Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten: Ein wissenschaftliches Lesebuch. Erzählungen - Analysen - Dialoge [1. Aufl.] 9783839429013

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Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten: Ein wissenschaftliches Lesebuch. Erzählungen - Analysen - Dialoge [1. Aufl.]
 9783839429013

Table of contents :
Inhalt
„Wie alles begann…“ – Eine Diskussion als Vorwort
Einleitung
I. Solidaritätskonstruktionen und Unterstützungssysteme
„Heimatlandmänner“ als Unterstützungssystem in der Migration: Über Glück und Selbstverständlichkeiten des Erhalts sozialer Unterstützung
„Die Familie muss zusammenhalten“: Verpflichtungsgefühle transnationaler Unterstützung und die Bedeutung familialer Zugehörigkeitskonstruktionen
II. Vermittlungs- und Mobilisierungsprozesse. Gelder, Menschen, Medien
Wandernden Geldern auf der Spur: Akquirierung und Transfer von emittances
Skype und Co.: Transnationale soziale (Unterstützungs-) Beziehungen und „neue“ Kommunikationsmedien
Die transnationale Organisation von child care in Familien
III. Fallstricke transnationaler Verbindungen
„Ich möchte selbst durchkommen“: Finanzielle Unterstützung als Belastung
„Immer nur das Billigste“: Materielle Einschränkungen durch transnationale Verbindungen – die Sicht der Kinder
IV. Mobile Heimat? Transnationalität und die Macht der Objekte
„Die Heimat ruft immer“:Heimatverständnisse und ihre Konstruktionen
„Man fühlt sich, als wäre man noch in der Heimat“: „Doing ome“ durch Aktualisierungspraktiken und ihre Objekte
„Das wartende Haus“: Eine fiktive Expertendiskussion über die Bedeutung von Häusern für Migrantinnen und Migranten

Citation preview

Désirée Bender, Tina Hollstein, Lena Huber, Cornelia Schweppe Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten

Kultur und soziale Praxis

2014-11-24 11-31-58 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 022e383232402698|(S.

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4) TIT2901.p 383232402706

Désirée Bender (Dipl.-Päd., Dipl.-Soz.) forscht am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Mainz zu Migration, Pflege und Alter, Raum- und Wissenssoziologie, Diskurs- und Biografieforschung. Tina Hollstein (Dipl.-Päd.) forscht am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Mainz zu Migration und Transnationalisierung, Bewältigung und Sozialer Unterstützung, Pflege und Alter. Lena Huber (Dipl.-Päd.) forscht am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Mainz zu Transnationalisierung, Flucht, Bewältigung und Sozialer Unterstützung, Pflege- und Altersmigration. Cornelia Schweppe (Prof. Dr.) forscht am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Mainz zu transnationaler Unterstützung, Alter(n), Armut und zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit.

2014-11-24 11-31-58 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 022e383232402698|(S.

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4) TIT2901.p 383232402706

Désirée Bender, Tina Hollstein, Lena Huber, Cornelia Schweppe

Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten Ein wissenschaftliches Lesebuch. Erzählungen – Analysen – Dialoge

2014-11-24 11-31-58 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 022e383232402698|(S.

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4) TIT2901.p 383232402706

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Andreas Herrgen, »Die Fährtensuche«, 2012. Fotografie: Christian Blättel Satz: W.B. Druckerei GmbH Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2901-9 PDF-ISBN 978-3-8394-2901-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-11-24 11-31-58 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 022e383232402698|(S.

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4) TIT2901.p 383232402706

Inhalt



„Wie alles begann…“ – Eine Diskussion als Vorwort | 7

Einleitung | 11

I.

Solidaritätskonstruktionen und Unterstützungssysteme „Heimatlandmänner“ als Unterstützungssystem in der Migration: Über Glück und Selbstverständlichkeiten des Erhalts sozialer Unterstützung | 25 „Die Familie muss zusammenhalten“: Verpflichtungsgefühle transnationaler Unterstützung und die Bedeutung familialer Zugehörigkeitskonstruktionen  |  39

II. Vermittlungs- und Mobilisierungsprozesse. Gelder, Menschen, Medien Wandernden Geldern auf der Spur: Akquirierung und Transfer von r emittances  |  63 Skype und Co.: Transnationale soziale (Unterstützungs-) Beziehungen und „neue“ Kommunikationsmedien  |  77 Die transnationale Organisation von child care in Familien  |  93

III.

Fallstricke transnationaler Verbindungen

„Ich möchte selbst durchkommen“: Finanzielle Unterstützung als Belastung  |  107 „Immer nur das Billigste“: Materielle Einschränkungen durch transnationale Verbindungen – die Sicht der Kinder  |  127

IV.

Mobile Heimat? Transnationalität und die Macht der Objekte

„Die Heimat ruft immer“: Heimatverständnisse und ihre Konstruktionen  |  145 „Man fühlt sich, als wäre man noch in der Heimat“: „Doing home“ durch Aktualisierungspraktiken und ihre Objekte  |  163 „Das wartende Haus“: Eine fiktive Expertendiskussion über die Bedeutung von Häusern für Migrantinnen und Migranten | 187

„Wie alles begann…“ – Eine Diskussion als Vorwort Wie so oft, ist auch dieses Buch Resultat der Gedanken vieler Köpfe. Wie alles begann, wie es also zur Entwicklung des Buches kam und welches Für und Wider gegen diese Art von Buchprojekt sprach, spiegelt der folgende Auszug der Kommunikation zwischen den Autorinnen dieses wissenschaftlichen Lesebuchs wider: A: Vielleicht sollten wir uns bald Gedanken über die Veröffentlichung unseres Forschungsprojektes machen. Ich denke, wir sollten das Projekt mit einem Buch abschließen. Dabei ist mir der Gedanke durch den Kopf gegangen, ob wir mal etwas anderes ausprobieren. Ich könnte mir vorstellen, dass wir unsere Ergebnisse einmal anders präsentieren könnten. Also eine andere Art des Schreibens ausprobieren. Vielleicht könnten wir ja eher Geschichten erzählen, was denken Sie? B: [begeistert] Das ist ja eine super Idee! Wir könnten zum Beispiel je nach Thema eine wissenschaftliche Kriminalgeschichte schreiben oder ein wissenschaftliches Märchen. A: Hm [überrascht und zweifelnd], an solche Arten von Geschichten hatte ich jetzt eigentlich nicht gedacht. Es soll ja nicht zu journalistisch oder literarisch werden. D: Also, ich würde das jetzt nicht so kritisch sehen. Wissenschaftliche Publikationen sind doch dafür da, um wissenschaftliche Ergebnisse zu kommunizieren. Dafür gibt es einige Grundregeln. Zum Beispiel muss die Darstellung empirischer Ergebnisse nachvollziehbar sein, sie müssen methodisch begründet und Quellen nachgewiesen werden, etc. Aber warum sollten Ergebnisse immer in Form von Tabellen oder Falldarstellungen oder was auch immer präsentiert werden? Ich könnte mir gut vorstellen, dass auch ganz andere Darstellungsformen sinnvoll wären. In unterschiedlichen Disziplinen verwendet man doch schon seit längerem ganz verschiedene Darstellungsformen. C: Hm… Also, ich kann mir das gerade nicht so richtig vorstellen. Wie sollen unsere Ergebnisse denn als Märchen dargestellt werden oder als Kriminalgeschichte?

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Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten

D: Doch, doch, das geht… Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Ich denke gerade an unser Interview mit Amaré Issayu und an seine Erzählung, als er nach seinem langen Fluchtprozess in Deutschland ankam und ganz allein war. Wir könnten dies beispielsweise folgendermaßen nacherzählen: ‚Es war eiskalt, Amaré läuft allein um die Häuser. Er fühlt sich einsam. Vor Kälte bluten seine Finger und er weiß nicht, wohin er gehen soll…‘ So ähnlich erzählt er es auch. So könnte man sein damaliges Erleben und seine Gefühle vielleicht sogar eindrücklicher zur Geltung bringen! B: Super, das hört sich gut an. A: Oh je, ich dagegen bekomme gerade doch etwas Zweifel. B: Zugegebenermaßen ist das wirklich ein Experiment. Wir können es ja einfach mal versuchen und vielleicht müssten wir überlegen, was es denn für Darstellungsformen geben könnte. Es müssen ja auch nicht alle Kapitel im selben Stil geschrieben sein, ich fände es schön, wenn ganz verschiedene Arten des Schreibens darin Platz fänden. Wir haben so verschiedene Interviews und unterschiedliche Untersuchungsfokusse; orientiert an den Daten und an den Gegenständen könnten wir dies auch in der Form des Schreibens widerspiegeln. Ich bin einfach begeistert von der Idee! C: [lacht] Das merke ich! Also meinst du, es können auch ganz ‚normale‘, ‚klassische‘ wissenschaftliche Texte enthalten sein? Das fände ich beruhigend zu wissen, denn ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich dazu fähig bin, anders zu schreiben. Außerdem denke ich wirklich, dass es Themen gibt, die so besser zu bearbeiten sind. D: Auf jeden Fall! Denn es eignen sich ja auch nicht alle Daten für alle Darstellungsformen gleichermaßen. A: Ich muss gestehen, so ganz überzeugt bin ich von der ganzen Sache noch nicht. Aber vielleicht müssen wir es einfach mal ausprobieren. Vielleicht sollten wir das Experiment einfach mal wagen… Jede von uns könnte versuchen einen Text zu schreiben, am besten zu einem Thema, das sie spannend findet und an dem sie eine andere Darstellungsform ausprobieren möchte. B: Sehr gut! Dann würde ich mich der Analyse der Bedeutsamkeit von Häusern widmen. Ich könnte mir gut vorstellen, unsere Ergebnisse in Form einer Expertendiskussion zu präsentieren. Also, irgendwie eine Diskussion zwischen Theoretikerinnen und Theoretikern, die sich mit der Bedeutung von Dingen auseinandersetzen, und unseren Interviewten. C: Da ihr nicht locker lasst, muss ich mir wohl auch was einfallen lassen. Ich kann mir vorstellen, mich mit den Belastungen durch transnationale Verbindungen am Beispiel von Bahar Ceylan und Ada Cengiz zu beschäftigen. Mal sehen, was ich daraus machen kann… Vielleicht könnten die beiden ja in einen imaginierten Dialog treten. Aber ich versuche es einfach und schau mal, was in diesem Prozess entsteht. Es stellt wirklich eine Herausforderung dar, ich habe schon Respekt davor.

„Wie alles begann…“ – Eine Diskussion als Vor wor t

A: Oh je, oh je, das scheint ein Selbstläufer zu werden. Ich glaube, ich habe mich mit meinem Vorschlag zu weit aus dem Fenster gelehnt. Aber verrückterweise kommen mir weitere Ideen. Man könnte doch auch Ergebnisse als Tagebucheintragungen vorstellen. B: Ja, das kann ich mir auch gut vorstellen. Und was ich noch super fände, wäre, wenn wir auch unsere Diskussionsprozesse in die Darstellungen einbeziehen könnten. Wir haben doch viel diskutiert, waren uns oft nicht sicher, wie was zu interpretieren ist und wie wir es theoretisieren können, welche Begriffe wir verwenden sollen. Das könnte auch den Forschungsprozess selbst anschaulicher und für die Leserinnen und Leser plastischer nachvollziehbar machen. D: Ich finde das alles hervorragend! Ich glaube, ich würde mich dann gerne mal, um das grundsätzlich zu klären, der Frage widmen, wie sich schlüssig begründen lässt, warum sich andere Darstellungsformen von empirischen Ergebnissen zur Kommunikation wissenschaftlicher Resultate als geeignet erweisen, so dass wir einen theoretischen Ausgangspunkt haben. Na, dann wünsche ich viel Freude und Erfolg und bis demnächst dann, wenn wir uns unsere Versuche präsentieren! … 1 Jahr später … Liebe Leserinnen und Leser, in der vorliegenden Publikation sehen Sie, was aus unserem ‚Wagnis‘ geworden ist. Wir wünschen Ihnen viel Freude und Anregungen beim Lesen!

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Einleitung

Die Autorinnen begaben sich auf die Spuren transnationaler Lebenswelten im Kontext von Migration und Armut, die sie insbesondere aus der Perspektive von Bewältigungs- und Unterstützungsprozessen untersuchten. Dieser Forschungsfokus entwickelte sich aus den empirischen Befunden einer Vorgängerstudie zum Themenbereich „Migration, Armut und Bewältigung“ (Hollstein/Huber/Schweppe 2010). In dieser Studie deutete sich in den untersuchten Lebensgeschichten die Relevanz transnationaler Bezüge im Kontext der Lebensbewältigung an. So zeigte sich z.B. in einigen biografischen Erzählungen, wie lebensweltliche Bezüge, die nationalstaatliche Grenzen überschreiten, für Akteurinnen und Akteure1 erweiterte Handlungsoptionen zur Bewältigung prekärer Lebenssituationen in Deutschland bereitstellten. In anderen Fällen gingen mit grenzüberschreitenden Lebensbezügen hingegen Belastungen einher und immer wieder wurden spezifische Unterstützungsprozesse, die mit grenzüberschreitenden Beziehungskonstellationen und Alltagspraktiken verbunden waren, sichtbar. An diese Ergebnisse knüpften wir in einer Folgestudie an, die die Grundlage dieses Buches darstellt (vgl. auch Bender et al. 2012, 2013). Wie der Titel des Buches andeutet, untersuchten wir unterschiedliche transnationale Bezüge, die die Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten, die in Deutschland unter Bedingungen von Armut leben, prägen. Ausgehend von einem Verständnis transnationaler Lebenswelten als herzustellender und hergestellter Verflechtungszusammenhang unterschiedlicher (nationaler) Bezugssysteme richtete sich unser Blick dabei insbesondere auf die damit verbundenen Bewältigungsprozesse und die in ihnen eingelagerten Unterstützungsprozesse (s.u.). Der gewählte Titel dieses Buches „Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten“ spiegelt die intendierte Offenheit des betreffenden Forschungsprojektes wider: Ohne von vornherein auf spezifische transnationale Bezüge in den Lebenswelten der Akteurinnen und Akteure zu fokussieren, begaben wir 1 | Im Rahmen des Buches werden immer dann beide Geschlechter genannt, wenn es sich auf kein bestimmtes Genus bezieht. An jenen Stellen, an denen nur ein Genus steht, so ist auch nur dieses gemeint.

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Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten

uns in einem offenen Prozess auf die Suche nach transnationalen Verbindungen in der Bedeutsamkeit ihrer Alltäglichkeit sowie der Alltagsbewältigung.

Theore tische R ahmung : Tr ansnationalität – B e wältigung – soziale U nterstützung Mit dem Forschungsfokus dieser Studie schließen wir an ein Verständnis der „transnational studies“ an, welches transnationale Lebenswelten nicht (nur) als eine geografische Ausweitung von Handlungskontexten und Beziehungsgeflechten über den nationalen Rahmen hinaus versteht, sondern als einen über soziale Praktiken, Symbolsysteme und Artefakte (herzustellenden und hergestellten) Verflechtungszusammenhang unterschiedlicher (nationaler) Bezugssysteme (vgl. Pries 2008, 2010). Demnach sind Nationalstaaten und deren Grenzen nicht bedeutungslos (geworden), sondern greifen weiterhin tief in die Lebensverhältnisse von Menschen ein. Dabei können rechtliche, politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Grenzziehungen in den Alltagspraktiken der Akteurinnen und Akteure virulent und für sie bedeutsam bzw. folgenreich werden. In nationalstaatlich-grenzüberschreitenden Lebensbezügen werden Menschen entsprechend mit unterschiedlichen (nationalen) Referenzrahmen konfrontiert; sie sind in diverse Handlungskontexte bzw. Handlungsrahmen eingebunden, die keineswegs (immer) deckungsgleich sind. In ihnen zeigt sich „Nationales“ jeweils anders und sie werden mitunter machtvoll wirksam. Die damit einhergehenden Grenzziehungen bedürfen der Bearbeitung, um Inkompatibilitäten zu moderieren und auszugleichen (vgl. Mau 2007, S. 61). Sie erfordern Übersetzungs- und Adaptationsleistungen, um die unterschiedlichen Bezugsrahmen zu relationieren und miteinander verbinden zu können. Diese Bearbeitung und Verflechtung nationalstaatlicher Grenzziehungen werden in der Transnationalitätsforschung mitunter mit dem Begriff der Grenzarbeit beschrieben (Schröer/Schweppe 2013a, b). Entsprechend legen Studien dar, wie Alltagswelten durch unterschiedliche Arten von Grenzarbeit charakterisiert sind, in denen ‚Nationales‘ in unterschiedlichen Verflechtungen und Konstellationen be- und verarbeitet wird (vgl. hierzu auch Bender et al. 2014; Klein-Zimmer 2015). Durch und in transnationale(r) Grenzarbeit werden folglich nicht nur territoriale Grenzen überschritten, sondern unterschiedliche soziale, rechtliche, biografische und als kulturell gedeutete Zusammenhänge, die durch nationalstaatliche Grenzziehungen bedingt sind, bearbeitet und miteinander „verflochten“ (vgl. Mau 2007). Hierdurch werden soziale Beziehungen, Räume, biografische Verläufe, Identifikationen oder Zugehörigkeiten konstruiert, die jenseits nationaler Bezugssysteme liegen und gerade transnationale Lebenswelten charakterisieren.

Einleitung

Aus einer sozialpädagogischen Perspektive interessieren diese Herstellungsprozesse unter Einnahme einer Bewältigungsperspektive, die insbesondere Fragen der Handlungs(un)fähigkeit ins Zentrum stellt. Transnationale Lebenswelten sind weder per se belastend noch per se gewinnbringend. Sie tragen einerseits Potenziale der Erschließung neuer Optionen und der Erweiterung des Handlungskontextes (vgl. Mau 2007, S. 61) zur Lebensgestaltung und Lebensbewältigung in sich. Sie stellen andererseits aber auch hohe Bewältigungsanforderungen an Menschen. Entsprechend können sie riskant, belastend und überfordernd sein und Gefahren für die Handlungsfähigkeit nach sich ziehen. Dabei sind transnationale Lebenswelten nicht nur durch kog­nitive, emotionale und soziale Anforderungen, die sie an die Akteurinnen und Akteure stellen, gekennzeichnet (vgl. Koehn/Rosenau 2002), sondern insbesondere auch in den Kontext sozialstruktureller Lebensbedingungen und Lebenslagen eingebettet, die unterschiedliche Möglichkeitsräume für ihre Gestaltung und Bewältigung zur Verfügung stellen. Bei der Herstellung transnationaler Lebenswelten und darin eingelagerten Bewältigungsprozessen kann soziale Unterstützung eine wichtige Bedeutung einnehmen. Der Begriff der sozialen Unterstützung nimmt soziale Beziehungen und soziale Einbindungen in den Blick und untersucht deren Bedeutung zur Stärkung der subjektiven Handlungsfähigkeit und der alltäglichen Lebensbewältigung im Kontext von beeinträchtigenden und bedrohlichen sozialen Konstellationen und Erfahrungen ebenso wie ihre präventive Funktionen zur Vermeidung von Beeinträchtigungen und problematischen Lebensverläufen (vgl. Nestmann 2001). Das Konzept der sozialen Unterstützung begrenzt sich dabei keineswegs nur auf „an active interplay between a focal person and his or her support network“ (Vaux 1988, S. 29), sondern bezieht auch die rechtlichen, organisationalen und strukturellen Bedingungen mit ein, in denen die Akteurinnen und Akteure im Kontext von Unterstützungsbeziehungen und -strukturen handeln. In der sozialen Unterstützungsforschung geht es somit auch darum, soziale Konstellationen, soziale Netzwerke und Übergangskonstellationen, allgemein: soziale Prozesse der Stärkung der Handlungsmächtigkeit oder der Herstellung von Handlungsfähigkeit zu betrachten und diese in gesellschaftlichen und politischen Kontexten zu verorten (vgl. Homfeldt/ Schröer/Schweppe 2006). Die soziale Unterstützungsforschung fokussierte dabei lange Zeit auf Prozesse im geografischen Nahraum. Das Konzept der transnationalen sozialen Unterstützung (vgl. z.B. Homfeldt/Schröer/Schweppe 2006, 2008; Chambon/ Schröer/Schweppe 2012) ermöglicht es, auch über diesen Zusammenhang von geografischer Verortung und sozialer Unterstützung hinaus grenzüberschreitende Formen der sozialen Unterstützung zu analysieren. „In taking a social actors approach, transnational social support can be understood as a social process of appropriating and designing social worlds across national borders,

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Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten

in which support activities are performed in either direct or indirect ways.“ (Chambon/Schröer/Schweppe 2012, S. 3) An diese theoretischen Überlegungen lässt sich somit bei der Untersuchung von Unterstützungsprozessen in alltagsweltlichen Beziehungsnetzwerken sowie Bewältigungsformen, die die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten, anschließen.

M e thodisches V orgehen

der

S tudie

Die Studie wurde mit Hilfe erzählgenerierender Leitfadeninterviews durchgeführt. Im Anschluss an einen ersten offenen Teil, der ausgehend von einem durch die Interviewerinnen gesetzten Erzählstimulus2 erfolgte und in dem frei nach eigenen Relevanzsetzungen über grenzüberschreitende Bezüge im Leben der Interviewten erzählt werden konnte, wurden sodann zuvor überlegte Leitfragen zu unterschiedlichen Themenbereichen gestellt. Diese umfassten den Kontakt zu Personen oder Organisationen in anderen Ländern, die erfahrene und geleistete Unterstützung über Ländergrenzen hinweg ebenso wie Alltagspraktiken, Gedanken sowie subjektiv bedeutsame Materialitäten und Symbole, die den nationalen Rahmen überschreiten. Ebenso wie der anfängliche Erzählstimulus wurden auch die späteren Fragen zu den genannten Themenkomplexen möglichst erzählgenerierend formuliert. Ein solches Vorgehen bietet sich an, da Bewältigungshandeln, Unterstützungsprozesse und die damit verbundenen Ressourcen, Motive und Herausforderungen den Betroffenen keineswegs immer eigentheoretisch verfügbar sind, was eine direkte Abfrage erschwert. Daher erweist sich eine Erhebung mittels einer solchen qualitativen Interviewvariante, in der die Befragten Gelegenheit bekommen, relativ frei über ihre Weltsicht, Erfahrungen und Kontexte zu berichten, als besonders geeignet. Interviewt wurden Personen, die selbst oder deren Eltern nicht in Deutschland geboren wurden und unter Bedingungen knapper finanzieller Mittel leben. Diese Zielgruppe ist – wie die Fragestellung des Forschungsprojekts – Ergebnis der anfangs genannten Vorgängerstudie zu Bewältigungsanforderungen und -prozessen unter Bedingungen von Migration und Armut, welche die Relevanz transnationaler Bezüge im Kontext der Lebensbewältigung aufzeigte (vgl. Hollstein/Huber/Schweppe 2010). Einige der Texte in diesem Buch werden zeigen, dass und wie die Frage nach der Bedeutung transnatio2 | Es handelte sich dabei um folgenden Erzählstimulus: „Wir interessieren uns für die Lebenssituation von Menschen, die selbst oder deren Eltern nicht in Deutschland geboren wurden. Vor allem interessieren wir uns für die Verbindungen zum Herkunftsland oder zu anderen Ländern. Darum bitte ich Sie darum, mir davon zu erzählen. Ich höre Ihnen erst einmal ruhig zu.“

Einleitung

naler Verbindungen im Kontext der alltäglichen Lebensbewältigung durch die geringe Ausstattung mit finanziellen Ressourcen eine besondere Zuspitzung erfahren kann. Insgesamt wurden 14 Interviews mit Migrantinnen und Migranten aus verschiedenen Ländern in Afrika (Senegal, Äthiopien, Marokko, Kenia), aus Asien (Süd-Korea, Irak, Iran), aus Europa (Russland3 , Polen, Kroatien) und aus Lateinamerika (Peru) geführt, die ihre Lebenssituation als arm deuteten. 4 Die Interviews wurden in Deutsch und in Einzelfällen in Englisch erhoben, nach dem Verfahren des theoretical samplings (Glaser/Strauss 1967) ausgewählt und sodann nach den Regeln mittlerer Genauigkeit transkribiert. Demnach fanden Pausen, Dialekte, Versprecher und andere typische Sprechweisen (betont, leise, fragend) genauso Berücksichtigung wie paralinguistische Elemente (lachen, stöhnen, seufzen); auf die Wiedergabe der Intonation einzelner Silben und anderer spezifischer Aspekte von Sprach- und Satzmelodie wurde jedoch verzichtet. Ausgewertet wurden die transkribierten Interviews in Orientierung am Stil der Grounded Theory-Methodologie (GTM) im Anschluss an Strauss und Corbin (1996). Während das Vorgehen der GTM sich üblicherweise durch ‚Sprünge‘ in den zu analysierenden Texten auszeichnet, erfolgte die Auswertung der Interviews jedoch sequenzanalytisch ihrem chronologischen Auf bau entsprechend nacheinander. Dabei wurden die in der Analyse eruierten Dimensionen in Bezug auf die Antworten der Befragten sogleich in Kodes und daraufhin in Kategorien überführt. Durch dieses Vorgehen wurde es möglich, sowohl den individuellen Einzelfall zu rekonstruieren als auch abstrakte Kategorien zu generieren. Diese Vorgehensweise und deren Ergebnisse spiegeln auch die im Folgenden vorgestellten Darstellungsformen insofern wider, als die rekonstruierten Ergebnisse anhand der (erzählten) Geschichten von Personen präsentiert/erklärt werden und sodann anhand der eruierten zentralen Kategorien weiter theoretisiert werden.

3 | Während Russland geopolitisch zu Europa gezählt wird, ist es geografisch Eurasien, da Großteile des Flächenraums zu Asien gehören, jedoch bis zum Ural die Landesfläche in Europa liegt. 4 | Mit dieser Vorgehensweise, das subjektive Armutsempfinden als Auswahlkriterium zu wählen, kann nicht nur dem subjektiven Erleben der Befragten in besonderer Weise Rechnung getragen werden. Überdies wird diese Vorgehensweise insofern dem Anspruch eines relativen Armutsbegriffs gerecht, demzufolge eben keineswegs nur die monetäre Dimension, sondern auch nicht-ökonomische und immaterielle Dimensionen zu berücksichtigen sind, um Unterversorgungen und beschränkte Handlungsspielräume in verschiedenen Lebensbereichen und die Multidimensionalität und Heterogenität von Armut in den Blick zu nehmen (vgl. Hollstein/Huber/Schweppe 2010).

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Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten

Ü ber I nhalte und deren P r äsentationsformen D as „W ie , W as und W arum “ des B uches

oder :

Die Ergebnisse der Studie zeigen insgesamt den Facettenreichtum transnationaler Lebensbezüge, die in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen und Lebensstationen zum Tragen kommen. Sie werden auf vielfältige Weise hergestellt und gehen im Rahmen ihrer Ambivalenz von Ent- und Belastung mit verschiedensten Unterstützungsbedarfen und Unterstützungsleistungen einher. Trotz dieses Facettenreichtums zeigt sich jedoch, dass der Familie eine hervorgehobene Bedeutung zukommt. Grenzüberschreitende Familienbeziehungen sowie die vielfältigen und auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten familialen Unterstützungen über nationale Grenzen hinaus zeigen die Relevanz der Familie im Rahmen der grenzüberschreitenden Lebenszusammenhänge der untersuchten Personengruppe. Allerdings zeigt sich auch, dass ein transnationaler Alltag keineswegs ausschließlich durch Grenzen überspannende soziale Beziehungen konstituiert werden kann, sondern im Rahmen der Alltagspraktiken von Akteurinnen und Akteuren auch Materialitäten in verschiedenster Form von zentraler Bedeutung sind. Sie prägen nicht nur transnationale soziale Unterstützungsformen, sondern erweisen sich auch im Kontext individuellen Bewältigungshandelns als maßgeblich. Für die Konstruktion von Heimat im transnationalen Raum – ein Thema, das sich in vielen Interviews durchzog – kommt ihnen eine besondere Bedeutung zu. Unsere Ergebnisse werden wir im Folgenden in Form eines „wissenschaftlichen Lesebuchs“ darlegen, das sich in der Präsentation von empirischen Forschungsergebnissen von anderen, üblicheren Darstellungsweisen unterscheidet. Beim sozialwissenschaftlichen Schreiben – wie bei wissenschaftlichem Schreiben im Allgemeinen – handelt es sich um ein Genre, das strengen, klar nachvollziehbaren Regeln unterliegt. Formale Vorgaben sind beispielsweise ein klarer, argumentationslogischer Auf bau der wissenschaftlichen Arbeit in sinnvolle Abschnitte, die Absicherung der Nachvollziehbarkeit des methodischen Vorgehens durch die Leserinnen und Leser sowie die Sicherstellung der Möglichkeit, präsentierte Inhalte und Ideen auf ihre Referenz bzw. ihren Ursprung zurückzuführen. Diesbezüglich gibt es klare Vorschriften zur stringenten Angabe von Literaturangaben, Zitationen, Belegen von Grafiken, Bildern und sonstigen Daten. Sie stellen den kleinsten gemeinsamen Nenner von einer größeren Vielfalt an Vorgaben dar. Nicht zuletzt, um den Eigenanteil von Arbeiten durch die Autorinnen und Autoren nachvollziehen zu können sowie als Gütekriterien sozialwissenschaftlichen Arbeitens und Schreibens, sind solche Reglementarien unverzichtbar. Neben den dominierenden Darstellungsmodi wissenschaftlichen Schreibens haben sich auch alternative sozialwissenschaftliche Schreibformen insbesondere im qualitativen Forschungsparadigmen entwickelt. Exemplarisch

Einleitung

zu nennen sind ethnografische Studien, die in verschiedenen Variationen ethnografischen Schreibens präsentiert werden. Mit der Entscheidung für das eine oder andere Genre ethnografischen Schreibens geht auch einher, dass man sich in unterschiedlicher Weise als Autorin oder Autor präsentiert, die Leserinnen und Leser je verschieden adressiert und auf je andere Weisen Plausibilitäten erzeugt (vgl. Breidenstein u.a. 2013, S. 178). An solche Überlegungen knüpfen wir mit der Idee eines wissenschaftlichen Lesebuches an, das im Vergleich zu bekannteren und üblicheren Präsentationsformen empirischer Forschungsergebnisse einen anderen Weg wählt. Dies betrifft zum einem den Auf bau des Buches. Der Metapher des Kaleidoskops folgend, das ein Bild und das Licht, das auf es fällt – oder hier: ein Thema, das der transnationalen Lebenswelten – in viele verschiedene Facetten bricht, und so Einblicke in seine Vielseitigkeit gewährt, folgt der Auf bau des Buches keiner linearen, aufeinander auf bauenden Chronologie, d.h. einer im sukzessiven Lesen der einzelnen Kapitel verstehbaren Logik. Vielmehr können die Leserinnen und Leser – einem Lesebuch gleich – quer lesen und quer denken; die einzelnen Beiträge stehen nicht nacheinander, sondern nebeneinander. Sie können einzeln und für sich gelesen werden, da sie in sich geschlossen und verstehbar gestaltet sind. Gleichzeitig enthalten sie jedoch auch inhaltliche Links zu anderen Kapiteln des Buches, sodass einzelne Themen, die vielfach für transnationale Lebenswelten als bedeutsam erscheinen, von den Leserinnen und Lesern mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten in den einzelnen Beiträgen verfolgt werden können. Zum anderen werden die Ergebnisse in Form von unterschiedlichen Genres des Schreibens präsentiert. An die Seite typischer Texte sozialwissenschaftlichen Schreibens treten Darstellungsformen wie Erzählungen, Dialoge und Diskussionen, durch die sowohl die Ergebnisse, als auch Reflexionen und Eindrücke der Forscherinnen dargelegt werden. Die in diesem Buch gewählte Präsentationsform zeichnet sich somit durch eine Kombination von unterschiedlichen Möglichkeiten wissenschaftlichen Schreibens aus. Die jeweilige Darstellungsform wurde primär in Abhängigkeit von dem betrachteten thematischen Schwerpunkt und dem dabei von uns gesetzten Fokus der Wissensvermittlung gewählt. Mitunter findet dabei die in den entsprechenden Interviewpassagen dominierende Textsorte und die dabei deutlich werdende Inszenierung der befragten Person Berücksichtigung. So wird zum Beispiel auf die Form des Tagebuches zurückgegriffen, um die aus den Interviews rekonstruierten Belastungen darzulegen, die Akteurinnen und Akteure durch den Erhalt finanzieller Unterstützungen im Rahmen transnationaler Familien erleben und erfahren (siehe das Kapitel „Ich möchte selbst durchkommen“). Als spezifische Form der Selbstzuwendung erwies sich das Genre ‚Tagebuch‘ hierfür als besonderes geeignet, um die subjektiven Erlebnisgehalte und Gefühle, aber auch die spezifischen Auseinanderset-

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Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten

zungs- und Bewältigungsformen zu vermitteln. So zeichneten sich die dem Kapitel zugrunde gelegten Interviewdaten zu dieser Thematik durch einen starken Reflexionsgehalt aus. Der Rückgriff auf eine Expertendiskussion bot sich dagegen an, um die in den Interviews deutlich gewordene Bedeutung des eigenen Hauses bzw. eigener Häuser in transnationalen Lebenswelten aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und trug zudem dem vom Befragten eingenommenen Expertenstatus in besonderer Weise Rechnung (siehe das Kapitel „Das wartende Haus“). Dem Ziel qualitativer Interviews entsprechend, die Befragten zur Narration anzuregen, dominierte in den Interviewdaten die Textsorte der Erzählungen. Entsprechend oft werden auch in diesem Buch die Ergebnisse ‚erzählt‘. Gleichzeitig werden hierin die generierten Erkenntnisse und Theoretisierungen – gelegentlich auch unter Berücksichtigung ihres Herstellungsprozesses – eingeflochten. Diese werden – ganz im Stil der Grounded Theory-Methodologie – an dramaturgisch verdichteten Stellen eingefügt, d.h. dort, wo sich für die Leserschaft Fragen nach dem ‚Warum?‘ oder ‚Wie?‘ eröffnen.5 Strauss/ Corbin (1996) fordern die Forschenden dazu auf, dass sie zum Auf brechen der Daten „W-Fragen“ an das Material stellen. Während die Leserin oder der Leser sich diese Fragen noch stellt und weiter liest, werden ihnen bereits die Antworten der Forschenden angeboten, die an all jenen dramaturgisch verdichteten Stellen der Erzählung präsentiert werden. Diese wissenschaftliche Schreibweise soll den Leserinnen und Lesern im Leseprozess gelegentlich eine Teilnahme an den prinzipiell kontingenten Entstehungsprozessen der qualitativen Datenanalysen und andere Einbezugnahmen in sozialwissenschaftliche Forschungsprozesse ermöglichen. Denn so verschieden wie die geführten Interviews, die Interviewsituationen, die Interaktionen zwischen den Interviewten und der Interviewerin, durch die letztlich die Interviews produziert wurden, sind, so unterschiedlich sind auch die Interpretations- und Analyseprozesse der Forscherinnen und Forscher. Die vor der schriftlichen Präsentation von Studien stattgefundenen Interaktions- und Forschungsprozesse finden oft durch separate Kapitel Eingang in Publikationen, in denen beispielsweise das methodische Vorgehen, bei teilnehmenden Beobachtungen Besonderheiten und Beschaffenheit des Feldzugangs und im Rahmen von Interviewforschung oft Kontaktaufnahmen mit Interviewten sowie die Beteiligung der Forschen5 | Dass diese Fragen sich im Leseprozess eröffnen, liegt zum einen darin begründet, dass der und die Interviewte über ein unterschiedliches Wissen verfügt als die Leserinnen und Leser, was in der hier vorliegenden Erzählung ebenso wie in der Originalerzählung deutlich und im Forschungsprozess rekonstruiert wurde. Zum anderen wird mithilfe spezifischer Schreibtechniken, die im Modus narrativen Schreibens anwendbar werden, verdeutlicht, dass es sich hierbei um für die Forschenden interessante Stellen handelt, die ausführlich analysiert wurden.

Einleitung

den an der Datengenerierung durch Forschungstagebücher oder Beobachtungsnotizen über Settings und Sonstiges notiert werden. Eher selten in den Blick, und falls doch, mit dem Fokus auf methodische Gesichtspunkte, geraten bei diesen Publikationen im Stile klassischen sozialwissenschaftlichen Schreibens die Analyseprozesse, d.h. die konkrete Beschäftigung der Forscherinnen und Forscher mit den empirischen Daten jenseits methodischer Überlegungen. Dabei handelt es sich um ein Aussparen eines (die Leserinnen und Leser möglicherweise interessierenden) Ausschnittes des Forschungsprozesses. Insgesamt werden somit Darstellungsformen gewählt, die nicht nur auf ganz unterschiedliche Genres des Schreibens zurückgreifen, sondern auch Daten und Datenanalyse auf besondere Weise verknüpfen und die Leserinnen und Leser am Forschungs- und Analyseprozess verstärkt teilhaben lassen, ohne auf die klassischen Formen und auch Kriterien des wissenschaftlichen Schreibens zu verzichten. Dieses Buch hätte nicht ohne die Hilfe und Unterstützung vieler Personen realisiert werden können. Besonderer Dank gilt dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz6, das die zugrunde liegende Studie im Rahmen des Forschungsclusters „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und Soziale Netzwerke“ an den Universitäten Mainz und Trier finanziell gefördert hat. Herzlich bedanken möchten wir uns bei den Personen, die sich für ein Interview bereit erklärt haben. Unser Dank gilt auch dem Transcript-Verlag für die Aufnahme dieser Publikation in sein Verlagsprogramm. Andreas Herrgen möchten wir für die Bereitstellung des Coverbildes und Christian Blättel für dessen Digitalisierung herzlich danken. Schließlich sei Andrea Ertl für das zuverlässige und sorgfältige Korrekturlesen vielmals gedankt.

L iter atur Bender, Désirée/Duscha, Annemarie/Hollstein, Tina/Huber, Lena/KleinZimmer, Kathrin/Schmitt, Caroline (2014): Grenzwissen und Wissensgrenzen. Ein Ausblick auf Prozesse des ,doing boundaries‘ und deren Überschreitung. In: Dies. (Hg.): Orte transnationaler Wissensproduktion. Sozial- und kulturwissenschaftliche Schnittmengen. Weinheim, S. 238246. Bender, Désirée/Hollstein, Tina/Huber, Lena/Schweppe, Cornelia (2012): Migration Biographies and Transnational Social Support: Transnational Family Care and the Search for ,Homelandmen‘. In: Chambon, Adrienne/

6 | Heute (2014) Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur.

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Schröer, Wolfgang/Schweppe, Cornelia (Hg.): Transnational Social Support. New York, S. 129-148. Bender, Désirée/Hollstein, Tina/Huber, Lena/Schweppe, Cornelia (2013): „Das transnationale Wohnzimmer“ – Transnationale soziale Räume und die Transnationalisierung des Alltags durch Medien. In: Herz, Andreas/ Olivier, Claudia (Hg): Transmigration und Soziale Arbeit – Ein öffnender Blick auf Alltagswelten. Grundlagen der Sozialen Arbeit. Band 30. Baltmannsweiler, S. 145-161. Breidenstein, Georg/Hirschauer, Stefan/Kalthoff, Herbert/Nieswand, Boris (2013): Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. Konstanz/München. Chambon, Adrienne/Schröer, Wolfgang/Schweppe, Cornelia (2012) (Hg.): Transnational Social Support. New York. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L. (1967): The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research. New York. Hollstein, Tina/Huber, Lena/Schweppe, Cornelia (2010): Migration, Armut und Bewältigung. Eine fallrekonstruktive Studie. Weinheim/München. Homfeldt, Hans Günther/Schröer, Wolfgang/Schweppe, Cornelia (2006): Transnationalität, soziale Unterstützung, agency. Nordhausen. Homfeldt, Hans Günther/Schröer, Wolfgang/Schweppe, Cornelia (2008) (Hg.): Transnationalität und Soziale Arbeit. Herausforderungen eines spannungsreichen Bezugs. Weinheim/München. Klein-Zimmer, Kathrin (2015): TRANSformationen. Lebenswelten junger Erwachsener im Kontext von Generation und Migration. Eine biographischethnographische Studie. Weinheim/München. Koehn, Peter H./Rosenau, James N. (2002): Transnational Competence in an Emergent Epoch. In: International Studies Perspectives 3, S. 105-127. Mau, Steffen (2007): Transnationale Vergesellschaftung. Die Entgrenzung sozialer Lebenswelten. Frankfurt am Main/New York. Nestmann, Frank (2001): Soziale Netzwerke – Soziale Unterstützung. In: Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hg.): Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied, S. 1684-1693. Pries, Ludger (2008): Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Frankfurt am Main. Pries, Ludger (2010): Transnationalisierung. Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung. Wiesbaden. Schröer, Wolfgang/Schweppe, Cornelia (2013a): Die Transnationalität sozialer Dienstleistungen – Handlungsfähigkeit (Agency) als Grenzarbeit in transnationalen Alltagswelten. In: Graßhoff, Gunther (Hg.): Adressaten, Nutzer, Agency: Akteursbezogene Forschungsperspektiven in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden, S. 243-254. Schröer, Wolfgang/Schweppe, Cornelia (2013b): Transnationales Wissen und Soziale Arbeit – Ein Ausblick. In: Bender, Désirée/Duscha, Annemarie/

Einleitung

Huber, Lena/Klein-Zimmer, Kathrin (Hg.): Transnationales Wissen und Soziale Arbeit. Weinheim/Basel, S. 251-254. Strauss, Anselm L./Corbin, Juliet M. (1996): Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim. Vaux, Alan (1988): Social Support. Theory, Research, and Intervention. New York.

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I. S olidaritätskonstruktionen und Unterstützungssysteme

„Heimatlandmänner“ als Unterstützungssystem in der Migration: Über Glück und Selbstverständlichkeiten des Erhalts sozialer Unterstützung Im Folgenden wird die Migrationsgeschichte von Amaré Issayu, einem ehemaligen Flüchtling aus Äthiopien, nacherzählt und rekonstruiert. Dabei wird insbesondere auf unterschiedliche soziale Unterstützungsformen und -prozesse fokussiert. In der Darstellung kommt zum einen der Interviewpartner Amaré Issayu zu Wort, indem Originalzitate paraphrasiert werden.1 Zum anderen wird die Erzählung immer wieder durch interpretative Kommentare unterbrochen. Auf diese Weise sehen die Leserinnen und Leser den rekonstruktiven Forschungsprozess im Leseprozess widergespiegelt, da die Forschenden in ihrem wissenschaftlichen Schreiben die biografischen und sich prozessual vollziehenden Erfahrungen des Interviewten in die Präsentation ihrer Ergebnisse einbinden. Die Narrationen von Amaré Issayu können auf diese Weise als Geschichte erfahren werden, so wie sie auch die Forschenden von ihm präsentiert bekamen. Zugleich erhalten die Leserinnen und Leser einen Einblick in die Analyse der Narration Amaré Issayus. Die folgende Darstellung beinhaltet demnach sowohl beschreibende als auch analytische Dimensionen. Sie ist eine Erzählung zweiten Grades2 , indem sie 1 | Im Zuge der Paraphrasierung wurden die Originalzitate z.T. grammatikalisch und den Dialekt betreffend minimal an solchen Stellen verändert, an denen sonst nicht auf Anhieb eine Verständlichkeit gewährleistet gewesen wäre. 2 | Der erkenntnistheoretische Hintergrund, der sich in dieser Formulierung widerspiegelt, geht auf Alfred Schütz zurück, dessen Verdienst es ist, die Wissenschaft lediglich als einen Sinnbereich unter anderen aufzufassen. Schütz’ zentrale Arbeitsergebnisse für den vorliegenden Kontext lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: „Im praktischen Umgang mit Objekten und in der Interaktion mit Mitmenschen eröffnet sich dem Menschen der Zugang vom Verstehen von Welt. Der Sinn, den Menschen der Wirklichkeit, der sozialen Welt und schließlich ihrem eigenen Handeln bzw. ihren einzelnen Handlungen zuschreiben, entsteht somit prinzipiell aus ihrem Handeln selbst –

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1.  fokussierter und gestraffter ist, sich also an spezifischen Themen orientiert,3 2. im biografischen Tempus vor- und zurückgreifend vollzogen wird, 4 3. zusammenfassende Beschreibungen enthält, die in Orientierung an der Originalerzählung die Nacherzählung der Forscherinnen und Äußerungen des Interviewten im Original-Ton miteinander verbindet, 4. z ugleich Repräsentation des Datengegenstandes und der Datenanalyse ist. Die Differenzierung in Gegenstand und Analyse wird im Schriftbild gekennzeichnet. Die analytischen Sequenzen, in denen die Ordnungsschemata der vorangestellten themenfokussierten Narrationen explizit gemacht werden, sind in ihrer Zeichenformatierung nicht hervorgehoben, während die Paraphrasierungen des Interviews im Kursivdruck erfolgen. Mitunter werden in den analytischen Sequenzen Fragen formuliert, die sich aus den bisherigen Betrachtungen für weitere Untersuchungen als anschlussfähig und interessant erweisen. Im Weiteren kann die Migrationsgeschichte Amaré Issayus anhand zentraler Situationen, in denen er soziale Unterstützung benötigte, suchte und/oder sie erhielt, miterlebt und damit auch nachvollzogen werden.

H auptsache r aus! D ie S chicksalsgemeinschaf t der „ jungen L eute “ und A maré I ssayus F luchtversuche Als ich 26 Jahre alt war, war es endlich soweit. Ich konnte mein Heimatland verlassen. Nicht dass ihr denkt, ich hätte das gerne getan. Wer verlässt schon gerne das Land, in dem er geboren wurde, aufgewachsen ist und in dem seine Familie lebt?5 Aber meine Heimat, Äthiopien, war von kommunistischer Politik bestimmt. Junge Leute wurden überhaupt nicht akzeptiert; wir hatten überhaupt keine Möglichkeit, miteinander zu reden oder uns zu treffen. Sie wurden einfach in den Krieg geschickt. Wie bei allen jungen Leuten war auch meine Angst groß, jederzeit geund im Rückblick darauf.“ (Endreß/Renn 2004, S. 21) Damit handelt es sich um eine Einsicht, die auch Auswirkungen auf weite Bereiche der Theorie- und Methodenentwicklung in der Erziehungswissenschaft und der Sozialen Arbeit hatte, z.B. für die Biografieforschung (vgl. Schütze 2006, S. 213). 3 | Dies bedeutet zugleich, dass viele weitere von Amaré Issayu angesprochene biografische Erfahrungen und Ereignisse hier nicht thematisiert werden. 4 | D.h., es werden von ihm erzählte, in der Vergangenheit liegende biografische Erfahrungen an einzelnen thematischen Knotenpunkten zusammengeführt. Dabei werden auch narrative Verdichtungen innerhalb der Erzählung Amaré Issayus berücksichtigt. 5 | Zur Pluralität der möglichen Bedeutungen von Heimat für Subjekte, siehe auch das Kapitel „Die Heimat ruft immer“ in diesem Buch.

„Heimatlandmänner“ als Unterstüt zungssystem in der Migration

zwungen werden zu können, in den Krieg zu müssen. Zu der Zeit war ich Lehrer an einer katholischen Missionsschule. Mein Einkommen war recht gut und deshalb war es mir möglich, den Geldbetrag für eine gefälschte Einladung an ein amerikanisches College in Rom zu zahlen. Nur so – da war ich mir sicher – konnte ich die verhasste politische Situation meines Landes hinter mir lassen. Jedoch war dies nicht das einzige, was ich zurück lassen würde. Zu dieser Zeit hatte ich bereits eine eigene Familie gegründet. Ich hatte nur Geld für ein einziges Flugticket und so musste ich meine schwangere Frau und mein kleines Kind in Äthiopien lassen. Ihr könnt euch vorstellen, wie schwer mir dies fiel. Aber ich wusste, dass ich keine andere Wahl hatte, um der unerträglichen Situation in Äthiopien zu entkommen. Aber es kam ganz anders als gedacht. Mein Versuch, mit dem gefälschten Einladungspapier das Land zu verlassen, misslang. Dennoch musste ich es weiter versuchen, da die Gefahr einfach zu groß war, mein Leben im kommunistischen Krieg zu lassen oder im Gefängnis zu landen. Und wer würde dann für meine Familie sorgen? Egal wie und wohin: Ich musste aus Äthiopien rauskommen. Ja, und mit 26 Jahren war es endlich soweit. Mir gelang die Flucht. Und ich kann jetzt noch kaum glauben, dass ich in Griechenland reingelassen wurde!

O rientierungslos in G riechenl and und die S uche nach „H eimatl andmännern “6 Als ich am Flughafen in Griechenland ankam, stand ich dann erstmal da. Ich hatte keine Ahnung von gar nichts, hatte keine Verwandte, kannte keine Leute, nichts. In dieser Situation fiel mir nur eines sofort ein: Mit dem Taxi in die Stadt fahren! Gesagt, getan. Aber als ich so im Taxi saß, bekam ich Angst vor dem Taxifahrer, der sehr kräftig aussah und mich schließlich dazu überredete, mich zu einem Restaurant mit angeschlossener Pension in der Nähe des Flughafens zu fahren. Dass sich diese erste Anlaufstelle bzw. deren Besitzer – ein Grieche und dessen österreichische Frau – als Glück erwiesen, wurde mir kurze Zeit später bewusst. Denn als ich nach einer Woche in der Pension der österreichischen Frau mitteilte, dass ich nun kein Geld mehr habe und in der Stadt meine Heimatleute irgendwo suchen müsse, bot 6 | Bei dem Begriff der „Heimatlandmänner“ oder auch der „Heimatleute“ handelt es sich um synonyme Begriffe, die Amaré Issayu in dem Interview, das die empirische Datengrundlage dieses Textes darstellt, selbst verwendete. Da die Begrifflichkeiten letztendlich für ein bestimmtes Unterstützungssystem stehen, werden diese im Folgenden nicht mehr in Anführungszeichen aufgeführt, obwohl es sich hierbei stets um direkte Zitate bzw. die von Amaré Issayu entwickelten Begrifflichkeiten und damit verbundenen Vorstellungen handelt. Welche Charakteristika das Unterstützungssystem der Heimatlandmänner bzw. Heimatleute aufweist und welche Erwartungen damit verbunden sind, wird im Rahmen des Textes ausführlich erläutert.

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mir die Frau an, für Kost und Logis gemeinsam mit ihr die Zimmer zu richten und das Frühstück für die Gäste vorzubereiten. Die Zeit in der Pension war schön, aber nach einem Monat entschloss ich mich dazu, zu gehen. Als die österreichische Frau mich fragte, wohin ich wolle, antwortete ich ihr, dass ich jetzt in die Stadt gehen wolle, um nach Heimatlandmännern zu suchen, und mich dort auch an die UN wenden werde, um in ein anderes Land zu kommen. Denn in Griechenland gab es keine Arbeit für Männer, eigentlich gab es überhaupt keine Arbeit. Die Erzählung macht die Fremdheitsgefühle Amaré Issayus nach der Ankunft in einem anderen Land deutlich. Diese Gefühle werden vor allem durch die Abwesenheit vertrauter Menschen und mangelnde landesspezifische Kenntnisse hervorgerufen. In dieser Situation fällt ihm unmittelbar ein, mit dem Taxi in die Stadt zu fahren. Während anfangs noch nicht deutlich wird, was Amaré Issayu sich mit der Ankunft in der Stadt erhofft, zeigt sich im späteren Verlauf seiner Erzählung die Assoziation der Lokalität Stadt mit der sicheren Annahme des dortigen Antreffens von Heimatlandmännern. An der Verwendung der Begriffe Heimatleute bzw. Heimatlandmänner fällt auf, dass Herr Issayu eine Gruppe imaginiert bzw. antizipiert, die durch die gleiche Herkunft (aus der Heimat) und demselben aktuellen Aufenthaltsort konstituiert wird. Konkreter nimmt er an, dass sie im Stadtzentrum zu finden seien und dort entsprechend ein Ort potenzieller Begegnung sei. Angesichts der bisherigen Erzählung stellen sich folgende Fragen: Wieso will Amaré Issayu in die Stadt, um Heimatleute zu treffen bzw. warum nimmt er an, dass sich diese in der Stadt befinden? Was erwartet er sich von ihnen, so dass er sogar bereit ist, das widerfahrene „Glück“ der aktuellen Sicherheit (Kost und Logis gegen seine Arbeit) gegen eine ungewisse Suche nach Heimatlandmännern aufzugeben? Entgegen seiner eigenen Auskunft am Anfang seiner Erzählung, orientierungslos zu sein und weder über Verwandte noch über „Leute“ zu verfügen, ist er überzeugt, zu wissen, wo er Heimatlandmänner finden kann und demnach auch, wo er nach ihnen suchen muss. Entsprechend deutet nicht nur seine Absicht, in der Stadt nach Heimatleuten zu suchen, sondern vor allem die Tatsache, mit welcher Sicherheit er davon ausgeht, diese auch dort anzutreffen, auf ein bestimmtes Wissen Amaré Issayus hin. Dabei zeigt sich sowohl zu Beginn der Erzählung als auch hier: Die Suche nach Heimatleuten in der Stadt geschieht in der Ankunftssituation im Aufnahmeland, die durch eine deutliche Begrenzung des Handlungsrahmens geprägt ist und in der Amaré Issayu sich mit der Notwendigkeit konfrontiert sieht, sich neue Handlungsoptionen zu eröffnen. Die Aufgabe der als angenehm beschriebenen Zeit in der Pension und der auf Bekanntschaft beruhenden sozialen Beziehung zur Pensionsbesitzerin für einen neuen unsicheren Weg in die Stadt, in der er ihm noch unbekannte Heimatlandmänner zu treffen erhofft, weist auf Folgendes hin: Auf

„Heimatlandmänner“ als Unterstüt zungssystem in der Migration

Seiten Amaré Issayus scheint eine große Zuversicht darüber zu bestehen, dass Heimatlandmänner über Möglichkeiten verfügen, ihm weiterzuhelfen. Diese Annahme, von Heimatleuten unterstützt zu werden, zeigt sich in der weiteren Erzählung immer wieder. Ich ging dann damals zur italienischen Botschaft in Athen, um dort ein Visum zu bekommen. Aber die Botschaft hat das abgelehnt. So blieb mir nichts anderes übrig als zu warten. Ich habe gewartet und gewartet. In der Stadt haben wir zu viert ein Zimmer gemietet. Das war unten in einem Keller. Wir haben uns selbst verpflegt. Ein paar Wochen später habe ich eine Frau aus Äthiopien kennengelernt, die aber in Griechenland aufgewachsen ist. Diese Frau hat uns zu sich eingeladen, wir konnten bei ihr immer etwas essen oder trinken. Diese Frau ist also in Griechenland aufgewachsen, hat aber dunkle Haut wie ich und sprach auch meine Sprache. Ich ging oft zu ihr nach Hause und sie versorgte uns mit Zigaretten, Eis oder Sonstigem. Später fragte sie mich: ‚Willst du nach Deutschland gehen?‘, und ich dachte: ‚Warum nicht?‘ Schließlich waren in Griechenland über 3.000 Leute, die überhaupt keine Chance hatten, irgendwo hinzugehen. Sie mussten dort bleiben und das Geld, das sie von der UN bekamen, reichte überhaupt nicht. Das war eine sehr schwierige Zeit und nachdem ich mit der Frau gesprochen habe, fragte ich mich: ‚Was mache ich hier eigentlich?‘ Sie nahm meinen Pass und gab mir 400 Dollar bar in die Hand und wir gingen zusammen zur deutschen Botschaft in Athen. Ich wurde interviewt und musste z.B. die Frage beantworten: ‚Was willst du dort machen, in Deutschland? Urlaub machen oder jemanden besuchen?‘ In so einem Moment muss man einfach lügen. Sonst hat man keine Chance! Also habe ich gelogen, weil ich ja keinen Urlaub in Deutschland machen, sondern bleiben wollte. Da hat man keine Möglichkeit, ich musste lügen, ich hatte keine andere Chance, als von Urlaub zu sprechen. Und weil man das nur machen kann, wenn man Geld hat, fragten sie mich: ‚Wie viel Geld hast du noch?‘ Ich antwortete: ‚400 Dollar‘. Sie schauten meinen Pass an und gaben mir dann das Visum für einen Monat oder so. Und Gott sei Dank bin ich dann nach Deutschland geflogen! In dieser Erzählpassage werden soziale Unterstützungsleistungen deutlich, die Amaré Issayu von einer äthiopischen Frau erhielt, die in Griechenland aufwuchs. Es sind zwei zentrale Differenzen zu den Heimatlandmännern auszumachen: Zum einen handelt es sich um eine Frau und zum zweiten um eine nicht in ihrem eigenen (und Amaré Issayus) Herkunftsland aufgewachsene Person. Obwohl Amaré Issayu diese Differenzen deutlich macht, benennt er eine Nähe zwischen sich und der Unterstützungsleistenden über die Gemeinsamkeiten von Hautfarbe und Geburtsland (Äthiopien). Auch das Sprechen derselben Sprache spielt eine bedeutsame Rolle in dieser Konstruktion von Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit. Im Unterschied zu Heimatlandmännern, die er gezielt sucht, erfolgt die Begegnung mit der in Griechenland

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aufgewachsenen Äthiopierin eher zufällig. Allerdings verfügt sie über ein spezifisches, ihm Orientierung vermittelndes Wissen und Güter (Geld), die Amaré Issayu in der betrachteten Situation dringend benötigt bzw. nutzen kann. Sie stellt ihm diese Ressourcen und ihre Unterstützung unaufgefordert und selbstverständlich zur Verfügung. Hierdurch werden entscheidende Handlungsoptionen zur Forstsetzung des Fluchtprozesses eröffnet. Somit hat er in ihr eine Person gefunden, die – so deuten die bisherigen Ausführungen an – in einer Weise handelt, die an die Erwartungshaltung Amaré Issayus gegenüber einem Heimatlandmann erinnert, obwohl sie bezüglich des Geschlechts und des Ortes des Aufwachsens von zwei Kriterien abweicht, durch die die Gruppe von Heimatlandmännern konstituiert wird. Diese Frau, bei der es sich folglich um ‚einen besonderen und weiblichen Heimatlandmann‘ handelt, ist letztendlich die Person, die Amaré Issayu die Möglichkeit eröffnet, nach Deutschland zu migrieren.

O rientierungslos in D eutschl and? O der : W er (H eimatl andmänner) suche t, der finde t (sie)! Als ich am Frankfurter Flughafen ankam, war es Winter und eisig kalt. Ich hatte nur eine Adresse, die mir ein Kollege in Griechenland gegeben hatte. Er hatte mir gesagt, ich könne mich an ihn wenden, wenn ich was brauche oder nicht weiterkomme. Der würde mir das Benötigte besorgen und mir auch zeigen, wie das mit dem Asylantrag geht und solche Sachen, z.B. auch, wo ich einen Asylantrag einreichen kann. Vom Flughafen in Frankfurt wollte ich dann mit dem Taxi zu dieser Adresse in die Stadt fahren. Ich stieg also am Frankfurter Flughafen in ein Taxi und gab dem Taxifahrer die Adresse. Erst fand er die Wohnung nicht und die Zähluhr des Taxis zeigte schon 100 DM an! Zum Glück stellte er den Taxameter auf null zurück, suchte weiter und fand die Adresse am Ende doch noch. Amaré Issayu handelt ähnlich wie zuvor in Griechenland: Auch hier nimmt er ein Taxi. Anders als zuvor, verfügt er jetzt jedoch über eine wichtige Ressource: eine Kontaktadresse, die er von einem „Kollegen“ mit dem Verweis erhielt, dass ihm die an der Adresse zu findende Person nach der Ankunft in Deutschland weiterhelfen könne. Bevor das weitere Handeln von Amaré Issayu betrachtet wird, soll seine Perspektive auf die Ankunftssituation in Deutschland dargestellt werden. Wie stellt sie sich für ihn dar? Nachdem er am Frankfurter Flughafen ankommt und sich dazu entschließt, ein Taxi zu nehmen – eine Entscheidung mit Gewissheit, er erwägt keine andere Option – erachtet er es als eine glückliche Fügung, dass er nach einigen Wirrungen letztlich an der Adresse seiner Kontaktperson zu einem bezahlbaren Preis ankommt.

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Es zeigt sich insgesamt, dass Amaré Issayu sich in seinem biografischen Rückblick immer wieder mit der teilweise enormen Begrenzung seines Handlungsrahmens konfrontiert sieht. Vor der politischen Situation im Herkunftsland deshalb fliehend, weil sie seine Handlungsmächtigkeit einschränkt, gerät er in verschiedene Ankunftssituationen (in Griechenland und Deutschland), in denen diese neuerlich enorm beschnitten wird. Dabei erlebt sich Amaré Issayu jedoch niemals als handlungsohnmächtig, sondern er weiß stets, was zu tun ist. Allerdings schreibt er positiv verlaufene Geschehnisse in unsicheren Situationen nicht seinen eigenen Entscheidungen zu (wie z.B. der Entscheidung, ein Taxi zu nehmen). Retrospektiv wertet er die von Unsicherheit geprägten biografischen Stationen, die sich für ihn glücklich bzw. seinen biografischen Zielen entsprechend entwickelten, daher als Glück: Die Pension in Griechenland, die Ankunft in Deutschland an der richtigen Adresse und vieles mehr. Amaré Issayu resümiert, er habe „immer Glück“. Dieses Glück wurde ihm auch in der folgenden Situation zuteil: An der besagten Adresse angekommen, klingelte ich, doch niemand öffnete mir die Tür. Ich dachte nach und beschloss, stattdessen bei der Nachbarin zu klingeln. Wir kommunizierten mit Händen und Füßen und so erfuhr ich von ihr, dass erst in einigen Stunden, um 17 Uhr mit der Rückkehr meiner Kontaktperson zu rechnen wäre. Was sollte ich nun tun? Ich ging wieder nach draußen und bin erst einmal herum gelaufen. Ich kannte ja keinen. Es war entsetzlich kalt. In dieser Gegend lebten viele schwarze US-Amerikaner, wie ich dann bemerkte. Zunächst wusste ich nicht, dass es Amis waren. Ich hatte nur die Hautfarbe gesehen und darauf hin einen von ihnen in meiner Sprache angesprochen, jedoch ohne Erfolg. Er hat mich nicht verstanden. Dann bin ich wieder herumgelaufen und zum Glück habe ich dann einen Heimatlandmann gefunden, mit dem ich reden konnte. Erneut zeigt sich, dass die von ihm selbst als „Herumlaufen“ bezeichnete Aktion keineswegs orientierungslos verläuft, sondern vielmehr als eine gezielte Suche verstanden werden kann. Darauf verweist auch die Verwendung des Wortes „gefunden“. Zudem deutet bereits der Versuch, sich mit dem US-Amerikaner in ‚seiner Sprache‘ zu verständigen, die Hoffnung an, hier vielleicht einen Mann gleicher Herkunft gefunden zu haben. Amaré Issayu verdeutlicht hier eine Strategie, mit der er Heimatlandmänner aufzufinden versucht. Aus dieser geht hervor, dass Heimatlandmänner nicht nur aus demselben Land wie er kommen, nach Deutschland migriert sind oder dorthin fliehen mussten. Sie sprechen auch dieselbe Muttersprache, stimmen in der Hautfarbe mit ihm überein und sie sind offenbar bedingungslos Unterstützende, wie Herr Issayu in seiner folgenden Erzählung verdeutlicht:

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Und, ihr müsst wissen, unter Heimatlandmännern sind nicht viele Worte nötig. Das heißt, obwohl ich den Mann nicht kannte, wusste ich, dass ich mich nicht vorstellen musste. Ich musste ihm nicht erzählen, woher ich komme, wer ich bin und was ich hier mache. Es genügte, kurz zu erzählen, dass der Mann, zu dessen Adresse ich mich hatte fahren lassen, nicht zuhause war und erst spät wieder kommt. Ich fragte ihn: ‚Was soll ich jetzt machen?‘ Der Mann antwortete darauf hin: ‚Ei, dann kommst du mit zu mir‘. Natürlich bin ich mit ihm mitgegangen und habe einen Tag bei ihm übernachtet. Am nächsten Tag habe ich ihn gefragt, ob er mich begleiten könnte, um einen Asylantrag zu stellen. Ich wusste, dass dies die einzige Möglichkeit für mich war, um in Deutschland zu bleiben und irgendwann meine Familie nachholen zu können. Er brachte mich also dorthin und ich vertraute ihm mein einziges Geld – den Rest der 400 Dollar – und meinen Reisepass an. Er enttäuschte mein Vertrauen nicht. Als er mich einige Wochen später in der Asylunterkunft besuchte, gab er mir das Geld und den Pass zurück. Hier zeigt sich, dass sich die oben angedeutete Zuversicht, mit der Amaré Issayu die Suche nach Heimatlandmännern in der Hoffnung auf Unterstützung zur Eröffnung von Handlungsoptionen verfolgt, tatsächlich realisiert. In dieser Situation ist es entsprechend der Heimatlandmann, der ihm hilft, das Problem der Wohnungslosigkeit zumindest kurzfristig zu überwinden, dem er Vertrauen schenkt und dadurch einen sicheren Ort für die Auf bewahrung existenzieller Güter, wie Geld und Pass, erhält und der ihn bei den ersten Schritten zur Eröffnung des Asylverfahrens, das für die Zukunft Amaré Issayus entscheidend ist, begleitet. Hierzu ist keine Bekanntschaft nötig. Ein Vertrauens- und Unterstützungsverhältnis scheint schlicht mit der Frage nach Unterstützung in handlungspraktischen Dimensionen – à la: Was soll ich als nächstes tun? – und einer hilfreichen Antwort darauf hergestellt zu werden. Vielfältige Unterstützungsformen scheinen bei Heimatlandmännern erwartbar: informationelle, handlungspraktische, emotionale, verwaltende und auch ökonomische Unterstützung. Die beschriebene Gruppe der Heimatlandmänner lässt für ihre Mitglieder offenbar eine Form von Gruppensolidarität erwarten, die kurzfristig aktiviert und auf die vertraut werden kann.

