Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht: Ein Beitrag zur funktionsorientierten Auslegung des Grundsatzes »nemo tenetur seipsum accusare« [1 ed.] 9783428492978, 9783428092970

Durch den grundlegenden Beschluß des BGH zur Frage der Verwertbarkeit einer ohne Belehrung erfolgten Beschuldigtenverneh

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Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht: Ein Beitrag zur funktionsorientierten Auslegung des Grundsatzes »nemo tenetur seipsum accusare« [1 ed.]
 9783428492978, 9783428092970

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NIKOLAUS BOSCH

Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Sclunidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Harnburg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 110

Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht Ein Beitrag zur funktionsorientierten Auslegung des Grundsatzes "nemo tenetur seipsum accusare"

Von

Nikolaus Bosch

Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Joachim Herrmann, Augsburg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Bosch, Nikolaus: Aspekte des Nemo-tenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht : ein Beitrag zur funktionsorientierten Auslegung des Grundsatzes "nemo tenetur seipsum accusare" I von Nikolaus Bosch. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Strafrechtliche Abhandlungen ; N.F., Bd. 110) Zugl.: Augsburg, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09297-X

Alle Rechte vorbehalten

© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gerrnany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-09297-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069

Vorwort Die Arbeit wurde im Sommersemester 1997 von der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg als Dissertation angenommen. Rechtsprechungs- und Literaturnachweise sind fiir die Publikation noch teilweise aktualisiert worden. Mein besonderer Dank gilt meinem akademischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Joachim Herrmann. Er hat mich hervorragend betreut, stand mir fiir Diskussionen jederzeit zur Verfiigung, und sein Rat war mir eine unschätzbare Hilfe bei der Erstellung meiner Arbeit. Seine auch kritischen Anmerkungen in zahlreichen Gesprächen eröffneten mir neue Perspektiven und verstärkten mein wissenschaftliches Interesse. Sein mir entgegengebrachtes Vertrauen und seine große Hilfsbereitschaft - nicht nur bei der Lösung juristischer Fragen - gaben mir den notwendigen Rückhalt und bestärkten mich in meiner Arbeit. Dank schulde ich auch Herrn Professor Dr. Wilfried Bottke, der die Mühen des Zweitgutachtens auf sich genommen hat. Herrn Professor Dr. Eberhard Schmidhäuser und Herrn Professor Dr. Friedrich-Christian Schroeder bin ich fiir die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Strafrechtliche Abhandlungen" zu Dank verpflichtet. Schließlich danke ich meiner Frau Carmen fiir die Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskripts. Augsburg, im Oktober 1997

Nikolaus Bosch

Inhaltsverzeichnis Einleitung............................................................................................................. 17 I. Problemaufriß............................................................................................

19

II. Gang der Untersuchung.............................................................................

22

Teil I Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes und ihr Einfluß auf dessen Inhaltsbestimmung § 1 Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..

24

I. Art. 14 III lit. g IPBPR- ein allgemeines "privilege against selfincrimination"? ................ ........................................ .... ........... .. ........ .........

24

II. Art. 6 I S.1 MRK - eine Leitlinie filr die Auslegung des nemo teneturGrundsatzes? ........ ................................................ .. ......... .. .................... ...... 26 § 2 Möglichkeiten einer verfassungsrechtlichen Ableitung des nemo teneturGrundsatzes .. ...... ......... .. ...... ...................... ........ ............ ........... .... .. ...... .. ..... .. ... 27

I. Der nemo tenetur-Grundsatz - ein absolutes Prinzip und Teil des "Unverfilgbaren" im Strafverfahren? ........................................................... 31 1. Unzumutbarkeitserwägungen und Inhaltsbestimmung des nemo tenetur-Prinzips .. .. .. .......................... .... .... .... .. ...... ..... .. .. .. .. .... ...... .. .. ... .. ... 32 a) Der Unzumutbarkeitsgedanke als übergreifendes, regulatives Prinzip 32 b) Der Unzumutbarkeitsgedanke als Bestandteil des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes .................................................................................. 35 2. Absolute Schranken durch Menschenwürde- oder Kernbereichskonzeptionen .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. . .. .. ... .. ... .. .. . .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... .. ... ... .. .. .. ... .... .. .. .. .. 3 7 a) Menschenwürdeverletzender Charakter eines Mitwirkungszwangs im Strafverfahren................................................................................. 37 b) Aussage- und Mitwirkungsverweigerung im Strafverfahren - eine absolut geschützte Entscheidung des Gewissens?............................... 43 II. Konsequenzen einer Ableitung des nemo tenetur-Grundsatzes aus dem Recht auffreie Entfaltung der Persönlichkeit... ........................................... 46

8

Inhaltsverzeichnis I. Die allgemeine Handlungsfreiheit ............................................................ 46 2. Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ................................. 47 a) Der nemo tenetur-Grundsatz - ein durch das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung abgesichertes Informationsverfiigungsrecht? 49 aa) Schutzbereich des Rechts auf informationeHe Selbstbestimmung. 49 bb) Komplementärfunktion des Rechts auf informationeHe Selbstbestimmung........ ................................................................. .......... 52 cc) Verdeutlichung der Komplementärfunktion des Rechts auf informationeHe Selbstbestimmung am Beispiel des Asylverfahrens 55 II!. Kern- und Abwägungsbereich des nemo tenetur-Grundsatzes .. ..... ............. 60

IV. Einflüsse einer rechtsstaatsorientierten Betrachtung des nemo teneturGrundsatzes ................................................................................................. 69

1. Das nemo tenetur-Prinzip als Grundsatz eines rechtsstaatliehen Verfahrens ..................................................................................................... 69 2. Die rechtsstaatliehen Unterprinzipien und ihr Einfluß auf die Auslegung des nemo tenetur-Prinzips............................................................... 74 a) Fairneßgebot und Inhaltsbestimmung des nemo tenetur-Grundsatzes 74 b) Bedeutung des Gebots der Waffengleichheit fiir die Aussagefreiheit des Beschuldigten ................................................................................. 80 aa) Waffengleichheit und die Beweisbarkeit eines Verfahrensverstoßes bei Vernehmungen .. .. .. .. .. .... ... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. ... 80 bb) Waffengleichheit und Grundsatz der Offenheit staatlicher Ermittlungen bei Eingriffen in den Normbereich des nemo teneturGrundsatzes........ ........................................................................... 82 (I) Parität des Wissens als Ziel der Verwirklichung von Chan-

cengleichheit? ..... .. ... ..... .... ... .... .. ...... .... .. .. .. .. .... .. .. .. ... .. .. ..... ..... 82

(2) Beschränktes Gebot der Offenheit staatlicher Ermittlungen ... 84 (3) Beschränktes Gebot offener Ermittlungen und Täuschungsverbot des § 136a StPO ............ .... ... .. .. ..... .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. 88 c) Die Unschuldsvermutung .................................................................... 93 § 3 Bestimmung der Schutzrichtung des nemo tenetur-Grundsatzes aus der Entwicklungsgeschichte des Anklageprozesses ................................................. 96

Teil II Der Anspruchsinhalt des nemo tenetur-Grundsatzes bei funktioneller, am Schutzgegenstand orientierter Auslegung § 4 Prozeßzielorientierte Betrachtung der Funktion des nemo tenetur-Grundsatzes ................................................................................................................. 107

Inhaltsverzeichnis I. Nemo tenetur-Grundsatz und Wahrheitstindung im Prozeß ........................ 108 II. Der nemo tenetur-Grundsatz aus der Sicht kommunikationstheoretischer Modelle ....................................................................................................... 113

III. Nemo tenetur-Grundsatz und das Ziel des Strafverfahrens, Rechtsfrieden zu schaffen ................................................................................................... 115 § 5 Aufgabe des nemo tenetur-Grundsatzes- Sicherung der personalen Freiheit

der Willensentschließung .................................................................................. 121

Teil 111 Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes § 6 Informations- und Belehrungsvorschriften zur Sicherung einer eigenverantwortlichen Entscheidung................................................................................... 128

I. Die Fürsorgepflicht - eine unbrauchbare Grundlage fiir die Belehrung des Beschuldigten .............................................................................................. 130 II. Der Zweck der Belehrung: Formalisierung der Kommunikation in Vernehmungen .................................................................................................. 140

§ 7 Das Informationsrecht der§§ 1361 SI, 163a IV StPO ................................... 143 § 8 Strukturelle Defizite des Vernehmungsablauft und ihr Einfluß auf die Aussagefreiheil ..... ................. .................................................................. .............. . 148

I. Pflicht zur Angabe der Personalien und der persönlichen Verhältnisse ...... 148 II. Definitorische Unbestimmtheit des Beschuldigtenbegriffs .......................... 153 I. Materielle oder formelle Beschuldigtentheorie - ein Gegensatz? ............. 155 2. Gesetzesanalogie zu § 397 I AO .............................................................. 158 § 9 Einfluß des Vernehmungszwecks aufInhalt und Grenzen des nemo teneturPrinzips ............................................................................................................. 161

I. Zweck der Beschuldigtenvernehmung-Gewährung rechtlichen Gehörs .... 161 II. Aussagefreiheit und Täuschungsverbot des§ 136a StP0 ............................ 166 Ill. Vernehmungszweck und Recht des Beschuldigten auf einen geschlossenen Bericht ............................................................................................... 172 IV. Vernehmungszweck und Anwesenheitsrecht eines Verteidigers ................. 173 § 10 Fallgruppen des mittelbaren Aussagezwangs ................................................... l76

I. Überbewertung eines Geständnisses im Rahmen der Beweiswürdigung ..... 176 II. Aussagefreiheit des Beschuldigten und Einfilhrung polizeilicher Vernehmungsprotokolle in die Hauptverhandlung ................................................. 178 lll. Positive Äußerungsfreiheit des Angeklagten und mittelbare Sanktionierung des Aussageverhaltens .................................................................... l85

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10

Inhaltsverzeichnis I. Grenzen zulässiger Beeinflussung des Aussageverhaltens bei Lügen des Beschuldigten .................................................................................... 188 2. Sanktionierung des Prozeßverhaltens in Beweiswürdigung und Strafzumessung ................................................... ............................................ 195 a) Bewußt unwahre Angaben zur Sache und ihre Berücksichtigung bei der Beweiswürdigung .......................................................................... 195 b) Das Aussageverhalten des Beschuldigten und Strafzumessungserwägungen des Gerichts ........................................................................ 197 aa) Das Geständnis im Rahmen der Strafzumessung ........................... 197 bb) Strafschärfende Berücksichtigung qualifizierten Leugnens .......... 202

§ II Vernehmungsbegriff und Aussagefreiheit des Beschuldigten ...........................204

I. Formeller Vernehmungsbegriff ................................................................... 205

li. Materieller Vernehmungsbegriff ................................................................. 208 111. Verdeckte Vernehmungen des Beschuldigten .............................................210 IV. Vernehmung durch "private" Dritte ............................................................ 212 I. Zurechnungsgedanke und verdeckt handelnde Private ............................214 2. Konsequenzen des materiellen Vernehmungsbegriffs beim Einsatz von Leuten ...............................................................................................218 V. Vernehmungsbegriffund präventive Zielsetzung des Vernehmungsbeamten ....................................................................................................... 221 VI. Die "vernehmungsähnliche Situation" ........................................................224 I. U-Haft-Fälle .............................................................................................225 2. Die Lösung des Großen Senats zur Frage der rechtlichen Zulässigkeit verdeckter Vernehmungen des Beschuldigten mit Hilfe einer Hörfalle .. 233 a) Hörfallen und Fernmeldegeheimnis .....................................................234 aa) Einwilligungs- und Netzbereichslösung ........................................ 234 bb) Zurechnungsgedanke und Eingriffsbestimmung ........................... 236 b) Einführung einer Subsidiaritätsklausel durch den Großen Senat.. ...... 237

§ 12 Zeitpunkt der Belehrung ...................................................................................241 I. Befragungen im "Vorfeld" der verantwortlichen Beschuldigtenvernehmung .................................................................................................241

li. Das Vorgespräch ......................................................................................... 243 III. Zulässigkeit und verfahrensrechtliche Folgen einer informatorischen Befragung .................................................................................................... 246 I. Der Schutz des "verdächtigen" Zeugen durch § 55 StPO - Ein ausreichendes Korrektiv in der Phase der "Verdachtsklärung"? ................... 251 a) Umfang und Ausübung des Auskunftverweigerungsrechts .................252 b) Substantiierungspflicht des Zeugen bei Glaubhaftmachung ................ 254

Inhaltsverzeichnis

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c) Lücken im Schutz des "verdächtigen Zeugen" .................................... 255 d) Anerkennung eines selbständigen Beweisverwertungsverbotes ..........259 IV. Die Spontanäußerung .................................................................................. 269 § 13 Garantie der negativen Mitwirkungsfreiheit ..................................................... 277 I. Differenzierung nach der Handlungsqualität des erzwungenen Verhaltens 277

li. Vollstreckungsrechtliche Erklärungsansätze: Vis compulsiva als Kennzeichen unzulässigen Zwangs ..........................................................................280 1. Unzulässigkeit einer Beeinflussung der Willensbildung .......................... 280

2. Differenzierung nach dem Handlungserfolg: Unzulässigkeil eines Zugriffs auf das Wissen des Beschuldigten .................................................. 283 III. Die Stellung des Beschuldigten als Augenscheinobjekt im Rahmen von §§ 81 und 81a StPO ....................................................................................285 1. Die Pflicht zur Duldung der Beobachtung(§ 81 StP0) ...........................285

2. Die Pflicht zur Duldung körperlicher Untersuchungen(§ 81a StP0) ......286 3. Die Pflicht zur Duldung der Gegenüberstellung ...................................... 289 IV. Eigenverantwortliche Entscheidung zur Mitwirkung im Strafverfahren ..... 295

I. Belehrungspflicht im Rahmen der Mitwirkungsfreiheit ........................... 295 2. Beschränktes Gebot der Offenheit staatlicher Ermittlungen bei Mitwirkungsverweigerungsrecht des Beschuldigten ........................................... 298 3. Der nemo tenetur-Grunsatz als Schranke eigener Ermittlungstätigkeit des Sachverständigen ............................................................................... 309 a) Belehrungspflicht des Sachverständigen oder seines Auftraggebers? .............................................................................................. 310 b) Unverwertbarkeit von Zusatztatsachen ...........................................315 § 14 Verwertungsverbote zum Schutz der Aussage.freiheit ........................................3!8

I. Rügelast bei Verletzung der Belehrungspflicht... ........................................ 325

li. Festlegung der Grenzen des Beweisverwertungsverbotes anhand von Fallgruppen? ................................................................................................ 330

lll. Heilung durch qualifizierte Belehrung ........................................................ 336 IV. Die Widerspruchslösung - Heilung des Verfahrensfehlers durch Rügeverzicht ........................................................................................................ 342 V. Die Fernwirkung von Verwertungsverboten bei Verletzung des nemo tenetur-Grundsatzes ..................................................................................... 346

Schlußbemerkung ................................................................................................ 351 Literaturverzeichnis ............................................................................................355 Sachregister .. .............. .......................................................................................... 376

Abkürzungsverzeichnis a. A.

andere Ansicht

a. a. 0.

am angegebenen Ort

Abs.

Absatz

AcP

Archiv für civilistische Praxis

AE-ZVR

Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnamefreiheit

a. F.

alte Fassung

allg.

allgemein

Anm.

Anmerkung

AO

Abgabenordnung

AÖR

Archiv des öffentlichen Rechts

Art.

Artikel

BAK

Blutalkohol

BayObLG

Bayrisches Oberstes Landesgericht

BGH

Bundesgerichtshof

BGHSt

Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

BK

Bonner Kommentar

BRRG

Beamtenrechtsrahmengesetz

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidung des Bundesverfassungsgericht

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts

bzgl.

bezüglich

bzw.

beziehungsweise

DAR

Deutsches Autorecht

d. h.

das heißt

ders.

derselbe

dies.

dieselbe

Abkürzungsverzeichnis ebd.

ebenda

EGMR

Europäischer Gerichtshof fiir Menschenrechte

Ein!

Einleitung

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

EuGRZ

Europäische Grundrechte

f.

folgende Seite

ff.

fortfolgende

FG

Festgabe

FN

Fußnote

13

FS

Festschrift

GA

Goltdammer's Archiv fiir Strafrecht

GG

Grundgesetz

GS

Gedächtnisschrift

h.A.

herrschende Auffassung

h. L.

herrschende Lehre

h.M.

herrschende Meinung

lPBPR

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

i. S. d.

im Sinne des

i. S.

im Sinne von

V.

i.V.m.

in Verbindung mit

JA

Juristische Arbeitsblätter

JR

Juristische Rundschau

JURA

Juristische Ausbildung

JUS

Juristische Schulung

JZ

Juristenzeitung

LG

Landesgericht

Kap.

Kapitel

KG

Kammergericht

KJ

Kritische Justiz

KK

Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung

lit.

Buchstabe

LG

Landgericht

LK

Lehrkommentar

14

Abkürzungsverzeichnis

LR

Löwe-Rosenberg

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht

MRK

Menschenrechtskonvention

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

n. F.

neue Fassung

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr.

Nummer

NStZ

Neue Zeitschrift filr Strafrecht

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

OLG

Oberlandesgericht

OWiG

Ordnungswidrigkeitengesetz

RGSt

Reichsgericht Entscheidungen in Strafsachen

RiStBV

Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren

RN

Randnummer

Rspr.

Rechtsprechung

RStPO

Reichsstrafprozeßordnung

S.

Seite

SGB

Sozialgesetzbuch

SJZ

Schweizer Juristische Zeitung

SK

Systematischer Kommentar

sog.

sogenannt I e I r

StGB

Strafgesetzbuch

StPÄG

Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes aus dem Jahre 1965

StPO

Strafprozeßordnung

StV

Strafverteidiger

u. a.

unter anderem

umstr.

umstritten

u. U.

unter Umständen

V.

von/vom

VerwArch

Verwaltungsarchiv

vgl.

vergleiche

VVG

Versicherungsvertragsgesetz

Abkürzungsverzeichnis VwGO

15

Verwaltungsgerichtsordnung

VwVfG

Verwaltungsverfahrensgesetz

wistra

Zeitschrift fiir Wirtschaft Steuer Strafrecht

z. B.

zum Beispiel

Ziff.

