Auf den Spuren der Schrift: Israelische Perspektiven einer internationalen Germanistik [Annotated] 3110258943, 9783110258943

Das Ziel des vorliegenden Bandes ist es die besonderen Themen, Perspektiven und Aufgaben einer in Israel praktizierten G

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Auf den Spuren der Schrift: Israelische Perspektiven einer internationalen Germanistik [Annotated]
 3110258943, 9783110258943

Table of contents :
Auf den Spuren der Schrift: Israelische Perspektiven einer Internationalen Germanistik. Vorwort
I
Germanistik in Israel oder Die Wiederkehr des Verdrängten
Wieso gibt es eigentlich keine Germanistik in Israel?
Icons Beyond Their Borders: The German-Jewish Intellectual Legacy at the Beginning of the Twenty-First Century
II
Das Neue als Verheißung. Über die Entstehung des Neuen in der deutschen Literaturwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Kulturwissenschaften
Sieben epistemologische Thesen über Wissenschaft und Judentum. more geometrico
Überlegungen zu einer deutsch-jüdischen Literaturwissenschaft
III
The image of the Jew in the work of Peter Henisch: dissolutions and interdependences
Spuren-Suche. Medea als deutsch-jüdische Erinnerungsfigur vor und nach 1945
Walter Benjamin denkt über Karl Kraus nach
Between German and Hebrew: Language and Crisis in the Writings of Gershom Scholem, Werner Kraft and Ludwig Strauss
»Gott ist, in uns aber wird er.« Ein unveröffentlichter Text von Ludwig Strauß über Rainer Maria Rilke
»Ich lebe in meinem Mutterland Wort«. Sprache als Heimat und Poesieimpuls in deutschsprachiger jüdischer Lyrik der Emigration und in Israel
IV
Martin Bubers und Franz Rosenzweigs »Verdeutschung der Schrift« – Linguistische Bemerkungen
Sprachheimat vs. Familiensprache. Die Transformation der deutschen Sprache von der 1. zur 2. Generation der Jeckes
Wurzeln, Schnitte, Webemuster. Textuelles Emotionspotential von Erzählmetaphern am Beispiel von Anne Bettens Interviewkorpus
»Emigrantendeutsch in Israel«
Deutsch im Verhältnis zu anderen internationalen Sprachen – mit Ausblicken auf die Relevanz für die Germanistik in Israel
Personenregister

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Conditio Judaica 80 Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte

Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing

Auf den Spuren der Schrift Israelische Perspektiven einer internationalen Germanistik Herausgegeben von Christian Kohlross und Hanni Mittelmann

De Gruyter

In memoriam Stephane Moses

ISBN 978-3-11-025894-3 e-ISBN 978-3-11-025895-0 %LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen NationalELEOLRJUD¿H GHWDLOOLHUWH ELEOLRJUD¿VFKH 'DWHQ VLQG LP ,QWHUQHW EHU KWWSGQEGQEGH abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ’*HGUXFNWDXIVlXUHIUHLHP3DSLHU Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

Christian Kohlross/Hanni Mittelmann Auf den Spuren der Schrift: Israelische Perspektiven einer Internationalen Germanistik. Vorwort ...................................................

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I Jakob Hessing Germanistik in Israel oder Die Wiederkehr des Verdrängten ................ 7 Mark Gelber Wieso gibt es eigentlich keine Germanistik in Israel? ........................... 19 Steven Aschheim Icons Beyond Their Borders: The German-Jewish Intellectual Legacy at the Beginning of the Twenty-First Century ....................................... 31 II Wilhelm Voßkamp Das Neue als Verheißung. Über die Entstehung des Neuen in der deutschen Literaturwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Kulturwissenschaften ...................................................................... 53 Andreas Kilcher Sieben epistemologische Thesen über Wissenschaft und Judentum. more geometrico .................................................................................... 75 Christian Kohlross Überlegungen zu einer deutsch-jüdischen Literaturwissenschaft .......... 81 III Hanni Mittelmann The image of the Jew in the work of Peter Henisch: dissolutions and interdependences ................................................................................... 97 Inge Stephan Spuren-Suche. Medea als deutsch-jüdische Erinnerungsfigur vor und nach 1945 ....................................................................................... 107

VI

Inhalt

Helmut Arntzen Walter Benjamin denkt über Karl Kraus nach ....................................... 123 Lina Barouch Between German and Hebrew: Language and Crisis in the Writings of Gershom Scholem, Werner Kraft and Ludwig Strauss ..................... 135 Hans Otto Horch »Gott ist, in uns aber wird er.« Ein unveröffentlichter Text von Ludwig Strauß über Rainer Maria Rilke ............................................... 145 Hans-Jürgen Schrader »Ich lebe in meinem Mutterland Wort«. Sprache als Heimat und Poesieimpuls in deutschsprachiger jüdischer Lyrik der Emigration und in Israel ........................................................................................... 163 IV Konrad Ehlich Martin Bubers und Franz Rosenzweigs »Verdeutschung der Schrift« – Linguistische Bemerkungen .................................................................. 193 Anne Betten Sprachheimat vs. Familiensprache. Die Transformation der deutschen Sprache von der 1. zur 2. Generation der Jeckes ................................... 205 Eva-Maria Thüne/Simona Leonardi Wurzeln, Schnitte, Webemuster. Textuelles Emotionspotential von Erzählmetaphern am Beispiel von Anne Bettens Interviewkorpus »Emigrantendeutsch in Israel« .............................................................. 229 Ulrich Ammon Deutsch im Verhältnis zu anderen internationalen Sprachen – mit Ausblicken auf die Relevanz für die Germanistik in Israel ................... 247 Personenregister ........................................................................................... 269

Christian Kohlross/Hanni Mittelmann

Auf den Spuren der Schrift: Israelische Perspektiven einer Internationalen Germanistik Vorwort

Germanistik in Israel, das ist nach allem, was geschehen ist, vor allem eines, keine Selbstverständlichkeit nämlich, sondern eine Herausforderung. Doch worin genau besteht diese Herausforderung? Und für wen stellt sie sich als eine solche dar? Besteht sie vor allem darin, dass die deutsche Sprache, das Medium wie der Gegenstand einer jeden Germanistik also, in Israel für lange Jahre verpönt war? Besteht sie in der als Notwendigkeit empfundenen Aufgabe, das kulturelle Erbe des deutschen Judentums in Israel nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, es vielmehr zu bewahren und, wo immer das möglich ist, wieder fruchtbar werden zu lassen? Und wie kann sich eine Germanistik angesichts der weltweiten und also auch in Israel statthabenden Durchrationalisierung des Universitätssystems in eben diesem Umfeld behaupten? Wem also nützt eine Germanistik in Israel? Und welchen wissenschaftlichen, politischen, kulturellen Zwecken kann, will, soll sie dienen? Solchen und ähnlichen Fragen widmete sich im Dezember 2008 eine von der Abteilung für deutsche Sprache und Literatur an der Hebräischen Universität, Jerusalem in Zusammenarbeit mit dem DAAD veranstaltete Konferenz. Ihr Ziel war es, die besonderen Themen, Perspektiven und Aufgaben einer in Israel praktizierten Germanistik zu untersuchen und vorzustellen. Sie war dabei dem Andenken des langjährigen Direktors der germanistischen Abteilung der Jerusalemer Universität, Stéphane Mosès, gewidmet, der die Abteilung, und damit zugleich die Schwerpunktsetzung einer in Israel praktizierten Germanistik vor mehr als drei Jahrzehnten begründetet hatte. Ihm ging es darum, in Israel nicht nur den (für die Germanistik) traditionellen Kanon der deutschen Literatur zum Gegenstand der Lehre und Forschung zu machen, sondern das auch so zu tun, dass dabei der Akut auf die jüdische Komponente der deutschen Literatur gelegt wird – eine Schwerpunktsetzung, für die der Titel eines seiner Bücher zur Chiffre wurde: Spuren der Schrift. So selbstverständlich aber wie Mosès (auch in der genannten Monographie) nicht nur die im engeren Sinne poetischen Werke zum Kanon der deutsch-jüdischen Tradition rechnete, dem eine israelische Germanistik von nun an verpflichtet war, so selbstverständlich regte er auch eine Erweiterung der Germanistik an, die nicht nur dazu einlud, deutsche und deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte gegen den Strich der üblichen Deutungsschemata zu lesen, sondern auch dazu, Germanistik nicht mehr nur als historische, vergangenes Geschehen beschreibende, sondern auch als theoretische, ja bisweilen sogar spekulative Wissenschaft zu verstehen.

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Christian Kohlross/Hanni Mittelmann

Dieser mit einer Germanistik in Israel verbundenen Herausforderung, das Verhältnis von Theorie und historischer Erfahrung im Rahmen der deutschjüdischen Literatur und Wissenschaft neu zu bestimmen – so neu zu bestimmen, dass daraus die Ziele und Aufgaben einer zukünftigen Germanistik in Israel ersichtlich werden, stellen sich die hier versammelten Beiträge auf vier unterschiedliche Arten: I Bei Jakob Hessing, Mark Gelber und Steven Aschheim geschieht das dadurch, dass sie sich der Geschichte sowie den aktuellen Rahmenbedingungen einer Germanistik in Israel widmen. Jakob Hessing nimmt mit seinem Beitrag Germanistik in Israel oder Die Wiederkehr des Verdrängten dabei einen spezifisch israelischen Blickwinkel ein, aus dem er die historische Situation beschreibt, in der die Disziplin sich in Israel behaupten muss und musste. Sein Beitrag nämlich untersucht, wie eine in Israel praktizierte Germanistik die beiden gänzlich verschiedenen Lösungsversuche der jüdischen Frage durch das Deutsch-Jüdische assimilatorische Experiment und das zionistische Lösungsmodell überbrücken kann. Mark Gelber analysiert mit seinem provokant betitelten Beitrag Why there is no Germanistik in Israel? die internationale Stellung von deutsch-jüdischen Studien als einer eigenständigen Disziplin, die sich zwischen der Germanistik, der Exilforschung, der Holocaustforschung, jüdischen Studien und anderen Disziplinen positioniert. Steven Aschheim wiederum thematisiert in seinem Beitrag »The 21st Century Iconization of (certain) Weimar-German Jewish Intellectuals« die Faszination an einer deutsch-jüdischen Kultur, die zu Beginn der 80er Jahre zur Herausbildung einer eigenen akademische Disziplin führte. Und zwar derart, dass dabei sowohl die Hebräische Universität in Jerusalem als auch andere israelische Universitäten zu einem gleichsam natürlichen Ort der Begegnung für Forscher aus Europa und Amerika wurden. II Wilhelm Voßkamp, Christian Kohlross und Andreas Kilcher gehen demgegenüber der Frage nach, was eine deutsch-jüdische Literaturwissenschaft oder gar eine Wissenschaft des Judentums sein könnte, wenn man deren theoretische Voraussetzungen, sei es im Begrifflichen, sei es in der Literatur, sei es in der Dynamik mit der Theorien und Wissenschaftskonzeptionen einander ablösen, untersucht. So geht Wilhelm Voßkamp in seinem Beitrag Das Neue als Verheißung. Über die Entstehung des Neuen in der deutschen Literaturwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Kulturwissenschaften eben der Frage nach, wie und nach welchen Gesetzmäßigkeiten sich Theorie- und Wissenschaftsevolution im Falle der Germanistik vollziehen und vollzogen haben, um aus diesen allgemeinen, die Germanistik als Ganze betreffenden Überlegungen sodann Folgerungen für die Herausbildung einer israelischen Germanistik oder germanistischen Kulturwissenschaft in Israel abzuleiten.

Vorwort

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Eine Antwort auf die Frage, was es heißt, Neues im Rahmen einer deutschjüdischen Literatur- und Kulturwissenschaft zu erzeugen, gibt Andreas Kilcher in seinen Sieben epistemologische[n] Thesen über Wissenschaft und Judentum, die, more geometrico vorgetragen, dafür votieren, die jüdische Geistes- und Kulturgeschichte als Wissensgeschichte zu rekonzeptualisieren, um so z. B. die Säkularisationsthese und damit das Verhältnis von Wissen und Religion neu bestimmen zu können. Christian Kohlross wiederum untersucht in seinen Überlegungen zu einer deutsch-jüdischen Literaturwissenschaft die Möglichkeit der Entwicklung einer aus der deutsch-jüdischen Literatur selbst hervorgehenden Perspektive auf Literatur, und zwar auf jede Art von Literatur. III Der dritte Teil der Beiträge wird demgegenüber konkreter. Denn die hier versammelten Beiträge zeigen, indem sie die allgemeine Frage des Bandes an Fallbeispielen diskutieren, an sich selbst, was eine Germanistik in Israel sein kann und was ihre bevorzugten Gegenstände und Fragestellungen sind. So untersucht Hanni Mittelmann in ihrem Beitrag The image of the Jew in the work of Peter Henisch: dissolutions and interdependences die Darstellung des Juden in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Das Bild des Juden in der zeitgenössischen Imagination wird dabei zum Anlass einer paradigmatischen Analyse von grundsätzlichen Fragen nach Identität und Alterität. Und Inge Stephans Beitrag: Spuren-Suche. Medea als deutsch-jüdische Erinnerungsfigur vor und nach 1945 (Kolmar, Zweig, Celan, Tabori) richtet sodann seine Aufmerksamkeit auf die Figur der Medea als Projektionsfläche in den Debatten deutscher und jüdischer Schriftsteller über Ethnizität und Rassismus. Mit der Untersuchung von Helmut Arntzen, Walter Benjamin denkt über Karl Kraus nach, der die jüdisch-theologischen Ursprünge im Sprachdenken dieser beiden Metaphysiker nachzeichnet, kristallisiert sich dann immer deutlicher die Sprache als ein ausgezeichneter Gegenstand einer israelischen Germanistik heraus. Das gilt dabei nicht nur für die Beiträge von Lina Barouch (Between German and Hebrew: Language and Crisis in the Writings of Gershom Scholem, Werner Kraft and Ludwig Strauss), Hans Otto Horch (»Gott ist, in uns aber wird er.« Ein unveröffentlichter Text von Ludwig Strauß über Rainer Maria Rilke) und Hans-Jürgen Schrader (»Ich lebe in meinem Mutterland Wort.« Sprache als Heimat und Poesieimpuls in deutsch-jüdischer Lyrik der Emigration und in Israel), die Sprache als ein Medium und Problem des Dichtens wie zugleich des philologischen Nachdenkens über Dichtung in den Mittelpunkt rücken. IV Denn auch der abschließende Teil dieses Bandes widmet sich ganz explizit der Sprache, vor allem der deutschen Sprache in Israel, nur eben nicht mehr aus einer literaturwissenschaftlichen und mitunter spekulativen, sondern aus

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Christian Kohlross/Hanni Mittelmann

einer linguistischen und also empirischen Perspektive. So der Beitrag von Konrad Ehlich Martin Bubers und Franz Rosenzweigs »Verdeutschung der Schrift« – Linguistische Bemerkungen, der an Hand dieser Übersetzung der hebräischen Bibel die gebrochene Kulturbegegnung des Deutschen und des Jüdischen darstellt. Anne Betten, die diese Sektion organisierte, erörtert in ihrem Beitrag Sprachheimat vs. Familiensprache: Die Transformation der deutschen Sprache von der 1. zur 2. Generation der Jeckes, was den Hitler-Flüchtlingen der 30er Jahre die deutsche Sprache in ihrem neuen Leben in Eretz Israel noch bedeutete. Sie geht also der Frage nach, unter welchen Bedingungen und mit welchen Gefühlen das Deutsche im Laufe der Jahrzehnte von diesen Sprechern noch verwendet wurde; sie fragt aber ebenso und darüber hinaus nach den Faktoren, die die Weitergabe des Deutschen an die nachfolgende Generation bestimmt haben. Dabei geht es Anne Betten nicht nur um vielfache Transformationen der Sprache, sondern eben auch ganz besonders um die mit diesem Medium des Denkens und Kommunizierens verbundenen Einstellungen. Im Beitrag von Eva Maria Thüne und Simona Leonardi Wurzeln, Schnitte, Webemuster. Textuelles Emotionspotenzial von Erzählmetaphern in ausgewählten Interviews aus Anne Bettens Israel-Corpus werden dann die Webemuster-Metaphern in der narrativen Verarbeitung, das heißt in den Interviews mit der ersten Generation der deutschsprachigen Einwanderer nach Palästina untersucht. Die abschließende Untersuchung von Ulrich Ammon, Deutsch im Verhältnis zu anderen internationalen Sprachen – mit Ausblicken auf die Relevanz für eine Germanistik in Israel, weitet dann wiederum die Perspektive, indem sie die Stellung der deutschen Sprache in Israel mit der Stellung des Deutschen vergleicht, die ihm in anderen Ländern zukommt.

I

Jakob Hessing

Germanistik in Israel oder Die Wiederkehr des Verdrängten1

Aus historisch komplexen Gründen muss die Germanistik in Israel ein eigenständiger – vielleicht darf man sogar sagen: ein eigenwilliger – Gegenstand bleiben. Weder lässt sie sich unter ›Auslandsgermanistik‹ noch unter den sogenannten ›German-Jewish Studies‹ rubrizieren. Die Auslandsgermanistik ist eine Angelegenheit deutscher Kulturpolitik, einerseits ein Interesse der Bundesrepublik, die deutsche Kultur im globalen Wettstreit konkurrenzfähig zu halten; andererseits eine Möglichkeit, zahlreichen Germanisten jenseits eines schrumpfenden Arbeitsmarktes Anstellungen zu verschaffen. Und die GermanJewish Studies tragen nicht zufällig einen englischen Namen. Der ist weder mit dem Deutschen noch mit dem Jüdischen identifiziert, vielmehr bezeichnet er einen neutralen Boden, von dem aus er seinen Gegenstand zu objektivieren sucht. Seit den 1980er Jahren, so ist überzeugend argumentiert worden, bildet er sich als eine selbstständige Disziplin heraus und ist im Rahmen der Kulturwissenschaften zum Schulbeispiel der Hybridität, im Zeichen der Postmoderne zum Musterfall für kon- und divergierende Narrative geworden.2 Die Germanistik in Israel dagegen steht unter völlig anderen Vorzeichen. Lange gab es in dem jungen Staat einen starken Widerstand gegen alles Deutsche im öffentlichen Raum, Waren und Kultur wurden gleichermaßen boykottiert, und auch die 1965 aufgenommenen diplomatischen Beziehungen wurden noch kein selbstverständlicher Wendepunkt. Die Hirschbibliothek, eine von deutschen Juden in Tel Aviv eingerichtete große Leihbücherei, diente der Botschaft lange als Kulturzentrum, doch da es in der Bundesrepublik keine staatlich gelenkte Kulturpolitik mehr gibt, wurde das Zentrum wieder abgekoppelt und dem politisch unabhängigen Goethe-Institut eingegliedert. Heute hat es auf engstem Raum drei sehr erfolgreiche Zweigstellen – Tel Aviv, Jerusalem, Ramallah –, aber auch hier mussten erhebliche Schwierigkeiten über1

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Die Gedanken dieses Beitrags wurden zuerst auf der Jerusalemer Konferenz entwickelt. In seiner verschriftlichten Form wurde er im September 2010 auf dem Germanistentag in Freiburg vorgetragen. Einen historischen Überblick zur Entstehung der German-Jewish Studies bietet Mark. H. Gelber: German-Jewish Literature and Culture and the Field of GermanJewish Studies. In: Jeremy Cohen and Richard I. Cohen (Eds.): The Jewish Contribution to Civilization. Reassessing an Idea. Oxford, Portland/Oregon: The Littmann Library 2008, S. 165–184.

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Jakob Hessing

wunden werden. 1977 war mit Menachem Begins Partei noch einmal ein deutliches Ressentiment gegen alles Deutsche zur Macht gekommen, und offiziell konnte das Tel Aviver Goethe-Institut erst 1979 eröffnet werden.3 Seit den 1970er Jahren fand die deutsche Kultur auch Einlass in die Akademie. Den Anfang machte die Tel Aviver Universität. Eine Gründung der 50er Jahre, musste sie sich gegen die ältere Hebräische Universität behaupten und konnte in die deutsche Lücke des Jerusalemer Lehrangebots treten. Mit Geldern der Volkswagenstiftung gründete der Historiker Walter Grab 1971 das noch heute bestehende Institut für deutsche Geschichte, und damit war das Eis gebrochen. 1977, wiederum mit Hilfe der Volkswagenstiftung, wurde an der Hebräischen Universität die Abteilung für Deutsche Sprache und Literatur eingerichtet. Sie ist die einzige Abteilung ihrer Art geblieben, und später entstandene Institute – das Koebner Center in Jerusalem, die Zentren für German Studies in Jerusalem und Beerschewa, das Bucerius Center in Haifa – bieten weit gefächerte Pogramme zu deutscher Geschichte und Kultur an, aber keine Germanistik im engeren Sinn. Selbst das Franz Rosenzweig-Zentrum für deutschjüdische Literatur- und Kulturgeschichte ist da keine Ausnahme. 1990 wurde es an der Hebräischen Universität Jerusalem unter anderem mit dem Ziel gegründet, den zukünftigen Lehrstab der deutschen Abteilung auszubilden. Es hat diese Aufgabe aber nie erfüllt,4 und statt der inzwischen ausgeschiedenen oder verstorbenen Dozenten der Abteilung hat die Universität keine jüngeren Lehrkräfte mehr angestellt. Zum Teil hängt das sicherlich mit dem Legitimationsdruck zusammen, unter dem die Geisteswissenschaften, und damit die Literaturabteilungen, heute weltweit stehen. Die Budgets sind geschrumpft, die Universitäten können sich nicht mehr leisten, was sie als »Luxus« ansehen, in einer gewissen Weise aber macht das auch die folgenden Ausführungen prekär. Die Germanistik in Israel, von der hier die Rede sein soll, steht auf einer empirisch sehr schmalen Grundlage und kann nur in exemplarischen Gedankengängen vorgestellt werden: nicht als voll etablierter Lehr- und Forschungsbetrieb mit einer abgesicherten Zukunft, sondern nur als ein idealtypisches Postulat. Theodor Herzls Der Judenstaat, 1896 erschienen, ist das wohl berühmteste Gründungsmanifest des politischen Zionismus, und es ist ein deutscher Text. Schon dieser Umstand lässt ermessen, warum die israelische Öffentlichkeit an ihren geistigen Wurzeln im deutschen Judentum interessiert sein muss, ebenso deutlich aber sind die Widerstände, die dieses Interesse hemmen. »[I]n Basel«, 3 4

Vgl. Verf.: Gerechtes Misstrauen. In: Die Zeit, 12. Mai 2005. Als Forschungszentrum dagegen hat es sich sehr bewährt. Unter anderem arbeitet es die deutsch-jüdischen Nachlässe an der Nationalbibliothek in Jerusalem auf und war maßgeblich an der Kritischen Edition der Werke und Briefe Else Lasker-Schülers beteiligt, die jetzt abgeschlossen ist.

Germanistik in Israel oder Die Wiederkehr des Verdrängten

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schreibt Herzl am 3. September 1897 nach dem ersten Zionisten-Kongress in sein Tagebuch, »habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es Jeder einsehen.«5 Aber als 1948, fast auf das Jahr genau, der Staat Israel ausgerufen wurde, hatte sich die größte Katastrophe in der jüdischen Geschichte ereignet. Sie war von Deutschland ausgegangen und verschüttete daher für lange Zeit auch die deutschen Wurzeln der jüdischen Nationalbewegung. Diese Abspaltung des kollektiven Gedächtnisses von seiner Vergangenheit findet ihr Spiegelbild auf einer Gegenseite, die für den Germanisten von besonderem Interesse ist. Es gibt keinen bedeutenden deutsch-jüdischen Autor der Nachkriegszeit, der seinen Weg nach Israel gefunden hätte. Einer, Arnold Zweig, überlebte den Krieg in Palästina, kehrte dann aber schnell in die DDR zurück; und auch Else Lasker-Schüler, die im Januar 1945 in Jerusalem starb, wäre nicht in Israel geblieben, daran lassen ihre jetzt veröffentlichten Briefe keinen Zweifel.6 Andere Autoren, die erst später hervortraten – Wolfgang Hildesheimer und Edgar Hilsenrath – verbrachten die Kriegszeit teilweise in Palästina, verließen das Land aber schon vor der Staatsgründung; und wieder andere kehrten Deutschland zwar den Rücken, zogen ein selbstgewähltes Exil aber der »Heimkehr« ins Land der Väter vor. Das waren nicht nur Antizionisten wie Peter Weiss oder Erich Fried, sondern auch Befürworter eines jüdischen Staates wie Nelly Sachs und Paul Celan. In einem Brief an Verwandte in Israel bringt er sein Dilemma auf die kürzeste Formel. Es gebe nichts in der Welt, schreibt er kurz nach seiner Ankunft in Paris im Sommer 1948, »um dessentwillen ein Dichter es aufgibt zu dichten, auch dann nicht, wenn er ein Jude ist und die Sprache seiner Gedichte die deutsche [...] Vielleicht bin ich einer der Letzten, die das Schicksal jüdischer Geistigkeit in Europa zuendeleben müssen.«7 Es ist eine merkwürdige Formulierung, mit der Celan hier seine Unfähigkeit begründet, sich von der deutschen Sprache zu lösen: Als »einer der Letzten« müsse er »das Schicksal jüdischer Geistigkeit in Europa zuendeleben«. Die deutsch-jüdische Verbindung, so deutet er an, sei eine europäische Angelegen5 6

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Theodor Herzl: Tagebücher. Berlin: Jüdischer Verlag 1923. Zweiter Band, S. 24. Vgl. den letzten Band der Werkedition: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Band 11. Briefe 1941–1945. Nachträge. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Andreas B. Kilcher. Berlin: Jüdischer Verlag 2010. Die Briefstellen werden zitiert nach: Displaced. Paul Celan in Wien 1947–1948. Hg. von Peter Goßens und Marcus G. Patka, im Auftrag des Jüdischen Museums Wien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 157 sowie Paul Celan – Gisèle Celan-Lestrange. Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Hg. und kommentiert von Bertrand Badiou in Verbindung mit Eric Celan. Anmerkungen übersetzt und für die deutsche Ausgabe eingerichtet von Barbara Wiedemann. Zweiter Band. Kommentar. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 405.

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Jakob Hessing

heit gewesen, und damit spricht er nicht nur eine subjektive, sondern auch eine historische Wahrheit aus. Als der junge Moses Mendelssohn um die Mitte des 18. Jahrhunderts nach Berlin kam und dort zum angesehenen Mitglied einer gebildeten Gesellschaft avancierte, stand die Aufklärung in voller Blüte. Ihr Ziel war universal definiert, nicht partikular; weltbürgerlich, nicht national; das deutsche Judentum, das in der Begegnung von Lessing und Mendelssohn seine Sternstunde hatte, wollte kein altes Ghetto gegen ein neues austauschen, es wollte die Freiheit eines offenen Kulturraums gewinnen; und als Lessing seinem Nathan die Ringparabel in den Mund legte, schrieb er der deutschen Literatur diesen jüdischen Wunsch ein. So zumindest – als eine erste Hypothese israelischer Germanistik – könnte man es lesen. Denn einen europäisch-deutschen Kulturraum hat es auch als politische Alternative gegeben. Aber dass die sogenannte großdeutsche Lösung des habsburgischen Vielvölkerstaates dann der kleindeutschen Lösung Bismarcks weichen musste; dass damit das Nationalprinzip gesiegt hatte und schließlich zum Ersten Weltkrieg führte, zum Anfang vom Ende; dass es im Jahre 1920, als Paul Celan dort geboren wurde, die Bukowina eigentlich gar nicht mehr gab und das »Schicksal jüdischer Geistigkeit in Europa«, das er noch 1948 zuendeleben wollte, schon lange vor Hitler besiegelt war: Das sind die Akte einer Tragödie, deren literarische Spuren der israelische Germanist zu lesen hat. Die Erziehung des Menschengeschlechts, die der Autor des Nathan den Nachgeborenen ans Herz legte, hat zwar nicht stattgefunden, aber Hegels Weltgeist warf in ihr schon seine Schatten voraus. Viele deutsche Juden, die dem göttlichen Versprechen ihrer Bibel nicht mehr trauten, bedienten sich seiner säkularisierten Eschatologie, und der berühmteste unter ihnen war wohl Karl Marx. Auch Marx’ älterer Freund Heinrich Heine gehörte zu ihnen, aber es ist das Erstaunliche an diesem ersten bedeutenden deutsch-jüdischen Dichter, dass er in den 59 Jahren seines Lebens (1797–1856) alle Phasen der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte zwischen 1789 und 1945 bereits vorausnimmt – von der Assimilationsfreudigkeit des Anfangs über die Krise des Selbstverständnisses bis zur problematischen Heimkehr in eine jüdische Tradition. Im Berlin der frühen 1820er Jahre schließt er sich dem von Hegel inspirierten, kurzlebigen Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden an und propagiert auch später, im ersten Jahrzehnt seiner Übersiedlung nach Paris, noch ein hegelianisches Weltbild. Erst nach 1840 erschöpft sich sein Optimismus, und in den langen Jahren seines Sterbens nimmt er Abschied von der Schule, in der er einst gelernt hat. In seinem 1834 erschienenen Buch Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland hatte er Hegel noch gepriesen, doch 1852, im Vorwort zur zweiten Auflage, zählte er ihn zu den »gottlosen Selbstgöttern«,8 von denen er sich nun distanzierte. 8

Vgl. Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. Dritter Band. München: Hanser 1997, S. 510.

Germanistik in Israel oder Die Wiederkehr des Verdrängten

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Siebzig Jahre später wendet sich ein anderer Jude von Hegel ab. Franz Rosenzweig hatte bei Friedrich Meinecke über Hegels politische Philosophie promoviert,9 er hatte sich auch bereits mit dem Gedanken getragen, das Christentum anzunehmen, aber dann fand er zu den Wurzeln seines Judentums zurück und legte diese Erfahrung im Stern der Erlösung10 nieder, seinem im Ersten Weltkrieg entstandenen religionsphilosophischen Hauptwerk. Stéphane Mosès, der 2007 verstorbene langjährige Leiter der deutschen Abteilung in Jerusalem und Gründungsdirektor des Rosenzweig-Zentrums, hat die HegelKritik dargestellt, die diesem Werk zugrunde liegt. Hegel deutet die Geschichte als einen Auf- und Abstieg verschiedener Völker, die den Weltgeist vorantragen, um dann von der Bühne abzutreten. Rosenzweig, schreibt Mosès, »stimmt zwar Hegels These zu, daß der Tod der Völker Bestandteil der Weltgeschichte sei – allerdings nur unter der Bedingung, daß sie an dieser Geschichte wirklich teilnehmen.«11 Für Rosenzweig aber erfüllen die Juden diese Bedingung nicht. Hegel erkläre »die Entstehung des modernen Nationalismus als säkularisierte Form des Auserwähltheitsgedankens«,12 das jüdische Volk freilich kann an dieser Säkularisierung nicht teilnehmen, denn es ist »wesensmäßig von seinem Land getrennt, es ist als solches ein Volk im Exil. [...] Doch meint Exil hier nicht lediglich und vielleicht nicht einmal grundlegend die geographische Entfernung von der Heimat. Exil bedeutet vor allem Trennung als solche, Abstand zur Welt und zur Geschichte. Für Rosenzweig ist das Exil weniger eine politische Realität als eine ontologische Kategorie, die die Seinsweise des jüdischen Volkes definiert.«13 Eine ontologische und zugleich eine messianische Kategorie – so muss Rosenzweigs Argument hier zu Ende gedacht werden, denn seine Abgeschiedenheit hebt das jüdische Volk aus der Geschichte heraus und schützt es vor dem Determinismus des Hegelschen Systems, dem die historischen Völker zum Opfer fallen müssen. Sie sind ein ewiges Volk, das nicht untergehen kann, weil es unter dem Stern der Erlösung steht: Wenige Jahre vor Hitlers Machtergreifung findet ein deutscher Jude in der Auseinandersetzung mit einem deutschen Philosophen seine metaphysischen Wurzeln. Heinrich Heine und Franz Rosenzweig wenden sich von Hegel ab, doch zwischen ihnen, im Wiener Fin-de-siècle, nimmt ein Dritter den National9

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Das 1920 zuerst erschienene Werk liegt jetzt in einer Neuausgabe vor: Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. Hg. von Frank Lachmann. Mit einem Nachwort von Axel Honneth. Berlin: Suhrkamp 2010 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1941). Ursprünglich 1921 erschienen, liegt das Werk u. a. in der Bibliothek Suhrkamp vor: Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988. Stéphane Mosès: Das jüdische Volk, Europa und die Völker der Erde. Zu Franz Rosenzweigs Hegel-Kritik. In: Alexander von Bormann (Hg.): Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe. Würzburg: Königshausen und Neumann 1998, S. 149–157, hier: S. 152. Ebd., S. 154. Ebd., S. 155.

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Jakob Hessing

staatsgedanken auch für sein Volk in Anspruch. Der Einfluss der deutschen Kultur auf die Juden ist vielschichtig, und das von Paul Celan beklagte »Schicksal jüdischer Geistigkeit in Europa« ist schwer zu durchschauen. Mit achtzehn Jahren verlässt Theodor Herzl seine Geburtsstadt Budapest und geht nach Wien, er fühlt sich zu allem Deutschen hingezogen und ist ein Verehrer Bismarcks, aber dann lernt er den Antisemitismus in der österreichischen Hauptstadt kennen. Als Zeitungskorrespondent in Paris berichtet er über den Dreyfus-Prozess, erkennt die hoffnungslose Lage der Juden in Europa und schreibt seine Tragödie »Das Neue Ghetto«.14 Schließlich, 1896, veröffentlicht er das eingangs schon erwähnte Gründungsmanifest des politischen Zionismus, Der Judenstaat. Es ist ein optimistischer Text, der die Notlage seines Verfassers kaschiert und in dessen Einleitung es heißt: Die Juden haben die ganze Nacht ihrer Geschichte hindurch nicht aufgehört, diesen königlichen Traum zu träumen: »Übers Jahr in Jerusalem!« ist unser altes Wort. Nun handelt es sich darum, zu zeigen, daß aus dem Traum ein tagheller Gedanke werden kann. Dazu muß vor allem in den Seelen tabula rasa gemacht werden von mancherlei alten, überholten, verworrenen, beschränkten Vorstellungen. So werden dumpfe Gehirne zunächst meinen, daß die Wanderung aus der Kultur hinaus in die Wüste gehen müsse. Nicht wahr! Die Wanderung vollzieht sich mitten in der Kultur. Man kehrt nicht auf eine niedrigere Stufe zurück, sondern ersteigt eine höhere. Man bezieht keine Lehmhütten, sondern schönere, modernere Häuser, die man sich neu baut und ungefährdet besitzen darf. Man verliert nicht sein erworbenes Gut, sondern verwertet es. Man gibt sein gutes Recht nur auf gegen ein besseres. Man trennt sich nicht von seinen lieben Gewohnheiten, sondern findet sie wieder. Man verläßt das alte Haus nicht, bevor das neue fertig ist.15

Der sprachliche Duktus verrät die politische Propaganda und ihre Widersprüchlichkeit. Die Gegner seines zionistischen Konzeptes, von denen es unter den deutschen Juden sehr viele gab,16 tut Herzl als »dumpfe Gehirne« ab; seinen Anhängern verspricht er »schönere, modernere Häuser«; und alle Schwierigkeiten seines Unternehmens werden bagatellisiert: Die jüdischen Bürger, die hier angesprochen sind, sollen sich in ihren »lieben Gewohnheiten« keineswegs gestört fühlen. Hier geht es nicht darum, die Fragwürdigkeit einer politischen Rhetorik zu entlarven. Die hat Der Judenstaat mit vielen Schriften dieser Art gemeinsam. Sie ist unvermeidbar, denn mit ausgewogenen Argumenten lässt sich eine Utopie, wie es Herzls Programm in seiner Geburtsstunde gewesen ist, nicht 14 15 16

Theodor Herzl: Das neue Ghetto. Wien: Verlag der »Welt« 1897. Zitiert nach der Ausgabe: Theodor Herzl: Der Judenstaat. Zehnte Auflage. Berlin: Jüdischer Verlag 1934, S. 19–20. Den ersten Zionisten-Kongress wollte Herzl ursprünglich in München einberufen, aber das verhinderten die deutschen Rabbiner. Deshalb musste er ihn nach Basel verlegen.

Germanistik in Israel oder Die Wiederkehr des Verdrängten

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durchsetzen. Uns soll hier nur ein bestimmter Aspekt dieser Rhetorik interessieren, eine Intertextualität, die Herzl zunächst evoziert und dann gleich wieder zurücknimmt. Die »ganze Nacht ihrer Geschichte hindurch«, so heißt es, hätten die Juden »nicht aufgehört, diesen königlichen Traum zu träumen. ›Übers Jahr in Jerusalem!‹ ist unser altes Wort.« Herzl spielt auf die Pessach-Liturgie an, auf den heiligen Text, der am jährlichen Sederabend gelesen wird und an den Auszug aus Ägypten erinnert: an den Gründungsakt des Judentums, in dessen Zentrum das Sinaiereignis und schließlich die Landnahme steht. Herzl stellt seine Streitschrift in eine erhabene Tradition, dann aber sagt er es anders. »So werden dumpfe Gehirne zunächst meinen«, fährt er nämlich fort, »daß die Wanderung aus der Kultur hinaus in die Wüste gehen müsse. Nicht wahr! Die Wanderung vollzieht sich mitten in der Kultur.« Nicht nur der politische Leser wird hier stutzig, sondern auch der Literaturwissenschaftler. Darf, so fragt er sich, auf solche Weise mit den Metaphern jongliert werden; wenn Herzl die Wüste aus seinen biblischen Anspielungen herausnimmt, worauf greift dann sein ›königlicher Traum‹ zurück? Er war schon lange tot, als Franz Rosenzweig den Stern der Erlösung veröffentlichte, aber dort hätte er eine Fundamentalkritik an seinem Judenstaat lesen können. Die Apotheose des Staates, schreibt Rosenzweig gegen Hegel, ist ein verfehltes Unternehmen, weil jede Nationalbewegung eine politische, nie aber eine messianische Kategorie ist. Und auch ein anderes deutsch-jüdisches Werk aus dieser Zeit widerlegte Herzls Rhetorik. Es wurde schon früher als Rosenzweigs Religionsphilosophie geschrieben, entstand in den Gründerjahren der zionistischen Bewegung, wurde aber erst 1900 veröffentlicht. »Nun handelt es sich darum, zu zeigen«, heißt es in der oben zitierten Anspielung auf die Pessach-Liturgie, »daß aus dem Traum ein tagheller Gedanke werden kann.« Unweit von Herzls Haus in Wien jedoch schrieb Sigmund Freud fast gleichzeitig das Gegenteil. In seiner Traumdeutung wies er nach, dass wir genau deshalb träumen, weil sich unsere Wünsche nicht erfüllen lassen: Die Kultur, mit der Herzl gegen die Wüste auftrumpft, hindert uns daran, sie in die Tat umzusetzen. Ist es legitim, bei den hier zur Sprache gekommenen Texten noch von Germanistik zu reden? Sind Herzls Judenstaat, Rosenzweigs Stern der Erlösung oder Freuds Traumdeutung noch überzeugende Beispiele für die ›deutsche Literatur‹? Eine legitime Germanistik – nach wessen Gesetzen? Natürlich ist es kaum zu erwarten, dass solche und ähnliche Texte an deutschen, japanischen oder amerikanischen Universitäten im Syllabus einer germanistischen Veranstaltung auftauchen werden. In Deutschland wird man einen großen Teil der Germanistikstudenten auf das Lehramt vorbereiten, auf Inhalte, die an den deutschen Schulen zu vermitteln sind und zu denen auch ein respektvoller Bezug auf den ›jüdischen Beitrag‹ zur deutschen Literatur gehört; in Tokyo wird die Auslandsgermanistik um eine globale Verortung ihres Angebots bemüht sein;

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und in den Vereinigten Staaten, wo die German-Jewish Studies in Blüte stehen, kommt eine Interkulturalität in den Blick, die im Interesse der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft liegt Aber hier geht es nicht um all dies, hier geht es um eine Germanistik in Israel. Will man sie definieren, so müssen zunächst ihre Rahmenbedingungen abgesteckt und erste Leitfragen gestellt werden. In den frühen Jahren vor und nach der Staatsgründung war man in Israel bemüht, sich neu zu entwerfen. Dazu gehörte die Verdrängung aller Erinnerung an das Exil, die Galuth, und das betraf nicht nur die deutsch-jüdische Erfahrung. Auch andere Aspekte der Diaspora wurden ausgegrenzt, wie das Deutsche war auch das Jiddische verpönt, die Exilsprache par excellence. In den letzten Jahrzehnten hat sich das geändert. Eine traumatische Landesgeschichte hat das zionistische Selbstverständnis erschüttert, und in zunehmendem Maße wird der Blick in die eigene Geschichte wieder zugelassen. So findet sich eine wachsende Literatur israelischer Autoren, die aus arabischen Ländern stammen und ihre dortige Vergangenheit nicht mehr verbergen. Und ein aufschlussreiches Indiz macht sichtbar, dass man sich in Israel auch immer einer deutschen Verbindung bewusst gewesen ist. Gemeinhin werden die Einwandererwellen, aus denen sich die jüdische Landesbevölkerung zusammensetzt, in Sepharden und Aschkenasen unterteilt, in Juden, die ursprünglich aus dem spanischen Kulturraum kommen, und die anderen, die aus Aschkenas stammen. Ein Enkel des Noah, soll Aschkenas nach jüdischer Mythologie der Urahn der Deutschen sein:17 Wie das aus dem Mittelhochdeutschen überkommene Jiddisch ist auch der Name dieses Judentums ein untrügliches Zeichen für eine Verbindung zum Deutschen, die weit hinter die Begegnung von Lessing und Mendelssohn zurückgeht. Wer eine ganz eigene, selbstständige Germanistik für Israel postuliert, tut es im Interesse einer Gesellschaft, die sich seit der Staatsgründung und mehr noch seit dem Sechs-Tage-Krieg des Jahres 1967 am Scheideweg befindet. Sie muss sich über ihre Identität klar werden, und der Blick auf die deutschjüdische Kultur und Literatur bietet da viele Aufschlüsse. An einigen Beispielen wurde das schon zu zeigen versucht, und wir wollen noch einmal zu ihnen zurückkehren. Lessings Nathan der Weise lässt sich, wenn man so will, als Magna Carta des deutschen Judentums lesen, das am Vorabend der Französischen Revolution schon im Entstehen war. Aber ist es wirklich so, stellt Lessing seinen Nathan nicht eher als alten Mann dar, der keine Nachkommen mehr haben wird, als den letzten Juden in Jerusalem? War es nicht sein aufklärerisches Vorhaben, das Judentum, und nach ihm alle historischen Religionen, aus der Welt zu schaffen?

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Zur Ableitung des Begriffes, vgl. Encyclopedia Judaica. Corrected Edition. Jerusalem o. J. (1971), vol. 3, Sp. 719–720.

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Was sich der Aufklärer auch gewünscht haben mag: Lessing hat nicht Recht behalten, und Nathan ist nicht der letzte Jude in Jerusalem geblieben. Heißt das aber, dass wir von ihm nichts mehr zu lernen haben? Sollte uns Lessings Saladin unberührt lassen, seine Vorstellung von einem großzügigen muslimischen Herrscher, dem auch der Jude, wie Nathan, nun seinerseits in Großzügigkeit begegnen könnte?18 Zwei Generationen später, bei Heinrich Heine, hat der Horizont sich schon verdunkelt. Am Anfang seiner Dichterlaufbahn versucht er sich an einem jüdischen Roman, das Fragment des Rabbi von Bacherach beginnt er noch als Mitglied des Culturvereins, aber der Dichter weiß es besser als der Hegelschüler. In seinem poetischen Werk kennt Heine keinen Optimismus, er beschreibt einen Seder-Abend, der in der Katastrophe endet: Die jüdische Gemeinde von Bacherach wird des Ritualmordes beschuldigt, und vor dem drohenden Pogrom fliehen der Rabbi und seine Frau aus dem Städtchen.19 Am Ende des Jahrhunderts wird Theodor Herzl im Judenstaat die PessachLiturgie noch einmal bemühen, um sein politisches Programm vorzustellen, aber lange vorher schon hatte Heine gezeigt, dass sich die jüdische Heilsgeschichte in keine Wirklichkeit umsetzen ließ. Trat Herzl nur eine prekäre Flucht nach vorne an, als er die zionistische Bewegung gründete, und hatte er überhaupt eine Wahl? Weltbürgertum und Nationalstaat war nicht nur eine illusorische Alternative, vor der die deutschen Juden zu stehen schienen, es war auch der Titel eines bekannten Werkes der deutschen Historiographie.20 In ihm hatte der Autor, Franz Rosenzweigs Doktorvater Friedrich Meinecke, die Geschichte seines Landes gründlich missverstanden, und später, im Stern der Erlösung, verabschiedete sich ein Jude nicht nur von Hegel, sondern auch von dem Wunschdenken seines deutschen Lehrers. Die Zwischenkriegsjahre wurden zur letzten Generation des deutschen Judentums, das in Moses Mendelssohn seinen Stammvater hatte. In der polarisierten Gesellschaft der Weimarer Republik spitzte sich seine Lage zu, und das führte zu einer intensiven Suche nach Auswegen aus der Krise. In Frankfurt am Main baute Rosenzweig das Freie Jüdische Lehrhaus auf, in dem Wege zu einer sinnvollen jüdischen Existenz erprobt wurden, und dort arbeitete er bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1929 mit Martin Buber zusammen. Ein Gegensatz wird sichtbar: Während Rosenzweig natürlich kein Zionist war, hatte Buber schon 1901 in Theodor Herzls persönlichem Auftrag die Redaktion des zionistischen Parteiorgans Die Welt übernommen, blieb als Kulturzionist aber 18

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In einer noch unveröffentlichten Magisterthese an der Hebräischen Universität, A Multi-Tragic Paradigm. ›Nathan the Wise‹ in Israel, hat Jan Kühne jetzt eine Geschichte der Nathan-Aufführungen in Israel vorgelegt. Sie zeigt ein sehr differenziertes Verhältnis israelischer Autoren, Übersetzer und Künstler zu dem Stück. Vgl. Heine, Sämtliche Schriften (wie Anm. 8), Erster Band, S. 468–469. Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. München, Berlin: Oldenbourg 1907.

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immer in Opposition zu Herzls politischem Pragmatismus. Auch in Jerusalem, wo er seit 1938 lebte, stand er der zionistischen und später der israelischen Politik sehr kritisch gegenüber. Mit Martin Buber ist nur einer von vielen Namen genannt, die das gespaltene Verhältnis des deutschen Judentums zum Zionismus belegen. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs tritt es deutlich hervor. In den Gründerjahren der zionistischen Bewegung hatten die jüdischen Untertanen Kaiser Wilhelms alle nationalen Aspirationen von sich gewesen, seit dem Untergang Preußens aber war ihre ›deutsche‹ Identität fragwürdig geworden, und viele ihrer Intellektuellen – Arnold Zweig und Walter Benjamin, Erich Fromm und Hannah Arendt, Leo Löwenthal und Norbert Elias – sind auf die eine oder andere Weise mit dem Zionismus in Berührung gekommen, kaum einer von ihnen aber ist nach Palästina ausgewandert oder dort geblieben.21 In der Mehrzahl haben sie Deutschland zwar verlassen, zogen der zionistischen ›Heimkehr‹ aber ein anderes Exil vor – ähnlich wie die anfangs genannten Autoren der deutschjüdischen Nachkriegsliteratur Peter Weiss und Nelly Sachs, Paul Celan und Wolfgang Hildesheimer. Warum ist das so? Warum folgte Walter Benjamin nicht dem Beispiel seines Freundes Gershom Scholem und kam nach Palästina;22 warum wurde Hannah Arendt nach ihrem Buch über den Eichmann-Prozess23 in Israel lange angefeindet; warum hat Norbert Elias in seinen späteren Lebensberichten seine frühe Beziehung zum Zionismus nie erwähnt?24 Vielleicht hat die Wahl zwischen Weltbürgertum und Nationalstaat, so illusorisch sie war, die deutschjüdischen Intellektuellen zu stark geprägt, um dem von Theodor Herzl propagierten Weg vorbehaltlos zu folgen, aber auch das, wie die obige Deutung von Nathan der Weise, ist nur eine Hypothese, und die israelische Germanistik hat ihr in literatursoziologischen Fallstudien nachzugehen. Ein solcher Fall wäre Edgar Hilsenrath. Aus den Arbeitslagern der Nazis nach Palästina geflohen, verließ er das Land noch vor der Staatsgründung,25 lebte viele Jahre in Amerika und schrieb sich dort die Not des mörderisch verfolgten Juden von der Seele. Lange fand er keinen Verlag, denn ein Genre, das es vor Auschwitz nicht gab – die Shoaliteratur – hatte damals noch keine 21

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Zu Arnold Zweig in Palästina, vgl. Adi Gordon: ›In Palestine. In a Foreign Land‹: The Orient, a German-Language weekly between German Exile and Aliyah. Jerusalem 2004 (hebräisch). Vgl. dazu Walter Benjamin, Gershom Scholem. Briefwechsel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980. Vgl. dazu die einschlägigen Beiträge in Gary Smith (Hg.): Hannah Arendt Revisited: ›Eichmann in Jerusalem‹ und die Folgen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. Zu Norbert Elias’ frühem Werdegang vgl. Jörg Hackeschmidt: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation. Hamburg: Europ. Verl.-Anst. 1997. Ein Teil seiner Familie lebt bis heute in Beerschewa, er selbst aber wohnt seit 1975 in Berlin.

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Konjunktur, und sein Durchbruch kam spät, mit einem damals kaum denkbaren und auch heute noch problematischen Text: mit einer Satire auf die Endlösung. Im deutschen Original erschien Der Nazi & der Friseur erst 1977, nachdem er seit 1971 in anderen Sprachen längst zum Welterfolg geworden war.26 Für den israelischen Kontext aber ist der genaue Zeitpunkt von Bedeutung, zu dem Hilsenrath den Roman geschrieben hat – er entstand in etwa acht Monaten zwischen dem Sommer 1967 und Anfang 1968,27 also unter dem Eindruck des Sechs-Tage-Krieges. Das ist relevant, weil der SS-Mann und Massenmörder Max Schulz nach dem Krieg nämlich in die Rolle seines Opfers Itzig Finkelstein schlüpft, in Palästina ein guter Zionist wird und dort chauvinistische Reden gegen die englische Mandatsmacht führt, die bei seinem Publikum Begeisterungsstürme auslösen.28 Einerseits führt Hilsenrath in der Gleichsetzung von Mörder und Opfer die apologetische Rede von der deutsch-jüdischen ›Symbiose‹ ad absurdum, andererseits aber stellt er – lange bevor das üblich wurde – eine merkwürdige Verknüpfung von zionistischer und nationalsozialistischer Ideologie her. Entzieht Hilsenrath so, verborgen unter der Maske des Satirikers, nicht nur dem deutschen, sondern auch dem israelischen Juden seinen existentiellen Boden? Hinter den wenigen Beispielen, die hier angeführt wurden, öffnet sich ein weites Feld: Fragen und Hypothesen, Gedankengänge und Forschungsansätze, die eine für Israel relevante Germanistik wohl lange beschäftigen könnten. Aber was sich davon wird verwirklichen lassen, bleibt ungewiss ... Der unter Akademikern bekannteste Zionist, der die Welt des deutschen Judentums als eine Lebenslüge anprangerte, war der Kabbalahforscher Gershom Scholem. In Berlin geboren und aufgewachsen, wanderte er schon früh, 1923, nach Jerusalem aus und trat nach dem Krieg als scharfer Kritiker aller Apologetik auf. Aber auch er, ein eingefleischter Antimilitarist, stand wie Martin Buber auf dem kulturzionistischen Flügel, und die politischen Entwicklungen nach 1967 erfüllten ihn mit Besorgnis. Er gehört zu den Wegbereitern, die der deutschen Kultur den Eintritt in die Hebräische Universität ermöglichten. 1968 lud er Peter Szondi nach Jerusalem ein, und im Wintertrimester dieses Jahres vertrat er Lea Goldberg auf dem Lehrstuhl für Komparatistik. Goldberg, eine bekannte israelische Dichterin und Kinderbuchautorin, hielt diesen Lehrstuhl seit 1963 inne, und als sie im Januar 1970 stirbt, wendet sich Scholem ein weiteres Mal an Szondi und trägt ihm Goldbergs Nachfolge an. Szondi kann 26

27 28

Zur Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichte Edgar Hilsenraths, vgl. Stephan Braese: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Berlin, Wien: Philo 2001. Zu diesen Daten, vgl. Stephan Braese: Das teure Experiment. Satire und NSFaschismus. Opladen: Westdt. Verlag 1996; S. 255. Vgl. Edgar Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur. München: Piper 1990, S. 254.

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die Einladung nicht annehmen, und in einem Brief begründet er das ausführlich. »Sie haben einmal in Jerusalem«, schreibt er an Gershom Scholem, mit einem in seiner Hellsichtigkeit zwar nicht überraschenden, aber unvergesslichen Satz gesagt, warum ich in Deutschland lebe und wohl hier bleiben werde: weil ich es verlernt habe, zu Hause zu sein (ich war es in meiner Budapester Kindheit so wenig wie in Zürich und streng genommen auch in anderem Sinn bei meinen Eltern nie). Das ist eine Krankheit, die man vielleicht mit der Rosskur einer, aus welchem Grund auch immer, notwendig werdenden Emigration heilen könnte; aus freiem Willen bringe ich die Kraft zu diesem Schritt umso weniger auf, als ich in Jerusalem vor zwei Jahren ja nicht nur empfand, dass ich dort zu Hause bin, sondern auch, dass ich das nicht ertrage.29

Diesen Brief schreibt er am 26. Februar 1970, und bald danach begeht Szondis Freund Paul Celan Selbstmord in Paris. »Vielleicht bin ich einer der Letzten«, hatte er 1948 nach Israel geschrieben, »die das Schicksal jüdischer Geistigkeit in Europa zuendeleben müssen.« Und es ist seltsam: Auch Peter Szondi – das Kind aus Ungarn, das ein Abkommen mit Eichmann vor dem Tod gerettet hat; der Schweizer Staatsbürger, der in Berlin Professor für vergleichende Literaturwissenschaft war; der Gastdozent, der in Jerusalem französische Vorlesungen gehalten hatte –, auch er lebte seine tiefe Verbundenheit mit der deutschen Kultur als ein Schicksal jüdischer Geistigkeit in Europa zuende. Im Oktober 1971, anderthalb Jahre nach seiner Korrespondenz mit Gershom Scholem, folgte er Paul Celan in den Freitod.

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Der Brief wird zitiert nach: Peter Szondi. Brief an Gershom Scholem. In: Verf. (Hg.): Jüdischer Almanach 1993. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1992, S. 85–86.

Mark H. Gelber

Wieso gibt es eigentlich keine Germanistik in Israel?

Es hat mich aufrichtig gefreut, als ich die Einladung zu einem Symposion erhalten habe, um Stéphane Mosès zu gedenken, denn viele Jahre habe ich ihn als Mensch sowie seine wissenschaftliche Arbeit geschätzt. Darüber hinaus spielte er, seitdem ich ihn 1976 zum ersten Mal in Jerusalem traf und besonders am Anfang der achtziger Jahre, eine wichtige Rolle in der Entwicklung meiner akademischen Karriere in Israel. Damals, als ich ihm zum ersten Mal begegnete, um mit ihm eine mögliche Doktorarbeit unter seiner Leitung zu besprechen, war er Dozent in der Abteilung für Komparatistik in Jerusalem, nicht für Germanistik. Auf jeden Fall störte mich sofort der ursprüngliche vorläufige Titel dieses Symposions – »Germanistik in Israel« –, weil ich seit langem anderer oder gar entgegengesetzter Meinung bin, nämlich, und um es ohne rhetorische Floskeln auszudrücken, dass es in der Tat keine Germanistik in Israel gibt. Ich schlug den Veranstaltern postwendend vor, dass ich provokativ über das Thema referieren würde, wieso es eigentlich keine Germanistik in Israel gäbe. Sie waren glücklicherweise damit einverstanden, aber es kann sein, dass mein Vorschlag dazu beigetragen hat, eine Änderung im Titel des Symposions, wenn auch nicht im Grundkonzept dieses Treffens zu verursachen. Denn erst viel später, als ich die gedruckte Einladung dazu erhielt, habe ich den endgültigen Titel des Symposions erfahren: »Spuren der Schrift: Israelische Perspektiven einer Internationalen Germanistik«. Dieser revidierte Titel hat mir gut gefallen, aber ich dachte, dass man meine ursprüngliche kritische Stellungnahme kaum würde wahrnehmen können. Glücklicherweise entschied sich mein Kollege Jakob Hessing, seinen Vortrag gerade über »Germanistik in Israel« zu halten, und ich habe dies als eine polemische Antwort auf mich oder auf meine Stellungnahme verstanden, die eine Art freundliche Debatte über dieses Thema einleiten könnte. Da wir unsere Vorträge im Rahmen der selben Sitzung gehalten haben, hat dies auch dazu beigetragen, unsere verschiedenen Argumente und Meinungen zum Thema auszudrücken, sowie sie während der anknüpfenden Diskussion näher zu erläutern. Darf ich zunächst den Terminus »Germanistik« problematisieren? Um zu beweisen, dass keine Germanistik in Israel existiert, muss ich präzise feststellen, was ich mit dem Terminus »Germanistik« in diesem Zusammenhang meine. Eigentlich ist der Begriff in diesem Kontext gar nicht kompliziert, denn ich verweise auf einen weitverbreiteten Begriff, der öfters »Auslandsgermanistik«

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genannt wird. Trotz aller möglichen und subtilen Änderungen und neuen Orientierungen (oder wie es normalerweise auf Englisch ausgedrückt wird, trotz allen »turns,« wie »the linguistic turn« oder »the cultural turn« oder »the spacial turn«) im Gebiet der Literatur- und Kulturwissenschaft oder im Kontext der wissenschaftlichen oder kritischen Studien zur deutschen Sprache, Literatur und Kultur und trotz großer Skepsis dem akademischen germanistischen Beruf gegenüber liegt dieser spezifische Begriff von der Germanistik auf der Hand. Er ist klar und praktisch evident. Ich werde ihn aus zwei vereinfachenden Perspektiven beschreiben, die uns helfen, die Umrisse oder Bedeutungen des Begriffs zu verstehen sowie den Inhalt oder das wissenschaftliche Objekt zu erfassen und die methodologischen Richtlinien, die im Rahmen der Germanistik in der Regel verwendet werden, zu bestimmen. Die erste Perspektive gewinnt man durch das Inbetrachtziehen von Verlagsprogrammen bekannter deutscher Verleger, die seit vielen Jahren eine lange Reihe von Titeln unter der Rubrik »Germanistik« veröffentlichen. Die zweite Perspektive gewinnt man durch die Bezugnahme auf ein typisches Tagungsprogramm im Rahmen der Auslandsgermanistik, z. B. ein Programm eines Vereins der Auslandsgermanisten. Ich werde als Beispiel der ersten Perspektive das Programm des renommierten Max Niemeyer Verlags 2008/2009 verwenden, obschon Niemeyer jetzt zusammen mit K. G. Sauer als Teil von Walter de Gruyter GmbH fungiert und infolgedessen Titel von allen drei Verlegern in einem größeren Programmheft bekanntgemacht werden. Ein gutes Beispiel einer internationalen Germanistentagung ist für unsere Zwecke der Kongress des portugiesischen Germanistenverbandes, der im Februar 2008 in Lissabon stattfand. Meine Aufmerksamkeit wurde zufälligerweise darauf gelenkt, ich habe daran nicht persönlich teilgenommen. Um Zeit zu sparen werde ich die lange Liste von Niemeyer/de Gruyter Titeln über deutsche Sprache, Grammatik und deutsche Linguistik als Teil der Germanistik nur erwähnen, aber nicht diskutieren können. Es ist aufgrund der vielen alten und neuen Titel über die deutsche Sprache, die in diesem Heft erscheinen, klar und unbestritten, dass die Germanistik allgemein aber auch spezifisch und detailliert die Geschichte der deutschen Sprache sowie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit und die Präsentation der deutschen Grammatik und Sprache in all ihren historischen Formen miteinschließt. Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch und Frühneuhochdeutsch gehören natürlich dazu, aber auch Sonderformen der historisch sich entwickelnden Sprache oder geographisch bedingte deutsche Mundarten, wie etwa die Kanzleisprache oder die Geheimsprachen, das Gaunerdeutsch oder Niederdeutsch oder andere deutsche Dialekte. Mehrere Titel und darüber hinaus auch viele Nachschlagewerke, Studienbücher und Lexika, die im Niemeyer Katalog erscheinen, beschäftigen sich ebenfalls damit. Die große wissenschaftliche Industrie, die diese vielen Veröffentlichungen produziert und dabei einen wesentlichen Teil der Germanistik als Forschungsgebiet ausmacht, fehlt uns in Israel praktisch komplett.

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Zwar gibt es in den letzten zehn, zwanzig oder dreißig Jahren vereinzelte linguistische und andere israelische Studien über Jiddisch, die in Israel verfasst wurden, aber dies ist vielleicht selbstverständlich aufgrund der Tatsache, dass Jiddisch eine jüdische Sprache ist, obschon sie auch manchmal oder sogar öfters als deutscher Dialekt angesehen wird. Es gibt dann auch ein oder zwei Studien, die über die Form der deutschen Sprache, welche von deutschen Exilanten oder Immigranten, die nach Palästina in den dreißiger Jahren kamen, gesprochen wurde, aber in der Regel werden diese Studien eher von ausländischen Forschern meistens aus Deutschland oder Österreich initiiert und durchgeführt. Der israelische Beitrag zur Forschung der deutschen Sprache von heute oder in ihren historischen Formen ist insgesamt praktisch nicht existent und deshalb konnte er bis heute in der internationalen Germanistik gar nicht oder kaum wahrgenommen werden. Im Niemeyer-de Gruyter Programmheft wird ein Großteil der Titel der deutschen Literatur des Mittelalters sowie der des deutschen Barocks gewidmet, z. B. neue Editionen oder Studien, beginnend mit dem Passionspiel (bzw. der hessischen Passionsspielgruppe, sowie den Frankfurter oder Heidelberger Passionsspielen, usw.), zum Artusroman »Wigamur« (13. Jahrhundert), es erscheinen ein Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts sowie ein Band der Lieder und Sprichwörter aus dem 13. Jahrhundert und ihr Weiterleben im Meistersang. Auch werden Texte von linguistischem und religiösem Interesse aus dieser Zeit, wie die ostmitteldeutsche Übersetzung des Katenenkommentars Thomas von Aquin (Band I. Das Lukasevangelium) im literarischen Teil des Heftes angeboten. Zum Barock werden zum Beispiel Martin Opitz’ Lateinische Werke 1614–1624 oder die historisch-kritische Ausgabe der Sämtlichen Werke Daniel von Lohensteins präsentiert. Ich behaupte, dass praktisch kein wissenschaftliches Interesse diesbezüglich in Israel existiert, auch wenn die Passionsspiele oder auch spezifische Texte von vereinzelten Barockschriftstellern gute Beispiele von literarischem Antisemitismus aufzeigen, die in der Geschichte des literarischen Antisemitismus erinnert und analysiert werden sollten. Da es in Israel ein gewisses Interesse am Antisemitismus und am literarischen Antisemitismus gibt, würde man vielleicht vermuten können, dass wissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiet auffindbar wäre, aber dies ist in der Tat nicht der Fall. Zum Zeitalter der Aufklärung sowie zur Klassik und zur Romantik werden wiederum große Projekte im Verlagsheft angeboten, wie der zweite Band der massiv konzipierten historisch-kritischen Ausgabe der Werke Johann Christoph Gottscheds oder die dreißig Bände der Sämtlichen Werke Christoph Martin Wielands. Katharina Mommsens achtzehnbändige Entstehung von Goethes Werken, die schon in den fünfziger Jahren in der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Ostberlin begonnen wurde, sowie die vielbändige historisch-kritische Ausgabe der Werke Jean Pauls und die kritischen kommentierten Sämtlichen Werke von Karl Philip Moritz sind alle gute Beispiele für diese

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ambitiös konzipierten Ausgaben, die einen wichtigen Teil der germanistischen Angebote des Verlags ausmachen. Zur gleichen Zeit gibt es diesbezüglich kaum irgendein Indiz dafür, dass israelische Wissenschaftler sich mit diesem ganzen Gefüge, wie es im Niemeyer-de Gruyter Programmheft präsentiert wird, beschäftigen oder es sogar vermitteln. Natürlich kann man vielleicht einen Ausnahmefall finden, aber er ist gerade dies – ein Ausnahmefall. Wenn man alles, was bis jetzt über die Buchtitel im Niemeyer-de Gruyter Germanistik-Programm 2008–2009 gesagt wurde, zusammenfasst, wird klar, dass ein großer Teil der Forschung, die im Rahmen der Germanistik unternommen wird, oder im Programm vorgestellt wird, in Israel nicht vertreten ist, d. h., diese Germanistik existiert in Israel nicht. Es gibt auch viele andere Sorten von germanistischen Publikationen im selben Heft, wie zum Beispiel Wörterbücher oder die verschiedenen Jahrbücher, die bis in die Moderne hineinreichen (zum Beispiel das Büchner Jahrbuch oder das Jahrbuch der Raabe Gesellschaft, das Stefan George Jahrbuch, das Gottfried Benn Forum, das Hermann Hesse Jahrbuch, usw.). Organisatorische Arbeit oder Forschungstätigkeiten in diesen Gebieten fehlen auch in Israel, anders ausgedrückt, die israelische Teilnahme daran ist nicht existent oder extrem begrenzt. Selbstverständlich gibt es im Programmheft viele Titel, die sich mit der deutschen Literatur oder Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigen, aber ich möchte hier kurz unterbrechen und mich erst später zu den Hauptbeschäftigungen der modernen Germanistik bezüglich der Periode nach der Aufklärung äußern, damit ich schon an dieser Stelle die verwandte Perspektive des Programms des letzten großen portugiesischen Germanistenkongresses in diese Diskussion einführen kann. Der Internationale Kongress des portugiesischen Germanistenverbands, der vom 14. bis zum 16. Februar 2008 an der Universidade Católica Portuguesa in Lissabon stattfand, liefert ein gutes Beispiel für einen ambitiösen Germanistenkongress der Auslandsgermanistik, der in einem relativ kleinem Land (eigentlich kaum größer als Israel) veranstaltet wurde, zwar innerhalb Europas, aber trotzdem kulturell und geographisch relativ weit entfernt (wie Israel) vom mitteleuropäischen und deutschen Sprach- und Kulturraum. Also ist der Vergleich möglich, auch wenn er nicht einwandfrei ist. Der Kongresstitel lautete: »Kulturbau. Aufräumen, Ausräumen, Einräumen«, der sich wahrscheinlich teilweise dem »spatial turn« oder der neuen räumlichen Orientierung in der westlichen Kulturkritik teilweise verdankt. Dieses Treffen wurde vom organisatorischen Team der portugiesischen Germanisten veranstaltet, mit drei oder vier Parallelsektionen am Morgen und am Nachmittag, und Plenarsitzungen mit Vorträgen auf Deutsch und auf Portugiesisch. Insgesamt wurden zwischen achtzig und neunzig Vorträge gehalten, fast die Hälfte davon von portugiesischen Akademikern, die an Universitäten in Portugal tätig sind. Teilnehmer kamen aber aus etwa zehn weiteren Ländern, wie zum Beispiel Griechenland, Kroatien, Frankreich, Rumänien, Spanien, Brasilien und anderen, die meisten

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aus Deutschland selbst, nach Portugal. Das Spektrum der Themen, die in den Vorträgen behandelt wurden, war sehr breit, und schloss auch Vorträge über Aspekte der deutschen Sprache ein: Alltagsgespräch, Language crossing, Übersetzung, Sprache und Identität. Der Schwerpunkt des Interesses lag entschieden auf modernen (Robert Musil, Gottfried Benn, Ernst Jünger, Franz Kafka, Walter Benjamin, Stefan Zweig, Heinrich Böll, Günther Eich) oder zeitgenössischen Autoren (Ruth Klüger, Uwe Timm, Eveline Hasler, Katharina Hacker), modernen Perspektiven (Zwischen Fremdheit und Identität, Poetik und Quantentheorie) und neuen Themengefügen (Literatur in der Internetkultur, Erzählungsgemeinschaften). Es gab nur vereinzelte Vorträge über Autoren und Themen aus der Zeit vor 1900 (über Goethe oder E. T. A. Hoffmann, zum Beispiel), und deshalb ist der Begriff von Germanistik, den man aus dem Kongressheft herauslesen kann, wesentlich anders als jener, der aus dem Niemeyer-de Gruyter Programmheft hervorgeht. Man vermutet vielleicht, dass das Vorhandensein von spezialisierten oder präzise fokussierten Tagungen spezifisch über deutsches Mittelalter oder Aufklärung und Klassik dieses Versäumnis bei einem großen Kongress, wie dem in Portugal, erklären. Vielleicht sind diese Gebiete auch in Portugal weniger gefragt und weniger vertreten. Auch wenn einige Vorträge im Kongressprogramm nur am Rande oder jenseits der Germanistik und eher im Rahmen anderer Disziplinen wie Komparatistik oder Kulturwissenschaften zu verstehen sind oder in diesem Sinn nicht im Kern der Germanistik zu platzieren wären, bestätigt das Programm ein sehr imposantes Treffen der Auslandsgermanistik. Meine Behauptung ist nämlich, dass ein ähnlicher Kongress oder nur ein halb so ambitionierter Germanistenkongress bis heute noch nicht in Israel veranstaltet wurde, und darüber hinaus ist die Fähigkeit dazu, d. h. dies in Israel zu unternehmen, meiner Meinung nach gar nicht vorhanden. Bevor ich das Thema der jüdischen Aspekte der Germanistik, die sowohl in Lissabon als auch im Niemeyer-de Gruyter Programm auftauchen, diskutiere, muss ich das Abhalten eines GIG-Kongresses im Sommer 2008 an der Universität Tel Aviv kurz besprechen, denn man könnte ohne weiteres gegen mein Hauptargument hervorbringen, dass ein großer Germanistenkongress doch kurz zuvor in Tel Aviv veranstaltet wurde, und diese Tatsache widerspricht meiner These völlig. In der Tat hat ein Kollege an der Tel Aviver Universität, Joachim Warmbold, der in der Division of Foreign Languages tätig ist, von 15.–19. Juni 2008 einen großen internationalen Kongress »Empathie und Distanz: Zur Bedeutung der Übersetzung aktueller Literatur im interkulturellen Dialog« im Rahmen der Tätigkeit der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik (GIG) abgehalten. Laut dem Kongressprogramm referierten etwa 40 bis 50 Teilnehmer und die überwiegende Mehrheit davon aus dem Ausland. Nur drei israelische Akademiker hielten Vorträge: zwei von der Universität Tel Aviv, einer von der Bar-Ilan Universität. Was ich an dieser Stelle betonen möchte, ist, dass diese Tagung in Tel Aviv keineswegs mit einer Germanistik-

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konferenz oder gar mit der Germanistenkonferenz in Lissabon zu vergleichen ist, dass sie überhaupt keinen Beweis liefert, dass es möglicherweise Germanistik in Israel gibt. Zunächst wurde sie nicht von einem israelischen Germanistenverband veranstaltet, denn es gibt keinen israelischen Germanistenverband. Die Tel Aviver Konferenz beschäftigte sich ausschließlich mit dem einen Thema der »Übersetzung«, was für Tel Aviv richtig und korrekt war und insofern konnten Teilnehmer über verschiedene Dimensionen der Übersetzungstätigkeit reden, besonders im israelischen Zusammenhang über deutschhebräische und hebräisch-deutsche Übersetzungen. Dieses Thema ist eher komparatistisch und kann problemlos in Bezug auf praktisch allen möglichen Sprachgemeinden diskutiert werden, damit das allgemeine Thema der Übersetzung von und ins Deutsch besser verstanden werden kann. – Übrigens war ich vor kurzem überrascht zu erfahren, dass im Jahre 2006 eine neue hebräische Übersetzung des »Nibelungenlieds« von Arieh Stav veröffentlicht wurde. Es stellte sich aber heraus, dass diese Übersetzung wie viele moderne Übersetzungen älterer Texte nicht von der ursprünglichen mittelhochdeutschen Sprache gemacht wurde, sondern auf einer deutschen Übersetzung basiert, nämlich der berühmten Übersetzung von Karl Simrock. Soweit ich weiß, wird Mittelhochdeutsch an israelischen Universitäten weder unterrichtet noch erforscht. In Tel Aviv nahmen nur ein paar israelische Literatur- oder Kulturwissenschaftler am GIG-Kongress teil, d. h. nur wenige Israelis, die sich hauptsächlich mit deutschen Themen oder vorwiegend mit deutscher Literatur und Kultur beschäftigen. Eher nahmen daran Kollegen teil, die sich mit der Theorie oder Art und Weise der Übersetzung selbst beschäftigen oder jene, die selbst als Übersetzer tätig sind. Dies muss man von einer germanistischen Tätigkeit unterscheiden, auch wenn die beiden Aktivitäten teilweise verwandt sind, nämlich insofern gute Übersetzungen in der Regel auf wissenschaftlicher Forschung und hervorragenden linguistischen, historischen und kulturellen Kenntnissen basieren. Aber die wissenschaftliche Basis fehlt dafür in Israel, weil es keine Germanistik gibt, die sich intensiv mit deutscher Sprache oder mit der deutschen Sprache des Mittelalters auf höherem Niveau beschäftigt. Man darf nicht behaupten, dass das Abhalten dieses GIG-Kongresses in Israel beweist, dass es eine lebendige Germanistik in Israel gibt, eigentlich im Gegenteil. Aber man darf sicherlich behaupten, dass einerseits Übersetzungstheorie und Übersetzungstätigkeit wichtige Themen und Aktivitäten in Israel sind, und andererseits, dass deutschsprachige Literatur regelmäßig ins Hebräische übersetzt wird, oder vielmehr, dass moderne hebräische Literatur ins Deutsche übersetzt wird und dass ein deutschsprachiges Lesepublikum gewissermaßen lebendiges Interesse an den Werken der hebräischen Autoren zeigt, und man kann einen internationalen komparatistischen akademischen Rahmen spannen, um über Aspekte dieser Tätigkeit kritisch zu diskutieren. Jetzt komme ich zu den spezifischen jüdischen Dimensionen des Verlagsprogramms und des Germanistikkongresses in Lissabon, die ich als separate

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Kategorie analysieren möchte. Ein oder zwei diesbezügliche Vortragstitel im Kongressprogramm sowie mehrere Titel, die auf einen deutsch-jüdischen Inhalt im Niemeyer-de Gruyter Programm verweisen, deuten implizit auf das Thema meiner Präsentation: wieso es keine Germanistik in Israel gibt. In Lissabon zum Beispiel referierte Rogério Madeira von der Universität Coimbra über »Dunkles Marranenschicksal am Vorabend des Holocausts. Ein Rückblick auf Josef Kasteins Biographie Uriel da Costa oder Tragödie der Gesinnung«. Orlando Grossegesse von der Universität Minho referierte über »Kanon, Poesie und Leidkultur. Zur kindlichen und weiblichen Perspektive nach Cordelia Edvardson und Ruth Klüger«. Im Niemeyer-de Gruyter Katalog findet man Titel wie Deutsche Juden –deutsche Sprache verfasst von Arndt Kremer oder Leo Perutz’ Romane, herausgegeben von Tom Kindt und Jan Christoph Meister, oder vielleicht am wichtigsten für meine Argumentation das große Lexikon deutsch-jüdischer Autoren und die letzen sechs Titel der Conditio Judaica Reihe (Bände 65 bis 72) zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte, herausgegeben von Hans Otto Horch zusammen mit anderen Kollegen. Die Bände in dieser Reihe beschäftigen sich mit vielen verschiedenen Themen, zum Beispiel mit der Lyrik Rose Ausländers oder der Hebräischen Intertextualität und mystischen Weltauffassung in der Lyrik Paul Celans, der Rezeption von Edgar Hilsenrath und Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik. Diese Titel, die im Rahmen des Kongresses oder im Zusammenhang des Verlagsprogramms vielleicht als Teil der Germanistik erscheinen, gehören meiner Meinung nach überhaupt zu einem anderen wissenschaftlichen Unternehmen, das zweifellos der Germanistik verwandt ist, wie sie auch dem Gebiet der Jüdischen Studien verwandt ist. Man nennt dieses Unternehmen deutsch-jüdische Studien. Meine These ist folgende: wenn wir uns in Israel mit deutschsprachiger Literatur und Kultur beschäftigen, betreiben wir in der Regel und nur mit wenigen Ausnahmen deutsch-jüdische Studien und nicht Germanistik. Ich betrachte deutsch-jüdische Studien als eine unabhängige Disziplin und keineswegs als Teil der Germanistik. Ihre Fokussierungen, Textauswahl, wissenschaftlichen Strategien und Ziele sind ganz anders als die der Germanistik. Meine Behauptung bezieht sich auf Studien und Äußerungen von mehreren prominenten Beobachtern, wie Sander Gilman, Jack Zipes und Andreas Kilcher, und ich selbst habe 2008 einen ausführlichen polemischen Aufsatz darüber veröffentlicht, der auf einem Vortrag basiert, den ich schon 2004 bei einer Konferenz in Tel Aviv gehalten hatte: »German-Jewish Literature and Culture and the Field of German-Jewish Studies.«1 Gilman und Zipes schrieben 1997 in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096–1996, deutsch-jüdische Studien »for1

Mark H. Gelber: German-Jewish Literature and Culture and the Field of GermanJewish Studies. In: Jeremy Cohen/Richard J. Cohen (Hg.): The Jewish Contribution to Civilization. Reassessing an Idea. Oxford: Littman Library 2008, S. 165–184.

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med a scholarly field of its own. Departing from traditional fields such as literary history and social history, it now takes the complexity of Jewish experience in Germany, Austria, and other central European countries as a model for understanding the diasporic experience of many peoples across many nations.«2 Kilcher betrachtet deutsch-jüdische Studien als ein kosmopolitisches und interkulturelles System, als vielfältige diskursive Felder, die sich in die semiotischen Systeme von verschiedenen Kulturen integrieren. Darüber hinaus markiert »deutsch-jüdisch« für Kilcher ein Produkt von interpretativen Strategien, und gleichzeitig gehen in diese Kennzeichnung spezifische Varianten von kritischen Diskursen ein.3 Ich habe behauptet, dass deutsch-jüdische Studien als Disziplin allgemein um 1980 oder kurz davor in die Wege geleitet wurden und es mag sein, dass das erste internationale Stefan Zweig Symposion in Israel, das 1981 in Beer Sheva veranstaltet wurde, und das deutsch-israelische Symposion über »Juden in der deutschen Literatur«, das 1983 in Jerusalem stattfand, die ersten klaren Zeichen dieser Entwicklung bestätigten. Aber sicherlich gab es auch einige frühere Indizien dafür. Während der Schlussdiskussion des Symposions in Beer Sheva wurde die Meinung geäußert, dass die Vorträge und Diskussionen vielleicht den jüdischen Dimensionen der Karriere Zweigs zu viel Raum widmeten und dass man 100 Jahre nach seiner Geburt und etwa 40 Jahre nach seinem Selbstmord Zweig nicht figurativ zum Judentum konvertieren sollte, man sollte ihn nicht bestrafen, weil er kein Zionist wurde.4 Was hier zur Sprache kam, war aus heutiger Perspektive ein Beweis dafür, dass die deutschjüdischen Studien schon begonnen hatten oder bereits existierten, denn ein wichtiger Aspekt der deutsch-jüdischen Studien ist der Versuch, deutschsprachige Texte vorwiegend im jüdischen Rahmen zu kontextualisieren und dies überzeugend zu tun, indem neue oder der Germanistik unbekannte Einsichten oder Kenntnisse gewonnen werden. Auch bezüglich des Symposions in Jerusalem erinnere ich mich an das Folgende: als ich die Einladung zum Symposium erhielt, dachte ich zunächst, dass der vorläufige Titel »Juden in der deutschen Literatur« auf die Darstellung der jüdischen Figuren in der deutschsprachigen Literatur verwies, etwa bei Lessing und Schiller, Fontane und Raabe, oder Brecht und Fassbinder und nicht etwa als ein Verweis auf den im Jahre 1922 von Gustav Krojanker herausgegebenen Sammelband mit dem selben Titel zu verstehen wäre. In der Tat referierte ich 2

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Sander L. Gilman/Jack Zipes (Hg.): Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096–1996. New Haven: Yale University Press 1997, S. xv. Andreas Kilcher: Einleitung. In: Kilcher (Hg.): Metzler Lexikon der deutschjüdischen Literatur. Stuttgart: Metzler 2000, S. V. Siehe Mark H. Gelber: Stefan Zweigs verspätete Bekehrung zum Judentum. Ein Überblick zum Zentenarium in Beer Sheva und eine Fortsetzung der Debatte. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 63 (1982), S. 3–11.

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über »Das Judendeutsch in der deutschen Literatur« mit Beispielen von den frühesten Lexika bis Gustav Freytag und Thomas Mann.5 Die Titelformulierung »Juden in der deutschen Literatur« bedeutete mir 1982–1983 in Israel nicht genau das, was sie damals in den zwanziger Jahren in jüdischen Kreisen in der deutschsprachigen Diaspora bedeutete. Vielleicht aber war dieser Titel schon damals fehl am Platz, als Max Brod einen Beitrag über »den Dichter Franz Kafka« beisteuerte oder Oskar Baum seinen Aufsatz über BeerHofmann oder Ernst Weiss über Albert Ehrenstein.6 Damals meinte Krojanker, dass Juden in der deutschen Literatur als zeitgenössische Autoren einen Beitrag zur deutschsprachigen Literatur in der Gegenwart lieferten, aber er wusste noch nicht, wie eine kritische Perspektive die verschiedenen jüdischen Autoren verbinden könnte oder inwiefern ihre Literaturproduktion kritisch zu vereinheitlichen wäre. Was ich schon in den frühen achtziger Jahren ahnte, war nämlich, dass jüdische Autoren, die ihre Werke auf Deutsch verfassten, einen Beitrag zur deutsch-jüdischen Literatur lieferten und dass ihre Texte gerade in diesem Rahmen kritisch analysiert oder besprochen werden sollten. Aber auch darüber hinaus verstand ich bereits, dass der Terminus »Beitrag« in diesem Zusammenhang höchst problematisch war. Wenn man diese deutschsprachige Literatur in ihrer Ganzheit mit allen jüdischen Aspekten mit inbegriffen analysiert, um sie in dieser Weise zu verstehen, betreibt man deutsch-jüdische Studien. Wenn ich Recht habe, muss man zunächst erklären, warum es dennoch der Fall ist, dass nämlich in Israel deutsch-jüdische Studien statt Germanistik betrieben werden, und was die Konsequenzen dieser Tätigkeit in der absehbaren Zukunft sind, besonders im Rahmen der größeren akademischen Bestrebungen in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Ich vermute, dass das Scheitern des Versuchs eine Germanistik in Israel aufzubauen oder die Abwesenheit derselben in Israel heute aus der Perspektive zweier historisch-kultureller Entwicklungen verstanden werden kann: erstens aus der Perspektive des Zionismus und der Art und Weise, in der sich diese Bewegung kulturell gegenüber dem Deutschen und den verschiedenen anderen Sprachkulturen positionierte, als die politische Bewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Gang gesetzt wurde, und zweitens, aus der Perspektive der kulturellen Konsequenzen des Genozids. Wie sollten sich Israelis oder gar Juden gegenüber Deutsch und deutscher Kultur verhalten oder mit ihr auseinandersetzen, nachdem eine moderne politische Bewegung, die im Großen und Ganzen im Namen dieser Kultur und mit deutschsprachigen Kommunikations- und Kulturmitteln versucht hatte, die jüdische Nation auszurotten, und auch teilweise großen Erfolg dabei hatte? 5

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Mark H. Gelber: Das Judendeutsch in der deutschen Literatur. Einige Beispiele von den frühesten Lexika bis zu Gustav Freytag und Thomas Mann. In: Stéphane Mosès/Albrecht Schöne (Hg.): Juden in der deutschen Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 162–178. Gustav Krojanker: Juden in der deutschen Literatur. Berlin: Welt-Verlag 1922.

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Obschon verschiedene Ideen über die Rolle der Sprache und jüdische Sprachen im Allgemeinen in jüdisch-nationalen Kreisen in Europa von Anfang an debattiert wurden und obwohl die deutsche Sprache innerhalb der zionistischen Weltorganisation ab Ende des 19. Jahrhunderts verwendet wurde und sogar eine gewisse Priorität genoss, um ihre jüdisch-nationalen Ziele und Programme zu realisieren, hat sich die Idee einer einzigen Nationalsprache im Nationalstaat, nämlich des Hebräischen, vor dem ersten Weltkrieg als lingua franca sowie Schrift- und Kultursprache im Land Israel durchgesetzt. Obschon eine Variante des deutschsprachigen Kulturzionismus am Anfang des 20. Jahrhunderts möglicherweise vielversprechend stolz ihre jüdisch-nationalen Literaturund Kulturprodukte stolz verbreitete, stellte sich heraus, dass die Idee eines jüdisch-nationalen Kulturwesens auf Deutsch oder auf anderen Sprachen nicht auf Dauer im Lande Israel stichhaltig sein würde.7 Wie Hebräisch sich durchsetzte und wie es in diesem innerjüdischen Kulturkampf siegte, ist eine komplizierte Geschichte, die man hier nicht wiederholen muss. Der Begriff der »Schlilat Ha-Galut«, d. h. der Verneinung des Exils oder Verneinung des Diasporalebens der Juden schlug rasch tiefe Wurzeln im Zionismus oder fand gewissermaßen starke Resonanz in den zionistischen Siedlungen, aber auch in zionistischen intellektuellen Kreisen, besonders in Osteuropa. Die Idee wurde verbreitet, dass nur in einer authentischen jüdischen Sprache wie Hebräisch Juden den Weg zurück zu ihrem wahren jüdischen Selbst finden oder ihren jüdischen Geist pflegen konnten. Auch wurde polemisiert, dass Juden den Kern ihres wahren jüdischen Selbstes ausschließlich auf Hebräisch ausdrücken konnten. Das Aufgeben und die Distanzierung von den Sprachen und Kulturen der Diaspora und das enthusiastische Befürworten und die Verwendung der hebräischen Sprache und Kultur wurden zu Hauptmerkmalen der zionistischen Ideologie, obschon dies am Anfang der ersten organisatorischen Aktivitäten der zionistischen Bewegung von vornherein nicht garantiert werden konnte. Dieser zionistischen Diskussion zufolge kann man leicht verstehen, wieso die Pflege der hebräischen Literatur und Kultur zur ersten kulturellen Priorität, als Sprache der Bildung und des öffentlichen Diskurs im Zionismus und besonders in den Siedlungen (Jischuw) wurde. Das Studium der fremdsprachigen Literaturen, d. h. aller anderen Sprachen und auch Deutsch konnte sich nicht leicht etablieren, nachdem die erste Universität im Lande Israel – die Hebräische Universität – in den zwanziger Jahren gegründet wurde. Selbstverständlich gab es auch andere Prioritäten an der Universität in einem jungen Entwicklungsland. Mit dem Aufstieg des Nazismus in Deutschland und nach der Machtergreifung der Nazis wurde die deutsche Sprache und Kultur zum Erz7

Mark H. Gelber: The ›jungjüdische Bewegung‹: An Unexplored Chapter in GermanJewish Literary and Cultural History. In: Yearbook of the Leo Baeck Institute, XXXI (1986), S. 105–119. Vgl. Mark H. Gelber: Melancholy Pride. Nation, Race and Gender in the German Literature of Cultural Zionism. Tübingen: Niemeyer 2000.