Z wischenfa zit : D ie

unterstüt zenden

H eimatl andmänner

Mit Heimatlandmännern schöpft Amaré Issayu nicht nur einen neuen Begriff, er bezeichnet auch ein spezifisches ‚Unterstützungssystem‘, das sich durch Zugehörigkeit, Nähe und Gemeinsamkeit bei gleichzeitiger Anonymität ausweist, was insgesamt als spezifische Qualität sozialer Beziehungsverhältnisse gefasst werden kann. Unter Bedingungen der Flucht und damit des Verlassen-Müssens der Heimat als Bekanntem und Vertrautem, und gleichzeitigen

„Heimatlandmänner“ als Unterstüt zungssystem in der Migration

Fremdheits- und Unsicherheitsgefühlen sowie des Alleinseins, des Empfindens fehlender Zugehörigkeiten und zunächst begrenzter Handlungsmöglichkeiten im Ankunftsland sind für ihn insbesondere Heimatlandmänner von großer Bedeutung. Das Kollektiv der jungen Männer im Herkunftsland physisch hinter sich lassend, sucht Amaré Issayu im Ankunftsland ein Gefühl von Zugehörigkeit bei anderen Heimatlandmännern. So gesehen kann die Suche nach ihnen gerade in den Anfangszeiten nach dem Ankommen in neuen und unbekannten Ländern, auch als Suche nach dem Bekannten, Gemeinsamen und damit Sicherheit Gebendem in der anonymen Fremde gesehen werden. Die erfolgreiche Suche hilft, die Situation in der Anonymität, in der er sich als orientierungslos erfährt, zu überwinden, denn Amaré Issayu musste den Heimatlandmännern nicht erzählen, woher er kommt, wer er ist und was er hier macht. Im System der Heimatlandmänner bedarf es keiner persönlichen Beziehung zueinander, keiner gemeinsamen Interaktionsgeschichte. Vielmehr reicht die Tatsache aus, dass die unbekannte Gruppe von Personen eine gemeinsame Migrationsgeschichte miteinander teilt. Das besondere Unterstützungspotenzial der Heimatlandmänner für die neu Ankommenden resultiert dabei insbesondere aus ihrer schon längeren Aufenthaltsdauer im Ankunftsland. Diese sorgt für einen Wissensvorsprung, der bei den Hilfesuchenden dazu führt, dass sie eine ‚passgenaue‘ Unterstützung erhalten können, die sie in diesem Moment benötigen. Denn insbesondere die anfänglichen Orientierungs-, Informations- und Verwaltungsfunktionen können nur dann erfüllt werden, wenn die Heimatlandmänner die Gegebenheiten vor Ort bereits kennen. Das Unterstützungssystem der Heimatleute kann dabei insofern als transnationalisiert bezeichnet werden, indem sie Wissen des ‚Dort‘ und ‚Hier‘ vereinen, und zwar sowohl bei den neu Ankommenden als auch bei denen, die schon länger im Ankunftsland sind. So verfügt Amaré Issayu über ein Wissen, das der Strategie der Suche nach Heimatlandmännern zugrunde liegt, das sich offensichtlich in einem transnationalen Raum ausbildet. Denn er weiß in den jeweiligen Zielländern, ohne spezifische Heimatleute zu kennen, wo sich diese aufhalten. Es scheint, als müsse er sich nur an diesen Ort – die Stadt – begeben, um ihre Unterstützung zu erhalten. Dadurch stellt es für Amaré Issayu auch kein unüberwindbares Problem dar, wenn er sich orientierungslos oder einsam fühlt. Er kann diese Belastung innerhalb kürzester Zeit bewältigen, da er weiß, was zu tun ist, um Menschen zu treffen, von denen er sich Unterstützung erhoffen kann. Es handelt sich bei dem Wissen Amaré Issayus um ein Handlungswissen, das ihn gerade in den unsicheren Anfangssituationen im jeweiligen Ankunftsland über agency7 verfügen lässt. Das Wissen ermöglicht 7 | Mit „agency“ wird im Allgemeinen ‚Handlungsmacht‘ bezeichnet, es wird hier jedoch mit diesem Begriff auch eine paradigmatische Wende in der Sozialen Arbeit akzentuiert, auf die der Begriff hinweist. Eine akteurszentrierte Perspektive in der

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ihm sinnhaftes Handeln in als orientierungslos erfahrenen Situationen und macht ihn zu einem handlungsmächtigen Akteur. Das System der Heimatlandmänner funktioniert so reibungslos und unkompliziert, weil die Heimatlandmänner als ‚Scharnier‘ zwischen Herkunftsund Ankunftsland bzw. eine Art ‚Türöffner‘ zum Ankunftsland fungieren. Sie verfügen über spezifische Wissenshorizonte beider Kontexte und ermöglichen in idealer Weise eine Einführung in den neuen Kontext. Heimatlandmänner wissen, Neuankommende dort ‚abzuholen‘, ‚wo sie stehen‘. Eine Einführung, eine Orientierung für den neuen Kontext wird so ermöglicht und vereinfacht. Heimatleute schaffen trotz Anonymität Vertrautheit, Zugehörigkeit und Gemeinschaft (und damit Sicherheit). Die ‚tatsächliche‘ Unterstützungsbeziehung zwischen einzelnen Personen ist davon abhängig, ob sie in interaktionalen Praktiken zwischen mindestens zwei Heimatlandmännern realisiert werden kann. Es handelt sich um ein Unterstützungssystem, das situativ zwischen mindestens zwei Akteurinnen bzw. Akteuren manifest wird. Um einen unterstützenden Heimatlandmann zu finden, ist keine persönliche Bekanntschaft oder eine Verweisung einer Person an eine weitere notwendig. Vermittlerinnen und Vermittler, die Hilfesuchende an bereits bekannte Heimatlandmänner auch über große geografische Distanzen hinweg weiterleiten, können das Zusammentreffen mit Heimatleuten jedoch unterstützen. Die gemeinsame Hautfarbe sowie Herkunftssprache dienen als Identifizierungsmarkierer zur Entschlüsselung einer Person als Heimatlandmann. Den Unterstützungsbeziehungen ist das selbstverständliche Geben und Nehmen inhärent. Zudem sind sie durch Vertrauen gekennzeichnet. So gibt Amaré Issayu seinen Pass und sein restliches Geld zur Auf bewahrung dem bislang unbekannten Heimatlandmann. Das System funktioniert nicht unmittelbar reziprok, es ist also keine direkte Gegenleistung nötig. Nach Vollzug der Unterstützungsleistung kann sich die Unterstützungsbeziehung genauso schnell und informell wieder auflösen, wie sie entstanden ist. Tritt eine unmittelbare Unterstützungsbeziehung nicht ein, so sind die Heimatlandmänner lediglich als ‚imaginierte Gemeinschaft‘ zu verstehen. Dass die Vorstellung einer imaginierten Gemeinschaft einer Unterstützungsbeziehung vorausgehen kann oder muss, verdeutlicht Amaré Issayu mit seinen Strategien des Handelns, die er auf der Suche nach Unterstützung zur Verfolgung seiner Ziele einsetzt. Bereits die imaginierte Gemeinschaft bietet Sicherheit, da sie den Sozialen Arbeit greift dies auf und zielt auf eine „Stärkung der Handlungsmächtigkeit der Akteure“ (Homfeldt/Schröer/Schweppe 2008, S. 11). Seit längerem werden in der Sozialen Arbeit bereits akteursbezogene Forschungsperspektiven einbezogen und neuerdings wird der Begriff „agency“ intensiv in die Diskussion mit eingebunden (vgl. z.B. Graßhoff 2012).

„Heimatlandmänner“ als Unterstüt zungssystem in der Migration

Einsatz einer spezifischen sinnhaften und fast routinierten und damit Sicherheit gebenden Handlungsabfolge bedingt – die Suche nach Heimatlandmännern in der Stadt. Die Erwartung und Deutung der sozialen Unterstützung durch Heimatlandmänner als selbstverständlich kann u.a. durch Heranziehen des in der Transnationalitätsforschung diskutierten Konzepts der „vorgestellten Gemeinschaft“ theoretisch erklärt werden, das Sökefeld in Bezug auf die Diaspora folgendermaßen beschreibt: „Diaspora can be defined then as a transnational imagined community that is based on an identity that is territorially related but not limited to the place in which the members of the diaspora are living. […] Significant […] is the idea of a shared identity and a sentiment of solidarity that is implied in the imagination of community. That is, the members of the community take interest in the lives of those that are imagined as fellow members of the community elsewhere. Yet this interest and solidarity need not take the particular shape of a sentiment of home and origin that is projected on this ,elsewhere‘“ (Sökefeld 2008, S. 218).

Die von Amaré Issayu sogenannten Heimatlandmänner können demnach als Unterstützungs- bzw. Solidarsystem begriffen werden, das unter kontingenten Bedingungen der Fluchtmigration als sichere und selbstverständliche Unterstützung fungiert, jedoch voraussetzungsvoll ist, da der Unterstützungserhalt von dem Antreffen von zunächst unbekannten Heimatlandmännern abhängig ist.

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und das

G lück ,

Wie die weitere Erzählung zeigt, kam in der Migrationsgeschichte Amaré Issayus jedoch auch anderen Personen eine zentrale Bedeutung zu. Wie ging’s dann weiter? In Deutschland verbrachte ich erst lange Zeit in ganz unterschiedlichen Lagern. Am Ende lebte ich in X-Stadt, wo ich mir ein Kellerzimmer mit einem weiteren Kollegen teilen musste und wir den ganzen Tag für die Gemeinde arbeiteten. Fünf Jahre lang haben wir für die Gemeinde geschafft. Aber wie ich schon sagte, ich hab immer Glück mit den Leuten! Ich hatte Glück mit der Gemeinde oder vielmehr mit dem Bürgermeister habe ich Glück gehabt. Er hat mir damals geholfen. Der Bürgermeister hat mich gesehen, er hat gesehen, wie hart ich gearbeitet habe und dass ich ehrlich bin und dann hat er mich gefragt: „Amaré, willst du arbeiten gehen?“ Und ich sagte ihm, „ja, natürlich, wenn ich die Chance für eine Arbeit bekomme, bei der ich nicht nur 1,50 Euro verdiene, wäre das toll“. Also rief ich bei der

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Firma an, von der er mir erzählte. Ich sollte sofort kommen und seitdem arbeite ich bei dieser Firma in einer Lagerhalle. Amaré Issayu erlebt die Verbesserung seiner Arbeits- und Einkommenslage als eine Entwicklung, die er dem Glück zu verdanken hat. Er bezieht dies auf den Bürgermeister, der ihm diese Chance gab und sieht die erfahrene positive Wende nicht als selbstverständlich an, sondern als unerwartet. Die Deutung verschiedener Situationen und Erfahrungen Amaré Issayus als Glück ist eine Spezifik in seiner Erzählung und verweist darauf, dass er die bezeichneten Situationen nur begrenzt auf die Wirksamkeit seines eigenen Handelns zurückführt. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Issayu Amaré immer dann etwas als Glück betrachtet, wenn ihm etwas unerwartet Positives widerfährt, das ihm im Rahmen sehr begrenzter Handlungsmöglichkeiten im Fluchtprozess neue Handlungsoptionen eröffnet. Auch soziale Unterstützung erlebt er in diesem Sinne als „Glück“, und zwar dann, wenn sie von Personen geleistet wird, die keine Heimatlandmänner sind. Im Kontext der erfahrenen Unterstützung durch Heimatleute spricht Amaré Issayu hingegen nicht von Glück. Wie lässt sich dies erklären und was bedeutet das? Die obige Analyse zeigt, dass das System der Unterstützung durch Heimatlandmänner auf einem spezifischen Wissen basiert. Dieses Wissen ist handlungsleitend, um sie in konkreten Situationen zu suchen und auch zu finden. Ist das Antreffen der Heimatleute erfolgreich, ist die Unterstützung durch die Solidarität der Heimatlandmännern gewiss und selbstverständlich. Das Unterstützungssystem der Heimatlandmänner ist damit durchschaubar und erwartbar, verlässlich und in gewisser Weise planbar und eigeninitiativ such- und aktivierbar. Glück zu haben verweist dagegen auf das Erleben positiver Einflüsse auf das Leben durch zufällig eingetretene Ereignisse oder Umstände. Solche ‚glücklichen Umstände‘ sind selbst kaum steuerbar, wenig vorhersehbar oder erwartbar und können nicht oder nur sehr bedingt selbst und eigeninitiativ eingeleitet werden. In den Erzählungen Amaré Issayus über die Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland ist es aufschlussreich, dass er den Begriff des „Lagers“ verwendet. „Lager“ erweckt Assoziationen des ‚Verwahrt‘- oder ‚Auf bewahrt-Werdens‘. Hier muss er sich ein Zimmer im Keller mit einer anderen Person teilen und jahrelang für einen Stundenlohn von 1,50 Euro für die Gemeinde arbeiten. Die bereitgestellte ‚Hilfe‘ geht entsprechend mit prekären, handlungseinschränkenden, geradezu entwertenden Erfahrungen einher. Wenn Amaré Issayu die Frage des Bürgermeisters: „Amaré, willst du arbeiten gehen?“, mit der weitreichende Verbesserungen seiner Lebenssituation eingeläutet werden, als Glück bezeichnet, verweist dies auf die erlebte Zufälligkeit und das nicht erwartete Eintreten dieser Wende. Er hat sie aus seiner Sicht vielmehr dem ‚glücklichen Umstand‘ der Handlungsinitiative des Bürgermeisters

„Heimatlandmänner“ als Unterstüt zungssystem in der Migration

zu verdanken. Dies zeigt das Erleben, kaum selbst handelnd auf die Situation einwirken zu können, sondern von glücklichen, zufällig und keineswegs gewiss eintretenden Umständen abhängig zu sein. Im Gegensatz zum Unterstützungssystem der Heimatlandmänner weisen die Erzählungen über das Glück im Flüchtlingsheim auf Strukturen hin, die wenig mit verlässlicher und selbst aktivierbarer Unterstützung zu Lebensverbesserungen verbunden sind. Die Abhängigkeit von Glück spiegelt letztendlich auch Gefühle von Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins wieder. Auf erwartbare, such- und aktivierbare und weiterbringende Hilfen scheint Amaré Issayu in der Flüchtlingsunterkunft nicht zurückgreifen zu können.

A usblick Die im Rahmen des Unterstützungssystems der Heimatlandmänner sichtbar gewordenen (transnationalen) Formen und Strukturen sozialer Unterstützung, in denen sich Vertrauen ohne Vertrautheit, (nicht reziprok organisierte) Unterstützungsleistungen und deren sichere Antizipation und Gewährung unter Unbekannten, die einer ‚unsichtbaren‘, aber erfahrbaren Gemeinschaft angehören, zeigen, stellen ein bisher relativ unerforschtes Feld dar. Die Strukturen dieser Unterstützungsformen unterscheiden sich von solchen, die auf Familie, Freundschaft oder Bekanntschaft beruhen, deren Charakteristikum zumeist eben gerade Bekanntschaft und/oder Vertrautheit ist, durch die Vertrauen erst konstituiert wird. Soziale Unterstützungsverhältnisse, denen keine Bekanntschaft und Vertrautheit vorausgehen, werden typischerweise über soziale Institutionen hergestellt und vermittelt. Die Unterstützungsformen der Gemeinschaft der Heimatleute hingegen folgen weder der einen noch der anderen Logik. Die qualitativ andere soziale Verfasstheit von Unterstützungssystemen, die auf antizipierten Gemeinschaften beruhen, zeigt damit Formen sozialer Unterstützungsbeziehungen, die durch ihre (Un-)Beständigkeit, ihre Situativität, ihre Ablösung von Vertrauen und Vertrautheit bei gleichzeitiger Bedeutsamkeit der relevant gemachten Differenzkategorien (wie Herkunftsland, Hautfarbe, Muttersprache etc.) gekennzeichnet sind. Für die weitere transnationale Unterstützungsforschung erweist sich somit der Zusammenhang zwischen ‚transnational communities‘ und sozialer Unterstützung als weiterbringende Forschungsperspektive, die auch für eine nicht transnational fokussierte Unterstützungsforschung aufschlussreich sein kann.

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L iter atur Endreß, Martin/Renn, Joachim (2004): Einleitung der Herausgeber. In: Schütz, Alfred (Hg.): Der sinnhafte Auf bau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Konstanz, S. 7-66. Graßhoff, Gunther (2012): Adressaten, Nutzer, Agency. Akteursbezogene Forschungsperspektiven in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden. Homfeldt, Hans Günther/Schröer, Wolfgang/Schweppe, Cornelia (2008): Vom Adressaten zum Akteur. Soziale Arbeit und Agency. Opladen/Farmington Hills. Schütze, Fritz (2006): Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie. In: Krüger, Heinz-Hermann/Marotzki, Winfried (Hg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Wiesbaden, S. 205-238. Sökefeld, Martin (2008): Struggling for recognition: The Alevi Movement in Germany and in Transnational Space. Oxford/New York.

„Die Familie muss zusammenhalten“: Verpflichtungsgefühle transnationaler Unterstützung und die Bedeutung familialer Zugehörigkeitskonstruktionen

Insbesondere über Familie und Verwandtschaft liegen inzwischen vielfältige Untersuchungen vor, die zeigen, dass verwandtschaftliche Beziehungen durch Migration nicht zwangsläufig an Intensität verlieren oder gar abreißen, sondern enge Beziehungen auch über weite geografische Distanzen erhalten bleiben können (vgl. Pries 2010, S. 38; Bach 2013). Auch wenn mit der Transnationalisierung des Familienlebens Veränderungen einhergehen, gilt die allgemeine Feststellung der Relativität des Zusammenhangs von geografischer Verortung und der Intensität von Beziehungen und des verfügbaren Unterstützungspotenzials: „[G]eographical proximity or distance do not correlate straightforwardly with how emotionally close relatives feel to one another, nor indeed with how far relatives will provide support or care for each other“ (Mason 2004, S. 421). In transnationalen Familien werden vielfältige emotionale, informative, beratende, materielle und andere praktische Arten von Unterstützungsleistungen erbracht, die verdeutlichen, dass die Familie auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg eine verlässliche Hilfeinstanz bleiben kann (vgl. Hollstein/Huber/Schweppe 2009).1 Wie für familiale bzw. intergenerationale 1 | Der Begriff der Familie ist hierbei nicht auf die Zwei-Generationen-Kleinfamilie begrenzt, sondern kann das weitere Verwandtschaftsnetzwerk von Migrantinnen und Migranten umfassen. Pries weist entsprechend darauf hin, dass ein Verständnis von Familie als Eltern-Kinder-Kontext eine „Blickverengung“ darstellt, die „der Wirklichkeit weder in den Ankunfts- oder Herkunftsländern noch in dem grenzüberschreitenden Migrationsprozess selbst gerecht wird“ (Pries 2010, S. 38). Das von Bryceson und Vuorela (2002, S. 3) beschriebene „feeling of collective welfare and unity“ kann sich somit auf eine mehrgenerationale Großfamilie beziehen und je nach Fall Tanten, Onkel, Cousinen und weitere Verwandte einschließen. Die Perspektive, dass in Bezug auf finanzielle Unterstützung „[d]ie Haushaltsgröße in Deutschland […] als Indikator

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Unterstützung im Allgemeinen gilt auch für transnationale familiale Unterstützung, dass diese in einem Spannungsverhältnis von „Pflicht und Neigung“ (Schütze 1989) stattfindet und damit als multidimensionales Phänomen zu verstehen ist, das Ausdruck ist von Beziehungen einerseits und Normen andererseits (vgl. z.B. Künemund/Vogel 2006, S. 273 f.).2 Phänomene wie das Leisten finanzieller Unterstützung trotz eigener finanziell prekärer Lage und als ‚schlecht‘ empfundener Beziehungen zu den Unterstützungsempfängern oder das Fehlen von Verpflichtungsgefühlen zur Unterstützung der eigenen, hilfsbedürftigen Eltern deuten die Komplexität von Prozessen (transnationaler) familialer Unterstützung an. Erklärungsansätze, die mithilfe von Konzepten der Solidarität und Reziprozität darzulegen suchen, wie die Struktur solcher Unterstützungsbeziehungen zu begreifen ist, scheinen für die folgenden Darstellungen hoch anschlussfähig zu sein. Von diesen Überlegungen ausgehend werden im Folgenden Interviewauszüge dreier empirischer Beispiele zum Thema transnationaler finanzieller Unterstützung sowohl im Hinblick auf die darin deutlich werdenden familialen Beziehungen als auch auf die hierin wirksam werdenden Normen miteinander kontrastiert. Im Zuge dieser Kontrastierung werden zudem weitere Faktoren eruiert, durch die der transnational stattfindende familiale Unterstützungsprozess bedingt und/oder beeinflusst wird.

(K) ein V ater ?! I nterdependenzen z wischen U nterstützungsverpflichtungen und dem E rleben einer ‚V ater -S ohn -B eziehung ‘: D as B eispiel E min A rsl an Als ich mich mit Emin Arslan zu einem Gespräch treffe, ist er 30 Jahre alt. Ich erfahre von ihm, dass er seit seinem elften Lebensjahr in Deutschland lebt, da ihn sein Vater von dessen in Deutschland lebenden Bruder adoptieren ließ. Während Emin Arslan seit dieser Zeit bei der Familie seines Onkels in Deutschland aufwuchs, lebt seine Familie (Vater, Großeltern, Geschwister) für die geografische Verortung der Familie der Überweisenden verstanden werden“ könne und folglich „einen negativen Einfluss auf die Höhe und Wahrscheinlichkeit von Remittances“ (Holst/Schäfer/Schrooten 2008, S. 523) habe, erfährt dadurch zugleich eine Relativierung. 2 | Forschungsergebnisse verweisen darauf, dass „Geld und Sachtransfers vor allem innerhalb von Familien geleistet werden und insbesondere zwischen Familienmitgliedern verschiedener Generationen erfolgen – in den meisten Fällen zwischen Eltern und Kindern“ (Motel/Szydlik 1999, S. 11 f.). Obgleich Untersuchungsresultate sich deshalb auch oft auf Unterstützungsleistungen zwischen Eltern und Kindern beziehen, kann angenommen werden, dass die Beziehungsqualität auch für Unterstützungsleistungen bedeutsam ist, die nicht in der Familie getätigt werden.

„Die Familie muss zusammenhalten“

weiterhin in der Türkei. Ich möchte von ihm wissen, ob er noch Kontakt zu seinen Eltern hat, und frage ihn: „Und hast du noch Kontakt zu deinen Eltern also zu deinen leiblichen Eltern?“ Emin Arslan antwortet: „Meine Mutter ist tot also seit 27 Jahren (.) ist sie schon gestorben und mein Vater lebt äh in der Türkei, zu dem hab ich ab und zu Kontakt, aber auch nicht den besten Kontakt. Also ähm also ich hab ihn gar nicht so richtig erlebt und deswegen ich hab dieses Vater-Sohn-Gefühl kenn ich ja gar nicht. Also da tu ich mir auch jetzt irgendwie keinen Zwang. Ja das ist halt, das muss so sein. Ja es ist so wie es ist [lacht]“.

Ich erfahre, dass er drei Jahre alt war als seine Mutter verstorben ist. Des Weiteren wird mir deutlich, dass kaum Kontakt zum Vater besteht und Emin Arslan seinen Vater emotional nicht als solchen empfindet. Um dieses Empfinden besser verstehen zu können, möchte ich mehr über die Motive des Vaters wissen, die dazu führten, dass er seinen Sohn nach Deutschland schickte und ihn vom Onkel adoptieren ließ. Daher frage ich nach: „Wie hat er dir dann damals, also du hast ja vorhin gesagt, dass die Erwartungen waren, dass in Deutschland ja also hat man vielleicht mehr Möglichkeiten. Ja, also waren das auch die Gründe deines Vaters also, dass er gemeint hat ‚ja wir wollen jetzt, dass unser Sohn beim Onkel aufwächst in Deutschland, dass er es besser haben wird oder?“

Emin Arslan antwortet sofort: „Ich glaube mein Vater hat sich gedacht, äh ja, dass ich seine Altersvorsorge wäre vielleicht in Zukunft. Ja und da hat er wohl nicht ganz so gut geplant irgendwie [lachend]. Ja so ungefähr“. Ich möchte sichergehen, dass ich ihn richtig verstehe, und resümiere deshalb fragend: „Also dass du quasi die Ausbildung machst in Deutschland und dann Geld verdienst und das dann hinschickst?“ Er bestätigt: „Ja. Wahrscheinlich hat er also, ich denk schon, dass er so so gedacht hat, also den ältesten Sohn. […] Ich war der älteste Sohn, der einzige Sohn von der lei äh der ersten Frau und den Gefallen wollte er mir tun, also mich nach Deutschland“. Ich unterbreche ihn und frage ihn etwas provokativ: „Und was haben sie dir als Elfjährigem erzählt? Also du gehst jetzt mal nach ‚Schön Deutschland‘ und“. Er unterbricht mich auch und antwortet: „Also du gehst jetzt mal nach Deutschland. Es ist wunderbar dort. Äh denk mal, da gibt’s alles jetzt im Überfluss. Wahrscheinlich, also ich kann mich jetzt nicht da dran erinnern. Es ist halt viel zu lange her. Aber spätestens als ich in Berlin angekommen bin, hab ich gemerkt. Es ist doch nicht das, was ich will. Ja, äh, ich hab ein Jahr Probleme damit gehabt. Ja hab heimlich geweint. Ich mein so als Kind ist ja auch normal.

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Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten Ich hab auch (…) meine Oma also vermisst, denn nach dem Tod meiner Mutter äh war sie dann für uns da“.

Ich möchte noch mehr über die Intention des Vaters erfahren, seinen Sohn – wie dieser annimmt – der Sicherung der Altersvorsorge wegen nach Deutschland zu schicken und frage: „Und wurde es mit dir besprochen oder war das dann von heute auf morgen gewesen, also du gehst jetzt nach Deutschland sozusagen“. Emin Arslan erzählt: „Also das wurde schon jahrelang zuvor thematisiert. Also mein Vater hat gesagt, also dein Onkel denkt dran also dich also nach Deutschland mitzunehmen. Ich hab gesagt ‚ja okay das wird er nie‘. Also irgendwie wusste ich schon davon, dass so was besprochen worden ist ja (.). Dann kam es dann halt 1987 kam er dann zum Urlaub machen in die Türkei, also in diesen Ort, wo wir herkommen und dann hat er so schnell wie möglich alles dann irgendwie das ganze bürokratische Zeugs zu klären ja (.). Und dann war ich schon unterwegs nach Deutschland [lacht]“.

Ich muss erst einmal nachdenken. Die Idee, den elfjährigen Sohn in ein anderes Land zu schicken, ist mir nicht vertraut. Ich finde es für unsere Analyse wichtig, Emin Arslans Sicht auf die damalige Entscheidung seines Vaters genauer zu eruieren und frage deshalb: „Waren deine Eltern, also war die finanzielle Lage, also würdest du sagen die finanzielle Lage deines Vaters war dann nicht so gut, oder sonst würde er doch nicht auf die Idee kommen, dass du die Altersvorsorge sein sollst oder? [lachend]“. Emin Arslan überlegt einen kurzen Augenblick und resümiert dann: „Finanzielle Lage ich meine also so schlimm geht’s ja meiner Familie eigentlich ja auch jetzt nicht. Ja, aber gut trotzdem gibt es so so, aber ich mein, es kann immer wieder mal etwas passieren, dass dass sie eine große Menge von Geld brauchen und dass irgendjemand liegt im Krankenhaus oder braucht irgendwas. In so Situationen würden sie jetzt nicht in der Lage sein für alles äh äh Geld da zu haben. Ja, aber ansonsten, ich meine so so schlimm geht’s eigentlich meiner Familie gar nicht“.

Ich bin mir unsicher, ob es sich nicht um Emin Arslans Eigentheorie handelt, dass sein Vater ihn als Altersvorsorge erachtet, und konstatiere dann: „Also mit dieser Erwartungshaltung deines Vaters, dass du ihn eigentlich unterstützen solltest, also sagst du jetzt, das weißt du nicht, aber du denkst es dir. Also er hat es jetzt nicht direkt so gesagt oder?“ Emin Arslan bestätigt: „Er hat es nie gesagt“. Um ganz sicher zu sein, dass ich ihn richtig verstehe, lege ich ihm eine Deutung nahe: „Genau, aber du denkst es so“. Erneut bestätigt er: „Ich denk es so“.

„Die Familie muss zusammenhalten“

Ich fange an, ein wenig die familialen Hintergründe zu verstehen, möchte aber noch mehr erfahren, um nachzuvollziehen, warum Emin Arslan seinen Vater nicht finanziell unterstützt. Ich frage ihn deshalb: „Fühlst du dich da verpflichtet oder sagst du einfach‚ ,nee ich kann ihn nicht unterstützen‘“. Emin Arslan antwortet diesmal ausführlich: „Ich fühle mich äh nicht verpflichtet. Ne zeitlang hätte ich mich vielleicht ver äh verpflichtet gefühlt ja. (8) Hm, ja also, (..) ich mein, wenn ich mir selbst nicht helfen kann, wie soll ich dann meinem Vater helfen? Außerdem ich ich sehe mich ungern als Altersvorsorge, ich mein, wer soll denn für mich sorgen, wenn ich arm bin? Ich mein, das könnte ich ja auch von meinem Kind nicht erwarten. Ich meine, dass Eltern Kinder äh erziehen sollen, unterstützen sollen, dass sie Erfolg haben und was aus ihrem Leben machen, aber ganz bestimmt nicht als Altersvorsorge. Ja, ich da würd sich ja jedes Kind irgendwie ziemlich äh ausgenutzt vorkommen. Und aus diesem Grund also (.), ich mein, wenn ich irgendwas mit ihm erlebt hätte, so Vater-Sohn äh Situation, hätte ich vielleicht irgendwie (…) hätte würde ich mich vielleicht nicht gut gefühlt, aber da ist ja auch gar nix, also dass ich sagen kann, ich fühle mich verantwortlich, und das würde jedem anderen genauso gehen, denke ich mal“.

Obgleich in diesem Gespräch mehrere Faktoren deutlich werden, die offenbar dazu führen, dass Emin Arslan keine Unterstützung gegenüber dem Vater leistet (‚der Familie gehe es nicht so schlecht‘, ‚er könne nicht unterstützen, weil er selbst nichts habe‘, ‚Eltern sollten die Kinder unterstützen und nicht umgekehrt‘), dominieren hier deutlich die spezifische Beziehungsstrukturierung und das Erleben des Vaters als Faktoren, die zur Erklärung der Ablehnung einer Unterstützungsleistung herangezogen werden. Ich überlege, wie sich diese beschreiben und abstrahieren lassen: Mit der Adoption gibt der Vater strukturell die Vaterrolle auf. Aus Emins Arslan Sicht erfolgt dies aus eigennützigen Motiven des Vaters (Altersversorgung), zu denen sich der Sohn instrumentalisiert fühlt. Seines Erachtens wird er zum Zweck der Verfolgung materieller Interessen des Vaters eingesetzt. Das Wohl des Sohnes bleibt in dieser Perspektive genauso unberücksichtigt wie Erwägungen der Sorge um ihn. Mit der Adoption und dem Umzug nach Deutschland gehen durch die Trennung von der Großmutter, die nach dem Tod der Mutter ‚für ihn da war‘ und somit eine wichtige Bezugsperson für ihn darstellte, weitere schmerzliche Erfahrungen einher. Obwohl Emin Arslan im o.g. Zitat nach der Erzählung über seine Perspektive auf die Adoption mit „und aus diesem Grund also“ zunächst dazu überzuleiten scheint, dass hierin die Gründe des fehlenden Pflichtgefühls gegenüber dem Vater liegen, bricht er diese Überleitung ab und fährt fort: „ich mein, wenn ich irgendwas mit ihm erlebt hätte, so Vater-Sohn äh Situation, hätte ich vielleicht irgendwie (…) hätte würde ich mich vielleicht nicht gut gefühlt, aber da ist ja auch gar nix, also dass ich sagen kann, ich fühle mich ver-

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antwortlich“. D.h., trotz aller negativen Erlebnisse und Erfahrungen mit dem Vater im Zuge der Adoption, wären Verantwortungsgefühle gegenüber diesem möglicherweise aufrecht erhalten geblieben, wenn er ‚irgendwas mit ihm in einer Vater-Sohn-Situation‘ erlebt hätte. Das Erleben bzw. das Fehlen einer als „Vater-Sohn“ evaluierten Beziehung erweist sich somit als bedeutsam für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Verantwortungsgefühlen dem Vater gegenüber. Hier wird das Vorhandensein eines Verantwortungsgefühls gegenüber dem Vater als einem Vater-Sohn-Verhältnis inhärent gedeutet. Da er ein solches Verhältnis jedoch nicht erlebt hat, d.h. die Beziehung zu seinem Vater nicht als ‚Vater-Sohn-Beziehung‘ empfindet, wird diese Beziehung des Verantwortungsgefühls enthoben. Erst das uneingeschränkte Nicht-Erleben eines Vater-Sohn-Verhältnisses entbindet Emin Arslan damit von seinen Verpflichtungsgefühlen. Die verabsolutierende Betonung „aber da ist ja auch gar nix“ lässt keinen Raum für Zweifel. Nur diese Gewissheit scheint ihn ‚vor schlechten Gefühlen‘ bzw. Schuldgefühlen zu schützen, den Vater nicht zu unterstützen: „wenn ich irgendwas mit ihm erlebt hätte, so Vater-Sohn äh Situation, hätte ich vielleicht irgendwie (…) hätte würde ich mich vielleicht nicht gut gefühlt“. Letztendlich zeigt sich hier, wie tief verankert Verantwortungsgefühle gegenüber dem Vater sein können, die nur dadurch entkoppelt werden können, dass dem Vater mit absoluter Überzeugung keine Vaterfunktionen zugeschrieben wird. Auch der Abbruch im o.g. Zitat, in dem es zunächst so scheint, als würde die Adoption als Grund seiner fehlenden Verantwortung gegenüber dem Vater angeführt werden, daraufhin aber das Nicht-Erleben des Vaters als ,Vater‘ ergänzt wird, scheint der Absicherung der ‚Richtigkeit‘ und Legitimierung seines Handelns zu dienen. Wenn er zudem sagt, „das würde jedem anderen genauso gehen, denke ich mal“, generalisiert und normalisiert er sein Handeln und Fühlen und verleiht der Legitimität des nicht empfundenen Verantwortungsgefühls besonderen Nachdruck. Diese (offenbar notwendige) Legitimierung verweist darauf, dass es vorschnell wäre, aus dem betrachteten Fall zu schließen, dass eine negativ erlebte oder nicht enge Beziehung (zu den Eltern) stets dazu führt, dass nicht unterstützt wird. Vielmehr zeigt sich, wie tief verankert, jedoch nicht bedingungslos, Verpflichtungsgefühle im Kontext familialer Solidarität verstanden werden können. Angesichts des empirischen Beispiels stellen sich mir folgende Fragen: Unter welchen Bedingungen führt das Erleben einer ‚schlechten‘ oder fehlenden Beziehung zwischen Eltern und Kindern dazu, dass sich letztere für ihre Eltern nicht verantwortlich fühlen? Wie sehr muss die Beziehung von der erwarteten Normalität derselben abweichen, damit die Abwesenheit eines Verantwortungsgefühls (vor sich selbst und anderen) gerechtfertigt werden kann? Welche Rolle spielen hierbei Erfahrungen bzw. das Erlebnis, von einem Elternteil verlassen oder tief enttäuscht zu werden? Und allgemeiner gefragt: Wel-

„Die Familie muss zusammenhalten“

che Bedeutung kommt der Beziehung zu den Eltern für das Empfinden von Verantwortlichkeit ihnen gegenüber zu? Auf welche Weise muss Reziprozität in Eltern-Kind-Beziehungen hergestellt werden, damit solidarisch agiert wird? Und inwiefern wird das Verantwortungsgefühl den Eltern gegenüber durch die eigene und die familiale finanzielle Situation beeinflusst? Auf manche der Fragen erhoffe ich mir durch ein weiteres Interview aufschlussreiche Antworten.

P flichtgefühle zum L eisten tr ansnationaler familialer U nterstützung und ihre V erwobenheit mit L iebe und D ankbarkeit : D er F all A maré I ssayu Als ich Amaré Issayu zu einem Gespräch bei ihm zu Hause treffe, ist er Mitte 50. Er lebt seit vielen Jahren in Deutschland und zwei seiner vier Kinder wurden in Deutschland geboren.3 Nachdem er mir davon erzählt, dass viele Verwandte noch in Eritrea leben und seine Mutter in Äthiopien, frage ich ihn: „Also mit den Kontakten ähm, es wäre noch von Interesse (.), unterstützen Sie ähm (.) also Verwandte in anderen Ländern oder in in Äthiopien Eritrea oder bekommen Sie Unterstützung von denen irgendwie?“ Amaré Issayu bestätigt: „Ja (.) muss ich, weil die Gesellschaft von uns, wo wir gelernt hat, wo wir großgeworden sind, das ist bei uns is so, wenn eine hat Geld, wenn ein schafft, der muss die Familie ernähren, egal Enkelkind, die han jetzt, wir sind wir sind sechs Kinder (.), wir sind sechs Kinder von meine Eltern meine ich.“ Kurze Zeit später fügt er hinzu: „Hat auch die Regierung jetzt verbessert in Äthiopien mein ich. In Eritrea weiß ich net, in Eritrea ist äh schlimmer geworden mein ich, äh gegen das äh wir mussen helfen, ich bin do, ich habe ich ernähre meine Kinder, wenn ich äh Rest habe, wenn ich sparen kann (..), kann ich jedes Monat 50 Euro für meine Eltern, äh meine Vater lebt nimmi, aber zu meine Mutter schicken.“

Mir fällt auf, dass Amaré Issayu wiederholt das Wort „müssen“ gebraucht, wenn er über die Unterstützung seiner Familie spricht. Damit weist er auf den Pflichtcharakter familialer Unterstützung hin. Er erläutert dabei die gesellschaftliche Überlieferung dieser Pflicht während seines Sozialisationsprozesses im Herkunftsland. Diese Pflicht scheint sich aufgrund der ‚schlimmer gewordenen Situation in Eritrea‘ zu akzentuieren. Meine Nachfrage: „Also das 3 | Näheres zur Migrationsgeschichte von Amaré Issayu und seiner Familie siehe die Kapitel „,Heimatlandmänner‘ als Unterstützungssystem in der Migration“ und „Die transnationale Organisation von child care in Familien“.

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machen Sie ganz regelmäßig (.) also wenn’s geht?“, rekurriert auf mögliche Grenzen dieses Pflichtgefühls und damit einhergehender Unterstützungsleistungen. Amaré Issayu erzählt: „Wenn’s geht ja, äh, wenn ich ehrlich bin, früher hab ich gemacht jedes Monat 50 Euro […] das heißt wir mussen das, weil wir han das groß gewachsen dort, wir wissen dass de Problem dort ist ne?“ Ich frage: „Und ist das dann? Wie würden Sie das beschreiben? Ist das ein Pflichtgefühl? Oder ist des eine Erwartungshaltung? Ahm also äh, oder machen Sie des einfach von sich aus, weil Sie, weil Sie das auch bekommen haben so quasi von Ihren Eltern?“ Amaré Issayu bestätigt: „Ja kann kann man das sagen, das ist Pflicht (selbst), weil die han die Eltern han da für uns alles gemach, wir han aber jetzt bessere Chance, zum Beispiel in Europa zu gehen, Haus Dusche Auto, ja du verdienst auch das Geld und das Geld reicht, da kannst du doch äh zehn Euro oder 50 Euro in Monat zu deine Mutter schicken?“ Hier wird die Pflicht näher erläutert: Die Sorge der Eltern für die Kinder, durch die ihnen ‚bessere‘ Lebenschancen eröffnet wurden als den Eltern zur Verfügung standen, verpflichtet zu deren Unterstützung. Es zeigt sich hier ein reziprok organisiertes Sorge- bzw. Unterstützungsmodell, das die Sorge der Eltern für die Kinder mit der Sorge bzw. Unterstützung der später erwachsenen Kinder gegenüber den Eltern verbindet. Da ich um Amaré Issayus schwierige finanzielle Situation weiß, frage ich nach: „Und Sie, belastet das Sie gar nicht, oder?“ Amaré Issayu antwortet mehrdeutig mit „nein doch“ und führt dann aus: „Aber ich spare kann ich jo net, aber (.) wenn ich meine Mutter krank ist oder wenn irgendwann mal meine Mutter gestorben ist oder wann meine Schweschter irgendwann was ist, was nutzt mich noch die Geld? Ich ich brauche oder ich liebe meine Schwester oder meine Mutter. Leben da 50 Euro was ich da schicke, das hat auch net so viel, bringt dort aber vom Leben vom Essen, is ich bin besser wie denn (.) das Geld was ich jetzt vor Zigarette oder von Saufe Bier äh äh mache, wann ich das äh Geld 50 Euro dort von wenn jemand finde, oder ich das mache, das ist Haufe Geld für den, die kann auch was kaufe zu Leben Kleider Esse, von Monat für Monat. Vielleicht langt net, aber Hoffnung han die, ‚aha unsere Kind‘ hm unsere Kind, wir han besser großgeworden, ist erwachsener geworden, jetzt denke er für uns auch. Und das heißt in eine Seite ist die Religion erdrückt dich oft Religion, wann du von Kind in eine Religion wachsest und die Christ sagt es jeden Sonntag so und so helf, äh äh gut mache oder äh, so die Sprich was de Pfarrer sagt, das ist von Kind bis jetzt, das ist äh immer in die immer in de Ding drin und (.) ich kann das net, ich hab äh ich will viel, ich will äh äh äh spare, ich will äh wie die andere auch Luxus, aber hinner mir erdrückt erdrückt äh noch eine äh Spitz, ich kann das net, weil die halb Leben is is 25 Jahre is äh alt genug dort leben, und jetzt die Hälfte Leben ist do her und ich lebe gut (.), sags ich mo egal wenn du Sozialhilfe bist, oder äh äh oder sag mo was die jetzt äh ham, äh wie heißt nen das jetzt net Sozialhilfe, das ist doch jetzt die?“

„Die Familie muss zusammenhalten“

Ich helfe sprachlich aus und schlage vor: „ALG II also oder Hartz IV.“ Amaré Issayu bestätigt: „Hartz IV [lacht], ja Hartz IV, trotzdem lebe ich von Esse von Trinke, hm, das Geld langt für mich“. Die ambivalente Antwort „nein doch“ auf meine obige Frage nach möglichen Belastungen findet hier eine Erklärung. Amaré Issayu sagt, dass er seine Mutter und seine Schwester liebe und – fast klingt es wie ein rationaler Appell an sich selbst – sein Geld ihnen mehr zugute käme, weil sie es in die Deckung von Grundbedürfnissen („Leben, Kleider, Essen“) investieren würden. Amaré Issayu leitet dann unmittelbar zu seiner religiösen Sozialisation über und verweist damit auf einen engen Zusammenhang zwischen Religion und familialer Unterstützung. Er macht deutlich, dass er von Kindheit an mit dem religiösen Gebot, zu helfen, konfrontiert wurde und dies verinnerlicht habe. Der Wirkung dieses Gebots, der er sich kaum entziehen kann („das ist äh immer in die immer in de Ding drin“), steht jedoch der Mangel an finanziellen Mitteln gegenüber, der in der Aussage „ich kann das net“ zum Ausdruck kommt. In diesem Spannungsverhältnis zwischen dem religiösen Hilfsgebot und seiner prekären materiellen Situation wird die Ambivalenz der familialen Unterstützungsleistung deutlich. Indem er die Religion als erdrückend bezeichnet, wird die Belastung des religiösen Hilfsgebots mit Nachdruck hervorgehoben. Diese Belastung kommt auch insbesondere deshalb zum Tragen, weil, „äh ich will viel, ich will äh äh äh spare, ich will äh wie die andere auch Luxus, aber hinner mir erdrückt“. Damit scheint er mit einem Spannungsverhältnis konfrontiert zu sein, einerseits die Familie im Herkunftsland zu unterstützen und andererseits auch seine eigene Lebenssituation im Ankunftsland verbessern zu wollen. Dieses geht so weit, dass es seine eigenen Bestrebungen des materiellfinanziellen Aufstiegs irritiert bzw. ihn – wie er selbst sagt – „erdrückt“. Hinzu kommt, dass mit der finanziellen Unterstützung einherzugehen scheint, dass die Eltern den Sohn in ihre Gebete einschließen: „Sie bitten für dich in Gott oder oder in in Gott, lebst du lang oder oder äh Glück so Sache“. Indem er sich von der finanziellen Unterstützung der Eltern verspricht, dass diese sich bei Gott für ihn aussprechen, wird der erdrückende Charakter der Religion akzentuiert. Denn ohne die Unterstützung seiner Eltern kann er möglicherweise nicht ohne Weiteres mit ihren Fürbitten für ihn rechnen, was angesichts seiner religiösen Überzeugungen höchst konflikthaft ausfallen könnte. In der Annahme, dass sich auf die Unterstützungsleistung auch auswirken könnte, wie viele Personen in der Familie unterstützen (können), möchte ich wissen, ob er der einzige Unterstützungsleistende der Familie ist. Amaré Issayu erzählt daraufhin ausführlich, wo seine Geschwister leben und unter welchen Bedingungen bzw. mit welcher Ausbildung und Berufstätigkeit. Es wird dabei deutlich, dass er als Einziger in Deutschland lebt, aber noch weitere Brüder migriert sind oder sich arbeitsbedingt zeitweise im Ausland aufhalten. Daraufhin resümiert er über die familiale Unterstützungsleistung: „Ich sage

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nur ähm der gute Zeite und schlechte Zeite äh (.), wir mussen immer äh helfen untereinander zusammehelfen, egal was du die helfen auch die vielleicht helfen auch“. Aus seiner Antwort geht hervor, dass innerhalb der Familie einander geholfen wird. In dieser Haltung erfolgt seine Unterstützungsleistung unabhängig von der seiner Geschwister. Da mir unklar ist, wie oft er und seine Geschwister die Verwandten in Eritrea und Äthiopien finanziell unterstützen, frage ich dann: „Und sie helfen dann regelmäßig oder?“ Amaré Issayu bilanziert: „Wir reden net äh äh mach das mach das, aber jeder macht“. Es wird deutlich, dass die Unterstützungsleistung unter den Geschwistern nicht kommuniziert wird und er es für alle als selbstverständlich ansieht, finanziell zu unterstützen. Es stellt sich die Frage, inwiefern das Leben und Arbeiten im Ausland zu dieser Annahme Amaré Issayus führt. An späterer Stelle im Gespräch greift Amaré Issayu selbst das Thema Unterstützung wieder auf und erzählt anhand des Beispiels der Beziehung zu seinem Sohn über die Eltern-Kind-Beziehung: „Un jetzt (.) de Haus die will ich haben (.) für die Familie für mei Kinder, was hab ich für mei Kinder gelassen? Das is ja das was han die von mei Eltern für mir gemacht? Was muss ich auch vor meine Kinder machen. Das ist auch mein Wunsch normal lebe, normal wie die andere auch. Aber die han äh bis ich lebe bis ich (tot) bin gelernt, un sie sei Platz, han Arbeit oder gerheiratet oder eigene Haus, so ist mei Wunsch. Ich will net Millionär oder so eine Fabrik han oder Lottogewinn hm (.), wenn ich das kriege ja warum net. Sie wollen doch auch bestimmt“.

Amaré Issayu thematisiert hier, wie wichtig es für ihn ist, etwas Bleibendes für seine Kinder zu schaffen. Er verweist dabei darauf, dass auch seine Eltern für ihn eine solche Leistung erbrachten. Hier zeigt sich demnach ein intergenerationales Muster, das weitergegeben werden soll. Auf meine Frage, ob er, wenn er könnte, nach Äthiopien zurückkehren wollte, antwortet er: „Wann ich genug han ich sofort (.) sofort“. Ich bemerke: „Also aus finanziellen Gründen“. Amaré Issayu bestätigt, dass ihn der ökonomische Aspekt davon abhält: „Ja ja kann ich dort leben, wenn ich han, wann ich genug han, leben sofort, ich bleiben nicht eine Tag länger, es ist so (.) wirklich“. Dass ihn zudem auch die noch notwendige Versorgung seiner Kinder daran hindert, nach Äthiopien zurückzukehren, wird deutlich, wenn er dann fortfährt: „Und man kann mit Familie das Leben, ist das die han keine Eltern, die han keine Familie, was machen die denn? Ich muss (.) bis die erwachsener sind“. Ich werfe ein: „Auf eigenen Füßen stehen“. Amaré Issayu bestätigt: „Auf eigenen Füßen stehen. Ich muss dabei sein. Das ist ja das vielleicht vielleicht, für mich ist auch besser, wenn die mei Kinder, wenn ich heimgeh, die kommen auch bei

„Die Familie muss zusammenhalten“ mir zum Beispiel, Besuch oder he vielleicht helfen, wenn ich kein Geld han. Vielleicht auch wie vorher gesagt, zehn Euro 50 Euro im Monat“.

Aus seiner Antwort geht die oben genannte Hoffnung hervor, von seinen Kindern später unterstützt zu werden, weil diese selbst von ihm aktuell Unterstützung erfahren. Seine Hoffnung gründet somit in der Erwartung einer zeitlich verzögert wirkenden Reziprozitätsnorm. Gleichzeitig wird hier eine weitere Komponente des o.g. Konflikts und des Spannungsverhältnisses deutlich: Unter Bedingungen der Ausstattung mit nur geringen finanziellen Mitteln muss er seinen Eltern helfen und will gleichzeitig seinen Kindern eine solide Lebensexistenz hinterlassen. Dies erfolgt in der Hoffnung, hierdurch selbst von ihnen im Alter unterstützt zu werden, und scheint ein kaum zu lösender Balanceakt zu sein. Denn geht er der empfundenen Pflicht nach, seinen Eltern zu helfen, droht dies auf Kosten der Kinder zu gehen und in negativer Weise die Frage zu tangieren: „Was hab ich für mei Kinder gelassen?“ Angesichts der Hoffnung, durch die Bereitstellung einer soliden Existenzbasis, von den Kindern Hilfe im Alter zu erhalten, wird folgende Erwartung evident: Die Investition in eine materielle Hinterlassenschaft für die Kinder geht mit der Sicherstellung der eigenen Existenz im Alter, in Form der Sorge durch die Kinder, einher. Versucht er jedoch, dieses Anliegen zu verwirklichen und hilft seinen Kindern, kann dies auf Kosten der Unterstützung der Eltern gehen, was ihn wiederum in moralische und religiöse Dilemmata führen würde. Im Falle von Amaré Issayu zeigen sich somit verschiedene Faktoren, die ihn zu finanziellen Unterstützungsleistungen trotz eigener finanziell prekärer Situation führen: • Das Erleben der Sorge der Eltern für ihn und die anderen Geschwister mit dem damit einhergehenden (durch die religiöse Sozialisation forcierten) Pflichtgefühl der Unterstützung seinen Eltern gegenüber und die Fortsetzung eines intergenerationalen Unterstützungsmodells, • das Bewusstsein darüber, unter welchen (im Vergleich zu seiner Situation in Deutschland schlechteren) Bedingungen seine Verwandten im Herkunftsland leben, • das Wissen, dass die geleistete Unterstützung dort einen größeren Nutzen verspricht als in Deutschland, wo er das Geld nicht für die Erfüllung von Grundbedürfnissen, sondern für nicht existentiell notwendige ‚Luxusgüter‘ aufwenden würde. Angesichts dieser Faktoren finden sich erste Antworten auf meine Fragen. Verschiedene Aussagen Amaré Issayus machen deutlich, dass er in seiner Begründung, weswegen er seine Eltern unterstützt, sich auf die mit ihnen in der Kindheit gesammelten Erfahrungen bezieht. Dabei fällt seine Betonung auf,

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dass die Eltern viel für ihn geleistet hätten. Dieses Erleben steht im Gegensatz zu dem Emin Arslans, der sich von seinem Vater ausgenutzt fühlt und ihn nicht als Vater empfinden kann. Der Faktor einer (positiv) erlebten Eltern-Beziehung, der insbesondere in der erfahrenen Sorge der Eltern gründet, geht im Fall von Amaré Issayu mit Reziprozität einher und kommt in familial solidarischem Handeln zum Ausdruck. Letztendlich zeigt sich hier ein solidarisches intergenerationales Unterstützungsmodell, das in Sozialisationsprozessen erworben und weitergegeben wird und das Erleben einer Eltern-Kind-Beziehung voraussetzt, in der zuerst die Eltern für ihre Kinder Sorge tragen. Deutlich wird mir auch, dass die finanziellen Ressourcen zwar keine ursächliche Bedingung für die familiale Unterstützung darstellen, aber dennoch die Unterstützungsleistungen beeinflussen. Denn angesichts prekärer finanzieller Mittel und noch schlechterer Lebensbedingungen der Familie im Herkunftsland wird dem Hilfsgebot gegenüber der Familie besonderer Nachdruck verliehen und dies geht mit besonderen Spannungen einher. Der folgende Fall weist diesbezüglich in mehrfacher Hinsicht Ähnlichkeiten auf. Allerdings unterscheidet er sich hinsichtlich der erlebten Belastungen und Spannungsverhältnisse familialer Unterstützung. Auch zeigt er, dass und unter welchen Bedingungen familiale Unterstützung keineswegs auf Mitglieder der Kernfamilie bezogen sein muss.

‚D oing family ‘ und tr ansnationale familiale U nterstützung als S elbstverständlichkeit : D er F all G iacomo B ertani Angeregt durch die bisherigen Interviews, bin ich schon gespannt, meinen nächsten Interviewpartner kennenzulernen: Giacomo Bertani, einen 60-jährigen Mann, der in den 1970er Jahren aus Italien nach Deutschland migrierte. Ich mache mich auf den Weg, um das Interview mit ihm zu führen. Im Gespräch mit ihm erfahre ich, dass er bereits in Italien seine Eltern in ihrem Laden unterstützt hat. Da seine Mutter und manche der Geschwister noch in Italien leben, frage ich ihn: „Und wie war das dann als Sie, dann entschieden haben, dass Sie ähm nach Deutschland gehen, um zu lernen? Also haben Sie dann weiter ihre Familie unterstützt, oder?“ Er antwortet schlicht: „Ja“ und führt daraufhin genauer aus: „Ja, weiter ahh Geld geschickt und so weiter. War das m- muss die Familie leben, mei- meine Vater isse früh verstorben, 1964 mit 58, meine Mutti Hausfrau, hatte nur praktisch Witwenrente bekommen. […] Kleine Witwerente und da waren noch kleine Kinder, da die Jungste ware damals sechs Jahre alt […] und dann muss ma sehen durchkommen, aber jeder hat si- sich praktisch geofter geoftert äh geofert [geopfert]“.

„Die Familie muss zusammenhalten“

Daraufhin untermauert er seine These noch, indem er anführt, dass – nachdem er auf die Welt kam – seine Schwester auf ihn aufpasste, während seine Mutter in der Tabakfabrik arbeitete, und bilanziert: „Hat sich geoferte für mich“. Seine Aussage ruft bei mir zweierlei Eindrücke hervor: Es klingt für mich so, dass Giacomo Bertanis Schwester sich in großem Ausmaß und intensiv um ihren kleinen Bruder gekümmert hat. Die Formulierung „opfern“ legt dabei außerdem die Annahme nahe, dass Herr Bertani davon ausgeht, dass dies für seine Schwester viele Entbehrungen zur Folge hatte. Die bis heute anhaltende, enge Bindung zur Schwester wird deutlich, wenn er mir dann erzählt, wie oft sie in Kontakt stehen: „Immer telefoniere mir oft oh zusammen, wenn mal ich mal sie und so wenn als hier gewohnt hat […] die Familie muss zusammenhalte prakti ähh, komm an geh ma da hin essen und dann geh ma in unser Haus und dann täglich, wenn wir in ein Tag nich uns sehen, ruft an: ‚Wo bist du denn?‘“

Ich möchte mehr über das Motiv erfahren, sich familial zu unterstützen und frage: „Sie ham ja gesagt, man muss ihn- man muss helfen, weil die die Familie sich sonst nicht erhalten kann. Aber ist es also ist es einfach so selbstverständlich, dass man da ei-?“ Giacomo Bertani unterbricht mich und sagt: „Ist selbstverständlich. Die Mutter hat nicht gesacht: ‚Schick ma Geld‘. Aber wir wissen, dass was gebraucht wird und entsprechend muss man unterstützen. Auch andere Seite, au wenn man hier was gebraucht hame, hat sich Geld geliehen und oh von uns oh abge- rausgegeben un so weiter […] Ma sacht eine Hand wäscht die andere, sache ma bei uns […] und oder war für uns war selbstverständlich, so eine mit die andres“.

Da ich im Gespräch erfahren habe, dass es sich um elf Geschwister handelt, möchte ich wissen, ob alle gleichermaßen unterstützen, und auch, ob die Unterstützungsleistung von der eigenen aktuellen Lebenssituation abhängig gemacht wird. Ich frage deshalb: „Und für alle elf dann im gleichen, also wird das auch abhängig gemacht, wie’s dann den Einzelnen geht. Also wenn’s ihnen jetzt grade nicht so gut, wie hilft man dann weniger oder und die andern mehr oder?“ Giacomo Bertani erläutert daraufhin, dass gesehen würde, woran es fehle, und konstatiert: „Und wir alles geben von jede uns n Teil was wir können un so weiter, das war damals“. Ich frage noch genauer nach: „Mhh, und das geht dann auch weiter, wenn Sie in Deutschland sind und die andern auch ja“. Herr Bertani bestätigt dies und fügt dann einschränkend hinzu, dass nicht alle unterstützt würden, da jetzt viele verheiratet und selbständig seien, aber: „Wenn eine in Not ist, das is auch kei Problem“. Ich möchte wissen, wie die anderen Familienmitglieder von der Not des anderen erfahren, und frage deshalb: „Und ähm, also, wie bekommen die’s mit einfach dass sie dann mit-

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kriegen, dem geht’s grad nicht gut oder sagt dann auch ma jemand und bittet um Hilfe, oder?“ Giacomo Bertani erwidert: „Ja, wer ka- kanne selber sachen äh beispielweise meine jetz jungst äh zweite jungste Bruder von de ganze Familie war, der der war mal operiert (…), und oh und dann braubraucht er Hilfen, dass er für die Frau war geschieden, die Frau hat nicht geholfen, da konnt man nich einfach auf die Straße lassen (..) und jede wenn er kann, wenn er kann, mal irgendwann kann uns zurück- zurückgebe wenn nicht“.

Ich ergänze, quasi als Lesart des von ihm Gesagten: „Ist auch okay“. Und Giacomo Bertani schließt: „Das das Lebe geht weiter“. Ich denke darüber nach, dass in seinem Fall durch das Eingehen neuer enger Beziehungen von Familienmitgliedern z.B. durch eine Heirat, Unterstützungsverpflichtungen (temporär) ersetzt werden. Wenn jedoch die benötigte Unterstützung innerhalb dieser ‚neuen‘ Beziehungen nicht geleistet werden kann oder diese beispielsweise durch Scheidung beendet werden, kommen die Unterstützungsleistungen der ‚alten‘ Familienmitglieder offenbar wieder zum Tragen. Es zeigt sich hiermit, dass der Auf bau einer eigenen Familie nicht zu einer Auflösung familialen solidarischen Handelns der Herkunftsfamilie führt, sondern – solange kein Bedarf besteht – zu einer Reduktion oder Aussetzung des Unterstützungshandelns. Veränderungen der familialen Strukturen gehen demnach mit Veränderungen des Unterstützungshandelns einher, stellen dieses jedoch nicht grundsätzlich in Frage, wie Herr Bertanis Aussage: „die Familie muss zusammenhalte“ verdeutlicht. Der Herkunftsfamilie als Unterstützungsquelle scheint somit nachhaltige Bedeutung zuzukommen. In diesem Zusammenhang beschäftigt mich auch die Selbstverständlichkeit, mit der die Unterstützung geleistet wird. In dem Versuch, Giacomo Bertani erneut zum Erzählen zu animieren, sage ich: „Ja un mit der Unterstützung, vielleicht können Sie mir da einfach noch mal erzählen, weil Sie sagen es ist selbstverständlich. […] Wie würden Sie n das erklären? Also das dass es so normal ist. Ich weiß nicht, ob das in deutschen Familien so normal ist wie Sie das jetzt erzählen, deshalb ähm?“ Herr Bertani antwortet: „Ähh bei uns selbstverständlich, sache ma sache kann ma sache auch o ne Tradition, dass ah die Familie ist erster Linie nach vo- äh nach vorne kommt, un der werde geholfen, beispielweise konnt ich beispieleweise jetze Arturo, weil er erwachsen ist, konnt ich sache: ‚Du bist alt genug, du kannst weiter (…) selber machen ähh.‘ Aber er braucht Unterstützung, ich weiß wenn er fertisch ist, ich weiß au dass wie ich den erzogen habe so erzogen habe da- wenn ich Hilfe brauche, wird mir auch helfen“.

Insbesondere sein letzter Satz macht mich neugierig, und so frage ich: „Und wie erzieht man des? Also wie Sie des vorgelebt haben, denken Sie deswe-

„Die Familie muss zusammenhalten“

gen weiß er das, oder?“ Giacomo Bertani antwortet spontan: „Jaa sach ma, das siehte ma beispielweise, wenn er beim ähh, mein älteste Sohn oh hat er mal Schwierigkeite gehabt und hab ich unterstützt, nich sagt mir mein Sohn gesacht hat: ‚Hilfst du mir?‘.“ In dem Glauben, Giacomo Bertani schon etwas zu kennen, sage ich: „Nee, Sie haben’s gemacht einfach“. Und er fährt fort: „Hamen gemacht un mach sogar als die älteste Sohn wolle nicht er sage: ‚Ihr selbst habte nicht‘ ‚Wir schaffen ma schon‘ hab ich gesacht und wie sachte, für uns ist eine Tradition, ähh is für in Kopf verankert, kama deshalb sache, weil wenn mal Hilfe bei jemand braucht in unsre Familie, wir sind immer da, kama uns streite wir wo- wir wie wir wolle, kama uns die Köpf zerschlage, aber wenn eine Hilfe braucht oder eine Fremde sa was über unsere Familie was sacht hat was, er ist auf verlorenen Poste“.

Obgleich mir das familiale Solidaritätspotenzial immer verständlicher wird, möchte ich dennoch wissen: „Gilt diese Hilfsbereitschaft jetzt vor allem für die Familie oder auch für ins- also für andere?“ Giacomo Bertani erzählt: „Äh sache ma grundsätzlich für die Familie, aber wenn ich sag ich beispieleweise wenn ich Geld hätte sach ich ma, so sag ich äh ich ich wäre die Leute spende, wo sie ge- gebraucht wird, aber ich werde spende direkt un nich über Institutionen, weil wenn ich eine eine Ins- Institutione zehn Euro gebe die Leute was die braucht bekomme vielleicht eine Euro“.

Aus der Antwort Giacomo Bertanis werden Unterschiede der finanziellen Unterstützungsbereitschaft gegenüber der Familie und sonstigen potenziellen Unterstützungsempfängern deutlich, die offenkundig machen, dass die familiale finanzielle Unterstützung insbesondere als Ausdruck familialer Solidarität verstanden werden kann. Dementsprechend kommt der eigenen finanziellen Situation nur für das Ausmaß der Leistung familialer finanzieller Unterstützung Bedeutung zu. Die Unterstützungsleistung wird jedoch nicht an und für sich in Frage stellt. Im Kontext nicht-familialer finanzieller Unterstützung hingegen wird die eigene ‚gute‘ finanzielle Lage als Voraussetzung der Leistung evident. Das Verfügen über ausreichend finanzielle Mittel scheint hier demnach als ursächliche und nicht nur als förderliche Bedingung auf ein solches wohltätiges Handeln in Form finanzieller Unterstützungsleistungen zu fungieren. Ich möchte mehr darüber wissen, wen die familiale Solidarität umfasst bzw. wo die Grenzen dieser liegen. Da Giacomo Bertanis Frau aus Korea stammt und ihre gesamte Verwandtschaft noch in Korea lebt, möchte ich deshalb von Giacomo Bertani wissen, ob auch die Schwiegereltern Unterstützung erfahren. Er bestätigt dies und sagt:

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Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten „Isses Hilfsbereitschaft da, wie wir haben da auch jetzt ähh unsere Eltern praktisch Schwiegereltern […], so lange die Hilfe brauche, weil es is die die ist nicht wie Korea äh wie nich in Deutschland oder in Italien, in Italien auch wenn wenig ist, kriegt die immer Rente da, die sie so mit So- Sozialamt un so weiter, ist es so gut gemacht un wie hier in Deutschland so. Un dort oh wenn er die Alter erreicht hast, dass nicht mehr arbeite kannst, du wirst ausbezahlt, nur (…) kommst […] ah isse prakti äh, wenn schwer krank bist is nich so Krankenkasse, wie hier un so weiter. Musse jede Arzt bezahle, jede Krankenhausaufenthalt bezahle äh. Wobei in letzter Zeit hat sich au sehr ver- sehr viel gebessert für die alte Leute. beispieleweise durfte in Korea in de frei Bahn fahre, in Bus un so weiter ohne zu bezahle. Brauche ma nur die Ausweis zeige und in Kranken äh Krankenhaus könntse auch kostenlos reingehe un so. Da is viel sehr viel gebessert in Korea un so weiter“.

Der Antwort Giacomo Bertanis entnehme ich, dass er und seine Frau seine Schwiegereltern gleichermaßen unterstützen. In diesem Zusammenhang verweist er insbesondere auf einen weiteren Faktor, der sich auf das Leisten transnationaler familialer finanzieller Unterstützung förderlich auszuwirken scheint: die schlechtere finanzielle und soziale Situation, in der sich die Familienmitglieder im Herkunftsland befinden. Da sich erneut das immense familiale Unterstützungspotenzial zeigt, interessiert mich, ob es auch Grenzen der Solidarität und damit der Unterstützung gibt, und ich frage Giacomo Bertani deshalb direkt: „Gibt’s eigentlich quasi auch Grenzen also der Unterstützung oder der Menge; also wenn Sie jetzt hier sind und Ihnen geht’s nicht so gut zum Beispiel?“ Er erklärt mir daraufhin: „Ah ja, die könne auch, die ähh kann ma nur ma in die Grenze, was mir mache können ähh ,wenn ich äh beispieleweise selbst verschuldet bin und sie brauche Hilfe, ich kann nur in Rahme helfen, was Augenblick mir leiste kann, un nicht äh was muss, weil is auch eine freiwilliche un nich eine Muss“.

Ich fasse zusammen: „Ja also da wär da ne Grenze, dass Sie noch selbst irgendwie zu“. Giacomo Bertani unterbricht mich und sagt: „Ja, ich kann nich ich zu Grunde gehen und oh jemand ander zu helfen, weil in der Fall sachte eine alte Sprichwort: ‚Hilf dir selber un dann hilft dir Gott‘. […] Weil du sachste: ‚Gott helf mir‘ ja helfe ja versuche selber erst zu helfe un dann hilft, wenn mal aufstehe willst, musst versuche s- selbst aufzustehen un mit nich ganze dann werst geholfen“.