Ziffer

zit.

zitiert

ZPO

Zivilprozeßordnung

ZStW

Zeitschrift fiir die gesamte Strafrechtswissenschaft

z. T.

zum Teil

Im übrigen wird auf Kirchner, Hildebert: Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4.Auflage, Berlin I New York, 1993 verwiesen.

Ihr wollt nicht tödten, ihr Richter und Opferer, bevor das Thier nicht genickt hat? Seht, der bleiche Verbrecher hat genickt: aus seinem Auge redet die große Verachtung. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra.

Einleitung Das dieser Arbeit vorangestellte Zitat verwundert auf den ersten Blick. Erinnert es doch bei flüchtiger Betrachtung eher an längst überwunden geglaubte Methoden des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens als an unser gegenwärtiges Verständnis der Verfahrensrolle des Beschuldigten. Anders als im Inquisitionsprozeß ist ein Geständnis des Angeklagten weder unabdingbare Voraussetzung einer Verurteilung 1, noch läßt es sich überhaupt mit der Stellung des Richters im reformierten Strafprozeß vereinbaren, daß dieser einseitig auf ein Geständnis des Angeklagten hinwirkt Während man noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus dem Recht und der Pflicht des Staates, Verbrechen zu bestrafen, auch das Recht folgerte, alle Beweismittel zur Erreichung dieses Zwecks zu verwenden2, wird seit den Zeiten des reformierten Strafprozesses und der RStPO die Stellung des Beschuldigten als ein mit eigenen Verteidigungsrechten ausgestattetes Verfahrenssubjekt betont. Es wird vom Angeklagten nicht mehr erwartet, als rechtloses "Opfer" vor die Richterbank zu treten, vielmehr kann dieser auch im Strafprozeß die Achtung seiner Grund- und Menschenrechte sowie die Einräumung effektiver Möglichkeiten der Einflußnahme auf die Urteilsfindung beanspruchen. Wesentlicher und tragender Bestandteil des im Zuge der Auseinandersetzung um die Neugestaltung des Strafverfahrens und die Einfiihrung des Akkusationsprozesses einhergehenden Wandels ist die Anerkennung des Grundsatzes "nemo tenetur se ipsum accusare"3 , gemeinhin umschrieben als die "Freiheit von Zwang" zur Aussage und zur Mitwirkung im Strafverfahren4 • Der Gesetzgeber 1 V gl. zu der damit verbundenen Q)Jalifizierung des Geständnisses als "regina probationum" u. a. Walder, Die Vernehmung, S. 39 ff. m. w. N. Zur gegenwärtigen Rechtslage, vgl. Jerouschek, ZStW 102 (1990), S. 798 f., m. w. N. 2 Rogall, Der Beschuldigte, S. 93, m. w. N. in FN 55. 3 Zu Herkunft, historischen Grundlagen und geschichtlicher Entwicklung des nemo tenetur-Grundsatzes ausfUhrlieh Rogall, Der Beschuldigte, S. 67 ff. V gl. auch unter § 3 und die Nachweise in FN 340 f. 4 Vgl. dazu nur BGHSt (Großer Senat) 42, 152; BVerfGE 38, 113; 56, 49; Rogall, Der Beschuldigte, S. 59 ff. m. w. N. Diese Umschreibung ist ungenau, da der Beschuldigte vielfach zur Mitwirkung im Strafverfahren - beispielsweise zur Anwesenheit in der

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Einleitung

ging so selbstverständlich von der Existenz dieses ,,nahezu naturrechtlichen"5 Grundsatzes der negativen Mitwirkungsfreiheit aus, daß er lediglich in den §§ 115 III 1, 128 I 2, 136 I 2, 163a III 2, 163a IV 1 und 243 IV 1 StPO den Strafverfolgungsbehörden und dem Gericht die Pflicht auferlegte, den Beschuldigten auf ein bereits vor Schaffung dieser Bestimmungen Gültigkeit beanspruchendes Prinzip hinzuweisen6 • Auch in der gegenwärtigen strafprozessualen Diskussion ist das Verbot, "den Beschuldigten zu zwingen, ein Beweismittel gegen sich selbst zu Iiefem"7, nahezu unangefochten8• Nach fast einhelliger Auffassung wird diesem Grundsatz Verfassungsrang zugesprochen9• Er wird als fundamentales rechtsstaatliches Prinzip unseres Strafverfahrens 10 angesehen, das aufgrund seines hohen Verfassungswertes untrennbarer und unverzichtbarer Bestandteil unserer Verfahrensethik 11 und selbstverständlicher Ausdruck einer rechtsstaatliehen Grundhaltung ist, die auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhe 2. Die Anerkennung des Beschuldigten als Verfahrenssubjekt erfordere nicht lediglich die Einräumung aktiver Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte, vielmehr müsse dem Beschuldigten als Kehrseite zu diesen auch das Recht gewährt werden, jegliche Mitwirkung an der eigenen Überfilhrung abzulehnen 13 • Hauptverhandlung - gezwungen wird. Sie müßte deshalb zumindest dahingehend ergänzt werden, daß unter den Begriff Mitwirkung nach h. A. nur eine aktive Beteiligung des Beschuldigten subsumiert wird. Auch andere Bezeichnungen des nemo teneturPrinzips, etwa als "Verbot der Selbstbezichtigung" (vgl. nur Roga/1, Der Beschuldigte, S. 18), sind ungenau und widersprüchlich, denn dem Beschuldigten ist es keinesfalls verboten, sich selbst durch ein Geständnis zu bezichtigen. Die Umschreibung als "Selbstbelastungsfreiheit" ist in dieser allgemeinen Form zu weit gefaßt, da der Beschuldigte lediglich partiell die Freiheit sich selbst zu bezichtigen besitzt. 5 So Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, S. 137. 6 BVerfG NJW 1975, 103; BVerfGE 56, 43; BGHSt I, 39 f. 7 So die häufig anzutreffende, allerdings ungenaue Umschreibung des nemo teneturGrundsatzes, vgl. nur BGH bei Dallinger MDR 72, 18; BGHSt 14, 364. 8 Im neueren Schrifttum wird allenfalls eine partielle Einschränkung des nemo tenetur-Grundsatzes diskutiert. So hält Fischer, Divergierende Selbstbelastungspflichten, die "aktive Dispositionsfreiheit" des Beschuldigten nicht filr unantastbar und plädiert fiir eine eingeschränkte Erzwingbarkeit der Selbstbelastung. Für den Bereich der Ordnungswidrigkeiten befilrwortet Stümpjler, DAR 73, S. 9, die Abschaffung des nemo tenetur-Prinzips; einen vergleichbaren Standpunkt vertritt Schöch, DAR 96, S. 49. 9 Zweifelnd am Verfassungsrang des nemo tenetur-Grundsatzes vor allem Peters, ZStW 91 (1979), S. 121 ff. Peters wendet sich gegen die Ableitung des nemo teneturGrundsatzes aus Art. 2 I, 1 I GG und qualifiziert dieses Prinzip nur als einfaches, durch Zumutbarkeits- und kriminalistische Erwägungen begründetes, strafprozessuales Beschuldigten- und Zeugenrecht Einer verfassungsrechtlichen Verankerung widersetzt sich auch Stümpjler, DAR 1973, S. 9. 10 Dinge/dey, NStZ 84, S. 529. 11 Roga/1, Der Beschuldigte, S. 169. 12 BVerfGE 38, 113; BGHSt 14, 364. 13 Vgl. nur Roga/1, Der Beschuldigte, S. 59.

Einleitung

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I. Problemaufriß Blickt man auf die höchstrichterliche Rechtsprechung, so drängt sich bei oberflächlicher Betrachtung der Eindruck eines breiten Konsenses über Anerkennung und Geltungsbereich des nemo tenetur-Grundsatzes auf. Der BGH hat in Abkehr von einer früher vertretenen 14 und äußerst umstrittenen Rechtsauffassung in mehreren Entscheidungen dazu Stellung genommen, inwieweit eine im Ermittlungsverfahren vom vernehmenden Polizeibeamten unterlassene oder zumindest mangelhafte Belehrung zu einem Verwertungsverbot der in diesem Stadium erfolgten Aussage filhrt 15 • Dabei hat der BGH langjähriger wissenschaftlicher Kritik folgend ein Verwertungsverbot auch bei polizeilicher Vernehmung bejaht, wenn vor der Vernehmung die gern. §§ 136 I S. 2 i. V. m. § 163 a IV S. 2 StPO erforderliche Belehrung unterblieben ist. Unter Betonung der besonderen Bedeutung des Schweigerechts und seines herausragenden Stellenwerts filr ein rechtsstaatliches und faires Verfahren ging der BGH sogar noch einen Schritt weiter und verneinte die Verwertbarkeit einer nach ordnungsgemäßer Belehrung erfolgten Einlassung selbst dann, wenn der Beschuldigte sie infolge seiner geistig-seelischen Verfassung nicht verstanden hat16• Bis auf die zweifelhafte und klärungsbedürftige Einschränkung, eine Verwertung sei dann möglich, wenn der Beschuldigte sein Recht zu schweigen auch ohne Belehrung gekannt oder als verteidigter Angeklagter nicht bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt widersprochen habe 17, fand die Kehrtwende des BGH breite Zustimmung 18 und wurde gar als "bedeutendste strafprozessuale Entscheidung des BGH" 19 gewürdigt. Der Schutz gegen ungewollte Selbstbezichtigung ist zudem nicht auf das Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren beschränkt. So ist filr den Bereich des Zivil- und Verwaltungsverfahrens im Grundsatz anerkannt, daß bei Gefahr der Offenbarung eigener strafbarer Handlungen filr den betroffenen Verfahrensbeteiligten keine unbeschränkte Wahrheits- oder Auskunftspflicht besteht. Beispielsweise kann im Zivilprozeß gern. § 384 Nr. 2 ZPO das Zeugnis bei Gefahr der Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfolgung verweigert werden, wobei die betroffene Prozeßpartei bei Aussageverweigerung allerdings das Risiko eiVgl. nur BGHSt 31, 395; 22, 170, 172; BGH GA 1962, 418. Für den Fall der unterbliebenen Belehrung bei polizeilicher Beschuldigtenvemehmung, vgl. BGHSt 38, 214 ff.; 263 ff. und BGH NJW 1993, 339. Zu § 55 StPO, vgl. BGHSt 38, 303 ff. 16 Zum Problemkreis der mißverstanden Beschuldigtenbelehrung, vgl. BGHSt 39, 349 ff. 17 Vgl. BGHSt 38, 225 f.; 38, 305. 18 Vgl. nur Bohlander, NStZ 92, S. 504 ff.; Fezer, JZ 92, S. 385 ff.; Kiehl, NJW 94, S. 1267 ff.; Ransiek StV 94, S. 343 ff.; Roxin, JZ 92, S. 923 ff. 19 Roxin, JZ 92, S. 923. 14

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ner fiir sie ungünstigen Tatsachenwürdigung zu tragen hat20. Vergleichbare Auskunftsverweigerungsrechte bestehen auch im Bereich der Gewährung von Sozialleistungen(§§ 65 III SGB I, 116 III BSHG), des Verwaltungsverfahrens (§§ 65 I VwVfG, 98 VwGO) oder der Abgabenordnung (§ 103 AO). Soweit ein Verfahrensgesetz aufgrund des spezifischen Verfahrensziels des von ihm geregelten Verfahrens ausnahmsweise eine unbeschränkte Auskunftspflicht vorsieht21, wird das entsprechende Gesetz entweder durch eine Geheimhaltungspflicht der verfahrensleitenden Behörde oder zumindest durch ein begrenztes strafrechtliches Verwertungsverbot ergänzt, wie es etwa § 393 AO fiir den Bereich des Steuerverfahrens vorsiehe2. Schließlich scheint seit dem Gemeinschuldnerbeschluß des BVerfG23 auch fiir den verbleibenden Bereich außerstrafrechtlicher Verfahrensgesetze, die den jeweiligen Verfahrensbeteiligten Auskunfts- bzw. Mitwirkungspflichten auferlegen, ohne ein der Regelung des § 55 StPO vergleichbares Auskunftsverweigerungsrecht oder ein an die Aussagepflicht anknüpfendes Verwertungsverbot zu normieren, Klarheit eingetreten zu sein. Um auch in diesen Fällen einen umfassenden Schutz vor Selbstbezichtigungszwang zu gewährleisten, leitet das BVerfG ein Verbot der Verwertbarkeit der geleisteten Aussage ohne Zustimmung des späteren Angeklagten aus dessen grundrechtlich geschützter Rechtsposition ab. Angesichts des dargestellten breiten Konsenses über die grundsätzliche Anerkennung des nemo tenetur-Grundsatzes liegt die Vermutung nahe, daß Funktion und Anwendungsbereich dieses Grundsatzes weitgehend geklärt sind und sich die wissenschaftliche Diskussion vorwiegend auf die Erörterung von Detailfragen beschränkt. Ganz in diesem Sinne hat Rogall in einer Besprechung einer Heidelberger Dissertation über den nemo tenetur-Grundsatz eine Übereinstimmung in den zentralen Fragen der Selbstbezichtigungsproblematik festgestellt und daraus geschlossen, daß "die Grundprobleme der Selbstbelastungsfreiheit im wesentlichen geklärt sind"24 . Angesichts der Zielrichtung der besprochenen Dissertation - zur Klärung der verfassungsrechtlichen Grundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes beizutragen - könne aber zumindest ein "gewisses Bedürfnis" fiir diese Arbeit anerkannt werden. Bei näherer Betrachtung muß jedoch bezweifelt werden, daß der nemo tenetur-Grundsatz tatsächlich die ihm zugeschriebene allgemeine Anerkennung ge20 Anders als im Strafprozeß regelt § 3 84 ZPO ein "Zeugnis"-Verweigerungsrecht auch fiir den Fall, daß die Beantwortung der Frage dem Zeugen oder einem Angehörigen zur Unehre gereichen könnte. 21 So etwa im Bundesstatistikgesetz, um eine möglichst umfassende Informationserhebung sicherzustellen, oder im Steuerverfahren im Interesse einer umfassenden Besteuerung auch rechtswidrig erlangter Einkünfte. 22 Dazu u. a. Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 221 ff. 23 Vgl. dazu und im folgenden BVerfGE 56, 37 ff. 24 Vgl. dazu und im folgenden Rogall, StV 96, S. 68.

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firnden hat und über seine Funktion weitgehend Einigkeit besteht. Es scheint vielmehr so, als habe die Grundsatzentscheidung des BGH zur Frage der Verwertbarkeit einer unter Belehrungsverstoß gewonnenen Beschuldigtenaussage erst den Blick filr die grundlegende Fragestellung eröffnet, warwn dem Beschuldigten die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang zugestanden wird. So hatte sich die Rechtsprechung in den letzten Jahren vermehrt mit verschiedenen Formen der Umgehung klassischer, "verantwortlicher" Beschuldigtenvernehmung durch die Strafverfolgungsbehörden zu befassen, etwa der heimlichen Befragung durch staatlich beauftragte Dritte oder durch Strafverfolgungsbeamte, die den Beschuldigten über den eigentlichen Zweck ihres Handeins im Unklaren ließen25 • Diese Entscheidungen geben Anlaß, die grundlegende Frage neu zu überdenken, welcher Grad an Eigenverantwortlichkeit und welches Wissen um die besonderen Umstände einer Situation beim Beschuldigten vorhanden sein muß, damit von einer eigenverantwortlichen Entscheidung zur Selbstbelastung gesprochen werden kann. Sich bei Lösung dieser Problematik auf eine zunächst sicherlich konsensfahigere, traditionelle Auslegung des nemo teneturGrundsatzes zurückzuziehen, kann angesichts der Verpflichtung, den Beteiligten effektive Handlungsmöglichkeiten einzuräumen, nicht befriedigen26 • Der im Rahmen dieser Aufgabenstellung aufgeworfene Problemkreis erfaßt aber nicht allein die, insbesondere in letzter Zeit zunehmend ins Blickfeld geratene, heimliche Informationsbeschaffung durch die Polizei. Auch im Bereich der offenen Beweiserhebung ist noch nicht mit überzeugender Klarheit dargelegt worden, inwieweit das Selbstbestimmungsrecht und die Willensentschließungsfreiheit des Beschuldigten gewahrt sein muß, damit eine von ihm erbrachte Mitwirkungshandlung verwertet werden kann. An den Motiven zur Reichsstrafprozeßordnung läßt sich aufzeigen, daß dieser Konflikt keineswegs neu ist, sondern bereits die Väter der Strafprozeßordnung beschäftigt hat. Das sich daraus zumindest filr den Bereich der Hauptverhandlung ergebende, sehr weit gefaßte Verständnis der Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten überrascht zunächst. Nach den Motiven sollte auch ,jeder mittelbare Zwang, welcher die Herbeiführung unfreiwilliger Eröffnungen bezweckt, ausgeschlossen" sein, so namentlich "die Vorlegung von Fragen, deren Tragweite und Zusammenhang mit den Belastungsbeweisen der Beschuldigte nicht übersieht"27• An einer konsequenten Umsetzung dieses Gedankens schien aber dem historischen Gesetzgeber nicht viel gelegen zu haben. So wurde beispielsweise von einer ausdrücklichen Regelung der Beschuldigtenbelehrung abgesehen, um den Beschuldigten Vgl. nur BGHSt 39, 335 ff.; 40, 211 ff.; 41, 42 ff.; 42, 139 ff. m. w. N. So aber erst jüngst Lorenz, GA 97, S. 68, der mittels einer "funktional historisch geleiteten Interpretation" nachweisen möchte, daß keine Verbindungslinie zwischen dem nemo· tenetur-Prinzip und heimlichen Informationseingriffen besteht und nie eine bestanden hat. 27 Hahn, Motive, 1. Abtheilung, S. 139. 25

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nicht unnötig zu verleiten, mit seiner Einlassung zurückhaltend zu sein28 • Die nachgeschobene Begründung, er könne bei Verweigerung der Aussage seiner eigenen Sache schaden, denn ein Richter werde häufig geneigt sein, auch ein rechtmäßiges Schweigen des Beschuldigten zu dessen Nachteil auszulegen, verdeutlicht nur eine auch heute noch zu beobachtende Einstellung. Dem Beschuldigten wird nicht mehr wie in dem eingangs erwähnten Ausspruch Zarathustras eine Pflicht zur Aussage auferlegt, aber er wird unter dem fragwürdigen Anspruch gerichtlicher Fürsorge zur Mitwirkung überredet und über deren Konsequenzen im unklaren gelassen. Nicht selten wird der Beschuldigte sogar überlistet oder bereits in einem frühen Stadium des Strafverfahrens derart auf eine bestimmte Einlassung festgelegt, daß auf seine Mitwirkung in der Hauptverhandlung ohne weiteres verzichtet werden kann29 • 11. Gang der Untersuchung