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feind des jüdischen Volkes. Die Möglichkeit eine Auslandsgermanistik zu entwickeln hatte deswegen in Israel keine Aussicht auf Erfolg, trotz der Ankunft von vielen hervorragenden deutschsprachigen jüdischen Dichtern, Schriftstellern, Journalisten, Germanisten, Intellektuellen und Kulturproduzenten in den dreißiger Jahren, die als Exilanten nach Palästina kamen. Nachdem das Ausmaß der großen Tragödie der Shoa und des Genozids in den ersten Jahren nach dem Krieg bekannt wurde, wurden deutsche Sprache und Kultur im Judentum gewissermaßen tabuisiert. Wie ich dies schon einmal formuliert habe: »Juden, die sich während oder nach der Shoa freiwillig dazu entschieden, die deutsche Sprache zu lernen oder gar Germanistik zu studieren, oder als deutsche Literaten und Kulturschaffende ihr Brot zu verdienen, gehören aus einer normativen jüdischen Perspektive zu einer zweifelhaften Sonderkategorie von Menschen, die eine Art kulturellen Teufelspakt geschlossen haben. Aus dieser Perspektive erwiesen sie sich als blind oder unempfindsam gegenüber der grausamen Geschichte und dem furchtbaren Schicksal der europäischen Juden während der Nazizeit. Sie betrogen sich selbst und verunglimpften die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus.«8 Das Studium der Shoa oder der europäischen und deutschen Geschichte, die als Vorbereitung zur Shoa verstanden werden konnte, aber mit dem Ziel, die Shoa oder deren historischen Hintergrund zu erörtern oder verstehen, konnte ohne weiteres in Israel gerechtfertigt werden – nicht so eine Beschäftigung mit deutscher Literatur und Kultur. Diese literarische oder kulturelle Aktivität konnte aus einer normativen jüdischen Perspektive nicht leicht gerechtfertigt werden, denn sie basierte wohl in der Regel auf einer sympathisierenden oder freundschaftlichen Einstellung gegenüber dem Objekt des kritischen oder wissenschaftlichen Interesses. Aber es kann sein, dass die verspätete Entwicklung der deutsch-jüdischen Studien eine andere oder zusätzliche Option bezüglich der Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Vergangenheit von Juden und Deutschen oder mit dem Judentum und der Moderne in Mitteleuropa ermöglichte. Hier konnten Juden und jüdische Israelis einen Teil des jüdischen Erbes selbst, das fast vernichtet und sicherlich mit der Zeit vernachlässigt wurde, retten, und zwar als Teil der spezifischen jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte. Denn die erste Phase der deutsch-jüdischen Studien musste das Jüdische in diesem durch einen Bindestrich vereinten Begriff betonen, damit sie als ein unabhängiges intellektuelles und akademisches Unternehmen Anerkennung finden und im Dienste von jüdisch-nationalen Zielen stehen konnten. Manchmal scheint dies der Fall zu sein, auch wenn sich individuelle Forscher oder Kritiker offensichtlich nicht bewusst sind, dass dies ihre Bemühungen untermauert. Die Entwicklung und Pflege der deutsch-jüdischen Studien als Alternative zur Germanistik in Israel bedeutet keineswegs, dass israelische Wissenschaft8

Mark H. Gelber: Das Judentum und die Nationen bei Canetti. In: John PatilloHess/Mario S. Smole (Hg.): Die Juden. Eine unbekannte Nation? Wien: Löcher 2008, S. 9.

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ler sich von dem »Mainstream« der Forschung im Rahmen der Germanistik distanzieren oder dass keine Kommunikationsmöglichkeit zwischen den beiden Unternehmen realisierbar ist. Eher denke ich, dass beide Forschungsorientierungen von einander profitieren können, einerseits, da die Germanistik auf Dauer ihr deutsch-jüdisches Erbe wesentlich vernachlässigt hatte, und andererseits, weil deutsch-jüdische Studien auch den Zugang zur Germanistik brauchen, um verschiedene spezifisch deutsche Aspekte ihrer eigenen Texttradition zu verstehen, genauso wie sie die jüdischen Studien brauchten. Das relativ neue (oder alt-neue) Forschungsgebiet der hebräisch-deutschen Studien scheint mir im Moment besonders vielversprechend zu sein, besonders weil es auch lange Zeit tabuisiert und verschwiegen wurde. Die deutsch-jüdischen Studien werden in den letzten dreißig Jahren weltweit betrieben, und eine Art internationaler wissenschaftlicher Gemeinschaft von motivierten Literaturkritikern und Kulturhistoriken kümmert sich stark um die Traditionen deutsch-jüdischer Literatur und Kultur. Ihre Bestrebungen gelten nicht ausschließlich Texten, Autoren und Themen, die vergangenheitsbezogen sind, sondern auch denjenigen, die heutzutage in neuen Heimatländern in Deutschland und in Österreich oder in anderen Ländern wieder vertreten sind. Die Tatsache, dass es immer noch oder immer wieder deutsch-jüdische oder österreichisch-jüdische oder israelische Schriftsteller gibt, die ihre Werke auf Deutsch schreiben, ist nicht zu verleugnen, und diese Autoren und ihre Stimmen verdienen Achtung und Kritik, manchmal auch Lob, aber darüber hinaus auch den richtigen oder einen korrekten kritischen Rahmen für die Rezeption ihrer Werke.

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Icons Beyond Their Borders: The German-Jewish Intellectual Legacy at the Beginning of the Twenty-First Century We should begin by examining the notion of »legacy« for what, after all, is a legacy if it is not based upon memories of the past and visions of the future? Strictly speaking, of course, the idea of a legacy is neutral with regard to value. It refers to an inheritance which can be either negative or positive, a bequest from the past that perseveres into the present and contains a certain didactic value and which, presumably, suggests meaningful guideposts to the future, whether these be of an admonitory or inspirational kind. Of course, we construct our suitable »Legacies« in extremely selective and often ideologically motivated ways. For some the German-Jewish legacy is an intrinsically negative one, an object lesson for how not to behave as Jews, a story of a deluded, undignified and spectacularly unsuccessful assimilation. This is a version that has had much popular appeal, both abroad and especially in Israel (it is still prevalent here despite some encouraging counter-indications such as the remarkably successful »Yekke« conference that took place in Jerusalem a few years ago and which drew thousands of people, partly, to be sure, for nostalgic reasons but also, I think, out of a perceived need to shape a more positive appreciation of an unjustly negated heritage). My emphasis is, of course, a quite different one. It is about a cultural and intellectual legacy which I believe we should examine critically but which is nevertheless unique and admirable, and – in an appropriately modified way – worthy too of emulation. To be sure, there is nothing particularly new in this positive version. For over a half-century now, fascinated scholars have been chronicling, mapping and variously explaining – often in a highly sophisticated manner – the creative cultural and intellectual achievements of German Jewry. It would be no exaggeration to state that the study of German Jewish culture and intellect has become something of an academic industry, a kind of counter-history to the, perhaps equally persistent, derogatory narrative of German Jewry as demoralized, deluded, disfigured. There is, no doubt, a degree of (quite understandable) post-Holocaust idealization in these portraits. George Mosse’s appreciation of the cultural and

This article has appeared in a longer version as Chapter 3 »Icons Beyond the Border: Why do we Love (Hate) Theodor Adorno, Hannah Arendt, Walter Benjamin, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem and Leo Strauss?«, pp. 81–118 (Notes, pp. 166– 188) in Steven Aschheim: Beyond the Border: The German-Jewish Legacy Abroad. Princeton: Princeton University Press 2007.

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intellectual achievements of German Jews – as the product of a peculiar Jewish appropriation of the distinctive German notion of Bildung that became built into the creative core of their newly acquired identities – is as much personal credo as historical analysis, transmuted into a goal, an »inspiration for many men and women searching to humanize their society and lives.«1 George Steiner repeatedly trumpets the prodigal creative genius of post-Enlightenment German-speaking Jewish intellectuals and creative artists steeped in the emancipated, secular, critical, humanism of Central Europe – and equates this with his own idealized conception of a quintessentially diasporic Judaism.2 And in Amos Elon’s recent best-selling The Pity of it All, German Jewry is incarnated in its ongoing, even if ultimately tragically unsuccessful, attempt to tame nationalism and civilize other such exclusivisms.3 Eric Hobsbawm presented a similar case in his – strikingly uncharacteristic – role of lecturer at the Leo Baeck’s London 50th anniversary. In all these versions, German Jewish intellectuality serves as a metaphor for the critical yet always humanizing and autonomous mind. These, however, are all very generalized declarations, familiar statements, the stuff of barmitzvah books in which giants such as Freud and Einstein remain emblematic. What I want to analyse here is a far more specific, perhaps less recognized, and rather astonishing phenomenon, one which links (whatever we mean by) the German-Jewish legacy to a broader context. I am referring to the fact that at the beginning of the twenty-first century, certain Weimar German-Jewish thinkers – specifically, Theodor Adorno (1903–1969), Hannah Arendt (1906–1975), Walter Benjamin (1892–1940), Franz Rosenzweig (1886–1929), Gershom Scholem (1898–1982) and Leo Strauss (1899–1973) – stand as central, virtually iconic, figures of Anglo-American, indeed, Western, intellectual and academic culture. All have been recognized as being, in some way or another, »Jewish« thinkers but their thought, writings and reception have far transcended those borders. Celebrated or castigated, canonized and critiqued, appropriated and interpreted in manifold ways, dissected in minute (and often contested) detail, they have all achieved remarkable prominence,

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George L. Mosse: German Jews Beyond Judaism. Bloomington: Indian University Press 1985, p. ix. In his autobiography, Confronting History: A Memoir (Madison: University of Wisconsin Press 2000), Mosse writes that this »is certainly my most personal book, almost a confession of faith.« (p. 184). See, for example, »A Kind of Survivor« in Steiner’s Language and Silence: Essays on Language, Literature and the Inhuman (New York: Atheneum 1977) as well as his autobiographical comments in: Errata: An Examined Life (London: Weidenfeld & Nicolson 1997). Amos Elon: The Pity of it All: A History of Jews in Germany, 1743–1933. New York: Henry Holt and Company 2002. Another example of this genre would be Friedrick V. Grunfeld: Prophets Without Honor: A Background to Freud, Kafka, Einstein and their World. New York: Mc-Grwar-Hill 1979.

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well beyond the borders of their birth. With the passing of time, if anything, their resonance – their »actuality« – has increased rather than diminished. I assume that in front of this audience, there is no need to elaborate upon the works and biographies of these distinguished thinkers. Here I want to focus on their current reception, eminence and visibility. Some of this is truly remarkable. Thus, Leo Strauss, who by all contemporary accounts was an exceedingly shy and unworldly refugee figure,4 is presently being celebrated5 or reviled as perhaps the most positively or perniciously influential political thinker of our time. There is a lively, widespread (and often ridiculous) discussion presently underway, in fringe, popular and more highbrow organs alike, as to whether or not Strauss – via his followers, many of whom currently occupy positions in power in Washington – is the hidden power behind the present Bush throne, even the force behind the Iraq War.6 Of course, neither his devotees nor his 4

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For a revealing contemporary portrait of Strauss’s personal religious-philosophical conflicts, his shyness and his early support for Mussolini (in the latter’s pre-antiSemitic phase), see Hans Jonas: Erinnerungen. Ed. by Christian Wiese. Frankfurt am Main: Insel 2003, pp. 94ff. and especially pp. 261ff. The sectarian, cult-like atmosphere promoted by his followers is legendary. For an admittedly tendentious view, see Shadia B. Drury: Leo Strauss and the American Right. New York: St. Martin’s Press 1997. Drury puts it thus (p. xi): »… the political ideas of this very influential man are shrouded in mystery, partly because he was preoccupied with secrecy and esotericism, and partly because his students treat his work as sacred texts rather than as objects of critical analysis and debate.« Michael Platt, one of Strauss’s students, does not alter this designation: »And when one follows the manly path of his sentences, his steady ascents, his sudden dashes to a peak, or his equally sudden descents to some depth, when a single remark goes to the very heart of a matter that has long puzzled one, or when he makes something simple remarkable as well, when reading Strauss makes one get up and walk about the room, when all cares vanish in the bliss of thinking, and one is attached only to detachment, then one is inclined only to ask the Questions and forget the quarrels, remember Man and forget all cities, men, and meals.« See his essay »Leo Strauss: Three Quarrels, Three Questions, One Life« in: The crisis of liberal democracy: a Straussian perspective. Ed. with an introd. by Kenneth L. Deutsch. Albany/NY: State Univ. of New York Press 1987, p. 24. See, for instance, William Pfaff: The long reach of Leo Strauss. In: International Herald Tribune (May 15, 2003); Nicolas Xenos: Leo Strauss and the Rhetoric of the War on Terror. In: Logos (Spring 2004); See, for instance, Jeffrey Steinberg: Profile: Leo Strauss, Fascist Godfather of the Neo-Cons. In: Executive Intelligence Review (March 21, 2003). Jenny Strauss Clay, Strauss’s (step?)daughter, a professor of classics at the University of Virginia sought to stem this tide in an Op-Ed page of the New York Times (June 2, 2003) where she wrote: »My father was a teacher, not a right-wing guru. …Recent news articles have portrayed my father, Leo Strauss, as the mastermind behind the neoconservative ideologues who control United States foreign policy. He reaches out from his 30-year old grave, we are told, to direct a ›cabal‹ (a word with distinct anti-Semitic overtones) of Bush administration figures hoping to subject the American people to rule by a ruthless elite. I do not recognize the Leo Strauss presented in these articles.« [And, as Mark Lilla has noted: »Jour-

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many critics and adversaries will find any specific policy recommendations or endorsement of »a Judeo-Christian crusade against Islam«, or an advocacy of a militant democratization of the world, anywhere in his writings.7 On the contrary, throughout his life Strauss, the putative father of neo-conservatism, remained an elitist and severe critic of liberal democracy (a theme to which I shall return). Hannah Arendt, too, has been appropriated by any number of politically and internationally diverse circles.8 In Germany there is an express train named after her that runs from Karlsruhe to Hannover and the postal services issued a stamp in her name. Her »actuality« is constantly invoked as are attempts to creatively apply her thought and categories to contemporary crises of politics and civilization.9 In the post 1989 climate she has been, among other things, re-invented as the »political thinker of hope« and free civil society, an inspirer of the East European »velvet Revolution«.10 Like our other thinkers Arendt’s politics cut through conventional left-right distinctions. Her refusal to be simply classified, no doubt, encouraged such diverse readings. »You know«, she told Hans Morgenthau, the left think I am conservative, and the conservatives sometimes think I am left or a maverick or God knows what. And I must say I couldn’t care less. I don’t think the real questions of this century get any kind of illumination from this kind of thing.11

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nalists who had never read him trawled his dense commentaries on ancient, medieval, and modern political thought looking for incriminating evidence. Finding none, they then suggested that his secret antidemocratic doctrines were passed on to adepts who subsequently infiltrated government.« See »Leo Strauss: The European« in: The New York Review of Books (October 21, 2004), pp. 58–60. The quote appears on p. 55. For some excellent examples of the distortions and partisan uses made by interested American commentators see Lilla’s follow-up article »The Closing of the Straussian Mind« in: The New York Review of Books (November 4, 2004), pp. 55– 59.] See Anne Norton: Leo Strauss and the Politics of American Empire. New Haven: Yale University Press 2004. See also Kenneth L. Deutsch/John A. Murley (eds.): Leo Strauss, the Straussians and the Study of the American Regime. Lanham/MD: Rowman and Littlefield 1999. For sources and references see my »Hannah Arendt in Jerusalem« in: In Times of Crisis: Essays on European Culture, Germans, and Jews. Madison: University of Wisconsin Press 2001. See for instance Waltraud Meints/Katherine Klinger (eds.): Politik und Verantwortung. Zur Aktualität von Hannah Arendt. Hannover: Offizin 2004. For an example of one such creative attempt to apply her thought to current crises see in that volume, Nancy Fraser: Hannah Arendt im 21. Jahrhundert, pp.73–86. See Richard J. Bernstein: Hannah Arendt and the Jewish Question. Cambridge/Mass.: The MIT Press 1996, p. 2. Quoted in Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt: For Love of the World. New Haven: Yale University Press 1882, p. 451.

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The public and political influence of Arendt and Strauss (who, ironically, could not abide each other) is most conspicuous, but a widespread cultural and intellectual mystique also adheres to all our other figures, around whom entire academic industries have been created. It would be a mammoth task to register and analyze this in systematic fashion; indeed, it would be rather futile, to render and grade their popularities in statistical or hierarchical manner. But a glance at the continuing attention – qualitative and quantitative – showered on all these thinkers (in the form of books, articles, novels, dramas and even apparel) makes their appeal patently obvious. To be sure, a cursory search of Google gives Walter Benjamin a remarkably sizeable numerical advantage.12 He is cited over an astonishing range of topics, disciplines and issues; manifold ideological and political currents regard him as authoritative and his fame has moved beyond highbrow circles (where we would expect to find him) and percolated into surprisingly diverse areas of popular culture.13 He is the only one of these intellectuals for whom a monument has been built – by the Israeli sculptor Dani Karavan – at Port Bou, the place of his suicide, which has become a site of pilgrimage. In loose and complicated ways, Benjamin was affiliated with the Frankfurt School, especially Theodor Adorno, the maker of »Critical Theory«. Perhaps only a little less densely than Benjamin himself, Adorno has achieved similar fame. »Should we Adore Adorno?« Charles Rosen has recently asked?14 Despite dissenting voices, for many the answer has been a resoundingly positive one. Edward Said has valorized him as a »forbidding but endlessly fascinating man… the dominating intellectual conscience of the middle twentieth century…«15 Rosenzweig and Scholem, it is true, are best known to Jewish audiences but their presence within more general intellectual culture continues apace. »In terms of his depth, his originality, his immense learning, the power of his mind, and the compassion of his vision (not to mention his wide influ12

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To be sure, such searches are notoriously unreliable. With a name like »Walter Benjamin« he is bound to be confused with numerous other figures with a combination of these names. Still, under Benjamin (on February 20, 2005) there were an astonishing 3,280,000 entries way outstripping the others! The other entries roughly follow the political and then intellectual order as I have listed them here: Strauss, 451,000; Arendt, 326,000; Adorno, 223,000; Rosenzweig, 57,400; Scholem, 43,900. The examples of this popular percolation are numerous. A full study of Benjamin’s Rezeptionsgeschichte would be valuable. A beginning has been made in Udi Greenberg’s excellent Hebrew MA thesis on the subject. Thus, Julia Eisenberg’s 2001 pop record »Trilectic«, based, of all things, upon Benjamin’s diary entries of his 1927 trip to Moscow, and his love affair with Asja Lacis (!) sold hundreds of thousands of copies, not through any massive publicity by the mass media but rather through word of mouth and the internet. See Greenberg’s unpublished paper »›A Hero of Our Time‹? – Walter Benjamin and Historical Research«, p. 1. Charles Rosen: Should We Adore Adorno? In: The New York Review of Books (October 24, 2002), pp. 59–66. Edward Said: Representations of the Intellectual. London: Vintage 1994, pp. 40–43.

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ence on non-Jewish as well as Jewish thinkers)«, Hilary Putnam comments, Franz Rosenzweig ranks »…as one of the most important Jewish thinkers of the twentieth century.«16 Scholem has been compared to Freud;17 he has been invoked by such varied figures as Jorge Luis Borges, Paul Celan and Harold Bloom.18 Upon his death, Hans Jonas may well have been speaking for countless leading Jewish, German, European and American intellectuals when he wrote that Scholem was the focal point. Wherever, he was, you found the center, the active force, a generator which constantly charged itself; he was what Goethe called an Urphänomen.19

How are we to account for this rather extraordinary phenomenon, the centrality of these figures within Western intellectual culture? To some extent, no doubt it can be attributed to an ongoing post-Holocaust commemoration and a rather romantic valorization of German-Jewish intellectuals and their legacy in general. This, is in part, also related to a general attraction to »European« thinkers and what we impute to them: passionate intellectuality, critical engagement, and formidable depth (for some readers, the very difficulty of their thought, the obscurity and occasional impenetrability of style, renders them more attractive, provides evidence of a certain intellectual magic, of secrets available only to initiates.) But if German-Jewish intellectuals are regarded as firmly embedded within the European intellectual tradition they are also portrayed, as »a special type, distinctive and separate in character«,20 as people who, as Walter Benja-

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Hilary Putnam: Introduction to Franz Rosenzweig. In: Understanding of the Sick and the Healthy: A View of World, Man, and God. Ed. with an introduction by Nahum Glatzer. Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1999, p. 1. For a comprehensive survey of the remarkable volume of writings on that thinker and the modes and problems of Rosenzweig’s reception see Peter Eli Gordon: Rosenzweig Redux: The Reception of German-Jewish Thought. In: Jewish Social Studies 8, 1 (Fall 2001), pp. 1–57. See Cynthia Ozick: The Mystic Explorer. In: The New York Times Book Review (September 21, 1980), p. 1. I have provided a far larger list of this kind of adulation in: The Metaphysical Psychologist: On the Life and Letters of Gershom Scholem. In: Journal of Modern History 76 (December 2004), no. 4, pp. 903–933. See Henry Pachter: Gershom Scholem: Towards a Mastermyth. In: Salmagundi (Winter 1978), no. 40. See too Susan A. Handelman: Fragments of Redemption: Jewish Thought and Literary Theory in Benjamin, Scholem and Levinas. Bloomington: Indiana University Press 1991. See Jonas’s Letter of February 24 in Gershom Scholem: A Life in Letters1914– 1982. Ed. and trans. by Anthony David Skinner. Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2001, pp. 494–495. Peter Eli Gordon: Rosenzweig and Heidegger: between Judaism and German philosophy. Berkeley [u. a.] : Univ. of California Press 2003 (Weimar and now; 33), p. 8.

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min put it, »Jewishness is not in any sense an end in itself but the noble bearer and representative of the intellect.«21 Moreover, there is in particular a mystique around the Weimar Republic. The thinkers in question all spent their formative years in the Republic and their oeuvres stubbornly bear the creative and often problematic imprint of its culture, politics and sensibility. Indeed, the fact that they were quintessentially Weimar thinkers constitutes an integral part of their charisma and canonization beyond the border. The myth of that Republic, to be sure, is double-edged. For it is half danger and warning, of failed democracy, social and moral breakdown, the rise of Fascism, and so on. But it also an idealized version of the daring experimental spirit, the dissenting temperament, the revolutionary burst of intellectual innovation and artistic creativity that characterized those years (in many accounts of the Republic’s history, the two halves are portrayed as integrally interconnected). Moreover, unlike other leading intellectuals of that period, such as Martin Heidegger and Carl Schmitt, as Jews our figures remain unblemished, victims not supporters of the Nazi regime. (The fact that they were Jews rendered them relatively immune to the political temptations that so seduced people like Heidegger and Schmitt. This also makes their ongoing critiques of liberalism and bourgeois modernity more acceptable, palatable, salonfähig to Western audiences.) The German-Jewish intellectuals could thus easily become representatives of the positive sides of the Weimar experience, makers and exemplars of a fascinating past. The successful migration of the thought of these Weimar-Jewish intellectuals, the fact that they became icons beyond their borders, may also be related to the fact that while they began their careers in Weimar Germany, most also physically left their first homeland and, in various ways and places, pursued their productive lives elsewhere. Franz Rosenzweig, of course, was the exception. His tragic 1929 death in Germany (and his heroic comportment before that) from a painful and progressive paralysis, has become an integral part of his legend.22 All the others traversed the German border. Walter Benjamin and his1940 suicide on the French-Spanish border has become emblematic of the Jewish intellectual who crossed, questioned and was robbed of recognized borders »the dialectical Jew at a standstill,« as Terry Eagleton dubbed him, »declaring the small hoarse sound of the Torah in the customs shed.«23 Scholem was the first to leave Germany in 1923 for Palestine where he went on to found the academic study of mysticism, all the while subverting the conventional ideological borders of liberalism, Zionism and normative Judaism 21

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Benjamin to Ludwig Strauss. November 21, 1912. In: Gesammelte Schriften 2.3. Ed. by Rolf Tiedemann and Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, p. 839. For a critical discussion of this connection see both works by Peter Eli Gordon, op. cit. See his »Homage to Benjamin« in his: Walter Benjamin; or, Towards a Revolutionary Criticism. London, New York: Verso 1981, p. 183.

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alike. Arendt and Strauss went on to highly successful careers in the United States. Adorno, lived there – a little less happily – from 1938 to 1953 after which he returned to his native Germany. In America, these refugee thinkers remained recognizably foreign – Walter Laqueur has written that they had a very narrow of American society because few of them could drive a car! At any rate, for many searching and critical students and intellectuals these Weimar figures represented a kind of exotic other, foreign yet close enough to encourage identification – particularly given their own marginal status as Jews or victims or outsiders. But, again, this very generalized account only takes us so far. It does not really tell us why these particular Weimar German-Jewish intellectuals rather than others currently seem to embody that legacy, why they rather than other figures of their time have traveled so well. Why, for instance, do Scholem and Rosenzweig presently attract more respectful attention than, say, Martin Buber? Why is it that Arendt and Strauss are so much more audible than Hermann Cohen and Ernst Cassirer? Why, for that matter, do we hear far more today of Adorno and Benjamin than Ernst Bloch and even Herbert Marcuse? Of course, intellectual reputation always contains a degree of indeterminacy: there are heterogeneous audiences, the various parts of a writer’s project may receive different ratings from different categories of reader; it is almost impossible to maintain a clear distinction between questions of merit and celebrity, fashion and utility; and at any given moment judgment will be affected by hearsay, selective recall, and the predilections of editors.24 Clearly no single account will suffice. For all that, reception and popularity possesses some political, intellectual and contextual grounding. Thus Buber, who was feted especially during the 1950s, now appears (however unfairly) too pious and pontificatory, too prophetic and »Christian«, insufficiently »textual« (indeed, his reputation was sullied in no small measure by Scholem himself, and to some degree as well by Benjamin). Both Hermann Cohen (who died in 1918 and thus can hardly be considered a Weimar thinker) and Ernst Cassirer, though by no means entirely neglected, are too classically »liberal«, too conventionally »bourgeois« to excite broader interest. Marcuse and Bloch were unabashedly »political«, prophets of clear and activist »hope«. Their heyday occurred in the optimistic, heady 1960s. In our own greyer, more ambiguous times, the more shaded, indeterminate ruminations of Adorno and Benjamin seem congenial. Walter Benjamin’s vaunted messianism is celebrated precisely because it is a densely complex, qualified one. »I came into the world under the sign of Saturn«, he wrote, »the star of the slowest revolution, the planet of detours and delays…«25 Benjamin’ project, his attempt to

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Stefan Collini: Moralist at Work: E. P. Thompson reappraised. In: Times Literary Supplement (February 18, 2005), pp. 13–15. Susan Sontag: Under the Sign of Saturn. London: Vintage 1996, p. 111.

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salvage doomed or forgotten pasts and defeated, oppressed communities necessarily came mixed with memories and intimations of catastrophe. I think that it is true to say that the iconicity of our thinkers, their present appeal, derives from a number of shared characteristics. To be sure, there were great differences amongst them, yet in many ways they constituted a kind of community of affinity. They chose different objects of reflection and distinct modes of self-definition and political hope – indeed they insisted upon these markers of separateness – but the issues and dilemmas that plagued them, the categories in which they thought were of one cloth. They were all heterodox thinkers. Orthodoxy, of almost any kind, was not an option (even the apparent return to traditional Judaism of Rosenzweig was performed on the basis of a radical and immanent re-conceptualization of its classical precepts.) Their diverse projects are not easily pigeon-holed: they all resisted simple ideological classification and were moved by radical impulses. Indeed, they were driven to go beyond the borders in both literal and metaphorical ways. They naturally gravitated to tactics of conceptual and critical displacement and sought to first subvert and then remap accepted cognitive frontiers. These qualities, I believe, account for much of their ongoing attractiveness. All engaged in essentially Weimarian post-liberal ruminations, posited on the ruins, and a disbelief in, the old political and conceptual order. They all advocated a kind of »root« re-thinking that variously explored novel ways in which to comprehend the disarray of post-world War I European civilization – and to provide radical solutions for its predicament. Thus, Adorno and Benjamin are usually regarded within the prism of a culturally and theologically inflected »negative metaphysics« of critique and, for many, with a highly revisionist, humanistically reconceived »Western« Marxism.26 Hannah Arendt is renowned not only as the analyst of totalitarianism but for her thinking through of its implications for the Western philosophical tradition as a whole, and her formulation of a post-metaphysical pluralist politics as the sphere of autonomous and spontaneous action.27 Franz Rosenzweig is known for his interrogation and dismissal of idealist metaphysics and his realigning of traditional »religious« and transcendental categories such as creation, revelation and redemption within a temporal frame. His was a new »existential« understanding of immanent Jewish life which by its nature was bound to operate beyond conventional physical and political borders: Jewish existence was ontologically separate from its surroundings.28 Gershom Scholem, 26

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For a superb and nuanced exposition see Martin Jay: Marxism and Totality: The Adventures of a Concept from Lukács to Habermas. Berkeley: University of California Press 1984. There are any number of references here. For the most insightful see Dana Villa: Arendt and Heidegger: The Fate of the Political. Princeton: Princeton University Press 1996, and Seyla Benhabib: The Reluctant Modernism of Hannah Arendt. Thousand Oaks/Calif. [u. a.]: Sage 1996 (Modernity and political thought; 10). See Gordon, Rosenzweig and Heidegger (see note 20).

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that »primordial« but entirely unconventional Zionist, was animated by an antinomian theologico-metaphysical dream of the regeneration of Judaism, fuelled by his single-handed embrace of the study of Kabbalah. He integrated into his radical philosophy of history, sects and movements previously regarded as too obscure and obscurantist for serious consideration and decipherment and bestowed upon them a vitalizing function at the very heart of the Jewish historical project.29 Leo Strauss – in very idiosyncratic fashion – reread classical politico-philosophical texts against the modern (and liberal) grain, privileged pre-modern rationalism and sort to delineate the separate functions of (everyday, cynical) politics – he approved of Plato’s »noble lies« – from (truthful though dangerous) philosophy. Not always fully convinced, he reasserted the claims of faith over Enlightenment reason but was able neither to surrender loyalty to his ancestral community nor to the claims of a transcendent philosophical tradition (perhaps, in the end, through his interpretation of the esoteric meaning of Plato, he conflated the two and Athens and Jerusalem became, as it were, one.)30 There is another important commonality. In the turbulent and hostile circumstances of their time all our thinkers were explicitly confronted with – and attempted to provide creative solutions to – what Leo Strauss has called the Jewish »theologico-predicament«.31 This entailed dealing, in one way or an29

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For an excellent exposition of Scholem’s project see David Biale: Gershom Scholem: Kabbalah and Counter-History. Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1979. Werner J. Dannhauser writes: »I have become convinced of what in a previous study I could not, that Leo Strauss was of the party of Athens and not of the party of Jerusalem….[the philosopher] knows by the power of his own thought that divine revelation is impossible. Evidently this is the final position of Leo Strauss; at least the book on Plato’s Laws is his final book….If [he] chose Athens over Jerusalem, and I think he did, one must add at once that this choice did not lead to the ›unstringing of the bow‹. Perhaps he would have argued that philosophy has its own built-in ›magnificent tension of the spirit‹.« See his »Athens and Jerusalem or Jerusalem and Athens?« in: David Novak (ed.): Leo Strauss and Judaism: Jerusalem and Athens critically revisited. Lanham [u. a.] : Rowman & Littlefield 1996, pp. 155–171. The quote appears on pp. 168–169. David Biale comments: »If I am correct, then the secrets of the Torah that constitute the truth of the Jewish tradition are for Strauss none other than the truths of Greek philosophy, quite possibly the esoteric meaning of Plato: From an esoteric point of view, Athens and Jerusalem are one and the same.« See David Biale: Leo Strauss: The Philosopher as Weimar Jew. In: Alan Udoff (ed.): Leo Strauss’s Thought. Toward a Critical Engagement. London: Lynne Rienner 1991, p. 37. See his complex and difficult 1962 Preface to the English Translation of: Leo Strauss: Spinoza’s Critique of Religion. Transl. by E. M. Sinclair. New York: Schocken Books 1965, pp. 1–21. Scholem saw just how difficult this would be for readers beyond the border and how much it betrayed its Weimar origins. He told Strauss that »those pages would be virtually impenetrable to an American reader.« See Scholem: Letter 57, 13.12.1962, Vo. II, pp. 86–87. See too Letters 18, 2.6.1952;

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other, with the subtle tensions and ambiguities of their own Jewish and culturally hybrid identity. There is nothing new or surprising in this. But, given the later canonic status of these thinkers it is rather startling to note that (with the exception of Adorno) these figures were all either profoundly involved in or, at least, in dialogue with or intimately aware of, the world of German Zionism. This is surprising because German Zionism was, after all, a rather fringe phenomenon.32 The Zionist engagement of so many German-Jewish intellectuals who were later to achieve international fame, the creative energies it inspired, is rather astonishing and a tale that awaits its historian (our own figures, apart, names like Hans Kohn, Martin Buber, Erich Fromm, Leo Löwenthal, Hans Jonas and Norbert Elias by no means exhaust the list.)33 Perhaps its very fringe, marginal nature constitutes part of the explanation. It would be an exaggeration – but not a great one – to say that the alternatives for sensitive, dissenting, anti-bourgeois, post-liberal youthful Jewish intellectuals of the Weimar Republic consisted of the choice between Zionism and Marxism (and sometimes a combination of the two – even if its proponents later moved beyond or refined both these positions. Rosenzweig was entirely exceptional for his devising a viewpoint that bypassed – and challenged – both.) Zionism, like Marxism, was a boundary phenomenon, a form of personal and intellectual displacement – and re-placement. At the time, it appeared as a

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Letter 137, 21.10.1968. See too Strauss’s important: Philosophy and Law: Contributions to the Understanding of Maimonides and his Predecessors. Translated by Eve Adler. Albany: State University of New York 1995. The work was originally published in German in 1935. His preoccupation with Jewish and Zionist subjects during the Weimar period is apparent in the useful translations and editing of Michael Zank: Leo Strauss: The early writings (1921–1932). Albany: State University of New York 2002. For an excellent study of Strauss in his earlier Weimar period see the dissertation by Eugene Sheppard: Leo Strauss and the Politics of Exile. Los Angeles: University of California 2001. »While the Jewish population of Germany hovered around 500,000 persons, at its peak Zionist membership totaled about 9,000 members before World War I and just over 33,000 for the period between the war and 1933. (After 1933, for obvious reasons, membership rose dramatically). Even these figures may be inflated since they simply represent those who had paid the token Zionist membership fee, the shekel…« Moreover, a »very important segment of the Zionist movement were the so-called Ostjuden, Jews from Eastern Europe….« See Stephen M. Poppel: Zionism in Germany 1897–1933: The Making of a Jewish Identity. Philadelphia: JPS 1977, pp. 33, 38 and Chapter 3. The cases of Fromm, Löwenthal and Buber are well-known. Jonas, exceptionally, even spent a year in a Zionist agricultural training farm in Germany in 1923 before proceeding with his studies and later, for a time, lived in Palestine/Israel. See his: Erinnerungen. Ed. by Christian Wiese. Frankfurt am Main: Insel 2003, p. 475. Unlike Jonas, Elias later tried to obscure his Zionist years. See Jörg Hackeschmidt: Norbert Elias as a Young Zionist. In: Leo Baeck Institute Yearbook XLIX (2004), pp. 59–74.

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genuine regenerative option: its appeal and attractiveness derived in no small part from its perception and critique of bourgeois Jewish hypocrisy. In a sense joining the Zionist movement was both a déclassé and anti-patriotic statement. Anyone who has read the diaries of Gershom Scholem or Kafka’s Letter to his Father will be familiar with this. The case of Gershom Scholem’s Zionism is familiar as is Arendt’s complicated and changing attitude to that movement; Leo Strauss’s early and late writings are replete with both sympathetic and critical discussions of the movement; through Scholem, Benjamin was intimately apprised of the Zionist issues of the day and – like Kafka – constantly flirted with the idea of studying Hebrew and moving to Palestine (without, of course, ever seriously considering it.) Rosenzweig’s anti, or at least non, Zionism is well-known, yet his post-liberal search for radical alternatives and the need for »a new thinking«, and above all his configuration of the Jews as a living, separate (indeed organic) entity, made him an obvious Gesprächspartner, the relevant and most serious point of contestation for the Zionists with whose leading intellectuals he was close friends and in constant touch. Weimar Jewish intellectuals in general were often linked by a dense network of relationships.34 One wonders whether or not those who have internationally canonized our particular set of thinkers have any idea of the intellectually engaged and often charged personal relations that pertained between them. To be sure, at no time did they form an organized or institutional »group«. Still, their interconnections went deep and encompassed the whole spectrum of relationships ranging from close friendship through serious enmity. In fact, to the end, these figures were each others real interlocutors, the relevant others – even, perhaps especially, when they were engaged in intense intellectual, personal and ideological combat. But the fact that these Jewish (and often Zionist) thinkers were acquainted with each others works and person does not, on its own, explain their present canonic status. The romance of personal exile, a certain marginality and even victimhood does, of course, play a role in their iconicity as does, in connected fashion, their drive to radically reshape contemporary modes of understanding. 34

See, for instance, Leo Lowenthal’s vivid description of such networks: »About a year after my first meeting with [Siegfried] Kracauer [around the end of World War I], he introduced me to Adorno, who was then eighteen years old. I introduced him to my friend Ernst Simon, who like myself, was studying history, Germanistik, and philosophy, and who won me over to a very messianic Zionism. Through Ernst Simon, Kracauer met Rabbi Nobel, then a revered figure in our Jewish circle, to whose Festschrift, on the occasion of his 50th birthday, Kracauer contributed. Through Nobel, Kracauer first met Martin Buber and later Franz Rosenzweig. In the spring of 1922, I introduced him to Ernst Bloch, and he in turn introduced me to Horkheimer, who was already a good friend of Adorno’s.« See Lowenthal: As I Remember Friedel. In: New German Critique (Fall 1991), no. 54, p. 6. Those very close friends, Scholem and Benjamin, were also friendly or at least in contact with most of these figures.

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The lives and thought of the figures considered here were conducted both literally and conceptually beyond their inherited geographical and normative borders. Their confrontations with Jewishness (and Zionism), their personal plights, indeed their projects themselves revolved around issues of displacement and replacement.35 If they left old borders behind, they also sought to recast the boundaries. Even Scholem the ardent Zionist was surprisingly aware and affirmative of this exilic dimension of intellectual creativity. Freud, Kafka and Benjamin, he wrote, did not fool themselves. They knew that they were German writers – but not Germans. They never cut loose from that experience and the clear awareness of being aliens, even exiles….I do not know whether these men would have been at home in the land of Israel. I doubt it very much. They truly came from foreign parts and knew it.36

Suffering and victimization do, of course, figure in the intellectual iconicity of the twentieth century and in this respect some of our thinkers have become exemplary. The pain, courage and piety of Rosenzweig, the driven desperation and suicide of Benjamin have become integral to their reception, their personal, martyred fates often indistinguishable from the ideas themselves (this may encourage commemoration but is not always conducive to an equally necessary critique.)37 But displacement also entered the modalities and marrow of their thought: for Rosenzweig exile was not antithetical to redemption but a condition for it; the later Strauss believed that the liquidation of exile, would spell the end of genuine Jewish existence – exile was an essential binding force; Scholem dwelled endlessly on the dialectic transformations Jewish mystics wrought on the notion of exile as a necessary component of creative Jewish political and spiritual economy. Benjamin’s attempt to read and write »against the grain«, his search for the lost, oppressed voices of history surely belongs to this category. It has even been suggested that partly because Adorno was of mixed German-Jewish descent, his Negative Dialectics developed a critique of all essentialist forms of identity (including the Jewish one). But important as this marginal Jewish condition may have been this does not sufficiently account for a fame and canonicity that clearly also transcends Jewish and ethnic boundaries. Very often in the reception of many of these thinkers, Jewishness is not even mentioned; it is irrelevant. This is perhaps because, as Hannah Arendt noted (in a clearly autobiographical remark) the most clear-sighted intellectuals »were led by their personal [Jewish] conflicts

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I thank John Landau for guiding me in some of these formulations. See Scholem’s essay »Walter Benjamin« in Gershom Scholem: On Jews and Judaism in crisis. Selected essays. Ed. by Werner J. Dannhauser. New York: Schocken Books 1976, p. 191. See Gordon, Rosenzweig and Heidegger (see note 20), p. 8 and Rosenzweig Redux (see note 16), especially pp. 1–5.

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to a much more general and radical problem, namely to questioning the relevance of the Western tradition as a whole«.38 Little wonder, then, that Franz Kafka was seminal for most of our figures.39 His depiction of writing as »an assault against the frontiers«40 perfectly matches their endeavors. This was true even for those thinkers who remained more strictly within the Judaic orbit. Rosenzweig envisioned a Judaism of national belonging and redemption that essentially nullified place. Scholem’s insistence upon the animating, dialectical role of the mystical impulse in Jewish life crucially entailed displacing the purported exclusive hegemony of Jewish normative law and was animated by an acute consciousness of »the fine line between religion and nihilism«.41 Indeed, in his youth Scholem defined Zionism as a life lived without illusions – at the boundary.42 The oeuvres and methods of all these figures resist classification and clear demarcation: they derive their energy from functioning »on the border of sev-

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See Arendt’s piece on »Walter Benjamin 1892–1940« in: Hannah Arendt: Men in Dark Times. New York: Harcourt, Brace, World 1968, p. 190. The dense reflections on Kafka by Adorno, Arendt, Benjamin and Scholem are too well known to be documented here. Rosenzweig wrote less on the author, yet at least one of his wry statements makes the point powerfully enough. On May 25, 1927 he wrote (to Gertrud Oppenheim): »The people who wrote the Bible seem to have thought of God much the way Kafka did. I have never read a book that reminded me so much of the Bible as his novel The Castle, and that is why reading it certainly cannot be called a pleasure.« See Franz Rosenzweig: His Life and Thought. Ed. by Nahum N. Glatzer. New York: Schocken Books 1961, p. 160. As far as I can ascertain (although my search has not been comprehensive) Strauss is an exception to this pattern; Kafka does not appear to have figured much in his intellectual musings. See The Diaries of Franz Kafka 1914–1923. Ed. by Max Brod. New York: Schocken Books 1965, pp. 202–203. Entry for January 16, 1922. The quotation continues: »if Zionism had not intervened, it might easily have developed into a new secret doctrine, a Kabbalah. There are intimations of this. Though of course it would require a genius of an unimaginable kind to strike root again in the old centuries, or create the old centuries anew and not spend itself withal, but only then begin to flower forth.« See Scholem’s aphoristic letter written to Zalman Schocken on the occasion of the latter’s sixtieth birthday in 1937, »A Candid Word about the True Motives of My Kabbalistic Studies«: »Three years, 1916–1918, which were decisive for my entire life, lay behind me: many exciting thoughts had led me as much to the most rationalistic skepticism about my fields of study as to intuitive affirmation of mystical theses which walked the fine line between religion and nihilism« Scholem added immediately that it was in Kafka that he found »the most perfect and unsurpassed expression of this fine line.« See the translation of this letter in Biale, Gershom Scholem: Kabbalah and Counter-History (see note 29), pp. 74–76. The quote appears on p. 75. The original German letter is reproduced on pp. 215–216. See Scholem’s »Die zionistische Verzweiflung«, 19.6.1920 in: Gershom Scholem: Tagebücher, Aufsätze und Entwürfe bis 1923. 2. Halbband: 1917–1923. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 2000, p. 638.

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eral areas«.43 »But really«, Scholem asked Benjamin »where could your work be placed?«44 If this liminality, inhabiting the threshold, reflected their inherited historical situation, it also energized their creative vitality – and is an important ground for own intrigued responses to them.45 Their heterodox projects were simultaneously engaged, critical, paradoxical, despairing and (perhaps with the exception of Strauss) salvationary. Thus, in 1931, Benjamin justified his communism by likening himself to »a castaway who drifts on a wreck by climbing to the top of an already crumbling mast. But, from here he has a chance to give a signal for his rescue.«46 Acutely sensitive to the overall crisis of tradition and authority, contemptuous of the bourgeois present, wary of easy liberal duplicity, they were aware as Arendt put it, that there was no possibility of an unmediated »return« to either the German or European or Jewish tradition.47 They all thus sought novel and unexpected ways and sources for reconfiguring such traditions and finding renewed modes of relating to them, at a time when both their message and authority had come into question. They all rejected historicism and despised positivism. They abjured social science48 for its false »value-neutrality« and for a relativism that diminished both the actual and potential human condition. They dismissed traditional idealism and approached their materials in antitotalizing, anti-Hegelian ways;49 many searched for cracks and fissures and the 43

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See Handelman, Fragments of Redemption (see note 18), p. xix. Handelman intended these comments to apply to her subjects but they apply equally well to all the figures under consideration here. Scholem to Benjamin, Letter 44, early February 1934, in: The correspondence of Walter Benjamin and Gershom Scholem 1932–1940. Ed. by Gershom Scholem. New York: Schocken Books 1989, p. 98. These thoughts were prompted by a conversation with John Landau in Jerusalem, on August 18th, 2004. Quoted by Anson Rabinbach in his »Introduction« in: The correspondence of Walter Benjamin and Gershom Scholem (see note 44), p. xxv. Arendt put it thus: »And Benjamin’s choice, baroque in a double sense, has an exact counterpart in Scholem’s strange decision to approach Judaism via the Cabala, that is, that part of Hebrew literature which is untransmitted and untransmissible in terms of Jewish tradition, in which it has always had the odor of something downright disreputable. Nothing showed more clearly – so one is inclined to say today – that there was no such thing as a ›return‹ either to the German or the European or the Jewish tradition than the choice of these fields of study. It was an implicit admission that the past spoke directly only through things that had not been handed down, whose seeming closeness to the present was thus due precisely to their exotic character, which ruled out all claims to a binding authority.« See her essay on »Walter Benjamin« in: Arendt, Men in Dark Times (see note 38), p. 195. See »Against Social Science: Jewish Intellectuals, the Critique of Liberal-Bourgeois Modernity, and the (Ambigious) Legacy of Radical Weimar Theory« in my In Times of Crisis (see note 8), pp. 24–43 (notes pp. 205–218). As Peter Gordon demonstrates, Rosenzweig’s notions are very similar to Heidegger’s. For him, the sheer fact of mortality, the non-relational and non-transferable

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significances that could be ascribed to them; most were attracted by the fragmentary, the esoteric (Strauss even revived this as a guiding interpretive method). They were fascinated by the subterranean and the antinomian (»by its very nature« Scholem declared, »mysticism involves the danger of an uncontrolled deviation from traditional authority.«)50 In one way or another, all were propelled, or at least fascinated by what one observer has called »the heretical imperative«.51 No wonder that Scholem defined the Frankfurt School (with which Benjamin was – albeit uneasily – associated) as a kind of Jewish heresy, (a comment members of the Frankfurt School did not particularly welcome.) Given all these characteristics, it is not surprising that one important force behind the lionization of these thinkers is associated with what, for lack of a better word, we call »post-modernism«. Our icons are, after all, masters of interpretation and textuality – both of which post-modernism privileges. Their own dense, paradoxical, oracular and often esoteric mode of writing demands complex decipherment and creative exegesis, perfect grist for the endless deconstructionist mill. Precisely because their projects were multi-faceted and protean in nature, because they assaulted given frontiers and accentuated rupture, because they critiqued positivist and historicist reason, they have been depicted as amongst the forerunners of post-modernism, prefiguring or mirroring its concerns, or, at least, interpreted in terms of its guiding tenets. There is some truth to these perceptions. Nevertheless, the differences may be more important than the similarities and may account for the fact that these thinkers will probably outlast the deconstructionist moment. While post-modernists seem to play with and ironically celebrate the absence of transcendent purpose, of meaning and coherence in the world, our figures dwell mournfully on the loss of tradition and, in way or another, long for ultimacy. In complex, convoluted, paradoxical (and often highly problematic) ways, they were in constant search for, and offered possible avenues of, evacuation and rescue from this condition of fractured modernity. To be sure, no neat Hegelian progression is in sight, the tablets have been shattered; but in one way or another, they present us with considered and committed reconfigurations of the fragments,52 signals and directions for reconstituted meanings (whether of the pre-modern, dialectical, political or messianic variety). Like the post-moderns, their sense of displacement, of being »beyond the border« is

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experience of possible death, is the conceptual instrument for exposing the falsity of idealist totalization. There is no redemption beyond death: »eternity« occurs within finitude. See Gordon, Rosenzweig and Heidegger (see note 20), pp. 112–113. See Scholem’s essay, »Religious Authority and Mysticism« (first published in 1960) in his: On the Kabbalah and its Symbolism. Translated by Ralph Manheim. New York: Schocken Books 1965 (paper 1969), pp. 1–31. The quote appears on pp. 17– 18. Christoph Schmidt: Der häretische Imperative: Überlegungen zur theologischen Dialektik der Kulturwissenschaft in Deutschland. Tübingen: Max Niemeyer 2000. See Handelman, Fragments of Redemption (see note 18), p. 341.

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constitutive. Yet their continuing iconicity consists perhaps in their attempt to go beyond that state. In one way or another they redefined the frontiers and provided us with new moral and intellectual maps which the post-moderns, almost by definition, will not or cannot do. These maps, to be sure, are provisional and problematic. They are not definitive »Guides to the Perplexed« (although Rosenzweig’s work may have been intended as such) but rather, as Benjamin put it in another context, »the jagged edges which offer a foothold to someone who wants to go beyond that work.«53 All, each in their own way, were riveted by the question of »origins« and the recovery of lost meanings, on truth as hidden, part of a greater structure waiting to be revealed, and the possibility of redemptive moments. Some were obsessed with the messianic dimension, and all recovered the – politically loaded – theological impulse (even Arendt, perhaps the least, theologicallyminded has been interpreted this way.). This passion for and return to – or, at least, intense engagement with – theology, certainly did not involve a return to religion as traditionally conceived. The theological was now addressed in respectively idiosyncratic ways – transformed into a kind of metaphysics of the profane. Strauss turned to pre-modern rationalist esoteric readings and recoveries, Benjamin to a qualified and oblique messianism, Scholem to its apocalyptic and antinomian possibilities and dangers, Rosenzweig to a conception of the transcendent that emerged from the temporally finite and Adorno to a theologically-laced negative dialectics. This is a very dense and complicated theme in which each thinker deserves separate treatment. Time and space prevents us from doing this so let Adorno’s comment serve as exemplary of this tendency: The only philosophy which can be responsibly practiced in the face of despair is the attempt to contemplate all things as they would present themselves from the standpoint of redemption. Knowledge has no light but that shed on the world by redemption: all else is reconstruction, mere technique. Perspectives must be fashioned that displace and estrange the world, reveal it with its rifts and crevices as indigent and distorted as it will appear one day in the messianic light.54

I stated at the beginning that these thinkers stubbornly bore the creative and often problematic imprint of its Weimar provenance. The creative nature and content of these projects should, by now, be evident. But in what sense are they problematic? In one way or another all these thinkers consistently critiqued, and at times, indeed, directly attacked liberalism and mass modernity. This is especially (but not exclusively) true of their earlier thought and often most clearly expressed in their private comments. To mention only the most extreme, in a 1933 letter from his Roman exile, Leo Strauss wrote to Karl Löwith:

53 54

[Ibid., p. 15. The quote comes from GS I/2, p. 681. Wohlfarth piece.] Quoted as the motto to Handelman, Fragments of Redemption (see note 18).

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Steven E. Aschheim From the fact that Germany, which has turned to the right, has expelled us, it simply does not follow that the principles of the right are therefore to be rejected. To the contrary, only on the basis of principles of the right –– fascist, authoritarian, imperial –– is it possible, in a dignified manner, without the ridiculous and pitiful appeal to the rights of Man to protest against the mean [Nazi] non-entity… There is no reason to crawl to the cross, even to the cross of liberalism, as long as anywhere in the world a spark glimmers of Roman thinking. And, moreover, better than any cross the ghetto.

None of our other thinkers, of course, ever went as far as this, but the critique of liberal-bourgeois instrumentality and mass modernity invariably informed the nature of their projects and the political positions they adopted – conservative, Zionist, Marxist, or religious. These sentiments were very much in the mould of Weimar intellectuals.55 When they were not hostile, they were certainly quite indifferent to the workings of constitutional democracy, to questions of parliamentary representation, to the various individual »bourgeois freedoms«, to the messy everyday »bread and butter« politics of barter and negotiation (as Zwi Bacharach has shown, so persuasively).56 To be sure, there are a number of mitigating factors here. With the obvious exception of Rosenzweig, all these critics of liberalism in one way or another later became – even more famously – analysts and fierce opponents of Nazism and totalitarianism. Their experiences and status as Jewish victims, as exiles and refugees also somehow softened their critiques of liberalism or at least rendered them more palatable. And for all their overt rejections, their various projects conserved a certain openness and humanizing core that was at the base of the Bildungs legacy that willy nilly they inherited as German Jews. All this leads to a final, interesting question. Why do we elevate as icons thinkers that seem so critical of – or at best, indifferent to – liberalism in an intellectual and academic milieu that conceives itself to be essentially a liberal one? Perhaps we can best answer this by shifting our perspective somewhat. At the beginning of this lecture I asked why it was these specific thinkers rather than others who have undergone present canonization. Now, I want to compare them to another intellectual who has achieved that status and who presently occupies a remarkably iconic position precisely because he is a liberal. I am referring, of course, to the greatly celebrated Isaiah Berlin. Berlin is canonic because in his person and writings he most quintessentially incarnates an updated liberalism’s positions and values. It is he who most 55

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See Peter Gay: Weimar Culture. The outsider as insider. New York: Harper & Row 1968 and Zvi Bacharach: The Challenge: Democracy in the Eyes of German Professors and Jewish Intellectuals in the Weimar Republic (Hebrew). Jerusalem: The Hebrew University Magnes Press 2000. This is the general thesis of Richard Wolin: Heideggers Children: Hannah Arendt, Karl Loewith, Hans Jonas and Herbert Marcuse. Princeton: Princeton University Press 2001. For my agreement and dissent see the review in: Journal of Modern History 75 (December 2003), Number 4, pp. 933–935.

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compellingly articulates – and reflects – our cultures’ idealized individualist, liberal (and pluralist) self-image. Berlin certainly did not regard himself as having much in common with our counter-icons (although, strikingly, he too expressed both a passionate interest in, and support of, Zionism.) In a private letter (to Jean Floud) he expressed his real opinion and feelings about many of these Weimar-bred exiled intellectuals and the milieu that had produced them: the terrible twisted Mitteleuropa in which nothing is straight, simple, truthful, all human relations and all political attitudes are twisted into ghastly shapes by these awful casualties who, because they are crippled, recognize nothing pure and firm in the world.57

Damaged people, Berlin argued, produced damaged ideas. If our intellectuals were restless, crossing real and conceptual borders, Berlin – that Riga-born Jewish refugee from the Bolshevik Revolution – was in both literal and cognitive ways deeply at home. Ensconced and revered in his cosy, beloved Oxford he would have found Adorno’s dictum – »It is part of morality not to be at home in one’s home« – both incomprehensible and distasteful. Berlin’s liberalism and pluralism are decent and comforting; decisions are left to the individual and, indeed, part of his appeal consists in his critique of the dangers of an over-arching conception of a single common good, an all encompassing civic virtue. Our German-Jewish icons, on the other hand, refused to let this quest go. Unlike, Berlin they did not feel conceptually at home. Rather, they lived and thrived on the jagged edges, all the while struggling to reach a new landscape, to reach a conception of a greater good. Apparently, our culture needs both these visions. They are, so to speak, necessary mirror-opposites. They give voice to the two poles of an ongoing, creative tension: between, on the one hand, the affirmation of a decent, humane liberalism soberly aware of the limits of social and political action and the dangers of the Utopian temptation and, on the other, the radical impulse that expresses a continuing critique of the compromised modalities and inequities of modern life and the search for (usually profane) splinters of transcendence. We want both to stay at home and wander abroad, torn between the desire to step out of our own frontiers and experiment with alternative and perhaps better worlds – and at the same to cherish the familiar, to carefully chart our boundaries and feel safe within them. We iconize both, we need both and should be glad that we are not always forced to choose between them. The figures we have considered here constitute only a part of the GermanJewish intellectual adventure and that at its end point, rife with both crises and challenges. They certainly should not be romanticized. There was much in their ruminations that, no doubt, was overheated and obscure, wrong-headed and infuriating. Their strengths, as well as weaknesses, reflect their Weimar origins and its subsequent fate. Intellectuals are occupationally impelled to test 57

Ibid., p. 253.

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Steven E. Aschheim

assumptions and limits, to go »beyond the borders« but the circumstances of our figures rendered their quest particularly intense and animated their diverse, volatile attempts at novel modes of prescriptive understanding. Their thought remains resonant because in sophisticated ways they respectively identified and diagnosed still current predicaments and provided guidelines toward possible personal and collective alternatives. To paraphrase Jürgen Habermas, it is a part of a German-Jewish sensibility which, had it not existed, »we would have to discover … for our own sakes.«58 In an increasingly conformist civilization it is a legacy we should take care not to lose.

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»The German Idealism of the Jewish Philosophers (1961)« in Jürgen Habermas: Philosophical-Political Profiles. Translated by Frederick G. Lawrence. Cambridge/Mass.: The MIT Press 1985, pp. 21–43. The quote appears on p. 42.

II

Wilhelm Voßkamp

Das Neue als Verheißung Über die Entstehung des Neuen in der deutschen Literaturwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Kulturwissenschaften I

Allgemeine Kategorien des Wandels

Voraussetzungen und Kategorien des Wandels und die Entstehung des Neuen in der Geschichte der Literaturwissenschaft lassen sich an disziplinübergreifenden und disziplinspezifischen Merkmalen ablesen. Sie sind Teil einer Kulturgeschichte des Wissens und der Wissenschaften, die nur im Zusammenhang mit anderen »kulturellen Formationen und Diskursen« und damit auch gesellschaftlichen Machtkonstellationen gesehen werden können.1 Wissenschaftsgeschichte ist deshalb selbst zu historisieren; d. h. konkret auf die jeweilige historisch-kulturellen Situationen zu beziehen. Erst im Zusammenhang einer Kulturgeschichte des Wissens lässt sich auch der Stellenwert einer disziplinären Wissenschaftsgeschichte ermessen.2 Historische Wissenschaftsforschung sollte daher grundsätzlich inter-disziplinär orientiert sein und von fächerübergreifenden Problemlagen und Problemfragen ausgehen.3 1

2

3

Michael Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. In: Ders.: Ansichten. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2001 (Fischer; 15261), S. 7–39; hier bes. S. 23ff. Zu den Arbeiten im Bereich der allgemeinen Wissenschaftsforschung vgl. v. a.: Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973 (amerikanische Originalausgabe »The Structure of Scientific Revolutions«, 1962); ders.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Hg. von Lorenz Krüger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978; Bruno Latour/Steve Woolgar: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Princeton: Princeton Univ. Press 1979/1986; Lorraine Daston: Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität. In: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität. Göttingen: Wallstein 1998, S. 9–39; Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001 und Renate Mayntz: Autonomie oder Abhängigkeit: Externe Einflüsse auf Gehalt und Entwicklung wissenschaftlichen Wissens. In: Jörg Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. XXVII–XCII. Zur Literaturwissenschaft vgl. die übrigen Beiträge in diesem Band und die Aufsätze in der Sektion »Wissenschaftsgeschichte«. In: Walter Erhart (Hg.):. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 3–163. Die gegenwärtige Diskussion zur Geschichte der Wissenschaftsforschung ist bezeichnenderweise darüber in Gang gekommen, dass Thomas S. Kuhns und Karl R.

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Wilhelm Voßkamp

Schon bald nach Erscheinen des epochemachenden Buchs von Thomas S. Kuhn über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, in dem die Physik als »prototypische Disziplin« untersucht wird, ist darauf hingewiesen worden, dass bestimmte Beobachtungen zum Paradigmenwandel in der Wissenschaft (und zur »normal science«) nur bedingt auf kultur- und geisteswissenschaftliche Disziplinen übertragbar sind, wobei die generelle Beobachtung, wonach »revolutionäre Umwälzungen einer wissenschaftlichen Tradition […] verhältnismäßig selten [sind] und [ihnen notwendig] lange Abschnitte konvergenter Forschung« vorausgehen, auf alle Disziplin-Geschichten zutreffen dürfte.4 Beim »Wandel« und bei der Entstehung des Neuen in den Kulturwissenschaften handelt es sich zudem in der Regel um partielle Prozesse, die sich »in differenzierter Weise auf je verschiedenen Ebenen« vollziehen und »außerdem kurz-, mittel- und langfristige Transformationsprozesse sowie zweifellos auch Konstanz« unterscheiden lassen.5 Nicht minder sind mit Reinhart Koselleck »verschiedene Veränderungsgeschwindigkeiten« und »Wiederholungsstrukturen« zu beachten, die eine unumkehrbare, »lineare Gedankenfigur« anzeigen. Doris Bachmann-Medick spricht generell von »nicht un-umkehrbaren« ›cultural turns‹ und von »nicht kopernikanischen« Paradigmenwechseln und betont dabei in der Folge des ›linguistic turn‹ (einem »Mega-Turn«) vor allem Aspektverschiebungen und sinnvolle Erweiterungen von Forschungsfeldern.6 Die Vielfalt höchst unterschiedlicher kultureller Probleme und alternativer Lösungen, denen sich Angehörige einer kulturwissenschaftlichen Disziplin gegenübersehen, können auch schwerlich auf »entweder ›normale‹ oder ›revolutionäre‹ Wissenschaftspraxis« festgelegt werden.7 (Vgl. T. S. Kuhn) Das ›Normale‹ bzw. die ›Struktur‹ wissenschaftlicher Veränderung in den Kulturwissenschaften scheint gerade »zunehmend darin« zu liegen, schnell »jeweils ›Neues‹ [und möglichst Überraschendes] zu produzieren«.8 Entscheidend wäre

4

5 6 7

8

Poppers wissenstheoretische und wissenshistorische Großtheorien (auf dem Hintergrund aktueller neodarwinistischer Hypothesen) auch auf historisch-politische Kontexte bezogen wurden (vgl. Steve Fuller: Thomas S. Kuhn. A Philosophical History of our Times. Chicago: Univ. of Chicago Press 2000). Vgl. Thomas S. Kuhn: Die grundlegende Spannung: Tradition und Neuerung in der wissenschaftlichen Forschung. In: Ders., Die Entstehung des Neuen (wie Anm. 2), S. 308–326; hier S. 310. Vgl. Tom Kindt/Hans-Harald Müller: Die Einheit der Philologie. In: Schönert (Hg.), Grenzen der Germanistik (wie Anm. 2), S. 22–44; hier S. 41. Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006. Walter Erhart: Generationen – Zum Gebrauch eines alten Begriffes für die jüngste Geschichte der Literaturwissenschaft. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 120: Generationen. Hg. von Brigitte Schlieben-Lange, S. 81–107; hier S. 90 (auch in: Schönert [Hg.], Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung [wie Anm. 2], S. 77–100). Vgl. Erhart, ebd., S. 92; »Die Literaturwissenschaft ist [...] in einer Situation kontinuierlicher ›Revolution‹ mit nur sehr eingeschränkter intersubjektiver Konsensfähigkeit, Kontrolle und Normalität.« (Ebd., S. 89).

Das Neue als Verheißung

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dann »nicht das Sich-anpassen-[…], sondern das Sich-abkoppeln-Können«; allerdings in der Hoffnung, (wie Niklas Luhmann selbstironisch formuliert) zu einer »umweltmögliche[n] Abweichungsverstärkung« zu kommen.9 Dass etwas als ›neu‹ bemerkbar wird, hat nun allerdings grundsätzlich damit zu tun, dass für die Literatur-Wissenschaften eine Zentralreferenz – die Arbeit an Texten – also die »Philologie« (durchgehend traditionell und beheimatet im Rahmen der Klassischen Philologie) – kontinuierlich erhalten bleibt. Vorweg und zugespitzt formuliert: Die Paradoxie des Wandels in den Literaturwissenschaften (den Neueren Philologien) besteht gerade darin, dass die in der Moderne beobachtbare Neuerungsneigung, die mit Komplexitätssteigerung und zunehmender Beschleunigung verbunden ist, dadurch verursacht wird, dass die philologische Tradition als eine Art ›cantus firmus‹ die Voraussetzung und Folie bildet, auf der einschneidende Veränderungen, »Paradigmenwechsel« oder »Wenden« durchgehend beobachtbar sind.10 Bestimmte, in der (allgemeinen) Wissenschaftsgeschichte (den Natur- und Geisteswissenschaften) beobachtbare Momente der Wissenschaftsentwicklung können indes auch in den Kultur- und Literaturwissenschaften überprüft und beobachtet werden. Dazu gehört zunächst der durch hohe Fachkompetenz abgesicherte (und ›legitimierte‹) Wille und die mit strategisch-rhetorischen Mitteln (vgl. Rorty) betriebene Abgrenzung von der jeweils herrschenden Tradition (also die »Kopplung von konzeptuellen und performativen Kompetenzen«).11 Dazu 9

10

11

Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 556; Annette Simonis (Paradigmatische Innovation und interne Differenzierung. Wandel durch Interdisziplinarität? Am Beispiel von Tendenzen der deutschen Literaturwissenschaft 1910–1930) hat die Frage nach der »Durchsetzung des Neuen« besonders hervorgehoben. Es müsse »um erfolgreich zu sein, auf vorangehende Selektionen bezogen bleiben und sich im typischen Fall in den Horizont einer spezifischen Erwartungsstruktur einfügen lassen«. (In: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, S. 174–194; hier S. 176). Jürgen Brokoff formuliert in der Zusammenfassung des Ko-Referats von Klaus Weimar zur Vorlage Simonis: »Der Erfolg von Variation und Modifikation ist (eher) wahrscheinlich, der Erfolg tiefgreifender Innovationen ist (eher) unwahrscheinlich.« (Ebd., S. 274). Lutz Danneberg macht darauf aufmerksam, dass »Innovation [...] nicht nur ein relationaler Ausdruck [sei]; er ist nicht einfach das Neue oder Andere. Die Stärke einer Innovation liegt auch in der Bewahrung von Kontinuität oder – wenn man so will – von Tradition.« (Einführende Überlegungen zu normativen Aspekten in der Wissenschaftsforschung zur Literaturwissenschaft. In: Schönert [Hg.], Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung [wie Anm. 2], S. 447–471; hier S. 470). Zur Geschichte der Philologie vgl. v. a. Nikolaus Wegmann: Was heißt einen ›klassischen‹ Text lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 334–450. K. Ludwig Pfeiffer: Theorie als kulturelles Ereignis. Modellierungen eines Themas überwiegend am Beispiel der Systemtheorie. In: K. Ludwig Pfeiffer/Ralph Kray/Klaus

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Wilhelm Voßkamp

gehört stets ein möglichst »innovatives Vokabular« (Bachmann-Medick). Das Neue kann zudem nur mittels performativer Aufmerksamkeitstechniken und – in the long run – im (zumindest partiellen) Konsens einer Wissenschaftlergemeinschaft (vgl. die Rolle von Peer Groups) durchgesetzt werden. Dies setzt einen fortgeschrittenen Grad von disziplinärer Ausdifferenzierung voraus und damit eine bestimmte ›Expansion‹ des Fachs, die es erlaubt, bestimmte Pluralisierungseffekte zu erzielen. Dies gelingt nicht ohne ›Konstruktion‹ und Eigenlegitimierung des Neuen und Delegitimierung des Alten, wobei die Literaturwissenschaft die Neigung hat, sich methodisch-theoretische Konzepte aus anderen Disziplinen – auch aus »exotischen Zusammenhängen« – auszuborgen.12 Es kommt hinzu, dass die »Inszenierung von Diskontinuität«13 nur möglich ist, wenn andere, von der vorherigen Wissenschaftstradition unterschiedene, kategoriale Annahmen gemacht werden. Kategoriale Annahmen (im Sinne einer Metaebene) sind nicht nur wichtig im Blick auf die interne ›Eigen-Logik‹ eines Fachs wie der (Literatur-)Wissenschaft, sondern in den Humanwissenschaften auch mit einer Wertediskussion verbunden, die in der Regel zu einem neuen ›Ethik‹-Angebot im jeweils aktuellen kulturellen Haushalt führt. (vgl. die entsprechenden Curriculum-Diskussionen) Dass Vorschläge des Neuen auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften schließlich von einer »Billigung durch die maßgebliche Gemeinschaft«14 und vom »Wettstreit[] zwischen zwei rivalisierenden Paradigmata um die Gefolgschaft der wissenschaftlichen Gemeinschaft«15 abhängig sind, verweist auf den bereits hervorgehobenen Macht-Wissen Zusammenhang: »[…] in einer Gesellschaft wie der unsrigen – im Grunde genommen jedoch in jeder Gesellschaft – wird der soziale Körper von vielfältigen Machtbeziehungen überzogen, charakterisiert und konstituiert, und diese Machtbeziehungen können sich weder auflösen noch stabilisieren noch funktionieren ohne Produktion, Akkumulation, Zirkulation und Funktionieren des Diskurses. Es gibt keine Machtausübung ohne eine bestimmte Ökonomie der Diskurse der Wahrheit, eine Ökonomie, die innerhalb dieses Kräftepaares und von ihm ausgehend funktioniert. Wir sind der Produktion der Wahrheit, so Foucault, durch die Macht unterworfen und können die Macht nur über die Produktion der Wahrheit ausüben.«16

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13 14 15 16

Städtke (Hg.): Theorie als kulturelles Ereignis. Berlin, New York: de Gruyter 2001, S. 7–42; hier S. 15. Vgl. Ulrich Wyss: Abgrenzungen. Die Germanistik um 1900 und die Tradition des Faches. In: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hg.): Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900. Frankfurt am Main: Fischer-TaschenbuchVerlag 1999, S. 61–77; hier S. 74. Ebd. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 2), S. 131. Ebd., S. 192. Michel Foucault: Recht der Souveränität, Mechanismus der Disziplin. Vorlesung vom 16. Januar 1976; zit. Timothy Lenoir: Politik im Tempel der Wissenschaft. For-

Das Neue als Verheißung

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Das Wichtigste mag indessen auch in den Kulturwissenschaften jene von Thomas Kuhn formulierte Beobachtung sein, dass das Neue »am Anfang weitgehend eine Verheißung von Erfolg« ist,17 und dass die Faszination des Neuen mit diesem Verheißungscharakter konstitutiv verbunden ist. Die Kategorie »Verheißung« macht auf ihre kulturelle Herkunft in der jüdisch-christlichen, säkularisiert eschatologischen Tradition aufmerksam, ohne die der gut erkennbare prophetische Gestus von ›Verheißung‹ nicht verständlich wird. Versucht man die vorstehenden allgemeinen Überlegungen im Feld der Wissenschaftsgeschichte der (germanistischen) Literaturwissenschaft in Deutschland zu konkretisieren, wird bei einem Überblick insgesamt deutlich, dass sich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert (vor allem in den 1840er Jahren) eine erhebliche Intensivierung in der Beschäftigung mit deutscher Sprache, Literatur, Recht, Mythologie und Kulturgeschichte (im Gefolge eines zunehmenden Nationalisierungsprozesses) beobachten lässt, aber »keine interne Logik in der Abfolge [unterschiedlicher] Kommentare« zur deutschen Literatur (Jürgen Fohrmann). Allenfalls könnte eine Konstitutionsphase (1800– 1870) von einer Phase der Konsolidierung (1870–1900) und einer ab 1900 beginnenden zunehmenden Differenzierung unterschieden werden. Konzeptuell geht es insgesamt um eine »Philologisierung der neueren Literaturgeschichte«, so Rudolf Unger 1914, um eine ›Verwissenschaftlichung‹ der Philologie und deren Kritik im Öffentlichkeitszusammenhang. Angesichts einer Vielzahl von entwickelten Ansätzen und Methoden ohne archimedischen Punkt spricht Oscar Benda im Rückblick schon 1928 von einem ›Dickicht‹ literaturwissenschaftlicher Diskurse. Deshalb hat das in den Achtziger und Neunziger Jahren konzipierte Projekt einer Wissenschaftsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft im 19. Jahrhundert (geleitet von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp) eine Mehrfachperspektivierung vorgeschlagen, um zu einer Operationalisierung des immensen vorliegenden Materials zu gelangen. Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zwischen Wissen, Organisation und Leistung im Wissenschaftssystem.18 Im Horizont des Wissens (im »Textsystem«) handelt es sich um die kognitive Dimension der Wissenschaftsentwick-

17

18

schung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich. Frankfurt am Main, New York: Campus 1992, S. 224. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 2), S. 45. Kursivierung von mir. Jürgen Paul Schwindt spricht von einer »phantasmatische[n] Statur des Neuen« (J. P. Schwindt: Vom Phantasma zur Denkfigur. Das Neue bei den Griechen und Römern. In: Merkur 62 [2008], Sonderheft: »Neugier. Vom europäischen Denken«, S. 793–803; hier S. 795). Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Jürgen Fohrmann: Organisation, Wissen, Leistung. Konzeptuelle Überlegungen zu einer Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 16 (1991), S. 110–125, und ders.: Einleitung »Von den deutschen Studien zur Literaturwissenschaft«. In: Fohrmann/Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert (wie Anm. 10), S. 1–14.

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Wilhelm Voßkamp

lung unter Gesichtspunkten des Methodenwandels, aber auch um Perspektiven einer eigentümlichen Rhetorik und eines Stils, der das wissenschaftliche Reden und Schreiben verändert. Unter dem Aspekt institutioneller Veränderung (»Sozialsystem«) spielen historische Personenkonstellationen und damit auch der Generationenwandel (Generationsbewusstsein, Generationswechsel) eine zentrale Rolle.19 Unter Gesichtspunkten von »Leistung« sind insbesondere Funktionsfragen der Disziplin von zentraler Bedeutung; im Blick auf die Literaturwissenschaft: Fragen nach der Ausbildungsfunktion (hauptsächlich in Schule und Universität), aber auch die Rolle in der Öffentlichkeit. Diese drei ›Ebenen‹ (Wissen, Institution, Leistung) konstituieren jenes Teilsystem Wissenschaft, das eine spezifische kommunikative Funktion mit verschiedenen Anschlüssen an andere gesellschaftliche Teilsysteme übernimmt. ›Mehrperspektivierung‹/Mehrsträngigkeit erweist sich im Blick auf Fragen nach dem Wandel in der Literaturwissenschaft deshalb als fruchtbarer als eine Unterscheidung von wissenschaftsinternen und -externen Faktoren der Wissenschaftsentwicklung oder eine personengeschichtlich orientierte Wissenschaftsgeschichte. Um dies zu veranschaulichen, wähle ich zwei historische Schnittstellen der (modernen) Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft – die zwanziger und die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts – und diskutiere die Frage, ob und unter welchen historisch-kulturellen Bedingungen und Voraussetzungen die Entstehung des Neuen in der Literaturwissenschaft möglich war und erfolgt ist. Dabei gehe ich von der Hypothese aus, dass Veränderungen lediglich im Bereich des Wissens oder der Institutionen oder im Blick auf die Leistung und Funktion der Literaturwissenschaft noch keinen paradigmatischen Wechsel und die Entstehung des ›Neuen‹ zur Folge haben, sondern dass mindestens zwei dieser Faktoren – bei zentralen Einschnitten sogar drei – zusammentreffen müssen, so dass deutliche Diskontinuität entsteht und sich damit Möglichkeiten für das Neue bieten.

II

Schnittstellen

1

Die Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts

Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kann als zentrale Schnittstelle und als Paradigmenwechsel der modernen Literaturwissenschaft (– und Literatur und Kunst!) überhaupt charakterisiert werden. Seit den 1890er Jahren setzt sich bezeichnenderweise in Deutschland der Begriff »Literatur-Wissenschaft« in der Konkurrenz zu den Naturwissenschaften durch. Dies bewirkt den dezidierten Angriff auf die Hegemonie der Philologie (im Sinne der Klassischen 19

Vgl. Erhart, Generationen (wie Anm. 7).

Das Neue als Verheißung

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Philologie). In dem historischen Augenblick, in dem die »Autarkie philologischer Erkenntnis«20 zum Problem wird, beginnt nicht nur eine Häufung von »Innovationen« und eine bis heute andauernde Geschichte des »Methodenpluralismus«, vielmehr setzt zugleich eine Phase der institutionellen und öffentlichkeitswirksamen Expansion des Fachs ein, die in ihren Folgen im Augenblick ihres Entstehens (noch) nicht absehbar ist.21 Zu erinnern bleibt in diesem Zusammenhang allerdings daran, dass dem beobachtbaren dominanten Wandel der Philologie zu den Geisteswissenschaften in den Zwanziger Jahren im 19. Jahrhundert der Wechsel von einer kulturwissenschaftlichen Dominanz (Wilhelm und Jakob Grimm) zur Philologie vorausgegangen war. Die Germanistik umfasste ursprünglich ein Bündel von volkskundlichen, kultur- und rechtswissenschaftlichen Teilbereichen, bevor sie im Horizont ihrer »Verwissenschaftlichung« den Schritt zur strengen philologischen Disziplin machte.22 Der Gestus der (›prophetischen‹) Verheißung auf das Neue ist selbst Teil des Einschnitts im Übergang zum 20. Jahrhundert – gerade in der polemischen Abgrenzung der Geisteswissenschaften von dieser philologischen Tradition. Wenn Rudolf Unger in der Zeitschrift »Die Literatur« zwischen 1923 und 1925 über »moderne Strömungen in der deutschen Literaturwissenschaft« den »Kulturgeist des 20. Jahrhunderts« mit dem durch Philologie geprägten »Kulturgeist des 19. Jahrhunderts« konfrontiert, dann spricht er von der »greisenhafte[n] Blutleere einer ausgedörrten und ausdörrenden Intellektualkultur« und dem »positivistischen Rationalismus« des 19. Jahrhunderts, dem er [Unger] den »neuschöpferischen Drang auf religiösem und philosophischweltanschaulichem Gebiete […] nach einer tieferen Begründung und Zielsetzung des Lebens […]« entgegensetzt.23 Die moderne Literaturwissenschaft

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Wyss, Abgrenzungen (wie Anm. 12), S. 68. Vgl. v. a. Holger Dainat: Von der Neueren Deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft. Die Fachentwicklung von 1890–1913/14. In: Fohrmann/Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik (wie Anm. 18), S. 494–537; und Rainer Rosenberg: Methodenpluralismus unter der Dominanz der Geistesgeschichte. In: Ders.: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin: Akademie-Verlag 1981, S. 226–253; S. 268–270. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Frank Fürbeth/Pierre Krügel/Ernst E. Metzner/Olaf Müller (Hg.): Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main 1846–1996. Tübingen: Niemeyer 1999, S. 809–821. Vgl. Holger Dainat: »Erlösung von jenem ertötenden Historismus«. Die neuere deutsche Literaturwissenschaft zu Beginn der Zwanziger Jahre. In: Wolfgang Bialas/Gérard Raulet (Hg.): Die Historismus-Debatte in der Weimarer Republik. Bern, Berlin 1996, S. 248–271; hier S. 248; außerdem Rainer Kolk: »Repräsentative Theorie«. Institutionengeschichtliche Beobachtungen zur Geistesgeschichte. In: Petra Boden/Holger Dainat (Hg.): Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der litera-

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Wilhelm Voßkamp

stehe »unter dem Zeichen … eines fruchtbaren und schöpferischen Lebens«.24 »Leben« wird als »[…] die über alle Differenzierung seiner psychischen Einzelfunktionen übergreifende Einheit […]« verstanden. Im Unterschied zur »kontemplativen Geisteshaltung […] in der Philosophie«, erscheinen die »Lebensprobleme der Dichtung […] in freierer Phantasiegestaltung der unmittelbaren Gefühlserlebnisse als Lebensprobleme der Dichtung: immer aber als Angelegenheiten der gesamtmenschlichen seelischen Totalität und emporwachsend aus Affektationen des unmittelbaren, elementaren Lebensgefühls«.25 Die methodische Anleitung für die Literaturwissenschaft liefert Wilhelm Diltheys »Die Entstehung der Hermeneutik«: »Aber auch angestrengteste Aufmerksamkeit kann nur dann zu einem kunstmäßigen Vorgang werden, in welchem ein kontrollierbarer Grad von Objektivität erreicht wird, wenn die Lebensäußerung fixiert ist und wir so immer wieder zu ihr zurückkehren können. Solches kunstmäßige Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen nennen wir Auslegung oder Interpretation. […] Darin liegt nun die unermeßliche Bedeutung der Literatur für unser Verständnis des geistigen Lebens und der Geschichte, daß in der Sprache allein das menschliche Innere seinen vollständigen, erschöpfenden und objektiv verständlichen Ausdruck findet. Daher hat die Kunst des Verstehens ihren Mittelpunkt in der Auslegung oder Interpretation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins.«26 Dass diese anthropologisch begründete Radikalopposition gegen den positivistischen »Philologismus« lebensphilosophische und vornehmlich durch Nietzsche inspirierte Züge trägt und künftige Grundlagendiskussionen auslösen muss, liegt auf der Hand. Im Blick auf die methodischen Probleme bedeutet der »Mut zur Metaphysik« (Emil Ermatinger), dass der (philologischen) Materialebene fortan eine (philosophische) Kategorienebene vorgeordnet wird und damit von nun an alle künftigen Programme einen »reflexiven Status« beanspruchen.27 Der fächerübergreifende Ansatz im Zeichen der »Geisteswissenschaften« (Psychologie, Anthropologie, Philosophie, Kunstgeschichte) muss darüber hinaus zu einer Binnendifferenzierung des Fachs führen, die die alte Opposition von Kennerschaft und Dilettantismus unter den Philologen des 19. Jahrhun-

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turwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Berlin: Akademie-Verlag 1997, S. 81–101. Vgl. Holger Dainat, »Erlösung von jenem ertötenden Historismus« (wie Anm. 23), S. 48. Rudolf Unger: Literaturgeschichte und Geistesgeschichte (1926). In: Ders.: Aufsaሷtze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1929, S. 212–225; hier S. 217. Wilhelm Dilthey: Entstehung der Hermeneutik. In: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Leipzig, Berlin: Teubner 1924, S. 318; zit. Jürgen Fohrmann (Hg.): Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2005, S. 442. Vgl. Kolk, »Repräsentative Theorie« (wie Anm. 23), S. 92.

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derts in der Tradition Karl Lachmanns ablöst. Dass die Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Aktivitäten mit unterschiedlichen methodischen Verfahren (vgl. etwa den Neu-Kantianismus) vornehmlich auf lebensphilosophische und transzendentalphilosophische Synthesis-Hoffnungen setzt (»Einheit«, das »Ganze« sind die Leitbegriffe), macht den eigentlichen Verheißungscharakter des grundsätzlich interdisziplinär ausgerichteten Methodenwechsels aus.28 Dies führt in der Hermeneutik und im Bereich transzendentalphilosophischer Kategorisierung zur außerordentlich folgenreichen (und fatalen) Gegenüberstellung von Geistes- und Naturwissenschaften in der Wilhelm-DiltheyNachfolge (»verstehen« statt »erklären«). Es zeigt sich allerdings bereits in den zwanziger Jahren, dass lebensphilosophische und transzendentalphilosophische Letztbegründungsversuche Fragen disziplinärer Identität aufwerfen und dass damit verbundene SynthesisHoffnungen nicht befriedigend gelöst und erfüllt werden können. Die Folge ist, dass eine »ästhetische Zweitcodierung« (Hans-Martin Kruckis) durch Kunst als Rettung versprechender Ausweg gesucht wird. Friedrich Gundolfs »Wissenschaftskunst« (in der George-Nachfolge) oder Herbert Cysarz’ Stilpirouetten in der Barockforschung mögen hier nur als Beispiele genannt sein. Dass dieser Ausweg übrigens in der Regel immer dann gesucht wird, wenn eine »Krise« des Fachs oder ihrer Selbstrekrutierung auftaucht, ist bezeichnend genug.29 Mit Friedrich Gundolf ist einer jener jüdischen Wissenschaftler genannt, dessen Goethe-Buch (1916; 13. Aufl. 1930) nicht nur einen neuen Typus der Goethe-Monographie als Kunst repräsentiert, vielmehr gehört Gundolf in die außerordentlich wichtige Tradition der jüdischen Goetheforschung in Deutschland. Wie Wilfried Barner30 zu Recht betont hat, beginnt die kritische GoethePhilologie 1866 mit Michael Bernays, und Ludwig Geiger ist als langjähriger Herausgeber des Goethe-Jahrbuchs zu einem Kristallisationspunkt der Goetheforschung geworden. Auch der erste Präsident der 1885 gegründeten GoetheGesellschaft – Eduard Simson – war Jude. Bedenkt man noch, welche Rolle die von jüdischen Autoren verfassten Goethe-Biographien (von Georg Simmel bis Albert Bielschowsky und Emil Ludwig) für das deutsche Bildungsbürgertum gespielt haben, kann man die Tradition der jüdischen Goetheforschung und -aneignung nicht überschätzen. Diese Tradition setzt sich über Walter Benjamin bis zu Hans Mayer fort. 28 29

30

Vgl. Voßkamp, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften (wie Anm. 22), S. 810ff. Zur Barockforschung vgl. Wilhelm Voßkamp: Deutsche Barockforschung in den 20er und 30er Jahren. In: Klaus Garber (Hg.): Europäische Barock-Rezeption. Teil 1. Wiesbaden: Harrassowitz 1991, S. 683–703. Von Rahel Varnhagen bis Friedrich Gundolf. Juden als deutsche Goethe-Verehrer. Göttingen 1992 (Kleine Schriften zur Aufklärung. Hg. von der Lessing Akademie Wolfenbüttel; 3).

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Wechselt man die Blickrichtung von der Wissens- und Methodenebene auf die institutionelle Ebene, so lässt sich vor allem am Beispiel der 1894 gegründeten Zeitschrift »Euphorion« (in den 30er Jahren unter dem Einfluss des Nationalsozialismus »Dichtung und Volkstum«) und an der 1923 eingerichteten »Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte« – bis heute – ablesen, wie die neue, interdisziplinär ausgerichtete Literaturwissenschaft im Horizont der Geistesgeschichte verstanden wird. Das geisteswissenschaftliche Experimentierfeld findet hier seinen ebenso theoretischen wie konkreten institutionellen Ort. Eigene, von den Naturwissenschaften unterschiedene Methoden werden erprobt und die Annäherung von Philosophie und Ästhetik im fächerübergreifenden Spektrum (Psychologie, Kunstgeschichte, Theologie) produktiv zu machen gesucht. Wenn dabei immer wieder einmal an die Maßstäbe und exemplarische Rolle der Philologie erinnert wird, so zeigt dies, dass bei aller geisteswissenschaftlichen und geistesgeschichtlichen Emphase hier eine Art fachsichernde oder – in politischen ›Krisen‹Zeiten – sogar fachstabilisierende Rolle erwartet wird (und tatsächlich gefunden werden kann).31 (Vgl. im 3. Reich »Rückzugsmöglichkeit in der sog. inneren Emigration«) Das mag auch damit zusammenhängen, dass – unter Gesichtspunkten der Leistungserwartung an das Fach in Deutschland – nach dem Wechsel von der »Klassischen« zur »Deutschen Philologie« eine Aufwertung des Nationalen als Integrationsmittel in kultureller, sozialer und sachlicher Hinsicht erhofft wurde.32 (Vgl. die Hoffnung völkisch orientierter Germanisten in der Nazi-Zeit!) Dies lässt sich ebenso an dem sich etablierenden Fach »Deutschkunde« wie an der Verbandspolitik des 1912 gegründeten Deutschen Germanistenverbandes ablesen. Unter nationalfunktionalen Aspekten bestand ein »weitgehender Konsens von den Konservativen bis zu den Sozialdemokraten«.33 Die neuhumanistische Bildungsidee wird dabei mehr und mehr zugunsten einer »Nationalbildung« ersetzt, so dass hier der ›Expansion‹ der Geisteswissenschaften unter methodischen Aspekten durchaus auch Grenzen gesetzt sind. Der öffentlichen Aufmerksamkeit und kultureller Resonanz kann sich eine entweder eher philosophisch oder ästhetisch ausgerichtete geisteswissenschaft31

32

33

Vgl. Holger Dainat: »wir müssen ja trotzdem weiter arbeiten«. Die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte vor und nach 1945. In: Wilfried Barner/Christoph König (Hg.): Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1996, S. 76–100. Holger Dainat: Germanistische Literaturwissenschaft. In: Frank-Rutger Hausmann (Hg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945. München: Oldenbourg 2002, S. 63–86; hier S. 80; außerdem ders.: Zur Berufungspolitik in der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft 1933–1945. In: Holger Dainat/Lutz Danneberg (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus. Tübingen: Niemeyer 2003, S. 55–86. Ebd., S. 81.

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liche Literaturwissenschaft in jedem Fall sicher sein, und dass die »Neuere deutsche Literaturwissenschaft« durch einflussreiche Ordinariate institutionell abgesichert ist (Rudolf Unger in Göttingen, Hermann August Korff in Leipzig, Ernst Bertram in Köln, Friedrich Gundolf in Heidelberg und Paul Kluckhohn in Tübingen), darf dabei nicht außer Acht gelassen werden. Allerdings bleibt zu ergänzen, dass sich die universitäre Literaturwissenschaft gegenüber denjenigen (jüdischen) Wissenschaftlern abgrenzt, die an einer Hochschulkarriere gehindert werden: Georg v. Lukács in Heidelberg und Walter Benjamin in Frankfurt am Main. Beider Bemühen um eine Habilitation bleibt erfolglos aufgrund von Interventionen der an diesen Universitäten bestimmenden Ordinarien. Der entscheidende Unterschied zur ›Epoche‹ der Philologie besteht bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts im Wechsel von der philologischen Objekt- zur philosophischen Metaebene mit unterschiedlichen lebens- und transzendentalphilosophischen Einheits- und Synthesis-Angeboten oder in der (behaupteten) Kongenialität des auf Kunst setzenden einzelnen Interpreten. Im Ergebnis lässt sich eine bemerkenswerte Vermehrung der öffentlichen Aufmerksamkeit beobachten, ohne dass die unterschiedlichen Richtungen die disziplinäre Einheit des Fachs ›Literaturwissenschaft‹ stärken. Insofern erfolgt eine ›Stabilisierung‹ der Disziplin eher unter kulturellen und ethischen Gesichtspunkten und in Hinsicht auf jene nationale, »deutsche Bildung«, die im Erziehungssystem erwartet wird. Diese Gemengelage auf den verschiedenen Ebenen von Wissen, Institutionen und Leistung des Fachs macht in ihrer polemischen geisteswissenschaftlichen Rhetorik die eigentliche Zäsur des Fachs aus. Macht man den vorgeschlagenen ›Test‹ im Blick auf die Frage nach einem »Paradigmenwechsel« und Neuem in den Humanwissenschaften, so kann er für die Zwanziger Jahre als positiv beantwortet werden, weil es sowohl unter konzeptuellen und institutionellen als auch unter Gesichtspunkten der erwarteten (und erfüllten) Leistungserwartung zu einem einschneidenden und folgenreichen Wandel kommt.