Mir fällt auf, dass Giacomo Bertani zur Begründung der Grenzen der Unterstützungsleistung ein Sprichwort anführt, dem ein religiöser Bezug inhärent ist. Er scheint bereits den hypothetischen Fall, keine familiale finanzielle Un-

„Die Familie muss zusammenhalten“

terstützung zu leisten, legitimieren zu wollen, worauf auch seine Unterbrechung hindeutet. Dies erinnert mich an Emin Arslan, der ebenfalls begründete, warum er seinen Vater nicht unterstützt. Während dieser jedoch auf eine fehlende Beziehung zum Vater verwies, zieht Giacomo Bertani mit der Bezugnahme auf Religion einen Rahmen heran, innerhalb dessen man hilft, ohne dabei jedoch seine eigenen Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren. Indem er Gott als Unterstützungsleistenden dort eintreten sieht, wo man sich um sich selbst kümmert, macht er das Prinzip, dass man sich zuerst selbst helfen müsse, zu einem religiösen. Damit dient die Bezugnahme auf Gott bzw. die Religion der Legitimierung, sich auch und in erster Linie um die Sicherung der eigenen finanziellen Existenz zu kümmern und andere entsprechend des Prinzips zu unterstützen: „Was Augenblick mir leiste kann“. Die unterschiedlichen Versuche, die Nicht-Leistung familialer finanzieller Unterstützung zu legitimieren, verdeutlichen mir, wie stark Verpflichtungsgefühle gegenüber Familienmitgliedern zu sein scheinen. Ich möchte noch mehr über die Verbindungen zu den Schwiegereltern in Korea erfahren und frage deshalb: „Und telefoniert die Ihre Frau auch öfter mit Korea, oder?“ Nachdem Herr Bertani dies nur bejaht, und ich darum bemüht bin, die Erzählung weiter in Gang zu halten, sage ich fragend: „Also so wie bei Ihnen?“ Giacomo Bertani antwortet daraufhin: „Ja ja genauso, grade letzte Zeit äh das ma wie es meine Eltern nich so gut ging, wie ich sachte meine Schwiegereltern sach ich meine Eltern, weil es mich“. Ich glaube zu verstehen, was er sagen will und ergänze: „Dasselbe“. Und er bestätigt: „Wie Mama und Papa, dasselbe, gibt’s keine Schwiegervater keine Schwiegermama. Gibt’s Mama Mama Mama und Papa und fertisch“. Die Art und Weise, wie Giacomo Bertani von seinen Schwiegereltern spricht, zeigt, dass die familiale Solidarität nicht auf die eigene Kern- oder Herkunftsfamilie begrenzt ist, sondern durchaus auch weitere (angeheiratete) Familienmitglieder umfassen kann. Das Ausmaß der Unterstützungsleistung wird explizit, wenn Giacomo Bertani kurz darauf ergänzend hinzufügt: „Und oh hats äh weil die nich andres hatte nich viel zu leben prakte, wie sachte, weil die wird ausbezahlt und so, un wenn äh nich richtich umgehst, du bist nu verloren. Un wir haben natürlich, un äh meine älteste S- Schwager, un wir ham monatlich zu Hause weiter immer was geschickt. Un meine Schwager lebt in Korea un er hat monatlich hingeschickt un wir Haus oder zu spare, prakte die Spedition zu spare, hama alle drei Monate gleich ähh geschickt an Stelle, sache ma zehn Euro diese Monat zehn Euro, nächste Monat un so weiter, weil die Spedition kostet mehr als manchmal das, deshalb hama immer so unterstützt und un äm Medikamente un so weiter, alle ni- nicht dort äh dort Medi- je die Medikamente hier sind besser als dort und da ham mir Beispiel hier Medikamente gekauft und geschickt“.

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Nach dem Gespräch mit Giacomo Bertani fallen mir einige Parallelen zu Amaré Issayu auf. So scheint auch hier ein Generationenmodell zu greifen, das in innerfamilialer Solidarität, also Unterstützung zum Ausdruck kommt. Und wie Amaré Issayu scheint auch er davon auszugehen, dass sein Verhalten eine Vorbildfunktion für seine Kinder hat, sodass sie ihn im Erwachsenenalter unterstützen werden. Zudem werden auch rationale Gründe angeführt, indem Giacomo Bertani verdeutlicht, dass er unterstützt, weil die Unterstützung notwendig gebraucht wird, und nur dann, wenn dies finanziell möglich ist. Schließlich benennt er selbst die innerfamilialen Unterstützungsleistungen als Folge einer „Tradition“, die nicht abgelegt werden kann. Während Giacomo Bertani es aber als Tradition innerhalb der Familie erachtet, dass jeder jedem hilft, und diese „Tradition“ auch auf weitere Verwandtschaftsmitglieder (wie Geschwister und Onkel) bezieht, richtete sich Amaré Issayus Unterstützungssystem vielmehr auf die Eltern-Kind-Beziehung. Ich stelle erneut fest, dass (finanzielle) Unterstützungsprozesse in den Familien offenbar durch eine ganze Reihe von Faktoren beeinflusst werden können, und frage mich daher, welche schließlich entscheidend dafür sind, dass es zur Unterstützung kommt. Ich gehe die Fälle erneut durch, vergleiche sie systematischer miteinander und komme zu folgendem Ergebnis.

Tr ansnationale finanzielle U nterstützung und ihre B edingungskonstell ationen

in

F amilien

Die empirischen Fälle zeigen die Komplexität transnationaler familialer finanzieller Unterstützungsprozesse auf. Indem drei (partiell kontrastive) Fälle vorgestellt wurden, können verschiedene bedingende und aufrechterhaltende Faktoren von Unterstützungsprozessen herausgestellt werden. Der Fall Emin Arslan divergiert von den Fällen Amaré Issayu und Giacomo Bertani insofern, als dass ersterer es ablehnt, für seinen Vater zu sorgen, während Amaré Issayu und Giacomo Bertani es als selbstverständlich (Giacomo Bertani) bzw. als Pflicht (Amaré Issayu) erachten und nach dem scheinbar universalen Prinzip: „wenn eine hat Geld, wenn ein schafft, der muss die Familie ernähren“, agieren. Die als selbstverständlich und verpflichtend erachtete Unterstützung der Familie verweist auf deren Unhintergehbarheit: Sie ist selbstredend und bedarf kaum einer Begründung. In allen drei Fällen spielen die (familiale) Sozialisation seit der Kindheit, die in den Familien gesammelten Erfahrungen und die Beziehung zu den Eltern eine zentrale Rolle für die erfolgenden oder abgelehnten Unterstützungsleistungen. Dabei rekurriert Amaré Issayu zunächst allgemein auf gesellschaftliche Normen, der Familie helfen zu müssen: „Ist selbstverständlich, weil die Gesellschaft von uns, wo wir gelernt hat, wo wir großgeworden sind,

„Die Familie muss zusammenhalten“

das ist bei uns is so, wenn eine hat Geld, wenn ein schafft, der muss die Familie ernähren“. Der Religion kommt in seinem Fall eine zentrale Bedeutung für das Hilfsgebot gegenüber der Familie zu. Giacomo Bertani bezieht das Gebot familialer Hilfe auf eine Tradition: „bei uns selbstverständlich, sache ma sache kann ma sache auch o ne Tradition, dass ah die Familie ist erster Linie nach vo- äh nach vorne kommt, un der werde geholfen, beispielweise“. Beide verdeutlichen die prägende Wirkung der Gebote zur selbstverständlichen Hilfe innerhalb der Familie: „Immer in de Ding drin“ (Amaré Issayu), „Is für in Kopf verankert“ (Giacomo Bertani). Gemeinsam ist beiden ebenso, dass sie im Prozess des Heranwachsens umfassende familiale Sorge- und Unterstützungsleistungen erfahren haben: „Weil die han die Eltern han da für uns alles gemach“ (Amaré Issayu). Auch Giacomo Bertani erfuhr bereits in seiner frühen Kindheit eine weitreichende Sorge und soziale Unterstützung in seiner Familie (insbesondere durch seine Schwester). In beiden Fällen erweist sich die erfahrene Sorge als wichtiges Element für die Bereitschaft zu Unterstützungsleistungen in der Familie: Amaré Issayu und Giacomi Bertani fühlen sich also auch deshalb in der Pflicht, die Eltern zu unterstützen, weil sie selbst früher Sorgeleistungen der Eltern erfahren durften und sie ihnen etwas zurückgeben möchten. Hier wird die Reziprozität von selbst erfahrener Sorge durch die Familie und der Bereitschaft und Umsetzung zur späteren Unterstützung der Familie deutlich. Dieses intergenerationale Muster soll auch an die nächste Generation weitergegeben werden. Bei Emin Arslan fällt dagegen die Abwesenheit eines solchen Sorgemodells für den Sohn durch die Familie (Vater und Mutter) auf. Die Mutter stirbt früh; der Vater lässt den Sohn aus für diesen als eigennützig erlebten Motiven adoptieren, deren Folge auch die Trennung von der für ihn sorgenden Großmutter ist. Wie schwer es ist, trotz vieler Enttäuschungen und schmerzlichen Erfahrungen mit dem Vater, die Unterstützung und Verantwortung ihm gegenüber abzulehnen und ‚sich nicht schlecht dabei zu fühlen‘, verweist letztendlich auch bei ihm auf die tiefe Verankerung von Verpflichtungsgefühlen der familialen Unterstützung, von denen er sich nur dadurch entpflichten kann, dass er ihm die Vaterfunktionen abspricht. Die Bedeutung familialer Unterstützung für die eigene Lebenssituation unterscheidet sich bei Amaré Issayu und Giacomo Bertani. Amaré Issayu beschreibt eindringlich seinen Konflikt, der angesichts knapper finanzieller Mittel im Spannungsfeld, einerseits helfen zu müssen und andererseits die eigene Lebenssituation verbessern und die der Kinder materiell absichern zu wollen, angesiedelt ist. Durch die religiöse Verpflichtungsnorm zu helfen und die Hoffnung, durch die materielle Absicherung der Kinder selbst im Alter ihre Hilfe zu erfahren, akzentuieren sich die Dilemmata dieses Spannungsfeldes in besonderer Weise. Bei Giacomo Bertani werden solche Spannungsverhältnisse und Dilemmata dagegen wenig sichtbar. Erklären lässt sich dies durch den Rekurs auf

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den religiös konnotierten Leitsatz ‚Hilf dir selber un dann hilft dir Gott‘. Dieser hilft ihm, Grenzen der finanziellen Unterstützung zu setzen. Denn gemäß diesem Leitsatz entspricht die Sorge um sich selbst religiösen Grundsätzen, durch die ein solches Handeln religiös legitimiert und abgesichert wird. Ähnlich wie im Fall Emin Arslan fällt auch hier auf, dass das Nicht-Leisten oder die Begrenzung von familialer Hilfeleistung starker Legitimationen durch (verschiedene) Begründungsmodelle bedarf. Werden sie nicht entwickelt oder stehen sie nicht zur Verfügung – das zeigt der Fall Amaré Issayu – ist der Pflicht zur familialen Hilfe nur schwer zu entgehen, ohne dass dies emotionale oder moralische Dilemmata zur Folge hätte. Deutlich wird am Fall Giacomo Bertani auch, dass familiale Unterstützung keineswegs auf die Herkunfts- und die eigene Kernfamilie begrenzt bleiben muss, sondern auf anderweitige (angeheiratete familiale) Beziehungen ausgedehnt werden kann. So bringt er seinen Schwiegereltern dieselbe Unterstützung entgegen wie seiner Herkunftsfamilie. Dabei fällt auf, dass er es vermeidet, die Schwiegereltern als solche zu bezeichnen, sondern sie vielmehr als Eltern benennt. Entsprechend hebt er hervor, dass es keine Differenzen zwischen seinen leiblichen und den angeheirateten Eltern gibt. In diesem Konzept bzw. dieser Herstellungspraxis des ‚doing family‘ werden die Schwiegereltern zu Eltern und gehören damit zur Familie. Durch die inhärente Selbstverständlichkeit der Hilfe und Unterstützung innerhalb von Familien erfahren die Schwiegereltern diese folglich genauso wie die leiblichen Eltern. Die Konstruktion von Familie bzw. wer zur Familie gehört, scheint damit wichtig zu sein, ob und wer in der Familie unterstützt wird bzw. genauer: Hierin scheint ein wichtiges Entscheidungskriterium dafür begründet zu sein, ob jemand in die der Familie immanenten Solidaritäts- und gegenseitigen Hilfeverpflichtungen einbezogen ist oder nicht. Denn während Giacomo Bertani die selbstverständliche Hilfe für die Schwiegereltern über ihre Konstruktion als zugehörig zur Familie begründet, erfolgt das Nicht-Leisten der Unterstützung des Vaters bei Emin Arslan über die Aberkennung seiner Vaterfunktionen und letztendlich damit seiner Familienzugehörigkeit, die sich gerade über die Rolle als Vater konstituiert. Das spricht dafür, dass solidarisches Handeln keineswegs das Miteinander-Aufwachsen oder das Bestehen einer sehr langen Beziehung oder ‚Blutsverwandtschaft‘ voraussetzt. Ist die Zugehörigkeit zur Familie gegeben, können sich temporär Familienbeziehungen verschlechtern oder auch konflikthaft sein, ohne die Selbstverständlichkeit der Hilfe grundsätzlich zu tangieren, denn: „Kama uns streite wir wo- wir, wie wir wolle, kama uns die Köpf zerschlage, aber wenn eine Hilfe braucht (…)“ (Giacomo Bertani). Somit zeigt sich, welche Funktionen die Konstruktionen von Familie im Kontext (transnationaler) sozialer Unterstützung erfüllen. Im Fall Emin Arslan wurde deutlich, dass die Aberkennung des Vaters als ‚Vater‘ eine zentra-

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le Legitimierungsfunktion dafür hatte, seinen Vater nicht zu unterstützen. Aber auch das Bemühen von Giacomo Bertani, Differenzen zwischen den Schwiegereltern und Eltern aufzulösen, kann mit Legitimierungsversuchen der selbstverständlichen Hilfe gegenüber den Schwiegereltern verbunden sein. Denn gerade angesichts knapper finanzieller Ressourcen – das zeigt der Fall Amaré Issayu – scheinen damit spannungsreiche Fragen und Dilemmata, wem und in welcher Höhe finanzielle Mittel zukommen sollen, verbunden zu sein. Die Konstruktion, wer zur Familie gehört und wer nicht, bietet so eine Grundlage der begründeten und berechtigten Hilfe und Unterstützung, die gleichsam eine Basis schafft, sich selbst und anderen gegenüber die Verteilung (knapper) finanzieller Mittel zu verantworten und sich möglicherweise auch vor kritischen (An)Fragen im Kampf um knappe Mittel zu schützen. Schließlich bestätigen die Ergebnisse dieser Analyse die vielfachen Untersuchungsergebnisse, dass durch geografische Distanz familiale Solidaritätsverpflichtungen und Normen gegenseitiger Verpflichtung keineswegs verringert werden. Auch die eigene finanzielle Situation spielt keine zentrale Rolle für das Bestehen einer Unterstützungsbereitschaft. Die Fälle zeigen, dass die persönliche finanzielle Situation oft nicht maßgeblich dafür ist, ob finanzielle Unterstützung geleistet wird, sondern vielmehr dafür, wie viel bei bestehender Bereitschaft geleistet werden kann. Angesichts prekärer finanzieller Mittel droht die familiale Verpflichtungsnorm, zu unterstützen, allerdings mit Spannungsverhältnissen und Belastungen auf Seiten der Unterstützungsleistenden einher gehen zu können, die insbesondere mit der Frage, wie viele finanzielle Mittel wer in der Familie erhalten soll, verbunden ist. Dieser Sachverhalt kann an Brisanz gewinnen, wenn die Familie durch soziale Ungleichheiten gekennzeichnet ist bzw. finanzielle Hilfe zwischen Armen und noch Ärmeren geleistet wird bzw. werden muss. Diesbezüglich kommt dem transnationalen Kontext bzw. präziser gefasst der finanziellen Unterstützung im Rahmen von Transmigrantenfamilien möglicherweise eine besondere Spezifik zu. Denn die Fälle zeigen, wie die Angehörigen von Transmigrantenfamilien durch globale Ungleichheiten in sozioökonomisch ungleiche Lebensbedingungen im Herkunftsland und im Ankunftsland eingebunden sind und dies der Verpflichtungsnorm zu helfen, besonderen Nachdruck verschaffen kann. ‚Doing family‘ kristallisiert sich hier als eine Strategie im Umgang mit diesen Ungleichheitsverhältnissen heraus.

L iter atur Bach, Yvonne (2013): Frauen in der Arbeitsmigration. Eine ethnographische Studie zu transnationalen Familien zwischen Singapur und Indonesien. Berlin.

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Bryceson, Deborah/Vuorela, Ulla (2002): Transnational families in the twentyfirst century. In: Bryceson, D./Vuorela, U. (Hg.): The transnational family. New European frontiers and global networks. Oxford, S. 3-30. Hollstein, Tina/Huber, Lena/Schweppe, Cornelia (2009): Transmigration und Armut. Zwischen prekärer Unterstützung und risikohafter Bewältigung. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik (ZfSp) 7 (4), S. 360-372. Holst, Elke/Schäfer, Andrea/Schrooten, Mechthild (2008): Angst vor Fremdenfeindlichkeit: Ausländer überweisen mehr ins Heimatland. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 36/2008. Künemund, Harald/Vogel, Claudia (2006): Öffentliche und private Transfers und Unterstützungsleistungen im Alter – „crowding out“ oder „crowding in“? Quelle verfügbar unter: http://www.zeitschrift-fuer-familienforschung.de/pdf/2006-3-kuehnemund.pdf. (Abruf am 18.01.2014). Motel, Andreas/Szydlik, Marc (1999): Private Transfers zwischen den Generationen. In: Zeitschrift für Soziologie 28 (1), S. 3-22. Quelle verfügbar unter: http://www.zfs-online.org/index.php/zfs/article/viewFile/2990/2527 (Abruf am 21.06.2013). Mason, Jennifer (2004): Managing kinship over long distances: the significance of the visit. In: Social Policy & Society 3 (4), S. 421-429. Pries, Ludger (2010): Transnationalisierung. Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung. Wiesbaden. Schütze, Yvonne (1989): Pflicht und Neigung: Intergenerationale Beziehungen zwischen Erwachsenen und ihren alten Eltern. Zeitschrift für Familienforschung 1, S. 72-102.

II. V ermittlungs- und Mobilisierungsprozesse. Gelder, Menschen, Medien

Wandernden Geldern auf der Spur: Akquirierung und Transfer von remittances

Jährlich erbringen Migrantinnen und Migranten enorme finanzielle Transferleistungen, sog. remittances, an ihre Herkunftsländer, deren Summe von der Weltbank für das Jahr 2012 auf insgesamt 529 Mrd. US-Dollar geschätzt wird. Davon gingen mehr als 401 Mrd. US-Dollar in sog. Entwicklungsländer (vgl. The World Bank 2013). Indien und China erhielten dabei mit zusammengerechnet fast 129 Mrd. US-Dollar die höchsten Transfersummen. Remittances nehmen im Rahmen internationaler und auch nationaler (Entwicklungs-)Politiken und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit einen wichtigen Raum ein; die diesbezügliche Forschung ist kaum noch zu überschauen. Ein zentraler Punkt bezieht sich dabei auf die Frage des den finanziellen Rücküberweisungen zugeschriebenen Potenzials zur Entwicklungsförderung und Armutsbekämpfung in den Herkunftsländern. Die diesbezüglichen Befunde sind als kontrovers zu betrachten. So wird zwar auf der Ebene von Familien die Linderung von Armut in den Herkunftsländern konstatiert; die Auswirkungen auf Bedingungen struktureller Armut und auf die wirtschaftliche Entwicklung sind jedoch weniger klar (vgl. Kapur 2004).1 Kritische Studien weisen darauf hin, dass oftmals statt einer gesamtgesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung der Anstieg sozialer Ungleichheiten in den Herkunftsländern die Folge ist, der die ärmsten Haushalte am stärksten trifft, da sie keinen Zugang zu remittances durch migrierte Familienmitglieder haben: „It is likely that remittances are unevenly distributed, since poorer households do not have the resources needed to send members to places“ (Levitt/NybergSørenson 2004, S. 15). Zudem ist auf die mögliche Entstehung ökonomischer Abhängigkeiten hinzuweisen. Diese können im Fall einer Reduzierung der 1 | Beispielsweise wurden folgende Fördermaßnahmen von remittances als Teil der nationalen Entwicklungspolitiken in den Herkunftsländern etabliert: „easier access to banking services for remittance-receivers in the countries of origin, incentives for investment, matching funds, special programs to keep in contact with migrants abroad, and information policies on investment“ (Schweppe 2011, S. 42).

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Geldtransfers neue Risiken für die empfangenden Individuen, Familien, Gemeinden bergen und auch die nationale Ebene betreffen (vgl. Schweppe 2011, S. 43 f.). Trotz dieser bekannten ‚Schattenseiten‘ werden remittances weiterhin als Instrument der Armutsbewältigung ‚gefeiert‘. Durch die Fokussierung der Diskussionen über finanzielle Rücküberweisung auf die Bedeutung für die Herkunftsländer gerieten die ‚Gebenden‘ bislang nur wenig in den Blick. Was bedeutet es für die ‚Gebenden‘, grenzüberschreitend finanzielle Unterstützung zu leisten? Entsprechend möchten wir das Thema im Folgenden aus der Perspektive der Unterstützungsleistenden diskutieren. Im Rahmen finanzieller Rücküberweisungen sind Unterstützungsleistende grundlegend mit zwei Herausforderungen konfrontiert: Erstens müssen sie die zu überweisenden finanziellen Mittel bereitstellen, und zweitens müssen diese Mittel in die Herkunftsländer transferiert werden. In dieser Verknüpfung wird danach gefragt, welche Strategien die Gebenden zur Bereitstellung und zum Transfer finanzieller Ressourcen anwenden. Diese Fragen stellen sich insbesondere auch deshalb, weil Rücküberweisungen vorwiegend innerhalb von Migrationsfamilien stattfinden, d.h., von migrierten Familienmitgliedern in den Ankunftsländern an die Familienmitglieder in den Herkunftsländern geleistet werden. In Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern sind jedoch gerade Migrantinnen und Migranten überdurchschnittlich häufig von Armut betroffen (vgl. z.B. BMAS 2013). Da Migrantinnen und Migranten finanzielle Unterstützung oftmals auch dann leisten, wenn sie selbst kaum finanzielle Mittel zur Verfügung haben und eigene Bedürfnisse nach materieller Teilhabe zurückstellen müssen, können regelmäßige Geldtransfers zur Unterstützung und Verminderung von Armutslagen der Familienmitglieder in den Herkunftsländern mit teils prekären Folgewirkungen für die migrierten Geldgeberinnen und Geldgeber verbunden sein (vgl. Hollstein/Huber/Schweppe 2009). Dabei zeigt sich auch, dass die Unterstützung nicht immer durch eigene finanzielle Mittel bereitgestellt werden kann. Anhand zweier empirischer Beispiele wird im Folgenden dargelegt, wie Akteurinnen und Akteure in Deutschland einem akuten finanziellen Unterstützungsbedarf von Familienmitgliedern im Herkunftsland durch die Mobilisierung von Unterstützung im Freundes- und Bekanntenkreis nachkommen und dadurch persönlich fehlende finanzielle Mittel zum gegebenen Zeitpunkt, zu dem die Unterstützungsleistung notwendig wird, kompensieren können.

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M obilisierung

finanzieller tr ansnationaler familialer

M ittel zur E rmöglichung U nterstützung

Fallbeispiel zur transnationalen Mobilisierung finanzieller Mittel Said Bassir ist 31 Jahre alt und migrierte wenige Monate vor der Interviewführung aus Marokko nach Deutschland. Derzeit absolviert er einen Sprachkurs und wartet auf die Anerkennung seines Berufsabschlusses im Bereich der Maschinentechnik. Da er bislang noch keine Arbeit aufnehmen konnte und Arbeitslosengeld II bezieht, verfügt er über ein geringes monatliches Einkommen. Seiner Familie in Marokko leistet er unregelmäßig in finanziellen Krisensituationen finanzielle Unterstützung, die jedoch durch die fehlende Erwerbstätigkeit in Deutschland eine Begrenzung erfährt: „das is nisch mehr von 150 oder 200 das kann ich nisch mehr jetzt hab ich noch kein Arbeit“. In einer Situation, in der sein in Marokko lebender Bruder dringend Geld benötigte und Said Bassir keines zur Verfügung hatte, ergriff er die Möglichkeit, sich durch „Freunde (.) finanziell helfen“ zu lassen. Diese ‚unterstützte finanzielle Unterstützung‘ stellt er folgendermaßen dar: „Ja m- einmal hab ich, hab ich auch Probleme da, hab ich keine, und mein Bruder braucht, hab ich gesagt, er soll zum einen Freund von mir in Marokko, er hats Geld genommen, hab ich nachher Geld, das Geld geschickt“.

Das Zitat macht deutlich, dass dieser Unterstützungsprozess durch die länder­ übergreifende Kontaktaufnahme und Vermittlung finanzieller Hilfe und den späteren Geldtransfer zur Rückzahlung der geleisteten Summe gekennzeichnet ist. Zunächst wandte sich Herrn Bassirs Bruder aufgrund eines finan­ ziellen Engpasses in Marokko an Said Bassir in Deutschland, dem zu diesem Zeitpunkt jedoch die finanziellen Mittel zur Deckung des vorliegenden Unterstützungsbedarfes fehlten. Daraufhin kontaktierte Said Bassir einen Freund in Marokko, damit dieser stellvertretend, durch eine Leihgabe, die benötigte Unterstützung leistet. Seinen Bruder verwies er dann an diesen Freund weiter, der ihm das benötigte Geld bereitstellte, und Said Bassir zahlte den Betrag zu einem späteren Zeitpunkt an den Freund zurück. Somit wurde dem Vollzug der transnationalen Unterstützungsleistung zwischen Said Bassir und seinem Bruder eine weitere finanzielle Unterstützung in Form des Leihens von Geld durch einen Freund zwischengeschaltet, um den Bedarf des Bruders zeitnah zu decken. Von dieser Leihgabe, die vor Ort an den Bruder in Marokko ausgezahlt, jedoch von Said Bassir länderübergreifend initiiert und zurückgezahlt wurde, profitierte nicht nur sein Bruder im Hinblick auf die Bewältigung einer akuten finanziellen Krise. Der Erhalt dieser Unterstützung bildet für Said

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Bassir die Voraussetzung, um trotz des persönlichen monetären Engpasses die finanzielle Unterstützung seines Bruders sicherzustellen. Damit ist der beschriebene Unterstützungsprozess unter Einbezug mehrerer Personen durch die Verwobenheit unterschiedlicher Unterstützungshandlungen, Bedingungen und Strukturen in Herkunfts- und Zielland (z.B. Zugang zu Medien), die auf den Unterstützungsprozess Einfluss nehmen, sowie die Anordnung (transnationaler) sozialer Netzwerkstrukturen im Ankunfts- sowie im Herkunftsland gekennzeichnet, durch die der eigentliche Unterstützungsgebende zwischenzeitlich zum Unterstützungsempfänger wird. Ausgangspunkt und ermöglichende Bedingung der stellvertretenden Unterstützungsleistung bildet das vorhandene Freundesnetzwerk in Marokko, das, bestehend aus ehemaligen Berufskollegen, finanzielle Ressourcen bietet und über den regelmäßigen Kontakt und kommunikativen Austausch im Internet bewahrt wird: „Ja so, weil hab ich in Marokko fünf, sechs Jahre gearbeitet als Maschinentechnik, ja und hab ich viel Freunde in de, in de Firma wo hab ich gearbeitet […] ich treff, ich treff der immer im Internet […] Skype oder MSN oder so“.

Die gegebenen Nutzungsmöglichkeiten von Kommunikationsplattformen im Internet erleichtern die Aufrechterhaltung der sozialen Beziehungen und die Initiierung von Unterstützungsleistungen zwischen Said Bassir und seinen Freunden, wie auch seiner Familie. Alle in den Unterstützungsprozess involvierten Personen haben entsprechend Zugang zu diesen Kommunika­ tionsmedien und nutzen diese auch zur Verständigung über Bedarfe und die Organisation von Unterstützung. Hierbei wirken intersubjektiv geteilte Normalitätsverständnisse über die Selbstverständlichkeit sowie die Art und Weise, Freunden und Familienmitgliedern in Problemlagen finanziell zu helfen, auf den spezifischen Unterstützungsprozess ein. Während Said Bassir seiner Familie ohne eine erwartete Rückzahlung oder finanzielle Gegenleistung Geld gibt, erachtet er es als „normal“, dass sich unter Freunden Geld lediglich geliehen wird: „Geld geben und danach zurück ja? Ah leihen das so ja, Freunde kann, kann man nicht, für die Eltern hin gibst du Geld dann brauchst du nicht das Geld kommt zurück, aber Freunde, das normal, gibst du Geld, du hast das s-, n Freund erst mal wenn er kommt, so sagt se: ‚Kannst du mir das leihen‘, ja das normal da-, dann in Deutschland auch [lacht kurz]“.

Es zeigen sich mögliche Differenzkriterien finanzieller Unterstützung in Form der Geld- und Leihgabe, die sich hier auf die Konstitution von ‚Familie und Freunde‘ als Solidarbeziehungen beziehen. Damit verbunden sind geteil-

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te Vorstellungen darüber, wer sich wie unterstützt, sowie die Verlässlichkeit der generierten Unterstützungsbeziehungen, sofern entsprechende Geldmittel vorhanden sind. Diese erweisen sich als von der Migration Said Bassirs unabhängig und bleiben, wie das Vertrauen seines Freundes in die Rückzahlung des geliehenen Geldes, von der großen physischen Distanz bislang unberührt. Veränderungen unterliegen die Unterstützungswege, die nicht mehr ausschließlich lokal innerhalb eines Nationalstaates erfolgen. Ebenso wie die Veranlassung der Unterstützung unter Anwendung kommunikationsmedialer Praktiken jeweils grenzüberschreitend von infrastrukturellen Gelegenheitsstrukturen abhängig ist, muss auch die Rücküberweisung des geliehenen Geldes grenzüberschreitend organisiert werden. In dieses Bedingungsgefüge bettet sich die konkrete Unterstützungspraxis der stellvertretenden Unterstützung ein (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1: Grenzüberschreitend unterstützte transnationale finanzielle Unterstützung

Fallbeispiel zur lokalen Mobilisierung finanzieller Mittel in Deutschland Amina Mokhtari migrierte in ihrem 15. Lebensjahr gemeinsam mit ihrer Mutter und vier ihrer insgesamt zehn Geschwister aus Marokko zu ihrem Vater nach Deutschland. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 35 Jahre alt und selbst Mutter von vier kleinen Kindern. Seit der Trennung von ihrem Ehemann lebt

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sie unter finanziell prekären Bedingungen in Deutschland, da sie arbeitslos ist, vom Vater ihrer Kinder keine Unterhaltszahlungen erhält und zudem Schulden abtragen muss, die sie während ihrer Ehe gemeinsam mit ihm auf ihren Namen aufnahm. Finanzielle Unterstützungsleistungen an andere Personen, z.B. an Familienmitglieder im Herkunftsland, kann sie daher aus eigenen finanziellen Mitteln nicht tätigen: „Wenn ich zum Beispiel konnte ja […] aber kann ja selber nicht“. Frau Mokhtari erzählt jedoch von einer Notlage der Ehefrau ihres verstorbenen Onkels in Marokko, die sie dazu veranlasste, innerhalb ihres Verwandtschafts- und Bekanntenkreises in Deutschland Geld zu sammeln, um auf diesem Weg zu helfen: „Es gab zum Beispiel n Fall jetzt in der Familie, dass die Frau von meinem Onkel und ihre Mann ist an Krebs gestorben, sie hat drei Kinder und sie hat gearbeitet und ist hingefallen, hat sie ein schweren OP gehabt aufm Rücken und so, konnt ich ihr nicht helfen, weil ich selber nisch da, äh das kann ich nicht, aber da gabs andere Leute, die ihr geholfen haben, und zum Beispiel ich hab gefragt, einen anderen Bekannten und haben ihr dann geholfen [I: Also hier von Deutschland aus?] Ja mit n bisjen Geld, aber ich selber jetzt, das kann ich nich […] meine Cousina und meine also meine Eltern haben auch ein bisjen, es muss ja nicht unbedingt, ich meine in Marokko mit hundert Euro ist schon eine große Hilfe is da schon oder […] zweihundert Euro, da die Leute, da haben mir aber viele Leute geholfen, sie war dann im Krankenhaus und die Kinder waren halt, das war schon wichtig, ja“.

Amina Mokhtari betont ihre fehlenden Möglichkeiten, praktische Unterstützung vor Ort in Marokko zu leisten – „so konnt ich ihr nicht helfen, weil ich selber nisch da“ – oder direkt selbst von Deutschland aus finanziell zu unterstützen. Angesichts der schweren Notsituation, die Hilfe erforderte, die sie selbst aber nicht unmittelbar leisten konnte, griff sie auf ihren Bekannten- und Verwandtschaftskreis in Deutschland zurück. Sie machte dort die Notlage der Frau bekannt, bat um finanzielle Hilfe und sammelte Geldspenden ein. Dadurch mobilisierte sie lokal Gelder, die sodann nach Marokko transferiert wurden und somit indirekt eine finanzielle Unterstützungsleistung von Frau Mokhtari darstellten (vgl. Abb. 2). Die Spendenbereitschaft von Bekannten und Verwandten in Deutschland wurde dabei auch zu einer Hilfe für sie selbst: „da haben mir aber viele Leute geholfen“. Ihre Äußerung, dass sie in ihrem Vorhaben von vielen unterstützt worden sei, verweist entsprechend auf die damit einhergehende Entlastung, einen persönlichen Beitrag durch die Initiierung der finanziellen Unterstützung geleistet zu haben: „das war schon wichtig, ja“.

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Abbildung 2: Lokal unterstützte transnationale finanzielle Unterstützung

Das Verständnis, im Unterstützungsprozess selbst Unterstützung erfahren zu haben, zeigt eine Parallele zum Fall Said Bassirs auf. In beiden Fällen war dieser Erhalt von Unterstützung die Voraussetzung, um selbst indirekt finanziell unterstützen zu können. Bei den jeweiligen Adressatinnen bzw. Adres­saten ihrer Unterstützungsleistung handelte es sich um Mitglieder ihrer Verwandtschaft. Die Wahrnehmung ihrer Unterstützungsbedarfe aktivierte sie zum Handeln und führte angesichts der knappen finanziellen Mittel zu den beschriebenen Formen der länderübergreifend bzw. lokal in Deutschland eingeleiteten transnationalen finanziellen Unterstützung. Den Fallbeispielen gemeinsam ist, dass unterschiedliche Ressourcenlagen der Familienmitglieder in den Herkunfts- und Ankunftsländern die Bedarfe und Optionen transnationaler Unterstützung prägen und hierauf auch die infrastrukturellen Bedingungen der unterschiedlichen Länderkontexte einwirken, was mitunter zu spezifischen Restriktionen für individuelle Akteurinnen und Akteure führen kann.

I nformelle materielle Tr ansfers U nterstützungsne tz werke

über

In ähnlicher Weise wie die Aktivierung transnationaler finanzieller Unterstützung sind auch die Möglichkeiten zur Nutzung materieller Transferwege von

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den vorhandenen Opportunitätsstrukturen, subjektiven oder interpersonalen Bedingungen und auch Präferenzen abhängig. Es existieren vielfältige kommerzielle Angebote von Banken und anderen Finanzdienstleistungsunternehmen für die Übermittlung von Rücküberweisungen, mit denen Gelder (online, per Bareinzahlung, Telefon/Fax oder Überweisungsträger) mit unterschiedlicher Transferdauer und Kostenhöhe international versendet werden können. Neben diesen formellen Serviceleistungen sind informelle Wege der Geldsendungen bedeutsam und Schätzungen zufolge übersteigt die Summe der informell transferierten Gelder die „offiziell zu ermittelnden Beträge“ (Hertlein/ Vadean 2006, S. 1). Neben einer persönlichen Mitnahme bei Reisen in das Herkunftsland werden Gelder unter anderem per Post verschickt oder durch andere Personen überbracht (vgl. Hertlein/Vadean 2006). Im Folgenden werden zwei Beispiele von Geldtransfers vorgestellt, die mithilfe der Unterstützung solcher Geldbotinnen und -boten realisiert werden. Der Frage, welche Relevanz strukturellen Bedingungen hierbei zukommt, wird dabei besondere Bedeutung beigemessen.

Fallbeispiel zu infrastrukturellen Begrenzungen formeller Geldtransfer wege Amaré Issayu, der seit dem Nachzug seiner Familie und der Arbeitsaufnahme in Deutschland Familienmitgliedern im Herkunftsland – konkret den Eltern und einer Schwester – finanzielle Unterstützung zukommen lässt, betont, dass keine formelle Möglichkeit des Geldtransfers in Form einer Banküberweisung besteht: „die Möglichkeit in Bank zu schicken ist es keine (.) gibt’s keine (.) Überweisung oder gibt’s keine“. Bestehende Differenzen der Infrastruktur zwischen Orten und Ländern, in denen Geldgebende sowie Geldempfangende ihren Wohnsitz haben, wirken sich entsprechend auf die Wege transnationaler Unterstützung aus. Dadurch können sie Einfluss auf die Regelmäßigkeit bzw. Intensität, die Schnelligkeit und Kurzfristigkeit, den Formalisierungsgrad, die Zuverlässigkeit und die Möglichkeiten des Geldsendens nehmen. Im Fall von Amaré Issayu führten die fehlenden formellen Möglichkeiten der Geldüberweisung zur Alternative, zwei Jahre lang auf die Hilfe eines deutschen Entwicklungshelfers, der als Geldbote fungierte, zurückzugreifen: „der gebt das 50 Euro (.) in Äthiopien zu meiner Mutter (.), ich überweise das Geld in dem seine Konto in X. [eine deutsche Stadt] (.) das habe ich mal zwei Jahre gemacht und eine Stiftung ist fertig gegangen, er ist zurückgekommt“.

Amaré Issayu überwies also stets einen Betrag auf das deutsche Bankkonto des Entwicklungshelfers, der in Äthiopien darauf zugreifen konnte und nach

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Abbuchung des Geldes den Betrag persönlich an Herrn Issayus Mutter vor Ort überreichte. Aufgrund der fehlenden Kontoverbindungen der Mutter ergab sich hier eine Vermengung formeller und informeller Geldtransferwege, im Zuge derer die nationalstaatliche Grenzüberschreitung der Unterstützungsleistung erst durch die Vermittlung des Entwicklungshelfers möglich wurde. Die Gebundenheit dieser Praxis an die physische Präsenz des Entwicklungshelfers im lokalen Umfeld der Mutter in Äthiopien führte dazu, dass Amaré Issayu nach Beendigung des Entwicklungshilfeprojekts und der Rückkehr des Geldboten nach Deutschland einen anderen Weg zur Übermittlung des Geldes an seine Mutter finden musste und seitdem auf Bekannte, Verwandte und Freunde zurückgreift: „ich keine andere Möglichkeit gehabt, wenn jemand fliegt Verwandte Bekannte Kollege kann man da Sache schicke“. Mit dieser Lösung, ihnen das Geld mitzugeben, wenn sie ins Herkunftsland fliegen, gehen Unregelmäßigkeiten der finanziellen Unterstützung einher, die nun davon abhängt, wann und wie oft die benannten Personen nach Äthiopien reisen. Diese Art des Geldversendens bedarf der Vernetzung und ist (zeit-)aufwändiger, da stets erst Informationen darüber eingeholt werden müssen, wann wer nach Äthiopien in die Nähe der Mutter reist. Ein Vorteil dieser Überweisungspraxis ist jedoch, dass hier manchmal auch kleinere Güter mitgegeben werden können („kann man da Sache schicke“). Zur Reduzierung der Zeitabstände zwischen den möglichen Geldtransfers durch die Reisen von Freunden, Verwandten und Bekannten nutzt Amaré Issayu diese Kontakte und den Kontakt zu Vereinen afrikanischer Migrantinnen und Migranten in Deutschland, um sich Informationen über eine mögliche Mobilität von Dritten in das Herkunftsland zu beschaffen, die er bis dato persönlich nicht kennt, denen er aber das Geld anvertraut: „es gibt’s verschiedene Vereine (.) zum Beispiel […] verschiedene Vereine vom Ort zu Ort vom Religion zu Religion auch und […] wann du hier lebst äh weißt du dass, wer do ist von deine Familie oder von deine Verwandte oder Schulkamerad so Sache. Und das musst du dann musst du fragen, telefoniert ‚wer geht heim, weißt du jemanden der heim fliegt‘ hm Verwandte oder Bekannte oder so, oder die Trau ist noch da egal was ich net kenne (…), wir trauen uns, das ist wirklich, bis jetzt hat auch niemand so verarscht oder Geld hat da net genommen bis jetzt (betont), gibt’s aber, aber bis jetzt Gott sei Dank (.) so Sache gibt’s“.

Herr Issayu beschreibt es als übliche Praxis, dass über telefonische Kontakte (z.B. mit Verwandten) oder bei Vereinstreffen in Erfahrung gebracht wird, wer ins Herkunftsland reist, und diesen Personen daraufhin das Geld mitgegeben wird. Die genannten Vereine in Deutschland fungieren dabei als Vermittlungsnetzwerk für die potenziellen Geldbotinnen und -boten. Da diese den Geldgebenden nicht bekannt sein müssen, stellt sich die Frage, worauf das Vertrauen

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in die Realisierung der Geldübergabe basiert. Zwei Faktoren erscheinen hierfür wesentlich: Zum einen ergibt sich aus dem Aspekt der Vernetzung, dass eine bekannte Person die Botin oder den Boten selbst oder eine ihm bekannte Person näher kennt. Innerhalb des Netzwerks sind die Geldbotinnen und -boten mit den Geldgebenden verbunden und damit letztlich nicht anonym. Möglicherweise kann dadurch das Risiko, dass die Geldübergabe nicht vollzogen wird, gesenkt werden. Zum anderen ergibt sich aus der strukturellen Abhängigkeit, da laut Amaré Issayu keine Alternativen zur Geldsendung in das Herkunftsland verfügbar sind, dass auch die anderen Netzwerkpartnerinnen und -partner auf dieses Unterstützungssystem der Geldübergabe angewiesen sind, wenn sie finanzielle Unterstützung leisten möchten. Im Fall von Amaré Issayu kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der das Vertrauen in die Solidarität betrifft, die er für die Beziehungen zwischen Migrantinnen und Migranten des gemeinsamen Herkunftslandes antizipiert (siehe hierzu das Kapitel „‚Heimatlandmänner‘ als Unterstützungssystem in der Migration“). Dieses Vertrauen Amaré Issayus in die Solidarität seiner Landsleute besteht darin, dass er sich darauf verlassen kann, kurzfristig und ohne direkte Gegenleistung die Unterstützung zu erfahren, die er benötigt. Festgehalten werden kann das Bestehen eines Unterstützungsnetzwerkes, das nicht durchweg auf persönlicher Bekanntheit basiert, und trotz des Risikos, dass das Geld nicht übergeben werden könnte, sich bereits über Jahre für Amaré Issayu und andere als funktional zur informellen Geldsendung erwiesen hat. Hierbei zeigt sich die Verwobenheit des Erhalts von praktischer und informationeller Unterstützung als Voraussetzung für die erfolgreiche transnationale finanzielle Unterstützung an die Familie im Herkunftsland. Während informelle Wege hier kontinuierlich aufgrund fehlender infrastruktureller Möglichkeiten zur Geldsendung gewählt wurden, werden sie in anderen Fällen auch zur gelegentlichen Kostenersparnis beschritten oder es können, wie das nächste Fallbeispiel zeigt, darüber hinaus andere pragmatische Gründe ausschlaggebend sein.

Fallbeispiel zu sozialen Voraussetzungen und Vorteilen informeller Transfer wege Bazim Hamidi, der Ende der 1980er Jahre aus dem Iran nach Deutschland migrierte, lebt hier mit seiner Frau und seinen vier Kindern zusammen. Im Iran wohnen seine Mutter und seine Schwester sowie einer seiner fünf Brüder. Zwei jüngere Brüder leben ebenfalls in Deutschland und zwei ältere Brüder in England. Alle im Ausland lebenden Brüder leisten bei Bedarf gemeinsam finanzielle Unterstützung an die im Iran lebenden Familienmitglieder und greifen hierzu auf zwei unterschiedliche Transferwege zurück:

Wandernden Geldern auf der Spur „also mit der Bank können wir auch überweisen (.) das ist eine Möglichkeit, zweite Möglichkeit ist das Beispiel Sie sind Iranerin, Ihre Schwester ist in Ihre Verwandtschaft, Familie leben in Iran, sie brauchen das Geld, ich gebe Ihnen Geld hier (.) Euro, dann Ihre Schwester oder Ihre Mutter gibt an meine Verwandtschaft auf iranische Geld, so wird umgetauscht, so machen wir auch“.

Außer der Überweisung mittels Banken erfolgt der Geldtransfer über die Unterstützung durch Bekannte in Deutschland, deren Familienmitglieder im Iran leben und das Geld an Bazim Hamidis Familie überbringen können. D.h., Herr Hamidi übergibt in Deutschland eine bestimmte Summe an iranische Bekannte und deren Familienangehörige im Iran übergeben diese Summe an Herrn Hamidis Familie. Diese Strategie hat den Vorteil, dass die finanziellen Mittel wesentlich schneller transferiert werden können als im Falle der Banküberweisung. Sie ist für Herrn Hamidi zudem mit weniger Aufwand verbunden, da ihm die Überweisung per Bank nicht lokal möglich ist, sondern er hierfür in eine ca. 120 Kilometer entfernte Großstadt fahren muss: „wenn meine Mutter unbedingt dring äh dringend Geld braucht ich kenne die Leute da drüben und die Söhne Töchter leben auch schon lange hier, sagt man halt ruf ich sofort an ‚kann deine Bruder so viel meine Mutter geben in de Iran so viel Geld?‘ ‚ja wie viel brauchst du?‘ ‚sagen wir 500 Euro? 500 Euro kriegst du von mir hier‘ und die Söhne da auf iranische Geld an meine Mutter bringen, das machen wir auch, das geht viel schneller als de Bank weil Bank braucht immer vier fünf Tage und dann muss ich nach X. [nennt eine ca. 120 km entfernte Großstadt] fahren, von dort kann ich überweisen, nicht von hier in der Nähe“.

Grundlage für diese Geldtransferpraxis ist das vorhandene Beziehungsnetzwerk in Deutschland, dessen Mitglieder jeweils Familienmitglieder im Iran haben, die über finanzielle Ressourcen verfügen und zudem in geografischer Nähe zu Herrn Hamidis Familie leben. Dadurch kann die Mutter das benötigte Geld sofort erhalten; noch bevor die Auszahlung durch Bazim Hamidis Familie an die Geldvermittlerinnen oder -vermittler erfolgt ist. Die Praxis des Geldtransfers ist damit voraussetzungsvoll und Bazim Hamidi betont zudem einen ‚guten‘ Bekanntheitsgrad zu den involvierten Personen und die vorhandene Vertrauensbasis als erforderliche Bedingungen: „Vertrauen muss da sein natürlich natürlich (.) mit jede Fremde machen wir so was net, die Leute nur Geld geben wir die uns gut kennen machen wir das (..) weil ohne Quittung und gar nix das Geld wird da gegeben dann nicht abgegeben [lacht]“.

Anhand der Darstellung unterschiedlicher Möglichkeiten, wie Transfers transnationaler Unterstützung erfolgen können, zeigte sich, dass die verfügbaren

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Optionen der beteiligten Akteurinnen und Akteure in den Herkunfts- und Ankunftsländern die Diversität akteursspezifischer Wege zur Leistung trans­ natio­ naler finanzieller Unterstützung (mit)bedingen. In den empirischen Beispielen kam informellen Transferwegen große Bedeutung zu. Während im ersten Fallbeispiel formelle Transfers aufgrund infra-struktureller Begrenzungen nicht in Frage kamen und Geldsendungen somit nur auf informellem Wege stattfinden konnten, konnte aus dem zweiten Fall rekonstruiert werden, welche (weiteren) Vorteile mit der Nutzung informeller Transferwege einhergehen und zu deren Präferenz führen können. Es wurde die im Vergleich mit Banken bessere Funktionalität informeller Transfers angeführt, da die über Netzwerke vermittelte finanzielle Unterstützungsleistung schneller dort ankomme, wo sie gebraucht wird. Zum anderen wurde der im Vergleich zum formellen Geldtransfer über Banken geringere Aufwand informeller Geldvermittlung betont. Es sei nur ein Anruf vonnöten, während die Bank 120 Kilometer entfernt sei. Gleichzeitig zeigte sich in beiden Fällen, wie voraussetzungsvoll die Nutzung informeller Transferwege ist. Soziale Netzwerke, die sich länderübergreifend aufspannen, oder mobile Netzwerkpartnerinnen oder -partner sind vonnöten, um remittances in die Herkunftsländer überbringen zu lassen. Dabei erwies sich Vertrauen in die Vermittlung der zu transferierenden Gelder als wesentliche Bedingung der Geldübergabe. In diesem Zusammenhang fiel auf, dass Akteurinnen und Akteure ganz unterschiedlicher Beziehungskonstellationen, einhergehend mit divergierendem Bekanntheitsgrad, in den Vermittlungsprozess eingebunden wurden: Befreundete Personen aus dem Herkunftsland traten genauso als Geldbotinnen und -boten oder Geldvermittlerinnen und -vermittler auf wie Bekannte in Deutschland und deren im Herkunftsland lebende Angehörige, im Herkunftsland tätige Hilfspersonen (Entwicklungshelferinnen und -helfer), benachbarte und quasi unbekannte Personen aus dem Vereinsnetzwerk.

F a zit : O rganisation und V ermittlung tr ansnationaler finanzieller U nterstützung als eine F r age der E inbindung in soziale N e tz werke In diesem Kapitel wurde der Fokus auf die Akquirierung und den Transfer von remittances gelegt. In den empirischen Falldarstellungen wurden dementsprechend unterschiedliche Wege aufgezeigt, transnationale finanzielle Unterstützungsleistungen zu vollziehen. Als gemeinsames Moment sowohl im Hinblick auf Möglichkeiten der Aktivierung von finanziellen Mitteln unter Bedingungen von Armut und Migration als auch hinsichtlich der Nutzung von informellen Geldwegen kristallisierte sich die Bedeutung sozialer Netzwerke heraus, indem durch diese transnationale finanzielle Unterstützung erst ermöglicht

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wurde. Dabei fiel auf, dass der Rückgriff auf vorhandene Netzwerke sich deutlich unterscheiden kann: Während im ersten Fallbeispiel aus einem ‚Pool von Freunden‘ auf eine konkrete, finanziell ressourcenstarke Person zurückgegriffen wurde, die sozusagen als ‚private und finanziell zinslose Ein-Mann-Bank‘ fungierte und das benötigte Geld vorlegte, erwies sich im zweiten Fallbeispiel hingegen die Aktivierung bzw. das Kollektiv eines persönlichen Netzwerks als bedeutsam, um den notwendigen Unterstützungsbedarf zu decken. Die finanzielle Belastung wurde auf mehrere ‚Köpfe‘ verteilt und die transnationale finanzielle Unterstützungsleistung ohne notwendige Rückzahlung zu einem späteren Zeitpunkt möglich. In ähnlicher Weise wiesen auch die Beispiele zu den informellen Transferwegen unterschiedliche Konstellationen bezüglich der Zahl und Verortung der involvierten Netzwerkpartnerinnen und -partner auf, die sich auf die gewählten Strategien der betrachteten Akteurinnen und Akteure auswirkten. Die theoretischen Ausführungen und empirischen Falldarstellungen zeigen entsprechend die Vielschichtigkeit transnationaler finanzieller Unterstützung und der zugrunde liegenden grenzüberschreitenden Verflechtungen auf. Fokussiert auf den Kontext der familialen Sorge (im weiten Sinne) wurden Aspekte sozialer Unterstützungsprozesse herausgearbeitet, die sich durch Verflechtungen von länderübergreifenden und lokalen Unterstützungsprozessen sowie von familialer und nicht familial begrenzter Unterstützung auszeichnen. Finanzielle Unterstützungsressourcen werden ggf. zunächst in lokalen oder transnationalen Beziehungsnetzen mobilisiert und benötigte Unterstützungsleistungen vor Ort wiederum über transnationale Beziehungsnetze organisiert und vermittelt. Es handelt sich in dem Sinne um eine ‚unterstützte finanzielle grenzüberschreitende Unterstützung‘. In diesen wechselseitigen Unterstützungs- und Vermittlungsprozessen zwischen Lokalität und Transnationalität sind Unterstützungsgebende familialer Sorge zugleich Unterstützungsempfangende und transnationale Unterstützungsprozesse vollziehen sich keineswegs nur in eine Richtung von einem Ort zum anderen. Transnationale finanzielle Unterstützung zeichnet sich dabei durch ihre Verwobenheit mit den jeweils lokalen Bedingungsgefügen aus, die die Bedarfe und Unterstützungspotenziale der Familienmitglieder in transnationalen Kontexten prägen. Vor dem Hintergrund, dass keineswegs nur Familienmitglieder an der Ausgestaltung transnationaler familialer Sorge aktiv beteiligt sind, stellt sich auch die Frage nach der Konzeptionierung transnationaler familialer Sorge. Von diesen Überlegungen ausgehend ist transnationale familiale Sorge als komplexer Verflechtungszusammenhang aus (trans-)lokalen, infra-strukturellen, finanziellen und sozialen Bedingungen zu verstehen. In diesem Rahmen kommt sozialen Netzwerken, über die nationale Grenzüberschreitung und dadurch finanzielle Unterstützung ermöglicht werden, eine zentrale Bedeutung

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zu. Im Zuge weiterer Forschungen erscheint es entsprechend aufschlussreich, die Unterschiedlichkeit sozialer Netzwerke, deren Bedingungen und Funktionen bei der Organisation und Vermittlung von remittances, aber auch bei anderen Formen familialer Unterstützung zu untersuchen.

L iter atur BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) (2013): Lebenslagen in Deutschland. Der Vierte Reichtums- und Armutsbericht der Bundesregierung. Berlin. Hertlein, Stefanie/Vadean, Florian (2006): Rücküberweisungen – Brückenschlag zwischen Migration und Entwicklung. Focus Migration. Kurzdos­ sier Nr. 5. Herausgegeben vom WeltWirtschaftsInstitut (HWWI). Hamburg. Quelle online verfügbar unter: http://www.hwwi.org/uploads/ tx_wilpubdb/KD05_Rueck_01.pdf. (Abruf am 03.03.2014). Hollstein, Tina/Huber, Lena/Schweppe, Cornelia (2009): Transmigration und Armut. Zwischen prekärer Unterstützung und risikohafter Bewältigung. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik (ZfSp) 7 (4), S. 360-372. Kapur, Devesh (2004): Remittances: The New development Mantra. Harward University and Center for Global Development, g-24 Discussion Paper No. 29. Quelle online verfügbar unter: http://unctad.org/en/Docs/gdsmdpbg2420045_en.pdf. (Abruf am 05.02.2014). Levitt, Peggy./Nyberg-Sørenson, Nina. (2004): The Transnational Turn in Migration Studies. In: Global Migration Perspectives No. 6 (October 2004). Quelle online verfügbar unter: http://www.iom.int/jahia/webdav/site/myjahiasite/shared/shared/mainsite/policy_and_research/gcim/gmp/gmp6. pdf. (Abruf am 22.11.2013). Schweppe, Cornelia (2011): Migrant Financial Remittances – Between Development Policy and Transnational Family Care. In: Transnational Social Review, 1 (1), S. 39-51. The World Bank (2013): Migration and Development Brief 20, Migration and Remittances Unit, Development Prospects Group 19.4.2013, http://econ. worldbank.org (Abruf am 12.12.2013).

Skype und Co.: Transnationale soziale (Unterstützungs-) Beziehungen und „neue“ Kommunikationsmedien

Moderne Kommunikationsmedien spielen neben den verbesserten und vergünstigten Möglichkeiten von Transport und Reisen für die Gestaltung sozialer Beziehungen über geografische Distanzen und Ländergrenzen hinweg eine entscheidende Rolle. Diese Entwicklungen tragen dazu bei, dass grenzüberschreitende soziale Beziehungen zunehmend ihren früheren Ausnahmecharakter verlieren (vgl. Pries 2008). Neue Möglichkeiten der Fernkommunikation intensivieren eine zunehmende Entgrenzung von Zeit, Raum, Ort, Nähe und Ferne (vgl. Beck 2004). Während zum Beispiel durch die wachsende Verbreitung des Internets „qualitativ neue Formen der ‚virtuellen Kopräsenz‘ von Menschen“ (Pries 2008, S. 49) eröffnet werden, erhalten auch die verbreiteten und zunehmend günstiger gewordenen Möglichkeiten, internationale Telefongespräche zu führen, Bedeutung. Durch diesen (erleichterten) Zugang zu Kommunikationsmedien erweitern und verändern sich die verfügbaren Handlungsspielräume zur Entwicklung und Aufrechterhaltung grenzüberschreitender sozialer Beziehungen. Obgleich diese Entwicklungen große Bevölkerungsgruppen betreffen, die durch „regelmäßige Kommunikation […] unmittelbar am Leben anderer Mitglieder ihrer pluri-lokalen Netzwerkstruktur teil[nehmen]“ (Pries 2010, S. 66 f.), sind die Teilhabechancen zu einer solchen Nutzung ungleich verteilt: Die Nutzungsmöglichkeiten von Kom­mu­ni­ ka­tonsmedien sind im Allgemeinen an die lokale und personale Verfügbarkeit derselben gebunden. Aufgrund des international und regional unterschiedlichen Verbreitungsgrades der Kommunikationstechnologien sind diese somit nicht überall für jeden gleichermaßen zugänglich, sodass mangelnde Opportunitätsstrukturen den Gebrauch spezifischer Medien verhindern oder einschränken können. Zudem sind Kommunikationsmedien nicht nur in infrastruktureller Hinsicht voraussetzungsvoll. Auch an die Individuen stellen sie Herausforderungen, setzen finanzielle und materiell-technische Ressourcen

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und die Aneignung der erforderlichen Medienkompetenz voraus, die Akteurinnen und Akteure von ihren den begünstigenden Funktionen der Mediennutzung ausschließen können. Im Folgenden werden unter Berücksichtigung dieser Begrenzungen und Herausforderungen Möglichkeiten aufgezeigt, wie der Zugang zu bestimmten Kommunikationsmedien zur Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen trotz geografischer Distanz und physischer Abwesenheit der Interaktionspartnerinnen und -partner sowie eingeschränkter finanzieller Mittel beitragen kann. Am Beispiel von Migrantinnen und Migranten, die nur über begrenzte finanzielle Mittel verfügen, wird in den Blick genommen, welche Chancen und Grenzen mit den jeweiligen Kommunikationstechnologien einhergehen, welche Formen von sozialen Beziehungen sie ermöglichen, aber auch verunmöglichen und wie die Ausgestaltung von transnationalen sozialen Kontakten und insbesondere von sozialen Unterstützungsprozessen über Kommunikationstechnologien vollzogen wird.

F inanzielle G renzen medienvermittelter tr ansnationaler K ommunik ation Welche Probleme es bereiten kann, unter Bedingungen geringer finanzieller Mittel, transnationale Beziehungen via Kommunikationstechnologien gestalten und aufrechterhalten zu wollen, wird anhand des Beispiels von Yulia Rudenko deutlich. Frau Rudenko, die zum Zeitpunkt des Interviews 38 Jahre alt ist und vor sechs Jahren aus der Ukraine nach Deutschland migrierte, stehen nach Abzug der fixen Kosten für Miete und Krankenversicherung noch 150 Euro im Monat zur Verfügung. Sie erzählt über die damit verbundenen finanziellen Schwierigkeiten der Kontaktaufnahme zu Familienmitgliedern und Freundinnen und Freunden in der Ukraine: „Es ist ziemlich teuer dorthin anrufen und wenn es ganz kurz dann wir haben nicht viel einander zu sagen und wenn es lang länger wird dann es wird halt teuer [lachen]“. In dem Zitat zeigt sich nicht nur, dass die Anzahl und Länge von Telefonaten finanziellen Begrenzungen unterliegen. Es wird zudem deutlich, dass die finanziellen Restriktionen sich zugleich auf die Qualität der Unterhaltung auswirken („dann wir haben nicht viel einander zu sagen“) oder hohe Kosten in Kauf genommen werden müssen. Im Rahmen einer prekären finanziellen Situation werden dadurch die Möglichkeiten transnationaler Kommunikation beschnitten. Auch die Möglichkeiten physischer Mobilität etwa durch Reisen, werden oftmals stark eingeschränkt oder gar verunmöglicht. Als Natalia Kutyenko, die 65 Jahre alt und ebenfalls eine Migrantin ukrainischer Herkunft ist, nach der Kontakthäufigkeit zu ihrem Bruder befragt wird, entwickelt sich folgender Dialog zwischen ihr und der Interviewerin:

Skype und Co. N.K.: Ja ich telefoniere nicht oft auch nach Ukraine und das ist große [lacht] Entfernung, so viel Geld, aber muss ein suche Kontakt wie Kontakt, und ich wünsche nach Ukraine kommen wie oder Urlaub gehen Urlaub, aber […] ich nicht kommen kein Geld, keine Möglichkeit mit Familienzustand […] er hat kein Geld für Reise, nur telefonisch. I: Also Sie haben sich dann diese sieben Jahre gar nicht mehr gesehen? N.K.: Nee I: Ah okay N.K.: Getrennt.

Die finanziellen Begrenzungen in Bezug auf Möglichkeiten des Verreisens und Telefonierens zeigen, dass die Herstellung und Aufrechterhaltung so­ zialer Beziehungen und Verbindungen im Rahmen von Migration (und Armut) zur Bewältigungsanforderung werden können. Gleichzeitig gibt die finanziell begrenzte Situation der Migrantinnen und Migranten und der in den Herkunftsländern zurückgebliebenen Verwandten oftmals Anlass zu transnationalen Unterstützungsleistungen, für deren Aktivierung jedoch wiederum physische, telefonische oder virtuelle Kontakte nötig werden. Transnationale Unterstützungsbeziehungen und der Zugang zu modernen Kommunikationsmedien stehen unter Bedingungen von Armut und Migration somit in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander. Auf medienvermittelte Formen der Kommunikation, die in Anbetracht der häufig vorhandenen Verunmöglichung von Reisen ins Herkunftsland für unter Bedingungen von Migration und Armut lebende Akteurinnen und Akteure immer wichtiger werden, wird im Folgenden im Kontext von transnationaler sozialer Unterstützung näher eingegangen.

M öglichkeiten

und G renzen von medienvermittelter tr ansnationaler sozialer U nterstützung In transnationalen Unterstützungsprozessen sind weder der unmittelbare Transfer von materiellen Gütern oder Geld noch die grenzüberschreitende oder regionale Mobilität von Personen Voraussetzung für soziale Unterstützungsleistungen. Dies wird besonders am Beispiel informativer, beratender oder emotionaler Unterstützungsformen offenkundig, die bei lokal in den unterschiedlichen Nationalstaaten gegebenen Kommunikationsmöglichkeiten länderübergreifend kommunizierbar und zu leisten sind. Während diese Unterstützungsformen bereits in anderen Kapiteln dieses Buches aufgegriffen wurden, werden sie nun anhand empirischer Beispiele im Hinblick auf die Bedeutung von spezifischen Kommunikationstechnologien näher betrachtet. Im Folgenden rückt vorerst Cira Jerez, eine 29 Jahre alte Peruanerin in den Mittelpunkt des Interesses, die zum Zeitpunkt des Interviews seit sechs Jah-

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ren zu Studienzwecken in Deutschland lebt. Wenn sie Probleme besprechen möchte oder einen Ratschlag benötigt, kontaktiert sie stets ihren älteren Bruder in Peru, obwohl sie auch Freundinnen und Freunde und eine in der Nähe lebende Schwester in Deutschland hat, zu der sie regelmäßigen Kontakt pflegt: „Die Freunden sie helfen dir auch, ich habe viele Freunden hier […] aber es ist immer noch dass wenn du ernste Sachen reden möchtest oder du nicht weißt, was du machen sollst, normalerweise weißt du, aber irgendwie brauchst du etwas anderes, dann ruf ich meinen Bruder an. Egal ob er in der Arbeit ist oder auf dem Handy, ruf ich immer, er ist immer da für mich […] ja“.

Frau Jerez hebt hervor, dass sie auch in ihrem Umfeld in Deutschland viele Freundinnen und Freunde habe, die sie unterstützen würden. Im Gegensatz zu dem, was diese ihr vor Ort bieten können, gibt es jedoch Anlässe, zu denen sich Cira Jerez nur an ihren Bruder wendet: „Irgendwie brauchst du etwas anderes“. Dabei geht es um „ernste Sachen“, zu denen sie Rat erhält, und allgemeiner um emotionale Belastungen, bei denen sie – wie sie sagt „moralische Unterstützung“ – im Sinne von Zuspruch, Trost und Stärkung erfährt. Ihr Bruder ist diesbezüglich die bedeutsamste Person für sie, unabhängig davon, wo sich beide aufhalten und dass ein persönlicher Kontakt nur per Telefon möglich ist. Die enge Beziehung zu ihm bietet ihr eine kontinuierliche und stets verfügbare Unterstützungsressource: „Er ist immer da für mich“. Hindernisse bei der ressourcenaktivierenden grenzüberschreitenden Kontaktaufnahme thematisiert Frau Jerez nicht. Die Allzeit-Verfügbarkeit des Bruders scheint trotz Zeitverschiebung und seines Aufenthaltes auf der Arbeit stets gegeben. Auch werden keine technologischen Barrieren (z.B. Netz- oder anderweitige Verbindungsprobleme) und Ungewissheiten benannt. Im Gegenteil: Es wird von Frau Jerez betont, dass der Bruder immer für sie da sei, obwohl er physisch nicht da ist. Zwar wäre ein Abwarten einer Kontaktaufnahme ihrerseits denkbar, wenn sie weiß, dass sich ihr Bruder nicht zu Hause befindet. Doch scheint es gerade von großer Bedeutung zu sein, dass die Unterstützung des Bruders zu jeder Zeit und an jedem Ort aktiviert werden kann. Indem sie ihren Bruder anruft, kann Frau Jerez in der konkreten Situation, in der sie Unterstützung benötigt, unmittelbare Hilfe abrufen, und muss nicht abwarten, bis dieser beispielsweise seine Arbeitsstelle verlässt und zu Hause verfügbar ist. Ebenso beschreibt auch Said Bassir, der 31 Jahre alt ist und aus Marokko kommt, den direkten und emotional bedeutsamen Austausch mit Familienmitgliedern im Herkunftsland, z.B. mit seiner Schwester. Dieser Austausch umfasst auch alltägliche Probleme im jeweiligen lokalen Kontext. Diese gegen-

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seitige informative und emotionale Unterstützung wird als selbstverständliche und beständige (transnationale) Praxis begriffen:1 „Ja, ja natürlich ja – Fragen immer ja, mein, Beispiel meine Schwester sehe, sie wohnt weit von meine Mutter, und manchmal s das gibt Sachen, sie kann den nichts […] sie sagt das nur für mich, und kann, und das reden und so“.