Die vorliegende Arbeit bemüht sich darum, die genannten Problemkreise zu verdeutlichen und dabei aufzuzeigen, daß die herkömmliche, auf Zumutbarkeitserwägungen basierende Interpretation des nemo tenetur-Grundsatzes neu überdacht werden muß30• Die vorwiegend materiellrechtliche Selbstbegünstigungsproblematik wird dabei ebenso wie die Problematik eines außerstrafprozessualen Zwangs zur Selbstbelastung lediglich am Rande erwähnt, denn sie basieren im wesentlichen auf anderen Erwägungen und können zur Klärung der Grenzen des nemo tenetur-Grundsatz bei strafprozessual veranlaßter Beweiserhebung durch die Polizei nur bedingt beitragen31 • Sicherlich werden sich auch mittels einer verfassungsrechtlichen Betrachtung des nemo tenetur-Grundsatzes gewisse Leitlinien fiir dessen Auslegung gewinnen lassen. Es wird sich aber zeigen, daß die Aussagekraft einer dadurch ermöglichten Standortbestimmung bei der Konkretisierung des ungeschriebenen strafprozessualen Grundsatzes im allgemeinen erheblich überschätzt wird. Damit soll nicht die Berechtigung einer Qualifizierung der Strafprozeßordnung als "Ausfilhrungsgesetz zum Grundgesetz32" oder des Strafverfahrensrechts als

Hahn, Motive, 1. Abtheilung, S. 139 f. Selbst in einer wahrlich "polizeifreundlichen" Vernehmungskunde von Gössweiner-Saiko, Vernehmungskunde, S. 75, wird festgestellt, daß, bedingt durch "inquisitorische Rudimente des Untertanenstaates" im kontinentalen Verfahren, die "Jagd nach dem Geständnis peinlich vorrangig geblieben ist". 30 Wobei sich natürlich auch andere Arbeiten finden lassen, die diese Auslegung in Frage gestellt haben, vgl. nur Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten. 3 1 Zu dieser Thematik liegt bereits eine sehr gründliche Arbeit von Schneider vor, vgl. ders. , Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips. 32 Sou. a. Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Band I, RN 99. 28

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"angewandtes Verfassungsreche 3" in Frage gestellt werden. Dennoch scheint es so, als habe sich ein Wandel dergestalt vollzogen, daß die Verfassung heute nicht mehr zur Kennzeichnung eines rechtsstaatlich gebotenen Minimalgehaltes des Strafverfahrensrechtes herangezogen wird, sondern eher dazu dient, das vertretbare Maximum an Individualrechten im Verfahren abzustecken. Prozessuale Grundentscheidungen wie die Gewährung des Schutzes vor unfreiwilliger Selbstbelastung im Prozeß, müssen jedoch häufig über den verfassungsrechtlich gebotenen Minimalkonsens hinausreichen, um sich in ein stimmiges, verfahrensrechtliches Gesamtkonzept einzufilgen. Den Schwerpunkt der Untersuchung bildet deshalb die Klärung der grundlegenden Weichenstellung, welche Aufgabe und Funktion dem nemo tenetur-Prinzip im Gefilge des Strafprozeßrechtssystems zugewiesen ist - und in diesem Punkt, scheint sich die Rechtsprechung und herrschende Strafprozeßrechtsdoktrin tatsächlich an einem "Scheideweg" zu befmden34 • Der dritte Teil der Untersuchung ist schließlich den rechtlichen und praktischen Konsequenzen des sich bei funktioneller Betrachtung ergebenden Schutzgegenstandes des nemo tenetur-Grundsatzes gewidmet. Als Folge dieser veränderten Blickrichtung- nicht Konkretsierung des Grundsatzes aus der Verfassung, sondern aus dessen praktischer Notwendigkeit im Strafverfahren werden viele vermeintlich geklärte Fragen neu überdacht werden müssen.

33 Vgl. etwa BVerfGE 34, 238; 80, 367; BGHSt 19, 325. Vgl. auch die Nachweise bei Paeffgen, Vorüberlegungen, S. I in FN 1; Peters, Strafprozeß, § 4 I 4.), S. 28 f. 34 So Roxin, NStZ 95, S. 465.

Teil I

Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes und ihr Einfluß auf dessen Inhaltsbestimmung § 1 Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte I. Art. 14 III lit. g IPBPR- ein allgemeines "privilege against self-incrimination"? Bei der Analyse der verfassungs- und einfachrechtlichen Vorgaben fiir Tragweite und Anwendungsbereich des nerno tenetur-Prinzips können die völkerrechtlichen Regelungen der MRK und des Art. 14 IPBPR weitgehend vernachlässigt werden. In Art. 14 III lit. g IPBPR hat das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung zwar eine dem 5. Verfassungszusatz der US-Bundesverfassung vergleichbare, ausdrückliche Regelung erfahren 1• Bereits der Wortlaut der Regelung ist aber so mißglückt, daß unklar bleibt, ob diese Konventionsbestimmung fiir alle einer Auskunftspflicht unterworfenen Personen Geltung beansprucht und ob sie auch außerhalb des Strafverfahrens Anwendung fmder. Es muß nicht nur wegen des entgegenstehenden Wortlautes bezweifelt werden, daß sich ihr tatsächlich ein allgerneines "privilege against self-incrirnination" entnehmen läßt, durch das der gesamte innerstaatlich maßgebende Inhalt des Prin-

1 Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966 ist von der Bundesrepublik mit Gesetz vom 15. II. 1973 ratifiziert worden und mit Einschränkungen am 23 . 3. 1976 in Kraft getreten. Die fur die Bundesrepublik verbindliche, englische Fassung von Art. 14 III lit. g lautet: "In the determination of any criminal charge against him, everyone shall be entitled to the following minimum guarantees, in full equality: ( ...) not to be compelled to testify against hirnself or to confess guilt". Selbstverständlich werden durch eine vergleichbare, u. a. von Roga/l, Der Beschuldigte, S. 258, vorgeschlagene, grundgesetzliche Kodifizierung des nemo tenetur-Grundsatzes die meisten Auslegungsschwierigkeiten hinsichtlich Umfang und Inhalt des Grundsatzes nicht beseitigt. 2 Für eine weite Auslegung Roga/l, Der Beschuldigte, S. 116 ff. und SK, vor § 133 StPO, RN 131m. w. N.; zweifelnd LR-Gollwitzer, Art. 6 MRK, RN 252. Nach Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 14 IPBPR, RN 59 bezieht sich Art. 14 IPBPR nur auf den Angeklagten und nicht auf Zeugen. Vgl. auch Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 143.

§ I Die Europäische Menschenrechtskonvention und der IPBPR

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zips auch völkerrechtlich abgesichert ise. Bei der nach Art. 31 WVK gebotenen Auslegung nach Wortlaut, Ziel und Zweck der Vorschrift4 ist der Hinweis darauf wenig hilfreich, daß als Vorbild fiir Art. 14 III lit. g IPBPR das V. amendment der Bundesverfassung der USA gedient hat, dessen Anwendungsbereich sich nicht auf das Strafverfahren beschränkt, sondern alle staatlichen Verfahren erfaßt5. Die Entstehungsgeschichte kann in Einzeltallen geeignet sein, den Zweck einer Bestimmung zu verdeutlichen. Als zusätzliches Auslegungsmittel wird sie nach Art. 32 WVK jedoch nur dann herangezogen, wenn die Auslegung nach Wortlaut, Ziel und Zweck zu keinem eindeutigen oder einem unvernünftigen Ergebnis filhren würde6 . Absoluten Vorrang besitztjedoch eine teleologische, am gemeinsamen übernationalen Ziel und der Rechtsauffassung aller Vertragsstaaten orientierte Auslegung, die den garantierten Menschenrechten unter Beachtung der jeweiligen Verhältnisse die größtmögliche Wirksamkeit sicherstellt7. Die immanenten Grenzen der Garantien sind deshalb fließend, eine äußere Begrenzung bildet jedoch der erreichte gemeinsame demokratische Rechtsstandard. Jede nur aus der Sicht einer einzelnen Rechtsordnung erfolgende Auslegung wird der Tatsache nicht gerecht, daß es sich bei dem internationalen Pakt um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, an dem Staaten mit völlig unterschiedlichen Rechtsordnungen beteiligt sind. Unter Berücksichtigung der Vielzahl unterschiedlicher innerstaatlicher Auskunftspflichten wird sich jedoch kaum ein allgemein anerkannter und damit fiir alle Staaten verbindlicher Maßstab fmden lassen. Art. 14 IPBPR überläßt es auch dem nationalen Recht, welche Folgen mit der Verletzung des Verbots erzwungener Selbstbelastung verbunden werden. So enthält er weder verbindliche Vorgaben filr die Frage, ob unter Verstoß gegen Art. 14 IPBPR erlangte Angaben verwertbar sind und ein mögliches Verwertungsverbot Fernwirkung besitzt, noch darüber, ob bei Aussagezwang außerhalb des Strafverfahrens ein Offenba-

3 So aber Rogal/, Der Beschuldigte, S. 118 und SK, vor § 133, RN 131; ohne Begründung Dingeldey, JA 84, S. 409. Deshalb kann hier auch offenbleiben, ob die Rechte des Paktes bereits aUgemeine Regeln des Völkerrechts sind und damit nach Art. 25 GG Übergesetzesrang besitzen, vgl. dazu die Nachweise bei LR-Gollwitzer, Ein!. MRK, RN 19. 4 Zur Anwendbarkeit der Wiener Vertragsrechtskonvention auf den Pakt, vgl. Nowak, CCPR-Kommentar, Einführung, RN 17. 5 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte, S. 118; Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 142, 205 ff. Zum Einfluß der amerikanischen Tradition auf Art. 14 IPBPR, vgl. Nowak, CCPRKommentar, RN I m. w. N. 6 Zu der umstr. Frage, inwieweit die Entstehungsgeschichte bei der Auslegung des IPBPR überhaupt eine eigenständige Bedeutung besitzt, vgl. Nowak, CCPRKommentar, Einführung, RN 19 und LR-Gollwitzer, Ein!. IPBPR, RN 32m. w. N. 7 Vgl. Guradze, Internationaler Kommentar zur EMRK, Ein!., § II li 1.); LRGollwitzer, Ein!. zur MRK und zum IPBPR, RN 34 ff. m. w. N.

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Teil 1: Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes

rungsverbot filr diese geregelt werden muß8 . Schließlich ist ein nicht auf Aussagen gerichteter Zwang zur Selbstbelastung - etwa der Zwang zur eigenhändigen Herausgabe von Beweismaterial - von der Regelung des Paktes generell nicht erfaßt, obwohl im deutschen Recht anerkannt ist, daß auch diese Form des Zwangs dem nemo tenetur-Grundsatz widerspricht. Trotz der gebotenen zwekkorientierten Auslegung, die den garantierten Menschenrechten eine größtmögliche Wirksamkeit sichern soll9 , bleibt der durch Art. 14 III lit. g IPBPR garantierte Schutz vor unfreiwilliger Selbstbelastung damit deutlich hinter dem in Deutschland innerstaatlich gewährleisteten Rechtsumfang zurück und kann nur als Argument filr den Minimalgehalt, nicht jedoch zur Bestimmung der Grenzen des nemo tenetur-Grundsatzes angefilhrt werden. Der Wortlaut von Art. 14 III lit. g IPBPR läßt sich deshalb auch nicht, wie z. T. behauptet wird 10, als Rechtfertigung filr eine Begrenzung des nemo tenetur-Grundsatzes auf die Anwendung von Zwang anfllhren.

II. Art. 6 I S. 1 MRK - eine Leitlinie für die Auslegung des nemo tenetur-Grundsatzes? Ähnliches hat auch filr die Herleitung des nemo tenetur-Prinzips aus Art. 6 I S. l MRK zu gelten 11 . Inzwischen dürfte es der weitaus überwiegenden Auffassung entsprechen, daß das Verbot des Selbstbelastungszwangs als selbstverständlicher Grundsatz eines rechtsstaatlichen, fairen Verfahrens auch durch die

8 Vgl. LR-Go/lwitzer, Art. 14 IPBPR. Den allgemeinen Anmerkungen des Ausschusses gemäß Art. 40 IV des Paktes läßt sich lediglich die Aufforderung des Ausschusses entnehmen, entsprechende Beweisverbote gesetzlich zu verankern. Welchen Weg die Vertragsstaaten dabei wählen, bleibt ihnen, ebenso wie die Frage einer Verankerung der nach unserem Rechtsstaatsverständnis unerläßlichen Belehrungspflichten, selbst überlassen (vgl. den bei Nowak, CCPR-Komrnentar, AnhangS. 888 abgedruckten Text des AB 13/21, § 14: "The law should require that evidence provided by means of such methods or any other form of compulsion is wholly unacceptable.") A. A. aber Wolter, NStZ 93, S. 3, der gerade zur Belehrungspflicht und zum Schweigerecht des Beschuldigten feststellt, diese strafprozessualen Fragen ließen sich nicht ohne Rückgriff auf die EMRK oder den IPBPR endgültig beantworten. Die von ihm zitierten Entscheidungen des BVerfG belegen diesen Einfluß jedoch nicht. 9 Nowak, CCPR-Komrnentar, Einfilhrung, RN 20 ff. 10 So aber Puppe, GA 78, S. 299; ähnlich auch der Große Senat im HörfallenBeschluß, vgl. BGHSt 42, 152 ("Kemaussage des Prinzips, die so auch in Art. 14 III fit. g IPBPR formuliert ist"). Nowak, CCPR-Komrnentar, Art. 14 IPBPR, RN 4 sieht die Hauptbedeutung der Verfahrensgarantien des Art. 14 IPBPR in der Möglichkeit einer schrittweisen Anpassung der unterschiedlichen Rechtsordnungen an ein gemeinsames Minimum der "rufe oflaw" im Zivil- und Strafprozeß. 11 Nach weitaus überwiegender Auffassung besitzt die MRK einfachen Gesetzesrang, vgl. dazu Uerpmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 73 ff. m. umfangreichen N.

§ 2 Verfassungsrechtliche Ableitung des nemo tenetur-Grundsatzes

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MRK verbürgt wird 12 • Nach h. M. garantiert das in Art. 6 I MRK genannte Prinzip des "fair hearing" aber nur einen Mindeststandard an Rechten, der nach wohl allgemeiner Auffassung durch die Regelung der Strafprozeßordnung gewährleistet ist 13 • Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof fUr Menschenrechte zur Auslegung von Art. 6 I MRK festgestellt, daß weder diese Bestimmung noch andere Vorschriften der Konvention verlangen, daß bestimmte, nach nationalem Recht rechtswidrig erlangte Beweismittel nicht zugelassen werden. Es sei statt dessen lediglich zu prüfen, ob das Strafverfahren gegen den Betroffenen insgesamt fair gewesen ise 4 • Welchen Einfluß die MRK im Einzelfall tatsächlich auf Gesetzgeber und Rechtsprechung gehabt hat, kann hier nicht aufgezeigt werden 15 • Im Ergebnis wird sich dieser jedoch auf eine gewisse Signalwirkung beschränken, denn die mit Hilfe der MRK begründeten Ergebnisse lassen sich ebenso unmittelbar aus dem Grundgesetz, explizit dem Rechtsstaatsprinzip und dessen innerstaatlicher Konkretisierung durch das Fairneßgebot ableiten.

§ 2 Möglichkeiten einer verfassungsrechtlichen Ableitung des nemo tenetur-Grundsatzes Bei dem Versuch, Anwendungsbereich und Schutzrichtung des nemo tenetur-Grundsatzes näher zu bestimmen, könnte es hilfreich sein, die Möglichkeiten einer verfassungsrechtlichen Ableitung dieses Prozeßgrundsatzes eingehen12 Vgl. LR-Gollwitzer, Art. 14 IPBPR. RN 248m. w. N., SK-Rogal/, vor§ 133, RN 31. So nunmehr auch EGMR im Fall Funke v. Frankreich vom 25. Februar 1993, wobei der EGMR offengelassen hat, ob auch Art. 6 li MRK gegebenenfalls verletzt sein kann. Zur Ableitung aus Art. 6 li MRK vgl. unten I. Teil, § 2 III I c). 13 Vgl. Kleinknecht I Meyer-Goßner, Art. 6 MRK, RN 5. Bei einem Vergleich der Grundrechte des Grundgesetzes mit dem Katalog der Konvention durch den Ausschuß für das Besatzungsstatut und auswärtige Angelegenheiten wurde auch festgestellt, daß erstgenannte in den meisten Fällen weiter reichen als die Mindestanforderungen der MRK (vgl. BT-Drucksache 1/1338, S. 5). Dabei soll nicht verkannt werden, daß sich die meisten Entscheidungen, die sich auf die MRK beziehen, zu Art. 5 und Art. 6 MRK ergangen sind (vgl. dazu Uerpmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 26 m. umfangreichen N. zur Rspr.) Ein konkreter Einfluß auf die Auslegung des nemo tenetur-Grundsatzes läßt sich dabei jedoch nicht nachweisen. Vgl. auch die Untersuchung von Stenger, Gegebener und gebotener Einfluß der europäischen Menschenrechtskonvention, die letztlich zu dem Ergebnis gelangt, daß die MRK im Strafverfahrensrecht keine bedeutende Rolle gespielt hat (S. 399) und kaum ergebnisrelevant geworden ist (speziell zum "fair hearing", S. 155 ff.). 14 Vgl. EuGRZ 88, 394 f. 15 Vgl. dazu u. a. Kühl, ZStW 100 (1988), S. 601 ff. m. w. N. insbesondere zum StPÄG von 1964 (a. a. 0 . S. 610 ff.). Er filhrt bei seiner Untersuchung explizit das Schweigerecht des Beschuldigten an, filr dessen Ausgestaltung im deutschen Strafverfahren Art. 6 I MRK ohne Einfluß geblieben ist.