2

Die Sechziger Jahre

Steht die Inszenierung von Diskontinuität in den Zwanziger Jahren im Zeichen einer Abwendung vom und Kritik des philologischen Positivismus, ist die zweite wissenschaftshistorische Wende im Zeichen des Neuen in Deutschland nicht durch die politischen Zäsuren von 1933 und 1945 bestimmt. Sowohl 1933 als auch 1945 stehen im Zeichen einer politisch-institutionellen, aber keiner grundlegend konzeptuellen wissenschaftshistorischen Veränderung.34 34

Vgl. insges. Wilhelm Voßkamp: Kontinuität und Diskontinuität. Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich. In: Peter Lundgreen (Hg.): Wissenschaft im Dritten Reich. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 140–162 (darauf beziehen sich auch die folgenden kurzen Hinweise); vgl. außerdem den Sammelband von

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Insbesondere zeigt die politische Zäsur 1933, dass es keine selbstverständliche oder gar naheliegende Kongruenz zwischen historischer und wissenschaftsgeschichtlicher Zäsur gibt. Der Diskontinuität der politischen Entwicklung entspricht keine auf der wissenschaftshistorischen Ebene; vorherrschend ist die Kontinuität der Entwicklungen in der universitären Germanistik seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Kontinuität liegt im Festhalten an ahistorischen Denkweisen (Strukturtypologie und -psychologie). Im Dritten Reich gibt es weder eine einheitliche Konzeption der Literaturwissenschaften, noch ändern sich die zugrunde liegenden Methoden grundlegend; vielmehr findet eine Umakzentuierung und Veränderung der ›Hierarchien‹ statt im Sinne von Verschiebungen öffentlicher Wirksamkeit und politischer Bedeutung.35 Die Betonung des »Ganzheitlichen« und des »größeren Ganzen«, in das man sich »dienend einzufügen vermag« (Heinz Kindermann), nimmt in den 30er Jahren zu. Julius Petersen spricht in seiner theoretischen Grundlegung »Die Wissenschaft von der Dichtung« davon, dass die Vorstufen des Positivismus, der kunstwissenschaftlichen Richtung und der »extremen Geisteswissenschaft […] durch den Ganzheitsanspruch der neuen Weltanschauung dem überindividuellen Lebensideal der Gemeinschaft zuzuführen« seien,36 und die bereits bei Wilhelm Scherer unter preußischem Vorzeichen betonte nationale Komponente konnte nun im Zeichen einer Literaturwissenschaft als »Nationalwissenschaft« (Julius Petersen) politisch aktualisiert werden. In der Verbindung von völkischer und rassekundlicher Literaturbetrachtung sollte die Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften überwunden und die »Krankheit des Historismus« geheilt werden. Nicht nur Josef Nadler, auch Julius Petersen – der sich an anderen Stellen skeptisch gegenüber einer rassenkundlichen Literaturwissenschaft äußerte – spricht von »Dichtungsgeschichte [..] als nationaler Biologie« oder von einem »Weltbild, in dem Geist und Blut eins sind«.37 Der Antisemitismus erhält eine neue und unmittelbar politische Dimension in dem Augenblick, in dem Hitler an die Macht kommt und der völkische Rassismus zur offiziellen ›Hofwissenschaft‹ wird. Das ›Neue‹ in der Zeit im Nationalsozialismus besteht grundsätzlich im Verhalten einer selektiven Anpassung; ›neu‹ in der Gemengelage des literaturwissenschaftlichen »Methodenpluralismus« ist die offiziell geforderte und geförderte Verstärkung und Zuspitzung des Antisemitismus im Zeichen eines biologischen Rassebegriffs.

35 36 37

Holger Dainat und Lutz Danneberg »Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus« (wie Anm. 32). Vgl. Dainat/Danneberg (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus (wie Anm. 32). Julius Petersen: Die Wissenschaft von der Dichtung. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1939, S. 48. Ebd.

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Eine sowohl auf der Ebene des Methodischen wie Institutionellen und Funktionalen erfolgte Veränderung findet in Deutschland erst seit der Mitte der Sechziger Jahre statt. Es ist zugleich der »take off« für die Situation der gegenwärtigen Kulturwissenschaften. Worin besteht das Neue? 1. Ablesbar ist es zunächst (und vornehmlich) an einer öffentlichkeitswirksamen Rhetorik der »Krise«. »Krise« bezieht sich nun nicht – wie in den zwanziger Jahren – auf eine durch angeblich pure Gegenstandsorientiertheit der Philologie verursachte »Krise des Historismus«, sondern auf das Fach der (germanistischen) Literaturwissenschaft selbst. Der kulturelle Zusammenhang von politischem Engagement, methodengeschichtlichem Wandel und funktionsgeschichtlichem Wechsel macht erst die Bedeutung und Wirkung der Zäsur ab der Mitte der Sechziger Jahre evident.38 Diese ist deshalb auch keine bloß wissenschaftsgeschichtliche – im Zeichen einer Kritik der traditionellen Philologie, einer verstehensorientierten Geistesgeschichte oder kunstverliebten werkimmanenten Methode –, sondern eine Zäsur der Bewusstseins- und Gesellschaftsgeschichte. In den »Ansichten einer künftigen Germanistik« heißt es 1969 kategorisch: Die Erinnerung an die Vergangenheit und die Erfahrung der Gegenwart der Germanistik, die stets auf exemplarische Weise freiwillig versagte, wenn es darum ging, die Errungenschaften auch nur der bürgerlichen Demokratie zu verteidigen, legitimieren die revoltierenden Studenten zu einem vernichtenden Urteil über die Zukunft des Faches, das als Strafmaß nur zwei Alternativen zuläßt: Abschaffung oder radikale Umfunktionierung.39

In dieser radikalen Kritik und der Forderung einer ›Germanistik nach dem Ende der Germanistik‹ spielen zwei Gesichtspunkte die Hauptrolle: Die Germanistik als »deutsche« und als »bürgerliche« Wissenschaft. Indem die Geschichte des Fachs in kritischer Absicht vom Nationalsozialismus aus teleologisch rekonstruiert wurde – ein »(verspäteter) Versuch der EigenEntnazifizierung« [Gerhard Kaiser] –, wurde die Geschichte der Germanistik 38

39

Vgl. Wilhelm Voßkamp: Literaturwissenschaft als Geisteswissenschaft. Thesen zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Wolfgang Prinz/Peter Weingart (Hg.): Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 240–247; ders.: Einheit in der Differenz. Zur Situation der Literaturwissenschaft in wissenschaftshistorischer Perspektive. In: Ludwig Jäger (Hg.): Germanistik. Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1994. Weinheim: Beltz, Athenäum 1995, S. 29–45; Rainer Rosenberg: Die Sechziger Jahre als Zäsur in der deutschen Literaturwissenschaft. Theoriegeschichtlich. In: Ders.: Verhandlungen des Literaturbegriffs. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft. Berlin: Akademie-Verlag 2003, S. 243–270, und Ulrike Haß/Christoph König (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute. Göttingen: Wallstein 2003. Michael Pehlke: Aufstieg und Fall der Germanistik – Von der Agonie einer bürgerlichen Wissenschaft. In: Jürgen Kolbe (Hg.): Ansichten einer künftigen Germanistik. München: Hanser 1969, S. 20.

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als Teil des deutschen »Sonderwegs« aufgefasst. Die These von der Kontinuität der Germanistik als einer Nationalwissenschaft, die schon 1848 von ihrer demokratischen Tradition Abschied genommen habe, wurde verschärft im Zeichen einer neomarxistischen Diskussion über die Literaturwissenschaft als »bürgerliche Wissenschaft«. In der Annahme einer Kongruenz von Germanistik-Geschichte und Geschichte des deutschen Bürgertums konnte die Geschichte der »nationalen« Wissenschaft als Geschichte des Verrats der progressiven Ansätze eines Gottfried Gervinus und Hermann Hettner gesehen und die Rolle des geisteswissenschaftlichen Verstehens (Hermeneutik) »als Vehikel zur Einübung von gläubigem Untertanengeist« apostrophiert werden.40 Das Neue (und Erhoffte) wird fortan im Zeichen einer erneuten Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft gesehen, die sich von jeder nationalen Grundlegung verabschiedet zugunsten einer internationalen kommunikationsund sozialwissenschaftlichen Orientierung. Diese konkurriert mit einer linguistisch-strukturalistischen Ausrichtung, die insbesondere szientifische Verwissenschaftlichungsstrategien entwickelt (vgl. die Rolle der Analytischen Sprachphilosophie und das Konzept einer »Empirischen Literaturwissenschaft« von Siegfried J. Schmidt). So heißt es dann 1973 in den »Neuen Ansichten einer künftigen Germanistik«, dass »eine sehr unterschiedlich betriebene und motivierte Literatur-Gesellschafts-Wissenschaft und eine sich autonom setzende unterschiedlich betriebene Linguistik an der Spitze germanistischer Progressionen« stünden, die »ohne erkennbaren methodischen Kontakt miteinander« betrieben würden.41 Auf die Vorgeschichte der so apostrophierten »LiteraturGesellschafts-Wissenschaft« (vgl. die Arbeiten von Walter Benjamin, der Kritischen Theorie und zur Rezeptionsästhetik) kann ich hier ebenso wenig eingehen wie auf die des linguistisch orientierten Strukturalismus (Russischer Formalismus, Tschechischer und Französischer Strukturalismus). Deutlich ist aber, dass sich diese Doppelheit einer entweder stärker am Kunstcharakter der Texte orientierten Ausrichtung oder einer deutlicher die Historisierung favorisierende Orientierung fortsetzt und im Neo- und Poststrukturalismus einerseits und den »Kulturwissenschaften« andererseits ihre bis in die Gegenwart wirksame Ausprägung findet. Wenn seit den Siebziger Jahren die germanistische Literaturwissenschaft im Zeichen eines Theorieimports anthropologischer oder ethnologischer Herkunft einerseits oder der Diskurs- und Systemtheorie andererseits steht, so lässt sich – vergleichbar mit der Situation der Zwanziger Jahre – von einem Experimentierfeld sprechen, das aufgrund seiner expansiven Tendenz zu einer beschleunigten Produktion des Neuen führt und führen muss. Wenn andererseits über die Einsicht in den hohen Grad an Selbstreflexivität der Literatur das Medium Literatur selbst zum Thema wird, ist es nicht verwunderlich, wenn die Litera40 41

Vgl. Voßkamp, Einheit in der Differenz (wie Anm. 38), S. 32. Jürgen Kolbe: Wie denn nun weiter? Vorbemerkung des Herausgebers. In: Ders. (Hg.): Neue Ansichten einer künftigen Germanistik. München: Hanser 1973, S. 8.

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turwissenschaft zum Ort und Ausgangspunkt einer Mediendiskussion und Medienforschung wird, die das Feld einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft zusätzlich erweitert.42 2. Der methodengeschichtlichen Expansion mit entsprechenden Pluralisierungseffekten entspricht eine seit Mitte der Sechziger Jahre in Deutschland sich entwickelnde institutionelle Expansion, die sowohl an der Zahl der Studierenden wie an der Vermehrung des wissenschaftlichen Personals an den Universitäten ablesbar ist. Mehr noch: Dies führt zu einer Differenzierung durch die Entwicklung etwa von Reformmodellen (so das Bielefelder und Konstanzer »Weinrich-Iser-Modell« und das ZiF, »Zentrum für interdisziplinäre Forschung«43) oder durch die Zunahme von Forschungsverbünden (Sonderforschungsbereichen und Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs). Der ›Vermassung‹ korrespondiert so frühzeitig eine ›Elite‹-Diskussion, die heute ihren, (vorläufigen) Höhepunkt in den »Exzellenzprogrammen« findet. Bezeichnenderweise lässt sich das hier skizzierte Bild (mit gewissen Einschränkungen) auch am Beispiel der Entwicklung in der DDR veranschaulichen.44 In den späten Sechziger Jahren erfolgt nicht nur eine Abwendung vom vereinfachenden marxistischen Widerspiegelungsmodell und einer Differenzierung der Erbe-Thematik, sondern ebenso eine vornehmlich im Horizont der Rezeptionsästhetik (Manfred Naumann) sich vollziehende Auflösung des überlieferten Werkbegriffs und einer Klassik-Konzeption, die andere Epochen wie Aufklärung und Romantik ins Spiel bringt. Dass dieser ›Pluralismus‹ wesentliche Anstöße durch eine in der Öffentlichkeit geführte Diskussion über Literatur (vgl. die Brecht-Lukács-Debatte, Ulrich Plenzdorfs »Neue Leiden des jungen W.«) erhält, ist dabei eine bereits in den Zwanziger Jahren beobachtete Entwicklung. Die Gründung des »Zentralinstituts für Literaturgeschichte« an 42 43

44

Vgl. etwa Georg Stanitzek/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Schnittstelle. Medien und Kulturelle Kommunikation. Köln: DuMont 2001. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Grenzüberschreitungen. Zur Entstehung und Konzeption des Bielefelder ›Zentrums für interdisziplinäre Forschung‹. In: Klaus Michael Bogdal/Oliver Müller (Hg.): Innovation und Modernisierung. Germanistik von 1965 bis 1980. Heidelberg: Synchron, Wiss.-Verlag der Autoren 2005, S. 139–146, und: »BI.research«. Forschungsmagazin der Universität Bielefeld. Grenzüberschreitungen. Bielefeld: Univ. 2009 (Vgl. »Vergangene Zukunft und konkrete Utopie«, S. 34–37). Vgl. Rainer Rosenberg: Zur Begründung der marxistischen Literaturwissenschaft in der DDR. In: Petra Boden/Rainer Rosenberg (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen. Berlin: AkademieVerlag 1997, S. 203–240; Ders.: Die deutsche Literaturwissenschaft in den 70er Jahren. Ansätze zu einem theoriegeschichtlichen Ost-West-Vergleich. In: Sylvio Vietta/Dirk Kemper (Hg.): Germanistik der Siebziger Jahre. Zwischen Innovation und Ideologie. München: Fink 2000, S. 83–97. Unter dem Aspekt »semantischer Umbauten« dazu im einzelnen: Jens Saadhoff: Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen ›gesellschaftlichem Auftrag‹ und disziplinärer Eigenlogik. Heidelberg: Synchron. Wissenschaftsverlag der Autoren 2007.

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der Akademie der Wissenschaften der DDR 1969, ist in diesem Zusammenhang charakteristisch.45 Fasst man die unterschiedlichen Beobachtungen zur Zäsurenbildung seit den Sechziger Jahren zusammen, wird man – grundsätzlich vergleichbar mit der Situation der Zwanziger Jahre – davon sprechen können, dass die Rhetorik des Neuen (und eine zunehmende Beschleunigung in der Abfolge unterschiedlicher, kulturwissenschaftlich orientierter Arbeits-Modelle) die Geschichte der Literaturwissenschaft konstitutiv bestimmt. Selbst wenn sich einzelne Entwicklungen durchaus ihrer Tradition bewusst sind, ist die Behauptung ihrer Originalität und damit die Konstatierung eines »turns« (linguistic turn, cultural turn, iconic turn, performative turn, topographical turn, transnational turn, spatial turn etc.) bezeichnend. Befinden wir uns gegenwärtig in einem »(neuro)biological turn« oder »religious turn«?) Auch heute vollzieht sich eine expandierende kulturwissenschaftliche Pluralisierung auf dem Hintergrund einer philologischen Tradition, die ihren Stellenwert behält (was in der deutschen Germanistik bei der reichen Editions- und Kommentartätigkeit an unterschiedlichen Klassiker-Ausgaben offenkundig ist). Ob damit allerdings eine Revitalisierung des Gegenstands (der Literatur) – wie in den Zwanziger Jahren – verbunden ist, bleibt eine offene Frage. Eine kulturwissenschaftliche Orientierung der Literaturwissenschaft kann prinzipiell ihre Konturen nur in der Konsequenz der genauen Einsicht in die Eigenart ihres Gegenstands und der jeweils beobachtbaren kulturellen Situation gewinnen. Eine gegenüber den Kulturwissenschaften offene Literaturwissenschaft sollte ihren Platz genau in jener Lücke finden, die zwischen poststrukturalistischen Texttheorien und deren Distanz zur Geschichte einerseits und der funktionsgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte mit ihren Schwierigkeiten, die Literarizität der Texte herauszuarbeiten, andererseits liegt. Gerade eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft vermag das Interesse an der Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes wiederzubeleben und darin ihre Besonderheit kenntlich zu machen.46 Im Kern geht es um die kulturelle Selbstwahrnehmung in Texten und deren wissenschaftliche Beobachtung. Dabei spielen Sprache und Literatur im Gesamtbereich der Kultur als einem Ensemble »symbolischer Formen« (Ernst Cassirer) und ihrem »selbstgesponnenem Bedeutungsgewebe« (Clifford Geertz) eine zentrale Rolle. Der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft ist daher durch seine 45

46

Vgl. Petra Boden/Dorothea Böck (Hg.): Modernisierung ohne Moderne. Das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR (1969–1991). Heidelberg: Winter 2004 (Beihefte zum Euphorion; 47). Vgl. – auch zum Folgenden – Wilhelm Voßkamp: Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihrer Einbindung in die Kulturwissenschaften. In: AkademieJournal. Magazin der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften 1 (2000), Mainz: Union 2000, S. 23–25.

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Eigenständigkeit ebenso charakterisiert wie durch seine Einbindung in die kultur- und historischen Sozialwissenschaften. Die Geschichte der Literaturwissenschaft zeigt auf anschauliche Weise, dass ihre Gegenstände im Einzelnen weder eindeutig bestimmbar noch abschließend festgelegt sind. Zur Geschichte dieser Disziplin gehören konstitutiv auch die Suche nach ihren Gegenständen und damit die Formulierung immer neuer Selbstentwürfe. Dass dies auch als Krisen-Geschichte gelesen werden kann, zeigt die zuvor dargestellte kontinuierliche Bemühung um das Neue. Es scheint, als ob gerade dies zugleich die Bedingung der Möglichkeit für die je besondere Selbstorganisation und Selbsterneuerung der Disziplin ist. Die Eigenart der Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften lässt sich am Besten an Hand ihrer – über die philologischen Aufgaben im engeren Sinn (Edition und Kommentar) hinausgehenden – Kernbereiche ablesen: Textanalyse und Textinterpretation als Probleme der Auslegung; Rekonstruktion und Konstruktion der Geschichte der Literatur als kulturell konnotierte »Literaturgeschichte«; und die Analyse der Medialität von literarischen Gegenständen und ihrer Geschichte. In allen drei Bereichen handelt es sich um Äußerungsformen kultureller Praktiken. In Texten beobachten sich Kulturen gewissermaßen selbst. Sie sind spezifische Formen des individuellen und kollektiven Wahrnehmens von Welt und Reflexion dieser Wahrnehmung. Literatur ist deshalb konstitutiv durch ein hohes Maß an Selbstreflexion charakterisiert. In künstlerischen Texten mit hoher Komplexität lässt sich insbesondere ihre »unendliche Auslegbarkeit« (Friedrich Schlegel) ablesen. Als Medien der Wahrnehmung und Selbstreflexion nehmen literarische Texte Teil an der kulturellen Sinnproduktion. Literaturgeschichte wird der Eigenständigkeit literarischer Texte nur gerecht, wenn sowohl ihre textuelle Eigenart als auch ihre historische Kontextualität ernst genommen werden. Dabei greift der Text durchaus in den historischsozialen Zeichenkontext ein. Wichtig ist zudem für eine Literaturgeschichte die Einsicht in die Funktion von literarischen Texten als Medien des »kommunikativen« wie des »kulturellen Gedächtnisses«. Von daher geht es um ein ebenso semantisches wie performatives ›Archiv‹. Vergessen werden sollte dabei auch nicht, dass literaturgeschichtliche Darstellungen der kritischen Reflexion ihrer institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und kulturellen Überlieferungen bedürfen. Sowohl die Speicherfunktion und Selektion (vgl. Kanon, Zensur) als auch die dafür entwickelten besonderen Organisationsformen spielen eine wichtige Rolle. Schließlich macht gerade die neuere literaturwissenschaftliche Forschung deutlich, dass in allen Kulturen unterschiedliche Medien und das Problem von Medialität von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind. Heute dürfte die Gleichzeitigkeit der ›ungleichen‹ Mediensituation (Rede, Schrift, Buchdruck, digitale Medien) die mediengeschichtliche Perspektive besonders ins Licht rücken. Die Rolle der Literaturwissenschaft im Kontext der aktuellen Medien-

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konkurrenz genauer zu bestimmen und Aspekte des Medienwandels zu untersuchen, bleibt für eine künftige kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft eine zusätzliche Aufgabe. Betrachtet man diese, vornehmlich im Blick auf die gegenwärtige Lage in Deutschland kurz skizzierte wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftspolitische Situation im Spiegel »israelischer Perspektiven einer internationalen Germanistik« (Thema der Jerusalemer Tagung), wird man grundsätzlich zu vergleichbaren Fragen und Problemen kommen. Die Literatur kann als zentrales, »produktives Medium« der deutsch-jüdischen Kulturtradition charakterisiert und analysiert werden. Allerdings ergibt sich die spannende Frage, ob von einer spezifisch deutsch-jüdischen Perspektive in Hinsicht auf Literatur und Kunst gesprochen werden kann (Exposé zum Jerusalemer Kolloquium).47 Hierbei lässt sich zunächst beobachten, dass im Horizont der kulturwissenschaftlichen Diskussionen der 70er Jahre das Problembewusstsein im Hinblick auf eine deutsch-jüdische Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft zugenommen hat. Wurde im Gründungskolloquium der Deutschen Abteilung der Hebräischen Universität 1983 nach den »Juden in der deutschen Literatur« gefragt,48 wird seit einigen Jahren die Pluralität der jüdischen Tradition im Kontext der europäischen Literatur- und Ideengeschichte stärker hervorgehoben. Von daher nehmen komparatistische Fragestellungen zu, die auf spezifische Vergleichsmöglichkeiten gerichtet sind. Insgesamt lässt sich durchgehend »Mehrdeutigkeit« in der Opposition zu Eindeutigkeit und »Essentialismus« beobachten: »Zweifel an der Möglichkeit der Rede von der jüdischen Kultur ist also da berechtigt, ja notwendig, wo er sich auf potentiell ideologische Unternehmen bezieht, die von der jüdischen Identität als einer Eindeutigkeit, einem Kollektiv oder einer Essenz ausgehen. […] Vielmehr eröffnet gerade der Blick auf die ›Mehrdeutigkeit‹ dessen, was als ›jüdisch‹ gelten kann, das Feld einer nicht-objektivierenden, nicht-totalisierenden und nicht-reduktiven Rede von der deutsch-jüdischen Literatur. Diese Mehrdeutigkeit gelangt genau dann in den Blick, wenn nach dem Selbstverständnis und der Selbstbestimmung dessen, was deutsch-jüdische Literatur sei, gefragt wird.«49 Als Aufgabe einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der deutschjüdischen Literatur hebt Andreas Kilcher folgerichtig die Analyse der verschiedenen historischen Diskurse hervor und die Interpretation des »irredu47

48 49

Vgl. dazu insgesamt die Diplomarbeit von Iris Wedel: Die Praxis interkultureller Germanistik am Beispiel des Goethe-Instituts Jerusalem und der Abteilung für deutsche Sprache und Literatur an der Hebräischen Universität. Bamberg 2005. (Dem Betreuer, Hans-Peter Ecker, danke ich vielmals, dass er mir diese Arbeit zur Verfügung gestellt hat) Juden in der deutschen Literatur. Hg. von Stéphane Mosès und Albrecht Schöne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. Andreas B. Kilcher: Was ist ›deutsch-jüdische Literatur‹? Eine historische Diskursanalyse. In: Weimarer Beiträge 45 (1999), S. 485–517; hier S. 511.

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ziblen vieldeutigen interkulturellen Raums der deutsch-jüdischen Literatur«, der in jedem einzelnen Text »konstruiert und interpretiert wird«.50 Diese zu Recht betonte allgemeine Forderung bedeutet in ihrer Konkretisierung, dass sowohl die unterschiedlichen Diskurse über die deutsch-jüdische Literatur analysiert werden als auch die jeweiligen historischen »Stationen« ihrer Geschichte. Dabei gibt der vergleichende Aspekt besondere Probleme insofern auf, als etwa der Diskurs »Bildung«51 als ein universales Konzept und als konstitutive ›Brücke‹ für die jüdische Emanzipation angesehen werden kann oder in der Diskussion über die »Krise« des Neu-Kantianismus in den Zwanziger Jahren die Transformation in verschiedene Varianten theologischer Diskurse, auch der politischen Theologie, zu beachten sind. Der erwarteten jüdischen Integration in die deutsche Kultur auf der einen Seite steht so eine ebenso ästhetische wie theologische Transformation gegenüber.52 Die Vergegenwärtigung jüdischer Traditionen in Texten bzw. das Hervorheben jüdischer Quellen als Voraussetzung für literarische und künstlerischer Kreativität insbesondere im Horizont der Moderne sind ein zentrales Kapitel der Forschung deutsch-jüdischer Phänomene eingedenk des »erzwungenen ›Telos‹ der Shoa«.53 Im Unterschied zu einer »Kulturkomparatistik« wie sie etwa im Vergleich zwischen deutscher und japanischer Literatur konzipiert wird (vgl. Teruaki Takahashi), wird man sich stets der Tatsache bewusst bleiben müssen, dass es sich bei der deutsch-jüdischen Interkulturalität um ein eigentümliches, höchst produktives asymmetrisches Verhältnis insofern handelt, als Dialog und Kommunikation innerhalb eines (deutschsprachigen) Mediums stattfinden. Gerade diese Besonderheit bietet jene Mehrdeutigkeiten, die zu einer ›unendlichen‹ Auslegung anregen. Dies gilt nicht nur unter Gesichtspunkten eines ästhetischen Mehrwerts literarischer Texte, sondern ebenso unter Aspekten von Vieldeutigkeit philosophischer oder religiöser Texte. Grundlage werden dabei stets die Texte bleiben und jene Doppelheit von philologischer und kulturwissenschaftlicher Anstrengung, die auch in den Forschungen und Projektvorhaben des Franz-Rosenzweig-Zentrums (worauf hier abschließend hingewiesen werden soll) abgelesen werden können. 50 51 52

53

Ebd., S. 511. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Der Roman des Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman. Berlin: Berlin Univ. Press 2009. Vgl. Rahel Livneh-Freudenthal: Kultur als Weltanschauung. Der Kulturbegriff der Begründer der »Wissenschaft des Judentums«. In: Arche Noah. Die Idee der »Kultur« im deutsch-jüdischen Diskurs. Hg. von Bernhard Greiner und Christoph H. Schmidt. Freiburg i. Br.: Rombach 2002, S. 59–84; Christoph Schmidt: Kairos and Culture. Some Remarks on the Formation of Culture Sciences in Germany and Emergence of Jewish Political Theology. In: Ebd., S. 321–346. Vgl. Hans Otto Horch: Was heißt und zu welchem Ende studiert man deutschjüdische Literaturgeschichte? Prolegomena zu einem Forschungsprojekt. In: German Life and Letters 49 (1996), S. 124–135; hier S. 127.

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Die Zielsetzung, das kulturelle Erbe des deutschen Judentums zu erforschen und die lange Tradition des deutsch-jüdischen Denkens im Horizont der europäischen Zivilisationsgeschichte zu untersuchen, ist ein – über die Philologie hinausgehendes – genuin kulturwissenschaftliches Thema. Darüberhinaus: Wie lässt sich die partikulare Erfahrung der deutsch-jüdischen Beziehung mit der angedeuteten allgemeineren Problematik von vergleichender Interkulturalität verbinden? Die selbst erfahrene Fremdheit der anderen Kultur ist stets die notwendige Bedingung für den interkulturellen Austausch. Die Perspektive der historischen Begegnung von Deutschen und Juden als eine der Grunderfahrungen und Katastrophen der europäischen Moderne stellte von Anfang an die Frage nach der Möglichkeit eines Wiederaufnehmens des zerstörten Dialogs. Dabei sind die Probleme der deutsch-jüdischen Beziehung von der allgemeinen Frage der Interaktion zwischen verschiedenen Kulturen und den theoretischen Problemen der Übersetzung und Übersetzbarkeit eines kulturellen Systems in ein anderes nicht zu trennen. Insofern konnte und kann Franz Rosenzweig gerade in Jerusalem zu einem Paradigma werden. Seit seiner Gründung vor zwanzig Jahren hat das Franz-RosenzweigZentrum die angedeutete Zielsetzung sowohl im Kontext kulturwissenschaftlicher Vorhaben als auch im Rahmen zentraler philologischer Editionsprojekte verfolgt. Die Leitung des Zentrums hat – beginnend mit seinem Gründungsdirektor Stéphane Mosès und dessen Nachfolgern – diese Doppelheit der Zielsetzung zum Leitfaden gemacht. Hervorgehoben werden sollen hier die seit 1992 begründete Else-Lasker-Schüler-Ausgabe, die regelmäßig stattfindenden Celan-Kolloquien oder die Arbeitsgruppe zur rabbinischen Hermeneutik, um die Unterschiede zwischen der griechischen und jüdischen hermeneutischen Tradition zu analysieren. Unterschiedliche Projekte zur Interkulturalität sind in einer Reihe von periodischen Publikationen (»Makom«, »Naharahim«, »Ashkenas«) dokumentiert. Besonders wichtig erscheinen mir jene Fragestellungen, die sich auf theoretische Aspekte kulturwissenschaftlicher Fragestellungen konzentrieren im Zusammenhang von Säkularisierungsprozessen in der Moderne vor dem Zweiten Weltkrieg und den Spuren biblischer Traditionen und Neudeutungen. Können Perspektiven einer ›neuen‹ deutsch-jüdischen Identität entwickelt werden im Horizont eines gemeinsamen humanistischen Erbes? Stéphane Mosès symbolisierte in seiner Tätigkeit am Rosenzweig-Zentrum und in der deutschen Abteilung der Hebräischen Universität jene Verbindung von philologischer und kulturwissenschaftlicher Arbeit, die die »Spuren der Schrift« ebenso in Erinnerung gerufen hat wie die notwendige theoretische Anstrengung und kulturelle Praxis zum interkulturellen Dialog.

Das Neue als Verheißung

III

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Schlussbemerkungen

Ohne Zweifel lebt auch die Literaturwissenschaft wie andere Wissenschaften in ihrem historischen Fortgang stets von Abgrenzungsstrategien gegenüber historisch vorgängigen Modellen und Paradigmen, welches insbesondere an einer seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts dauernden Kritik und Selbstkritik der philologischen Literaturwissenschaft beobachtbar ist. Die Selbstreflexion der Philologie ist zudem selbst ein eigenes, spannendes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte der Kultur- und Geisteswissenschaften. Insgesamt zeigt sich, dass ein radikaler Wandel in der methodischen Entwicklung der Literaturwissenschaft sowohl die Veränderung der konzeptuellen Wissens- als auch der Institutions- und Funktionsaspekte zur Voraussetzung hat. Fasst man die Frage nach dem ›Neuen‹ im Zeichen historischer Zäsuren der Zwanziger und Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts pointiert zusammen, so lässt sich – ein durchgehendes Kontinuum der philologischen Tradition mit »vergleichsweise geringer Dynamik« (Kennzeichen einer ›Normalwissenschaft‹) beobachten; – nur ein Zusammentreffen konzeptueller (Methode, Textinterpretation), institutioneller (universitäre Organisation) und funktioneller (Ausbildung, kulturelle Erwartungen der Öffentlichkeit) Veränderungen lässt die Entstehung des Neuen unter Gesichtspunkten von Disziplinentwicklungen zu. – Der Neueren Literaturwissenschaft ermöglicht und bietet die Bewahrung ihres alten philologischen Erbes ein kulturwissenschaftliches Experimentierfeld für das Neue in durchaus unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten.

Andreas Kilcher

Sieben epistemologische Thesen über Wissenschaft und Judentum more geometrico

Vorbemerkung: Die folgenden Thesen wollen die Aufmerksamkeit auf eine Kategorie lenken, die bei der Erforschung der jüdischen Geschichte bisher eher am Rande beachtet worden war,1 jedoch größere Aufmerksamkeit verdient: das Wissen und die Wissenschaften. Ausgangslage ist die Beobachtung, dass jüdische Geschichte nicht nur eine Frage der politischen Ereignisse, der sozialen Verhältnisse, der alltäglichen Lebensweisen, der religiösen Praxis sowie der kulturellen und künstlerischen Erzeugnisse ist. Jüdische Geschichte ist darüber hinaus auch eine Geschichte von Ideen und Wissen sowie der Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Konstitution, Formulierung und Verbreitung, d. h. eine Geschichte intellektueller und wissenschaftlicher Kulturen. Die folgenden historischen und systematischen Überlegungen enthalten in der verdichteten Form von Thesen (bzw. Hypothesen) Vorschläge, wie dieses Forschungsfeld im allgemeinen umschrieben werden kann und welche konkreten Fragestellungen sich daraus ergeben können. 1. Die Kultur und Geschichte des europäischen und deutschen Judentums erschließt sich nicht nur über seine sozialen, politischen, theologischen und kulturellen Verhältnisse, sondern auch über seine Geschichte der Ideen, seine Paktiken des Wissens. Das Wissen ist ein integraler Teil der jüdischen Geschichte und der jüdischen Kultur. 1.1. Die Aufmerksamkeit auf das Wissen in der jüdischen Geschichte kann in systematischer Hinsicht auf der einen Seite dem theoretischen (intellektuellen, akademischen, wissenschaftlichen) Wissen gelten, namentlich dem Wissen der Wissenschaften. 1.2. Die Aufmerksamkeit gilt auf der anderen Seite praxiologisch-pragmatischen (politischen, sozialen, institutionellen, kulturellen) Aspekten des Wissen, d. h. (in diesem praxiologischen Sinn) den »Kulturen« des Wissens in unterschiedlichen gesellschafttlichen Gefügen. 1.3. Eine Analyse der theoriebegründeten Wissenskonzepte sowie der handlungsbegründeten Wissenskulturen des Judentums muss in diachroner geschichtlicher wie auch in synchroner systematischer Per1

Vgl. dazu u. a. die Arbeiten von David Ruderman, Gideon Freudenthal, Gad Freudenthal, Ulrich Charpa, Ute Deichmann.

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Andreas Kilcher

spektive erfolgen: als Analyse der wissenschaftlichen Kulturen des Judentums in unterschiedlichen historischen und sozialen Kontexten. 2. Die Frage nach dem Wissen in der jüdischen Geschichte wirft ein neues Licht auf die Säkularisationsthese: Das Verhältnis von Wissen und Religion wird dialektisch. 2.1. Die Perspektive auf das Wissen legt in historischer Hinsicht eine Fokussierung auf die Neuzeit nahe, insofern sich hier das Wissen zunehmend von einem engeren religiösen Paradigma des Judentums löst und als positiver Faktor des intellektuellen jüdischen Selbstverständnisses behauptet (beispielhaft in einer Haskala-Autobiographie wie derjenigen Salomo Maimons). 2.2. Eine antagonistische Ausspielung von Wissen und Religion ist allerdings eine Perspektive der Haskala selbst und muss durch den Historiker gleichzeitig durch vormoderne oder frühmoderne Wissensbegriffe konterkariert werden, die affirmativ oder auch dialektisch in die jüdische Religion integrierbar waren (etwa Kosmologie und Naturphilosophie in der Kabbala, Rechts- und Schriftgelehrsamkeit im rabbinischen Umgang mit traditionellen Texten). Aber auch die Öffnung des religiösen, durch die Autorität von Schrift und Tradition bestimmten Judentums für sogenannte säkulare wissenschaftliche Fragen ist kein linearer und homogener, sondern ein dialektischer und heterogener Prozess von Modernisierung. Einerseits werden also auch in religiösen Paradigmen Wissensmodelle entwickelt. Andererseits kann die Religion ihrerseits zum wissenschaftlichen Gegenstand erhoben werden (etwa in der historischen Bibelkritik seit Spinoza). 2.3. Je nach Perspektive führt dies einerseits zur These der Unvereinbarkeit des Judentums mit den Wissenschaften (vgl. Neusner: »Why no Science in Judaism?«), andererseits gerade umgekehrt zur These ihrer Vereinbarkeit (vgl. Patai: »The Jewish Mind«). Zutreffender ist jedoch wohl eine vermittelnde Position: Zwar gibt es keine per se »jüdische« Wissenschaft (»jüdische« Physik, »jüdische« Mathematik, »jüdische« Sprachtheorie etc.), aber doch die soziale, kulturelle und intellektuelle Partizipation der Juden, sei es an der religiös begründeten Wissenschaftsgemeinschaft der Antike und des Mittelalters, sei es an der zunehmend kosmopolitischen und säkularen Wissenschaftsgemeinschaft in der Neuzeit. 3. Die Partizipation der Juden an der europäischen Wissensgemeinschaft sowie auch ihre Integration und Wahrnehmung durch diese zeigt sich in syn-

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chronen Analysen der komplexen Prozesse des Transfers, der Transformation, der Integration, der Abgrenzung etc. in den transkulturellen Verhältnissen zwischen der traditionellen, theologisch geleiteten, jüdischen und der modernen europäischen Wissenskultur. 3.1. Dies umfasst auf der einen Seite die vielfältige Adaption und Transformation jüdischer Wissensmodelle und Paradigmen im Zuge der Ausdifferenzierung moderner Wissenschaften in der Neuzeit (etwa Begriffe von Natur, Mathematik, Recht, Geschichte, Sprache, Philologie, Literatur etc.) 3.2. Komplementär dazu stehen die nicht weniger vielfältigen Adaptionen und Transformationen wissenschaftlicher Modelle und Paradigmen im modernen Judentum sowohl in den Naturwissenschaften (vom Aristotelismus und Platonismus bis hin zum Darwinismus) als auch in den Geisteswissenschaften (z. B. Philologie, Kantianismus/Idealismus, Nietzscheanismus, Marxismus, Neukantianismus, Psychoanalyse etc.) 3.3. Parallel zum Austausch in den akademischen Wissenschaften liegen die Transferprozesse in den sogenannten esoterischen oder »Para«Wissenschaften. Beispielhaft ist einerseits die transkulturelle Disposition der Gnosis zwischen Judentum, Christentum und Hermetismus in der Antike. Beispielhaft ist andererseits die große Rolle der Kabbala in der europäischen Esoterikgeschichte – von der frühneuzeitlichen magia naturalis und Alchemie über die Rosenkreuzer und Freimaurer bis hin zu Okkultismus und Theosophie im 19. und 20. Jahrhundert. 4. Das Judentum ist in systematisch-epistemologischer Hinsicht grundsätzlich entweder Subjekt (Akteur) oder Objekt (Gegenstand) des Wissens oder aber beides zugleich. 4.1. Die Untersuchung des Judentums als Subjekt des Wissens richtet die Aufmerksamkeit auf die Gegenstände bzw. Inhalte, denen sich das europäische und deutsche Judentum seit dem Mittelalter bzw. verstärkt seit der Frühen Neuzeit zuwandte (von den theoretischen Naturwissenschaften wie der Kosmologie über die praktischen bzw. angewandten Natur- und Humanwissenschaften wie der Medizin bis hin zu den Sozialwissenschaften wie dem Recht und den historisch-philologischen Wissenschaften, etwa der Sprachwissenschaft und der Bibelkritik. 4.2. Die Untersuchung des Judentums als Objekt des Wissens richtet die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise, wie das Judentum selbst seit der frühen Neuzeit zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht wurde. Wenn das Judentum dabei ausschließlich Objekt des

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Andreas Kilcher

Wissens ist (und nicht zugleich auch Subjekt), so bedeutet dies eine Außenperspektive, wie sie etwa die christliche Hebraistik in der Frühen Neuzeit leitete (Reuchlin, Buxtorf, Wagenseil etc.), ebenso die protestantische und katholische Theologie im 19. Jahrhundert, nicht zuletzt aber auch die sogenannte »Erforschung der Judenfrage« durch einschlägige nationalsozialistische Institute. 4.3. Die Untersuchung des Judentums als Subjekt und zugleich als Objekt des Wissens meint die jüdische wissenschaftliche Selbstwahrnehmung, eine Erforschung des Judentums also mit den modernen Mitteln und Kategorien der europäischen Natur- und Geisteswissenschaften. Ein Paradebeispiel dafür ist die Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert seit Leopold Zunz. 5. Die Untersuchung des Judentums als Subjekt (Akteur) des Wissens erfordert soziologisch-politische sowie ideen- und kulturgeschichtliche Analysen. 5.1. Wissenssoziologische und -politische Analysen richten den Blick auf die äußeren, strukturellen und gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Wissen generiert und verteilt wird, d. h. auf die sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse, innerhalb deren Wissen für die Juden erreichbar und kommunizierbar war. Konkret sind dies etwa die Bedingungen intellektueller und akademischer Integration, wie die Stellung und Arbeit von Juden an Akademien, Universitäten, Bibliotheken, Verlagen etc. 5.2. Ideen- und kulturgeschichtliche Analysen richten die Aufmerksamkeit auf die epistemologischen Formen und Funktionen des Wissens. 5.3. In Rücksicht auf die politischen und kulturellen Bedingungen des Wissens spielt die transnationale und transkulturelle Stellung der Juden in der europäischen Geschichte eine besondere Rolle. Sie ist mit eine wesentliche Bedingung bzw. ein Katalysator der Aufnahme, Generierung und Vermittlung wissenschaftlicher Paradigmata (etwa qua Übersetzung). 6. Die Untersuchung des Judentums als Objekt und Gegenstand des Wissens verlangt auf der einen Seite theologisch-politische, auf der anderen Seite epistemologische Analysen. 6.1. Politisch-theologische Dimensionen werden inbesondere in der Außensicht auf das Judentum relevant, indem die Erforschung des Judentums nicht wert- und interessefrei erfolgte, sondern unter dem Vorzei-

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chen unterschiedlicher theologischer und politischer Tendenzen und ideologischer Interessen (von der philosemitischen Hebraistik des Barock bis hin zur antisemitischen NS-›Forschung‹ zum Judentum und zur wissenschaftlichen Wahrnehmung des Judentums in kommunistischen Staaten wie der DDR oder der Sowjetunion). 6.2. Epistemologische Analysen richten den Blick auf die wissenschaftlichen Methoden und Inhalte im Zuge der externen Darstellung und Interpretation des Judentums als einer religiösen, kulturellen und historischen Größe. 6.3. Zu analysieren sind damit in den europäischen wissenschaftlichen Diskursen die Verhandlungen dessen, was als jüdische Religion, jüdische Philosophie, jüdische Kunst, jüdische Literatur etc. gelten könne. 7. Die Analyse der Formen und Funktionen jüdischer Wissenschaft des Judentums muss ebenfalls theologische, politische wie epistemologische Aspekte unterscheiden. 7.1. Eine theologische Dimension der Forschung zum Judentum beleuchtet das produktive und zugleich konfliktreiche Verhältnis der jüdischen Theologie zu den Wissenschaften. Produktiv ist das Verhältnis, wo das Wissen mit theologischen Grundlagen des Judentums verbunden und in diese transponiert werden konnte (von der frühneuzeitlichen Kosmologie und Medizin bis hin etwa zu Hermann Cohens »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«). Konfliktreich wird das Verhältnis insbesondere da, wo ein traditionalistisches oder orthodoxes Judentum sich gegen die Modernisierung durch die Wissenschaften (z. B. den Darwinismus) stellte (etwa im Chassidismus). Eine vermittelnde Position ist die gleichzeitige Geltung von traditionalistischem Judentum und moderner Wissenschaft (etwa in der NeoOrthodoxie und ihrem Prinzip des tora im derech eretz). 7.2. Eine politische Perspektive legt das Augenmerk auf die Frage, wie das Wissen in der jüdischen Geschichte in unterschiedlicher Weise zu einem Mittel zur Integration und Modernisierung auf der einen Seite, zur Dissimilation auf der anderen Seite gemacht wurde. Das zeigt sich einerseits an der Wissenschaft des Judentums, die im Feld eines Liberalismus Integration, Akkulturation und Assimilation zum mehr oder weniger expliziten Programm erhob. Es zeigt sich gleichermaßen an der zionistischen Umdeutung der Wissenschaft des Judentums, die eben dagegen eine Nationalisierung der Wissenschaft forderte (Bialik, Loewe, Scholem bzw. die israelische Wissenschaftskultur seit 1947). Zu analysieren sind zudem auch die politischen Implikationen der jiddischen Wissenschaft des Judentums des YIVO (Yidisher visnshaft-

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Andreas Kilcher

lekhe institut), das teils auch von sozialistischen und internationalistischen Prämissen ausgeht. 7.3. Die Pluralität der Interpretationen dessen, was jüdische Theologie, jüdische Philosophie, jüdische Geschichte, jüdische Literatur etc. sei, ergibt sich nicht nur aus theologischen und politischen, sondern auch aus epistemologischen Prämissen. Dabei ist insbesondere auch die Verflechtung von allgemeineren europäischen wissenschaftlichen Paradigmen und Methoden (wie Philosophie, Philologie, Historiographie) mit spezifisch jüdischen wissenschaftlichen Paradigmen und Methoden (wie Kosmologie und Schriftgelehrsamkeit) zu untersuchen.

Christian Kohlross

Überlegungen zu einer deutsch-jüdischen Literaturwissenschaft*

Wenn man sich fragt, was es denn heißen mag, Germanistik in Israel zu betreiben – gerade in Israel und nicht in, sagen wir, Polen, Japan oder Kasachstan, so liegt eine Antwort ganz nahe: Während Germanistik in Polen, Japan oder Kasachstan immer bleibt, was sie ist: eben Germanistik, verwandelt sie sich in Israel fast wie von selbst in etwas anderes. Das erkennt man allein schon daran, dass es schwer vorstellbar ist, was eine deutsch-polnische, deutschjapanische oder deutsch-kasachische Literaturwissenschaft sein könnte, wohingegen, was eine deutsch-israelische Literaturwissenschaft, also Germanistik in Israel sein könnte, immer schon in den Bereich des Vorstellbaren fällt: es könnte nämlich eine deutsch-jüdische Literaturwissenschaft, eine Literaturwissenschaft also sein, die sich mit dem reichen Bestand dessen auseinandersetzt, was aus Gründen der Abstammung, der Religion oder der Sprache der deutschjüdischen Literaturgeschichte zugerechnet wird. Doch eine solche deutschjüdische Literaturwissenschaft gibt es heute noch gar nicht. Ja, es gibt sie, wie man, wenn es Bereich des Nichtseienden einen Komparativ gäbe, sagen müsste: noch weniger. Warum? Ganz einfach deshalb, weil es zwar Institute, Institutionen, Publikationen, also Zeitschriften, Jahrbücher, Konferenzen gibt, ja, weil es sogar einen von Mendelssohn über Kafka und Celan zu, sagen wir, Maxim Biller reichenden Kanon der deutsch-jüdischen Literatur gibt, mit dem sich diese Institute, Institutionen und Publikationen beschäftigen, also so etwas wie den Gegenstand einer deutsch-jüdischen Literaturwissenschaft, aber eben keine bestimmte, aus diesem Gegenstand hervorgehende Perspektive, in der wiederum dieser Gegenstand in den Blick genommen wird. – Und Gegenstände, muss man hinzufügen, sind für gewöhnlich auch gar nicht dazu in der Lage, den Blick, den wir auf sie richten – im Rahmen einer Wissenschaft: die Weise, in der sie erforscht werden, festzulegen. Auch Literaturwissenschaft gibt es ja nicht, weil es literarische Texte gibt; nein, literarische Texte sind, etwa im Rahmen der Psychologie, Philosophie, Geschichtswissenschaft und Theologie durchaus Forschungs-

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Eine umgearbeitete und erweiterte Version dieses Aufsatzes erscheint in: Mario Grizelj/Oliver Jahraus (Hg.): Theorietheorie. Wider die Theoriemüdigkeit in den Geisteswissenschaften. Paderborn: Fink 2012.

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Christian Kohlross

gegenstände, ohne dass aber die genannten Wissenschaften darüber auch schon zu Literaturwissenschaften würden. Wenn das so ist, worin könnte eine deutsch-jüdische Perspektive in der Literaturwissenschaft bestehen – und, nicht zu vergessen: warum wäre, so etwas herauszufinden und zu entwickeln, ein verheißungsvolles Projekt? Diese letzte Frage ist nun aber denkbar einfach zu beantworten: Es wäre nämlich ein verheißungsvolles Projekt, weil es doch der Ratlosigkeit, um nicht zu sagen: der Agonie entgegenwirken könnte, die nach der, da machen wir uns nichts vor, längst eingetretenen Musealisierung der großen, sagen wir: formalistischen, phänomenologischen, strukturalistischen, materialistischen, dekonstruktivistischen Paradigmen die Literaturwissenschaft befallen hat. Aber: Wie um alles in er Welt sollte eine deutsch-jüdische Literaturwissenschaft hier Abhilfe schaffen? Etwa durch eine Resurrektion der große Säulenheiligen der deutsch-jüdischen Kultur- und Geistesgeschichte im Gewande der Literaturtheorie? Etwa dadurch, dass man aus den Mendelssohn, Rosenzweig, Buber, Benjamin und ihren Bundesgenossen eine veritable Literaturtheorie destilliert – und diese dann eine deutsch-jüdische nennt? Wer wollte ernsthaft behaupten, so etwas sei möglich? Zwar wird man auf diese, das Denken der Genannten aus ihrem historischen Kontext lösende und konzeptualisierende Weise vielleicht zu einigen Grundbegriffen einer deutsch-jüdischen Literaturwissenschaft gelangen – ob aber zu einer veritablen, gar noch auf den deutsch-jüdischen Kanon applizierbaren Literaturtheorie, daran kann man, wenn man nur sieht, wie weit es in diesem Bemühen die Benjaminforschung gebracht hat, zweifeln. Doch warum soll man heutzutage überhaupt noch den Versuch einer Resurrektion einer so totgesagten Gattung, wie es die Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts ist, unternehmen? Und mit Blick auf die Mendelssohn, Rosenzweig, Buber, Benjamin muss man sagen: Nichts wäre törichter als eben das! Denn, was diese deutsch-jüdische Tradition so schonungslos offen legt – und darin liegt, wenn ich recht sehe, ein beachtlicher Teil ihrer anhaltenden Faszination begründet, ist ein grundsätzlicher und in den Augen von Nicht-Literaturwissenschaftlern nicht selten als skandalös empfundener Mangel keineswegs nur der germanistischen, sondern einer jeden, sei es materialistischen, sei es feministischen, sei es systemtheoretischen oder sonst irgendeinem Paradigma verpflichteten Literaturwissenschaft. Und dieser Mangel besteht eben darin, dass die hier natürlich nur exemplarisch genannten literaturwissenschaftlichen Verfahren von den poetischen Gegenständen, auf die sie angewandt werden, so eigentümlich unbeeindruckt sind. Wie sehr, das führt sehr schnell ein Seitenblick auf die Philosophie vor Augen: Während man sich nämlich kaum vorstellen kann, dass heute so philosophiert würde, wie in philosophischen Seminaren und Publikationen philosophiert wird, wenn nicht Wittgenstein, Heidegger, Hegel, Kant, Platon ihrerseits, und zwar auf ihre je eigene Weise philosophiert hätten, wird Literaturwissenschaft heute betrieben, wie sie betrieben wird,

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auch wenn, sagen wir, Hölderlin, Heine, Fontane und Kafka nie einen Satz publiziert hätten. Doch kann man sich vorstellen, wie die Schriften Moses Mendelssohns ohne diejenigen Lessings aussähen? Kann man sich vorstellen, was Rosenzweigs Stern der Erlösung ohne den Einfluss des Expressionismus wäre? Und was wäre Buber ohne die Erzählungen der Chassidim, Benjamin ohne Proust und Baudelaire und, was Adorno ohne Beckett, Stéphane Mosès ohne Kafka, ja, was wäre die gesamte deutsch-jüdische Kultur- und Geistesgeschichte ohne den Einfluss des fraglos einflussreichsten literarischen Werks überhaupt: der Bibel? Nicht allein, dass in der deutsch-jüdischen Tradition Literatur nicht wiederum auf die akademische oder literarische Tradition, sondern auf das Leben hin gelesen wird macht sie zu etwas Besonderem, sondern, dass in ihr die Weise des Zugangs zur Literatur durch Literatur selbst bestimmt wird mit anderen Worten, dass sie nicht einfach Wissenschaft von der Poesie, sondern, zumindest der Idee nach, poetische Wissenschaft ist. Was aber heißt das für das Projekt einer deutsch-jüdischen Literaturwissenschaft? Es heißt wohl, dass diese Wissenschaft in der poetischen Literatur selbst ihren Grund finden müsste, und zwar immer wieder aufs Neue – in der Literatur, nicht in der Theorie – und selbstverständlich auch nicht in irgendwelchen anderen heiligen oder religiösen Texten? Ich frage mich daher, ob es so, wie es eine Platonische oder Kantische oder meinethalben auch Heideggersche Philosophie gibt, ob es nicht auch so etwas wie eine, sagen wir, Celansche, Lasker-Schülersche oder Kafkaeske Literaturwissenschaft geben mag – also eine wirklich literarische, der Literatur verpflichtete Wissenschaft. Es gäbe, das ist klar, diese Wissenschaft dann nicht als eine, die, weil sie sich von theoretischen oder gar religiösen Texten herschreibt, allgemeine Geltungsansprüche erhebt, sondern nur als eine, deren Anspruch auf Allgemeinheit aus dem jedesmaligen Akt der Interpretation hervorgeht. Mit einem Wort: Allgemeingültigkeit wäre einer so gearteten Wissenschaft eine Eigenschaft, die ihren Grund im Literarischen hat – und nicht im Theoretischen, Wissenschaftlichen oder Religiösen. Mit anderen Worten: ihre kanonischen, ich kann auch sagen: ihre heiligen Texte findet sie in der Poesie. Genau darauf soll nun die Probe aufs Exempel gemacht werden, und zwar eben bei einem Autor des deutsch-jüdischen Kanons, Franz Kafka, einem Autor also, dessen Texte und Erzählungen nicht selten und gewiss für literaturwissenschaftlich geschulte Ohren auch nicht zufällig so klingen, als wohne ihnen eine gesetzgebende Gewalt inne – wie sonst nur mythischen Texten, gerade denen des Alten Testaments. Um nun aber ein Beispiel, genau, und mit Kafka genommen, muss man aber nun sagen: ein Gleichnis zu geben, das (nach einer von Kafka nicht autorisierten Titelgebung von Max Brod) auch noch so heißt, eben:

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Christian Kohlross Von den Gleichnissen1 Viele beklagen sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: »Gehe hinüber«, so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge. Darauf sagte einer: Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei. Ein anderer sagte: Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist. Der erste sagte: Du hast gewonnen. Der zweite sagte: Aber leider nur im Gleichnis. Der erste sagte: Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.

Um wenigstens, was klar ist, auch gleich klar zu sagen: Zu Beginn verleiht Kafka dem gemeinen oder auch gesunden Menschenverstand das Wort und lässt ihn darüber klagen, dass alles, was Gleichnis ist – also auch die Literatur, unbestimmt, dunkel und daher recht eigentlich immer nur wieder das Gleiche, nämlich nichtssagend und daher für alles, was der gesunde Menschenverstand als seine Richtschnur anerkennt: eben das Praktische, untauglich ist. Es ist dies der Standpunkt des alltäglichen Realismus, manchmal auch der des der Literatur Überdrüssigen, immer aber derjenige, der ganz auf die Kraft des Buchstäblichen vertraut. Diesem sehr vertrauten Realismus aber wird geantwortet, dies nämlich, dass den Gleichnissen zu folgen zuletzt immer heiße, selbst ein Gleichnis zu werden – das Literarische, Symbolische, Deutbare, Gleichnishafte also gerade nicht als das Andere, sagen wir Fiktionale zu verstehen, sondern als das Eigenste anzuerkennen ist, mit einem Wort: wir selbst immer schon literarische Gestalten sind.2 Das scheint ein merkwürdiger, ungewöhnlicher, weil den alltäglichen Realismus transzendierender Gedanke zu sein. Doch ist es eben das Erfüllen eines ehemals romantischen Programms, das des Romantisierens. Das Merkwürdige, das es hervorkehrt, besteht freilich darin, dass es deutlich macht, wie sehr wir geneigt sind, unsere Wirklichkeit für eine buchstäbliche zu halten und sie in buchstäblichem Sinne zu interpretieren. Aber nicht erst die Psychoanalyse, auch nicht erst die Romantik, sondern bereits der Mythos, die 1 2

Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente. Hg. von Jost Schillemeit. 2 Bde. Frankfurt am Main: S. Fischer 1992, Bd 2, S. 531f. In diesem Sinne interpretiert auch Sabine I. Gölz, in dies.: Kafka und die Parabel/das Parabolische: Gibs auf! Von den Gleichnissen und Der Jäger Gracchus. In: KafkaHandbuch. Leben, Werk, Wirkung. Hg. von Bettina von Jagow und Oliver Jahraus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 239–249, hier S. 245f.

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Religion lehrte einst, einzelnes Leben, auch eigenes Leben als exemplarisches Leben zu betrachten – mit einem Wort: wie ein Stück Literatur zu behandeln – es gar (wenn das Wie wegfällt) zu literarisieren. Darauf bemerkt ein anderer, und dieser andere könnte durchaus ein Philologe sein, dies: Die Möglichkeit der Aufhebung noch der eigenen Wirklichkeit in der Literatur, die Idee des Romantisierens sei offenbar auch wiederum nur im Gleichnis zu verstehen, was wiederum zur Voraussetzung hat, dass die Wirklichkeit die Wirklichkeit und Literatur die Literatur ist. Doch dieser andere muss sich belehren lassen: Er hat nur in der Wirklichkeit Recht; im Gleichnis hat er »verloren«. Warum? Einfach deshalb, weil der Standpunkt der Wirklichkeit selbst nur ein Standpunkt innerhalb eines Gleichnisses ist, eben des Gleichnisses, das Gleichnis und Wirklichkeit miteinander vergleicht. Das Gleichnis als ein Letztes anzuerkennen heißt, den Akt des Vergleichens als einen letzten oder ersten anzuerkennen, jenseits dessen es nichts gibt, schon gar keine Wirklichkeit. Wirklichkeit gibt es nur innerhalb des Gleichnisses, auch, und das mag ein merkwürdiger Gedanke sein, transzendente Wirklichkeit. Dies aber, dass der Akt des Vergleichens ein unhintergehbarer, absoluter ist, das wiederum ist der Standpunkt der Literatur. Denn die Literatur ist immer schon ein Gleichnis. Sie sagt, was sie zum Ausdruck bringt, niemals direkt, sonst wäre sie Alltagssprache, Wissenschaft, Philosophie. Max Frisch sagt daher über das Anliegen der Poesie, es lasse » [,,,] sich bestenfalls umschreiben, und das heißt ganz wörtlich: man schreibt darum herum. Man umstellt es. Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten, das unsagbar bleibt; sie können es nur umgrenzen, möglichst nahe und genau, und das Eigentliche, das Unsagbare, erscheint bestenfalls als Spannung zwischen diesen Aussagen.«3 Literatur also ist ein Medium der indirekten Mitteilung. Sie verdankt sich der Notwendigkeit, dass Bestimmtes nur im Gleichnis, nur vergleichsweise gesagt werden kann und nicht buchstäblich. – Genau deshalb bedürfen wir der Literatur, und deshalb ist es so merkwürdig, dass die Literaturwissenschaft sich zu weiten Teilen immer noch als eine positive Wissenschaft dem Buchstäblichen verschrieben hat und so oft von der Literarisierung der Welt so wenig wissen will. Kafkas Parabel Von den Gleichnissen ernst zu nehmen heißt dagegen, zu akzeptieren, dass das buchstäblich Wirkliche, das im behauptenden Aussagesatz Feststellbare, kurzum das Positive kein Grund der Wissenschaft, schon gar nicht der Literaturwissenschaft sein kann. Was aber wäre dann – mit Kafka gedacht – ein solcher Ort? Nun, wenn das Gleichnis, der Akt des Vergleichens wirklich selbst ein Absolutes, Unhintergehbares sein sollte, dann wäre die Literatur selbst dieser Ort. Warum?

3

Max Frisch: Schwarzes Quadrat. Zwei Poetikvorlesungen. Hg. von Daniel de Vin unter Mitarb. von Walter Obschlager mit einem Nachwort von Peter Bichsel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 23.

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Christian Kohlross

Weil Literatur selbst ein Vergleichsunternehmen ist. Sie verwendet die gewöhnlich im buchstäblichen Sinne gebrauchten Worte und Sätze so, dass daraus etwas Neues, eine neue literarische Wirklichkeit hervorgeht, die, was wir sonst Wirklichkeit nennen, nicht, wie die Ästhetik lange Zeit meinte, nachahmt, sondern eben im Vergleich erschließt. Dabei versagt sie sich jedoch der Reduktion auf die eine Seite des Vergleichs zwischen buchstäblicher und metaphorischer Wirklichkeit. Nimmt man sie ganz und gar metaphorisch, so wird sie hermetisch; nimmt man sie ganz und gar buchstäblich, so nimmt man sie schon nicht mehr als Literatur. Es gibt daher kein abschließendes Vokabular, in das sie übersetzt werden kann. Wer den Vergleich der Vokabulare, allen voran des buchstäblichen und des metaphorischen Vokabulars zum Verschwinden bringen wollte, brächte die Literatur zum Verschwinden. Nun stellt aber der Literaturwissenschaftler einen solchen Vergleich an, wenn er die metaphorische Sprache der Literatur in die seine, buchstäbliche übersetzt. Gut hermeneutisch gedacht bewegt er sich damit im Gleichnis. Denn wer literarische und alltägliche, metaphorische und buchstäbliche Wirklichkeit vergleicht, steht als derjenige, der buchstäblich oder metaphorisch vergleicht, das ist die Wahrheit des hermeneutischen Zirkels, nicht jenseits Vergleichs. Auch dass sich Literatur und Wirklichkeit als Unterschiedene vergleichen lassen, scheint also nur ein Gleichnis zu sein, ein literaturwissenschaftliches eben, das etwas verschweigt, dies nämlich, dass sie immer auch dasselbe sind – die Wirklichkeit also eine literarische ist – auch die der Literaturwissenschaft. Doch warum sollte die Unhintergehbarkeit des Literarischen, des nur in der indirekten Mitteilung, im Akt des Vergleichens und der Form des Gleichnisses Erschließbaren ein veritabler Grund – ich sollte sagen: Abgrund sein, von dem her eine deutsch-jüdische Literaturwissenschaft ihren Ausgang nimmt? Ich denke, aus zwei Gründen: Zunächst, weil so dem die jüdische, weit mehr noch als die christliche Tradition bestimmenden Bilderverbot Rechnung getragen wird, das sich ja nur in der theologischen Tradition gegen das Ansinnen richtet, sich ein Bildnis des Unvergleichlichen, also Gottes zu machen und in seiner säkularen Ausdeutung weit mehr umfasst, nämlich die verfälschende Kraft aller Bilder, gerade auch der sprachlichen, begrifflichen – was auch immer sie zum Gegenstand haben. Der Umgang mit der aus diesem Bilderverbot resultierenden Negativität der Darstellung scheint mir dabei gerade für eine deutsch-jüdische Literaturwissenschaft von Bedeutung zu sein, denn im Rahmen der historischen Erfahrung von Deutschen und Juden hat ja die Übertretung dieses Gebots dadurch, dass das Bild eines deutschen Idealmenschen und zugleich damit das Bild eines jüdischen Unmenschen geschaffen wurde, besonders verhängnisvolle Konsequenzen hervorgebracht. Und es ist diese Erfahrung, die der mit dem Bilderverbot im Rahmen der Kunst einhergehenden Paradoxie, dass nämlich Kunst als Darstellende das Bilderverbot sowohl immerzu übertreten als auch

Überlegungen zu einer deutsch-jüdischen Literaturwissenschaft

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(als nur indirekt darstellende) zugleich einzuhalten hat, ihre ethische Dimension bewahrt. Die Unhintergehbarkeit des Gleichnisses bedeutet aber für eine deutschjüdische Literaturwissenschaft noch etwas anderes, nämlich dadurch, dass (wahrscheinlich ist hier der Einfluss der jüdischen Religion am deutlichsten bemerkbar) die literarische wie die literatur- und kulturwissenschaftliche Tradition einen metaphysischen, deutlich auf das Ganze des Seins zielenden Impuls beibehält. Dieser Impuls gibt sich, wo er seine religiösen Intentionen hinter sich gelassen hat, doch zumeist noch als existenzieller, vielleicht sollte ich sagen: existentialistischer zu erkennen und damit eben als ein – die Rede von der Unhintergehbarkeit des Gleichnisses macht es deutlich – absoluter. Und es ist dieser Anspruch auf das Absolute, der dann etwa den Erzählungen Kafkas die expressive, welterschließende und eben gesetzgebende Kraft religiöser Texte verleiht. Aus den Parabeln Kafkas kann man lernen wie aus biblischen Gleichnissen – aber es gibt dann nichts mehr, an das man glauben müsste, keine wissenschaftliche Theorie und schon gar keinen Gott. Doch es könnte sein, dass all das ja nur im Gleichnis wahr wäre, auch die Unhintergehbarkeit des Gleichnisses nur ein Standpunkt innerhalb eines Gleichnisses ist. Was wäre dann? Ich nehme diese Frage ernst, so ernst, dass ich sie noch einmal an Kafka zurückgeben möchte, an ein weiteres seiner das Sein im Ganzen im Vergleich mit sich zur Sprache bringenden Gleichnisse, das ich nun aber, um aus dem, was da gedacht wird, ein paar für das Projekt einer deutsch-jüdischen Literaturwissenschaft, wie ich hoffe, entscheidende Schlüsse zu ziehen, in drei Teile unterteilen möchte. Hier ist der Erste: Zur Frage der Gesetze4 Unsere Gesetze sind nicht allgemein bekannt, sie sind Geheimnis der kleinen Adelsgruppe, welche uns beherrscht. Wir sind davon überzeugt, dass diese alten Gesetze genau eingehalten werden, aber es ist doch etwas äußerst Quälendes, nach Gesetzen beherrscht zu werden, die man nicht kennt. Ich denke hierbei nicht an die verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten und die Nachteile, die es mit sich bringt, wenn nur Einzelne und nicht das ganze Volk an der Auslegung sich beteiligen dürfen. Diese Nachteile sind vielleicht gar nicht sehr groß. Die Gesetze sind ja so alt, Jahrhunderte haben an ihrer Auslegung gearbeitet, auch diese Auslegung ist wohl schon Gesetz geworden, die möglichen Freiheiten bei der Auslegung bestehen zwar immer noch, sind aber sehr eingeschränkt. Außerdem hat offenbar der Adel keinen Grund, sich bei der Auslegung von seinem persönlichen Interesse zu unseren Ungunsten beeinflussen zu lassen, denn die Gesetze sind ja von ihrem Beginne an für den Adel festgelegt worden, der Adel steht außerhalb des Gesetzes, und gerade deshalb scheint das Gesetz sich ausschließlich in die Hände des Adels gegeben zu haben. Darin liegt

4

Franz Kafka: Erzählungen. Hg. von Michael Müller. Stuttgart: Philipp Reclam 1995, S. 246–249.

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Christian Kohlross natürlich Weisheit – wer zweifelt die Weisheit der alten Gesetze an? – , aber eben auch Qual für uns, wahrscheinlich ist das unumgänglich.

Wie unschwer zu erkennen, ist hier gleich zu Anfang von der Zunft der Verstehenden und Interpretierenden, also von der Zunft der Literaturwissenschaftler die Rede, deren Qual es ist, dass sie von Gesetzen beherrscht werden, die das Zustandekommen sowie die Wirkung, vor allem aber das Bedeutungsgeschehen einer literarischen Tradition bestimmen, aber eben, wiewohl ihre Wirkungsgeschichte schon »Jahrhunderte« währt, immer noch das »Geheimnis« einer »kleinen Adelsgruppe« sind, die »außerhalb des Gesetzes« steht. Wer diese Adelsgruppe, also die die Gesetze autorisierende Instanz ist, das bleibt unklar, ebenso wie der Inhalt dieser Gesetze – auch, möchte man hinzufügen, nach mehr als hundert Jahren Literaturtheorie. – Doch Kafka spricht ja im Gleichnis, also im Namen der Literatur und auch in dem der Wirklichkeit. Es handelt sich also um keine allein die Literaturwissenschaften betreffende Situation. Im Gegenteil, die hier gestellte Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens der das Sein im Ganzen wie ja auch überhaupt ein jedes Sollen bestimmenden Gesetze stellt sich jedem, der verstehen möchte oder gar muss. Es ist eben eine die menschliche Existenz überhaupt betreffende, kurzum: eine existentielle Frage. Denn auslegungsbedürftig sind nicht nur Texte – Gleichnisse, sondern auslegungsbedürftig ist schlechthin alles, darunter auch das Leben eines jeden Einzelnen. Das aber hat Konsequenzen: Zunächst die, dass das Reden über Literatur und die sie bestimmenden Gesetze nicht einfach ein Reden über das Andere, über einen von uns gänzlich unabhängigen Gegenstand sein kann. Die Bedingungen des Verstehens der Literatur und die Bedingungen des Selbst- und Weltverstehens können so verschieden nicht sein. Das aber setzt dem Versuch der Verwissenschaftlichung des Umgangs mit Literatur enge Grenzen. Denn der beruhte ja gerade auf der Überzeugung, dass sich Verstehen objektivieren und von der Perspektive der ersten Person abstrahieren lasse. Wenn das nicht so sein sollte, dann wirft das aber kein besonders gutes Licht auf das Bemühen, an literaturwissenschaftlichen Seminaren den Umgang mit Literatur so zu lehren, als ließen sich Fremdund Selbstverstehen voneinander entkoppeln – während doch, dass beides nur zusammen zu haben sei, eben die in den Begriff und das Projekt der Bildung eingegangene Einsicht war. Sie nicht aus dem Blick zu lassen, die Erkenntnis des Anderen an die Erkenntnis des Eigenen zu binden, auch das, scheint mir, könnte die Idee einer deutsch-jüdischen Literaturwissenschaft auszeichnen. Doch worin, und diese Frage drängt sich auf, läge hierbei das spezifisch Deutsch-Jüdische? Liegt es vielleicht auch darin, dass diese beim Umgang mit literarischen Texten erfahrene Situation des Nicht-Verstehens als eine Situation der Machtausübung erfahren wird? Wie? Dadurch – und ich lese nun bei Kafka weiter, dass –

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[...] auch diese Scheingesetze eigentlich nur vermutet werden. Es ist eine Tradition, dass sie bestehen und dem Adel als Geheimnis anvertraut sind, aber mehr als alte und durch ihr Alter glaubwürdige Tradition ist es nicht und kann es nicht sein, denn der Charakter dieser Gesetze verlangt auch das Geheimhalten ihres Bestandes. Wenn wir im Volk aber seit ältesten Zeiten die Handlungen des Adels aufmerksam verfolgen, Aufschreibungen unserer Voreltern darüber besitzen, sie gewissenhaft fortgesetzt haben und in den zahllosen Tatsachen gewisse Richtlinien zu erkennen glauben, die auf diese oder jene geschichtliche Bestimmung schließen lassen, und wenn wir nach diesen sorgfältigst gesiebten und geordneten Schlussfolgerungen uns für die Gegenwart und Zukunft ein wenig einzurichten suchen – so ist das alles unsicher und vielleicht nur ein Spiel des Verstandes, denn vielleicht bestehen diese Gesetze, die wir hier zu erraten suchen, überhaupt nicht.

Wie man sieht, liegt die eigentliche Macht des Adels hier darin, für eine Wirklichkeit verantwortlich zu sein, von der nicht sicher ist, ob sie überhaupt eine verstehbare ist. Denn vielleicht, das gibt Kafka hier zu bedenken, ist selbst noch die Überzeugung, es gebe da überhaupt etwas, das sich nach Gesetzen verstehen lasse, nur eine »Tradition«, ein Überlieferungsgeschehen also oder gar nur eine liebgewonnene Gewohnheit des Denkens, eine, die die literarische Spekulation Kafkas hier gelassen hinter sich lässt. Vielleicht also gibt es diese Gesetze, die jeder immerzu dem Leben, die Philosophie dem Sein, die Philologie der Literatur, diese aber ihrerseits dem Bedeutenden abzutrotzen sucht, gar nicht. Für die Literaturwissenschaft hieße das, dass selbst die beste aller möglichen Interpretationen eines Textes oder aller Texte, auch der heiligen, doch wiederum zu nichts – im Wortsinne: zum Nichts führen würde. Es ist diese Möglichkeit der Negativität, die von einer sich mit deutsch-jüdischer, von Heine über Kafka bis Celan reichenden Tradition auseinandersetzenden Literaturwissenschaft mehr fordert, als nur eine positive Wissenschaft zu sein – mehr dadurch, dass sie immerzu mit der Möglichkeit ihrer eigenen Unmöglichkeit rechnen muss – und das kann sie, wenn ich recht sehe, nur als spekulative; denn das Spekulative ist ja, mit Hegel gesagt, das »Fassen des Entgegengesetzen in seiner Einheit oder des Positiven im Negativen«5. Das spezifisch Deutsch-Jüdische einer derart, nicht mehr dem positiven Wissenschaftsverständnis des 19. und 20 Jahrhunderts huldigenden Literaturwissenschaft scheint mir dabei in den zwei schon erwähnten Umständen zu liegen. Zunächst darin, dass das Jüdische, die Konstruktion des Jüdischen heutzutage mehr denn je selbst eine spekulative ist, denn dem Jüdischen ist die Erfahrung der Negativität – als Versuch der Auslöschung alles Jüdischen im Holocaust – unaufhebbar eingeschrieben. Diese Negativität begegnet sodann aber auch als Einspruch gegen die ästhetische Darstellung: Die Kunst und mit ihr eine Kunstwissenschaft wie die Literaturwissenschaft kann sich deshalb kein positives Bild des Negativen, schon gar nicht von der Präsenz des Nichts im Grauen des Holocausts machen. Wo es doch versucht wird, genügen zwei Worte, um die Ge5

G. W. F. Hegel: Werke 5. Wissenschaft der Logik I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 52.

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fahr, die beim Übertreten des Bilderverbots lauert, namhaft zu machen. Sie lauten Kitsch und Ästhetisierung. Diesen beiden Umständen – der Nötigung zum spekulativen Umgang mit Literatur sowie der zu nicht-identifizierendem Denken –, die die spezifisch deutsch-jüdische Situation einer Literaturwissenschaft in Israel bestimmen, fügt Kafka aber noch einen dritten Umstand hinzu. Er umfasst die Möglichkeit der Uneinsehbarkeit, ja vielleicht sogar der Nicht-Existenz letzter Gesetze, letzter Gründe des Seins, also die Möglichkeit, dass es da am Ende gar nichts zu verstehen gibt. Kafka zeigt dabei, dass dieses Nicht-verstehen-Können selbst noch einmal als ein Akt von Gewalt und Grausamkeit erfahren werden kann. Und es ist wiederum der Holocaust, der diese allgemeine Tatsache nach Kafka dann in den Horizont deutsch-jüdischer Erfahrung gerückt hat: Gerade am Holocaust wird das Nicht-verstehen-Können noch einmal als Akt der Grausamkeit erfahren.6 Was aber, wenn einiges von dem, was auf dieser Welt geschieht, gar nicht zu verstehen wäre, nicht als Folge eines Mangels an Einsicht oder Auslegungskunst, sondern weil es an und für sich so geartet ist, dass es sich gegenüber jedwedem Akt des Verstehens verschließt, etwa, weil es genügend Gründe zu seiner Erklärung gar nicht gibt? Kafka schreibt hier weiter: Es gibt eine kleine Partei, die wirklich dieser Meinung ist und die nachzuweisen sucht, dass, wenn ein Gesetz besteht, es nur lauten kann: Was der Adel tut, ist Gesetz. Diese Partei sieht nur Willkürakte des Adels und verwirft die Volkstradition, die ihrer Meinung nach nur geringen zufälligen Nutzen bringt, dagegen meistens schweren Schaden, da sie dem Volk den kommenden Ereignissen gegenüber eine falsche, trügerische, zu Leichtsinn führende Sicherheit gibt. Dieser Schaden ist nicht zu leugnen, aber die bei weitem überwiegende Mehrheit unseres Volkes sieht die Ursache dessen darin, dass die Tradition noch bei weitem nicht ausreicht, dass also noch viel mehr in ihr geforscht werden muss und dass allerdings auch ihr Material, so riesenhaft es scheint, noch viel zu klein ist und dass noch Jahrhunderte vergehen müssen, ehe es genügen wird. Das für die Gegenwart Trübe dieses Ausblicks erhellt nur der Glaube, dass einmal eine Zeit kommen wird, wo die Tradition und ihre Forschung gewissermaßen aufatmend den Schlusspunkt macht, alles klar geworden ist, das Gesetz nur dem Volk gehört und der Adel verschwindet. Das wird nicht etwa mit Hass gegen den Adel gesagt, durchaus nicht und von niemandem. Eher hassen wir uns selbst, weil wir noch nicht des Gesetzes gewürdigt werden können. Und darum eigentlich ist jene in gewissem Sinn doch sehr verlockende Partei, welche an kein eigentliches Gesetz glaubt, so klein geblieben, weil auch sie den Adel und das Recht seines Bestandes vollkommen anerkennt.

Wenn es keine Gesetze gibt, die von dem, was ist, dem Sein, unterschieden sind, wenn das, was ist, jede Setzung, jede Handlung des Adels auch schon Gesetz ist, dann ist alles einfach, was es ist: dann ist das allgemeine Gesetz nicht vom besonderen Fall unterschieden, dann ist das Besondere, Einzelne, 6

Was im Umkehrschluss heißt: Der Akt des Verstehens vermag (seelischen) Schmerz zu lindern.

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Konkrete schon das allgemeine Gesetz. Die Literatur ist, wie alle Kunst, diesem im Besonderen, Einzelnen, Konkreten sich manifestierenden Gesetz auf der Spur. Aber, dass das Allgemeine nicht ein Jenseitiges, Vorausgesetztes, Abwesendes, ein absolutes Subjekt oder ein göttlicher Autor ist, dass das Gesetz nicht als Grund seinen Äußerungen vorausgeht, sondern in seinen Äußerungen besteht, das Wirkliche also selbst schon Gesetz ist, dies muss einer an der Logik von Grund und Begründetem geschulten Anschauung als ein Unvorstellbares erscheinen. Dass, »was der Adel tut« auch schon »Gesetz« ist, scheint ihr eben deshalb nichts als die Manifestation reiner »Willkür« zu sein. Doch natürlich ist die Rede von »Willkür« hier eine Metapher – und zwar eine absolute. Auch sie ist noch ein Ausdruck des Verstehens und als solcher dem erwähnten Umstand abgerungen, dass die Zurückweisung der Ansprüche auf Verstehbarkeit, darauf also, dass es Gründe, und zwar vom reinen Geschehen unterschiedene Gründe gibt, als erhebliche Zumutung, manchmal gar als Grausamkeit erfahren wird. Auch das Programm der Wissenschaft samt der sie leitenden, regulativen Idee eines die Einzelwissenschaften dereinst, am Ende allen Forschens vereinenden absoluten Wissens ist noch ein Reflex darauf, ein Versuch dem vielleicht Unausweichbaren dennoch auszuweichen, eben, das ist Kafkas Wort dafür, eine »Volkstradition«, eine weitere liebgewonnene Gewohnheit des Denkens, schärfer formuliert: eine Ideologie, die verspricht, Religion und Metaphysik zum Verschinden zu bringen und das Gesetz in die Hände des Volkes zu legen, das Wissen zu demokratisieren – uns also, mit den Worten aus Kleists Marionettentheateraufsatz gesagt, » [...] wieder von dem Baum der Erkenntnis essen« zu lassen, »um in den Stand der Unschuld zurückzufallen«7. Aber Kafka ist hier radikaler; er geht noch einen entscheidenden Schritt weiter. Denn er zeigt: auch diejenigen, die zwar an die momentane Verborgenheit der letzten Gründe des Seins, aber doch an ihre prinzipielle Erkennbarkeit glauben – und wir Heutigen können hier an Derrida und Paul de Man denken – erkennen doch »den Adel und das Recht seines Bestandes vollkommen an[ ]«, glauben also doch noch daran, dass es diese Gründe als von dem Sein, das sie begründen, unterschiedene Gründe gibt – dass es sie demnach, ich kann es nicht geläufiger sagen, als ein Jenseitiges, Transzendentes, in der Regel nichtmenschliches Gebendes gibt – nennen wir es Gott, das Sein, ein absolutes Subjekt, ein Umgreifendes, nennen wir es wir es mit Derrida Différance oder haben wir mit Kafka den Mut, uns von monotheistischen Denkgewohnheiten zu befreien, es also zu pluralisieren und es schlicht – und natürlich im Gleichnis: Adel zu nennen. Was, und diese Frage stellt sich einer von Kafka herschreibenden Literaturwissenschaft, wäre dann? Kafka schreibt, und ich zitiere ihn jetzt fast schon zum letzten Mal: 7

Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. In: ders.: Werke in einem Band. Hg. von Helmut Semdner. München: Carl Hanser 1966, S. 802–807, hier S. 807.

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Christian Kohlross Man kann es eigentlich nur in einer Art Widerspruch ausdrücken: Eine Partei, die neben dem Glauben an die Gesetze auch den Adel verwerfen würde, hätte sofort das ganze Volk hinter sich, aber eine solche Partei kann nicht entstehen, weil den Adel niemand zu verwerfen wagt. Auf dieses Messers Schneide leben wir. Ein Schriftsteller hat das einmal so zusammengefasst: Das einzige, sichtbare, zweifellose Gesetz, das uns auferlegt ist, ist der Adel und um dieses einzige Gesetz sollten wir uns selbst bringen wollen?

Darauf also, dass Gesetze gegeben – repräsentiert werden, können wir zur Not noch verzichten, nicht aber auf das Geben, auf das Präsentieren selbst. Denn, wenn es auch das nicht gäbe, gäbe es nur Unmittelbares. Das aber ist, was es ist, doch auszulegen, zu verstehen ist es nicht. Nicht darin also, dass es keine finale Deutung des Wirklichen gibt, liegt das Besondere, Einmalige der hier beschriebenen Situation, sondern darin, dass wir trotzdem deuten müssen, und zwar verbindlich, weil an der Frage des Verstehens und Deutens stets nicht nur Kunst und Wissenschaft, sondern auch unser je eigenes Leben hängt; verbindlich meint also, dass wir uns in unserem Handeln auf diese Deutungen verpflichten – müssen. Nicht also, dass die Gesetze des Seins zuletzt vielheitlich und uneinsehbar sind, sondern, dass es sie gar nicht geben könnte – für nichts und niemanden, wir aber dennoch selbst dieser Verweigerung von Sinn und Bedeutung Sinn und Bedeutung abgewinnen müssen – das ist zuletzt das einzige Gesetz, dem wir folgen müssen – wahrscheinlich überhaupt, als menschliche Wesen, ganz bestimmt aber als Literaturwissenschaftler. Auf das Deuten, auf das Schaffen von Bedeutungen verzichten ist das Einzige, auf das wir nicht verzichten können. Was aber heißt das für eine deutsch-jüdische Literaturwissenschaft in Israel – in einem Land also, das Anhängern verschiedenster Religionen ein heiliges Land ist? Es heißt zunächst, an einem Ort Literaturwissenschaft zu betreiben, an dem die Gründe des Verstehens traditionell als vorausgesetzte, jenseitige, abwesende, transzendente vorgestellt und mitunter auch verehrt werden, während wir als Literaturwissenschaftler genötigt sind, einem deutsch-jüdischen Denker wie Kafka zu folgen, der uns – Auf dieses Messers Schneide leben wir – vor die Möglichkeit stellt, uns doch um das einzige Gesetz, dem wir folgen, um den Adel, auch noch selbst zu bringen – der uns also vor die Alternative stellt, jenseits einer Logik von Gebendem und Gegebenen, Präsentation und Repräsentiertem, Grund und Begründetem zu denken – und sicher auch, denn das müssen wir dann immer noch: zu verstehen.8 Wie sollte so etwas möglich sein? 8

Dass eine Dekonstruktion der Gesetze und des Gesetzmäßigen hier nicht das letzte Wort hat, sondern der Text durchaus konstruktive Intentionen hat, zu diesem Schluss kommt auch die Interpretation von Jochen Hörisch, in ders.: Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien. München: Carl Hanser 2008, S. 225–230.

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Zunächst vielleicht dadurch, dass wir uns Gründe, gerade letzte Gründe nur noch als immanente, nicht mehr als abwesende, gar von einem allmächtigen Autor vor uns verborgene vorstellen.9 Die Wirklichkeit selbst würde dann alles Notwendige zeigen, sie stellte sich selbst dar – vor allem auch in Gestalt der Literatur, vor allem auch als literarische. Was aber soll es bitte heißen: jenseits der Logik von Grund und Begründetem zu verstehen? Und da lautet die Antwort Franz Kafkas: Es heißt im Gleichnis zu verstehen! Es heißt, nicht zu urteilen: etwas ist, was es ist, weil etwas anderes so und so ist – sondern, etwas ist so wie das und das – oder auch nicht so wie das und das ist. Auch dieses Vergleichen ist ein Verstehen, aber als ein Verstehen ist es keine Rückführung auf Gründe, gar – gut monotheistisch gedacht: auf einen letzten Grund. Nicht die berühmte Reduktion der Komplexität, sondern ihre Steigerung ist das Ideal der Literatur und einer ihr entsprechenden Wissenschaft. Denn je mehr wir vergleichen, je mehr Gleichnisse zu bilden wir in der Lage sind, gerade auch dank der Literatur zu bilden in der Lage sind, desto tiefer verstehen wir. In Israel hat man daher als sich in der deutsch-jüdischen Tradition auf Kafka berufender Literaturwissenschaftler keine Chance darauf, wieder religiös zu werden, denn Religion vertraut ja darauf, dass wir uns in einem Traum befinden, aus dem wir erwachen können, dass das Gleichnis, das unsere Wirklichkeit (und dass die Wirklichkeit als Gleichnis ist) wiederum von der Wirklichkeit her gedeutet werden und zum Abschluss gebracht werden kann – in Gottes Wort. Aus dem gleichen Grund aber, aus dem die Religion, auch die jüdische, kein attraktives Programm für eine deutsch-jüdische, von Kafka her gedachte Literaturwissenschaft bereitstellt – dem der Unzulänglichkeit des Standpunkts der Wirklichkeit, des alltäglichen Realismus – ist auch das Programm einer positiven auf Buchstäblichkeit vertrauenden Wissenschaft eines, das zuletzt mit der literarischen Hypothese einer deutungsoffenen und unaufhebbar an Deutungen gebunden Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die per definitionem Gleichnis ist, wenig anzufangen weiß, und daher eines, das hinter der Literatur zurückbleibt. Heißt das nun etwa, dass wir deshalb nun alles Positive, Feststellbare, in Archiven Erforschbare und mit Materialen Belegbare aus einer deutschjüdischen Literaturwissenschaft verbannen sollen? Und natürlich heißt es das 9

Auch im Schloss oder Process sind die Gründe des Geschehens immanent. Man weiß nicht genau, worum es sich bei ihnen handelt, sie sind nicht einsehbar, aber ihre Wirkung ist unbestritten. Im Falle der Religion ist das bekanntlich anders. Nicht nur, dass es bei den letzten Gründen, die hier im Spiel sind, unklar ist, ob sie einsehbar sind, macht den Unterschied aus, sondern darüber hinaus, ob sie überhaupt – nicht nur für die Gläubigen – irgendeine Wirkung ausüben. Genau dies letztere, ihr Wirkungscharakter, steht aber bei Kafka niemals in Frage.

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nicht. Kafka fordert ja nicht die Abschaffung der Wirklichkeit, sondern ihre Überbietung – ihre Transzendierung – nur eben in der Wirklichkeit selbst. Das klingt verdächtig nach immanenter Transzendenz und also nach einem Oxymoron, meint aber nur, dass wir bei Kafka und wahrscheinlich überhaupt bei der deutsch-jüdischen Tradition vor der Aufgabe stehen, unseren Begriff der Wirklichkeit zu erweitern, wir also nicht beim alltäglichen Realismus stehen bleiben dürfen, schon gar nicht in der Literaturwissenschaft.10 Das Bedürfnis nach Transzendierung des alltäglichen Bewussteinszustandes, nach einem nicht-menschlichen Grund des Seins im Sein, in der darstellbaren Wirklichkeit kann, wenn und solange wir Kafka folgen, gestillt werden; nicht in der Metaphysik, nicht in der Religion, wohl aber in der Literatur oder, denn das läuft für eine sich von Kafka herschreibende deutsch-jüdische Literaturwissenschaft dann auf das Gleiche hinaus, im Leben.

