvrage, Gell semble revenir sur sa décision initiale d’écarter l’esthétique. Mais cette ouverture demeure inexploitée. La décision prise par Gell était sans doute polémique: elle lui a permis de magnifier son opposition catégorique à un type de discours qu’il considérait, d’ailleurs à tort, comme dominant sur l’œuvre d’art. A reconsidérer le problème, il est possible de concevoir, tout au contraire, l’approche esthétique comme une des modalités historiquement déterminées de l’ „agency“ propre à une œuvre d’art, immergée dans la perception humaine et collective. J’effectuerai ma démonstration en abordant un texte fondateur de l’histoire de l’art moderne, qui me semble exemplifier, plus qu’aucun autre texte, l’approche esthétique dénoncée par Gell. En effet, l’historiographe de l’art détient, à mon avis, une fonction capitale dans ce domaine. Par son travail, complémentaire à celui de l’anthropologue, l’historien peut éclairer l’origine de l’approche esthétique, et en étudier les fondements. Or c’est au XVIIIème siècle finissant que ce problème, totalement ignoré par Gell, se noue dans la culture occidentale. Durant cette période, les œuvres sculptées de l’antiquité suscitent un „culte“ tout particulier – les modalités de 1 Cet

article doit beaucoup à un long dialogue fructueux avec Caroline van Eck comme avec son oeuvre; voir son splendide et très important ouvrage: Art, agency and living presence: from the animated image to the excessive object, Boston, Berlin, Munich 2015 (Studien aus dem Warburg-Haus, 16). 2 Alfred Gell, Art and agency an anthropological theory (1998), Oxford 2007; Liana Chua, Mark Elliott (éd.), Distributed Objects: Meaning and Mattering after Alfred Gell, Oxford, New York 2013.

Aufklärung 27 · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISSN 0178–7128

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cette admiration n’ont pas été comprises par Francis Haskell, qui préfère, dans Taste and the Antique (1981), insérer l’histoire de la réception des antiques célèbres dans une vision continuiste, où domine la longue durée.3 A la fin des Lumières, les sculptures antiques font leur entrée dans les premiers musées publics hors d’Italie. Durant la même période, l’analyse anthropologique du fétichisme et de la religion sensibilise les philosophes au fonctionnement originel des antiques, non comme œuvres d’art, mais comme divinités célébrées. D’ailleurs, cette fascination pour la puissance magique des objets, lorsqu’ils assument le passage entre le monde surnaturel et le monde des mortels, touche également la religion chrétienne. Louis-Jean Desprez dépeint une sainte croix transfigurée par la lumière divine, dans une basilique qui ressemble à une caverne sans âge, habitée par la Divinité.4 On peut dire que la perception esthétique et art-historienne s’est construite dans ce chiasme, reconnu comme tel, entre une appropriation antique de la sculpture, et celle qu’induit l’introduction de telles œuvres dans l’espace muséal. Un projet épistémologique s’est ainsi placé à la jointure entre deux modes d’appropriations radicalement distincts d’un objet. Il y a là de quoi nous inspirer. C’est ainsi, et seulement ainsi, que l’on peut de fait comprendre un fait que me semble ne pas avoir été saisi dans toute son ampleur: la fameuse description de l’Apollon Belvedere par Johann Joachim Win­ckel­mann constitue sans aucun doute la plus puissante tentative de méditer ce problème, tel que je l’ai 3 Francis

Haskell, Nicholas Penny, Taste and the antique: the lure of classical sculpture, 1500–1900, New Haven 1981; cette discussion est ici menée à la lumière des références suivantes: Jaś Elsner, Pilgrimage in Graeco-Roman and early Christian antiquity: seeing the gods, Oxford 2010; J. E., Roman Eyes: Visuality and Subjectivity in Art and Text, Princeton 2007; Paul Zanker, The Power of Images in the Age of Augustus, Michigan 1990; P. Z., Roman Art, Malibu 2010; Salvatore Settis, Le futur du classique, Paris 2005; Ruth Weisberg, Twentieth-century Rhetoric. Enforcing Originality and Distancing the Past, dans: Memoirs of the American Academy in Rome, Supplementary Volumes, Vol. 1: The Ancient Art of Emulation. Studies in Artistic Originality and Tradition from the Present to Classical Antiquity (2002), 25–46; Jeremy Tanner, The Invention of Art History in Ancient Greece: Religion, Society and Artistic Rationalisation, Cambridge 2006; Carol Mattusch, In search of the Greek Bronze Original, dans: Elaine K. Gazda (éd.), The Ancient Art of Emulation: Studies in Artistic Originality and Tradition from the Present to Classical Antiquity, Ann Arbor 2002, 99–116; A. A. Donohue, Mark D. Fullerton (éd.), Ancient art and its historiography, Cambridge 2003; Tatjana Bartsch, Marcus Becker, Charlotte Schreiter, The originality of copies: an introduction, dans: Tatjana Bartsch u.a. (éd.), Das Originale der Kopie: Kopien als Produkte und Medien der Transformation von Antike, Berlin 2010 (Transformationen der Antike, 17), 27–43; Miranda Marvin, The Language of the Muses: The Dialogue between Roman and Greek Sculpture, Los Angeles 2008; Hans Jucker, Vom Verhältnis der Römer zur bildenden Kunst der Griechen, Frankfurt 1950; L’Empire des loisirs. l’otium des Romains, Textes réunis par Jean-Noël Robert, précédé d’un entretien avec Georges Vigarello, Paris 2011 (Coll. Signets, 15). 4 Jean-Louis Desprez, L’Illumination de la croix de St Pierre [de Rome]. Dessin à la plume et au lavis. British Museum, Department of Prints and Drawings, inv. 1952,0403.12.



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dessiné.5 Car comment expliquer autrement l’étrangeté d’un tel texte? En effet, sa place comme sa nature font problème au sein de la Geschichte der Kunst des Althertums. D’un style très lyrique, la description fait presque tache dans un ouvrage érudit, rempli de références à la littérature gréco-romaine, et à des comparaisons entre sculptures antiques. Mais surtout, Win­ckel­mann place son Apollon, non dans sa section vouée à l’art grec, mais dans un chapitre consacré à l’art romain de la période impériale. Le prétexte invoqué par l’archéologue peine à convaincre: selon lui, cette statue a été pillée par Néron au sanctuaire de Delphes – elle doit donc figurer dans le chapitre consacré à cet empereur.6 Pour être plus précis, l’Apollon Belvédère est présent en deux endroits: dans la partie consacrée à l’art grec, il constitue un exemplum privilégié au chapitre intitulé: Das Götterbild als Ideal, sans cesse référé, commenté, invoqué, mais non analysé. La magnifique description s’ouvre donc au moment même où la statue a été arrachée à un temple, pour orner la demeure privée d’un empereur. La motivation première de la description est simple: dans une Europe où l’analyse des œuvres accorde presque tout à la seconde main – récits, gravures, dessins etc. - elle lance un manifeste scientifique pour une histoire de l’art entièrement vouée à l’analyse de l’œuvre, dans sa matérialité concrète.7 Elle met en acte une contemplation focalisée à l’extrême sur son objet, dans une immédiateté totale. Elle rejette du même coup tous les médias contemporains, qui se donnaient comme garants légitimes et suffisants d’une perception indirecte. Win­ckel­mann le rappelle dans une lettre à Georg Wille: la description des plus grands antiques de Rome a fondé le projet de la Geschichte.8 L’ancrage de ces descriptions dans le livre marque donc la primauté d’un principe épistémologique – une approche 5 Élisabeth

Décultot, Win­ckel­manns Konstruktion der Griechischen Nation, dans: Gilbert Heß, Elena Agazzi, E. D. (éd.), Graecomania. Der europäische Philhellenismus, Berlin 2009, 39–59; Elisabeth Décultot, Wie Kunst zum Gegenstand von Geschichte wird. Win­ckel­manns Arbeit an organischen Entwicklungsmodellen, dans: Johannes Grave, Hubert Locher, Reinhard Wegner (éd.), Der Körper der Kunst, Göttingen 2007, 13–30; Elisabeth Décultot, Johann Joachim Win­ckel­mann: enquête sur la genèse de l’histoire de l’art, Paris 2000; Johann Joachim Win­ckel ­mann, De la descriptio, publ. par Elisabeth Décultot, Paris 2006. 6 Passage sur la sculpture romaine, à l’époque des empereurs succédant à Auguste: époque de Néron. „Nero war vollends unersättlich und sandte in dieser Absicht den Acratus, einen frevelhaften Freigelassenen, und einen Halbgelehrten, den Secundus Carinas, nach Griechenland, welche alles, was ihnen gefiel, für den Kaiser aussuchten. Aus dem Tempel des Apollo zu Delphos allein wurden fünfhundert Statuen von Erz genommen, und schon vorher waren viele Statuen aus demselben weggeführt. Es ist glaublich, daß Apollo im Belvedere und der sogenannte Fechter von Agasias aus „Ephesus in der Villa Borghese mit unter diesen Statuen gewesen“ (Johann Joachim Win­ckel­mann, Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764, 391). 7 Pascal Griener, La République de l’oeil. L’expérience de l’art au siècle des Lumières, Paris 2010; Élisabeth Décultot, Musées de papier: l’antiquité en livres, 1600–1800, Paris 2010. 8 Lettre de Johann Joachim Win­ ckel­mann à Johann Georg Wille, Rome, 12 janvier 1757, dans: Johann Georg Wille, Briefwechsel, publ. par Elisabeth Décultot, Michel Espagne, Michael Werner, Tübingen 1999, 156–158.

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scientifique confère ici toute priorité à l’analyse intrinsèque et immédiate – et ce principe est exposé comme s’appliquant au livre tout entier. On peut donc dire qu’à ce titre, la description propose la figure d’une immédiateté à l’œuvre d’art. D’autre part, la description offre le modèle pédagogique simple, presque poétique d’une initiation à la perception de l’œuvre d’art – initiation qui engage organiquement tout l’être contemplant, ses sens, sa sensibilité, son intelligence et sa culture. A cet égard, le morceau connut un succès inouï. Son objet – l’Apollon Belvédère – comptait parmi les trésors des collections vaticanes depuis 1511, et à ce titre, il appartenait au patrimoine culturel des élites depuis des siècles.9 D’autre part, ses nombreuses reproductions, éparpillées dans l’Europe entière, permettaient à tout lecteur d’expérimenter, sous la direction du mentor Win­ckel­ mann, une nouvelle manière de contempler l’œuvre d’art dans un espace par essence muséal, puisque copies et original s’exposaient aux regards des modernes, bien longtemps après la mort du paganisme antique. La muséographie vaticane a sanctuarisé cette position: en effet, l’Apollon était exposé dans une niche. Or au moment où un dispositif muséal, dessiné par Alessandro Dori et Michelangelo Simonetti sous Clement XIV (1771–4) place les grandes statues vaticanes dans des chapelles qui les isolent pour mieux les livrer au culte esthétique des modernes, l’histoire de l’architecture contemporaine rappelle que les niches à statues appartenaient au registre de l’architecture profane et particulière, mais non des „des temples, qui n’admettaient ni au dedans ni au dehors l’usage des statues placées dans des niches“.10 Un collègue de Quatremère, Ennio Quirino Visconti, découvre même une inscription qui atteste le terme Zoothèque, qui signifie „thèque“ servant à entreposer des figures/statues.11 Dans le dispositif muséal contemporain à Win­ckel­mann, le chiasme entre profane et sacré est donc pleinement mis en exergue.

9 Francis Haskell, Nicholas Penny, Taste and the Antique. The Lure of Classical Sculpture 1500–1900, New Haven, Londres 1982; Phyllis Pray Bober, Ruth Rubinstein, Renaissance artists and antique sculpture: a handbook of sources, Oxford 1986, cat. 28; voir la nouvelle édition, London 2010. 10 Cortile delle Statue / Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan. Akten des internationalen Kongresses zu Ehren von Richard Krautheimer. Rom, 21. – 23. Oktober 1992, Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut), publ. par Matthias Winner, Bernard Andreae, Richard Krautheimer, Mainz 1998; Antoine-Chrysostome Quatremère de Quincy, Encyclopédie méthodique. Architecture III, Paris 1825, 9 („niche“). Voir aussi Ennio-Quirino Visconti, Monumenti Gabini nelle villa Pinciana, Rome 1797, 130, qui découvre dans une inscription le terme utilisé par les anciens: „Zoothèques“, ou niches, littéralement des „thèques“ à [conserver des] figures; Aubin-Louis Millin, Dictionnaire de beaux-arts, Paris 1806, 3 Vols., Vol. 2, 583 f.. Sur Millin, voir Cecilia Hurley, Monuments for the people: Aubin-Louis Millin’s Antiquités Nationales, Turnhout 2013. 11 Ennio-Quirino Visconti, Monumenti Gabini nelle villa Pinciana, Rome 1797, 130, „Zoothèques“, ou niches, littéralement des „thèques“ à [conserver des] figures.