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Teil 1: Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes

der zu betrachten. Die sich aus einer Verfassungsrechtsnonn ergebende Rechtsnatur legt möglicherweise viele Abgrenzungs- und Auslegungsfragen bereits vorab fest. Ob damit zugleich die Reichweite und Ausfonnung des nemo tenetur-Grundsatzes in konkreten EinzelflUlen detenniniert ist, erscheint zwar zweifelhaft 16, dennoch lassen sich vielleicht aus der Verfassung Leitlinien fiir die Auslegung des Grundsatzes gewinnen. Zumindest können durch eine Erörterung der verfassungsrechtlichen Begründungsmodelle des nemo teneturGrundsatzes Wertungsvorgänge offengelegt werden, die fiir die Inhaltsbestimmung des nemo tenetur-Prinzips mitverantwortlich sind. In der Diskussion der verfassungsrechtlichen Grundlagen des nemo teneturGrundsatzes haben sich im wesentlichen zwei konträre Standpunkte herausgebildee7: Die eine Position ist dadurch gekennzeichnet, daß das nemo teneturPrinzip unter Betonung seines justizgrundrechtsähnlichen Charakters unmittelbar im Rechtsstaatsprinzip verankert oder mittelbar auf dieses Prinzip zurückgegriffen wird, indem dessen rechtsstaatliche Unterprinzipien, und hier insbesondere das Recht auf ein faires Verfahren, als verfassungsrechtlicher Standort des Grundsatzes herangezogen werden 18 • Die Gegenposition bedient sich statt dessen menschenwürderechtsorientierter Konzepte und beruft sich dabei entweder unmittelbar auf Art. 1 I GG oder auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das bei Verletzung des nemo tenetur-Grundsatzes regelmäßig in seinem Kernbereich betroffen sein soll 19 • Wenn im folgenden diese beiden Grundhaltungen 16 So aber die fragliche Prämisse vieler Arbeiten, die sich eingehender mit der Reichweite des nemo tenetur-Grundsatzes befassen, vgl. nur Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. l. 17 Früher wurde auch die Freiheit der Person (Art. 2 II GG, so Wesse/s, JUS 66, 171), Art. 103 I, 104 III S. l (so Castringius, Schweigen und Leugnen, S. 21 und Bauer, Die Aussage, S. 51) oder Art. 4 I GG (Vgl. dazu BK-Zippelius, Art. 4, RN 40 und die Nachweise in FN 84 zumindest ergänzend als Rechtsgrundlage herangezogen. 18 Gegen eine persönlichkeitsrechtliche Betrachtung und für eine am Rechtsstaatsprinziporientierte Auslegung Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 68 ff. (71 f.); Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 155 ff. (157); Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip, S. 38 ff. (42). Vgl. im übrigen die Nachweise bei Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. II in FN 16. Daß das nemo tenetur-Prinzip seine Grundlage im fair trial-Grundsatz hat, wird im Schrifttum u. a. vertreten von Bringewat, JZ 81, S. 294 (der daraus, ohne dies näher zu erläutern, folgert, der nemo tenetur-Grundsatz habe die Funktion einer Prozeßmaxime); Günther, GA 78, S. 199; Grünwa/d, JZ 68, 752; MüllerDietz, ZStW 93 (1981), S. 1207 f.; Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 7; Rieß, JA 80, S. 295; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 15, RN 24, der jedoch an anderer Stelle (ders., Die Rechtsprechung des BGH zum Strafverfahrensrecht, S. 92) einen Rückgriff auf das Faimeßprinzip filr entbehrlich hält; Tettinger, Faimeß und Waffengleichheit, S. 67; Stern, Staatsrecht III I 2, S. 1208. 19 Wobei entweder eine Zuordnung zu den herkömmlichen Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts - etwa des Ehrschutzes - oder des Rechts auf informationeile Selbstbestimmung - erfolgt oder der nemo tenetur-Grundsatz als ein "neues" aus Art. 2 GG abgeleitetes Freiheitsrecht bezeichnet wird (so Roga/1, Der Beschuldigte, S. 139. Vgl. auch Bauer, Die Aussage, S. 61; Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, S. 145;

§ 2 Verfassungsrechtliche Ableitung des nemo tenetur-Grundsatzes

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näher betrachtet werden sollen, so geschieht dies weniger mit dem Anspruch, eine umfassende verfassungsrechtliche Analyse des Grundsatzes leisten zu können, vielmehr vorrangig unter einem filr die vorliegende Arbeit wesentlich erscheinenden Gesichtspunkt: Es soll aufgezeigt werden, welche Funktionszuweisung mit den unterschiedlichen, zur Verfassungsrechtsnatur des nemo teneturGrundsatzes vertretenen Standpunkten verbunden ist und ob es letztlich nicht so ist, daß sich seine prozessuale Funktion erst im Zusammenspiel der verschiedenen Verfassungsrechtsbestimmungen voll erfassen läßt. Wird er beispielsweise als ein im absoluten Kernbereich von Art. 1 I, 2 I GG wurzelndes Persönlichkeitsrecht verstanden20, so ist nach herkömmlicher Grundrechtsinterpretation eine Güterahwägung unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgeschlossen und die durch den nemo tenetur-Grundsatz gewährleisteten Verhaltensweisen sind absolut geschützt. Trotz des Grundsatzes "in dubio pro libertate" hat aber unter Umständen eine Deutung des nemo tenetur-Grundsatzes als ein mit einem hohen Menschenwürdegehalt ausgestattetes, spezielles Freiheitsgrundrecht de facto eine einengende Auslegung des Grundsatzes zur Folge21 , denn absoluter Schutz und zugleich extensive Interpretation werden wegen ihrer schwerwiegenden Beeinträchtigung des staatlichen Strafverfolgungsanspruchs nur selten auf Zustimmung stoßen. So muß im folgenden insbesondere darauf eingegangen werden, inwieweit dieses strafprozessuale Prinzip tatsächlich Ausdruck eines verfassungsrechtlich vorgegebenen, unantastbaren Bereichs menschlicher Freiheit ist, der einer Einwirkung durch die öffentliche Gewalt KK-Pfeiffer, Ein!., RN 29 f; Nicki, Das Schweigen des Beschuldigten, S. 33; Schorn, Der Schutz der Menschenwürde, S. 72 f.; Rüping, JR 74, 136; Schlüchter, Strafprozeßrecht, S. 47; Seebade, MDR 70, S. 185; BGHSt I, 40; 14, 364; ablehnend u. a. Kühne, Strafprozessuale Beweisverbote, S. 131. ). 20 So etwa Roga/l, Der Beschuldigte, S. 147. 21 Dies natürlich auch dann, wenn der nemo tenetur-Grundsatz über Art. 79 III ("Ewigkeitsklausel") i. V. m. Art. 20 und Art. I GG in seiner grundsätzlichen Anerkennung unveränderbar sein soll, so etwa Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 156 f. und Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 72: "Der nemo tenetur-Gedanke (... ) (gehört) ( ... ) zum Kerngehalt ( ...) strafrechtlichen Prozedierens. Ihnen folgt Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip, S. 41. Insofern nicht überzeugend ders., a. a. 0., S. 49. Zum Dilemma, entweder den Normbefehl des Art. I I GG ernst zu nehmen und damit auf dessen praktische Relevanz zu verzichten, oder die Menschenwürdegarantie zur "kleinen Münze" verkommen zu lassen, auch Höfling, JUS 95, S. 859. Verrel, NStZ 97, S. 364, meint hingegen, daß gerade die Bemühungen um die (hohe) verfassungsrechtliche Verankerung des nemo tenetur-Grundsatzes, explizit die Ausstrahlungswirkung der Menschenwürdegarantie, fiir die im Schrifttum teilweise zu beobachtende Ausdehnung des Anwendungsbereichs dieses Prinzips verantwortlich sind. Er verkennt dabei aber die Argumentationsmuster menschenwürdeorientierter Konzeptionen des nemo teneturGrundsatzes (vgl. dazu unten Teil I, § 2 III bei FN 203). Zudem widerspricht er sich letztlich selbst, wenn er in den folgenden Ausfiihrungen eine einengende Auslegung des Grundsatzes im Rahmen der Mitwirkungsfreiheit deshalb befiirwortet, weil Mitwirkungsakte im Strafverfahren häufig keinen, mit einem Aussagezwang vergleichbaren Eingriff "in den Persönlichkeitskernbereich des Beschuldigten" beinhalten.

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Teil 1: Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes

vollständig entzogen sein muß22, und ob dieses Postulat eines absoluten, "unverfilgbaren"23 strafprozessualen Grundprinzips nicht kontraproduktive Wirkung im Hinblick auf einen möglichst effektiven Schutz des Beschuldigten hat. Wird das nemo tenetur-Prinzip in seinem Schwerpunkt hingegen als ungeschriebenes rechtsstaatliches Teilprinzip24 oder als Bestandteil eines fairen Verfahrens angesehen25, so wird dessen objektiv-rechtlicher Prinzipiencharakter betont und der Schwerpunkt der Betrachtung mehr auf das verfahrensrechtliche Verhältnis Bürger - Staat und damit den justizgrundrechtsähnlichen Charakter des Grundsatzes gelenkt26 . Trotz der Möglichkeit, Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip als rechtsstaatswidrige Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend zu machen27, wird durch eine Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip die Funktion eines subjektiv öffentlichen Abwehrrechtes tendenziell zurückgedrängt. Bei der Erörterung der verfassungsrechtlichen Grundlagen des nemo teneturGrundsatzes sollte allerdings nicht aus den Augen verloren werden, daß, obwohl heute Einigkeit über seine grundgesetzliche Verankerung besteht, keine ausdrückliche Statuierung dieses Prinzips im Grundgesetz vorhanden ist. Damit ist Raum ftir Methodenansätze geschaffen, die nicht ausgehend von einem klar bestimmten verfassungsrechtlichen Prinzip auf mögliche Anwendungsfälle und einschränkende Normen schließen, sondern umgekehrt das Prinzip aus der einfachgesetzlichen Ausgestaltung und dessen praktischer Handhabung bestimmen28. Dies begründet aber zugleich die Gefahr, daß der nemo teneturGrundsatz trotz seines hohen verfassungsrechtlichen Rangs der einfachgesetzlichen Gewährleistung überantwortet wird29. Der Gesetzgeber ist zwar nicht gehindert, Verfassungsgrundsätze zu konkretisieren und weiterzuentwickeln, die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grundlagen des nemo teneturGrundsatzes kann aber nur sinnvoll sein, wenn sich durch ihre Beantwortung auch unabhängig von der bestehenden einfachgesetzlichen Ausgestaltung, absolute Grenzen oder zumindest Abwägungsregeln ergeben, die geeignet sind, zur Beurteilung der konkreten Einzelfallregelung beizutragen. Angesichts der mangelnden Trennschärfe grundrechtlicher Gewährleistungen läßt sich allerdings I. d. S. BVerfGE 6, 41; 32, 106; 35, 378; 56, 49; Rogall, Der Beschuldigte, S. 147. Wolter, Aspekt einer Strafprozeßreform 2007, S. 23m. w. N. 24 Vgl. dazu Nothelfor, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 50 f. 25 Diese Tendenz zeigt sich insbesondere im neueren Schrifttum. Vgl. dazu Nothe/ftr, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 39 f. und die Nachweise in FN 18 26 So etwa Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip, S. 38. 27 Vgl. dazu Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 163m. w. N. 21 So etwa ausdrücklich Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 141, unter Vergleich mit dem methodischen Vorgehen des Bundesverfassungsgerichtes in BVerfGE 56, 37 ff. 29 Diese Gefahr besteht bei Qualifizierung als normgeprägter Schutzbereich, vgl. etwa Lorenz, JZ 93, S. 1006. 22 23

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die Frage stellen, ob die bestehenden Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Gewährleistung des nemo tenetur-Grundsatzes nicht teilweise gerade durch den verengten Blick auf dessen verfassungsrechtliche Grundlagen bedingt sind30• Da deshalb beide Standpunkte, der Blick von der praktischen Umsetzung des Prinzips auf seine verfassungsrechtliche Absicherung ebenso wie die Erschließung des Anwendungsbereichs unmittelbar aus der für einschlägig gehaltenen Verfassungsrechtsbestimmung, nicht zu befriedigenden Ergebnissen fUhren können, verbleibt nur die Möglichkeit, den Blick "hin und her wandern zu lassen" und beides wechselseitig zu ermitteln. Stimmt man dem zu, so wird ebenso deutlich, daß umgekehrt auch die verfassungsrechtliche Standortbestimmung wesentlich davon beeinflußt wird, welche Funktion der nemo tenetur-Grundsatz im Strafverfahren zu übernehmen hat. Insbesondere wenn man ihn als übergreifendes Prinzip versteht, das je nach Fall- und Beteiligtenkonstellation Ausprägung unterschiedlicher grundrechtlicher Schutzbereiche ist, dürfte es nicht möglich sein, aus dem Grundgesetz allgemeingültige, ftir alle Eingriffsflille gleichermaßen geltende Regeln abzuleiten. Das notwendige Korrektiv bei Überprüfung der genannten Auffassungen bildet deshalb eine funktionale Betrachtungsweise, die vorrangig danach fragt, welche Aufgabe das nemo tenetur-Prinzip in der gegenwärtigen Ausgestaltung des Strafverfahrens im Gesamtgefüge beschuldigtenschützender Verfahrensrechte zu übernehmen hat. Dabei soll allerdings nicht verkannt werden, daß die Bestimmung der Funktion eines ungeschriebenen Prozeßgrundsatzes trotz aller juristischen Auslegungsmethodik ein gewisses "voluntatives Element" beinhaltet, geht es doch gerade bei der Festlegung der Grenzen des nemo tenetur-Grundsatzes um die Frage, welches Maß an Selbstbestimmung dem in ein Strafverfahren verwickelten Bürger unter Berücksichtigung strafprozessualer Zielbestimmungen zugestanden werden kann und muß.

I. Der nemo tenetur-Grundsatz- ein absolutes Prinzip und Teil des "Unverfügbaren" im Strafverfahren? Sofern im Strafverfahren überhaupt abwägungsfeste, d. h. absolute Geltung beanspruchende Grundprinzipien anerkannt werden, wird gemeinhin auf den nemo tenetur-Grundsatz verwiesen, der auch durch die Suche nach materieller

30 A. A. wohl Lorenz, JZ 92, S. 1005, der davon ausgeht, die Unsicherheiten über die Schutzrichtung des nemo tenetur-Grundsatzes durch eine Klärung von dessen verfassungsrechtlichen Grundlagen lösen zu können. Ihm folgend Verrel, NStZ 97, S. 364, der selbst eine "induktive Analyse" befilrwortet. Ausgangspunkt filr die von ihm vorgenommene Konkretisierung soll vor allem der einfachgesetzliche, von anderen Verfahrensgrundsätzen und Bestimmungen der StPO abgrenzbare Schutzgegenstand sein. Ausgehend von dieser methodischen Vorgehensweise, ist dann aber kaum zu rechtfertigen, daß Verrel im folgenden den Regelungsgehalt der Mitwirkungsfreiheit im Strafverfahren mit Kriterien der Persönlichkeitsnähe und Unzumutbarkeit begründet (ders., S. 418 ff.).

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Teil I: Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes

Wahrheit oder Effizienz des Strafverfahrens nicht relativiert werden dürfe31 • Im Gegensatz zu anderen, aus Art. I I, 2 I GG ableitbaren Prozeßgrundrechten, die lediglich in ihrem Kern Menschenwürderelevanz besitzen32, soll jeder Versuch, den Beschuldigten unter Verstoß gegen den naturrechtliehen Gedanken des Selbstschutzes und unter Verkennung der psychologischen Grenzen des Selbsterhaltungstriebes zur Selbstüberfiihrung zu zwingen, menschenunwürdig und damit einer Abwägung entzogen sein33 • Es könne dem einzelnen nicht zugemutet werden, daß er seine u. U. existenzvernichtende Verurteilung selbst aktiv besiegeln muß34 • Gekleidet in das moderne, verfassungsrechtliche Gewand der Menschenwürde- oder Kernbereichskonzeption wird das nemo tenetur-Prinzip unter Rückgriff auf naturrechtliches Gedankengut Bestandteil eines "letzten Rückzugsbereichs" des einzelnen35• Beide Aspekte, sowohl der dem Naturrechtsdenken entstammende Gedanke der Unzumutbarkeit, der wesentlich filr die gegenwärtige Inhaltsbestimmung des nemo tenetur-Prinzips verantwortlich ist, als auch die Proklamation seiner Unverfugbarkeit kraft Höchstpersönlichkeit des geschützten Bereichs, bedürfen näherer Betrachtung. I. Unzumutbarkeitserwägungen und Inhaltsbestimmung des nemo tenetur-Prinzips

a) Der Unzumutbarkeitsgedanke als übergreifendes, regulatives Prinzip Sieht man im Einklang mit der herkömmlichen Auffassung den Zweck des nemo tenetur-Grundsatzes im wesentlichen darin, dem Umstand Rechnung zu tragen, daß es erheblicher Selbstüberwindungskräfte bedarf, das Unrecht einer Tat einzugestehen36 und führt man mit dieser inhaltlichen Bestimmung des 31 Grünwald, StV 87, S. 457; Hassemer, FS fiir Maihofer, S. 203; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 156; Roga/1, Der Beschuldigte, S. 147 f.; Wolter, Strafprozessreform bis 2007, S. 23 ff., 26m. w. N; ders., GS fiir Meyer, S. 498 und 514; ders., ZStW 107 (1995), S. 814 und SK, vor§ 151 StPO, RN 25 ff. A. A. u. a. Günther GA 78, S. 90: Gewährung der Schweigebefugnis genießt einen "relativen grundgesetzliehen Schutz". 32 Vgl. Wolter, Strafprozessreform bis 2007, S. 23, FN 49. 33 Auf den Naturrechtsgedanken nehmen u. a. Bezug Hassemer, FS fiir Maihofer, S. 203; SK-Roga/1, vor § 133 StPO, RN 132 und die Nachweise bei Roga/1, Der Beschuldigte, S. 145; Rüping, JR 74, S. 136 mit FN 14 und FN 15 und S. 138, FN 36; Sautter, AcP 161 ( 1962), S. 257, allerdings mit der zutreffenden Ergänzung, die Respektierung des Selbstschonungsrechts diene nicht nur der Erhaltung der eigenen Existenz, sondern auch in einem positiven Sinne der Selbstentfaltung; Eb. Schmidt, NJW 69, S. 1139; Stürner, Die Aufklärungspflicht, S. 184; Wetze/, JZ 58, S. 494. Vgl. auch BGHSt 11, 356. 34 Günther, JR 78, S. 91. 35 Zur naturrechtliehen Tradition der Unverfiigbarkeit von Rechten, vgl. auch die Nachweise bei Hassemer, FS filr Maihofer, S. 184 f. 36 Günther, GA 78, S. 194.