Said Bassir wird von seiner Schwester kontaktiert, wenn es um Themen geht, die sie der in Marokko lebenden Mutter nicht anvertrauen kann oder möchte. Entsprechend verweist in diesem Zusammenhang die Äußerung, seine Schwester wohne in Marokko weit von seiner Mutter entfernt, nicht auf fehlende Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zur Mutter. Sowohl die Mutter als auch die Schwester verfügen über einen Internet- und Skypezugang2, wodurch nicht nur die geografische Distanz zwischen Marokko und Deutschland, sondern auch jene innerhalb Marokkos überwunden werden kann. Da die Kontaktaufnahme zu ihm anstatt zur Mutter nicht auf die Entfernung der Wohnorte in Marokko und mangelnde Gelegenheiten zur Kontaktaufnahme zurückzuführen ist, erweist sich die Aussage als zentral: „Manchmal s das gibt Sachen sie kann den nichts“. Offensichtlich geht es hierbei um Themen, die die Schwester nicht mit ihren Eltern besprechen möchte. Die Aussage, „sie sagt das nur für mich“, zeugt dabei von einem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Said Bassir und seiner Schwester, das auch nach seiner Migration bestehen bleibt und sich in intimen Gesprächen und dem Besprechen von Sorgen ausdrückt. Während sich hier zeigt, dass speziell das Internet die (veränderte) Weiterführung der familialen Unterstützungsstrukturen über weite geografische Distanzen und nationale Grenzen hinweg potenziell zulässt, verdeutlicht folgende Aussage hingegen, dass Unterstützungsleistungen, die eine physische Anwesenheit und Beteiligung voraussetzen, eine Einschränkung erfahren: „Kann ich nicht so mit helfen mit n Hand, aber kann ich nur so raten“. Es wird 1 | Empirisch wäre die Betrachtung der Annahmen von Akteurinnen und Akteuren in Bezug auf Kontaktmöglichkeiten in ihr Herkunftsland – noch bevor diese migrierten – wünschenswert. Auf diese Weise könnte auch in den Blick genommen werden, ob und inwiefern die physische Migration auch mit dem Wissen eingeleitet und sich zugetraut wird, dass stetige Kontaktaufnahmen zu bedeutsamen Personen ins Herkunftsland möglich sind. 2 | Bei Skype handelt es sich um eine kostenlose IP-Telefonie-Software des Unternehmens Microsoft mit Funktionen wie Sofortnachrichten, Sprach- und (Gruppen-) Videoanrufen. Skype-Nutzer können sich via Tablet, Handy, Computer oder TVs mit Internetfunktion kostenlos per Sprach-(Video-)Anruf oder Sofortnachricht unterhalten (vgl. http://www.skype.com/de/about/).

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zudem deutlich, dass Said Bassir der Rat gebenden Funktion Unterstützungsformen gegenüberstellt, die nur durch ein physisches Vor-Ort-Sein ermöglicht werden und die er als „helfen mit n Hand“ beschreibt. Mit der Verwendung moderner Kommunikationsmedien gehen somit zum einen Beschränkungen einher. Zum anderen eröffnen sie auch unterschiedliche Möglichkeiten der Unterstützung, indem sie es beispielsweise nicht nur gestatten, Nationalgrenzen überschreitend eine ‚Ratgeberfunktion‘ zu erfüllen. Neben dieser betont Said Bassir speziell auch eine Vermittlungsrolle, die er zwischen einzelnen Familienmitgliedern inne zu haben scheint. Dabei bleibt unklar, ob er diese vielleicht erst nach seiner Migration durch die Tatsache, dass er nicht vor Ort ist, erhielt bzw. das Familiensystem sich in Richtung dieser Rollenverteilung entwickelte und damit veränderte oder ob er diese Position bereits vor der Migration innehatte. So wird er beispielweise von seiner Mutter in Marokko um Hilfe gebeten, wenn sie Schwierigkeiten mit Said Bassirs jüngerem Bruder hat: „Zum Beispiel, wenn meine Mutter hat Probleme mit mein Bruder oder so, er kommt spät oder so, mein Mutter mag das nicht, sagt se, sie sagt zu mir, ich soll mit ihm reden, ‚sag das nicht gut was er macht‘ und so ja“. Dabei erwartet sie von Said Bassir, dass er ihre Vorstellungen, die das gemeinsame Zusammenleben im Haushalt der Familie in Marokko betreffen, an seinen Bruder weitervermittelt. Dieses Beispiel der nationalstaatliche Grenzen übergreifenden Initiierung und Vermittlung von Erziehungsmaßnahmen zwischen Said Bassir, seiner Mutter und seinem Bruder macht zum einen deutlich, dass alltägliche familiale Probleme (z.B., dass der Bruder spät nach Hause kommt) zum Anlass transnational gestalteter Sorge und Bewältigung werden können. Zum anderen wird die Bedeutung moderner Kommunikationsmedien für die Umsetzung bzw. Vermittlung der Sorge- und Unterstützungsleistungen deutlich sowie die Rolle, die Kommunikationsmedien bei der Strukturierung, Formierung und Ausgestaltung der Unterstützungsleistungen spielen. Ohne Zugang zu den (internetbasierten) Kommunikationsmedien wäre die alltägliche Nutzung zur länderübergreifenden Kommunikation mit der Familie in Marokko nicht möglich und diverse Unterstützungsprozesse könnten nicht stattfinden. Unter der Voraussetzung, dass die Anschaffungskosten eines Computers jeweils getätigt werden (können) und Internetzugang besteht, bieten speziell kostenlose Portale wie Skype die Möglichkeit, ohne weitere Kosten immer und ohne Beschränkung hinsichtlich der Länge und der Häufigkeit zu kommunizieren. Dies ist angesichts der begrenzten finanziellen Mittel von Said Bassir und seiner Familie für die bestehende Intensität des Kontakts bedeutsam. Im Interview verdeutlicht er, dass dadurch ein täglicher familialer Austausch stattfindet und er somit informationell immer auf dem neuesten Stand ist: „Ich weiß, dass wir sind immer im Internet, weiß immer Bescheid“. Medienvermittelt kann er somit in gewisser Weise am Familien-

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leben in Marokko teilhaben. Auch finanzielle Unterstützungsbedarfe werden auf diesem Wege kommuniziert und jene finanzielle Unterstützung, die Herr Bassir seiner Familie in Marokko zukommen lässt, eingeleitet (siehe hierzu ausführlich das Kapitel „Wandernden Geldern auf der Spur“). An den gerade genannten Beispielen wurde deutlich, dass Said Bassir als Ansprechpartner für unterschiedliche Probleme und Sorgen der Familienmitglieder fungiert. Im Interviewverlauf zeigt sich dabei auch, dass er aktiv als ‚Berater‘ sowie als ‚Vermittler‘ in Erscheinung tritt, wenn er die Wünsche, Bedürfnisse und Erziehungsvorstellungen seiner Mutter an den jüngeren Bruder weitergibt. Er übersetzt die Sorge und evtl. den Ärger der Mutter an den Bruder. Grundlegend für diese fortwährende Unterstützungspraktik erscheint, dass er für den Bruder offenbar eine besondere Vertrauens- und Respektperson darstellt, dessen Meinung für ihn bedeutsam ist und seine Aussagen daher sein Verhalten der Mutter gegenüber eher verändern. Die Annahme, dass Said Bassir trotz oder auch aufgrund seiner physischen Abwesenheit diesbezüglich eine besonders bedeutsame Rolle zukommt, wird dabei durch die geäußerte Regelmäßigkeit dieser Vermittlungsprozesse bekräftigt.

Abbildung 3: Indirekte, transnationalisierte mediale Vermittlung von Sorgeleistungen

Z wischenfa zit Am Beispiel der Unterstützungsleistungen zwischen Said Bassir und seiner Familie sowie Cira Jerez und ihrem Bruder wurde deutlich, dass jeweils die Unterstützungsleistenden Ansprechpartnerinnen und -partner für spezifische Problemlagen in der Familie sind und diese Funktion nach der Migration weiterhin (oder in neuer Form) einnehmen.

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In den genannten Beispielen der psychosozialen Sorge unter Familienmitgliedern, die weit voneinander entfernt in unterschiedlichen Nationalstaaten leben, stellt sich die Frage, inwiefern es für die konkreten Unterstützungsprozesse von Bedeutung ist, dass jeweils ein Teil bzw. einzelne der involvierten Personen migriert sind. Welche Bedeutung kommt physischer Abwesenheit und dadurch neuartig zu organisierender transnationaler Sorge zu? Ist es gerade die große geografische Distanz, durch die diese Vermittlerrolle forciert wird und welchen Einfluss hat das Kommunikationsmedium selbst auf die Unterstützungsleistung und -beziehung? Da es auf den ersten Blick für bestimmte Unterstützungsfunktionen unerheblich erscheint, dass Unterstützungsleistende und -empfänger in anderen nationalstaatlichen Kontexten leben, stellt es sich als notwendig und bedeutsam dar, die genutzten medialen Technologien der Unterstützung genauer zu betrachten.

M öglichkeiten und G renzen tr ansnationaler U nterstützung als F r age der K ommunik ations technologie ? Die verschiedenen Kommunikationstechnologien stellen unterschiedliche Anforderungen und zugleich diverse Rahmenbedingungen für die Kommunikation bereit, die auch interpersonal zur Präferenz bestimmter Medien führen können. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass die Bedingung, spezifische Medien zu bevorzugen, zuallererst in ihrer Verfügbarkeit und dem daraus sich ergebenden Einsatz der jeweiligen Kommunikationstechnologie besteht. Der Rückgriff auf Kommunikationsmedien nimmt in Prozessen transnationaler sozialer Unterstützung Einfluss auf deren Ausgestaltung und die sozialen Unterstützungsbeziehungen werden unterschiedlich arrangiert und formiert, wobei die Akteurinnen und Akteure durch ihre Nutzungspraktiken in kreativer Weise mit den ihnen gestellten Bedingungen umgehen können.

M edien mündlicher K ommunik ation : (M obil-)Telefon und S k ype In den beiden dargestellten Fallbeispielen zeigte sich die Bedeutung der verwendbaren und bevorzugten Nutzung von Medien, die eine mündliche Kommunikation mit den Familienmitgliedern in den Herkunftsländern möglich machen. Als wesentlicher Vorteil, der auch die beschriebenen Unterstützungsleistungen prägt und erst ermöglicht, kommt hierbei zum Tragen, dass die Kommunikation in mündlicher Form zeitgleich, d.h. unmittelbar stattfindet. Die beteiligten Gesprächspartnerinnen und -partner sind zwar physisch getrennt

Skype und Co.

voneinander, befinden sich aber zeitgleich über die Verbindung per Telefon oder Skype in derselben Kommunikationssituation und können entsprechend schnell auf das Gesagte des anderen reagieren. Während im Fall von Cira Jerez die beidseitige Möglichkeit einer telefonischen Kontaktaufnahme, d.h. das Verfügen über entsprechende technische Geräte, eine grenzüberschreitende Telefonverbindung sowie ausreichende finanzielle Mittel zur Deckung der entstehenden Kosten grundlegend sind, ermöglicht darüber hinaus erst die Technologie des Handys und dessen Verfügbarkeit sowohl für den Bruder in Peru als auch für Frau Jerez in Deutschland, dass sie den Bruder jederzeit kontaktieren und er „immer“ unmittelbar unterstützend für sie da sein kann.3 Im Fall von Said Bassir erweist sich die tägliche Nutzung des internetbasierten Kommunikationsmediums Skype, die allen Familienmitgliedern möglich ist, von besonderer Bedeutung: „Wir sind immer im Internet“. Im Gegensatz zu Kontakten per Telefon sind mit der Nutzung von Skype bei einem vorhandenen Internetzugang keine zusätzlichen Kosten verbunden, die der Häufigkeit und Dauer des länderübergreifenden Austauschs finanzielle Grenzen setzen könnten. Für Said Bassirs Familie erlauben erst das Internet und Skype den täglichen und nicht nur in zeitlicher Hinsicht intensiveren Kontakt als er über das Telefon möglich wäre. Im Gegensatz zu Telefon, Briefen oder auch E-Mail können die Nutzerinnen und Nutzer dieser Onlineplattform sich gegenseitig hören und sehen. Trotz der geografischen Distanz werden damit die Gesprächspartnerinnen und -partner sowie die umgebenden Räumlichkeiten während der Kommunikation audio-visuell präsent. Diese „qualitativ neue[n] Formen der ‚virtuellen Kopräsenz‘“ (Pries 2008, S. 49) erleichtern die nachhaltige Weiterführung der familialen Unterstützungsstrukturen über nationale Grenzen hinweg, indem in besonderer Weise „das geografisch Ferne

3 | Die Bedeutung des telefonischen Austauschs für die Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen in Familien über weite geografische Distanzen hinweg pointiert Vertovec bereits im Jahr 2004 angesichts der damals weltweit zunehmenden Verbreitung von Einrichtungen zur Telefonie und der gleichzeitig sinkenden Kosten für internationale Telefongespräche: „The personal, real-time contact provided by international telephone calls is transforming the everyday lives of innumerable migrants. [...] ,they are still physically distanced, but they can now feel and function like a family‘ (Mahler 2001, S. 584). Whereas throughout the world non-migrant families commonly have discussions across a kitchen table (for example, can we buy a refrigerator? What do we do about the teenager’s behaviour? Who should take care of grandmother?), now many families whose members are relocated through migration conduct the same everyday discussions in real time across oceans. [...] It is now common for a single family to be stretched across vast distances and between nation-states, yet still retain its sense of collectivity“ (Vertovec 2004, S. 222).

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vor Ort – im Wohnzimmer – präsent ist und der ‚ferne‘ Alltag ‚der anderen‘ Bestandteil des eigenen Alltags wird“ (Bender et al. 2013, S. 157). Welche Spezifika bringt Skype noch mit sich, außer dass in Echtzeit miteinander geredet und sich gesehen werden kann? Welche Bedeutung hat es, dass sich die Gesprächspartnerinnen und -partner via Skype quasi ‚verabreden‘ bzw. online bereit sein müssen, wenn sie miteinander kommunizieren wollen (im Unterschied zum Alltag von Familienmitgliedern, die unter einem Dach wohnen)? Welche Bedeutung kommt dem Wissen bzw. dem Bewusstsein dafür zu, dass der/die jeweils andere Gesprächspartner/in sich – geografisch gesehen – in großer Distanz befindet und somit nicht kurz und spontan besucht werden kann? In diesem Zusammenhang sollte allerdings auch die von Herrn Bassir genannte Tatsache berücksichtigt werden, dass seine Familie „immer“ im Internet sei. Es stellt sich dementsprechend die Frage, inwiefern innerfamilial auch die Erwartung bestehen könnte, stets online zu sein. Bedarf es also überhaupt der ‚Verabredung‘ im Netz oder muss eher die Nicht-Präsenz im Internet legitimiert werden, sodass der Kontakt in der jeweiligen Situation evtl. ebenso häufig und potenziell auch ungewünscht sein kann, wie wenn Familienmitglieder in einem gemeinsamen Haus leben?4 Während Medien mündlicher Kommunikation also gleichsam wie nicht-medienbasierte Kommunikation u.a. Fragen der erforderlichen Ko-Präsenz der Anwesenden berühren, indem eine mündliche Äußerung nur denjenigen erreicht, der gleichzeitig anwesend ist, gilt für Medien schriftlicher Kommunikation, dass diese Raum und Zeit überbrücken können und müssen. Welche Unterschiede damit verbunden sind, wird im folgenden Abschnitt deutlich.

M edien schrif tlicher K ommunik ation : B riefe und E-M ails Briefe – speziell als Medium in sozialen Unterstützungsprozessen – unterscheiden sich gegenüber den zuvor genannten Kommunikationsmedien grundlegend darin, dass eine zeitgleiche bzw. -nahe thematische Erörterung eines Problems in Form eines Gesprächs nicht möglich ist. Wie in dem Kapitel „Die transnationale Organisation von child care in Familien“ geschildert, konnten Briefe im Fall von Amaré Issayu aufgrund des damals erst in Ent4 | Auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass Said Bassirs Familie so agiert, muss dennoch angemerkt werden, dass Skype als Kommunikationsmedium auch die Möglichkeit eröffnet, sich trotz Internetaktivität und Anwesenheit im Internet als offline anzeigen zu lassen, um nicht angerufen oder angeschrieben zu werden. Auf diese Weise wäre es wiederum möglich, allzu andauernde und unerwünschte oder häufige Kontaktaufnahmen von Skypepartnerinnen und -partnern zu stoppen bzw. zu unterbrechen.

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wicklung begriffenen technologischen Fortschritts als einzige Möglichkeit zur Kontaktaufnahme und zum Austausch mit seiner Frau über das Problem der Kindesversorgung genutzt werden. Durch den Postweg verzögern sich jedoch Mitteilungen über Unterstützungsbedarfe ebenso wie Rückantworten mit möglichen Problemlösungsvorschlägen, sodass nicht unmittelbar in der Situation gehandelt werden kann. Ferner ist mit diesem Kommunikationsmedium das Risiko verbunden, dass der Brief bei der Empfängerin oder dem Empfänger nicht ankommt und eine Rückantwort somit ganz ausbleibt. Die erhoffte Unterstützung kann somit (vorerst) nicht gegeben werden, was entsprechend mit zusätzlichen emotionalen Belastungen einhergehen kann. Emotional bedeutsam ist zudem, dass bei der Kommunikation über Briefe ebenso wie über E-Mail die Stimme des oder der anderen nicht gehört werden und er oder sie nicht gesehen werden kann, wodurch paralinguistische Kommunikationselemente (z.B. Mimik, Gestik, Intonation und Tonfall) entfallen, die nicht nur die Verständigung erleichtern, sondern für das Leisten psychosozialer Unterstützung wesentlich sein können.5 Andererseits bieten schriftliche Interaktionen etwas potenziell Bleibendes, das immer wieder gelesen werden und Trost und Halt geben kann. In ihrer handschriftlichen Form können Briefe ein sehr persönliches Zeugnis sein, wodurch möglicherweise eine spezifische Nähe zwischen Briefschreiber(in) und -empfänger(in) hergestellt werden kann, wie es z.B. über E-Mail gesandte ‚Briefe‘ nicht in gleicher Weise geschieht. Im Unterschied zu E-Mails und anderen Formen elektronischer Post kann über handschriftliche Briefe auch ohne weiteres in der gewünschten Sprache geschrieben werden. Die Bedeutung der schriftlichen Kommunikation in der Muttersprache und die strukturellen Barrieren, die in Abhängigkeit von Sprache mit bestimmten Medien schriftlicher Kommunikation verbunden sein

5 | An dieser Stelle muss jedoch darauf verwiesen werden, dass eine pauschale und technikdeterministische Perspektive, der zufolge mediale Individualkommunikation stets ‚unpersönlicher‘ sei als das face-to-face-Gespräch, zu kurz greift. Döring plädiert entsprechend für eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Medien, der jeweiligen Nutzerinnen und Nutzer, sowie der Kommunikationssituationen bei der Beschreibung und Bewertung medialer Kommunikation (vgl. Döring 2007, S. 300 f.). Beispielsweise fehle bei medialer Kommunikation zwar die körperliche Kopräsenz. Dadurch verliere die zwischenmenschliche Kommunikation jedoch nicht nur bestimmte Qualitäten, sondern sie gewinne durch Mediatisierung auch neue hinzu. Beispielsweise könne zeit- und ortsunabhängiger kommuniziert werden und der Wechsel von mündlichem zu schriftlichem Kommunikationscode biete andere sach- und emotionsbezogene Ausdrucksmöglichkeiten (vgl. Döring 2007, S. 301). Das Empfinden von Belastungen in Folge medialer Nutzung sei entsprechend ebenso möglich wie das Empfinden von Entlastung (vgl. Döring 2007, S. 300).

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können, verdeutlicht beispielsweise Yulia Rudenko am Beispiel der russischen Sprache, die auf kyrillischen Schriftzeichen basiert: „Früher hab ich immer zu einer meiner Freundin geschrieben und sie zu mir und dann wurde Kontakt unterbrochen, und na ja vielleicht schreibe ich irgendwas, es ist schwierig, weil (4) wenn ich an der Uni bin und hab frei Internetzugang ohne Beschränkung, dann ist das blöd, hier sind nur lateinische Buchstaben und wenn ich irgendwas schreiben will, dann wird das schwierig“.

Hier zeigt sich in Bezug auf das Kommunikationsmedium E-Mail, vermittelt durch die Technologie des Internets und der materiellen Verfasstheit der Tastatur, dass sie die Möglichkeit der Kontaktaufnahme und Aufrechterhaltung nur auf eine spezifische Weise zulassen, indem die Komponenten der Natio­ nalsprache und der Zeichen im Rahmen transnationaler Verbindungen bedeutsam werden. Ein Stift und ein Blatt Papier dagegen bedingen – wie oben beschrieben – den Kontakt in einem Bedingungsgeflecht mit postalischen Gegebenheiten, finanziellen Möglichkeiten und geografischen Distanzen auf andere Weise als dies ein Computer tut. Zeichnungen, Tränen, ein Kussmund, jedwede Formen von Zeichen und Sprache in allen Kombinationsmöglichkeiten können auf dem Papier abgebildet werden, währenddem die Tastatur eines Computers eine andere bestimmte Form von Kommunikation generiert. Hier kann primär mithilfe von Ikonizitäten, Zeichen wie lachenden oder weinenden Gesichtern den Emotionen der Schreibenden Ausdruck verliehen oder verdeutlicht werden, an welcher Stelle etwas als ironisch zu begreifen ist oder nicht. Eine Selektion von sprachlichen Symbolsystemen, mit denen kommuniziert werden kann, und damit eine Selektion von Personen, die mit der einen oder anderen Tastatur schreiben können, sind (zumindest ohne die Nutzung zusätzlicher Software) gleichsam gegeben.

S oziale U nterstützung , M edien sinnliche W ahrnehmung

und

Implizit wird in den bisherigen Ausführungen eine weitere Dimension medial vermittelter sozialer Unterstützung relevant. Sie bezieht sich auf die (veränderte) Wahrnehmbarkeit und Erfahrbarkeit anderer durch Sinne. Insgesamt wurde der Bedeutung von Sinnen in der sozialen Unterstützungsforschung bislang wenig systematisch nachgegangen. Die lange Zeit auf Kopräsenz und physische Anwesenheit von Unterstützungsleistenden und Unterstützungsempfängern fokussierte Forschung bietet hierfür möglicherweise eine Erklärung. Denn physische Kopräsenz impliziert die Möglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung und Erfahrbarkeit anderer, die somit quasi als

Skype und Co.

‚naturgegeben‘ angenommen und damit nicht explizit zum Gegenstand der Reflexion gemacht wurde. Unter Bedingungen von Kopräsenz kann ich die anderen immer sehen und hören (solange Seh- und Hörsinn nicht erheblich eingeschränkt sind), ich kann ihn oder sie berühren, die gemeinsame olfaktorische und gustatorische Wahrnehmung ist möglich. Sinne sind zweifellos Quellen sowohl für das Erkennen und Verstehen von Unterstützungsbedarfen als auch für das Leisten von Unterstützung. So macht es einen Unterschied, ob ich mich an jemanden mit einer leisen oder lauten Stimme wende, ein trauriges oder fröhliches Gesicht sehe, sie oder ihn berühren kann oder das Essen schmecken, sehen bzw. riechen kann, wenn eine Angehörige oder ein Angehöriger über das schlechte Essen z.B. in einer Altenpflegeeinrichtung klagt. Aber gerade diese mit Kopräsenz unmittelbar verbundene Möglichkeit der sinnlichen Erfahrbarkeit und Wahrnehmung anderer verändert sich im Kontext medial vermittelter Unterstützungsbeziehungen. Auch hier muss zwischen den unterschiedlichen Medien differenziert werden. So ermöglicht das Telefon das Hören, Skype das Sehen und Hören; bei schriftlichen Medien ist die Wahrnehmung des anderen als Person durch Sinne nicht möglich: Man sieht und hört den anderen nicht. Die Kommunikationspartnerin bzw. der Kommunikationspartner wird nur in Form ihrer/seiner Schrift verkörpert. Medien unterscheiden sich somit im Grad der sinnlichen Erfahrbarkeit der anderen, mit denen medial kommuniziert wird. Im Unterschied zur Kopräsenz von Interaktionspartnerinnen und -partnern, die potenziell gleichzeitig über alle Sinne wahrgenommen werden können, sind sie bei Medien jedoch im günstigsten Fall durch einzelne Sinnesorgane erfahrbar. Welchen Unterschied macht es, ob ich eine Person gleichzeitig hören, sehen, anfassen und gustatorische Erfahrungen unmittelbar teilen kann oder die gemeinsame sinnliche Wahrnehmung auf bestimmte Sinnesorgane reduziert ist? Und welche Bedeutung hat es, wenn diese gemeinsame sinnliche Wahrnehmung durch Medien vermittelt ist?6 Die Stimme am Telefon mag anders klingen als unter Anwesenheitsbedingungen und das Gesicht während eines Skype-Gesprächs nicht nur anders erscheinen; ich sehe es nicht physisch vor mir, sondern medial vermittelt auf einem technischen Gerät, dem Bildschirm, der das Gesicht in Abhängigkeit von seinen Funktionen zeigt, es entsprechend auch verzerren kann, wenn die Online-Verbindung sich verschlechtert und eine dreidimensionale Wahrnehmung verunmöglicht. Allen Medien gemeinsam ist somit, dass die sinnliche Wahrnehmung von anderen, die ihre Kopräsenz voraussetzt, durch Medien nicht 1:1 vermittelt werden kann. Dies betrifft vor allem die sogenannten Nahsinne (Geruchssinn, Geschmackssinn, Tastsinn). Die o.g. Aussage von Said Bassir „kann ich nisch ähh so mit helfen mit 6 | Für einen Vergleich zwischen direkter und medialer Individualkommunikation, siehe z.B. Döring 2007, S. 297 ff.

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n Hand“ gibt insofern treffend wieder, dass physische Abwesenheit nicht nur praktische oder handwerkliche Unterstützung, die die ‚Hände vor Ort‘ spezifischer Beziehungspartnerinnen und -partner erfordert, einschränkt, sondern auch Unterstützung durch körperliche Nähe und das körperliche Berühren und Fühlen durch sie nicht möglich wird. Gerade im Rahmen von Sorge-, Hilfe- und Unterstützungsbeziehungen, in denen körperliche Berührungen oder Nähe durch spezifische Bezugspersonen bedeutsam sein können, z.B. das Umarmen bei Trost oder Freude, das Berühren, wenn Kommunikation durch Sprache nicht mehr möglich ist oder das schlichte physische ‚Da(bei)sein‘ spezifischer Beziehungspartnerinnen oder -partner bei Trauer oder Krankheit, erfahren Grenzen. Unterstützungsformen, die die physische Präsenz von anderen erfordern, können selbstverständlich auch im transnationalen Kontext geleistet werden, indem sie an andere Menschen vor Ort delegiert werden. Sie lösen sich dadurch aber von spezifischen Bezugspersonen ab und sind vermutlich mit anderen Bedeutungsinhalten und Erfahrungsweisen sowohl für die Unterstützungsleistenden als auch für die Unterstützungserhaltenden verbunden. Die Antwort auf die Frage, welche Bedeutung sinnliche Wahrnehmung und Erfahrbarkeit medial vermittelter sozialer Unterstützungsbeziehungen für die Interaktionspartnerinnen und -partner und die Unterstützungsbeziehung sowie die konkreten Unterstützungsprozesse haben, bleibt bislang ein Desiderat.7 Durch die enorme Bedeutung von Medien im Rahmen transnationaler Unterstützungsbeziehungen wird hiermit jedoch eine Forschungsperspektive aufgezeigt, deren Verfolgung lohnenswert wäre, um die spezifischen Gestaltungen und Strukturierungen von (Unterstützungs-)Beziehungen im transnationalen Kontext zu analysieren.

F a zit : Ü ber E igensinn und S truk turbedingtheit von K ommunik ationsmedien Die vorherigen Ausführungen zeigen als Gemeinsamkeit der Kommunikationsmedien auf, dass sie alle geografische Distanzen auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg relativieren können und hierdurch soziale Unterstützungsprozesse ermöglichen oder wesentlich erleichtern, die sonst nicht generiert werden könnten. Mit den Worten von Andreas Hepp unter Referenz auf Giddens gesprochen: 7 | Welche Bedeutung medialer Kommunikation im Kontext professioneller Unterstützung zukommt, wird hingegen beispielsweise am Beispiel von medial vermittelter klinisch-psychologischer Intervention untersucht (vgl. hierzu beispielsweise Eichenberg 2008, S. 503 ff.).

Skype und Co. „Technische Medien gestatten es, Kommunikation aus der Lokalität der Face-to-FaceBeziehung zu ‚entbetten‘ (Giddens 1996, S. 33). Kommunikation eröffnet so translokale Konnektivitäten, d.h. im alltagssprachlichen Wortgebrauch ‚Verbindungen‘ jenseits des Lokalen“ (Hepp 2011, S. 15).

Gleichzeitig nehmen Kommunikationsmedien Einfluss auf soziale Unterstützungsbeziehungen und verändern sie. So zeigte sich im vorliegenden Zusammenhang zum einen die Bedeutsamkeit, nationalstaatlich und nationalsprachlich bedingte Handlungsrahmen in den Blick zu nehmen. Hierdurch wurde die Relevanz einer relativ fortgeschrittenen technologischen Ausstattung und deren Verfügbarkeit an diversen Lokalitäten in allen Ländern offenbar. Durch Disparitäten ihrer Nutzbarkeit können Kommunikationsmedien mit Selektionsprozessen verbunden sein, die zu Restriktionen transnationaler Kommunikation und sozialer Unterstützung führen können. 8 Zum anderen wurde deutlich, dass Kommunikationsmedien Unterstützungsbeziehungen durch die physische Abwesenheit von Familienmitgliedern und anderen Beziehungspartnerinnen und -partnern verändern. Unterstützungsformen, die physische Kopräsenz erfordern oder an die sinnliche Wahrnehmbarkeit anderer gebunden sind, erfahren hierbei Einschränkungen oder gehen als Option in medial vermittelten Unterstützungsbeziehungen verloren. „Medien überbrücken geografische Distanz, rücken aber Orte nur bedingt zusammen. Aktivitäten und spezifische Beziehungskonstellationen, die den gleichen Ort und die physische Präsenz der anderen voraussetzen, bleiben begrenzt bzw. verunmöglicht“ (Bender et al. 2013, S. 158).

Insgesamt gilt es in weiteren Forschungen, dem Einfluss von Medien auf Unterstützungsbeziehungen und -prozesse ebenso wie der Bedeutung der Eigenschaften von Medientechnologien in transnationalen (Unterstützungs-) Beziehungen weiter nachzugehen und sie im Rahmen sozialer Ungleichheiten zu betrachten. Denn obgleich den unterschiedlichen Kommunikationsmedien jeweils spezifische Eigenschaften zugrunde liegen, die unterschiedliche Vor- und Nachteile mit sich bringen, zeigte sich, dass deren Bedeutung im 8 | Vertovec zeigt diesbezüglich schon 2004 in seinem Artikel „Cheap calls: the social glue of migrant transnationalism“ die zunehmende Abnahme der räumlichen Disparitäten im Bereich der Telekommunikation und mit dem Fokus auf die Telefonie den Zusammenhang zur transnationalen Vernetzung auf: „Telecommunications infrastructure is developing in poor areas, too, largely on the back of transnational migration practices. In many places one can witness the increasing use of public telephones in village centres, reduced-rate telephone cards and cellular phones, even in fairly remote villages“ (Vertovec 2004, S. 222).

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Kontext sozialer Unterstützung für die (potenziellen) Nutzerinnen und Nutzer letztlich oftmals weniger eine Frage der Präferenz war, sondern eine Frage der Verfügbarkeit.

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Die transnationale Organisation von child care in Familien

Die familiale Sorge für Kinder wird in der transnationalen Unterstützungsforschung aus unterschiedlichen Blickwinkeln thematisiert. Zwei Forschungsperspektiven haben dabei einen besonderen Schwerpunkt eingenommen. Eine richtet sich auf die Sorge von Kindern, die aufgrund von Migrationsprozessen ihrer leiblichen Eltern (Mutter, Vater oder beide Elternteile) in den Herkunftsländern zurückbleiben (vgl. z.B. Parreñas 2005; Mazzucato/Schans 2011). Diesbezüglich wurde der Begriff der ‚transnationalen Mutterschaft‘ geprägt (vgl. hierzu u.a. Parreñas 2001; Hondagneu-Sotelo/Avila 1997; Avila 2008), der darauf hinweist, dass sich die leibliche Mutter bei der Sorge, Betreuung und Erziehung der Kinder keineswegs aus diesen Aufgaben zurückzieht, sondern sich auf vielfältige Weise über die Distanz, z.B. mittels moderner Telekommunikationsmittel, an der Sorge der Kinder beteiligt (vgl. auch Parreñas 2001; Bernhard/Landolt/Goldring 2005). Die Sorge vor Ort dagegen erfolgt in der Regel durch ‚Ersatzmütter‘, insbesondere durch Verwandte oder Bekannte. Ähnliche Phänomene werden zwar auch für leibliche Väter (‚transnationale Vaterschaft‘) konstatiert, sie werden jedoch bislang eher marginal thematisiert (vgl. z.B. Avila 2008; Pribilsky 2012; Hoang/Yeoh 2011). Der zweite Forschungsschwerpunkt richtet sich auf Familien, die zur Entlastung bei Aufgaben des Haushalts und der Familienarbeit (z.B. Aufgaben der Kinderbetreuung und -versorgung) diese an bezahlte Arbeitskräfte aus dem Ausland im eigenen Haushalt delegieren. Dieser Forschungsschwerpunkt ist eingebettet in die Debatte über den steigenden Bedarf an haushaltsbezogenen Dienstleistungen in reicheren Ländern, die in der transnationalen Unterstützungsforschung vor allem im Rahmen der ‚Neuen Dienstmädchenfrage‘ (vgl. z.B. Lutz 2007) geführt wird. Hiermit wird das weltweit zu konstatierende Phänomen beschrieben, dass Familien in reicheren Ländern zur Entlastung und Bewältigung von Familienarbeit in zunehmendem Maße auf bezahlte Arbeitskräfte – in der Regel Migrantinnen aus ärmeren Ländern, z.T. auch Au-pairs – zurückgreifen. Veränderungen des Geschlechterverhältnisses, das zwar Frauen in zunehmendem Maße Erwerbsarbeit ermöglicht, sie aber gleichzeitig

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nicht in gleichem Maße von Aufgaben der Familien- und Haushaltsarbeit entlastet, mangelnde Antworten des öffentlichen Sektors auf die veränderten familialen Versorgungs-, Betreuungs- und Pflegebedarfe, Privatisierungen im öffentlichen Betreuungs-, Versorgungs- und Pflegesystem, Arbeitsmärkte, die in vielerlei Hinsicht oft nicht mit den Anforderungen von Familien vereinbar sind, und Bildungs- und Sozialpolitiken, die wesentlich auf die unentgeltliche, private Dienstbereitschaft von Frauen setzen, sind Gründe dafür, dass Familien und vor allem Frauen oft mit Familienarbeit überlastet sind und auch nach Entlastungen bei der Kinderbetreuung suchen. Die folgenden empirischen Beispiele schließen an diese Diskussionen an und legen gleichzeitig Prozesse offen, die daran anknüpfende und erweiterte Forschungsperspektiven lohnenswert machen. Die Beispiele betreffen zum einen die transnational kommunizierte Sicherstellung der Kindesversorgung in einer Familie, in der die Flucht des Vaters zur physischen Trennung von seiner im Herkunftsland bleibenden Frau und seinen Kindern führte. Zum anderen beziehen sie sich auf eine Form grenzüberschreitender Rotation von Familien­ mitgliedern zur Betreuung eines bei seiner Mutter lebenden Kleinkindes in Deutschland.

„U nd

dann hab ich eine B rief zurückgeschick t , meine erste K ind k annst du bei meine E ltern schicken “ Amaré Issayu, der zum Zeitpunkt des Interviews 50 Jahre alt ist und mit seiner Frau und seinen vier Kindern in einer deutschen Stadt lebt, kam Anfang der 1980er Jahre als Flüchtling aus Äthiopien über Griechenland nach Deutschland (zur Migrationsgeschichte siehe das Kapitel „‚Heimatlandmänner‘ als Unterstützungssystem in der Migration“). Seine damals schwangere Frau und sein zweijähriger Sohn blieben zunächst aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen zur Migration in Äthiopien zurück. Der zeitnah gewünschte Nachzug seiner Familie wurde ihm dann in Deutschland durch den langwierigen Anerkennungsprozess als Flüchtling und die darauf bezogenen politischen Regelungen verwehrt. Erst fast sieben Jahre später ermöglichte der Erhalt des deutschen Passes, dass Herr Issayu seine Familie wiedersehen konnte und seine Frau und seine beiden Kinder zu ihm nach Deutschland ziehen durften. Im gesamten Migrationprozess von Amaré Issayu zeigen sich vielfältige Formen und Prozesse transnationaler sozialer Unterstützung (siehe z.B. das Kapitel „Wandernden Geldern auf der Spur“), von denen hier exemplarisch die mehrgenerationale Organisation der Kindesbetreuung im Herkunftsland heraus­gegriffen wird. So erhielt Herr Issayu wenige Wochen nach seiner Flucht in Griechenland Post von seiner Frau, die ihn über die Geburt des zweiten gemeinsamen Kindes informierte:

Die transnationale Organisation von child care in Familien „hab ich rausgegangen in Griechenland, nach dem zwei oder drei Woche hab ich Brief gekriegt, dass zweite Kind auf die Welt gekommen, und jetzt zweite Kind kennst du net, das ich ja nur in Bauch und hast du net gesehen was geboren ist“.

Für Amaré Issayu verschärfte sich infolgedessen die emotional belastende Situation der alleinigen Migration. Zum einen war er nun zusätzlich zur Trennung von seiner Frau und seinem ersten Kind Vater eines weiteren Kindes, bei dessen Geburt er nicht hatte dabei sein können und das er nicht sehen konnte. Zum anderen verfügte er zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr über die Perspektive, dass seine Familie bald zu ihm nach Griechenland kommen könne, und seine Frau teilte ihm weiterhin in dem Brief verzweifelt mit, dass sie sich nicht in der Lage sehe, für beide Kinder alleine Sorge zu tragen und bat ihn eindringlich um Hilfe: „die erste Kind ich kann net, ich kann net [unverständlich], mach du was du nur kannst, ich kann, ich kann ihn net halte“. Durch die Migration Amaré Issayus ergaben sich strukturelle Veränderungen der Familie: Seine physische Abwesenheit und der Wegfall seines Einkommens hatten zur Folge, dass seine Frau vor Ort allein die Sorge für die Kinder tragen musste und in dieser Situation außer Stande war, beide Kinder zu versorgen. Bedingt durch die große geografische Distanz, nationalstaatliche Gesetzesregelungen und mangelnde finanzielle Mittel aufgrund des Fehlens eines Erwerbseinkommens seit der Migration konnte Herr Issayu sich an der Lösung der bestehenden Versorgungsprobleme weder unmittelbar praktisch im lokalen Kontext Äthiopiens beteiligen noch den Nachzug seiner Familie ermöglichen oder grenzüberschreitende finanzielle Hilfe leisten. Nach dem Erhalt des Briefes war er am Boden zerstört: „ich habe mein Zimmer zugemacht, in die Boden wirklich geweint geweint geweint gehat“. In der zunächst ausweglos erscheinenden Situation entwickelte er dann eine Idee, die die Umstrukturierung des Haushaltes zur Sicherung der Sorge um die Kinder beinhaltete: „und dann hab ich eine Brief zurückgeschickt, meine erste Kind kannst du bei meine Eltern schicken, weil meine Eltern das sind 800 oder 900 Kilometer von Hauptstadt […] und mein Bruder war in diese, er wohnen in Hauptstadt, gebs ihm zu meinem Bruder, der schickt’s dann mein Eltern, der freuen sich mei Eltern, wenn sie meine Kind sehen“.

Ebenfalls per Brief schlug er also seiner Frau vor, dass seine eigenen Eltern die Versorgung des erstgeborenen Kindes übernehmen könnten. Damit begegnete er ihrer Sorge und Bitte unter Rückgriff auf ein mehrgenerationales familiales Unterstützungssystem, das auch die praktische Umsetzung dieses Vorschlages umfasste. So empfahl Amaré Issayu, das zweijährige Kind zu seinem Bruder in die Hauptstadt zu bringen, damit dieser es den 800 Kilometer entfernt wohnenden Großeltern überbringt. Seine Frau griff diesen Vorschlag auf. Sowohl

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der Bruder als auch die Großeltern leisteten die benötigte Unterstützung und das Kind lebte daraufhin fast sieben Jahre lang bei den Großeltern, bis Amaré Issayu seine Frau und seine Kinder nach Deutschland nachholen konnte: „sie hat das gemacht und mei Bruder hat […], Kind hat er bei meine Eltern geschickt (.), er ist dort großgewachsen […], nach dem sieben Jahre hab ich eine Einladungs­ papier zu meine Frau geschickt, ich kann das net einladen […] weil ich noch net anerkannt gehat damals“.

Bei der Beschreibung dieses Unterstützungsprozesses wird deutlich, dass die familial geleistete Hilfe keiner Aushandlung bedurfte (ob, wie, wann und wie lange die gewünschte Unterstützung erfolgt). Herr Issayu hatte keinerlei Zweifel an der Erfüllung der geplanten Unterstützung und weder die Eltern noch der Bruder wurden vorab nach ihrem Einverständnis bezüglich des entworfenen Arrangements gefragt. Dies verweist auf die Selbstverständlichkeit der familialen Unterstützung im Dreigenerationenkontext, die auch durch die geografische Entfernung seiner Person ebenso wie die der Großeltern nicht in Frage stand. Die Unterstützungsleistungen konnten zuverlässig, bedingungslos, kurzfristig und im Fall der Kindesversorgung durch die Großeltern auch für einen viele Jahre überdauernden Zeitraum aktiviert werden. Die gewählte Lösungsstrategie machte dabei die Trennung des Kindes von der Mutter erforderlich. Wie sich danach die Beziehung zwischen Mutter und Kind gestaltete und inwiefern sich möglicherweise eine Art ‚translokaler Mutterschaft‘ entwickelte, geht aus den Daten leider nicht hervor. Der beschriebene Unterstützungsprozess zeugt jedoch von der Verwobenheit einer transnationalen und lokalen Organisation von child care, die im Rahmen eines plurilokalen und nationalstaatenübergreifenden Familienverbundes unter Beteiligung dreier Generationen vollzogen wurde. Auf die transnationale ‚Aktivierung‘ von Unterstützung durch Amaré Issayus Frau folgte die beratende Unterstützungsleistung durch Amaré Issayu, die aus der Ferne den Rückgriff auf Familienstrukturen im Herkunftsland zur Schließung des entstandenen Versorgungsengpasses seines älteren Kindes implizierte. Während das familiale Problem und die Problemlösung mithilfe des postalischen Kommunikationsmediums Brief transnational kommuniziert und organisiert werden konnten, erfolgte die Durchführung notwendigerweise im nationalen Kontext des Herkunftslandes durch die Unterstützung der Familienmitglieder vor Ort.

Die transnationale Organisation von child care in Familien

Tr ansnationale K inderbe treuung durch die grenzüberschreitende R otation von F amilienmitgliedern Anouschka Pajak ist zum Zeitpunkt des Interviews 35 Jahre alt und kam fünf Jahre zuvor als Au-pair von Polen nach Deutschland, um zwei kleine Kinder in einer deutschen Familie zu betreuen. Anschließend kehrte sie für kurze Zeit nach Polen zurück, bis ihr der Erhalt der notwendigen Papiere ermöglichte, dauerhaft in Deutschland leben und arbeiten zu können. Sie nahm daraufhin eine Beschäftigung in einem Restaurant auf und leistete von ihrem Einkommen regelmäßig finanzielle Unterstützung an ihre in Polen lebende Familie. Einen Teil ihres Gehalts ließ Frau Pajak ihren Eltern zukommen, die dieses u.a. zur Renovierung ihrer Wohnung nutzten, und sie erzählt über die finanziellen Unterstützungsleistungen weiter: „auch die Schwester mit dem Sohn, ich habe ganz viel geholfen (.) und das haben mich viel Spaß gemacht, aber jetzt ich brauche das“. Ein Jahr vor der Interviewführung wurde Frau Pajak schwanger und verlor wenige Monate vor der Geburt ihres Kindes ihren Arbeitsplatz. Finanzielle Einbußen und der Familienzuwachs führten dazu, dass Frau Pajak das vorhandene Geld seitdem ‚selbst braucht‘ und die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern und Geschwister nicht mehr aufrechterhalten konnte. Ihre Tochter ist zum Zeitpunkt des Interviews drei Monate alt. Zu dem Vater ihres Kindes besteht kein Kontakt und sie erhält von ihm keine Unterhaltszahlungen. Frau Pajak bewältigt diese neue Lebenssituation, in der sie als alleinerziehende Mutter eines Säuglings mit sehr knappen finanziellen Mitteln zurechtkommen muss, insbesondere mithilfe der vielfältigen (u.a. materiellen und informationellen) Unterstützungsleistungen von Freundinnen und Freunden und Bekannten in ihrem lokalen Lebensumfeld in Deutschland sowie von ihren Familienmitgliedern in Polen. Mit den Mitgliedern ihrer Familie, die in Polen leben, steht Anouschka Pajak v.a. in telefonischem Kontakt, da Besuche in Deutschland nicht allen möglich sind: „meine Geschwister sind jetzt geheiratet (.) die haben kleine Kinder, die kommen nicht zu mir“. Seit ihrer Migration und vor ihrer eigenen Mutterschaft beschränkten sich familiale Besuche auf einen einmaligen Aufenthalt von Frau Pajak in Polen. Erst ihre Mutterschaft veranlasste, dass Mitglieder ihrer Familie sie zum ersten Mal in Deutschland besuchten. Nach der Geburt von Frau Pajaks Tochter reiste zunächst ihre Mutter aus Polen zu ihr nach Deutschland, um sie zu unterstützen, „nach diese Kind ich habe geboren, ist meine Mama zu mir gekommen, hat mir geholfen“, und nach deren Rückkehr ihre Cousine, die aktuell noch bei ihr in Deutschland ist: „Jetzt ist meine Cousine die helfen mir […], ja sie ist gekommen für kurze Zeit helfen, jetzt ich habe so bisschen Probleme mit mit dem Arbeit und alles, und muss sie dann mit Kind bleiben und dass ich will arbeiten“.

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Anouschka Pajak nutzt ihre Unterstützung bei der Kinderbetreuung speziell zur Arbeitssuche in der dadurch verfügbaren Zeit. Das gewählte Modell der Kinderbetreuung im eigenen Haushalt durch Personen, die eigens zu diesem Zweck aus dem Ausland einreisen, ähnelt in den Grundzügen dem Typus der o.g. bezahlten Dienstleistungen durch Migrantinnen oder einer Au-pair-Tätigkeit. Wesentlicher Unterschied ist jedoch, dass es sich bei den betreuenden Personen um Verwandtschaftsangehörige handelt, die für ihre Tätigkeit keine Entlohnung bzw. kein Taschengeld erhalten. Diesen Aspekt der Kostenersparnis benennt Frau Pajak als einen Hauptgrund dafür, dass sie zur Betreuung ihrer Tochter auf die Unterstützung ihrer Familienmitglieder zurückgreift. Ihre Erzählung legt nahe, dass für sie prinzipiell auch andere Möglichkeiten der Kinderbetreuung durch nicht-verwandte Personen in Frage kämen, sie als alleinerziehende Mutter jedoch angesichts der aktuell prekären finanziellen Situation auf kostengünstige Betreuungsmöglichkeiten angewiesen ist, um sich eine neue Arbeitsstelle suchen und anschließend einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können: „jetzt ist diese Elternzeit, aber das ist nur Geld diese 100 Euro und das ist zu wenig und ich will arbeiten, aber da muss jemand bei Kind und ich bin alleine, und das muss jemand mit Kind bleiben, und ich muss nicht meine Mama bezahlen, und meine Cousine sie kommen zu mir, und ich regle das Essen, aber ich sowieso kochen für mich und das ist auch für zwei und Mama, aber wenn ich nehme jemanden ich muss bezahlen, das besser ist die helfen mir so“.

Die finanzielle Entlastung vor dem Hintergrund sonst fehlender bzw. teurerer Betreuungsstrukturen in Deutschland und das Angewiesensein auf Hilfe bei der Kinderbetreuung zur geplanten Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit sind damit für die Entwicklung dieses transnationalen Unterstützungssystems entscheidend. Während die Inanspruchnahme der familialen Unterstützung aktuell primär der intensiven Arbeitssuche dient, ist geplant, dies zukünftig zur Ausübung eines Berufes fortzuführen, bis ihre Tochter alt genug ist, um den Kindergarten zu besuchen: „ja bis Kindergarten mach ich, wenn bis bisschen größer sie gehen in Kindergarten“. Schwierigkeiten bestehen darin, dass die Ablösung der betreuenden Familienmitglieder zeitlich nicht lückenlos erfolgt, da z.B. Frau Pajaks Cousine aufgrund einer eigenen Arbeitsaufnahme in Polen früher als erwartet wieder abreisen muss. Zudem kann sie langfristig nicht mehr eingeplant werden, sodass Versorgungsengpässe entstehen: „ich habe gedacht Cousine bleibt länger, aber sie muss jetzt gehen auch Arbeit [unverständlich], weil ich gehen nächsten Montag zum Gespräch mit dem Arbeit [unver-

Die transnationale Organisation von child care in Familien ständlich], halbe Februar ich anfangen Arbeit […], jetzt ich muss für meine Kleine, ich habe niemand, weil meine Cousine muss bald weg am Samstag, und nächste Mama kommt auch nicht für halbes Jahr, nur ein oder zwei Mal vielleicht, Monat oder zwei Monat, und mein Papa ist [unverständlich] krank, und dürfen auch nicht hier lange, und ich habe niemand für Kind, aber ich will diese Arbeit gehen“.

Damit zeigt sich, dass das transnationale familiale Betreuungssystem sowohl rechtlich, geografisch als auch aus persönlichen, familialen Gründen Begrenzungen erfährt. Zum einen kommen bestimmte Familienmitglieder (etwa aus Gründen einer eigenen Erwerbstätigkeit, Krankheit oder der Versorgung eigener Kinder) zur Betreuung nicht in Frage. Die Betreuung kann aufgrund der geografischen Distanz nicht kurzfristig erfolgen und die Pendelmuster der Familienangehörigen können aufgrund begrenzter finanzieller Mittel und der zu tragenden Reisekosten in ihrer Häufigkeit nicht unbegrenzt erfolgen. Zum anderen unterliegen die Pendelmuster der Familienangehörigen Gesetzes­ regelungen, durch die ein Aufenthalt der einzelnen Familienmitglieder in Deutschland auf drei Monate begrenzt wird.1 Dadurch wird eine Rotation der betreuenden Personen zur Deckung des Unterstützungsbedarfs aus Sicht der Interviewten notwendig („dürfen auch nicht hier lange“). Die entstehende Lücke im transnationalen Unterstützungssystem durch den unerwarteten Ausfall der Cousine und weitere zwischenzeitliche Phasen, in denen weder ihre Mutter noch andere Familienmitglieder zur Betreuung des Säuglings zur Verfügung stehen, hofft Frau Pajak durch die Absprache mit ihrem künftigen Arbeitgeber, das Kind in diesen Zeiträumen ausnahmsweise auf den Arbeitsplatz mitnehmen zu dürfen, voraussichtlich regulieren zu können: „ich habe gesprochen mit den […] und sie hat gesagt ich dürfen mitbringen für diese drei Stunden, fünfmal drei Stunden, das ist gut […] vielleicht das klappt“. Anderweitige Perspektiven hat Anouschka Pajak derzeit nicht, da ihre Bekannten und Freunde in Deutschland selbst alle berufstätig sind: „sie alles auch arbeiten morgens, sie können mir nicht helfen morgens“. Insgesamt macht der Fall von Frau Pajak auf ein Phänomen aufmerksam, das bislang nur wenig beleuchtet wurde: der Rückgriff auf Familienangehörige in den Herkunftsländern zur Linderung von Betreuungsengpässen in den 1 | Das Interview mit Frau Pajak wurde 2007 nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union geführt, der im Jahr 2004 stattfand. Aus dem EU-Beitritt ergab sich für polnische Staatsbürgerinnen bzw. -bürger als Unionsbürger „das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten“, wobei die einzelne Person „lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht“ (Art. 6, Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/ EG).

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Ankunftsländern. Solche Betreuungsformen wurden bislang v.a. mit Blick auf sich veränderte Betreuungsstrukturen in den Herkunftsländern bezüglich der Folgen von Migration untersucht.

F a zit

und

A usblick

Insgesamt zeigen die beiden Beispiele, wie Familien im Rahmen von Migra­ tionsprozessen mit spezifischen Lücken oder Engpässen bei der Sorge von Kindern konfrontiert werden, und zwar sowohl im Herkunfts- als auch im Ankunftsland. Im Herkunftsland können sie durch die Abwesenheit eines Elternteils oder beider Elternteile entstehen, wenn die Kinder infolge von Migrationsprozessen zurückgelassen werden (müssen); in den Ankunftsländern, in diesem Fall Deutschland, können sie virulent werden, wenn Eltern ihren Kindern, insbesondere jüngeren Kindern, z.B. durch Erwerbsarbeit, nicht rund um die Uhr zur Verfügung stehen und zu ihrer Betreuung nicht auf entsprechende personelle, institutionelle oder finanzielle Ressourcen zurückgreifen können. Beide Fälle zeigen, dass diese Engpässe im Rahmen transnationaler Bewältigungsstrategien und insbesondere durch den Rückgriff auf Familienangehörige im Herkunftsland bewältigt werden. Wie bereits im Hinblick auf die finanziellen Unterstützungsleistungen deutlich wurde (siehe hierzu das Kapitel „Die Familie muss zusammenhalten“), spielen auch bei der transnational familial geleisteten Sorge um Kinder familiale Solidarität und Reziprozität eine bedeutende Rolle. Im Gegensatz zum Beispiel der finanziellen Rücküberweisungen, bei denen die Familienangehörigen im Herkunftsland Unterstützungsempfänger und diejenigen in den Ankunftsländern die Unterstützungsleistenden sind, kehrt sich das Arrangement hier um: Die Familienangehörigen in den Herkunftsländern unterstützen ihre Angehörigen in den Ankunftsländern – sei es aus der Ferne oder vor Ort. Diese Zirkularität transnationaler familialer Unterstützung und insbesondere die in den Ankunftsländern geleistete Unterstützung durch Familienangehörige aus den Herkunftsländern zur Linderung von Sorgeengpässen gerieten bislang nur selten systematisch in den Blick. Die mittlerweile breite Diskussion um ‚care migration‘, d.h. jene Migrationsprozesse, die durch den Rückgriff auf bezahlte Arbeitskräfte aus dem Ausland – meist Frauen aus ärmeren Ländern – zur Linderung von familialen oder institutionellen Engpässen bei der personenbezogenen Betreuung, Versorgung oder Pflege in Deutschland oder anderen Industrienationen hervorgerufen werden, steht seit einiger Zeit fest auf der politischen und wissenschaftlichen Tagesordnung – sei es in der Diskussion um migrantische Haushaltsarbeiterinnen oder den Arbeitskräftemangel im Gesundheits- und Altenhilfesystem. ‚Care migration‘ fokussiert somit vor allem auf den grenzüberschreitenden Transfer von Versor-

Die transnationale Organisation von child care in Familien

gungs-, Betreuungs- und Pflegedienstleistungen durch bezahlte Arbeitskräfte innerhalb des globalen care-Markts von ‚Süd‘ nach ‚Nord‘ und lässt andere, unbezahlte im ‚Nord-Süd‘-Transfer erbrachte Sorgeleistungen weitgehend außer Acht. Zhou schreibt treffend: „The paid transnational care through global care market has been acknowledged and, even, promoted by Western welfare states experiencing a care ‚deficit‘ (Williams 2011), yet the family-based transnational caregiving […] has remained invisible in dominant public policy discourses, despite its similar role“ (Zhou 2013, S. 62). Die vielfach diskutierte gesellschaftliche Unsichtbarkeit und mangelnde gesellschaftliche Anerkennung von care zeigt sich hier erneut und verweist auf die Aktualität und Bedeutsamkeit der Einforderung einer gleichberechtigten Anerkennung von (unbezahlten) Sorgeund (bezahlten) Erwerbstätigkeiten. Mit welchen Spannungsverhältnissen und Belastungen die auf den in Familien inhärent angelegten Normen der Solidarität und Reziprozität basierenden Unterstützungsleistungen verbunden sein können, wurde anhand familial geleisteter finanzieller Unterstützungen deutlich. Aus dieser Perspektive wäre auch im Rahmen einer transnationalen familialen Organisation von child care nach den biografischen und lebensweltlichen Implikationen aller beteiligten Akteurinnen und Akteure zu fragen. Seit einigen Jahren lässt sich ein steigendes Interesse an der Bedeutung transnationalen Familienlebens für das Wohlbefinden von Kindern konstatieren (vgl. z.B. Donato/Duncan 2011; Mazzucato/Schans 2011). Diese Frage wird insbesondere mit Bezug auf die durch Migrationsprozesse in den Herkunftsländern zurückgebliebenen Kinder gestellt. Anhand des Falles Anouschka Pajaks stellen sich diese Fragen jedoch genauso für Kinder in den Ankunftsländern, die im Rahmen transnational geprägter Familiensettings umsorgt werden. Der Fall macht deutlich, dass durch rechtliche Regelungen oder eigene familiale oder berufliche Verpflichtungen die Sorge von Kindern durch Sorgende aus den Herkunftsländern keineswegs immer verlässlich und kontinuierlich erfolgen kann. Zudem wird in beiden dargestellten Fällen die Bedeutung der Großelterngeneration für die Sorge von Kindern deutlich. Obwohl ältere Menschen in der transnationalen care-Diskussion häufig als ‚care receiver‘ thematisiert werden, geraten sie zunehmend als ‚care giver‘ in transnationalen Familien und als Ressource bei der Linderung von Sorgeengpässen in den Blick (vgl. z.B. Zhou 2013; Da 2003). In der Debatte um migrantische Haushaltsarbeiterinnen und den damit verbundenen ‚care chains‘ weist Hochschild auf eine neue internationale Arbeitsteilung und damit verbundene globale Versorgungshierarchien hin: „Die Aufgaben der Mutter werden delegiert, und zwar jeweils an Frauen, die weiter unten in der sozialen Hierarchie von Nation, ethnischer Zugehörigkeit und Schicht stehen“ (Hochschild 2000, zit. nach Beck/Beck-Gernsheim 2011, S. 155). Das heißt, die Sorgearbeit im Privaten wird in dieser Hierarchie von ‚oben‘ nach ‚unten‘ weitergegeben (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 2011, S. 155).

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Die hier dargestellten Fälle sowie Studien über die Bedeutung von Großeltern bei der transnationalen Bewältigung von Sorgetätigkeiten lassen jedoch die Frage aufkommen, inwiefern diese Relationen möglicherweise einer generationalen Erweiterung bedürfen. Inwieweit werden in den Herkunftsländern ebenso wie in den Ankunftsländern ältere Menschen zu wichtigen Akteurinnen und Akteuren, wenn im Kontext von Migrationsprozessen die Betreuung und Sorge von Kindern bzw. – weiter gefasst – familiale Sorgearbeit problematisch wird? Zumindest in Deutschland zeigt sich, dass Großeltern insgesamt eine erhebliche Rolle bei der Sorge ihrer Enkelkinder spielen und vielfältige Betreuungslücken schließen, die durch das öffentliche Betreuungssystem nicht gedeckt werden (vgl. z.B. Brake/Büchner 2007). Auf globaler Ebene wurde diese Frage bisher nicht gestellt. Gleichwohl könnte sie weiterbringend sein, denn vielleicht wird Sorgearbeit nicht nur auf der Ebene von Nationen, Ethnien und Schicht weiter nach ‚unten‘ delegiert, sondern tendenziell auch von jung nach alt.

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III. Fallstricke transnationaler Verbindungen

„Ich möchte selbst durchkommen“: Finanzielle Unterstützung als Belastung

In Forschungen im Kontext sozialer Unterstützung finden immer wieder auch belastende Aspekte sozialer Unterstützung Berücksichtigung. So konstatiert zum Beispiel Nestmann, dass unterstützende Netzwerke keineswegs nur ‚support systems‘ darstellten, sondern es sich dabei oftmals um vielfältig zusammengesetzte, nicht statusgleiche, „sondern hierarchische, nicht nur reziproke, sondern auch einseitige, nicht nur freiwillig gewählte, sondern auch erzwungene, für (übliche) Alltagsversorgung oder (unübliche) Anforderungen mehr oder weniger geeignete Beziehungen“ (Nestmann 1988, S. 54) handle.1 Diewald bilanziert entsprechend: „Belastungen in unterstützenden Beziehungen entstehen durch Verpflichtungen, Machtungleichgewichte, Konflikte […] die für eine Seite – objektiv oder subjektiv gesehen – mehr Aufwand als Nutzen darstellen“ (Diewald 1991, S. 81). Diese Aufzählung von möglichen Gründen der Belastungen für Hilfeempfängerinnen und -empfänger oder die Unterstützenden können dabei erste Hinweise zur Beantwortung der Frage geben, weshalb angebotene Unterstützung trotz bestehenden Unterstützungsbedarfs abgelehnt werden kann. Den vielfältigen Gründen, die einer Ablehnung von Unterstützung zugrunde liegen können, nähert sich das folgende Kapitel anhand des Motivs ,selbst durchkommen zu wollen‘ als Ausdruck persönlicher Autonomiebestrebungen und zeigt die Folgen einer so motivierten Ablehnung auf.

1 | Dementsprechend verweisen z.B. Laireiter und Lettner (1993, S. 105) auf den Zusammenhang zwischen belastenden Beziehungen und Rollen, welche insbesondere bei nicht selbst gewählten (wie verwandtschaftlichen) bzw. unausweichlichen (wie z.B. nachbarschaftlichen) Kontakten bestünden und somit nicht bzw. nur mit enormen Aufwand beendet werden könnten.

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Tagebucheintr äge Um die Gründe zur Ablehnung von Unterstützung zu veranschaulichen, wird im Folgenden eine Darstellungsform gewählt, in der die rekonstruierten Perspektiven der Interviewpartnerinnen und -partner in Form von Tagebucheinträgen vermittelt werden sollen. Sie geben die in Selbstdialoge übersetzten Erzählungen und Haltungen der Interviewten in paraphrasierter Form wieder. Dementsprechend in direkter Rede verfasst, geraten hier die Denkweisen und das Erleben der betroffenen Personen in gestraffter Form in den Vordergrund. In monologischer Fassung werden pointiert Empfindungen und Gedanken wiedergegeben2 und – angelehnt an einen Typus des Ich-Romans – hierbei die Zeitdifferenz zwischen Erleben und Erzählen zumeist in der „momentanen Befindlichkeit des Ichs“ (Vogt 1996) aufgehoben. Indem die Originalzitate möglichst wortgetreu paraphrasiert werden, können die rekonstruierte Perspektive der Akteurinnen und Akteure und deren reflexive Haltung von den Leserinnen und Lesern nachvollzogen und (nach-)erlebt werden. Daran anschließend werden die aus der Analyse erfolgten Reflexionen der Forschenden vorgestellt. Im vorliegenden Untersuchungskontext erscheint diese Darstellungsform aus folgenden Gründen angemessen: Wie ersichtlich werden wird, liegen den verschiedenen Formen und Gründen der Ablehnung von Unterstützung hochreflexive Praktiken der Selbstzuwendung zugrunde, die in den Interviews als solche erschließbar wurden. Da es beim Tagebuchschreiben um dem Selbst zugewandte Praktiken geht, in denen in der Regel das Nachdenken über sich selbst, die eigenen Erfahrungen und die subjektive Lebensbewältigung im Vordergrund steht, spiegelt die hier gewählte Darstellungsform der Tagebucheinträge die (in der Regel bewusste) Ablehnung von zur Verfügung stehender Unterstützung wider. Indem die analytische Abstraktion ebenfalls narrativ eingeleitet wird, können theoretische Überlegungen plastisch nachvollziehbar und so ein Teil des Forschungsprozesses für die Leserinnen und Leser transparent gemacht werden. Als Datengrundlage für die von den Autorinnen verfassten Interviewauszüge diente zum einen ein Interview mit der 29 Jahre alten Peruanerin Cira Jerez, zum anderen mit Emanuel Cheikho, einem 26 Jahre alten Mann aus dem Irak, der wie Frau Jerez seit sechs Jahren in Deutschland lebt. Der dritte Interviewpartner war der 47-jährige Bazim Hamidi, der bereits vor 23 Jahren aus dem Iran nach Deutschland migrierte. Diese Fälle wurden deshalb als Grundlage für die aus den Daten generierten Tagebucheinträge ausgewählt, weil hieraus die Bestrebungen, die in Form eines ‚selbst durchkommen Wol2 | Vergleiche auch ‚moderne‘ Erzähltechniken wie erlebte Rede (vgl. Martinez/Scheffel 2003).