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Comme nous l’avons dit, l’épistémologie de l’immédiateté incite Win­ckel­ mann à inscrire la figure de la présence dans son texte: c’est donc pour cette raison que cette description prend tout son relief dans la Geschichte, – le texte offre tout à coup la statue dans sa présente présence. Et cette présence est immédiatement associée au numen détenu par la statue à l’époque où elle était un dieu, et non seulement un bloc de marbre. Ce numen était puissant et stable; en effet, les anciens ignoraient tout naturellement qu’ils étaient les producteurs de ce numen, par la vertu de leur croyance même; cette aura conférée aux statues des dieux semblait une force divine, planant au-dessus de leur représentation. La présente présence de la sculpture antique chez les modernes, elle, est reconnue comme le produit d’un investissement du sujet contemplateur dans l’œuvre même, qui lui confère un semblant de vie. La fascination pour la présente présence de la sculpture comporte paradoxalement une admiration nostalgique pour l’époque où le numen était intact; elle repose sur la reconnaissance que l’expérience moderne de la divinité est placée sous l’égide de l’historicité. De plus, la méthode de Win­ckel­mann rencontre immédiatement sa limite – quant au positionnement du contemplateur savant. Roland Recht, dans un magnifique essai sur Karl Philip Moritz et sa critique de Win­ckel­mann, résume ce problème avec brio: Dans la mesure où la description cherche à caractériser à l’aide des mots ce que l’œil voit, elle nous éloigne, nous lecteur, d’une vision synthétique. Or, seule cette vision synthétique est apte à conférer une place historique à l’œuvre singulière, dans le cadre du développement historique de l’art.12

Or, durant la même période, l’ut pictura poesis connaît ses dernières heures. L’œuvre d’art est reconnue comme un objet inassignable au discours, et qu’un commentaire, même infini, ne peut jamais saisir de manière exhaustive. Deuxièmement, l’histoire de l’art selon Win­ckel­mann propose une étude scientifique de l’objet, au terme d’une herméneutique qui repose sur une prise de distance radicale face à l’objet d’étude. Or, comme le résume Hans-Georg Gadamer dans un essai de 1967: „Die Erfahrung der Kunst entgegnet ja der historischen Verfremdung der Geisteswissenschaften mit dem siegreichen Anspruch auf Gleichzeitigkeit, der ihr eignet“.13 12 Roland

Recht, Les enjeux théoriques de la description au début de la Kunstgeschichte. Karl Philipp Moritz critique de Win­ckel­mann, dans: Pascal Griener, Kornelia Imesch (éd.), Klassizismen und Kosmopolitismus – Programm oder Problem? Austausch in Kunst und Kunsttheorie im 18. Jahrhundert, Zürich 2004, 21–44, hier 39. Christof Wingertszahn (éd.), „Das Dort ist nun Hier geworden“: Karl Philipp Moritz heute, Hannover 2010; Helmut Pfotenhauer, Vorbilder. Antike Kunst, Klassizistische Kunstliteratur und Weimarer Klassik, dans: Wilhelm Voßkamp (éd.), Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken, Stuttgart, Weimar 1993, 42–61; H. P., ‚Weimarer Klassik‘ als Kultur des Sichtbaren, dans: Jutta Müller-Tamm (éd.), Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Literatur und bildende Kunst in Klassizismus und Romantik, Freiburg im Breisgau 2004, 145–181. 13 Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, Tü-

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De sa première description analytique de l’Apollon rédigée en 1755 au texte lyrique de 1764, Win­ckel­mann a donc adapté sa perspective. Il comprend qu’une analyse détaillée, presque chirurgicale de l’œuvre ne fait que la fragmenter en dizaines d’observations, bref à la réduire en milliers d’éclats. De plus, dès son premier écrit de 1755, il trahit une véritable fascination pour la puissance énergétique de l’art sur l’humain. La page de titre des Gedanken comporte une représentation du peintre Timanthes.14 Ce peintre antique célèbre tente de peindre l’horreur d’Agamemnon, incapable de jeter un regard sur Iphigénie, sa fille sacrifiée. Grand connaisseur de la rhétorique antique, il opte alors pour un outil cher aux anciens: l’enargeia, c’est-à-dire la production par le discours d’un effet de mise en présence avec l’objet du discours. Ce dernier parvient à éveiller, dans l’esprit des auditeurs, une image prégnante, et dotée d’un puissant effet de présence. Comme Heinrich Plett l’a bien montré, l’esthétique de Baumgarten, au XVIIIème siècle, a su puiser des ressources dans cette technique rhétorique: nascitur inde evidentia, (…) sensitiva, quam alii demonstrationem ad oculum, ad sensus, et palpabilem dixerint, demonstrationis intellectualiter convincentis analogon. Hanc evidentiam, quoniam immediatam, intuitivam et per se patentem plurimi judicant, non raro praeferunt argumentando demum eliciendae, si vel ille maxime tandem intellectum convincat.15

A l’origine, l’effet rhétorique doit tout au discours. L’effet rhétorique consiste en la création d’une mise en présence imaginaire de l’objet, sous la forme d’une image mentale dans l’esprit de l’auditeur; ce dernier croit le voir dans son esprit, mais surtout, cette production d’évidence vaut la soumission d’une évidence d’ordre logique ou mathématique. Win­ckel­mann introduit la forme de l’Apollon du Belvédère dans cette expérience, mais dans un contexte nouveau, qui ne reconnaît plus la vertu de l’Ut pictura poesis; la valeur opératoire de l’evidentia est donc toute nouvelle, cognitive. La démarche est habile. La statue était la plus reproduite de toutes les sculptures de l’antiquité. Win­ckel­mann travaille à construire le lien entre une image mentale prégnante, et une forme connue universellement par ses reproductions multiples. bingen 1993, essai n’ 18 (1967): Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu Warheit und Methode, 232. 14 Johann Joachim Win­ckel­mann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, Dresden 1755, page de tire, vignette d’Adam Friedrich Oeser. Heinrich Dilly, Dresden, 18. Mai 1755 oder Win­ckel­manns erster Interpret, dans: Kai-Uwe Hemken, Bazon Brock (éd.), Bilder in Bewegung. Traditionen digitaler Ästhetik, Köln 2000, 192–205. 15 Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik,publ. par Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, 2 Bde, Vol. 2, § 618; Heinrich Plett, Enargeia in Classical Antiquity and the Early Modern Age: The Aesthetics of Evidence, Leiden 2012, 5.



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L’esthétique de l’idéal, pour Win­ckel­mann, permet de restaurer une énergie dans l’oeuvre; dans sa dimension la plus haute, la sculpture contient une forme invisible, qui brille à travers elle; la forme est le lieu de révélation de l’invisible. Cette esthétique permet à Win­ckel­mann d’opérer à deux niveaux: a. Tout d’abord, d’ancrer une présence invisible, non seulement dans l’original – selon la description de l’Apollon, il semble entièrement façonné sur l’idéal, avec aussi peu de matière que possible – mais dans les copies de l’œuvre, où le regard peut deviner, affleurant sous la forme matérielle inadéquate, l’idée qui l’habite. b. Offrir un modèle visuel à l’exercice de l’evidentia, pour nourrir l’imagination de ses auditeurs. Légitimer l’usage de l’evidentia dans le domaine de l’art, en postulant une corrélation entre l’image mentale et l’image matérielle, l’Apollon d’Homère et l’Apollon Belvédère: „Dieser Apollo übertrifft alle andere Bilder desselben so weit als der Apollo des Homerus den, welchen die folgenden Dichter malen“.16 La première phrase de la description pose la statue comme un miracle, puisqu’elle tire des ruines de l’antiquité un modèle parfait, complet de l’idéal antique. Cet idéal n’est pas à reconstruire au terme d’une herméneutique: il doit se contempler comme présence, qui aurait traversé le temps sans encombre. L’opération initiale repose donc sur une négation du temps. Puis Win­ckel­mann entame sa description en réclamant de l’analyste qu’il adopte la perspective du sculpteur à l’ouvrage – ainsi, l’œuvre peut être étudiée comme tout organique, telle qu’elle est pensée par l’artiste créateur qui taille son œuvre, non encore dans la pierre, mais dans le royaume immatériel des idées. Cette première taille aboutit à créer une matière invisible, mais incandescente que Win­ckel­mann coule ensuite imaginairement dans la forme extérieure de la statue; il la remplit en quelque sorte, et crée ainsi une unité organique dans tous ses membres. Cette unité est immédiatement menacée par l’acte herméneutique propre à l’historien d’art, dans ses deux opérations: d’abord, la lecture du narratif sous-jacent à la sculpture, puis son étude par la comparaison à d’autres formes. Ces deux opérations tendent à éloigner le contemplateur de l’immédiateté à la sculpture, au lieu d’y ramener. Aussi, quand Win­ckel­mann rappelle la composante narrative de la sculpture – Apollon vient de tuer le serpent python, gardien du temple de Delphes, avant de l’approprier - l’archéologue tente aussitôt d’oblitérer cette dimension narrative, qui dans sa violence, sacrifierait le beau au profit de l’expression, le particulier au général. La statue ne comporte que des traces infimes de la violence exercée sur le serpent; le pathos lié au narratif s’absorbe dans la beauté idéale, hors du temps. Quant à l’acte comparatif, il risque de démembrer la sculpture, car la comparaison doit tailler des zones significatives dans l’œuvre, avant de les 16 Win­ckel­mann,

Geschichte der Kunst (note 6), 392.

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mettre en parallèle à des morphèmes analogues, observés sur d’autres statues. Win­ckel­mann transfère cet acte comparatif au plan mythologique – il compare les yeux, le visage, le menton, les sourcils d’Apollon aux détails anatomiques correspondants propres autres dieux de l’Olympe. Ces détails morphologiques ne relèvent pas de l’anatomie pure: ils pointent les atouts majeurs d’une séduction presque érotique sur le spectateur. Ils débouchent tout naturellement sur une déclaration passionnée du contemplateur, qui pris de passion pour la statue, déclare oublier tout l’univers. Le détail des beautés d’Apollon prépare donc la séduction ultime: l’abandon du contemplateur, dans son élan vers la statue. C’est en ce point que Win­ckel­mann opère un basculement capital, en décrivant cet amour comme une modalité de vénération cultuelle: „Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses Wunderwerks der Kunst, und ich nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen“.17 Cet élan d’origine passionnel entraine un moderne dans l’antiquité, et lui permet donc de traverser le temps. L’admirateur savant de l’antiquité peut, grâce à une passion érotique pour la sculpture, oublier son temps et revenir en Grèce antique, à Delphes même, lieu conquis par Apollon sur le serpent Python. La technique de l’evidentia est mise au service de l’herméneute, pour replacer une statue, aujourd’hui muséalisée et arrachée à son lieu originel, dans son contexte authentique, à son époque d’origine. Mais surtout, Win­ckel­mann tire un usage maximal du lieu sacré auquel son imagination l’a conduit: le temple de Delphes, avec son oracle.18 Win­ ckel­mann se donne comme l’oracle même du Dieu: d’ailleurs, dans son texte Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst (1759), l’archéologue affirme: „Ich rede hier wie aus dem Munde des Alterthums“.19 Transporté à Delphes, le corps de l’herméneute devient l’instrument que le Dieu a choisi pour parler aux hommes: la Pythie. Par là, l’herméneutique conquiert une légitimité inouïe – sa parole émane du dieu même. L’imaginaire de la présence, chez Win­ ckel­mann, ne connaît pas de limite: il investit même l’antiquité. Rappelons en effet que dans la Delphes antique, le dieu ne fut jamais une présence visible. Cette dernière était attestée par le biais d’une expérience rituelle opérée devant chaque pèlerin: les prêtres du temple jetaient des gouttes d’eau sur le flanc d’une chèvre: si celle-ci tremblait, le Dieu était présent. La pythie pouvait alors être interrogée, et transmettre les réponses du Dieu aux questions du pèlerin. Si la chèvre ne tremblait pas, le pèlerin était renvoyé, car le signe attestait l’absence du Dieu. Or Win­ckel­mann parle des „Orte (Delphes, Délos) welche Apollo mit 17 Ibid.,

393. Linant de Bellefonds (éd.), Rites et activités relatifs aux images de culte, dans: Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum, Vol. 2, Los Angeles 2004, 417–505; Fernande Hölscher, Kultbild, dans: ibid., Vol. 4, Los Angeles 2005, 52–65. 19 Johann Joachim Win­ckel­mann, Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe, publ. par Walther Rehm, Berlin 22002, 150. 18 Pascale