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menschenwürdeverletzenden Charakters eines Aussagezwangs den Grundsatz auf Unzumutbarkeitserwägungen zurück37, dann spricht tatsächlich vieles dafiir, dessen Anwendungsbereich auf die Bewahrung vor einem "notstandsähnlichen Zwiespalt"38 zu beschränken. In Ermangelung einer vergleichbaren psychischen Zwangslage wird man folgerichtig unbewußte und durch Täuschung ermöglichte Selbstbelastungen aus dessen Schutzbereich ausklammem müssen39• Zumindest fiir die prozessuale Ausformung des nemo tenetur-Grundsatzes muß jedoch bezweifelt werden, daß sich dessen Funktion aus dem Gedanken der Unzumutbarkeit ableiten läßt oder dessen Wesen durch diesen treffend charakterisiert werden kann40 • Sollte tatsächlich allein der Gedanke der Unzumutbarkeit konstituierend fiir die Gewährung der Aussagefreiheit des Beschuldigten wirken, so müßten auch Umfang und Grenzen des Aussageverweigerungsrechts vom Grad der psychischen Belastung abhängig sein, dem sich der Tatverdächtige infolge des auf ihm lastenden Tatvorwurfs ausgesetzt sieht. Obwohl der nemo teneturGrundsatz im Ordnungswidrigkeitenrecht gleichermaßen Geltung beansprucht wie im Strafverfahren41 , kann aber beispielsweise bei einem drohenden Bußgeld in Höhe von 20 DM wegen falschen Parkens kaum von einem "schweren inne37 So ausdrücklich Günther, GA 78, S. 194; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 156 ("in erster Linie eine Ausprägung des Unzumutbarkeitsgedankens"); Moos, Juridikum 95, S. 35; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 15, RN 24; SK-Rogall, vor § 133 StPO, RN 132; Stürner, Die Aufklärungspflicht, S. 184, der aber treffend feststellt, daß die Unzumutbarkeit eines bestimmten Verhaltens ihrerseits das Ergebnis einer Güterahwägung ist; Ulsenheimer, GA 72, S. 22 ff. ; Verrel, NStZ 97, S. 416; Vgl. auch BVerfGE 56, S. 49: "Unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar wäre ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung( ... ) liefern zu müssen". So auch BGHSt 17, 237. Zur naturrechtliehen Tradition des Würdegedankens, die in das werttheoretische Konzept der Menschenwürde Eingang gefunden hat, vgl. Vithzum, JZ 85, S. 206m. w. N. 38 Vgl. Eser, ZStW 79 (1967), S. 571 in FN 24. 39 Ausdrücklich Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 161: "Die restriktive Auslegung folgt ... aus dem Gedanken der Unzumutbarkeit". 40 Anderes könnte aber - was hier nicht ausgeführt werden kann - für das zivilprozessuale Weigerungsrecht des § 384 ZPO gelten, vgl. insofern zum Gedanken der Zumutbarkeit Sautter, AcP 161 (1962), S. 231 ff. Auf die materiellrechtlichen Auswirkungen des nemo tenetur-Grundsatzes auf die Strafbarkeit des Täters - etwa bei Selbstbegünstigungshandlungen - kann ebensowenig eingegangen werden. Es sei lediglich darauf hingewiesen, daß etwa der persönliche Strafausschließungsgrund des § 258 V StGB die Strafbarkeit des Täters einschränkt, der sich in einer, der herrschenden Umschreibung des nemo tenetur-Grundsatzes zumindest eng verwandten, notstandsähnlichen Lage befindet (zum Gedanken der Unzumutbarkeit im materiellen Strafrecht, vgl. Jescheck I Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 500 ff. m. w. N.). 41 Vgl. dazu dieN. bei SK-Roga/1, vor § 133 StPO, RN 148. Konsequent deshalb Günther, GA 78, S. 205 f. Auch Stürner, NJW 81 , S. 1763 bestreitet den Verfassungsrang des nemo tenetur-Grundsatzes im Ordnungswidrigkeitenrecht Zu Recht ablehnend Bottke, JA 82, S. 34, denn auch das Strafprozeßrecht kennt Bagatellverfahren, so daß auch innerhalb des Strafverfahrens nach Schweregesichtspunkten differenziert werden müßte.

3 Bosch

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ren Konflikt" des Betroffenen die Rede sein42 • Ebensowenig ist unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit einzusehen, warum nicht auch derjenige Zeuge ein Auskunftsverweigerungsrecht besitzt, dessen Einlassung als Beschuldigter in einem zuvor gegen ilm gefiihrten, rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren widerlegt worden ist, der aber nunmehr in einem Folgeverfahren gegen einen Tatbeteiligten zum seihen Sachverhalt als Zeuge vernommen wird43 . Da der Zeuge auch in diesem Fall zur Offenbarung eigener Verfehlungen gezwungen wird, läßt sich diese Differenzierung nur aufrechterhalten, sofern bereits bei Bestimmung der Unzumutbarkeit eines Aussagezwangs die weitergehenden Verwertungsmöglichkeiten der erzwungenen Angaben mitberücksichtigt werden. Geht man alleine davon aus, daß der Zeuge auch in diesen Fällen wider den natürlichen Selbsterhaltungstrieb eigene Verfehlungen offenbaren muß, so bedeutet es eine kaum zurnutbare Belastung, nachträglich zu einer Bestätigung des Urteils gezwungen zu werden44 • Schließlich erfaßt der Gedanke der Unzumutbarkeit auch nicht das typische, mit einer Aussageverweigerung verbundene prozessuale Interesse des Beschuldigten. So läßt sich nicht plausibel begründen, warum einem Zeugen im Strafprozeß zwar bei Gefahr möglicher Strafverfolgung(§ 55 StPO), nicht aber bei schwerwiegenden, wirtschaftlichen Nachteilen oder der Gefahr, daß eine Aussage dem Zeugen zur Unehre gereichen könnte, ein Auskunftsverweigerungsrecht zugestanden wird. Auch in den letztgenannten Fällen können die Folgen einer Aussage fiir den Zeugen existenzvernichtend sein und dennoch wird es ihm "zugemutet" auszusagen. Die Ableitung aus dem Unzumutbarkeitsprinzip legt ferner nahe, daß vergleichbar dem im materiellen Strafrecht beheimateten Gedanken der Unzumutbarkeit, das Schweigen des Täters lediglich entschuldigt ist, weil etwa angesichts bestimmter Gefahren fiir die wirtschaftliche oder soziale Existenz vom Tatverdächtigen das an sich normgemäße Verhalten, d. h. das Bekennen der Tat, nicht erwartet werden kann. Die dadurch zum Ausdruck gebrachte Wertung läßt nicht ausreichend erkennen, daß zwischen den durch das nemo teneturPrinzip eröftheten Verhaltensweisen und einer Einlassung des Tatverdächtigen insofern kein Unterschied besteht, als beide gleichermaßen prozessual gerechtfertigt sind und die Entscheidung fiir eine dieser beiden VerteidigungsalternatiVgl. auch BVerfGE 39, 49. Vgl. dazu BVerfG NStZ 85, 277. Auf dieses Beispiel kann zurückgegriffen werden, da allgemein davon ausgegangen wird, daß die Lage des Beschuldigten und des gefährdeten Zeugen i. S. d. § 55 StPO identisch ist, vgl. nur Roga/l, Der Beschuldigte, S. 62. 44 Vgl. Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, S. 235, der deshalb eine analoge Anwendung von § 55 StPO auf diese Fälle vorschlägt; ablehnend auch Roxin, Strafverfahrensrecht, § 26, RN 31 ; Brauns, JA 85, S. 495 f. Vgl. auch ders., Die Wiedergutmachung der Folgen, S. 56 ff. Brauns schlägt zur Lösung dieser Fallkonstellation die Möglichkeit eines Strafverzichts in analoger Anwendung zu § 158 StGB vor. Vgl. aber auch OLG Koblenz StV 96, S. 475. 42 43

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ven an sich wertneutral ist. Zudem läßt sich durch Unzumutbarkeitserwägungen nicht erklären, warum dieser Grundsatz auch fiir den Unschuldigen gleichermaßen Geltung beansprucht, obwohl sich dieser häufig nicht in einer vergleichbaren "Notstandslage" befmdet. Die mögliche BegrUndung hierfilr, der Unschuldige werde lediglich im Sinne eines Rechtsreflexes mitgeschützt, weil er schuldig sein könne, kann wohl kaum befriedigen. Im Bereich des materiellen Strafrechts ist heute anerkannt, daß dem Zumutbarkeitsprinzip nur regulative Funktion zukommen kann45 • Es weist den Richter lediglich an - soweit beispielsweise bei Bestimmung des Maßes der vom Täter persönlich zu verlangenden Sorgfalt dafilr Raum geschaffen ist46 -, bei seiner Entscheidung alle maßgeblichen Umstände und Wertungsgesichtspunkte im Rahmen einer Güter- und Interessenahwägung angemessen zu berücksichtigen. Darüber hinaus wird aber zu Recht kein allgemeiner, übergesetzlicher Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens anerkannt. Er würde zwangsläufig zu Ungleichheiten in der Rechtsanwendung fil.hren und es dürfte sich fiir die Bestimmung des Unzumutbaren auch kein brauchbarer Maßstab entwickeln lassen, der Einzelentscheidungen vorprogrammieren könnte47. Diese Argumentation kann noch viel mehr auf den strafprozessualen nemo tenetur-Grundsatz übertragen werden, der sich nicht an der individuell ausgerichteten Frage des "Anders-Handeln-Können" orientiert, sondern Teil einer objektiven Grenzziehung zwischen Staat und Individuum ist, die gerade dem Respekt vor der Persönlichkeit und Selbstbestimmtheit des Menschen dient. Ebenso wie sich zur Bestimmung des Menschenwürdebegriffs eine "naive Berufung" auf "das Naturrecht" verbietet48 , vermag deshalb die überkommene Vorstellung von einem naturrechtliehen Gebot der Selbsterhaltung, nicht mehr als den Minimalgehalt des nemo tenetur Grundsatzes zu kennzeichnen. b) Der Unzumutbarkeitsgedanke als Bestandteil des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Doch nicht nur Bereiche der Schuld werden von Unzumutbarkeitserwägungen bestimmt, sondern auch der aus dem Rechtsstaatsprinzip oder dem Wesen

Grundlegend dazu Henkel, FS fiir Mezger, S. 260 ff., 303 ff. Vgl. dazuJescheck l Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 505 m. w. N. 47 Vgl. hierzu die Nachweise bei Jescheck I Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 505 in FN 13. Abzulehnen ist die Auffassung Roxins, Strafverfahrensrecht, § 25, RN 8, der annimmt, daß eine Ordnungswidrigkeit nach § 111 OWiG wegen Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens entfallt, sofern sie im Einzelfall einer Selbstbezichtigung gleichkommt. Bei drohender Selbstbezichtigung besteht unabhängig von Schulderwägungen bereits keine Aussagepflicht (vgl. dazu unten 2. Teil, § 9 I ). 48 V gl. dazu die Kritik von Mangoldt I Klein I Starck, Art. I RN 2 m. w. N. 45 46

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der Grundrechte abzuleitende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz49. Da heute weitgehend anerkannt ist, daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip jedes staatliche Handeln bindet, könnte dieser Grundsatz auch ftlr die Bestimmung der "Grenze zwischen Aussagepflicht und Schweigerecht" entscheidend sein50 • Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im weiteren Sinne wird durch drei Schritte der Verhältnismäßigkeitsprüfung gekennzeichnet: Danach ist eine staatliche Maßnahme dann verhältnismäßig, wenn sie geeignet ist, den angestrebten Zweck zu erreichen, mit ihr der geringstmögliche Eingriff gewählt wird (Erforderlichkeit) und das eingesetzte Mittel in einem nicht unangemessenen Verhältnis zu dem mit der jeweiligen Maßnahme verfolgten Zweck steht51 • Zur Charakterisierung der letzten Stufe, der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, hat das BVerfG auf das Kriterium der Unzumutbarkeit zurückgegriffen und festgestellt, daß eine Maßnahme nur dann verhältnismäßig sei, wenn sie den Betroffenen nicht "übermäßig" belaste und fiir ihn nicht "unzumutbar" sei52 • In diesem Sinne würde die Bezeichnung der Aussagepflicht als unzumutbar voraussetzen, daß sie nicht den unantastbaren Kernbereich der eingeschränkten Grundrechtsposition betrifft. Diese Kennzeichnung läßt sich damit aber gerade nicht mit dem Postulat einer durch den nemo tenetur-Grundsatz absolut geschützten Position des Verfahrensbeteiligten vereinbaren. Doch nicht nur aus diesem Grund kann der im Verhältnismäßigkeitsprinzip verkörperte Unzumutbarkeitsgedanke nicht zur Bestimmung des Regelungsumfanges des nemo tenetur-Grundsatzes herangezogen werden. Auf die Frage der Unzumutbarkeit eines strafprozessualen Eingriffs kann aus systematischen Gründen nur dann eingegangen werden, sofern feststeht, daß die gegenständliche Maßnahme geeignet ist, das durch sie verfolgte Ziel zu erreichen. Ob durch einen Eingriff in den Schutzbereich des nemo tenetur-Grundsatzes die denkbaren Ziele des Strafverfahrens - Wahrheitsfmdung, Gerechtigkeit oder Herstellung von Rechtsfrieden - gefördert werden können, erscheint jedoch mehr als zweifelhaft53 . Das Kriterium der Unzu49 Zur umstr., im Rahmen dieser Untersuchung jedoch unerheblichen, dogmatischen Herleitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, vgl. die Nachweise bei Degener, Verhältnismäßigkeit, S. 46. 50 So Helgerth, Der Verdächtige, S. 176; zur Kritik daran, vgl. Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 35 f. 51 Ausruhrlieh dazu Degener, Verhältnismäßigkeit, S. 25 ff. m. w. N. 52 Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Degener, Verhältnismäßigkeit, S. 30 f. Klar getrennt werden können der Zumutbarkeitsgedanke und die Verhältnismäßigkeit i. e. S. deshalb nicht, dazu Nothelfor, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 33 ff. m. umfangreichen N. Unklar Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 156, der davon spricht, eine Aussagepflicht müsse immer dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen (und sie damit in Konfliktflillen einer Abwägung unterwirft), andererseits aber den nemo tenetur-Gedanken unter Rückgriff auf Naturrecht zum Unverfilgbaren im Strafprozeß erhebt. 53 Vgl. dazu unten 2. Teil, § 5 I. Verkürzend deshalb die pauschale Behauptung, die Schweigebefugnis bewahre den Tatverdächtigen davor, sich dem staatlichen Bestreben

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mutbarkeit ist schließlich deshalb völlig ungeeignet, weil es sich einer abstrakten, vom Einzelfall losgelösten Defmition entzieht. So hat sich das BVerfG auch regelmäßig mit einer negativ ausgerichteten Prüfung begnügt und lediglich verlangt, daß die konkret angewendete Maßnahme nicht außer Verhältnis zu dem mit ihr verfolgten Zweck steht54. Damit ist jedoch noch lange nicht gesagt, daß das Verhältnis zwischen konkretem Eingriff und verfolgtem Zweck auch optimal ausgestaltet ist. Führt man das nemo tenetur-Prinzip auf Zumutbarkeitserwägungen zurück, so verbleibt dem Gesetzgeber und urteilenden Richter ein weiter, mit der großen Bedeutung dieses Grundsatzes filr die Verteidigungsposition des Beschuldigten nicht vereinbarer Gestaltungsspielraum. Insbesondere der Regelungsumfang flankierender Schutzrechte - etwa der Belehrung nach § 136 StPO -, die unmittelbar aus dem nemo tenetur-Grundsatz abzuleiten sind, würde damit weitgehend einer gesetzgeberischen Zweckmäßigkeitsentscheidung überantwortet. 2. Absolute Schranken durch Menschenwürdeoder Kernbereichskonzeptionen

a) Menschenwürdeverletzender Charakter eines Mitwirkungszwangs im Strafverfahren Soweit sich das verfassungsrechtliche Schrifttum fiir die Begründung einer Menschenwürde-verletzung nicht auf Naturrechtsgedanken und damit letztlich auf Zumutbarkeitserwägungen stützt, wird die Objektformel des BVerfG filr die verfassungsrechtliche Ableitung des nemo tenetur-Grundsatzes mit herangezogen. Jeder Zwang zum Geständnis würdige den Menschen zum Objekt des Verfahrens herab, mache ihn unter Leugnung seiner Subjektstellung allein zum Mittel der Wahrheitsfmdung und verstoße damit gegen die Menschenwürde55 . Ausgehend vom Autonomiebegriff der Kantschen Ethik56 wird auf die Freiheit der Selbstbestimmung und Willensentschließung verwiesen, die wesentliches Element des grundgesetzliehen Menschenwürdebegriffs ist und nicht durch Zwang zur Selbstbezichtigung gebeugt werden darf. Soweit es um die Erhaltung eigener, elementarer Rechtsgüter geht, müsse der Mensch seine Individualität nach Wahrheits- und Gerechtigkeitstindung unterzuordnen, vgl. nur Günther, GA 78, s. 194. 54 Vgl. nur BVerfGE 26, 309; 44, 374. 55 Vgl. nur die umfangreichen Nachweise bei Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 63. Auch das BVerfG (BVerfGE 55, 150) bezeichnet den nemo tenetur-Grundsatz als einen "von der Achtung vor der menschlichen Würde geprägten Grundsatz"; ebenso BVerfGE 38, 117. Zur Objektformel vgl. u. a. BVerfGE 9, 89 (95); 50, 166 ( 175); 87, 209 (228). 56 Vgl. dazu Rüping, JR 1974, S. 136m. w. N.; Vitzthum, JZ 85, S. 201 (205).