10

Das erst hieße zu verstehen, dass der Adel nicht der Grund der Gesetze, sondern selbst das Gesetz ist, dass also das Gesetzgebende und das Gesetz eines sind. Da aber die Gesetze nicht allgemein bekannt sind und nur in ihrer Wirkungsgeschichte bestehen, wir also die Gesetze, die wir auslegen, zugleich schaffen – sind der Adel, die Gesetze und das wirkliche Deutungsgeschehen, an dem wir selbst teilhaben, zwar nicht dasselbe, aber doch Dimensionen einer einzigen Wirklichkeit.

III

Hanni Mittelmann

The image of the Jew in the work of Peter Henisch: dissolutions and interdependences

Die einen werfen mir vor, dass ich ein Jude sei; die anderen verzeihen mir es; der dritte lobt mich gar dafür; aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreis, es kann keiner hinaus (Ludwig Börne)1

At the center of Peter Henisch’s novels lies his discomfort with contemporary Austrian society and its avoidance of coming to terms with its past. By examining the Austrian discourse on national identity Henisch exposes the contradictions in Austrian society and shows how intricately the construction of postwar Austrian identity is linked to the idea of cultural homogeneity and prejudicial perceptions of the Other.2 Peter Henisch’s novelistic work is known for challenging traditional concepts of reality, identity, authenticity and authorship by playing a sophisticated narrative game with all the elements of postmodern theory. He exposes the reader to a »multilayered way of thinking« that throws into question the majority discourse about identity and alterity, and challenges the reader to transcend embedded traditional views of persons and ethnicities.3 In this paper I would like to examine how Henisch applies this ironic play with the majority discourse about identity and Otherness to the Austrian (but not only Austrian) discourse on the image of the Jew. At the same time I would also like to show what alternative models he creates that respond to these questions of identity and perception of the self and the Other. Jewish figures appear in several of Henisch’s novels in many incarnations: as mythical figures in Hoffmanns Erzählungen. Aufzeichnungen eines verwirrten Germanisten (1983); as historical figures in Vom Wunsch Indianer zu werden. Wie Franz Kafka Karl May traf und trotzdem nicht in Amerika landete; or as contemporary figures as in the novel Der Mai ist vorbei (1978). In these 1

2

3

Zitiert nach Konrad Kwiet u. a.: Einleitung. In: Gunter E. Grimm/Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Königstein/Taunus: Athenäum 1981, p. 42. See Jennifer E. Michaels: The Jambalaya Principle: Otherness and Multiculturalism in Schwarzer Peter. In: Balancing Acts: Textual Strategies of Peter Henisch. Edited and with an introduction by Craig Decker. Riverside/California: Ariadne Press 2002, p. 243. Bodhan Bochan: A Morphology of Fragments in Hoffmanns Erzählungen. In: Balancing Acts (see note 2), p. 127.

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novels the theme of alterity is always present, but the Jewish issue is rather marginal. However, in the novel Steins Paranoia4 the Jewish issue takes center stage and therefore, it serves best for a paradigmatic analysis of the question of alterity, identity and the image of the Jew in the contemporary imagination. Steins Paranoia was written in the time of the Waldheim Affair, during which anti-Semitic rhetoric resurfaced in full force in Austria and again fueled resentments and old prejudicial notions about the Jew. With the figure of the Jew Stein, Henisch creates a representative figure through which he explores the paranoid socio-political atmosphere of repression and silence towards an unacknowledged past, as well as the deeply embedded, unrepentant post-Shoah anti-Semitism in which the alleged paranoia of the Jew Stein develops. To briefly sum up the plot of the novel Steins Paranoia, Stein is the Jewish grandson of a concentration camp victim and the son of Austrian parents who migrated back to Vienna. He tries to forget and transcend his Jewish identity and integrate into Austrian society in the hope of a better future. Against the will of his father, Stein marries Brigitte, a non-Jewish woman, and daughter of a former Nazi. With her he has a young daughter, Marion. However, an antiSemitic remark – whose exact words are never spelled out in the novel – »confronts Stein, for the first time since his migration to Vienna with his Jewish identity as division, as separate and apart from Austrian identity, and thus shatters his belief in transcendence« of his own and Austria’s traumatic past.5 Stein’s cowardly, unconscionable failure to respond to the anti-Semitic slur that may or may not have been directed towards him, starts to haunt him, and subsequently his life begins to fall apart. He looses his job, and leaves his marriage, unable to communicate the psychological wound the anti-Semitic speech act had inflicted upon him. Stein retreats into a seemingly self-inflicted exile, and starts to explore his hitherto unacknowledged Jewish identity. This is construed by his wife as a symbolic act of retreating from the Austrian community and the expression of a paranoid act of distrust. In his search for his identity and place in society Stein is confronted with his own as well as with Austrian pathologies which throw into question definitions of identity and normalcy as put forward by the dominant societal group.

Identity as a construct: Dissolutions of an image From the first page of the novel, the text’s narrative strategies play with traditional embedded notions of identity and the ethnic characteristics of persons and groups, thereby attempting to re-furnish, re-contextualize and re-cast the thinking about the Other: An anonymous author-narrator figure involves the 4 5

Peter Henisch: Steins Paranoia. Salzburg: Residenz Verlag 1988. Kathy Brzovic/Craig Decker: The Ironic Case of Austro/Jewish Identity: PsychoPolitical Rhetoric in Steins Paranoia. In: Balancing acts (see note 2), p. 137.

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reader in his act of creating Stein as a clearly fictional character, thereby revealing the concept of identity as a mere construct and illustrating how closely the question of identity is related to representation: Wie könnte er heißen. Glück? – Ein schöner Name. Wird aber wieder verworfen. Glücklich ist, wer vergißt – typisch österreichisch. So typisch österreichisch darf er nicht sein. Obwohl er das möchte (und wer möchte das nicht?) Vergessen nämlich (hierorts und anderswo).6

By demonstrating the randomness of a given name, the connection of name with identity becomes visible as a contested concept. At the same time, however, the author-narrator seems to ironically pander to the conventional notion of names as indicators of certain qualities that are tied up with them. He decides to give his character the name of »Stein« because of its symbolic implication: »Gern würde er verharren, gern bleiben, wo und wie er ist. Wie ein Stein. Ja, Stein ist ein Name für ihn«.7 By bestowing this name on his character the author-narrator ironically undercuts any preconceived notions about the quintessence of the Jew as the eternally driven, archetypal wanderer whose natural condition is exile. It becomes rather clear, that this mythical image does not represent Stein’s fundamental nature but rather, that it is forced on him by a society which does not tolerate the Jew in its midst. This intolerance is illustrated by the never-spelled-out anti-Semitic slur. The premise that the figure of Stein and his life-story are a mere construct by the author-narrator makes the reader also aware that Stein does not and cannot represent himself. Rather, Stein’s life story and personal attributes are merely the representation by another, who is self-consciously constructing them along the lines of stereotypical key indicators of Jewish identity. Thus the author-narrator presents Stein as the multicultural and multi-lingual, effeminate and intellectual Jew who has acquired his language skills in the course of his exile in France and America. He works as a translator, holding down a woman’s job, meaning, a part time job – »Frauenposten, d. h. eine Halbtagsarbeit«8 – because of his daughter Marion, and he is a poet and writer in his spare time. This construction is so full of obvious clichés that it must give even the most uncritical reader some pause, and caution him from falling too easily into the trap of stereotypical notions about Jewish ethnicity. Stein’s life story, as an obvious construction by the author-narrator, makes the reader aware that the perception of the Other does not necessarily reflect his truth or his essence. This is further illustrated by a dialogue between Stein and a racist taxi driver who assumes Stein to be a foreigner because of his relatively dark complexion: »Sie haben einen so relativ dunklen Teint.«9 The dialogue, which is reported by the narrator, reveals more about the xenophobia 6 7 8 9

Henisch, Steins Paranoia (see note 4), p. 5. Ibid., p. 5. Ibid., p. 16. Ibid., p. 56.

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of a society that has rigid notions about its homogenous identity and appearance, than about the Austrian Jew Stein. The text, however, suggests too, that Stein’s perceptions of himself and a presumably anti-Semitic society might be the result of a Jewish hypersensitivity brought about by the traumatic Jewish past. By switching from the outer perspective to the first person inner perspective of Stein, the narrator suggests, that Stein’s mounting sensitivity about his physical appearance – especially his nose and beard – might reflect Stein’s own tainted and possibly paranoid self-image as a Jew, rather than the perception of him by the outside world. Thus the narrator quotes a diary-entry made by Stein: Meine Nerven liegen frei, aber vielleicht, denke ich, ist es richtig (und wichtig), daß sie – in Zeiten wie diesen – freiliegen. Der Horcher an der Wand hört seine eigene Schand, aber ist diese Schand, die ich, wo immer ich hinhorche, höre – ist das wirklich meine eigene? Stimmt schon, die beiden Damen da in der Nebenloge haben bei meinem Eintritt [}] aller Wahrscheinlichkeit nach über mich gesprochen. Da schaun S’ Ihnen den an! Hat die eine zur andern gesagt, und: Jessas, hat die andere der einen in ihrem schon im Tonfall der Aufforderung enthaltenen negativen (entsetzten, empörten) Urteil beigepflichtet: Wie der Moses!10

The veracity of this dialogue and the anti-Semitic prejudice that it reports, is however, called into doubt by the reservations the figure of the psychiatrist expresses, who is treating Stein for his alleged paranoia. The psychiatrist’s doubts are mediated by the narrator to the reader: es wird nicht überraschen, daß der Dozent, der Stein später behandelte, auch die Echtheit von Dialogen wie dem soeben wiedergegebenen anzweifelte. Anderseits bezeichnete er sie als typisch in ihrer Art (unter Hinweis auf Formzwänge.)11

The multiperspectivity of this narrative presentation of the Jew Stein and his alleged paranoia reveals the concept of identity as a construct between the poles of the self and the Other. It points also to the ambiguity of perception of reality and playfully suggests that the reality and essence of individuals and of groups are not so easily determined. However, the constantly differing, vague and unstable interpretations of events and persons also satirically mirror the conscious ambiguities and obfuscations in the Austrian national discourse when dealing with its unacknowledged past and post-Shoah anti-Semitism. The aesthetic form of shifting view points mirrors the main theme of the novel and becomes an allegory of the novel’s content. By blurring the borders between the real, the fictional and the imaginary, Henisch mocks the reader’s attempt to pin down a reliable view of events, things and people and to distinguish them from delusion. This applies especially to Stein’s encounters with other figures during his obsessive wanderings through Vienna in search of traces of the previously suppressed and rejected 10 11

Ibid., p. 59. Ibid., p. 60.

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traumatic past. From a reported dialogue between Stein and his father, it becomes apparent to the reader at some point, that Stein’s grandfather, with whom Stein constantly carries on conversations, had died in a concentration camp and is only a figment of Stein’s imagination. However, the reader cannot be so certain about the figure of Clarissa, a mysterious woman who is »on a pilgrimage from the New world to the old world of her persecuted forefathers in order ›to investigate and to analyze the malevolent development‹« in Waldheim-era Austria.12 She attempts to prove to Stein that everything he fears is true. In the opinion of the psychiatrist, however, Clarissa seems zu konstruiert […], zu sehr eine Ausgeburt stilisierender Phantasie. Er sei, ehrlich gesagt, überhaupt skeptisch in bezug auf diese Clarissa, wer wisse, ob diese Clarissa irgendwo anders als in Steins Kopf existiere...

This opinion is however, thrown into doubt by the narrator who reports Stein’s and Stein’s wife’s views of Clarissa: Diese These hätte sich Stein verbeten. Diese These verbat sich auch seine Frau. Ihr wäre es lieber gewesen, es hätte diese Person nie gegeben. Aber sie wußte leider, daß es sie gab.13

The structure of different view points which encircle Stein’s encounters with these characters, weaves a net of conjectures about their actual existence. But it is also the narrative mode of the subjunctive, the mode of speculation, which undermines all claims of veracity. Language turns here into a hide-and-seek game offering only assumptions and meanings. Thus, the reader is pulled into the alleged paranoid world of the Jew Stein, and is unable to extricate himself and pass judgment as to whether Stein indeed suffers from a paranoid condition. This fluidity of the boundaries between the real and the imaginary, the self and the Other – which is characteristic of paranoia – makes it impossible to separate the »paranoid« Jew from »sane« society. The strategy of interchanging perspectives imparts to the reader the ambiguity of reality and reason and exposes the »conspiracy« of which Foucault speaks, »by which men, in an act of sovereign reason confine their neighbors, and communicate and recognize each other through the merciless language of non-madness which tries to establish itself as truth.«14 This is exemplified by the »Dozent« who is treating Stein for his alleged paranoia: sicherlich gäbe sowohl die allgemeine Entwicklung der Welt als auch die besondere Österreichs, sagte der Dozent, der Stein schliesslich behandelte, zu einer gewissen Besorgnis Anlaß. Doch sei ja das eben gerade das Pathologische: daß einer wie Stein 12 13 14

Brzovic/Decker, The Ironic Case of Austro (see note 5), p. 138. Henisch, Steins Paranoia (see note 4), p. 31. Michel Foucault: Madness and Civilization. A History of Insanity in the Age of Reason. Translated from the French by Richard Howard. New York: New American Library 1971, p. IX.

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Hanni Mittelmann

in der Interpretation der Wirklichkeit entschieden zu weit gehe. Die Wirklichkeit werde zum Wahnbildungsmaterial einer ihr gegenüber wahrscheinlich von vornherein labilen Phantasie. Steins Paranoia passe ziemlich genau ins Erscheinungsbild einer völlig normalen, endogenen Psychose. Hauptsymptome sind Wahnbildung bei klarem Bewußtsein Æ Autismus, Selbstentfremdungserlebnisse (Depersonalisation), Gefühlsverarmung, Verstimmung und Denkstörungen. Als Ursache nimmt man heute neben Hormon- und Stoffwechselkrisen auch patholog. Reaktionen auf einen im Organismus gebildeten Æ Antikörper an. Seel. Belastungen sind z. T. als auslösende Faktoren wirksam. Die Behandlung (bei schweren Fällen stationär) umfaßt neben Psychopharmaka v. a. Heilkrampf Æ Schockbehandlung sowie Æ psychotherapeutische Methoden.15

This »monologue of reason about madness« – as Foucault calls the language of psychiatry16 is, however, undermined by the multiplicity of perspectives and voices the text offers. The voices become inextricably intertwined with the inner world of the outcast, the Jew. His voice and view, mediated by the narrator in the form of narrated inner monologues or reported dialogues, often merges seamlessly with other voices and becomes indistinguishable from them. This interdependence of voices and the ironic abdication of authorial authority unsettles any notion of a one-dimensional reality that applies to persons or to groups. This in turn reflects also Bakhtin’s pronouncement, that in a text there can be no »dominant voice [anymore] that serves as the origin of meaning and bestows unity upon the text.«17 Accordingly, no unity of views on the Jew emerges, or rather, the narrative structure illustrates that no view of the Jew can be predominant. The refreshingly chaotic chorus of differing voices and viewpoints doesn’t allow the formation of a finite shape of the Other.18 If the text establishes that paranoia is, as Foucault defines it, »evidence of a broken dialogue« which posits separation of the outcast from society,19 then the text also shows the way in which the broken dialogue might be resumed. The attempt to stigmatize Stein, the post-Shoah Jew to whom society attributes paranoid oversensitivity because of the traumatic past, boomerangs. While the psychiatrist tries to present Stein’s paranoia as a clinical condition of the Jew suffering from persecution anxiety, the narrative strategies suggest that Stein’s paranoia is both an existential and a political phenomenon, born out of the atmosphere of obfuscation that characterizes an Austrian society which has never faced its past. This past now comes back to haunt it. It resurfaces like the anti-Semitic slur, which is not spelled out in the text, but is ubiquitous as »Der tausendfach gehörte Satz.«20 15 16 17 18 19 20

Henisch, Steins Paranoia (see note 4), p. 108f. Foucault, Madness and Civilization (see note 14), p. Xf. Antje Harnisch: Literary Dialogues and Dialogic Literature: Peter Henisch’s Vom Wunsch Indianer zu werden. In: Balancing acts (see note 2), p. 175. See Bochan, A Morphology of Fragments in Hoffmanns Erzählungen (see note 3), pp. 122,105. Foucault, Madness and Civilization (see note 14), p. X. Henisch, Steins Paranoia (see note 4), p. 25.

The image of the Jew in the work of Peter Henisch

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Interdependences This futile attempt of Austrian society to disassociate itself from an inescapable past is ironically reflected in the constant intersection between the figure of the narrator with Stein. In ever-shifting viewpoints – changing between identification and distance, inner and outer perspective – the narrator’s ambivalence towards Stein becomes obvious. The narrator’s slipping in and out of Stein’s mind suggests to the reader at first that he can be seen as Stein’s »Doppelgänger«, who, at least in the beginning, seems to totally identify with Stein and his presumable cause: »[}] es geht darum, Widerstand zu leisten – nicht wieder zu spät. Denk ich/denkt er.«21 However, while the anonymous narrator’s consciousness merges with his narrated figure, and thus broadens the scope of the reader’s perception and empathy, he at the same time attempts to disassociate himself from Stein. In the course of the story the narrator switches from the ich/er mode and adopts a more consistent third person narrative. This seems to function like a screen behind which the narrator tries to hide and escape – just as »the anti-Semite who inflicts the psychic wounds in the novel’s opening pages completely vanishes from the scene to become the non-participant in Jewish affliction.«22 However, the specter of the narrator is always present, almost in spite of himself. Thus, when Stein is reading a newspaper in a coffeehouse, the narrator is reading the same newspaper with him: »Ich lese auch, aber leise.«23 This constant dissolving and re-erecting of boundaries between the narrator and the figure of Stein parodies the ambivalence of a society which tries to suppress its guilty knowledge regarding the Jewish trauma: »seine Schlaflosigkeit hatte damals begonnen. In jener Nacht, die dem Montagabend folgt, den ihm und uns bewussten.«24 However, despite the evasive maneuvers by the narrator, he and Stein remain as inseparable from each other as they are inseparable from the historical-collective events of which they are both part. The story of the narrator is inscribed in Stein’s story, and thus it does not surprise us when at the end it turns out that the narrator literally lives in the same house into which Stein moved when he left his marriage. This house stands across from the building which had been erected on top of a synagogue burnt down in 1938. At the end of the novel, the third person narration returns again to the first person narration: Aber Steins Finger tasteten nach den Zündhölzern…Ich betrete das Haus, das ich noch immer bewohne, ich schließe die Wohnungstür hinter mir, das Dach vis-a-vis reflektiert die Dämmerung.25 21 22 23 24 25

Ibid., p. 5. Brzovic/Decker, The Ironic Case of Austro (see note 5), p. 135. Henisch, Steins Paranoia (see note 4), p. 61. Ibid., p. 28. Ibid., p. 110.

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Hanni Mittelmann

This fluidity of borders between Stein and his narrator not only points to the impossibility of a clearly defined identity, but also illustrates how intricately anchored the self is in the Other. In the context of this novel this means that the Austrian non-Jewish narrator infuses his character, the Jew Stein, with his own consciousness and background, and thus tells not only the story of Stein, but attempts also to tell his own story. The portrayal of the Jew becomes a form of self-reflection which creates an interdependence between the non-Jewish society and the Jew. Thus, by exposing the alleged pathology of the »paranoid« Jew Stein, who, after the incident of the anti-Semitic invective, senses antiSemitism everywhere, the narrator also exposes the pathology of his own society with its continuing silence regarding its unacknowledged past and presentday anti-Semitism. By drawing the »lines of divisions and identification« so ambiguously,26 the result is that the notion of the foreign Other is included into the cultural experiences of the self »so that the Other becomes the self and the self gains perspective by recognizing the Other in the self.«27 A sense of affinity and a mutual perspective is created that precludes the separation of the self from the Other, and dissolves the borders and demarcations on which prejudices are built. At the same time the hybridity of borders between the narrator and the Jew Stein brings about an ironic conflation of the perpetrators and the victims. This not only satirically reflects the Austrian myth of collective victimhood, but it also links both Stein and his narrator in their attempt to suppress the memory of the past. Vergangen sei das doch alles – so hatte sich Stein ehemals gegen gewisse Vorbehalte, Einwände, Einspruchsversuche seines Vaters gewehrt. Und eben deswegen: weil es vergangen war, hatte er sich wenig für die Vergangenheit [...] interessiert.28

Stein, as the representative of the post-Shoah Jewish generation, is just as ready to renounce his troublesome ethnic identity and the history that is connected with it, in order to fit in, as the Austrians are ready to suppress their past in order to go on: »Ah was, [}] – geschehn ist geschehn. Und passiert ist passiert. Und vorbei ist vorbei. Vorbei muß vorbei sein. Und Befehl ist Befehl.«29 However this attempt at renouncing that part of their identity becomes troublesome for both. It resurfaces as Stein’s dead grandfather did. Henisch does not reject or deny the concept of identity that is built on cultural or ethnic affiliations. Rather, he describes in this novel the pathological consequences of a negatively perceived notion of identity which is based on the repression of the self as much as on the exclusion of the Other. The redemptive solution, the novel suggests, lies, for both sides – the Jewish and the 26 27 28 29

Brzovic/Decker, The Ironic Case of Austro (see note 5), p. 136. Harnisch, Literary Dialogues and Dialogic Literature (see note 17), p. 181. Henisch, Steins Paranoia (see note 4), p. 17. Ibid., p. 82.

The image of the Jew in the work of Peter Henisch

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non-Jewish side – not in avoiding one’s truth and one’s difference, but in standing up and acknowledging it. Accordingly, in the case of Stein, his dead grandfather, »der Sejde,«30 admonishes Stein to stand up and fight instead of burying himself in tacit acceptance of anti-Semitic prejudices and general injustice: Einerseits steigerst du dich da in etwas hinein und andererseits: was tust du? Das sei (so der Großvater) Selbstüberschätzung und Selbstunterschätzung zugleich. [}] Für uns macht das allerdings wenig Unterschied. Tot ist tot, da läßt sich nicht mehr viel ändern. Aber solang man am Leben ist, ist das was anderes. Du solltest was tun, so der Großvater, nicht nur leiden!31

With his novels Henisch does not create a bland, unified view of humankind where differences do not exist anymore. It is not the synthesis of the exposed dichotomies to which Henisch’s texts aspire. Rather, he attempts to achieve »the formation of a new hybrid,«32 incorporating every aspect of human reality. This view of identity as a mere conglomerate of possibilities, precludes a defined image of the Other, and opens up new possibilities for the coexistence of opposites in a multivalent reality. Thus the relation between the self and the Other, the Jew and his non-Jewish environment, could turn a tragedy into a comedy.

30 31 32

Ibid., p. 65. Ibid., p. 66. Friedemann Weidauer:The Lizard-King Can Do Anything: Hybridity and the Cultural Logic of Globalization in Morrisons Versteck. In: Balancing acts (see note 2), p. 65.

Inge Stephan

Spuren-Suche Medea als deutsch-jüdische Erinnerungsfigur vor und nach 1945

Einleitung Medea rührt an die dunklen, tabuisierten Seiten des Eros und der Mutterliebe und an die zerstörerischen Impulse, die im Verlauf des Zivilisationsprozesses nur mühsam humanitär oder religiös übertüncht worden sind. Medea ist aber nicht nur eine Figur der exzessiven Rache, deren Opfer sie am Ende selbst wird. Sie ist eine tragische Heroine, die Altern und Vergänglichkeit am eigenen Leib erfährt, und zugleich eine Figur, die über die Rolle der Frau und das Verhältnis der Geschlechter mit großem Scharfsinn nachdenkt und den anderen Mitspielern rhetorisch haushoch überlegen ist.1 Im 20. Jahrhundert wird sie zu einer zentralen Projektionsfläche in den Debatten über Ethnizität und Rassismus, die bei Franz Grillparzer in der exzessiven Hell-Dunkel-Metaphorik keimhaft angelegt sind und von Hans Henny Jahnn programmatisch 1924 aufgegriffen werden, wenn er das »schwarze Innere« Medeas, von dem Friedrich Maximilian Klinger in seiner Medea in Korinth (1786) gesprochen hatte,2 expressiv nach außen wendet und Medea als Schwarze auf die Bühne bringt. Jahnns Medea ist dabei eine zutiefst ambivalent gezeichnete Figur. Als säkularisierte und zugleich sexualisierte ›schwarze Madonna‹ ist sie in die Rassendiskurse des frühen 20. Jahrhunderts stärker eingebunden als dies die Aussagen von Jahnn vermuten lassen, der seine Hoffnung, wie wir wissen, auf den ›Bastard‹ setzte. Es spricht viel dafür, seine Medea als eine ›Deckfigur‹ zu verstehen, in die sich der antisemitische Diskurs der Weimarer Republik – vielleicht hinter dem Rücken des Autors – eingeschrieben hat.3 Sander Gilman hat darauf aufmerksam gemacht, dass es in den Rassendiskursen Anfang des 20. Jahrhunderts Überschneidungen gegeben hat. Er hat in diesem Zusammenhang einen Brief von Kafka an Milena Jesenská zitiert, wo es heißt: »Natürlich, daran ist kein Zweifel, zwischen deinem Mann 1 2 3

Vgl. Inge Stephan: Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2006. Friedrich Maximilian Klinger: Medea in Korinth. Medea auf dem Kaukasus. St. Petersburg, Leipzig: Kriele & Jacobäer 1791, S. 55. Kai Stalmann: Geschlecht und Macht. Maskuline Identität und künstlerischer Anspruch im Werk Hans Henny Jahnns. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1998, S. 165– 191.

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Inge Stephan

und mir ist vor deinem Vater gar kein Unterschied, für einen Europäer haben wir beide das gleiche Negergesicht.«4 Sicherlich ist es überspitzt, Jahnns Medea als Jüdin zu interpretieren, sie ist jedoch eine hybride Figur, in der sich Afrikanisches und Jüdisches in merkwürdiger Weise mischen. Sie steht am Anfang einer Traditionslinie, in der ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ das Koordinatennetz bilden, in dem der Neuentwurf der Figur stattfindet. Bei Max Zweig5 ist Medea eine Afrikanerin, bei Jean Anouilh6 eine Zigeunerin, bei Robinson Jeffers7 eine Orientalin und bei Mattias Braun8 eine Asiatin. Die jüdischen Medeen von Bertolt Brecht, Gertrud Kolmar, Paul Celan und George Tabori sind Teil dieser Neuformatierung der Figur im 20. Jahrhundert; sie partizipieren an dem Diskurs über das Fremde als dem sexuell und/oder ethnisch Anderen und geben ihm zugleich eine besondere Richtung, wie ich im Folgenden zeigen möchte.

I Unter den Gedichten Brechts, die in der ersten Phase des Exils zwischen 1933 und 1938 entstanden sind, befindet sich Die Medea von Lodz.9 Der Ortsname àódĨ berührt merkwürdig. Was hat Medea mit àódĨ zu tun? Was bedeutet es, wenn Brecht einen realen Ort aufruft und ihn mit einer mythischen Figur verkoppelt? Was verbinden wir heute als ›Nachgeborene‹ in Deutschland mit dem Ortsnamen àódĨ, was weiß Brecht von àódĨ und worauf zielt er mit der Wahl dieses Namens? Und welche Medea meint Brecht, die Barbarin und Zauberin in Kolchis, die maßlos liebende und gedemütigte Frau in Korinth oder die Fremde und Exilierte, die als Mörderin der Kinder, des Bruders und der Nebenbuhlerin zwischen Orkus und Olymp ruhelos hin- und herirrt und als Furie durch die abendländische Literatur- und Kunstgeschichte gehetzt wird? Geht es Brecht überhaupt um eine Arbeit an einem unabgegoltenen Mythos, an dem sich vor ihm Autoren wie Klinger, Grillparzer und Jahnn abgemüht haben? Spielt er nur mit der Erinnerung an eine faszinierende Frauenfigur, die zum

4 5

6 7 8 9

Zit. n. ebd., S. 186. Das Drama Medea in Prag von 1949 ist erst aus dem Nachlass des in Israel verstorbenen Autors veröffentlicht worden. Siehe Max Zweig: Medea in Prag. Schauspiel in 5 Akten. In: ders.: Dramen. Gesammelte Werke. Bd 1. Paderborn: Igel-Verlag Literatur 1997. Vgl. dazu Stephan, Medea (wie Anm. 1), S. 63–66. Jean Anouilh: Medea. In: Joachim Schondorff (Hg.): Medea. Ulm: Langen/Müller 1963, S. 345. Robinson Jeffers: Medea. In: ebd., S. 351. Mattias Braun: Medea. In: ebd., S. 432. Bertolt Brecht: Die Medea von Lodz. In: ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd 9: Gedichte 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 19f.

Spuren-Suche. Medea als deutsch-jüdische Erinnerungsfigur

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»dunklen Spiegel«10 all der Ängste geworden ist, die eine patriarchalisch nicht domestizierte Weiblichkeit bei den Siegern der Geschichte bis in die Gegenwart hervorgerufen und die jüngst in Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen als »wilde Frau«11 eine neue emphatische Ausgestaltung erfahren hat? Oder geht es Brecht mit seinem Gedicht gar nicht um Medea, sondern vielmehr um eine Auseinandersetzung mit der damaligen deutschen Gegenwart? In welchem Verhältnis stehen mythische Assoziation und politische Zeitkritik bei dem notorisch mythen- und traditionsskeptischen Brecht, der in seinem Gedicht Verurteilung antiker Ideale abfällig vom »Stumpfsinn der Größe vergangener Zeiten« gesprochen und das »klaglose Ertragen vermeidbarer Leiden« und den »Glauben an unvermeidbare Schuld« kurzerhand als ›falsches Bewusstsein‹ denunziert hatte?12 Angesichts der mythenskeptischen Haltung Brechts erstaunt es nicht, dass sich das Gedicht nicht in die Tradition der pathetischen Mythosauffassung der Moderne einfügt, die durch faschistische Autoren wie Arthur Rosenberg bzw. mit dem Faschismus liebäugelnde Autoren wie Gottfried Benn gerade um 1933 neu formuliert wurde. Brecht verzichtet bewusst auf eine Partizipation an der Aura des Mythos, die wenige Jahre zuvor in Jahnns Medea eine grandiose Steigerung erfahren hatte. Sein Gedicht gibt sich betont beiläufig und imitiert ironisch den Ton alter Mären. DIE MEDEA VON LODZ Da ist eine alte Märe, Von einer Frau, Medea genannt Die kam vor tausend Jahren An einen fremden Strand. Der Mann, der sie liebte Brachte sie dorthin. Er sagte: Du bist zu Hause Wo ich zu Hause bin. Sie sprach eine andere Sprache Als die Leute dort Für Milch und Brot und Liebe Hatten sie ein anderes Wort. Sie hatte andere Haare Und ging ein anderes Gehn Ist nie dort heimisch geworden Wurde scheel angesehn. 10 11 12

Vgl. Olga Rinne: Medea. Das Recht auf Zorn und Eifersucht. Zürich: Kreuz-Verlag 1988, vor allem das Kapitel »Der dunkle Spiegel«, S. 99ff. Christa Wolf: Medea. Stimmen. München: Luchterhand 1996, S. 10. Bertolt Brecht: Verurteilung antiker Ideale. In: ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd 10: Gedichte 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 873f.

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Inge Stephan Wie es mit ihr gegangen Erzählt der Euripides seine mächtigen Chöre singen Von einem vergilbten Prozeß. Nur der Wind geht noch über die Trümmer Der ungastlichen Stadt Und Staub sind die Stein, mit denen Sie die Fremde gesteinigt hat. Da hören wir mit einem Mal jetzt die Rede gehn Es würden in unseren Städten Von neuem Medeen gesehn. Zwischen Tram und Auto und Hochbahn Wird das alte Geschrei geschrien 1934 In unserer Stadt Berlin.

Die Geschichte von àódĨ, nur wenige Eisenbahnstunden von Berlin entfernt und heute mit über 800.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Polens, ist verbunden wie kaum eine andere polnische Stadt mit der wechselvollen Historie des Landes, seinen nationalen Erhebungen im 18. Jahrhundert, der rasanten Industrialisierung im 19. Jahrhundert und der Ausbildung jenes Vielvölkergemisches, von dem Wladyslaw Reymonts Epos Das gelobte Land erzählt und an das Israel Singer mit seinem Roman Die Brüder Ashkenasi oder Jizchak Katzenelson in seinem Großen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk erinnern. Wenn Brecht 1934 den Ortsnamen àódĨ in Verbindung mit der mythischen Medea bringt, dann tut er dies m. E. wegen der Assoziationsmöglichkeiten, die die Nennung dieses Namens für den politisch interessierten Leser um 1934 bereithielt. àódĨ wird aufgerufen als politisch ambivalent besetzter Ort, in dem soziale und ethnische Widersprüche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses besonders vehement aufbrachen. àódĨ kann verstanden werden als Chiffre für die Kälte der großen Städte, in deren »Dickicht« die Menschen einander fremd und feindlich werden.13 Wer aber ist unter diesen Voraussetzungen die »Medea von Lodz«? Das Gedicht stellt sie als Fremde vor: Sie spricht anders, sie sieht anders aus und sie bewegt sich anders. Sie kommt aus der polnischen Vielvölkerstadt àódĨ – wohl dort schon eine Fremde unter Fremden – nach Berlin als ›Mitbringsel‹ eines Mannes, von dem gesagt wird, dass er sie liebt, nicht aber, ob sie ihn liebt. Die Parallele zur mythischen Medea liegt in der Erfahrung von Fremdheit, die beide machen: Die kolchische Medea im griechischen Korinth und die Medea aus àódĨ im modernen Berlin mit Trams, Autos und Hochbahnen. 13

Vgl. zu Brechts Auseinandersetzungen mit den »großen Städten« sein frühes Stück Im Dickicht der Städte, Berlin 1927.

Spuren-Suche. Medea als deutsch-jüdische Erinnerungsfigur

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Offenbar benutzt Brecht Medea als Bild für die ostjüdischen Einwanderer, die in den zwanziger Jahren nach Berlin kamen. Nach 1933 waren sie verstärkten Repressionen ausgesetzt. Dabei verschiebt Brecht in der dritten Strophe unter der Hand die mythische Erzählung in einer erstaunlichen Weise: Nicht Medea ist die Mörderin (ihrer Kinder und der verhassten Nebenbuhlerin), sondern die Einwohner der »ungastlichen Stadt« haben »Sie die Fremde gesteinigt«.14 Diese Verschiebung gewinnt unter der Perspektive des späteren Holocaust eine fast hellseherische Bedeutung und macht das Gedicht zu einem bedrückenden Zeugnis für die tödlichen Konsequenzen der Ausgrenzung und Verfolgung ethnischer Minderheiten. Die Warnung des Gedichts ist heute nicht weniger aktuell als 1934. »Medeen« tauchen auch heute »in unseren Städten auf«, nur kommen sie nicht mehr allein aus àódĨ, sondern aus Anatolien, Rumänien, aus Afrika, Asien und anderswoher. Jenseits der unbestreitbaren vergangenen und gegenwärtigen Brisanz eines solchen Gedichtes wirft Brechts Medea von Lodz jedoch eine Reihe von Fragen auf, deren eindeutige Beantwortung schwer fällt, weil die Bezüge auf die mythische Figur und die reale Stadt – trotz oder gerade wegen des programmatischen Titels – im Text betont vage gehalten sind und durch den in der letzten Strophe eingeführten neuen Ortsnamen Berlin und durch die Pluralisierung Medeas zu »Medeen« noch vager werden. Dabei sind die Abweichungen Brechts vom Medea-Mythos, wie ihn Euripides in seinem Drama von 431 v. Chr. ausgestaltet hat, erheblich: Weder wird Medea von Brecht als leidenschaftlich Liebende und Hassende oder als mehrfache Mörderin dargestellt, noch wird sie als Zauberin und Heilerin begriffen. Die Assoziation ›Kindermörderin‹ wird im Text weder mobilisiert noch destruiert, sie stellt sich jedoch trotzdem ein, weil gerade sie im kulturellen Gedächtnis in besonderer Weise gespeichert ist. Ähnlich verhält es sich mit dem àódĨ-Bezug. Auch hier fällt es schwer zu entscheiden, worauf Brecht anspielen will: auf àódĨ als kapitalistische Metropole, als Vielvölkerstaat oder als jüdisches Zentrum.15 14 15

Die Formulierung ist nicht ganz eindeutig: »die Fremde« kann Medea sein, sie kann aber auch die fremde Stadt meinen. Mehr als Vermutungen äußern auch die Herausgeber der Großen kommentierten Brecht-Ausgabe nicht: »Das Gedicht entsteht möglicherweise im Zusammenhang mit einer ›Medea-Idee‹, die Brecht zusammen mit Eisler entwickelt hat (Brief an Helene Weigel, November 1933). Es bezieht sich vermutlich auf die so genannten Ostjuden, die sich hauptsächlich im Berliner Scheunenviertel niedergelassen haben. Sie gehörten zu den orthodoxen Juden, die sich nicht assimilierten und deshalb von den Nationalsozialisten besonders verfolgt wurden. – Das Gedicht verarbeitet die antike Sage von Medea, der Tochter des Königs von Kolchis, die den Argonauten hilft, das Goldene Vlies zu erringen. Medea folgt dem Führer der Argonauten Jason nach Korinth und wird dort von ihm verlassen.« Bertolt Brecht: Gedichte und Gedichtfragmente 1928–1939. In: Werner Hecht u. a. (Hg.): Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd 14: Gedichte 4. Berlin, Weimar: Aufbau-

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Eine These ist, dass Figur und Ort für das Gleiche stehen. Die aus dem Osten kommende jüdische Medea Brechts ist Teil eines Jahrhunderte umspannenden literarischen Diskurses über das Fremde, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er das Fremde stets als das sexuell und/oder ethnisch Andere konnotiert. Ich halte die Wahl Medeas in dem Brechtschen Gedicht also nicht für zufällig, sondern für symptomatisch, auch und gerade für einen Autor, für den sich die Frage nach Fremdheit durch die Erfahrung des Exils in einer ganz neuen Weise stellte.

II Gertrud Kolmars Roman Die jüdische Mutter (1930/31)16 ist ein sperriger Text, der nicht interpretiert werden kann, ohne an die Ermordung der Autorin in Auschwitz zu denken.17 Der Roman blieb wie viele andere Texte zu Lebzeiten Kolmars ungedruckt. In dem Roman gibt es nur einen direkten Verweis auf Medea, wenn sich die Familie von Friedrich Wolg, der die Jüdin Martha Jadassohn gegen den Willen seiner Eltern geheiratet hat, darüber erregt, dass die Schwiegertochter sich weigert, ihr Kind taufen zu lassen: Seine Eltern waren empört; besonders der Vater gebrauchte kräftige Worte. ›Eine Jüdin… Sie sollte froh sein, wenn ihr Balg christlich erzogen wird.‹ Friedrich schien ganz verstört. ›Ich bitt’ euch um eins, zankt bloß nicht mit ihr, laßt sie in Frieden. Ihr kennt sie nicht. Sie ist imstande und tötet das Kind; das ist eine Medea!‹18

In dieser Zeit ist das Kind noch gar nicht geboren. Friedrich, der im Zustand der Verliebtheit seiner Frau versprochen hatte, ihr und den künftigen Kindern seinen christlichen Glauben nicht aufzudrängen, scheint dieses Versprechen nach der Hochzeit vergessen bzw. von vornherein nicht ernst gemeint zu haben. Sein Wunsch, das Kind taufen zu lassen, fordert den entschiedenen Widerstand seiner Frau heraus: Sie entgegnete ruhig: ›Du hattest mir etwas versprochen, das weißt du.‹ Er zuckte die Achseln. ›Es fragt sich, ob solch ein Versprechen mich binden würde. Ich hab’ mal darüber gelesen –‹ Ihre Stimme war kalt. ›Es ist ganz gleich, was du drüber gelesen hast. Wenn du dein Versprechen nicht halten willst und den Pfarrer aufhetzt…‹ Sie unterbrach sich: ›Es ist unnütz zu drohen, wenn man noch nicht weiß, was man tut. Aber bedenke,‹ sagte sie leise, ›daß unser Kind noch in mir ist, in meinem Schoß und daß du es, wenn es geboren ist, nicht mitschleppen kannst in deine Fabrik und daß ich es, wenn du es mir auch nimmst, überall finden werde.‹19

16 17 18 19

Verlag 1993, S. 588. Zu Brechts Verhältnis zu den Juden vgl. Manfred Voigts: Brecht and the Jews. In: Brecht-Yearbook 21 (1996), S. 101–122. Gertrud Kolmar: Die jüdische Mutter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. Ebd., Nachwort von Esther Dischereit. Ebd., S. 20. Ebd., S. 19f.

Spuren-Suche. Medea als deutsch-jüdische Erinnerungsfigur

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Diese Drohung verfehlt ihre Wirkung auf Friedrich nicht und ruft seine Medea-Angstvision hervor, auf die der Vater, der von Beginn an gegen eine Verbindung mit der »Jüdin« intrigiert hatte, mit seinen Warnungen vor dem »antiken Standbild«,20 an das ihn die ungeliebte Schwiegertochter erinnert, die Familie bereits eingestimmt hat: »Alttestamentarisch sieht sie schon aus […]. Sie ist stärker als du, das spür’ ich, bloß wenn ich sie sehe. Und wenn du mal anders willst als sie: die duckst du nicht. Entweder du reißt aus, oder sie bricht dich in Stücke. Ohne Gnade.«21 In gewisser Weise behält der Vater mit seiner Prognose recht. Nach der Geburt der Tochter erkaltet die Leidenschaft von Friedrich sehr rasch, er weicht nach Amerika aus und kehrt ein Jahr später als schwerkranker Mann heim. Nach seinem frühen Tod bleibt Martha in ärmlichen Verhältnissen zurück und muss sich und das Kind allein durchbringen, da die Verbindung zu den Schwiegereltern bald abreißt. Das ist die von der Autorin knapp angedeutete Vorgeschichte des Romans, die ihre eigentliche Dramatik erst nach dem Tod des Ehemannes entwickelt. Der Medea-Bezug scheint in dieser Vorgeschichte nicht mehr als eine vage Assoziation zu sein, die das ›Fremde‹ und ›Jüdische‹ in der Familie Wolg auslöst. Er reicht jedoch über Friedrichs Angstvision weit hinaus. Die Beziehung zwischen Friedrich und Martha folgt – ungeachtet der von der mythologischen ›Vorlage‹ abweichenden Figuren- und Handlungskonstellationen – einem Muster, das in seinem tödlichen Verlauf auf die antike Jason- und Medea-Konfiguration zurückverweist, die aufgrund der unterschiedlichen Herkunft der Partner bereits in der euripideischen Version von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. So wie sich in Jason und Medea ›Griechentum‹ und ›Barbarentum‹ feindlich begegnen, so stehen sich bei Kolmar ›Deutsches‹ und ›Jüdisches‹ unversöhnlich gegenüber. Das gemeinsame Kind, das aus der Verbindung zwischen »des Vaters Helle« und »dem Dunkel der Mutter«22 hervorgeht, hat – ähnlich wie in George Taboris M. Nach Euripides (1985), wo der Vater das Kind als ›Missgeburt‹ einer gescheiterten deutsch-jüdischen Beziehung umbringt23 – keine Chance. Anders als bei Tabori ist bei Kolmar jedoch die Mutter die Mörderin, was sich erst am Ende des Romans herausstellt. Während es zunächst so scheint, als ob die Tochter Opfer eines Sittlichkeitsverbrechens geworden ist, an dessen Folgen sie im Krankenhaus stirbt, gesteht Martha am Ende die Tat gegenüber dem Mann, mit dem sie ein Verhältnis eingegangen war, um ihn dazu zu bringen, den Mörder der Tochter zu suchen. Die naheliegende und entlastende Deutung, dass Martha das Kind ›erlösen‹ wollte, ist bei genauerer Lektüre nicht haltbar, da es eine Reihe von Hinweisen darauf gibt, dass sie das Kind in Wahrheit ›hingerichtet‹ hat. So lässt die Auto20 21 22 23

Ebd., S. 17. Ebd. Ebd., S. 20. Georges Tabori: M. Nach Euripides. Manuskript. 3. Arbeitsfassung vom 4. Dezember 1984. Auf diese Fassung beziehe ich mich im Folgenden.

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Inge Stephan

rin Martha sich an eine Auseinandersetzung mit ihrem Mann erinnern, in der sich dieser darüber erregte, dass eine Mutter ihren Sohn erschossen hatte, »der gleichgeschlechtliche Neigungen hegte und ihnen nachging.«24 Friedrich Wolg erwähnte die Tat; er fand sie unmenschlich. Martha las. Dann meinte sie ruhig: ›Nein. Ich versteh’ es.‹ Friedrich ereiferte sich. ›Du verstehst es? Daß eine Mutter ihr Kind – hinrichtet, muß man schon sagen – nur weil es zufällig unglückliche Anlagen zeigt? Dann könnte sie es ja ebenso gut totschlagen, weil es krank ist! Die Mütter von Räubern und sonstigen Schurken sind manchmal sehr ehrenwerte Fraun; wenn alle die zum Revolver griffen … Fremde Menschen können verdammen; eine Mutter soll immer verzeihn.‹25

Das ist nicht die einzige Szene, durch die Martha ›belastet‹ wird. Ihre Eltern, die schon längst gestorben sind, sprechen die Tochter schuldig. Die rötlichblassen Photographien betrachteten sie von der Wand herab aus ihren schwarzen Rahmen. Ein jüngerer Mann mit schmalem scharfen, nachdenklichernsten Gesicht, seine kleine, unbedeutende Frau, eine blonde Jüdin. Sie sahen die Tochter seltsam an, der Vater sprach es aus, und die Mutter nickte nur schüchtern dazu: ›Du lügst. Auch du hast dein Kind ermordet.‹26

Den stärksten Hinweis auf die ›Täterschaft‹ Marthas liefert das »zerstückelte Bild«,27 das Martha am Ende des Romans in Händen hält. Sie hat dieses Bild – eine Fotografie ihrer Tochter, die sie selbst gemacht hat – zerrissen28 und damit symbolisch die Tat wiederholt, die sie aus ihrem Bewusstsein verdrängt und auf den Sittlichkeitsverbrecher verschoben hat. Die durchgängige Thematisierung von triebhafter Sexualität im Roman und ihre Koppelung an das »Jüdische« weist zurück auf Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) und dessen Stereotypien des Jüdischen und Weiblichen. Kolmars Text steht ganz im Bann dieses Denkens. Vergeblich versucht ihre Protagonistin Martha, eine »jüdische Mutter« zu sein. Als Mirjam ist sie aber nur die ›jüdische Dirne‹, die bei den Männern Abscheu erregt. Die Frage, ob der Text an dieser Spaltung in Mutter und Hure teilhat oder diese Spaltung nicht vielmehr als eine Fantasie (arischer) Männer kritisiert, die in der jüdischen Frau das Fremde und sexuell Andere sehen, ist deshalb so schwer zu entscheiden, weil Martha die Zuschreibungen ihrer Partner verinnerlicht und sich selbst als Verworfene begreift.29 24 25 26 27 28 29

Kolmar, Die jüdische Mutter (wie Anm. 16), S. 67. Ebd. Ebd., S. 170. Ebd., S. 189. Ebd., S. 186. Vgl. das Nachwort von Dischereit zu Kolmars Die jüdische Mutter, wo sich die Autorin fragt: »›Die jüdische Mutter‹? Wie kann sie solche Stereotypen aufbringen?« (ebd., S. 199) und die am Schluss den Impuls verspürt: »Wie die jüdische

Spuren-Suche. Medea als deutsch-jüdische Erinnerungsfigur

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Im Kontext der Medea-Rezeption ist die Figur der Martha/Mirjam eine besonders bedrückende Um-Schreibung des Mythos, weil Medea hier als Chiffre für das Misslingen der ›jüdischen Assimilation‹ in Deutschland steht. Mit der Tötung der Tochter tilgt die Mutter nicht nur ihre eigene Geschichte als Ehefrau und Mutter, sie unterbricht damit auch gewaltsam einen Prozess, in dem die Tochter in der Zukunft die Position der Mutter einnehmen würde. Dass der Roman fiktional eine Entwicklung vorwegnimmt, die in der Realität im Holocaust endet, gehört zu den perversen Schrecknissen, welche die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert bereithält.

III Mit der deutsch-jüdischen Geschichte ist auch der Roman Märkische Argonautenfahrt von Elisabeth Langgässer in beeindruckender Weise verbunden, der 1950 nach dem Tod der Autorin veröffentlicht wurde.30 Langgässer, durch die Nürnberger Rassegesetze zur ›Halbjüdin‹ gestempelt, konnte sich durch eine so genannte ›privilegierte Mischehe‹ zwar der Verfolgung entziehen, ihre 1925 unehelich geborene Tochter Cordelia, die nach den Nürnberger Gesetzen als ›Jüdin‹ galt, wurde jedoch nach Auschwitz verschleppt, das sie – wie durch ein Wunder – überlebte. Als Cordelia Edvardson wird die Tochter Jahrzehnte später ihre Höllenerfahrungen in Auschwitz in einem Buch aufschreiben, in dem die Mutter sehr kritisch gesehen wird.31 Es ist hier nicht der Ort, die unselige Mutter-Tochter-Beziehung in all ihren Einzelheiten nachzuzeichnen32 – beide sind Opfer einer Konstellation, die sie nicht verschuldet haben.33 Wie bei der Tochter hinterlassen die Erfahrungen im Nationalsozialismus auch bei der Mutter ein Trauma, von dem die Medea-Fantasie in der Märkischen Argonautenfahrt ein deutliches Zeichen ablegt. Medea ist als Hadesgöttin und mörderische Mutter das düstere Zentrum des Romans. Dieser Roman, der nach Langgässers Absicht ein »Kosmos der

30 31 32

33

Mutter das Bild ihrer Tochter in Schnipsel reißt, möchte ich in das Buch hineingehen, rennen und rufen: Nein, tu’s nicht. Einfach entsetzlich … das ist die Selbsterniedrigung der erniedrigten Kreatur.« (ebd., S. 215). Elisabeth Langgässer: Märkische Argonautenfahrt. Frankfurt a. M.: Ullstein 1981. Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer. München: Dt. TaschenbuchVerlag 1989 (dtv; 11115). Vgl. dazu Cathy Gelbin: »Es war zwar mein Kind, aber die Rassenschranke fiel zwischen uns.« Elisabeth Langgässer und die Mutter-Tochter-Beziehung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 117/4 (1998), S. 565–596. Zur problematischen Mutter-Tochter-Beziehung als Hintergrund des Textes vgl. Inge Stephan: Der Ruf der Mütter. Schulddiskurs und Mythenallegorese in den Nachkriegstexten von Elisabeth Langgässer. In: dies.: Musen & Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln, Wien: Böhlau 1997, S. 133–160.

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Inge Stephan

Nachkriegszeit«34 werden sollte, erzählt die Geschichte einer Wanderung als »Gleichnis sämtlicher Fahrten, Eroberungen und Wanderzüge«.35 Im Sommer 1945 begeben sich sieben Personen auf eine der mythischen Argonautenfahrt nachgebildete Pilgerreise aus dem zerbombten Berlin zu dem Kloster Anastasiendorf, das sich in der südlichen Mark Brandenburg befindet. Alle sieben Personen – unter ihnen auch ein jüdisches Ehepaar und eine junge Widerstandskämpferin – sind sichtbar vom Krieg gezeichnet, und alle sieben haben Schuld auf sich geladen, die zwar unterschiedlich begründet ist, jedoch eine gemeinsame Ursache hat: den Abfall von Gott. So ist es nur folgerichtig, dass ihre Suche – nach Aufklärung, Erlösung, Befreiung, Vergessen, Erinnerung, Trost, Einsicht, Sinngebung – ein gemeinsames Ziel hat: das Kloster, die civitas dei, die als Gegenbild gegen die sündige civitas terrana gesetzt ist.36 Das augustinische Modell bildet den heilsgeschichtlichen Rahmen, in den die Pilgerfahrt der sieben Personen eingebettet ist. Diese führt sie durch vom Krieg zerstörte Landschaften zum Kloster Anastasiendorf. Wie die Hirten und Könige von einem Kometen zur Krippe des Christuskindes geleitet werden, so werden die ›Argonauten‹ von einem Stern geführt, der ihnen den Weg nach Anastasiendorf weist, zu jener »Insel der Ordnung«,37 in der die harmonische Ordnung der civitas dei ein Stückweit vorweggenommen ist. Die Insel des Friedens […] die heile Ordnung. Das Ziel der Argo. Das Haus zu dem Goldenen Vliess.38

Aus diesem Reich der Ordnung ist die Sexualität vollständig ausgegrenzt. Repräsentanten dieser Ordnung sind nicht zufällig die beiden Frauenfiguren des Romans, die weitgehend entsexualisiert sind und beide nicht zu der Gruppe der Argonauten gehören: Die Äbtissin Demetria,39 deren Name auf Demeter anspielt, und Sichel, der Reiseengel der Argonauten,40 deren Name auf Maria 34 35 36

37 38 39

40

Elisabeth Langgässer: Soviel berauschende Vergänglichkeit. Briefe 1926–1950. Hamburg: Claassen 1954, S. 211. Langgässer, Märkische Argonautenfahrt (wie Anm. 30), S. 399. Vgl. Konstanze Fliedl: Zeitroman und Heilsgeschichte. Elisabeth Langgässers Märkische Argonautenfahrt. Wien: Braumüller 1986 (Wiener Arbeiten zur deutschen Literatur; 12). Siehe auch die ältere Arbeit von Eva Augsberger: Elisabeth Langgässer. Assoziative Reihung, Leitmotiv und Symbol in ihren Prosawerken. Nürnberg: Carl 1962 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft; 12), insbes. S. 98ff. Langgässer, Märkische Argonautenfahrt (wie Anm. 30), S. 268. Ebd., S. 270. Im Ganzen gesehen ist Demetria keine reine Marienfigur, sondern eine eher gespaltene Eva-Figur. Der Verweis auf ihre Schönheit einerseits (ebd., S. 96) und die Medusa-Assoziation andererseits (ebd., S. 105) nehmen ihr Ende bereits vorweg: „Sie wurde als reines, kostbares Gold in dem Tiegel des Großen Engels zerrieben, der die Seufzer und Bitten, die Reue, die Einsicht vor den Thron des Allwissenden trägt.“ (ebd., S. 409). Ebd., S. 165.

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auf der Mondsichel verweist. »Sichelchen«, eine unschöne bucklige Frau, die Kindertransporte nach Auschwitz begleitet, ist der gute Geist des Romans. Sie ist eine der vielen Marienfiguren, die den Text bevölkern. Als ›gute Mütter‹ werden diese Marienfiguren gegen die ›bösen Mütter‹ gewendet, die ihre Sexualität triebhaft ausleben und ihre Kinder töten. Als mythisches Bild dieser ›bösen Mutter‹ erscheint Medea in dem Roman. Dieses »verwilderte, schreckliche Wesen«,41 das wie Gorgo-Medusa in der Tiefe haust, die schreckliche »Magna Mater«, die verschlingt, was sie geboren hat, die »Opfer um Opfer forderte, ohne gesättigt zu sein«,42 ist eine unersättliche, gierige Frau, die allein durch Maria erlöst werden kann. Die Macht Medeas ist jedoch trotz der heilsgeschichtlichen Einbindung und trotz der vielen Marienfiguren, die der Text als Gegenbilder entwirft, ungebrochen. Sie haust nicht nur in den »Labyrinthen und Fuchsbauten unter der Erde«,43 sondern sie hat ihren Herrschaftsbereich auf die Erde ausgedehnt und ist praktisch überall: Sie hat Besitz ergriffen von den »Seelen« und der »Sprache der Menschen«.44 Sie hat Eingang gefunden in ihre »Träume« und »Gebärden«45 und ist sogar Bestandteil der Nahrung, die die Menschen zu sich nehmen.46 Sie ist das »Nichts«,47 das überall dort eindringt, wo Chaos statt Ordnung herrscht. Wie eine Windhose fegte sie über die großen Städte und warf noch einmal die Trümmer um, die der Krieg hinterlassen hatte, sie raste bis auf das freie Feld und verschonte selbst nicht die Schrebergärten und in den Schrebergärten am Bahndamm die abgestellten und ausgeglühten, in Hütten, Behelfsheime, Unterschlüpfe verwandelten Eisenbahnwagen, die sich klappernd vom Boden hoben und gleichfalls zu kreisen begannen – rostig, von grauschwarzer Wäsche umflattert und von abscheulichen Krähen begleitet, die aus den Wolken fielen. So zogen die Wohnungen der Medea über Ströme und Länder dahin […].48

Sicherheit vor diesem »Nichts« bietet allein die civitas dei, deren Schutzpatronin Maria ist. Nur die imitatio mariae kann jene neue »Ordnung« herbeiführen, die an die Stelle der alten, zusammengebrochenen Ordnung treten soll. Dieses ›neue‹ Reich, von dem der Roman fantasiert, ist ein Reich des Geistes, ein ›männliches‹ Reich also, in dem Maria formal die Funktion der Schutzpatronin zugewiesen ist, in der Frauen generell jedoch auf die Rolle der Gottes-Mägde reduziert sind. Medea ist in diesem Zusammenhang eine monströse Figur, auf die alle Ängste projiziert werden.

41 42 43 44 45 46 47 48

Ebd., S. 331. Ebd. Ebd. Ebd., S. 332. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 333.

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Inge Stephan

Noch nach Jahren erinnerten sich die Menschen mit Schaudern ihres Bildes und fluchten ihr, ohne sich einzugestehen, daß dieses verwilderte, schreckliche Wesen auch ihre Mutter war. Sie war ihre Mutter und wurde zugleich von ihnen hervorgebracht; sie hätte von ihnen verändert, sie hätte erlöst werden können, wenn nur die Menschen sich selber hätten erlösen lassen.49

Diese Doppelung in Maria/Medea verweist auf eine Spaltung der MutterImago, die in der Rezeption des Medea-Mythos spätestens seit dem 18. Jahrhundert zu beobachten ist, als sich im Gefolge von Säkularisierung und Modernisierung mit den bürgerlichen Werten und Ordnungsvorstellungen auch neue Geschlechterbilder durchsetzten, in denen ›Mütterlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ miteinander verschmolzen.50

IV Mit der deutsch-jüdischen Geschichte ist auch das Medea-Gedicht Im Schlangenwagen aus dem Zyklus Atemwende (1967) von Paul Celan verbunden.51 IM SCHLANGENWAGEN IM SCHLANGENWAGEN, an der weißen Zypresse vorbei, durch die Flut fuhren sie dich. Doch in dir, von Geburt, schäumte die andre Quelle, am schwarzen Strahl Gedächtnis klommst du zutag.

Celan, der in der Gedichtsammlung Mohn und Gedächtnis (1952) Jason direkt als Figur aufgerufen hat52 – Anselm Kiefer hat mit seinen beiden Flugobjekten Mohn und Gedächtnis (1989) und Jason (1989)53 auf die Verbindungen zwischen Celans Erinnerungsarbeit und dem Argonautenmythos aufmerksam gemacht –, nennt in dem Gedicht Im Schlangenwagen den Namen von Medea 49 50 51 52

53

Ebd., S. 331. Vgl. Inge Stephan: Mörderische Mutter und Heroine der Mütterlichkeit. Medea und ihre Kinder. In: dies., Medea (wie Anm. 1), S. 7–27. Paul Celan: Im Schlangenwagen. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 27. Paul Celan: Talglicht. In: ders.: Gesammelte Werke in 5 Bänden. Bd 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 36 (»Jason wirft nun mit Schnee nach der aufgegangen Saat«). Vgl. die Abbildungen zu den Objekten Nr 51 und 52 in Anselm Kiefer: Katalog. Berlin: Nicolai 1991, S. 134ff.

Spuren-Suche. Medea als deutsch-jüdische Erinnerungsfigur

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nicht. Das ist auch nicht notwendig, denn sie scheint eine alte Bekannte zu sein, die das lyrische Ich als »du« anspricht. Medea, die bei Euripides im Schlangenwagen ihres Großvaters Helios den Schauplatz des Massakers verlässt, um die getöteten Kinder ins Heiligtum der Hera zu bringen, ist in Celans Gedicht keine mythische Rachegöttin oder Siegerin, aber doch eine Figur der Differenz und Stärke. Darauf verweist das Bild »die andre Quelle« ebenso wie das Verb »schäumte«, das Kraft und Lebendigkeit signalisiert. Medea, die sich in der ersten Strophe als Gefangene in einer Extremposition der Unfreiheit zu befinden scheint, lässt sich nicht verbannen oder töten, wie das »Doch« am Anfang der zweiten Strophe deutlich macht. Ihre »von Geburt« an vorhandene Andersartigkeit macht sie zu einer widerständigen Figur, die sich dem Vergessen und der Vernichtung widersetzt. Trotz der melancholischen Motivik der »weißen Zypresse« in der ersten und dem »schwarzen Strahl« in der zweiten Strophe vermittelt das Gedicht den Eindruck einer starken, ungebrochenen Figur, die in gewisser Weise als Gegenentwurf zu Kolmars »jüdischer Mutter« gelesen werden kann, welche am Ende des Textes den Tod im Wasser sucht. Celan hat seine Medea aus dem familiären Kontext vollständig herausgelöst und ihr als ›dunkler Göttin‹ jene Würde und Bedeutung zurückgegeben, die sie im Verlauf der Rezeptionsgeschichte als ›mörderische Mutter‹ eingebüßt hat.

V Im Gegensatz zu Celans ›dunkler Göttin‹, die in poetisch verschlüsselter Weise in einer überzeitlich mythischen Sphäre verortet wird, siedelt George Tabori seine Medea in der damaligen deutschen Gegenwart an. Bereits der Titel des Stücks M. Nach Euripides, das 1985 in München uraufgeführt wurde, spielt in mehrfacher Weise mit Traditionsbezügen.54 M kann als Kürzel für Medea stehen, es kann aber auch Assoziationen an Mutter, Mann, Macht oder Missgeburt auslösen. Zugleich kann es als Anspielung auf den berühmten Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) von Fritz Lang verstanden werden. Doppeldeutig ist auch der Untertitel, der sowohl temporal als auch anlehnend gedeutet werden kann. Beides trifft zu. Tabori hat den größten Teil seines Textes dem Drama von Euripides entnommen, zugleich hat er daraus aber durch Streichungen und Hinzufügungen einen ganz neuen Text gemacht, der entschiedener als alle anderen dramatischen Versionen vor ihm mit dem euripideischen Modell bricht: Nicht Medea bringt die Kinder um, sondern Jason ist der Mörder. Entsprechend entsetzt war die Reaktion im Feuilleton. 54

Tabori, M (wie Anm. 23). Siehe auch Inge Stephan: Gewalt-Szenarien. MedeaMythen in der Literatur der Gegenwart. Taboris M (1985) und Lohers Manhattan Medea (1999). In: Robert Weninger: Gewalt und kulturelles Gedächtnis. Repräsentationsformen von Gewalt in Literatur und Film seit 1945. Tübingen: StauffenburgVerlag 2005 (Studien zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur; 19), S. 95–110.

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Inge Stephan

Das Stück wirft zahlreiche Interpretationsprobleme auf, von denen mir die dem Text unterlegte deutsch-jüdische Problematik besonders wichtig zu sein scheint. Sie verweist auf Jahnns schwarze Medea von 1926 und Brechts Medea von Lodz zurück. Anders als bei Brecht, der in seinem Gedicht von 1934 nur sehr allgemein auf die jüdische Problematik des Anderen und Fremden anspielt,55 und anders als Jahnn, dessen Medea in kryptischer Weise auf Jüdisches verweist,56 ist Taboris Leben und Werk existentiell durch die Erfahrung des Holocaust geprägt. Als einer, der ins Land der Täter zurückgekehrt ist, sieht er es als seine Aufgabe an, die Erinnerung an das Schreckliche, das die deutsche Vernichtungsideologie seiner eigenen Familie und Millionen anderen angetan hat, wach zu halten.57 Der Beginn der zweiten Szene legt den Vergleich zwischen Juden und Deutschen nahe, wenn Medea das Wortspiel vom Packen und am-KragenPacken bringt, das an den ›ewigen Juden‹ und die Judenvernichtung denken lässt. Eine weitere Anspielung findet sich in Formulierungen von den »blutigen Zeiten des Zwangstourismus« und den »panischen Reisen für Barbaren wie uns«. Nimmt man Barbaren im ursprünglichen Sinne von Fremde, kann man darin einen Verweis auf die jüdischen Flüchtlinge sehen, die nach 1933 Deutschland verlassen mussten. Die Vermutung, dass es sich bei Korinth nicht um das griechische Korinth handeln kann, wird durch die Zeilen »im kalten Korinth« und »wo nie die Zitronen blühen« bestätigt, die nicht auf die beliebten Ferienziele Griechenland und Italien, sondern ebenfalls auf Deutschland deuten. Diese Interpretation bekräftigt die nächste Aussage des Kindes: »Es wimmelt schon wieder von Bullen. Sie haben schon alle verhaftet, die zu verhaften waren.« Versteht man das Stück als Parabel für das deutsch-jüdische Verhältnis, steht der Mann für den aktiven, einheimischen, deutschen Teil, die Frau für den passiven, fremden, jüdischen Teil. Das Kind ist ihr gemeinsames Produkt, das als Zeuge dieser missratenen Vereinigung vernichtet werden muss. Medea weist noch weitere Parallelen zum Judentum auf. Sie ist wegen ihrer Zauberkunst gefürchtet und wird von Jason in der Fälschungsszene beschuldigt, die Königstochter vergiften zu wollen, so wie die Juden früher als Brunnenvergifter galten. Jason beschuldigt Medea des Kindermordes, so wie die 55

56

57

Vgl. Inge Stephan: Orte der Medea. Zur topographischen Inszenierung des Fremden in Texten von Bertolt Brecht und Katja Lange-Müller (1997). In: Rolf-Peter Janz (Hg.): Faszination und Schrecken des Fremden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 142–158. Vgl. Kai Stalmann: »Geschlecht, Rasse und das neue Fundament der Ordnung in Medea«. In: ders., Geschlecht und Macht (wie Anm. 3), S. 165ff. sowie Genia Schulz: Eine andere Medea. In: Hartmut Böhme/Uwe Schweikert (Hg.): Archaische Moderne. Der Dichter, Architekt und Orgelbauer Hans Henny Jahnn. Stuttgart: M und P, Verlag für Wiss. und Forschung 1996, S. 110–126. Vgl. »Ich habe mein Lachen verloren.« André Müller spricht mit George Tabori. In: Die Zeit, 6. Mai 1994, S. 53f.

Spuren-Suche. Medea als deutsch-jüdische Erinnerungsfigur

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Juden unter anderem wegen der Praxis der rituellen Beschneidung als Kindesmörder bezeichnet wurden. Tabori hat das Verhältnis von Deutschen und Juden mit dem Verhältnis zwischen Kain und Abel verglichen. Über seine erste Frau Hannah hat Tabori gesagt: Damals heiratete ich Hannah, eine Waise aus Darmstadt, eine Eierjeckes, vernarbt von arabischen Kugeln; wie Anna, das Kindermädchen, war sie blond mit einer Stupsnase, aber geraden Beinen; sie vereinigte in sich die schlimmst-besten Eigenschaften der Juden wie der Deutschen, ein lebender Beweis für die beunruhigende Ähnlichkeit der beiden Völker (die Kain- und Abel-Legende als eine Metapher unserer gemeinsamen Geschichte durch Jahrhunderte von Mord und Liebe).58

Tabori hat das Judentum als Ethos der Verlierer bezeichnet. Frauen und Kinder gehören in unserer Gesellschaft ebenfalls zu den Verlierern, so dass die Frau und das Kind in M auch für das Schicksal der Juden stehen können. Taboris Idee, Medea als eine jüdische Figur zu entwerfen, ist weniger überraschend, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. In der Rezeptionsgeschichte von Euripides bis Hans Henny Jahnn hat Medea immer wieder als Projektionsfläche für das Fremde/Andere gedient. Das Fremde/Befremdende der MedeaFigur ist stets im Schnittpunkt zweier sich überkreuzender Diskurse aufgesucht worden: Sexismus und Rassismus bilden seit jeher das Koordinatennetz, in das die Medea-Fantasien der Autoren und Autorinnen eingelassen sind. Mit seiner jüdischen Medea, die die Erinnerung an die jüdischen Medeen von Jahnn und Brecht hervorruft, verweist Tabori, dessen Leben und Werk von den Erfahrungen des Holocaust geprägt sind, auf die unheilvolle Komplizenschaft von Rassismus und Antisemitismus im Diskurs über das Fremde/Andere. Sein Stück M ist eine Deckerinnerung an die Vernichtungs- und Euthanasiemaschinerie der Nationalsozialisten.

Fazit Die Spuren-Suche hat ergeben, dass Medea in den Texten sehr unterschiedlich imaginiert wird. Als Chiffre für das Fremde ist sie von vornherein eine ambivalente Bezugsgröße, da sich im Fremden das Andere und das Eigene stets in problematischer Weise mischen. Darüber hinaus ist sie jedoch in einen Gender-Diskurs eingebunden, der erst bei der vergleichenden Lektüre deutlich wird. Auffällig ist zunächst einmal, dass die drei Autoren Medea positiv besetzen. Bei Brecht ist sie ein alltägliches Opfer der politischen Verhältnisse. Nicht von ihr geht die Gewalt aus, sondern von der Gesellschaft, die sie als Fremde ausgrenzt und ihre Kinder ermordet. Bei Celan dagegen ist Medea eine aurati58

George Tabori: »Wenn die Leute vom Theater reden.« In: ders.: Unterammergau oder die guten Deutschen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 13.

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sche Figur. Als ›dunkle Göttin‹ steht sie für Würde und Unzerstörbarkeit und kann als Figur der Hoffnung gelesen werden. Tabori holt Medea wieder in die Gegenwart zurück. Nicht sie, sondern der Mann wird zum Mörder des Kindes, das er als ›Missgeburt‹ einer Beziehung ablehnt, in der Vater und Mutter sich fremd geblieben sind. Ganz anders stellt es sich in den Texten der Autorinnen dar. In Kolmars Roman ist Medea zunächst nur eine Angstvision ihrer christlichen Schwiegereltern, die Protagonistin Martha nimmt jedoch im Verlauf zunehmend Züge der mörderischen Medea an. Als Mirjam wird sie zu einer Verworfenen, die endgültig mit dem Bild der »guten jüdischen Mutter« gebrochen hat. Nicht zufällig legt sie ihren alten Namen ab und nimmt einen neuen an. Diese Spaltung zwischen Mirjam und Martha kehrt in dem Roman von Elisabeth Langgässer in der Medea-Maria-Konstellation zurück. Bei Langgässer wird Medea zu einer monströsen Figur, auf die alle negativen Affekte projiziert werden. Als mörderische Mutter wird sie zum Symbol für das Nichts und das Chaos. Offensichtlich sind die beiden Autorinnen stärker als die Autoren von einem Diskurs über Mütterlichkeit beeinflusst, der die Thematisierung von der Gewalt von Frauen ihren Kindern gegenüber mit einem Tabu belegt hat. Medea kann deshalb bei ihnen keine positive Figur sein. Dieses Tabu scheint selbst noch bei Brecht und Tabori nachzuwirken, wenn sie die mörderische Tat auf die Gesellschaft bzw. auf den Mann verschieben und damit Medea entlasten. Celan ist der einzige Autor, der sich aus dieser polarisierenden Sicht auf die Gesellschafts- und Geschlechterverhältnisse, die die Medea-Rezeption von den Anfängen an prägt, gelöst hat: Er hat Medea in einen mythischen Raum zurückfantasiert, in dem sich die Frage von Schuld und Gewalt anders stellt als in den Texten, in welchen die Figur in einer sehr viel direkteren Weise für die Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gegenwart funktionalisiert wird.

Helmut Arntzen

Walter Benjamin denkt über Karl Kraus nach*

Die erste Begegnung Walter Benjamins mit Arbeiten von Karl Kraus fand nach Gershom Scholem im Jahre 1916 statt »unter dem Einfluß der grenzenlosen Begeisterung von Werner Kraft« für Kraus.1 Es ist dasselbe Jahr, in dem im November der Aufsatz des vierundzwanzigjährigen Benjamin »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« entsteht, eine Arbeit, die auch für seine spätere Sprachreflexion, z. B. in der Einleitung zum Trauerspiel-Buch, erhebliche Bedeutung haben wird. Im September 1921 findet während der Vorbesprechungen für die Zeitschrift »Angelus Novus« ein »langes ›Gespräch über das Verhalten der Juden zur Sprache‹« statt, in dem es u. a. um das »Verfallensein« von Karl Kraus »an die Sprache« ging, wie Scholem schreibt.2 Dass es dabei auch um die Pressekritik von Karl Kraus sich handelte, geht u. a. aus einer Bemerkung Benjamins hervor, die Scholem festgehalten hat. Etwa im Jahre 1920 habe Benjamin in einem Gespräch über die Münchener Räterepublik und deren Bestrebungen, die Presse zu reformieren, gesagt: »Da war Karl Kraus vorzuziehen, dessen Haltung nur eine war: ›Ecrasez l’infâme‹«.3 Kraus hatte dieses Wort von Voltaire übernommen, aber eben nicht gegen die Kirche, sondern gegen die Presse gerichtet, so z. B. in der Nummer 521–530 (S. 7) der »Fackel« vom Januar 1920, in der er es als einen pressekritischen Zuruf aus einer eigenen Lesung vom Dezember 1919 zitierte. Zwischen April 1920 und dem Abschluss des Kraus-Essays im Februar 1931 sind die brieflichen Hinweise Benjamins auf Karl Kraus fast immer solche auf neue Ausgaben der »Fackel« und auf deren mannigfache polemische Bemerkungen zu bestimmten Personen oder Vorgängen. In ihnen zeigt sich ein *

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Ausführlichere Darstellungen zum Thema: Josef Fürnkäs: Zitat und Zerstörung. Karl Kraus und Walter Benjamin. In: Jacques LeRider/Gérard Raulet: Verabschiedung der (Post-)Moderne? Eine interdisziplinäre Debatte. Tübingen: Narr, Francke, Attempto 1987, S. 252–276 (Deutsche Textbibliothek; 7). – Jan Philipp Reemtsma: Der Bote. Walter Benjamin über Karl Kraus. In: Sinn und Form 1991, S. 104–115. – Christian Schulte: Ursprung ist das Ziel. Walter Benjamin über Karl Kraus. Würzburg: Königshausen und Neumann 2003. Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S.105. Ebd., S. 136f. Ebd., S. 105.

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Helmut Arntzen

erhebliches Schwanken im Urteil über Kraus, das aber ebenso in den Urteilen bspw. über Hofmannsthal und Thomas Mann festzustellen ist. 1928 publiziert Benjamin im Rahmen des Bandes »Einbahnstraße« den Text »Kriegerdenkmal«, unter welchem Titel »Karl Kraus« steht.4 (Dieses »Denkbild« wird übrigens schon in einem Brief an Jula Radt vom April 1926 erwähnt.) Im gleichen Jahr erscheint gewissermaßen als Nachtrag zu »Kriegerdenkmal« der argumentativere, aber ebenfalls kurze Text »Karl Kraus«, veröffentlicht in der holländischen Zeitschrift »i 10«.5 Daneben gibt es in dieser Zeit zwei Zeitungsberichte über eine Offenbach-Lesung von Kraus 1928 und über Wedekind und Kraus in der Volksbühne Berlin aus dem Jahr 1929. Unmittelbar vor »Kriegerdenkmal« stehen drei Miniaturen unter dem Titel »Halteplatz für nicht mehr als drei Droschken«, deren erste so lautet: »Ich stand an einer Stelle zehn Minuten und wartete auf einen Omnibus: »L’Intran…Paris Soir…La Liberté«, rief hinter mir ununterbrochen mit unverändertem Tonfall eine Zeitungsfrau. »L’Intran…Paris Soir…La Liberté« – – eine Zuchthauszelle von dreieckigem Grundriß. Ich sah vor mir, wie leer es in den Winkeln aussah.«6 Hatte sich Benjamin dabei nicht der kurzen Szene im fünften Akt der »Letzten Tage der Menschheit« erinnert, die vor dem langen Monolog des Nörglers und der den Akt abschließenden Gastmahl-Szene steht? Sie hört sich so an: Eine menschenleere Gasse. Es dunkelt. Plötzlich stürzen von allen Seiten Gestalten herbei, jede mit einem Stoß bedruckten Papiers, atemlos, Korybanten und Mänaden, rasen die Gasse auf und ab, toben, scheinen einen Mord auszurufen. Die Schreie sind unverständlich. Manche scheinen die Meldung förmlich hervorzustöhenen. Es klingt, als würde das Weh der Menschheit aus einem tiefen Ziehbrunnen geschöpft. – asgabee –! strasgabää –! xstrasgawee –! Peidee Perichtee –! Brichtee –! strausgabee –! Extraskawee –! richtee –!eestrabee –! abee –! bee –! (Sie verschwinden. Die Gasse ist leer.)7

Die Zeitungsausrufe sind zunächst das Gemeinsame beider Texte. Dann erscheint einerseits die »Zuchthauszelle von dreieckigem Grundriß«, andererseits das »Weh der Menschheit« als Analogie. Vor allem aber werden die beiden kurzen Texte von dem Wort »leer« bestimmt, das die Situation in Bezug auf die Zeitungsausrufe in beiden Texten charakterisiert. Das Denkbild »Kriegerdenkmal« fordert »Schweigen« beim »Kriegstanz« des Karl Kraus vor dem »Grabgewölbe der deutschen Sprache«, verändert also bereits die Vorstellung »Kriegerdenkmal«. »Er, der ›nur einer von den Epigo4 5 6 7

Walter Benjamin: Kriegerdenkmal. In: Walter Benjamin. Schriften. Bd 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1955, S. 553f. Walter Benjamin: Karl Kraus. In: Gesammelte Schriften. Bd II,2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 624f. Benjamin, Schriften (wie Anm. 4), S. 552f. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. In: Schriften. Bd 10. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 669f.

Walter Benjamin denkt über Karl Kraus nach

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nen [ist], die in dem alten Haus der Sprache wohnen‹, ist zum Beschließer ihrer Gruft geworden.« Er schöpfe, wird hier die entsprechende Stelle aus der Krausschen Szene variiert, »aus dem Tränenmeere seiner Mitwelt«. Ihm gebe »eine abgeschiedene Sprache selbst die Worte ein«. »Jedweder Laut ist unvergleichlich echt, aber sie alle lassen ratlos wie Geisterrede«. »Blind wie die Manen ruft die Sprache ihn zur Rache auf.«8 Und so fort. Hier schon wird die Sprache metaphorisch beschworen, und zwar als diejenige, der allein Kraus, der Krieger, und zwar als abgeschiedener verbunden ist. Darin nimmt Benjamin den Vers von 1933 aus Kraus’ letztem Gedicht geradezu vorweg: »Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.« Argumentativer wie gesagt ist der zweite kurze Text, der allein »Karl Kraus« überschrieben ist und nach Benjamins eigener Bestimmung in den Zusammenhang der »Einbahnstraße« gehört. Er beginnt: »In ihm ereignet sich der großartigste Durchbruch des halachischen Schrifttums mitten durch das Massiv der deutschen Sprache.«9 Es geht darin sogleich um Sprache als deutsche Sprache, die zur jüdischen Religionsgesetzgebung, eben der halachischen, in Beziehung gesetzt wird. Davon hatte Scholem mehrfach zu Benjamin gesprochen. Fortgeführt wird dieser Gedanke in eine Perspektive, die sich auch im Kraus-Essay findet, nämlich dass Sprache und Sache, als Einheit verstanden, für Kraus in die Sphäre des Rechts gehören. Über die Entstehung des Essays, der größten und bedeutsamsten Arbeit von Benjamin über Kraus, geben die Herausgeber der Benjamin-Ausgabe im Bande II,3 Bericht. Am 4. Oktober 1930 meldete er Scholem, dass die KrausArbeit »langsam zum Neun-Monats-Kind« sich auswachse. Aber erst am 5. Februar 1931 konnte er die Vollendung des Essays anzeigen, den er Scholem gleichzeitig zu schicken versprach.10 Er wurde, erstaunlich genug, in vier Teilen von der »Frankfurter Zeitung« am 10., 14., 17. und 18. März 1931 publiziert. Erstaunlich darum, weil darin ganz im Sinne von Karl Kraus im Zusammenhang mit der Sprachthematik höchst Kritisches zur Presse gesagt wird. Benjamin selbst hatte vorher und zur Zeit der Publikation des Essays auch andere Erfahrungen mit der Presse gemacht. So schrieb er an Alfred Cohn schon am 27. März 1928: »Das Ergebnis eines Vormittags war die Erfahrung, daß ein Referat über diesen Vortrag [nämlich eine Offenbach-Lesung von Kraus] nirgends unterzubringen war«.11 Zwar konnte er seine »Notiz« später noch in Willy Haas’ »Literarischer Welt« ›unterbringen‹, aber dort wurde ihm der Name »Kerr« herauszensuriert. Ganz ähnlich war es dann mit einem Stück 8 9 10 11

Benjamin, Schriften (wie Anm. 4), S. 553f. Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd II,2 (wie Anm. 5), S. 624. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd II,3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 1080f. Walter Benjamin: Briefe. Bd 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966, S. 466.

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aus dem Essay, das die »Blätter der Staatsoper und der Städtischen Oper« im März 1931 brachten. In ihm war wieder der Name »Kerr« ausgespart, der erst nach einer Bemerkung von Kraus in der »Fackel« im Maiheft der Blätter sozusagen nachgetragen wurde.12 Der Essay »Karl Kraus«13 enthält drei Abschnitte, die mit »Allmensch«, »Dämon« und »Unmensch« überschrieben sind. Damit wird jeweils ein Part eines schwierigen und zum Teil esoterischen Textes eingeleitet, ohne dass diese Überschriften einen auch nur annähernd klaren Aufschluss über das unter ihrem Namen Erscheinende gäben. Aus den Paralipomena zum Essay erfahren wir erst, dass »Allmensch« mit dem »Bildungshumanismus« verbunden wird,14 was aber nur bis zu einem gewissen Grade gilt. Sicher spielt die Kategorie »Allmensch« auch eine Rolle im Zusammenhang mit expressionistischen Vorstellungen, die im »Allmenschen« den Menschen sahen, der sich zu allen hingezogen, mit allen verbunden fühlt. »Dämon« wird mit den Vorstellungen der Vorwelt und des Mythischen, mit der Eitelkeit und vor allem mit der Zweideutigkeit verknüpft. Der »Unmensch« schließlich ist für Benjamin nicht der Untermensch im bürgerlichen Sinne noch auch der »Übermensch« Nietzsches, sondern einer, der sich im Engel als Angelus Novus erfüllt. Wir stehen also vor drei Kategorien, die uns kaum Argumentationsangebote machen und sind damit schon dem Darstellungsverfahren Benjamins auf der Spur. Denn Benjamin argumentiert nicht, sondern er schlägt einen Begriff, nein ein Wort, oft eine Metapher als Leuchtstab in ein Areal ein, das von diesem aus perspektiviert wird, was keineswegs Einheitlichkeit produziert, sondern eine Vielfalt, die allein durch die ›Wörtlichkeit‹ und die Metaphorik des verbalen Leuchtstabs als wechselseitige Beziehung gelten kann. Benjamin geht im ersten Abschnitt seines Essays, unter dem Wort »Allmensch«, vom Unterschied der »Zeitung« bei Kraus und in der öffentlichen Gegenwart aus. (Wir werden uns bei der Betrachtung des Essays vor allem der Sprach- und Zeitungsthematik und ihrem Zusammenhang widmen.) »Alte Stiche haben den Boten, der schreiend, mit gesträubten Haaren, ein Blatt in seinen Händen schwingend, herbeieilt, ein Blatt, das voll von Krieg und Pestilenz, von Mordgeschrei und Weh, von Feuer- und Wassersnot, allerorten die ›Neueste Zeitung‹ verbreitet. Eine Zeitung in solchem Sinn, in der Bedeutung, die das Wort bei Shakespeare hat, ist die ›Fackel‹.« (334) Die Zeitung im heutigen Sinn dagegen ist die der »Öffentlichen Meinung«, welcher Name Kraus schon »ein Greuel« (335)sei. Hier geht es weniger, nein gar nicht um den Gegensatz von Altertümlichkeit und Modernität als vielmehr um die sprachlichen Unterschiede, die einerseits im Beschreien des Himmelschreienden, nämlich von »Krieg und Pestilenz«, 12 13 14

Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd II,3 (wie Anm. 10), S. 1081f. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd II,1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 334–367. Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd II,3 (wie Anm. 10), S. 1102.