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seine Gegenwart beehrte“.20 Dans la Delphes reconstituée par l’imaginaire de Win­ckel­mann, l’evidentia, appuyée sur la belle forme statuaire, permet aux fidèles de voir le Dieu lui-même, statue devenue vivante, qui apparait devant son fidèle au terme d’une expérience totale du numen antique. Le moment décisif de l’herméneutique est ici la reconstitution empathique, où l’imagination joue un rôle décisif. Cette projection dans l’antiquité comporte tous les stades: l’expérience d’une présence pleine, un retour à un passé idéal, une evidentia parfaite, une parole qui n’est plus le commentaire arbitraire et toujours infini sur l’œuvre, mais une parole oraculaire, émanant du dieu même, sur son image performante. A la fin de sa description, Win­ckel­mann se glorifie d’avoir donné vie à sa statue, tel un moderne Pygmalion. Mais cet orgueil débouche immédiatement sur un constat d’échec. Le procédé atteste que chez les modernes, l’aura consacrée à une statue ne relève pas du religieux; elle relève d’une techne, c’est-à-dire d’un travail de l’âme humaine sur elle-même, un enthousiasme du contemplateur qui confère une vie précaire, limitée à l’objet de sa contemplation. Cette reconnaissance de ce que Blaise Pascal appellerait la „raison des effets“ mène Win­ckel­mann à la reconnaissance d’une dissymétrie entre l’œuvre d’art, et tout commentaire qui tente d’en rendre justice. Win­ckel­mann distrait son sentiment de désenchantement en offrant le concept de sa description à la divinité, redevenue immobile.21 En écartant l’esthétique de sa théorie, Alfred Gell a manqué l’occasion d’étendre considérablement le champ de son enquête, comme d’identifier le rôle d’une agency au centre même de l’appréciation esthétique. La description de l’Apollon Belvédère par Win­ckel­mann compte parmi les rares textes fondateurs de l’histoire de l’art moderne. Dans cette description, Win­ckel­mann tente désespérément de montrer la continuité existant entre l’approche religieuse et l’approche esthétique de la sculpture antique. La seconde permet de mener à la première, au terme d’une étude herméneutique de l’antiquité où la reconnaissance d’une distance infranchissable, qui nous sépare des anciens, alterne avec l’empathie, qui nous permet de devenir, par la pensée et pour quelques moments, des Anciens parmi les Anciens. Enfin, la description produite par Win­ckel­ mann propose une construction originale de la contemplation, où l’observation d’une forme concrète ne se limite pas à l’analyse stérile d’une objectivité problématique, mais tente de penser la sculpture comme la résultante d’une présence humaine devant un objet façonné par l’homme. Le génie de Win­ckel­ mann et de ses contemporains, est d’avoir opéré cette réflexion anthropologique dans un chiasme – à l’intersection de l’ère moderne et de l’antiquité, de l’ère du scepticisme religieux et celle propre à la foi polythéiste. Lorsque Sir Francis 20 Win­ckel­mann, 21 Blaise

Geschichte der Kunst (note 6), 393. Pascal, Pensées, publ. par Léon Brunschvicg, Pierre Boutroux, Paris 1921.

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Dashwood, un riche aristocrate anglais, se fit portraiturer sous les traits d’un Grand-Touriste en 1742, il exigea de George Knapton qu’il le peignit en moine franciscain, adorant la Venus Medici, calice en main.22 Dans sa verdeur iconoclaste, ce tableau dessine déjà le problème traité par Win­ckel­mann. This contribution tries to analyze, yet again, a famous text by Johann Joachim Winckelmann - his description of the Apollo Belvedere - in the light of the recent „Agency“ theory developed by Alfred Gell (1995). Gell rejects Aesthetics altogether from his approach; this decision may be seen as a great failure. Such a simplification is not viable. We must rethink the whole question of „Agency“,in order to integrate aesthetics into it. The historiography of art may provide the means to achieve this end, by focusing on the second half of the eighteenth century. The description of the Apollo Belvedere may be seen as the most important symptom of the transformation of our intellectual tools in the modern era: the aesthetic perception of antique sculpture developed hand in hand with an anthropological, distanced outlook on antique statues. This is this founding, structural chiasm that we must interpret, if we want to rethink the notion of „Agency“ today. Dieser Beitrag unternimmt den Versuch einer Neulektüre eines der bekanntesten Texte Winckelmanns ‒ seiner Beschreibung des Apollo von Belvedere ‒ vor dem Hintergrund der von Alfred Gell (1995) entwickelten „Agency“-Theorie. Darin lässt Gell die Ästhetik dezidiert außen vor und begeht so eine unzulässige Vereinfachung. Die Frage nach der „Agency“! muss daraufhin überdacht werden, die Ästhetik wieder in ihren Horizont zu integrieren. Hierfür stellt gerade die Kunstgeschichte die notwendigen Mittel bereit, insbesondere mit Blick auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Beschreibung des Apollo von Belvedere ist geradezu symptomatisch für eine Transformation des Denkens, die sich im Jahrhundert der Aufklärung vollzieht: Die ästhetische Wahrnehmung der antiken Skulptur entwickelt sich einhergehend mit einer distanzierten, anthro­ pologischen Inbetrachtnahme antiker Statuen. Dieses strukturelle, ja grundlegende Schisma gilt es neu zu durchdenken, wenn man den Begriff der „Agency“ heute neu in den Blick nehmen will. Pascal Griener, Professeur ordinaire, Institut d’histoire de l’art et de muséologie, Espace Louis-Agassiz 1, CH-2000 Neuchâtel, E-Mail: [email protected]

22 Bruce

Redford, Dilettanti: The Antic and the Antique in Eighteenth-Century England, Los Angeles 2008, 33 f.; Ruth Guilding, Owning the past. Why the English collected antique sculpture, 1640–1840, New Haven 2015.

Katherine Harloe Win­ckel­mann in the perspective of ‚Altertumswissenschaft‘ Christian Gottlob Heyne and Friedrich August Wolf

In no humanities discipline is Win­ckel­mann’s influence more pervasive than in classical studies, particularly in those of its sub-disciplines (ancient history, classical art and archaeology) that interpret the material remains of ancient Mediterranean civilisations. Yet within the perspective of classics Win­ckel­mann can seem, paradoxically, both central and marginal. He is central in that the tradition that celebrates the Geschichte der Kunst des Alterthums as the foundation-stone of modern classical studies is well known, handed down as it is in standard histories of classical scholarship such as those of Sandys, Wilamowitz, and Pfeiffer.1 At the same time, those histories have surprisingly little to say about Win­ckel­ mann’s substantive contributions to the advancement of what Wilamowitz called „eine wirkliche Altertumswissenschaft“.2 Wilamowitz’s Geschichte der Philologie (1921), as a classic in its own right and the foundation of later accounts, epitomizes the genre. Despite his characterisation of Win­ckel­mann’s Geschichte as the source of „der Lebenssaft, der ziemlich alle Zweige unserer Wissenschaft hat wachsen und grünen lassen“, Wilamowitz emphasises Win­ckel­mann’s remarkable life story, his „Sehnsucht nach dem Hellenentum“ and his status as „mit Lessing der erste Deutsche, der auch als Stilist unter unsre Klassiker gezählt werden darf“, rather than his theories about the rise and decline of Greek art or approach to the interpretation of individual monuments.3 Rudolf Pfeiffer gives somewhat more idea of the Geschichte’s character, commenting that „In the outstanding part of the work, in that on Greece, he took up a suggestion made by J. J. Scaliger that there were four ages of Greek poetry, and distinguished four different styles of Greek art 1 John

Edwin Sandys, A History of Classical Scholarship, Bd. 3: The Eighteenth Century in Germany and the Nineteenth Century in Europe and the United States of America, Cambridge 1908, 21–24; Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Geschichte der Philologie, Berlin, Leipzig 1921 (Einleitung in die Altertumswissenschaft, 1/1), 43; Rudolf Pfeiffer, History of Classical Scholarship from 1300 to 1850, Oxford 1976, 167–170. 2 Wilamowitz, Geschichte der Philologie (wie Anm. 1), 41. 3 Ebd., 43.

Aufklärung 27 · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISSN 0178–7128

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as developing in harmony with the national life as a whole“.4 But Pfeiffer still characterises Win­ckel­mann’s principal achievement as the new direction he gave to German letters as a whole. His chapter is titled „Win­ckel­mann, the Initiator of Neohellenism“, and the emphasis throughout is on the „miraculous quickening of the spirit“ produced by a man who was „investigator and seer, and above all master of language“.5 The ambivalence common to Wilamowitz and Pfeiffer’s accounts, which both inscribe Win­ckel­mann prominently in the genealogy of classical scholarship while minimising his concrete contributions to science, has its roots in a longer tradition of public praise for Win­ckel­mann within the community of classical scholars. Wilamowitz’s panegyric echoes the main elements of the ritualized fêting of Win­ckel­mann which arose with the establishment of annual „Win­ckel­ mannstag“ celebrations in German universities and archaeological institutes from the 1840s to the end of the First World War.6 Taking their cue from a suggestion of Goethe’s, on these occasions the intellectual community of classical scholars met together to celebrate their year’s work, award student prizes and diplomas, and commemorate their discipline’s founding hero. The speeches delivered on such occasions adhered to a strong set of generic conventions: copious praise of Win­ckel­mann’s various services to scholarship, arts and letters as supplement to the recounting of his extraordinary life story, all held together by repeated reminders of his exemplary character for the audiences of established and aspiring scholars. Notable for its absence, particularly as the century progressed, was any sustained engagement with Win­ckel­mann’s substantive theories and methods. The persistence of this curious combination of emphatic praise and lack of critical engagement have led to analyses of Win­ckel­mann’s nineteenth-century reception in classics in externalist and ideological terms. Both Suzanne Marchand and Esther Sophia Sünderhauf have connected the nineteenth-century celebration of Win­ckel­mann to the political conditions attending the in4 Pfeiffer,

History of Classical Scholarship (wie Anm. 1), 70. 167, 169. 6 The most detailed exploration of this phenomenon is Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Win­ckel­manns Antikenideal 1840– 1945, Berlin 2004; vgl. auch Suzanne Marchand, Down from Olympus: Archaeology and Philhellenism in Germany, 1750–1970, Princeton 1996, 7–16; Manfred Fuhrmann, Win­ckel­mann: Ein deutsches Symbol, in: Die neue Rundschau 83/2 (1972), 187–236; Adolf Heinrich Borbein, Win­ckel­mann und die Klassische Archäologie, in: Thomas W. Gaehtgens (Hg.), Johann Joachim Win­ckel­mann 1717–1768, Hamburg 1986, 289–300; Stephanie-Gerrit Bruer, Die Wirkung Win­ ckel­manns in der deutschen Klassischen Archäologie des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1994 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur [Mainz]. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 1994/3); Katherine Harloe, Win­ckel­mann and the Invention of Antiquity: History and Aesthetics in the Age of Altertumswissenschaft, Oxford 2013, 1–25. 5 Ebd.,



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stitutionalisation of classics in German universities during the 1840s.7 By this decade, Humboldtian ideals of humanistic education centered around the value of non-utilitarian knowledge were being countered by more practical- and pragmatically-minded reformers. Within the German context, reference to the culture-hero Win­ckel­mann could form a useful reminder of the culturally transformative promise of classical Bildung at a time when it was beginning to be questioned. In an insightful discussion from a practitioner’s perspective, Adolf Borbein adds a number of internalist reasons why Win­ckel­mann’s archaeological achievements had begun to fade into illegibility even by the middle of the nineteenth century. The discovery of antiquities from the fifth and fourth centuries BCE that had been unknown to Win­ckel­mann himself, the increasing tendency of classical scholars to profess value-free, historicist interpretation, and increasing technical and sub-disciplinary specialisation conspired to generate a conception of the nature and scope of classical studies very different to Win­ ckel­mann’s outlook. This growing cleft between classicising and historicising, or humanistic and scientific, understandings of the activity of classical scholars grounded the complaint, heard as early as the 1850s but increasingly frequently as the century progessed, that Win­ckel­mann’s scholarship was „veraltet“.8 In the post-1945 period, extensive questioning of the anti-modern political stance implicit in such a „defensive ideology“ (Sünderhauf) led sometimes to an even more comprehensive rejection. This is apparent in Manfred Fuhrmann’s 1972 essay, „Win­ckel­mann: ein deutsches Symbol“, itself based on a Win­ckel­ mannstag address of 1969.9 Fuhrmann gave an overview of the various political and cultural uses and abuses to which the legend of Win­ckel­mann had been put over the previous half-century, from Goethe’s famous essay of 1805 to the Stefan-George-Kreis. Since such ideological appropriations had now been rejected and Win­ckel­mann’s scientific approaches surpassed by subsequent research, Fuhrmann concluded that the very practice in which he was engaged, the Win­ ckel­mannstag address, was obsolete. Now that the symbol was utterly „verblaßt“, scholars called upon to deliver such speeches should forget Win­ckel­mann and instead turn their attention to „eine kritische Leistung oder ein Problem auf dem Gebiet der Kunst- oder Literaturtheorie“.10 At the same time, however, other voices were beginning to be heard. Nikolaus Himmelmann opened his 1971 discussion of „Win­ckel­manns Hermeneutik“ with the concession that 7 Marchand,

Down from Olympus (wie Anm. 6); Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik (wie Anm. 6), XII, 1–5, 16–18; vgl. auch Suzanne Marchand, Review of Sünderhauf, in: Gnomon 80/2 (2008), 189–191. 8 Borbein, Win­ckel­mann und die Klassische Archäologie (wie Anm. 6), 291–292. 9 Fuhrmann, Win­ckel­mann (wie Anm. 6). 10 Ebd., 282.