„Ich möchte selbst durchkommen“

lens‘ zur Ablehnung von Unterstützungsleistungen führten und mit teils erheblichen Folgebelastungen verbunden waren, besonders deutlich hervorgehen. Im Folgenden betrachten wir einen Tagebucheintrag von Cira Jerez:

Tagebucheintrag 15.02.2013 Heute hatte ich ein langes Gespräch mit meiner Freundin Sarah. Sie fragte mich, wieso ich mir eigentlich nicht mehr von meiner Familie helfen lasse, obwohl ich die finanzielle Unterstützung doch gut gebrauchen könnte. Sie sagte, dass sie mich nicht verstehe. Das hat mich zum Nachdenken gebracht… Ja, warum mache ich das eigentlich? Warum will ich mir nicht helfen lassen? Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich schon so alt bin. Das Gespräch war echt gut und es hat mich dazu angeregt, meine Erfahrungen noch einmal Revue passieren zu lassen. Wenn ich vom heutigen Standpunkt aus darüber nachdenke, wie sich alles entwickelt hat und wie es mir erging und ergeht, dann sehe ich es heute – angefangen mit meiner Migration nach Deutschland – so: Ich bin nach Deutschland gekommen, weil ich nach meinem Diplom-Ingenieurstudium in Peru noch einen Master oder einen anderen weiterführenden Abschluss machen wollte. In Peru hatte ich nach meinem Uni-Abschluss bereits zwei Jahre gearbeitet. Es war ein guter Job, aber dann dachte ich, dass ich – so lange ich jung bin, also noch nicht 25 Jahre – noch irgendetwas machen muss. Ich war 20, 21 als ich die Uni abgeschlossen habe und ich dachte, ja, es ist an der Zeit jetzt noch etwas zu machen, weil danach willst du heiraten, willst du Kinder haben oder was weiß ich. Und da Deutschland in den letzten 15 Jahren als guter Standort des Ingenieurwesens galt, habe ich mich dazu entschieden, nach Deutschland zu gehen. Und so bin ich hierhergekommen. Einfach so und meine Familie hat mich unterstützt, alles bezahlt und so weiter, weil ich die deutsche Sprache zuerst lernen musste. Erschwerend kam hinzu, dass mir, als ich meine ganzen Unterlagen an die Uni gegeben hatte, gesagt wurde, dass es das Studium des Industrieingenieurwesens hier leider nicht gäbe. In Deutschland sei es so, dass es dafür zwei getrennte Studiengänge gäbe, mit den Schwerpunkten Technik oder Wirtschaft. In Peru dagegen sind beide Schwerpunkte in einen Studiengang integriert. Darauf hin wurde mir gesagt, dass ich in Deutschland noch drei oder vier Jahre studieren müsste, um den vergleichbaren Abschluss zu erhalten. Und da hab’ ich mir gedacht, es lohnt sich nicht, da mach ich was anderes, aber auch etwas in Richtung Industrieingenieurwesen. Und da hab’ ich angefangen, Wirtschaftsingenieurwesen zu studieren. Zuerst musste ich noch das Studienkolleg absolvieren. Also ich musste es nicht, aber ich wollte es, weil ich nach dem neunmonatigen Sprachkurs den Test gemacht hatte und danach im Studienkolleg die technische Sprache erlernen konnte und das hab’ ich dann so gemacht. Also extra ein Jahr und dann an die Uni. Aber dadurch hat eben auch alles viel viel länger gedauert, als ich es geplant hatte. Vielleicht fragt man sich da, wo denn mein Problem liegt. Aber weil ich schon ein Stu-

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dium gemacht hatte, konnte ich auch nicht immer sagen: „Unterstützt mich!“ Ich schäme mich, weil es ja meine Entscheidung war, hierherzukommen und deswegen hab’ ich mir gedacht, ich sorge für mich alleine. Außerdem lernst du auch besser, ich meine, du hast jedes Mal mehr Verantwortung und so, wenn du alles bezahlen musst und das find ich fair… Ich werfe mir einfach vor, dass ich am Anfang so naiv war und dachte, dass ich die Sprache in sechs Monaten lerne, und dachte, ich komme hierher, gehe an die Uni und suche mir einen Job. Also natürlich habe ich mir irgendwie schon gedacht, dass ich erst mal nur mit der finanziellen Unterstützung von meiner Familie würde klar kommen können, denn die meisten sprechen nur Deutsch, und wenn du einen Job haben möchtest, kannst du auch nicht jeden Tag nur Englisch reden. Aber ich dachte, die englischen Sprachkenntnisse würden mir helfen und ich lerne schnell Deutsch. Und dann kam ich hier an und es war alles ganz anders. Das erste Jahr habe ich Geld von meiner Familie bekommen, aber irgendwann ist es auch mal gut und im zweiten Jahr sagte ich: „Nee, jetzt brauche ich keine Unterstützung mehr“. Da konnte ich schon Deutsch sprechen und ich dachte mir, ich kann es allein schaffen. Ich muss es alleine schaffen, weil ich wollte ja unbedingt nach Deutschland kommen. Ich hätte theoretisch ja auch in die USA gehen können, aber weil ich schon Englisch konnte, dachte ich, nee, eine andere Sprache ist doch besser. Letztendlich war ich einfach nur stur. Und deswegen bin ich hierhergekommen. Ich fand es interessanter damals. Damals, heute nicht mehr. Aber ich hatte schon angefangen und ich wollte nicht auf hören. Weil alles, was ich beginne, mache ich zu Ende. Ich kann nicht einfach hier ein bisschen und hier ein bisschen etwas machen und es dann einfach lassen, nee. Also, alles was ich beginne, muss ich zu Ende machen. Und ich will es alleine schaffen. Außerdem ist es ja auch nicht irgendein Geld, mit dem ich unterstützt werde. Es handelt sich dabei um das Erbe meiner verstorbenen Eltern. Mein Bruder verwaltet das. Eigentlich könnte ich ja immer von unserem Familienkonto Geld abheben. Aber ich versuche nichts mehr zu nehmen, weil es sich auch nicht lohnt. Denn hier ist alles viel teurer und für vier Soles3 bekommt man nur einen Euro. Das ist wirklich nicht viel… In Peru verdient man auch viermal weniger als hier, auch wenn man eine vergleichsweise bessere Stelle hat. Ja, also, eigentlich hab’ ich das Geld zur Verfügung, nur nehme ich es nicht in Anspruch. Ich versuche, allein zurechtzukommen. Gerade weil es unser Erbe ist, kann man es nicht einfach verschwinden lassen, darf man es nicht verschwenden! Außerdem, wenn du das Geld auf der Bank anlegst, dann bekommst du auch Zinsen und so weiter und wenn du weniger hast, dann lohnt sich das nicht. Und als ich an der Uni in Peru war, wurde ich auch schon finanziell von meiner Familie unterstützt, sodass ich nicht arbeiten musste. Dadurch habe ich alles mit guten Noten bestanden, weil ich mich ganz auf das Studium konzentrieren konnte. Ja, und ich dachte mir danach, wenn du die Möglichkeit hast weiter 3 | Hierbei handelt es sich um die peruanische Währung ‚Nuevo Sol‘.

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zu studieren und weiter finanziell unterstützt zu werden, warum solltest du diese Möglichkeit nicht nutzen? Aber nach dem zweiten Jahr wollte ich das einfach nicht mehr. Ich dachte mir, ich bin schon alt und ich muss selbst zurechtkommen. Aber das Alter ist nicht der einzige Grund. Du fühlst dich einfach auch besser. Wenn du etwas falsch gemacht hast zum Beispiel und du kriegst immer noch Unterstützung, dann fühlst du dich irgendwie schuldig, weil du dir sagst naja, vielleicht hab’ ich es nicht richtig gemacht oder vielleicht besteh’ ich die Prüfung nicht und trotzdem bekomme ich noch Geld und so weiter. Deswegen und seitdem, also seit dem zweiten Jahr, seit ich hier bin, versuche ich allein zurechtzukommen. Also naja, so ganz alleine ja auch nicht. Ich arbeite viel und versuche ja, alles alleine hinzukriegen. Ich kriege jetzt nicht monatlich Geld so wie vorher, aber ich bekomme immer noch ab und zu was, weil das, was ich hier verdiene, manchmal einfach nicht reicht. Also, wenn ich hier zum Beispiel nur 400 Euro verdiene, davon kann ich nicht leben. Und normalerweise konzentrier’ ich mich auf mein Studium, weil ich das ja schnell abschließen möchte. Ja, also deshalb schickt mein Bruder mir, also er schickt mir Geld. Ich muss es manchmal annehmen. Mein Ziel war ja, hierherzukommen und zu lernen. Die Sache ist, dass es nicht so einfach war und ist, wie ich dachte. Es ist sehr schwierig eigentlich. Wenn ich keine Uni habe, muss ich zum Beispiel zehn Stunden arbeiten. Ich arbeite die Semesterferien durch und auch während des Semesters, aber ich mache es, weil ich ein Ziel habe. Und ich versuche zeitgleich, die Uni abzuschließen, also immer alles schneller zu machen. Aber das ist durch die Arbeit schwer und natürlich kann ich dann zum Beispiel nicht in Urlaub fliegen oder vielleicht jedes Wochenende ausgehen. Also mach ich es nicht. Ich versuche immer, Geld zu sparen. Ich glaube, jede Studentin, die sich dazu entschieden hat, im Ausland zu studieren, muss sich auf bestimmte Sachen konzentrieren und auf viele Sachen verzichten. Ich versuche auf jeden Fall, mehr Zeit zum Lernen zu haben. Mein Ziel ist es ja, soweit es geht, weniger zu arbeiten, damit ich die Uni abschließen kann, und ich denke, nächstes Semester werde ich mit der Uni fertig. Das muss ich auch, es dauert nun alles schon so lange und ich bin nicht mehr ganz so jung. Also, mein Bruder und meine Schwester, die sind älter als ich und die fragen mich ständig oder sagen: „Du hast Geld auf dem Konto, du kannst es nehmen, du kriegst eine Visa-Card“. Sie würden mir alles schicken. Aber leider bin ich so! Ich fühle mich nicht so gut, wenn ich das Geld von ihnen annehme, weil ich selbst in dem Alter bin, dass ich auch arbeiten könnte. Ich kann es nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie total nett sind, sie schicken mir immer Geld. Sie wollen nur Gutes für mich. Also, wenn es nach ihnen ginge, dann könnte ich es hier besser haben, aber ich möchte es nicht. Ich möchte es aus eigenen Kräften schaffen. Ich möchte selbst durchkommen. Also es ist auch nicht so, dass ich gar keine Unterstützung annehme. Wenn ich ernste Dinge bereden will und ich nicht weiß, was ich machen soll, dann ruf’ ich meinen Bruder an. Ich kann ihn immer anrufen. Er ist immer da für mich. Ja, also

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die moralische Unterstützung krieg ich von meinem Bruder und da brauche ich ihn auch sehr, weil ich nur mit ihm so gut reden kann. Aber immer Geld zu bekommen, belastet mich. Und wenn du schon erwachsen bist, ich bin über 25 Jahre, kannst du nicht immer die Tochter deiner Mutter sein oder du kannst nicht immer das Kind sein oder du kannst nicht immer die Kleine sein. Eigentlich bekommt man in dieser Zeit selbst Kinder und ist verheiratet. Da geht es wirklich nicht, dass du immer noch als Kind betrachtet wirst… Mein Bruder hat mich und meine Schwester immer als die Kleinen angesehen, weil wir zwei die jüngeren Geschwister sind. Deshalb sind wir beide die Kleinen und die anderen beiden sind die Großen… und sie sehen uns immer als die Kleinen an und das mögen wir eigentlich nicht und deshalb glaube ich, fällt es mir auch so unglaublich schwer, Geld von ihnen anzunehmen. Das gibt einem immer das Gefühl, nicht selbständig zu sein und als 25-Jährige ist das einfach kein gutes Gefühl. Und dieses Gefühl hat mich auch letztendlich krank gemacht, also ich habe dadurch und durch den ganzen Stress ein Myom bekommen, das auch sehr wehgetan hat und dann herausoperiert werden musste. Das kam vielleicht auch durch die ganze Arbeit, die ich nebenbei mache, um mein Studium und meinen Lebensunterhalt überhaupt finanzieren zu können. Gleichzeitig leidet darunter mein Studium, das mir ja eigentlich am Wichtigsten ist und das ich schnell abschließen möchte. Ich glaube, ich bin da in einem Teufelskreis gefangen! Um schnell fertig zu sein und mein Ziel zu erreichen, dürfte ich nicht arbeiten, aber wenn ich nicht arbeite, dann bin ich vollständig von der Unterstützung meiner Familie abhängig und das geht nicht. Dann lieber länger brauchen und auf eigenen Beinen stehen…

Reflexion der Forscherin zu Cira Jerez’ Tagebucheintrag Als ich diese Zeilen von Cira Jerez lese, wird mir die Komplexität des Phänomens ihres Wunsches, finanziell nicht abhängig zu sein, sondern ‚selbst durchkommen zu wollen‘ und selbständig bzw. unabhängig zu sein, deutlich. Während dieses Bedürfnis denen, die Hilfe leisten wollen, aber von den potenziellen Hilfeempfängerinnen und -empfängern Ablehnung erfahren, möglicherweise als Sturheit und unverständlich vorkommen mag, offenbart sich hier, dass die Ablehnung von Unterstützung als Bewältigungsstrategie verstanden werden kann, die der Reduktion von Abhängigkeitsstrukturen dient. Cira Jerez beschreibt das Empfinden unterschiedlicher Belastungen durch die Annahme finanzieller Unterstützung, das dazu führt, dass sie auf die vorhandenen finanziellen Mittel in Form des elterlichen Erbes nicht (mehr) zurückgreifen möchte. Statt die angebotene Unterstützung ihres Bruders weiterhin anzunehmen, zieht sie es daher vor, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen und nimmt neben ihrem Studium eine Erwerbsarbeit auf. Sie betont, dass hierunter ihr Studium leidet: Die Studiendauer verlängert sich und ihre Konzentrationsfähigkeit und ihre Leistungen reduzieren sich. Obwohl sie

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viel arbeitet und durch persönliche Verzichtsleistungen Geld spart, kommt es dennoch immer wieder dazu, dass ihr Geld nicht ausreicht und sie auf finanzielle Hilfe angewiesen ist. Wie groß die emotionalen Belastungen sein können, die mit dem Erhalt finanzieller Unterstützung einhergehen, spiegelt sich in Cira Jerez’ Wortwahl, sich zu schämen und sich schuldig zu fühlen, wider. In ihrem Fall zeigen sich mehrere Faktoren, die auf die Entwicklung von Scham und Schuld Einfluss nehmen. Als grundlegend erweist sich ihre Normalitätsvorstellung über den Zusammenhang von Alter und der legitimen Inanspruchnahme finanzieller Unterstützung. Cira Jerez hat ein konkretes altersabhängiges Lebenslaufmodell entwickelt, das die Erfüllung bestimmter biografischer Anforderungen in bestimmten Altersphasen beinhaltet. Ihre Vorstellungen, bis maximal 25 könne man noch studieren, sich weiterbilden und qualifizieren, anschließend stünden Heirat und Mutterschaft an, mit 25 wohne man nicht mehr zu Hause, man könne ,nicht immer Kind sein‘ etc., sind Beispiele dieses altersgebundenen Lebensentwurfes, der auch an der Entwicklung und Verstärkung ihres Selbständigkeitsbestrebens wesentlichen Anteil hat. Entsprechend begründet sie die finanzielle Verselbständigung und damit auch Ablösung von der Familie speziell mit ihrem eigenen Alter und betont, dass sie finanzielle Abhängigkeiten in dieser Lebensphase, in der sie auch selbst arbeiten und ihren Lebensunterhalt verdienen könne, als nicht altersgemäß erachtet. Ihre stark durch die Kategorie Alter begründeten Vorstellungen, welche Arbeits- und Verhaltensweisen wann angemessen sind, prägen damit die Entscheidung zur Zurückweisung der finanziellen Unterstützung durch die Familie. Hierbei zeigt sich eine Differenz zum Erhalt emotionaler Unterstützung: Cira Jerez verdeutlicht, dass sie die „moralische Unterstützung“ durch ihren in Peru lebenden Bruder zur emotionalen Entlastung jederzeit annimmt (siehe hierzu auch das Kapitel „Skype und Co“). Dagegen lehnt sie seine finanziellen Unterstützungsangebote in dem Bestreben, ihre finanzielle Selbständigkeit trotz der entstehenden Schwierigkeiten zu bewahren, ab. Es zeigen sich hier reflektierte biografische Vorstellungen, die die Akteurin sich in der Vergangenheit gesetzt hat und von denen sie nicht abweichen möchte. Zu diesen Vorstellungen, in welchen biografischen Phasen die Annahme finanzieller Unterstützung angemessen und in welchen sie abzulehnen und demnach für sie nicht mehr zu realisieren ist, kommen weitere Aspekte hinzu: Als ersten Faktor führt sie den Umstand an, dass es sich um ein Zweitstudium (und noch dazu) im Ausland handele und sie bereits beim ersten Studium finanziell unterstützt worden sei. Als zweiten Beweggrund gibt sie an, dass es ihre Entscheidung gewesen sei, in Deutschland zu studieren und ‚sie es für sich selbst gemacht habe‘. Ein dritter Faktor liegt darin, dass wider Erwarten ein länger andauernder Unterstützungsbedarf besteht. In diesem Kontext spricht Cira Jerez explizit von Schuld. Schuld entsteht für sie dann, wenn sie ‚vielleicht etwas nicht richtig‘ gemacht hat und trotz-

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dem finanziell unterstützt wird. Hier wird der Erhalt von Unterstützung an spezifische Bedingungen geknüpft, die ihrem Erleben nach bei Inanspruchnahme erfüllt werden müssen. Finanzielle Unterstützung muss demnach „verdient“ sein, wie dies u.a. in ihren Darlegungen über die Studienleistungen deutlich wird. Für Cira Jerez lösen ihre Normalitätsvorstellungen und Ansprüche an sich selbst emotionalen Druck aus, der sie aus ihrer Perspektive krank machte und der zudem zu Versagensängsten und Schuldgefühlen führt, die sie durch den Unterstützungsverzicht und die Präferenz des Prinzips, selbst durchkommen zu wollen, zu reduzieren versucht. Die Bedeutung, die Schuldgefühlen aufgrund des Erhalts finanzieller Unterstützung zukommt, wird verständlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Unterstützung durch eine Austauschbeziehung konstituiert wird, welche zudem in einem spezifischen moralischen Kontext zu betrachten ist. D.h., Unterstützungsleistungen und Beziehungen sind mit Wertvorstellungen verbunden, die sowohl an gesellschaftlichen als auch subjektiven Normalitätsstandards orientiert werden. In diesem Fall dominieren die beschriebenen Vorstellungen der Verantwortungsübernahme und Selbständigkeit verbunden mit dem Lebensalter. Zudem zeigen sich moralische Vorstellungen in Bezug auf die Herkunft des Geldes, das der Unterstützungsleistung dient, die sich insbesondere auf die symbolische Dimension des Geldes als ‚Erbe der Eltern‘ richten. Dementsprechend wird das Erbe der Eltern als kostbares Gut angesehen, das nicht einfach ‚verschwendet werden darf‘. Während auch denkbar wäre, dass sie das Erbe als ihr Eigentum betrachtet, das sie guten Gewissens zum Zwecke des Zweitstudiums nutzen könnte, wie es ihr ihre älteren Geschwister nahe legen, vermeidet Cira Jerez dies, soweit es möglich ist. Mit dem Erbe wird insofern eine symbolische Ebene angesprochen, als dass mit der Verwendung des Geldes auch ein Teil dessen verschwindet, was die Eltern hinterlassen haben. Dabei sind gleichzeitig ökonomische Gesichtspunkte wirksam, da das Erbe auch als Geldanlage für die Zukunft fungiert, das in Cira Jerez’ Vorstellung mehr anstatt weniger werden sollte – wie der Verweis auf die möglichen Zinsen verdeutlicht. Zudem weist sie auf die Unterschiedlichkeit des Geldwerts hin: Da man sich in Peru viel mehr mit dem Geld leisten könne und länger brauche, um Geld, das hier ausgegeben würde, wieder zu verdienen, vermeidet sie es, das Geld in Deutschland auszugeben, da dies ihres Erachtens nach einer Verschwendung gleichkäme. Die Wertdifferenz des Geldes zwischen Deutschland und Peru spielt demnach für die Inanspruchnahme finanzieller Unterstützung eine Rolle und wirkt hier begrenzend. Die Einnahme dieser ökonomisch-rationalen Sichtweise einerseits und die Wirksamkeit von insbesondere altersabhängigen und ausbildungsbezogenen Normalitätsvorstellungen andererseits führen dazu, dass Cira Jerez es nach ihrer Migration als nicht mehr legitim ansieht, weiterhin kontinuierlich finanzielle Unterstützung zu empfangen. Die damit verbundenen Belastungen

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und das Gefühl, auf eigenen Beinen stehen und alleine zurechtkommen zu müssen, überwiegen, so dass sie nur noch unregelmäßig in finanziellen Notsituationen, wenn das Geld überhaupt nicht reicht, finanzielle Unterstützung annimmt. Diese überwiegende Selbständigkeit verbindet Cira Jerez mit einer Entwicklungsperspektive, die ihr hilft, die damit verbundenen Herausforderungen und Folgebelastungen zu bewältigen. So bezeichnet sie es als fördernd und bildend, finanzielle Verantwortung zu übernehmen und eigenständig zu leben. Damit stellt sie zugleich die Annahme von finanzieller Unterstützung über einen bestimmten Zeitpunkt hinausgehend als ein Entwicklungshindernis dar, das mit der Zurückweisung der Annahme überwunden werden kann. Dennoch befindet sie sich in dem Konflikt, dass sie einerseits ihrem Studium oberste Priorität beimisst und dieses schnell und gut absolvieren will, andererseits sich selbst versorgen möchte und deshalb arbeiten gehen muss, was jedoch auf Kosten der Zeit- und Energieinvestitionen in ihr Studium geht. Insgesamt wird deutlich, dass hier im Zusammenhang mit unterschiedlichen Wertvorstellungen und Zielen verschiedene persönliche Bedürfnisse und auch Bedarfe miteinander konfligieren. Indem das Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Selbständigkeit dominiert, fällt die in Folge der abgelehnten Unterstützung subjektiv empfundene Belastung geringer aus als jene, die aus der angenommenen Unterstützung resultieren würde. Die Akteurin fühlt sich damit in einer arbeitsintensiven und sie belastenden Situation wohler – weil selbständiger und unabhängiger – als wenn sie mittels Unterstützung ihren Bildungszielen zwar eher Folge leisten könnte, dabei jedoch insbesondere ihren altersgebundenen Selbständigkeitsvorstellungen nicht genügen würde. Mir wird die Komplexität des Motivs ‚selbst durchkommen zu wollen‘ deutlich und in der Hoffnung, noch mehr über das Phänomen der Unterstützungsablehnung zu erfahren, betrachte ich den nächsten Tagebuchausschnitt von Emanuel Cheikho.

Tagebucheintrag 05.01.2013 Heute bin ich genau sechs Jahre in Deutschland. Am 5. Januar werde ich immer ziemlich nachdenklich und lasse mein Leben Revue passieren. Und als ich heute so über mein Leben nachgedacht habe, wurde ich auf einmal richtig stolz. Ja, eine Sache, auf die ich wirklich stolz bin, ist die, dass ich es alleine geschafft hab. Also ich hätte zum Beispiel Papa anrufen und ihn darum bitten können, mir einfach Geld hierher zu schicken. Das wäre ganz easy gewesen. Aber mit der Zeit hab’ ich dazu gelernt. Natürlich ist nicht jeder so. Es kommt drauf an. Es gibt Leute, die so sind und es gibt andere, die es sich leichter machen. Ich hab’ den schwierigen Weg gewählt. Manchmal war ich auch verzweifelt. Da hab’ ich gedacht: „Jetzt ruf ich an und bitte um Hilfe“. Aber das habe ich nie gemacht. Stattdessen hab’ ich jedes Mal gesagt: „Ach, mir geht’s gut, mir geht’s super“, obwohl ich nicht mal zwei Euro auf

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dem Konto hatte. Ja, und ich glaube, ich bin schon ziemlich stolz darauf, wie ich es geschafft habe, in Deutschland alleine zurechtzukommen. Also im Irak hatte ich es viel leichter. Ich hab’ alles bekommen, was ich wollte. „Papa, ich brauch Geld“, ja mit 18 ein Auto bekommen. Also, ich hatte ein super Leben gehabt im Irak. Und hier in Deutschland… Ja, also die erste Erfahrung, die ich hier gemacht habe, da hab’ ich gedacht, ja danke für die Demokratie, also ziemlich schlechte Erfahrungen direkt am Anfang mit den Behörden hier. Klar, ich muss zugeben: Ganz ohne finanzielle Unterstützung ging es natürlich nicht. Am Anfang hab’ ich Sozialhilfe bekommen. Ich hatte ja keinerlei Erfahrungen hier und keine Ahnung. Das war die schrecklichste Zeit hier. Die Wohnung war miserabel, kein Bad, also eine Toilette ja, aber keine Dusche. Als ich zum Sozialamt gegangen bin und fragte: „Ja, wie soll ich denn duschen?“, meinten die dort: „Aja, Sie können sich ja einfach zum Waschen hinstellen“. Da hab’ ich gemeint: „Machen Sie das auch zu Hause so?“. Dann blöde Antwort gekriegt, dass ich Flüchtling bin und ich dankbar sein soll… Das war eine schreckliche Zeit. Keine Waschmaschine, kein Spülbecken, wo ich die Teller spülen kann. Ich weiß noch, wie ich das am Anfang komplett im Bad gemacht hab’ und die Wäsche per Hand waschen musste. Ich kannte ja meine Rechte auch noch nicht wirklich, also sie haben mich – wie es hier so schön heißt – verarscht. Naja, aber ich hab’s ja überlebt und dann ging es langsam besser. Dann habe ich meine Papiere gekriegt, dass ich als Flüchtling in Deutschland anerkannt bin, mit Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis. Das war so ungefähr acht Monate später. Hab’ dann direkt angefangen zu arbeiten. Also insgesamt hab’ ich so ein halbes Jahr Geld vom Sozialamt bekommen, aber das wollt ich nicht haben. Das ist ätzend. Also das ist kein gutes Leben. Ich konnte leider nix dafür. Ich weiß, man denkt ja hier oft, dass ein Ausländer nicht arbeiten will und auf das Geld vom Sozialamt aus ist. Aber wirklich, also jetzt nicht alle, aber es gibt viele Leute, die dafür nix können. Die wollen wirklich arbeiten, aber wo kann man mit mangelnden Sprachkenntnissen einen Job finden? Trotz Papieren und allem, wo denn? Also, wenn es nicht notwendig gewesen wäre, ich wär nie im Leben zum Sozialamt hingegangen. Nur weil, wenn man im Moment kein Geld, also gar nichts hat… Gut, wenn ich mit meinem Vater gesprochen und ihn um Geld gebeten hätte, dann hätte er das versucht zu schicken. Aber genau das wollte ich auf keinen Fall. Also hab’ ich alles ausgehalten und ich habe natürlich auch gespart. Ich hab’ schon im Irak gelernt zu sparen. Aber da war es für mich easy halt zum Papa zu gehen: „Ich brauch’ Geld. Ich will mir Klamotten kaufen“. Ja, aber ich hab’ es da schon mal gelernt, also jetzt nicht so extrem gelernt, dass ich sparen muss. Also mein Papa hat uns gezeigt, wie er sein Geld verdient hat, das ist nicht so von heute auf morgen passiert, sondern er hat ungefähr 40 Jahre lang gearbeitet, bis er, sag’ ich mal, so ein paar Millionen auf seinem Konto hatte. Aber das war ein langer Weg. Also, wir haben das auch gesehen. Ja gut, mein Bruder nicht. Ihm war das egal. Er wollte nur Geld haben. Ja, jeder hat seinen Charakter. Die Menschen sind halt unterschiedlich.

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Aber das ist der Weg: sparsam, sparsam. Mit der Zeit konnte ich auch da und dort ein bisschen sparen und mit der Zeit ist es besser geworden. Wie gesagt, es war wirklich am Anfang schwierig, auf einmal, ja, muss man halt mit 200 Euro auskommen, die ich zuvor im Irak, glaub ich, in zwei Tagen ausgegeben hab’, wenn ich jetzt eine Hose und ein Hemd gekauft hab’ da unten. Aber trotzdem hat es schon was gebracht. Also Hilfe, ich hab’ nie gesagt: „Hey, ich brauch Geld, ich kann nicht mehr leben“ und so. Zum Glück hab’ ich das nicht gemacht und heutzutage weiß ich, wie wichtig das war. Also das ist eine Erfahrungssache. Ich hab’ die Erfahrung gesammelt, jetzt weiß ich, wo ich bin, wo ich jetzt stehe und was ich jetzt machen kann. Hilfe hab’ ich auch nie von meinen beiden Brüdern in Anspruch genommen, die auch hier sind. Ich hab’ den beiden geholfen und ich hab’ nie von denen was verlangt. Wenn ich heute überhaupt um Unterstützung bitte oder von jemand annehme, dann geht es hauptsächlich um schriftliche Sachen. Briefe zu schreiben. Das mach’ ich auch selbst, aber ab und zu mal lass’ ich meine Freunde drüber gucken, wenn es jetzt besonders wichtig ist, also zum Beispiel irgendwas Offizielles. Die Einbürgerung hab’ ich z.B. komplett gemacht, geschrieben und so, und dann hab’ ich zu meinen Freunden gesagt: „Ei, bitte guckt mal bisschen drüber, ob irgendwas falsch ist oder so jetzt grammatikalisch verbessert werden kann“.

Reflexion des Tagebucheintrages von Emanuel Cheikho Ich denke darüber nach, inwiefern sich die Lebensgeschichten von Emanuel Cheikho und Cira Jerez trotz aller Unterschiedlichkeit ähneln. In beiden Fällen wird finanzielle Unterstützung für eine Zeit in Anspruch genommen. Ein großer Unterschied besteht darin, dass Emanuel Cheikho jedoch nach seiner Migration nach Deutschland keine familiale Unterstützung in Anspruch nahm, obwohl diese potenziell vorhanden gewesen wäre. Stattdessen zog er es vor, kurzzeitig staatliche finanzielle Unterstützung zu beziehen. Aus seinem Tagebucheintrag geht hervor, dass der Erhalt dieser Unterstützungsform seinem Wunsch, ‚alleine zurechtzukommen‘ nicht entgegenlief. Rückblickend zeigt er sich entsprechend stolz, dass er den schwierigeren Weg gewählt und es in seinem Erleben „alleine geschafft“ habe. Dennoch versuchte er damals auch den Erhalt staatlicher Unterstützung schnellstmöglich zu überwinden. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass der Wunsch, von staatlicher finanzieller Unterstützung unabhängig zu werden, in engem Zusammenhang mit der als belastend erfahrenen Lebenssituation und der Behandlung durch die zuständigen Sachbearbeiter des Sozialamts sowie dem öffentlichen deutschen Migrationsdiskurs zu stehen scheint, der Migrantinnen und Migranten eine Ausnutzung des Sozialsystems vorwirft. Die Unabhängigkeit von Unterstützung ermöglicht es Emanuel Cheikho demnach auch, die hiermit verbundenen negativen Zuschreibungen und eingeschränkten Lebensbedingungen zu überwinden (vgl. hierzu auch Bender et al. 2013).

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In seinem Fall kulminieren somit folgende Faktoren: Sein Bedürfnis, ‚es alleine zu schaffen‘, begründet er mit Persönlichkeitsfaktoren und vorausgehenden Lernprozessen zu sparen. Sie führen dazu, dass Emanuel Cheikho sich von Menschen abgrenzt, die es ,sich leicht machen‘ und sich finanziell von ihrer Familie helfen lassen. Durch die mit dem Erhalt staatlicher finanzieller Unterstützung verbundenen negativen Erfahrungen und die erlebte Zuschreibung, das Sozialsystem Deutschlands auszunutzen, scheint dieses Bedürfnis Nachdruck zu erfahren, und führt zu dem Bestreben, finanzieller Unterstützung zu entgehen. Indem sich auch hier zeigt, dass andere Unterstützungsformen, z.B. praktische Hilfen bei sprachlichen Problemen, durchaus in Anspruch genommen werden, liegt nahe, dass diese nicht gleichermaßen ein Erleben mangelnder Selbständigkeit begünstigen. Finanzielle Unterstützung erweist sich demnach sowohl bei Emanuel Cheikho als auch bei Cira Jerez für das belastende Empfinden, seinen Lebensunterhalt nicht alleine bestreiten zu können und damit nicht unabhängig zu sein, als von zentraler Bedeutung. Der Wille, ohne finanzielle Hilfe zurechtzukommen, kann dabei in Abhängigkeit von den Unterstützungsleistenden, der erfahrenen Unterstützungsbeziehung und in Verbindung mit subjektiven Maßstäben und Zielen sowie den persönlichen Normalitätsvorstellungen eigenständiger Lebensführung variieren. Obgleich sowohl die Annahme staatlicher Unterstützung als auch die familiale Unterstützung zu dem Erleben eingeschränkter Eigenständigkeit führen kann, steht in beiden Fällen der Erhalt familialer Unterstützung im Fokus der Unterstützungsablehnung, um die antizipierten oder erfahrenen stärker belastenden Abhängigkeitsgefühle zu vermeiden. Der subjektive Eindruck, dass keine Selbständigkeit erreicht ist, solange finanzielle Unterstützung aus der Herkunftsfamilie angenommen wird, scheint prägend dafür zu sein, dass deren Annahme abgelehnt wird. Im Falle Emanuel Cheikhos wurde außerdem deutlich, dass er der Familie auch nicht von seiner schwierigen Lebenssituation berichtet, sondern vielmehr stets vermittelt, es gehe ihm gut. Cira Jerez hingegen nimmt moralische Unterstützung von ihrem Bruder gerne in Anspruch und gibt in diesem Zusammenhang durchaus preis, wenn es ihr nicht gut geht. Beide Fälle verdeutlichen, dass die Annahme finanzieller Unterstützung – ob staatliche oder familiale – in der neuralgischen Anfangszeit nach der Migration (noch) angenommen wird und erst oder insbesondere nach einer gewissen Zeit als problematisch erlebt wird. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Ablehnung der Unterstützung vordergründig als selbst gewählt erscheint. Die Akteurinnen und Akteure erleben einen Zugewinn an Unabhängigkeit, welche trotz der entstehenden Folgebelastungen nicht aufgegeben wird. Die Verwobenheit, aber auch die Differenzen im Erleben staatlicher und nicht-staatlicher (hier insbesondere familialer) Unterstützung verdienten genauere Untersuchungen, da sich mit ihnen biografische Normalitätsvorstel-

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lungen in verschiedenen Dimensionen andeuten und herauskristallisieren ließen. Vielleicht lässt sich dies mithilfe der Betrachtung eines weiteren Tagebucheintrags, dem von Bazim Hamidi näher verfolgen.

Tagebucheintrag 07.02.2013 Heute habe ich mich mit meinen jüngeren Brüdern Nazim und Amon getroffen und wir haben darüber geredet, wie leicht es für sie war, als sie damals nach Deutschland kamen, weil ich ihnen so viel geholfen habe. Wir haben festgestellt, dass bei ihnen dadurch alles ganz anders war als bei mir. Wir erinnerten uns daran, dass sie meinetwegen hierher gekommen sind und zu mir wollten und da hab’ ich ihnen natürlich am Anfang geholfen. Die hatten es irgendwie gut. Die Probleme, die ich selbst hatte, hatten die nicht. Ich glaube, ich hab’ denen den Weg sozusagen ein bisschen frei gemacht. Ich weiß noch, wie ich die beiden einfach direkt vom Bahnhof abgeholt und mit zu uns nach Hause genommen habe. Bei mir und anderen Flüchtlingen war das ja ganz anders. Ich hab’ mich erinnert, dass wir erstmal in dieses Heim in Berlin gebracht wurden. An das Essen darf ich gar nicht denken. Was für ein Fraß! Ich weiß noch, wie ich dort alles ziemlich schrecklich fand und wie ich dachte: „Ach Gott. Jetzt muss ich so leben“. Alles, was ich hatte, hab’ ich hinter mir gelassen. Aber Nazim und Amon hatten es einfach. Als die hierher kamen, haben sie ein Handy in die Hand und Geld in die Tasche gekriegt. Ich wollte es ihnen so einfach wie möglich machen, weil meine Mutter öfter angerufen und gesagt hat: „Pass’ auf die zwei auf, die sind noch Kinder“. Und ich habe es ihr versprochen: „Ich pass’ auf die zwei auf“. Ja, ich selbst hätte es bestimmt auch viel leichter gehabt, wenn es damals wie geplant gelaufen wäre und ich das Visum nach England bekommen hätte, wo meine beiden älteren Brüder Halim und Mahdi schon gelebt haben… Aber es kam alles anders und ich glaube im Nachhinein, das war auch gut so. Am Anfang hatte ich ja gar kein Geld. Hatte alles für die Reise ausgegeben und dann hier erstmal von Sozialhilfe gelebt. Ich durfte ja nicht arbeiten… Mein Anwalt konnte mir auch nicht helfen. Denn ich war ja noch nicht als Flüchtling anerkannt. Und das war das Blödeste von allem, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Ich wollte irgendwas tun. Aber das konnte ich erst nach zwei Jahren, nachdem ich anerkannt war. Von da an habe ich jeden Tag zwölf Stunden gearbeitet, auch am Wochenende. Eigentlich hätte ich es damals auch viel einfacher haben können und mir Geld von Halim oder Mahdi schicken lassen können. Die haben mich immer gefragt: „Brauchst du Geld?“. Und ich hab’ immer gesagt: „Ich brauch’ kein Geld.“ Klar, ab und zu haben sie mir Geld geschickt, also 300 Pfund einmal von England, als ich Urlaub machen wollte. Für so was hab’ ich Geld gekriegt, aber zum Leben hab’ ich alles selbst angeschafft. Als ich angefangen habe, jeden Tag viel zu arbeiten, hab’ ich wirklich viel Geld verdient und dann hab’ ich eine Wohnung gemietet. In der Wohnung war bloß ein Teppich, für 300 Mark hab’ ich den gekauft, und zwei Schränke, das war alles. Mit drei Kindern. Da hat mein Leben angefangen. Da hab’ ich gespart. Jede Mark hab’

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ich gespart, also was notwendig war, das hab’ ich ausgegeben, was nicht nötig war, das hab’ ich gespart. Tja, und vor elf Jahren haben wir es dann geschafft, das Haus hier zu kaufen. Gott sei Dank. Ich hab’ echt viel gespart. Für mich selbst hab’ ich kaum was ausgegeben. Ich wusste ja vorher gar nicht, was Armut ist. Im Iran ging’s uns gut. Ja, Papa hat gut verdient und bis zum Abi habe ich gar nicht gearbeitet. Taschengeld von Papa bekommen, bis ich 18 oder 19 war. Also Armut kannte ich selbst nicht, aber als ich herkam, da hatte ich gar kein Geld. Ich wollte selbst durchkommen. Ich wollte zeigen, ich kann es auch und es ist auch gut gelaufen!

Reflexion des Tagebucheintrages von Bazim Hamidi Wie in den vorherigen Fällen zeigt sich auch bei Bazim Hamidi deutlich sein Wunsch, selbst durchzukommen und insbesondere keine finanzielle Unterstützung seiner Familie in Anspruch zu nehmen. Er macht dabei explizit, dass er zeigen wollte, sein Leben alleine meistern zu können („ich kann es auch“). Er scheint stolz darauf zu sein, dies geschafft zu haben, und es zeigt sich damit, dass dies eine selbstwertdienliche Ressource ist. Dabei werden Ausnahmen deutlich, wann familiale finanzielle Unterstützung doch in Anspruch genommen wird: Für die Erfüllung von besonderen Wünschen oder Bedürfnissen, wie z.B. Urlaub. Folglich scheint es für das Erleben von Selbständigkeit auch von Bedeutung zu sein, ob Unterstützung zur alltäglichen Lebensbewältigung benötigt wird oder ob deren Inanspruchnahme für darüber hinausgehende materielle Güter oder Aktivitäten erfolgt. Offenbar wirkt sich das Wissen darüber, dass auf diese Unterstützung durchaus verzichtet werden könnte und man diese deshalb nicht notwendig braucht, als belastungsreduzierend aus, da empfundene Abhängigkeiten aufgrund des Unterstützungszwecks vermieden werden können.

A nnahme und A blehnung finanzieller U nterstützung im K onte x t biogr afischer (N ormalitäts -)V orstellungen Die Tagebucheintragungen zeigen, dass das zentrale Ziel, das mit der Ablehnung finanzieller Unterstützung verfolgt wird, in der (Wieder-)Herstellung finanzieller Selbständigkeit liegt, die zur (emotionalen) Entlastung und für den eigenen Selbstentwurf wichtig ist. Finanzielle Unselbständigkeit bzw. Abhängigkeit kann für das Selbst bedrohlich sein, wenn dies mit dem Gefühl der Entwertung der eigenen Person und der Herabstufung sozialer Positionen verbunden ist. An das biologische Alter (und damit verbunden entsprechende berufliche Ausbildungen oder Qualifikationen) gebundene Vorstellungen von finanzieller Selbständigkeit und finanzieller Unabhängigkeit von der Familie können eine

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bedeutsame Rolle für die Ablehnung von finanzieller Hilfe durch die Familie spielen. Je nach Normalitätsvorstellungen, die individuell ganz unterschiedlich konzipiert sein können, wird der Erhalt finanzieller Unterstützung bis zu einem bestimmten Alter des Unterstützungsempfangenden akzeptiert und dankbar angenommen. Nach Erreichen einer individuell festgelegten Altersgrenze wird jedoch die zur Verfügung stehende (und weiterhin notwendige) finanzielle Unterstützung abgelehnt. Aufschlussreich ist diesbezüglich der Auszug des Tagebucheintrags von Cira Jerez: „Und wenn du schon erwachsen bist, ich bin über 25 Jahre, kannst du nicht immer die Tochter deiner Mutter sein oder du kannst nicht immer das Kind sein oder du kannst nicht immer die Kleine sein. Mein Bruder hat mich und meine Schwester immer als die Kleinen angesehen weil wir zwei die jüngeren Geschwister sind. Deshalb sind wir beide die Kleinen und die beiden sind die Großen… und sie sehen uns immer als die Kleinen an und das mögen wir eigentlich nicht und deshalb glaube ich, fällt es mir so unglaublich schwer, unterstützt zu werden“.

Hier deutet sich ein Spannungsverhältnis zwischen ‚Kind-‘ und ‚Erwachsenensein‘ an. Ein/e – gemessen am biologischen Alter – Erwachsene/r, der/die noch auf die finanzielle Unterstützung der älteren Familienmitglieder angewiesen ist, bleibt im vorliegenden Normalitätsverständnis letztendlich dadurch im Status des Kindseins verhaftet. Der Verzicht auf die familiale finanzielle Unterstützung wird hier also mit dem Ziel des Erreichens der Statuskonsistenz des finanziell unabhängigen Erwachsenen – und damit letztendlich der ‚Emanzipation‘ vom Kindsein durch die finanzielle Loslösung von den Eltern verfolgt. Im Falle finanzieller Unterstützung durch den Staat weist der Fall Emanuel Cheikhos auf die Selbst(wert)bedrohung durch den zugeschriebenen Status des Asylbewerbers hin, dem durch den Staat nur sehr eingeschränkt finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, welche ‚unwürdige‘ materielle Lebensumstände zur Folge haben. Darüber hinaus wird er mit stigmatisierenden Diskursen über Migrantinnen und Migranten konfrontiert. Die schnelle Beendigung dieser finanziellen Unterstützung kann entsprechend als ‚Emanzipationsbestreben‘ vom Asylbewerberstatus sowie dem Bestreben nach angemessenen, ‚würdevollen‘ Lebensumständen sowie der Befreiung von abwertenden Zuschreibungen und stigmatisierenden Positionszuweisungen durch vorherrschende Diskurse gedeutet werden. In beiden Fällen geht es bei der Ablehnung der finanziellen Unterstützung also letztlich um die Überwindung von Ungleichheitsrelationen (Kind/Erwachsener bzw. Asylbewerber/anerkannter Flüchtling), um den – an gesellschaftlichen Maßstäben relevanten Kriterien gemessenen – Status eines vollwertigen Erwachsenen bzw. Bürgers zu erlangen.

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Für die Ablehnung (oder die Akzeptanz kurzfristiger) finanzieller Unterstützung durch die Familie spielt die Wertschätzung familial erwirtschafteten oder zur Verfügung stehenden Geldes, das für die finanzielle Unterstützung aufgewendet würde, ebenfalls eine wichtige Rolle. So fällt es Cira Jerez schwer, das Geld der Familie anzunehmen, weil es sich um das Erbe ihrer verstorbenen Eltern handelt, das letztendlich durch die Investition in ihren unmittelbaren Lebensunterhalt aus ihrer Sicht schnell ‚verpuffen‘ und wenig ‚nachhaltige‘ Wirkungen für ihre Zukunft zeigen würde. Im Falle Emanuel Cheikhos, der das Geld des Vaters, das dieser sich über 40 Jahre erarbeitet hat, nicht annehmen möchte, kommt die Honorierung dieser Leistung des Vaters zum Ausdruck. Wenn zudem der Geldwertunterschied zwischen Ländern die finanzielle Unterstützung nicht lohnend, sondern eher als Verschwendung erscheinen lässt, erschwert dies die Annahme finanzieller Unterstützung im familialen Kontext. Ebenso sind die Gründe für den Unterstützungsbedarf und das Erleben finanzieller Unterstützung als gerechtfertigt für die Annahme oder Ablehnung finanzieller Unterstützung von Bedeutung. Im Fall Cira Jerez werden das ‚eigene Verschulden‘ oder der eigene Beitrag zur Entstehung des Unterstützungsbedarfs angedeutet, durch welche ihr die Annahme der Unterstützung nicht gerechtfertigt erscheint. Die Annahme finanzieller Unterstützungsleistungen zu Beginn des Migrationsprozesses weist darauf hin, dass dieser durch die damit verbundenen Belastungen und Schwierigkeiten möglicherweise als Not- oder Krisensituation gedeutet wird, der finanzielle Unterstützung – kurzfristig – rechtfertigt und annehmbar macht. Letztlich geht es damit um die Frage, inwiefern die Person den Erhalt der Unterstützung als verdient und gerechtfertigt anerkennt – allerdings auch dies nur bedingt. Denn auch der konkrete Verwendungszweck der finanziellen Unterstützung scheint eine wichtige Rolle zu spielen. Geht es um die Unterstützung des unmittelbaren Lebensunterhalts, scheint die Ablehnung in den hier dargelegten Fällen eher zu erfolgen als in hiervon unabhängigen Situationen (z.B. zum Zweck einer Urlaubsreise). Dies könnte darauf hinweisen, dass finanzielle Unterstützung zum unmittelbaren Lebensunterhalt gerade aufgrund der zentralen biografischen Bedeutung finanzieller Selbständigkeit für die Akteurinnen und Akteure eine besondere Belastung darstellt. Die Annahme finanzieller Unterstützung würde in diesem Fall den Mangel der Möglichkeit des eigenen Bestreitens des Lebensunterhalts widerspiegeln, wodurch die Akteurinnen und Akteure sich in einer Situation verhaftet fühlten, die sie überwinden möchten. 4 Für die Annahmebereitschaft finanzieller Unterstützung scheinen ebenso die Unterstützungsdau4 | Als beachtenswert stellt sich auch die Betrachtung der Struktur der Unterstützungsbeziehung und ihrer etwaigen Veränderung durch die Ablehnung finanzieller Unterstützung dar. Nicht selten wird der Bedarf finanzieller Unterstützung verschwiegen,

„Ich möchte selbst durchkommen“

er bzw. die Unterstützungshäufigkeit von Bedeutung zu sein. Das belastende Erleben von ‚zu viel‘ und ‚zu lange‘ anhaltender Unterstützung wird entsprechend zu vermeiden gesucht. In Bezug auf das negative Erleben von Unterstützung fielen bei den unterschiedlichen Unterstützungsformen Differenzen auf. Im Gegensatz zur finanziellen Unterstützung – so zeigen die Fälle – scheint die Inanspruchnahme anderer Unterstützungsformen, etwa emotionaler Unterstützungsleistungen, weniger belastend zu sein. Das Erleben immaterieller Unterstützungsformen scheint damit nicht gleichermaßen mit Gefühlen der Abhängigkeit verbunden zu sein und ihrem Bestreben nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit entgegenzulaufen. Die Ablehnung der finanziellen Unterstützung kann für die zurückweisenden Personen bedeutsame Folgen haben. Sie kann einerseits als Gefühl persönlicher Autonomie bzw. als Annäherung an den eigenen Selbstentwurf bzw. an das subjektive Idealbild erlebt werden. In diesem Zusammenhang kann das Erreichen des Ziels, es ‚alleine zu schaffen‘, zur Erhöhung des eigenen Selbstwertes und zur Stärkung bzw. Wiederherstellung von „agency“ beitragen. Andererseits führt die Ablehnung von notwendiger finanzieller Unterstützung zumeist aber auch zu einer finanziell erschwerten Lebenssituation. Überwiegen im subjektiven Erleben die positiven und die negativen Konsequenzen die Waage und werden demnach als angemessen empfunden oder überwiegen evtl. gar die positiven Konsequenzen, so ist der subjektiv erlebte Profit der Ablehnung finanzieller Unterstützung als bedeutend einzuschätzen. Auch wenn im Erleben die negativen Konsequenzen überwiegen, werden die Akteurinnen und Akteure vor weitere Bewältigungsanforderungen gestellt. Gelingt diese Bewältigung – so zeigen die Fälle – kann ein enormer Stolz auf die eigene Leistung eintreten und sich positiv auf das Selbstwertgefühl auswirken.

F a zit

und

A usblick

Trotz der individuellen Unterschiede, in denen verschiedene Vorstellungen in Bezug auf Unterstützung und deren (il)legitimen Erhalt eine bedeutsame Rolle spielen, ähneln sich die betrachteten Fälle in Bezug auf reflexive Selbstzuwendungen. Diese Selbstzuwendungen wurden in der gewählten Darstellungsform der Tagebucheinträge als Resultat der empirischen Analyse der Interviews fokussiert aufgezeigt. Indem Praktiken des Tagebuchschreibens per se solche der Selbstzuwendung sind, erschien diese Darstellungsform besonders geeignet, jene Reflexionen darzustellen, die Menschen erst zu der überlegten Entscheidung führen, eigentlich notwendige, zur Verfügung stehende finanzium die selbst gewünschte Ablehnung bei den Unterstützungsleistenden überhaupt durchsetzen zu können bzw. sie akzeptiert zu wissen.

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elle Unterstützung abzulehnen. Diese reflexiven Selbstzuwendungen drücken sich in Kognitionen über das ideale Selbst aus, das – gemessen an erwünschten Zuständen und Vorstellungen – herzustellen oder dem sich anzunähern versucht wird. Die Annahme finanzieller Unterstützung kann so gesehen auch als Begrenzung der Annäherung an dieses Idealbild verstanden werden. Welche Relevanz der Annahme finanzieller Unterstützung für die Annäherung an das ideale Selbst zukommt und inwiefern Migration dabei als intervenierende Bedingung fungiert, wird angesichts folgender Überlegungen nachvollziehbar: Das ideale Selbst wird einerseits durch konsistente idealisierte Normalitätsvorstellungen, die in der Migration bestehen bleiben (oder – wie im Falle von Cira Jerez – sogar eine zugespitzte Bedeutung erfahren) und sowohl für die Annahme als auch die Ablehnung der transnational geleisteten finanziellen Unterstützung eine große Rolle spielen, geprägt; die Bindung der erlebten Legitimität erhaltener Unterstützung an feste Altersgrenzen im Fall von Cira Jerez kann hier exemplarisch genannt werden. Andererseits zeigen die Fälle, dass Erwartungen an das eigene Selbst und damit verbundene Ziele und Ansprüche an sich selbst unter Bedingungen der Migration auch verändert werden. Während die Inanspruchnahme finanzieller Unterstützung in den Fällen von Emanuel Cheikho und Bazim Hamidi zuvor relativ selbstverständlich und regelmäßig erfolgte und auch Bazim Hamidi zunächst noch beabsichtigte, sich nach der Migration von seinen Brüdern helfen zu lassen, entwickelte sich in beiden Fällen mit der Migration der feste Wille, (es sich) nach ihrer Flucht zu beweisen, den Lebensunterhalt alleine bestreiten zu können. Damit veränderten sich und entstanden durch die Migration jene Selbstansprüche, die dazu führen, dass die Akteurinnen und Akteure die eigentlich benötigte Unterstützung ablehnten. Cira Jerez, die zuvor finanziell selbständig lebte, sah sich durch ihre selbst gewählte Bildungsmigration wieder in der Situation, Unterstützung zu benötigen und dies länger andauernd, als es ihren Erwartungen entsprach. Infolgedessen war sie veranlasst, ihre Ziele und Selbstansprüche zu modifizieren und konnte u.a. ihre Normalitätsvorstellungen über Alter und Unterstützungserhalt sowie über spezifische biografische Stationen, die bis zu einem bestimmten Alter zu erreichen sind, (zeitweise) nicht Folge leisten. Entsprechend tragen die Bedingungen der Migration, darunter unterschiedliche nationale oder kulturelle Bedingungen – wie z.B. Geldwertunterschiede – zur Abweichung vom Idealbild oder zu dessen Modifizierung bei, was schließlich in dem hier rekonstruierten Willen, finanziell unabhängig zu sein, seinen Ausdruck findet. Das Motiv, ‚selbst durchkommen zu wollen‘ kann damit als Folge eines durch die Migration forcierten Versuchs der Annäherung an das Idealbild verstanden werden und ist verantwortlich dafür, dass zuvor angenommene Unterstützungsleistungen einige Zeit nach der Migration infrage gestellt und nicht mehr angenommen werden (können). Dieses Ergebnis verweist auf die Bedeutung von Biografie und damit verbun-

„Ich möchte selbst durchkommen“

dener Entwürfe des Selbst im Kontext finanzieller Unterstützung. In weiteren Untersuchungen wäre es aufschlussreich, jene die Lebensbewältigung erleichternden oder erschwerenden Idealvorstellungen des Selbst zu analysieren und dabei auch darauf zu fokussieren, welche Rolle hierbei Migration spielt. Dass im Kontext transnationaler finanzieller Unterstützung bedeutsame Vorstellungen über das Selbst und den eigenen Lebensverlauf durch die Migration verändert werden (können), aber auch sehr persistent sein können, darüber konnte hier explorativ Aufschluss gegeben werden.

L iter atur Bender, Désirée/Hollstein, Tina/Huber, Lena/Schweppe, Cornelia (2013): Bewältigung von Schuld(en) und Armut? „Grade die Vorurteile sind halt schon sehr sehr schmerzlich“. Diskursive Bilder als Gegenstand multidimensionaler Bewältigung. In: Hergenröder, Curt Wolfgang (Hg.): Schulden und ihre Bewältigung. Individuelle Belastungen und gesellschaftliche Herausforderungen. Wiesbaden, S. 53-74. Diewald, Martin (1991): Soziale Beziehungen: Verlust oder Liberalisierung? Soziale Unterstützung in informellen Netzwerken. Berlin. Laireiter, Anton-Rupert/Lettner, Karin (1993): Belastende Aspekte sozialer Netzwerke und sozialer Unterstützung. Ein Überblick über den Phänomenbereich und die Methodik. In: Laireiter, Anton-Rupert (Hg.): Soziales Netzwerk und soziale Unterstützung. Konzepte, Methoden und Befunde. Bern, S. 101-111. Martinez, Matias/Scheffel, Michael (2003): Einführung in die Erzähltheorie. München. Nestmann, Frank (1988): Die alltäglichen Helfer. Theorien sozialer Unterstützung und eine Untersuchung alltäglicher Helfer aus vier Dienstleistungsberufen. Berlin. Vogt, Jochen (1996): Grundlagen narrativer Texte. In: Arnold, Heinz Ludwig/ Detering, Heinrich (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München, S. 287-307.

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„Immer nur das Billigste“: Materielle Einschränkungen durch transnationale Verbindungen – die Sicht der Kinder

Die vorherigen Kapitel zeigen, wie vielseitig und bedeutsam die Entwicklung und Aufrechterhaltung transnationaler Verbindungen für Migrantinnen und Migranten sein können und dass hierfür – besonders unter Bedingungen der Armut – häufig finanzielle Belastungen und Einschränkungen in Kauf genommen werden (müssen) (siehe insbesondere die Kapitel „Wandernden Geldern auf der Spur“ und „Skype und Co“). Welche Konsequenzen es für die Kinder haben kann, wenn ihre Eltern, die unter Bedingungen knapper finanzieller Mittel leben, Verbindungen zu ihren Herkunftsländern und vor allem den dort lebenden Angehörigen aufrechterhalten, die mit finanziellen Aufwendungen verbunden sind, wird im Weiteren am Beispiel zweier junger Frauen, die heute Anfang zwanzig sind, aufgezeigt. Ihre Erlebnisse in der Zeit ihrer Kindheit und Jugend werden im Folgenden in Form von zwei Erzählungen dargestellt, deren empirische Grundlage jeweils die mit beiden Frauen geführten Interviews bilden. Diese Erzählungen, die von den Forschenden aus den Interviewdaten rekonstruiert wurden, werden anhand von Paraphrasierungen dargestellt und spiegeln die retrospektive, also heutige Perspektive der beiden Frauen auf ihre damaligen Erfahrungen wider.

„K l amotten aus der T ürkei “ – Tr ansnationale S parstr ategien

und

S tigmata

Mein Name ist Bahar, Bahar Ceylan. Seit ich denken kann, musste in meiner Familie gespart werden. Ja ich weiß, Sparsamkeit wird immer als Tugend bewertet. Aber immer zu sparen, kann auch eine sehr große Belastung sein. Vor allem dann, wenn das Sparen dazu führt, dass man als Jugendliche materiell nicht mit den anderen

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mithalten kann und billige Kleidung aus dem Herkunftsland anziehen muss. Meine Eltern haben es nämlich ganz vermieden, mit mir in der Stadt einkaufen zu gehen und stattdessen Klamotten in der Türkei gekauft, weil sie billiger waren. Ihr wundert euch jetzt wahrscheinlich, dass dafür die Reisekosten in die Türkei in Kauf genommen wurden. Aber da es für meinen Vaters stets ein ‚Muss‘ war, mindestens einmal pro Jahr in die Türkei zu fahren, unternahm meine Familie ohnehin jedes Jahr eine Reise dorthin, um die Familie zu besuchen. Daher konnte der Kleiderkauf mit dem Aufenthalt dort verbunden werden. Also: Egal wie knapp unsere finanziellen Mittel waren, mein Vater musste jedes Jahr in die Türkei, das heißt, wir haben nur auf den Urlaub hin gespart und hier kaum was ausgegeben. Es ist wirklich wahr, ich kann mich erinnern, dass ich zwei Jahre oder so überhaupt nicht in der Stadt war, selbst nicht, um mir einfach mal etwas anzugucken oder so. Dies und das ewige Sparen, um die Reisen in die Türkei finanzieren zu können, führten mich in eine schwierige und blöde Situation. In Deutschland wurden mir keine materiellen Wünsche erfüllt; selbst der Wunsch, mal eine ‚Capri Sonne‘ mit zur Schule zu nehmen, wurde mir nicht erfüllt. Und diese kleinen ‚Capri Sonnen‘ waren damals absolut in. Ich wollte das auch mit in die Schule nehmen, weil jeder das immer dabei hatte, aber mein Vater meinte immer nur: „Füll dir Orangensaft in die Flasche“, weil das dann billiger war. Natürlich waren diese 2-Liter-Packungen billiger als die ‚Capri Sonnen‘. Er hat halt mit jedem Cent, also Pfennig gerechnet, und das hab ich damals nicht nachvollziehen können. Ich war nur sauer auf meinen Vater. Das sind zwar Kleinigkeiten, aber so was vergisst man nicht. Auch mein ‚Taschengeld‘ durfte ich nicht ausgeben, sondern musste es für die Reise und den Kleiderkauf in der Türkei ansparen. Also das war so: Ich habe Taschengeld bekommen, das ich dann in ein Sparschwein tun musste. Für die Schule habe ich von zu Hause immer alles bekommen, so dass ich dafür von meinem Gesparten nichts ausgegeben habe. Und dann, jedes Mal, bevor wir in die Türkei gefahren sind, wurde mein Sparschwein geplündert und von dem Geld habe ich dann immer Anziehsachen in der Türkei bekommen. Mit dieser Plünderung durch meinen Vater war ich nicht einverstanden, also ich hätte das Geld lieber selbst gehabt und selbst ausgegeben, anstatt es da reinzuwerfen. Ich hatte ihm das auch oft gesagt, dass ich das nicht möchte, aber er hat das nicht eingesehen und meinte dann immer: „Doch, doch, das ist so das Beste“. Er hat mir nicht die freie Wahl gelassen, das Geld zu behalten und für mich auszugeben. Aber nicht nur, dass ich nicht mit­ entscheiden konnte, hat mich geärgert. Vor allem die Konsequenzen in der Schule haben mich belastet und führten dazu, dass ich nur sauer auf meinen Vater war. Ausnahmen hat er nie gemacht und dadurch konnte ich in meiner Kindheit und Jugendzeit nur das tragen, was mir in der Türkei gekauft wurde. Ich kann mich wirklich erinnern, dass ich das ganze Jahr über das angezogen hab, was wir damals in der Türkei gekauft haben, und das waren nur zwei, drei Sachen. Also ich hab da wirklich schwierige Zeiten gehabt, vor allem, das könnt ihr euch sicher vorstellen, in der sechsten, siebten Klasse…

„Immer nur das Billigste“

Damals habe ich mich in der Schule richtig geschämt. Ich hatte auch keine Freunde, muss ich ehrlich sagen, und habe mich deshalb zurückgezogen. Ehrlich gesagt, ich habe wirklich viele Pausen auf der Toilette verbracht. Ich habe das immer vorsorglich gemacht, um den Blicken meiner Mitschüler zu entgehen. Denn ich hatte so eine Außenseiterposition, also das kriegst du automatisch. Denn in der Zeit musstest du ‚Buffalo‘-Schuhe haben, einen ‚Eastpack‘-Rucksack, einen ‚Nike‘-Pulli, eine Jacke von ‚Magic Orlando‘ usw. Das waren zu der Zeit die Sachen, die total ‚in‘ waren. Und wenn du die nicht hattest, dann warst du unten durch. Tja, und da stand ich da mit meinen Klamotten aus der Türkei. Ich werde das nie vergessen.

Z wischenresümee : D ie territoriale G ebundenheit

von

R essourcen

Bahar Ceylans Erzählung verdeutlicht, dass die jährlichen Reisen in die Türkei und die Besuche der dort lebenden Verwandtschaft für ihren Vater ein unumgängliches ‚Muss‘ darstellten und angesichts knapper finanzieller Mittel der Familie umfassende Sparmaßnahmen betrieben werden mussten, um diese finanzieren zu können. Indem die jährlichen Reisen in die Türkei neben Verwandtschaftsbesuchen zudem mit der Sparstrategie des Kleiderkaufs verbunden wurden, ergab sich daraus für Bahar Ceylan eine doppelte Belastung: Zum einen erfuhr sie in finanzieller und materieller Hinsicht Entbehrungen, zumal ihr in Deutschland gespartes Taschengeld für die jährlichen Reisen ausgegeben wurde und die von ihr benannten materiellen Bedürfnisse unerfüllt blieben. Zum anderen waren damit in sozialer und emotionaler Hinsicht Probleme verbunden, da fehlende Markenwaren und zusätzlich die Notwendigkeit des Tragens der Kleidung aus der Türkei die erlebte Außenseiterrolle in der Schule zur Folge hatten. Der kostengünstigere Erwerb von Kleidung im Herkunftsland führte demnach für den Vater zu finanziellen Einsparungen, stieß jedoch im Fall der Tochter soziale Ausgrenzungsprozesse an und „die Klamotten aus der Türkei“ wurden für sie in der Schule zu einem Stigma.1 Aus der Perspektive Bahar Ceylans materialisierte sich in der Kleidung die Armuts1 | Auf den Begriff des Stigmas wird hier aufgrund der als zutiefst diskreditierend erfahrenen Wirkung der Kleidung zurückgegriffen, der sich Bahar Ceylan in ihrer Schulzeit nicht entziehen konnte. Die allgemeine Wirkung eines Stigmas beschreibt der Soziologe Erving Goffman folgendermaßen: „Ein Individuum, das leicht in gewöhnlichen sozialen Verkehr hätte aufgenommen werden können, besitzt ein Merkmal, das sich der Aufmerksamkeit aufdrängen und bewirken kann, dass wir uns bei der Begegnung von ihm abwenden, wodurch der Anspruch, den seine anderen Eigenschaften an uns stellen, gebrochen wird“ (Goffman 1975, S. 13). Im Prozess der Stigmatisierung ist das Individuum „von vollständiger Akzeptierung ausgeschlossen“ (ebd., S. 7).

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situation ihrer Familie in Deutschland und das Tragen der Kleidung aus der Türkei hatte zur Konsequenz, dass sie in der Schule durch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler ausgegrenzt wurde. Indem bestimmte US-amerikanische Labels, wie ‚Nike‘, ‚Eastpack‘, ‚Magic Orlando‘, usw. den Trend in der damaligen Jugendkultur dominierten, wurden diese Produkte als ‚in‘ und andere als ‚out‘ angesehen. Erst diese Definitionsprozesse führen durch stereotype Zuschreibungen, in denen von den sichtbaren Merkmalen wie der Kleidung in generalisierender Weise auf die Person geschlossen wird, zu sozialen Vor- und Nachteilen für diejenigen, die diese Produkte besitzen oder nicht. Im Fall von Bahar Ceylan ist demnach zu beachten, dass es nicht die transnationalen Verbindungen im Allgemeinen und der Kauf von Produkten im Herkunftsland im Besonderen sind, die zu ihrer Außenseiterposition in der Schule führten, sondern diese erst durch spezifische Bewertungen der gekauften Produkte entstanden, die den dominanten jugendkulturellen Akzeptanzund Anerkennungsmustern in Deutschland entgegenstanden. So würde zum Beispiel der Kauf nachgeahmter Markenkleidung in der Türkei möglicherweise weniger ungleichheitsrelevant erscheinen und könnte potenziell soziale Vorurteile mildern, sofern die Fälschung nicht unmittelbar augenscheinlich ist. Zudem liegt die Annahme nahe, dass die Sparstrategie der Eltern, Kleidung günstiger im Herkunftsland zu erwerben, sich besonders dann (im Sinne damit einhergehender ‚in‘-Zuschreibungen) positiv auswirken kann, wenn die Produkte des Herkunftslandes der Eltern die Trends der Jugendlichen prägen. Dies zeigt, dass dieselben transnationalen Praktiken der Eltern ebenso für die Tochter eine Ressource sein könnten, um soziale Anerkennung zu erfahren. Ressourcen sind – ebenso wie Attribute, die Ausschlussprozesse anstoßen können – raumbezogen, d.h., ihre Bedeutung bzw. ihr Wert beziehen sich auf die Anschlussfähigkeit an soziale Räume – die national oder auch transnational strukturiert sein können – ebenso wie auf die Lebenswelten, in denen sie eingesetzt werden (vgl. Berger/Weiß 2008; Nohl et al. 2010). In der transnationalen Lebenswelt der Eltern und insbesondere des Vaters scheinen die Reisen in das Herkunftsland und die damit verbundenen Sparmaßnahmen eine besondere Bedeutung zu haben, die die jeweils zuvor lokal notwendigen finanziellen Einschränkungen in ihrer Bedeutung offenbar relativieren. Dieser transnational geschaffene Wert ist für ihre Tochter nicht herstellbar und die verfolgten Strategien zur Aufrechterhaltung der Verbindungen ins Herkunftsland der Eltern wirken sich in der lokalen Lebenswelt der Gleichaltrigen kontraproduktiv aus, da sie die Verfügung über Ressourcen, die hier anschlussfähig und wertvoll wären, gleichzeitig begrenzen. Diese Ambivalenz transnationaler Verbindungen im Hinblick auf die unterschiedliche Bedeutung in den lebensweltlichen Bezügen der Familienmitglieder, die mit den folgenden Worten Bahar Ceylans beschrieben werden

„Immer nur das Billigste“

kann: „Das kommt immer drauf an, aus welcher Perspektive man das betrachtet“, findet sich auch in der folgenden Geschichte wieder.