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wahren können. Ein Eingriff in diese Geheimhaltungs- und materiellen Lebensinteressen mache dem einzelnen eine freie, sittliche Entscheidung zur Mitarbeit am Strafprozeß unmöglich57. Auch andere Ansätze, die entweder Art. 1 I GG nicht als subjektives Recht ansehen oder Art. 2 I GG als "sedes"-Materie erachten, proklamieren aufgrund des spezifischen Zusammenwirkens von Art. 1 I, 2 I und 19 II die Unantastbarkeit der durch den nemo tenetur-Grundsatz geschützten Rechtssphäre58 • Eine genaue Differenzierung zwischen Kernbereichskonzeptionen und ausschließtich auf Art. 1 I GG abstellenden Ansätzen kann zunächst unterbleiben, da beiden Ableitungen des nemo tenetur-Grundsatzes gemeinsam ist, daß sie durch Inanspruchnahme des höchsten Rechtswertes 59 der Verfassung das Selbstbelastungsprivileg zu etwas Unverfilgbaren und Unverlierbaren erheben. Schon die erste These, daß die strafprozessuale Mitwirkungsfreiheit durch einen hohen Menschenwürdegehalt geprägt ist, stößt auf erhebliche Bedenken. Dabei ist schon fraglich, ob die mangelnde Klarheit des verfassungsrechtlichen Würdebegriffs überhaupt einen eindeutigen Schluß über den Grad der Absicherung des nemo tenetur-Grundsatzes zuläßt. Insbesondere die maßgeblich auf Dürig zurückgehende Objektstheorie des BVerfG60 ist nicht geeignet, das nemo tenetur-Prinzip als zwingendes Gebot des Art. 1 GG zu erklären. Selbst das BVerfG hat festgestellt, daß eine allgemeine Formel wie die, der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt der Staatsgewalt herabgewürdigt werden, lediglich die Richtung andeuten könne, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können61 • Wann und unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt sei, lasse sich nicht generell, sondern nur in Ansehung des konkreten Falles beurteilen. So wird der Tatverdächtige bei einem durch eine Anwendung der in § 136 a StPO genannten Mittel verursachten Ausschluß der Willensfreiheit sicherlich dadurch zum Objekt herabgewürdigt, daß er lediglich als "Registrierrnaschine"62 seiner Wahrnehmungen verwendet wird. Andererseits könnte etwa eine bußgeldbewehrte Aussagepflicht im Strafverfahren genausogut als zwingende Konsequenz der Subjektstellung des Beschuldigten begriffen werden, wenn man darauf abstellt, daß der Beschuldigte ohne aktive Mitwirkung am Prozeßverlaufnur Objekt eines auf Bestrafung gerichteten VerRoga/1, Der Beschuldigte, S. 146. Roga/1, Der Beschuldigte, S. 147; Seebode, JA 80, S. 497; Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 211. Die ganz h. A. sieht Art. I GG als echte Grundrechtsgewährleistung an, vgl. dazu die Nachweise bei Höfling, JUS 95, S. 857. 59 Vgl. zur Verwendung dieser und ähnlicher Formeln durch das BVerfG, Niebler, BayVBI. 1989,737 ff. 60 Dürig, AÖR 81 (1956), S. 117 ff.; Kritisch zu einer "Objekttheorie", Kühne, Strafprozessuale Beweisverbote, S. 76. 61 Vgl. nur BVerfGE 30, 25; 45, 228; 57, 250; 63, 390. 62 So Dürig, AÖR 81 (1956), S. 128. 57

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fahrensverlaufes ist63 . Abgesehen von der Problematik der eingeschränkten Durchsetzbarkeit aktiver Mitwirkungspflichten, insbesondere in Fällen der Schwerstkriminalität, wäre mit ihnen nicht zwingend eine Mißachtung des Angeklagten als eigenverantwortliches Prozeßsubjekt verbunden. Die Forderung nach aktiver Mitwirkung des Angeklagten an der Aufklärung seiner Tat könnte statt dessen geradezu als Ausdruck und Konsequenz der individuellen Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Freiheit kraft Menschsein zu werten sein64• Wenn das BVerfG im Rahmen der Überplilfung der Verfassungsmäßigkeit von§ I42 StGB feststellt, daß der Straftatbestand der Unfallflucht nicht gegen Art. I I GG verstoße, da die Rechtsordnung vom Betroffenen nur verlange, filr die Folgen seines Versagens einzustehen65 , so läßt sich diese Argumentation auch auf die Fälle einer strafrechtlichen Aussagepflicht übertragen66• § 142 StGB dient dem Schutz privater Feststellungs- und Beweissicherungsinteressen und nicht dem Strafverfolgungsinteresse. Der mit einer Verhaltenspflicht verfolgte Zweck kann aber im Lichte von Art. I I GG keine rechtlich unterschiedliche Beurteilung beider Formen des Mitwirkungszwangs begründen. Zudem wird ein Verfahrensbeteiligter im Rahmen eines Strafverfahrens oftmals und auch notwendig als "Objekt" behandelt und fremdbestimmt67, so daß selbst die Objektstheorie nicht ohne zusätzliche Wertungskategorien auskommen kann, die vom Verletzungstatbestand ausgehend im Einzelfall festlegen, ob eine rechtlich relevante Verletzung der Menschenwürde anzunehmen ist68 . Da63 Interessanterweise würde auch nach Dürig, AÖR 81 (1956), S. 128, einem der Schöpfer der Objektstheorie, Art. I I GG jedenfalls nicht entgegenstehen, wenn de lege ferenda in Fällen unbehebbarer Beweisnot "weitergehende Methoden der Wahrheitserforschung" zu Gunsten des schuldlosen Opfers ausgeschöpft würden (kursive Hervorhebung im Original). Für die Einftlhrung einer entsprechenden Aussagepflicht plädiert Fischer, Divergierende Selbstbelastungspflichten, S. 95, die sich, wenn auch unter fragwürdigem Ansatz, so doch mit bedenkenswerten Argumenten gegen eine Verankerung des nemo tenetur-Grundsatzes in Art. I I GG wendet. 64 So bezeichnet es Händel, NJW 64, S. 1141, als einen "Grundsatz der Ethik( ...) , daß die Würde des Menschen sich arn höchsten im Bekennen begangenen Unrechts und in der Sühne und Buße daftlr, nicht aber im Verleugnen der begangenen Tat ( ...) , dokumentiert". 65 BVerfDE 16, 191 (194). 66 In diesem Sinne v. Mangoldt I Klein I Starck, Art. 1 I GG, RN 36 f. Ein Angeklagter, von dem verlangt würde, an der Aufklärung der Straftat mitzuwirken, könne sich im Falle seiner Unschuld entlasten und müsse im Falle seiner Schuld lediglich die Konsequenzen seiner Handlung tragen. Dagegen vor allem Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 75 ff. 67 Kühne, Strafprozessuale Beweisverbote, S. 78 ff.; Niese, ZStW 63 (1951), S. 219; Rogall, Der Beschuldigte, S. 141. Der Beschuldigte wird schon durch die bloße Aufnahme von personenbezogenen Ermittlungen, zwangsläufig zum "Objekt" der staatlichen Strafverfolgung. 68 Zu dieser negativen, eingriffsorientierten Interpretationsmethode bei Art. 1 I GG, vgl. auch Höfling, JUS 95, S. 859 f. m. w. N. auch zur Rechtsprechung des BVerfD.

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für ist die Objektstheorie jedoch wegen ihrer negativen Umschreibung, der Beschuldigte dürfe nicht als ein rein "passives" Verfahrensobjekt angesehen werden69, gerade im Bereich des nemo tenetur-Grundsatzes völlig ungeeignet, wenn man mit der h. A. dieses Prinzip als "Recht" zur Passivität begreitf0 . Entscheidet sich der Beschuldigte gegen die Möglichkeit einer aktiven Verteidigung, so liegt dem häufig nicht etwa eine freie, selbstbestimmte Entscheidung für eine passive Verteidigungsstrategie, sondern der unausweisliche Zwang zugrunde, das Strafverfahren über sich ergehen lassen zu müssen. Überspitzt formuliert könnte man den nemo tenetur-Grundsatz im Sinne seiner herkömmlichen Bezeichnung als Recht zur Passivität geradezu als Anspruch des Beschuldigten auf Objektsbehandlung im Strafverfahren umschreiben. Auch positive Umschreibungen der Subjekts- in Abgrenzung zur Objektsqualität, wie etwa die Defmtion der Menschenwürde als "verantwortungsbewußte Entscheidung zwischen Altemativen71 ", lassen offen, in welchen Fällen dem einzelnen eine Wahlmöglichkeit überhaupt eröffnet werden muß. Ebensowenig leuchtet es ein, daß die zum Teil wesentlich schwerer wiegenden Eingriffsmöglichkeiten der §§ 81 ff. StPO in elementare Rechtsgüter des Beschuldigten diesen nicht ebenfalls zum Objekt der Wahrheitstindung herabwürdigen. So wird der Beschuldigte durch eine Unterbringung nach § 81 StPO und die damit verbundene Beobachtung durch einen Sachverständigen, deutlich mehr zu einem Untersuchungsobjekt funktionalisiert als etwa bei Auferlegung einer allgemein als unzulässig empfundenen, mit § 95 I vergleichbaren Pflicht zur Herausgabe von Beweismitteln. Wie wenig die Objektstheorie gerade im Zusammenhang mit den vom Beschuldigten zu duldenden Zwangsmaßnahmen geeignet ist zu erklären, warum bestimmte Maßnahmen den Beschuldigten unter dem Aspekt des nemo tenetur-Grundsatzes in seiner Menschenwürde verletzen und andere eben nicht, zeigt sich selbst in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. So soll die zwangsweise Veränderung der Haar- und Barttracht eines Beschuldigten zum Zwecke einer Gegenüberstellung keinen Verstoß gegen die Menschenwürde des Beschuldigten darstellen, weil der Beschuldigte hierdurch nicht zu einem bloßen "Schauobjekt" degradiert werde72 . Bei formaler Betrachtung steht die Objektsstellung des Beschuldigten in diesem Falle außer Frage, da er unter Beseitigung persönlicher, wenn auch zum Zwecke der Verdunkelung gewählter individueller Merkmale, zu einem Objekt der Begutachtung durch den Zeugen herabgesetzt wird. Es wird in diesem Fall erVgl. u. a. Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, S. 145. Vgl. die Nachweise im 3. Teil, FN 685. 71 Vgl. dazu die Nachweise bei Vitzthum, JZ 85, S. 202 in FN 17. Der Subjektsbegriff wird erst praktikabel, wenn er als Zusammenfassung aller prozessualen Handlungsmöglichkeiten und Eingriffsbefugnisse des Beschuldigten aufgefaßt wird. Zum Subjektsbegriff, vgl. auch Rieß, Reichsjustizamt, S. 384. 72 Vgl. dazu und im folgenden BVerfGE 47, 247. 69

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zwungener Passivität erheblich massiver in die freie Wahl der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit und damit in das Selbstwertgefilhl des Betroffenen eingegriffen, als bei manchen Formen des Zwangs zur Aktivität, die grundsätzlich menschenwürdeverletzenden Charakter besitzen sollen. Deshalb schlägt das BVerfG auch einen ganz anderen Weg der Begründung ein, um nicht zur Unzulässigkeil der genannten Maßnahme zu gelangen. Einerseits weist das BVerfG auf die verhältnismäßig geringe Intensität des Eingriffs hin und andererseits stellt es darauf ab, daß der Beschuldigte die Maßnahmen im Interesse des Gemeinwohls zu dulden habe, da sie nicht seiner Herabwürdigung, sondern unmittelbar der rechtsstaatlich gebotenen Aufklärung von Straftaten dienen würden. Anband dieser auf der Objektformel basierenden Argumentation wird deutlich, wie wenig eine Orientierung am Gedanken der Menschenwürde geeignet ist, strafprozessuale Grundsätze wie das nemo tenetur-Prinzip unverfiigbar, d. h. abwägungssicher auszugestalten73 . Über subjektive, auf den Zweck des staatlichen Handeins ausgerichtete Erwägungen wird letztlich doch eine, wenn auch verdeckte Abwägung ermöglicht; sie erfolgt lediglich nicht erst nach Feststellung der Eingriffsqualität einer Maßnahme, sondern bereits auf Schutzbereichsebene74. Aufgrund dieser Argumentation werden die Interessen der Allgemeinheit bereits vor Ermittlung der Eingriffsqualität einer Maßnahme gegen die Erngriffsintensität der Maßnahme abgewogen. Bei einem Abwägungsergebnis, wie hier zugunsten des Allgemeininteresses an der Aufklärung von Straftaten, werden strafprozessuale Zwangsmaßnahmen schon aus dem Schutzbereich von Art. I I GG ausgeklammert. Im übrigen ist das zusätzliche Erfordernis, die Behandlung müsse "Ausdruck" der Verachtung des Personenwertes sein75, nicht zur Konkretisierung der Objektformel geeignet. Ein objektiv menschenunwürdiger Zwang, der eingesetzt wird, um den Beschuldigten zu einer Aussage zu bewegen, muß auch dann gegen Art. I I GG verstoßen, wenn der Zwang nicht aus Mißachtung des Personenwertes, sondern in "guter Absicht" angewendet wird76 . 73 Bereits Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 95 ff., weist darauf hin, daß mittels der durch das BVerfD verwendeten Formel, ein weiter Spielraum für die Festlegung von Menschenwürdeverletzungen eröffnet wird, der zumindest bzgl. des Prinzipiengehalts von Art. I GG eine Abwägung bereits auf Schutzbereichsebene ermöglicht. 74 Nicht richtig ist es deshalb, wenn BVertDE 34, 245 feststellt, daß selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit keinen Eingriff in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung rechtfertigen könnten, denn diese haben bereits vor Bestimmung des Umfangs des "absolut" geschützten Kerns Einfluß gefunden. 75 Dieses zusätzliche Kriterium wurde erstmals im Abhörurteil in BVertDE 30, 1 (26) eingeftihrt, um die generell als zu unbestimmt empfundene Objektformel zu präzisieren. 76 So auch das Sondervotum in BVerfDE 30, 1 (39 f.); ablehnend auch Pieroth I Schlink, Grundrechte, Staatsrecht Il, S. 89, RN 405. Das Urteil ist im übrigen selbst widersprüchlich, da an anderer Stelle (S. 40) ausgeführt wird, der Mensch dürfe nicht "unpersönlich" behandelt werden, auch wenn es in "guter Absicht" geschehe. In seiner späteren Rechtsprechung hat sich das BVertD dieser Relativierung über den Begriff "der guten Absicht" allerdings nicht mehr explizit bedient.

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Ohne diese Einschränkung könnte allerdings kaum plausibel begründet werden, warum die durch Zwang durchsetzbare Aussagepflicht des Zeugen diesen nicht zum bloßen Objekt des Strafverfahrens herabwürdigt. In welchem Ausmaß der vermeintlich durch Art 1 I GG gebotene Schutz vor Zwang zur Selbstbelastung durch Zweckmäßigkeitserwägungen relativierbar ist, zeigt sich auch im Gemeinschuldnerbeschluß des Bundesverfassungsgerichtes77 • Wenn das Menschenwürdeverletzende eines Zwangs zur Selbstbelastung darin begründet sein soll, daß der Betroffene unter Mißachtung seines natürlichen Selbsterhaltungstriebes und unter Überschreitung des obersten Wertes freier Selbstbestimmung zur Offenbarung eigener Verfehlungen gezwungen wird, so leuchtet auf den ersten Blick nicht ein, warum außerhalb des Strafverfahrens ein entsprechender Zwang zulässig sein soll. Das BVerfG verneint einen Eingriff in den durch einen hohen Menschenwürdegehalt geprägten Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes, weil der Schutz vor erzwungener Offenbarung von selbstbelastenden Angaben dort nicht grenzenlos gewährleistet werden könne, wo Dritte auf die Informationen der Auskunftsperson angewiesen sind. Da Art. I I S. 1 GG nach h. A.78 auch Private unmittelbar bindet oder zumindest die in Art. 1 I GG angesprochene Schutzpflicht den Staat verpflichtet, die Drittwirkung des Gebots der Unantastbarkeit der Menschenwürde zu sichern, könnte dies nur unter der Prämisse aufrechterhalten werden, daß auch die Drittinteressen dem Schutzbereich von Art. 1 GG zuzuordnen sind. Das BVerfG fährt fort, es müsse in den Fällen eines strafverfahrensfremden Aussagezwangs lediglich sichergestellt sein, daß die Informationen nicht an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet oder gegen den Willen des Betroffenen verwertet werden. Bei einer Kollision der durch das nemo tenetur-Prinzip geschützten Interessen des Auskunftspflichtigen mit dem Informationsbedürfnis Dritter bei rechtsgeschäftlich oder gesetzlich begründeter Verpflichtung zur Informationserteilung soll kein unzulässiger, den Kernbereich des Persönlichkeitsrechtes berührender Zwang zur Selbstbelastung anzunehmen sein. Das ist jedoch inkonsequent, wenn bedacht wird, daß bereits der Informationserhebungsakt die Menschenwürde des Auskunftspflichtigen verletzen kann, sofern eine Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage mit existenzvernichtenden Folgen filr den Betroffenen verbunden ist. Ähnliches muß auch filr die Pflicht zur eidesstattlichen Versicherung nach § 807 I ZPO gelten, die fiir den auskunftspflichtigen Schuldner79 mit deutlich existenzbedrohenderen Nachteilen verbunden sein kann als eine Auskunftspflicht im Strafverfahren. Bedenkt man, daß bereits der 77

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Vgl. dazu und im folgenden BVerfGE 56, 37 ff. (vor allem S. 42, 44). Mangoldt I Klein I Starck, Art. 1 I RN 22, 25; v. Münch, Grundgesetz, Art. 1 GG,

RN 27m. w. N.

79 Der Vollstreckungsschuldner ist auch bei Gefahr, sich selbst einer Straftat zu bezichtigen, zu vollständigen Angaben verpflichtet, vgl. nur die Nachweise bei Baumbach I Lauterbach I Albers I Hartmann, Zivilprozeßordnung, § 807 ZPO, 3. I. A).