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Tatsächlich ist es ja auch für die modernen Spezialisten im Fache gar nicht so einfach, den Weg in die Zeit und das Werk Win­ckel­manns zu finden, die vielmehr Domäne des Germanisten und des neueren Kunsthistorikers geworden sind. Hinzu kommt das erst neuerdings wieder ausgesprochene Vorurteil, daß Win­ckel­mann als Archäologe „erbarmungslos“ veraltet sei.

But he rejected the validity of this claim: Das ist natürlich richtig, wenn man die Aktualität seines Werkes an der Denkmälerkenntnis, an der Chronologie usw. mißt. Es ist aber sicher falsch, wenn man Win­ckel­ manns archäologische Methode ins Auge faßt, die als Grundlage bis in die heutigen Fragestellungen hineinwirkt.11

This author agrees that Win­ckel­mann’s work addresses methodological questions fundamental not only to classical archaeology, but to classical studies in the broadest sense. For despite the technical and sub-disciplinary specialisation noted by Borbein, classical scholars remain on the whole committed to the vision of their discipline set out by F.A. Wolf in his Darstellung der Alterthums-Wissenschaft of 1807 and characterised by Wilamowitz in 1921 as the reconstruction of „die griechisch-römische Kultur in ihrem Wesen und allen Äußerungen ihres Lebens.“12 Win­ckel­mann’s works, and in particular the Geschichte der Kunst des Alterthums, vividly dramatise the perils and pitfalls of the attempt to provide a comprehensive reconstruction of the ancient past on the basis of evidence that is uneven, fragmentary or otherwise incomplete. For the outstanding achievement of that work lay not simply in its arrangement of hundreds of ancient objects in an apparently plausible, chronological series, still less in the heightened descriptions he provided of those considered the most beautiful. Wilamowitz is correct when he locates its value in the fact „daß er [Win­ckel­ mann] eine Geschichte der Kunst, und zwar in Verbindung mit der Geschichte der ganzen Kultur zu schreiben wagte“; a judgement echoed more recently in Élisabeth Décultot’s comment that: Bien plus qu’une histoire strictement artistique de l’Antiquité, cet ouvrage se veut une histoire des conditions politiques, climatiques, sociologiques et biologiques qui ont accompagné le développement des arts chez les Anciens. En un mot, la Geschichte der Kunst se veut l’histoire d’une culture.13

When we turn to Win­ckel­mann’s early reception among classical scholars, we can, moreover, see that engagement with the „system“ of Win­ckel­mann’s Geschichte prompted them to wrestle with a number of methodological issues with relevance beyond the interpretation of material remains. Win­ckel­mann’s works 11 Nikolaus

Himmelmann, Win­ckel­manns Hermeneutik, in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaften Klasse 1971/2. 12 Wilamowitz, Geschichte der Philologie (wie Anm. 1), 1. 13 Élisabeth Décultot, Johann Joachim Win­ckel­mann. Enquête sur la genèse de l’histoire de l’art, Paris 2000, 261.



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raised general questions of historical methodology, such as the status of causal explanations and the limits of permissible use of conjecture, which were pertinent to attempts at reconstructing other areas of ancient history, whether the object of study was the culture of the Etruscans, the distinctive character of the Hellenistic Age or the textual history of Homer. It is in this light that I shall discuss engagements with Win­ckel­mann in the writings of two of his most influential classicist readers: Christian Gottlob Heyne and Friedrich August Wolf, both of whom have long been recognised as playing key roles in the late eighteenth-century disciplinisation of classical studies as „Altertumswissenschaft“.14 It has sometimes been suggested that their responses to the detail of Win­ckel­mann’s historical approach were largely negative; this was, however, not the case.15 Both Heyne and Wolf wrestled with the problems posed by Win­ckel­mann’s account of the cultural and artistic history of ancient Greece, both directly in evaluations of him and in their own scholarship in other areas. While both were highly critical of Win­ckel­mann, and in particular of the over-enthusiastic reception which had greeted his works in the broader literary and intellectual world, their writings also provide evidence of what it was to take the Geschichte seriously as posing a paradigm for historical study of the ancient world. I. Three axes of critical questioning: normativity, teleology, cause Before we turn to examining Heyne and Wolf’s engagement with Win­ckel­mann in detail, it is important to clarify the main aspects under which they saw Win­ ckel­mann’s work as meriting engagement. Discussions of the reaction of disciplinised and institutionalised classical scholarship to Win­ckel­mann’s account 14 Following Most, Preface, in Glenn W. Most (Hg.), Disciplining Classics – Altertumswissenschaft als Beruf, Göttingen 2002, VII-XI, I understand disciplinisation as “the establishment of a defined field of objects of knowledge and a set of methods designed to study it in a regulated and intersubjectively verifiable manner, in such a way as both to create a stable body of information which can be exchanged, examined, and modified synchronically among contemporary researchers in that field and to insure its diachronic transmission to future generations of researchers“. It is therefore distinct from institutionalisation as “the creation of trans-personal organizational systems for the furtherance of specified goals (such as the study of these disciplines) which are taken to be of sufficient importance for society as a whole to justify a substantial financial subvention“; and from professionalisation as „the set of transformative processes which individuals are made to undergo so as to be able to make them appear suitable for fulfilling the functions out of which these institutions are composed“. 15 Vgl. z. B. Hinrich C. Seeba, Johann Joachim Win­ckel­mann. Zur Wirkungsgeschichte eines ‚unhistorischen‘ Historikers zwischen Ästhetik und Geschichte“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), 168–201; Bruer, Die Wirkung Win­ckel­manns (wie Anm. 6), 31–42, 54–8.

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of Greek art and culture have tended to suggest that it was the normative and teleological aspects of his work – his claim that classical Greece represented an unparalleled example of a harmonious and beautiful culture to which moderns should aspire, and his attempt to make the history of Greek art and culture conform to a predetermined scheme of necessity, beauty and superfluity – that presented difficulties, alien as they were to the outlook of the emerging, historicist classical studies.16 While this may be true for the later nineteenth century it is not entirely valid in the cases of Heyne and Wolf; for, as we shall see, neither refrained from asserting the superiority of Greek art and (in Wolf’s case, at least) culture. To focus upon the normative and teleological at the expense of the historical side of Win­ckel­mann’s system is, moreover, to content oneself with a very one-sided picture of his work. For while Win­ckel­mann did indeed project a historical scheme of growth, flowering, and fall; or necessity, beauty, and superfluity at the beginning of the Geschichte, equally important to his endeavour was the attempt to analyse the rise and decline of Greek art in relation to specific historical, cultural and even geographical preconditions.17 It was in such terms that he sought to account for differences in the artistic quality attained by different peoples: claiming, for example, that the Egyptians and Etruscans were blessed with favourable climates, but their disadvantageous institutions worked against this to impede the development of art to its perfection.18 While Win­ckel­mann did hold that art possesses an innate, developmental teleology, the realisation (or, perhaps better, approximation) of this telos by Greek art of the classical period was not a foregone conclusion, and demanded explanation by reference to the „Gründe“ and „Ursachen“ that enabled the Greek achievement (or, conversely, hindered other ancient peoples from equalling it). This causal analysis was of particular interest to his contemporaries, for it seemed to offer promise as application to the ancient world of some of the latest historical thinking. As a young man in Friderician Prussia Win­ckel­mann had been impressed by the works of French ‚philosophic‘ historians such as Montesquieu and Voltaire, who gave attention not only to the proximal causes or accidents of history but also to the broader, ‚moral‘ and ‚physical‘ causes that brought about significant historical occurrences and revolutions and coloured the characteristics of entire peoples and epochs.19 These left their trace on the 16 Zum

Beispiel Borbein, Win­ckel­mann und die Klassische Archäologie (wie Anm. 6). Wolf Lepenies, Johann Joachim Win­ ckel­ mann. Kunst- und Naturgeschichte im achtzehnten Jahrhundert, in: Thomas W. Gaehtgens (Hg.), Johann Joachim Win­ckel­mann 1717– 1768, Hamburg 1986, 221–237; Bruer, Die Wirkung Win­ckel­manns (wie Anm. 6), 9; Luca Giuliani, Naturalisierung der Kunst versus Historisierung der Kunst: Zwei Denkfiguren des 18. Jahrhunderts, in: Glenn W. Most (Hg.), Historicization-Historisierung, Göttingen 2001 (Aporemata, 5), 129–149; Décultot, Johann Joachim Win­ckel­mann (wie Anm. 13), 151–173, 245–292. 18 Vgl. Harloe, Win­ckel­mann and the Invention of Antiquity (wie Anm. 6), 120–123. 19 Vgl. Carl Justi, Win­ ckel­mann. Sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen, Bd.1, 17 Vgl.



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Geschichte; by the 1760s, moreover, the same approaches were undergoing intensive examination and refinement at the hands of German historians such as Johann Christoph Gatterer. In his programmatic essay „Vom historischen Plan“ (1767), for example, Gatterer had advocated a form of historical writing which developed narration of a system of events („System von Begebenheiten“) and elucidated their inner relation („innere Verhältnis“) by laying bare the relation between cause and effect. This ideal, which he termed „pragmatic“ or „philosophical“ history, was contrasted to annalistic methods and unphilosophical orderings which proceeded by arbitrarily or positively defined epochs or eras.20 Like Win­ckel­mann, Gatterer claimed to have found this conception of history in ancient models; and importantly, he admitted the difficulty of discerning such inner relations when clear indications are not given in our sources. To identify them required historical genius, or, as second best, to be a man of action who had first-hand experience of the kinds of actions and contexts of which he wrote. But even „Leute, die in der Studierstube über den Zusammenhang der Dinge speculiren“ could, with some auxiliary assistance, arrive at a sufficient understanding of „das Triebwerk in menschlichen Dingen“, particularly by applying the „Grundsatz“, “daß aus ähnlichen Ursachen ähnliche Wirkungen entspringen, und einerley Mittel zu einerley Zwecke führen“.21 The attention Gatterer gives to the topics of cause and uncertainty testifies to their importance for historical theorising in the 1760s, the decade of Win­ckel­ mann’s greatest productivity. For Heyne in particular, who spent his academic life within the modish intellectual context of Göttingen and was a colleague of Gatterer, Win­ckel­mann’s concern with developing a system of relations of cause and effect seemed to offer a way of aligning the study of Greek and Roman antiquity with the Enlightened historical Wissenschaft of his contemporaries.22

Leipzig 1866, 208–210; Martin Fontius, Win­ckel­mann und die französische Aufklärung, Berlin 1968; Décultot, Johann Joachim Win­ckel­mann (wie Anm. 13), 67–76, 149–168, 261–75. 20 „Man darf also den Plan zur Erzählung der Begebenheiten nicht nach einer geographischen Ordnung, auch nicht nach einzelnen Jahren, und noch weniger nach gewissen Classen der Begebenheiten machen, sondern man ordnet nach Systemen; die Ursachen gehen voran, die Wirkungen folgen, und der Geschichtschreiber, der so verfährt, ist pragmatisch“. Johann Christoph Gatterer, Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen, in: Allgemeine historische Bibliothek 1 (1767), 15–19, hier 80. 21 Gatterer, Vom historischen Plan (wie Anm. 20), 83–84. 22 Vgl. Marianne Heidenreich, Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte, München 2006; more generally, Peter Hanns Reill, The German Enlightenment and the Rise of Historicism, Berkeley, Los Angeles, London 1975; Luigi Marino, Praeceptores Germaniae: Göttingen 1770–1820, Göttingen 1995 (original Italian edition 1975).