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»Mordgeschrei und Weh«, »Feuer- und Wassersnot« aufgerufen werden als den schrecklichen, ursprünglichen und nie an ihr Ende kommenden Zuständen der Welt, die des Boten bedürfen, und von denen es am Ende des Abschnitts heißt, dass die »ewig neue ›Zeitung‹« »von der Geschichte der Schöpfung« melde: »die ewig neue, die unausgesetzte Klage.« (345) »Öffentliche Meinung« andererseits behaupte das, was als Meinung »Privatsache« (335) sei, als Hauptsache. Sie vernichte täglich die richtende Funktion der Öffentlichkeit, ohne die diese gar keine Funktion habe. Die Presse suggeriere der Öffentlichkeit »die Haltung des Unverantwortlichen, Uninformierten« (335). Sie tue das mit Hilfe der »immer gleichen Sensationen«, mit denen sie »ihrem Publikum« diene (345). Der Abschnitt ist also bestimmt vom unterschiedlichen Gebrauch, den Kraus und die Presse von einem Wort unter einem bestimmten Aspekt machen. Daraus folgert, dass Benjamin zunächst von der »Phrase«spricht, die für Kraus »der sprachliche Ausdruck der Willkür« sei, »mit der die Aktualität im Journalismus sich zur Herrschaft über die Dinge« aufwerfe (335). Dies wird alsbald mit der Ornamentik von Bauwerken verbunden, die Kraus’ Freund, der Architekt Adolf Loos, in einem Artikel, der schon 1908 in der »Frankfurter Zeitung« erschien, als »Verbrechen« benannt hatte. Ihm sei es um die Trennung von »Kunstwerk und Gebrauchsgegenstand« (336) gegangen, die der »Ornamentiker« ebenso verschleiere, wie der Schmock »die Grenzen zwischen Journalismus und Dichtung« verschleiere, und zwar im Feuilleton, dessen Schöpfer, nämlich Heine, Kraus so attackiert habe wie den »Verräter des Aphorismus an die Impression«, nämlich Nietzsche (336). Kraus bestimme Ornamentik wie Feuilleton und Impression als Ausdrucksformen der Unechtheit. Von da schlägt Benjamin eine Volte zur »Phrase« als »Ausgeburt der Technik« (336), die er unter materialistischer Perspektive weiterverfolgt. Der »Knoten« von Phrase und Technik werde bei Kraus gelöst – und hier schlägt Benjamin eine Volte rückwärts – durch den »Ausdruck der veränderten Funktion der Sprache in der hochkapitalistischen Welt« (337), die als »Phrase« zum »Warenzeichen« werde, »das den Gedanken verkehrsfähig« mache (337). Doch sind Produktionsveränderung qua Technik und Funktionsveränderung der Sprache keineswegs zwei Seiten desselben. Von letzterer und der Presse handelt Kraus’ Rede zu Kriegsbeginn »In dieser großen Zeit«, deren Anfang Benjamin ausführlich zitiert bis zum Punkt der Aufforderung von Kraus zu schweigen Benjamin aber spricht vom »gewendete[n] Schweigen« von Kraus, »dem der Sturm der Ereignisse in seinen schwarzen Umhang« fahre, ihn aufwerfe »und das grelle Futter nach außen« kehre (338), eine der Stellen, wo aus einem eigentlichen Ausdruck ein metaphorischer wird, der als Leuchtstab in das Areal eingeschlagen wird, in dem es um das Kraussche Schreiben geht. Von dieser Auffassung von Schweigen springt Benjamin zur »Dreiheit: Schweigen, Wissen, Geistesgegenwart« (339), in der sich die Figur des Pole-

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mikers Kraus konstituiere. Er sehe diese Figur im Gegensatz zum »konstruktive[n], schöpferische[n] Takt« Johann Peter Hebels unter dem Gebot eines destruktiven und kritischen Takts, dem eine »unbekannte Konvention« entspräche, die wichtiger sei »als die anerkannte« (339). Deren Maßstab sei ein »theologischer«. Damit bekennt sich Benjamin auch zur Herkunft seines eigenen Denkens. Dieser theologische Maßstab gelte für Kraus gerade dort, wo es ihm um die Kreatur (aus Natur) gehe, gegen die die Menschheit »den kürzeren« ziehen werde. Geschichte dagegen sei ihm nur »die Einöde«. Er durchmesse diese Einöde »als Überläufer in das Lager der Kreatur« (341). Eben der Impetus für die Kreatur sei verwandt mit dem für »die Rechte der Nerven« des Privatmanns und damit für »das Privatleben gegen Moral und Begriffe« »in einer Gesellschaft, die die politische Durchleuchtung von Sexualität und Familie, von wirtschaftlicher und physischer Existenz unternommen« habe (342). Das sind Sätze, die auch für die heutige Situation geschrieben sein könnten. Aber wie Benjamin hier bei Kraus unter der Figur der Kreatur das Private vom Gesellschaftlichen trennt, so verbindet er beides wieder dialektisch, wenn er davon ausgeht, dass Kraus »sein eigenes Dasein zur öffentlichen Sache« mache und durch »Polemik« ausdrücke, durch die er »diskreditiert« werden solle. Solche Diskreditierung sei aber»ein Hauptinstrument der Korruption in unseren literarischen und politischen Verhältnissen« (342f.). Durch seine »polemische(n) Autorität« hebe Kraus »aus einem einzigen Satzstück, einem einzigen Worte, einer einzigen Intonation« »die Geisteswelt eines Autors« heraus (343). Von dieser Bestimmung der Autorität ist es wiederum nur ein Schritt zur Funktion der »Sprachlehre« von Kraus als »Vereinigung legislativer und exekutiver Gewalt«. »Autorität und Wort« (gilt nicht eher: Autorität qua Wort?) stehe gegen »Korruption und Magie« (344), die als »schwarze Magie« diejenige der Presse sei, in der sich »die Schändung, das Martyrium der Worte« (344) vollziehe. Doch sei »eine neue Blüte paradiesischer Allmenschlichkeit« »von einer ihm [Kraus] obsiegenden Macht« so wenig zu erwarten wie »eine Nachblüte goethescher oder claudiusscher Sprache« (344). Kraus gewinne in diesem Kampf nicht noch verliere er. Ihn bestimme allein die »ewig neue, die unausgesetzte Klage« (345). Der zweite Abschnitt, »Dämon« überschrieben, hat deutlich weniger mit dem Thema von Sprache und Zeitung zu tun als die anderen, obwohl auch in ihm zentrale Passagen zu diesem Thema zu finden sind. Doch ist er vor allem den Konstitutiva der Person von Karl Kraus gewidmet. »Dämon« wird in dreifacher Weise bestimmt: als Ausdruck der Vorwelt, als der der Eitelkeit, vor allem aber als Ausdruck von Zweideutigkeit. Das Vorweltliche, im Märchennamen »Rumpelstilzchen« (345), dessen Namen jedoch niemand kennt, ist rasch evident als Dämonisches, weniger schon Eitelkeit, für die Benjamin die huschenden, »unsteten Sätze(n)«, mit

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denen Kraus »das Podium einer Vorlesung« gewinne, stehen. Und ebenfalls ist die Preisgabe »sein[es] Leben[s] und sein[es] Leiden[s]« »mit allen Wunden, allen Blößen« (346) doch nur schwer als Ausdruck der Eitelkeit zu verstehen. Schon eher sind es die Zeichen des »Mimen«, der in der »Glosse nachmacht, in der Polemik Fratzen schneidet«, »sich festlich in den Vorlesungen von Dramen« »entfesselt« (347). In jenen hat sich Kraus selbst zur Eitelkeit bekannt. Aber gehört zu den Attributen des Dämons auch, dass Kraus wohl mit Recht nicht, wie Adolf Loos meinte, »an der Schwelle einer neuen Zeit« stehe, sondern an der des »Weltgericht[s]« (349)? Schließlich ist es wohl auch nichts Dämonisches, wenn Benjamin aus dem kurzen Text »Karl Kraus« wiederholt: »Sprache und Sache« spielten »für ihn« sich in »der Sphäre des Rechts« ab, seine »Sprachlehre« sei ein »Beitrag zur Sprachprozeßordnung« (349), ein Gedanke, der heutigen Linguisten bis hin zum Institut für deutsche Sprache völlig fremd ist, insofern es noch nie eine Sprachprozessordnung in Arbeit nahm, sondern immer nur an Amnestien und Absolutionen sich versucht, die aus der Gespürlosigkeit für die Postulate der Sprache entstehen. Auch hatte Benjamin selbst schon in einem Brief an Scholem vom 29. Dezember 1920 geschrieben, die »dämonische tiefere Hälfte seines [Kraus’] Lebens [sei] abgestorben, versteinert…«15 Zweideutigkeit sieht Benjamin bei Kraus am stärksten in dem Verhältnis von »Geist und Sexus«, die als getrennte »zu ihrer Sache« (350) nicht kommen könnten. Benjamin begreift jene in der Perspektive der Décadence und des l’art pour l’art, die im Dandy ihren »Ahnen in Baudelaire« haben (352). Aber was als Hinweis auf Zweideutigkeit Kritik bedeutet, wird alsbald in eine veränderte Perspektive gerückt, wenn es heißt: »Der Journalismus ist Verrat am Literatentum, am Geist, am Dämon. Das Geschwätz ist seine wahre Substanz und jedes Feuilleton stellt von neuem die unlösbare Frage nach dem Kräfteverhältnis von Dummheit und von Bosheit, deren Ausdruck es ist.« (352) Schwer zu sagen, wo hier die Position des Sprechers, eben Benjamins zu suchen ist. Scholem hatte wenige Tage nach dem Erscheinen des Essays, nämlich in einem Brief vom 30. März 1931, ihn einerseits einen »bewunderungswürdige[n] Essay« genannt, im selben Satz aber von »Selbstbetrug« gesprochen,16 der in der »verblüffende[n] Fremdheit und Beziehungslosigkeit […] zwischen [seinem] wirklichen und [seinem] vorgegebenen Denkverfahren« (526) liege. Benjamins »Einsichten« kämen ihm nicht »durch strenge Anwendung einer materialistischen Methode«, sondern durch »ein Spielen mit den Zweideutigkeiten und Interferenzerscheinungen dieser Methode« (526). Benjamins »eigene(n) und solide(n) Erkenntnisse« wüchsen aus »Metaphysik der Sprache«, 15 16

Benjamin, Briefe (wie Anm. 11), Bd 1, S. 251. Benjamin, Briefe (wie Anm. 11), Bd 2, S. 525f.

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»welche recht eigentlich das ist, womit du […] eine hochbedeutende Figur in der Geschichte kritischen Denkens sein könntest, der legitime Fortsetzer der fruchtbarsten und echtesten Traditionen eines Hamann und Humboldt«. Das jetzige Verfahren aber bringe »ein ganz fremdes […] Form-Element herein, das deiner Produktion in dieser Zeit den Stempel des Abenteuerlichen, Zweideutigen und Volteschlägerischen aufdrückt« (526). Scholem sah damit das Problem Benjamins schon früh, und zweimal fällt das Wort von der »Zweideutigkeit«, da ja beide, Schreiber und Adressat, wussten, welch kritische Qualität »Zweideutigkeit« in dem Abschnitt »Dämon« des Kraus-Essays hatte. Ungleich naiver zeigten sich da um 1970 die jugendlichen Helden als Zuhörer eines Vortrags von mir in Münster, die mir das Zitieren des, wie sie sagten, ›jungen Benjamin‹ verbieten wollten, da es doch allein um den marxistisch aufzubereitenden gehe. Wir deuteten bereits an, dass der Name »Unmensch« nicht im bürgerlichen Sinne (›Ich bin doch kein Unmensch‹) zu lesen ist, sondern vor allem als Hinweis auf den Gegensatz zum »Allmenschen« und damit auf den Repräsentanten des, so Benjamin, »realen Humanismus«, der erst jenseits des Menschen der Gegenwart und der Geschichte beginne. So eröffnet Benjamin diesen Abschnitt damit, dass er von der Satire und vom Satiriker spricht, den man in Kraus zum Wiener Satiriker gemacht habe, »um sein Werk dem großen Speicher literarischer Konsumgüter« (354) einzuverleiben. Es gehe aber bei Kraus um »den Satiriker echten Schlages«, der »von jenen Schreibern zu trennen« sei, »die aus dem Hohn ein Gewerbe gemacht« haben und dem »Publikum etwas zu lachen« geben wollen. Es ist nicht schwer, darin das, was heute in Deutschland Satire genannt wird, getroffen zu sehen, vor allem, wenn es heißt, dass jenes die Satire »einer Menschheit« sei, »der die Tränen ausgegangen sind, aber nicht das Gelächter« (354f.). Benjamin rechnet Kraus dem Typus des Satirikers zu, der unter dem Namen des »Menschenfresser[s]« »von der Zivilisation rezipiert« (355) worden sei und fügt dem sofort Beispiele des Motivs bei großen Satirikern (Swift, Bloy) hinzu. Der Satiriker ist Benjamin gerade als »Unmensch« der Repräsentant des »realen Menschentum[s]« (356), als dessen Ausdruck er die Offenbachsche Operette sieht, die offenbar nichts mit den Sentimentalzuckungen der sogenannten Wiener Operette zu tun hat. Sie ist wie der Satiriker im Kontext der Sprache zu verstehen. »Wie das Geschwätz die Knechtung der Sprache durch die Dummheit besiegelt, so die Operette die Verklärung der Dummheit durch die Musik.« (356) Wie kann das sein? Benjamin zitiert Kraus: »Und die unnachahmliche Doppelzüngigkeit dieser Musik, alles zugleich mit dem positiven und dem negativen Vorzeichen zu sagen…« (356) In dieser anarchischen Verbindung zeige sich »die einzig moralische, die einzig menschenwürdige Weltverfassung« (356). Doch gilt auch das Umgekehrte. Denn »das wahre Antlitz, vielmehr die wahre Maske des Satirikers« komme in der »Maske Timons, des Menschen-

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feindes« (357) bei Shakespeare zum Ausdruck. In ihm werde das »Zwischenoder Untermenschliche(s)« »von einem wahrhaft Unmenschlichen überwunden« (358), das Benjamin bei Kraus, des weiteren im Schauspieler und in Figuren Shakespeares zu erkennen glaubt. Und damit kommt Benjamin abermals zur Sprache als Sprechen, insofern darin bei Kraus sich zeige, wohin der Name des Unmenschen deute. Er sucht es klar zu machen an dem Gegenüber von Kraus und George, das jener selbst erst spät erfasst habe. George vergotte den Leib und verleibe den Gott und Sprache sei ihm nur »die Jakobsleiter mit den zehntausend Wortsprossen« (359), für Kraus aber erscheine sie zwischen dem Summen und dem Pathos im Vortragssaal als »Heiligung des Namens«. Die »Heiligung des Namens« deute auf den »Ursprung«, für den die Welt, wie Viertel schreibe, »ein Irrweg, Abweg, Umweg zum Paradiese zurück« sei. Und so sei »die Satire – ein Umweg zum Gedicht.« (360) Im Gedicht gehe es um den Reim. »Am Reime erkennt das Kind, daß es auf den Kamm der Sprache gelangt ist, wo es das Rauschen aller Quellen im Ursprung vernimmt« (361). Nun werde »Sprache vom Geist geschieden« und an den Eros gebunden. Es gehe um »platonische Sprachliebe« (362). Als Name und Reim zeige sich die Sprache, die kindlich auf den Ursprung hinausgehe, aber satirisch auf Zerstörung des Gegenwärtigen. Die Zerstörung bedeute Reinigung, die erst das wiederherstellt, herstellt, was im Ursprung war. Sie liefert »das Gegenstück zum Dilettanten«, »der im Schaffen schwelgt«. »Dessen Werk ist harmlos und rein; das Meisterliche [dagegen] verzehrend und reinigend« (366). Nun erst versteht man das Wort vom »Unmenschen« ganz: »Als ein Geschöpf aus Kind und Menschenfresser« erscheint Kraus für Benjamin: »kein neuer Mensch; ein Unmensch; ein neuer Engel«. Denn dies ist der Zielpunkt, um den es Benjamin bei Kraus geht. Er sieht in ihm denjenigen, der wie auf dem Blatt von Paul Klee, das Benjamin besaß, als Angelus, als Angelus Novus figuriert: »Angelus – das ist der Bote der alten Stiche« (367). Man sieht, dass Benjamin Kraus als eine fremde und gleichzeitig als eine notwendige und zentrale Gestalt der Epoche darstellt, um die er sich seit 1916 etwa immer intensiver bemüht hatte. Doch hatte er sich auch seit 1929 mit Brecht, den Kraus als Dichter schätzte, verbunden und war schon seit 1924/25, nicht zuletzt durch die Beziehung zu Asja Lacis, die er mit seinem Moskauer Aufenthalt von 1926 intensivieren wollte, in das Nachdenken über den Kommunismus ›verfallen‹, wie es charakteristisch für sehr viele Intellektuelle der zwanziger und dreißiger Jahre war. Die warnten vor dem sogenannten Faschismus und kümmerten sich nicht um Stalin. In seinem Kraus-Essay versucht Benjamin, wie wir mittels einiger Hinweise andeuteten, einen Ausgleich zwischen seinem jüdisch-kabbalistischen Sprachdenken und dem historischen Materialismus zu erreichen, was von Scholem als Zweideutigkeit kritisiert wurde. Kraus hatte alle Veröffentlichungen von Benjamin über ihn ebenso wie alle anderen auch in der »Fackel« verzeichnet. Doch einzig in der Nummer von

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»Mitte Mai 1931«, also zwei Monate nach der Publikation des Essays von Benjamin in der »Frankfurter Zeitung«, bezog er sich ausführlicher auf diesen, ohne ihn zu nennen, und zwar sowohl auf dessen Essay wie auch auf den Teilabdruck daraus im Programmheft der Staatsoper, der den Namen Kerr ausließ. Den Essay nennt Kraus eine Arbeit, »die sicherlich gut gemeint und wohl auch gut gedacht ist«, die er aber nicht recht verstanden habe. In Klammern sagt er: »Vielleicht ist es Psychoanalyse«. Sein Vortrag von »Pariser Leben« sei »angeblich von wilden Gebärden des Marktschreiers begleitet« gewesen. Die Würdigung behandle seinen Vortrag »mit abgründigem Feuilletonismus« (Die Fackel 852–856 [1931], S. 27). Kraus erkennt also die Bedeutung des Essays, indem er zunächst dessen Rezeption akzeptiert. Doch begreift er die Metaphorik Benjamins nicht, vielmehr moquiert er sich über die Rede von den »wilden Gebärden des Marktschreiers« und nennt diese Darstellungsweise »abgründige[n] Feuilletonismus«, was, wie wir hinzufügen, als Überspielen der Differenz von jüdischem Sprachdenken und historischem Materialismus nicht falsch ist. So bedauerlich dieses Referat von Kraus z. T. war, dem es im übrigen mehr um die Auslassung des Namens »Kerr« in dem Nachdruck des Programmheftes ging, viel trauriger ist der Abbruch des öffentlichen Nachdenkens über Karl Kraus auf Seiten Benjamins, wenn er im Juni 1931 an Scholem, der ihn über die Äußerungen von Kraus aufgeklärt hatte, schreibt: »– die Reaktion von Kraus konnte in einem Wort vernunftgemäß gar nicht anders erwartet werden, als sie ausgefallen ist; und ich hoffe nur [,]daß auch die meine noch in den Bereich des vernunftmäßig Vorherzusagenden fällt: daß ich nämlich nie wieder über ihn schreiben werde«.17 Im Blick auf das »Unüberholbare[n]« Benjamins zu Kraus könne dabei nicht von »Beleidigtsein« gesprochen werden, sagen die Herausgeber der Benjamin-Ausgabe (1084). Da bin ich nicht so sicher, zumal hinsichtlich der brieflichen Äußerungen von Benjamin nach dem Zeitpunkt des Briefes vom Juni 1931. Am 5. März 1934 schreibt Benjamin an Brecht aus Paris, dass er Vorträge über »L’avantgarde allemande« vorbereite, wobei unter 4 »journalisme« genannt wird und als Gewährsmann dafür in Klammern Karl Kraus.18 Das widerlegt zunächst Benjamins Dictum, er werde nie wieder über Kraus schreiben. Vor allem aber wirkt merkwürdig, dass ein so reflektierter Geist wie Benjamin, der Wichtigstes über Kraus geschrieben hat, ihn jetzt zum Repräsentanten des (fortschrittlichen) Journalismus machen will. Wohl Ende Juli 1934 schreibt Benjamin an Werner Kraft nach scharfen Worten über Starhemberg, dessen Sprache Kraus gelobt hatte: Es gingen »über die Stellung von Kraus verbürgte[,] aber doch fast unglaubliche Nachrichten in dem Sinne um, daß er die Politik von Dollfuß als das kleinere Übel akzeptiert habe«.19 Das ist 17 18 19

Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd II,3 (wie Anm. 10), S. 1084. Benjamin, Briefe (wie Anm. 11), Bd 2, S. 602f. Ebd., S. 616.

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kaum als eigenes Nachdenken über Kraus zu bezeichnen, sondern ist mehr die zu dieser Zeit übliche Denunziation von Kraus durch die SPÖ einerseits und durch die Emigranten-Presse andererseits. Denn nur zu bequem war die Charakterisierung der autoritären Dollfuß-Regierung als »Austrofaschismus« oder »Klerikofaschismus«, Begriffe, die sich auch die Kommunisten gern zu eigen machten. Zu dieser Zeit war aber Dollfuß der einzige, der unter Europas Staatsmännern den Nazis entgegentrat. »Alles, nur nicht Hitler«, akzeptierte Kraus als Ruf, während sich die linken Parteien mit dem »Faschismus« beschäftigten, dem sie eben den »Austrofaschismus« an die Seite stellten. Dies ließ Kraus noch in der letzten Nummer der »Fackel« vom August 1935 nicht zu, wo er die Rede vom »Faschismus« als Ausrede verwarf: »…denn so nennen sie [die Antifaschisten] Gehirnpest, Rassenwahn, Religion des Raubes, Heuchelmord« (Die Fackel 917–922 [Febr. 1936], S. 102). Und der Name Dollfuß fällt lobend im »Vorspruch und Nachruf« bei einer Lesung des »Macbeth« am 9. November 1934, einem ominösen Datum. Dabei erinnert Kraus noch einmal an das »stolz bekannte Nichts, das mir zu Hitler einfiel«. Es schlage »alles, was den aktiven Freiheitskämpfern nicht eingefallen ist«. Und er rühmte den »großen, kleinen, armen Schatten«[von Dollfuß], der ja unter den Staatsmännern Europas der einzige Nichtdeutsche war, der von den Nazis bestialisch ermordet wurde (Die Fackel 912–915 [Ende August 1935], S. 70). Aber diese ›Antifaschisten‹ fragen den Ermordeten anlässlich seiner Ermordung nach dem Parteibuch. Das Nachdenken Benjamins über Karl Kraus hätte einen besseren Abschluss verdient als die ›antifaschistische‹ Bemerkung aus einem Brief Benjamins an Scholem vom 15. September 1934: »Hier [in Kraus] ist wirklich ein neuer Timon aufgestanden, der den Erwerb seines Lebens hohnlachend unter die falschen Freunde verteilt«.20 Aber es gibt einen besseren im P. S. eines Briefes an Scholem aus Paris vom 4. April 1937, also fast 10 Monate nach dem Tode von Kraus, in dem es von einer anderen Timon-Apostrophierung aus heißt: »Die letzten Lebenswochen« von Kraus seien »dieses großen Lebens würdig; und nachdem man von ihnen vernommen hat, erscheint einem das Ende Timons von Athen wie eine Dichtung von Frieda Schanz, verglichen mit dem shakespearischen Weltgeist [,] der das von Kraus dichtete.«21

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Ebd., S. 620. Ebd., S. 730.

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Between German and Hebrew: Language and Crisis in the Writings of Gershom Scholem, Werner Kraft and Ludwig Strauss The following paper, which is based on my ongoing doctoral research,1 explores the ways in which the German-Jewish writers Gershom Scholem, Werner Kraft and Ludwig Strauss come to terms with the linguistic dilemmas and opportunities which they encountered due to their German-Jewish »cultural location« and their linguistic dislocation following emigration and exile.2 I wish to demonstrate, more specifically, that they offer three uniquely individual solutions: Hebraist lamentation, German steadfastness and bi-lingual resourcefulness.

The »Crisis of Language« and Linguistic Dislocation In my research I assume that the necessary background to understanding these approaches to language are the »crisis of language« and linguistic dislocation. Moreover, it is necessary to consider the correlation between a metaphorical understanding of the »language crisis« – as it appears in modern European writing and thought – and the underlying socio-historical realities.3 A similar 1

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The dissertation is being written at the Department of German, Faculty of Medieval and Modern Languages and Literature at the University of Oxford. The Art and Humanities Research Council in the UK as well as the Lady Davis Trust and the Franz Rosenzweig Minerva Research Centre at the Hebrew University in Jerusalem have supported my ongoing research. Robert Alter: Necessary Angels. Tradition and Modernity in Kafka, Benjamin and Scholem. Cambridge/MA: Harvard University Press 1991; Paul Mendes-Flohr: Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity. Detroit: Wayne State University Press 1991; George Steiner: Extraterritorial. Papers on Literature and the Language Revolution. 5th edition. London: Faber & Faber 1972. See, for example, Richard Sheppard: The Crisis of Language. In: Modernism. A Guide to European Literature1890–1930. Ed. by Malcolm Bradbury and James McFarlane. London: Penguin Books 1991, pp. 323–336; Dirk Göttsche: Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa. Frankfurt a. M.: Athenaeum 1987; Allan Janik/Stephen Toulmin: Wittgenstein’s Vienna. New York: Simon and Schuster 1973; Jochem Hennigfeld: Die Sprachphilosophie des 20. Jahrhundert. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1982; J. P. Stern: Words Are Also Deeds. In: The Heart of Europe. Essays on Literature and Ideology. Oxford, Cambridge/MA: Blackwell 1992, pp. 44–60.

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correlation is assumed when tracing the definition of the German-Jewish writer as a »modernist par excellence« to his unique »cultural location«. Deeply embedded in and separated from German culture, the German-Jewish writer acutely experiences the combined paradoxes of tradition and language in which he lives and creates. Paradigmatic, according to Robert Alter, is the triumvirate of Gershom Scholem, Walter Benjamin and Franz Kafka.4 I have chosen to examine the interrelationship between linguistic crisis and historical reality in the alternative constellation of Gershom Scholem, Werner Kraft and Ludwig Strauss, who were born in the 1890s and immigrated to mandate Palestine between 1923 and 1935. Whether voluntary or imposed, dislocation would have amplified the linguistic volatility in which these writers created. The »exile« from the German mother tongue and the immediate confrontation with Hebrew – sacred Ursprache and revived Zionist vernacular – were critical and existential. The following questions arise: Did Kraft and Strauss emigrate as »language mystics«, like Scholem, or as acute »sceptics«? How did dislocation alter these attitudes? Did it result in linguistic paralysis or in a burst of creativity? Was German »reterritorialised«?5 Did it replace Hebrew as the »sacred shrine« of the (Jewish) exilic imagination?6 How did the Zionist rhetoric of »return« and »revival« affect approaches to language?7 4 5

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Alter, Necessary Angels (see note 2). See also Mendes-Flohr, Divided Passions (see note 2) and George Steiner, Extraterritorial (see note 2). Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Toward a Minor Literatur. Translated by Dana Polan. Minneapolis: University of Minnesota Press 1986 (Theory and History of Literature; 30); Edwig Brender: »Neither as a Cowboy nor as a Goldhunter, but Simply as a Refugee«: Franz Werfel’s Debate with his American Publishers, Translators and Adapters. In: Exile and Otherness. New Approaches to the Experience of the Nazi Refugees. Ed. by Alexander Stephan. Oxford: Peter Lang 2005 (Exile Studies; 11), pp. 97–119. Sidra DeKoven Ezrahi: When Exiles Return. Jerusalem as Topos of the Mind and Soil. In: Placeless Topographies. Jewish Perspectives on the Literature of Exile. Ed. by Bernhard Greiner. Tübingen: Max Niemeyer 2003 (Conditio Judaica; 43), pp. 39–52. On literature in exile see, for example, Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London, New York: Routledge 1994; Edward W. Said: Reflections on Exile and Other Literary and Cultural Essays. London: Granta Books 2001; Stephan, Exile and Otherness (see note 5). On German-Jewish immigration to Palestine see, for example, Die Jeckes. Ed. by Gisela Dachs. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2005 (Jüdischer Almanach des Leo Baeck Instituts); Adi Gordon: In Palestine. In a Foreign Land. The Orient: A German-Language Weekely Between German Exile and Aliyah [Hebrew]. Jerusalem: The Hebrew University Magnes Press 2004; Jürgen Nieraad: Deutschsprachige Literatur in Palästina und Israel. In: Exilforschung 5 (1987), pp. 90–111; Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert. Ed. by Itta Shedlezky and Hans Otto Horch. Tübingen: Max Niemeyer 1993; Zweimal Heimat. Die Jeckes zwischen Mitteleuropa and Nahost. Ed. by Moshe Zimmermann and Yotam Hotam. Translated by Elisheva Moatti. Frankfurt a. M.: Beerenverlag 2005.

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My findings so far reveal that despite their seemingly contrary loyalties – to Hebrew and to German respectively – Gershom Scholem and Werner Kraft shared the essential belief in the indicative and constitutive forces of language. Moreover, their linguistic dislocation following settlement in Jerusalem did not result in mute resignation but in an attempt to counteract the »fall of language« and the withering of tradition, whether Hebrew or German. I now turn to examine these two cases in more detail before discussing my initial findings on Ludwig Strauss.

Gershom Scholem: Language between Lamentation and Retaliation8 In his early writings Scholem advances from the concept of »language lamenting itself« (Germany, 1917–18) to the related idea of »language revenging itself« (Jerusalem, 1926). Both ideas are concerned with the »fall of language«, where it is reduced to a mere instrument of communication. This places Scholem in the context of the modernist »crisis of language«.9 I wish to argue here that Scholem’s early linguistic speculations, understood as a »work of mourning«,10 are not fundamentally transformed due to his linguistic dislocation. Rather, the conceptual shift from the »lamentation« (Germany) to the »retaliation« (Jerusalem) of language illustrates the amplification of an already developed sense of linguistic crisis. These early linguistic ideas are based on Scholem’s allegiance to Hebrew as sacred Ursprache, on the one hand, and his encounter with the modern Hebrew vernacular, on the other. In Germany Scholem studied Hebrew mainly through traditional Jewish texts and with an awareness of the dialectic between language and tradition, mediated partly by the writings of Franz Josef Molitor. As a result he attacked his German-Jewish and Zionist peers for viewing Hebrew as a tool in the service of limited communal and nationalist aims, increasingly alienated from tradition. A crucial symptom of this was, in Scholem’s understanding, the loss of lament in language. In applauding the silent language of lamentation in his 1917–18 essay »Über Klage und Klagelied« and in compos8

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See my article, which provides a brief account of the argument to follow: Lina Barouch: Sprache zwischen Klage und Rache. Gershom Scholems frühe Schriften zur Sprache (1917–1926). In: Münchener Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 2 (2007), pp. 48–56. For a detailed analysis of Scholem’s writings on the Hebrew kina (lamentation) and its language see Lina Barouch: Lamenting Language itself. Gershom Scholem on the Silent Language of Lamentation. In: New German Critique 37, 3/111 (2010), pp. 1–26. Sheppard, The Crisis of Language (see note 3). Itta Shedletzky: In Search of a Lost Judaism [Hebrew]. In: Zmanim 61 (1997–98), pp. 78–85.

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ing polemical pieces against the instrumentalisation of Hebrew, Scholem »laments language itself«.11 Here I would like to provide further details. »Über Klage und Klagelied« was written in 1917 as an epilogue to Scholem’s translations of the biblical lamentations. Scholem understood this piece as a continuation to Walter Benjamin’s 1916 Sprachbrief »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«. The idea of the fall of language as well as the paradigmatic dichotomy between the spoken and unspoken are indeed central to both essays. Scholem’s philosophical-logical and mathematic studies during this period also feed into the 1917 essay. Yet as Itta Shedletzky has shown what was decisive for Scholem’s intensive dealing with the subject of lament in general was his mourning over the loss of Jewish tradition and the attempt to recover it through a type of avodat evel or Trauerarbeit. »Über Klage und Klagelied« should therefore be read not only as a discursive text but much more as an inscription into tradition, thus hinting at a performative aspect of the essay.12 Scholem develops a consciously paradoxical theory of the language of lamentation by defining it as the silent and destructive »language of the border« or »Sprache der Grenze«. This language forever oscillates between the linguistic fields of the revealed-spoken and the silent-symbolic. The tension between revelation and secret is central to Scholem’s thinking on tradition. In his early writings he refers to Franz Josef Molitor’s 1827 study »Philosophie der Geschichte oder über die Tradition« in explaining the transmission of traditions and the handing down of the lamentation through the interaction between esoteric and exoteric tradition. This fascination with the practices of transmission is reflected in the performative aspect of the 1917 essay on the »Klagelied«. More specifically I would argue that Scholem here experiments with apophasis, a discourse that attempts – in the wider context of negative theology – to define the inexpressible or the transcendental in language. In Scholem’s polemical writings of the same period the centrality of lament was, as mentioned earlier, reflected in his attack on various Zionist and Jewish groupings in Germany. The »Geschwätz« of, among others, the Jüdische Jugendbewegung, the Jewish Lehrhausbewegung and Zionist mouthpieces such as Hapoel Hazair’s »Die Arbeit« meant that they abused Hebrew for their narrow political aims, a fact which prevented them both from »being silent in Hebrew« and from lamenting. Another example is the Zionist publication »Buch Jiskor« in whose German translation Scholem participated. Scholem 11

12

Gershom Scholem: Über Klage und Klagelied. In: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. Ed. by Karlfried Gründer et al. 2 vols. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 2000. Vol. II: 1917–1923, pp. 128–133. Open letters appear in the journals (ibid.) and in Gershom Scholem: Briefe. Ed. by Itta Shedletzky. 3 vols. Munich: C. H. Beck 1994–1999. Daniel Weidner claims this for Scholem’s writings in general. See Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben. Munich: Wilhelm Fink 2003.

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writes that this book, which wished to commemorate Jewish men who had fallen in Palestine, ironically resulted in a propaganda language and the mystification of violence instead of in lamentation. Scholem’s »work of mourning« continues after his emigration in 1923. Scholem’s stark, disillusioning encounter with the spoken Hebrew of the yishuv results in a series of texts that express his horror and alarm in a pathosfilled style, apocalyptic vocabulary and an admonishing message.13 Alongside the well-known letter to Franz Rosenzweig from 1926 titled »Bekenntnis über unsere Sprache« one can find shorter pieces from the 1920s some of which are published in his diaries and others which are kept in the Scholem archives. In these pieces the Hebrew language oscillates between victory and catastrophe. Or, in other words, between the Zionist Hebrew vernacular of a limited political victory and the unredeemed, revengeful Hebrew of cosmic apocalypse. Scholem’s doomsday prophecies are, however, partly alleviated already in the late 1920s by his high estimation of the Hebrew prose written by S. Y. Agnon, which Scholem locates on the critical cross-roads between tradition and modernity, apocalypse and redemption.

Werner Kraft: A German Ark in Jerusalem Whereas Scholem clearly emerges as protector of the Hebrew language,14 Kraft (born in Braunschweig in 1896 and died in Jerusalem in 1991) envisaged himself as keeper of the German Geist and language. The experiences of flight and exile after 1933 confirmed Kraft’s belief in the cultural and linguistic missions of writers like Rudolf Borchardt and Karl Kraus whose works he admired from an early age. In these figures Kraft encountered not only doomsday prophecies regarding the fallen state of the German culture and language but also ambitious restorative experiments such as Borchardt’s archaising Dante translation and Kraus’s satire or Sprachlehre.15 Their ideas as well as the writings of and personal relationships with other figures like Walter Benjamin and Else Lasker-Schüler both inspired Kraft’s own survival strategies in exile and served as his primary objects of literary study during World War II and its aftermath. The result was a series of post-war publications in various 13

14 15

This includes unpublished pieces kept at the Scholem Archive, National Library, Jerusalem. Some pieces are published in Scholem, Tagebücher (see note 11). His paradigmatic and often-cited 1926 letter to Franz Rosenzweig is reprinted in Stéphane Mosès: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1994, pp. 215–217. Itta Shedletzky: Wächter des Worts. In: FAZ, 7.3. 2007. Rudolf Borchardt: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Ed. by Marie Luise Borchardt et al. 12 vols. Stuttgart: Klett and Klett-Cotta 1955–2003; Karl Kraus: Schriften. Ed. by Christian Wagenknecht. 20 vols. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987–1994.

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German-speaking countries that ranged from monographs on, among others, Borchardt, Kraus, Kafka, Carl Gustav Jochmann to essay collections on a wide range of German literary topics. It cannot be argued that Kraft formulated any original ideas on language as did Scholem. His contribution lies, rather, in the recognition of and emphasis on the very discussion of the crisis of language as a practice of salvation and recovery. Exposed as he still felt to the danger of a »great flood« Kraft found solace in the hope that »möge in der Arche getrost leidenschaftlich über die Sprachkrise diskutiert werden, wenn nur dabei die Sprache nicht vergessen wird, die Muttersprache!«16 Taken from a 1975 lecture held in Heidelberg these lines help to understand Kraft’s exilic project: I would like to argue that he created for himself a safe »German ark«, an isolated island within the volatile refuge of Jerusalem, in which he indeed discussed the literary works and linguistic approaches of the literary figures mentioned above.17 Using once again the central examples of Borchardt and Kraus it should be noted that while Kraft recognised and discussed both their cases of linguistic scepticism he ultimately concluded that neither of them experienced a language crisis as such. In his Borchardt study Kraft argues, moreover, that in Borchardt’s battle against literary anarchism and spiritual decay of his times he is like an immigrant in his own country and time: Borchardt bekennt und stilisiert sich als Emigranten, der sich in seinem Vaterland nur als Gast verloren fühlt. Einen einsamen Standort formuliert er gegen die Zeit jenseits der rauschenden Beredsamkeit des Anarchischen und dem einschläfernden Bann des Tyrannischen, von dessen dies Zeitalter der Erniedrigung des deutschen Geistes erfüllt ist.18

Once Kraft was exposed to the extreme challenges posed by his linguistic dislocation and intellectual isolation through exile he did not sink into silence or literary paralysis. Rather, he struggled to capture the »echo« of his endangered mother tongue as it reverberates from the walls of his constructed ark. This ark is indeed reminiscent of Walter Benjamin’s »jüdische Arche«, ironi-

16 17

18

Werner Kraft: Muttersprache und Sprachkrise. In: Herz und Geist. Gesammelte Aufsätze zur deutschen Literatur. Vienna, Cologne: Böhlau 1989, pp. 22–34. On the concept of »ark« see Albrecht Schöne: »Diese nach jüdischem Vorbild erbaute Arche«: Walter Benjamins Deutsche Menschen. In: Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposium. Ed. by Stéphane Mosès and Albrecht Schöne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, pp. 350–365. Kraft’s volumes on these authors include Carl Gustav Jochmann und sein Kreis. Zur deutschen Geistesgeschichte zwischen Aufklärung und Vormärz. München: C. H. Beck 1972; Franz Kafka. Durchdringung und Geheimnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968; Karl Kraus. Beiträge zum Verständnis seines Werkes. Salzburg: Otto Müller 1956; Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte. Hamburg: Claassen 1961. Kraft, Rudolf Borchardt (see note 17), p. 94.

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cally titled Deutsche Menschen and published in 1936 under the pseudonym of Detlef Holz.19 The question of the dialogue between the German and Jewish and German and Hebrew defines my more recent enquiries into the poet Ludwig Strauss

Ludwig Strauss: Dialogue and Bi-Lingualism Ludwig Strauss (Aachen, 1892 – Israel, 1953) established himself as a poet, political essayist and translator (from Yiddish) in Germany from the early 1910s. Some secondary literature claims that his early prose and translation work wished to fulfil and to stress the role of the German-Jewish mediator and to discuss the possibilities of a German-Jewish »double existence« (e. g. in the novella Der Mittler).20 More accurate, as I wish to demonstrate through my research, is Tuvia Rübner’s claim that »bei Strauss treffen sich Hölderlin und Buber«.21 This can be seen for example in Strauss’s poetological essays from the 1920–30s in which he develops the idea of the poem as a type of encounter: in line with Hölderlin’s understanding of the »poet’s task« (Dichterberuf) and with Buber’s dialogical principles, Strauss perceives the poet as a mediator between the gods and humanity and emphasises the auditory quality of poetry within this dialogical constellation.22 Strauss thus describes a process in which the poem is transmitted to the listener – the poet himself is the first in line – from a transcendental source via word reverberations (Wortschall), which evoke associations in the listener’s mind. The interplay between the word 19 20

21 22

See Schöne, »Diese nach jüdischem Vorbild erbaute Arche« (see note 17). Ludwig Strauss: Der Mittler. Novellen. In: Gesammelte Werke. Ed. by Tuvia Rübner and Hans Otto Horch. 4 vols. Göttingen: Wallstein 1998–2002. Vol. I: Prosa und Übertragungen (1998). Ed. by Hans Otto Horch, pp. 13–75. A review of secondary literature on the early Strauss appears in the editor’s epilogue in ibid., pp. 566–603. Tuvia Rübner in Strauss, Gesammelte Werke (see note 20). Vol. IV, p. 468. Strauss’s poetological essays and Hölderlin treaties appear in volume II of his Gesammelte Werke (see note 20). For an analysis of Hölderlin’s ideas on the poet’s task and his mediatory role see Adrian Del Caro: Hölderlin. The Poetics of Being. Detroit: Wayne State University Press 1991. For Buber’s dialogical ideas see volumes I and II in Martin Buber: Werke. Munich, Heidelberg: Kösel and Lambert Schneider 1962. Revealing with regard to the Strauss-Buber-Hölderlin triad is Bernd Witte‘s article: Messianische Gemeinschaft: Friedrich Hölderlin im Werk von Ludwig Strauss. In: Ludwig Strauss 1892–1992. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Mit einer Bibliographie. Ed. by Hans Otto Horch. Tübingen: Max Niemeyer 1995 (Conditio Judaica; 10), pp. 199–213. Strauss’s political writings from the same period clearly demonstrate his affinity to Buberian Zionism and to Buber’s championing of the Hebrew language in the context of a Jewish revival. See Strauss, Gesammelte Werke (see note 20). Vol. IV. See also Itta Shedletzky: Fremdes und Eigenes. Zur Position von Ludwig Strauss in den Kontroversen um Assimilation und Judentum in den Jahren 1912–1914. In: Ludwig Strauss. Beiträge (ibid.), pp. 173–183.

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sounds and the mind’s contents is understood as a meeting or dialogue, which on the micro level generates the word and on the macro level the poem. In Strauss’s own poetry the idea of dialogue appears frequently in the form of »Ansprache« and in the context of his bi-lingual production (from the mid1930s when he settled in Palestine) it takes on further dimensions such as mutual translation or »echoing«. These themes are clearly presented in Strauss’s 1948 poem, which he dedicated to Lea Goldberg after translating several of her Hebrew poems into German: Dank des Übersetzers an die Dichterin [von Ludwig Strauss] Aus heiliger Sprache brach dein leises Lied Wie leicht! So bricht aus alten Baumes Stamme Des Frühlinglaubes leise, helle Flamme, Die ihn mit jungem Leben überzieht. Wer führte so wie du den Schmerz zum Tanze, Wer machte so wie du das Schwerste schweben Und löst das Tiefe Ringen, Rauschen, Beben In eines Frauenlächelns weichem Glanze? Und mir, in meinen beiden Sprachen lebend, Der einen aus der andern Echo gebend – Wie horchten beide auf bei deinem Tone! Wie über alten Baumes dunkler Krone Das flügelleichte, lichte Grün im März, So kam mir deine Sprache übers Herz.23

Conclusion These comforting verses by Strauss barely reveal the harsh historical and biographical realities underlying the linguistic ideas presented in this paper. At the same time it may be concluded that despite the centrality of the »language crisis« as working hypothesis none of my three case studies experienced a total crisis of »language as such«. Scholem suffered a crisis with regard to the perceived abuse of Hebrew, which in turn only strengthened his essential belief in the constitutive and destructive powers of language. Kraft, for his part, applauded the restorative experiments of writers like Borchardt and Kraus to show that they too never doubted language as such, but merely lamented the current decay of the German language. Kraft thus undertook his own recovery project in exile. It remains to be seen whether Strauss’s dialogical, bi-lingual 23

Strauss, Gesammelte Werke (see note 20), vol. II.2, p. 543.

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approach is necessarily crisis free. For, in Buber’s words, »die eigentümliche Zweisprachigkeit, Straussens palästinensisches Weiterdichten in deutscher und Neudichten in hebräischer Sprache, ist representativ für eine bedeutsame geistesgeschichtliche Situation, für den Auszug des jüdischen Geistes aus der deutschen Kultur.«24

24

Martin Buber: Werkausgabe. Ed. by Paul Mendes-Flohr and Peter Schäfer. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2003. Vol. IX: Sprachphilosophische Schriften. Ed. by Asher Bieman, p. 89.

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»Gott ist, in uns aber wird er.« Ein unveröffentlichter Text von Ludwig Strauß über Rainer Maria Rilke

In der Handschriftenabteilung der Nationalbibliothek Jerusalem befindet sich ein Text über Rainer Maria Rilkes Lyrik, den der junge Dichter Ludwig Strauß unter dem Pseudonym Franz Quentin geschrieben, aber nicht veröffentlicht hat.1 Dieses Pseudonym hat Strauß für alle Arbeiten genutzt, die während seiner Schulzeit entstanden sind, also in den Jahren 1908 bis zum Abitur 19132 1

2

Nachlassarchiv Ludwig Strauß, The Jewish National and University Library, Jerusalem. Ms Varia 424, 86. [8 hds. Seiten, paginiert, von Strauß später in einer hds. Notiz auf der ersten Seite datiert »(zwischen 1910 und 1912)«. Insofern Strauß in den Anmerkungen zu seinem Text von den beiden Teilen der Neuen Gedichte als den »jüngsten lyrischen Werke[n] des Dichters« spricht und auch das Requiem für Wolf Graf Kalckreuth zitiert wird, dürfte der Text eher bereits 1910 entstanden sein; jedenfalls erschienen die erwähnten Werke Rilkes zwischen 1907 und 1909. Für die Erlaubnis des Abdrucks des Texts aus dem Nachlass bin ich dem älteren Sohn von Ludwig Strauß, Emanuel Strauss † und seiner Frau Bella (Jerusalem) zu großem Dank verpflichtet. Seit zwei Jahrzehnten verbindet mich mit ihnen eine enge Freundschaft – weit über das gemeinsame Interesse am Werk von Ludwig Strauß hinaus. Ohne Emanuel Strauss wäre die Edition der Gesammelten Werke nicht möglich gewesen. Ich widme diesen Beitrag seinem Gedächtnis. Unter dem Pseudonym Franz Quentin gibt es folgende Texte von Strauß: (a) Gedichte: Drei Liebeslieder. [»Das war, als wir zuerst«, »Du hast dein Herz«, »Wie einen Bach«]. In: Die Gegenwart 37 (1908), H. 46, S. 313. – 20 Gedichte (eigenhändige Datierung: Aachen / Juni 1909). – Aachener Almanach. Schriftleiter: Philipp Keller; Mitarbeiter: Franz Maria Esser, Walter Hasenclever, Josef Kreitz, Karl Otten, Franz Quentin. Aachen: Buchhandlung Paul Fölsche in Kommission 1910. Wiederabdruck in: Verstaubte Liebe. Literarische Streifzüge durch Aachen. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Gregor Ackermann und Werner Jung. Aachen: Alano 1992, S. 109–144. Darin folgende Gedichte: »Herbstabend«, »Abendregen«, »Die Landschaft«, »Die Nacht«, »Zwischen Tag und Nacht«, »Hinaus«, »Abend«. – [Zehn Gedichte]. »Vorfrühling«, »Der Wintermorgen«, »Aus dem braunen Blättermeer«, »Die Heide, einsam, weit«, »Das Unsagbare«, »Von vagem Nachtgeräusch«, »Wie leuchtet meine Seele«, »Das Dunkel kauert lauernd schon«, »Kaum hüllt der Abend«, »Vor dem Lesen eigner Verse«. In: Charon. Monatsschrift für modernes geistiges Leben, insbesondere Reform der Lyrik 7 (1910), H. 2, S. 26–29. – Dichtungen (Für Philipp Keller / Aachen, Januar 1911 / geschrieben von Franz Quentin // Ausgewählt aus den Dichtungen der Jahre 1909 bis 1911). – Verse von 1911 (Verse von 1911 / Franz Quentin // Weihnachten 1911 geschrieben für / Philipp Keller.) – Sonnenhymnus. Entstehung und Druck des Sonnenhymnus erläutert eine kurze Verfassernotiz:

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– ähnlich wie der junge Hofmannsthal mit seinen frühen Gedichten nur durch sein Pseudonym Loris in der Öffentlichkeit präsent war. In der Ausgabe der Gesammelten Werke von Strauß wurde der Text nicht berücksichtigt.3 Insofern sich gerade um 1910 das Profil des angehenden Dichters und Literaturwissenschaftlers Strauß zu schärfen beginnt, lässt sich der kleine Essay – über ein produktives Zeugnis der Rilke-Rezeption hinaus – durchaus auch als Dokument für wesentliche Problemstellungen des eigenen Frühwerks lesen. Nach einigen Bemerkungen zur Entstehung des Textes (1) folgt die Transkription der im Ganzen sehr gut lesbaren Handschrift, die nur wenige Korrekturen (offenbar weitgehend Sofortkorrekturen) aufweist (2). Im abschließenden Kommentar (3) werden einige interessante Positionen des Textes benannt, die zeigen, dass sich der angehende Dichter Strauß im Werk des verehrten Rilke der eigenen ethisch-religiösen Gedankengänge zu versichern suchte. Die ästhetische Wertung tritt demgegenüber zurück, oder anders formuliert: Ethik und Ästhetik werden bereits als eine unauflösliche Einheit gesehen: Es sind »die ethische Zucht, der hohe Wille, die rücksichtslose Ehrlichkeit« seines Lebens, die Rilke nach Ansicht von Strauß eine »weit mehr als bloß künstlerische Bedeutung« verleihen.

1 Anlass für die Entstehung des Rilke-Essays scheint die führende Rolle gewesen zu sein, die Strauß im 1908 gegründeten Aachener literarischen Club gespielt hat, dem außerdem Karl Otten, Philipp Keller und Walter Hasenclever angehörten.4 Karl Otten hat sich an Strauß als einen ästhetisch-philosophisch orientierten jungen Dichter erinnert, dessen andere Seite sein kompromissloses

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»Die Dichtung entstand in den Monaten September bis November 1910. Diese nicht öffentliche Ausgabe wurde im Frühling 1911 bei Wilhelm Siemes, Aachen, in 60 Exemplaren gedruckt.« – »Frühlingsabend in der Großstadt«. In: Deutsche Monatshefte 11 (1911), S. 175. (b) Weitere Texte: Sprechsaal: Aussprache zur Judenfrage. In: Der Kunstwart 25 (1912), S. 238–244. – Die Höflichen. Novelle. In: Pan 2 (1911/12), S. 541–543. – Ein Dokument der Assimilation. In: Die Freistatt. Alljüdische Revue. Monatsschrift für Kultur und Politik 1 (15. April 1913), H. 1, S. 13–19. – Entgegnung. In: ebd., H. 4, S. 238–244. Ludwig Strauß: Gesammelte Werke in vier Bänden. Hg. von Hans Otto Horch und Tuvia Rübner. Göttingen: Wallstein 1998–2001 (Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt; 73). Band 2 (1998) mit den Schriften zur Dichtung beginnt mit einem (zuvor ebenfalls unveröffentlichten) Essay Erfahrungen über die Existenz der Dichtung aus dem Jahr 1913 (S. 9–13, Kommentar S. 388). Die Werkausgabe wird zitiert als SGW mit Angabe der Bandnummern. Zum jungen Strauß vgl. vor allem Kerstin Rückwald: Zionismus, Sozialismus, Universalismus. Ludwig Strauß. Studien zu Leben und Werk von 1906 bis 1935. Aachen: Shaker 2009 [Diss. Phil. RWTH Aachen 2007], vor allem S. 9–67.

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Engagement für die kulturzionistische Sache war. Man traf sich regelmäßig und las neben eigenen Dichtungen auch diejenigen [...] unserer »Kollegen« Rilke, Stefan George, Mombert, die sämtlich in Ludwig Strauß’ Seele lebendig waren. Er konnte ganze Bände George und Rilke auswendig aufsagen, genauer gesagt mit einem seltsam exotischen, leicht näselndem Sprechgesang vortragen, eine Art der Deklamation, die wir als die einzig geeignete für moderne Dichtung hielten. [...] Ludwig Strauß war ein Träumer, weltabgewandt, ständig mit Worten spielend, nur bemüht um das Dichterische schlechthin. Meine ersten dichterischen Arbeiten gab ich ihm zur Kritik und Analyse. Es war auch seine Idee, einen »Aachener Almanach« mit unseren Erstlingen zu veröffentlichen und er setzte diese Idee, die uns Gymnasiasten gewagt erschien, in die Tat um. [...]5

Während Hasenclever die Gesellschaft in sozialistischem Geist mittels des Theaters revolutionieren wollte, erschien Strauß geradezu als sein Antipode, als »reine Musik«, ja als ein »Volkslied, das inmitten deutscher Wälder und Hügel erklingen mochte«. Das kulturpolitische Engagement von Strauß aber war nicht weniger ausgeprägt als das seines Theaterfreundes: als deutscher Dichter war er Otten zufolge zugleich [...] ein glühender Zionist, der mich über Ziele und Erwartungen der kommenden jüdischen Generationen aufklärte. Ich las und diskutierte mit ihm die Zeitschrift »Bar Kochba«. Wir sangen jiddische Lieder und ich wurde ein nicht minder begeisterter Zionist wie Ludwig und sein Bruder Max Strauß. Ich gehörte zur Familie, mit der ich gemeinsame Ausflüge und Wanderungen in die Eifel unternahm.6

Mit Rilke scheint Strauß nur einmal zusammengetroffen zu sein. Im Jahr 1916, nach seiner traumatisierenden Verschüttung, hatte der Dichter in der Berliner Pressestelle der Kriegsbeschädigtenfürsorge neben Albrecht Schaeffer auch den Preußischen Landesdirektor Joachim von Winterfeldt kennen gelernt, der an jedem Donnerstag literarische Treffen veranstaltete und sich für junge Autoren einsetzte. Bei einem solchen Treffen scheint auch Rilke aus eigenen Werken gelesen zu haben.7 In den Jahren als Dozent an der Technischen Hochschule seit 1929 hat Strauß Vorlesungen u. a. auch über das Gesamtwerk Rilkes gehalten. Rilke bleibt neben George und Hofmannsthal ein bewunderter Vertreter der neueren Lyrik, maßstabsetzend für das eigene lyrische Werk jedoch wird nach dem Erscheinen von Norbert von Hellingraths bahnbrechenden Arbeiten die Entdeckung Friedrich Hölderlins, dem Strauß auch einen 5 6 7

Karl Otten: Begegnung mit deutsch-jüdischen Schriftstellern. In: Verstaubte Liebe (wie Anm. 2), S. 154–157, hier S. 154f. Ebd., S. 156f. Vgl. Rolf Bulang: Ludwig Strauß und Albrecht Schaeffer – Umriß einer Freundschaft. In: Ludwig Strauß 1892 . 1992. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Mit einer Bibliographie. Hg. von Hans Otto Horch. Tübingen: Niemeyer 1995 (Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte; 10), S. 225–250, hier S. 228f.

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großen Teil seiner literaturwissenschaftlichen Arbeiten gewidmet hat. Später scheint sich Strauß von Rilke etwas distanziert zu haben, jedenfalls gibt es zwei Parodien »in der rinnenden Rilkeweis«, die erst in den Gesammelten Werken veröffentlicht wurden; wann sie entstanden sind, ist unklar.8 Rilke seinerseits konnte den von Strauß zusammen mit Albrecht Schaeffer veröffentlichten Parodienband auf Stefan George9 »nicht ohne Widerwillen« ansehen.10 Der Band führte zur ›Exkommunikation‹ von Strauß aus dem Kreis um George, außerdem war ihm der Insel-Verlag künftig verschlossen, und auch Gershom Scholem und Walter Benjamin, die sich für Ideen des jungen Strauß über das Judentum sowie den Entwurf seiner (unveröffentlicht bleibenden) Ethik interessierten und mit ihm im Briefwechsel standen, zogen sich nach dem Erscheinen der George-Parodien von ihm zurück.11

2 Die Grundlagen der Lyrik Rainer Maria Rilkes von Franz Quentin. Bei wenig [!] Dichtern ist so sehr wie bei Rilke alle Gestaltung vom Zentrum eines großen Willens aus bestimmt und belebt. In der langen und harten Arbeit, die seine Bücher beobachten lassen, hat er sich zu einem Organismus von so großartiger Einheitlichkeit herangebildet, daß wir ihm nur ganz wenige Erscheinungen unserer Zeit an die Seite stellen können. Die philosophischen Grundlagen dieses Organismus sind zu oft schon vorweggenommen, ihre willkürlichen Voraussetzungen zu fühlbar, als daß wir aus ihm unser Erkennen wesentlich bereichern könnten. Aber die ethische Zucht, der hohe Wille, die rücksichtslose Ehrlichkeit, die sein großes, überzeugendes Leben tragen, geben ihm eine weit mehr als bloß künstlerische Bedeutung.

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9 10 11

SGW Bd 3/2, S. 693f. Die erste Parodie zielt auf Rilkes Buch der Bilder – »Die Obstfrau« (St. Petersburg) –, die zweite auf die Neuen Gedichte – »Das Ferngespräch« (Paris). Die Opfer des Kaisers, Kremserfahrten und die Abgesänge der hallenden Korridore. Mit einer Nachrede. Leipzig: Insel 1918. Rolf Bulang, Ludwig Strauß und Albrecht Schaeffer (wie Anm. 7), S. 232. Vgl. zum Verhältnis Benjamins zu Strauß Hans Puttnies/Gary Smith: Benjaminiana. Gießen: Anabas 1991, S. 44ff. Die drei Briefe, die Benjamin 1912/1913 im Zusammenhang der Zionismusdebatte geschrieben hat, sind bereits abgedruckt in Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd II,3. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 835–844. Leider sind die Briefe von Strauß an Benjamin nicht erhalten.

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Für Rilkes Weltanschauung ist das Vorhandensein einer Wirklichkeit außer uns selbstverständliche Voraussetzung. In den frühen Büchern12 ist diese Wirklichkeit in ihrer sinnlichen Erscheinung angebetet. Mit dem tiefen, seligen Staunen des Knaben, der in die Welt noch hineinwächst und noch bei jeder Wahrnehmung fühlt, wie die tausendfachen Beziehungen, die ihn mit ihr verknüpfen, gestärkt und bereichert werden, geht der Dichter unter den Dingen und Wesen seiner böhmischen Heimat umher. Aber langsam reift er über das enge Heimatgefühl hinaus. Er wandert; er fühlt, während ihm immer Neues verwandt wird, daß alles uns im Grunde fremd ist und daß wir nirgends bleiben. Das aber, was uns immer umschließt, ist das unendliche All, ist Gott. So wird ihm die Welt zur Heimat. Aber was ist Gott? Er, der bleibt, kann nicht in der bunten lärmenden Welt unserer Sinne sein, die sich ewig wandelt. Was wir empfinden ist das Ding nicht, es ist das Bild [2] des Dinges. Das Bild aber ist nur Mittel, das vom Wesen scheidet, indem es mit ihm verbindet. Und alle Bilder stehen wie Mauern um Gott, machen ihn unerreichbar. Denn er ist die Wirklichkeit, die unabhängig von unserem Bewußtsein existiert. Die Dinge an sich müssen gefühlt werden, unmittelbar, aus sich selbst heraus, das heißt, in einem Bewußtsein, das in sie hinein verlegt und eins mit ihnen geworden ist. Sie sind das große Dunkel, über das die Welt unserer Sinne »wie ein Spiel von Lichtern«13 fließt, sind Gott.14 Diese dunkle Einheit zerreißt das Licht unserer Sinne. Der Raum teilt sie in hier und dort, die Zeit in jetzt und dann. Aber »die Dunkelheit rafft alles an sich«15, sie unterscheidet nicht mehr. In der letzten Voraussetzung, daß etwas wirklich ist, sind alle Dinge nun eins und untrennbar. Die Nacht ist die endgültige Erfüllung, das Reich Gottes.

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Gemeint sind vor allem der Gedichtband Larenopfer (1896) sowie Zwei Prager Geschichten (1899), in denen Rilke Prag und seiner mehrheitlich tschechischen Bevölkerung ein Denkmal setzt. »Du bist das Kloster zu den Wundenmalen«: Das Stunden-Buch. Von der Pilgerschaft. Zitiert nach Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Werkausgabe. Hg. vom Rilke-Archiv, in Verb. mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt a. M.: Insel 1975, Bd 1, S. 328. Im Folgenden zitiert als RSW mit Angabe der Bandnummer. Von Strauß gestrichen wurde das Zitat: »dem Abend und den Dichtern / Sind unter rinnenden Gesichtern / Die dunkeln Dinge offenbar.« (ebd.). »Du Dunkelheit, aus der ich stamme«: Das Stunden-Buch. Vom mönchischen Leben. RSW Bd 1, S. 258f. Strauß zitiert hier ungenau: »Aber die Dunkelheit hält alles an sich: / Gestalten und Flammen, Tiere und mich, / wie sie's errafft, / Menschen und Mächte –«.

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Rilke sagt einmal, der Sinn von allem, was einst war, sei, daß es in uns verwoben zu uns wiederkehre und uns jedes Gefühl mit Bildern begleite. So offenbart sich ihm auch seine eben geschilderte Entwicklung in einem erhabenen, historischen Gleichnis. Seine frühe Zeit versinnlicht die italienische Renaissance, der Frühling Gottes, da man ihn malte und in tausend Bildern und Gedichten ans Licht hob. »Nur sein Sohn, das Wort, vollendete sich«.16 Gott ward nur licht einer Zeit zuliebe, die Dich flehte In ihre klaren, marmornen Gebete .. Du kehrtest heim, da jene Zeit zerschmolz. Ganz dunkel ist Dein Mund, von dem ich wehte, Und Deine Hände sind von Ebenholz.17

[3] Die Zeit ist noch nicht vom Mittel zum Wesen vorgedrungen. Aber dieses Mittel ist vergänglich, es ist zeitlich und darum nicht göttlich. Deshalb ist die Gottgebärerin traurig und unerlöst auf dem Bilde Botticellis.18 Sie hat noch nicht den größeren Heiland geboren, den wahrhaft erfüllenden Mittler zwischen Mensch und Gott. Der aber ist der Tod, denn nur außer Zeit und Raum ist die Vereinigung mit Gott möglich. Jene Zeit wollte blühn Und blühn ist schön sein; doch wir wollen reifen Und das heißt dunkel sein und sich bemühn.19

Nur während dieser Bemühung um Gott reift der Tod, »ein Tod von guter Arbeit«20, ein Tod, der aus dem Großen in unserem Leben kommt und der daher als unser eigener Tod auch wirklich unser eigenes Sehnen erfüllt, uns selbst in der letzten, ewigen Nacht mit Gott vereint. Der uns diesen eigenen Tod schenkt, ist der Messias, dessen Nahen Rilke in mystischen Hymnen von hingegebener Süßigkeit verkündet. Im Leben ist der Mensch noch ein Pilger zu Gott. Er muß wirken und wandern. Hier nun setzt die Ethik Rilkes ein und bestimmt in großen, einfachen Symbolen seinen Weg. 16 17 18

19 20

»Der Ast vom Baume Gott«: Das Stunden-Buch. Vom mönchischen Leben. RSW Bd 1, S. 271. »So viele Engel suchen dich im Lichte«: Das Stunden-Buch. Vom mönchischen Leben. RSW Bd 1, S. 270. Gemeint ist wohl das Bild »Madonna del mare« von 1477. Aber auch auf anderen Mariendarstellungen Botticellis zeigt sich ein melancholischer Zug der »Gottgebärerin«. »Im Saal«: Neue Gedichte. RSW Bd 2, S. 521. Requiem. Für Wolf Graf von Kalckreuth. RSW Bd 2, S. 662.

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»Gott ist, in uns aber wird er.«

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Nun aber empfinden wir sogleich den Zwiespalt zwischen dem Weg und der Unendlichkeit, zu der er doch nie führen kann. Dieser Zwiespalt ist überall im Gefüge der Rilkeschen Ethik sichtbar und findet seinen höchsten Ausdruck in einer merkwürdigen Doppelexistenz Gottes. Wir haben an der Entwicklung Rilkes beobachtet, wie aus dem ewigen Wandel der Sinnenwelt Gott, der Bleibende und Ruhende, aus dem Relativen, der unseren Sinnen unterworfenen Erscheinung, das Absolute, das Ding an sich abstrahiert wird. Ist dieses aber einmal als Zentrum des Lebens begriffen, so wird es naturgemäß auch als das Primäre, als Ausgangspunkt erscheinen, und von ihm aus sehen wir nun die [4] gleiche Wandlung sich umgekehrt vollziehen und zwar nicht mehr als einmaligen Vorgang in einer begrenzten Entwicklung, sondern als die unaufhörliche Äußerung der Materie in ihren ewig wandelbaren Formen. Gott ist, in uns aber wird er. Denn wie sollten wir uns ein absolutes Sein, ohne Zeit und Raum, vorstellen können? So übertragen wir es in das zeitliche Bild des Werdens, denn nur durch dieses Mittel wird es unserem Bewußtsein zugänglich. Erst im Tod, wenn wir nicht mehr an unsere Sinne und an unser Bewußtsein gebunden sind, ruhen wir unmittelbar in Gott. Bis dahin aber brauchen wir Mittel, brauchen wir Bild und Wort. Was nun Rilkes Reife zeigt, gegenüber dem Blühen der Renaissance-Zeit, ist, daß er sich des Zwiespalts bewußt ist, daß er weiß, das Mittel führt nicht zu Gott, es ist ein Bild Gottes. Wir bauen an Dir mit zitternden Händen Und wir türmen Atom auf Atom, Aber wer kann Dich vollenden, Du Dom?21

So arbeitet er dennoch am Mittel, im Bewußtsein, daß diese dunkle, dienende Arbeit uns Gott immer nahe hält. Der eben aufgedeckte Zwiespalt zeigt sich gleich in dem Satze der Rilkeschen Ethik, der sie nach außen hin am stärksten charakterisiert: in der Forderung einer möglichst vollkommenen Passivität. Denn um zu ihr, überhaupt um zu irgend einem der Ziele zu streben, die Gott symbolisieren, ist Aktivität erforderlich, heiße Arbeit und Selbstzucht. So ist auch dieses Streben nur als Bild seiner Er21

»Wir bauen an Dir mit zitternden Händen«: Das Stunden-Buch. Vom mönchischen Leben. RSW Bd 1, S. 261.

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füllung aufzufassen, als die Spiegelung eines absolut Seienden in der sinnlichen Form des Werdens. Dies Seiende ist hier die unendliche Armut Gottes. Gott ist der Willenlose, Geduldige, »der tiefste Mittellose«22. Er ist der Duldende, mit der Erscheinung ist er in unsere Hand gegeben, und unser Wille ist sein Schicksal. Dieser Gott aber, den wir lenken und besiegen können, ist der Werdende, das Bild, das unsere Sinne von Gott gemacht haben. Der seiende Gott aber [5] ist schicksallos, weil er nicht in Zeit und Raum ist. Was wir besiegen, ist das Kleine, Und der Erfolg selbst macht uns klein. Das Ewige und Ungemeine Will nicht von uns gebogen sein.23

Um also groß zu sein, sollen wir uns, den Dingen gleich, vom großen Sturm bezwingen lassen, sollen wir willenlos und arm sein wie Gott. Unser Wachstum sei, »der Tiefbesiegte von immer Größerem zu sein«24. Die Dinge sind es, »sie sind nicht von Gott fortgegangen.«25 Sie halten still. »Ein Tier kann das nicht.«, läßt Rilke ein Kind sagen, »Es läuft davon. Aber ein Ding, siehst Du, es steht, Du kommst in die Stube, bei Tag, bei Nacht, es ist immer da, es kann wohl der liebe Gott sein.«26 Die Armen tun nichts aus ihrem Willen: Sie rühren sich wie in den Wind gestellt Und ruhen aus wie etwas, das man hält.27

Und dieser Armen großes Vorbild ist der, der alle Dinge seine Brüder nannte: Franz von Assisi. Wenn alle Stände und Völker müde sind, werden sie sich »wie ausgeruhte Hände«28 erheben. Das soziale Ideal, das Rilke vielfach in seinen religiösen Gedichten preist, ist »ein Volk von Hirten und

22 23 24 25

26 27 28

»Du bist der Arme, du der Mittellose«: Das Stunden-Buch. Von der Armut und vom Tode. RSW Bd 1, S. 357. »Der Schauende«. Das Buch der Bilder II,2. RSW Bd 1, S. 459. Ebd., S. 460. »Wenn etwas mir vom Fenster fällt«: Das Stunden-Buch. Von der Pilgerschaft. RSW Bd 1, S. 321. Der genaue Wortlaut ist: »Da muß er lernen von den Dingen, / anfangen wieder wie ein Kind, / weil sie, die Gott am Herzen hingen, / nicht von ihm fortgegangen sind.« »Wie der Fingerhut dazu kam, der liebe Gott zu sein«: Geschichten vom lieben Gott. RSW Bd 7, S. 355. »Betrachte sie und sieh, was ihnen gliche«: Das Stunden-Buch. Das Buch von der Armut und vom Tode. RSW Bd 1, S. 358. »Denn sieh: sie werden leben und sich mehren«: Das Stunden-Buch. Das Buch von der Armut und vom Tode. RSW Bd 1, S. 361.

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»Gott ist, in uns aber wird er.«

von Ackerbauern«29, die im unmittelbaren Verkehr mit der Natur leben und denen ihre Dinge und Ereignisse, auch die, welche wir gering zu achten gewohnt sind, Schicksal sind, gewaltiger als das kleine Glück und Leid des Menschen. Er haßt die moderne Zivilisation, obwohl er aufs innigste mit ihr zusammenhängt, vielleicht gar nicht möglich wäre ohne sie. Aber eine Weltanschauung von dieser Breite muß rücksichtslos wirken, in sich selbst ruhend unbewußt grausam wie ein Naturgesetz. So hat der Dichter über die großen Städte Gedichte von einer biblischen Wucht und Größe eifernder Verachtung geschrieben. In den [6] Städten werden die Armen zertreten und fortgeworfen. Einem fremden Werke dienend, durch tausend Zusammenhänge mit Fremdem verknüpft kann keiner mehr sein eigenes Leben leben und so sterben alle auch einen fremden Tod. Ihr eigener hängt grün und ohne Süße Wie eine Frucht in ihnen, die nicht reift.30

Er reift nur in der Einsamkeit, wo keine menschlichsozialen Beziehungen mehr hindern, sich still und willig in die weitesten Geleise einzureihn. Fern vom Fortschritt, der Sünde ist, weil er Siege sucht, offenbart sich dem nur Gott, der willenlos wie ein Ding, dem Gesetze der Schwere folgend, ruht. Gott ist »das Wunder in den Wüsten, das Ausgewanderten geschieht.«31 Und endlich erkennen die vielen Einsamen, deren jedem ein anderer Gott erschienen ist, daß durch all diese mannigfachen Gestalten Verschieden nur in hundert Seinen Ein Gott wie eine Welle geht.32

Unter dem Werdenden ist der Seiende gefühlt, reif steht die Stunde still, und der Sommer Gottes ist gekommen, die Zeit der Ernte. x

29 30 31 32

»Alles wird wieder groß sein und gewaltig«: Das Stunden-Buch. Von der Pilgerschaft. RSW Bd 1, S. 329. »Da leben Menschen, weißerblühte, blasse«: Das Stunden-Buch. Das Buch von der Armut und vom Tode. RSW Bd 1, S. 347. »Du Williger, und deine Gnade kam«: Das Stunden-Buch. Vom mönchischen Leben. RSW Bd 1, S. 300. »Mit einem Ast, der jenem niemals glich«: Das Stunden-Buch. Vom mönchischen Leben. RSW Bd 1, S. 274. »Ein« in der letzten Zeile ist im Druck hervorgehoben.

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Wir haben gesehen, daß das Ziel der Rilkeschen Ethik immer in unendlicher Ferne liegt und daher durch kein Fortschreiten im Raume zu erreichen ist, sondern erst durch ein völliges Entrücktsein aus allen Maßen, durch den Tod, erfüllt wird. Alles Leben zeigt ja noch Willen, wenn auch nur Willen zur Willenlosigkeit, macht eine völlige Armut noch nicht möglich. So kann Rilke noch, wie in seinem Gedichte Michelangelo, »über einem [7] Maß die Unermeßlichkeit vergessen«33, kann er noch Künstler sein. Die Künstler nun schaffen, Damit Du (Gott) unvergänglich die Natur, Die Du vergänglich schufst, zurückempfängst. ... Sie sagen: Stein, Sei ewig. Und das heißt: Sei Dein!34

Um die Dinge Gott ewig zurückzugeben – was ja auch nie ganz, nur bis zu einem freilich beliebig hohem Grade erreicht werden kann –, muß man sie so weit als möglich aus der Wirkung, die sie auf uns ausüben, sondern und in ihre Reinheit und Dunkelheit zurückführen. Man darf ihnen nur so viel Gewand geben, nur so viel, was über die einfache Tatsache ihres Seins hinausgeht, als nötig ist, um sie noch mit den Sinnen zu erfassen. Dieses Gewand besteht bei Rilke, wo es irgend angeht, aus den ständigen Symbolen, in denen seine Ethik sich immer wieder äußert: Schwere, Armut, Dunkelheit und den vielen Formeln, die durch die lange Beschäftigung mit gleichen Stoffkreisen gezüchtet worden sind. Das gibt den beschreibenden Gedichten Rilkes ihre tiefe Einheitlichkeit, das macht sie zu etwas Höherem als zu bloßen Dokumenten eines feinen Impressionismus: Sie sind nichts als ein Verknüpfen vieler Dinge mit Gott, immer neuer Punkte der Peripherie mit dem Zentrum. Das oberste Gesetz dieser Kunst ist also eine fast asketische Objektivität. Die Dichter können nicht unterscheiden, was froh oder traurig in ihnen ist, sie dürfen nichts bejubeln oder beklagen, ihr Beruf ist,

33

34

»Das waren Tage Michelangelo’s«: Das Stunden-Buch. Vom mönchischen Leben. RSW Bd 1, S. 270f. Strauß zitiert verkürzt: »Das war der Mann, der über einem Maß / gigantengroß, / die Unermeßlichkeit vergaß.« »Und du erbst das Grün«: Das Stunden-Buch. Von der Pilgerschaft. RSW Bd 1, S. 315. Das Zitat im Original lautet so: »Und Maler malen ihre Bilder nur, / damit du unvergänglich die Natur, / die du vergänglich schufst, zurückempfängst: / alles wird ewig. Sieh, das Weib ist längst / in der Madonna Lisa reif wie Wein; / es müßte nie ein Weib mehr sein, / denn Neues bringt kein neues Weib hinzu. / Die, welche bilden, sind wie du. / Sie wollen Ewigkeit. Sie sagen: Stein, / sei ewig. Und das heißt: sei dein!«

»Gott ist, in uns aber wird er.«

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hart sich in die Worte zu verwandeln, Wie sich der Steinmetz einer Kathedrale Verbissen umsetzt in des Steines Gleichmut.35

[8] Sie sollen nicht Gefühle darstellen sondern Erfahrungen, sie sollen zu »arm« sein, um den Dingen von ihrer Seele zu schenken. So reden die Dinge selbst, und das vollkommene Gedicht ist – wirklich wie Gott – ein Seiendes und Werdendes zugleich. Es gibt in seinem absoluten Sein nicht die Notwendigkeit irgend einer bestimmten Gefühlsauffassung und erhält so in jedem Leser eine, oft verschiedene, relative Bedeutung, es vollendet sich erst im Leser. Wo der Stoff an sich nicht in allen gleiche Gefühle erweckt, kann das Gedicht, je nach der Persönlichkeit und der Stimmung des Lesenden, eine traurige oder tröstliche Wirkung ausüben. Es ist nach allen Seiten hin offen, ein Keim grenzenloser Möglichkeiten, unendlich zart, »von allem zu bewegen«36. So ist die Schmiegsamkeit und Vieldeutigkeit der Rilkeschen Rhythmen – meist sehr freier Spielarten des Jambus und des Trochäus –, die oft fast nervöse Sensibilität in den Bildern, das willenlose Reagieren auf jede Impression nicht aus einer menschlichen Schwachheit, sondern aus einer fast unmenschlichen Kraft zu verstehen: aus der bis ins Kleinste konsequenten Religiosität eines großen, schöpferischen Geistes. Anmerkung. Von den vielen Büchern Rilkes möchte ich hier nur einige nennen: Geschichten vom lieben Gott (Inselverlag), Auguste Rodin (Bard, Marquard[t] und Co., Berlin), Das Buch der Bilder (Axel Juncker, Berlin und Stuttgart), Das Stundenbuch, Die neuen Gedichte, Der neuen Gedichte anderer Teil (alle im Inselverlag zu Leipzig). Das »Stundenbuch« enthält Rilkes religiöse Konfessionen, die »Neuen Gedichte« und ihr zweiter Teil sind die jüngsten lyrischen Werke des Dichters.

35 36

Requiem. Für Wolf Graf von Kalckreuth. RSW Bd 2, S. 663. »Dame auf einem Balkon«. Der Neuen Gedichte anderer Teil. RSW Bd 2, S. 619.

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»Gott ist, in uns aber wird er.«

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3 Aus dem Rilke-Essay von Ludwig Strauß spricht eine große Verehrung für das Werk des siebzehn Jahre älteren Dichters, insbesondere was dessen ethische Grundlage anbelangt. In den wesentlichen Gedankengängen lässt sich eine religiöse Programmatik feststellen, die sich mit einigem Recht auf Rilke stützen kann, insofern sich dessen Gottesbild gerade um die Jahrhundertwende immer mehr von christlicher Dogmatik entfernt. Strauß entnimmt folgerichtig den Großteil der Zitate dem Stunden-Buch. Entstanden zwischen 1899 und 1903, ist die Sammlung der Durchbruch Rilkes als eines bedeutenden Dichters der Moderne. Deutlich wird die Spannung zwischen der westlichen und der östlichen Welt, die Rilke durch seine Italien- und Russlandreisen eben zu entdecken beginnt. Zentral ist die Frage nach Gott, es sind »Rilkes religiöse Konfessionen«, die auch in den 1900 veröffentlichten Geschichten vom lieben Gott als einer Art Kommentar zum Stunden-Buch den thematischen Kern bilden. Insbesondere der »russische« Gott bestimmt Rilkes Vorstellung vom noch wachsenden Gott: Ein Gott der Ahnung und des Gefühls also, nicht des Verstands, und am allerwenigsten der Theologie. Dabei ist Rilke kein Mystiker; die unio mystica, die Verschmelzung der eigenen Seele mit Gott, bleibt ihm durchaus fremd. Er ist im orthodoxen Sinne nicht einmal ein Gläubiger, sondern [...] ein etwas melancholischer Atheist, ein Ungläubiger mit schlechtem Gewissen.37

Konstitutiv für das Stunden-Buch jedoch, so die Einschätzung von Wolfgang Braungart, ist die »Poetik der Subjektivität als Anrede eines Subjekts an Gott«.38 Am 4. Oktober 1900 notiert Rilke im Worpsweder Tagebuch ein aufschlussreiches Gebet: Ich sprach von Dir als von dem sehr Verwandten, zu dem mein Leben hundert Wege weiß, ich nannte Dich: den alle Kinder kannten, den alle Saiten überspannten, für den ich dunkel bin und leis. Ich nannte Dich den Nächsten meiner Nächte und meiner Abende Verschwiegenheit, – und Du bist der, den keiner sich erdächte, wärst Du nicht ausgedacht seit Ewigkeit. Und Du bist der, in dem ich nicht geirrt, den ich betrat wie ein gewohntes Haus. 37 38

Wolfgang Leppmann: Rainer Maria Rilke. Leben und Werk. Bern, München: Scherz 1981. Taschenbuchausgabe: München: Heyne 1983 (Heyne-Buch; 12/121), S. 136f. Wolfgang Braungart: Das Stunden-Buch. In: Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Manfred Engel. Unter Mitarb. von Dorothea Lauterbach. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 216–227, hier S. 217.

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Jetzt geht Dein Wachsen über mich hinaus: Du bist der Werdendste, der wird.39

Rilke verdeutlicht seinen Begriff von Gott als einem Werdenden gegenüber der stets imaginierten Gesprächspartnerin Lou Andreas-Salomé im selben Tagebucheintrag: Ich aber sprach leise von ihm. Daß seine Mängel, seine Ungerechtigkeit und alles Unzulängliche seiner Macht in seiner Entwicklung läge. Daß er nicht vollendet sei. »Wann sollte er auch geworden sein? Der Mensch bedurfte seiner so dringend, daß er ihn gleich von Anfang als Seienden empfand und sah. Fertig brauchte ihn der Mensch, und er sagte: Gott ist. Jetzt muß er sein Werden nachholen. Und wir sind, die ihm dazu helfen. Mit uns wird er, mit unseren Freuden wächst er, und unsere Traurigkeiten begründen die Schatten in seinem Angesicht.«40

Erbaulichkeit auf der einen, ästhetische Modernität trotz mancher jugendstilhafter Züge auf der anderen Seite sind kennzeichnend für das Stunden-Buch. Die Skepsis von Strauß gegenüber allzu engen Rückbindungen der Dichtung Rilkes an philosophische Positionen (insbesondere Nietzsches, generell der Lebensphilosophie) ist erstaunlich hellsichtig, wenn man die Entwicklung der Forschung bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren existenzialistischen und phänomenologischen Deutungsversuchen bedenkt.41 Die Radikalität von Rilkes eigenem Gottesbegriff kommt z. B. in folgendem Passus zum Ausdruck kommt: Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?) Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?) Bin dein Gewand und dein Gewerbe, mit mir verlierst du deinen Sinn.42

Donald A. Prater kommentiert diese Stelle wie folgt: Eine solch seltsame Verbindung eines Gottes, der in allen Dingen wohnt, mit Einem, der erst sein wird, eine Art geistiger Erbe der Künstler und Dichter, die kommen und helfen müssen, ihn zu schaffen, hat keinen Platz in einer orthodoxen Religion. [...] Doch die Myriaden von Bildern, mystisch und konkret zugleich, in denen er diesen Widerspruch gestaltete, [...] besitzen einen so himmlischen Klang in ihrer Doppelsinnigkeit, daß zahllose Leser und Kritiker, unter ihnen nicht wenige Theologen, die Vorstellung ohne große Schwierigkeiten mit ihren orthodoxen Ansichten vereinbaren konnten. [...] Doch auch der Leser, der Rilkes Ablehnung des Christentums 39 40 41 42

Rainer Maria Rilke: Tagebücher aus der Frühzeit. Hg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber. Frankfurt a. M.: Insel 1973, S. 294. Ebd., S. 295. Vgl. dazu den Artikel von Ronald Perlwitz im Rilke-Handbuch (wie Anm. 38), S. 155–164. »Vom mönchischen Leben«, RSW Bd 1, S. 275; vgl. auch die Frühfassung »Die Gebete«, RSW Bd 5, S. 334.

»Gott ist, in uns aber wird er.«

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kennt, kann in den vielfältigen Bildern, in denen Gott dargestellt ist, immer noch die Bestätigung nahezu jeder Form von Deismus oder Theismus finden. Rilke glaubte in der Tat nicht an Gott, sondern an seine eigene Kraft, ihn zu schaffen.43

Scheinbar ähnlich formuliert Strauß im Titelzitat: »Gott ist, in uns aber wird er.« Allerdings ist der junge Dichter, der sich um diese Zeit seiner eigenen jüdischen Identität zu versichern sucht, weniger radikal als Rilke: Gott existiert für Strauß »unabhängig von unserem Bewußtsein«, die Bilder »stehen wie Mauern um Gott, machen ihn unerreichbar«. Bei Rilke hingegen lässt sich Gott letztlich nur als Produkt der bildnerischen Tätigkeit des Menschen verstehen, über die Existenz Gottes an sich ist nichts in Erfahrung zu bringen. Rilkes Gott ist abhängig von der (poetischen) Aktivität des sich seiner Subjektivität versichernden Menschen: Ohne die poetische Spracharbeit am Subjekt gäbe es diesen Gott nicht. Dieser Gott ist eine Konstruktion, die das Subjekt braucht, um überhaupt Subjekt sein zu können. [...] Alteritätserfahrungen ermöglichen erst eigentlich Selbsterfahrungen.44

Strauß erkennt durchaus die Bedeutung, die für Rilke der Tod hat: er ist der Mittler zwischen Mensch und Gott, die Nacht das Reich Gottes. Derjenige, der den Menschen ihren »eigenen Tod« schenkt, ist für Strauß der »Messias«. Die »merkwürdige Doppelexistenz Gottes« bei Rilke, die auch Strauß nicht übersehen kann, manifestiert sich in seiner für den Menschen zu Lebzeiten nicht fassbaren absoluten Existenz, die gleichwohl durch die Tätigkeit des Künstlers, des Dichters in immer neuen Bildern umkreist wird. Die »dunkle, dienende Arbeit« des Dichters hält uns Gott nahe, ohne ihn unmittelbar begrifflich einholen zu können. Aus dieser Doppelexistenz Gottes leitet Strauß das Fundament der Rilkeschen Ethik ab – Ästhetik und Ethik lassen sich also in keiner Weise trennen, sondern bilden eine unauflösliche Einheit, wie sie auch das Werk von Strauß bestimmen wird. Die religiöse Einstellung des jungen Strauß wird sich bald ändern. So schreibt er am 7. November 1913 an Martin Buber, dessen Drei Reden über das Judentum (1911) und Daniel. Gespräche von der Verwirklichung (1913) ihn in seinem jüdischen Engagement maßgeblich beeinflusst haben, mit Blick auf die »Unbedingtheit des Guten und des Bösen«, die von Buber auf einen immanenten Gott zurückgeführt wird, der allein diese Unbedingtheit garantieren kann: Das, was Sie als seine [Gottes] Erscheinungsform in der jüdischen Seele ansprechen, ist auch mir evident als wesentliche Erscheinung in der jüdischen Seele. Die Tendenzen zur Einheit, Tat und Zukunft, die Polarität, die weltverbindende Spannung – das alles ist auch mir wirklich und bestimmend – nur sehe ich nicht darin »das verhüllte Angesicht des Gottes«. Darum ist auch mir all das formal, was mir freilich 43 44

Donald A. Prater: Ein klingendes Glas. Das Leben Rainer Maria Rilkes. Aus dem Engl. von Fred Wagner. München, Wien: Hanser 1986, S. 107. Braungart, Das Stunden-Buch (wie Anm. 38), S. 221.

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kein Mangel ist, da es sich in mir, aus meinem Blut ewig mit Inhalt füllt. Aber die Bestimmung dieses Inhalts als eines Göttlichen hat für mich nicht Gültigkeit.45

Konsequenterweise entwirft Strauß seine ›apollinische Sittenlehre‹ des reinen Lebens, der reinen Wesensform ohne Rekurs auf eine göttliche Instanz im Sinn des Monotheismus.46 Eben dies Fehlen einer substantiellen religiösen Basis aller ethischen Gesetze wird Strauß davon abhalten, seine Ethik zu veröffentlichen. In einer unveröffentlichten Notiz vom April 1936 Gegen meine Ethik von 1917 heißt es dazu: Ungläubig an Gott, aber nicht aus Prinzip ungläubig, sondern weil mir nichts ihn Offenbarendes begegnet war, wollte ich die Ethik abgesehen von der religiösen Frage, die Frage antwortlos offenlassend, aufbauen. Ich meinte: die ethischen Phänomene haben ihre erkennbare Gesetzlichkeit, – gleichviel woher diese Gesetzlichkeit stammt und ob sie Einer, der verborgen bleibt, gesetzt hat. Stelle ich diese Gesetzlichkeit dar, so kann die Darstellung recht wohl auch für den gelten, der die Gesetze als gottgesetzt erfährt. Das System gilt unabhängig von der Autonomie oder Heteronomie der ethischen Wertwelt. – Ich stellte mir dabei eben, mit unbewusster Ausschliesslichkeit, nur einen Glauben als möglich vor, der diese Wertwelt als zwar im Ursprung heteronom, gesetzt, aber in der Wirkung autonom glaubt. Einem Gott gegenüber, der in uns eine systematisch geschlossene Wertwelt stiftete und uns mit ihr allein liesse, sodass wir nun nur noch mit den Gesetzen, nicht mehr mit dem Setzer unmittelbar zu tun hätten, wäre dies Absehen von seinem Sein oder Nichtsein ja möglich. Wie aber, wenn man Gott als den immerwährend wirkenden Stifter des Gewissens sieht, aus dessen ständiger Eingebung ständig unvorhersehbare, in keinem System festzulegende ethische Impulse kommen? Dann freilich ist die ethische von der religiösen Frage untrennbar, und es wird mehr als fraglich, ob auf beide noch eine systematische Antwort denkbar und sinnvoll ist.47

Strauß kehrt also gewissermaßen wieder zu seiner frühen Position zurück, wie er sie im Nachvollzug von Rilkes Lyrik, insbesondere des Stunden-Buchs, formuliert hat. Die »tiefe Einheitlichkeit« von Rilkes Gedichten, die sich in den ›ethischen‹ Symbolen von »Schwere, Armut, Dunkelheit« und vielen anderen Formeln manifestiere, mache sie 45 46

47

Briefwechsel Martin Buber – Ludwig Strauß 1913–1953. Hg. von Tuvia Rübner und Dafna Mach. Frankfurt a. M.: Luchterhand Literaturverlag 1990, S. 21. Ludwig Strauß: Die Ethik. (Ein Entwurf) [1917, nicht veröffentlicht]. Nachlassarchiv Ludwig Strauß, The Jewish National and University Library, Jerusalem. Ms Varia 424, 128. [masch. 50 Seiten]. Bereits 1915 hat Strauß gleichsam Prolegomena zur Ethik niedergeschrieben: Der Wille zur reinen Form. Bemerkungen zu einer neuen Sittenlehre. Ebd. [masch. 14 Seiten]. Sie beziehen sich auf seine Dichtung Die Verkündung Apollos (SGW 3/1, S. 51ff.), die Bestandteil des Gedichtbands Wandlung und Verkündung ist (Leipzig: Insel 1918). Vgl. dazu Rückwald, Zionismus, Sozialismus, Universalismus (wie Anm. 4), S. 43–47. Rückwald verweist zurecht auch auf den 1910 entstandenen Sonnenhymnus (Privatdruck 1911), dessen Essenz sie als »apollinischen Vorfrühling« bezeichnet (ebd., S. 38ff.). Nachlassarchiv Ludwig Strauß, The Jewish National and University Library, Jerusalem. Ms Varia 424, 128 [masch. 2 Seiten].

»Gott ist, in uns aber wird er.«

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zu etwas Höherem als zu bloßen Dokumenten eines feinen Impressionismus: Sie sind nichts als ein Verknüpfen vieler Dinge mit Gott, immer neuer Punkte der Peripherie mit dem Zentrum.

Das »vollkommene Gedicht ist – wirklich wie Gott – ein Seiendes und Werdendes zugleich«. Dass das Gedicht in jedem Leser je individuell eine »verschiedene, relative Bedeutung« erhält, ja sich »erst im Leser« vollendet, verweist auf die poetologische Wendung zu einer ethisch begründeten Rezeptionsästhetik, die sich bereits beim jungen Strauß – in deutlicher Gegenwendung gegenüber Stefan Georges autoritativem Essentialismus – deutlich abzeichnet.48 Im Rilke-Essay des 18jährigen Schülers, so lässt sich resumieren, finden sich also bereits poetologische Positionen angedeutet, die für den Dichter und Literaturwissenschaftler Ludwig Strauß von zentraler Bedeutung sein werden.

48

Vgl. hierzu grundlegend das Nachwort von Tuvia Rübner in SGW Bd 2, S. 459– 480, insbes. S. 464ff. Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Essay Der Mensch und die Dichtung von 1929 (SGW Bd 2, S. 19–31).