„E her für die F amilie in der T ürkei gesorgt “ – Tr ansnationale soziale U nterstützung als F r age familialer V erteilungsgerechtigkeit Ich bin Ada, Ada Cengiz. Ich weiß, dass es gut ist, andere zu unterstützen, vor allem wenn es die eigene Verwandtschaft ist. Aber es muss Grenzen geben und diese Grenzen hat mein Vater definitiv überschritten. In meiner Familie wurde immer gespart und gespart und gespart und es hieß immer: „Nein, wir haben nicht so viel Geld, das können wir uns nicht leisten. Damit musst du dich abfinden“. Also, ich habe jahrelang immer gespürt, wir sind arm, und mich dadurch auch in der Schule sehr zurückgezogen. Am Anfang war ich immer sehr aktiv, aber dann habe ich mich nicht mehr getraut, was zu sagen. Also ich habe mich auch im Unterricht nie etwas getraut. Ich hatte Minderwertigkeitskomplexe, weil ich dachte, ja, ich kann mich nicht so anziehen wie die anderen, ich habe keine ‚Lamy‘-Füller usw. Damals war’s halt so, es gab in den Schulen hier Markenzeichen, die man haben musste. Damals waren z.B. ‚4-You‘-Ranzen in und ich hatte einen ganz billigen ‚no-name‘ Schulrucksack. Mein Vater sorgte zwar immer dafür, dass wir für die Schule alles hatten, aber das war eben kein ‚Lamy‘-Füller oder kein ‚Pelikan‘-Füller. Durch meine Kleidung und die fehlenden Markenwaren wurde die finanzielle Situation meiner Familie in der Schule sichtbar und bei mir sozusagen zum Symbol des ‚Nichtmithaltenkönnens‘ und ‚Nichtdazugehörens‘. Ich habe gespürt, dass die anderen mich deswegen als minderwertig betrachtet haben, weil ich durch die Armutssituation in unserer Familie nicht so sein konnte wie sie. Zudem war ich die einzige Türkin in der Klasse. Insgesamt waren von 33 Schülern nur drei Ausländer und davon ich die einzige Türkin und die einzige Muslima. Und ich habe immer zu spüren bekommen, dass ich nicht so bin wie die anderen. In dieser Zeit flüchtete ich mich in meine Einsamkeit und habe immer versucht, zu denken, „ach, ist doch egal“, um die Erfahrung, dass ich keine Freunde hatte und Außenseiterin war, nicht mehr an mich heranzulassen. Mit dem Gefühl, wir sind arm und haben nicht viel Geld, hatte ich mich abgefunden. Aber als ich Jahre später feststellte, dass wir eigentlich doch Geld hatten, war ich unheimlich enttäuscht. Ich habe mich immer gefragt, warum meine Eltern mir das verschwiegen haben. Im jungen Erwachsenenalter erfuhr ich, dass mein Vater in früheren Jahren Aktien von türkischen Großkonzernen gekauft hatte. Und als der Wert dieser Aktien dann später auf den Nullpunkt sank, war das Geld von meinem Vater komplett weg. Zwar handelte es sich um keine große Summe, die er damals investiert hatte, dennoch fragte ich mich, warum ich nichts davon wusste, und stellte

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mir erstmals die Frage: Kann es sein, dass die finanzielle Notlage vielleicht nur von meinen Eltern vorgespielt war? Bewusst war mir schon immer, dass meine Familie jedes Jahr trotzdem in die Türkei geflogen ist, aber es war kein Urlaub in dem Sinne, also kein Strandurlaub oder so, sondern wirklich das Besuchen von Verwandten, z.B. von meinem Opa und so. Also man kann sagen, für meine Eltern war die Reise in die Türkei ein ‚Indie-Heimat-gehen‘. In Gesprächen mit meiner Mutter erfuhr ich dann schließlich, dass die Verbindungen zur Türkei nicht nur über Reisen und Besuche unserer Verwandten und über die Investition in die dortige Wirtschaft (‚türkische Holdings‘) bestanden und aufrechterhalten wurden, sondern dass insbesondere auch immer Geld an meine Verwandten überwiesen wurde. Da die finanzielle Unterstützung an die Familie in der Türkei nicht gerade gering war und an viele verschiedene Verwandte ging, erlebte ich diese finanzielle Sorge meines Vaters als persönliche Vernachlässigung, denn ich selbst musste mich ja immer einschränken. Und wenn man älter wird und dann vieles ans Tageslicht rückt, dann denkt man schon, ah ja, er hat eher für die Familie in der Türkei gesorgt und hat dann uns eher vernachlässigt. Ich hatte also das Gefühl, dass ich benachteiligt wurde, und meine Mutter sah dies ähnlich wie ich. Deshalb gab es auch sehr viele Konflikte damals zwischen meiner Mutter und meinem Vater. Aber er hat sich immer verpflichtet gefühlt, seine Eltern zu unterstützen, seine Brüder zu unterstützen, die Töchter seiner Brüder zu unterstützen und hat darüber hinaus monatlich viel Geld an meinen in der Türkei lebenden Halbbruder überwiesen, bis dieser heiratete. Ich denke, dass er das, was er mit Liebe nicht geben konnte, irgendwie mit viel Geld wieder gutmachen wollte. Selbst die Mutter meines Halbbruders, die auch in der Türkei lebt, hat meinen Vater gebeten, er soll nicht so viel Geld schicken, weil das Kind sonst zu sehr verwöhnt würde. Aber mein Vater hat immer weiter gezahlt. Also, es ist nicht so, dass ich meinen Vater und sein Gefühl, unterstützen zu müssen, nicht verstehe. Mit dem Geld für meinen Halbbruder wollte er wahrscheinlich seinen Fehler wieder gutmachen, dass er nicht für ihn da gewesen ist. Aber bis heute ist für mich die Höhe dieser finanziellen Unterstützung nicht nachvollziehbar, obwohl ihm gesagt wurde, er solle nicht so viel Geld schicken, und vor allem, obwohl es mich und meine Geschwister in Deutschland gab, die deshalb auf so vieles verzichten mussten. Meinem Onkel hat er eine Wohnung gekauft, meiner Cousine ihr Studium zum größten Teil finanziert, also er hat immer auch für die Familien seiner Brüder in der Türkei gesorgt. Meine Mutter teilte, wie gesagt, diese Meinung, dass er unsere Familie gegenüber der in der Türkei benachteiligte. Aber erst nach vielen Jahren konnte sie sich durchsetzen und meinen Vater dazu veranlassen, wenigstens die finanzielle Unterstützung an die Familien seiner Brüder in der Türkei einzustellen. Sie meinte zu ihm: „Du hast vier Kinder und wenn die dort in guten Verhältnissen leben können und wir hier auf dem Flohmarkt einkaufen müssen, dann ist das ungerecht gegenüber meinen Kindern“, und er hat dann auch auf meine Mutter gehört. Die Folge waren Spannungen und Streitigkeiten in der Familie und es kam zu einem sehr großen Konflikt zwischen

„Immer nur das Billigste“

meiner Mutter und meinem Onkel, der nicht damit einverstanden war, dass mein Vater die Geldüberweisungen einstellte. Langfristig verbesserte sich unsere finanzielle Situation jedoch nicht, da mein Vater kurze Zeit später erkrankte und darauf hin arbeitsunfähig und Frührentner wurde. Dann lebten wir von Sozialhilfe bzw. von ‚Grundsicherungsleistung‘, so hieß das damals. Für mich kam es daher erst mit dem Ende der Schulzeit zu einer Wende. Als ich nach dem Abitur anfing zu studieren, BAföG beantragte und durch Nachhilfeunterricht zusätzliches Geld verdiente, hatte ich erstmals Geld zur freien Verfügung. Das war für mich etwas ganz Neues, mir jetzt was leisten zu können. Das hatte ich mir vorher immer gewünscht. Ich war nur am Einkaufen und habe mir auch wirklich jede Menge Markenklamotten gekauft und Parfum und alles Mögliche. Diese Phase hielt aber nicht lange an. Kurze Zeit später begann ich selbst zu sparen, um meine Eltern finanziell zu unterstützen. Also, ich helfe jetzt meinem Vater wegen seiner Notlage. Ich fühl mich irgendwie dazu verpflichtet. Meine Eltern haben nie gesagt, du musst uns so und so viel Geld geben, also ich mach das wirklich freiwillig. Eigentlich empfinde ich mich nun, ähnlich wie es bei meinem Vater war, meinen Eltern gegenüber verpflichtet zu helfen, obwohl ich selbst nicht viel Geld habe und meine Eltern diese Unterstützung nicht erwarten.

Z wischenresümee : D ifferente familiale U nterstützungsbereitschaf ten Die Geschichte von Ada Cengiz bringt spannungsreiche Familienbeziehungen in Bezug auf die Verteilung finanzieller Mittel im Kontext der Sorgeleistungen ihres Vaters zum Ausdruck. Diese gründen in den begrenzten finanziellen Ressourcen der Familie und differenten Vorstellungen über die finanzielle Unterstützung gegenüber Familienmitgliedern im Herkunftsland. Der Vater unterstützt seine Familie in der Türkei trotz der damit einhergehenden Entwicklung einer prekären finanziellen Situation in Deutschland. Die erforderlichen Begrenzungen der finanziellen Ausgaben in Deutschland, die der Unterstützung der Familie in der Türkei dienen, führen gleichzeitig zu einer zunehmenden Unzufriedenheit und familialen Belastungslage in Deutschland. Konflikte zwischen Mutter und Vater von Ada Cengiz und ihre Probleme durch die beschriebene Ausgrenzung in der Schule sind die Folge. Es stellen sich Fragen familialer Verteilungsgerechtigkeit, die schließlich in die Erwartung an den Vater münden, zumindest die finanzielle Unterstützung an die Familien seiner Brüder aufzugeben, da diese für die Familienmitglieder in Deutschland nicht nachvollziehbar ist. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Bedeutung dem transnationalen Charakter der Beziehungen und Unterstützungsleistungen zukommt. Werden gerade durch die Tatsache, dass die Verwandten im Her-

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kunftsland leben, die Unterstützungsleistungen und damit einhergehenden Verteilungskonflikte forciert? Studien zeigen, dass Migrantinnen und Migranten, die aus ökonomischen Gründen ihr Herkunftsland verlassen haben, unter einem erheblichen Druck stehen können, die im Herkunftsland lebenden Familienmitglieder zu unterstützen (vgl. z.B. Böcker 1994, S. 97) und ihnen zu zeigen, dass sich die Migration gelohnt hat und sie ökonomisch erfolgreich sind (vgl. Six-Hohenbalken 2009, S. 234; Gerdes 2007). (Regelmäßige) Unterstützungsleistungen und/oder Geschenke sind eine Möglichkeit, einen solchen Erfolg darzustellen (für einen Überblick über unterschiedliche Bedeutungen von remittances vgl. Eberl 2009). Auch Schuldgefühle, das Heimatland verlassen und Familienmitglieder zurückgelassen zu haben (vgl. Grinberg/ Grinberg 1990, S. 72), können Unterstützungsleistungen fördern. Zudem können das Fehlen wohlfahrtsstaatlicher Leistungsangebote in den Herkunftsländern und ungleiche Lebensbedingungen zwischen Aufnahme- und Herkunftsland Unterstützungserwartungen wie Verpflichtungsgefühlen einen besonderen Nachdruck verleihen (vgl. Hollstein/Huber/Schweppe 2009). Offen bleibt, inwieweit die genannten Faktoren auf die Unterstützungsleistungen des Vaters im Herkunftsland Einfluss nahmen. Für die Ambivalenzen der transnationalen Unterstützungsleistungen, wie sie sich im Fall der Familie von Ada Cengiz gezeigt haben, erweisen sich Erklärungsversuche als aufschlussreich, die auf einen Aspekt des Konzepts familiärer Solidarität rekurrieren. Familiale Solidarität gründet in einem Erleben von Zusammengehörigkeit und ist durch ein Zurücktreten von Eigeninteresse und strategischen Überlegungen der solidarisch Handelnden gekennzeichnet (vgl. Ostner 2004, S. 86 f.).2 Solidarisches Handeln wird entsprechend als „Bereitschaft, Opfer für das Wohlergehen der anderen Mitglieder einer Gruppe zu erbringen“ (Beckert et al. 2004, S. 9), verstanden. Damit werden zugleich die Grenzen von Solidarität deutlich. Solidarität zeichnet sich durch einen 2 | In Bezug auf dieses Zurücktreten eigener Interessen merkt Offe in seinen Ausführungen zur Solidarität in Nationalstaaten an: Solidarität unterscheide sich z.B. von „altruistischem“ und „barmherzigem“ Handeln, da „Solidarität der Absicht nach eine Beimengung erwünschter Folgen auch für den enthält, der sie übt, und nicht allein den unmittelbar Begünstigten zugute kommt. Mittelbar bewirkt die solidarische Handlung (bei der ‚ich‘ bewusst […] auf erzielbare Vorteile verzichte oder sonst vermeidbare Nachteile in Kauf nehme) die Beförderung auch meiner ‚wohlverstandenen‘ Interessen“ (Offe 2004, S. 40). Dies könne die Herstellung einer „angenehmen Empfindung“ (ebd.) infolge des solidarischen Handelns sein, die Herstellung reziproker Verpflichtungen, die Vermeidung von Konflikten u.v.m. Werden die getätigten Unterstützungsleistungen entsprechend als Ausdruck von Solidarität gefasst und Offes Überlegungen hierauf übertragen, so wird ersichtlich, dass auch für solidarisch Handelnde in der Familie ein gewisser ‚Profit‘ entstehen bzw. damit verbunden sein könnte.

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stark partikularistischen Charakter aus. D.h., „Verpflichtungen zu solidarischem Handeln entstehen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und beschränken sich auf diese“ (ebd.). Grundlage solidarischer Verpflichtungen ist dabei „immer das Gefühl der Verbundenheit“ (ebd., S. 10). In Bezug auf die Familie stellt sich entsprechend grundlegend die Frage, wer von wem überhaupt zur Familie als zugehörig erachtet wird (siehe hierzu auch das Kapitel „Die Familie muss zusammenhalten“) und welche Folgen es hat, wenn Verbundenheiten innerhalb einer Familie von einzelnen Mitgliedern unterschiedlich erlebt und unterschiedliche Bedeutungen haben. Die Geschichte von Ada Cengiz verdeutlicht, dass (transnationale) Verbindungen in der Familie angesichts knapper finanzieller Mittel ihren Ausdruck in familialen Konflikten finden können und daher die Frage, wer in welchem Maße unterstützt wird und wer nicht, zum Gegenstand familialer Aushandlung wird. Während z.B. Ada Cengiz’ Vater seiner Vaterrolle dem Halbbruder gegenüber zumindest in finanzieller Hinsicht nachkommen will und auch für die anderen im Herkunftsland verbliebenen Verwandten finanziell sorgt, sehen Ada Cengiz und ihre Mutter hingegen das Primat der Versorgerrolle in der Kernfamilie vor Ort gegeben. Damit fordert der Fall dazu auf, genauer zu betrachten, inwiefern es nicht nur über Generationen hinweg zu einer Verschiebung der Bereitschaft zu (transnationaler) familialer Unterstützung kommen kann. In dem Interviewauszug, der sich auf die Auswirkungen der Unterstützung an die Familien der Brüder des Vaters bezieht, „wenn die dort ein sehr also in guten Verhältnissen ein Leben führen können und wir hier vom Flohmarkt einkaufen gehen“, zeigt sich eine Perspektive, die die Lebenswelt der Familie ‚dort‘ von jener ‚hier‘ differenziert. Im Zuge der entstehenden Armutslage wird der Eltern-Kind-Familienkontext in Deutschland priorisiert und somit die Grenzen für den Vollzug finanzieller Unterstützungsleistungen neu gesetzt. Das Verständnis einer transnationalen Familie wird dadurch ausgehebelt und die Legitimität der Unterstützungsleistungen des Vaters infrage gestellt. Wie im Falle Bahar Ceylans zeigt sich somit auch hier die Bedeutsamkeit von unterschiedlich empfundenen Zugehörigkeiten im Kontext lebensweltlicher Differenzen.

Tr ansnationale V erbindungen als tr ansnationales K apital? D ifferenzen lebensweltlicher K onte x te Die Erzählungen der beiden jungen Frauen, Ada Cengiz und Bahar Ceylan, sind durch eine Perspektive auf die Zeit ihrer Kindheit und Jugend geprägt, in der die konflikthafte Verwobenheit der transnationalen Lebenswelt ihrer Eltern (insbesondere der Väter) mit ihrer jugendlichen Lebenswelt im Vordergrund steht. Hierzu kommt es, indem finanziell begrenzte Mittel es den Eltern erschweren, die materiellen Bedürfnisse ihrer Kinder zu erfüllen und

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zugleich die bestehenden Verbindungen zum Herkunftsland aufrechtzuerhalten. Teile des Einkommens werden für Reisen in die Türkei und die finanzielle Unterstützung der dort lebenden Familien gespart und ausgegeben. Die damit einhergehende notwendige Beschränkung der Erfüllung von Wünschen und Bedürfnissen der Familie in Deutschland angesichts knapper finanzieller Mittel ist eine Erfahrung, die beide Frauen teilen und als „sehr prägend“ erlebten, da sie mit ihren „Klamotten aus der Türkei“ bzw. von deutschen Flohmärkten und den fehlenden Markenprodukten in eine belastende Außenseiterrolle in der Schule gerieten.3 Ein wichtiger Erklärungsgrund dieser belastenden Ausgrenzungserfahrungen liegt in einer gesellschaftlichen Entwicklung, die eng mit dem Begriff der ‚Konsumgesellschaft‘ verknüpft ist und zu einer Kommerzialisierung der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen führt. „Kommerzialisierung drückt aus, dass immer mehr alltägliche Handlungen geldpflichtig werden. Dabei haben die Jugendlichen nur wenig Wahlmöglichkeiten: Wer sich kein Handy leisten kann/will, wird damit zwangsläufig von vielen kurzfristigen Verabredungen ausgeschlossen“ (Krug/Tully 2011, S. 4.) Bereits in den 1980er Jahren existierte „ein komplettes Set jugendkultureller Objekte (Walkman, Schuhe, Markenklamotten etc.)“ (ebd.), deren Besitz mit darüber entscheidet, inwieweit Jugendliche Anerkennung von Gleichaltrigen erhalten. „Es ist also nicht nur so, dass immer mehr Bereiche des Jugendalltags geldpflichtig werden, sondern der Konsum entscheidet auch darüber, ob die Jugendlichen integriert oder ausgeschlossen werden. Was früher in Form von Regeln und Vorschriften gefasst war (z.B. ‚was man tut‘, was als ‚passend‘ und ‚unpassend‘ gilt), ist an den Markt delegiert. Im Konsum zeigt sich, ob die Person ‚in‘ oder ‚out‘ ist und ob sie Kenntnis davon hat, was als ‚no go‘, was als ‚geht gar nicht‘ gilt.“ (ebd., S. 5) Auch Kleidung bzw. die Inszenierung und Stilisierung über Kleidung und zunehmend Medien spielen hierbei eine bedeutende Rolle (vgl. Tully/Krug 2009). Im Falle von Bahar Ceylan und Ada Cengiz erfuhren ihre jugendlichen Lebenswelten durch die knappen finanziellen Mittel und forciert durch die 3 | Beide Fälle verdeutlichen, dass die in der frühen Jugend gemachten Erfahrungen auch noch retrospektiv ein relativ hohes Belastungspotenzial aufweisen und dass die Abwertungs- und Ausgrenzungsprozesse noch heute als aversiv erlebt werden. Insbesondere die Tatsache, dass Markenprodukte eine so große Bedeutung in einer als vulnerabel aufzufassenden Phase, der Pubertät, für die Jugendlichen haben, macht die Betrachtung dieses Themas so zentral (vgl. Reis/Meyer-Probst 1999, S. 66). Die Untersuchung von Exklusionen und Gründen für Ausschlüsse von Jugendlichen durch peers in einer Entwicklungsphase des Lebens, in der peers von besonderer Bedeutung auch für die eigene Identitätsfindung sind, sind für die Soziale Arbeit von höchster Brisanz.

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transnationalen Verbindungen der Väter bzw. Eltern starke materielle Einschränkungen bzw. im Falle der türkischen Kleider auf materieller Ebene eine Transnationalisierung, die sich nachteilig auf die Möglichkeiten der Partizipation und Integration in der Lebenswelt der Jugendlichen auswirkte. Betrachtet man die transnationalen Verbindungen der Eltern und die genannten negativen Folgen für die soziale Teilhabe der Kinder im Hinblick auf die Wirksamkeit ökonomischer, sozialer und symbolischer Kapitalien (vgl. zu den verschiedenen Kapitalsorten Bourdieu 1983), wird deren komplexes Zusammenspiel in Abhängigkeit von den Differenzen der lebensweltlichen Kontexte deutlich. 4 Soziales Kapital umfasst nach Bourdieu „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzwerks von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind“ (Bourdieu 1992, S. 63). Dementsprechend sind darunter all jene „Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (ebd.), zu verstehen. Ökonomisches Kapital, verstanden als materieller Besitz, d.h. im Allgemeinen, Geld und Eigentum, kann mitunter Folge sozialen Kapitals sein und kann (nicht nur in der Lebenswelt Jugendlicher) zugleich von Nöten sein, um soziales Kapital zu (re-)produzieren. Die Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten zwischen diesen Kapitalien zeigen sich unter anderem auch darin, dass sich die Reproduktion vorhandener Sozialkapitalbeziehungen als abhängig von materiellen und/oder symbolischen Tauschbeziehungen (u.a. in Form von Geschenken, Gefälligkeiten, Besuchen usw.) erweisen kann, durch die sich gegenseitige Anerkennung immer wieder neu bestätigt (vgl. ebd., S. 63 ff.). Soziales Kapital kann dabei (wie die anderen beiden Kapitalformen) mit symbolischem Kapital, d.h. mit Bekanntheit, Anerkennung, Prestige, einhergehen und ist als Ergebnis sozialer Beziehungen zu verstehen. Soziale Beziehungen bestehen jedoch nicht einfach so, vielmehr muss stets Beziehungsarbeit in Form verschiedener Transaktionen geleistet werden. Damit wird deutlich, dass die jährlichen Reisen der Eltern in ihre Herkunftsländer in Verbindung mit den Besuchen von Verwandten zur Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen in ihrer transnationalen Lebenswelt beitragen und welche Funktion auch die Leistung von transnationaler sozialer 4 | Bourdieu unterscheidet in seinem Kapitalansatz ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital und postuliert, dass ihre Gestalt abhängig sei von dem jeweiligen Anwendungsbereich sowie den mehr oder weniger hohen Transformationskosten, welche als Voraussetzung für deren wirksames Auftreten gesehen werden (vgl. Bourdieu 1992, S. 52). Unter kulturellem Kapital versteht Bourdieu vereinfacht gesagt Bildungskapital und differenziert darüber hinaus verschiedene Ausprägungen, nämlich inkorporiertes, objektiviertes sowie institutionalisiertes kulturelles Kapital (vgl. ebd., S. 53). Auf eine nähere Ausführung wird an dieser Stelle verzichtet, da in den weiteren Überlegungen eine Betrachtung des kulturellen Kapitals nicht erfolgt.

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Unterstützung in diesem Zusammenhang einnehmen kann. Diese Bedeutsamkeit der Aufrechterhaltung und Pflege der sozialen Verbindungen in das Herkunftsland gilt für Ada Cengiz und Bahar Ceylan nicht gleichermaßen. Vielmehr ergeben sich für sie daraus sogar Belastungen. Zu der Belastung kommt es speziell durch die mit den Reisen und finanziellen Unterstützungen der Familie im Herkunftsland verbundenen weiteren Begrenzungen des in der Familie jeweils vorhandenen ökonomischen Kapitals. Dies erschwert vor dem Hintergrund der unterschiedlichen lebensweltlichen Bezüge der Mädchen im Vergleich zu denen der Erwachsenen ihre Sozialkapitalbildung. Durch die beschriebenen Entwicklungen, dass Jugendliche „ihren eigenständigen Jugendstatus als Sozialstatus in der Gleichaltrigenkultur und der Welt der Medien und des Konsums“ (Böhnisch 2005, S. 147) suchen, sodass „Medien und Konsum […] integrale Teile des jugendlichen Lebensgefühls“ (ebd.) werden, fungieren die transnationalen Beziehungen der Eltern für Ada Cengiz und Bahar Ceylan letztendlich als ‚negatives‘ soziales Kapital (vgl. z.B. Portes 1998; Jansen 2006), indem die mit den Verbindungen einhergehenden Sparstrategien soziale Ausschlussprozesse in der jugendlichen Lebenswelt in Deutschland nach sich ziehen. Grafisch kann dieser Kreislauf folgendermaßen veranschaulicht werden (s. Abbildung 4).

Abbildung 4: Konflikthafte Kapitalschöpfung in lebensweltlicher Perspektive

„Immer nur das Billigste“

F a zit und A usblick : E ine multiperspek tivische B e tr achtung von tr ansnationalen familialen V erbindungen Wissenschaftliche Untersuchungen zu unterschiedlichen Quantitäten und Qualitäten von transnationalen Verbindungen innerhalb einer Familie, die deren Auswirkungen auf die familiale Lebenswelt und auf die einzelner Familienmitglieder sowie deren Rückwirkung auf die transnationalen Verbindungen und Unterstützungsleistungen betrachten, stellen bislang die Ausnahme dar. Entsprechend gibt es noch wenige Arbeiten, die zur Erklärung der Motive, Ursachen, Formen und des Ausmaßes von Unterstützungsleistungen in transnationalen Familien das Kollektiv des Familienverbandes, die individuellen Perspektiven der verschiedenen Familienmitglieder sowie deren Zusammenwirken auf die tatsächlichen Unterstützungsleistungen fokussieren (vgl. z.B. Bach 2013). Wie verhält es sich also, wenn innerhalb einer Familie die Bedeutung transnationaler Verbindungen und damit zugleich auch die Bereitschaft zur Inkaufnahme persönlicher Einschränkungen zugunsten dieser Verbindungen (stark) variiert? Eine Erweiterung der wissenschaftlichen Betrachtung des Verhältnisses von Familie und transnationaler Unterstützung um Studien, die der empfundenen Bedeutsamkeit der unterschiedlichen Familienmitglieder durch Berücksichtigung einer Intra- und Mehrgenerationenperspektive Rechnung tragen, erscheint entsprechend indiziert. Inwieweit werden transnationale Unterstützungsleistungen kollektiv und im Familienverband ausgehandelt? Welche Bedeutung kommt dem Empfinden von Zugehörigkeit und emotionaler Bindung der verschiedenen Familienmitglieder gegenüber den Verwandten im Herkunftsland zu und welchen Einfluss haben diese Empfindungen auf Prozesse transnationaler Unterstützung? All dies sind Fragen, die weitere untersuchenswerte Forschungsperspektiven aufzeigen.

L iter atur Bach, Yvonne (2013): Frauen in der Arbeitsmigration. Eine ethnographische Studie zu transnationalen Familien zwischen Singapur und Indonesien. Berlin. Beckert, Jens/Eckert, Julia/Kohli, Martin/Streeck, Wolfgang (2004): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Transnationale Solidarität. Chancen und Grenzen. Frankfurt am Main, S. 9-14. Berger, Peter A./Weiß, Anja (2008): Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Wiesbaden.

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Böcker, Anita (1994): Chain migration over legally closed borders: Settled immigrants as bridgeheads and gatekeepers. In: Netherlands Journal of Social Sciences 30 (2), S. 87-106. Böhnisch, Lothar (2005): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. Weinheim/München. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Georg (Hg.): Soziale Ungleichheiten: Soziale Welt. Sonderband 2. Göttingen, S. 183-198. Bourdieu, Pierre (1992): Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. In: Ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg, S. 49-79. Krug, Wolfgang/Tully, Claus J. (2011): Jugend und Konsum: Stand der Jugendforschung und Forschungsergebnisse aus dem Projekt BINK. In: Michelsen, Gerd/Nemnich, Claudia (Hg.): Handreichung – Bildungsinstitutionen und nachhaltiger Konsum. Nachhaltigen Konsum fördern und Schulen verändern. Bad Homburg, S. 1-20. Eberl, Julia (2009): Migration und Remittances. Das entwicklungsfinanzierende Potential der Diaspora. Diplomarbeit Universität Wien. Quelle online verfügbar unter: www.schuldnerberatung-wien.at/studien/Eberl DiplArb20090421.pdf (Abruf am 21.05.2014). Gerdes, Felix (2007): Hintergrundinformationen. In: Bundeszentrale für poli­ tische Bildung (bpb) Länderprofile, www.bpb.de/gesellschaft/migration/ laenderprofile/57866/hintergrund (Abruf am 27.05.2014). Goffman, Erving (1975): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main. Grinberg, Léon/Grinberg, Rebeca (1990): Psychoanalyse der Migration und des Exils. München/Wien. Hollstein, Tina/Huber, Lena/Schweppe, Cornelia (2009): Transmigration und Armut. Zwischen prekärer Unterstützung und risikohafter Bewältigung. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik (ZfSp) 7 (4), S. 360-372. Jansen, Dorothea (2006): Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele. 3., überarbeitete Auflage. Wiesbaden. Nohl, Arnd-Michael/Schittenhelm, Karin/Schmidtke, Oliver/Weiß, Anja (2010): Kulturelles Kapital in der Migration. Hochqualifizierte Einwanderer und Einwanderinnen auf dem Arbeitsmarkt. Wiesbaden. Offe, Claus (2004): Pflichten versus Kosten: Typen und Kontexte solidarischen Handelns. In: Beckert, Jens/Eckert, Julia/Kohli, Martin/Streeck, Wolfgang (Hg.): Transnationale Solidarität. Chancen und Grenzen. Frankfurt am Main, S. 35-50. Ostner, Ilona (2004): Familiale Solidarität. In: Beckert, Jens/Eckert, Julia/ Kohli, Martin/Streeck, Wolfgang (Hg.): Transnationale Solidarität. Chancen und Grenzen. Frankfurt am Main, S. 78-94.

„Immer nur das Billigste“

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IV. M obile Heimat? Transnationalität und die Macht der Objekte

„Die Heimat ruft immer“: Heimatverständnisse und ihre Konstruktionen

über die heimat I

über die heimat II

sie fragen mich ob ich nicht wieder zurückkehren will in die heimat

mein vater kehrt in die türkei zurück er möchte nicht in der fremde sterben

ich frage mich ob es ein zurück gibt in ein land in dem es keinen beginn gab

auch ich möchte nicht in der fremde sterben und entschließe mich in bamberg zu bleiben (Cumart 1996)

Die beiden Gedichte von Nevfel Cumart, dessen Vater in den 1960er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland kam und der selbst in Deutschland geboren ist, weisen auf die verbreitete Vorstellung hin, dass die Heimat von Menschen mit Migrationshintergrund unhinterfragt in ihrem Herkunftsland bzw. dem ihrer Eltern zu finden sei. Entsprechend führt der bei Vater und Sohn gleichermaßen vorhandene Wunsch, „nicht in der Fremde sterben“ zu wollen, zu konträren Zukunftsperspektiven. Was demnach für den Vater die Fremde ist, ist für den Sohn die Heimat. Doch was bedeutet Heimat und kann diese Heimat, die offenbar im Gegensatz zur Fremde steht, nicht auch in der Fremde gefunden werden? Worauf bezieht sich überhaupt der Begriff die „Fremde“? Ist sie – wie im Gedicht nahe gelegt – jedes „Land, in dem es keinen Beginn gab“ oder ist sie darüber hinaus auch all das, was ‚Bamberg‘ umgibt? Inwiefern ist also Heimat auch geografisch verortet und kann sie mehr sein als ein bestimmtes Land, eine Region, eine Stadt, ein Dorf oder ein Platz? Ist Heimat womöglich für jeden Menschen etwas anderes, ein individuelles Konstrukt oder

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ist Heimat intersubjektiv an die Lokalität der Geburt, des Aufwachsens, der eigenen Sozialisation gebunden? Wenn ja, was geschieht, wenn diese Lokalität verlassen wird, wie es jährlich Millionen von Menschen im Zuge nationaler und internationaler Mobilität tun? Kann es für jeden Mensch nur eine Heimat geben oder ist Heimat veränderbar und ‚teilbar‘? Verfügen etwa Migrantinnen und Migranten über eine neue Heimat, eine mehrfache Heimat oder sind sie womöglich heimatlos, wie es das folgende Zitat eines Deutschen mit türkischer Herkunft nahe legt: „Man fühlt sich nirgendwo mehr richtig heimisch“ (Asendorpf 2007, S. 104)? Einer Annäherung an diese Fragen steht die Schwierigkeit der Bestimmung des schillernden Begriffs ‚Heimat‘ entgegen: „Heimat ist ein Wort, mit dem jeder meint, sofort etwas anfangen zu können und doch eines, das sich durch die Beliebigkeit seiner Ausdeutung jedem Zugriff zu entziehen scheint“ (Hecht 2000, S. 16). Diese Schwierigkeit zu definieren, was Heimat ist, veranschaulicht auch Hermann Bausinger, indem er auf die folgende Parallele zur Frage nach der Zeit in Überlieferungen von Augustinus rekurriert: „‚Was also ist Zeit?‘ fragt Augustinus. Seine vorläufige Antwort: ‚Solange mich niemand danach fragt, ist es mir, als wüsste ich es; fragt man mich aber und soll ich es erklären, dann weiß ich es nicht mehr.‘ Ähnlich ist es mit der Frage nach der Heimat“ (Bausinger 2011, S. 1). In diesem Kapitel werden wir uns sowohl theoretisch als auch empirisch auf die Spuren des Heimatbegriffs begeben. Zur ersten Annäherung folgt zunächst ein kurzer theoretischer Abriss über die historische Entwicklung des Begriffs. Anschließend wird dem Begriff empirisch nachgegangen und gefragt: Was verbinden die Interviewten, die ‚Heimat‘ in ihre Erzählung einbringen, mit diesem Wort? Welche Bedeutung hat Heimat für sie in der Migrationsbiografie?

H eimat

früher und heute

Der Heimatbegriff in Deutschland, der erstmals im 11. Jahrhundert nachgewiesen und zur Bezeichnung von Herkunftsort und Wohnsitz verwendet wurde, war später über Jahrhunderte hinweg an den konkreten Besitz von Grund und Boden bzw. Haus und Hof gebunden. Besitzlose galten dementsprechend als heimatlos. Diese Vorstellung von Heimat veränderte sich zu Zeiten der Industrialisierung hin zu einem Verständnis, demzufolge unter Heimat die jedem Menschen zugängliche umgebende und befriedende Natur zu verstehen sei. In dieser Vorstellung „fungiert Heimat als Besänftigungslandschaft, in der scheinbar die Spannungen der Wirklichkeit ausgeglichen sind; Heimat – das war eine Kategorie der Befriedung, der vorweggenommenen Versöhnung auftretender sozialer Gegensätze“ (Bausinger 2011, S. 1). Zunehmend verbrei-

„Die Heimat ruf t immer“

tete sich dann ein anderes, politisch konturiertes Heimatverständnis, das Heimat mit nationalen Grenzen gleichsetzte: ‚Heimat als Vaterland‘. Die Gegenposition bildete die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Arbeiterbewegung. Diese sah Heimat weder an Besitz, an Natur oder das sogenannte Vaterland gebunden, sondern (losgelöst von Orten) an die Verbundenheit unter Menschen: „Heimat [wurde] als Ausdruck nicht vorgegebener, sondern gewollter Solidarität [verstanden]“ (ebd., S. 2). Bereits dieser kurze historische Abriss über die Entwicklung des Heimatbegriffes bis Anfang des 20. Jahrhunderts zeugt von einer zunehmenden Diversität und Pluralität der Vorstellungen von Heimat. Die lange Geschichte des Begriffes ist durch Divergenzen geprägt. Infolge der Kompromittierung durch die nationalsozialistische ‚Blut-und Boden-Ideologie‘ wurde Heimat schließlich zu einem tabuisierten Begriff, der bis Ende der 1970er Jahre in öffentlichen Diskursen und wissenschaftlichen Debatten kaum noch vorkam (vgl. Nelskamp 2005, S. 10). Die anschließend wieder einsetzende Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff ging auch mit zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten einher.1 Als Charakteristika der aktuellen Diskussion um Heimat hält Hermann Bausinger die Unterschiedlichkeit der Begriffsverständnisse fest: „Heimat kann (um nur weniges anzudeuten) ganz überwiegend als eine Form der inneren Einstellung verstanden und weithin an Erinnerungen festgemacht werden, kann aber auch, als ein Ausdruck von Lebensqualität, an äußere Bedingungen gebunden werden; Heimat kann begründet werden in der Tradition und den Traditionen, kann aber auch als Ergebnis gegenwärtiger Aneignungen und Auseinandersetzungen verstanden werden“ (Bausinger 2011, S. 1). Die hier genannten Perspektiven auf und Verständnisse von Heimat entwerfen differente Erklärungen des Heimatbegriffs, in denen unterschiedliche gegenwarts- und vergangenheitsbezogene Fokussierungen vorgenommen werden. Entsprechend werden zum einen Perspektiven benannt, in denen Heimat an Erinnerungen gebunden ist, z.B. an den Herkunftsort, und/oder an Traditionen, d.h. die (mitunter intergenerationale) Tradierung z.B. von Handlungsmustern, Überzeugungen, Glaubensvorstellungen, Gepflogenheiten, Sitten oder Bräuchen. Zum anderen wird auf Perspektiven verwiesen, die Heimat auf die Gegenwart beziehen. Diese stellen die Qualität der Lebensumstände und alltägliche Praktiken der Beheimatung von Individuen in den Vordergrund. 1 | Die breite Diskussion und Beschäftigung mit dem Begriff und Phänomen ‚Heimat‘ erfolgten vornehmlich im deutschen Sprachraum. Zur Feststellung, es gäbe dazu in anderen Sprachräumen keine Entsprechung, wendet Hermann Bausinger ein: „Zum Teil spricht aus dieser Feststellung nichts als Borniertheit, die ein allgemeines Übersetzungsproblem vorschnell auf das Konto des Nationalcharakters setzt“ (Bausinger 1990, zit. nach Nelskamp 2005, S. 11).

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In der öffentlichen Wahrnehmung erscheint Heimat oftmals als ‚verkitschter Begriff‘ und tritt „als eine Sparte der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie“ (ebd., S. 2) zutage. „Wenn das Stichwort Heimat fällt, wenden sich unsere Assoziationen oft schnell besonderen Inszenierungen zu. Da gibt es den Heimatfilm, der sich schon früh als eigenes Genre herausbildete – ein alter Schwarzwaldhof, umgeben von dichten Wäldern und von Wiesen im fruchtbaren Kodak-Grün –, oder die inflationären Brauchtumsvorführungen im Regionalprogramm oder gar die unsäglichen Volksmusikabende im alpinen Kostüm mit Karl Moik“ (ebd.). Heimat als Unterhaltungsangebot der Konsumindustrie ist nach Bausinger jedoch kein wahlloses Angebot: „Heimat kommt ja gerade deshalb so gut an, weil ältere und vollere Bedeutungen mitschwingen, weil beispielsweise die Sehnsucht nach einer wenn nicht heilen, so doch heileren Welt in den Heimatprodukten eine Antwort zu finden scheint“ (ebd., S. 3). Was ist es, das diese Sehnsucht entfacht, die sich auch in dem gebräuchlicheren Wort des ‚Heimwehs‘ wiederfindet, und Heimat zu einem offenbar für viele Menschen bedeutungsvollen Phänomen macht? Gibt es einen – empirisch und in theoretischen Abhandlungen – identifizierbaren ‚Kern‘ von Heimat oder handelt es sich um einen ideologisch überfrachteten Begriff, der besser „zur Endlagerung in ein historisches Wörterbuch überwiesen“ (ebd., S. 1) werden sollte?

H eimat

in der

M igr ation – E mpirische A nnäherungen

Einige der Interviewten, die nach Deutschland migrierten, sprechen davon, im Zuge der Migration ihre Heimat verlassen, Sehnsucht nach der Heimat zu haben und wieder in die Heimat zurückkehren zu wollen. In zahlreichen Publikationen werden Heimat und Migration u.a. in folgenden Zusammenhang gestellt: „Politische Unterdrückung, Umweltkatastrophen, wirtschaftliche Not oder Arbeitsplatzverlagerung. Es gibt viele Gründe, die Menschen zwingen ihre Heimat zu verlassen“ (Babila 2007, S. 200). Heimat und Örtlichkeit scheinen dabei eine enge Verbindung einzugehen. Wie also steht es um das Verhältnis von Heimat und geografisch-räumlichen Bezügen?

Heimat als lokale Größe? Geografisch-räumliche Bezüge von Heimat „Heimat das ist das is bei jedem von Ort zu Ort, wo du das hin geboren bist, großgewachsen“. Das Zitat Amaré Issayus, der aufgrund politischer Bedingungen sein Herkunftsland als Flüchtling verlassen musste, weist ein Heimatverständnis auf, das auf jenen Ort konzentriert ist, an dem er geboren wurde und aufwuchs. An diesem Ort verbrachte er seine gesamte Kindheit, seine Jugend

„Die Heimat ruf t immer“

und das junge Erwachsenenalter. Im Alter von 26 Jahren sah er sich aufgrund der politischen Situation vor die Wahl ‚Gefängnis oder Krieg‘ gestellt. In dieser Situation entschied er sich zur Flucht. Die Geburt und das „Großwachsen“ an einem bestimmten (nicht selbst gewählten) Ort prägen nach Amaré Issayu die Heimat der Menschen. Hierbei handelt es sich um die Annahme eines universalen Prinzips, das demzufolge für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Geltung habe: „das is bei jedem“. Betont wird der konkrete Ort des Aufwachsens, unabhängig von den konkreten Erfahrungen, die an diesem Ort gesammelt wurden und den sich dort befindenden Menschen. In diesem Verständnis sind demnach weder soziale Beziehungen noch Kriterien wie die Qualität des ‚Großwachsens‘ maßgeblich für die Bestimmung von Heimat. Im Zentrum stehen die Lokalität sowie die Zeit, die dort verbracht wurde. Hinsichtlich des geografisch-räumlichen Bezugs von Heimat zeigt sein Fall, dass Heimat nicht mit dem Land im Sinne eines Nationalstaates verbunden wird, sondern mit einem konkreten Ort in diesem Land, seinem Herkunftsdorf. Amaré Issayu sagt, dass dieser Ort durch eine spezifische „Heimatsprache“ und „Kultur“ gekennzeichnet sei und spezifiziert hierdurch das ‚Großwachsen‘ an diesem Ort. Mit diesen beiden Elementen gewinnt die örtlich begrenzte Heimat Bezüge, die zugleich über das konkrete Dorf hinausweisen könnten. Gleichzeitig aber bleibt sie örtlich und zeitlich fixiert. Angesichts dieser Perspektive auf Heimat stellen sich die beiden folgenden Fragen: Wenn Heimat jener Ort ist, an dem man geboren und aufgewachsen ist und der sich durch eine bestimmte Sprache und Kultur auszeichnet, gibt es dann soziale, kulturelle und lokale, evtl. auf einem Kontinuum anzuordnende Kreise, in denen man sich mehr oder weniger heimisch fühlt? Und welche Rolle spielt bei diesem Heimatverständnis das unfreiwillige ,Verlassen-müssen‘ des Ortes des Aufwachsens im Herkunftsland? Zur Annäherung an diese Fragen wird im Weiteren das Heimatverständnis von Giacomo Bertani betrachtet, bei dem nicht die Flucht aus dem Herkunftsland zur Migration nach Deutschland führte, sondern Bildungsbestrebungen die Migration u.a. nach Deutschland motivierte. Giacomo Bertani verließ nach einer Ausbildung zum Koch sein Herkunftsland Italien mit der Intention, sich durch temporäre Aufenthalte in verschiedenen Ländern Wissen und Kompetenzen über die internationale Küche anzueignen, um diese dann in Italien zum Einsatz zu bringen. In Deutschland lernte er seine heutige Ehefrau kennen und lieben; er blieb und sie gründeten eine Familie. Auch er bringt im Interview ein ähnliches Heimatverständnis wie Amaré Issayu zum Ausdruck. Danach befragt, ob er Italien vermisse, äußert er: „Ja, was heißte Ital, äh äh ich vermisse meine Heimat, sowieso“, und erklärt auf die Nachfrage, was für ihn Heimat sei, „konkrete die Ort wo ich gewohne bin, de Geburtsort“. Es wird deutlich, dass auch für Giacomo Bertani

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der konkrete Ort, an dem er geboren wurde und bis zur Migration lebte, Heimat ist. Er präzisiert mit „Geburtsort“ diesen speziellen und unveränderbaren Ort und distanziert sich zugleich von Zuschreibungen, die auf nationalstaatlicher Basis vorgenommen werden: „was heißte Ital“. Er differenziert damit explizit zwischen dem Land, in dem sich die Heimat befindet, und der Heimat selbst. Mit seinem ‚Heimatort‘ verbindet Giacomo Bertani Erinnerungen an spezifische „Traditionen“ und „Feste“: „des sind die, die Tradition beispielsweise, was dort gibt, un beispielsweise am 19. März da ist bei uns, heißt Vate-, äh ist die Vatertag […] und oh da gibt’s dann praktisch eine die werde im ganz Ort, mindes damals, gesammelt von Tür zu Tür Essen und die werde an de heilige Josef Kirch, Kirche an die Tafel gestellt und de am- alle arme Leute eingelade zum Esse un so weiter, sich satt essen könne oder die Traditione von de Wundermadonna, da werde immer gefeiert […] dann gibt’s immer solche Feste un äh Traditionen […] Maria Himmelfahrt ist Schutzpatronin von uns, von uns Ortschaft und da werde ganze äh ganze Stadt, Zentrum un da werde mit äh Beleuchtung, und de werde vi- viel Esse gemacht, und da werde singe, und äh das an den Tach werde, sind jetzt hier alle komme von Umgebung un au wir in die andre Ortschaft hingehe, wenn solche Feste gibt, der werde so voll, dass nicht mehr laufen können un so weiter [G.B. und I. lachen] aber die funfzehnte August is so wunderschön, da später am Abend und dann wenn de Fest vorbei ist, de werde die Feuerwerk geschossen un so weiter, stundenlang manchmal“.

Die Beschreibung des Festes anlässlich Maria Himmelfahrt verdeutlicht, dass in diese Zeremonie Bewohnerinnen und Bewohner umgebender Ortschaften einbezogen sind und auch die Bewohnerinnen und Bewohner seines Herkunftsdorfes, wie er sagt, „in die andre Ortschaft hingehe“. Was bedeutet dies für das Empfinden von Heimat, wenn Heimat mit dem vertrauten Vollzug von Festen und Traditionen assoziiert ist, die auch in der umliegenden Region gefeiert werden? Ist die regionale Umgebung jenes Ortes, der für ihn auch ästhetisch „die schönste Ecke der Welt ist“, möglicherweise mehr Heimat als beispielsweise ein Ort in Deutschland oder eine weit entfernte Ortschaft in Italien? Welche Bedeutung haben die beteiligten Menschen dabei? Giacomo Bertani unterscheidet grundlegend zwischen den Orten und der Kultur in Deutschland und in (einem Teil von) Italien: „die Orte, die Kultur in Italie sind in Deutschland, mindes wo ich herkomme, äh sind die ganz anders“. Bereits die Einschränkung, „mindes wo ich herkomme“, deutet darauf hin, dass es in Italien auch Regionen geben könnte, die nicht „ganz anders“ sind und eine größere Nähe zu jenen Orten und zu jener Kultur aufweisen, die er in Deutschland kennengelernt hat. Am Beispiel der regional verbreiteten Küchen zeigt er diese Nähe auf:

„Die Heimat ruf t immer“ „Wenn in Norditalie ist, konnte beispielsweise, Beispiel in Trentino da is praktisch die Grenze zu Österreich sind, sind in ein Rezepte, dass so sa- praktisch passen auch zu deutsche Küche un so weiter“.

Das Beispiel der Küchen in beiden Ländern zieht er hier heran, um die Unterschiedlichkeit verschiedener Orte je nach geografischer Lage in Italien zu verdeutlichen. Indem er Orten in Norditalien eine größere Nähe zu Deutschland zuspricht, subsumiert er diese lokalen Unterschiede letztlich unter eine seines Erachtens bestehende Differenz zwischen Nord- und Süditalien. „Deshalb wird au genannt da unten zwische Norditaliener, Süditaliener, die Norditaliener nennt die Süditaliener Taroni, da isse Erdarbeiter, un wir in von Süde nennt, sache ma Herze, ihr rischtisch Italie fängt sudlisch von Rom, un ne- nenne ma dene Polentoni, Polentafresser, das sind sie schon, deshalb sind äh Traditione und oh sind verschieden“.

Diese Einschätzung spitzt er auf die Sichtweise zu, dass es seines Erachtens (das eine) ‚Italien‘ nicht gibt, da ‚das wahre Italien erst südlich von Rom anfange‘. Norditalien wird demnach so anders erlebt, dass er es nicht mehr als das ‚richtige Italien‘ empfindet. Dieses Empfinden generalisiert er zudem auf alle Süditaliener und -italienerinnen: „wir in von Süde“. Durch diese Zuschreibung von Zugehörigkeits- und Differenzgefühlen von Süd- und Norditalienern wird ein regional sehr unterschiedliches Italien konstruiert, das die Willkür der bestehenden nationalen Grenzen verdeutlicht und auch erklärt, weshalb der Nationalstaat Italien nicht seine Heimat sein kann. Entsprechend ist die bereits für den Fall Amaré Issayu gestellte Frage zu bejahen, ob es möglicherweise soziale, kulturelle und lokale ‚Kreise‘ geben kann, in denen man sich mehr oder weniger heimisch fühlt. Bereits Bollnow betonte, dass Heimat räumlich „keine feste, abgehbare Grenze besitzt […]. Von einem Mittelpunkt, der in besonderem Sinne Heimat ist, verdünnt sie sich gleichsam allmählich nach allen Seiten, bis sie unmerklich in die Fremde übergeht“ (Bollnow 1935, S. 2, Herv. i.O.). Am Fall von Giacomo Bertani zeigt sich, dass die regionale Umgebung jenes Ortes, den er konkret als Heimat bezeichnet, für ihn eher Heimat bedeutet, als beispielsweise ein Ort in Deutschland oder eine weit entfernte Ortschaft in Italien. Wenn er ergänzend erklärt, „wo ich herkomme sind praktische ganz anderes Mentalitäten, kann ma sachen auch“, stellt er für seine Herkunftsregion fest, dass dort gegenüber Norditalien und Deutschland eine ganz andere Mentalität bestehe, und rekurriert somit auf die Bedeutsamkeit einer ähnlichen Einstellung und Gesinnung von Menschen für das Empfinden von Heimat.

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Die Erzählung Giacomo Bertanis wirft Fragen nach dem Empfinden von sozialer, kultureller und lokaler Zugehörigkeit und Vertrautheit in Bezug auf das jeweilige Verständnis von Heimat auf und danach, ob Heimat, wenn sie geografisch verortet wird, stets lokal und nicht nationalstaatlich gefasst wird. Das Interview von Choi Sun ist diesbezüglich aufschlussreich. Sie kam aus beruflichen Gründen im Alter von Anfang 20 in den 1970er Jahren aus Südkorea nach Deutschland. Im Interview wird sie gefragt: „Können Sie das beschreiben, inwiefern Sie sich jetzt mit Korea verbunden fühlen?“ Sie benennt nicht nur ihre dort lebende Verwandtschaft als maßgebliches Bindeglied, sondern erklärt darüber hinaus, dass Korea ihre Heimat sei: „das Heimat, das mein Herkunft, da ist schon bisjen anders, also dieser ganze Sitte, oder wa-, was heißt Sitte, diese Tradition, da fühl ich mich schon als äh, wenn ich unten bin oder so, koreanisch oder wenn sie, wenn ich hier dann koreanisch Verein so n de Fest treffe, ja ich fühl mich schon dass ich dann halt eben aus Korea komme, ja, nich ich fühl mich nicht fremd, sache ma ma so“.

Der Bezug auf Korea wird durch die Interviewerin eingebracht. Im Gegensatz zu Giacomo Bertani wehrt sich die Befragte jedoch nicht gegen den zu ihrem Herkunftsland hergestellten Bezug oder differenziert ihre Antwort, sondern benennt klar, „das Heimat“. Sie rekurriert dabei auf die unterschiedlichen ‚Sitten‘ und ‚Traditionen‘ in Korea und Deutschland und äußert, dass sie sich speziell bei Festen koreanischer Vereine in Deutschland und bei Aufenthalten in Korea „koreanisch“ fühle. Damit erklärt sie ein nationales Zugehörigkeitsempfinden, das sie auch darin spezifiziert, dass sie sich „nicht fremd“ fühle. ‚Sich nicht fremd fühlen‘ erinnert an das anfangs zitierte Gedicht Nevfel Cumarts, in dem Heimat in Opposition zur Fremde gestellt wird. Doch was bedeutet es, wenn etwas als fremd empfunden wird? Im alltäglichen Sprachgebrauch heißt Fremdsein unbekannt, beziehungslos, letztlich nicht vertraut. Sind damit im Umkehrschluss drei wesentliche Bestimmungskriterien von Heimat

„Die Heimat ruf t immer“

gegeben und kann dann tatsächlich ein ganzes Land Heimat sein, wenn Frau Choi nicht jeden Ort in Südkorea erkundet, eine Beziehung hergestellt und zu einem persönlich vertrauten Ort gemacht hat? Es wird deutlich, dass geografische Bezüge ohne Betrachtung ihrer Bedeutungsinhalte zu kurz greifen. Wie in den beiden vorherigen Fällen verbindet auch Choi Sun Heimat mit sozialen und kulturellen Gegebenheiten, mit ‚Sitten‘ und ‚Traditionen‘, die sie jedoch über einen spezifischen Ort oder eine spezifische Region hinausgehend als „koreanisch“ ausweist. Daran, dass sie sich auch in Deutschland „koreanisch“ fühlt, wenn sie „hier dann koreanisch Verein so n de Fest treffe“ zeigt sich, dass Heimat auch über Grenzen hinweg mobil sein und (wieder)hergestellt werden kann. Fragt man also danach, ob Heimat eine lokale Größe sein kann, ist nicht nur der betreffende Ort bzw. das Land an sich, sondern dessen Verbundenheit mit subjektiv bedeutsamen sozialen und/oder kulturellen Kriterien bzw. die Erinnerung daran in den Fokus zu nehmen. Entsprechend „sieht [man] es einem Land nicht an, so wenig wie einer Stadt oder einem Dorf, ob es Heimat ist“ (Hecht 2000, S. 16). Hecht postuliert diesbezüglich: „Heimat ist ein Ort nur dann, wenn er ein Gefühl der Vertrautheit auslöst“ (ebd.) (siehe hierzu auch das Kapitel „Man fühlt sich, als wäre man noch in der Heimat“).

„H eimat

ist

H eimat “ – I st H eimat

statisch und fixiert ?

Die Feststellung, dass Heimat nicht nur an Orte gebunden ist, sondern dabei jeweils mit spezifischen Bedeutungsgehalten versehen wird, führt zur Frage, „ob es Veränderungen der individuellen Heimatgeografie“ (Bausinger 2011, S. 5) geben kann. Trifft es zu, wie Hermann Bausinger festhält, „dass es nicht ausschließlich auf eine ein für alle Mal fixierte räumliche Anbindung ankommt, dass Heimat vielmehr mobilisierbar ist“ (ebd.)? Erinnern wir uns an die Aussage Amaré Issayus, „Heimat das ist das is bei jedem von Ort zu Ort, wo du das hin geboren bist großgewachsen bist“. Die hier bereits angedeutete Unveränderbarkeit von Heimat bekräftigt er im weiteren Gespräch folgendermaßen: „Das [die Heimat] bleibt, weil ich kenn viele Leute, wenn zum Beispiel Ende in Rentezeit oder in Krankheitszeit sie will gehen Heimat (.) Heimat ist Heimat (..)“. Heimat ist in Amaré Issayus Verständnis also etwas, das bleibt. Heimat ist unverrückbar, sie ist dauerhaft und davon abhängig, wo man geboren und aufgewachsen ist. Die primäre Sozialisation bestimmt demnach die Heimat des Menschen lebenslang. Diese Sicht, dass ‚Heimat Heimat ist‘, bedeutet nicht nur, dass sie unveränderbar ist, sondern auch, dass es für eine Person nicht zwei oder mehrere Heimaten geben kann. Entsprechend äußert Amaré Issayu in Bezug auf Migrationsprozesse und das Leben im Zielland der Migration: „mit die Gesellschaft oder mit die Kultur und

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die Sprache muss ma mitmache mitgehen (.) aber das ändert das ändert jetzt net dei Heimat dei Heimatsprache oder dei Heimweh (.) ich will nur sage 94, 95% das ist ändert dich gar nix“. Bleibt Heimat also immer Heimat? Ist das Empfinden von Heimat statisch und fixiert und dies die Erklärung, weshalb alle der bisher genannten Interviewpartnerinnen und Interviewpartner ihre Heimat im Herkunftsland sehen?

Hecht postuliert, „wenn ein Ort zur Heimat wird, bedarf es einer prägenden seelischen Erfahrung, einer Zeitspanne des Sich-Einlassens auf diesen Ort“ (Hecht 2000, S. 17). Wird Heimat also durch die Dauer der dort verbrachten Zeit konstituiert und sind die prägenden Erfahrungen auf die Zeit von Kindheit und Jugend begrenzt? Das Interview mit Bazim Hamadi ermöglicht Einblicke in diese Frage. Bazim Hamidi ist zum Zeitpunkt des Interviews 49 Jahre alt. Er migrierte im Alter von 24 Jahren aus dem Iran nach Deutschland. Als im Gespräch die Frage der Interviewerin aufkommt: „und die Heimat ist jetzt für Sie?“, entgegnet er: „die Heimat ist so nicht ehrlich zu sagen, es ist nicht so interessant, wo wie damalige Zeit vor zwanzig Jahre (.), vielleicht viel zu viel lang war, ich viel zu lang war ich im Ausland, deswegen die Heimat, Iran nicht mehr so, also fühle ich mich nicht wohl da. I: Ja also ist für Sie jetzt eher Deutschland die Heimat oder? B.H.: Deutschland fühle ich mich hier ganz wohl hier, ja also zweite Heimat man kann [lacht] (.) ja (.)“.

Die Aussage bringt zum Ausdruck, dass eine lange Abwesenheit vom Herkunftsland, mit veränderten Gefühlen diesem gegenüber einhergehen kann. Bazim Hamidi gibt an, sich bei Aufenthalten im Iran „nicht wohl“ zu fühlen. Im Gespräch betont er gravierende Veränderungen im Iran seit seiner Migration, die mit einem Erleben von Fremdheit im Herkunftsland einhergehen: „vor drei Jahre war ich in Iran, das war alles interessant alles neu, kam ich vor wie Ausländer in meinem eigenen Land [lacht], neue Generation waren da, ja so

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viel hat sich verändert also in der Zeit“. Vor dem Hintergrund seines Empfindens, dass er sich im Iran wie ein „Ausländer“ und „nicht wohl“ fühlt, welches im Gegensatz zu seinem Empfinden in Deutschland steht, wo er sich „ganz wohl“ fühlt, wird Deutschland für ihn zur ‚zweiten Heimat‘. Es zeigt sich, dass sein Heimatverständnis auf den Elementen von Zeit, Vertrautheit und Wohlbefinden basiert. Seines Erachtens resultiert aus der Dauer der Abwesenheit vom Iran die Abnahme von Vertrautheit, aus der letztlich Fremdheit wird. Auch das Empfinden von Unwohlsein im Iran geht seiner Vorstellung nach wenig mit Heimatempfinden einher. Herr Hamidi stellt heraus, dass sich die Bedingungen im Iran aus seiner Sicht verbessert haben: „Damals wegen Zeit weil war schlimm, das war nicht so einfach wie jetzt, jetzt können wir nach Iran reisen ohne Probleme (.) damals die Probleme vor 23 Jahre gibt’s nicht mehr, d.h. die Regimes versucht bisschen die Leute Freiheit geben, damals eine ein Buch von eine Schriftsteller, sagen wir Salman Rushdie, also was man freie Meinung halt man schreiben kann, so was man konnte nicht besitzen, aber mittlerweile das ist schon erlaubt“.

Obwohl er die Veränderungen im Iran positiv bewertet, fühlt er sich heute dort unwohl. Seine Formulierung „deswegen die Heimat, Iran nicht mehr so“, deutet entsprechend darauf hin, dass sich sein Heimatempfinden verändert hat. Was bedeutet es, dass er Deutschland als „zweite Heimat“ bezeichnet (anstatt neue oder jetzige Heimat)? Wenn Heimat für Bazim Hamidi Vertrautheit und Wohlbefinden bedeutet und sich seine Bindung an sein Herkunftsland durch die Migration und die Dauer der Abwesenheit dahingehend verändert hat, dass er sich im Iran nicht mehr vertraut und wohlfühlt, impliziert dies die Ablösung von dieser Heimat, die jedoch in der Erinnerung bestehen bleibt. Ablösung bedeutet also nicht den unweigerlichen Verlust jener Rückkoppelung von Heimat. D.h., wenn Herr Hamidi verdeutlicht, dass er sich in der Heimat nicht mehr wie früher heimisch fühlt und zudem noch ein anderer Ort zur Heimat wurde, liegt hierfür die Einführung eines neuen Begriffs wie dem der ‚zweiten Heimat‘ nahe. Sein Heimatverständnis zeigt jedoch, dass das Empfinden von Heimat veränderbar sein und Heimat zudem an einem anderen Ort gefunden werden kann. Damit steht es in Kontrast zu dem Verständnis Amarés Issayus, für den gilt: ‚Heimat bleibt Heimat und kann nicht an einem anderen als dem Herkunftsort und damit auch nicht im Ausland gefunden werden‘. Wie ist es zu erklären, dass Herr Issayu Heimat auf den Ort der Geburt und des Aufwachsens bezieht und dabei als feststehende Konstante betrachtet, während andere Menschen Heimat nicht in diesem Sinne als unwiderruflich verstehen, sondern neue Heimaten finden oder sich an mehreren Orten hei-

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misch fühlen bzw. wie Asendorpf (2007, S. 103) anmerkt, über eine „doppelte Heimat“ verfügen?2

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die F remde lehrt uns , was wir an der H eimat besitzen “ (Theodor F ontane) – Ü ber das V erhältnis von F remdheitserfahrungen und H eimat Das Zitat Theodor Fontanes aus dem Jahr 1862 bringt zum Ausdruck, man werde sich erst durch Fremdheitserfahrungen seiner Heimat bewusst. In ähnlicher Weise hält auch Hecht fest: „Häufig ist es erst der Mangel, der Schmerz über den Verlust, der einem sagt, was Glück ist oder Gesundheit“, und postuliert daraufhin: „Heimat entsteht erst im Blick zurück, im Augenblick des Innewerdens des Verlustes eines Ortes. Ohne diesen erlebten Verlust gibt es keine Heimat“ (Hecht 2000, S. 17). Beide Autoren verweisen also auf die Erfahrungen von Fremdheit und Heimatverlust als Voraussetzung für das Empfinden von Heimat. Könnte die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Fremdheit und Heimat auch einen Erklärungsansatz für die Frage bieten, wann Heimat auf einen Ort fixiert und wann sie mobil wird? Bezogen auf die Migration von Bazim Hamidi wurde deutlich, dass er sich im Herkunftsland immer fremder und im Aufnahmeland „ganz wohl“ fühlt. Während er im Interview seine Migrationsgeschichte als eine Erfolgsgeschichte beschreibt, betont Amaré Issayu, dass er in Deutschland einen Statusverlust erlitten hat und sich zudem als nicht zugehörig erlebt: „ich würde lieber in meine Gesellschaft oder mei Heimat, weil wo machst du oder in Ausland machst du du bist immer fremde Fremder, ist immer Fremder […], Wahrheit ist immer so Heimat ist in Heimat“.

Betrachtet man ihre Erfahrungen im Aufnahmeland, so zeigen sich jene von Amaré Issayu in verschiedener Hinsicht konflikthaft. Sein Empfinden legt er pointiert in dem Ausdruck „du bist immer fremde“ und dem Wunsch, in die Heimat zurückkehren zu wollen, dar. Die Aussage, dass man im Ausland immer Fremder ist, verdeutlicht seine Perspektive, nie dazuzugehören, sondern (wie er an anderer Stelle hervorhob) nur „mitmache“ zu können, und erklärt 2 | Diese Möglichkeit, dass Heimat für einen Menschen veränderbar und räumlich teilbar ist, betont auch Bausinger, insbesondere vor dem Hintergrund von Internationalisierungsprozessen: „Heimat war lange Zeit ein gebieterischer Singular, inzwischen ist sie zum Plural geworden: nicht mehr zwingend der eine Ort, sondern die Verortung an verschiedenen Plätzen“ (Bausinger 2011, S. 5).

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sein Verständnis, dass ‚Heimat in Heimat‘ sei. Auch dass Amaré Issayu von „meine Gesellschaft oder mei Heimat“ spricht, zeigt die empfundene Zugehörigkeit zu seinem Herkunftsland und zugleich die empfundene Differenz zwischen seiner und einer anderen Gesellschaft wie der deutschen. Somit scheinen für ihn die Erfahrungen im Aufnahmeland für die Empfindung von Heimat ausschlaggebend zu sein. Aus seinen jahrzehntelangen Erfahrungen in Deutschland zieht er den Schluss, Heimat könne im Ausland nicht gefunden werden, da man dort immer ein Fremder sei.

Beide Fälle zeigen, dass das Erleben von Fremdheit und mangelnder Zugehörigkeit das Empfinden von Heimat konterkariert. Ähnlich wie das Zitat des Philosophen Karl Jaspers „Heimat ist da, wo wir verstehen und verstanden werden“ ausdrückt, scheint eine Vorstellung in den unterschiedlichen Heimatverständnissen zentral zu sein, die sich auch in der folgenden Einschätzung Hermann Bausingers wiederfindet: „Es geht also immer um vertraute Verhältnisse, wo ich mich nicht erklären muss. Sich zuhause fühlen, das ist, glaube ich, das Wesentliche an Heimat“ (Bausinger, zit. nach Babila 2007, S. 194). Vertraute Verhältnisse können mithilfe bestimmter lokaler, politischer, kultureller, sprachlicher Bedingungen etc. hergestellt werden. Wesentlich, um zu verstehen und verstanden zu werden und sich zuhause zu fühlen, sind zudem die Beziehungen zu anderen Menschen: „Heimat finden wir überall da, wo Menschen sind, denen wir vertrauen können und die uns vertrauen“ (Rainer Haak). Auch Aussagen wie die des deutschen Schriftstellers Rainer Haak, sind Antworten auf die Frage, was Heimat bedeutet, und zeigen die Bedeutung sozialer Beziehungen, um sich (auch an fremden Orten) heimisch zu fühlen. Dieses Verständnis von Heimat geht entsprechend damit einher, dass Heimat nicht statisch an einen Ort gebunden ist, sondern vielmehr in Abhängigkeiten von vertrauten Beziehungen mobil werden kann.