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II. Christian Gottlob Heyne More than any other scholar, it was Heyne who first mediated Win­ckel­mannian ideas and approaches within the context of university teaching and scholarship. For much of the nineteenth century Heyne’s reputation was eclipsed by that of Wolf, but recent decades have seen a revival of interest in Heyne and his contributions to the disciplinisation, institutionalisation and professionalisation of classics. Attention has often focused on the transformations he wrought in the Philological Seminar that had been founded by Johann Matthias Gesner, his predecessor in the Chair of Eloquence and Poetry, as well as to his contributions to the study of mythology and the criticism and commentary of Latin poets.23 More immediately relevant to the question of his relation to Win­ckel­mann are, however, his lectures on the study of classical art or „Archäologie“. With these famous lectures, Heyne has the merit of being the first to teach the study of classical art within a university setting.24 By his own admission he was inspired in this innovation by reading Win­ckel­mann’s Geschichte, which in Heyne’s own words „das antiquarische Studium in sein rechtes Gleis gebracht und uns eingeleitet hat, die alten Kunstwerke als Kunstwerke zu studiren.“25 Surviving student notes from Heyne’s lectures, as well as a précis published in 1772 under the title Einleitung in das Studium der Antike, suggest that Heyne did indeed pursue a Win­ckel­mannian approach, at least in those sections devoted to the history of art.26 It is clear that Heyne portrayed the history of ancient art 23 On

Heyne vgl. z. B. Robert S. Leventhal, The Emergence of Philological Discourse in the German States, 1770–1819, in: Isis 77/2 (1986), 243–260; Martin Vohler, Christian Gottlob Heyne und das Studium des Altertums in Deutschland, in: Most (Hg.) Disciplining Classics (wie Anm. 14), 39–54; Sotera Fornaro, I Greci senza lumi. L’antropologia della Grecia antica in Christian Gottlob Heyne (1729–1812) e nel suo tempo, Göttingen 2004; Marianne Heidenreich, Christian Gottlob Heyne und die Alte Geschichte (wie Anm. 22), William Clark, Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago, London 2006; Michael Legaspi, The Quest for Classical Antiquity at Eighteenth-Century Göttingen, in: History of Universities 24/2 (2008), 139–172; Katherine Harloe, Christian Gottlob Heyne and the Changing Fortunes of the Commentary in the Age of Altertumswissenschaft, in: Christopher Stray, Christina S. Kraus (Hg.), Classical Commentaries, Oxford 2016, 435–456. 24 Vgl. Bruer, Die Wirkung Win­ckel­manns (wie Anm. 6), 26–32, who sets Heyne’s lectures in the context of the instruction in the literary and material remains of antiquity offered a generation earlier by Johann Friedrich Christ and Johann August Ernesti. 25 Christian Gottlob Heyne, Sammlung antiquarischer Aufsätze, Bd. 1, Leipzig 1778, VII. Vgl. the memoir of his son-in-law, Arnold Heeren: „Heyne war durch Winkelmanns Werk für das Studium der Kunstgeschichte begeistert worden“. Heeren, Etwas über die Verhältnisse zwischen Heyne und Winkelmann“, in: Deutsches Museum 3 (1813), 517–530, hier 522; Heyne’s own comments in the preface to Christian Gottlob Heyne (Hg.), Kritische Wälder von Johann Gottfried von Herder, Carlsruhe 1829 (first published 1806), V–XII, V–VI. 26 Christian Gottlob Heyne, Einleitung in das Studium der Antike, oder Grundriß einer Anführung zur Kenntniß der alten Kunstwerke. Zum Gebrauch bey seinen Vorlesungen entworfen,



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as a development of progressively superior attempts to express beauty in sensible form, according to which the Greeks outstripped their Egyptian and Etruscan predecessors and improved art to its „höchste Vollkommenheit“. He also took over Win­ckel­mann’s division of Greek art into four period styles, and proposed to explain the „physische und sittliche Ursachen“ of its development. 27 At least for the purpose of his Archaeology lectures, then, Heyne took over both Win­ckel­mann’s normative and teleological premisses. Some of Heyne’s early historical essays also show his interest in pursuing the kind of causal analysis characteristic of philosophical or pragmatic history. One example is his prolusio De genio saeculi Ptolemaeorum, first delivered in 17 September 1763 as part of the University’s anniversary celebrations and published in extended form in the first volume of his 1778–1779 Sammlung antiquarischer Aufsätze. In the judgement of one eminent modern scholar, this little essay provides „a full and sensitive description of Ptolemaic culture, which in its general outlines is surely the equal if not superior to any that has been offered since.“28 Heyne’s discussion of Ptolemaic (i.e., Hellenistic) culture illustrates its general character through its literature, which is characterised by curiosity rather than genius, elegance and delicacy rather than sublimity, pedantry and disputatiousness rather than simplicity and action, and love of the obscure and exotic. But the essay is also concerned with the causes that brought about these characteristics about („caussisque quae quidem harum rerum probabiles afferri possunt“).29 These Göttingen und Gotha 1772. The only existing edition of the student notes to Heyne’s lectures (Akademische Vorlesungen über die Archäologie der Kunst des Alterthums, insbesondere der Griechen und Römer. Ein Leitfaden für Leser der alten Klassiker, Freunde der Antike, Künstler und diejenigen, welche Antikensammlungen mit Nutzen betrachten wollen, Braunschweig 1822) is highly unsatisfactory. A new, digital edition under the directorship of Dr Daniel Graepler is in preparation at www.heyne-digital.de. Vgl. auch Hermann Bräuning-Oktavio, Chr. G. Heynes Vorlesungen über die Kunst der Antike, Darmstadt 1971. 27 „Fortgang von Verbesserung des mechanischen Theils zu der Bearbeitung des poetischen Theils der Kunst. Erst Bilder, dann Kunstwerke, endlich schöne Kunstwerke […] Nicht alle Nationen sind bis zur schönen Kunst fortgegangen. Die schöne Kunst hat sich auch nicht unter einer Nation immerfort erhalten. Die höchste Vollkommenheit der Kunst, von welcher wir wissen, haben die Griechen erreicht. Physische und sittliche Ursachen davon […] In den griechischen Werken wird bemerkt, der ältere Stil, der große und hohe Stil von Phidias an, der schöne Stil von Praxiteles an, um Olymp. 104 v. C. G. 364. etwa 7 Jahr nach der Schlacht bey Leuctra, bis auf Lysipp und Apelles, under Alexandern. Stil der Nachahmer“. Heyne, Einleitung (wie Anm. 26), 10, 12. 28 Oswyn Murray, Ptolemaic Royal Patronage, in: Paul McKechnie, Philippe Guillaume (Hg.), Ptolemy II Philadelphus and His World, Leiden 2008, 7–24, hier 14. 29 „agemus […] de genio saeculi Ptolemaeorum, h.e. de ingenio eius aetatis, de studiorum, quae tum potissimum viguerunt, genere et ratione, et ingeniorum natura ac peculiari charactere, caussisque quae quidem harum rerum probabiles afferri possunt“. Christian Gottlob Heyne, De genio saeculi Ptolemaeorum, in: Heyne, Sammlung antiquarischer Aufsätze (wie Anm. 25), 76–134, hier 79.

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include, prominently, the beneficence of the Ptolemaic kings themselves; but also a series of further conditions: the status of Alexandria as trading centre attracting commerce with peoples from all over the world, the influence of indigenous Egyptian ideas and traditions, a monarchical constitution which excluded the educated classes from public life and their seclusion within the Museum and Library, as well as that more general principle by which human ingenium loses in force and energy the more it gains in civilisation.30 Though it is short (the text of the original prolusio extends only to nine pages), and avoids the terminology of ‚physical‘ and ‚moral‘ causes present in the „Einleitung“, this little essay displays a concern with unfolding the causes of particular cultural constellations consonant with the Win­ckel­mann’s approach in both the „Natur“ section of the Gedanken über die Nachahmung and the Geschichte. Heyne’s writings nevertheless contain an equally strong, and eventually predominant, strand of criticism of Win­ckel­mann. This begins with a highly critical review of Win­ckel­mann’s Monumenti antichi inediti published in the Göttingische Anzeigen in 1768, and pervades the eulogy of Win­ckel­mann Heyne composed for the competition of the Kassel Society of Antiquities in 1777. It is pursued at greatest length, however, in a number of antiquarian essays of the 1770s, many of which were published together in Heyne’s 1778–9 Sammlung antiquarischer Aufsätze. 31 Many of these engage directly with Win­ckel­mann’s Geschichte, and offer the kind of correction and extension to that work that Heyne could reasonably contribute from Göttingen: a thoroughgoing collection, comparison, and criticism of those ancient literary sources upon which Win­ckel­ mann relied, or could have relied, in order to construct the outlines of his historical account.32 While a number of Heyne’s corrections concern individual points of interpretation, the most interesting reveal him wrestling with and questioning Win­ckel­mann’s categories of cause and effect. For example, Heyne’s Berichtigung und Ergänzung der Winkelmannschen Geschichte der Kunst (1771) is arranged as a running commentary upon those early sections of Part 2 of the Geschichte in which Win­ckel­mann had used Pausanias and Pliny to construct a chronology of those artists who lived before the

30 Ebd.

84.

31 [Christian

Gottlob Heyne], [Review of] J.J. Win­ckel­mann, Monumenti antichi inediti spiegati ed illustrati, in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1768, 1857–1864; Lobschrift auf Winkelmann, welche bey der Hessen Casslischen Gesellschaft der Alterthümer den ausgesetzten Preis erhalten hat, in: Arthur Schulz (Hg.), Die Kasseler Lobschriften auf Win­ckel­mann, Berlin 1969 (first published 1778); Heyne, Sammlung antiquarischer Aufsätze, (wie Anm. 25), Bd. 2, Leipzig 1779. Although often attributed to Heyne, the celebratory review of the Geschichte published in the Göttingische Anzeigen was very likely by Christian Adolph Klotz. Vgl. Harloe, Win­ckel­mann and the Invention of Antiquity (wie Anm. 6), 129. 32 Heyne, Sammlung antiquarischer Aufsätze (wie Anm. 25), IX-X.



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time of Phidias.33 Several of Heyne’s points purport to correct particular chronological inaccuracies in Win­ckel­mann’s account on the basis of a more critical treatment of his sources. Heyne’s citation of a chest at Olympia described by Pausanias the Periegete, which had supposedly belonged to the seventh-century Corinthian tyrant Cypselus, is of broader significance. Though Win­ckel­mann had not made reference to this object in Part II of the Geschichte it had shot to prominence during the antiquarian Streit between Lessing and Klotz, and Heyne had treated it at length in a paper a paper read before the Göttingen Society of Sciences in 1770.34 In the Berichtigung Heyne does not, as he did in the earlier essay, deploy Win­ckel­mannian stylistic „Kennzeichen“ in order to reconstruct its appearance in accord with its probable date. Rather, he employs more prosaic lines of historical reasoning to cast general doubt upon Win­ckel­mann’s methods. Pausanias reports that Cypselus had been hidden away in this chest as an infant, and that it had been dedicated by his descendants in gratitude for his survival.35 Heyne points out that if this is true, the chest must date from at least from the first half of the seventh century BCE (older if it was a family heirloom). Despite its antiquity, Heyne comments that Und doch war es von keiner geringen Kunst; es bestand in Schnitzwerk von erhobener Arbeit, in Cedernholz, mit Gold und Elfenbein eingelegt, mit einer grossen Mannigfaltigkeit von Figuren und Vorstellungen.

He draws a general lesson from this for the history of ancient art: Dieß Beyspiel beweißt, wie so viele andere, daß Epochen der Kunst oder der Litteratur nur auf die Allgemeinheit oder Ausbreitung einer Art gehen; einzelne Künstler, einzelne Genies, die für sich bestehen, kommen zu jeder Zeit, vor allen Epochen, vor, und würden vermuthlich eben so gut, und noch eher, Veränderungen im Ganzen veranlaßt haben, wenn äusserliche Umstände sie unterstützt haben. Die ausgeschrienen grossen Genies würden in den Augen eines Genius, der mehreres als wir übersehen könnte, vermuthlich oft manchen verachteten, in einem Winkel arbeitenden, unbemerkten Künstler nachstehen.36

Heyne’s criticisms are inflected by the historical Wissenschaft of his contemporaries, for heightened consideration of the role both of the individual ‚genius‘ 33 Christian

Gottlob Heyne, Berichtigung und Ergänzung der Winkelmannischen Geschichte der Kunst des Alterthums, in: Deutsche Schriften von der Königl. Societät der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben 1 (1771), 204–266. This essay is not reprinted in Heyne’s Sammlung antiquarischer Aufsätze. For further discussion of it vgl. Bruer, Die Wirkung Win­ckel­ manns (wie Anm. 6), 32–33; Harloe, Win­ckel­mann and the Invention of Antiquity (wie Anm. 6), 177–180. 34 Christian Gottlob Heyne, Ueber den Kasten des Cypselus, ein altes Kunstwerk zu Olympia mit erhobnen Figuren; nach dem Pausanias. Eine Vorlesung gehalten in der Kön Deutschen Gesellschaft zu Göttingen den 24. Februar 1770, Göttingen 1770. 35 Pausan. 5.17–19; the story of Cypselus is also recounted at Hdt. 5.92. 36 Heyne, Berichtigung (wie Anm. 33), 224.