Hans-Jürgen Schrader

»Ich lebe in meinem Mutterland Wort« Sprache als Heimat und Poesieimpuls in deutschsprachiger jüdischer Lyrik der Emigration und in Israel*

Am 11. Mai 2001, dem 100. Geburtstag der aus Czernowitz stammenden Lyrikerin Rose Ausländer, brachte die Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien einen feinsinnig-charakterisierenden ganzseitigen Erinnerungsartikel an die noch immer »ein Geheimtip für Kenner« Gebliebene, vollends »erst noch zu entdecken« Bleibende, die gleichwohl als »eine der bedeutendsten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts« gewürdigt wird.1 Dem Artikel sind zum Einstieg in solches Entdecken vier kurze Gedichte der nach ihrem halb um die Welt führenden Lebensweg 1988 im Nelly-SachsAltenheim der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf verstorbenen Poetin beigesellt. Diese großenteils überhaupt nicht anthologie-geläufigen Verse sind klüglich so gewählt, dass sie der rumäniendeutschen, stark überalterten Fremdsprachenminorität im Lande recht ans Herz reden und ihnen ein »nostra res agitur« zusprechen müssen. Durchweg nämlich geht es um in die Fremde geratene sprachliche, kulturelle, religiöse Erbschaft, um das eigene prekär gewordene Zugehörigkeitsgefühl zum unablegbar Ererbten, aber auch um die Bedeutung, die es für die eigene Identität, für Gefühlshaushalt und Selbstfindung hat. Schon in der Überschrift wird dieses Thema angeschlagen in dem Gedicht *

1

Eine englische Version, übersetzt von Monica Tempian (Text) und Hedda Durnbaugh (Gedichte) erschien unter dem Titel »I live in my motherland word«: Language as Homeland and Poetic Impulse. In: Monica Tempian/Hal Levine (Hg.): Exile – Identity – Language: Proceedings of the IV Jewish Heritage and Culture Seminar. Wellington/NZ: Goethe-Institut 2010, S. 10–37 (ISBN: 978–0–473–16921–3). Klaus Hammer: Die »schwarze Sappho unserer östlichen Landschaft«. Heute jährt sich zum hundertsten Male der Geburtstag der deutsch-jüdischen Lyrikerin Rose Ausländer. In: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 11. Mai 2001, S. 5, »Kultur«. Das Titel-Zitat ist als Kennzeichnung der Dichterin durch ihren großen Förderer Alfred Margul-Sperber ausgewiesen. Die Zeitung für die wenigen noch im Lande verbliebenen Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben mit ihrem überregional kaum bekannt gewordenen Jubiläumsartikel ist mir am Ausgabetag zufällig in die Hand gefallen, als ich mich zu Doktoratsbetreuungen in Cluj/Klausenburg aufhielt. – Ehrende Erinnerung zollte der Dichterin am selben Tag auch ihr Heimatort, das heute ukrainische ýernivci: an ihrem Geburtshaus in der ehemaligen Moratiugasse (heute vul. Sahaidaþnoho 58) wurde eine Gedenktafel enthüllt. Vgl. [Petro Rychlo/Oleg Liubkiwskyj (Hg.):] Literaturstadt Czernowitz. Autoren – Texte – Bilder. ýernivci/Czernowitz: Bukowina-Zentrum 2007, S. 128.

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Hans-Jürgen Schrader Das Erbe Wo in der österreichlosen Zeit wächst mein Wort in die Wurzeln Ans Buchenland Denk ich entwurzeltes Wort verschollene Vögel auch an Safed wo ich taubstumm bin aber vielleicht dichtet dort das Erbe für mich2

Im Denken der unverkennbar aus eigenem Erleben redenden Dichterin an die heimatliche Bukowina, das »Buchenland«, diesen in der eigenen Kindheit noch dominant deutschsprachigen östlichen Außenposten der österreichischungarischen Monarchie und an ihre Veränderungen in der späteren rumänischen, russischen, wieder rumänischen und schließlich ukrainischen Zeit kommen Trennungserfahrungen zu Wort. Betrauert wird mit der Zerstreuung und dem Verlust der damals Lebenden, auch der Boten von unbekümmerter Lebenslust, von Schönheit und Gesang vor allem die Entwurzelung der ererbten Sprache. Die in Czernowitz, jener nach Paul Celans Charakteristik in seiner Bremer Literaturpreisrede »nun der Geschichtslosigkeit anheimgefallenen […] Provinz«, in der einst »Menschen und Bücher lebten«,3 ererbte Sprache ist im Verlust ihres Wurzelbodens gleichsam selbst vogelfrei geworden, hat nirgends mehr festen Halt in der Welt. Dem heimatlos gewordenen Wort der selbst in die Fremde Getriebenen haften aber weitere identifikatorisch relevante Werte an als nur das Idiom: wenn im Gedicht, scheinbar in ganz andere Weltzonen weisend, Safed aufgerufen wird, dann meint das kaum die Stadt des realen Heute, im Norden Israels unter der Bedrohung aus dem nahen Libanon. Sie gehört ja gar nicht in die Emigrationsbiographie der Dichterin mit ihren Stationen namentlich in Rumänien, Amerika, Frankreich und Deutschland; zu ihrem Erbe aber rechnet sie die mit Safed verbundene religiös-kulturelle Tradition aus Kabbala und Chassidismus. Neben dem im einstigen Czernowitz überwiegend deutschsprachigen Wort und der damit aufgerufenen Sphäre von Eman2

3

Aus der Gedicht-Zusammenstellung des Erinnerungsblatts zu Rose Ausländers 100. Geburtstag, Hammer, Die »schwarze Sappho unserer östlichen Landschaft« (wie Anm. 1). Paul Celan: Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen. In: Ders.: Der Meridian und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 37, abgedruckt in: Literaturstadt Czernowitz (wie Anm. 1), S. 202.

»Ich lebe in meinem Mutterland Wort«

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zipation, Haskala und humanitärer Gesittung hatte dort auch die in ihrer Kindheit gerade noch im Entfliehen fassbare kulturell-religiöse Sphäre des mystischen und partiell magischen, spekulativ faszinierenden und verhaltensprägenden östlichen Judentums, des Zohar und des Schulchan Aruch zum zugewachsenen verlorenen Erbe gehört. Dieses Erbe in der in ihrer »österreichischen« Ära noch mehrheitlich jüdischen Stadt4 ist der im dominanten emanzipiertschriftsprachlich-deutschen Milieu aufgewachsenen Dichterin aber gar nicht mehr poetisch verfügbar, dieser Tradition tritt sie taubstumm gegenüber; das ihr angestorbene Erbe von Safed kann günstigstenfalls für sie dichten. Diese Schicht ihres Gefühlserbes, das ihrem Dichten aber nicht mehr Wurzelgrund garantiert, spricht auch in kaum kommentierungsbedürftigen Bildern das komplementär beigesetzte Gedicht mit dem bedeutungsreichen Titel »Phönix« an, das die Urheimat ihres jüdischen Volks besingt: wie der Vogel Phoinix der griechischen Mythologie aus der Asche erstehend, schickt es sich an, am Sehnsuchtsort alt-neuer Verheißung in eine leider von neuen Bränden bedrohte Existenz einzutreten:

4

Die wichtigste Literatur zur kulturellen Blütezeit in Czernowitz, zu den dieses einzigartige Ambiente und viele seiner Exponenten gewaltsam auslöschenden Geschicken der jüdischen, überwiegend deutschsprachigen Bevölkerungsmajorität habe ich zusammengestellt, Hans-Jürgen Schrader: »Gottes starres Lid« – Reflexionen geographischer und metaphysischer Grenzen in der Lyrik Manfred Winklers. In: Andrei Corbea-Hoiúie/Ion Lihaciu/Alexander Rubel (Hg.): Deutschsprachige Öffentlichkeit und Presse in Mittelost- und Südosteuropa (1848–1948). Iaúi: Ed. Univ. Al. I. Cuza/Konstanz: Hartung-Gorre 2008 (Jassyer Beiträge zur Germanistik; 12), S. 91– 116. Derselbe Band enthält noch jüngere Grundlagenrecherchen. Namentlich ist zu verweisen auf Andrei Corbea-Hoiúie: Czernowitzer Geschichten. Über eine städtische Kultur in Mitteleuropa. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2003 (Literatur und Leben; 63) sowie Andrei Corbea-Hoiúie/Alexander Rubel (Hg.): »Czernowitz bei Sadagora«. Identitäten und kulturelles Gedächtnis im mitteleuropäischen Raum. Iaúi: Ed. Univ. Al. I. Cuza/Konstanz: Hartung-Gorre 2006 (Jassyer Beiträge zur Germanistik; 10). Die Empfindung des mehr und mehr Scheinhaften, von innen ebenso wie von außen Bedrohten dieses kulturellen Equilibres wird gegen Tendenzen einer aus dem Verlust entspringenden Idealisierung nicht allein im Beitrag dieses Bandes von Zwi Yavetz: Czernowitz – Eine Stadt voller Minderheiten, S. 193–201, sondern namentlich in den Erinnerungen von Ilana Shmueli herausgestellt: Ilana Shmueli: Ein Kind aus guter Familie. Czernowitz 1924–1944. Mit einem Nachwort von Andrei Corbea-Hoisie. Aachen: Rimbaud 2006 (Texte aus der Bukowina; 29), namentlich S. 7–11, 22–29, 69–74, 95, vgl. (Hoiúie-Nachwort) S. 99, 102–110, dazu auch Ilana Shmueli: Nachwort. In: Paul Celan – Ilana Shmueli: Briefwechsel. Hg. von Ilana Shmueli und Thomas Sparr. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 155–178; brennpunktartig zusammengefasst im Essay der Autorin »Zur Einführung« in Ilana Shmueli: Sag, daß Jerusalem ist. Über Paul Celan: Oktober 1969 – April 1970. Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Gerhard Kurz. Eggingen: Edition Isele 2000, S. 7–29, hier S. 10–12.

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Hans-Jürgen Schrader Phönix Phönix mein Volk das verbrannte auferstanden unter Zypressen und Pomeranzen Honig von bitteren Bienen Salomos Lied die uralte Landschaft hügelbeflügelt im Echo jerusalemneu Hinter der Tränenwand die Phönixzeit brennt5

Im nach Heinrich Heines testamentarisch-bitterer Inventur6 aus der Matratzengruft betitelten Gedicht »Vermächtnis«7 reflektiert die Sprecherin, diese um die schönste Zeit freien Erblühens betrogene Rose mit dem lebenslang ihrem Emigrationsempfinden entsprechend beibehaltenen kurzzeitigen Ehenamen Ausländer, was ihr selbst dereinst als Hoffnungsbesitz zu vermachen bleibt. Die religiöse wie territoriale Verheißung des jüdischen Volks ist ihr für sich allein genommen nicht hinlänglich besitzessicher verfügbar, das Dazuerworbene aus spezifisch europäischer Kulturtradition und amerikanischem Freiheitsversprechen muss sie stützend daneben stellen. Und all das will sie den Fahrenden, den Überall-Ausländern, zueignen, denen sie sich metaphorisch häufig zugerechnet hat,8 selbst wenn sie sich als eigenen Ruheplatz den 5 6

7

8

Wie Anm. 2. Heinrich Heine: Vermächtniß. Romanzero – Lamentazionen XIX. In: Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (DHA). Bd 3/1. Bearb. von Frauke Bartelt/Alberto Destro. Hamburg: Hoffmann und Campe 1992, S. 120f., vgl. ebd., Bd 3/2: Apparat. Hamburg: Hoffmann und Campe 1992, S. 851–854, 972. Hier ebenfalls zitiert aus der Gedicht-Zusammenstellung des Erinnerungsblatts zu Rose Ausländers 100. Geburtstag, Hammer, Die »schwarze Sappho unserer östlichen Landschaft« (wie Anm. 1). Vgl. z. B. ihr der Sprachprägung unter dem Banner Altösterreichs und der späteren rumänisch-ukrainisch-amerikanisch-deutschen Exile gedenkendes Gedicht »Selbstporträt«: »Jüdische Zigeunerin || deutschsprachig || unter schwarzgelber Fahne || erzogen«… in: Rose Ausländer: Regenwörter. Gedichte. Hg. von Helmut Braun. Stuttgart: Reclam 1994 (Universal-Bibliothek; 8959), S. 68. Auch (mit ukrainischer Übersetzung des Herausgebers) in: Peter Rychlo (Hg.): Die verlorene Harfe. Eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik aus der Bukowina. 2. erw. Aufl. ýernivci: Knyhy XXI 2008, S. 216f.; dasselbe Bild auch in ihrem Gedicht »Czernowitz«, ebd., S. 184f.: »Schwarz-gelb || Die Kinder der Monarchie || träumten deutsche Kultur«, vgl. das Kurzbiogramm Rose Ausländers ebd., S. 515f. und 551f.

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Flecken Erde zurückträumt, aus dem sie erwachsen ist, Czernowitz, die Stadt am Pruth: Vermächtnis Aus der Wiege fiel mein Augenaufschlag in den Pruth Ich zähle meine Besitztümer 7 Romhügel 50 abstrakte Sterne aus Amerika ein umstrittenes Jerusalem mein Grab in der Bukowina Gestern Eisrosen im Ghettofenster heute sind dir die Dornen gut Meine Zukunft vermach ich den Zigeunern den goldäugigen verachteten Wanderern die aus der Zukunft leben aus der Hand in den Mund aus dem Mund in die Zukunft9

Der Dichterin gewährt aber die bedeutsamste Beheimatung weit mehr als die geraubte und verbrannte patria die von der Mutter erlernte und ihr ganz zu eigen gewordene Sprache. Diese ›Mammeloschen‹ ist portativer Lebensgrund geworden,10 das innerste Zentrum ihrer Gefühle, ja auch der Quell ihrer dem Leben sinngebenden Kreativität. Sie sagt das in dem für sie so typischen, unübertrefflich konzentrierten und lakonischen Spruchgedicht, das jenem rumä9 10

Wie Anm. 2. Vgl. Heinrich Heines entsprechende Kennzeichnung der Bibel, die das landlose Volk der Juden »im Exile gleichsam wie ein portatives Vaterland mit sich herumschleppten« in seinem späten Essay »Geständnisse« (1854), Heine: Historischkritische Gesamtausgabe der Werke (DHA). Bd 15. Bearb. von Gerd Heinemann. Hamburg: Hoffmann und Campe 1982, S. 43, vgl. ebd., Apparat, S. 524. In der französischen Vorveröffentlichung in der »Revue des deux Mondes« unter dem Titel »Aveux de l’auteur« lautet der Passus, dass die Juden »l’avaient transportée avec eux dans toutes les pérégrinations de l’exil, pour ainsi dire comme une patrie portative«, ebd., S. 151, vgl. S. 557f. Ausführlich erwogen ist die Problematik und ihre literarischen Reflexe seit Heine bei Alfred Bodenheimer: Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen: Wallstein 2002, vgl. die Rezension von Andreas Kilcher in »Neue Zürcher Zeitung«, Nr 6, 2003 (9. Jan. 2003), S. 51.

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niendeutschen Erinnerungsartikel als letztes eingefügt ist. Es ist oft abgedruckt worden, ist doch jedes Wort wert, in Erz gegraben zu werden: Mutterland Mein Vaterland ist tot sie haben es begraben im Feuer Ich lebe in meinem Mutterland Wort11

In der ersten Zeit ihres amerikanischen Exils hatte sich die seit Kindertagen im Umgang mit mehreren Sprachen erfahrene Autorin wie so viele ihrer Kollegen auch dichtend dem Englisch ihrer neuen Heimat zugewandt, sicher auch, um dem Trauma des inzwischen auch als Sprache der Mörder erlebten, barbarisch überlagerten Kindheitsidiom zu entgehen.12 Dauerhaft ging das nicht. Rationale Gründe aber mag sie in ihrer poetologischen Skizze »Alles kann Motiv sein« weder für das eine noch für das andere geben, erfährt sie doch den poetischen Akt in seinen schwer voneinander unterscheidbaren Verquickungen mit Sozialisation, Erleben, Vorbildern und Sensorium für das der Epoche Gebührende als etwas weitgehend dem eigenen Willen Enthobenes, als ihr nachgerade Auferlegtes: Warum ich schreibe? Weil Wörter mir diktieren: schreib uns. Sie wollen verbunden sein, Verbündete. Wort mit Wort mit Wort. […] Ich verhalte mich oft skeptisch, will mich ihrer Diktatur nicht unterwerfen, werfe sie in den Wind. Sind sie stärker als er, kommen sie zu mir zurück, rütteln und quälen mich, bis ich nachgebe. […] Das viersprachige Czernowitz war eine musische Stadt, die viele Künstler, Dichter, Kunst-, Literatur- und Musikliebhaber beherbergte. […] Mit siebzehn Jahren fing ich an, Notizen, Einfälle, Verse in ein Tagebuch einzutragen. Bald stand es für mich fest, daß Lyrik mein Lebenselement war. […] Viele Dichter und Schriftsteller waren mir wichtig, aber von Hölderlin und Kafka gingen die nachhaltigsten Impulse aus. […] Unser Sprachmeister Karl Kraus rühmte den Reim […]. Was später über uns hereinbrach, war ungereimt, so alpdruckhaft beklemmend, daß – erst in der Nach11 12

Aufgenommen auch in die Gedichtauswahl Ausländer, Regenwörter (wie Anm. 8), S. 30. Der Zwiespalt gegenüber der deutschen Sprache, die zunächst als bergender Raum frühkindlicher Empfindung und Sehnsüchte sowie der späteren Geistesbildung und Akkulturation, dann aber traumatisch als »Teufelssprache« erlebt wurde, ist spezifischer erwogen im Interview von Beatrix Müller-Kampel mit Ruth Klüger (Wien, 10.6.1997): Ruth Klüger: Man lernt sich irgendwie ausbreiten in der eigenen Sprache. In: Beatrix Müller-Kampel/Carla Carnevale (Hg.): Lebenswege und Lektüren. Österreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada. Tübingen: Niemeyer 2000 (Conditio Judaica; 30), S. 275–301, vgl. auch im selben Band Harry Zohn: Ich habe mir meine Muttersprache nicht vermiesen oder rauben lassen (Interview von Lola Fleck, Brandeis Univ., Waltham/Mass. 9.11.1993), S. 219–254.

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wirkung, im nachträglich voll erlittenen Schock – der Reim in die Brüche ging. Blumenworte welkten. […] Das alte Vokabular mußte ausgewechselt werden. […] Wir zum Tode verurteilten Juden waren unsagbar trostbedürftig. Und während wir den Tod erwarteten, wohnten manche von uns in Traumworten – unser traumatisches Heim in der Heimatlosigkeit. Schreiben war Leben. Überleben. […] Ende 1946. Einwanderung in die USA. Existenzkampf. Umorientierung. Provokation. Die neue Welt der modernen amerikanischen und englischen Literatur war ein frischer erregender Antrieb. Nach mehrjährigem Schweigen überraschte ich mich eines Abends beim Schreiben englischer Lyrik. […] Warum schreibe ich seit 1956 wieder deutsch? Mysteriös, wie sie erschienen war, verschwand die englische Muse. Kein äußerer Anlaß bewirkte die Rückkehr zur Muttersprache. Geheimnis des Unterbewußtseins. Erst 1957 machte ich Bekanntschaft mit der deutschen Gegenwartslyrik. Verwandelt tauchte die versunkene Welt wieder empor: in ein anderes Licht. Veraltete Formen waren in den Schatten getreten.13

Ähnlich als sich ereignend an ihr, die dem Befehl der zudringenden Verse gehorsam nachfolgt, kennzeichnet das poetologische Gedicht »Sprache« im kargeren Konzentrat den Impuls ihres Dichtens: Halte mich in deinem Dienst lebenslang […] Ich dürste nach dir trinke Wort für Wort mein Quell Dein zorniges Funkeln Winterwort Fliederfein blühst du in mir Frühlingswort Ich folge dir bis in den Schlaf buchstabiere deine Träume […].14

Paul Celan, im zitierten Essay gepriesen als Rose Ausländers Czernowitzer Jugendfreund und erster Ermutiger – beim Wiederbegegnen der beiden 1957 als Förderer und Formberater – wird in seiner Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen 1958 expliziter in der Reflexion auf sein prekär gewordenes Verhältnis zur dennoch unabstreifbaren Muttersprache (der Sprache der ermordeten Mutter). Als ererbte Literatursprache ist sie Basis für sein Dichten und nötigt ihn, wie er nicht 13

14

Rose Ausländer: Alles kann Motiv sein. In: Dies.: Die Nacht hat zahllose Augen. Prosa. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1995, S. 91–95, auch abgedruckt in: Literaturstadt Czernowitz (wie Anm. 1), S. 129–131. Ausländer, Regenwörter (wie Anm. 8), S. 24.

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ohne Erstaunen konstatierte, in ihrem verunreinigten Werkstoff weiterhin poetischen Ausdruck zu suchen: Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen, ging hindurch und durfte wieder zutage treten, »angereichert« von all dem. In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren danach, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen. Es war […] der Versuch, Richtung zu gewinnen. […] Es sind die Bemühungen dessen, der, […] auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend.15

In den Skizzen und Entwurfmaterialien zur Dankesrede für den Büchner-Preis 1960, »Der Meridian«, hat Celan das für seine poetische Wortfindung notwendige Hindurchgehen des ererbten Sprachmaterials durch die eigenen Antwortlosigkeiten in der zunächst rätselhaften Notiz unter der Überschrift »Im Gedicht« noch einmal aufgegriffen: »Denken und Sprache (Theaetet-Zitat etc.)«. Die Editoren der Tübinger kritischen Ausgabe haben dieses Zitat aufgrund von Celans annotiertem Exemplar des platonischen »Theaitetos« (190a) aufgeschlossen, und damit zugleich die Allusion der Bremer Rede erhellt: »Sokrates: Und Denken, verstehst du darunter eben das wie ich? […] Eine Rede, welche die Seele bei sich selbst durchgeht, über dasjenige, was sie erforschen will«. Hinzunotiert hat Celan Heideggers Übersetzung: »Das sagende Sichsammeln, das die Seele selbst auf dem Weg zu sich selbst durchgeht, im Umkreis dessen, was je sie erblickt. (Heidegger)«.16 Alle die in diesen Äußerungen anklingenden unterschiedlichen Aspekte und Relevanzen der als Medium der Verständigung, der Selbstbekundung und auch als künstlerisches Formmaterial zum Problem gewordenen Muttersprache kommen in den Gedichten der aus ihren deutschsprachigen Herkunftsregionen und Verkehrskontexten Vertriebenen oder bloß mit genauer Not Entkommenen immer wieder zur Sprache, wofür ich um den Preis einer bisweilen recht gewaltsamen Herauslösung aus der komplexeren Sinn- und Klangstruktur des jeweiligen Gedichts nur ein paar mir exemplarisch erscheinende Passagen herausstellen kann. Häufiger noch in Autobiographien als in der Lyrik wird die erst in der Verlustgefahr zu vollem Bewusstsein kommende Einsicht thematisiert, dass mit 15 16

Celan, Ansprache (wie Anm. 3), Literaturstadt Czernowitz (wie Anm. 1), S. 202f. Paul Celan: Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien. Hg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf und Christiane Witkop (Werke, Tübinger Ausgabe). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 104, Kommentar S. 235.

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der Sprache der eigenen Sozialisation nicht nur die familialen Innigkeitswerte und die der frühesten Welterschließung weggerissen werden, sondern auch das dem eigenen Denken und Sichäußern basisgebende kulturelle Erbe.17 Unerwartet marginalisiert, wird die eigene Bildungsfracht in fremdsprachigen Kontexten zum Luxus ohne öffentlichen Verkehrswert. Wie traumatisch das sein kann, hat wohl jeder langfristig in fremdsprachige Kulturkontexte Geratene erfahren. Ein detailliertes Entfalten von Lesebiographien, von einem erworbenen kulturellen Schatz, der in Ghetto, Lagern und Exilleben außer Kurs gerät wie in den »Erinnerungen« etwa Alfred Kittners, bei dem schon die Milchküchen der Kindheit durch »Gipsbüsten der Klassiker Lessing, Schiller und Goethe, die Abgötter jüdischer Bürger in Czernowitz« geziert gewesen waren,18 sind freilich kaum in lyrische Form zu bringen. Der Wortmagierin Rose Ausländer gelingt im exemplarischen Resümee ihrer Verluste immerhin auch dies: Ich denke Ich denke an die Eltern die mich verwöhnten an Spielzeug und Kindergespielen an Lust und Qual meiner ersten Liebe […] an Hölderlin Trakl Kafka und Celan an das Getto an Todestransporte Hunger und Angst […] an Zauberworte und Lebenszauber […].19

17

18 19

Ein Beispiel für viele aus Autobiographien gibt das lakonische Resümee der 1934 aus Berlin nach Erez Israel emigrierten, später in die DDR übersiedelten und schließlich neuerlich ausgewanderten Rosemarie Silbermann, geb. Chempin: Denk’ ich an Deutschland 1972. In: Andreas Lixl-Purcell (Hg.): Erinnerungen deutschjüdischer Frauen 1900–1990. Leipzig: Reclam 1992 (Reclam-Bibliothek; 1423), S. 409–422 (hier S. 410): »Ich frage aufs neue: Was ist Heimat? Wo ist meine Heimat? Was ist das: Muttersprache? Was ist meine Muttersprache? Ich will versuchen, chronologisch vorzugehen. Ich wurde also 1922 in Berlin geboren. […] Rosemarie Chempin, Konfession: Mosaisch, wie es so schön in meinem Geburtsschein heißt. Vater: Mosaisch. Mutter: Mosaisch. Nationalität: Deutsch. Sprache: Deutsch. Kultur: Deutsch. Eine Familie von Künstlern. Vater Schauspieler, Doktor der Kunsthistorik. Mutter Schauspielerin.« – Trotziges Deutschsprechen gegen Verbote und dann doch Bedenken gegen das Deutschsprechen unter Deutschen wird im selben Band reflektiert von der USA-Emigrantin Charlotte Pick: Die verlorene Heimat, ebd., S. 387–401, hier S. 388f. Literaturstadt Czernowitz (wie Anm. 1), S. 164. Ausländer, Regenwörter (wie Anm. 8), S. 94.

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Eher klingt auch in Gedichten an, wie viel an lebenserhaltender Kraft in existenziellen Ausnahmesituationen nicht allein aus den frühen Ausdrucksmitteln der Intimität, sondern aus dem Bildungsgut erstehen kann, selbst wenn es äußerlich wertlos gewordenen scheint. Karl Wolfskehl reflektiert in »Aufbruch, Aufbruch. Nach dem Sternfall Oktober 1933« das in der poetischen Mitgift Ephemere und das Beständige: Wo blieb, woran ihr glühend dachtet? Was gestern galt, ist heute Trug. Wem eine Nacht wie diese nachtet, erstarre bis die Stunde schlug. Doch keiner, keiner von uns allen vergißt, zieht er gen Morgen fort, was einmal ihm ins Herz gefallen: der Liebe Du, der Worte Wort. Der Worte Wort, vom Meister stammend, der Liebe Du aus junger Zeit – ihr beide heilig in uns flammend, seid Stern und Stärkung und Geleit.20

Wie lebensstärkend das Geformte gerade von in Rhythmen und Reimen stilisierter Sprache in ausweglos scheinenden Situationen erfahren wurde, wird besonders in der Auseinandersetzung mit dem Adorno-Verdikt gegen die Fortproduktion von Lyrik nach Auschwitz beteuert. Ruth Klüger hat die Überlebenshilfe durch selbst triviale Versmitgift im ersten Teil ihrer Autobiographie »weiter leben« außer im theoretischen Diskurs auch an ihren eigenen Lagergedichten aus halber Kindheit in Birkenau erwogen: Viele KZ-Insassen haben Trost in den Versen gefunden, die sie auswendig wußten. Man fragt sich, woran denn das Tröstliche an so einem Aufsagen eigentlich besteht. Meistens werden Gedichte von religiösem oder weltanschaulichem Inhalt erwähnt oder solche, die einen besonderen emotionalen Stellenwert in der Kindheit des Gefangenen hatten. Mir scheint es indessen, daß der Inhalt der Verse erst in zweiter Linie von Bedeutung war und daß uns in erster Linie die Form selbst, die gebundene Sprache, eine Stütze gab. […] In gewissen Lagen, wo es einfach darum geht, etwas durchzustehen, sind weniger tiefsinnige Verse vielleicht noch geeigneter als solche, die das Dach überm Haus sprengen. […] Zwei Gedichte über Auschwitz habe ich noch im Jahre 1944 verfaßt […]. Es sind Kindergedichte, die in ihrer Regelmäßigkeit ein Gegengewicht zum Chaos stiften wollten, ein poetischer und therapeutischer Versuch, diesem sinnlosen und destruktiven Zirkus, in dem wir untergingen, ein sprachlich Ganzes, Gereimtes entgegenzuhalten; also eigentlich das älteste ästhetische Anliegen. Darum mußten sie 20

Karl Wolfskehl: Aufbruch, Aufbruch. In: Heinz Seydel (Hg.): Welch Wort in die Kälte gerufen. Die Judenverfolgung des Dritten Reiches im deutschen Gedicht. Berlin: Verlag der Nation 1968, S. 80. Der Titel dieser grundlegenden Anthologie entstammt dem Gedicht von Arno Nadel: Winter, ebd., S. 51 (»Welch Wort, in die Kälte gerufen!«).

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auch mehrere Strophen haben, zum Zeichen der Beherrschung, der Fähigkeit zu gliedern und zu objektivieren. Ich war leider belesen, hatte den Kopf voll von sechs Jahren Klassik, Romantik und Goldschnittlyrik. Und nun dieser Stoff. Meinem späteren Geschmack wären Fragmentarisches und Unregelmäßigkeiten lieber, als Ausdruck sporadischer Verzweiflung zum Beispiel. Aber der spätere Geschmack hat es leicht. Jetzt hab ich gut reden. So gut reden hab ich wie die andern, Adorno vorweg, ich meine die Experten in Sachen Ethik, Literatur und Wirklichkeit, die fordern, man möge über, von und nach Auschwitz keine Gedichte schreiben. Die Forderung muß von solchen stammen, die die gebundene Sprache entbehren können, weil sie diese nie gebraucht, verwendet haben, um sich seelisch über Wasser zu halten.21

In gebundener Form ist aus gleichartiger Erfahrung der durch zahllose Exile in Prag, Zürich, Paris, französische Internierungslager und New York gegangene Dresdner Hans Sahl noch einen Schritt weiter gegangen. Polemisch gegen den Zensor lyrischen Eingedenkens lobt er die Lyrik als gerade in deutscher Sprache einzig noch mögliches Medium, die Barbarei zu bannen: Memo Ein Mann, den manche für weise hielten, erklärte, nach Auschwitz wäre kein Gedicht mehr möglich. Der weise Mann scheint keine hohe Meinung von Gedichten gehabt zu haben – als wären es Seelentröster für empfindliche Buchhalter oder bemalte Butzenscheiben, durch die man die Welt sieht. 21

Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen: Wallstein 1992, S. 122–126. Eines der in diesem Passus auch abgedruckten und kritisch erläuterten Gedichte, »Der Kamin«, ist, von Heinz Politzer schon früh zum Druck befördert, in mehrere Anthologien gelangt, Manfred Schlösser (Hg.): An den Wind geschrieben. Darmstadt: Agora 1960, dann Seydel (Hg.), Welch Wort (wie Anm. 20), S. 320, vgl. 549, 574 (Nr 155). Kommentierungen zur zitierten Passage in Irene HeidelbergerLeonard: Ruth Klüger. weiter leben. Eine Jugend. Interpretation. München: Oldenbourg 1996 (Oldenbourg-Interpretationen; 81), insbes. S. 24f., 35–39, 48f. – Der Aspekt der zum Problem gewordenen Herkunftsprache wird in unterschiedlichen Facetten ausführlicher erwogen im zweiten Teil der Autobiographie, Ruth Klüger: unterwegs verloren. Erinnerungen. Wien: Zsolnay 2008, insbes. im Kapitel »Wiener Neurosen«, S. 195–216. Dort integriert ist auch der Passus ihrer Bruno-KreiskyPreis-Rede von 2002 über die Gründe ihres initialen Verfassens der (später dann selbst ins nach eigenem Bekunden mittlerweile sicherer beherrschte Englisch übersetzten) Erinnerungen in deutscher Sprache: »Die deutsche Sprache, latent im Gehirn, aber noch immer robust, hatte mich gewählt, nicht umgekehrt. Wenn man sich intensiv auf die Kindheit besinnt, dann sinniert man in der Sprache der Kindheit, und das war natürlich für mich das wienerische Hochdeutsch.« S. 213.

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Hans-Jürgen Schrader Wir glauben, daß Gedichte überhaupt erst jetzt wieder möglich geworden sind, insofern nämlich als nur im Gedicht sich sagen läßt, was sonst jeder Beschreibung spottet.22

Das Dilemma, just als Deutscher in deutscher Sprache, im Namen eines zukünftig-besseren Deutschland dem deutschen Ungeist zu widerstehen, hatte derselbe Sahl schon 1933 formuliert, als er sich über fünfzigjährig in die Fremde getrieben fand. Dieses Dilemma, der Zwiespalt zwischen »Ich und Ich«, den später Else Lasker-Schüler zum Titel und Sujet ihres letzten Dramas erhob,23 erlebt er als Hiobs-Qual:24

22

23

24

Hans Sahl (Hans Salomon): Memo. In: Petra Kiedaisch (Hg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart: Reclam 1995, 21998 (Universal-Bibliothek; 9363), S. 145, Quellennachweis S. 167. Das Gedicht wurde erstveröffentlicht in Hans Sahl: Wir sind die Letzten. Heidelberg: Schneider 1976, S. 14. Umfassenderes Biogramm des Autors: Desider Stern: Werke von Autoren jüdischer Herkunft in deutscher Sprache. Eine Bio-Bibliographie. 2. revid. u. bedeutend erw. Aufl. Wien, München: B’nai B’rith 1969 (Ausstellung des B’nai B’rith UB Frankfurt/Main 1969), S. 287. Der Titel wurde zweifellos bewusst in der (damals noch ungeläufigen) Kurzform gewählt, damit er neben der Memoria zugleich Memorandum und Memorabile umfasse. Zum Motiv und zum Erleben der Persönlichkeitsspaltung im Spätwerk der Autorin weitere Belege und Analysen auf der Grundlage ihrer schikanösen fremdenpolizeilichen Observation im Schweizer Exil und ihrer Unfähigkeit, als Greisin in Jerusalem noch Wurzeln zu schlagen, vgl. Hans-Jürgen Schrader: Else Lasker-Schüler, »L’Effarouchée«. Ses années en Suisse: chagrins, peinture, poésie. In: Peter Schnyder (Hg.): Visions de la Suisse. À la recherche d’une identité: Projets et rejets. Strasbourg: Presses Univ. de Strasbourg 2005 (Collection Helvetica), S. 395–409, erweitert auf deutsch: Ders.: Else Lasker-Schüler, »Die Verscheuchte«. Der Zürcher Abschiedsvortrag im Übergang von der Schweizer zur Jerusalemer Emigration. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2005, S. 269–288. Zur Bedeutung des Hiob-Motivs spezifisch in der deutsch-jüdischen Reflexion der Verfolgungen des 20. Jahrhunderts vgl. Hans-Jürgen Schrader: Job dans la littérature allemande. Modèle de l’homme, symbole du chagrin juif, quête de la théodicée. In: Jean-Christophe Athias/Pierre Gisel (Hg.): De la Bible à la littérature. Genève: Labor et Fides 2003 (Religions en perspective; 15), S. 135–167, zum 20. Jahrhundert S. 151–167. Erweitert auf deutsch: Ders.: »Hiob« in deutscher Dichtung (»Faust« – Joseph Roth – Lyrik nach der Shoah). Muster des Menschen – des jüdischen Leids – der Frage nach Theodizee. In: Religio in litteris. Vier Interpretationen deutscher Dichtung zwischen Aufklärung und Moderne in ihrer Beziehung zum Religiösen. Vorträge anläßlich des 70. Geburtstags von Dr. Rudolf Mohr. Bonn: Habelt 2004 (Sonderh. der Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes; 53), S. 1–32, zum 20. Jahrhundert S. 19–32.

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Monolog Lebe ich noch? Ich lebe. Auf der Reise. Von einem Ich zu einem andern Ich. In das ich mich verwandle, unablässig, leise. Weh, jener Deutsche war ich sicherlich. Nun aber ringe ich, mit tausend Toden Mich zu entjäten, dem geliebten Boden, In den die Schicksals-Winde mich versäten. […] Ich bin nicht jener, der ich ward. Ich schwebe mitten zwischen Ich und Ich. […] Wer aber bin ich, wenn ich dies nicht bin, Verleugne ich das Volk, des Sprach’ ich spreche, – Ich es verleugnen?! Leugn’ ich meinen Sinn? Mein Aug’? Mein Herz? Verleugne ich mein Ohr? […] Ich kann aus deines Irrtums Gründen, Darin ich Wurzeln schlug, mich nicht entbinden, […] O Hiob, meine Seele, Blut und Schwären, Verloren hab ich, was ich war und bin, – Lebendig oder tot, ich werde wiederkehren.25

Einerseits ist die mitgenommene Sprache das neben der nackten Physis Einzige, das in der Austreibung geblieben ist, das nicht geraubt werden konnte und Zeugnis geben kann. Stefan Heym sagt sich in »Rechtfertigung«: du, du hast nur die Hände, du, du hast nur ein winziges Wort zwischen den schweigenden Ländern.26

»Ich bin König Niemand || trage mein Niemandsland || in der Tasche« ist dafür das Bild Rose Ausländers,27 die das köstliche Residuum entsprechend dem Theologem von der menschlichen Ebenbildlichkeit Gottes als »Gottes Ebenlaut: Das Wort«, als auszeichnend Menschlichstes und zugleich Göttlichstes anspricht.28 Im Exil macht sich, beispielhaft in Alfred Wolfensteins Gedicht »Donzy / Loire, 22. Juni 1940« das Heimweh daran fest: In den Winkel einer Welt geworfen, fern von allem mir Vertrauten, von mir selbst im tiefsten Grund verworfen, und noch immer lauschend Mutterlauten – 25

26 27 28

Hans Sahl: Monolog. In: Josef Billen (Hg.): Feuerharfe. Deutsche Gedichte jüdischer Autoren des 20. Jahrhunderts. Leipzig: Reclam 1997 (Reclam-Bibliothek; 1598), S. 141, vgl. S. 265. Stefan Heym: Rechtfertigung. In: Seydel, Welch Wort (wie Anm. 20), S. 120, vgl. 546 und 574, Nr 150. Rose Ausländer: Niemand. In: Billen, Feuerharfe (wie Anm. 25), S. 36. Rose Ausländer: Dichterbildnis. In: Rychlo, Verlorene Harfe (wie Anm. 8), S. 168.

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Hans-Jürgen Schrader […] Nur mit meinem Schicksal kann ich sprechen. Es ist taub, wenn ich verloren weine, wenn ich wühle in vergangnen Schwächen.29

Den Niemandslandkönigen ist solcher Besitz im fremden und fremdsprachigen Terrain aber doch von geringem Wert und wird so umso mehr Teil der Beraubung, je weniger die spät angeeignete Fremdsprache der in frühen Kindertagen zugefallenen äquivalent werden kann. So beklagt Hilde Domins dem Vater zugeeignetes Kurzgedicht »Exil«, durch die harten Kola der Versbrüche in stammelndem Klang: Der sterbende Mund müht sich um das richtig gesprochene Wort einer fremden Sprache.30

Und Ilse Blumenthal-Weiss resümiert vormaligen Besitz und Beraubung unter demselben Titel »Exil« im Paradox des zwar innigst Zugehörigen und doch Abhandengekommenen: Was mir gehört, Ist die Vergangenheit, Die flüchtige Wolke Und die Dornbuschglut. […] Was mir gehört, Das Niemehr-Heimatland Und eine Sprache, Die mir nicht gehört.31

Sprachberaubung bedeutet aber seelischen Orientierungs-, wenn nicht gar Wirklichkeitsverlust. Die Aura der tiefsten Empfindungen hängt nur an den schwertönenden Grundwörtern der Muttersprache, wiederum nach Hans Sahl, 1943: Bald hüllt Vergessenheit mich ein Kein deutsches Wort hab ich so lang gesprochen. Ich gehe schweigend durch das fremde Land. Vom Brot der Sprache blieben nur die Brocken, die ich verstreut in meinen Taschen fand. 29 30 31

Alfred Wolfenstein: Donzy/Loire, 22. Juni 1940. In: Seydel, Welch Wort (wie Anm. 20), S. 118, vgl. 565 und 575, Nr. 164. Hilde Domin: Exil. In: Billen, Feuerharfe (wie Anm. 25), S. 72, vgl. 260, vgl. Stern, Werke jüdischer Autoren (wie Anm. 22), S. 107f. Ilse Blumenthal-Weiss: Exil. In: Billen, Feuerharfe (wie Anm. 25), S. 72, vgl. 259f., vgl. Stern, Werke jüdischer Autoren (wie Anm. 22), S. 86.

»Ich lebe in meinem Mutterland Wort«

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Verstummt sind sie, die mütterlichen Laute, die staunend ich von ihren Lippen las, Milch, Baum und Bach, die Katze, die miaute, Mond und Gestirn, das Einmaleins der Nacht. Es hat der Wald noch nie so fremd gerochen. Kein Märchen ruft mich, keine gute Fee. Kein deutsches Wort hab ich so lang gesprochen. Bald hüllt Vergessenheit mich ein wie Schnee.32

Namentlich den Dichtern ist dieses Aus-der-Sprache-Fallen ein Wegnehmen ihres unvergleichlich differenzierten Arbeitsmaterials und Instruments der Darbietung, zugleich aber auch ihres Publikums, ihrer Kundschaft. Dies beklagt die nach der nicht geglückten Integration in Israel wieder heimgekehrte Wienerin Martha Hofmann unter dem programmatischen Titel Geraubte Sprache O wär ich wie Wolke, wie Nebel und Dunst so stumm, da die Abende lodern, ich müßt nicht, der Sprache beraubt, meiner Kunst, der einzigen – lebend vermodern. O wär ich wie Blüte, wie Knospe und Blatt so stumm, da es Tag auf der Welt ist, ich wär nicht des Lebens so namenlos satt, wie nun, da die Leier zerschellt ist.33

Die ärgste Beraubungserfahrung aber resultiert, und das ist die andere Seite des Dilemmas, aus dem Unschuldsverlust der Sprache selbst in ihrem nationalistisch-nationalsozialistischen Sündenfall. Wer als Opfer in der Muttersprache weiterdichtet, teilt seine Sprache mit Mörder-Tätern, die deren Begriffe unauslöschlich pervertiert haben und ihm gar noch, wie in Franz Werfels Albtraum, das Benutzen derselben Sprache zum todeswürdigen Verbrechen machen wollten: Und während Unsichtbare mich bespeien, »Ich hab ja nichts getan« – hör ich mich schreien – »als daß ich eure, meine Sprache sprach.«34

32 33

34

Hans Sahl: Bald hüllt Vergessenheit mich ein. In: Seydel, Welch Wort (wie Anm. 20), S. 104, vgl. 557 und 574, Nr 155. Martha Hofmann: Geraubte Sprache. In: Seydel, Welch Wort (wie Anm. 20), S. 105, vgl. 546 und 570, Nr 50. Vgl. Stern, Werke jüdischer Autoren (wie Anm. 22), S. 179f. Franz Werfel: Traumstadt eines Emigranten. In: Seydel, Welch Wort (wie Anm. 20), S. 143, vgl. 564 und 573, Nr 131. Vgl. Stern, Werke jüdischer Autoren (wie Anm. 22), S. 339f.

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Wie kann man für menschliche Botschaft zurückgewinnen, was denaturiert ist zu unmenschlicher Barbarei? Programmatisch sagt das, und doch auf deutsch, Erich Fried: Worte seit Auschwitz Worte geprägt von ihrem Schicksal dem Sprecher im Mund verbrannt […] Das genügt nicht gegen die Mörder […] Nur ein oder zwei von den Ängsten der Mörder bleiben hängen in deinem Verhau […] Aber Horden von Worten der Horden brechen durch und ziehen gereimt oder ungereimt weiter […] Andere Worte anders verzahnt […] tun jetzt not: Andere Worte neuere ältere arme unbeholfene Worte aber gefügt um zu helfen töricht zum Teil aber vielleicht doch nicht ganz vergeblich nicht ganz so leicht überrennbar nicht ganz so wehrlos beiseite zu schieben35

35

Erich Fried: Worte seit Auschwitz. In: Billen, Feuerharfe (wie Anm. 25), S. 204– 210, vgl. 261, vgl. Stern, Werke jüdischer Autoren (wie Anm. 22), S. 135.

»Ich lebe in meinem Mutterland Wort«

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Die altvertrauten Bezeichnungen und Begriffe sind überlagert von fatalem neuem Sinn, so für Alfred Margul-Sperber, O Schmach der Zeit, die meinen Traum zerstört! Erinnern, so verhext in ihrem Bann, Daß, wenn mein Ort jetzt diesen Namen hört, Ich nicht mehr an die Kindheit denken kann Weil sich ein Alpdruck in mein Träumen schleicht36

In Frage steht so, wie in Celans der verstorbenen Mutter gedenkendem Gedicht »Nähe der Gräber«, ob man nach dem Sündenfall der Sprache »den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim« noch dulden und ertragen kann,37 nachdem sich, wie der aus der Bukowina über verschiedene Exilstationen nach Jerusalem gekommene Manfred Winkler in Anspielung auf Else LaskerSchülers die Romantik zum Erfrieren bringende Geschichtserfahrung sagt, »tanzende Ratten im blauen Klavier« breit gemacht haben, »die ihre Hackenlettern auf graue Wände menetekeln«,38 oder, wie sein aus Preßburg/Bratislava gekommener Freund und hebräischer Dichterkollege Tuvia Rübner, zuerst schon in Ivrith, formuliert, »der Wind fuhr zwischen mich und die Worte«.39 Die Möglichkeiten, sich dem Dilemma der bemakelten, aber ja schließlich doch noch in Mutterreinheit ererbten Sprache zu entziehen, die allem eigenen Empfinden, Denken und Benennen Laute und Begriffe verliehen hat, wären nur entweder die entschlossene »sprachliche Auswanderung«40 (gesetzt, eine 36 37

38

39

40

Alfred Margul-Sperber: Auf den Namen eines Vernichtungslagers [»Buchenwald«]. In: Rychlo, Verlorene Harfe (wie Anm. 8), S. 96, 532–534. Paul Celan: Nähe der Gräber. In: Celan: Gesammelte Werke. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert. Bd 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 20, danach bei Rychlo, Verlorene Harfe (wie Anm. 8), S. 350, 518–520. Manfred Winkler: Poetische Aktualität mit Else Lasker-Schüler. In: Ders.: Im Schatten des Skorpions. Gesammelte Gedichte. Aachen: Rimbaud 2006 (Texte aus der Bukowina; 31), S. 109, vgl. Rychlo, Verlorene Harfe (wie Anm. 8), S. 534f. Vgl. meine Rezension in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas 2 (2007), S. 441f. sowie zu seinem Lyrikwerk insgesamt Schrader, »Gottes starres Lid« (wie Anm. 4), S. 91–116. Vgl. dazu die neue Sammlung, vorrangig von Gedichten der letzten Jahre, Manfred Winkler: Im Lichte der langen Nacht. Neue Gedichte. Aachen: Rimbaud 2008 (Texte aus der Bukowiner Literaturlandschaft; 44). Tuvia Rübner: Wüstenginster. Gedichte. Hg., aus dem Hebräischen übersetzt und mit einer Nachbemerkung von Efrat Gal-Ed und Christoph Meckel. München, Zürich: Piper 1990, S. 16. Als »Voraussetzung einer vollständigen Heimkehr ins Land der Väter« wird beispielhaft an Ludwig Strauß – doch paradigmatisch für viele Lyriker und Lyrikerinnen wie auch Lea Goldberg – nach der personalen auch die »sprachliche Auswanderung«, konkret der konsequente Sprachwechsel ins Hebräische konstatiert in Thilo Röttger (Hg.): Die Stimme Israels. Deutsch-jüdische Lyrik nach 1933. München: Kösel 1966, S. 50. Zu Lea Goldberg, ihrem Zyklus »Ilanot« und zur doppelten

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Hans-Jürgen Schrader

Zweit- oder Adoptivsprache vermöchte mit den ihr anhaftenden kulturellen Konnotationen nur halbwegs ebenbürtig beherrscht werden können), oder ein Verstummen oder schließlich, insofern man sich nicht auch noch dieses einst unbesudelt Empfangene Eigenste durch Hitler und seine Horden wegnehmen lassen will, eine dieser Befleckungen eingedenke, jedes Wort kritisch abhorchende diätetische Neuvereinnahmung.41 Auch diese Erwägungen reflektieren sich im Gedicht. Friedrich Torberg schon setzt dem Gebrüll des Tiers aus dem Abgrund (laut Titel-Unterschrift) »im Juni 1940 in einer französischen Militärbaracke, während des Zusammenbruchs der alliierten Armeen« trotzig sein Gedicht, »Die Rettung«, entgegen, dessen letzte Strophe die Schlussverse der vorangegangenen, gleichsam überlebenssichernd, im beschließenden Summationsschema zusammenzieht: Brüllend reckt aus immer neuen Kränzen der gehörnte Herr der Pestilenzen seinen Kopf, und weh wenn er mich sieht: wird mit seinen Fängen mich umkrampfen, wird mit seinen Hufen mich zerstampfen – Aber Wort bleibt Wort. Aber Reim bleibt Reim. Aber Lied bleibt Lied.42

41

42

Übersetzung des Gedichts »Oren«/»Fichtenbaum« ins Deutsche durch die beiden sowohl deutsch- als auch hebräisch-schreibenden israelischen Dichter Tuvia Rübner und Manfred Winkler vgl. den Schluss meines Aufsatzes, Hans-Jürgen Schrader: Fichtenbaums Palmentraum. Ein Heine-Gedicht als Chiffre deutsch-jüdischer Identitätssuche. In: Hans-Jürgen Schrader/Elliott M. Simon/Charlotte Wardi (Hg.): The Jewish Self-Portrait in European and American Literature. Tübingen: Niemeyer 1996 (Conditio Judaica; 15), S. 5–44. Das Beharren darauf, dass die Grundlage des eigenen Denkens und Sprechens die noch unverdächtige Sprache vor ihrer Pervertierung durch die Nazis war, bei deren Benutzung aber seither durch eine Wort- für Wort-Reflexion ausgefiltert und gebrandmarkt werden muss, was ihr durch Missbrauch an Unmenschlichem eingedrungen sein könnte, ist auch Ruth Klüger in ihrem Interview wichtig: Zur Zeit des österreichischen »Anschlusses« »konnte ich schon ganze Gedichte auswendig. Also, mein Deutsch ist nicht von Hitler geprägt, würde ich sagen.« Klüger, »Man lernt sich irgendwie ausbreiten« (wie Anm. 12), S. 277. Genau in diesem Sinne spricht Alois Brandstetter: Entlarvende Sprache? Kritische Beobachtungen zum Deutsch der Gegenwart. In: Wort und Wahrheit, Monatsschrift für Religion und Kultur 20 (1965), S. 123–131 von der Notwendigkeit einer (das kritisch-dekonstruierende Spracherproben der ganzen »Wiener Schule« der 1950er und 60er Jahre bestimmenden) »geistigen Diätetik« gegenüber dem ererbten Idiom und Formelschatz. Vgl. zum Kontext Alois Brandstetter: Landessäure. Starke Stücke und schöne Geschichten. Hg. von Hans-Jürgen Schrader. Stuttgart: Reclam 1986, 21988 (UniversalBibliothek; 8335), Nachwort, S. 85f. Friedrich Torberg: Die Rettung. In: Seydel, Welch Wort (Anm. 20), S. 107, vgl. 562 und 572, Nr 118. Vgl. Stern, Werke jüdischer Autoren (Anm. 22), S. 323f.

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Friedrich Kittner, »Selbstschau«, 1968, erwägt aus dem Erleben der Lager in Transnistrien und am Bug den Weg ins Verstummen, den sein Landsmann Celan ja kurz darauf gegangen ist: Mit Schatten steh ich im Verkehr, Mit Galle siegle ich den Bund; Die Wege führen kreuz und quer: Ich gehe irr mit stummem Mund.43

Aber doch entschließt er sich zum Zeugnisgeben und Warnen in wachsamem Belauern des verdächtigen Wortmaterials der Noch-immer-Heimatsprache, 1977: Mein Haus Glaubt mir, es ist nicht auf Sand gebaut, das Haus, in dem ich hocke, in dem ich die Worte wie fügsame Tiere um mich sammle, mich selbst wiederzufinden in Blicktausch, Abwehr und Spiel; auf Schuttgeröll ruhen die Bohlen […] – der Wolf ist dem Wolf ein Mensch.44

Hans Sahl aber begründet in seinem »Gruß aus der Ferne« schon aus dem Exil jenen Weg, den die meisten in ihrer Herkunftssprache weiterschreibenden Emigranten und Emigrantinnen gegangen sind, den Prozess des Zusammensuchens der genießbar gebliebenen übrigen Brocken, ihres Durchsäuerns zu neuem Sauerteig, damit ein wieder reines und kräftigendes tägliches Brot erstehe: Zum Zeichen, daß ich noch da bin, schicke ich euch von Zeit zu Zeit Vermischtes aus der Neuen Welt zum Abdruck, […] Brosamen vom Tisch der Sprache, die ich mir in der Erinnerung zusammenknete und dem menschlichen Genuß wieder zugänglich mache. Denn das Leben geht weiter, sage ich.45

43 44 45

Fiedrich Kittner: Selbstschau, 1.1.1968. In: Rychlo, Verlorene Harfe (Anm. 8), S. 286, vgl. 530–532. Alfred Kittner: Mein Haus, 1977. Ebd., S. 294. Hans Sahl: Gruß aus der Ferne. Erstpubliziert 1976. In: Billen, Feuerharfe (Anm. 25), S. 77, vgl. 265.

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Bei den nach Erez Israel Ausgewanderten und hier, wo ein Verharren in der Sprache aller Verfolgungen nachvollziehbarerweise besonders unwillkommen war und neuerlich in eine Außenseitergruppe hineinstellte, weiterhin deutsche Lyrik Schreibenden – sei es exklusiv, sei es im Wechsel mit hinzuerworbener hebräischer Schriftsprache –, wird das Nachdenken über dieses Medium natürlich besonders intensiv. Trotzigstes Beharren bei diesem innigsten Besitz aus vorhitlerischen Zeiten, der zum Gefährten und Zeugen alles Erlittenen geworden war, äußert der als Fritz Rosenthal aus München Vertriebene und programmatisch in den Namen Schalom Ben-Chorin hinübergewechselte Rabbiner in seinem Gedicht Die Sprache Mit jeder Faser meines Seins bin ich mit dieser Sprache eins, ward ich mit dieser Sprache groß bedingungslos, war ich in dieser Sprache jung voll Hoffnung und Begeisterung ward ich in dieser Sprache müd entlaubt von allem meinem Lied, litt ich mit dieser Sprache um ihr Marterkreuz und wurde stumm. Und wurde sie aufs neu gelehrt, da ich im Schmerzschrei sie gehört, bis sie an blutiger Totenbahre erscholl als weckende Fanfare.46

Bei aller Trauer um ihren das Lied und alle Humanität zerstörenden Unschuldverlust – Es starb das Wort, die Lieder alle starben Die Verse fielen tot aus dem Gedicht Und auf den Bildern blaßten alle Farben Zuletzt zerfiel das Menschenangesicht.47

– ist sie ihm doch das geeignetste Instrument, die Theodizeefrage Hiobs zu wiederholen, »Fluch-Gebet«, 1944:

46

47

Schalom Ben-Chorin (1913–1999): Meine Sprache (1937, erstpubliziert im Jerusalemer Selbstverlag Romema 1942). In: Seydel, Welch Wort (Anm. 20), S. 109, vgl. 538 und 568, Nr 7. Vgl. Stern, Werke jüdischer Autoren (Anm. 22), S. 70. Schalom Ben-Chorin: Elegie. Erstpubliziert ebd. 1942. In: Billen, Feuerharfe (Anm. 25), S. 77, vgl. 259.

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Aus meiner Sprache Klangkreis ausgespieen Bin ich mit deinem Willen, dunkler Herr: Die Nächte, die ich qualvoll durchgeschrieen Mit ihnen, meinen Zeugen tret ich her Zum großen Rechten mit dem Herrn der Welt […].48

Für Mascha Kaléko, die aus Galizien und Berlin über eine lange USAEmigrationszeit nach Israel kam und auf diesem langen Weg erleben musste, wie ihr eigenes »Emigrantenkind« ihr das verdächtige so souverän spottlustig an Heine geschulte Poesiedeutsch verbieten will, Das lernt das Wörtchen »alien« buchstabieren und spricht zur Mutter »Don’t speak German, dear.« Muß knapp acht Jahr alt Diskussionen führen, daß er »allright« ist, wenn auch nicht von hier49 –

für sie also ist Heimweherfahrung stärker noch als an geographisches an das Sprachsystem und den darin erschlossenen Bildungskontext gebunden, was zweifellos mit motivierend war für ihr letztes Ausreisen nach Zürich. Schwermütig trotz des mit dem Eingangsvers Heines50 adaptierten spielerisch-leichten Tons sagt dies ihr hier mit all seinen literarischen Verspiegelungen auf Goethe, Kleist und wiederum Heine in extenso zitierter Emigranten-Monolog Ich hatte einst ein schönes Vaterland – so sang schon der Flüchtling Heine. Das seine stand am Rheine, das meine auf märkischem Sand. Wir alle hatten einst ein [siehe oben!] das fraß die Pest, das ist im Sturm zerstoben. O Röslein auf der Heide dich brach die Kraftdurchfreude. Die Nachtigallen wurden stumm, sahn sich nach sicherm Wohnsitz um, und nur die Geier schreien hoch über Gräberreihen. 48 49

50

Schalom Ben-Chorin: Fluch-Gebet. In: Billen, Feuerharfe (Anm. 25), S. 111, vgl. 259. Mascha Kaléko: Interview mit mir selbst, Postscriptum, anno fünfundvierzig. In: Röttger, Stimme Israels (Anm. 40), S. 59, vgl. 54; Stern, Werke jüdischer Autoren (Anm. 22), S. 189, Billen, Feuerharfe (Anm. 25), S. 262. Heinrich Heine: Neue Gedichte. Verschiedene – In der Fremde III, »Ich hatte einst ein schönes Vaterland«. In: Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (DHA). Bd 2. Bearb. von Elisabeth Genton. Hamburg: Hoffmann und Campe 1983, S. 73, vgl. ebd., Apparat, S. 536–538.

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Hans-Jürgen Schrader Das wird nie wieder, wie es war, wenn es auch anders wird. Auch wenn das liebe Glöcklein tönt, auch wenn kein Schwert mehr klirrt. Mir ist zuweilen so als ob das Herz in mir zerbrach. Ich habe manchmal Heimweh. Ich weiß nur nicht, wonach…51

»Das wird nie wieder, wie es war« – dieses Bewusstsein einer auch in den Kernsprachen-Landen nach der Ära des Sprachverfalls und der Bedeutungsentwertungen in der Nachkriegs-Kommerz-Zivilisation nicht wieder erreichten Differenziertheit und potentiellen Sinntiefe des Deutschen ist bei den Israelis deutschsprachiger Herkunft verbreitet: Sie, deren aus ihrer zumeist bildungsbürgerlichen Sozialisation mitgebrachtes und so konserviertes Deutsch in der heutigen Lingustik immer wieder als besonders elaboriert und gepflegt beschrieben wird, beanspruchen so gelegentlich mit Grund sogar in der neu-alten Heimat, fern einer verschludernden Umgangs-Sprachentwicklung in ihren »jeckischen« Internkreisen, die einzig noch mögliche Sprachpflege des Deutschen überhaupt.52 In ihrem einleitenden Programmgedicht zur kleinen Gedichtauswahl des Jerusalemer Goethe-Instituts schreibt die 1936 aus Wien eingewanderte Eva Avi-Yonah, die die monatlichen Treffen des Lyris-Kreises deutschsprachig Dichtender organisiert und bewirtet, anlässlich des 30jährigen Bestehens Anfang 2008, Lyris alt ist die sprache. deutsch. es gibt sie einmal im monat. Zur festgesetzten zeit in jerusalem. als hätte die stadt nicht andere sorgen […] Der geist der alten dichter wird wach. ich sammle ihn ein, werde nicht müde, davon zu erzählen. gegen die sprachlosigkeit der vielredner. gegen ihr wortblech, das hallt nach in meinen ohren. verhallt… 51 52

Mascha Kaléko: Emigranten-Monolog. In: Röttger, Stimme Israels (Anm. 40), S. 58. Besonders markant tritt diese Tendenz zur Bewahrung eines anderwärts weithin untergegangenen soigniert-bildungsbürgerlichen Sprachniveaus, des sogenannten »Weimarer Deutsch«, hervor in dem alle ihre bisher publizierten Teilerhebungen und Auswertungen zur Redeweise Deutschsprechender im heutigen Israel zusammenfassenden Forschungsbericht von Anne Betten: Das Deutsch der 20er Jahre in Israel. Bericht über ein Forschungsprojekt. In: Sprachreport. Hg. vom Institut für deutsche Sprache (1996), H. 4, S. 5–10, vgl. weiterführend auch ihren Beitrag in diesem Band zur hier dokumentierten Jerusalemer Tagung.

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vielstimmig der kleine chor, der die worte herbeiruft. auch die verwitterten. wortwörtlich nimmt und sie verteidigt gegen lügen gegen doppelzüngiges.53

Neben den (freilich durch Alterskonservatismus und die Empfindung, die letzten einer untergegangenen Generation und Kultur zu sein, gesteigerten) Sprachstolz tritt aber nach so langer Zeit der sprachlichen Isolierung die Besorgnis eines schleichenden Sprachverlusts, namentlich in den Versen der einstigen Celan-Freundin Ilana Shmueli: In spärlicher Wortlandschaft sprachgestört fahrig setz ich das lästige Leid doch noch in Versfüße um54

Aber auch sie grenzt sich, gegründet auf ein Zitat Ingeborg Bachmanns, von dem Aus-der-Verantwortung-Treten des Verstummens ab, bekennt sich zu vorsätzlichem Weiterbekunden, zu haltbaren Aussagen, jeweils vom Vor-Satz zum Nach-Satz sich weiterhelfend: Die, der es die Worte verschlägt kehrt auf halbem Weg um die, die ihren Namen nicht kennt kann nicht unterschreiben stammelt unhaltbare Sätze zwischen Vorsatz und Vorsatz55

An Reichtum des lyrischen Schaffens, Stärke der Invention und Bilder sowie Eindrücklichkeit der poetischen Diktion und Aussage ragen unter den heutigen Gedichtschaffenden Israels in deutscher Sprache zweifellos der zentrale Künstler des Lyris-Kreises, Manfred Winkler aus Putila in der Bukowina, der erst 1956 aus Rumänien nach Israel kommen konnte, und der seit seiner Exilierung aus Preßburg 1941 als Siebzehnjähriger im Kibbuz Merchavia bei Afula lebende Tuvia Rübner hervor. Beide stammen aus nichtreligiösen Familien und haben so erst nach der Ankunft hebräisch gelernt. Durch ihre Gedichte in der Landessprache haben sich beide hier Renommee erworben. Rübner, der unter 53

54 55

Eva Avi-Yonah: Lyris. In: [Ada Brodsky/Andrea Ulbrich (Red.):] Lyris-Kreis. Eine deutsche Sprachinsel in Jerusalem. Gedichte. Jerusalem: Goethe-Institut 2008, S. [1], vgl. [64]. Eine erweiterte Neuauflage ist dem Vernehmen nach in Vorbereitung. Ilana Shmueli: In spärlicher Wortlandschaft, ebd., S. [44], vgl. [60]. Ilana Shmueli: Wem es das Wort nie verschlagen hat. [Ingeborg Bachmann], ebd., S. [50].

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Hans-Jürgen Schrader

der Mentorschaft des um den Preis der Vereinsamung lebenslang am Deutschen haftenden Werner Kraft und des rasch ins Hebräische findenden, dann zeitlebens bilingualen Ludwig Strauß zur Poesie angeregt wurde, hat nach zwölf Jahren deutschen Gedichtschaffens (bis 1952) ganz vorrangig hebräisch geschrieben, spätere deutsche Verse sind meist eigene oder von ihm autorisierte Übertragungen Dritter (oft auch von Manfred Winkler).56 Winkler dagegen begann schon im Jahr nach dem Spracherwerb mit hebräischen Gedichten – eine rasch preisgekrönte literarische Sensation. Immer wieder aber, bevorzugt wieder nach der Retraite, hat er deutsch geschrieben, in letzter Zeit häufig auch das zunächst in einer der beiden Sprachen Geschaffene in die jeweils andere übertragen. Und jüngst hat ihn unvermutet verstärkt wieder die hebräische Muse heimgesucht: Seltsamerweise hat es mich in den letzten Tagen zurückgeworfen zum Hebräischen und ganz heftig. Ich beginne fast an meinem Verstand zu zweifeln. Was soll es in meinem Alter, vielleicht verliebe ich mich noch wie Goethe in Ulrike, habe darüber übrigens ein kurzes Gedicht geschrieben. Und damit genug der Überschwenglichkeiten […].57

Das Leben und Dichten zugleich in zwei so unterschiedlichen Systemen hat die Reflexion auf Impuls, Aura und Material der poetischen Äußerung befördert. Wie Fragen der Identität der Menschen und Dinge von den ihnen zugemessenen Bezeichnungen und Begriffen berührt werden, wie damit aber auch die Konstitution der Wirklichkeit abhängig ist vom Sprachsystem, Übersetzen somit nicht nur Substanzwandel, sondern Neuschöpfung ist, klingt an in Rübners (selbstübersetztem) Poem von 1997, Namen Alles hat einen Namen. Wenn man geboren wird, erhält man einen Namen. Aber wären Fritz und Hans nicht Fritz und Hans hießen sie Kurt oder Erich? […] Und was würde die Geliebte sagen nennten wir sie Pechsträhnlein oder Honigschleckchen? Gott bewahre! […] Aber der Fuchs ist doch ein Fuchs, auch wenn er renard heißt oder liška es klingt ganz anders und ist dennoch dasselbe Rote oder Rötlichbraune mit dem buschigen Schwanz. 56

57

Alle diese Angaben sind geschöpft aus dem trefflich infomativen (mit Zitaten aus Rübners autobiographischen Reflexionen angereicherten) »Nachwort« von Hans Otto Horch zu seiner Edition des deutschsprachigen Lyrik-Frühwerks: Tuvia Rübner: Granatapfel. Frühe Gedichte. Mit einem Nachwort von Hans Otto Horch. Aachen: Rimbaud 1995, S. 50–61. Brief Manfred Winklers an den Verfasser, Zur Hadassa, 12.4.2008, zitiert mit seiner Genehmigung.

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Und der Elefant bleibt derselbe graugefurchte Berg in Bewegung mit den klugen Augen auch als Pil. […] Das ist eine harte Nuß nicht nur für Übersetzer. Und wie steht es mit dem Vergessen? Erinnerten wir uns nicht ohne Vergessen? Erinnerten wir uns nicht ohne Erinnern? Und wie ist es mit den Toten und ihren Namen? […] Sind sie namenlos geworden wie Rauch der nicht Rauch heißt, wie Luft die nicht mehr Luft ist?58

So gibt auch, so das Gedicht »Erwachen« von 1967, die sich immer wieder unabweisbar zudrängende Sprache der ersten Sozialisation, die ferngerückte Sprache der ermordeten Mutter, andere Gefühlswerte her, als das später in anderen Zungen Empfundene: Ich beginne nicht. Das Gedicht beginnt mich, wiederum erhebt sich etwas aus schwerem Sand. Bald vierzig Jahre derselbe Himmel über mir, in mir dasselbe Grauen. […] Zum ersten Mal sagte ich wieder dir? mir? wem? diese Worte des Anfangs.59

Auch für Manfred Winkler ist die Sprache der Kindheit ein aus unterbewussten Tiefen andrängendes und sich ohne Kalkül gestaltendes (unberechenbar gar in Gleichklang mündendes, »wo der Beginn eines Reims || aus dem Dunkel raucht«)60 Auferlegtes, in dem Liebes- und Leiderfahrung untrennbar verschmolzen sind, etwas ebenso Rettung wie Fluch Umfassendes: Es blieb mir noch Es blieb mir noch die Zeit des Redens, der Worte […] ich hörte sie in mir ich sprach sie auf den Tisch 58 59 60

Tuvia Rübner: Namen [aus dem Hebräischen]. In: Ders.: Zypressenlicht. Ausgewählte Gedichte II. 1957–1999. Aachen: Rimbaud 2000, S. 75f. Tuvia Rübner: Erwachen [aus dem Hebräischen]. In: Ders.: Rauchvögel. Ausgewählte Gedichte I. 1957–1997. Aachen: Rimbaud 1998, S. 7, vgl. 63. Manfred Winkler: Wo Spinnen laufen überm Sand. In: Ders., Im Schatten des Skorpions (wie Anm. 38), S. 215.

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Hans-Jürgen Schrader sie waren grauverworren und engten sich aus mir ich liebte sie auch hie und da und schlief mit ihnen ein sogar – traumloser Geselle, der ich früher war61 Sprache entschlüpfende Verführerin über jeden Weg hinweg liebe ich leide ich wie jemand der nicht weiter kann wirst du mir Rettung und Fluch Vom Wesentlichen ins weglos Schillernde mit deinem Wort deinem Klang über jeden Weg hinweg jedes Wort und ohne dich62

In Liebe und Leid aber umfasst diese Sprache Kindheitsheimweh, dann Erfahrungen des Gottesverlusts und nicht minder innige Empfindung einer Gottesoffenbarung in der ebenso sehnsuchtsvoll mit allen Sinnen aufgenommenen (auch in Winklers bildkünstlerischem und bildhauerischem Werk ihr Echo findenden) Welt orientalischer Pflanzen, Gemäuer und Wüstenstille. Wer dich spricht Wer dich spricht, sagt Vers Form Gedicht dunkle Welle und Mond […] Wer dich spricht, hat ein weiches Kinn und Augen nach Osten hin63

Beide Traditionen, Zwiesprache mit Freunden aus verschollener Heimat und europäischen Mustern der Dichtung einerseits, das anschauende Erleben im Altneuland zum andern, durchwirken einander, so dass sich hier deutschspra61 62 63

Manfred Winkler: Es blieb mir noch. Ebd., S. 50. Manfred Winkler: Sprache (vollständig). Ebd., S. 40. Manfred Winkler: Wer dich spricht. Ebd., S. 21.

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chige Dichtung entwindet, die im deutschen Sprachraum selbst kein Widerspiel findet, bei aller Unterschiedlichkeit im jeweils erreichten Equilibre des Gelingens also Ungehörtes und neuartige Paradigmata bereithält: Mit dem Gedanken an Paul Celan EIN BAUM IRGENDWO im Felsgestein ruft Gestalten wach, von deinen Gedichten blieb auch ein hart-rhythmisches Silbenfach der Sprache Hier, in der Heimat ist das Heim wo ich mit den Schakalen spreche im uralten Sprachgut der Irrenden Über den Weg schleichen die Rudel der vierzig Wanderjahre Sand auf Sand, und die Hügel versuchen einen brennenden Gang über den Horizont […]64

Der Preis aller, die ihrer Lyrik ohne Rücksicht auf ein in ihrer Sprachumgebung hörbereites Publikum in ihrer hergebrachten Mutterlaut-Sprache unvergleichlich neue Töne hinzugewonnen haben, ist freilich die bittere Erfahrung, die Lea Goldberg formuliert hat und die Tuvia Rübner wiedergibt »Den Schmerz von dem, der doppelt Heimat hat«, die Manfred Winkler dagegen übersetzt, »Daß zweier Heimatländer Schmerz ich trug.«65 Oder, in den deutschen und (als Gebetsformel) hebräischen Worten von Manfred Winklers »Wüsten-Kaddisch«, Schakale wachen am Rand, und von den Wadis gemahnt der Ton eines stummen Schofars an die uralten Klänge Schlafende Kamele steifen ihren Hals – itgadal wa-itkadasch Schmej Raba…* *Der erste Satz des Kaddisch-Gebets: »Verherrlicht und geheiligt werde Sein großer Name.«66

64 65 66

Manfred Winkler: Mit dem Gedanken an Paul Celan. Ebd., S. 85. Lea Hadomi: Oren (»Fichtenbaum«/»Föhren«), beide Übertragungen des Gedichts abgedruckt bei Schrader, Fichtenbaum (wie Anm. 40), S. 43f. Manfred Winkler: Wüsten-Kaddisch (mit der als Fußnote beigefügten Übersetzung des Gebetsverses). In: Ders., Im Schatten des Skorpions (wie Anm. 38), S. 147.

IV

Konrad Ehlich

Martin Bubers und Franz Rosenzweigs »Verdeutschung der Schrift« – Linguistische Bemerkungen

1

Sprachliche Dimensionen der Übersetzung

Übersetzung erscheint auf den ersten Blick als ein Prozess, in dem einfach bestimmte Inhalte aus dem Gewand einer Sprache in das einer anderen Sprache übertragen werden. Die Inhalte gelten als in beiden Sprachen gleich, und die Unterschiede scheinen sich auf den Austausch von lexikalischen Markierungen zu beschränken. In der Metapher von Sprache als Kode und von Übersetzung als Umkodierung wird dies besonders deutlich. Jede ernsthafte Befassung mit dem Thema der Übersetzung freilich weiß, dass eine solche Auffassung die Faktizität des komplexen Übersetzungsgeschehens nicht zu erfassen in der Lage ist. Durch die neuere Linguistik sind weitere zentrale Aspekte der in der Übersetzung relevanten Dimensionen deutlich geworden. Dies entspricht zugleich den Erfahrungen, die Übersetzer seit langem gemacht haben, Erfahrungen, die besonders bei anspruchsvollen Texten eine große Rolle spielen. Mindestens die folgenden Dimensionen sind meines Erachtens zu unterscheiden: x x x x x

die propositionale Dimension die illokutive Dimension die phonische Dimension die gnoseologische Dimension die kommunitäre Dimension.

Der vorliegende Artikel wurde auf Englisch im März 2009 auf Einladung des Department of German, Russian, and East Asian Languages der Miami University in Oxford, Ohio, im Rahmen der Konferenz »Cultures Entwined: German-Jewish Relations, Historical and Contemporary Perspectives« vorgetragen und in die Akten der Konferenz (s. Ruth H. Sanders: Cultures Entwined: German-Jewish Relations, Historical and Contemporary Perspectives. Oxford/Ohio: Miami University 2009) aufgenommen. Ich danke Ruth H. Sanders auch an dieser Stelle für die Einladung und die freundliche Erlaubnis, die deutsche Fassung des Beitrages für diesen Band zur Verfügung stellen zu dürfen, und den OrganisatorInnen der Jerusalemer Tagung, an der ich aus gesundheitlichen Gründen leider nicht teilnehmen konnte, für ihr Interesse und die Bereitschaft, den Beitrag in diese Publikation aufzunehmen.

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Konrad Ehlich

Es ist hier nicht der Ort, diese Dimensionen im Einzelnen und im Detail näher zu bestimmen – einige wenige Hinweise müssen genügen.1 Die propositionale Dimension ist die Dimension der sprachlichen Inhalte, von denen oben bereits die Rede war. Während dies z. B. bei Übersetzungen in der Wirtschaftskommunikation auf relativ wenige Schwierigkeiten stoßen mag, zeigen sich hinsichtlich der Inhalte bei zahlreichen Texten komplexerer Art erhebliche Divergenzen. Sie werden besonders dann manifest und kommunikativ relevant, wenn sie unbehandelt und unterschwellig wirksam sind. Die illokutive Dimension, die ihre Bezeichnung durch den britischen Sprachphilosophen John L. Austin erhalten hat, ist die zentrale Handlungsdimension von Sprache. Auch wenn propositionale Gehalte gleich bleiben, können mit denselben Worten ganz unterschiedliche Handlungszwecke realisiert werden. Die phonische Dimension erscheint am offensichtlichsten als in den beteiligten Sprachen jeweils anders – bis hin zur völligen Unverständlichkeit und Unnachahmbarkeit. Für zahlreiche poetische Texte aber ist deren genuine phonische Struktur alles andere als beliebiges Beiwerk. Mit am schwierigsten näher zu erfassen, analytisch zu durchdringen und als kommunikative Aufgabe in der Übersetzung zu beachten ist die gnoseologische Dimension, die es mit dem Verhältnis von Sprache und Erkenntnis (gnosis), von Sprache und Denken zu tun hat. Von wenigen Ausnahmen abgesehen – und die wichtigste dieser Ausnahmen ist nach wie vor Wilhelm von Humboldt – sind die sprachspezifischen gnoseologischen Strukturen kaum linguistisch beachtet oder gar bearbeitet worden. Dies betrifft nicht nur hochtheoretische Konzepte, die sich jeweils unterschiedlicher Versprachlichungen bedienen, in ihnen ausgedrückt und möglicherweise durch sie allererst konstituiert werden. Selbst so einfache Konzepte wie etwa »Tisch« enthalten jeweils spezifische kulturelle Vernetzungen, Implikationen, Weiterungen und Weiterungsmöglichkeiten. Um ein Beispiel aus dem Deutschen und aus dem Hebräischen zu nehmen: Wenn es im Hebräischen einen »schulchan baruk«, einen ›gesegneten Tisch‹ gibt, so ist das damit verbundene Konzept für die Semantik des deutschen Ausdrucks »Tisch« kaum auch nur imaginierbar. Schließlich ist die kommunitäre Dimension die vielleicht fast wichtigste, diejenige, in der durch Sprache und mit Sprache Gemeinschaften konstituiert werden – und darin zugleich Differenz zu anderen aufgerichtet und prozessiert wird. Übersetzung wird diese verschiedenen Dimensionen immer mit einbeziehen, sie notwendig mit einzubeziehen haben. Dies kann in bewusster Form geschehen; es kann auch ohne Bewusstsein der am Übersetzungsprozess Beteiligten geschehen – um dann möglicherweise eine um so stärkere, weil kaum reflektierbare Wirkung zu entfalten. 1

Vgl. weiter Konrad Ehlich: Sprache und sprachliches Handeln. 3 Bände. Berlin, New York: de Gruyter 2007.

Martin Bubers und Franz Rosenzweigs »Verdeutschung der Schrift«

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Übersetzung und heiliger Text

Sind Übersetzungen etwa literarischer Werke bereits durch eine erhebliche Komplexität gekennzeichnet, so steigert sich diese, wenn die Texte heilige Texte sind. Ihre »Heiligkeit« bedeutet, dass sie mit einer spezifischen Aura versehen sind, einer Aura, die sie aus dem alltäglichen kommunikativen Geschehen heraushebt, ja dagegen geradezu isoliert, eine Aura, die ihnen zugleich eine erhebliche, über das gewöhnliche sprachliche Handeln hinausgehende Dignität und kommunikative Kraft verleiht. Religionen sichern die Aura des heiligen Textes durch eine ganze Reihe von Maßnahmen – äußere, die z. B. die Unversehrtheit des Textes auch nach dessen liturgisch-religiösem Gebrauch absichern sollen (wie im Fall der geniza), innere wie die spezifische Qualifizierung derjenigen, die mit den Texten umgehen und umzugehen befugt sind. Gerade die phonische Dimension wird zu einer besonderen Herausforderung. So verlangt der Islam bis heute von seinen Gläubigen den Umgang mit der Sprache der Offenbarung, mit dem Arabischen. Die römische Kirche hat lange ihren – gegenüber den hebräischen bzw. griechischen Ursprüngen allemal sekundären – heiligen Text, die Vulgata, auch sprachlich abgesichert, eine Praxis, die erst mit dem Vatikanum II beendet wurde. Auch der hebräische Bibeltext unterlag und unterliegt in der phonischen Dimension ähnlichen Absicherungen, denen wir mit den Punktierungen der Masoreten eines der auch linguistisch interessantesten phonologischen Systeme verdanken. Die phonische Dimension des heiligen Textes ist also alles andere als trivial, und die Übersetzung gewinnt daraus eine besondere, gerade von Buber und Rosenzweig intensiv aufgenommene Dignität. Dadurch kommen Ausgangssprache und Zielsprache in ein spezifisches Verhältnis zueinander, ein Verhältnis, das aufgrund der sprachlichen Strukturen von besonderem Interesse und nicht ohne eine besondere Problematik ist.

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Hebräisch und Deutsch – Aspekte eines gebrochenen Verhältnisses

Kaum eine der modernen Sprachen ist vorstellbar ohne die zum Teil erheblichen Spuren intensiven sprachlichen Kontaktes und sprachlichen Austausches. Der Bereich der Fremd- bzw. Lehnwörter legt davon Zeugnis ab. So hat die deutsche Sprache in intensiver Weise das Lateinische in immer neuen Wellen bzw. Schüben in sich aufgenommen – es bis zur Unkenntlichkeit die Herkünfte verändernd (z. B. bei Ausdrücken wie Mauer, lat. murus, und Fenster, lat. fenestra) oder die Herkünfte unmittelbar erkenntlich machend wie in Kommunikation oder zerebral. Ähnliches gilt für das Griechische, für das sogar in Medizin und Botanik Neubildungen mit Elementen entstanden, die in der Herkunftssprache Kombinationen miteinander gar nicht eingehen.

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Konrad Ehlich

Anders sieht die Situation für das Hebräische aus. In dem jahrhundertelangen intensiven Kulturaustausch zwischen der Judenheit und den verschiedenen deutschen Gruppen erfolgte auch ein intensiver Sprachaustausch, der in der Gestalt des Jiddischen sogar zu einer der vielgebrauchten Sprachen in der Judenheit führte.2 Der Transfer vom Hebräischen zum Deutschen erfolgte gleichfalls in einem erheblichen Ausmaß über die Vermittlung des Jiddischen – allerdings nur in der Form eines ersten Vermittlungsgliedes, dem sich ein zweites anschloss, nämlich das Rotwelsch, die Gaunersprache. Dadurch ist die Beziehung zwischen dem Hebräischen und dem Deutschen jahrhundertelang erheblich negativ belastet worden. Anders als das ausgesprochen bildungsmäßig aufgeladene Griechische und Lateinische war das Hebräische negativ konnotiert und hat – bis zu den Namen hin – eine solche negative Rolle in der Ausbildung des Antijudaismus gespielt. Der Transfer von als hebräisch erkennbaren phonischen und lexikalischen Elementen steht also vor erheblichen Schwierigkeiten, die mit der Pathologie des deutsch-jüdischen Verhältnisses zu tun haben. So ergibt sich für die Aufgabe einer Übersetzung hebräischer heiliger Texte ins Deutsche eine nicht unerheblich andere Problemstellung als für die Übersetzung aus dem Griechischen oder Lateinischen. Diese Problematik ist freilich nur eine der bei der Übersetzung aus dem Hebräischen ins Deutsche wirksamen. Weitere haben es mit den unterschiedlichen Strukturmerkmalen beider Sprachen zu tun.

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Strukturmerkmale der beteiligten Sprachen

Ein Strukturvergleich des Hebräischen und des Deutschen findet zunächst freilich einen Bereich spezifischer Gemeinsamkeit: Beide Sprachen sind hochflektierend – und unterscheiden sich darin sowohl etwa vom Chinesischen oder auch vom Englischen. Diese Gemeinsamkeit aber konkretisiert sich in beiden Sprachen je anders. Das Hebräische hat wie die meisten semitischen Sprachen eine sehr klar strukturierte, am Konsonantismus festgemachte Basisstruktur, die »Wurzel«. Diese besteht aus drei Grundkonsonanten, die in einer spezifischen Kombinatorik den reichen Konsonantenbestand nutzen. Die Wurzel ist sprachlich bis in die feinsten Veränderungen geradezu unmittelbar für die Sprachbenutzer rekogniszierbar. Der Vokalismus dient der Variation über dieser Grundstruktur, und dies unterscheidet die beiden Sprachen deutlich voneinander. Semantische Vernetzungsstrukturen sind über die Konsonantenstrukturen leicht verfolgbar. Dies gilt z. B. für l-b-n, dessen semantisches Grundgerüst es mit ›dem Weißen‹ zu tun hat – von laban der Weißheit der Milch bis zum lebanon, dem ›konkreten Weißen‹, dem Libanon, auf dessen Gipfeln gelegentlich Schnee liegt. Versähe man die Konsonantenfolge l-b-n 2

Vgl. Ruth H. Sanders: Taytsh in Ashkenaz: The Birth and Early Years of Yiddish. In: Dies., Cultures Entwined (wie Anm. *), S. 122–132.

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hingegen im Deutschen mit je unterschiedlichen Vokalen, so erhielte man z. B. laben, leben, lieben, loben, Lauben, Laiben (Dativ Plural von Laib) – zwischen diesem allen besteht semantisch keinerlei Bezug. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die unterschiedliche Phonik und die unterschiedliche Metrik – Phänomene, die nicht nur für literarische, sondern gerade auch für poetische heilige Texte eine besondere Rolle spielen. Hier hat die Arbeit der Masoreten im System der sog. »Akzente« eine Strukturfestlegung geschaffen, die den liturgischen Zusammenhängen unmittelbar zugeordnet ist. Wie authentisch sie für das Hebräisch jener Texte in ihrer Ursprungsphase war, ist nur selten genauer auszumachen (was gelegentlich Anlass zu der Überlegung gegeben hat, das »biblische Hebräisch« sei eigentlich gar keine Sprache, sondern ein bloßes Kunstprodukt eben jener Masoreten). Die vielleicht größten Differenzen zwischen den beiden Sprachen betreffen die syntaktischen Verhältnisse. Während das Deutsche eine Vielzahl hypotaktischer Strukturen kennt und hinsichtlich der Topologie, der Position syntaktischer Einheiten im Satz, eine erkleckliche Variation zulässt, scheint das Hebräische keine syntaktische Komplexität vergleichbarer Art aufzuweisen – so jedenfalls behauptet es die westliche Hebraistik bis heute. Darin verkennt sie zentrale syntaktische Strukturgegebenheiten des Hebräischen, deren Kombinatorik sich aus der differenzierten Nutzung der unterschiedlichen Strukturtypen »Nominalsatz« und »Verbalsatz« ergeben.3 Auf diese Strukturen ist die Hebraistik erst allmählich und insbes. durch die sog. Arabische Nationalgrammatik des 9.í11. Jahrhunderts aufmerksam geworden, und die Übersetzungsherausforderungen, die sich hieraus ergeben, sind bisher noch kaum angegangen worden.

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Poetik

Zu den großen Unterschieden zwischen den beiden beteiligten Sprachen gehören die Grundprinzipien der Poesie. Das Deutsche hat in der jüngeren Zeit seiner Geschichte sich einerseits zu einer Reimsprache entwickelt. Andererseits hat es als Gegenkonzept dazu im sog. »freien Gedicht« sich auf die Rhythmik verlassen. Dem geht voraus das mit der Sprachstruktur zentral verbundene System der Alliteration, das nicht nur die ältere und älteste Poesie des Deutschen aufweist, sondern das bis in die Gegenwart hinein weiter präsent ist, zum Teil aber auch eigens und artifiziell – z. B. bei Richard Wagner – als spezifisch germanisch präsent gemacht wird. Beidem stehen kaum bzw. allenfalls schwach ausgeprägte Parallelen hebräischer Poesie gegenüber. Diese teilt vielmehr mit anderen Formen der Poesie 3

Vgl. weiter Konrad Ehlich: Biblisches Hebräisch: geschlossene Paradigmen, offene Fragen. In: Kerstin Schiffner/Steffen Leibold/Magdalena L. Frettlöh/Jan-Dirk Döhling/Ulrike Bail (Hg.): Fragen wider die Antworten. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2010. S. 392–401.

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des alten Orients das, was etwas hilflos in der Hebraistik als »Gedankenreim« bezeichnet wird, der sog. »parallelismus membrorum«, den der englische Lordbischof Robert Lowth im 18. Jahrhundert als eigenständiges poetologisches Konzept entdeckte und bezeichnete, der andererseits dem Leser etwa der Psalmen unmittelbar ins Bewusstsein tritt. Soll nun »übersetzt« werden, so bieten die phonischen wie die gnoseologischen Aspekte eine besonders schwierige Aufgabe; zugleich stellen sich Aufgaben, die für die sprachlichen Strukturen wie für die poetischen Strukturen nach angemessenen Transpositionen verlangen. Buber und Rosenzweig nehmen diese Herausforderungen in einer substantiell neuen Weise auf, über deren Charakter sie sich bei ihrem anfänglichen Versuch einer Bearbeitung und Adaptierung von Luthers Übersetzung schnell bewusst wurden. Luther, der die Übersetzung des Alten Testamentes mit einem ganzen Team von Gelehrten, christlich-humanistischen und jüdischen, in Angriff nahm, fand in der ihm eigenen Sprachkraft Übertragungen, die hinsichtlich der Zielsprache von erheblicher innovativer Kraft gekennzeichnet waren. Sie waren zugleich getragen und getrieben von der Absicht, das göttliche Wort des Alten Bundes so in der Zielsprache zur Sprache kommen zu lassen, dass die unmittelbare Zugänglichkeit für jeden Christen optimal gewährleistet wurde. Buber und Rosenzweig sahen sich vor einer anderen Aufgabe, nämlich möglichst viel des Heiligen Textes und der heiligen Sprache, in der er verfasst ist, leschon haqqodäsch, im Medium der Zielsprache der Übersetzung wirksam werden zu lassen.

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Beispiel 1: Psalm 33,3

Betrachten wir nun einige wenige Beispiele, um an ihnen Bearbeitungsverfahren der Aufgabe zu verdeutlichen, der Martin Buber und (bis zu seinem frühen Tod 1929) Franz Rosenzweig sich verpflichtet sahen. Ich verwende dafür Texte, die Norbert Lohfink in seiner »Begegnung mit Bubers Bibelübersetzung« bereits näher betrachtet hat.4 Das erste Beispiel ist Psalm 33 entnommen. Luther hatte hier übersetzt: Singt ihm ein neues Lied, machet‘s gut auf Saitenspiel mit Schall

Im hebräischen Text heißt es: Schiru lo schir chƗdƗsch het.ibu naggen bitrucƗ 4

Norbert Lohfink: Begegnung mit Bubers Bibelübersetzung. In: Ders.: Das Siegeslied am Schilfmeer: christliche Auseinandersetzung mit dem Alten Testament. Frankfurt a. M.: J. Knecht 1965, S. 244í261.