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Zur Bedeutsamkeit sozialer Beziehungen und um sich heimisch und nicht fremd zu fühlen, hält Beate Mitzscherlich Folgendes fest: „Zum einen und Wichtigsten geht es bei Beheimatung um gelingende soziale Integration im Nahbereich, in Familie, Freundschaften, Arbeitsbeziehungen, Nachbarschaften, um die Erfahrung der Anwesenheit signifikanter anderer und um das damit verbundene Gefühl von Geborgenheit, Zugehörigkeit und auch Anerkennung. Ina-Maria Greverus hat das sehr schön auf den Punkt gebracht. Heimat ist der Ort von ‚Kennen, Gekannt- und Anerkannt sein‘. Das hängt nicht nur von den Fähigkeiten des Subjektes ab, sich in bestehende soziale Strukturen zu integrieren oder auch sie neu zu schaffen, sondern auch von der Aufnahmeund Anerkennungsbereitschaft dieser Gemeinschaften“ (Mitzscherlich 2010, S. 11). Letzterer Aspekt ist im Zusammenhang von Migration besonders zu berücksichtigen. Wie es erfahren wird, von einem nationalstaatlichen Kontext in einen anderen zu migrieren, wird stark davon beeinflusst, ob Migrantinnen und Migranten im Ankunftsland Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe eröffnet werden und diese soziale und rechtliche Anerkennung sowie soziale Wertschätzung erfahren oder ihnen diese verwehrt bleiben (vgl. Honneth 1992; Hollstein/Huber/Schweppe 2010). Gerade wenn es – wie Mitzscherlich anschließt – bei Beheimatung auch „um die Möglichkeit [geht], die eigenen Lebensbedingungen zu beeinflussen, so zu leben, wie das zur eigenen Person passt, auszuwählen, zu gestalten und damit auch zu verantworten, wie das eigene Lebensumfeld und die eigenen Beziehungen aussehen“ (Mitzscherlich 2010, S. 11), scheinen die im Kontext von Migrationsdiskursen geführten, assimilativen Forderungen zur Integration von Migrantinnen und Migranten, welche wechselseitige Anerkennungsverhältnisse und in diesem Sinne die Handlungsspielräume, Selbstbestimmung und -verwirklichung der Akteurinnen und Akteure begrenzen (können), das Finden von Heimat zu erschweren.

„Die Heimat ruf t immer“

F a zit : H erstellung von H eimat als B e wältigungsprozess und alltägliche K onstruk tionsleistung In den verschiedenen Abschnitten wurden unterschiedliche Facetten von Heimat angesprochen. Dabei kamen verschiedene lokale Bezugsgrößen (Land, Dorf, Region) ebenso zur Sprache wie psychische, kulturelle und soziale Inhalte und Bedeutungselemente von Heimat. Es zeigte sich, dass Lokalitäten und darüber konstituierte soziale Räume nur dadurch zur Heimat werden, dass sie mit entsprechenden Bedeutungen verbunden werden, „d.h. der Raum ist letztlich nur ein Symbol, ein Stellvertreter für andere Faktoren wie soziale Beziehungen oder bestimmte Werte, und nur dann auch Heimat, wenn er mit diesen ‚besetzt‘ wird“ (Piepmeier 1982, zit. nach Neumeyer 1992, S. 101). Die Vielschichtigkeit der Faktoren, wodurch Heimat individuell konstituiert werden kann, verweist darauf, dass Heimat nicht ‚ist‘, sondern letztendlich von jedem hergestellt wird. „Heimat ist keine objektive Größe; sie ist ihrer Wesensart nach subjektiv, d.h. jeweils an jeden einzelnen Menschen gebunden. […] Ohne diese subjektive Bestimmtheit und Bezogenheit ist eine Heimat nicht denkbar; ohne sie existiert sie nicht einmal“ (Brehpol 1953, zit. nach Neumeyer 1992, S. 100). Die Art und Weise des ‚doing home‘ wirkt sich dabei auf das jeweilige Heimatverständnis selbst aus. So zeigte sich z.B. im Falle von Amaré Issayu, dessen Heimatverständnis lokal geprägt sowie statisch ist, dass die entsprechende Fixierung auf das Herkunftsdorf zentral durch seine Erfahrungen im Aufnahmeland geprägt ist. In Deutschland fühlt er sich ‚immer als Fremder‘, wird mit fehlender sozialer Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft konfrontiert und erleidet einen Statusverlust. Somit erscheint das Verständnis von Heimat in der Migration auch als Antwort auf die Erfahrungen in Deutschland und als Teil des Bewältigungsprozesses der Migration. Es ist zu fragen, inwiefern Heimat immer auch in Bezug auf die aktuelle Lebenssituation zu erklären ist. Daum postuliert: „Heimat stellt […] in erster Linie nicht einen fixen Ort oder eine Umgebung dar, etwa ein bestimmtes Milieu, in das man ohne eigenes Zutun zufällig hineingeboren worden ist und an das man sich anzupassen hätte, sondern Heimat ist im wesentlichen […] etwas, das erst ‚lebensweltlich‘ hervorgebracht werden muss, und zwar durch tätige Auseinandersetzung. Heimat wird vom Individuum selbst produziert bzw. erarbeitet“ (Daum 2007, S. 3). In zentraler Weise nehmen hierbei gesellschaftliche und soziale Kontexte auf die Herstellung von Heimat Einfluss. Dies wurde u.a. anhand des Verweises deutlich, dass eine Begrenzung von Handlungsspielräumen, von Selbstbestimmung und -verwirklichung sowie mangelnde soziale Anerkennung3 die Bildung von Heimat erschweren können. Inwieweit 3 | Hierbei ist sowohl Anerkennung von ‚der Mehrheitsgesellschaft‘ als auch von anderen Migrantinnen und Migranten gemeint.

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also Fremde(s) zur Heimat werden kann und sich Menschen auch im Kontext von Migration entfernt vom Ort des Aufwachsens und Land ihrer Herkunft Heimat aneignen können, hängt nicht nur von den Individuen selbst ab, sondern insbesondere auch von der ‚Aufnahme- und Anerkennungsbereitschaft‘, mit der sie (alltäglich) konfrontiert werden. Der Heimatbegriff, verstanden als (alltägliche) Konstruktionsleistung im Kontext lebensweltlicher Bewältigungsprozesse, erweist sich aus sozialpädagogischer und anerkennungstheoretischer Sicht durchaus als kritischer Begriff. Denn indem Heimat in ihrer konstruktiven Herstellungsleistung durch Akteurinnen und Akteure verstanden wird, wird die Assoziation an (ausschließlich eine bestimmte) Lokalität aufgelöst. In einer solchen Perspektive erscheinen auch Assimilationsvorstellungen, im Rahmen derer die Verbundenheit von Migrantinnen und Migranten an ihr Herkunftsland als Integrationshindernis angesehen wird, obsolet. Hingegen kann der Fokus auf die Vielfalt und das Bedürfnis von ,doing home‘ gelenkt werden.

L iter atur Asendorpf, Dirk (2007): Überall zu Hause – oder nirgends? Zwischen den Welten. In: Clas, Detlef/Paál, Gábor (Hg.): Fremde Heimat. Migration weltweit. Filderstadt, S. 92-104. Babila, Susanne (2007): Wie viel Heimat braucht der Mensch. In: Clas, Detlef/ Paál, Gábor (Hg.): Fremde Heimat. Migration weltweit. Filderstadt, S. 193203. Bausinger, Hermann (2011): „Heimat? Heimat! – Heimat als Aufgabe“, www. goethe.de/mmo/priv/8372988-STANDARD.pdf (Abruf am 10.04.2014). Bollnow, Otto F. (1935): Der Mensch und seine Heimat. Erschienen im Anklamer Heimatkalender 1935. Quelle online verfügbar unter: www.ottofriedrich-bollnow.de/doc/Heimat.pdf (Abruf am 14.05.2014). Cumart, Nevfel (1996): Zwei Welten. Düsseldorf. Daum, Egbert (2007): Heimat machen! Über Verbindungen von Ort und Selbst. In: Heimatpflege in Westfalen 20 (2), S. 1-10. Fontane, Theodor (1994) [1862]: Wanderungen durch die Mark Brandenburg – Spreeland, Grosse Brandenburger Ausgabe. Berlin/Weimar. Hecht, Martin (2000): Das Verschwinden der Heimat. Zur Gefühlslage der Nation. Leipzig. Hollstein, Tina/Huber, Lena/Schweppe, Cornelia (2010): Migration, Armut und Bewältigung. Eine fallrekonstruktive Studie. Weinheim/München. Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Zur Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main.

„Die Heimat ruf t immer“

Mitzscherlich, Beate (2010): Was ist Heimat heute? Eine psychologische Perspektive auf die Möglichkeit von Beheimatung in einer globalisierten Welt. In: epd-Dokumentation 33/2010: Heimat im 21. Jahrhundert – Moderne, Mobilität, Missbrauch und Utopie, S. 7-12. Quelle online verfügbar unter: www.eaberlin.de/nachlese/dokumentationen/2010-33-heimat-im-21-jahrhundert/epd-2010-33.pdf (Abruf am 04.08.2014). Nelskamp, Martin (2005): Sprache als Heimat. Magisterarbeit zur Erlangung des Titels Magister Artium. Leipzig. Neumeyer, Michael (1992): Heimat. Zu Geschichte und Begriff eines Phänomens. Kiel.

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„Man fühlt sich, als wäre man noch in der Heimat“: „Doing home“ durch Aktualisierungspraktiken und ihre Objekte

Im Zuge der Interviewanalysen fiel uns die Verwendung des Begriffs Heimat bei einigen der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner auf. Auch bemerkten wir, dass dieser immer wieder im Zusammenhang mit spezifischen Objekten und Praktiken genannt wurde, die eng mit dem Herkunftsland verknüpft sind und nun in Kontexte des Ankunftslandes eingebunden werden. Diesen Zusammenhang zwischen Heimat und Praktiken im Ankunftsland, die als spezifisch für den Kontext des Herkunftslands betrachtet werden, wollen wir im Folgenden genauer untersuchen. Dabei stellten wir fest, dass wir uns zunächst mit dem Begriff Heimat beschäftigen müssen.

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Egbert Daum fragt in einer Überschrift in seinem Aufsatz „Heimat machen! Über Verbindungen von Ort und Selbst“: „Heimat zum Anfassen oder Heimat im Kopf?“ (Daum 2007, S. 1). Entsprechend dieser Gegenüberstellung eines materiellen und mentalen Verständnisses von Heimat stellt Daum die Frage: „Also was nun? Ist Heimat ein Ort oder ein Gefühl oder beides und noch viel mehr?“ (ebd., S. 2). Er kommt zu dem Schluss: Es reicht „nicht aus, sich Heimat lediglich verdinglicht als Raum vorzustellen, in dem wie in einem Container bestimmte Sachverhalte der physischmateriellen Welt wie z.B. Geburtshaus, Schule, Kirche, Straßen und Bäume enthalten sind“ (ebd.; Herv. i.O.). Dabei nimmt er Bezug zu den Ausführungen von Bausinger, der für ein Verständnis von Heimat eintritt, das viele der älteren Heimatkonzepte in Frage stellt. Diese seien, „getragen von Raumfetischismus, auf den Raum fixiert und dadurch sehr statisch und zudem noch emotional überfrachtet“ (ebd.). Ein Verständnis von Heimat, das stattdessen auf die individuelle Konstruktionsleistung

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der Akteurinnen und Akteure zielt, die Heimat „in einer täglich zu gestaltenden Geographie des eigenen Lebens“ (ebd.; Herv. i.O.) erst – im Sinne von ‚doing home‘ – hervorbringen, bedeutet vielmehr, „dass es Ordnungen der symbolischen Bedeutungen gibt, die einerseits für das Handeln der Subjekte konstitutiv sind, andererseits aber auch von diesen konstituiert werden“ (ebd., S. 5; Herv. i.O.). Diese (Selbst-)Ordnungen verweisen auf die mögliche Dynamik der individuellen Herstellung von Heimat und nehmen grundlegend auf ein relationales Raumverständnis Bezug, das die Herstellung von Heimat weder auf einen exklusiven und fixierten Ort noch auf einen nationalstaatlichen Bezugsrahmen begrenzt. Wenn das Handeln der Akteurinnen und Akteure im Vordergrund steht, können auch Praktiken in den Blick geraten, denen andere Heimatverständnisse als solche zugrunde liegen, die Heimat mit einem Land – wie z.B. im Migrationskontext dem Herkunftsland bzw. dem Land des Aufwachsens – verknüpfen. Eine solche Perspektive erweist sich insbesondere vor dem Hintergrund als bedeutsam, dass zunehmend Elemente aus anderen nationalen Kontexten in individuelle Heimatverständnisse Eingang finden (können). Im Rahmen von Kommunikationsstrukturen, Konsum- und Mobilitätsmustern, die die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten, ergeben sich zugleich auch Optionen für Migrantinnen und Migranten, verschiedenartige Verbindungen zu ihren Herkunftsländern herzustellen, die geografische Raumdistanzen relativieren können. Durch den weltweiten Transfer von Warengütern und durch ‚neue‘ Informations-, Kommunikations- und Transporttechnologien bieten sich heute in der Migration potenziell mehr Möglichkeiten, Rückgriff auf spezifische Dinge aus den Herkunftskontexten zu nehmen, auch über große Entfernungen Informationen und Geld auszutauschen, soziale Kontakte zu pflegen und somit Bezüge der alltäglichen Lebenswelt transnational weiterzuführen (vgl. z.B. Pries 2010). Für ein Verständnis von Heimat „stellt sich die herausfordernde Aufgabe, sensibel dafür zu werden und herauszuarbeiten, wie Wirklichkeit konstruiert, alltägliche Geographien ‚gemacht‘ und Räume inszeniert werden“ (Daum 2007, S. 7). Heimat wird demzufolge als Konstruktion von Akteurinnen und Akteuren begriffen, durch die Heimat auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg (re-) produziert werden kann. In Bezug auf Negt (1987) konstatiert Daum: „Heimat repräsentiert in ihrer Symbolträchtigkeit die Vertrautheit, die Nähe und die Verlässlichkeit von den Beziehungen zwischen Personen und den Umgang mit den Dingen“ (ebd., S. 3). Der folgende Beitrag handelt von dieser tätigen Auseinandersetzung der Akteurinnen und Akteure im Umgang mit Dingen. Spezifische Objekte werden in diesem Zusammenhang als die Praktiken der Akteurinnen und Akteure ermöglichend, begrenzend und strukturierend verstanden. Unsere Untersuchung gibt Aufschluss darüber, dass es insbesondere die von Daum als Vertrautheit und Verlässlichkeit bezeichneten Dimensionen sind, um die es häufig geht, wenn von ‚Heimat‘ gesprochen wird. Im Rah-

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men unserer Untersuchung von Praktiken, die dazu dienen, ein Gefühl von Vertrautheit bzw. ein Wohlgefühl hervorzurufen, das unter anderem auch zur Bewältigung des Vermissens des Herkunftslandes dient, wurde kein spezifisches Heimatverständnis vorausgesetzt. Vielmehr wurde den jeweiligen Verständnissen der Akteurinnen und Akteure gefolgt und es fiel in diesem Zusammenhang auf, dass diese oft ihr Heimatverständnis an den Kontext ihres Herkunftslandes binden. Ob hierin im jeweiligen Falle die Bedeutsamkeit nationaler Begebenheiten oder vielmehr kulturelle, lokale oder anderweitige Besonderheiten im Vordergrund stehen, stand nicht im Fokus der Untersuchung und ist zudem nicht aus den hier verwendeten Daten explorierbar. Es wurde jedoch deutlich, dass bestimmte Praktiken, die im Herkunftsland ausgeführt wurden und kognitiv mit diesem verbunden sind, in den neuen Kontext des Ankunftslandes eingebunden werden und hier zur Herstellung positiver Gefühle dienen, die Erinnerungen an das Herkunftsland leiblich1 erfahrbar machen. Dabei zeigte sich die Relevanz spezifischer, mit bestimmten Praktiken verbundener Objekte, um ein ‚Gefühl von Heimat‘ herzustellen und ‚sich wie im Herkunftsland zu fühlen‘. Zentrale Fragen, die im Rahmen der folgenden Ausführungen beantwortet werden sollen, sind: • Welche Praktiken werden eingesetzt, um sich ‚wie im Herkunftsland zu fühlen‘? Und wodurch zeichnen sich solche Praktiken, die mit der Produktion spezifischer Emotionen einhergehen, aus? • Welche Bedingungen müssen gegeben sein, um solche Aktualisierungspraktiken, die mit Erinnerungen und Gefühlen der Vertrautheit und des Wohlbefindens verbunden sind und durch sie erst produziert werden können, einzuleiten? • Welche Bedeutungen und Funktionen haben diese Aktualisierungspraktiken? Wenn die Leistungen der Akteurinnen und Akteure in ihrer (Re-)Produktion des Erlebens von Heimat in den Blick genommen werden sollen, geraten auch Raumpraktiken in den Fokus. So erscheint es sinnvoll, an eine theoretische Perspektive anzuknüpfen, die – entsprechend der Kritik von Daum – Räume nicht als Container begreift. Die Verbindung eines relationalen Raumkonzepts und der Praxistheorie erweist sich in diesem Zusammenhang als aufschlussreich.

1 | Da Leiblichkeit immer schon auch sinnliche Erfahrungen umfasst, ist im vorliegenden Beitrag nur an solchen Stellen von Sinnlichkeit die Rede, wenn es spezifisch um Erfahrungen geht, in denen die Sinne des Menschen angesprochen, angeregt oder beansprucht werden.

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D as rel ationale R aumkonzept und die P r a xistheorie : E ine theore tische P erspek tive auf P r ak tiken der H eimatr aumkonstitution unter E inbindung spezifischer O bjek te In Kritik an Raumkonzeptionen, die Raum als Container begreifen, den man betreten kann und in dem Materialitäten und Objekte für alle und jeden sichtbar im Raum platziert sind, entwickelte Martina Löw ein relationales Raumverständnis. Dieses geht aus von Subjekten, die in tätiger Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt mithilfe von Synthese- und Spacingleistungen Räume konstituieren. Spacing bezeichnet dabei das Moment der Platzierung. Damit ist gemeint, sich oder etwas „in Relation zu anderen Plazierungen zu positionieren“ (Löw 2001, S. 158). Hingegen bezeichnen Syntheseleistungen, dass „über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse […] Güter und Menschen zu Räumen zusammengefaßt“ (ebd., S. 159) werden. Das alltägliche Handeln der Raumkonstitution zeichnet sich durch eine Gleichzeitigkeit des Spacing und der Syntheseleistung aus. Löw resümiert ihre Ausführungen zu den Prozessen der Raumkonstitution folgendermaßen: „Meine These ist daher, daß Raum eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern ist. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung. Letzteres ermöglicht es, Ensembles von Gütern und Menschen zu einem Element zusammenzufassen“ (ebd., S. 159 f.; Herv. i.O.). Löw weist darauf hin, dass „Räume keineswegs beliebig geschaffen werden, sondern die (An)Ordnungen in der Regel sozial vorstrukturiert sind“ (ebd., S. 191). Zudem müsse berücksichtigt werden, dass die Möglichkeiten für Raumkonstitutionen davon abhängig seien, was sowohl für die Synthese als auch zum Spacing überhaupt vorgefunden wird, was herbeibefördert werden kann oder was bereitsteht (vgl. ebd.). Damit rekurriert Löw auch auf die Bedeutsamkeit von Materialitäten, die in der Situation vorhanden sein müssen, in der eine Raumkonstruktion vollzogen wird. Es ist demnach von den in den jeweiligen Handlungssituationen vorzufindenden materiellen und symbolischen Faktoren abhängig, wie welche Raumkonstitutionen vorgenommen werden können. Während Löw unter Rückgriff auf Kreckel (1976) unter dem materiellen Faktor einer Handlungssituation „die Wechselwirkung zwischen Handelnden und materieller Umwelt“ (Löw 2001, S. 192) versteht, bezeichnet der symbolische Aspekt einer Handlungssituation „ein Verhalten, welches an Werten, Normen, Institutionen, Rollenerwartungen etc. orientiert ist und durch Sprache strukturiert wird“ (ebd.). Raumkonstitutionen als Leistungen von Subjekten zu begreifen, bedeutet demnach, dass Praktiken, die Raumkonstitutionen dienen, für Forscherinnen und Forscher sicht- und rekonstruierbar werden (vgl. Bender 2013, S. 143 ff.). Dabei können die durch die Subjekte konstituierten Räume spezifische Funk-

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tionen für sie erfüllen. Wenn Raum nicht mehr als geografischer Flächenraum und auch nicht als Containerraum begriffen wird, öffnet sich der Blick für die Praktiken der Akteurinnen und Akteure, die sie zur Aktualisierung eines Heimatgefühls bzw. zum Zwecke des Erlebens von Heimat einleiten. Oder anders: Es kann Berücksichtigung finden, dass es sich bei dem regelmäßigen Einsatz von Praktiken, die unter Einbezug spezifischer Objekte vollzogen werden, welche dem Herkunftskontext entlehnt sind, auch um solche handeln kann, die Herkunfts- und Ankunftsland miteinander verknüpfen. Erwähnt wurde bereits, dass dabei Objekte zentral sind, die Löw unter den materiellen Aspekt fasst. Die Bedeutsamkeit, die hierbei auch spezifischen Verständnissen habitualisierter oder institutionalisierter Einsätze von Objekten in Praktiken sowie vergangenen Erfahrungen der Subjekte mit diesen Objekten an Orten zukommt, deutet den symbolischen Aspekt an, der die physisch-materielle Dimension ergänzt (vgl. Bender 2013, S. 80, 163). Praktiken stellen die Untersuchungseinheit von Handlungssituationen dar, durch die Prozesse der Raumkonstitution untersucht werden können. ,Die Praxistheorie‘ ist als weitläufiges und zerstückeltes Feld zu beschreiben, das mit Namen wie Bourdieu (1979), Schatzki (1996) u.a. verbunden ist und von Andreas Reckwitz zu einem fruchtbaren Forschungsfeld entwickelt wurde (vgl. Reckwitz 2006, 2008). Eine Praktik, verstanden als Nexus wissensabhängiger Verhaltensroutinen, setzt als Träger sowohl menschliche Akteurinnen und Akteure „mit einem spezifischen, in ihren Körpern mobilisierbaren praktischen Wissen voraus“ (Reckwitz 2008, S. 115), jedoch ebenso „ganz bestimmte Artefakte, die vorhanden sein müssen, damit eine Praktik entstehen konnte und damit sie vollzogen und reproduziert werden kann“ (ebd.). Praktiken sind immer als soziale Praktiken zu verstehen, verweisen also auf eine „kollektiv vorkommende Aktivität“ (ebd., S. 114), die sinnhaft ist und sich als sinnhafte Handlung zu verstehen gibt sowie von anderen kompetenten Alltagsteilnehmerinnen und -teilnehmern auch als legitime und verstehbare Praktik entziffert wird. Praktiken folgen einer impliziten Logik, der Logik der Praxis, die nicht leicht oder gar unmöglich in ihrer Gänze zu beschreiben ist. Aus Sicht der Praxistheorie folgen demnach auch Konstitutionen von Raum einer solchen impliziten Logik, d.h., dass Raumkonstitutionsprozesse nicht immer explizierbar oder reflexiv verfügbar sind. Dieses praktische, sinnhafte, routinisierte und von grundlegend repetitivem Charakter sowie von implizitem Wissen geleitete Alltagshandeln der Raumkonstitution kann sich in und durch die Migration der Subjekte verändern. An einem anderen Ort stehen den Subjekten auch andere symbolische und materielle Ressourcen zur Verfügung, die Raumkonstitutionsprozesse einleiten, sie strukturieren und auch begrenzen sowie verunmöglichen können. Von anderen Alltagsteilnehmerinnen und -teilnehmern an einem Ort (der z.B. in einem Dorf im Herkunftsland platziert ist) als sinnhafte entzifferte Praktiken, können durch eine Migration

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an Sinnhaftigkeit einbüßen, aber auch gewinnen, sie können neuen Charme erhalten, von anderen als exotisch und besonders, als außergewöhnlich betrachtet werden, sie können schlicht verunmöglicht werden und/oder anderen Funktionen, anderen Zwecken dienen. Da das vorliegende Interesse sich auf die Aktualisierung von Praktiken richtet, in die Objekte eingebunden werden, die mit dem Herkunftsland verknüpft sind, und dabei auch Erinnerungen katalysiert werden, die mit dem Ort verbunden sind, an dem die Praktiken früher gelebt wurden, werden Funktionsveränderungen von Praktiken und die Divergenz ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz und Bedeutung besonders deutlich: Während spezifische Praktiken im Herkunftsland auch von vielen anderen ausgeführt wurden, in den Alltag integriert und entsprechend normalisiert waren, werden sie nach vollzogener Migration häufig unter veränderten Bedingungen und ggf. unter besonderen Bemühungen von den Akteurinnen und Akteuren weiter getragen. Auf diese Weise kann ein Gefühl von Heimat, das mit dem Herkunftskontext verbunden war, an einem anderen Ort wieder erlebt werden. Dies geschieht, indem ‚alte Wohlfühl-Räume‘ bzw. Räume von Vertrautheit neu konstituiert werden. Dabei spielt eben jener repetitive und gewohnheitsmäßige Charakter der Konstitution von Heimaträumen eine bedeutsame Rolle: So wie bei Heimat Vertrautheit und Verlässlichkeit bedeutsam sind, ist dies auch oft bei der Konstitution von Räumen der Fall. Bereits im Herkunftskontext repetitiv ausgeführte Praktiken unter Einbindung spezifischer Objekte können Gefühle von Vertrautheit und Verlässlichkeit evozieren, die häufig mit einem Verständnis von Heimat assoziiert sind und in späterer Ausführung in anderen Kontexten neuerlich ein ‚Heimatgefühl‘ auslösen können. Begleiten Sie uns im Folgenden bei unseren Gesprächen mit zwei nach Deutschland migrierten Personen, die aus ihren Herkunftsländern Äthiopien und dem Senegal jeweils spezifische kulturelle Praktiken nach Deutschland transferierten und ihre Leistungen der Aktualisierung dieser Praktiken 2 in einen anderen örtlichen, materiellen und symbolischen Kontext einpassten. Beobachten wir, welche Objekte den unterschiedlichen kulturellen Prakti2 | Wenn hier von kulturellen Praktiken die Rede ist, dann wird an ein Verständnis von Kultur als Praxis angeschlossen. Kultur in ihrem praktischen Vollzug zu begreifen, bringt ein spezifisches Verhältnis und Verständnis des Kulturbegriffs mit dem des Sozialen mit sich: Soziale Praktiken des Alltags (beispielsweise des Essens, des Ausgehens oder etwa des Arbeitens) erscheinen in praxistheoretischer Sicht als kulturell bedingt. Dabei wird Kultur mikroanalytisch als immer wieder neu hergestellt und reproduziert, wiederum in sozialen Praktiken hervorgebracht, verstanden (vgl. Hörning/ Reuter 2004, S. 9 ff.). Der hier angelegte Kulturbegriff identifiziert Kultur keinesfalls mit Nationalstaaten, sondern betrachtet kulturelle Gefüge und ihre Bezugsgrößen als je empirisch zu untersuchende Größen.

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ken dienlich sind und wie damit Heimaträume aufgespannt werden, die in Deutschland spezifische Funktionen für die Akteurinnen und Akteure erfüllen.

D as B eispiel der K affeezeremonie : „H eimatk affee “ und H eimatpr ak tik Ich führe bereits eine Weile das Interview mit Amaré Issayu (den wir schon in den Kapiteln „‚Heimatlandmänner‘ als Unterstützungssystem in der Migration“ und „Die transnationale Organisation von child care in Familien“ vorgestellt haben). Dabei zeigte sich in seinen Äußerungen über Vorstellungen, unterschiedliche Praktiken und soziale Beziehungen zu Familienmitgliedern immer wieder, welch große Bedeutung diese vielfältigen, kognitiven, emotionalen, aber auch praktisch ausgeführten Verbindungen zu seinem Herkunftsland Äthiopien für ihn zu haben scheinen. Entsprechend entschließe ich mich dazu, genauer nachzufragen, und möchte von ihm wissen, ob er Rituale durchführe oder Dinge hier in seiner Wohnung habe, die ihn an sein Herkunftsland erinnern und die er verwende. Ohne lange darüber nachzudenken, erzählt er: „Ah ja das ja doch viele viele viele Heimatsache ist jo zum Beispiel von Essen her von Koche wir essen wir machen wie in Heimat. Das wir kriegen nicht richtig aber fast (.) fast, die Soße zum Beispiel, der Fanbrot der machen nur wie Heimat, der Kaffee zum Beispiel das ist unsere Kultur des das ich weiß net“.

Ich möchte mehr darüber wissen und frage nach: „Also machen Sie das nur wegen dem Geschmack oder wollen oder hat es noch eine andere Bedeutung, dass Sie das machen? Also warum Sie das machen? Also […] stellt es eine Verbindung her? Oder ist es einfach, weil Sie es gewöhnt sind vom Geschmack her oder einfach?“ Herr Issayu antwortet: „Gewohnheit oft und Geschmack [Zwischengespräch mit der Tochter] ja ja die die Gewohnheit äh die Kultur und noch die Geschmackssachen“. Ich resümiere: „Also alles zusammen irgendwie“. Und er antwortet: „Ja wenn ich jetzt Kaffeemaschine holen würde und ich jetzt Kaffeemaschine trinke (.) das schmeckt mir net (.) so gut. Wenn ich Heimatkaffee mache frisch zum Beispiel, der Rauch, die Zeremonie, was die Tasse, was die Feuer, was die Kanne von de Kaffee, das ist vom alles von Heimat. Wir nutze das vielleicht einmal in Woche oder einmal in Monat, wenn jemand von Heimatland komme besuche oder die machen das Heim Heimatkaffee Heimatesse äh warum? Wieso? (.) Das ist Kultur und de Geschmack auch“.

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Amaré Issayu verdeutlicht hier, dass es kulturelle Praktiken sind, die für ihn mit dem Herkunftsland verbunden sind und dass er unter Heimat sein „Heimatland“ und damit sein Herkunftsland meint. Es zeigt sich hier, dass in seinem Verständnis sein Herkunftsland, kulturelle Praktiken, sinnliche Erfahrungen mit seinem Verständnis von Heimat verknüpft werden. Als ich Amaré Issayu so zuhöre, wird mir die Bedeutung von Praktiken und auch spezifischen Dingen ansatzweise deutlich. Kaffee ist nicht gleich Kaffee. Obgleich diese Floskel Allgemeinwissen ist, verweist Amaré Issayu auf mehr, als nur darauf, dass es eine unterschiedliche Qualität von Kaffeebohnen gibt. Neugierig geworden, beschließe ich, mich mit den Dingen und den Praktiken näher zu beschäftigen. Nachdem ich mich von Amaré Issayu verabschiedet habe, höre ich das Aufnahmegerät noch einmal ab und schreibe mit, welche Dinge und Praktiken er soeben im Kontext von „Heimatsachen“ genannt hat. Die Benennung bestimmter Dinge als „Heimatsachen“ („Heimatkaffee“, „Heimatessen“) erscheint mir auffällig. Manche Dinge scheinen ein besonderes Potenzial in sich zu bergen, von Amaré Issayu mit ‚der Heimat‘ verbunden zu werden und bei ihm ein Gefühl von Heimat auslösen zu können. Er erzählte von Essen und der damit verbundenen Praktik des Kochens. Dabei konstatierte er, dass er es nur „fast“ so wie in der Heimat herstellen könne. Er nannte Soße und Fanbrot und den Kaffee, den er ausschließlich wie in der Heimat zubereite. Diese Elemente verknüpft er unmittelbar mit seiner Heimat. Auf Nachfrage nach der Bedeutung wurden Kultur, Geschmack und Gewohnheit genannt. Es wurde auch deutlich, dass die benannten Dinge allesamt Nahrungsmittel sind. D.h., über diese Nahrungsmittel werden Kultur, ein bestimmter Geschmack und spezifische Routinen, die Amaré Issayu mit seinem Herkunftsland verbindet, wiederbelebt und fortgesetzt. Durch die Aufnahme von Nahrungsmitteln kann er diese leiblich und sinnlich, insbesondere olfaktorisch und geschmacklich erfahren. Somit wird ‚über und durch den Leib‘ sowie durch dessen sinnliche Wahrnehmung und seine Aktivität ‚Heimat gemacht‘ (Mitzscherlich 2000) und zugleich erfahren. Da sein Heimatverständnis mit seinem Herkunftsland verknüpft ist, belebt Amaré Issayu hier bestimmte Aspekte seiner Heimat wieder und holt sich damit ‚etwas‘, das er im Herkunftsland verortet, ins Ankunftsland. Lieb gewonnene Dinge, Praktiken oder Routinen des Herkunftslandes erhalten so Kontinuität; die Grenzen zwischen Herkunfts- und Ankunftsland werden bearbeitet und durchbrochen, sie verändern sich. Doch es scheinen nicht nur die spezifischen Nahrungsmittel zu sein, die zur Aktualisierung bzw. Fortsetzung von Praktiken, die mit dem Herkunftsland verbunden sind, dienen. Amaré Issayu nannte noch mehr. Ich beschließe daher, mich ausführlicher mit der Kaffeezeremonie zu beschäftigen, die er mit der Herstellung des Kaffees via Kaffeemaschine kontrastiert. Als größten Kontrast führt er den schlechteren Geschmack des Maschinenkaffees im Vergleich zum Heimatkaffee an: „das schmeckt mir net (.) so

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gut“. Als weitere Gründe für die Zubereitung des Heimatkaffees nennt er zudem auch die Gewohnheit und die Kultur und damit symbolische Komponenten der Bedeutsamkeit des Kaffees. Wenn er außerdem erzählt: „Wenn ich Heimatkaffee mache frisch zum Beispiel, der Rauch, die Zeremonie, was die Tasse, was die Feuer, was die Kanne von de Kaffee, das ist vom alles von Heimat“, wird deutlich, wie viele Elemente zum Kontrast zwischen Heimat- und Maschinenkaffee führen und für die Herstellung einer ganz anderen und besonderen Atmosphäre, die den Heimatkaffee umgibt, sorgen. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass jedes einzelne Element über die Erinnerung mit der eigenen unverwechselbaren Heimat3 , die mit dem Herkunftsland verbunden wird, assoziiert ist und dadurch wiederbelebt werden kann: Die Zeremonie der frischen Kaffeezubereitung am Feuer, inklusive des dadurch entstehenden Rauchs, zusammen mit den Tassen und Kannen aus der Heimat und zudem verbunden mit dem Besuch von „jemand von Heimatland“ konstituieren diesen ,Heimatraum‘. Betrachtet man die Elemente der Raumkonstitution im Einzelnen, zeigt sich, dass diese zum einen hergestellt werden müssen. D.h., mithilfe eines bestimmten Kaffees und einer Feuerstelle, durch die während der Zubereitung des Kaffees Rauch entsteht, wird von Amaré Issayu eine ‚Kaffeezeremonie‘ zelebriert und erlebt. Den zeremoniellen Ablauf, den er aus seinem Herkunftsland kennt, wiederholt er in Deutschland möglichst identisch und fühlt sich dabei zurückversetzt in das damalige Erleben der Praktik im Herkunftsland. Amaré Issayu berichtet, wenn er die Kaffeezeremonie abhalte, fühle er sich „ganz anders“. Dieses ‚Andersfühlen‘ erhält durch den Zusatz „ganz“ eine starke emotionale Färbung, so dass davon auszugehen ist, dass es sich um positive Gefühle handelt, da er sie ansonsten wohl eher nicht wieder aktiv und gezielt aufzurufen versuchen würde. Dieses Erleben kann er deshalb realisieren, weil mit der Kaffeezeremonie spezifische materielle Objekte wie die Tasse und die Kanne, aber auch kognitiv-symbolisch geprägtes Wissen in Form einer positiv konnotierten Erinnerung mobil werden. Auch scheint die Anwesenheit einer Person aus dem „Heimatland“ eine bedeutsame Rolle zu spielen. Mithilfe der genannten Objekte, des kognitiv-symbolisch geprägten Erinnerungswissens, 3 | Es wird hier nicht sein Herkunftsland als Heimat vorausgesetzt, da an solchen Stellen im Interview unklar war, worauf sich die Vorstellungen von Herrn Issayu in Bezug auf ,Kultur‘ genau beziehen. Es wurde jedoch deutlich, dass es um im Herkunftsland (evtl. in einer spezifischen Lokalität an einem bestimmten Ort) gemachte Erfahrungen geht, die als positiv empfunden und wieder aufgerufen bzw. neu erfahren werden wollen. Innerhalb der vorliegenden Betrachtung steht im Vordergrund, dass Herr Issayu selbst diesbezüglich von „Heimat“ und „Heimatsachen“ spricht. Ob in Bezug auf seine Vorstellung von Heimat ein Dorf, ein Ort, ein Land oder Sonstiges imaginiert wird, ist an dieser Stelle nicht von Bedeutung.

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der Prozessierung einer spezifischen Praktik, die in ihrem Ablauf eine detailgetreue Wiederholung früherer und an einem anderen Ort abgehaltener Kaffeezeremonien darstellt und mithilfe der Anwesenheit eines ‚Mitwissers‘ aus dem Heimatland, kann somit ein ‚Heimatraum‘ konstituiert werden. Dieser ‚Heimatraum‘ ermöglicht für die Dauer seines Aufenthaltes und evtl. auch in retrospektiven und projektiven Erinnerungen an zuvor aufgespannte und zukünftig aufzuspannende kulturelle Räume, das Heimatgefühl, das mit dem Herkunftsland verbunden ist, herzustellen. Die Erinnerung an und für sich, die Objekte allein genommen, nur die Person aus der Heimat oder eine Zeremonie mit ‚falschen‘, nicht authentischen Objekten oder in einem nicht vertrauten, ‚abweichenden‘ Ablauf wären für sich genommen zur (Re-)Konstituierung dieses Heimatraumes nicht ausreichend.

(R e -)P roduk tionen

von

H eimat

über

K leidung

Als weiteres Beispiel von Dingen, die ihn an seine Heimat erinnern, nennt Amaré Issayu traditionelle Kleidung, die allerdings bei ihm nur bei bestimmten festlichen Gelegenheiten zum Einsatz kommt. Er erzählt mir hierzu: „ja Kleider zum Beispiel Kleider han die Leute wenn irgendwas Festliches ist, wann Hochzeit ist oder Kommunion ist für die Kinder, die die die die Leute eh die Afrikaner oder die äh zum Beispiel andere andere Länder Indianer oder äh die machen auch Heimatkleider“. Erneut fällt mir diese interessante Wortschöpfung von ihm auf. Vor gewisse Gegenstände hängt Amaré Issayu das Wort „Heimat“. Heimat kann offenbar Kaffee, Menschen oder auch Kleidung innewohnen. Da ich das sehr spannend finde, frage ich ihn: „Ja hat man dann Erinnerungen ans Heimatland gleichzeitig? Also denken Sie dann, wenn Sie den Kaffee trinken, dann auch gleich an Ihre Zeit in Afrika oder?“ Amaré Issayu fällt dazu spontan ein: „Wir denken von Heimat (…) ja gut denken an Heimat, ist auch noch dabei (.) aber de Kultur und die äh (..) ach ich weiß es net, das ist genau wie bei die andere Länder, auch in andere Länder Türke zum Beispiel, die machen Tee, die machen Fladenbrot, die Iraner“. Mir fällt auf, dass ich sehr allgemein nach Afrika gefragt habe und Amaré Issayu dann erneut den Begriff der Heimat in seine Antwort einbindet. Er verdeutlicht, dass das Denken an die Heimat auch „dabei“, also Bestandteil der Kaffeezeremonie oder des Tragens spezifischer Kleidung ist. „Heimatkleider“, die ebenfalls in Zeremonien wie Hochzeiten oder Kommunionen als Objekte eingebunden werden, berühren direkt den Körper und können damit ebenso spezifische leibliche Erfahrungen ermöglichen. Im Rahmen unserer Forschung standen wir mit einem weiteren Migranten aus Afrika in Kontakt. Er kommt aus dem Senegal und heißt Bomani Jawara. Ich treffe meine Kollegin, direkt nachdem sie Bomani Jawara zu Hause be-

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sucht hatte. Ihre Eindrücke sind entsprechend präsent und sie klingt aufgeregt als sie mir von dem Gespräch erzählt: „Das Interview mit Bomani Jawara hat mich in mancherlei Hinsicht sehr an das erinnert, was du uns über Amaré Issayu erzählt hast. Bomani Jawara trug traditionelle afrikanische Kleidung, nicht aber seine Kinder und seine Frau. Er hat dann selbst angefangen, von der traditionellen Kleidung zu sprechen. Ich spule mal gerade an die Stelle, an der ich das noch einmal aufgegriffen habe, hör mal“: [Das Aufnahmegerät wird eingeschaltet.] „Sie haben vorhin von der Kleidung gesprochen, von der traditionellen. Was bedeutet das für Sie, wenn Sie die tragen, also weil Sie ja sagten im Sommer überwiegend tragen Sie die? Und ihre Kinder auch?“ Bomani Jawara erzählt: „Ja wenn’s warm ist trage ich das (…) aber is nicht so praktisch im Winter, weil das ist überall luftig“. Meine Kollegin drückt auf STOPP. „Natürlich handelt es sich hierbei um einen pragmatischen Grund, der schnell einsichtig ist. Die Kleidung, die er trug als ich das Interview mit ihm führte, kann man als ein dünnes langes Kleid oder einen langen Umhang aus Baumwolle beschreiben. Das ist im Winter natürlich zu kalt. Aber hör mal weiter, jetzt wird es sehr interessant. Das hat er direkt danach gesagt“: [Sie schaltet erneut das Aufnahmegerät an] „Ähm wenn man dann diese Kleider trägt, man fühlt sich, dass man och in die Heimat ist“. Meine Kollegin stoppt das Band wieder und sagt zu mir: „Das ist doch ganz ähnlich wie bei Amaré Issayu, nur scheint mir sein Empfinden fast noch stärker zu sein. Er fühlt sich tatsächlich so als sei er in der Heimat. Wäre es angemessen, hier davon zu sprechen, dass sich durch die Kleider ein Heimatraum öffnet, der Heimat im Hier und Jetzt durch das Tragen von Kleidern zu einer bestimmten Jahreszeit herstellt? Aber wie gelingt dies mithilfe der Kleidung, einem farbigen Stoff mit einem bestimmten Schnitt? Ebenso wie das Beispiel der Kaffeezeremonie bereits verdeutlicht, können auch in Bezug auf die Kleidung Sinne des Menschen, seine leibliche Erfahrung angesprochen werden. 4 Es scheint für die Aktualisierung und (Re-) 4 | Ähnlich schrieben auch Sommer und Wind: „Sie [die Kleidung, Anm. d. Aut.], dient als Erweiterung der Körpergrenzen, ähnlich wie das Werkzeug für den produzierenden Menschen eine Körpererweiterung darstellt. Sie ist dabei einerseits zum Körper gehörender Teil des Menschen, andererseits aber wesentlich manipulierbarer als der bloße Körper. Mit der Kleidung wehrt sich der Mensch gegen seinen Körper, kompensiert dessen Mängel und stellt ihn schmückend zur Schau. Körper und Kleidung verschmelzen nicht nur in der Wahrnehmung des Betrachters, sondern auch für den Träger selbst“ (Sommer/Wind 1988, S. 16). Die Bedeutung von Kleidung wird unterschätzt, wenn ihr lediglich der Status der Praktikabilität eingeräumt wird. Stattdessen kann ihr phänomenologisch eine Bedeutung zugestanden werden, die Sommer und Wind folgendermaßen fassen: „Die Kleidung ist die zweite Haut des Menschen. Sie erlaubt ihm, seine Identität zu formen, zu vergegenständlichen und zu präsentieren“ (ebd., S. 17).

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Konstitution der kulturellen Praktiken also insbesondere um ihr Erleben, d.h., um sinnliche Wahrnehmung, um körperliche, leibliche Zustände zu gehen, die gezielt eingeleitet und hervorgerufen werden, um ein Gefühl von Heimat zu evozieren, das mit dem Herkunftskontext verbunden wird. Der taktile Sinn, der visuelle, möglicherweise auch der olfaktorische sowie der Geschmacksund Hörsinn spielen hier eine bedeutsame Rolle. Während also zuvor bei Amaré Issayu und dessen Kaffeezeremonie ein Heimatraum primär über das Einverleiben bestimmter Produkte und damit verbundener Praktiken sowie dem Denken an die Heimat hergestellt wurde, zeigt sich im Falle von Bomani Jawara somit eine andere Form der leibgebundenen Aktualisierung. Über traditionelle Kleidung und die damit verbundene leibliche Erfahrung wird ein Heimatraum eröffnet. Das finde ich spannend! Aber hör mal weiter! Er hatte nämlich vorher schon davon gesprochen, dass seine Kinder ebenfalls diese Kleidung anziehen. Als er dann davon sprach, dass er sich durch das Tragen der Kleider so fühle als wäre er in der Heimat, habe ich ihn gefragt: ‚Und das möchten Sie auch für Ihre Kinder, irgendwie übertragen oder warum?‘“ Sie schaltet erneut das Aufnahmegerät ein und Bomani Jawaras Stimme ertönt: „Äh übertragen. […] Ja weil de ähm wie gesagt, dass die och beide Seiten kennen. Dort die Kultur und hier die Kultur“. Ich überlege und sage zu meiner Kollegin, die eben das Band wieder gestoppt hat: „Also zieht er den Kindern die traditionelle Kleidung an, damit sie die Kultur, die der Vater im Senegal kennenlernte, auch erleben? Denn es scheint für ihn nicht auszureichen, dass er seinen Kindern davon erzählt oder sie sehen lässt, wie er die traditionelle Kleidung trägt. Das ‚Kennen der beiden Seiten‘ durch das Tragen der traditionellen Kleidung aus dem Senegal impliziert für ihn offenbar, seine Kultur auch fühlen, erleben und leiblich an ihrem und durch ihren Körper erfahren zu können.5 Dann wäre das ja noch ein weiterer Schritt als der, den wir zuvor besprochen hatten: Amaré Issayu aktualisiert mithilfe bestimmter Objekte, die er in spezifische kulturelle Praktiken einbindet, sein Heimatgefühl. Bomani Jawara fühlt sich wie in der Heimat, wenn er die Kleidung trägt, die er in seinem Herkunftsland immer trug. Dieses Gefühl von der am lokalen Ort ‚abwesenden‘ Heimat ist eng mit ‚Kultur‘ verbunden und kann durch das Tragen bestimmter Kleidung hergestellt werden. Dies ist nun auch etwas, das er an seine Kinder weiterzugeben versucht, die den Ort, an dem die 5 | Insbesondere phänomenologische Studien beschäftigten sich mit der Untersuchung und Differenzierung von Leib und Körper. Während ,mein Leib‘ immer eine subjektive und nie auch eine objektive Tatsache sein kann und nur von innen wahrgenommen werden kann, stellt der Körper eine von außen wahrnehmbare Tatsache dar. Spürbares Leibsein und gegenständliches Körperhaben bzw. Sein und Haben stellen die beiden Attribute dar, mit denen die Unterschiede zwischen Leib und Körper verständlich beschrieben werden können (vgl. Gugutzer 2004, S. 152 ff.).

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Kleidung auch von allen anderen traditionell getragen wird, nicht selbst veralltäglicht als Normalität erfahren, da sie in Deutschland aufgewachsen sind. Es wäre interessant, weiter zu untersuchen, womit dies für die Kinder einhergeht, die hier in Deutschland durch das Tragen der Kleidung vielleicht auch auffallen.“ „Stimmt“, unterbricht mich meine Kollegin, „gerade hierbei handelt es sich ja um einen Aspekt, den Bomani Jawara als Kind erlebte: Im Senegal war das Tragen der traditionellen Kleidung ja alltäglich, normal und entsprechend vertraut und wurde von allen anderen als sinnhaft gedeutet, während es hier in Deutschland vielleicht nicht verstanden wird, warum (auch) Jungen oder Männer lange, bunte Kleider tragen. In Deutschland sind das ja schon gegenderte Kleidungsstücke. Ob es für die Kinder überhaupt möglich ist, sich ‚wie in der Heimat zu fühlen‘ und die Kultur ihres Vaters zu erfahren, wenn sie die Praktik des traditionellen Kleidertragens am Ort ihrer Veralltäglichung im günstigsten Fall durch kurzfristige Besuche oder medial vermittelt kennengelernt haben? Zudem kann das Tragen von Kleidung an einem Ort eine Zugehörigkeitspraktik darstellen und an einem anderen als Distinktionsmerkmal verstanden werden. Kulturelle Praktiken, die mit dem Herkunftsland verbunden werden, sind nicht an diese Örtlichkeit gebunden, auch wenn sie in unseren Fällen diese Vorstellung von Heimat materialisieren bzw. erleb- und erfahrbar machen. Dennoch sind sie hier oder dort mehr oder weniger anerkannt, mehr oder weniger normalisiert, veralltäglicht, vertraut. Das wiederum kann sich darauf auswirken, ob die Praktiken überhaupt in ihrer Herstellungsfähigkeit oder Aktualisierung der positiven Gefühle von Vertrautheit, die mit dem Herkunftsland verbunden sind, tragfähig sind; vor allem, wenn diese Praktiken weitergegeben werden. Hier spielen Macht und Anerkennung eine bedeutsame Rolle. Ich denke hier auch an das Buch von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (2011), die anhand eines Beispiels von zwei Schwestern zeigen, wie man quasi ,von außen‘ in eine nationale Kategorie eingefasst wird und sich dagegen nicht wehren kann: Die beiden in England geborenen Mädchen haben einen pakistanischen Vater, der direkt nach ihrer Geburt verschwand und zu dem sie nie Kontakt hatten. Während eines der Mädchen helle Haare und Sommersprossen hat und der Mutter ähnelt, sieht das andere Mädchen ihrem Vater ähnlicher: Sie hat dunklere Haut und schwarze Haare. Häufig wird sie nach ihrer Herkunft gefragt oder gar beschimpft. So wird das Mädchen mit der dunkleren Haut stets auf ihre väterliche Herkunft zurückgeworfen und es steht außerhalb ihrer Möglichkeiten, dies zu unterbinden. Das Beispiel von Beck und Beck-Gernsheim finde ich deshalb interessant, weil hier aufgezeigt wird, dass durch die Mobilisierung von Vorurteilen und Stereotypen im Alltag oft schon innerhalb von Sekundenbruchteilen Entzifferungen des Gegenübers stattfinden im Sinne von: Mit wem habe ich es hier eigentlich zu tun? Das heißt, es werden vermeintliche Identifizierungen vollzogen, die meist mit Plat-

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zierungen und Sortierungen (und evtl. auch Abwertungen) verbunden sind. Während man das blonde Mädchen in England als ‚normale Durchschnittsbürgerin‘ wahrnimmt, wird ihre Schwester stets an eine für sie selbst womöglich irrelevante Herkunft väterlicherseits erinnert. Übertragen auf das Beispiel von Bomani Jawaras Kinder liegt die Annahme nahe, dass sie nicht dieselbe Assoziation wie der Vater zu der aus dem Senegal stammenden Kleidung entwickeln können, weil sie diese im außerfamilialen, alltäglichen Umfeld in Deutschland nicht ständig sehen und nicht über die gleichen Erinnerungen und Erfahrungen des (normalisierten) Tragens dieser Kleidung im Senegal verfügen.“ Es entsteht eine längere Pause, meine Kollegin scheint über das Gesagte nachzudenken. Dann stellt sie mir eine mich nachdenklich stimmende Frage: „Kann ein Heimatgefühl, das in leiblichen Zuständen besteht, überhaupt an andere weitergegeben werden? Und wenn dies möglich ist, z.B. über das Tragen bestimmter Kleidung, warum wird das z.B. von Bomani Jawara als so wichtig erachtet? Ich erinnere mich genau, dass er sagte: „Mhh und irgendwann wenn die Erwachsene sind, weil die Deutsche sind wenn sie wollen können sie hier leben oder wenn sie entscheiden dort, die können auch dort leben, ja“. Er sieht also das sinnliche Erleben kultureller Praktiken des Herkunftslandes zum Zweck des Kennenlernens seiner Kultur für seine Kinder als bedeutsam an, damit diese mit zwei verschiedenen Ländern, Kulturen, Orten, Kontexten vertraut werden – es wird hier nicht deutlich, worauf Bomani Jawara genau abzielt – und später entscheiden können, wo sie leben und sich wohl fühlen möchten bzw. können. Ich hatte gestern noch mal den Text von Joubert und Stern aus dem Jahr 2006 gelesen. Sie betonen zum Zusammenhang zwischen dem Körper, dem Träger der Kleidung und seinem Außen: „Die Kleidung, unsere zweite Haut, gehört sowohl zu unserem Inneren wie zu unserem Äußeren, sie wahrt die Intimität und wendet sich zugleich an andere. Kleidung ist die Schnittstelle zwischen Subjekt und Welt. Sie kann das Subjekt verbergen oder enthüllen“. Wenn dich das interessiert, es steht auf S. 8 f. Das Zitat verdeutlicht die Bedeutsamkeit von Kleidung für das Subjekt in seiner Beziehung zu sich selbst und zu seiner jeweiligen Umgebung. Das, was ich trage, wirkt auf die Umgebung, aber die Umgebung hat auch Auswirkungen darauf, wie die Kleidung auf einen selbst – und damit auch auf andere – wirkt: Kleidung, die in dem einen Kontext unauffällig, quasi Standard ist, und somit dem Subjekt verhilft, ‚sich zu verbergen‘, kann in einem anderen Kontext das Gegenteil bewirken. Den eigenen Kindern durch das Tragen traditioneller Kleidung im Sinne der angesprochenen „Schnittstelle zwischen Subjekt und Welt“ die Kultur seines Herkunftsortes näher zu bringen, ist Bomani Jawara also wichtig. Er erachtet es jedoch als genauso bedeutsam, dass dies – wie er sagt – „nicht Pflicht“ ist.“ An dieser Stelle wird das Aufnahmegerät wieder eingeschaltet und Herr Jawara spricht weiter: „wer will weil dies die sagen einfach ‚ich will die Kleidung‘, zum Beispiel wenn

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ich was trage und einer sagt: ‚Ich will die Kleidung och haben‘ dann wenn ich die Möglichkeit habe, dann gebe ich die Kinder auch die Kleidung. Aber wenn man nicht will, dann nicht, weil hier wir sind liberal“. Plötzlich bricht meine Kollegin etwas überstürzt auf und sagt: „Ich habe einen Termin vergessen! Lass uns morgen darüber weiter sprechen, ich muss los!“ Während sie aus dem Zimmer stürmt, finde ich mich inmitten meiner Gedanken zu dem von ihr gerade geführten Interview wieder: Obwohl es also Bomani Jawara wichtig ist, seinen Kindern etwas von ‚seiner Kultur‘ zu vermitteln, macht er es von ihrem Interesse abhängig, ob sie beispielsweise die Kleidung tragen möchten oder nicht. Indem die Entscheidung, ob sie die traditionelle Kleidung anziehen oder nicht, den Kindern selbst überlassen und nicht vom Vater vorgeschrieben wird, eröffnet Bomani Jawara ihnen Optionenvielfalt. Ich weiß, dass auch meine Kollegin bereits im Interview mehr über die Verbindung von Kognition und Praktiken der Heimatraumkonstitution erfahren wollte. Ich suche die entsprechende Stelle der Aufnahme, an der sie Bomani Jawara fragte, wie oft er eigentlich an sein Herkunftsland denke, worauf dieser antwortet: „Ja häufich, häufich ja, häufich, mhh“. Es interessierte offenbar auch meine Kollegin näher, an was er dann denkt, entsprechend höre ich, wie sie auf der Aufnahme fragt: „Und was was was ist es dann so, also Ihr – eher Ihre Familie oder das Land oder irgendwas?“ Aus der Antwort Bomani Jawaras: „Ja Familie und Land weil de man diese Kontakt ist immer da und man ruft an und die rufen auch an und man sieht gleich, die selbe Bild vorher“, geht hervor, dass er in engem Kontakt zu seiner im Senegal lebenden Familie steht. Wenn er mit ihnen am Telefon spricht, sieht er vor sich, wie es dort aussieht, wie seine Familie dort, wie die Umgebung, die Wohnung aussehen. Über ein solches Vorstellungswissen, das auf Erfahrungen beruht, verfügen seine Kinder vermutlich nicht, da sie nicht – wie Bomani Jawara – dort aufgewachsen sind. Insbesondere fehlen den Kindern die über Jahre hinweg gemachten Erfahrungen in der Kindheit des Vaters, die als Erinnerungen sedimentiert sind und aufgerufen werden können. Ein Heimatraum konstituiert sich über diese Erinnerungen und Erfahrungen in der Kindheit und Jugend des Vaters, die implizit oder explizit in Gespräche mit der Familie eingehen und den Gesprächspartner in seinem räumlichen Umfeld (im Herkunftsland) vorstellbar machen.

G renzen der K onstitution von H eimatr äumen und A k tualisierungspr ak tiken Obwohl mir inzwischen deutlich wurde, dass durch (bestimmte) Dinge und Praktiken Räume zur Erinnerung und zum (Wieder-)Erleben kultureller Praktiken des Herkunftslandes und der damit verbundenen positiven Gefühle konstituiert bzw. hergestellt werden können, so glaube ich dennoch, dass keines-

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wegs immer jegliche Dimensionen6 eines auf das Herkunftsland bezogenen Verständnisses von Heimat aktualisiert werden können. Entsprechend fragte auch – wie ich auf der Aufnahme höre – meine Kollegin Bomani Jawara im Interview: „Und gibt es etwas, was Sie vermissen, was Sie hier nicht haben können, was Sie dort gewöhnt waren oder was Sie dort sehr gemocht haben?“ Er wusste darauf sofort eine Antwort und sagte: „Ähm vermissen, ja diese ähh diese Freundlichkeit“, worauf sie mit: „Ja, mhh okay (3)“ reagierte. Durch die Pause schien ihm nun noch mehr einzufallen und er konkretisierte: „Und diese Kontakt, äh Freun- äh Freundlichkeiten in die sind die Sachen, die sehr wichtig sind un nicht nur die materiellen Sachen, weil deh deh hochentwickelte äh Ländern jede hat seine eigene Bereich, sein Auto, seine Haus, seine Familie ist dann fertig. Aber in die arme Ländern ähm diese menschliche Menschlichkeit ist sehr gepflegt. Und das vermisse ich auch“.

Daraufhin ergänzte er: „Mhh, zum Beispiel, wenn die Kinder hier von die Schule kommen un nach dem Aufgaben in die kennen nur Fernsehen oder is spielen alleine und zuhause is nicht so, zuhause is. Hier die können auf der Straße spielen mit viele Kinder oder zum Beispiel wenn die irgendwo rennen und dann schreien (.) manche Leute sagen einfach, sie stören hier, sie sie sind laut. Und das ist die Dingen, die man gleich sieht, dann ahh zuhause is nicht so“.

Die Antwort Bomani Jawaras zeigt hier mögliche Grenzen der Fortsetzung von Praktiken des Herkunftslands auf, wenn er auf positive Erfahrungen und Wahrnehmungen von „zuhause“ rekurriert. In Abgrenzung von „materiellen Sachen“, die unter anderem für ihn eine Differenz zwischen Industrieländern („hochentwickelte Ländern“) und sogenannten Entwicklungsländern darstellen, hebt er in „arme Ländern“ die „menschliche Menschlichkeit“ hervor und betont, dass diese „sehr gepflegt“ sei. Nicht nur fehlt seines Erachtens in Deutschland Menschlichkeit, was er in Bezug auf Kinder erläutert, die z.B., wenn sie laut sind, als Störfaktor wahrgenommen werden. Die Menschlichkeit im Senegal bzw. in ärmeren Ländern im Allgemeinen werde zudem gepflegt und stelle demnach einen besonderen Wert dar. Durch Bomani Jawara werden wir hier auf einen bedeutsamen Punkt aufmerksam gemacht: Es gibt auch ‚Nicht-Materielles‘, das nicht mithilfe spezifischer Praktiken wieder erlebt oder 6 | Verschiedenste Dimensionen können von Bedeutung zur Konstruktion eines Heimatraumes sein. Beispielsweise zählen dazu soziale Beziehungen oder leibliche Erfahrungen, die nur in face-to-face-Interaktionen mit anderen Menschen gemacht werden können und die hierzu vor Ort sein müssen.

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aktualisiert werden kann. Der Grund hierfür ist, dass es interaktiv etabliert, reproduziert und erfahrbar wird. Vielleicht kann Herr Jawara über Gespräche „Menschlichkeit“ auch über die geografische Distanz hinweg und vermittelt über Medien wie das Telefon erfahren; doch scheint es ihm mehr um eine Erfahrung in einem größeren Kontext zu gehen, um Einstellungen und Normalitätsverständnisse bei mehr als nur wenigen Personen. Wenn er zum Beispiel davon spricht, wie die in Deutschland lebenden Menschen mit auf der Straße spielenden und lärmenden Kindern umgehen, dann handelt es sich hierbei um ein für ihn wenig beeinflussbares Verhalten, denn er kann nicht mit einer großen Menge an Menschen sprechen und ihnen einen Wert vermitteln, an dem sie ihr Handeln ausrichten könnten. Die Entkopplung der eigenen Wünsche, die sich an Verhaltensweisen anderer – im Umfeld lebender – richten und die für Individuen unbeeinflussbar bleiben, stellt hier das zentrale Problem dar, weswegen Aktualisierungspraktiken verunmöglicht werden.7 Gleichzeitig scheint der Wunsch nach Fortsetzung der betrachteten Praktiken in anderen Kontexten als dem Herkunftsland bedeutsam zu sein. Diese Gedanken schreibe ich auf und schicke das Dokument via E-Mail an meine Kolleginnen, um mich mit ihnen darüber zu einem späteren Zeitpunkt in einer Telefonkonferenz auszutauschen. Um sie darauf vorzubereiten, worüber ich gerne mit ihnen diskutieren würde, schreibe ich ihnen in der E-Mail, dass mich insbesondere die zuletzt genannten Punkte interessieren und verweise auf das entsprechende Dokument im Anhang.

D iskussion über B edingungen für die A k tualisierung und R eproduk tion von E rfahrungen in anderen K onte x ten als dem H erkunf tsl and A: Hallo! Danke für die spannende Lektüre! Ich würde gerne daran anknüpfen, welche Bedingungen dazu führen, dass gewisse Erfahrungen aktualisiert bzw. in einem anderen Kontext reproduziert werden können und andere eben nicht. Hierzu stellt sich eine Kontrastierung zwischen der Kaffeezeremonie und dem Wunsch, die „Menschlichkeit“ der Mitmenschen zu erfahren, als sinnvoll dar. B: Ganz spontan scheint mir einer der zentralen Unterschiede darin zu liegen, dass für die Kaffeezeremonie im Unterschied zu dem Wunsch, „Menschlichkeit“ zu aktualisieren, Materialitäten, spezifische Objekte eine bedeutsame Rolle spielen, die in der Situation anwesend sein müssen und in Praktiken auf eine bestimmte Weise eingebunden werden (müssen), um Heimat (wieder) 7 | Immaterielle Aspekte von Heimat, die mit Werten etc. in Verbindung stehen, können somit wahrscheinlich nie alleine aktualisiert werden, sondern sind von Gleichgesinnten abhängig.