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Erhebungsakt menschenwürdeverletzenden Charakter besitzen kann und durch die Verwertung im Strafverfahren der bereits erfolgte Eingriff lediglich vertieft werden soll, dann entsteht der verfassungsrechtlich nicht haltbare Eindruck eines von der jeweils gegenständlichen Verfahrensart abhängigen Menschenwürdebegriffs. Zwar sind in anderen Verfahrensarten Drittinteressen gegebenenfalls stärker zu berücksichtigen80, diese beeinflussen jedoch nicht die filr den Aussagepflichtigen entstehende Zwangssituation, die gerade zur Begründung des Eingriffs einer strafverfahrensrechtlichen Aussagepflicht in Art. I I GG herangezogen wird. Dabei soll nicht außer acht gelassen werden, daß "die Verwendung von erhobenen Informationen( ...) der filr den nemo tenetur-Grundsatz entscheidende Punkt"81 ist, denn durch diese wird der Rechtsgutseingriff erst vollendet oder gegebenenfalls erweitert. Greift aber nicht bereits die Art der Erhebung in Art. I GG ein, läßt sich kaum erklären, warum die Verwendung der Information gegen Art. I I GG verstoßen soll, es sei denn, man wollte bestimmte Informationen generell vor einer Verwertung im Strafverfahren schützen. Bevor im folgenden näher auf Kernbereichskonzeptionen eingegangen wird, soll zunächst eine mit der unmittelbaren Ableitung aus Art. I GG eng verwandte Inhaltsbestimmung des nemo tenetur-Grundsatzes über Art. 4 I GG näher betrachtet werden. Grundrechtsdogmatisch mag eine Erörterung an dieser Stelle unsystematisch erscheinen82, mit beiden Formen der Ableitung ist jedoch eine ähnliche Funktionszuweisung verbunden. b) Aussage- und Mitwirkungsverweigerung im Strafverfahren eine absolut geschützte Entscheidung des Gewissens? Im Schriftturn hat es nicht an Versuchen gefehlt, die durch Art. 4 I GG geschützte Freiheit des Gewissens als verfassungsrechtliche Grundlage des nemo tenetur-Prinzips heranzuziehen83 . So sieht Zippelius in prozessualen Ermittlungen eine Verletzung der Gewissensfreiheit, wenn sie dem Beschuldigten die Fähigkeit rauben, sich als sittlich über sich selbst bestimmende Persönlichkeit nach eigenem Gewissen zur Aussage oder zur Aussageverweigerung zu ent80 Auch im Strafverfahren sind natürlich - etwa in den Fällen der Neben- und Privatklage - Drittinteressen anerkannt. 81 So Roga/1, StV 96, S. 64 und SK, vor § 133 StPO, RN 132 unter Bezugnahme auf Keller, Rechtliche Grenzen, S. 132. 82 So verweist etwa Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 58 f., nach eingehender Erörterung von Art. 4 I GG auf dessen subsidiäre Geltung, ohne seine Darstellung mit einer eigenen Stellungnahme abzuschließen. 83 Nachweise bei Rogall, Der Beschuldigte, S. 127; aus Gründen der "Subsidiarität" offengelassen von Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 59. Zur engen, historischen Verknüpfung insbesondere im anglo-amerikanischen Rechtskreis vgl. Guradze, FS filr Loewenstein, S. 156; Rogall, Der Beschuldigte, S. 127.

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schließen84 . Strafprozessual verbotene Vernehmungsmethoden, wie die Aussageerpressung, Täuschung, Narkoanalyse oder ein Polygraph nähmen dem einzelnen die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob er die von ihm geforderte Antwort zum Gegenstand einer Gewissensentscheidung machen will. Das Recht zu Schweigen wird dabei als notwendige Absicherung jenes intimen Freiheitsraumes erachtet, der das "Personengeheimnis" oder die "psychische Unversehrtheil des Menschen" beinhaltet. In diesem Sinne sieht Hamel in Art. 4 I GG die Garantie, frei von psychischem Zwang selbst entscheiden zu können, was der einzelne aus seinem Innersten mitteilen möchte. Er geht davon aus, daß jeder Versuch, diese Freiheit zu beschränken, ein Eingriff in das unantastbare "forum internum und das Recht darüber zu schweigen" ist85 . Folgt man dieser Auffassung und nimmt an, daß jede Entscheidung zur Aussage oder Mitwirkung im Prozeß eine des Gewissens ist, so spricht dies fUr den hohen Rang des nemo tenetur-Prinzips, denn zum einen ist die Gewissensfreiheit vorbehaltlos gewährleistet und zum anderen erfiihrt Art. 4 I GG dadurch eine Aufwertung, daß das BVerfG die Gewissensfreiheit als Entfaltung der Menschenwürde ansieht. Damit könnten nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte ausnahmsweise das nemo tenetur-Prinzip in Einzelfallen begrenzen, wobei fraglich ist, ob ein Allgemeintopos wie "die Erfordernisse einer an rechtsstaatliehen Garantien ausgerichteten Strafrechtspflege"86 geeignet wäre, einen Eingriff in das mit hohem Menschenwürdegehalt ausgestattete Grundrecht zu rechtfertigen87. Den oben genannten Auffassungen ist dahingehend zuzustimmen, daß der von Art. 4 I GG vorausgesetzte Gewissensbegriff weitgehend säkularisiert ist und Gewissensentscheidungen nicht auf ein allgemeines und umfassendes (metaphysisches) Gedankensystem zurückfilhrbar sein müssen. Sie können als Folge des Gebots weltanschaulich-religiöser Neutralität ebenso Ausdruck einer individuellen, höchstpersönlichen religiösen oder weltanschaulichen Haltung sein88 . Das BVerfG und das BVerwG haben in Einklang damit die Gewisseosentscheidung defmiert, als "ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von ,gut' und ,böse' orientierte Entscheidung(... ) , die der einzelne in einer bestimmten Lage als fUr sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfiihrt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte" 89 . Weitgehend unbestritten gewährleistet die in Art. 4 I GG abgesicherte Gewissensfreiheit nicht 84 Vgl. dazu und im folgenden BK-Zippe/ius, Art. 4, RN 42 unter Verweis auf Arbeiten von Scho/ler, Die Freiheit des Gewissens; Hamel, in: Die Grundrechte IV/I, S. 85. 85 Harne!, in: Die Grundrechte IV/I, S. 58, 85. 86 Vgl. BVerfGE 80, 375. Zu diesem Faktor der Abwägung, vgl. unten Teil I,§ 2 III. 87 Grundlegend zur Eingriffsrechtfertigung bei Art. 4 GG: BVerfGE 28, 260 f. 88 BVerfGE, 32, 106; Maunz I Dürig I Herzog, GG, Art. 4, RN 123m. w. N. 89 BVerfGE 12, 55; vgl. auch BVerwGE 7, 246; 9, 97 f.

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nur einen Bereich innerer geistiger Freiheit (forum internum), sondern auch das Recht zur Gewissensverwirklichung und damit die Befugnis, gemäß der inneren Überzeugung nach außen zu handeln90 • Diese Überzeugung muß nicht allgemein fUr anerkennenswert erachteten Maßstäben entsprechen, so daß die Aussage- und Mitwirkungsfreiheit nicht bereits deshalb aus dem Schutzbereich der Gewissensfreiheit auszuklammern ist, weil das Gewissen vom einzelnen doch verlangen müßte, das Unrecht einzugestehen91 • Entgegen der Auffassung Rogalls kann den genannten Meinungen auch nicht entgegengehalten werden, daß sich diese nur auf einen Teilaspekt des nemo tenetur-Grundsatzes beziehen, nämlich den der Abwehr bestimmter, in § 136a StPO teilweise erfaßter Eingriffsmethoden92. Nach zutreffender Auffassung ist statt dessen davon auszugehen, daß Art. 4 I GG allgemein gewährleistet, daß sich die Bildung von Gewissensüberzeugungen ohne Beeinträchtigungen durch Maßnahmen der öffentlichen Gewalt vollzieht93 • Dabei kann natürlich nicht jeder Einfluß auf die Bildung individueller Gewissensentscheidungen untersagt sein. Die Grenze zur verbotenen Einflußnahme wird jedoch dann überschritten, wenn der einzelne unter Mißachtung seiner Menschenwürde nicht als eine zu selbständiger Gewissensentscheidung berufene Persönlichkeit geachtet wird94 . Auf das nemo tenetur-Prinzip übertragen, bedeutet dies, daß insbesondere die grundlegende Entscheidung zu einem von Reue getragenen Geständnis und umgekehrt natürlich auch zur Verweigerung desselben tatsächlich eine des Gewissens ist, so daß auf diese Überzeugungsbildung nicht durch staatlichen Zwang eingewirkt werden darf. Andererseits wird der Beschuldigte sich häufig allein aus pragmatischen und verstandesmäßigen Überlegungen, die fUr sich genommen nicht die Anforderungen an eine Gewissensentscheidung erfiillen können95 , zu einer Mitwirkung im Prozeß entschließen. Eine Mitwirkungsverweigerung aus vernunftgeleiteten Erwägungen wird aber ebenso durch den nemo tenetur-Grundsatz geschützt wie die Entscheidung, nicht aussagen zu wollen, weil sich der Beschuldigte den Anforderungen einer besonderen Vernehmungssituation nicht gewachsen fiihlt. Der Beschuldigte verdient nicht nur dann Schutz, wenn er eine 90 Vgl. BVerfGE 78, 395 und die Nachweise bei Maunz I Dürig I Herzog, GG, Art. 4, RN 129 ff. 91 So aber Fischer, Divergierende Selbstbelastungspflichten, S. 105; dagegen zutreffend Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 56. 92 Roga/1, Der Beschuldigte, S. 128. Offen bleibt auch, warum Roga/1 eine Verankerung des nemo tenetur-Prinzips in Art. 4 I GG mit der Begründung ablehnt, die Frage der Prozeßförderungspflicht sei keine des Gewissens (S. 129). Im Widerspruch dazu stellt er im Zusammenhang mit der Ableitung des nemo tenetur-Prinzips aus dem fair trial-Grundsatz fest, daß die Frage der Prozeßftirderungspflicht nur das Resultat, jedoch keine Rechtfertigung des Verbots der Selbstbelastung ist (S. 114). 93 V gl. Sachs, Grundgesetz, RN 49 ff. 94 BK-Zippelius, Art. 4, RN 41. 95 Vgl. BVerwGE 7, 248.

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Handlung als sittlich unbedingt geboten erachtet96 , sondern in noch zu klärendem Umfang auch vor unbewußter Selbstbelastung. Im übrigen stellt sich bei jeder Gewissensentscheidung das Problem der Überprüfbarkeit dieser inneren Verpflichtung auf ihre Ernsthaftigkeit und ihr Gewicht filr den Betroffenen97 ein Aspekt, der bei einer durch den nemo tenetur-Grundsatz geschützten Verhaltensweise des Beschuldigten keine Rolle spielen darf, denn dessen Entscheidung ist unabhängig von der Ernsthaftigkeit und subjektiven Zwangswirkung der zugrundeliegenden Motivation, ausnahmslos zu respektieren. Festzuhalten bleibt, daß die Grundentscheidung des Beschuldigten über sein Prozeßverhalten eine Gewissensentscheidung sein kann, das nemo tenetur-Prinzip jedoch einen wesentlich Weiterreichenderen Schutzbereich hat und damit Art. 4 I GG nur in Teilbereichen einschlägig ist.

II. Konsequenzen einer Ableitung des nemo tenetur-Grundsatzes aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit 1. Die allgemeine Handlungsfreiheit Das BVerffi hat im Gemeinschuldnerbeschluß ausgefilhrt, daß die uneingeschränkte Aussagepflicht des von Selbstinkrirninierung bedrohten Gemeinschuldners "als Eingriff in die Handlungsfreiheit sowie als Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts im Sinne des Art. 2 I GG zu beurteilen"98 ist. Daß das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung den Schutz der durch Art. 2 I mit gewährleisteten allgemeinen Handlungsfreiheit genießt, kann als selbstverständlich angesehen werden, denn diese garantiert als "Auffanggrundrecht" fiir den einzelnen einen "lückenlosen" Grundrechtsschutz und innerhalb der in Art. 2 I 2. HS. genannten Grenzen99 dessen Anspruch auf Selbstverwirklichung in der sozialen Umwelt 100• Der Begriff der freien "Entfaltung" der Persönlichkeit verweist auf die individuelle Autonomie des einzelnen und damit natürlich auch 96

So aber aufgrund des weiten Gewissensbegriffs die Anforderungen an eine unter

Art. 4 I GG zu subsumierende Gewissensentscheidung; vgl. BVerfGE 12, 55; v. Mangoldt I Klein I Starck, Art. 4 I, II GG, RN 36; v. Münch, Grundgesetz, Art. 4, RN 32. 97 Vgl. v. Mangoldt I Klein I Starck, Art. 4 I, II GG, RN 36; Maunz I Dürig I Herzog, Art. 4 GG, RN 152 ff.; Nothelfer, Die Freiheit von Se1bstbezichtigungszwang, S. 58.

BVerfDE 56, 41 f. Zur Diskussion, ob die durch den nemo tenetur-Grundsatz geschUtzten Verhaltensweisen von der Schrankenregelung des Art. 2 I betroffen sind, vgl. Roga/1, Der Beschuldigte, S. 132 ff. m. w. N. 100 Vgl. dazu Sachs, Grundgesetz, Art. 2 GG, RN 10 ff. m. w. N. Seit dem ElfesUrteil (BVerfGE 6, 32 ff.) vertritt das BVerfG in ständiger Rechtsprechung ein weites Tatbestandsverständnis von Art. 2 I GG. Zur Diskussion, ob Art. 2 I GG ein enges oder weites Schutzbereichsverständnis voraussetzt, vgl. auch Sachs, a. a. 0 ., RN 42 ff. m. w. 98

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auf die Möglichkeit, eine selbstbestimmte Entscheidung zur Mitwirkung im Strafverfahren zu treffen 101 • Gewährleistet Art. 2 I GG i. d. S. einen umfassenden Schutz menschlicher Verhaltensweisen, dann bedarf es auch keiner weiteren Erörterung, daß nicht nur aktive Handlungen in den Schutzbereich einbezogen sind, sondern ebenso spiegelbildlich das Recht, nicht zu handeln. Eine klare Trennung zwischen Aktivität und Passivität dürfte sowieso kaum möglich sein. So läßt sich gerade an der Diskussion zur verfassungsrechtlichen Ableitung des nemo tenetur-Grundsatzes aufzeigen, wie sehr die Trennung beider Verhaltensalternativen Ausdruck subjektiver Wertvorstellungen ist. Entsprechend der Unterscheidung der h. A., die lediglich einen Zwang zu Aktivität als Eingriff in den Schutzbereich des nemo tenetur-Grundsatzes ansieht, wird vorgebracht, wenn Art. 2 I GG das Recht gewähre, sein Leben nach "individuellem FürRichtig-Halten" zu gestalten, dann garantiere Art. 2 I GG notwendigerweise auch "die Freiheit, von der Entfaltungsmöglichkeit keinen Gebrauch zu machen und sich passiv zu verhalten'" 02 . Die damit zumindest mittelbar verbundene Wertung, ein Beschuldigter, der schweigt, verzichte auf die Möglichkeit einer "positiven" Persönlichkeitsbetätigung, ist einseitig und verkennt, daß auch die Entscheidung, nicht zur Sache auszusagen, eine selbstbestimmte Entscheidung fiir eine bestimme Verhaltensform im Strafverfahren sein kann und damit einen eigenverantwortlichen Entschluß, durch Schweigen auf den Verfahrensverlauf Einfluß zu nehmen, voraussetzt. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn das nemo tenetur-Prinzip als Ausdruck der allgemeinen Entschließungsfreiheit in Art. 2 I GG verankert wird. Fraglich ist jedoch, ob dessen Funktion nicht entschieden verkürzt wird, sofern ihm als Teilbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Schutz eines privaten Lebensbereichs und damit lediglich eine passive Funktion beigemessen wird. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist zwar grundsätzlich spezieller als der Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit, des aktiven Elements der Persönlichkeitsentfaltung 103 • Warum aber aus der negativen, abwehrenden Zielrichtung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugleich auf eine entsprechende Funktion des nemo tenetur-Grundsatzes geschlossen werden muß, bleibt unbegrilndet.

2. Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Unter Berücksichtigung der langen Tradition des nemo tenetur-Grundsatzes im deutschen Strafverfahren 104 erstaunt es auf den ersten Blick, daß Rogall in Vgl. Sachs, Grundgesetz, Art. 2 I GG, RN 45. Rogal/, Der Beschuldigte, S. 131 m. w. N. 103 Vgl. dazu Sachs, Grundgesetz, RN 59 ff. und Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 77 ff. m. jeweils w. N. 104 Vgl. dazu unter Teil I,§ 3 und die Nachweise in FN 337 f. 101

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seiner Monographie über das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung diesen Grundsatz als "neues Freiheitsrecht" aus Art. 2 I GG abgeleitet hat105 . So ist ihm auch vorgeworfen worden, er erwecke damit unter Verkennung des notwendigen historischen Zusammenhangs den unzutreffenden Eindruck einer im deutschen Rechtsleben neuartigen Verfassungsgarantie 106. Sieht man die Feststellung Rogalls jedoch im Zusammenhang mit seiner Bezugnahme auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht107, so wird deutlich, warum Rogall den nemo tenetur-Grundsatz als "neues" Freiheitsrecht bezeichnet hat. Nach seiner Auffassung berührt jeder Versuch, den Beschuldigten zum Beweismittel gegen sich selbst zu machen, den durch Zusammenwirken von Art. 2 I mit Art. I I, 19 li GG gekennzeichneten Kernbereich des Freiheitsrechts, so daß er zu dem Schluß gelangt, das Verbot der Selbstbelastung sei nichts anderes als ein (neues) besonderes Persönlichkeitsrecht108 • Vergleicht man die bisher durch das BVerfG zur Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts herausgebildeten Fallgruppen - etwa das Recht am eigenen Bild, am eigenen Wort, das Recht auf Gegendarstellung, das Recht des Strafgefangenen auf Resozialisierung, den Schutz der Privat- oder Geheimsphäre und das noch näher zu erörternde Recht auf informationelle Selbstbestimmung109- mit dem nemo tenetur-Grundsatz, so läßt sich allenfalls eine partielle Übereinstimmung feststellen, ohne daß der nemo tenetur-Grundsatz jedoch einer der Gruppen eindeutig zugeordnet werden könnte. Einer jüngst geäußerten Auffassung zufolge soll der nemo tenetur-Grundsatz aus einer Teilausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, dem Ehrschutz abgeleitet werden können 110. Da im Strafverfahren gegenüber dem einzelnen die Berechtigung eines "kriminalstrafrechtlichen Vorwurfs", sich möglicherweise strafbar gemacht zu haben, überprüft werde, könne dieser "als Kehrseite hierzu" Rogall, Der Beschuldigte, S. 129 ff. (132), S. 139 ff. So Rieß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 162 f. Ebenso Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 69 in FN 278. 107 Vgl. Rogal/, Der Beschuldigte, S. 139 ff. 108 Rogall, Der Beschuldigte, S. 147; ders., SK, vor§ 133 StPO, RN 136 f. Unverständlich allerdings der Schluß, weil der Schutzgegenstand nicht mit den anderen Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts - und hier insbesondere des Persönlichkeitsrechts der Entschließungsfreiheit - identisch sei, könne mit dem Schutz der Willensentschließung und -betätigung auch kein Spezifikum des nemo tenetur-Grundsatzes getroffen sein. Ebenso läßt sich vertreten, daß der nemo tenetur-Grundsatz vollumfänglich vom Schutz der allgemeinen Entschließungsfreiheit umfaßt ist, diese aber nur in speziellen, noch zu konkretisierenden Fällen schützt. Auch an diesem Beispiel läßt sich wieder die Überbewertung verfassungsrechtlicher Argumentationsmuster bei der Inhaltsbestimmung der Selbstbezichtungsfreiheit aufzeigen. 109 Zu den einzelnen Fallgruppen, vgl. die Nachweise zur Rechtsprechung des BVerfG bei Sachs, Grundgesetz, RN 68 ff. 110 Vgl. dazu auch im folgenden Lagodny, StV 96, S. 171, insbesondere in FN 54. Ein ähnlicher Ansatz findet sich bereits bei Sautter, AcP 161 (1962), S. 255m. w. N. 105