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Buber übersetzt: Singt ihm einen neuen Gesang, trefflich rührets zum Schmettern!

Dem pluralischen Imperativ schiru »singt!« folgt als direktes Objekt schir, das Lied. Dieser hebräische Text ist, poetologisch gesehen, eine sog. figura etymologica. Sie macht im Verb und im Objektnomen Gebrauch von derselben Wurzel, deren Gemeinsamkeit hier besonders deutlich ist. In der Luther-Übersetzung ist eine solche Parallelität nicht zu erkennen, wohl aber eine semantische Entsprechung. Buber nimmt die Struktur des Ausgangstextes direkter auf, indem er auch für die Objektbezeichnung eine Ableitung von singen verwendet, Gesang. Dadurch gelingt ihm, so sieht es auf den ersten Blick aus, eine Simulation der figura etymologica. Doch eine genauere Betrachtung zeigt: Mit »Gesang« verändert er das einfache Nomen schir. Das Präfix »ge-« als Wortbildungsmittel für Substantive im Deutschen bündelt Einzelerscheinungen zu einer Gesamtheit – wie »Gebirge« zu »Berg«. Dieses Element wird durch die Übersetzung sozusagen im Text interpoliert. Hätte Buber das einfache Nomen »Sang« gewählt, wäre die Simulation direkter gewesen – freilich um den Preis einer Artifizialität im Gebrauch des Ausdrucks für das Lied, denn »Sang« ist ein ausgesprochener Archaismus, der fast nur noch in Doppelformen wie Sang und Klang bzw. in der betreffenden adjektivischen Variante sang- und klanglos im Gebrauch ist. Die Strukturübertragung ist also einerseits gelungen; andererseits trägt sie Aspekte in die Übersetzung ein, die so im Original nicht enthalten sind. Schwieriger ist die zweite Zeile. Hier findet sich im Hebräischen eine eigentümliche Konstruktion, die eine Ausdrucksmöglichkeit für etwas darstellt, für die adverbialreiche Sprachen eine Wortart nutzen, die im Hebräischen kaum ausgebildet ist, eben das Adverb. Die Form het.ibu ist ein Imperativ eines Verbs (!), dem im Deutschen ein Verb nicht entspricht, sondern eine Adjektiv+sein-Konstruktion in der Grundform: »gut sein«, hier im H-Stamm für »gut machen«. Dieser H-Stamm, eine morphologische Substruktur zur Wiedergabe von Kausativität, ist morphologisch im Deutschen kaum simulierbar. Dem »gut machen« folgt direkt ein Infinitiv des D-Stammes von einer Wurzel, die das Spielen auf einem Saiteninstrument bezeichnet – als Verb. Es ergibt sich also eine Struktur ›macht-gut Saitenspielen‹. Buber greift auf das entsprechende Verb »rühren« zurück, das – im Allgemeinen freilich nur mit dem Objekt »Saiten« – für diese musikalische Produktion steht. Die komplexe Doppel-Verb-Konstruktion mit den beiden abgeleiteten Stämmen verliert sich in der Übersetzung, indem das het.ibu als Adverb trefflich wiedergegeben wird. Zudem wird eine blasse Anapher »es« eingefügt, sozusagen ein Relikt des eigentlich notwendigen Objekts für »rühren«, ein Relikt freilich, dessen es in naggen gar nicht bedarf, weil die Wurzel n-g-n bereits die entsprechende semantische Präzisierung enthält.

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Diese musikalische Aktivität wird nun am Ende der Zeile dahingehend präzisiert, dass das treffliche Rühren »zum Schmettern« werden soll. Der Ausdruck bitrucƗ bezeichnet ein lautes, intensives, künstlich herbeigeführtes Geräusch, z. B. durch den Schofar, aber offensichtlich hier dann auch durch jenes Saitenspiel. Im Deutschen ist das »Schmettern« demgegenüber kollokativ sehr viel enger eingeschränkt, und zwar hauptsächlich auf die Erzeugung durch Blechblasinstrumente wie Trompeten und Posaunen oder gegebenenfalls durch die menschliche Stimme. Es entsteht also in der Übersetzung eine semantische Inkompatibilität. Diese wird bei Luther vermieden – der zudem die Präpositionalstruktur klarer wiedergibt, als dies in der »zu«-Konstruktion Bubers geschieht. Der Vers zeigt exemplarisch, in wie vielen Bereichen Entscheidungen propositionaler und gnoseologischer Natur gefällt werden müssen. Die abertausende Entscheidungen, aus denen die Übersetzung eines so umfangreichen und vielfältigen Werkes wie der hebräischen Bibel besteht, lassen es schier unbearbeitbar scheinen, hier zu allseits befriedigenden Ergebnissen zu kommen. Es bleibt zu fragen, welche der Übersetzungen in der Zielsprache am ehesten geeignet ist, für den Leser den poetischen Ausgangstext rezipierbar zu machen.

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Beispiel 2: Psalm 20,8

Der Text lautet auf Hebräisch: c

attƗ yƗdacti ki hoschiac YHWH meschicho yacanehu mischscheme qodscho bigvorot yeschac yemino `ellä vƗräkäv we`elläh bassusim wa`anachnu veschem-YHWH `älohenu nazkir hemmƗ kƗrecu wenƗfƗlu wa`anachnu qqamnu wannitcoded

Buber übersetzt: Jetzt weiß ich, / daß ER befreit / seinen Gesalbten, ihm antwortet / vom Himmel seiner Heiligkeit, mit den Heldenkräften / seiner befreienden Rechten. Diese da des Fahrzeugs / und diese da der Rosse, wir aber – / des Namens SEIN, unsres Gottes, / gedenken wir. Jene knicken ein, fallen, / wir aber, / wir erstehn und überdauern.

Aus diesem komplexen Vers können nur wenige Aspekte etwas näher betrachtet werden. Da ist zunächst die Formulierung »mischscheme qodscho«, von Buber übersetzt als »vom Himmel seiner Heiligkeit«. An dieser Präpositionalphrase sind zwei Aspekte interessant. Der eine betrifft das hebräische Wort für den Himmel. Zwar kann im Deutschen unterschieden werden zwischen dem Himmel in der Einzahl und den Himmeln in der Mehrzahl. Im Hebräischen ist die Situation anders: Hier taucht Himmel nur in der auch für das Hebräische

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seltenen Form des Dualis auf. Das heißt, es ist immer ein Doppelhimmel, von dem im Hebräischen die Rede ist, wenn vom Himmel gesprochen wird. Dies ist routinisiert und nachgerade selbstverständlich – ist aber kaum transponierbar. Die Hintergründe für diesen Aspekt der hebräischen Kosmologie sind nicht einfach aufzuklären. Jedenfalls aber sind sie nicht simulierbar. Eine andere Eigenart des Hebräischen ist die Konstruktion: Die Doppelhimmel, von denen her (min) dann YHWH antwortet, wird charakterisiert als Himmel, der/die von »seinem kodäsch« bestimmt sind. Diese Formulierung gehört zu den spezifischen Attributivbestimmungen, in denen in die status-constructusPhrase ein Substantiv zur qualifizierenden Näherbestimmung eingefügt wird. Diese Struktur steht in einer bis heute nicht wirklich aufgeklärten Konkurrenz zur entsprechenden adjektivischen Qualifizierung, die durchaus auch möglich wäre. War im Beispiel 1 auf die charakteristische adverbialisierende Verbalkonstruktion verwiesen worden, so findet sich hier eine entsprechende Nominal-Konstruktion zum Zweck der näheren Qualifizierung. Auch diese Struktur kann im Deutschen schwerlich simuliert werden. Die dritte und vierte Zeile des Verses zeigen im Hebräischen eine hochkomplexe syntaktische Struktur: Zu Beginn stehen zwei vollständige, geradezu klassische Nominalsätze mit einer Deixis (`ellä, diese) als »Subjekt« und einer Präpositionalphrase mit oder in Wagen / mit Pferden als »Prädikat«. Buber versucht, die Befremdlichkeit dieser Nominalstruktur durch eine Genitivkonstruktion wiederzugeben (des Fahrzeugs / der Rosse). Die Konstruktion, die so im Deutschen entsteht, erscheint geradezu als ein wenig bizarr – und dies ist sicherlich kein Merkmal des hebräischen Ausgangstextes, sind Nominalsätze des hier vorliegenden Typs doch nachgerade »normale« Konstruktionen. Ein zweites Mal stellt sich die Frage nach dem Stellenwert des Nominalsatzes in den folgenden drei Teilen. Auch dort handelt es sich nämlich um Nominalsätze, aber jeweils um sogenannte zusammengesetzte – zusammengesetzt aus dem nominalen »Subjekt« und einem bzw. zwei Verbalsätzen als »Prädikat«.5 Die gesamte Einheit gewinnt durch diese Kombination von Nominalsätzen unterschiedlichen Typs eine große syntaktische Komplexität, die Buber durch eine »Linksvoranstellung« (wir) und das inserierte »aber« wiedergibt, einmal sogar mit einem dazugefügten Gedankenstrich. Auch dies transponiert einen Aspekt des Originals durchaus in die Zielsprache, erzeugt andererseits aber eine Künstlichkeit, die dem Ausgangstext nicht innewohnt, ohne doch der Gesamtstruktur – gerade auch mit dem Wechsel von Affix- und Präfixformen í wirklich gerecht zu werden.

5

Diethelm Michel: Grundlegung einer hebräischen Syntax. Teil 2: Der hebräische Nominalsatz. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2004.

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Beispiel 3: Psalm 23 YHWH roci lo `ächsƗr Bin`ot däschä` yarbiúeni

c

al me menuchot yenachaleni

ER ist mein Hirt, mir mangelt nichts. Auf Grastriften lagert er mich, zu Wassern der Ruh führt er mich.

Eine ähnliche Problematik ist an diesem Psalm, einem der bekanntesten, zu sehen, wenn die Nominalstruktur ernst genommen wird. Diese konstatiert zu Beginn des ganzen Psalms: »YHWH roci«. Die beiden Elemente YHWH und roci (mein Hirt / der mich Weidende) bilden gleichfalls einen klassischen Nominalsatz. Er steht nicht nur einfach zu Beginn des Psalms. Er macht als Nominalsatz vielmehr eine Aussage, die geradezu als theologische Wesensaussage interpretiert werden kann. Sie determiniert alles, was folgt; oder, anders gesagt, alles, was folgt, folgt aus dieser fundamentalen Aussage. In der Übersetzung wird diese Struktur – nicht zuletzt durch die Interpunktion der ersten beiden Zeilen – sozusagen eingeebnet. Buber folgt hier der Kenntnis der Hebraistik seiner Zeit – und verliert wesentliche Bestimmungen dieses Psalms darüber.

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Authentizität durch Verfremdung?

Übersetzung ist immer gebunden an die jeweilige Kenntnis über den Ausgangstext, und gerade bei Texten solcher Bedeutung, wie sie die biblischen darstellen, ändert sich dieses Verständnis. Ob es sich dabei um Präzisierungen oder auch um Verluste bereits gewonnener hermeneutischer Einsicht handelt, ist schwer zu bestimmen. Buber hat seine Übersetzung in den großen Zusammenhang seines hermeneutischen und seines philosophischen Gesamtwerkes gestellt. Seine Bemühungen zielten ab auf einen gerade für die Psalmen wichtigen, auch phonisch sozusagen kongenial entwickelten Text. Dieser freilich hat im Versuch gerade der Simulation sich immer wieder verstanden im Horizont einer Sprachlichkeit, wie sie für die poetische Produktion des beginnenden 20. Jahrhunderts charakteristisch war: Bereits Lohfink hat diese Sprachlichkeit in ihrer Exploitierung semantischer Möglichkeiten bei gleichzeitiger provokativer Entfernung von dem, was die Literatursprache zuvor kennzeichnete, als ein zentrales Merkmal des deutschen Expressionismus und als für Buber kennzeichnend benannt. Durch die Nutzung des Sprachgestus dieser literarischen Bewegung

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gelingt Buber und Rosenzweig die Herstellung einer Sprachgestalt, die provokativ die Fremdheit des Textes geradezu »inszeniert«. So ist die Bubersche Übersetzung nicht selten eine Verfremdung des Ausgangstextes. Verfremdung zielt auf Öffnung eines Verstehenshorizontes ab. So stellt sich der Sprachgestus dar als ein Versuch, Authentizität im Übersetzungsverfahren als Verfremdung zu gewinnen. Inwiefern dadurch den Strukturen des Ausgangstextes Gerechtigkeit widerfährt, bedarf sorgfältiger und detaillierter Reflexion. Dass es Buber gelungen ist, die »Verdeutschung der Schrift« unter den Umständen einer Zeit zum Ende zu bringen, in der eine beispiellose Barbarei im deutschen Namen das deutsch-jüdische Verhältnis in seinen Grundlagen erschütterte, kann als ein trotziges »Dennoch« für eine Kulturbegegnung gesehen werden, deren Reichtum und Tiefe noch immer nicht wirklich erkannt und ausgeschöpft ist.

Quellen und Literatur Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. 4 Bände. Nachdruck. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1992. Das Buch der Preisungen. Die Schrift. Band 4. 6. Auflage der neubearbeiteten Ausgabe von 1962. Heidelberg: Lambert Schneider 1976. darin: Martin Buber: Zur Verdeutschung des letzten Bandes der Schrift. Beilage zum vierten Band Die Schriftwerke, verdeutscht von Martin Buber. I.: Zur Verdeutschung der Preisungen, S. 1í10; IV.: Schlussbemerkungen, S. 19í26. Die fünf Bücher der Weisung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Die Schrift. Band 1. 10. verbesserte Auflage der neubearbeiteten Ausgabe von 1954. Heidelberg: Lambert Schneider 1976. darin: Martin Buber: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift. Beilage zum ersten Band Die fünf Bücher der Weisung, S. 1í44.

Anne Betten

Sprachheimat vs. Familiensprache Die Transformation der deutschen Sprache von der 1. zur 2. Generation der Jeckes

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Einleitung: »Weimarer Deutsch« in Israel

Ende 2007 erschien die umfangreiche Dissertation von Arndt Kremer, die von Dietz Bering angeregt wurde, der selbst mit einer Reihe von Publikationen über Sprache und Antisemitismus hervorgetreten ist: ›Deutsche Juden – deutsche Sprache‹.1 Diese hervorragend recherchierte und argumentierte Arbeit hört genau da auf, wo meine eigenen Untersuchungen beginnen, die um das Thema kreisen, was nach 1933 aus dem gerade von deutschen Juden besonders gepflegten und geliebten Bildungsbürgerdeutsch nach den Erfahrungen der Emigration und der Shoah geworden ist. Ich habe mich dabei aus verschiedenen Gründen ganz auf Israel konzentriert. Besonders untersuchenswert erschien mir, warum sich gerade im einzigen Emigrationsland, das keine neue Diaspora, sondern das ›Land der Väter‹, Erez Israel, war, das Deutsch der Vorkriegszeit zumindest als gesprochene Sprache noch viele Jahrzehnte nach der Emigration von zwar immer weniger Sprecherinnen und Sprechern, aber doch noch bis zum heutigen Tag auf hohem Niveau erhalten hat. Sogar ein Teil der als Jugendliche, ja als Kinder ins Land Gekommenen, die heute weitgehend als Letzte die Generation der 5. Alija repräsentieren, haben offenbar ihre Sprach- bzw. Sprechkompetenz noch in Israel so erweitert und vervollkommnet, dass sie von heutigen Deutschen wegen ihrer Sprachkultur bewundert werden – darunter nicht wenige, die die Schule in Deutschland oder Österreich im Alter von 14, 15 Jahren abbrechen mussten und in Israel keine weiterführenden Schulen mehr besuchen konnten: Aufgrund ihres Sprachstils werden manche von ihnen in Deutschland mindestens für einen Professor gehalten. Die beiden folgenden Beispiele belegen sowohl die in den deutschsprachigen Ländern heute geäußerte Bewunderung wie auch das sprachliche Selbstverständnis (und zum Teil Selbstbewusstsein) der Emigranten.2 Prof. Walk, 1

2

Arndt Kremer: Deutsche Juden – deutsche Sprache. Jüdische und judenfeindliche Sprachkonzepte und -konflikte 1893–1933. Berlin: de Gruyter 2007 (Studia Linguistica Germanica; 87). Die Textbeispiele (1), (2) und (4) stammen aus dem Band Anne Betten/Miryam Dunour (Hg.): Sprachbewahrung nach der Emigration – Das Deutsch der 20er Jahre in Israel. Teil II: Analysen und Dokumente. Tübingen: Niemeyer 2000 (mit CD) (Pho-

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der als Direktor des Leo Baeck-Instituts Jerusalem öfter zu Vorträgen in Deutschland war, berichtete mir in unserem ersten Gespräch 1990,3 dass sein Deutsch manchmal als »Weimarer Deutsch« bewundert wurde (was ich auch von einem Diplomaten der 2. Generation gehört habe). Diese Bezeichnung habe ich sehr gern aufgegriffen, da sie mir auch wegen der Assoziationen zur Weimarer Klassik sehr geeignet erschien.4 Bei unserem zweiten Gespräch 1991 wusste Walk nicht mehr, dass er mir das Stichwort selbst gegeben hatte, und berichtet von einem Erlebnis, das er zwischen unseren Gesprächen hatte: Beispiel (1) Dr. Joseph Walk (*1914 in Breslau), Lehrer, emigriert 1936, Lehrer, Studium (Pädagogik / jüd. Geschichte der Neuzeit), Universitätsdozent, Direktor des Leo Baeck-Instituts Jerusalem. Interview: A. Betten, Jerusalem 1991 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

3

4

JW: [...] nun:=ä: * nennen sie ja ihr thema weimarer deutschp * und vielleicht darf ich da auch etwas sagen und bitte mich nich falsch zu verstehnp es könnte wie eigenlob klingenp * das=s ein erlebnis vor=einem halben jahrp * also * nach unserem * ersten gesprächn * ich war in mülheimn * eingeladen wiederum zu einem symposionn der einzige israelin * und ä: * das thema * lautete erziehung zum friedenp * unter den hiesigen umständen ein schwieriges problemn * ich sprach also und den nächsten morgenn * bevor ich weg fuhr kam eine etwa * zwanzich fümunzwanzichjährige junge deutsche an mich herann * und sagte ich muß ihnen etwas sagenp * (ja) bitten * ä sagt sie wissen sie * wenn ich mir ** die kultur der weimarer republik vorstellep * dann verkörpern sie diese kultur für michp * das war nun für einen deutschen juden * einerseits ä: * überraschend * ein überraschendes lobn * gab mir aber viel zu denkenp und=ä: * AB: hmp JW: vielleicht sind wir wirklich die einzigen erbenp * der

nai; 45); sie mussten sich in der Transkription den Konventionen der Phonai-Reihe ›Texte und Untersuchungen zum gesprochenen Deutsch‹ anpassen: Bei dieser Transkription für Gesprächsanalytiker wird keine Normalinterpunktion verwendet, sondern Pfeile für Stimmsenkung oder -hebung, Sternchen pro 1 Sekunde Pause und Unterstreichungen für simultan Gesprochenes. In vielen Fällen war eine Wiederholung der Erstinterviews von 1990 nötig, da mir im Juni 1990 in Tiberias mein Auto ausgeraubt wurde, wobei meine ersten 50 Interviews verloren gingen. Der Großteil wurde in den Folgejahren von mir und zwei Mitarbeiterinnen erneut aufgenommen. Vgl. dazu ausführlicher Anne Betten: ǽVielleicht sind wir wirklich die einzigen Erben der Weimarer KulturǼ. Einleitende Bemerkungen zur Forschungshypothese ǽBildungsbürgerdeutsch in IsraelǼ und zu den Beiträgen dieses Bandes. In: Betten/Du-nour (Hg.), Sprachbewahrung nach der Emigration (wie Anm. 2), S. 157– 181, hier S. 157–160.

Sprachheimat vs. Familiensprache 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

AB: JW: AB: JW:

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weimarer kulturn * und * wenn ich hier noch=ä: einschalten kann denn das würde * dieses gespräch eigentlich=ä: * versch/ bestärkenn ** ä: jüdische schulleiterp * der dreißiger jahrep * erzählen in ihren erinnerungenp * daß wohlwollende: * ä: * inspektorenp die ja die jüdischen schulen noch besuchen durften und mußtenp * zu ihnen kamenn * und dann * nachdem sie die klassen besucht hattenn * sich mit * der leiterin zurückziehen oder mit dem schulleitern * und sagen jetzt wo wir unter uns sind * kann ich ihnen sagen * wenn man heute noch * das humanistische deutsche kulturerbep * irgendwop * erleben willn muß man leider in das war in den dreißiger jaheine jüdische schule gehenp jap hmhmp * jap renp und das das war in den na/ in den hitlerjahrenp jap gehört vielleicht auch in unser thema hinein * weil ich glaube daß wir dieses * kulturelle erbep * und eine sprache ist ja * der spiegel der kulturn * daß dieses kulturelle erbe * wir * hierher übernommn habenn * mitgenommn habenn * und unverändert beibehalten * habenn * vielleicht in parenthese auch kein zufall * daß die deutschen juden zum beispiel in ihrer politischen einstellungp * weitgehend beeinflußt sindn * und bleibenn * durch das humanistische erbe * der * weimarer republikn * im besten sinnp [...]5

Das gepflegte Deutsch der Österreicher hingegen wird nicht mit Weimar, sondern mit der vorbildlichsten Sprachinstitution der Österreicher, dem Burgtheater, assoziiert. Eine solche Erfahrung machte z. B. die Schneidermeisterin Anna Robert, die nach etwa 30 Jahren im Land begonnen hat, deutsche Gedichte zu schreiben (auf dieses nicht vereinzelte Phänomen komme ich später noch zurück). Sie erzählt von einem Erlebnis bei einem Ferienaufenthalt in den österreichischen Bergen: Beispiel (2) Anna Robert (geb. Marcus, *1909 in Wien), Schneiderakademie, emigriert 1934, Schneiderin. Interview: K. Hecker, Ramat Gan 1990 1 2 3 4 5 6 5

AR:

[…] dann bin ich auf eigene faust * in eine pension gezognp nur in eine frühstückspensionp * und * ich hatte * immer vor wenn ich wo ge/hingekommen binn * ich hab sofort gesagtn * ich bin aus israelp * um vor * um unKH: jap AR: angenehmen überraschungen * ä * vorzubeugenp verstehen sien

Betten/Du-nour (Hg.), Sprachbewahrung nach der Emigration (wie Anm. 2), S. 143f.

208 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

2

Anne Betten

KH: AR: KH: AR:

KH: AR:

[…] hat diese frau gesagtn *3* eigentlich hätt ich ma des gleich denken LACHT KURZ * könnenp * sie redn ja a burgtheaterdeutschp komischp jap jap LACHT jap verstehn sie die komikn ich komm (dorthin) sag=ich wieso kommen sie sagt sie * aber dann hat sie auch gesagt warum ham sie mir das gesagtn aus israel wir habn schon immer gäste aus israelp * und sie ham * sprechen so wie ein gast von uns der immer kommtp * aber so ein * ein jap burgtheaterdeutschp […]6

Die Sprach- und Akkulturationsprobleme der 1. Generation

Im Folgenden möchte ich zunächst über die Projekte informieren, in deren Rahmen meine Interviews entstanden sind. Ich habe in den Jahren 1989–1994 ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt geleitet, in dem über 170 Immigranten aus deutschsprachigen Ländern in Israel interviewt wurden. Anfangs wurde ich dabei unterstützt von Dr. Kristine Hecker, Deutsch-Lektorin an der Universität Bologna, seit 1991 auch von der israelischen Hebraistin, Linguistin und Übersetzerin Dr. Miryam Du-nour, mit der mich dann bis zu ihrem Tod 2001 eine enge wissenschaftliche Zusammenarbeit und Freundschaft verband. Die Vermittlung der Gesprächspartner erfolgte zunächst 1989 über Annoncen in der (letzten) deutschsprachigen Tageszeitung Israel Nachrichten und im Mitteilungsblatt des ›Irgun Olej Merkas Europa‹, später ergänzt durch eigene Bekanntschaften. 1998 kamen auf einer Exkursion, die ich mit 40 Studierenden und Kollegen meines neuen Universitätsorts Salzburg machte, 22 Interviews der Exkursionsteilnehmer mit ehemaligen Österreicher/inne/n in Jerusalem dazu. Das Projekt hatte zunächst ein primär sprachwissenschaftliches Ziel: Es sollte die hohe Sprachkultur der ehemaligen deutschen und österreichischen Juden noch 60 Jahre nach der Emigration dokumentieren,7 die Gründe dafür analysie-

6 7

Betten/Du-nour (Hg.), Sprachbewahrung nach der Emigration (wie Anm. 2), S. 139. Vgl. die Textbände Anne Betten (Hg.): Sprachbewahrung nach der Emigration – Das Deutsch der 20er Jahre in Israel. Teil I: Transkripte und Tondokumente. Tübingen: Niemeyer 1995 (mit CD) (Phonai; 42) und Anne Betten/Miryam Du-nour: Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Gespräche mit den Emigranten der dreißiger Jahre in Israel. Neuauflage Gießen: Haland und Wirth im Psychosozial-Verlag 2004 (1.–3. Aufl. Gerlingen: Bleicher 1995ff.).

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ren8 und das erhobene Material auch für spätere Untersuchungen, eventuell mit anderen Schwerpunkten, bereit stellen. Die Archivierung und Teilpublikationen der Texte wurden mit dem Institut für deutsche Sprache (IDS) Mannheim vereinbart, wo die Interviews nicht nur digitalisiert, sondern später auch im Internet präsentiert wurden und interessierten Forschern zur Verfügung stehen.9 Ich selbst habe seit 1995 eine Reihe von Aufsätzen veröffentlicht, in denen u. a. die Einwirkungen von Alter,10 Geschlecht11 und Beziehungsarbeit12 auf den Gesprächsstil, sowie ferner die Form und Funktion bestimmter Gesprächsmuster und Textsorten,13 Fragen der 8

9

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Dies geschah zunächst im Band Betten/Du-nour (Hg.), Sprachbewahrung nach der Emigration (wie Anm. 2) in einer Reihe von Aufsätzen mit syntaktischer und soziolinguistischer Ausrichtung; einen Überblick darüber gibt Betten, ǽVielleicht sind wir wirklich die einzigen Erben der Weimarer KulturǼ(wie Anm. 4). Mein zweiter Beitrag in diesem Band, speziell zur Syntax, beschäftigt sich mit meiner Ausgangshypothese im Detail: Dies.: Satzkomplexität, Satzvollständigkeit und Normbewußtsein. Zu syntaktischen Besonderheiten des Israel-Corpus, S. 217–270. Internetpräsentation von 142 Aufnahmen des Israel-Corpus (1. Generation) am Institut für Deutsche Sprache (IDS) Mannheim unter: . Kopien der Interviews sind ebenfalls im Institute of Contemporary Jewry/Oral History Division der Hebrew University of Jerusalem, Mount Scopus, archiviert und dort mit englischen Inhaltsangaben dokumentiert: (Projektnummer: 234). Bislang sind in beiden Archiven nur 142 Aufnahmen der 1. Interviewreihe zugänglich, 2010/11 werden auch die beiden weiteren Interview-Corpora dazu kommen. Anne Betten: Ist ›Altersstil‹ in der Sprechsprache wissenschaftlich nachweisbar? Überlegungen zu Interviews mit 70- bis 100jährigen Emigranten. In: Sprache und Kommunikation im Alter. Hg. von Reinhard Fiehler und Caja Thimm. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 131–142. Anne Betten: Männermonolog vs. Frauendialog oder der Umgang mit Unterbrechungen. Weiteres Material zu einer provokanten These. In: Die deutsche Sprache in der Gegenwart. Festschrift für Dieter Cherubim zum 60. Geburtstag. Hg. von Stefan J. Schierholz. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2000, S. 291–301. Anne Betten: Style-shifting in narrativ-diskursiven Interviews. Anmerkungen zum Einfluss der Beziehungsebene auf Textsortenwahl und Gesprächsstil. In: Sprachstil – Zugänge und Anwendungen. Ulla Fix zum 60. Geburtstag. Hg. von Irmhild Barz, Gotthard Lerchner und Marianne Schröder. Heidelberg: Winter 2003 (Sprache – Literatur und Geschichte; 25), S. 9–22. Anne Betten: Emigrationsetappe Frankreich: Zur Ausformung von Erzählungen in mündlichen Autobiographien ehemaliger deutscher Juden. In: Signans und Signatum. Auf dem Wege zu einer semantischen Grammatik. Festschrift für Paul Valentin zum 60. Geburtstag. Hg. von Eugène Faucher, René Métrich und Marcel Vuillaume. Tübingen: Narr 1995 (Eurogermanistik; 6), S. 395–409; dies.: Rechtfertigungsdiskurse. Zur argumentativen Funktion von Belegerzählungen in narrativen Interviews. In: Diskurse und Texte. Festschrift für Konrad Ehlich zum 65. Geb. Hg. von Angelika Redder. Tübingen: Stauffenburg 2007, S. 105–116; dies.: Berichten – Erzählen – Argumentieren revisited. Wie multifunktional sind die Textsorten im autobiographischen Interview? In: Am Rande im Zentrum. Beiträge des VII. Nordischen Ger-

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Identität,14 oder auch sprachliche Interferenzerscheinungen15 im Zentrum der Analyse stehen.16 Zu Erzählstrukturen, Erzählerstrategien, Metaphorisierung und Identitätskonstruktion haben in jüngster Zeit v. a. Eva Thüne und Simona Leonardi interessante neue Fragen an das Korpus herangetragen.17

Bei allen Aufnahmen handelt es sich um sog. offene Interviews, eher Gespräche, meist 2–3 Stunden lang, die den kulturellen Bruch, den Sprachwechsel und seine Auswirkungen im Zentrum hatten, aber damit auch den Bruch im Leben thematisieren. Sie begannen mit der Orientierung der Elternhäuser, der Erziehung, dem Auslöser für die Emigration, der Vorbereitung in Europa auf das neue Leben. Auch die Umstände der Emigration selbst und die erste schwierige Übergangszeit danach wurden meist ausführlich geschildert, während ein großer Teil des sich wieder normalisierenden Lebens dann oft in ein paar Sätzen zusammengefasst wurde, z. B. »und dann war ich noch 40 Jahre Beamter im Ministerium, habe 4 Kinder und mittlerweile 12 Enkel«. Im Hinblick auf den Fokus unserer Gespräche wurden jedoch die Themen ›Sprache mit den Kindern und Enkeln‹ und ›Weitergabe des kulturellen Erbes an die nächste Generation‹ meist wieder genauer elaboriert: Die Einschätzungen waren damals eher pessimistisch, mit Ausnahme der weitergegebenen Vorliebe für klassische Musik.

14

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manistentreffens Riga, 7.–11. Juni 2006. Hg. von Thomas Taterka, Dzintra LeleRozentƗle und Silvija PavƯdis. Berlin: SAXA-Verlag 2009, S. 227–243. Anne Betten: Konflikte der deutsch-jüdischen Emigranten der 30er Jahre in Eretz Israel. In: Akten des 11. Germanistenkongresses Paris 2005 ›Germanistik im Konflikt der Kulturen‹. Hg. von Jean-Marie Valentin. Bd 12. Berlin, New York u. a.: Lang 2007, S. 367–372; dies.: Zwischen Individualisierung und Generalisierung: Zur Konstruktion der Person in autobiografischen Emigranteninterviews. In: Der Ausdruck der Person im Deutschen. Hg. von Irmtraud Behr, Anne Larroy und Gunhild Samson. Tübingen: Stauffenburg 2007 (Eurogermanistik; 24), S. 173–186; dies.: Reflections on Identity of First and Second Generation Austrian Emigrants in Israel. In: From Cultural Polyphony to National Independence: Conferences Jerusalem 2005/2006. Hg. von Anne Betten, Hanni Mittelmann und Anton Pelinka (demnächst Jerusalem). Anne Betten/Peter Mauser: Deutsche Wörter im Exil. In: Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag. Hg. von Vilmos Ágel et al. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 183–200. Vgl. dazu auch Mirjam Du-nour: Sprachenmischung, Code-switching, Entlehnung und Sprachinterferenz. Einflüsse des Hebräischen und Englischen auf das Deutsch der fünften Alija. In: Betten/Du-nour (Hg.), Sprachbewahrung nach der Emigration (wie Anm. 2), S. 445–477. Mit der Frage der Textsortenwahl beschäftigt sich Martina Majer: Erzählen gegen das Vergessen: Interviews mit jüdischen Emigrant/inn/en. Linguistische Betrachtungen zur Interdependenz von Intention, Textsortenwahl und Identität. Diss. Salzburg 2009 [Buchpublikation in Vorber.]. Kurz vor dem Abschluss steht die Salzburger Diss. von Teresa Schweiger über den Beitrag von Pronomina und anderen sprachlichen Mitteln zur Konstruktion von Identität in den Interviews mit der 1. Generation. Vgl. auch ihren Beitrag in diesem Band!

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Die Gesprächsthemen über die 2. Generation brachten mich auf die Idee, auch mit dieser Interviews zu führen. Seit 1999 habe ich 62 Aufnahmen gemacht, großenteils mit den Kindern der alten Interviewpartner. Diese harren noch einer gründlichen Auswertung in Buchform, sind aber bereits verschiedentlich in Referate und Aufsätze eingeflossen.18 Bei der 1. Generation erwies sich die Frage nach der Rolle der deutschen Sprache im weiteren Leben der Emigranten als ein in diesem Ausmaß gar nicht erwarteter Glückstreffer. Obwohl sich die Gespräche insgesamt zu umfassenden autobiographischen Oral History-Zeugnissen ausweiteten, gaben viele an, sich nur deswegen gemeldet zu haben, weil das Sprachenproblem ihr zentrales Identitätsproblem berühre. Mir gegenüber, als einer Fremden, die aber mit Interesse und Anteilnahme aus der ehemaligen Heimat kam, äußerten sich daher alle Interviewpartner sehr offen: um darüber zu reden, hatten sie mich ja eigentlich kommen lassen. Dies wurde auch aus vielen Anmerkungen am Rande unserer Interviews immer wieder deutlich. Als z. B. Miryam Du-nour, die perfekt Deutsch sprach, aber mit leicht tschechischem Akzent, ein Interview bei einem ursprünglich für mich vorgesehenen Ex-Berliner übernehmen wollte, weigerte dieser sich bei ihrem ersten, auf Hebräisch geführten Telefongespräch zunächst, das Interview mit ihr zu machen, da sie als Sabra nicht verstehen könne, was die deutsche Sprache und Kultur einem deutschen Juden bedeute. Selbst ihre Freundin, die aus Berlin stammende Historikerin und Shoah-Forscherin Leni Yahil, die als Studentin an der Hebrew University nach ihrer Einwanderung 1934 sehr schnell und bewusst zur hebräischen Sprache übergegangen war und einige etwas nostalgische Aussagen anderer Interviewpartner über ihre Verbundenheit mit der deutschen Sprache und Kultur durch ihren Beitrag korrigieren wollte, sagte mir bei einem späteren Besuch, sie bedaure, dass nicht ich das Interview mit ihr gemacht habe, da es dann ganz anders und sicher besser geworden wäre. Anzumerken ist, dass ihr Interview mit Miryam Du-nour, mit der sie sonst nur Hebräisch sprach, inhaltlich hochinteressant ist, sodass sich nur mutmaßen lässt, was sie mit dieser Bemerkung gemeint hat, ohne es genauer ausdrücken zu wollen. Wenn ich in den 90er Jahren gelegentlich Treffen mit mehreren ehemaligen Interviewpartnern gemeinsam arrangierte, fiel mir öfter eine gewisse Verhaltenheit untereinander auf: man fürchtete, allein die Teilnahmebereitschaft zu den Interviews könnte missverstanden werden. Ein aus Prag stammender Interviewpartner, Felix Wahle, der als Sekretär der Handelskammer in Tel Aviv bestimmt beruflich gut ins Hebräische hineingewachsen war, hat das Problem sehr offen angesprochen:

18

Vgl. Betten, Konflikte der deutsch-jüdischen Emigranten (wie Anm. 14); dies., Rechtfertigungsdiskurse (wie Anm. 13); dies., Reflections on Identity (wie Anm. 14).

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Beispiel (3a) Felix B. Chaim Wahle (*1910 in Prag), Handelsakademie, emigriert 1940, tätig im Handels- und Wirtschaftsministerium, Sekretär der Handelskammer. Interview: A. Betten, Tel Aviv 1991 1

Wir sprachen über das Zugehörigkeitsgefühl, über das Zuhausesein, über den Umbruch im Leben durch die Auswanderung. Nun will ich bemerken, geboren bin ich als Österreicher. Mein Vater war ein großer Habsburger, wie viele Prager. Die Juden in Frankreich waren große Franzosen, in Deutschland waren sie große Deutsche. Die Juden haben aufeinander geschossen, der französische Jude und der deutsche. Also 1918 war der Umbruch, und wir lebten, ohne uns einen Meter zu rühren, plötzlich in einem anderen Staat, waren Tschechoslowaken. Mein Vater hat sich bis zu seinem Lebensende 1936 nicht daran gewöhnt und war bis zum Ende ein großer Österreicher. Ähnlich, möcht’ ich sagen, ist es bei mir: Ich habe mich leider einige Kilometer weit entfernen müssen von dem Ort, wo ich groß geworden bin. Aber auch ich kann mich an den Umbruch in meinem Innersten nicht gewöhnen. Und wenn Sie vorher sagten, daß da auch andere Umstände, wie das Alter usw. mitwirken, will ich das gerne akzeptieren. Sie wirken eben mit, aber ich glaub’ nicht, daß das ausschlaggebend ist. Man fühlt sich dort zu Hause, wo man geboren und groß geworden ist und woran man eine mehr oder weniger schöne Erinnerung hat. Ich nehme kein Blatt vor den Mund und rede, wie ich in meinem Innersten fühle. Ich lege mir keinen Zwang auf, besonders patriotisch zu sein. Ich weiß, ich gehöre, wie man es hier nennt, der sogenannten Wüstengeneration an. Das ist die Generation, die 40 Jahre in der Wüste herumirrte, aber der es versagt war, ins Heilige Land selbst zu kommen. Also, ich lebe zwar im Heiligen Land, aber ideologisch bin ich noch immer in der Wüste. Ich gehöre nicht mehr dorthin, aber ich gehöre noch immer nicht hierher. Ich bin wahrscheinlich einer der wenigen, wenn nicht der einzige Ihrer Gesprächspartner, der sich so ausdrückt. Die meisten sind wahrscheinlich aus vollem Herzen gerade hierher gekommen und fühlen sich hierher gehörig – und wenn sie es nicht tun, bilden sie sich’s ein.19

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Allerdings ist dieses Statement auch im Zusammenhang mit folgender Bemerkung über seine Kinder zu sehen: »Meine Kinder sind selbstverständlich Israelis […] Sie sind hier zu Hause, und ich bin froh darüber«.20 Dass sein eigenes Bekenntnis kein nostalgisches ist, sondern ein sehr reflektiertes, zeigt auch der folgende Zusatz: Beispiel (3b) 1

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Meine Einstellung war und ist eine sehr zwiespältige. Ich kann dem deutschen Volk die Enttäuschung nicht verzeihen, die es mir durch sein Verhalten angetan hat. Daher der große Zwiespalt. Und wenn ich sagte Ent-

Betten/Du-nour, Wir sind die Letzten (wie Anm. 7), S. 250. Ebd., S. 253.

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täuschung, so soll das alles beinhalten, was dahinter steht, Holocaust und alles das. Ich versteh’ es bis heute nicht. Auf der anderen Seite, wie ich die Wälder gesehen habe und die Flüsse und die Berge und die Täler, ist mir warm ums Herz geworden.21

Die Scheu, Integrationsprobleme einzugestehen, bestätigt auch der folgende Interviewbeleg: Nira Cohn (geb. 1920 in Hannover), die mit der Jugendalija gekommen und schnell Musterschülerin in Hebräisch war, hat auch immer weiter Deutsch gesprochen, nicht nur mit ihrem Ehemann. Sie berichtete, dass sie mit jeckischen Freunden am Telefon oft Deutsch spreche, obgleich diese ihr dann manchmal vorwerfen würden, sie spreche Deutsch, weil sie wieder mal in Hannover gewesen sei, wo sie später wieder viele Freunde hatte. Das sei aber nicht der Grund: Vielmehr wolle sie die anderen nicht in Verlegenheit bringen, da ihr Hebräisch besser sei – und warum solle sie mit jemandem falsch sprechen, wenn dieser eine andere Sprache richtig sprechen könne. Sie resümierte: »Die Leute wollen sich was beweisen und ich kann es auch verstehen: das ist doch ein gewisses Versagen, wenn man das zugibt. Das ist ein Grund, weswegen viele nicht Deutsch reden wollen: das ist als ob man irgendwie versagt hat hier mit seinem Zionismus«.22 Im ersten Teil von Betten/Du-nour wird auf über 150 Textseiten mit Originalzitaten ein großes Spektrum von Fällen präsentiert, wie sich die unterschiedlichen Hebräischkenntnisse aus Deutschland und die Spracherwerbsbedingungen nach der Immigration im einzelnen ausgewirkt haben.23 Dabei spielen Alter bei der Einwanderung, Wohnort, Ehepartner, Anwesenheit von Großeltern, Freundeskreis, Beruf sowie ideologische und religiöse Einstellungen eine große Rolle. Miryam Du-nour hat diese Daten aus dem Corpus minutiös analysiert.24 Hier sei nur erwähnt, dass 20 % unserer Interviewten vor 1906 geboren, also über 80 Jahre alt waren, und 54,2 % zwischen 70 und 80 Jahre alt. Von ihnen leben jetzt nur noch wenige. Heutige Zeitzeugen der 5. Alija gehören fast nur noch jenem jüngsten Viertel unserer Interviewpartner an, die nach 1918 geboren wurden und daher – im Gegensatz zu den älteren Einwanderern – das Hebräische im Sprechen, Schreiben und Lesen perfekt beherrschen.25 Umso erstaunlicher ist es, dass viele von ihnen das Deutsche zumindest im Sprechen ebenfalls noch perfekt beherrschen. Dies dürfte vor allem auf die spezielle Situation in Israel zurückzuführen sein, dass in den ersten Jahrzehnten in den maßgeblichen Kreisen der Emigranten noch eine 21 22 23 24

25

Ebd., S. 383. Vgl. zu dieser Stelle Betten/Du-nour (Hg.), Sprachbewahrung nach der Emigration (wie Anm. 2), S. 130. Ebd., S. 1–153. Miryam Du-nour: Sprachbewahrung und Sprachwandel unter den deutschsprachigen Palästina-Emigranten der 30er Jahre. […]. In: Betten/Du-nour (Hg.), Sprachbewahrung nach der Emigration (wie Anm. 2), S. 182–216. Vgl. ebd., S. 201.

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große Zahl auf höchstem Niveau Deutsch Sprechender den Ton angab, sodass sie auch die Jüngeren noch lange beeinflussten.26 Die Sprachkompetenzen derer, die bei der Einwanderung 18 Jahre und älter waren und keine Schule und Universität mehr besuchten (diese stellten in den ersten Jahrzehnten ja die Mehrheit dar), sind jedoch auch heute noch insofern relevant, als sie die Eltern der 2., schon im Lande geborenen Generation sind und diese durch ihr Sprachverhalten mit geprägt haben. 59,3 % unserer Interviewpartner gaben an, mit den Ehepartnern Deutsch zu sprechen, und nochmals 15,3 % Deutsch und Hebräisch. Es bleiben 20 %, die angaben, untereinander Hebräisch zu sprechen: 15 % davon hatten Ehepartner mit anderssprachigem Hintergrund. Es bleiben also von den Paaren, die beide Deutsch als Muttersprache hatten, nur 5 % übrig, die angaben, miteinander nur Hebräisch zu sprechen: am häufigsten waren dies Ehepaare aus dem Kibbuz.27 Aber auch hier korrigierten die Kinder oftmals die Selbstangaben der Eltern und sagten, diese hätten öfter untereinander Deutsch gesprochen, nicht nur, wenn sie nichts verstehen sollten. Nachum Gadiel, geb. 1917, berichtete als einer von vielen, wie verpönt es gerade im Kibbuz war, Deutsch zu sprechen, fügte dann aber hinzu: »Mit meiner Frau hab’ ich leider fast nur Deutsch gesprochen, denn sie sagte mir, wenn ich mit ihr Iwrit spreche, dann komm’ ich ihr so fremd vor«.28 Bei der Sprache mit den Kindern verschiebt sich das Bild zwar stark zugunsten des Hebräischen, es ist aber doch bemerkenswert, dass inklusive der 28,5 %, die mit den Kindern Deutsch und Hebräisch sprachen, 52,1 % mit den Kindern Deutsch bzw. »auch Deutsch« sprachen – im Vergleich zu 42,4 % die »nur Hebräisch« angaben.29 Selbst wenn man berücksichtigt, dass meist nur das 1. Kind in den ersten Jahren zu Hause mit Deutsch aufwuchs und eventuell erst im Kindergarten oder in der Schule Hebräisch lernte, und auch wenn für alle diese Kinder das Hebräische spätestens dann die Hauptsprache wurde und das Deutsche stark oder ganz zurückdrängte, bedeutet dies, dass heute noch viele Tausende von Jeckeskindern, etwa zwischen 50 und 75 Jahre alt, in Israel leben, die Deutsch zumindest passiv noch ziemlich gut verstehen und ihr Deutsch auch aktiv unter entsprechenden Umständen revitalisieren können. In der israelischen Gesellschaft wird die 2. Generation Jeckes allerdings kaum sichtbar, da sie im Gegensatz zu vielen Angehörigen der 1. Generation keinen deutschsprachigen Organisationen angehört und zum großen Teil mit Partnern anderer Herkunft lebt und daher nur noch ganz individuelle Verbindungen oder Erinnerungen an das Deutsche hat. Dazu gleich mehr.

26 27 28 29

Vgl. dazu Anm. 43. Vgl. Du-nour, Sprachbewahrung und Sprachwandel (wie Anm. 24), S. 204. Vgl. Betten/Du-nour (Hg.), Sprachbewahrung nach der Emigration (wie Anm. 2), S. 54f. Vgl. Du-nour, Sprachbewahrung und Sprachwandel (wie Anm. 24), S. 206f.

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Die Erhebungen über ›bevorzugte Sprachen beim Sprechen, Lesen und Schreiben‹ zeigen, wie weit die Fähigkeiten bzw. Vorlieben der 1. Generation auseinandergehen. Hebräisch wird vor allem ungern gelesen: 33,5 % lasen fast kein Hebräisch.30 Als Lesesprache der 1. Generation gewinnt vor allem das Englische als Berufs- bzw. Fachsprache, aber auch für belletristische neuere Literatur an Bedeutung. Deutschsprachige Nachkriegsliteratur wurde kaum noch rezipiert. Die Älteren haben jedoch manchmal die moderne hebräische Literatur in deutscher oder englischer Übersetzung gelesen. Die Berichte zu diesem Thema, das eng mit der kulturellen Identität der Migranten verbunden ist, sind oft sehr berührend. Bsp. (4) schildert zwar die Situation der Anfangsjahre, ist aber für die etwas älteren Einwanderer oft bis zuletzt Realität geblieben. Der Sprecher erzählt von ersten Eindrücken seiner Jugendalija-Gruppe im Kibbuz Kirjat Anavim: Beispiel (4) Josef Amit (ehem. Hans Reich, *1923 in Wien), Realgymnasium abgebrochen, emigriert nach Palästina 1939, 1959 nach Australien, Konfektionsfirma. Selbstaufnahme (nach Fragen von A. Betten) 1996 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 30

JA:

K JA: K JA: K JA:

[...] es gab in kirjat anavim * den doktor warburg der ein kleiner * arzt war ein * ein dorfdoktorn * RÄUSPERT SICH * von einer ** m: berühmten familie stammendn die f/ finanzier warn * aber er hat dazu: wahrscheinlich ä: sich nicht geeignetn * und ä * verließ seine familie und * versuchte sein leben allein * als * hm so * kleiner dorfarzt * RÄUSPERT SICH * sein leben aufzubaunp aber er hatte eigentlich nie ** sich wieder eingelebt in * die andere * kultur die sich eben (ausdrückt in) in sprachep * das war einer aber wir haben ihn natürlich sehr sehr geschätztn * und der andere war ein=ä:m * zahnarzt doktor ** rosen/ #wie heißt #SEHR LEISE der# rosenfeldn ** ebensop der ä * als: gebildeter mann * # damals nach #palestine # kamn und * ä:m * mit mühe ä #ENGL. AUSSPRACHE# die iw/ ä die hebräische sprache lernte aber immer * wenn er sprach sprach er so * wie ein: ä junger burschp oder * bißchen kindischp * und im augenblick wo er deutsch sprach hat seine * ä: die kultur hat geglänztp RÄUSPERT SICH * wir hatten mit beiden * einmal in der wochen * so: nicht offiziell ich (kann) nicht sagen illegal aber es war nicht offiziell da hatten wir so eine privatep * einen privaten abend in unserem: lehrzimmern * zwanzich von uns und da * haben * die uns: * ein bild * lebendich gemacht * über

Vgl. ebd., S. 208f.

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26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

goethep * und wir waren wirklich begeistert davonn * vieles war ganz neu RÄUSPERT SICH * ä: * war nu/ für war diese: * unterrichtsstunde einmal in der woche wirklich ein kulturgenußp * RÄUSPERT SICH * der höhepunkt davon warn daß sie beide * bei uns=ä: * also mit verteilten rollen den faust gaben * ä:m * ä: der zahnarzt als faustn und der arzt war mephistophelesp * ä: sie haben sich selbst übertroffen * u:nd sie haben * wirklich etwas: nicht nur für unsn sondern für sich selbst getan * da sie * ä: * zurück in: in die welt ihrer kultur * wenigstens * für den abendp [...]31

Für die Zeit 50 Jahre später konstatiert Prof. Paul Alsberg, der es in seiner Berufslaufbahn als Leiter des Staatsarchivs zu einem perfekten Berufs-Hebräisch gebracht haben muss, über die Situation im Alter Folgendes: Beispiel (5) Dr. Paul Avraham Alsberg (*1919 in Elberfeld), emigriert 1939, Geschichtsstudium, Leiter des Staatsarchivs, Vorsitzender der Else-Lasker-SchülerGesellschaft. Interview: A. Betten, Jerusalem 1994 1

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PA: Ich benutze heute fraglos mehr Deutsch als während der Zeit, in der ich gearbeitet habe. AB: Sind Sie in die hebräische Literatur, auch in die moderne Literatur hineingewachsen? PA: Hören Sie zu. Mit allem, was Hebräisch ist, sind wir an der Oberfläche geblieben. Außer dem Fachlichen les’ ich kaum hebräisch. Ich weiß nicht, ob ich sagen kann, daß ich ein nicht-fachliches Buch pro Jahr lese. Ich lese bis heute keine Belletristik. Das hängt mit der Sprache zusammen. Ich les’ ungleich schneller Deutsch oder Englisch. Wenn ich ein Buch zum Genuß lese und sprachlichen Genuß habe, ist es Deutsch, bis heute. Gedichte kann ich überhaupt nur in Deutsch lesen, in keiner anderen Sprache. Wenn ich ein Buch des Inhalts wegen lese, lese ich am liebsten Englisch. Aber wenn ich Deutsch schreibe, muß ich mir sehr häufig einen Duden nehmen, oder ich frage meine Frau plötzlich: »Wie schreibt man das?« Dasselbe geht mir fraglos auch so im Englischen, ich muß sehr häufig ein Lexikon nehmen. Sogar im Hebräischen, das ich im Beruf ausschließlich gebraucht habe, nehme ich es häufig. Sehen Sie, das ist etwas, was einem nicht passieren soll, wenn man diese Laufbahn gehabt hat wie ich, daß man eigentlich keine Sprache sicher schreibt ohne ein Wörterbuch. Das ist ein Armutszeugnis, ja.32

Betten/Du-nour (Hg.) Sprachbewahrung nach der Emigration (wie Anm. 2), S. 136. Betten/Du-nour, Wir sind die Letzten (wie Anm. 7), S. 326.

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Vieles an diesem Geständnis ist typisch für die Jeckes der 1. Generation – aber doch ist nichts allgemeingültig. Zum Beispiel gab Prof. Alsberg speziell für seine Frau, die gar keine hebräischen Bücher gelesen hat, als Grund an, dass ihr da die Assoziationen fehlen. Dieses Argument wurde öfters angeführt; die sehr zionistisch eingestellte Juristin Dr. Hilde Rudberg fügte erklärend hinzu: »Die ganzen Assoziationen, die Bibelstudenten haben oder Jeschiwa-Studenten, und aus der religiösen Literatur, das fehlt«.33 Religiöse wie Prof. Walk (Bsp. 1) gaben dementsprechend an, dass sie glauben, beim Schreiben im Hebräischen mehr Assoziationen zu haben; im freien Sprechen hingegen schätzte Walk seine Fähigkeit in beiden Sprachen gleich ein, gestand aber, immer noch müheloser Deutsch zu lesen. Die aus einer bekannten zionistischen Familie stammende Elsa Sternberg, Schwester des Justizministers Pinchas Rosen, erzählte zwar, wie glücklich sie sich von Anfang an in Jerusalem fühlte (»heimgekehrt nach 2000 Jahren«), gab aber zu, zu Hause deutsche Kultur weitergepflegt zu haben. Ihr Sprachverhalten in der Anfangszeit kommentierte sie folgendermaßen: »Hebräisch pflegt man und lernt man und spricht man was man kann, und Deutsch redet man, was man denkt«.34 Sie fügte hinzu, dass sich das Gewicht später etwas verlagert bzw. »gemildert« habe. Besonders berührend war aber, dass die damals 92-Jährige dann berichtete, sie wache manchmal morgens mit einem deutschen Gedicht im Kopf auf, und mir Zettelchen gab, auf denen sie solche notiert hatte. Sie versuchte diese an sich widersprüchlichen Phänomene folgendermaßen zu erklären: Beispiel (6) Elsa Belah Sternberg (geb. Rosenblüth, *1899 in Messingwerk bei Eberswalde), Kindergärtnerin, emigriert 1933, Erziehungsberaterin. Interview: A. Betten, Kfar Saba 1991 1

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AB: Haben Sie gelegentlich darunter gelitten, daß Sie als Zionistin und bei dem Engagement Ihrer Familie für den Aufbau des Landes kulturell doch wahrscheinlich nicht in die Tiefe der hebräischen Literatur eindringen konnten? ES: Oh doch! Man war doch pionierhaft beteiligt am Hebräischen als einer neu wachsenden Sprache, neben der religiösen. Ich mache es so: Die Gespräche mit meinem Unbewußten sind deutsch, die Gelegenheitsgedichte bei der Geburt der Kinder oder bei Familienfesten sind hebräisch. AB: Ja? Doch? Aber die Gedichte, die Sie jetzt morgens beim Aufwachen im Kopf haben, die sind wieder deutsch. ES: Die waren immer deutsch. Zuletzt geht jeder auf seine Muttersprache

Vgl. Betten/Du-nour (Hg.), Sprachbewahrung nach der Emigration (wie Anm. 2), S. 109. Vgl. ebd., S. 126.

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Anne Betten zurück, sei es Russisch, sei es Deutsch, sei es Englisch. Ich merke, wie meine Konzentrationsfähigkeit nachläßt und wie ich zurück zum Deutschen greife. Das Erworbene tritt zurück.35

Es ist kein ganz seltenes Phänomen, dass die Jeckes nach vielen Jahren in Israel, gut oder schlecht hebraisiert, im Alter plötzlich angefangen haben, deutsche Gedichte zu schreiben. Dies zeigt, wie tief die Sprache in ihnen verwurzelt ist und wie stark das Bedürfnis ist, sich emotional, aber auch differenziert in seiner besten Sprache auszudrücken – in der man eben die Assoziationen und die Erinnerungen hat. Besonders die literarischen Assoziationen waren bei allen Jeckes fest verankert, fast alle konnten auch im hohen Alter stundenlang deutsche Gedichte zitieren. Aber auch eine Dichterin wie Mirjam Michaelis, die als junge Frau in Berlin schon einen Lyrikpreis erhalten hatte, nach der Immigration als überzeugte Zionistin aber all ihren Ehrgeiz daran setzte, auch in den hebräischen Schriftstellerverband aufgenommen zu werden, schrieb in den letzten Jahren wieder nur Deutsch. Das in dieser letzten Schreibphase entstandene Gedicht ›Schwere Stunde‹ drückt nicht nur ihre persönliche Situation aus, sondern Vieles, das für ihre ganze Generation gelten mag: Beispiel (7) Dr. Mirjam Michaelis (ehem. Lotte Adam, *1908 in Berlin), Promotion in Zeitungswissenschaften, Lyrikpreis, emigriert 1938, seitdem im Kibbuz Dalija. Interview: A. Betten, Kibbuz Dalija 1991 Schwere Stunde Das Pochen der Liebe in mir und meine Lippen sind verschlossen Das Pochen des Schmerzes in mir und meine Augen sind tränenlos Das Pochen der Freude in mir und ich kann nicht jubeln Und jetzt da mein Weg dem Ende entgegengeht wächst die Sehnsucht das Schweigen zu durchbrechen damit ... Aber meine Lippen sind verschlossen meine Augen tränenlos und ich kann nicht jubeln

35

Betten/Du-nour, Wir sind die Letzten (wie Anm. 7), S. 331.

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Nur das Pochen meiner Sehnsucht nur der Schmerz meines Schweigens jetzt da der Weg dem Ende entgegengeht36

Vor diesem Hintergrund ist es besonders bewegend, dass beide Kinder von Mirjam Michaelis sagten, sie hätten sich wegen des Hebräischen ihrer Mutter immer geschämt, da es nicht gut war. Und ihre deutschen Arbeiten können die Kinder, die als Kibbuzniks ohne Deutsch aufgewachsen sind, nicht lesen. Sie selbst räumte ein, dass sie trotz allen Bemühens in Israel nicht mehr erworben habe, was sie an deutschem Kulturgut besessen habe. Ihr Sohn, ein Psychologe, merkte in seinem Interview an, dass der Sprachverlust einen teilweisen Persönlichkeitsverlust seiner Mutter bedeutet habe – während sie selbst ihr Leben im Kibbuz als ein gelungenes und überzeugtes dargestellt hatte. Um die Möglichkeit zu kreativem Schreiben durch die Emigration beraubt fühlten sich nicht wenige – so auch die bis zu ihrem Tod 2007 als Chefredakteurin der deutschsprachigen Zeitung Israel Nachrichten tätige Alice SchwarzGardos, aber auch die mehrfach ausgezeichnete Übersetzerin und erfolgreiche Musikjournalistin Ada Brodsky.37 Nicht zuletzt das Wiedereintauchen in ihre beste Sprache, die Muttersprache, ist für viele Jeckes letztlich auch das Motiv zu späteren Reisen nach Deutschland und Österreich (oder aber, als Alternative, in die Schweiz) gewesen, auch wenn der erste Besuch oft traumatisch war. Für Moritz Cederbaum stand bei seiner ersten und einzigen Reise nach 41 Jahren das Spracherlebnis ganz im Vordergrund: Beispiel (8) Moshe Moritz Cederbaum (*1910 in Hannover), Versicherungsangestellter, emigriert 1939, diplom. Krankenpfleger. Interview: A. Betten, Tel Aviv 1991 1

5

10

36 37 38

1980, zu meinem 70. Geburtstag, wurde ich von der Stadt Berlin eingeladen und fuhr mit meinem Bruder nach Berlin. Das war sehr schön, es war nur zu kurz. Wir wurden von der Stadt Berlin herumgeführt, wir haben Touren in Berlin gemacht, auf dem Wannsee mit dem Ausflugsdampfer zur Pfaueninsel rüber, dort war ein schöner Empfang. Ich habe mich gefühlt wie ein Fisch im Wasser. Ich habe nur so rumgespielt mit den alten Worten: icke, dette, kieke mol, Ogen, Fleesch und Beene, ja, also dem Berliner Jargon. Also, wir fühlten uns sauwohl, muß man sagen, mit der deutschen Sprache. Sofort Kontakt gefunden, auf der Straße mit Menschen gesprochen – also, das war direkt himmlisch, muß ich sagen.38

Ebd., S. 331f. Vgl. dazu die Textauszüge ebd., S. 333–336. Ebd., S. 400.

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Anne Betten

Interessant wäre es, diese und viele weitere Äußerungen über die Liebe zur Sprache, die Einschätzung der Muttersprache als Sprache des Gefühls bzw. das Selbstverständnis des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums als den eigentlichen Bewahrern des humanistisch-klassischen Erbes in Beziehung zu setzen zu den Argumentationsmustern, die sich schon in Deutschland speziell vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933 herausgebildet hatten. Kremer belegt detailliert deren Genese in der Auseinandersetzung mit der antisemitischen Hetzpropaganda, aber auch im Richtungsstreit von Centralverein, deutschen und osteuropäischen Zionisten, Emanzipierten, Assimilierten und Orthodoxen.39 Demnach entstanden sie einerseits als Apologie gegen antisemitische Agitationsthesen, andererseits in der Konfrontation des liberal-jüdischen Sprachkonzepts mit seiner Hypostasierung der deutschen Bildungsbürgersprache gegenüber dem kulturzionistischen Sprachkonzept; Letzteres habe die deutschen Zionisten schließlich gezwungen, den Übergang zum Hebräischen, der von ihnen als fremd empfundenen Sprache, die nicht die Sprache ihres Gefühls war, zu vollziehen.40 In unseren Interviews finden sich Reflexe all dieser Positionen, vor allem als Bewertungen der Anfangszeit nach der Einwanderung, die allmählich revidiert wurden, aber auch noch als heutige Einstellungen. Zu nennen wäre hier z. B. die kulturchauvinistische Haltung, man habe sich mit der hebräischen Sprache und Kultur nicht ernsthaft auseinandergesetzt, da man von einer hohen Kultur in eine unterentwickelte gekommen sei. Aber auch das Selbstverständnis vieler Emigranten, sie verträten das bessere, wahre Deutschland bzw. seine humanistische Tradition, wäre in diesem Kontext zu überprüfen. Ebenso bemerkenswert ist, wie die Liebe zu den deutschen Geistesgrößen und Kulturerrungenschaften häufig streng getrennt gehalten wurde vom nationalsozialistischen Missbrauch, und eventuell sogar den in Israel geborenen Kindern und Enkeln zu vermitteln versucht wurde, auch wenn man selber wegen der erlittenen »Enttäuschung« (s. Bsp. 3b) bzw. tiefen Verwundung das NachkriegsDeutschland nie mehr besucht hat. Unabhängig von der jeweiligen Motivation wurde die deutsche Sprache auf jeden Fall grammatisch normgetreu, »rein« und nach schrift- bzw. literaturorientierten Stilidealen gepflegt. Und auch dies dürfte nicht nur eine Folge der »Weimarer Schulerziehung« sein (wie es einige Informanten begründeten),41 sondern, wie Kremer zeigt, auch noch ein unbewusster Reflex des Bemühens der deutschen Juden um besondere sprachliche Korrektheit und Reinheit zur Abwehr des Mauschelvorwurfs sein.42 39 40 41

42

Kremer: Deutsche Juden – deutsche Sprache (wie Anm. 1). Vgl. ebd., Kap. V, besonders S. 233ff. und 278ff. Vgl. dazu die Ausführungen von Ephraim Orni (in: Betten/Du-nour [Hg.], Sprachbewahrung nach der Emigration [wie Anm. 2], S. 145ff.) und Betten, Satzkomplexität, Satzvollständigkeit und Normbewußtsein (wie Anm. 8), S. 218ff. Kremer, Deutsche Juden – deutsche Sprache (wie Anm. 1), S. 231f.

Sprachheimat vs. Familiensprache

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Die Auswirkungen dieser Verinnerlichung, nämlich die Liebe zur deutschen Sprachkultur und die hohen Anforderungen an den sprachlichen Ausdruck, hatten selbst jene noch abzuarbeiten, denen ein intensiveres Eindringen in die Bildungsinhalte gar nicht mehr ermöglicht wurde: Die zwischen dem 10. und 15. Lebensjahr in Europa aus der Schule Geworfenen mussten sich ihre Bildungsinhalte bereits in einem anderen Kulturkreis aneignen; die Einstellungen, Bewertungen, Attitüden brachten sie aber vielfach noch aus ihrem alten Kulturkreis mit bzw. bekamen sie von den dort Sozialisierten übermittelt.43

3

Die Einstellung der 2. Generation zum Deutschen

Es wurde schon gesagt, dass in der Anfangszeit zumindest mit dem 1. Kind in vielen Familien Deutsch gesprochen wurde, obwohl die meisten Eltern aufgrund des öffentlichen Drucks der Meinung waren, sie gehörten zu den ganz wenigen, die das getan hätten. Nicht wenige dieser »Kinder«, die ich zwischen 1999 und 2006 interviewt habe, haben mit den Eltern – oder auch nur einem Elternteil – bis heute oder bis zu deren Tod Deutsch gesprochen. In diesen Fällen ist das Deutsche meist sehr flüssig geblieben. Auch wenn es nach der Kindheit in vielen Bereichen nicht ausgebaut wurde, sondern meist auf die Familien-Alltagskonversation beschränkt blieb, haben diese Sprecher/innen meist Strategien entwickelt, wie sie durch rasches Einflechten von Vokabular aus anderen Sprachen – im Normalfall Hebräisch, in der Unterhaltung mit mir bzw. anderen Deutschsprachigen meist Englisch – nicht nur die Konversation aufrechterhalten, sondern auch ihren Redefluss ohne große Stockungen fortsetzen können. Ein wichtiger weiterer Grund für den späteren Grad der Sprachbeherrschung bzw. -bewahrung ist, ob die 2. Generation die deutsche Sprache zu Hause relativ klaglos akzeptierte, oder aber darunter litt, sich den Freunden und der Außenwelt gegenüber schämte oder auch bewusst dagegen rebellierte. Bereits viele Eltern berichteten von diesem Problem. Besonders originell ist der Satz eines kleinen Mädchens, das im Autobus zu seiner Mutter sagte: »Nicht so laut und nicht so deutsch«.44 Was der perfekt Deutsch sprechende 43

44

Ich habe in verschiedenen linguistischen Publikationen Beispiele dafür angeführt, was für einen komplexen Sprachstil im Deutschen sich Jugendliche, die mit 13, 14 Jahren eingewandert sind, noch angeeignet haben, den sie in dieser Form nicht mitgebracht haben können. Vgl. dazu u. a. meine Analysen zu einem umfangreichen, trotz mehrerer Parenthesen und vieler Nebensätze für spontanes mündliches Formulieren ungewöhnlich korrekt durchgeführten Satzgebilde von Abraham Frank, in dem dieser die ganze Geschichte seines Vaters nach der Einwanderung abhandelt (z. B. in Betten, Satzkomplexität, Satzvollständigkeit und Normbewußtsein [wie Anm. 8], S. 236f.). Vgl. Betten/Du-nour, Wir sind die Letzten (wie Anm. 7), S. 304.

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Diplomat Shilo berichtet, gilt besonders für Kinder, die in Städten mit gemischten Milieus aufwuchsen: Beispiel (9) Michael Shilo (*1934), Diplomat. Interview: A. Betten, Jerusalem 2005 1

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Wir wollten kein Deutsch sprechen. Unsere unsere Eltern konnten ja nichts anderes als Deutsch und zu Hause haben wir natürlich Deutsch gesprochen, dann ging’s raus auf die Straße und wir sind die Straße lang spaziert […], ich bin vorgegangen, ich hab meine Eltern, meine Eltern zwölf Meter hinter mir laufen lassen, und ich bin vorgelaufen, denn ich wollte nicht, dass die Leute wissen und dass die Leute sehen, dass diese zwei, die da hinter mir gehen, dass die Deutsch sprechen und ich dazugehöre. Ich wollte nicht dazugehören. Und das war auch, das war auch in der Schule so […], da waren ja viele Jeckes-Witze natürlich, die haben sich lustig gemacht über die Jeckes, […] und da haben wir uns natürlich geschämt, wir wollten keine Jeckes sein als Kinder.

In vielen Fällen konnte dieses Sich-Schämen auch zur frühen Verweigerung der deutschen Sprache bei den Kindern führen – oder aber zu einer späteren Verdrängung, wie in Bsp. (10). Es handelt sich um den Sohn von Prof. Walk, dessen »Weimarer Deutsch« so bewundert wurde (s. Bsp. 1). Der Sohn aber hat als Kind und Jugendlicher in einem vor allem von Ostjuden geprägten Moschaw, wo sein Vater als Erzieher für die aus Deutschland mit der Jugendalija gekommenen Kinder verantwortlich war, als Sohn des Lehrers und als Jecke viel zu leiden gehabt und den Tag herbeigesehnt, wo er dieses Umfeld verlassen und als Pionier in einen Kibbuz gehen könnte. Seine Zwillingsschwester hingegen, die von denselben Jungens, die ihn einen »Jecke-Potz« nannten, angeschwärmt wurde, hat das Deutsche, das zu Hause von der Großmutter und der früh verstorbenen Mutter gesprochen wurde, als Familiensprache lieb behalten und spricht es ungleich besser: Beispiel (10) Ze’ev Walk (*1937 in Haifa), Erziehungs- und Schulberater. Interview: A. Betten, Jerusalem 1999 1

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ZW: […] Ja und die anderen waren dominant, Jeckes waren wenige. AB: Haben Sie das gemerkt? ZW: Ja, ja – ich mehr als meine Schwestern, weil Jungens waren bei meiner Klasse, ich und noch einer waren Jecke und vielleicht zehn waren nicht Jecke. Und manchmal haben wir, ich weiß noch wie, einmal habe ich geweint, weil hat man gelacht auf die Jecke, sind so pedant und so Ordnung und die anderen waren nicht so, wie sagt man, not so clean, not so (...) and we were more Jeckes. Ich denke, einmal im Sabbath wir waren zusammen alle Kinder, viel-

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AB: ZW: AB: ZW:

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leicht zehn Nicht-Jeckes und wir zwei Jeckes, und da hat man mir geschreit Jecke-Potz. Das habe ich schon einmal gehört. Das heißt, das ist auch, ich denke, potz ist auch eine, nicht feine – Schimpfwort. Ja. Aber so hat die Sache geheißt, ein Mensch sehr pedantisch und nicht sympathisch, ein Mensch, das kann man nicht gut – to live with him […]

Die Sprecherin der Beispiele (11) wuchs in Jerusalem auf und verweigerte das Deutsche früh: Beispiel (11a) (11b s. S. 225) M. H. (*1951 in Jerusalem), Juristin. Interview: A. Betten, Jerusalem 2005 1

Ja, ja äh, ja, i, i, ich muss, ich muss äh paar äh wichtige Sachen, glaub ich, sagen. Wenn, wenn ich war jung, und meine Eltern Deutsch gesprochen, hab ich äh äh, I, I wasn’t so happy about it. It made äh me angry, sometimes, that they, they are talking in German.

Diese Verweigerung konnte durch Vieles begründet sein: durch den Spott bzw. Anfeindungen der Schulkameraden, oder durch frühe oder erst spätere genauere Erkenntnisse, was es mit dem Verhasstsein des Deutschen auf sich hatte. Von den Verbrechen der Nazis und dem Holocaust erfuhren manche zunächst von Gleichaltrigen bzw. in der Schule; genaue Informationen im Elternhaus waren eher die Ausnahme als die Regel. Spätestens beim Eichmann-Prozess und seiner breiten öffentlichen Berichterstattung setzten sich die meisten Jeckes-Kinder mit dieser schweren Hypothek, die auf allem Deutschen lag, auseinander und wandten sich für eine Weile oder auch ganz davon ab, auch wenn sie es bis dahin mit den Eltern oder einer geliebten Großmutter, einem verehrten Onkel gern gesprochen hatten. Im Gegensatz zu vielen Angehörigen der 1. Generation, deren beste Sprache nolens volens Deutsch geblieben war, machen nur wenige der »Kinder« eine scharfe Trennung zwischen Deutsch als Kultursprache und der Nazisprache wie der folgende Sprecher: Beispiel (12) Dr. Chanan Tauber (*1944 in Sde Warburg), Chefarzt Orthopädie. Interview: A. Betten, Sde Warburg 1999 1

Bei uns war eine warme und sehr herzliche Atmosphäre, und ich glaube, ich habe von dem, von dem Deutschen und von dem Jeckischen nur das Gute und Schöne mitbekommen, das war auch glaube ich im Sinn meiner Eltern, dass sie mir das/ nicht dass man alles was Deutsch sprach

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und klang verwerfen sollte, sondern wir haben uns das genommen, was sie uns mitgebracht hatten, Kultur und Lebensanschauung. Mein Vater war in seiner Ausbildung und seiner Lebensphilosophie ein Humanist und das, das dies/ diese Einflüsse, die habe ich gern mitbekommen. […] Ich mache einen ziemlichen Unterschied zwischen der deutschen Sprache, der deutschen Kultur, den den, sagen wir, den besseren Seiten […] und zwischen dem, zwischen dem Nazideutschland, was ich natürlich verabscheue, eines hat mit dem andern bei mir nichts zu tun. Ich kann das sehr schön auseinander setzen.

Zu der Scham, dass die Familie aus Deutschland stammte, kam bei vielen Jeckes-Kindern jedoch noch etwas anderes hinzu, was in den Beispielen (9) und (10) angedeutet wird: Die Jeckes wurden damals nicht nur vom Jischuw wegen ihrer Affinität zur deutschen Sprache und Kultur getadelt, sondern wegen ihrer als typisch deutsch geltenden Eigenschaften, den Sekundärtugenden, auf die die meisten bis zuletzt stolz blieben, verspottet: Ordnungsliebe bis Pedanterie, dazu Besessenheit von Pünktlichkeit, angebliche Humorlosigkeit, Umständlichkeit, übertriebene Höflichkeit und Korrektheit, etc. (vgl. Bsp. 10). Sie galten als steif und unflexibel, förmlich, kühl. Viele Kinder empfanden das im Vergleich zu den ostjüdischen oder orientalischen Elternhäusern ihrer Freunde ähnlich, zumindest als Pubertierende. Auch dies hatte oft eine Abwendung von Werten der Eltern, ihrer Kultur und damit auch ihrer Sprache zur Folge. Meine Interviews sind viele Jahre nach diesen Jugenderlebnissen entstanden, in einer anderen Situation. Die »Kinder« sind selbst schon Eltern, oft sogar Großeltern, die 1. Generation aber tritt ab: Viele Eltern sind schon gestorben und die 2. Generation bedauert jetzt oft, sich nicht früher mehr interessiert und mehr gefragt zu haben. Man sichtet Papiere, Korrespondenzen, Hinterlassenschaften, kann sie aber meist nicht lesen. Man beginnt sich, oft selbst gerade pensioniert, für die Familiengeschichte und das jeckische Erbe im Land zu interessieren. Die Scham, die viele als Kind empfunden haben, wenn die Eltern verspottet oder hintangesetzt wurden, ist dem Vorsatz gewichen, die Leistungen der 5. Alija für den Aufbau des Staates Israel ins rechte Licht zu rücken. Bei vielen der älter gewordenen Jeckes-Kinder, die als Sabres nicht unter Komplexen und Gewissensbissen wegen mangelhafter Akkulturation leiden, ist ein Wandel von einem eher defensiven zu einem offensiven Umgang mit dem jeckischen Erbe zu beobachten. Die großen Besucherzahlen der Jeckes-Konferenz in Jerusalem 2004,45 organisiert von Akademikern der 2. Generation, war für manche ein überraschender Beweis dieser Wende. Ohne hier in Details gehen zu können, ist dies doch ein wichtiges Hintergrundmoment für meine letzten Betrachtungen. 45

S. Moshe Zimmermann/Yotam Hotam (Hg.): Zweimal Heimat. Die Jeckes zwischen Mitteleuropa und Nahost. Frankfurt a. M.: Beerenverlag 2005.

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Sowohl die sich verändernden Positionen zum Jeckischen in Israel, wie auch die Einstellungen zum Herkunftsland der Eltern spielen für die heutige Bestandsaufnahme, wie die 2. Generation zum Deutschen steht, eine wichtige Rolle. Wer die Sprache einigermaßen spricht, hat in vielen Fällen eines Tages in Deutschland oder Österreich selbst Bekannte, ja Freunde erworben und bemüht sich um ein differenzierteres Bild von diesen Ländern heute. Ohne Sprache geht das jedoch kaum, wie ich vielfach erfahren konnte. Deutschland wird dann, bei eventuell einer Reise mit den Eltern zu den Herkunftsorten der Familie, als zwar landschaftlich schön, aber weiterhin als ein vergiftetes Land empfunden. Der umgekehrte Schluss kann jedoch nicht gezogen werden: Auch von denen, die (aufgrund ihrer Erziehung zwangsläufig) gut Deutsch sprechen, werden Kontakte mit Deutschland bzw. Reisen dorthin oft abgelehnt. Auch von gut Deutsch sprechenden und sogar lesenden Kindern sind die Bibliotheken ihrer Eltern sofort nach deren Tod weggegeben worden. Die Sprache aber ist dennoch geblieben – und es gibt die eigenartigsten Assoziationen mit ihr. Fast alle Jeckes-Kinder haben gemeinsame Erinnerungen an deutsche Kinderlieder: Hoppe-hoppe-Reiter, Guten Abend – Gute Nacht und z. T. auch an eine Menge deutscher Sprüche und Redensarten, die plötzlich ins Bewusstsein kommen, wie: »Wie sagt man: ›Gute Freunde – strenge Rechnung‹, hat Omi immer gesagt«. Manche tauschen das noch ganz gelegentlich beim Zusammenkommen mit anderen Jeckes-Kindern zur Belustigung aus. Es gibt aber noch erstaunlichere Reaktionen. Die Juristin, die zu Hause kein Deutsch sprechen wollte (vgl. 11a), fährt heute manchmal allein nach Wien, woher ihre Eltern stammen, und berichtete Folgendes: Beispiel (11b) 1

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MH: Ich muss äh, eine remark noch machen. Wenn, wenn ich bin in Wien, für mich ist das der Geruch von Heim. Ich kann das nicht/ AB: Seit wann ist das denn gekommen? Also das war beim ersten Mal sicher noch nicht. MH: Nein, nachher. AB: Und wie erklären Sie sich das, ja? MH: Das verstehe ich überhaupt nicht. Die Sprache, das Geruch, ich/ AB: Also, mhm. MH: das ist mir familiär. Ich mein, […] ich fühl nicht in Wien in Heim, aber das mich äh mir ist, ist mir familiär. Das ist mir, ich kenn diese Sachen. Ich fühl diese Sachen. Das, ich mag das, das Ganze, die Sprache und alles. Sehr, sehr interessant.

Sie ist nicht willens, das Widersprüchliche ihrer Haltung näher zu analysieren, sagt selbst, sie verstehe es überhaupt nicht (Z. 7) und kommentiert ihre Reaktion mit »sehr, sehr interessant« (Z. 12). Für mich war dann besonders interessant, dass sie auf meine Frage, dann habe sie sicher heute auch eigene Bekannte in Wien, ganz ablehnend antwortete: kennenlernen wolle sie niemand, denn letztlich sei man dort antisemitisch: »Sie lieben uns nicht«. – Wichtig ist die

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Anne Betten

Begründung dieser Anziehung durch die alte Heimat der Eltern. Sie sagt: »das […] ist mir familiär« (Z. 9), »der Geruch von Heim« (Z. 2), »ich mag das, das Ganze, die Sprache und alles« (Z. 11f.). Viele Jeckes-Kinder sagten, sie hätten erst bei ihren Deutschlandbesuchen die Sitten und Besonderheiten ihres Elternhauses begriffen. Genau diese schon etwas nostalgischen Assoziationen der älter gewordenen Jeckes-Kinder bestimmen heute auch öfters die Beziehung zur deutschen Sprache. Dies brachte z. B. Gila Friedmann zum Ausdruck, auf deren Interviewbeiträge, die mich zum Titel dieses Beitrags angeregt haben, ich exemplarisch etwas ausführlicher eingehen möchte. Gila Friedmann verbrachte ihre Schulzeit in der seinerzeit ganz »deutsch« geprägten Stadt Naharija, hatte dort nie ein problematisches Verhältnis zur deutschen Sprache und spricht sie bis heute mit ihrer alten Mutter, aber auch mit vielen Freunden aus den letzten zwei Jahrzehnten in Deutschland und Österreich. Zwischendurch aber gab es eine große »Sprachkrise«: Als sie 1963 ihren ersten Mann auf einer Dienstreise nach Augsburg begleitete, kam ihr dort das Deutsche ganz geläufig, sie wurde für eine Muttersprachlerin gehalten. Als sie aber einen Besuch in der alten Synagoge machte, die noch nicht restauriert war, bekam sie einen Schock, sie glaubte die Schreie verbrennender Menschen zu hören. Danach brachte sie kein Wort auf Deutsch mehr heraus, sprach nur noch Englisch, reiste überstürzt ab und nahm sich vor, nie wieder nach Deutschland zu fahren. Später heiratete sie in Israel einen Ex-Berliner, mit dem sie nur Deutsch sprach. Als sie dann 30 Jahre später doch wieder nach Deutschland, dieses Mal nach Berlin fuhr, war alles anders und erschien ihr irgendwie vertraut. Durch ihre Arbeit in der Tourismusbranche und im Diasporamuseum in Tel Aviv lernte sie viele Deutsche kennen und hat heute viele Freunde in Deutschland und Österreich, wo ihre Familie herstammt. Den österreichischen Dialekt hat sie allerdings nicht in ihrer Familie in Israel gehört, wo er verpönt war – wie Dialekt bei fast allen israelischen Jeckes –, sondern bei Verwandten im englischen Exil, die Schauspieler waren und zu Hause Wiener Dialekt sprachen. Sie bezeichnet ihr Verhältnis zu Deutschland als ambivalent – nicht aber das zur deutschen Sprache: Beispiel (13a) Gila Friedmann (*1942 in Tel Aviv), Museumspädagogin. Interview: A. Betten, Tel Aviv 2005 1

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Ich bin immer bis heute noch überrascht, ich hab nie Deutsch gelernt, nie, nie, nie, offiziell nicht. Mein Schreiben ist nicht so gut wie das Sprechen. Aber ich/ immer bin ich überrascht, wenn mir so ein Wort kommt, dass ich/ wenn Sie mich gefragt hätten: »Weißt du, wie man das sagt?«, hätte ich gesagt, »Ich bin nicht so sicher«. Aber es kommt, ich hole es von irgendwo raus von meiner Vergangenheit und das Wort kommt raus, ich mein, so hat meine Mutter gesagt. Und oder irgendwie die Sprache lebt bei mir.

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Beispiel (13b) 1

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Ich glaube, Deutsch ist für mich so so die wärmste Sprache, wenn man das so sagen kann. Da fühl ich mich so so so am am, ich glaube am besten mit Deutsch, obwohl Iwrit ist meine Sprache, aber Deutsch ist so so, etwas, das ist die Heimat, das ist die die, das ist Oma, das ist Opa, das ist die ganze Familie.

Die Beispiele zeigen alle sehr deutlich, dass (eventuelle) positive Gefühle für die deutsche Sprache in der 2. Generation nur in seltensten Fällen (wie in Bsp. 12) noch etwas mit der Hochschätzung für deutschsprachige Literatur oder Kultur zu tun haben, geschweige denn mit nostalgischen Gedanken an Deutschland oder Österreich, sondern ganz konzentriert sind auf die eigene Familiengeschichte und zu Hause gepflegte Lebensstile, die man im heutigen Mitteleuropa wiedererkennt und deswegen schätzt. Das einzige Bindeglied aber ist das Elternhaus, und damit das von den Eltern in Israel gelebte »jeckische« Erbe.46 Sehr deutlich wird dies auch in meinem letzten Textbeispiel von einem Sohn österreichischer Eltern, der scherzhaft berichtete, dass er ein braves Kind gewesen sei, das gegen die häusliche Erziehung nicht rebelliert habe, aber diese nach Meinung seiner Eltern während seiner Militärzeit ganz über Bord geworfen habe und ein typischer Sabre geworden sei. Überraschend endete das Interview, das in etwas »gebrochenem« Deutsch geführt wurde, mit folgendem Statement: Beispiel (14) Ron Beer (*1951 in Jerusalem), Studium Arabisch/Geschichte, Fremdenführer. Interview: A. Betten, Jerusalem 2005 1

5 46

AB: Wenn ich dich das zuletzt noch fragen darf, was hast du für deinen Lebensstil und deine Identifikation von deinen Eltern sozusagen als europäisch-österreichisches Erbe mitgenommen? […] RB: Also ich hoffe, dass ich hab viel von meinen Eltern mitbekommen. Es tut mir leid, wenn ich nicht bin wie meine Eltern, von dieselbe

Sehr deutlich kam das ambivalente Verhältnis zu Deutschland bzw. Österreich und zur deutschen Sprache auch bei dem in Ergänzung zu meinem Vortrag von mir moderierten Roundtable mit neun meiner Interviewpartner der 1. und 2. Generation zum Ausdruck. Alle Teilnehmer (Ruth Tauber und ihr Sohn Dr. Chanan Tauber [s. Bsp. 12], Dr. Shaul Baumann und sein Sohn Dr. Awi Baumann, sowie von der 1. Generation Ada Brodsky, Ari Rath und von der 2. Generation David Witzthum, Irit Ein-Tal und Esther Haviv) sprachen Deutsch: Diesen ebenso außergewöhnlichen wie alle emotional bewegenden Umstand kommentierte Chanan Tauber humorvoll mit dem Hinweis, er habe sich bei seinem Studium an der Hebrew University nicht träumen lassen, dass er hier vierzig Jahre später einmal bei einem Podiumsgespräch Deutsch sprechen würde. Der Titel des Roundtables lautete »Deutsch in Israel 2008: noch nicht nur eine Fremdsprache«.

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Anne Betten Kultur: so mehr umso besser. AB: Und was findest du besonders anziehend? RB: Wie sagt man, fast alles, Idealismus und Wahrheit und loyality und Recht –

Eva-Maria Thüne/Simona Leonardi

Wurzeln, Schnitte, Webemuster Textuelles Emotionspotential von Erzählmetaphern am Beispiel von Anne Bettens Interviewkorpus »Emigrantendeutsch in Israel«

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Einleitung

Gegenstand unserer Darstellung ist das Interviewkorpus von Anne Betten mit der 1. Generation deutschsprachiger Emigranten in Israel,1 d. h. biographische Interviews mit deutschstämmigen Israelis, die meistens in den 30er Jahren nach Palästina auswanderten. Biographische Interviews enthalten eine Vielzahl von erzählten Lebensgeschichten, die aus häufig miteinander verbundenen oder aufeinander verweisenden Geschichten bestehen, aber oft – typisch für das Erinnern – nicht linear verbunden sind.2 Wie mehrfach in Untersuchungen zum Konzept der narrativen Identität gezeigt wurde,3 ist die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte als Prozess des Erinnerns eng mit der (Konstruktion) einer eigenen Identität verbunden. Bei der Rekonstruktion der Vergangenheit stellt das Ich aus der heutigen Perspektive Verbindungen zu früheren Stufen des Ichs und dessen Erfahrungen und Erlebnissen her.4 Deshalb verstehen wir hier den Prozess des Erinnerns zusammen mit Aleida Assmann nicht primär als Verfahren des Speicherns,5 sondern als vis, als Kraft, mit der erinnernd die Lebensgeschichte der Person mit der historischen Vergangenheit verknüpft wird. Zeit, im doppelten Sinn als Lebenszeit und als historische Zeit, wird beim autobiographischen Erzählen in einzelnen Episoden konkretisiert und fokus1

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Anne Betten (Hg.): Sprachbewahrung nach der Emigration – Das Deutsch der 20er Jahre in Israel. Teil 1. Tübingen: Niemeyer 1995; Emigrantendeutsch in Israel (1. Generation), siehe Webseite des IDS http://dsav-oeff.ids-mannheim.de/DSAv/ KORPORA/IS/IS_DOKU.HTM. S. auch Betten in diesem Band. Jürgen Straub: Historisch-psychologische Biographieforschung: theoretische, methodologische und methodische Argumentationen in systematischer Absicht. Heidelberg: Asanger 1989, S. 182. Vgl. z. B. Gabriele Lucius-Hoene/Arnulf Deppermann: Rekonstruktion narrativer Identitäten. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 20042 (20021). George Herbert Mead: Mind, Self, and Society. From the standpoint of a social Behaviorist. Chicago: University Press 1934; Straub, Historisch-psychologische Biographieforschung (wie Anm. 2). Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999, S. 29.