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herzustellen. Dagegen handelt es sich bei dem Wunsch, die Menschlichkeit von Mitmenschen, also vor allem von nicht signifikanten Anderen zu erfahren, einerseits um etwas Immaterielles und andererseits um etwas Immobiles, das im aktuellen Kontext fehlt und auch nicht bzw. nur begrenzt z.B. in spezifischen Enklaven produziert werden kann. A: Das verweist auf die Grenzen der Aktualisierung von Praktiken, die der Herstellung von Gefühlen ‚wie in der Heimat‘ gelten. Das Vermissen des Verhaltens nicht signifikanter Personen, von Stimmungen, Wetter oder weiterer immobiler Gegebenheiten, die an nicht materielle Faktoren gebunden sind, kann kaum oder zumindest nur schwer ausgeglichen werden bzw. durch den Vollzug kultureller Praktiken bewältigt werden. C: Meist scheint sich das Vermissen auf eine diffuse Menge von Erfahrungen zu beziehen, die man an einem Ort gemacht hat, auch vielleicht auf Orte selbst. Materialitäten wie z.B. ein bestimmter Platz in einer Stadt, die Erfahrbarkeit dieser Stadt, Menschen, auch vertraute Kleinigkeiten oder Atmosphären werden vermisst. Vermissen kann sich möglicherweise auf ein Konglomerat diverser Elemente beziehen und überhaupt nicht in seine Einzelteile zerlegt werden, sondern seine Bedeutung gerade in der Verwobenheit verschiedenster Faktoren gewinnen. B: Das ist richtig, doch kann ich mir schon vorstellen, dass analytisch verschiedene Faktoren voneinander unterschieden werden können. Die befragten Migrantinnen und Migranten berichteten doch auch oft von ganz verschiedenen Entitäten, wenn es konkret darum ging, was oder wen sie vermissen. Das Vermissen kann sich hauptsächlich oder ausschließlich auf signifikante Personen richten, ebenfalls z.B. auch etwa das Wetter umfassen. Je nachdem, worauf sich das Vermissen von Heimat vornehmlich richtet, kann auch das subjektive Heimatverständnis rekonstruiert werden. A: Das sehe ich auch so. Immaterielles, Soziales, wie etwa eine durch Personen evozierte Atmosphäre kann nicht immer oder vielleicht nur schwer in einem anderen Kontext hergestellt werden, so dass ein besonderes Potenzial dafür besteht, dass es vermisst wird. Wenn das Vermissen sich etwa auf das Wetter oder auf Einstellungen anderer, nicht signifikanter Personen bezieht – wie es etwa im Beispiel des Vermissens der „menschlichen Menschlichkeit“ bei Bomani Jawara der Fall war – kann dies von den Akteurinnen und Akteuren als Entbehrung oder gar als Mangel erlebt werden. C: Dabei verweist das Vermissen solcher Komponenten, die im jeweiligen Verständnis von Heimat enthalten sein können, auf die Problematik, dass Heimat in solchen Fällen evtl. weniger mobil ist. B: Ja, durch die Abhängigkeit von Objekten, anderen Materialitäten, Immateriellem und Menschen kann auch unterschieden werden, wie verlässlich durch Praktiken Heimatgefühle evoziert werden können. Wäre z.B. der zur Kaffeezeremonie nötige Kaffee nicht oder nur selten und für Amaré Issayu zu

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unvorhersehbaren Zeitpunkten zu kaufen und nicht auf Vorrat zu erwerben, so wäre die Möglichkeit bzw. Verlässlichkeit der Herstellung der ‚Heimatpraktik‘ gering. Dies wäre problematisch, da angenommen werden kann, dass in spezifischen Situationen die Einleitung einer solchen Aktualisierungspraktik von besonderer Bedeutung für Akteurinnen und Akteure ist. Dies könnte der Fall sein, wenn z.B. Heimweh entsteht und reduziert werden soll oder auch, wenn es in Situationen, in denen schlicht ein Gefühl ‚wie in der Heimat‘ produziert werden soll, gewünscht wird, um wieder Heimatgefühle und eine Kontinuität von Heimat zu erleben. A: Ja, diese Unterschiede, die hinsichtlich der Möglichkeit der Aktualisierung von Heimatgefühlen bestehen und in Verbindung mit der Verfügbarkeit von spezifischen Objekten, deren Eigenschaften und dem Spielraum für Praktiken stehen, scheinen mir auch zentral zu sein. Ich denke da gerade an unsere Interviewpartnerin Layla Mariga, die als Beispiel afrikanische Läden und das dort zu erwerbende kenianische Essen anführte und hervorhob, dass man sich dann wie in Afrika fühlen und durch den Konsum kenianischen Essens Heimweh reduziert werden könne. B: In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass du hervorgehoben hast, dass es auch auf die Eigenschaften der Objekte selbst ankommt und die damit assoziierten Erinnerungen, die erst durch deren spezifische Affordanz ermöglicht werden. 8 Ich wage fast zu behaupten, dass spezifischen Objekten mit bestimmten Eigenschaften das Potenzial zukommt, ‚Personencharakter‘ zu bekommen. Ich meine damit, dass manchen Objekten – vermittelt über die Erinnerung – Eigenschaften zukommen, die an geliebte Personen erinnern und damit Gefühle, die der Person gelten, aktualisieren (siehe zu diesem Aspekt auch das Kapitel „Das wartende Haus“). C: Diese Überlegungen verweisen erneut auf das Sinnliche bzw. den sinnlichen Charakter des Gedächtnisses, aber auch von Dingen! Moment, ich hole noch mal das Buch „Zieh mich aus! Was Kleidung über uns verrät“ von Joubert und Stern. Die Autorinnen haben hierzu etwas Passendes in Bezug auf die Aufbewahrung von Kleidungsstücken formuliert. Ach, hier steht es ja! „Wenn man ein Kleidungsstück eines geliebten Menschen auf bewahrt, hält man darüber hinaus die Erinnerung an ihn fest, weist ihm bestimmte Charakterzüge zu, die einem die Illusion verschaffen, man hätte ihn nicht vollständig verloren, und macht ihn so verfügbarer. Das Kleidungsstück ist der Auslöser für die Erinnerung; es lässt ein lebendiges Bild des anderen entstehen. Man kann ihn beinahe ‚sehen‘. Dieses Phänomen hat seinen Grund im sinnlichen Charakter des Gedächtnisses: Es bewahrt eine Vielzahl geistiger Vorstellungen auf, mit 8 |  Mit Affordanz wird hier die Eigenheit von Objekten bezeichnet, Menschen etwas ,anzubieten‘. So bietet z.B. ein Ball einem Kind an, mit ihm zu spielen bzw. ihn zu rollen oder zu werfen, zumindest aber, ihn fortzubewegen (vgl. z.B. Zillien 2008).

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denen wir aber nicht jederzeit und beliebig in Kontakt treten können. Wir brauchen einen ‚Schlüssel‘, das heißt ein visuelles, olfaktorisches, auditives oder gustatorisches Element […], um das Ganze zu rekonstruieren. Das Gedächtnis funktioniert durch sensorische Analogien und kann eine verschüttete Erinnerung, die man vergessen glaubte, wieder ins Bewusstsein rufen. Deshalb kann ein Kleidungsstück zum Garanten der Erinnerung werden“ (Joubert/ Stern 2006, S. 179). B: Dieses Zitat bringt mich auf einen anderen Gedanken. Es wird hier viel von dem garantierten Zurückholen von Erinnerungen durch Kleidung gesprochen und zuvor haben wir viel von ‚Vermissen‘ geredet, wenn bestimmte Gegebenheiten, die mit Heimat verbunden sind, eben nicht wiederhergestellt werden können. Etwas oder jemanden zu vermissen, ist nicht gerade ein schönes Gefühl. Deswegen könnte die (Wieder-)Herstellung von Heimat auch eine Bewältigungsstrategie sein, um an subjektiv wichtige Relevanzen auch in anderen Umgebungen wieder anknüpfen zu können. Amaré Issayu spricht von „unserer Heimat“. Das ‚uns‘ weist doch darauf hin, dass er damit auch seine Zugehörigkeit zu einem Kollektiv verbindet und ebenso, dass Heimat ein Teil von ihm ist. Insofern denke ich, dass die (Wieder-)Herstellung von Heimat auch wichtige biografische Bedeutungen hat. C: Ja, man könnte sagen, dass dadurch in der anderen Umgebung, im anderen Land, lebensgeschichtliche Kontinuität hergestellt wird, ebenso wie auch Vertrautheit.

F a zit und A usblick : O bjek te und S innlichkeit,

sinnliche

O bjek te ?

In der Analyse zeigt sich nicht nur die Bedeutsamkeit spezifischer, in Praktiken eingebundener Objekte und hierdurch evozierter Gefühle, die mit dem Herkunftsland verbunden sind. Vielmehr wurde deutlich, warum diese Objekte in ihrer praktischen Einbindung so relevant waren: Sie konnten sinnlich wahrgenommen werden. Obgleich es sich dabei an und für sich um eine lapidare Feststellung handelt, so muss berücksichtigt werden, dass die sinnliche Wahrnehmung von Objekten von verschiedensten Faktoren sowie von den Objekten selbst ausgeht: vom Objekt selbst, d.h., von dessen Präsenz bzw. Verfügbarkeit und dessen ,Eigensinn und damit der Sinnlichkeit der Objekte‘, von dem Wahrnehmenden und damit von psychischen und physischen Faktoren und von den Praktiken, in die diese Objekte eingebunden werden. Angesichts dieser Faktoren zeigt sich wiederum deren Interdependenz von strukturellen Bedingungen. Die Objekte müssen verfügbar sein, damit sie in Praktiken eingebunden werden (können) und die Wahrnehmung von Objekten als „Heimatsachen“ ist strukturell und diskursiv präformiert. Strukturelle

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Bedingungen (wie z.B. politische, rechtliche und/oder historische Aspekte) werden schließlich in den Praktiken, die zur Aktualisierung von Heimatgefühlen durchgeführt werden, wirksam. Die Bedeutsamkeit der Objekte liegt zudem darin, dass sie spezifische Praktiken und damit auch das Erleben sowie das Fühlen von Heimat erst ermöglichen. Wie wäre z.B. die Kaffeezeremonie in ihrer Bedeutung möglich ohne Kaffee? Eine Eigensinnigkeit bzw. von den Objekten ausgehende Affordanz ist gleichermaßen von Bedeutung, wenn es um den Vollzug von Praktiken geht, die in anderen Kontexten reproduziert werden, um ein Gefühl von Heimat, das im jeweiligen Verständnis mit dem Herkunftsland verbunden ist, zu aktualisieren und wieder zu erleben. Andere Studien verweisen beispielsweise darauf, dass die Anwesenheit des Körpers in einer Handlungssituation und damit das Wissen, dass dieser von anderen gesehen und wahrgenommen wird, von großer Bedeutung ist (vgl. z.B. Bender 2013, S. 26 ff., S. 164 über Arbeitende am Laptop in öffentlichen Räumen und damit vor Publikum). Demgegenüber wurde hier aufgezeigt, dass Praktiken, die dem (Wieder-)Erleben von Heimatgefühlen dienen, weniger als körper-, sondern als leiborientierte zu verstehen sind. Durch die leiblichen Erfahrungen, die durch Praktiken der Heimatraumproduktion ermöglicht und hergestellt werden, erfüllen diese eine befriedigende und bedeutsame Funktion. Die Betrachtung der Praktiken der Herstellung bzw. Reproduktion von Heimaträumen gab insbesondere über Folgendes Aufschluss: 1. Das Erleben von Heimat kann durch die untersuchten Praktiken und vermittelt über die dadurch evozierten positiven Emotionen wiederbelebt und wiederhergestellt werden. Und dies ist – auch bei einem Heimatverständnis, das innerhalb der Vorstellung der Akteurinnen und Akteuren und ihren Emotionen an ein Land und damit an ein territorial umgrenztes Gebiet gebunden ist – auch in anderen Kontexten möglich. Dazu werden Praktiken oder auch Zeremonien (wie die thematisierte Kaffeezeremonie), die in routiniertem, relativ strengem Ablauf bereits im Herkunftsland vollzogen wurden, in möglichst ähnlicher Weise an einem anderen Ort wiederholt. Zu vermuten ist, dass hierbei häufig, wenn nicht immer, Transformationen stattfinden, die gering sein können, und die nie so groß sein dürfen, dass eine emotionale Aktualisierung oder Wiederherstellung des früher erlebten Gefühls verunmöglicht wird. 2. Die mit dem Herkunftsland assoziierte Heimat wird dadurch mobil, auch wenn diese zunächst an einen Ort, eine Stadt, ein Land oder ein Quartier des Herkunftslandes gebunden ist. Diese Mobilität wird durch das Handeln der Akteurinnen und Akteure hergestellt, indem sie „Heimatsachen“, die zunächst im Herkunftsland verortet waren, ins Ankunftsland transferieren und dabei unter Ausführung spezifischer Praktiken in den neuen Lebensraum einbinden. In biografischer Hinsicht ist dies bedeut-

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sam, weil lebensgeschichtliche Kontinuität hergestellt wird, Zugehörigkeiten aufrechterhalten werden können, Vertrautheit hervorgerufen und das schmerzliche Vermissen überwunden werden kann. Sinnliche Objekte und die Wiederholung entsprechender Praktiken sind demnach insbesondere dann relevant, wenn Menschen sich fremd fühlen, wenn Routinen, bestimmte Orte, Menschen und Vertrautheit sowie (Handlungs-)Sicherheit fehlen. 3.  Dabei wurden auch Begrenzungen der Wiederbelebung von „Heimat“ deutlich, gerade wenn es um solche Gegebenheiten geht, die ‚immobil‘ sind und möglicherweise nur über eine Mobilität des eigenen Körpers an den Ort, an dem sie anzutreffen sind, wieder erlebt werden können. Mobilität setzt jedoch spezifische Bedingungen voraus und ist ungleich verteilt. Ein Mangel finanzieller Ressourcen, körperliche Gebrechen, oder rechtliche Bedingungen zur Ein- und Ausreise können Mobilität an sich oder in bestimmte Regionen und Länder begrenzen. Hier zeigen sich mögliche soziale Ungleichheiten bzgl. der Möglichkeiten, Heimat und die damit verbundenen Funktionen und biografischen Bedeutungen wiederherzustellen. Der Fokus auf bestimmte ‚Dinge und Praktiken‘, so wie er in den Interviews zum Ausdruck kam, ist deswegen möglicherweise auch Ausdruck der spezifischen Lebenssituation der Akteurinnen und Akteure, in der zwar bestimmte Dinge und Praktiken mobil gemacht werden können, aber die eigene Mobilität durch die prekäre finanzielle Situation begrenzt ist.

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„Das wartende Haus“: Eine fiktive Expertendiskussion über die Bedeutung von Häusern für Migrantinnen und Migranten

Es scheint ein allgemeiner Konsens zu sein, dass Häuser eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für Menschen haben. Wenngleich im Alltagsverständnis die Bedeutsamkeit von Häusern nicht immer explizit verfügbar ist, werden viele verschiedene funktionale und symbolische Aspekte, wie z.B. das Haus als Heim, Privatraum, Rückzugsort oder auch als Statusobjekt, als selbstverständlich betrachtet. Häuser und ihre unterschiedlichen Bedeutungen erlangten auch in unseren Forschungsprojekten im Kontext von Migration einen zentralen Stellenwert. Dabei begegneten wir einem Phänomen immer wieder, das selten in den Fokus des Interesses gestellt wird. Häufig berichten hier lebende oder zwischen Aufnahmeland und Herkunftsland pendelnde Migrantinnen und Migranten nicht nur von Häusern, die im Ankunftsland erbaut und/oder gekauft und ausgebaut oder renoviert werden, sondern auch in den Herkunftsländern. Diese Häuser geraten in der Forschung zwar in den Blick (z.B. als eine Folge von Geldrücküberweisungen bzw. als transnationale Investitionen, vgl. Dahinden/Lerch 2007; Niederberger/Wichmann 2004, S. 20). Insgesamt wissen wir jedoch noch wenig über die (Hinter-)Gründe dieses Phänomens und die vielfältige Bedeutsamkeit, die diesen Häusern zukommen kann. Im Folgenden werden wir uns der Thematik aus verschiedenen Perspektiven annähern. Hierzu wird eine Expertendiskussion zum Thema: „Das wartende Haus – Über die Bedeutung von Häusern für Migrantinnen und Migranten“ initiiert. Entsprechend freuen wir uns sehr, folgende Experten in unserer Diskussionsrunde begrüßen zu dürfen: Dr. Annemarie Schulze1, eine Psychologin, die uns die Konzeption „persönlicher Objekte“ von Herrn Prof. Dr. Tilmann Habermas näher bringen 1 | Sowohl bei Frau Schulze wie auch im Weiteren bei Herrn Martin und Herrn Müller handelt es sich um fiktive Personen. Während die Figuren Frau Schulzes und Herrn

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wird, dessen Forschungen „im Schnittgebiet zwischen psychoanalytischen Interessen und psychologischen Fragestellungen und Forschungsmethoden [liegen]“.2 Im Anschluss an Habermas sagte Frau Schulze zur Bedeutung von Häusern für Migrantinnen und Migranten in unserem Vorgespräch: „Häuser als persönliche Orte erfüllen für den Menschen identifikative Funktionen. Migration, als Umbruchssituation, forciert den Versuch, mittels persönlicher Objekte oder Orte Identität herzustellen oder aufrechtzuerhalten“.3 Als zweites Mitglied unserer Expertenrunde begrüßen wir Dr. Henri Martin. Er vertritt die Position der sogenannten Akteur-Netzwerk-Theorie, die der französische Soziologe und Philosoph Prof. Dr. Bruno Latour zusammen mit anderen Soziologen, vor allem Michel Callon und John Law, entwickelte. In der Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theoretiker wird davon ausgegangen, dass Technik/Natur und das Soziale in einem Netzwerk wechselseitig Eigenschaften und Handlungspotenziale erlangen. In dieser Tradition stehend, erörterte Herr Martin in unserem Vorgespräch zur Bedeutung von Häusern für Migrantinnen und Migranten: „Die Bedeutung des Hauses für Migrantinnen und Migranten ist in den mit dem Haus verbundenen Netzwerk-Verbindungen zu sehen. Das Haus selbst sollte als Akteur betrachtet werden, der Teil eines Netzwerkes ist, das Sozialforscherinnen und -forscher nachzeichnen sollten. Es müssen demnach die verschiedenen mit dem Haus verbundenen Akteure, also weitere Objekte, Artefakte und Menschen im Hinblick auf ihre Handlungsmächtigkeit und Aktionen untersucht werden. Nicht jedes Haus ist gleichermaßen mächtig, die Bedeutung von Häusern kann von belanglos bis hin zu ein komplexes Netzwerk anregend verstanden werden.“4 Martins – in Bezug auf das im vorliegenden Zusammenhang interessierende Thema – die antizipierten Perspektiven der Wissenschaftler Habermas und Latour zur Geltung bringen sollen, stellt der studierte Sozialwissenschaftler Herr Müller eine imaginative Figur dar, die im Rahmen der Gruppendiskussion eine moderierende Funktion einnimmt. 2 | Die Informationen wurden von der Homepage der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main entnommen: http://www.psychoanalyse.uni-frankfurt.de/ Personen/habermas/index.html (Abruf am 31.12.2011). 3 | Dieser Aussage liegt kein Originalzitat zugrunde. Sie stellt eine fiktive Äußerung dar, die die im Folgenden entfaltete Sichtweise der Figur Frau Schulzes pointieren soll. 4 | Hierbei handelt es sich um eine fiktive These, die die Perspektive Latours zum Ausdruck bringen soll. Da die Komplexität von Latours Neubegründung einer Sozialtheorie in der vorliegenden Darstellung nicht aufgearbeitet werden kann, wird hier nicht in aller Ausführlichkeit erläutert werden, dass Latour eine symmetrische Anthropologie einzuführen versucht. Mit dieser verfolgt er das Anliegen, ,das Soziale‘ als nicht nur durch Menschen konstituiert, sondern als aus Menschen und Dingen gleichermaßen bestehend, zu fassen. Dass er damit eine scharfe Wissenschaftskritik verbindet, in

„Das war tende Haus“

Als drittes Mitglied freuen wir uns, Giacomo Bertani begrüßen zu dürfen. Herr Bertani wurde in Italien geboren. Er lebt seit vielen Jahren in Deutschland und ist Besitzer eines Hauses seiner inzwischen verstorbenen Eltern in Bovino, einem Dorf in Apulien. Herr Bertani wird über seine eigene Erfahrung über die Bedeutung seines Hauses erzählen. Wir sind sehr gespannt darauf! Die Bedeutung des Hauses erklärte er im Vorfeld dieser Runde wie folgt: „In Deutschland konnte ich es mir nicht leisten, ein Haus zu kaufen. Der Kauf meines Elternhauses in Bovino ermöglicht mir nicht nur den Erhalt dieses besonderen Hauses, obwohl ich so weit weg von zu Hause bin, sondern auch, den Lebensabend mit meiner Familie dort zu verbringen. Darauf arbeite ich hin.“5 Zu guter Letzt dürfen wir Dr. Johannes Müller vorstellen. Er ist Sozialwissenschaftler und hat sich in seiner Dissertation mit der Bedeutung verschiedener Materialitäten und Objekte für Migrantinnen und Migranten auseinandergesetzt. Er wird die heutige Runde moderieren.

D ie E xpertendiskussion Johannes Müller: Als Einstieg in die Thematik möchte ich denjenigen zu Wort kommen lassen, der aus eigener Erfahrung mit dem Phänomen bestens vertraut ist. Deshalb die Frage an Sie: Warum, Herr Bertani, denken Sie, dass das Haus im Herkunftsland für Sie so bedeutsam ist? Annemarie Schulze: Ich möchte Sie ja nicht in ihrer Moderatorenrolle und Ihrer Art, Fragen zu stellen, kritisieren, aber als erfahrene Forscherin möchte ich Sie darauf hinweisen, dass durch Ihre Bitte, Auskunft über ein persönliches Objekt bzw. in diesem Fall einen persönlichen Ort zu geben, sich damit zugleich Herrn Bertanis Haltung dem Haus gegenüber verändert, da er dazu veranlasst wird, seine Beziehung zum Haus zu reflektieren.6 Zudem ist für persönliche Objekte geradezu charakteristisch, dass über deren Bedeutung oftmals erst dann Bewusstsein besteht, wenn es verloren geht etc.

der er vor dem kontingenten Status von in der Wissenschaft hervorgebrachtem Wissen warnt, sei hier erwähnt, wird aber im vorliegenden Aufsatz nicht weiter betrachtet. 5 | Hier handelt es sich ebenfalls um eine fiktive Aussage, die auf der Basis der Analyse eines umfangreichen qualitativen Interviews entwickelt wurde und die Perspektive von Herrn Bertani verdeutlichen soll. Ab Beginn der Expertendiskussion handelt es sich bei den Ausführungen Herrn Bertanis ausschließlich um Aussagen aus dem mit ihm geführten Interview, die grammatikalisch an den Erzählfluss angeglichen wurden. Wortauslassungen des Gesagten, z.B. von wiederholten Wörtern oder Erzählabbrüchen im Interviewverlauf sind dabei nicht gekennzeichnet. 6 | Vgl. Habermas 1999, S. 445.

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Johannes Müller: Vielen Dank für Ihren Hinweis, Frau Schulze, aber wie sonst könnte ich mich der Thematik annähern? Da Herr Bertani sich selbst gemeldet hat, an der Expertenrunde teilzunehmen, kann ich doch voraussetzen, dass das Elternhaus für ihn bedeutsam ist und er sich bereits damit auseinandergesetzt hat. Annemarie Schulze: Durchaus, ich möchte dennoch hervorheben, dass die Bedeutsamkeit zu erschließen nicht dasselbe ist wie eine Reflexion der Bedeutsamkeit einzuleiten und damit eventuell erst herzustellen. Aber, Herr Bertani, vielleicht können Sie einfach von Ihrem Haus erzählen? Giacomo Bertani: Ich komme, wie sagt man, vom Stiefelabsatz in Italien in Apulien, wo die schönste Ecke der Welt ist und da hab ich auch vor, wenn meine Frau berentet wird, hab ich vor, auch wieder zurückzugehen, weil dort am Meer, hab ich das Elternhaus ge- abgekauft, die Geschwister bezahlt und dann kann man unsere Rente… Johannes Müller: [unterbricht] Aha, ihr Elternhaus garantiert Ihnen also die Sicherung des Lebensabends im Heimatland. Aber bedeutet das Haus nicht noch mehr als mietfreies Wohnen im Alter und eine damit verbundene Kostenersparnis? In meiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Migrationsstudien begegnete mir immer wieder das Phänomen, dass Häuser für die befragten Personen von zentraler Bedeutung waren, die Bedeutung jedoch nicht näher expliziert wurde. Ich möchte an dieser Stelle jedoch hervorheben, dass Häuser keineswegs nur für Migrantinnen und Migranten bedeutsam sind, sondern Häusern oder – allgemeiner gesprochen – ‚Behausungen‘ für Menschen generell von zentraler Bedeutung sind. Heutige Steinhäuser können als Fortsetzung der Tradition von Höhlen, Zelten, Hütten, Lehm- und Holzbauten verstanden werden. Es scheint demnach ein ganz ursprüngliches Bedürfnis des Menschen zu sein, in Häusern zu wohnen, da sie den Menschen vor dem Unbill der Natur schützen. Aber ich entschuldige meinen kleinen Exkurs, weil es hier ja nicht um die generelle Bedeutung von Häusern im Sinne der allgemeinen Notwendigkeit irgendeiner Behausung als Schutz vor Naturgewalten etc. geht. Henri Martin: Der Exkurs sei Ihnen gegönnt, so verweist er doch auf etwas, das meines Erachtens unbedingt in den Fokus der Diskussion gestellt werden sollte: nämlich, dass Dinge bzw. Häuser auch handeln. Es sollte gesehen werden, dass sie als Bestandteil eines Netzwerkes wiederum Andere und Anderes zum Handeln, zu Aktionen bringen. Deshalb würde ich sie als Aktanten eines Netzwerks bezeichnen. Johannes Müller: Ich freue mich, dass Sie an der Diskussion teilnehmen, Herr Martin, aber ich bin irritiert. Ich kann mich nicht erinnern, gesagt zu haben, dass Häuser handeln.

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Henri Martin: Sie müssen sich selbst genauer zuhören. Sie haben gesagt: Häuser beschützen den Menschen vor Naturgewalten etc. Ist Beschützen denn kein Handeln? Johannes Müller: Ja, aber so war das nicht gemeint. Henri Martin: Wie haben Sie es dann gemeint? Johannes Müller: Das sagt man doch nur so. Natürlich beschützt ein Haus einen Menschen, aber doch nicht handelnd oder zumindest nicht intentional. Henri Martin: Aha, und nur weil es kein intentionales Handeln eines Akteurs mit Bewusstsein ist, kann nicht von Handeln gesprochen werden? Dieser Annahme unterliegt eine normative These, die Sie vielleicht nicht als solche begreifen, weil es Ihnen so eindeutig erscheint, dass Menschen Handlungsmächtigkeit zugeschrieben wird, anderen Netzwerkbeteiligten, Objekten, Artefakten und Sonstigem aber nicht. Gleichzeitig würden Sie jedoch nicht widersprechen, dass es einen Unterschied macht7, ob Sie unter freiem Sternenhimmel schlafen oder in einem Bett im Zimmer eines Steinhauses, nehme ich einmal an. Johannes Müller: Ich weiß nicht, worauf sie hinaus wollen, Herr Martin. Zweifelsohne macht es einen Unterschied, wo mein Bett steht, ob ich auf dem bloßen Boden schlafe oder in einem Bett mit Federkernmatratze, ob das Bett zu kurz ist und zu schmal oder es sich um ein Doppelbett handelt. Henri Martin: Ich freue mich, dass wir uns in diesem Punkt einig sind. Johannes Müller: Ich bitte Sie jedoch, wieder zum Thema zurückzukommen. Henri Martin: Ich habe die Thematik niemals verlassen. Alles was ich sage, ist, dass man sich den Dingen auch als Akteuren zuwenden muss. D.h., um die Bedeutung von Häusern zu erschließen, sollte jeweils ganz konkret untersucht werden, was Häuser tun, womit und mit wem, bzw. in welches Netzwerk welche Akteure involviert sind und welche Verbindungen zwischen ihnen bestehen. Diese Fragen gilt es zu beantworten. Nur so können die vielfältigen Bedeutungen von Häusern eruiert werden. Annemarie Schulze: ‚Die Bedeutung eruieren‘. [Sie macht eine ausladende Geste.] Wie wahr! Aber leichter gesagt als getan, denn werden Häuser als persönliche Orte verstanden, erschweren oftmals die Personenspezifizität und Privatheit ihrer Bedeutung, ihr intimer Charakter, die Unbewusstheit einiger ihrer Bedeutungen und ihre präreflexive Selbstverständlichkeit den methodischen Zugang zu ihrer Bedeutung. 8

7 | Ein Akteur ist das- oder derjenige, der einen Unterschied im Netzwerk macht, der also Andere dazu bringt, verändert zu handeln/sich anders zu verhalten, als es ohne seine Anwesenheit der Fall gewesen wäre. Oder mit Latours Worten „ist jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, ein Akteur“ (Latour 2007, S. 123; Herv. i.O.). 8 | Vgl. Habermas 1999, S. 444.

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Johannes Müller: Was schlagen Sie also als Lösung vor? Sie sagten ja bereits, dass man die Befragten nicht einfach explizit danach befragen könne, welche Bedeutung Dingen bzw. konkret Häusern zukomme. Annemarie Schulze: Naja, direkt fragen kann man schon, das machte auch Herr Habermas in seinen Untersuchungen zu persönlichen Objekten. Wichtig ist bloß zu reflektieren, dass die Frage Einfluss auf die Antwort haben kann. Henri Martin: Vielen Dank, Frau Schulze, für diese methodisch-methodologischen Überlegungen. Ich möchte jedoch erneut an die Bedeutung erinnern, sich auch den Dingen als Handlungsträgern zuzuwenden, sind sie doch Bestandteil von Sozialität! Denn, wenn ich hierzu kurz Prof. Latour zitieren darf: „Nicht unähnlich dem Sex während des Viktorianischen Zeitalters sind Objekte überall, doch nirgendwo ist von ihnen die Rede. Selbstverständlich gibt es sie, doch man verschwendet keinen Gedanken an sie, keinen sozialen Gedanken. Wie niedere Bedienstete leben sie an den Rändern des Sozialen, erledigen die meiste Arbeit, und doch wird ihnen nie erlaubt, als solche dargestellt zu werden […] als hänge ein Fluch über den Dingen, verbleiben diese schlafend wie die Dienerschaft eines verwunschenen Schlosses. Doch sobald sie vom Bann erlöst werden, beginnen sie sich zu regen, zu recken und zu murmeln. Sie fangen an, in alle Richtungen auszuschwärmen, schütteln die menschlichen Akteure, wecken sie aus ihrem dogmatischen Schlaf.“9 Die Herausforderung besteht darin, die von mir erläuterte Perspektive auf die Dinge einzunehmen, denn nur so können die Dinge in ihrem Handeln und in Bezug auf ihre Macht in den Netzwerken erkannt werden. Johannes Müller: Herr Martin, was Sie sagen, klingt sehr pathetisch. Was soll es denn nützen, sich explizit mit den Dingen, in diesem Fall mit den Häusern als handlungsmächtige Akteure zu beschäftigen, um die Bedeutung für den Menschen erfassen zu können? Henri Martin: Ich stelle Ihnen zur Beantwortung Ihrer Frage eine Gegenfrage: „Wie lange kann man einer sozialen Verbindung folgen, ohne daß Objekte dazwischentreten? Eine Minute? Eine Stunde? Eine Mikrosekunde?“10 Johannes Müller: Aber wieso sprechen Sie von Verbindungen? Mir geht es doch nur um das eine Phänomen: das Haus. Henri Martin: Und da genau liegt Ihr Fehler. Ich sage Verbindung, weil es nicht um ein Phänomen geht, sondern um ein Akteur-Netzwerk, d.h., um Verbindungen, durch welche der Akteur konstituiert wird und zum Handeln gebracht wird. Ohne Verbindungen gibt es keine Akteure. Bezogen auf den konkreten Fall bedeutet das, dass man im Falle von Herrn Bertani eruieren muss, was das Haus zum Akteur werden lässt. Wir müssen also fragen: Welche Verbindungen knüpft das Haus und werden ausgehend von ihm geknüpft, wie wird  9 | Latour 2010, S. 127. 10 | Latour 2010, S. 134.

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es zum Bestandteil eines Netzwerkes? Was tut das Haus und was tun dabei andere menschliche und nicht-menschliche Akteure? Johannes Müller: Setzen Sie hier aber nicht gerade a priori voraus, was erst analysiert werden müsste, nämlich, dass es sich bei dem Haus um einen Akteur handelt? Und mir ist auch immer noch nicht klar, was diese Perspektive, Häuser als Träger von Handlungen zu verstehen, dazu beiträgt, deren Bedeutung zu erschließen. Annemarie Schulze: Zudem, Herr Martin, ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, aber ist es nicht Herr Bertani, der die Verbindungen knüpft, vielleicht noch seine Geschwister, die sich darum kümmern, wenn er es aus der Distanz heraus nicht kann? Das Haus tut doch nichts. Giacomo Bertani: Ich habe mein Elternhaus von meinen Geschwistern abgekauft, es renoviert, umstrukturiert und so weiter und deshalb, das wartet auf uns. Wir fahren mindestens einmal im Jahr dorthin. Mindestens. Henri Martin: Damit haben Sie soeben Frau Schulzes Frage beantwortet. Es agiert hier nicht nur einer oder ‚nur‘ [er umrahmt das Wort „nur“ mit einer Geste, die mit zwei Fingern jeder Hand das Wort in Anführungszeichen zu stellen scheint] Sie. Wenn man das Phänomen genauer betrachtet, findet man ganz viele Beteiligte, menschliche und nicht-menschliche Akteure, die gehandelt haben und weiterhin handeln. Aber ich verstehe auch Ihren Einwand, Frau Schulze. Es ist nur allzu menschlich, dass Sie nicht mit Dingen auf dieselbe Stufe gestellt werden möchten und der einzige handelnde Akteur sein wollen. Sie fürchten um Ihre Autonomie und Ihre Identität. Auch Ihr vorhin genannter Einwand, Herr Müller, dass es doch einen Unterschied mache, wie gehandelt würde, und ein Haus sicher nicht intentional handeln könne, begegnet mir immer wieder in Bezug auf verschiedene Objekte. Ebenfalls wird oftmals kritisch bemerkt, dass Handeln Dingen zugeschrieben wird. Wenn ich Ihnen, Herr Bertani, z.B. sage, dass Sie selbst gesagt haben, dass Ihr Haus auf Sie wartet und ich entsprechend darauf hinweise, dass dies durchaus eine Handlung ist, so könnten Sie einwenden, dass es sich bei diesem Warten um eine einfache Zuschreibung Ihrerseits handele und es zudem kein wirkliches Handeln sei, sondern lediglich einen Zustand beschreibe. Ein Haus ‚ist‘, es handelt nicht. Solche Zuschreibungen der Handlungsfähigkeit von Objekten werden im Allgemeinen als Personifizierungen aufgefasst. Ich würde Ihnen zwar darin zustimmen, dass Handeln Veränderung bedeutet, so dass ein Zustand noch keine Handlung ist. Aber ein Haus muss keineswegs stets ein Zustand sein, durch den keine Veränderung bewirkt wird. Setzt es etwas in Gang, dann erscheint es als Akteur und nur dann interessiert es in der AkteurNetzwerk-Theorie. Wenn Sie sagen, dass es wartet und dieses wartende Haus bei Ihnen vielleicht das Bedürfnis weckt, es wieder zu besuchen, dann hat das Haus gehandelt, denn es ist eine ihm eigene Weise, die Sie dazu brachte, es

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aufzusuchen. Wie gesagt, das muss jeweils ganz konkret untersucht werden. Allgemeine oder generalisierende Aussagen sind hier eindeutig fehl am Platz. Johannes Müller: Entkräften Sie hier nicht Ihre eigenen Argumente, wenn Sie letztendlich sagen, dass keineswegs jedes Haus als Akteur zu verstehen ist? Henri Martin: Keineswegs. Im Gegenteil. Ich fahre in meiner Argumentation fort. Herr Bertani sagt: „Das Haus wartet auf uns“. Obgleich hier über die Materialität des Hauses als immobiles Wesen viel ausgesagt wird, zeigt sich zugleich, dass es auch als Akteur fungiert, indem es Herrn Bertani, seine Familie etc. in Bewegung setzt. Immer wieder. Die Existenz dieses Hauses führte dazu, dass Herr Bertani es von seinen Geschwistern abkaufte, es renovierte und umstrukturierte, sprich: Herr Bertani es sich aneignete usw. Ist das ‚Nichtstun‘? Die Tatsache, dass Sie sagten, das Haus warte auf Sie, lässt es in meinen Augen eindeutig als Akteur erscheinen. Sie wohnen und feiern dort mit Ihrer Familie, leben aber nicht vor Ort und das Haus wartet auf Sie, weil Sie nach Ihrer Pensionierung in dem Haus leben werden. Ich finde Ihre Geschichte höchst spannend! Ich denke, dass das Haus ein relativ starker Akteur in Ihrem Netzwerk ist, auch wenn ich sonst noch nichts darüber weiß, das ist nun eine Annahme, die auf den wenigen Informationen beruht, die mir vorliegen. Es bewegt Sie dazu, regelmäßig dorthin zu fahren, Ausbesserungen am Haus vorzunehmen und das wartende Haus spielt auch eine große Rolle bei der Entscheidung, dauerhaft nach Italien zu ziehen. Ich warne erneut davor, Objekte – oder Dinge – in ihrem Tun und ihrem vielfältigen Folgenreichtum für andere Akteure des Netzwerks zu unterschätzen. Annemarie Schulze: Aber, Herr Martin, übertreiben Sie hier nicht? Wenn Giacomo Bertani sagt: „das Haus wartet auf uns“, handelt es sich dabei nicht um einen klassischen Fall einer Personifizierung, wie es mit geliebten Objekten getan wird? Ich gebe Ihnen jedoch vollkommen Recht, dass für die methodisch kontrollierte Erfassung eines Phänomens wesentlich ist, „auf die Eigenarten des Phänomens abzustellen.“11 Dementsprechend hebt auch Herr Habermas immer wieder die Immobilität persönlicher Orte12 – in diesem Fall des Elternhauses – hervor. Aber Objekte oder Dinge als Akteure zu verstehen [runzelt die Stirn]? Führt das nicht etwas zu weit? Liegt die Sache nicht viel einfacher? Was meinen Sie denn dazu, Herr Bertani? Giacomo Bertani: Als wir nach Deutschland gekommen sind, ham wir gesagt, sparen wir ein bisschen Geld, wenn wir da runter gehen, kaufen wir ein Haus, weil hier hier war es teuer und so weiter, und da hab ich erst ein Haus gekauft, das ich dann wieder verkauft habe und daraufhin habe ich das Elternhaus gekauft. 11 | Habermas 1999, S. 444. 12 | Vgl. Habermas 1999, z.B. S. 113.

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Johannes Müller: Ich finde auch, dass die ökonomischen Aspekte in dieser Diskussion mehr berücksichtigt werden sollten. Henri Martin: Ich habe niemals gesagt, dass Ökonomisches nicht berücksichtigt werden sollte, aber dass die Sache so einfach nicht ist, zeigt sich bereits daran, dass Herr Bertani zuerst ein Haus in Italien gekauft hat, dies jedoch wieder verkauft hat, als er stattdessen das Elternhaus erwerben konnte. Annemarie Schulze: Ich denke auch, dass neben den ökonomischen Aspekten unbedingt auch andere Dimensionen in Betracht gezogen werden sollten. Ich denke hier an ein Zitat Susan Isaacs: „I do not believe that the relation between a person and a physical object […] is ever a simple affair between a person and a thing; it is always a triangular relation between at least two people and the thing“ (1935, S. 70). Johannes Müller: Frau Schulze, wollen Sie mit dem Zitat auf die symbolischen Aspekte von Häusern verweisen? Zweifelsohne sind Häuser auch Statussymbole. Annemarie Schulze: Ich würde einen Schritt zurückgehen wollen und danach fragen, welche Eigenschaften Objekte aufweisen müssen, um sich dazu anzubieten, Status und Position zu symbolisieren.13 Es ist allgemein bekannt, dass es sich bei Status- wie auch bei Identitätssymbolen fast ausschließlich um Konsumgüter handelt und persönliche Räume und Orte, nämlich der Körper und seine konstante Umgebung sowie die Wohnung oder das Zimmer oder die Behausung selbst, mit ihrer Größe, Lage und ebenfalls dazugehörenden Außenräumen wie einem Garten, besonders wichtige Orte der Symbolisierung der sozialen Identität darstellen, da sie mit dem Individuum verbunden sind. Überhaupt: Eine eigene Wohnung oder wie in diesem Fall ein Haus zu haben und sich darin einrichten zu können, bedeutet, auf eigenen Beinen zu stehen, über eine auch räumlich festgelegte Position in der Gesellschaft mit dem damit eigenen Freiraum zu verfügen, ergo sich niedergelassen und etabliert zu haben.14 Johannes Müller: Wenn ich da an Pierre Bourdieu denke, heißt es doch vielleicht auch, sich in bestimmter Weise von anderen zu distinguieren. Dies umso mehr, wenn das Haus in Italien, also im Herkunftsland platziert ist, wie bei Ihnen, Herr Bertani, wodurch Sie sich nicht nur von vielen in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten ohne Hausbesitz im Herkunftsland unterscheiden, sondern auch von der in Italien gebliebenen Verwandtschaft wie z.B. den Geschwistern, die das Haus nicht selbst erwarben. Aber diese distinguierende Komponente von Häusern sei nur nebenbei erwähnt…15 13 | Habermas 1999, S. 243. 14 | Vgl. Habermas 1999, S. 243. 15 | Die Idee bzw. den Ansatz, es als Eigenschaft von Häusern zu betrachten, als distinguierende Zeichen wirksam werden zu können, geht auf Bourdieus Distinktions-

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Henri Martin: Obgleich ich das Haus keineswegs nur unter der Perspektive seiner symbolischen Funktionen betrachten würde, so begrüße ich es doch sehr, dass endlich auch die ‚Eigenschaften des Hauses‘ – wie Sie es nennen – Berücksichtigung finden. Fahren Sie doch fort, Frau Schulze. Annemarie Schulze: Sehr gerne, also jene Eigenschaften, die das Haus besonders dazu prädestinieren, als Statussymbol zu fungieren, jedoch auch der Erinnerung dienen, in diesem Fall der verstorbenen Eltern, sind die Dauerhaftigkeit sowie Vieldeutigkeit dieses persönlichen Ortes.16 Zudem nehmen jene Objekte und Orte einen besonders stark verbindenden Charakter an, die lange gemeinsam genutzt wurden.17 Letztendlich gilt also, wie es Habermas konstatiert hat: „Die Bedeutungen und Funktionen des persönlichen Objekts für das Individuum werden gleichermaßen von seiner persönlichen Bedürfnislage und Geschichte beeinflusst wie von der physischen Beschaffenheit und den kulturellen Bedeutungen des Objekts.“18 Dieses Prinzip gilt zweifelsohne auch für Häuser. Johannes Müller: Das haben Sie wirklich schön gesagt, Frau Schulze, aber kann nicht mehr ausgesagt werden über die Bedeutung von Häusern, außer, dass sie multifunktional sind, u.a. zentrale Identitätsfunktionen erfüllen und sie deshalb wichtig für Migrantinnen und Migranten, aber auch für alle anderen, nicht migrierten Personen sind? Zweifelsohne erfüllt das Haus für Herrn Bertani wie auch für andere Menschen vielfältige Funktionen. Aber warum sind es dann so oft Häuser, die – im Falle von Migrantinnen und Migranten – insbesondere im Herkunftsland gebaut, gekauft und renoviert werden? Wieso werden nicht andere Güter erworben? Ich habe das Gefühl, wir kommen in der Diskussion nicht wirklich weiter. Könnte ein weiterer bedeutsamer Aspekt nicht auch in der gewählten Lokalität gesehen werden? So ist es doch kein Zufall, dass ein Haus im Herkunftsland gebaut oder gekauft wird; unabhängig von Rückkehrperspektiven, wie in Ihrem Fall Herr Bertani. So verfügen Sie, wie ich dem bisherigen Gespräch entnommen habe, in Deutschland über kein eigenes Haus. Zudem tragen Sie die Absicht, im Alter ins Herkunftsland zurückzukehren. Und, Herr Bertani, Sie suchen auch aktuell öfter das Elternhaus auf, oder?

theorie zurück. Abgrenzungsmechanismen in verschiedenster Form werden von Akteurinnen und Akteuren eingesetzt, um sich von anderen zu unterscheiden. Kulturelles Wissen zum Einsatz von etwas, das einen Unterschied macht, stellt die Grundlage zur Entschlüsselung des Zeichens und seines Wertes wie auch seines Einsatzes dar (vgl. Bourdieu 1982). 16 | Vgl. Habermas 1999, S. 286. 17 | Vgl. Habermas 1999, S. 306. 18 | Habermas 1999, S. 421.

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Giacomo Bertani: Ja, wir fahren mindestens einmal im Jahr dort hin; meine Frau, mein Sohn und seine Familie und mein anderer Sohn. Es ist dort einfach wunderschön. Meistens fahren wir im Sommer, das ist die schönste Zeit. Wobei was heißt, dort ist es auch schon ab Ostern wunderschön. Früher waren wir schon an den Ostertagen zum ersten Mal im Meer. Heutzutage leider nicht mehr. Da ist es auch durch die Klimaumwandlung etwas kälter geworden, aber im Sommer ist es im Durchschnitt zwischen 32 und 35 Grad warm. Und ich genieße es dort zu sein. Johannes Müller: Es macht den Eindruck, dass Sie Italien sehr vermissen. Giacomo Bertani: Was heißt Italien, ich vermisse meine Heimat, sowieso. Johannes Müller: Heimat, ja, was ist für Sie Heimat? Meinen Sie damit… Giacomo Bertani: Der konkrete Ort, wo ich gewohnt habe, der Geburtsort. Johannes Müller: Und nun, im Alter wollen Sie wieder dorthin zurückkehren, wo Sie als Kind mit Ihren Eltern gelebt haben? Annemarie Schulze: Ich muss mich hier noch einmal einschalten. Die identifikativen Funktionen des Hauses sind hier wirklich offenkundig. Das Elternhaus fungiert in besonderer Weise als persönlicher Ort. So ist das Elternhaus nicht nur dadurch charakterisiert, dass es immobil ist und von den Personen aufgesucht und verlassen werden kann. Das Haus verweist zum einen auch auf die eigene Person, der es zugeordnet ist und durch die es beherrscht wird, und zum anderen verweist es auf ausschließbare Dritte. Zugleich kann es Verbindungen zu anderen, hier den verstorbenen Eltern und der Vergangenheit herstellen und damit Kontinuität im Lebenslauf in verschiedenen Dimensionen sichern.19 Aber, Herr Bertani, Sie haben mich nun wirklich neugierig gemacht. Wie sehen denn das Haus und die Umgebung eigentlich aus? Sie sprachen doch in unserem kurzen Gespräch vor Beginn der Diskussion von Fotos, die Sie dabei hätten. [Herr Bertani holt mehrere Fotos hervor] Ach, hier haben Sie sie ja, wie schön! Giacomo Bertani: [zeigt Bilder von seinem Grundstück] Ich habe dort einen Hof, aber der genügt nur für kleine Kräuter und so weiter. Aber da ist, da hab ich einen Kaki-Baum, der circa 200 Kilo Kaki im Jahr produziert. Also so viele. Dieses Jahr sogar hat er mir so leid getan, es waren so schwere an einem Ast, dass er gebrochen ist und da waren siebzig Kaki drauf. Ich habe die meisten davon mitgenommen und werde sie trocknen, pressen. Dann hab ich einen Zitronenbaum, einen Orangenbaum, Mandarinenbaum, Granatapfelbaum und einen riesigen Kaktus. Ja ein wunderschöner Kaktus, mit schöner Blüte, als äh das Haus, als ich es übernommen habe, da war er nur so groß [zeigt die Größe mit entsprechender Geste an], jetzt ist er circa vier Meter hoch, und jedes Jahr blüht er. Fantastisch. Johannes Müller: Aber wer kümmert sich um alles, wenn Sie nicht da sind? 19 | Vgl. Habermas 1999, S. 113, 153 f., 157 f.

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Giacomo Bertani: Mein Schwager, mein Bruder, meine Schwester. Johannes Müller: Und sie wohnen in einem anderen Haus, kümmern sich aber um Ihren Garten und Ihr Haus? Giacomo Bertani: Ja und die haben die Schlüssel und so weiter… Annemarie Schulze: Sie haben jetzt Fotos von Ihrem Hof gezeigt und darüber erzählt, Herr Bertani, aber mich würde auch interessieren, wie das Haus innen aussieht bzw. wie es eingerichtet ist. Haben Sie noch Fotos, die das Innere des Hauses zeigen? Ach, Sie holen sie ja schon hervor! [lacht] Giacomo Bertani: [Zeigt weitere Fotos]. Das ist meine Küche dort in meinem Haus. Hier hinten ist eine Kochnische. Hier eine kleine Waschküche mit Waschmaschine und so weiter. Johannes Müller: Und das Haus haben Sie in der Zwischenzeit auch noch renoviert? Giacomo Bertani: Ist alles renoviert, alles neu gemacht. Da ist das Bad. Auch dort haben wir, und hier der Wohnbereich, der Eingang ist mit Säulen versehen, damals war alles leer. Hier die Küche und jetzt ist alles möbliert, Einbauschränke. Da ist der Eingang zum Keller, zum Weinkeller, also da geht man runter. Und es gibt Olivenbäume, eigene Olivenbäume, die sind riesig. Annemarie Schulze: Ihre Erzählungen, Herr Bertani, zeigen meines Erachtens eindeutig auf: Das Haus ist deshalb für Sie so wichtig, weil es Ihr persönliches Objekt ist, hier im Sinne eines persönlichen Ortes, d.h. Ihr geschätztes oder umhegtes und gepflegtes Besitztum, dem multiple Funktionen zukommen.20 In diesem Zusammenhang müssen die charakteristischen Eigenschaften persönlicher Objekte betont werden: „Sie haben nicht nur Bedeutung für die Person, zu der sie gehören, sondern auch für Andere.“21 Sie erfüllen Funktionen der Fremd- als auch der Selbstdarstellung.22 Ihre Erzählung, Herr Bertani, zeigt auch auf, dass Heimterritorien wie Häuser sowohl als Abschirmung dienen als auch selbstverständliche Vertrautheit herstellen, indem die eigenen vier Wände die Umwelt in ein Innen und ein Außen strukturieren, der Innenraum durch materielle Barrieren vor der Außenwelt abgeschirmt und deshalb als sicherer Raum erlebt wird.23 Zudem ist die Wohnung ein sehr vertrauter, sicherer Raum, innerhalb dessen man sich auf Handlungsroutinen verlassen kann, da der Raum allein von einem selbst oder gemeinsam mit anderen dort zusammen Wohnenden gestaltet wird. Es handelt sich bei dem Haus demnach um einen Ort exklusiver Verfügung.24 Des Weiteren darf der symbolische Wert des Hauses und seines Inhaltes nicht vernachlässigt werden. Symbolisch ver20 | Vgl. Habermas 1999, S. 9 ff. 21 | Habermas 1999, S. 13. 22 | Habermas 1999, S. 14 f. 23 |  Vgl. Habermas 1999, S. 117. 24 |  Vgl. Habermas 1999, S. 120 f.

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sammelt der Wohnende seine Vergangenheit um sich, ebenso kann er seine Aspirationen, seine Zukunftsentwürfe, seine Wünsche materialisieren, letztendlich die von ihm aspirierte, für die Selbstrepräsentation gewählte Identität.25 Zusammenfassend kann also Folgendes zu Häusern als persönliche Orte festgehalten werden: Sie erweisen sich als komplexe Gebilde mit vielfältigen Funktionen. Mit seinen physischen und sozialen Grenzen dient das Haus als ein persönlicher Ort dem Schutz vor dem Unbill der Natur und fremder Menschen. Es fungiert des Weiteren als Raum, den man exklusiv oder gemeinsam beherrscht, als ein Ort der Vertrautheit und Sicherheit, als Regenerationsraum, und zudem als Ort, der Stabilität und Kontinuität seiner Umwelt und der Kontinuität mit sich selbst sichert. Des Weiteren liefern persönliche Orte Informationen über ihren ständigen Nutzer und dieser kann sich der Orte und ihrer materiellen und anderweitigen Ressourcen bedienen, um sich gezielt selbst darzustellen.26 Entsprechend erhöht das Heimterritorium die Autonomie und den Handlungsfreiraum der Person.27 Johannes Müller: Also, Frau Schulze, wollen Sie damit sagen, dass es kein Zufall ist, dass dem Haus für Herrn Bertani so besondere Bedeutung zukommt? Annemarie Schulze: Ich glaube nicht an Zufälle, aber ich wollte damit nicht sagen, dass jeglichen Häusern diese Bedeutungen zukommen, sondern lediglich, dass sich Häuser für diese Funktionen als besonders geeignet erweisen. So möchte ich noch einmal hervorheben, dass die Bedeutungen persönlicher Objekte zwar an die kulturelle Bedeutung und physischen Eigenschaften des jeweiligen Dings anknüpfen. Sie sind jedoch darüber hinaus oft hochspezifisch in ihrer Bedeutung für die einzelne Person. Die Bedeutungen und Funktionen persönlicher Objekte, jedenfalls insoweit sie spezifisch persönlich sind, können somit nicht aufgrund der Art des gewählten Dings allein erschlossen werden.28 Diese Feststellung weist vielleicht wieder ein wenig in Ihre Richtung, Herr Martin… Des Weiteren variieren persönliche Objekte hinsichtlich ihrer Selbstverständlichkeit und des Ausmaßes, in dem man sich bewusst mit ihnen beschäftigt. Normalerweise wird man erst anlässlich einer Störung der Beziehung zu dem Objekt, der Möglichkeit seiner selbstverständlichen Verwendung oder Anwesenheit der Bedeutung der Objekte für das eigene Wohlbefinden gewahr.29 Diese Bemerkung führt mich zu einem weiteren Aspekt, den ich bisher völlig vernachlässigt habe: Die Bedeutung persönlicher Objekte in

25 |  26 |  27 |  28 |  29 | 

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Habermas Habermas Habermas Habermas Habermas

1999, 1999, 1999, 1999, 1999,

S. S. S. S. S.

122, 125. 129. 151. 444. 17.

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Übergangssituationen wie Umzügen, Verlust von wichtigen Bezugspersonen, Statusübergängen.30 Johannes Müller: Sie haben Recht, wir haben bislang den Kontext der Bedeutung völlig vernachlässigt. Indem es zudem nicht irgendein Haus ist, in das Sie sich, Herr Bertani, zurücksehnen, sondern Ihr Elternhaus, wird auch eine symbolische Komponente jenseits des Statussymbols deutlich. Herr Bertani, Sie wollen in das Haus zurück, in dem Sie aufgewachsen sind, in dem Ihre Eltern gelebt haben. Indem Sie in das Elternhaus zurückkehren möchten, obwohl Ihre Eltern bereits verstorben sind und Sie die Anteile Ihrer Geschwister ausbezahlen mussten, wird auf eine weitere potenzielle Eigenschaft von Häusern verwiesen: Sie werden nicht selten als beseelt wahrgenommen. Etwas scheint darin weiterleben zu können, auch nach dem Tod jener Personen, die darin zuvor gelebt haben. Es zeigt sich hier noch ein mystischer Aspekt, scheint mir! Gleichzeitig ist es auch das Haus, in das die Eltern all ihre Mühen gesteckt haben. Das Haus könnte für Sie, Herr Bertani, auch stellvertretend für Ihre verstorbenen Eltern von großer Bedeutung sein. Das Elternhaus erhalten zu wollen, könnte auch den Wunsch darstellen, den Eltern gegenüber etwas ‚gut zu machen‘. Mit der Rückkehr ins Elternhaus zeigen Sie, Herr Bertani, immerhin zweierlei: Der ‚verlorene Sohn‘ kehrt wieder in die Heimat zurück und weiterhin verdeutlicht der käufliche Erwerb Ihres Elternhauses anderen und Ihnen selbst, dass Sie ökonomisch etwas erreicht haben.31 Der symbolische Charakter des Elternhauses für Sie, Herr Bertani, ist für mich somit eindeutig. Giacomo Bertani: Ja nach Italien, als wir da runter gefahren sind und das Haus gezeigt haben, das wir gekauft haben und so. Meine Schwiegereltern hatten gesagt, also der Vater hat sich auf den Boden gekniet und hat Gott gedankt, dass wir das erreicht haben! Johannes Müller: Aha, im Dank Ihres Schwiegervaters zeigt sich ja der zuletzt von mir genannte Aspekt: Es ist vielleicht nicht eindeutig, ob es hier um Statusgewinn geht oder ob der Schwiegervater Gott dafür dankt, dass aufgrund des Hauses eine Form von materieller Absicherung für die Familie erworben wurde. Es spiegelt sich dennoch der ökonomische Erfolg Ihrer Migration und die Anerkennung dessen durch andere, hier der Schwiegereltern, wider. Der Kauf des Elternhauses ist quasi auch die Materialisierung Ihres Schaffens – ähnlich wie bei Ihren Eltern. Zugleich materialisiert sich darin Ihr Wunsch und der zu realisierende Plan, ‚zurückzukehren‘. Die Geschichte des Hauses und die Bedeutsamkeit der Eltern für Sie, Herr Bertani, werden aus meiner Sicht in dem symbolträchtigen Wort „Elternhaus“ virulent. In diesem wollen 30 |  Vgl. Habermas 1999, S. 20. 31 | Diese symbolische Bedeutung des Hauses, letztlich die Verbindung mit den Eigentümern über deren Tod hinaus, kommt oftmals auch darin zum Ausdruck, dass testamentarisch festgelegt wird, dass das Haus nicht an Fremde verkauft werden darf.

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Sie Ihre biografische Geschichte fortsetzen, die aufgrund der Migration nicht dort gelebt wurde. Ihr Rückkehrwunsch könnte auch als Bewältigungsform verstanden werden: Da Sie die für Sie schönste Ecke der Welt verlassen haben und den größten Teil Ihrer Biografie an einem anderen Ort verbrachten, erscheint der Rückkehrwunsch wie ein Traum, den Sie später verwirklichen möchten. Es fand lediglich eine biografische Verschiebung statt. Leider ist unsere Zeit um, obwohl wir sicherlich noch lange weiter diskutieren könnten. Ich danke Ihnen allen vielmals für Ihre aufschlussreichen und spannenden Beiträge, lieber Herr Bertani, lieber Herr Martin und liebe Frau Schulze. Die Diskussion war wirklich erhellend! Ich war zuvor im Zweifel, ob sich so unterschiedliche theoretische Perspektiven wie die von Akteur-Netzwerk-Theoretikern und derjenigen, die symbolische Bedeutungsdimensionen in den Vordergrund stellen, miteinander in Dialog bringen lassen. Während wir mit der Hilfe von Herrn Martin gelernt haben, wie die Materialität und die Immobilität von Häusern Praktiken anstoßen können, hat Frau Schulze uns die Bedeutsamkeit eines Einbezugs symbolischer Dimensionen gezeigt, die keineswegs auf die einzelne Person begrenzt bleiben muss, sondern sogar auf intergenerationale Verbindungen verweisen kann. Eine Verknüpfung beider Zugänge sehe ich in dem Moment, indem die Materialität des Hauses mit symbolischer Bedeutung aufgeladen wird, auf diese Weise noch an Bedeutung gewinnt und dadurch geradezu prädestiniert ist, spezifische Praktiken anzuregen – wie es bei Herrn Bertani das Elternhaus ,tut‘ [stellt symbolisch Anführungszeichen dar], so wie ich es heute aus dieser Runde gelernt habe. Nun bin ich sehr froh, dass es so gut funktioniert hat und wir durch die verschiedenen theoretischen Zugänge insgesamt eine Übersicht darüber erhalten haben, wie vielfältig und komplex die Bedeutungen von Häusern sein können.

F a zit

und

A usblick

für die

S oziale A rbeit

Die Expertendiskussion zeigt die Vielfalt an Bedeutungen auf, die Häuser erfüllen können und die je nach eingenommener Perspektive ins Zentrum der Betrachtung rücken. Neben ökonomischen Perspektiven, die das Haus in erster Linie als erworbenes Eigenheim und als materielle Absicherung im Alter betrachten, traten psychologische und meist subjektfundierte Argumentationen hervor, welche den symbolischen Charakter von Häusern betonten. So verdeutlicht z.B. Habermas, dass der Grund hierfür nicht nur in der Materialität der zumeist selbst eingerichteten und ausgewählten Räume liege, die identifikative Funktionen stiften könnten. Vielmehr sei auch in den Blick zu nehmen, dass wir im Alltag(swissen) zwischen öffentlichen und privaten Räumen unterscheiden, welche mit der Differenzierung von Innen und Außen einherge-

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hen: So beanspruchten in privaten Räumen auch andere soziale Regeln Geltung als dies in öffentlichen Räumen der Fall sei. Indem Privathäuser auch als Symbol zur Selbst- und Fremddarstellung eingesetzt und betrachtet werden können, trügen sie einen wesentlichen Teil zur sozialen Differenzierung auf verschiedenen Ebenen bei. Große oder kleinere Häuser oder Wohnungen, je nach Wohngebiet und umliegendem zum Privatgelände gehörenden Areal, könnten als Statussymbole fungieren und dienten entsprechend als distinguierende Zeichen, die Aufschluss über die Position von Akteurinnen und Akteuren innerhalb der Sozialstruktur geben könnten. Es ist offenbar, dass es sich hier um einen Aspekt handelt, der durch die Bourdieuschen Sozialstrukturanalysen und seine distinktionstheoretischen Annahmen geprägt ist. Eine andere Möglichkeit, sich der Bedeutung von Dingen, in diesem Fall Häusern, anzunähern, bietet die Akteur-Netzwerk-Perspektive von Latour. Diese gibt Aufschluss darüber, Objekte wie z.B. Häuser – ebenso wie menschliche Akteurinnen und Akteure – in ihrer Handlungsfähigkeit in den Blick zu nehmen. Damit wird Handlungspotenzial eben nicht nur Akteurinnen und Akteuren mit Bewusstsein zugeschrieben und wird damit außerhalb des Subjekts verortet. In dieser Perspektive, in der durch Praktiken geknüpfte Netzwerke zwischen nicht-menschlichen und menschlichen Akteuren untersucht werden, erscheinen Subjekte als historisch kontingente Entitäten. Aus solcherlei Einsichten kann die sozialpädagogische Forschung insbesondere in folgender Hinsicht profitieren: Zum einen bietet der Ansatz von Latour Anlass, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob eine Akteurszentrierung im Sinne menschlicher Akteurinnen und Akteure weiterhin als in der Regel unhinterfragtes a priori sozialpädagogischer Forschung Geltung beanspruchen sollte. Zum anderen werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie eine Akteurszentrierung unter Einbezugnahme der Bedeutung von Objekten erweiternd oder sie je nach Forschungsinteresse zugunsten einer (möglicherweise transnationalen) Netzwerkperspektive aufhebend, auch Materialitäten und die von ihnen ausgehenden Bedingungskonstellationen für mögliche Praktiken von Akteurinnen und Akteuren thematisiert werden können. Dabei ist die Polyvalenz von Objekten im Allgemeinen hervorzuheben, die in der erziehungswissenschaftlichen, insbesondere aber in der sozialpädagogischen Forschung, stärker in den Fokus geraten könnte. Im Anschluss an diese Überlegungen soll auf die Bedeutung von Häusern in ihrem materialen Charakter verwiesen werden. Häuser sind aufgrund ihrer Immobilität auch als in einer Lokalität, an einem spezifischen Ort und in einem Nationalstaat platziert zu betrachten. Ein Aufenthalt in ihren Räumen kann somit Heimatgefühle produzieren und reproduzieren (siehe das Kapitel „Man fühlt sich als wäre man noch in der Heimat“), insbesondere wenn es sich bei dem Haus um das Elternhaus wie im betrachteten Falle handelt. Die lokale Standortgebundenheit des Hauses ist zugleich als spezifische, durch

„Das war tende Haus“

menschliche Akteurinnen und Akteure unveränderbare Bedingungs- und Ausgangskonstellation zu sehen: Sie verunmöglicht bestimmte Praktiken – so ist es z.B. kaum möglich, ein Haus ‚mitzunehmen‘ –, regen aber auch spezifische Praktiken an – so z.B. Besuchs- und Instandhaltungsmaßnahmen. Des Weiteren verbindet das Haus im betrachteten Einzelfall in vielfacher Weise physisch an- und abwesende menschliche Akteurinnen und Akteure miteinander: Indem es Giacomo Bertani an seine physisch abwesenden, da verstorbenen Eltern erinnert, können über das Haus eine symbolische Verbindung zu nicht mehr lebenden, für ihn bedeutsamen Menschen konstituiert, Erinnerungen und damit verbundene Emotionen an diese aktualisiert werden. Da es aber gleichzeitig in Herrn Bertanis physischer Abwesenheit auch von seinen Geschwistern gepflegt und besucht wird, fungiert das Haus als Medium, über welches soziale Verbindungen zwischen den noch lebenden Geschwistern in Italien und Herrn Bertani in Deutschland hergestellt werden. Zudem wäre es vorstellbar, dass dies sich in weiteren verbindenden Praktiken intensiviert, wie etwa wenn Herr Bertani mit seinen Geschwistern am Telefon über den Zustand seines Gartens spricht oder sich von ihnen darüber informieren lässt. An dieser Stelle erweisen sich die Arbeiten von Ludger Pries (1997, 2010), in denen die Bedeutsamkeit einer Perspektive auf die transnationalen Verbindungen von Akteurinnen und Akteuren betont wird, als anschlussfähig. Da in die vorliegenden Ausführungen Aspekte der Fallstudie eines Migranten eingebunden wurden, lässt sich unter Bezugnahme auf migrierte Personen feststellen, dass das mögliche Eingebundensein in verschiedene nationalstaatliche Kontexte in den Blick zu nehmen ist. In einer solchen Perspektive kann beispielsweise auch untersucht werden, welche vergemeinschaftenden oder distinguierenden Dimensionen von der Tatsache des Erwerbs des Hauses in Italien als dem Herkunftsland und eben nicht im Ankunftsland Deutschland oder in einem weiteren Nationalstaat ausgehen. Heben sich Akteurinnen und Akteure durch einen Hauskauf in ihrem Herkunftsland von den im Herkunftsland lebenden bekannten Personen ab? Wie wird dort der Hauskauf erlebt? Diese beiden Fragen lassen sich gleichermaßen auf das soziale Umfeld in Deutschland, also im Ankunftsland des Akteurs, stellen. Zuletzt wäre zu untersuchen, ob sich für den Akteur ein transnationaler Raum durch das Haus aufspannt, in dem spezifische Aspekte beider Nationalstaaten miteinander eine neue Wissenskonfiguration des Akteurs hervorbringen. So könnte dieser beispielsweise das Haus in seiner Einrichtung oder die Materialität des Hauses nutzenden Praktiken (wie z.B. Praktiken des Kochens, in denen sich ein bestimmtes Wissen des Akteurs materialisiert) durch sein in Deutschland aspiriertes Wissen im Vergleich zu früheren im Haus stattfindenden Praktiken modifizieren und das Haus zu einem transnationalen Wissensraum werden lassen. Diese genannten Aspekte könnten Ausgangs- und Ansatzpunkt für weitere empirische Forschungen darstellen.

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L iter atur Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main. Dahinden, Janine/Lerch, Mathias (2007). „Remittances von Serben und Serbinnen: Eine transnationale Praktik mit Entwicklungspotential?“. In: (SRK) Schweizerisches Rotes Kreuz (Hg.): Migration – ein Beitrag zur Entwicklung? Zürich, S. 182-199. Habermas, Tilmann (1999): Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Frankfurt am Main. Isaacs, Susan (1935): Property and Possessiveness. In: British Journal of Medical Psychology 15, S. 69-78; auch in: Dies. (1948): Childhood and After. London, S. 36-46. Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main. Latour, Bruno (2010): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. 2. Auflage. Frankfurt am Main. Niederberger, Martin/Wichmann, Nicole (2004): Prävention irregulärer Migration. Forschungsbericht 34/2004. Studie im Auftrag von IOM Bern. Pries, Ludger (1997): Neue Migration im transnationalen Raum. In: Ders. (Hg.): Transnationale Migration. Soziale Welt. Sonderband 12. Baden-Baden. Pries, Ludger (2010): Transnationalisierung. Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung. Wiesbaden.

Kultur und soziale Praxis Marcus Andreas Vom neuen guten Leben Ethnographie eines Ökodorfes März 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2828-9

Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 März 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2364-2

Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Jugendbewegungen Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt Juli 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2130-3

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Kultur und soziale Praxis Martina Kleinert Weltumsegler Ethnographie eines mobilen Lebensstils zwischen Abenteuer, Ausstieg und Auswanderung Dezember 2014, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2882-1

Marion Schulze Hardcore & Gender Soziologische Einblicke in eine globale Subkultur Februar 2015, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2732-9

Nadja Thoma, Magdalena Knappik (Hg.) Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis Mai 2015, ca. 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2707-7

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