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and of the standpoint (Standort, Sehepunkt) of the historian were characteristic of German Enlightenment historiography.37 They also strike at both the teleological and causal premisses of Win­ckel­mann’s account. Heyne’s argument that refinement and adornment existed in Greek art from an early period is intended to refute Win­ckel­mann’s general outline of the history of ancient art as a progression from necessity, through beauty, to superfluity. Moreover, admitting the possibility of individual geniuses existing in every era challenged Win­ckel­ mann’s hypothesis of the stylistic unity of artefacts produced by each people in each era, under its prevailing set of causal conditions. Heyne makes the global consequences of his criticisms of Win­ckel­mann explicit in this essay Über die Künstlerepochen beym Plinius, published as the final essay of the first volume of the Sammlung antiquarischer Aufsätze in 1778. This essay, and the volume which was to follow it, purport to take up where the Berichtigung left off, offering a thorough critique of Win­ckel­mann’s sources „alsdann mit der Zeit zu einem sichern, historischen Gebäude wenigstens den Grund zu legen“.38 This time, Heyne concentrates his criticisms on the uses Win­ckel­mann makes of Pliny’s „floruit“ formulations, which calibrate the names of famous artists to particular Olympiads. Since Pliny often lists several artists as belonging together to this age, Win­ckel­mann had taken the floruits as indicating times when art had particularly blossomed, and attempted to correlate these with those causes or external circumstances – in particular, peace and freedom – which he held to be conducive to great art. Heyne raised both theoretical and historical objections to this interpretation of the floruit, suggesting that the period of an artist’s greatest works and renown might precede or follow, or last far longer, than the shorter period of his ‚flourishing‘ in whatever sense Pliny meant.39 Moreover, he advances his own, alternative explanation of Pliny’s practice: that Pliny took his dates from chronicles not of the history of art, but of general or political history. Pliny’s neat lists which group artists together at particular moments in history reflect those points at which, after finishing an account of a particularly significant event, war, or political leader’s career, his sources found it convenient to give a synchronic overview of other notable actors and events. It was as products of this adventitious process, and not as finely tuned judgements about flourishing and decline in the history of the arts, that Heyne interpreted Pliny’s artistic epochs. As with the issues of individual genius and the historian’s standpoint, the potential arbitrariness of periodic divisions and the question of how best to represent synchronous events were live topics in contemporary historical writing.40 37 Vgl.

Reill, The German Enlightenment (wie Anm. 22), 100–126. Gottlob Heyne, Über die Künstlerepochen beym Plinius, in: Heyne, Sammlung antiquarischer Aufsätze (wie Anm. 25), 165–236, hier 167 f. 39 Ebd., 169 f. 40 Vgl. z. B. Gatterer, Vom historischen Plan (wie Anm. 20), 29–31. 38 Christian



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Heyne’s criticisms of Win­ckel­mann again bear the stamp of his time, but in his detailed commentary on Pliny’s chapters on art and Win­ckel­mann’s use of them, he pushes them so far as to thoroughly discredit the identification of reasons and causes Win­ckel­mann had adduced in his narrative of the history of art. Heyne scoffed at such paradoxical formulations as Win­ckel­mann’s claim that „Die glückseligsten Zeiten für die Kunst in Griechenland, und sonderlich in Athen, waren die vierzig Jahre, in welchen Pericles, so zu reden, die Republik regierte, und während den hartnäckigen Krieg, welcher vor dem Peloponnesischen Kriege, der in der sieben und achtzigten Olympias seinen Anfang nahm, vorher gieng“, citing this passage as evidence of how Win­ckel­mann had been forced to admit exceptions to his general claim that periods of peace and freedom correlated with artistic greatness.41 It was the alleged causal connection between peace, freedom and artistic flourishing that Heyne targeted throughout the Pliny essay, demonstrating one after another that the Olympiads Win­ckel­mann had sought to portray as high points of Greek art corresponded with the breaking of a truce, the depths of war, or some other form of political or social disruption. The lesson he drew was a general one: though freedom may foster attitudes, customs, and practices conducive to artistic greatness, this is not necessarily the case: Aber auch jener Grundsatz, der die Vollkommenheit der Kunst unter der Griechen von der Freyheit ableitet, erfordert, wenn er zutreffen will, so viele Erweiterungen und Einschränkungen, daß am Ende wenig davon übrig bleibt. Allerdings kann die Freyheit von Umständen begleitet werden, welche die Künstlergenies erwecken können: als, Begeisterung oder Ruhmbegierde; aber Freyheit an und für sich kann ein unthätiger, träger, tämischer Zustand seyn; er kann auch von so vielen Unruhen und Bedrängnissen, physischer, sittlicher und politischer Art, beenget werden, daß Kunst und Wissenschaft wenig Eingang finden. Die Freyheit der Griechen ist überdies ein so unbestimmtes, und nach verschiedenen Gegenden und Zeiten Griechenlands so vielartiges Ding, daß alles schwankend wird, was man darauf bauet.42

Rather than freedom, it was prosperity (Wohlhabenheit) and magnificence (Prachtliebe) which had inspired fifth-century Greeks to artistic greatness: beyde können in politischer Freyheit und unter politischer Sklaverey erwachsen, bey Einfalt der Sitten und bey Verfeinerung und Ueppigkeit statt finden, aus Eroberung und Beute, und durch Handlung und Schiffahrt, hervorgebracht werden, und können verhältnißweise nach vielen Stufen auf einerley Weise wirken; beyde können das Antheil von mehrern, oder nur von einigen im Staate seyn.43

41 Win­ ckel­mann,

Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764, 329. Heyne comments that „Die ganze Stelle (und dergleichen giebt es so viele im Winkelmann!) ist aus der Luft gegriffen; in der Geschichte hat sie nichts für sich“. Heyne, Über die Künstlerepochen (wie Anm. 38), 183–184. 42 Ebd. 171 f. 43 Ebd. 172 f.

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Pace Win­ckel­mann, then, there is no set of political or social arrangements that uniquely and universally favours great art. These critiques explain why, throughout the Berichtigung, and the essays collected in the Sammlung, Heyne eschews Win­ckel­mannian methods of establishing chronologies of artists and works. Dependence upon style analysis is avoided in favour of other modes of dating (for example, by dating the historical figures that form the subject-matter of portrait statues and busts). Rather than offering explanations in terms of general causes, Heyne’s attention falls upon the „etwas sehr Zufälliges“ which gives the occasion to production of works of art: „ein Hof, ein Fürst, eine Maitresse, ein Minister, ein Demagog.“44 Yet this methodological individualism comes at the price of sacrificing the continuous and comprehensive perspective offered by Win­ckel­mann’s account of Greek history. Heyne’s abstention from what could not be concluded securely meant that the Sammlung provided not a connected account of the „innere Verhältnis der Begebenheiten“ but just what its title suggests: a collection of critical observations. III. Friedrich August Wolf F.A. Wolf’s relation to Win­ckel­mann is harder to discern than Heyne’s. His writings rarely engage with Win­ckel­mann explicitly, and the most extensive direct treatment – the discussion of Win­ckel­mann’s scholarship contributed to Goethe᾽s laudatory 1805 Winkelmann und sein Jahrhundert – is an invitation piece that may not reflect its reluctant author’s true opinion.45 In that essay Wolf nevertheless finds much to criticise in Win­ckel­mann’s approach. Insofar as he manages to praise Win­ckel­mann, it is by measuring him against the (debased) scholarly and educational standards of mid-eighteenth-century schools and universities. When held up instead against those of the present, and interrogated for that „seltene Mischung von Geisteskälte und kleinlicher, unruhiger Sorge um hundert an sich geringfügige Dinge“ which „die Gesetze geschichtlicher Untersuchung sowie die philologische Kritik“ demand, Win­ckel­mann is revealed as lacking: Unserem Win­ckel­mann, man muß es gestehen, fehlte jenes gemeinere Talent, oder es kam vielmehr bei dem Mangel vollständiger Vorbereitung zu seiner Kunstgeschichte nicht recht zur Tätigkeit, indem er bald nach seinem Eintritt in Italien sich in dem Meere von Schönheit verlor, das den verwandten Sinn, ohne irgendeinen Blick auf die Geschichte, ganz hinzunehmen vermag. 44 Ebd.

173.

45 Friedrich

August Wolf, Win­ckel­mann als Philologe, in: Johann Wolfgang Goethe, Win­ ckel­mann und sein Jahrhundert in Briefen und Aufsätzen. Mit einer Einleitung und einem erläuternden Register von Helmut Holtzhauer, Leipzig 1969 (first published 1805). For the genesis of this essay vgl. Harloe, Win­ckel­mann and the Invention of Antiquity (wie Anm. 6), 133–136.



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But these faults were far outweighed by Win­ckel­mann’s gifts: his “alles beseelendes, das Einzelne verschlingendes Feuer“ and “Gabe der Divination“, which enabled him to break new ground in a field „worauf er so wenige Vorgänger hatte, daß eine kältere Überlegung vor einer solchen Arbeit erschrocken wäre“.46 Although Wolf does not shrink from identifying Win­ckel­mann’s failings from the standpoint of the critically developed scholarship of his own time, he argues for the applicability of Longinus’s maxim that „ein hoher Geist, der mitunter nicht geringe Fehler begeht, den Vorzug vor dem geistlosen Fleiß verdiene, der jeden Irrtum verhütet.“ 47 In particular, it was insofar as Win­ckel­mann possessed these characteristics that he was able to rise above the disjointed observations of his predecessors and arrive „zu dem […], die Blume aller geschichtlichen Forschung ist, zu den großen und allgemeine Ansichten des Ganzen“.48 How ought Wolf’s comments to be interpreted? As already noted, the genre of this piece requires a cautious treatment. Nonetheless, aspects of the characteristics Wolf praises in Win­ckel­mann may also be found in his own writings. In the programmatic Darstellung der Alterthums-Wissenschaft of 1807, Wolf claims notoriously that among all the peoples of antiquity, the Greeks and Romans alone merit study as „das Alterthum“, as they alone developed a „höhere eigentliche Geistescultur“. Because of this, niemand der unsere Studien ein wenig kennt, wird glauben, was durch historische Untersuchungen des Alterthums und durch Bekanntschaft mit den Sprachen und den unsterblichen Werken desselben zur humanischen Ausbildung des Geistes und Gemüths gewonnen wird, eben so vollkommen auf irgend einem andern Wege könne erreichet werden. 49

The thesis of the normativity of Greek works of art and culture is recognisable, even if the emphasis on „Nachahmung“ familiar from Win­ckel­mann has vanished. Elements of Wolf’s presentation also suggest that his ideal of a historical „Alterthums-Wissenschaft“ aspires to a form of history that is „philosophical“. For Wolf also locates the unrivalled pedagogic value of the study of Greco-Roman antiquity in the claim that only the Greeks and Romans have left behind monuments of various kinds sufficient to enable moderns to attain an „innigeres Auffassung ihrer geistigen Organisation und ganzen Eigenthümlichkeit“.50 The ideal of historical investigation he outlines interrogates such inner relations: 46 Wolf,

Win­ckel­mann als Philologe (wie Anm. 45), 242.

48 Ebd.,

243.

47 Ebd.

49 Friedrich

August Wolf, Darstellung der Alterthums-Wissenschaft, in: F. A. W., Kleine Schriften in lateinischer und deutscher Sprache, Bd. 2, hg. von G. Bernhardy, Halle 1869, 808– 895, hier 813 f. (first published 1807). 50 Ebd., 819.

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Auf den Namen der Wissenschaft kann die alte Geschichte ohnehin erst dann Anspruch machen, wann die nothwendigen Sichtungen ihres zerstreuten Stoffes durch Untersuchung der einzelnen Facta befriedigender vollendet und die Ketten der Begebenheiten so durchmustert sein werden, dass nirgends ein Hauptglied ungeprüft blieb; erst alsdann kann die Geschichte, für den Verstand hinreichend vorbereitet, ihre ganz wissenschaftliche Gestalt für die Vernunft empfangen; wodurch sie eben das im Idealen sein muss, was die Natur im Realen ist, und die Welt-Begebenheiten, so weit es die dem Menschen vom Schicksal gestattete Freiheit leidet, nur eine andere Art von Erzeugnissen als die Producte der Natur.51

The attainment of this goal is deferred to the future and made dependent upon a prior collation and criticism of all available sources. Such a demonstration of the inner relation of events nevertheless remains a regulative ideal of historical research. Elements of a philosophical approach to historical reconstruction are also apparent in Wolf’s most famous and justly celebrated work, the Prolegomena ad Homerum of 1795.52 The Prolegomena set out to provide an „interior historia critica“ of the Homeric poems „ad nostrum usque tempus […] ab origine ipsorum“.53 Such an investigation, which stretched back centuries before the earliest literary testimonia, relied on speculative and probabilistic tools of historical reasoning: Nam si non solum indoctorum calumnias amovere, sed ipsas causas instituti ad liquidum perducere velim, multa, quae vulgatibus erroribus implicantur, ad verum revocanda sint; alia, quae tot librorum interitus obscurat, alte repetitis historicis coniecturis illustranda, omniaque confirmanda exemplis, ad communem intelligentiam delectis.54

The language of „physical“ and „moral“ causes is largely absent from Wolf’s account, which cloaks its synthetic historical picture in the language of scepsis. He nevertheless speaks approvingly of haec sollertia philosophandi, qua nos ingenii humani in rebus, inveniendis progressus et mensuram indigavimus, postquam orbem terrae latius circumspicere, atque plurium populorum, simili cultu vitae utentium, habitus et consuetudines comparare didicimus55

51 Ebd., 839, vgl. ebd. 844–847. The influence of Idealist philosophy upon this statement is confirmed by Wolf’s approving citation of Schelling’s Vorlesung über die Methode des akademischen Studiums. 52 Friedrich August Wolf, Prolegomena ad Homerum, sive de operorum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi, Bd. 1, in: F. A. W., Homeri opera omnia, Bd. 1, Halle 1795. An extended version of the argument above is presented in Harloe, Win­ckel­mann and the Invention of Antiquity (wie Anm. 6), 188–192. 53 Wolf, Prolegomena (wie Anm. 52), XXII. 54 Ebd. 55 Wolf, Prolegomena (wie Anm. 52), XLVI–XLVII.