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Eva-Maria Thüne/Simona Leonardi

siert, denn wie durch einen Zoom werden Personen, Dinge und Ereignisse herangezogen. Dadurch wird Zeit re-inszeniert.6 Das Individuum konstituiert sich in der Erzählung als Einzelnes durch Auswahl, Detaillierung von Episoden, auch durch Typisierung des Selbst und durch Positionierung in der sozialen Welt.7 Mit anderen Worten: Die Fäden werden gewebt (wir benutzen ein Bild, das im vierten Teil unseres Aufsatzes im Zentrum stehen wird). Diese produktive Kraft des Erinnerns zeigt sich auch durch die Reinszenierung von Emotionen, die auf unterschiedliche Weise beim Erzählen wachgerufen werden. Was uns hier bei der Analyse einzelner Erzählsequenzen interessiert, ist nicht der direkte Ausdruck von Gefühlen, z. B. durch Prosodie oder Lexik,8 sondern das Emotionspotential in Texten, ein Begriff, zu dem Monika Schwarz-Friesel ausführt: Emotionalisierung ist ein Prozess, das Emotionspotenzial eines Textes dagegen ist etwas im Text, in seiner Informationsstruktur Verankertes, und als solches als inhärente Eigenschaft des Textes zu beschreiben. […] Das Emotionspotenzial eines Textes wird von seinem Referenz- und Inferenzpotenzial determiniert. […] Nicht nur die emotiven Lexeme mit ihren jeweiligen Konnotationen sind für das Emotionspotenzial wichtig. Auch Fokussierung und Perspektivierung.9

Der Gebrauch von Metaphern spielt in dem Prozess der Fokussierung, Perspektivierung und der damit verbundenen Entwicklung eines Emotionspotentials eine entscheidende Rolle. Wir schließen dabei an Ergebnisse der Biographieforschung10 an, in der die Rolle der Metaphern, als Träger kognitiver und 6

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Vgl. Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. Bd III. Die Erzählte Zeit. München: Fink 1991 und Uta M. Quasthoff: Eine interaktive Funktion von Erzählungen. In: Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Hg. von Hans Georg Soeffner. Stuttgart: Metzler 1979, S. 104–126. Zum Begriff der Positionierung, Bamberg mehrfach, z. B. Michael Bamberg: Positioning between structure and performance. In: Journal of Narrative and Life History 7 (1997), S. 335–342; Michael Bamberg: ›Positioning‹. In: The Routledge encyclopedia of narrative theory. Ed. by David Herman, Manfred Jahn & Marie-Laure Ryan. New York: Routledge 2005, S. 445–446. Reinhard Fiehler: Emotionalität im Gespräch. In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 2. Halbband: Gesprächslinguistik. Hg. von Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann und Sven F. Sager. Berlin, New York: de Gruyter 2001 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 16.2), S. 1425–1438. Monika Schwarz-Friesel: Sprache und Emotion. Tübingen, Basel: Francke 2007, S. 212ff. Z. B. von Jürgen Straub/Ralf Sichler: Metaphorische Sprechweisen als Modi der interpretativen Repräsentation biographischer Erfahrungen. In: Biographisches Wissen. Beiträge zu einer Theorie lebensgeschichtlicher Erfahrung. Hg. von Peter Alheit und Erika M. Hoerning. Frankfurt am Main: Campus 1989, S. 221–237 und Rudolf Schmitt: Metaphernanalyse und die Repräsentation biographischer Konstrukte. In: Journal für Psychologie, Doppelheft 4/1995–1/1996 (1996), S. 47–62; Rudolf Schmitt: Skizzen zur Metaphernanalyse [10 Absätze]. In: FQS – Forum: Qualitative

Wurzeln, Schnitte, Webemuster

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emotionaler Strukturen aufgefasst,11 hervorgehoben wurde. Wenn es in diesem Sinne um Emotionspotential geht, dann können wir zwei Bereiche unterscheiden: erstens eröffnen Erzählungen den Blick auf implizite Prozesse, die nicht explizit thematisch werden, sich aber an der Struktur der Erzählungen (etwa an Wiederholungen), bzw. deren lexikalischen Konstruktionen erkennen lassen; zweitens eröffnen Erzählungen einen Blick auf den Umgang mit komplexen Situationen und Emotionen. Diese betreffen u. a. das Festhalten an der deutschen Sprache und Kultur und gleichzeitig den sozialen und kulturellen Bruch durch die Emigration. Beides wird mehrfach in den Interviews besprochen, oft wiederkehrend in großen biographischen Spannungsbögen, die zu erzählerischen Höhepunkten führen. In Bettens »Emigrantendeutsch in Israel« zeigen sich daher viele identitätsstiftende Leistungen des Erzählens, die Kontinuität und Kohärenz im Laufe der Lebensgeschichte schaffen.12 Ziel unserer Untersuchung ist daher eine Metaphernanalyse, bei der uns einerseits Metaphern für Diskontinuität (z. B. Bruch, Schnitt) interessieren, anderseits solche für Kontinuität und Kohärenz (z. B. Erbe, Wurzeln, Teppich).

II

Metaphern: Bildung, Cluster, Kohärenz

Lakoff und Johnson haben Metaphern als Träger kognitiver und emotionaler Strukturen bestimmt. Sie meinen damit die Übertragung aus einem Bereich der Erfahrung, die eine prägnante Gestalt hat und sich leicht in Worten fassen lässt, in einen anderen Bereich, der unscharfe Konturen hat. In diesem Übertragungsprozess bilden Metaphern zum einen den Bildhorizont, vor dem einzelne Szenen verstanden werden können, zum anderen verweisen sie immer wieder auf die Erzählungen verbindende übergeordnete Themen. Das kann dazu führen, dass Metaphern in Texten als fortgesetzte Metaphern entwickelt werden, so dass umfangreiche Metaphernkomplexe entstehen, die durch (grammatikalische oder bildliche) Kohärenz, Anaphern und gesteuerte Kontextualisierung einzelner Verstehensaspekte gekennzeichnet sind.13 Analog zu dem in Texten vorliegenden Verfahren kann in den hier analysierten Beispie-

11

12 13

Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research 1 (2000), H. 1, Art. 20, http:// www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1130/2513. George Lakoff/Mark Johnson: Metaphors we live by. Chicago: The University of Chicago Press 1980; George Lakoff/Mark Johnson: Philosophy in the Flesh. The embodied mind and its challenge to Western thought. New York: Basic Books 1999; Gilles Fauconnier/Mark Turner: Rethinking Metaphor. In: Cambridge Handbook of Metaphor and Thought. Ed. by Ray Gibbs. New York: Cambridge University Press 2008, S. 53–66. Vgl. Straub, Historisch-psychologische Biographieforschung (wie Anm. 2). Dazu: Helge Skirl/Monika Schwarz-Friesel: Metapher. Heidelberg: Winter 2007 (Kurze Einführungen in die germanistische Linguistik; 4), S. 65ff. und Elena Semino: Metaphor in Discourse. Cambridge: UP 2008, S. 22ff.

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len beobachtet werden, wie Metaphernkomplexe im Gespräch als Ko-Konstruktion der Interviewpartner fortgesetzt entstehen. Durch diesen metaphorischen Überschuss werden auf suggestive Weise individuelle Erfahrungen, Vorstellungen, Ansichten, Wertungen und affektive Besetzungen transportiert, die über die subjektive Dimension hinausgehen. Auf der Mikroebene können Sprecher Metaphern im Text als Cluster entwickeln.14 Unter Clustern wird der Gebrauch metaphorischer Ausdrücke aus verschiedenen Bildbereichen in enger Abfolge in einem Satz oder mehreren direkten aufeinander folgenden Sätzen verstanden, was auch zur Entwicklung einer Erzählperspektive beiträgt. Ein Metapherncluster, das sich auf eine komplexe Erfahrung bezieht, wie z. B. die allmähliche Isolierung im Nazi-Deutschland, wird durch Bilder aufgebaut (z. B. durch abgeschnitten werden, entwurzelt sein), die nicht nur aus einem Bereich stammen. Die Verteilung von Metaphern in solche Cluster und die damit verbundene Fragen der Kohärenz sind unmittelbar mit der Rekursivität der metaphorischen Bildungen verbunden. Denn in den Interviews tauchen Metaphern an bestimmten Stellen auf und werden zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen bzw. fortgeführt. Durch diese Wiederaufnahme und Rekursivität von Metaphern entsteht Textbewegung; Koller spricht vom »Metaphern-Echo«,15 das zur Kohärenz beiträgt.

III

Wurzel

III.a Moshe (Max) Ballhorn Das erste Beispiel stammt aus dem Interview (1990) mit Moshe (Max) Ballhorn, der 1913 in Berlin geboren wurde und dort Kaufmännischer Angestellter war. 1933 erfolgt die Emigration nach Palästina, wo Ballhorn anfangs u. a. Bauarbeiter ist, später Polizeioffizier und schließlich Reiseleiter. Moshe Ballhorn (= MB) spricht mit Anne Betten und kommt nach siebzig Minuten Interview16 auf die Erfahrung der existenziellen und kulturellen Verankerung seiner Familie in Deutschland zu sprechen.

14 15

16

Vgl. Veronika Koller: Metaphor Clusters, Metaphor Chains: Analyzing the Multifunctionality of Metaphor in Text. In: Metaphorik.de 5 (2003), S. 115–134. Ebd., S. 121: »[M]etaphoric expressions also often simply echo each other across chains. By means of such accumulation, echoing can have an intensifying function just as metaphoric expressions extending or elaborating on each other can«. In den folgenden Zitaten aus den Interviews geben wir zu Beginn den genauen Zeitpunkt des Zitats im Gespräch an, da die zeitliche Dimension ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der Metaphern durch die Sprecher darstellen kann.

Wurzeln, Schnitte, Webemuster MB

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[70ƍ:29Ǝ] meine Familie stammt aus, seit Jahrhunderten von Jahren, aus Westpreußen in Jastrow verstehen Sie, und meine von väterlicher Seite und von mütterlicher Seite. Wenn es Deutsche gibt, dann sind wir es, verstehen Sie, dann sind wir die richtig patriotischen Deutschen, aber die haben mit dem, mit dem, der Hitler hat das alles aufgelöst, er hat den abgehackt […].

Zunächst fällt auf, wie Ballhorn die Bindung seiner Familie an Deutschland thematisiert (sind wir die richtig patriotischen Deutschen),17 die gewaltsam durch den Nationalsozialismus zu einem Ende kam. Dieses Ende fasst Ballhorn metaphorisch, indem er die Gewaltherrschaft durch Hilter personifiziert: Hitler hat das alles aufgelöst. Dies entspricht durchaus noch einem konventionellen Bildgebrauch. Aber schon im Anschlusssatz verstärkt Ballhorn die ›tote‹ Metapher aufgelöst durch ein neues Bild: er hat den abgehackt. Ballhorn greift das Bild eines lebenden Organismus auf, z. B., das des Baums, der verstümmelt wird. Er markiert dadurch den Augenblick der historischen und individuellen Katastrophe, indem er zwei konventionelle Metaphern aus verschiedenen Bildbereichen (auflösen, abhacken) zusammen bringt. Etwa zwanzig Minuten später in dem Gespräch greift Ballhorn den Bildbereich des lebenden Organismus wieder auf. MB

[91ƍ:6Ǝ] Passen Sie auf, Sie müssen verstehen, das ist das ist die Natur der Menschen, sie können nicht über ihren Schatten springen, verstehen Sie. Und für Außenstehende natürlich ist das lächerlich und idiotisch und pedantisch und was sie wollen, aber das ist ihre Natur, so sind sie und auch die Umstände Hitler oder Verfolgung kann sie nicht ändern, das ist zu fest verwurzelt, das ist geerbt, vererbt, das ist ein Teil ihres Wesens und das kann man nicht durch irgendwelche politische oder irgendwelche Gewalteinflüsse von außen, kann man das nicht umändern. Man kann es nicht wegwischen, das ist unmöglich, so sind die Menschen, verstehen Sie.

In dieser nicht narrativen, sondern argumentativen Passage entwickelt Ballhorn eine sogenannte Daseinsmetapher.18 Der nicht metaphorische Ausdruck das ist die Natur des Menschen wird durch die Metapher sie können nicht über ihren 17

18

Diese Aussage wird in verschiedener Weise immer wieder in Anne Bettens Interviewkorpus »Emigrantendeutsch in Israel« gemacht, siehe Anne Betten: »Vielleicht sind wir wirklich die einzigen Erben der Weimarer Kultur«. Einleitende Bemerkungen zur Forschungshypothese »Bildungsbürgerdeutsch in Israel« und zu den Beiträgen dieses Bandes. In: Anne Betten/Miryam Du-nour (Hg.): Sprachbewahrung nach der Emigration – Das Deutsch der 20er Jahre in Israel. Teil 2. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 157–181. Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1960 und Straub/Sichler, Metaphorische Sprechweisen (wie Anm. 10), S. 231.

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Schatten springen (»Schatten« suggeriert Körper, Reflex nach außen) verstärkt. Dann greift Ballhorn durch den Ausdruck fest verwurzelt eine lexikalisierte Metapher auf ›das Leben als Pflanze‹ > Baum. Die Metapher wird durch die Verbfolge geerbt > vererbt (Verweis auf eine Generationenfolge) weiterentwickelt (Perspektive: Eltern/Vorfahren), womit das Thema der Tradition, der Erinnerung berührt wird. Durch die drei Bilder nicht über ihren Schatten springen, fest verwurzelt und geerbt > vererbt entsteht eine Metaphernfolge, d. h. ein Cluster. Zudem ergibt sich eine Verbindung mit dem Bild des Gedächtnis’ als Tafel:19 man kann es nicht wegwischen. Durch die skizzierte Metaphernfolge wird insgesamt ein umfassendes Körperbild deutlich: es gibt einen konkreten Körper, der nach Außen wirkt (Schatten) und ein Innen (Wurzel, DNA), eine Verbindung zu Werten und zu Traditionen. Verfolgen wir diese Textbewegung, sehen wir, wie die Anhäufung von Bildern zu einer Intensivierung mit emotiver Wirkung führt und das, obwohl Ballhorn keine emotiven Lexeme benutzt. Ballhorn hebt verschiedene Aspekte der komplexen Erfahrung hervor, die ohne den Rückgriff auf Metaphern nur unter höherem sprachlichen und konzeptuellen Aufwand ausgedrückt werden könnten. Metaphern sind zumeist keine individuellen Schöpfungen, sondern kulturell, oft transkulturell geprägt. Dafür ist gerade die Metapher der Wurzel ein hervorragendes Beispiel. Bekannt ist das Symbol des Baums in asiatischen, amerikanischen und europäischen Mythologien: als Baum der Erkenntnis, Baum des Lebens usw. Im Alten wie im Neuen Testament mangelt es dafür nicht an Belegen: In der Genesis und in anderen Texten der jüdisch-christlichen Tradition ist sowohl vom Baum des Lebens als Symbol für die Erschaffung des Menschen als auch vom Baum der Erkenntnis die Rede.20 In verschiedenen Texten der Propheten kommt das Bild des Stammes und der Wurzel vor: »Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen« (Jesaja 11,1–11,11). Damit wird die Wurzel Jesse zu einem prägenden religiösen Motiv, das sich im Laufe der Jahrhunderte im Mittelalter in den Sprachstammbäumen Dantes und den spekulativen Bäumen der Scholastik wiederfinden lässt. Gotische und spätgotische Bauten zeigen durch Verzweigungsstrukturen, wie ein Bild auch im visuellen Bereich künstlerische Form annimmt.21 Neben diesen Bildern gibt es in der Neuzeit eine Reihe von Weiterentwicklungen, von denen an dieser Stelle auf die mythische, teilweise im Alten Testament angelegte Wurzellosigkeit der Juden hingewiesen werden soll, die mit der Vorstellung »einer geistigen Verwurzelung im Wort, im Buch oder im 19 20

21

Vgl. Assmann, Erinnerungsräume (wie Anm. 5), S. 150ff. Siehe: Simone Roggenbuck: Die Wiederkehr der Bilder. Arboreszenz und Raster in der interdisziplinären Geschichte der Sprachwissenschaft. Tübingen: Narr 2005, S. 107ff. Ebd., S. 110ff.

Wurzeln, Schnitte, Webemuster

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Gesetz jenseits nationaler oder geographischer Wurzeln«22 einhergeht. Dieses Thema wird besonders für die deutschsprachigen Dichter jüdischen Ursprungs leitend. Paul Celan etwa benutzt in einem frühen Gedicht die Metapher des »kleinen Wurzelgeträums, das mich hier hält, / blutunterwaschen, / keinem mehr sichtbar, /Todesbesitz«.23 Celan variiert die Metapher, indem er durch die Verbindung zwischen Wurzel und Traum die materielle Dimension in eine geistige (Traum) aufhebt, der aber etwas Prekäres, wenn nicht sogar Irreales anhaftet. Er verweist mit dieser Metapher auf das eigene im Widerspruch zur tradierten Sprache begründete Sprechen.24 Besonders nach der Erfahrung der Vertreibung und der Schoah wird die Frage nach der Zugehörigkeit zur deutschen Sprache vielfach aufgeworfen. Rose Ausländer etwa benutzt die Metapher der »ausgegrabenen Wurzeln«,25 um die schmerzhafte Heimatlosigkeit zu bezeichnen, die nur durch das Dichten (in deutscher Sprache) Linderung erfährt.26 Diese oder analoge Formen von existenzieller und kultureller Spannung finden sich auch bei anderen Autoren. Dass die Metapher der Wurzel gerade in biographischen Interviews des Israel-Korpus 1. Generation vielfach vorkommt, ist nicht erstaunlich und wird uns noch beschäftigen.

III.b Aharon Doron Auch Aharon Doron (= AD) greift in seinem Interview mit Miryam Du-nour (= MD) gleich zu Beginn ähnliche Motive auf. Aharon Doron, der ehem. Erwin Weilheimer hieß, wurde in Ludwigshafen geboren, besuchte die jüdische Mittelschule, emigrierte 1939 nach Palästina mit der Jugend-Alija und war bis 1949 Kibbuzmitglied. Er wirkte von 1941 bis 1946 in der Hagana und dem Jewish Settlement Police, war von 1948 bis 65 in der israelischen Armee (zuletzt Generalmajor), studierte danach in den USA (public administration), wurde u. a. Vizepräsident der Universität Tel Aviv, Direktor des Jüdischen Diaspora Museums, war seit 1993 Ombudsmann der israelischen Armee (zahlreiche weitere öffentliche Ämter). Zum Zeitpunkt des Interviews 1994 in Tel Aviv ist Doron ist 72 Jahre alt. 22

23 24 25 26

Vivian Liska: Wurzelgeträum, blutunterwaschen. Zu einem Motiv im Werk Paul Celans. In: Identität und Gedächtnis in der jüdischen Literatur nach 1945. Hg. von Dieter Lamping. Berlin: Erich Schmidt 2003, S. 104–115, hier S. 105. Paul Celan: Gesammelte Werke. Bd III. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 92. Dazu: Liska, Wurzelgeträum (wie Anm. 22), S. 115. Rose Ausländer: Gesammelte Werke. Bd III. Hügel aus Äther unwiderruflich: Gedichte u. Prosa 1966–1975. Frankfurt am Main: S. Fischer 1984, S. 258. Vgl. Birgit Lermen: »Ausgegrabene Wurzeln«. Die Lyrikerin Rose Ausländer. In: Stimmen der Zeit (Freiburg) 203 (1985), H. 9, S. 632–638 (hier S. 638): »Nur das Wort vermag sie der Verzweiflung zu entreißen: ›Wenn ich verzweifelt bin / schreib ich Gedichte‹ gesteht sie [= Rose Ausländer] in dem Gedicht ›Wer bin ich‹. Sie ›will wohnen im Menschenwort‹ (I 162, 173). Die Sprache ist die eigentliche Heimat der heimatlos gewordenen Dichterin: ›Mutter Sprache / setzt mich zusammen‹ (A 51)«.

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Eva-Maria Thüne/Simona Leonardi AD

MD AD MD AD

MD AD

[8ƍ:53Ǝ] Äh wir s/ haben dort vor vier Jahren, als ich mit meiner Tochter dort war, den Grabstein einer meiner äh Vorahnen äh gefunden. Wir wußten eigentlich, daß er dort ist, aber ich hab das nie früher gesehen. Äh wenn ich mich nicht äh täusche, ein Grabstein vom Jahre achtzehnhundertundzweiundzwanzig. Interessanterweise, auf dem Grabstein gibt es kein einziges Wort in deutsch, auch nicht in jiddisch, nur hebräisch, und zwar in gutem Hebräisch Ja, bis bis zum bis zur Mitte des Jahrhunderts waren sie ja (auf hebräisch) […] Das bringt natürlich auch die Frage auf, + in wieweit diese Familien, ich sagte vorhin vollkommen assimiliert Ja, eben, das wollte ich fragen, ja inwieweit kann man sagen, wo sind denn ihre Wurzeln. Und ohne jeden Zweifel, äh wenn ich mich nicht äh vertiefe in die Sache, aber ich sage nicht, jetzt will ich mal da nachforschen, dann waren tatsächlich meine Wurzeln äh deutsch und äh assimiliert, und ich wußte vom Judentum ziemlich wenig. Äh ich wußte ja, denn Familien, die seinerzeit, also in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts aus diesen Landgemeinden kamen, die waren alle, wenn nicht besonders religiös, aber doch etwas religiös, äh und daher waren mir also das Judentum als solches und die jüdischen Gebräuche nicht fremd. Ja, aber das waren die Großeltern Das waren die Großeltern und zum Teil auch noch meine Eltern, [...] Äh also ich sagte, des da gibt es dann die Frage, was waren Ihre Wurzeln? Ich sage, meine persönlichen Wurzeln, ohne Forschung, waren deutsch, aber ohne jeden Zweifel äh das war eine ziemlich neue Verbindung, denn äh + die Grabsteine zeugen dafür, daß eben äh im neunzehnten Jahrhundert das Leben doch dieser Leute ausgeprägt jüdisch war.

Die organische Wurzelmetapher wird im ersten Teil des Gesprächs von Doron als Bild für die Generationenbindungen benutzt. Doron greift auf die Verbindung zwischen Wurzeln und Generationen zurück, wenn er die Situation seiner Familie und deren Beziehung mit der deutschen Gesellschaft näher betrachtet. Dabei nimmt er einen Unterschied zwischen seinen ›persönlichen Wurzeln‹ und den ›Stammeswurzeln‹ vor, die in eine weiter zurückliegende Vergangenheit reichen. Während seine ›persönlichen‹ Wurzeln deutsch und assimiliert sind, muss Doron aus den Grabsteinen seiner Vorahnen feststellen, dass für diese früheren Generationen dies nicht der Fall gewesen ist. Doron findet in den Grabinschriften Traditionen, Verbindungen zu bestimmten kulturellen Riten, die nicht bis zu ihm gelangt sind. Wir können an diesem Beispiel sehr gut verfolgen, wie eine Metapher den Übergang vom persönlichen, familiären Gedächtnis zum kommunikativen Gedächtnis der Gesellschaft markiert. Folgt man der Unterscheidung zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis, kann man sagen, dass Dorons ›persönlichen‹ deutschen Wurzeln dem kommunikativen Gedächtnis entsprechen, denn das kommunikative Gedächtnis »ist beinahe so etwas wie das

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Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft – ist an die Existenz der lebendigen Träger und Kommunikatoren von Erfahrung gebunden und umfaßt etwa 80 Jahre, also drei bis vier Generationen«.27 Gegen Ende des Gesprächs kommt Doron auf die Metapher der Wurzel zurück, er fasst das bisher Gesagte zusammen, indem er nun über die ›Tiefe‹ dieser Wurzeln spricht. AD

[72ƍ:20Ǝ] Äh wollen mer so sagen, ++ ich glaube nicht, daß ich wirklich tiefe kulturelle deutsche Wurzeln hatte. Das ist wahrscheinlich zu früh, wenn man sechzehn oder siebzehn Jahre ist, ich sag (nur) kulturelle. In jeder anderen Beziehung bin ich ein Produkt der deutschen Zivilisation, des deutschen Lebens. Wenn ich Kultur sage, meine ich dabei äh mehr äh die Werte, die von äh Büchern und äh undundund äh Kunst und so weiter kommen, ich glaube nicht, daß ich das so mitgebracht habe, das wahrscheinlich nicht. In jeder anderen Weise, ohne jeden Zweifel, äh + bin ich ein Produkt des deutschen Judentums und der deutschen Umgebung gewesen, ohne jeden Zweifel.

Aharon Doron nimmt hier eine direkte Entsprechung zwischen Wurzelumfang und Alter des Menschen vor: ist man jung, greifen die Wurzeln nicht tief: ich glaube nicht, daß ich wirklich tiefe kulturelle deutsche Wurzeln hatte. Das ist wahrscheinlich zu früh, wenn man sechzehn oder siebzehn Jahre ist. Mit dem Bild der Wurzeln bezieht sich hier Aharon Doron auf eine Auffassung des Einzelnen innerhalb eines sozialen Kontexts, als Teil eines organischen Ganzen. Dennoch betont er, dass er keine tiefe[n] kulturelle[n] deutsche[n] Wurzeln (Hinweis auf den Ursprung) hat, verweist aber darauf, ein Produkt der deutschen Zivilisation, des deutschen Lebens zu sein. Auffällig ist der Gebrauch der Metapher Produkt, bei der der resultative Aspekt eines sozialen Vorgangs im Vordergrund steht, bei dem die Kultur (Werte, Bücher, Kunst) nicht das Entscheidende sind – dies ist deutlich anders als in vielen anderen Interviews. Wir können in dem Gebrauch der Metaphern einen gewissen Widerspruch sehen, der auf einen bestimmten Erfahrungszusammenhang verweist, der nicht allein Kulturgüter betrifft. Deutsche Juden, die sich zur Auswanderung gezwungen sehen und die zur Zeit der Emigration das gesellschaftlich etablierte Leben der Assimilierten führten, erfahren durch die Auswanderung meist eine traumatische Diskontinuität.

III.c Abraham Frank Abraham Frank wurde 1923 in Flacht bei Diez, Rheinland-Pfalz geboren, besuchte das Gymnasium in Stuttgart und emigrierte 1936 nach Palästina. Dort besuchte er anfangs die Volksschule, machte eine Schreinerlehre, war dann 27

Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2005, S. 14.

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Vertreter für Bücher und Kunstreproduktionen, später Mitarbeiter bei zionistischen Organisationen, zuletzt im Irgun Olej Merkas Europa (Einwandererorganisation) tätig. Das Interview mit Abraham Frank (= AF) fand in Ramat Gan am 23.4.1991 mit Anne Betten (= AB) statt. Frank berichtet vom Entschluss seines Vaters auszuwandern: AF

[12ƍ:11Ǝ] Aber die/diese Entscheidung [der Auswanderung nach Palästina] reifte in ihm schon viele Jahre, jedenfalls nach dem ersten April dreiunddreißig, nach dem Boykotttag, nachdem er von vielen seiner treuen Kunden, wie ich schon erwähnt hatte, fünfundzwanzig Jahre lang äh bedient und äh persönlich kannte und unter denen er sehr, sehr beliebt war, äh nun langsam aber sicher immer mehr geschnitten wurde […] sagte seinen jüdischen Freunden, Bekannten und entfernt Verwandten: »Diese Sache kann nicht gut gehen, wir müssen auswandern, unsere, unsere, äh wir haben keine Zukunft in Deutschland mehr, wir müssen die Brücken abbrechen.« Und all das fiel ihm sehr schwer, ich – gehört nicht zum Them/äh zum, äh ja, nein. Ja, nein; mein Vater war – ich werde vielleicht einfügen, dass mein Vater wie viele Menschen seiner äh Generation, ungeheuer mit Deutschland verbunden war. Darüber könnte ich mich stundenlang auslassen. Es fiel ihm sehr schwer, er konnte es nie äh inn/er konnte innerlich äh über seine Herzens- und Seelenbindung zu Deutschland, äh seine Herzens- und seelische Bindung zu Deutschland äh nie hinwegkommen. Er wollte den Nazis nicht eingestehen, dass es ihnen gel/gelungen war, ihn aus Deutschland zu entwurzeln.

Abraham Frank fasst zuerst die Umwälzung des Lebens seines Vaters kurz zusammen, indem er den 25 Jahren, wo der Vater treue Kunden hatte, das spätere Gefühl des Abgeschnittenseins gegenüberstellt. Dies wird anhand einer lexikalisierten Metapher durch das Verb ›schneiden‹ ausgedrückt: nun langsam aber sicher immer mehr geschnitten wurde. Das Bild wird wieder aufgenommen, wenn Frank kurz darauf die Worte des Vaters in direkter Rede wiedergibt: wir müssen die Brücken abbrechen. Die akustische Spur der väterlichen Stimme stellt die emotionale Klimax der Geschichte dar, deren Emotionspotential darüberhinaus auch anhand der Verzögerungsphänomene (der Wiederholung von unser unser folgt eine gefüllte Pause) und der zwei aus lexikalisierten Metaphern bestehenden Redewendungen zum Ausdruck kommen. Es folgt Franks Bewertung der Lage, all das fiel ihm sehr schwer, die kurz darauf wiederaufgenommen wird. Nach einem ersten Zögern in bezug auf die Erzählwürdigkeit im Rahmen der jetzigen Geschichte geht Abraham Frank auf die Gründe der Schwierigkeiten des Vaters ein und findet sie in dessen starker Bindung zu Deutschland, die Frank hier explizit als eine innere Bindung fasst, die der Vater nicht lösen kann: seine Herzens- und Seelenbindung zu Deutschland (die Formulierung wird zweimal wiederholt). Die lexikalisierte Metapher Bindung gehört zu einem ähnlichen Metaphernkomplex wie geschnitten, der wiederum mit der organischen, Tradition und Verankerung implizierenden Wurzel-Metapher im

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Zusammenhang steht, die Frank dann durch entwurzeln ex negativo aufgreift. Sowohl das Bild des Verbunden-Seins28 als auch das der Wurzeln verweisen auf eine Auffassung des Individuums als organischen Teil eines Ganzen, wie wir schon an den Beispielen von Ballhorn und Doron zeigten. Die Textbewegung zeigt, dass die Anhäufung von Bildern (geschnitten, Brücken abbrechen, Bindung,) nicht zufällig ist, sondern die Bilder sich gegenseitig konzeptuell bereichern und erneut verschiedene Aspekte der Erfahrung beleuchten.29 Sie sind Beispiele für das, was Schwarz-Friesel unter Emotionspotential versteht, indem die traditionellen Metaphern in den einzelnen Erzählungen individuell gefasst werden, um den spezifischen Erfahrungen Ausdruck zu geben. Gleichzeitig tragen sie zu den erzählerische Aufgaben bei: Mit dem letzten Bild (entwurzeln) zum Beispiel fasst Frank einen ganzen Passus zusammen, das Bild kondensiert die vielschichtige Situation. Auf die Funktion der Metaphern auf metareflexiver Ebene im Erzählprozess soll im Folgenden eingegangen werden.

IV

Teppich

Wir konnten sehen, wie Metaphern im Gespräch wieder aufgegriffen werden, wobei ein metaphorischer Komplex für verschiedene Teile einer Lebensgeschichte fruchtbar werden kann. Dass dies gerade bei widersprüchlichen Erfahrungen zu Metaphernclustern mit unterschiedlichen Fokussierungen führt, wurde an dem Metaphernkomplex der Wurzel deutlich. Metaphern können aber auch den Erzählprozess in metareflexiven Momenten leiten. Wir möchten dieses Phänomen an einem Beispiel aus dem Interview mit Betty Kolath zeigen. Betty Kolath wurde als Betty Levy 1908 in Stettin in einer zionistischen Familie geboren. Nach einer Ausbildung als Kindergärtnerin und dem Besuch der Kunstakademie emigrierte sie 1934 nach Palästina und übte danach verschiedene Tätigkeiten aus, war z. B. in der Berufsberatung, aber immer wieder

28

29

Es handelt sich dabei um ein konstantes Thema im Bettens Korpus »Emigrantendeutsch in Israel«, was zahlreiche Erzählsequenzen belegen. Wir geben hier nur zwei davon wieder: Walter Zadek (= WZ, Gespräch mit Kristine Hecker) WZ Nein, ich sterbe mit dem Deutschen. Nicht, ich ich bin äh, die Verbind die Bindungen von mir in jeder Hinsicht sind auf die Entwicklungsjahre, von den Entwicklungsjahren noch nicht getrennt Erzählsequenz Clara Barnitzki (= CB, Gespräch mit Kristine Hecker) CB weil die deutschen Juden große Patrioten waren. Sie waren wirkliche Patrioten. + Sie haben so, sie waren so verbunden mit dem Deutschtum Vgl. Michael Kimmel: Why we mix metaphors (and mix them well): Discourse coherence, conceptual metaphor, and beyond. In: Journal of Pragmatics 42 (2010), H. 1, S. 97–115.

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auch künstlerisch tätig. Betty Kolath (= BK) ist 83 zum Zeitpunkt des Interviews (1991) mit Anne Betten (= AB). Am Ende einer Episode aus ihrer Jugend, also aus dem Anfangsteil des sehr langen Interviews (184ƍ:51Ǝ Minuten), führt Kolath aus: BK

[27ƍ:56Ǝ] Es ist egal, wen du heiratest, aber ein aufrechter Jude, das war, das habe ich oft gehört. Und äähm ja, jetzt frage ich mich, welcher von den verschiedenen Strängen äähm ich jetzt anfassen muss? Ja, ich möchte noch eine Geschichte erzählen. *4* Ja, ich möchte noch eine Geschichte. Mit fünfzehn Jahren, diese Geschichte, die ich jetzt erzähle, ist ** vielleicht nicht ganz äh geeignet, aber sie ist so schön, ** dass ich sie doch mit erzählen möchte.

In der Geschichte, die die Rolle der Ehrlichkeit, der Aufrichtigkeit in ihrer Familie behandelt hat, gibt Kolath ein Zitat der Eltern als Leitmotiv ihrer Jugend wieder: Es ist egal, wen du heiratest, aber ein aufrechter Jude, das war, das habe ich oft gehört, das sie wie eine Koda ans Ende der Erzählung platziert. Nun muss die Erzählerin entscheiden, welche neue Geschichte sie erzählen will. Dies wird durch eine rhetorische Frage zum Ausdruck gebracht, die eine Metapher aus dem metaphorischen Komplex ›Text ist ein Gewebe‹ enthält (Und äähm ja, jetzt frage ich mich, welcher von den verschiedenen Strängen äähm ich jetzt anfassen muss?), und die sich mit der Metapher des ›Gedächtnis als Gewebe‹ verschränkt. Man kann von einer Verschränkung dieser zwei Metaphernkomplexe sprechen, denn die Sprecherin muss eine Geschichte (= Strang) aus ihrem gespeichertem Vorrat, d. h. aus ihrem Gedächtnis, aussuchen. Wenn diese dann versprachlicht und dadurch Teil ihrer erzählten Lebensgeschichte wird, ist sie Bestandteil dieses Textes (Gewebes). Die Passage ist ein typisches Beispiel für die Struktur der Mündlichkeit im Interview, die Unentschlossenheit zeigt sich an den gefüllten und leeren Pausen, den Verzögerungsphänomenen und der abschließenden Bewertung, die zum Weitererzählen führt: ** vielleicht nicht ganz äh geeignet, aber sie ist so schön. Angesichts der Fülle der Erinnerungen, die beim Interview wachgerufen wurden, sieht Betty Kolath sich immer wieder vor die schwierige Aufgabe gestellt, aus einer Vielzahl von häufig miteinander verbundenen oder aufeinander verweisenden Geschichten auszuwählen. Sie muss eine Verbindung zu früheren Stufen des Ichs und dessen Erfahrungen und Erlebnisse herstellen, das ›historische‹ Ich reaktivieren.30 Die Situation zeigt, dass Erinnern kein mechanischer Vorgang ist und auch keine bloße reproduktive Fähigkeit, sondern eine eminent produktive.31

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Mead, Mind, Self, and Society (wie Anm. 4); Straub, Historisch-psychologische Biographieforschung (wie Anm. 2); Welzer, Das kommunikative Gedächtnis (wie Anm. 27), u. a. Assmann, Erinnerungsräume (wie Anm. 5), S. 31.

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Etwa 15 Minuten später führt Kolath das Bild des Strangs weiter, und entwickelt ein überraschendes Potential des Bildes. AB BK

[41ƍ:43Ǝ] Aber die Nicht-Verfolgung, die hing damals, dieses Berufswunsches, mit diesen geschilderten persönlichen Verhältnissen mit der Inflation und mit ~all diesen Dingen zusammen~? ~Es ist ein Durcheinander ~, es ist ein es ist ein ein Gewirr von ein Web/Webe/Webemuster, es ist überhaupt wenn man so ein ganzes Leben betrachtet, es ist eigentlich ein Teppich von, von, immer wieder kommen lose Fäden wie jetzt mit diesen mit diesem, es gibt noch solche Geschichten. Äh also dann, äh mit äähm, ich habe dann wie gesagt mit sechzehn die Schule verlassen, besuchte die Frauenschule […]

Mit ihrer Frage will die Interviewerin den komplexen Zusammenhang zwischen dem Berufswunsch der Gesprächspartnerin mit anderen geschilderten persönlichen Ereignissen und auch mit historischen Begebenheiten (Inflation) abklären. Die Antwort darauf erfolgt nicht direkt, vielmehr zunächst eine Überlegung darüber, wie weiter erzählt werden soll. Dabei nimmt die Sprecherin eine Fokussierung auf die Verfahren des Speicherns und auf den Prozess des Abrufens der Erinnerungen vor, der den Verlauf des GeschichtenErzählens unterbricht: Es ist ein Durcheinander, es ist ein es ist ein ein Gewirr von ein Web/Webe/Webemuster. Die Reihe von Verzögerungsphänomenen (gefüllten und leeren Pausen, Abbrüchen, Wiederholungen) zeigen die Suche der Sprecherin nach dem passenden Ausdruck, und erst nach dem zentralen Bild des Webemusters wird die Erzählung fortgeführt (wie gesagt) und eine neue Episode eingeleitet: ich habe dann wie gesagt mit sechzehn die Schule verlassen. Kolath versucht an dieser Stelle, die Schwierigkeiten einer linearen Darstellung der eigenen Erinnerungen mithilfe eines Metaphernclusters von drei verschiedenen Metaphern (Durcheinander, Gewirr, Webemuster) darzustellen. Gerade diese Anhäufung von bildlichen Ausdrücken, wie auch die Verzögerungsphänomene, bezeugen den Überschuss der affektiv-emotionalen Komponenten in dieser Phase der expliziten Konfrontation mit bestimmten Lebensabschnitten. Die erste Metapher ›Gedächtnis als Durcheinander‹ geht auf eine ontologisierende Metapher ›Gedächtnis als Ort‹ zurück, an dem keine systematische Ordnung herrscht und wo die verschiedenen Erinnerungen ohne klaren Zusammenhang einzeln verstreut sind. Dieses erste Bild scheint aber die gewünschte Ausdrucksabsicht nicht befriedigend darzustellen, denn Kolath unternimmt einen neuen Formulierungsversuch: es ist ein ein Gewirr von ein Web/Webe/Webemuster. Hier variiert sie das Bild des chaotischen Zusammenhangs (Durcheinander), indem sie das Synonym Gewirr benutzt, steuert aber auf eine geordnetere Auffassung von Gedächtnis zu, präzisiert Gewirr mittels von ein Web/Webe/Webemuster, so dass dem scheinbar chaotischen Labyrinth die Struktur eines Webemusters übergeordnet wird. Kurz darauf nimmt die Sprecherin eine Entsprechung zwischen diesem aus ihren Erinnerungen beste-

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henden Webemuster und dem eigenen Leben vor: es ist überhaupt wenn man so ein ganzes Leben betrachtet, es ist eigentlich ein Teppich. Wenn das Webemuster zum Teppich wird, also zu einem geordneten Produkt des Webens, erst dann verweist das Bild explizit auf das Leben (und nur implizit, mit Rückgriff auf das bereits Gesagte, auf die Erinnerungen). Wenn Betty Kolath hier vom Leben als einem Teppich spricht, klingt wohl die Teppich-Metaphorik der zeitgenössischen Literatur mit. Sehr bekannt war das Gedicht von Else Lasker-Schüler Ein alter Tibetteppich (die Autorin hat das Motiv nicht nur einmal benutzt, z. B. auch in dem Gedicht Fortissimo). Das Teppich-Motiv erscheint mehrmals in der fin-de-siècle Literatur, z. B. auch bei Stefan Georges Teppich des Lebens und bei Rainer Maria Rilke (in den Duineser Elegien). Mögen diese »Teppich«-Gedichte z. T. im Zusammenhang mit dem steigenden Interesse für Orientteppiche seit der Wiener Weltausstellung 1873 stehen, hat das Teppich-Motiv selber in der Literatur doch eine lange auch außereuropäische Tradition und wurde zu verschiedenen Zeiten immer wieder »spontan neu entdeckt«.32 Albrecht weist in seiner Untersuchung zurecht auf die Parallele zwischen Dichten und Weben hin, die für die Metaphorik sehr fruchtbar ist, der Teppich wird zu einem Schriftträger und vermittelt eine Botschaft (auf den größeren Zusammenhang mit dem Wort ›Text‹ verstanden als Gewebe gehen wir unten ein). In vielen Gedichten erscheint das ganze Leben als Teppich, die Metapher wird aber auch zum ›Weltteppich‹ (z. B. bei George) ausgedehnt. Ein weiterer Aspekt der Metapher ist der Teppich als Spiegel der Vergangenheit, wie sie bei Goethe (Faust II) und Heine (Aucassin und Nicolette) vorkommt.33 Die literarische Tradition zeigt den weiten Horizont des Bildes, der allerdings auch in der Alltagssprache mitklingen bzw. entdeckt werden kann. Kommen wir zurück zum Bild des Teppichs im Interview mit Betty Kolath. Im Textbeispiel fokussiert Kolath im Bild vom Teppich nun die Fäden:34 immer wieder kommen lose Fäden. Die Sprecherin erklärt das neue Bild, indem sie es mit weiteren Details anreichert wie jetzt mit diesen mit diesem, es gibt noch solche Geschichten. Die lose[n] Fäden im Gewebe des Teppichs entsprechen den Geschichten, die nicht in die Lebensgeschichte als story passen. Die tatsächlich erzählten Erinnerungen sind eine Auswahl aus dem Funktionsgedächtnis, das dem Speichergedächtnis gegenübersteht, die »›amorphe Masse‹ […] ungebrauchter, nicht-amalgamierter Erinnerungen, die das Funktionsgedächtnis umgibt. Denn, was nicht in eine story, in eine Sinnkonfiguration paßt, wird deshalb nicht schlechthin vergessen«.35 Die Textbewegung ist insgesamt 32 33 34 35

Michael von Albrecht: Literatur als Brücke: Studien zur Rezeptionsgeschichte und Komparatistik. Hildesheim u. a.: Olms 2003, S. 131. Ebd., S. 95. In der persischen Tradition sprechen Autoren oft vom »Seelenfaden«, wenn sie das Teppichmotiv benutzen, ebd., S. 131. Assmann, Erinnerungsräume (wie Anm. 5), S. 136.

Wurzeln, Schnitte, Webemuster

243

ein Beispiel für die von Assmann beschriebene Gedächtnisarbeit. Durch die Wiederaufnahmen geht Kolath aus dem Bild des Lebens als Teppich zum Bild der Erzählung (aus dem eigenen Leben) als Teppich über, dem die Metapher des Texts als Gewebe (textus) unterliegt. In diesen Bildern, vor allem in denen des Fadens/Stranges und des Webemusters (vgl. auch das vorhergehende Textbeispiel), gehen zwei verschiedene Konzeptualisierungen ein. Zum einen liegt hier eine Metapher des Redens zugrunde‚ ›Reden ist Weben bzw. Spinnen‹, nach der Sprechen als ein linearfinaler Prozess charakterisiert wird.36 In diesem Prozess, d. h. während des Sprechens, wird ein Faden bzw. Strang, d. h. etwas Lineares, zu einem strukturierten Ganzen zusammengewoben, »wobei der Mensch an diesem Prozeß der Transformation einen aktiven und zugleich kreativen (künstlerischen) Anteil hat«.37 Zum anderen beziehen sich die Bilder vom Weben, vom Strang (und in diesem Zusammenhang auch die vom Teppich) auf das eigene Gedächtnis, das sich wiederum mit dem Bild vom eigenen Leben verschränkt. Es ist kein Zufall, dass Paul Ricoeur das Bild des ›Gewebes‹ aufgreift, wenn er auf den Begriff der narrativen Identität eingeht und dabei betont, dass das Subjekt sich als Erzähler konstituiert, denn »die Geschichte eines Lebens [wird] unaufhörlich refiguriert durch all die wahren oder fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich selbst erzählt. Diese Refiguration macht das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten«.38 Am Ende ihres langen Interviews, eine Stunde später, kommt Betty Kolath auf das Bild vom ›Leben ist ein Teppich‹ zurück. Sie antwortet auf Anne Bettens Frage: Was würden Sie als Ihr Motiv, dass Sie jetzt mit mir dieses Gespräch geführt haben, das ja auch teilweise von jemand gelesen und gehört werden soll, bezeichnen? BK

36 37

38

[148ƍ:8Ǝ] ich habe das Gefühl, dass, wenn man so schon nicht mehr so ganz am Anfang seines Lebens ist, ja, irgendetwas äh möcht man ja schon einmal ja, nicht, dass jemand anders draus lernen könnt, aber es ist einfach ein Sache von, von sich mitteilen, es ist. Die Bilder, die ich lasse, nun gut, also hängen bei irgendjemanden. Das ist, ist ganz schön und

Werner Welte: Alltagssprachliche Metakommunikation im Englischen und Deutschen. Frankfurt am Main u. a.: Lang 1990, S. 123. Michael Bamberg/Ullman Lindenberger: Zur Metaphorik des Sprechens. Mit der Metapher zu einer Alltagstheorie der Sprache. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 53 (1984), S. 18–33, hier S. 24. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Text vom lateinischen textus kommt, ursprünglich Partizip zum Verb texo ›weben‹; die Geschichte des Wortes textus verfolgt Assmann (Erinnerungsräume [wie Anm. 5], S. 124ff.), der die Rolle der Kohärenzbildung in der ›rhethorischen‹ Verwendung der Metapher des Webens, die von Quintilian ausgeht, hervorhebt. Ricoeur, Zeit und Erzählung (wie Anm. 6), S. 396; im Originaltext lautet der letzte Satz »Cette refiguration fait de la vie elle-même un tissu d’histoires racontées«, vgl. Paul Ricoeur: Temps et récit, III. Le temps raconté. Paris: Seuil 1985, S. 443.

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Eva-Maria Thüne/Simona Leonardi ganz wichtig, aber es ist immer nur ein ganz kleines Fenster so ein Bild, nicht? Aber wenn man zum Beispiel so ein so einen ganzen, es gibt im Jiddischen das schöne Wort das Schmus. Also einen ganzen Schmus, so ein ganze, ganze Soße von, von, von allen möglichen äh Fäden, die den Teppich des Lebens ausmachen da, dass sich vielleicht doch jemand mal ein, einen kleinen Teppich davon machen kann, nicht, aus den ganzen Fäden, die man angelangt hat. Das ist schon, das hat ein, ein hat einen verlockenden äh Gedanken. Sie, ich denke manchmal, wenn ich ein bisschen besser, bisschen besser heute noch Deutsch könnte und wenn ich etwas technisch mehr davon verstehe, könnte ich genauso gut wie, wie ich male, gut oder schlecht, könnte ich Geschichten schreiben und ich möchte es auch manchmal und tue es ja auch manchmal. […] Aber es ist eine so, solche Geschichten habe ich hundert, wo der Leser sich eigentlich deut/, herumdeuten muss, was ist, dass nicht alles Tatsachenerzählung, sondern »Was meint Sie jetzt damit?«. Das ist eigentlich dasselbe, was ich mit meinen Bildern mache, wo man sich ein bisschen Mühe geben muss auch, nicht alles platt, keine Fotografie, auch nicht im Schreiben, auch nicht einfach Erzählen, sondern einfach ein Ball hinwerfen oder so etwas, so jetzt. Der Ball ist richtig, ich möchte immer mehr das Wort kleiner Teppich oder Fäden benutzen und sich daraus ein kleinen, ein äh auch der Zuhörer oder der, der sich das Bild sich ansieht, jetzt ein bisschen selber arbeitet.

Wir können eine erstaunliche Expansion und Mischung von Bildern verfolgen. Nachdem Kolath ihre Absicht genannt hat: es ist einfach ein Sache von, von sich mitteilen, bezieht sie in dies Nachdenken über Kommunikation und den Selbst-Ausdruck nun auch ihr eigenes künstlerisches Schaffen als Malerin mit ein und spricht von Bildern wie Fenstern (auf die Welt, auf das Leben), durch die Betrachter sehen (die von ihnen interpretiert werden müssen). Anschließend verstärkt Kolath diesen Aspekt, indem sie ein neues Bild heranzieht, den jiddischen Schmus (= Gerede), gefolgt von einer Essensmetapher (Soße, im Sinne von Gerede),39 stellt dadurch eine Verbindung zwichen malen/sehen und sprechen/schreiben her. Erst danach nimmt Kolath das Bild des Fadens in Verbindung mit dem des Teppichs wieder auf.40 Aus den vielen Fäden, aus denen man den Teppich des eigenen Lebens gebildet hat, kann man kleinere Teppiche weben (Bilder malen), die aus demselben Stoff sind und die anderen einen Eindruck geben können, wie der Stoff des größeren Teppichs war. Wie in einer Metareflexion über das Erzählen bringt Kolath hier durch die Meta39

40

Für die enge Verbindung zwischen Sprache und Essen auf metaphorischer Ebene vgl. Eva-Maria Thüne: Senf oder Suppe? Überlegungen zu kulinarischen Sprachmetaphern im Deutschen und Italienischen. In: Komm ein bisschen mit nach Italien. Hg. von Andrea Birk. Bologna: Clueb, S. 73–87. Bemerkenswert ist hier, wie häufig in den Interviews, dass der Rückgriff auf Metaphern nach einer nicht-metaphorische Formulierungen vorkommt, also genau umgekehrt funktioniert, als es u. a. von Lakoff & Johnson beschrieben wird (zuerst kommt die bildliche Beschreibung, dann die Abstraktion).

Wurzeln, Schnitte, Webemuster

245

phernentwicklung die verschiedenen Aspekte ihrer Rede zusammen: es geht um ihr eigenes Leben, um den Möglichkeiten, dem Erinnern in Bildern oder durch Worte materiellen Ausdruck zu geben, wobei die Metaphern immer auch das konkrete Sprachhandeln der Sprecherin mitfassen. Gerade dieses sprachliche Handeln führt zu einem neuen Aspekt, das Bild des Balls: sondern einfach ein Ball hinwerfen. Der Ball ist das typische Beispiel für ein gemeinsames Spiel, d. h. für Interaktion. Auch hier klingen metareflexive Gedanken mit: Erzählen oder Malen sind keine Darstellung von Tatsachen, sondern ein Angebot für den Betrachter, das Gegenüber. Kolath spricht dies noch einmal durch das Bild der Fäden an (ich möchte immer mehr das Wort kleiner Teppich oder Fäden benutzen und sich daraus ein kleinen […] jetzt ein bisschen selber arbeitet). Dadurch bekommt auch das Bild des Balls eine neue Bildebene und erinnert an ein Wollknäuel, das die Form eines Balls hat, aber von dem aus Fäden gesponnen werden können. Kolath wendet also den Sinn der Fäden und des Teppichs an dieser Stelle im Hinblick auf die sprachliche Interaktion. Sie versucht, den Zusammenhang zwischen dem ›Lebensteppich‹ und dem ›Textteppich‹ zu verdeutlichen: Zuerst wird aus dem eigenen Teppich des Lebens ein kleiner Teppich verschenkt, indem man Geschichten aus dem eigenen Leben erzählt. Der Teppich wird gleich zu Fäden, die von den Hörern der Erinnerungen wiederum zu einem Teppich gewebt werden. Während die Bilder zunächst das eigene Leben darstellen, verwandelt Kolath mit der Öffnung zur Interaktion das Szenarium:41 die Fäden werden nun vom Webstuhl der Gesprächspartner gewebt. Die Entwicklung der Metaphernkette in Kolaths Erzählung ist ein Beispiel für die unscharfen Konturen von Metaphern, weil man ein Gleiten von einem Bild zu einem anderen aufgrund von optischer oder lexikalischer Assoziation verfolgen kann. Die Textstelle illustriert die metaphorische Ausdehnung von Strang, Webemuster, Fäden, die durch die Textbewegung entsteht. Während sich in Metaphernclustern normalerweise Bilder aus verschiedenen Bildbereichen auf dasselbe Szenarium beziehen (vgl. die Beispiele von Ballhorn, Doron und Frank in Abschnitt III), geht es bei diesen Bildern um verschiedene Szenarien, die nur z. T. etwas gemeinsam haben: um das Leben, Malen und Erzäh41

Zum Begriff des Szenariums: »In einem konsistent aufgebauten Text bilden die verwendeten Metaphern ein Modell des berichteten Ereignisses. […] Besteht das Ereignis aus Handlungen mit einem oder mehreren Protagonisten, kann das von den Metaphern entworfene Modell als Szenario interpretiert werden. Ein Szenario ist ein Handlungsschema, das ein Ereignis als Ganzes modelliert und das spezifische Rollen für die Protagonisten der Handlung eröffnet. Jedes Szenario enthält impliziert eine Interpretation der modellierten Handlung und damit eine Dimension der Wertigkeit seiner Bestandteile«. Franc Wagner: Metaphernszenarien in der ZwangsarbeitsKontroverse. In: Sinnformeln. Hg. von Susan Geideck und Wolf-Andreas Liebert. Berlin: de Gruyter 2003 (Linguistik – Impulse und Tendenzen; 2), S. 309–322, hier S. 310.

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len. Es kommt zu einer Überkreuzung der Bereiche, ein typisches MetapherMixing.42 Wie der Faden weitergesponnen wird, zeigt sich wenige Minuten später [153ƍ:4Ǝ], als die Interviewerin Anne Betten das Bild der Fäden aufgreift: AB BK AB

Ich glaube, Sie haben uns eine Menge von Fäden gegeben,~** an ~denen wir weiter ~ja ja ja~ knüpfen können, ~wenn wir uns das alles genau anhören, was Sie uns gesagt haben~.

Durch die Wiederaufnahme des Fäden-Bilds, durch das semantisch nahe Verb knüpfen erweitert, wird deutlich, dass Betten die Einladung Betty Kolaths, die vielen Geschichte aus ihrem Leben aufzunehmen, angenommen hat.

V

Schluss

Durch den in Texten vorhandenen metaphorischen Überschuss werden auf suggestive Weise individuelle Erfahrungen, Vorstellungen, Ansichten, Wertungen und affektive Besetzungen transportiert, die über die subjektive Dimension hinausgehen. Mit den Bildern der Wurzel, der Bindung und der Brücke haben wir auf Metaphernkomplexe hingewiesen, die die Verbindung vieler deutscher Juden zu deutschen Traditionen und Kulturgut veranschaulichen. Ex negativo drücken die Bilder des Schnitts und des Brücken-Abbrechens die dramatische Umwälzung in ihrem Leben aus. Die Metaphern des Fadens, des Webens und des Teppichs hingegen verweisen auf die Verschränkung zwischen Erinnerung und biographischer Erzählung. Dadurch entsteht im Dialog eine Form von metareflexivem Metaphernmixing für den Erinnerungs- und Erzählprozess selber. Beide Verfahren, das Metaphernclustering und das Metaphernmixing, tragen zur Fokussierung und Perspektivgebung in den Erzählungen bei und erschließen das in den Texten wirkende Emotionspotential, das über die individuelle autobiographische Erzählung hinausgeht. »Jedes individuelle Gedächtnis ist ein Ausblickspunkt auf das kollektive Gedächtnis; dieser Ausblickspunkt wechselt je nach der Stelle, die wir darin einnehmen«.43

42 43

Vgl. Semino, Metaphor in Discourse (wie Anm. 13), S. 27. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Ferdinand Enke 1967, S. 31.

Ulrich Ammon

Deutsch im Verhältnis zu anderen internationalen Sprachen – mit Ausblicken auf die Relevanz für die Germanistik in Israel 1

Vorbemerkung

Das Fach Germanistik ist bezüglich Ausstattung, Fragestellungen und gesellschaftlicher Relevanz abhängig von der internationalen Stellung der deutschen Sprache, besonders natürlich die Auslandsgermanistik. Dies gilt auch für die Germanistik in Israel, vielleicht sogar in höherem Maße als für andere Auslandsgermanistiken. Indem nämlich das Fach seine traditionellen, von Schmerz geprägten Stützen bei den Jeckes aufgrund der Generationenfolge allmählich verliert,1 könnte es sich schonungsloser der Frage nach seiner Relevanz für Israel ausgesetzt sehen. Diese Frage führt unvermeidlich zum Vergleich der deutschen Sprache – und sicher auch der daran gebundenen Kultur, die allerdings in diesem Beitrag nur gestreift wird – im Vergleich zu anderen Sprachen. Die folgenden Ausführungen sollen nicht zuletzt Argumentationshilfen für einen solchen Vergleich liefern und zeigen, dass Deutsch – trotz der verheerenden Politik und Geschichte seiner gewichtigsten »Mutterländer«, vor allem in der Zeit von 1933 bis 1945, aber auch schon davor – gleichwohl eine international bedeutende Sprache geblieben ist, wenn auch auf unvergleichlich niedrigerem Niveau als die Weltsprache Englisch. Der Vergleich richtet sich daher mehr auf die anderen internationalen Sprachen als auf Englisch. Er könnte relevant sein für curriculare und akademische Entscheidungen bezüglich der dem Englischen nachgeordneten Fremdsprachen, die auch in absehbarer Zukunft für die internationalen Kontakte und mithin die sprachliche und kulturelle Bildung vieler Länder eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen.

1

Teile der Abschnitte 2 sowie 3.1–3.3 erscheinen im Rahmen eines Artikels mit dem Titel »Zur Stellung von Deutsch im globalen Sprachensystem« auch in der brasilianischen Zeitschrift »Projekt« (2009) – im Anschluss an den Vortrag »Die internationale Stellung der deutschen Sprache – mit Bezug auf Sprachenpolitik und Deutsch als Fremdsprache in Brasilien«, den der Verfasser am 21. Juli 2008 auf dem Brasilianischen Deutschlehrerkongress in Rio de Janeiro hielt. Vgl. hierzu u. a. – außer den einschlägigen Beiträgen im vorliegenden Band –Anne Betten/Sigrid Grassl: Sprachbewahrung nach der Emigration. Das Deutsch der 20er Jahre in Israel. Tübingen: Niemeyer 2000; Andreas Disselnkötter/Hermann Zabel (Hg.): Deutsch in Israel. Eine Bestandsaufnahme. Aachen: Shaker 2002; Hermann Zabel (Hg.): In der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung. Gespräche mit Israelis deutscher Muttersprache. Essen: Klartext 2002.

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Zunächst werden in Abschnitt 2 Ansätze zu einer Theorie des globalen Sprachsystems vorgestellt, die alle Sprachen der Welt bezüglich ihrer Stellung im Zusammenhang sehen. Diese Vorschläge werden kritisch diskutiert, und es werden Möglichkeiten ihrer Präzisierung unterbreitet. Dabei liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf den internationalen Sprachen. Für sie werden in Abschnitt 3 Daten präsentiert, die im Sinne von Indikatoren differenzierteren Aufschluss (als die in Abschnitt 2 vorgestellten Fassungen des globalen Sprachsystems) über ihre weltweite Stellung liefern. Im abschließenden Abschnitt 4 wird schließlich noch die Frage aufgeworfen, ob und wie die deutsche Sprache, oder besser: ihr Erlernen, in Israel gefördert werden könnte.

2

Das globale Sprachensystem

Angeregt durch den Begriff der Globalisierung werden die Sprachen der Welt mehr und mehr in ihrem Zusammenspiel als Gesamtheit gesehen. Diese Sicht kommt etwa zum Ausdruck im Terminus Linguasphäre (engl. linguasphere). David Dalby,2 der zur Verbreitung dieses Terminus beigetragen und ihn vielleicht sogar geprägt hat, meint damit »the mantle of languages extended around the planet by humankind, since the beginnings of speech.« Die Metapher von einer den ganzen Erdball umspannenden ›Hülle‹ legt einen durchgehenden Zusammenhang nahe. Erst in neuester Zeit allerdings bilden nach Dalby »the spoken and written languages of humankind […] an organic continuum, a global medium for the circulation of ideas. […] In the 21st century we have the means to activate this continuum of speech as a functioning system of immediate worldwide communication.« »Just as ›biosphere‹ denotes the terrestrial mantle of living organisms, so the term ›linguasphere‹ may be usefully employed to describe the mantle of communication gradually extended around the planet by humankind.«3 Den Vergleich mit Organismen vertieft Dalby weiter, indem er die großen Sprachen, die von mindestens 1 % der Weltbevölkerung gesprochen werden, »Arteriensprachen« (arterial languages) nennt – in Anspielung vielleicht auf ihre Lebenswichtigkeit (um im Bild zu bleiben) für die Linguasphäre. Ihre Zahl bezifferte er im Jahr 2006 auf 29. Die deutsche Sprache zählt, wie man sich denken kann, auch dazu. Dalby geht sogar so weit, dass er die Linguasphäre als Teil der Biosphäre sieht: »By providing the key to communication and concerted action by members of the dominant species on earth, the linguasphere is the single most influential layer of the biosphere.«4 Dalbys Interesse gilt unter anderem den Wirkungen der menschlichen Kommunikation auf die einzelnen Sprachen, vor allem auf deren Verbreitung 2 3 4

www.linguasphere.org/book.html: 1 – Juni 2006. Ebd. Ebd., S. 2.

Deutsch im Verhältnis zu anderen internationalen Sprachen

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oder Verdrängung, über die er Buch führen will und wofür er um Unterstützung bittet. Den Anstoß für seine Bemühungen gab das Observatoire Linguistique, das in den 1980er Jahren in Frankreich errichtet wurde.5 Seine offizielle Aufgabe ist die Untersuchung des Multilingualismus in der Welt – aber sicher auch, wie man vermuten darf, die Beobachtung der internationalen Stellung der französischen Sprache sowie der Ausbreitung des Englischen zwecks geeigneter sprachenpolitischer Maßnahmen. Stärker beachtet wurde das differenziertere Modell vom »globalen Sprachensystem« (oder »Welt-Sprachensystem«), das Abram de Swaan in zahlreichen Veröffentlichungen vorgestellt und weiterentwickelt hat.6 Am bislang ausgereiftesten ist es in seinem Buch »Words of the World. The Global Language System«, worauf sich meine folgende Darstellung bezieht.7 Besonders interessant an de Swaans Ansatz ist seine Begründung des Zusammenhangs verschiedener Sprachen in Form von Systemen, in heutiger Zeit sogar einem einzigen globalen System. Ob es sich dabei wirklich um ein System, und zudem ein einziges, handelt, kommt auf den Systembegriff an, den man zugrunde legt. Ich erspare mir die Diskussion darüber, weil sie zu aufwändig wäre. Allem Anschein nach wurde de Swaan – als Soziologe – angeregt von sozialwissenschaftlichen Theorien der Globalisierung, auf die er sich auch ausdrücklich bezieht, vor allem von Immanuel Wallersteins Idee des ›kapitalistischen globalen Systems‹.8 De Swaan sieht das globale Sprachensystem als integralen Teil (integral part) der globalisierten Welt, die außerdem folgende weitere globale Systeme umfasst: – das politische System (die rund 200 Staaten und das Netzwerk der internationalen Organisationen, die sie zusammenhalten), – das wirtschaftliche System (die weltweite Verknüpfung von Märkten und Unternehmen), – das kulturelle System (verbunden vor allem durch die elektronischen Medien), – das ökologische System (das Zusammenspiel der Menschheit mit der Natur, ihr »metabolism with nature«).9 Diesen Systemen habe man ausgiebige wissenschaftliche Beachtung geschenkt. »However, the fact that humanity, divided by a multitude of languages, but connected by a lattice of multilingual speakers, also constitutes a coherent language constellation, as one more dimension of the world system, has so far remained

5 6 7 8 9

Siehe: www.linguasphere.org. Z. B. Abram de Swaan: The Emergent World Language System: An Introduction. In: International Political Science Review 14 (1993), S. 219–226. Abram de Swaan: Words of the World. The Global Language System. Cambridge: Polity Press 2001. Z. B. Immanuel Wallerstein: The Capitalist World-Economy. Cambridge u. a.: Cambridge University Press 1980. De Swaan, Words of the World (wie Anm. 7), S. 1.

250

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unnoticed. Yet, as soon as it has been pointed out, the observation seems obvious.«10 De Swaans globales Sprachensystem, als Teil des globalen Gesamtsystems, wird dadurch konstituiert, dass »[m]utually unintelligible languages are connected by multilingual speakers« (einschließlich bilingualer Sprecher). Diese Verbindung zwischen den Sprachen geschieht »not at all in random fashion«, sondern in »a strongly ordered, hierarchical pattern«.11 Die Form des globalen Sprachensystems gleicht einer Galaxie, was de Swaan anhand von vier Sprachtypen verdeutlich. In aufsteigender Reihenfolge (astronomische Entsprechungen in Klammern): periphere Sprachen (Monde), zentrale Sprachen (Planeten), superzentrale Sprachen (Sonnen) und eine – womöglich definitorisch nur eine einzige? – hyperzentrale Sprache (»so to speak at the centre […], the hub of the linguistic galaxy«12). Sie entspricht dem galaktischen Zentrum, das ja – man möchte fast sagen, ominöserweise – im Falle der Milchstraße das uns nächstgelegene Schwarze Loch enthält, mit der wohlbekannten alles absorbierenden Kraft, worauf de Swaan aber – vermutlich sehr bewusst – nicht anspielt. Vielleicht wäre es unmissverständlicher, wenn de Swaan betont hätte, dass durch die multilingualen Sprecher, die als Vermittler fungieren, unmittelbar nur die Sprachgemeinschaften und nicht die Sprachen selbst miteinander verbunden sind. Zunächst einmal handelt es sich sogar bloß um die an den Sprech-/Schreibakten beteiligten Sender – Empfänger: Paare von Sprechern – Hörern / Schreibern – Lesern aus verschiedenen Sprachgemeinschaften, oder bei öffentlichen Reden und massenmedialen Sendungen größere Mengen von Kommunizierenden. Tatsächlich existieren heute keine oder so gut wie keine sprachlich vollkommen isolierten Sprachgemeinschaften mehr, mit denen keinerlei verbale Kommunikation möglich wäre. Und dies ist in der Tat letztlich den mehrsprachigen Personen und ihren verbalen Vermittlungsdiensten geschuldet. Mit dem Terminus »language system« meint de Swaan demnach keine sprachlichen Systeme im Sinne der Linguistik, sondern soziale Systeme, deren Mitglieder durch gemeinsame Sprachkenntnisse und durch deren Gebrauch miteinander verbunden sind. Bevor ich auf die Kriterien für die hierarchische Typologie der Sprachen – eigentlich wiederum Sprachgemeinschaften! – und auf den systematischen Zusammenhang der Sprach(gemeinschaft)en bei de Swaan näher zu sprechen komme, möchte ich seine insgesamt 11 superzentralen Sprachen nennen, und zwar in alphabetischer Reihenfolge. Es sind Arabisch, Chinesisch, Deutsch, Englisch (die hyperzentrale Sprache, die auf diesem Rang merkwürdigerweise noch mal erscheint), Französisch, Hindi, Malaiisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch und Suaheli. Sie spielen, weil Deutsch darunter ist, im vorliegenden Zusammenhang eine vorrangige Rolle. 10 11 12

Ebd., S. 1f. Ebd., S. 4. Ebd., S. 6.

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Im Hinblick auf die Kriterien für seine Hierarchie der Sprachen geht de Swaan von der Überlegung aus, dass Sprachen Güter besonderer Art seien.13 Dabei unterscheidet er zunächst »persönliche Güter«, die man durch Tausch oder Kauf erwirbt (z. B. Fahrräder), von »kollektiven Gütern«, die allgemein zugänglich sind, z. B. die Luft (zum Atmen). Auch die Sprachen gehören insoweit zu letzteren, als ihre Aneignung, ihr Erlernen und ihr Gebrauch – abgesehen von gewissen Einschränkungen und Sonderfällen – niemandem verwehrt ist. Darüber hinaus aber sind Sprachen nach de Swaan sogar »hyperkollektive Güter« (hypercollective goods). Diese zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Besitzer daran interessiert sind oder zumindest bei richtiger Einschätzung ihrer Interessenlage daran interessiert sein müssten, dass andere Personen sich diese Güter aneignen; denn bei hyperkollektiven Gütern (z. B. Betriebssystemen von Computern) wächst ihr Gebrauchswert mit der Zahl ihrer Besitzer. Bei bloß kollektiven Gütern ist dies nicht der Fall, z. B. bei Luft, deren Wert nicht dadurch steigt, dass sie von mehr Personen geatmet wird. Dagegen vergrößert sich bei Sprachen, die eben hyperkollektive Güter sind, ihr Gebrauchswert – als Kommunikationsmittel, ihr »Kommunikationspotential« – bei wachsender Sprecherzahl. Damit verbinden sich weitere, sekundäre Vorteile, z. B. dass bei höherer Sprecherzahl die Güter, die an die betreffende Sprache gebunden sind (z. B. Bücher, Medientexte, Sprachlehrmaterialien), in größerer Vielfalt entstehen und aufgrund höherer Produktionszahlen zu günstigeren Preisen zur Verfügung stehen. Im Zusammenhang damit wächst mit der höheren Sprecherzahl – ceteris paribus – auch die Attraktivität einer Sprache als Fremdsprache und als Zielgröße von Sprachumstellungen.14 Vor diesem Hintergrund definiert de Swaan die Stellung einer Sprache (La) in einer Gesellschaft (G) wie folgt,15 wobei es sich bei G um ein beliebiges Gemeinwesen, also eine Stadt, einen Staat, einen Staatenbund (wie die EU) oder die ganze Welt handeln kann. Er unterscheidet zunächst die »Prävalenz« (prevalence) von La von der »Zentralität« (centrality) von La. Die Prävalenz1 (hier indiziert, weil noch eine zweite Lesart möglich ist) definiert er als den zahlenmäßigen Anteil der Sprecher von La an der Gesamteinwohnerzahl von G, also als Quotient aus ›Sprecherzahl von La in G‹ und ›Gesamteinwohnerzahl von G‹. Als die Zentralität1 (aus demselben Grund indiziert) von La definiert er den Anteil der mehrsprachigen Sprecher von La an der Gesamtzahl mehrsprachiger Einwohner von G, also als Quotient aus der ›Zahl multilingualer (einschließlich bilingualer) Sprecher in G, die La in ihrem Repertoire haben‹, und der ›Gesamtzahl multilingualer Einwohner von G‹. (Wohl gemerkt ist der Bezug hier nicht einfach die Einwohnerzahl, sondern die Zahl multilingualer Einwohner, worauf ich gleich noch mal zurückkomme.) Während die Prävalenz1 nur den Anteil der über La erreichbaren Einwohner von G anzeigt, 13 14 15

Ebd., S. 5. Ebd., S. 27–33, vor allem S. 31f. Ebd., S. 33–40.

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indiziert die Zentralität1, in welchem Maße über (die in G vorhandene) La andere Sprachgemeinschaften direkt erreichbar sind (über multilinguale LaSprecher), wobei de Swaans Formulierung noch eine andere Definition erlaubt, mit der ich mich sogleich befasse. Prävalenz und Zentralität von La zusammen ergeben das »Kommunikationspotential« von La, das von de Swaan als Produkt beider Werte definiert wird.16 Genau genommen spricht de Swaan vom »Q-value«, womit er vielleicht andeuten will, dass es sich dabei nur um eine von verschiedenen Möglichkeiten der Operationalisierung des allgemeineren Begriffs ›Kommunikationspotential‹ handelt. Ich verwende im Weiteren den verständlicheren Terminus Kommunikationspotential auch im Sinne von de Swaan’s Q-value, soweit die Bedeutung vom Kontext her klar wird. Wiederum gibt es hier zwei mögliche Verständnisse von Kommunikationspotential – daher wäre die bislang charakterisierte Version wieder zu indizieren: Kommunikationspotential1 = Prävalenz1 x Zentralität1. Über einzelne Sprachen hinaus lassen sich ganz analoge Begriffsfestlegungen auch auf Kombinationen von Sprachen ausdehnen. Sie zeigen an, wie weit verschiedene (in G vorhandene) Sprachrepertoires (z. B. La + Lb, La + Lc, La + Lb + Lc usw.) kommunikativ reichen. Die Berechnungen werden zwar etwas komplizierter,17 die grundlegenden Gedanken ändern sich aber nicht, weshalb ich mir die Einzelheiten hier erspare. Im unmittelbaren Anschluss an jene Definition von Prävalenz und Zentralität (Prävalenz1 und Zentralität1) legt de Swaan, wie schon angedeutet, eine alternative Definition nahe, allerdings auch nur implizit.18 Er fasst dabei Prävalenz, also Prävalenz2, auf als den Anteil der Muttersprachler von La an der Gesamteinwohnerzahl von G und Zentralität2 als den Anteil der Fremdsprachler von La – entweder an den Einwohnern mit Fremdsprachenkenntnissen in G oder an der Gesamteinwohnerzahl von G. Der Bezug, also der Nenner des Quotienten bleibt hier letztlich unklar, wodurch Zentralität2 zweideutig bleibt. Der Bezug auf die Gesamteinwohnerzahl von G wäre eher analog zur Zentralität1. Er wäre auch praktikabler, weil die Daten für viele Gs bekannt sind. Für einige Gs werden auch in einigermaßen regelmäßigen Abständen die Zahlen der Muttersprachler und Fremdsprachler ausgewählter Sprachen erhoben, seltener aber die Zahlen für mehrsprachige Sprecher. Die EU ist ein Beispiel für solche Erhebungen (regelmäßig publiziert im Eurobarometer), das de Swaan bekannt ist und worauf sein folgender Hinweis anspielt: »In those cases where reliable data on mother-tongue and second-language skills [Fremdsprachen! U. A.] are available, the Q-value yields results that correspond with an informed assessment of the constellation [=G! U. A.]«.19 Was die ganze Welt 16 17 18 19

Ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 35f. Ebd., S. 33. Ebd., S. 34.

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betrifft, so sind allerdings auch für die Definitionen2, sogar für die – in unserem Zusammenhang besonders interessierenden – superzentralen Sprachen, die Daten sehr lückenhaft. Das Kommunikationspotential2 (bei de Swaan weiter »Q-value«) von La bleibt das Produkt beider Werte, also Prävalenz2 x Zentralität2 (wie immer letztere definiert sein mag). Um Missverständnisse auszuschließen, sei betont, dass sich Kommunikationspotential1 und Kommunikationspotential2, bzw. ihre definierenden Bestandteile, deutlich unterscheiden und zahlenmäßig erheblich divergieren können. So umfasst Prävalenz1 von La auch die Fremdsprachler (und bei entsprechender Differenzierung auch noch die Zweitsprachler) von La, Prävalenz2 jedoch nicht; Prävalenz1 ist also in der Regel zahlenstärker – außer für den Extremfall, wo es überhaupt keine Fremdsprachler (bzw. Zweitsprachler) von La in G gibt. Und Zentralität1 von La umfasst auch die Muttersprachler (sofern sie mindestens eine Fremdsprache sprechen); für Zentralität1 kann sich also sogar dann ein hoher Zahlenwert ergeben, wenn es überhaupt keine Fremdsprachler von La in G gibt, dann nämlich, wenn La zahlreiche Muttersprachler hat, von denen viele auch eine Fremdsprache sprechen. Diese haben ja auch multilinguale Repertoires, die La enthalten. Dagegen ergäbe sich für Zentralität2 in diesem Fall der Zahlenwert 0. Hinzu kommt die schon erwähnte weitere mögliche Differenzierung des Begriffs ›Zentralität‹ durch Bezug entweder nur auf die multilinguale Bevölkerung oder die Gesamtbevölkerung, wobei sich für den ersten Fall meist größere Zahlen ergeben (wegen des kleineren Quotienten). Abram de Swaans Begriffsvorschlag und Analyseansatz ist von der Fachwelt mit großem Interesse und ganz überwiegend positiv aufgenommen worden. Zu Recht. Ihr besonderer Vorzug besteht darin, dass sie auf sprachliches Handeln (oder auf sprachliche Kommunikation) abheben, also darauf, was Menschen mit Sprachen unterschiedlicher Verbreitung zu ihrem Vor- und Nachteil tun können, und damit auf mögliche Erklärungen von Sprachwahl, -loyalität, -umstellung, -erhalt und -verlust. Die folgenden, zum Teil schon oben angedeuteten Hinweise auf mögliche Differenzierungen sollen diesen grundsätzlichen Vorzug nicht in Frage stellen. De Swaans Begriff von Zentralität, und zwar in beiden (oder auch allen 3) Begriffsvarianten, zeigt nicht an, wie viele der anderen Sprachen (Sprachgemeinschaften) La ... Ln in G direkt (aufgrund multilingualer Sprecher) über La zugänglich sind, und in welchem Ausmaß jeweils. So können Zentralität1 oder Zentralität2 von La schon hohe Werte erreichen, wenn zahlreiche Muttersprachler nur einer weiteren Sprache Lb in G zugleich Fremdsprachler von La sind, sogar wenn es unter den Muttersprachlern der übrigen Sprachen Lc … Ln in G überhaupt keine Fremdsprachler von La gibt. Der Wert für die Zentralität bleibt gleich hoch, ob alle La-Fremdsprachler einer einzigen Sprachgemeinschaft Lb in G angehören oder sich (in welchen Proportionen auch immer) auf mehrere oder alle Sprachgemeinschaften Lb … Ln in G verteilen. Um solchen Unterschieden Rechnung zu tragen, bedürfte die Zentralität zusätzlicher Spezifizierung.

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Ulrich Ammon

Für eine ausgewogene Verteilung von La auf mehrere oder alle Sprachen in G, die der Terminus Zentralität im Grunde suggeriert, wäre neben dem Mittelwert (arithmethisches Mittel) über alle Sprachgemeinschaften deren Streuung (Standardabweichung) über die verschiedenen Sprachgemeinschaften Lb ... Ln in G zu berücksichtigen (den jeweiliger Anteil an La-Fremdsprachlern). Im Idealfall einer vollkommen ausgewogenen, also proportional gleichen Verteilung ergäbe sich eine Standardabweichung von 0. Ihr Wert wüchse proportional zur Unausgewogenheit der Verteilung. Dabei wäre die Standardabweichung wohl am besten im Bezug auf den Mittelwert über alle Sprachgemeinschaften Lb ... Ln (der jeweiligen La-Fremdsprachler) zu errechnen (Wurzel aus dem Quotienten von ›Summe der Abweichungsquadrate‹ und ›n – 1‹). Die Zentralität wäre damit gekennzeichnet durch zwei Werte: ihr arithmetisches Mittel und ihre Standardabweichung. Allerdings ließen sich die beiden Werte nicht ohne weiteres zu einem Einzelwert zusammenfassen. Bei sehr »schiefer« (unausgewogener) Verteilung (alle La-Fremdsprachler in einer einzigen Sprachgemeinschaft Lb – bei Vorhandensein mehrerer weiterer Sprachgemeinschaften) wäre auch der Terminus Zentralität nicht mehr treffend. Abgesehen von dieser wünschenswerten, wenngleich mangels Daten häufig undurchführbaren Differenzierung von Zentralität stellt sich die Frage ihrer Gewichtung gegenüber der Prävalenz. Indem de Swaan beide Werte zum Kommunikationspotential multipliziert, gewichtet er sie gleich. Eine ausdrückliche Begründung dafür liefert er nicht. Die Multiplikation bewirkt außerdem, dass die Zentralität den Wert 0 annimmt, wenn eine Sprache keine Muttersprachler (Prävalenz = 0) oder keine Fremdsprachler hat (Zentralität = 0). Da de Swaan das Kommunikationspotential einer Sprache als wichtigen, wenn nicht entscheidenden Faktor für ihre Wahl als Fremdsprache ansieht, hätten derartige Sprachen als Fremdsprachen keine Chance. Was spricht gegen die Addition (statt Multiplikation) beider Werte? Mit dieser Frage gestehe ich mein unzureichendes Verständnis des komplexen Begriffs ›Kommunikationspotential einer Sprache‹, als (multiplikative) Zusammenfassung von Prävalenz und Zentralität. Zu welcher Erklärung genau taugt dieser Begriff, im Rahmen welcher Theorie? Das Problem wird deutlich bei seiner (schon erwähnten) Inanspruchnahme als Faktor (oder auch Indikator) der Attraktivität einer Sprache als Fremdsprache. Das Kommunikationspotential, schreibt de Swaan, »also purports to reconstruct the ›value‹ that speakers attribute to that language, an evaluation that guides their choices of foreign languages to learn.«20 Zwar leuchtet es ein, dass dieses Kommunikationspotential einer Sprache bei Kosten-Nutzen-Schätzungen für die Fremdsprachenwahl eine Rolle spielen kann, doch überschätzt de Swaan ihr Gewicht. Er nennt nämlich keine weiteren Faktoren für die Fremdsprachenwahl. Dabei gibt es dafür durchaus Anhaltspunkte. Indizien sind z. B. die aufschießende Attraktivität von Japanisch als Fremdsprache in den 80er 20

Ebd., S. 39.

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Jahren des vorigen Jahrhunderts21 oder von Chinesisch in jüngster Zeit. Die Sprecherzahlen dieser Sprachen haben sich in diesen Zeiten kaum verändert. Dagegen sind sie z. B. bei Bengali in einer ähnlichen Zeitspanne kräftig gestiegen (geschätzte Sprecherzahl 1964: 85 Mio., 1999: 211 Mio.),22 ohne dass seine Attraktivität als Fremdsprache zugenommen hat. Der offenkundige Unterschied besteht im wirtschaftlichen Aufstieg der Mutterländer von Japanisch und Chinesisch (mit Folgen für Technologie und anderes), der bei Bengali ausgeblieben ist. Diesem Faktor der Wirtschaftskraft der Sprecher für die Wahl einer Fremdsprache trägt der von mir entwickelte Begriff von der »Stellung einer Sprache« (auch ›deren internationale Stellung‹) besser Rechnung.23 Er müsste in umfassendere Theorien für Sprachwahl, -loyalität, -umstellung, -erhalt und -verlust einbezogen werden, zusätzlich zum ausschließlich sprecherzahl-bezogenen Kommunikationspotential. Für die Attraktivität einer Sprache als Fremdsprache sind allerdings weitere Faktoren anzunehmen, deren genaue Feststellung – beim derzeitigen Forschungsstand – indes unmöglich sein dürfte. Einer davon ist sehr wahrscheinlich die Stellung von La außerhalb von G, wenn G einen kleineren Umfang hat als die ganze Welt. So lässt sich z. B. die Attraktivität von Spanisch als Fremdsprache in der EU (EU als G), die sich an den Lernerzahlen in verschiedenen Mitgliedstaaten zeigt, kaum innerhalb der EU allein erklären. Sie gründet auch außerhalb der EU, in der Verbreitung des Spanischen in Süd-, Mittel- und zunehmend auch Nordamerika, neben möglichen weiteren Faktoren. Neben der Unvollständigkeit für Erklärungen von Sachverhalten, auf die de Swaan abhebt, beinhalten seine Begriffe und Maße ein Abgrenzungsproblem. Da sie letztlich die Form von Verhältnisskalen haben, führen sie keineswegs ohne weiteres zu genau vier Sprachtypen unterschiedlichen Ranges. Eher scheint die astronomische Metaphorik hierzu zu verleiten. Sie versperrt womöglich den Blick auf andere Differenzierungen. Vielleicht ist sogar die zunächst einmal plausibel erscheinende Identifizierung von fast einem Dutzend »superzentraler« Sprachen von jener Metaphorik her motiviert. Bei davon unabhängigem Vorgehen müssten aufgrund der Maßzahlen Cluster gebildet werden, wonach sich z. B. die »superzentralen« von »zentralen« Sprachen 21 22

23

Vgl. Florian Coulmas: The Surge of Japanese. In: International Journal of the Sociology of Language 80 (1989), S. 115–131. Siegfried H. Muller: The World’s Living Languages. Basic Facts of Their Structure, Kinship, Location and Number of Speakers. New York: F. Ungar 1964; Barbara F. Grimes (Hg.): Languages of the World: Ethnologue. 11./12. Aufl. Dallas/TX: Wycliffe Bible Translation 2000/2005. Ulrich Ammon: Die internationale Stellung der deutschen Sprache. Berlin/New York: de Gruyter 1991; ders.: International Languages. In: D. Bolinger/J. M. Y. Simpson (Hg.): Encyclopedia of Language & Linguistics. Bd. 4. Oxford u. a.: Pergamon 1994, S. 1725–1730; ders.: The International Standing of the German Language. In: J. Maurais/M. A. Morris (Hg.): Languages in a Globalising World. Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 231–249.

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Ulrich Ammon

absetzten usw. Mangels Daten ist ein solches Verfahren zwar derzeit kaum anwendbar; jedoch vermisst man die entsprechende Relativierung und Problematisierung der vorgeschlagenen Typologie. De Swaan betont allerdings durchaus die Vorläufigkeit seiner Typologie. (Es ist sinnvoll, von einer Typologie zu sprechen – im Gegensatz zu einer bloßen Klassifikation –, da de Swaan damit allem Anschein nach einen theoretischen Anspruch verbindet; d. h. die Verwendung der Typen für Zwecke der Erklärung von Sachverhalten.) De Swaan entwirft im Grunde ein Forschungsprogramm, das er für eine Reihe von Gesellschaften (einzelne Staaten, Staatengruppen und Staatenbünde) durchspielt – oft aufgrund von Daten, deren Lückenhaftigkeit ihm nicht anzulasten ist: für Indien und Indonesien, für je drei Konstellationen des frankophonen und des anglophonen Afrika, für Südafrika und die Europäische Union. Noch interessanter wäre in unserem Zusammenhang eine entsprechende Analyse der Weltgesellschaft, wobei die größten 10 bis 12 Sprachen nach Prävalenz, Zentralität und Kommunikationspotential in eine Rangordnung gebracht würden. Eine solche Analyse würde sicher wichtige Aspekte der Stellung der Sprachen in der Welt ans Licht bringen. Vor einer Überschätzung ihres Erklärungswertes wäre allerdings – wegen der Vernachlässigung wichtiger Faktoren, wie z. B. der Wirtschaftskraft der Sprachgemeinschaften – zu warnen. Deshalb stünden auch darauf basierende Prognosen der zukünftigen Stellung von Sprachen in der Welt auf tönernen Füßen.

3

Zur Stellung der großen Sprachen in der heutigen Welt

Es besteht kein Zweifel, dass Englisch die vorherrschende Verständigungssprache in der heutigen Welt ist. Die Vorrangstellung beruht darauf, dass Englisch häufiger als jede andere Sprache als Fremdsprache gelernt wird. Fast könnte man meinen, dass andere Fremdsprachen daneben kaum noch eine Rolle spielen oder zumindest, dass die Entwicklung in diese Richtung geht. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Einschätzung allerdings als übertrieben und voreilig, wenn nicht sogar als grundlegend falsch. Die folgenden Daten und Überlegungen sollen diese Einschätzung untermauern.

3.1

Deutsch als Fremdsprache

Erste Hinweise auf die wirklich internationalen Sprachen liefern weltweite Daten zum Fremdsprachenlernen. Sie belegen zwar einerseits den enormen Vorsprung von Englisch, zeigen aber andererseits, dass auch die Lernerzahlen für eine Reihe weiterer Sprachen beachtlich sind und nicht den Eindruck erwecken, als würden sie sich in nächster Zeit in Richtung des Nullpunkts bewegen. Die Zahlen in Tabelle 1, die sich um das Jahr 2005 scharen, sind zwar ungenau, aber doch die bestmöglichen Schätzungen nach den mir vorliegenden

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Quellen. Ziemlich problematisch sind nur die Zahlen für Englisch und wohl auch Französisch, daher das beigefügte Fragezeichen. Sie umfassen vielleicht auch die fremdsprachlichen Sprecher, nicht nur die aktuellen Lerner (zur Erhebungszeit um 2005), womit die Zahlen übertrieben hoch wären. Entsprechend würden sich auch die Zahlen der anderen Sprachen beträchtlich erhöhen. Große Unsicherheit verraten ferner die Schätzungen für Chinesisch und Italienisch mit ihren großen Spannweiten. Den in Tabelle 1 genannten Sprachen könnte man noch Portugiesisch, Niederländisch, Koreanisch, Arabisch und Esperanto hinzufügen, die ebenfalls als Fremdsprachen recht verbreitet sind. Allerdings gehören Hindi, Malaiisch oder Suaheli, die de Swaan zu den »superzentralen Sprachen« zählt (vgl. Abschnitt 2),24 nicht zu den internationalen Sprachen, denn sie werden über ihre engere Gebrauchsregion hinaus kaum als Fremdsprachen gelernt. 1. Englisch 2. Französisch 3. Chinesisch 4. Deutsch 5. Spanisch 6. Italienisch 7. Japanisch Russisch Tabelle 1:

24 25

>1.000 (?) 82,5 (?) 30 (weit divergierende Schätzungen auch 3