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and his reconstruction of early Greek poetic culture indeed proceeds in such terms, drawing on comparisons with other pre-literate peoples and generalisations from the hypothesised general character of distant times.56 * One of Wolf’s contributions to the development of historical hermeneutics is traditionally held to be the distinction of the „Higher“ and „Lower“ Criticism. In the terms of the Darstellung: Da diese Kunst entweder sich auf handschriftliche Urkunden stützt oder aus innern Beweisgründen etwas aufklärt, wovon es keine Zeugen giebt, zuweilen nicht einmal geben kann, so unterscheidet man hienach eine niedere Kritik, besser eine beurkundende, und eine höhere, die man lieber die divinatorische nennen sollte.57

The primary reference of Wolf’s words here is „philologische Kritik“ in a narrow sense: the study of ancient linguistic monuments. In agreement with his contemporaries, however, he held that the same methods applied within other forms of historical study.58 While Wolf accepted that such divinatory methods might not furnish certainty, he accepted – as Heyne did not – that they had an ineliminable role to play in ‚Altertumswissenschaft’ as a whole: Selten arbeiten beide Gattungen [d.h., höhere und niedere Kritik] getrennt zu ihrem gemeinschaftlichen Zwecke; doch finden sich der Fälle nicht wenige, wo die kritische Divination allein sich zu den höchsten Graden von Wahrscheinlichkeit erhebt; da hingegen die aus den beiden Gattungen zusammengesetzte Kritik den redlichen Suchenden oftmals zu einer Wahrheit leitet, die nicht minder überzeugend ist, als deren die exacten Wissenschaften sich mit Recht rühmen.59 56 Vgl. z. B. Wolf’s arguments about oral transmission among bards in Chapter 24 of the Prolegomena, which rely on generalisations about human mental capacities and comparisons with Italian improvisatory poets, Hebrew prophets, and Druids as reported in Caesar: „Quae omnia, ex illorum temporum ingeniis ac moribus existimata, locum non relinquunt dubitationi, qui fieri potuerit illud, quod factum esse historicae rationes pertinent“. Wolf, Prolegomena (wie Anm. 52), CIV. 57 Wolf, Darstellung (wie Anm. 49), 832. Here as in the Prolegomena, Wolf was influenced by the Biblical scholarship of his time. Vgl. Anthony Grafton, Prolegomena to Friedrich August Wolf, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 44 (1981), 101–129. 58 Vgl. z. B. Wolf’s characterisation of „philologische Kritik“ as the „Basis“ of „geschichtliche Untersuchung“ in Win­ckel­mann als Philologe (wie Anm. 45), 242, or the Prolegomena’s application to the historian of the commonplace comparison of the textual critic to the judge (Wolf, Prolegomena [wie Anm. 52], V). The complaint that classical scholars of this period applied an overly literary or philological approach to the interpretation of visual monuments is made variously against Heyne and Wolf by Bruer, Die Wirkung Win­ckel­manns (wie Anm. 6), and against Win­ckel­mann himself by Himmelmann, Win­ckel­manns Hermeneutik (wie Anm. 13), and A. A. Donohue, Win­ckel­mann’s History of Art and Polyclitus, in: W.G. Moon (Hg.), Polykleitos, the Doryphoros, and Tradition, Madison 1995, 327–353. 59 Wolf, Darstellung (wie Anm. 49), 832.

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Wolf’s 1805 essay on Win­ckel­mann, in the course of which he had attributed the value of the Geschichte to its author’s „Gabe der Divination“, should be viewed in the light of his relatively greater acceptance of conjectural and ‚philosophical‘ methods in the practice of ‚Altertumswissenschaft‘. IV. Conclusion: Dialektik der ‚Altertumswissenschaft‘ In the grand tradition of histories of classical scholarship there is a tendency to portray classical studies as philologia perennis, ever unchanging. Even where, as in Wilamowitz’s account, the story is an evolutionary one, the narrative is still of a constellation of ideas and practices rooted in those, if not of classical Greeks themselves, at least of the scholars of Hellenistic Alexandria. Yet there is also a subdominant tone, associated with figures such as Friedrich Nietzsche and Jacob Burckhardt, according to which the philological and historical impulses which have combined in modern classical scholarship in fact make up a centaur: a contradiction in terms. This understanding of classical scholarship as a dynamic unity formed of multiple elements that may work together or otherwise is consonant with the classic (Wolfian-Wilamowitzian) conception of Altertumswissenschaft as a multidisciplinary endeavour which aims at comprehension of a unified object: antiquity as a whole. Setting aside the question of whether antiquity can or should be understood as „unified“ in the way this conception demands, the very multidisciplinarity of classics, together with the ambitious scope of its object, renders it subject to a series of dialectical tensions: between criticism and synthesis, conservatism and speculation or conjecture, technical/subdisciplinary specialisation and a view of the whole. These have played out in various ways throughout the history of classical scholarship; we may add the familiar phenomenon exemplified by Heyne’s response to Win­ckel­mann: that the tools of a particular form of historical investigation are wielded against that form of investigation itself. It is no coincidence that Win­ckel­mann’s writings provide such fertile ground for considering these tensions as they have affected classical scholarship historically, for they offered a powerful paradigm of what that scholarship might hope to look like at a time when it was being significantly reconfigured. Win­ckel­ mann’s works hold a methodological interest for classical scholarship beyond the field of classical archaeology. Consideration of the responses of his early scholarly readers casts light not only upon his own work, but on some of the constitutive dilemmas of classical studies itself.



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Win­ckel­mann’s writings hold an interest for modern classical studies which is not restricted to the subfield of classical archaeology. Considered in terms of methodology, his writings dramatise problems and questions which attend any attempt to provide a comprehensive account of ancient culture and society. The Geschichte der Kunst des Alterthums provided an influential model of what such a reconstruction might look like in a period when classical philology was undergoing a significant reconfiguration as „Alterthums-Wissenschaft“ at the hands of scholars such as Christian Gottlob Heyne and Friedrich August Wolf. Investigation of their critical responses to Win­ckel­mann’s works aims to contribute to understanding both of the early reception of his works and of questions which are still relevant today. Im Rahmen der modernen Altertumswissenschaften kommt den Werken Win­ckel­manns eine Bedeutung zu, die nicht auf den Bereich der Klassischen Archäologie beschränkt ist. Methodologisch betrachtet, dramatisieren seine Schriften Probleme und Fragen, die jedem Versuch einer umfassenden, erklärenden Rekonstruktion der antiken Kultur und Gesellschaft zugrunde liegen. Die Geschichte der Kunst des Alterthums hat ein einflußreiches Modell dafür geliefert, was eine solche Rekonstruktion in einer Zeit leisten konnte, in der die klassische Philologie einer erheblichen Umstrukturierung als „Alterthums-Wissenschaft“ durch Gelehrte wie Christian Gottlob Heyne und Friedrich August Wolf unterzogen wurde. Die vorliegende Untersuchung ihrer kritischen Reaktionen auf Win­ckel­manns Schriften soll dazu beitragen, sowohl die frühe Rezeption seines Werkes als auch Fragestellungen, die heute noch aktuell sind, besser zu verstehen. Dr. Katherine Harloe, Associate Professor in Classics and Intellectual History, Department of Classics, University of Reading, Whiteknights, PO Box 218, Reading RG6 6AA, United Kingdom, E-Mail: [email protected].

KU R ZBIOGR A PHIE

LUDWIG HEINRICH NICOLAY (1737–1820)

Ludwig Heinrich Nicolay wurde am 29. Dezember 1737 in eine angesehene Straßburger Familie geboren. Seine Vorfahren waren schwedische Adelige, die das Land zum Ende des 16. Jahrhunderts aus politischen und religiösen Gründen verlassen mußten und sich in Lübeck niederließen. Nicolays Großvater Heinrich zog dann in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach Straßburg, wo er nach dem Tod seiner ersten Frau 1696 im Jahr 1700 Apolline, die Tochter des Medizinprofessors Johann Albert Sebitz, heiratete und später selbst Professor der Medizin wurde. Ludwig Heinrichs Vater Christoph (1703/7–1763) war zunächst als Stadtarchivar tätig und wurde später einflußreiches Mitglied des Straßburger Stadtrats, auch durch seine Heirat mit der Tochter des Straßburger Ammeisters Henri Faber, Sophie Charlotte (1720–1746), deren erstes Kind Ludwig Heinrich ist. Nach dem Besuch des protestantischen Gymnasiums immatrikulierte er sich am 25. September 1751 an der Straßburger Universität und studierte Philosophie und Rechtswissenschaften. Als 14jähriger war Nicolay sehr zugänglich für die Verlockungen des Studentenlebens abseits der universitären Studien und verbrachte viel Zeit in Theatern, auf Bällen, in Konzerten und bei Studentenkonventen, wo er unter anderen auf Konrad Pfeffel und Franz Hermann Lafermière traf, deren enge Freundschaft bis an ihr Lebensende halten sollte. In dieser Zeit verfaßte Nicolay auch schon seine ersten Texte, meist nach dem Vorbild seiner

verehrten Klassiker Horaz, Ovid und Tibull, und eiferte gleichermaßen den französischen Dichtern Antoine Houdar de La Motte und Jean de La Fontaine nach. Unter den deutschen Autoren hatte Christian Fürchtegott Gellert den größten Einfluß, mit ihm stand Nicolay seit 1751 in brieflichem Kontakt und sandte ihm Proben seiner ersten Dichtungen zu. 1760, im Jahr seines Abschlusses als Licentiatus Iuris, publizierte er neben seiner Dissertation De Argentinensium in Rheno navigatione commentatio historico-juridica anonym den kleinen Band Elegien und Briefe, der im Anhang zusätzlich einige Oden und Fabeln enthält, stellte daraufhin jedoch seine schriftstellerische Tätigkeit zurück und schloß seine Ausbildung traditionell mit einer Reise nach Paris ab, auf der ihn Lafermière zum Teil begleitete. Dort im Kreise der Enzyklopädisten machte er Bekanntschaft mit dem russischen Botschafter am Hofe Maria Theresias, Graf Dmitrij Michajlovič Golicyn, den er ebenso wie Diderot und d’Alembert im Salon von Julie de Lespinasse kennenlernte. Golicyn stellte ihn als seinen Privatsekretär an und nahm ihn 1761 mit nach Wien. Das enge Vertrauensverhältnis zum russischen Botschafter gewährte Nicolay Zugang zu den intellektuellen Zirkeln der Hofgesellschaft und zu den zahlreichen Mitgliedern der St. Petersburger Aristokratie, die zu dieser Zeit öfter das Rußland wohlgesonnene Wien bereisten. Folgenreich war seine enge Freundschaft mit dem Elsässer Kaufmann und Freiherrn Johann von Fries, der in den

Aufklärung 27 · © Felix Meiner Verlag 2015 · ISSN 0178-7128

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beiden Wiener Jahren bis 1763 persönlich wie intellektuell zu Nicolays wichtigster Bezugsperson werden sollte. Nachdem er 1762 von seinem sterbenden Vater nach Straßburg gebeten worden war, erfüllte Nicolay dessen letzten Wunsch und beabsichtigte, nach dessen Tod 1763 in den Dienst der Vaterstadt zu treten. Vorher jedoch reiste er noch einmal nach Wien, um persönlich Abschied von Golicyn zu nehmen. Auf dem Rückweg wurde er von seinem Freund Fries begleitet, der in Frankfurt vom kaiserlichen Hof den Auftrag einer längeren Geschäftsreise durch Frankreich erhielt, und er lud Nicolay ein, ihn zu begleiten. Diesem kam das Angebot durchaus gelegen, da er der Arbeit in der Straßburger Stadtverwaltung nur aus Pflichtgefühl gegenüber dem Vater und der Familientradition zugestimmt hatte, und so ermöglichte ihm die großzügige Freistellung von seinem Dienst eine fast ein Jahr dauernde Reise, die ihn und Fries über Lyon zu den südlichen und westlichen Seehäfen Frankreichs führte, bis sie über Paris wieder nach Straßburg kamen. Dort trat er wahrscheinlich im Jahr 1764 (der Zeitraum zwischen 1763 und 1768 ist aufgrund widersprüchlicher Angaben noch nicht genau rekonstruierbar) seine vorgesehene Position an, über die es im sechs Seiten umfassenden Manuskript seines Lebenslaufs heißt: „Man ernannte mich zum Sekretairen des Prätorats, eine Stelle, welche mir durch die Trockenheit so wohl meines Chefs, als meiner Geschäfte, bald verdrießlich wurde.“ Wie lange Nicolay seine Tätigkeit im Prätorat tatsächlich ausübte, muß noch ermittelt werden. Wahrscheinlich 1766 (so Edmund Heier; Nicolay selbst schreibt 1764) kam es zu einer folgenschweren Begegnung: Als der Präsident der Petersburger Akademie der Wissenschaften, Graf Kirill Razumovskij, nach Straßburg kam, um seine seit dem 11. Juni 1765 dort immatrikulierten Söhne zu besuchen, bot er Nicolay, den er schon

aus Wien kannte, die Position als Erzieher seines ältesten Sohnes an. Unzufrieden mit seiner Tätigkeit für den Prätor nahm dieser dankend an und begleitete Razumovskij, dessen Sohn Alexej und den Oberkammerherrn Ivan Šuvalov, den Gründer der Moskauer Universität, auf eine mehrjährige Europareise nach Wien, Italien, Frankreich und schließlich England. In Rom, wo er auch auf Johann Joachim Winckelmann traf, erhielt er wahrscheinlich im Frühjahr 1768 zwei Schreiben, die ihm zwei unterschiedliche Zukunftsperspektiven eröffneten. Razumovskij, der die Reisegesellschaft bereits in Wien verlassen hatte, berichtete, daß der Oberhofmeister Katharinas II., Graf Nikita Panin, Nicolay als Erzieher des Großfürsten Paul Petrovič gewinnen wolle. Im zweiten Schreiben wurde er vom Prätor nach Straßburg zurückbeordert, das unabhängig von seiner Entscheidung nun auf dem Weg lag. Dort wurde ihm vom gerade erst seinem Vater im Amt gefolgten Félix-Louis Gayot eine gutbezahlte Stelle an der Universität angeboten, bis sich eine einträgliche Magistratsstelle eröffnen würde, und er bekam zudem die Erlaubnis, den jungen Razumovskij noch auf seinem Weg nach England zu begleiten. Daß Nicolay jemals Vorlesungen gehalten hat, ist unwahrscheinlich. In den Vorlesungsverzeichnissen der Universität ist er als Professor im Wintersemester 1768/69, Sommersemester 1769 und Wintersemester 1769/70 aufgeführt, jeweils mit dem Vermerk, er werde „Institutiones sive Logicas sive Metaphysicas, item Juris Naturae et Gentium“ vortragen, allerdings „post reditum“. Es erwies sich als gute Strategie, daß Nicolay sich vor seiner Weiterreise nach England beide Möglichkeiten offen gehalten hatte. Denn als er in London ankam, erhielt er die Nachricht vom Tod des jungen Prätors nebst der Aufforderung, unverzüglich nach Straßburg zurückzukehren. Die Tatsache, daß eine Anstellung im Magistrat



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seiner Heimatstadt nun nicht mehr unter den versprochenen Voraussetzungen ermöglicht würde, und der Umstand, daß sein enger Freund Lafermière bereits seit 1765 als Erzieher und Bibliothekar in Diensten des russischen Thronfolgers stand, erleichterten ihm die Entscheidung, das von Panin mittlerweile förmlich wiederholte Angebot anzunehmen und nach Ankunft mit den Rasumovskijs in St. Petersburg 1769 dauerhaft dort zu bleiben. Es entwickelte sich schnell eine enge und vertrauensvolle Beziehung zwischen Nicolay und Paul, dem er die westeuropäische Kultur und Literatur nahebrachte und unter anderem Tacitus Agricola und die Einleitung zu William Robertsons Geschichte Karls des V. übersetzte (beide Texte in Verse und Prose 1773). Nicolays Rolle als Erzieher endete 1773 mit der Heirat Pauls mit Prinzessin Wilhelmine von Hessen-Darmstadt: Er wird Kabinettssekretär und Bibliothekar des Großfürsten und ein wichtiger Ratgeber und Begleiter auf dessen Reisen. Als Paul nach dem Tod seiner ersten Frau 1776 eine Reise nach Deutschland unternimmt, um die Hochzeit mit der späteren Kaiserin Marija Fëdorovna vorzubereiten, trifft Nicolay in Berlin auf Friedrich Nicolai und Karl Wilhelm Ramler, deren Bekanntschaft entscheidend für seine künftige schriftstellerische Tätigkeit werden sollte. Im selben Jahr heiratet er die Bankierstochter Johanna Margarethe Poggenpohl, mit der er im folgenden Jahr ihren einzigen Sohn bekommt, der zu Ehren des Großfürsten den Namen Paul erhält. In seiner Zeit als Erzieher, Berater und Sekretär des künftigen Zaren bis zum Tod Katharinas II. 1796 erweiterte Nicolay sein literarisches Spektrum und verfaßte so viele Texte, daß es zu nicht weniger als drei Werkausgaben kam. Sie enthalten neben Elegien, Fabeln, Epigrammen und Episteln auch längere Prosaerzählungen und – was ihm unter Zeitgenossen und Literaturwissenschaftlern dann doch

Aufmerksamkeit einbrachte – Ritterepen nach Wieland, Ariost und Boiardo. Einige längere Texte erschienen zusätzlich (z.T. anonym) als Einzelpublikationen und wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Spätestens seit 1783 lieferte Nicolay auch immer wieder kleinere Texte für poetische Sammlungen oder Periodika – die meisten für Ramlers Fabellese und Voß’ Musenalmanach. Nach Katharinas Tod wurde Nicolay vom neuen Zar Paul zum Staatsrat ernannt und Mitglied des kaiserlichen Kabinetts. Darüber hinaus erhielt er – nachdem er bereits am 10. April 1782 (am selben Tag wie Goethe) von Kaiser Joseph II. in den Reichsritterstand erhoben worden war – mehrere kaiserlich-russische Orden sowie ein Gut von 1500 Bauern in der Provinz Tambow. Wegen seiner zahlreichen politischen und verwaltungstechnischen Aufgaben konnte er sich immer weniger den schöngeistigen Dingen widmen, und diese organisatorische Belastung sollte sich ab April 1798 noch steigern, als er zum Präsidenten der Petersburger Akademie der Wissenschaften ernannt wurde. Nach der Ermordung Pauls 1801 ließ dessen Sohn und Nachfolger Alexander Nicolay in allen Würden und Ämtern, dieser bat jedoch selbst um Entlassung und zog sich 1803 auf sein 1788 von Prinz Friedrich Wilhelm von Württemberg erworbenes Landgut Monrepos bei Wyborg zurück, wo er sich im Kreise seiner Familie und Freunde endlich wieder intensiv literarisch betätigen konnte. 1810 erschienen dann als Band 8 der Vermischten Gedichte und Prosaischen Schriften Nicolays Balladen, ein Jahr später publizierte er bei Friedrich Nicolovius in Königsberg zwei Bände Theatralische Werke mit zuvor anonym einzeln gedruckten Texten, bevor ihm 1817 in Wien von Haas endlich der Wunsch nach einer revidierten Werk­ ausgabe erfüllt wurde. Am 18. November 1820 starb Ludwig Heinrich Nicolay fast vollständig erblindet in Monrepos.

242 Kurzbiographie

Die geringe Beachtung, die das Leben und Wirken Nicolays bislang erfahren haben, steht im Widerspruch zu den zahlreichen potentiellen Ansatzpunkten literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung. Dem relativ hohen kunsthistorischen Interesse an der Architektur und am Landschaftspark von Monrepos steht bislang eine literaturhistorische Indifferenz gegenüber. Außer den Arbeiten von Edmund Heier und der Briefedition von Heinz Isch­reyt gibt es bislang keine nennenswerte Literatur. Sowohl die detaillierte Rekonstruktion von Nicolays Werdegang als auch die Erstellung eines umfassenden Schriftenverzeichnisses inklusive der in Briefen erwähnten, aber schwierig zu ermittelnden Sonder- und Privatdrucke aus der Petersburger Zeit stellen eine Herausforderung für die Nicolay-Forschung dar. Die Erschließung seines Nachlasses in der finnischen Nationalbibliothek wird noch einige Zeit bedürfen, der Verfasser dieser Zeilen erarbeitet gerade eine umfangreichere Biographie sowie historisch-kritische Editionen von Nicolays Elegien und Episteln. Literatur: Ludwig Heinrich Nicolay, De Argentinensium in Rheno Navigatione Commentatio Historico-Juridica, Straßburg 1760; ders., Elegien und Briefe, Straßburg 1760; ders., Verse und Prose, 2 Bde., Basel 1773; ders., Vermischte Gedichte, 9 Bde., Berlin und Stettin 1778–1786; ders., Vermischte Gedichte und Prosaische Schriften, 8 Bde., Berlin und Stettin 1792–1810; ders., Theatralische Werke, 2 Bde., Königsberg 1811; ders., Poetische Werke, 4 Bde., Wien 1817; Peter Bieber, Ein Elsässer am Zarenhofe. Zum 200. Geburtstag Ludwig Heinrich Nicolays, in: Straßburger Monatshefte (Januar 1938), 35–39; Wilhelm Bode, Art. Ludwig Heinrich (v.) Nicolay, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) 23 (1886), 631f.; ders., Ludwig Heinrich von Nicolay, in: Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Litteratur Elsaß-Lothringens 18 (1902), 7–41; Ulrich Breuer, Erinnerter

Austausch. Deutsche Literatur des 18. Jahr­ hunderts im Porträt der Erinnerungen Ludwig Heinrich Nicolays, in: Das deutsche Buch in der Monrepos-Bibliothek. Saksalainen kirja Monrepos’n kirjastossa. Tyska böcker i Monrepos bibliotek. Näyttely/ Utställning 9.3.–27.5.2002, Helsinki 2002, 27–32; Peter von Gerschau, Aus dem Leben des Freiherrn Heinrich Ludwig von Nicolay, weiland Kaiserl. Russischen Geheimraths und des St. Annen-Ordens erster Classe Ritters, hg. von August von Binzer, Hamburg 1834; Edmund Heier, The Encyclopedists and L. H. Nicolay (1737–1820), in: Revue de littérature comparée 36 (1962), 495–509; ders., Wieland’s „Treuester und ähnlichster Anhänger“, Ludwig Heinrich von Nicolay, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 54 (1962), 1–8; ders., William Robertson and Ludwig Heinrich von Nicolay, His German Translator at the Court of Catherine II, in: Scottish Historical Review 41 (Oktober 1962), 135–140; ders., Ariosts „Orlando Furioso“ und Nicolays Ritterepen, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 13 (April 1963), 206–209; ders., L. H. Nicolay (1737–1820) and his Contemporaries, The Hague 1965; ders., Ludwig Heinrich von Nicolay (1737–1820) und sein Verhältnis zu Wien, in: Grillparzer-Jahrbuch, 3. F., Bd. 4 (1965), 109–117; ders., Ludwig Heinrich von Nicolay (1737–1820) as an Exponent of Neo-Classicism, Bonn 1981; Rainer Knapas, Monrepos. Ludwig Heinrich Nicolay och hans värld i 1700-talets ryska Finland, Stockholm 2003; Georges Livet, Art. Louis Henri baron de Nicolaï (Nicolay), in: Nouveau Dictionnaire de Biographie Alsacienne (NDBA) 6, No. 28 (1996), 2837– 2839; ders., Art. Ludwig Heinrich Freiherr von Nicolay, in: Neue Deutsche Biographie (NDB) 19 (1999), 209 f.; Roland Mortier, Diderot et ses „deux petits allemands“, in: Revue de littérature comparée 33 (1959), 192–199. Moritz Ahrens (Siegen)

Philosophischer Kalender 2016

Zukunft

»Wir denken fast gar nicht an die Gegenwart«, räsoniert Pascal, »ein jeder prüfe seine Gedanken: er wird sie alle mit der Vergangenheit oder mit der Zukunft beschäftigt finden« – ob als ungewisse Erwartung, auf die uns der Fortschritt unaufhaltsam zutreibt (Walter Benjamin), als Bühne für techno­ logische Fantasien (Stanislaw Lem) oder einfach in der Hoffnung, sie möge »noch ein bisschen schlafen gelassen« (Franz Kafka).

Die Zukunft war früher auch besser! Karl Valentin Philosophischer Kalender 2016 Zukunft Gestaltung und Konzept: Heike Ossenkop Redaktion und Bildauswahl: Martin Eberhardt und Andrea Lassalle Wandkalender mit 56 Blättern (24,0 x 29,7 cm) Wire-O-Bindung 21,90 Euro ISBN 978-3-7873-2725-6 · Erhältlich ab August 2015 meiner.de/kalender