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nicht verpflichtet werden, die tatsächlichen Voraussetzungen fiir einen solch schwerwiegenden, staatlichen Eingriff in seinen Ehrschutz zu schaffen. Überzeugen kann dies aber nicht, denn schon die Grundannahrne, die Aufforderung, am Strafverfahren mitzuwirken, beinhalte eine Kränkung, Herabwürdigung oder Mißachtung des berechtigten persönlichen Geltungsanspruchs 111 , läßt sich ebenso für andere strafprozessuale Zwangsmaßnahmen anfUhren, die der Beschuldigte unzweifelhaft hinzunehmen hat. So ist mit allen Duldungspflichten, die sich erkennbar nur gegen den Beschuldigten richten können, etwa der Pflicht, körperliche Eingriffe nach § 81 a StPO hinzunehmen, eine vergleichbare Beeinträchtigung des sozialen Geltungsanspruchs verbunden. Zudem könnte doch zumindest von einem Unschuldigen erwartet werden, daß er am Strafverfahren mitwirkt, um dazu beizutragen, daß irrfolge eines Freispruch die ehrverletzende Belastung durch den Tatvorwurf aus der Welt geschaffen wird. Sofern mit dem Rückgriff auf den Ehrenschutz zum Ausdruck gebracht werden soll, daß eine Aufforderung zur Mitwirkung am Strafverfahren nicht der Pflicht des Staates zur Mäßigung, Zurückhaltung und Sachlichkeit entspricht 112, da sie letztlich die Schuld des Betroffenen voraussetzen würde, ist damit kein Spezifikum des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, sondern der Unschuldsvermutung angesprochen113. a) Der nemo tenetur-Grundsatz- ein durch das Recht auf informationeile Selbstbestimmung abgesichertes Informationsverfilgungsrecht? aa) Schutzbereich des Rechts auf informationeile Selbstbestimmung

Von den angesprochenen Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bedarf lediglich das Recht auf informationeile Selbstbestimmung einer näheren Erörterung. Im Volkszählungsurteil hat das BVerfG die Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts um das Recht auf informationeile Selbstbestimmung erweitert 114. Es gewährt dem einzelnen die Befugnis, "grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden"u5 . Kennzeichnend für die Schutzwürdigkeit von Daten in Anbetracht des Rechts auf informationeile Selbstbestimmung ist vor allem der bei Datenerhebung angestrebte Verwendungszusammen-

111 112

Zu dieser Umschreibung des Ehrschutzes, vgl. u. a. BVerfD NJW 94, 1780. Zu diesem Aspekt des Ehrschutzes, vgl. Sachs, Grundgesetz, Art. 2, RN 130

m.w.N.

Vgl. dazu unten Teil I, § 2 IV 2 c). BVerfDE 65, I ff. Die Literatur zu diesem Urteil hat unübersehbare Ausmaße angenommen, vgl. nur die umfangreichen N. bei Rogall, lnformationseingriff, S. 3. 115 BVerfDE 65, 42. 113

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hang 116• Ausgehend von dem Gedanken, daß die Offenlegung strafrechtlicher Verfehlungen zugleich die Offenbarung eines persönlichen Lebenssachverhaltes betrifft und damit jede strafverfolgende Ermittlungstätigkeit als Erhebung und Verarbeitung von - nicht allgemein zugänglichen - persönlichen Daten begriffen werden kann 117, liegt es nahe, die verfassungsrechtliche Verbürgung des nemo tenetur-Grundsatzes in diesem speziellen Freiheitsrecht zu sehen 118• Auch Reiß hat in seiner Habilitationsschrift den nemo tenetur-Grundsatz im Kern als Informationsverfügungsrecht qualifiziert, auch wenn er dabei nicht auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sondern auf das Rechtsstaatsprinzip zurückgegriffen hat 119 • Entscheidend ist nach seiner Auffassung nicht der Eingriff in den Prozeß der Willensbildung; die Trennlinie für eine zulässige Zwangsausübung verlaufe vielmehr dort, wo der Beschuldigte nicht als Augenscheinsobjekt in Anspruch genommen, sondern als Wissensträger zwangsweise veranlaßt werden soll, sein Wissen der Strafverfolgung zur Verfügung zu stellen. Ein zwangsweiser Zugriff auf das Wissen des Beschuldigten soll demnach auch dann unzulässig sein, wenn es gelingen sollte, ihm dieses Wissen ohne jedes aktive Tun seinerseits, mittels vis absoluta zu entreißen 120. Der Ansatz von Reiß unterscheidet sich damit in seinem Schwerpunkt nicht von der Funktionszuweisung, die mit einer Bezugnahme auf das Recht auf informationielle Selbstbestimmung verbunden ist. Das nemo tenetur-Prinzip kann jedoch nur dann aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung abgeleitet werden, wenn sich sein Schutzgegenstand nicht vorrangig auf die Art und Weise der Informationserlangung bezieht, sondern vor allem den Schutz der vom Beschuldigten selbst stammenden, verfahrensrelevanten Informationen vor Augen hat. Diese Interpretation setzt voraus, daß der nemo tenetur-Grundsatz als Informationsverfügungsrecht und nicht als Vgl. auch Geis, JZ 91, S. 113m. w. N. So die sehr weit gefaßte Eingriffstheorie.Vgl. dazu Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 180m. w. N.; Rogall, GA 85, S. 3: "Datenverarbeitung im weiteren Sinne". Durch die Berücksichtigung der spezifischen Eingriffsituation ist mit einer weiten Auslegung des Rechts auf informationeHe Selbstbestimmung nicht notwendigerweise eine Anerkennung der Lehre vom informationeilen Totalvorbehalt verbunden, vgl. Lilie I Rudolph, NStZ 95, 515 m. w. N. 118 So Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigung, S. 82 ff.; vgl. bereits Keller, Rechtliche Grenzen, S. 128 ff.; offengelassen von OLG DUsseldorf StV 92, S. 505; ablehnend vor allem SK-Rogall, vor§ 133 StPO, RN 138; Lorenz, JZ 92, S. 1006. Für den Teilbereich heimlicher Informationsgewinnung durch V-Männer oder Verdeckte Ermittler im Auftrag der Ermittlungsbehörden (auch die verdeckte Vernehmung) wird von einem Teil der Literatur das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung herangezogen. In der Regel wird dabei jedoch die Verbindung mit dem nemo tenetur-Prinzip geleugnet oder nicht erörtert, vgl. Fezer, JZ 95, S. 972 mit den Nachweisen in FN 6 und 8; Lilie I Rudolph, NStZ 95, S. 514 f.; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 23 ff. m. w. N. 119 V gl. Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 155 ff. 120 Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 178. 116 117

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Abwehrrecht gegen bestimmte Methoden der Beweisgewinnung zu klassifizieren ist 121 • Der Schutzbereich des nemo-tenetur-Prinzips würde dann entgegen seinem klassischen Verständnis auch alle Fälle heimlicher Informationsgewinnung umfassen und müßte selbst dort Beachtung fmden, wo das Wissen des Beschuldigten ohne Veranlassung durch die Strafverfolgungsbehörden bereits Verkörperung in Sachbeweismitteln gefunden hat 122 • Um eine Überprüfung dieser Ausgangsthese zu ermöglichen, bedarf es zunächst einer näheren Konkretisierung der spezifischen, vom Recht auf informationeHe Selbstbestimmung erfaßten Verletzungssituation. Das BVerfG hat dazu im Volkszählungsurteil ausgefilhrt, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gebiete in Anbetracht moderner Bedingungen der Datenverarbeitung Schutz vor unbegrenzter Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe persönlicher Daten 123 • Das Recht auf informationeile Selbstbestimmung sei in den Einzelverbilrgungen des Schutzes der Privat- und Geheimsphäre, des Gegendarstellungsrechts, des Rechts auf Resozialisierung und, hier besonders interessant, des Schutzes vor Selbstbezichtigung, bereits angedeutet und gewährleiste dem einzelnen die Befugnis, "grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen" 124 . Die sehr weit gefaßte Definition des BVerfG legt es nahe, im Zusammenhang mit dem Recht auf informationeHe Selbstbestimmung nicht von einer eigenständigen Fallgruppe des Persönlichkeitsrechts zu sprechen. Es hat vielmehr eine zusammenfassende Funktion, die Teilaspekte der Einzelverbtirgungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts erfaßt, soweit diese mit Informationen zu tun haben 125 • Aus Gründen begrifflicher und systematischer Trennschärfe hätte vieles dafiir gesprochen, eine Abgren121 So etwa Peres, Strafprozessuale Beweisverbote, S. 122, der, allerdings ohne Berufung auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, durch den nemo teneturGrundsatz das Recht des einzelnen verbürgt sieht, "über die Verwertung unfreiwillig preisgegebener oder rechtswidrig erlangter Informationen selbst entscheiden zu können". Folgerichtig verstößt nach Peres auch die Verwertung selbstbelastender schriftlicher Äußerungen des Beschuldigten - etwa eines Tagebuchs -, die dieser im Vertrauen auf den Fortbestand seiner grundrechtlich gesicherten Freiheiten getätigt hat, gegen den nemo tenetur-Grundsatz (a. a. 0 . S. 110, 145). Stimmt man dem zu, unterscheidet sich der Anwendungsbereich des nemo tenetur-Grundsatzes allerdings kaum noch vom allgemeinen Schutz der Privatsphäre. 122 Beispielsweise bei der Verwertung von Tagebüchern zur Urteilstindung im Strafprozeß; vgl. insbesondere BVerfDE 80, 373 und BGHSt 19, 325 ff.; 34, 397 ff.; JR 94, S. 430. 123 BVerfDE 65, 43 . 124 BVerfDE 65, 43 unter Bezugnahme auf den Gemeinschuldnerbeschluß BVerfDE 56, 37 ff. 125 So v. Münch, Grundgesetz, Art. 2 GG, RN 38m. w. N.; Pieroth I Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, RN 432. Zu weit dagegen Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 82, der davon ausgeht, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei "eine Umschreibung des sachlichen Gehalts des allgemeinen Persönlichkeitsrechts insgesamt". 4*

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zung zum Recht auf private Lebensgestaltung 126 durch eine Beschränkung der Schutzgewährleistung auf die Frage der Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeiten von Informationen vorzunehmen und den Schutz vor Erhebung von Informationen gegen den Willen des Betroffenen, dem Persönlichkeitsrecht auf Privatheit zu überlassen 127• Diesen Weg hat das BVerfG jedoch offensichtlich nicht beschritten, denn es hat ausdrücklich erklärt, nicht nur die Verwendung persönlicher Daten (beispielsweise die öffentliche Bekanntmachung einer Entmündigung128) greife in das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung ein, sondern auch die Pflicht zur Offenbarung dieser Tatsachen 129. Es schütze "generell vor staatlicher Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten"130 ohne Beschränkung auf den Anwendungsbereich datenschutzrechtlicher Regelungen. Funktion dieses Rechts ist es, dem Bürger die Chance der Persönlichkeitsentwicklung dadurch zu bewahren, daß er überblicken kann, wer was wann über ihn weiß. Mit diesem Zweck verträgt sich keine Differenzierung nach Dauer, Umfang oder Art der Informationserhebung und auch die Qualität der erlangten Information sowie die Form der weiteren Verarbeitung muß zunächst unerheblich sein 131 • Für den Bereich des Rechts auf informationeHe Selbstbestimmung verzichtet das BVerfG ausdrücklich auf eine Unterscheidung verschiedener, mit unterschiedlicher Eingriffsresistenz und Schutzbedürftigkeit ausgestatteten Sphären der Persönlichkeitsentfaltung und ordnet zu Recht alle Daten gleichermaßen in seinen Schutzbereich ein, weil es angesichts der modernen Datenverarbeitungs- und Verwendungsmöglichkeiten kein belangloses Datum mehr gibt 132 .

bb) Komplementärfunktion des Rechts aufinformationeile Selbstbestimmung Soweit strafverfahrensrelevante Informationen zur Disposition stehen, scheinen die vorangegangenen Erörterungen dafllr zu sprechen, auch das nemo tenetur-Prinzip als Teilaspekt des Rechts auf informationeHe Selbstbestimmung zu 126 Vgl. zum Schutz eines abgeschirmten Bereichs persönlicher Entfaltung die Nachweise bei Pieroth I Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, RN 431. 127 So die Interpretation von Lorenz, GA 92, S. 260 f. und FN 44; Scho/z I Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung, S. 69 f. 128 Vgl. BVerfGE 78, 84. 129 BVerfGE 84, 195. 130 BVerfGE 78, 84; vgl. auch BVerfG NJW 88, 3009. 131 Zur einschränkenden Interpretation des Rechts auf informationeHe Selbstbestimmung bei schlichten Ermittlungshandlungen, die nicht den Bereich der automatisierten Datenverarbeitung berühren (etwa die hier interessierende schlichte Erhebung personenbezogener Daten durch Befragung eines Tatverdächtigen), vgl. SK-Rudolphi, vor § 94 StPO, RN 45 ff.; Rogall, GA 85, S. II ff. jeweils m. w. N.; ablehnend Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 26 ff. m. w. N. 132 BVerfGE 65, 45.

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begreifen. Das BVerfG betont zwar im Volkszählungsurteil, daß der einzelne im Sinne seiner Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit Einschränkungen seines Rechts auf informationeile Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen müsse 133 -eine im Hinblick auf den absoluten Schutz der Aussagefreiheit im Strafprozeß nicht hinnehmbare Konsequenz. Es weist aber ausdrücklich darauf hin, daß ein Allgemeininteresse an selbstbezichtigenden Angaben nicht bestehen kann 134 . Das könnte als Hinweis zu verstehen sein, daß selbstbezichtigende Angaben grundsätzlich erfaßt sein sollen, aber angesichts der besonderen, damit verbundenen Interessenlage einer Abwägung mit Belangen der Strafrechtspflege entzogen, d. h. abwägungsfest sind 135 • Es verdeutlicht jedoch auch, daß das BVerfG im Widerspruch zu seinen sonstigen Ausfilhrungen, nicht auf die Existenz einer innersten, unantastbaren Sphäre verzichten möchte und diese deshalb in eine Abwägungsregel verwandelt hat136. Eine vergleichbare Regel setzt jedoch voraus, daß Klarheit darüber besteht, wann eine staatlich erzwungene bzw. erzwingbare Selbstbezichtigung gegeben ist, die aus der grundsätzlich erforderlichen Abwägung ausgeklammert werden soll. Damit ist auch zugleich das entscheidende Argument gegen eine Verankerung des nemo-tenetur-Prinzips im Recht auf informationeile Selbstbestimmung angesprochen. Es bleibt offen, woraus sich diese allgemeine Vorrangrelation 137 ergeben soll, denn das informationeHe Selbstbestimmungsrecht kennt weder eine Differenzierung nach Art oder Herkunft der zu schützenden Information noch berücksichtigt es die bei der Inhaltsbestimmung des nemo teneturGrundsatzes ausschlaggebende Methode der Informationsgewinnung. Aufgrund des fehlenden Abwägungsmaßstabes, gerade für den Bereich der Selbstbelastungsproblematik, trägt dieses Recht weder den Besonderheiten der Beschuldigten- oder Tatverdächtigensituation noch der speziellen strafprozessualen Situation Rechnung. Informationen sind nicht deshalb schützenswerter, weil sie vom Beschuldigten stammen oder straftatbezogen sind, und können deshalb auch keine größere Eingriffsresistenz besitzen. Im Einzelfall können Informationen zwar mit Rücksicht auf eine besondere persönliche Beziehung einer Verwertung im Strafverfahren entzogen sein. Das schließt jedoch nicht aus, diese höchstpersönlichen Informationen durch andere Beweismittel in den Strafprozeß einzufiihren 138 • In Anbetracht der Tagebuchentscheidung des BVerfG BVerfGE 65, 44. BVerfGE 65, 46. 135 In diesem Sinne Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 90 ("allgemeine Vorzugsregel"). 136 Vgl. auch die Kritik bei Rogall, Informationseingriff, S. 45. 137 Zum Begriff der Vorrangrelation bei Prinzipienkollisionen, vgl. A/exy, Theorie der Grundrechte, S. 78 ff. 138 Zutreffend Lorenz, GA 92, S. 207. 133

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könnte man eher geneigt sein, die entgegengesetzte Position zu beziehen und festzustellen, daß strafverfahrensrelevante Informationen aufgrund ihres hohen Gemeinschaftsbezuges nicht dem (unantastbaren) Bereich privater Lebensgestaltung angehören und damit weniger schutzwürdig sind 139, denn nach h. M. wird der schützenswerte Kernbereich bereits dann verlassen, wenn der Beschuldigte in ein "Beziehungsgeflecht zur Allgemeinheit" eintritt 140• So hat auch der BGH die Verwertung eines vor einem Selbsttötungsversuch des Beschuldigten an seine Freundin geschriebenen Abschiedsbriefs deshalb filr zulässig erachtet, weil das Schreiben seinem Zweck und seinem auf eine Straftat bezogenen Inhalt nach, über die Rechtssphäre des Verfassers hinausweise 141 • Stellt man allein auf die Qualität der verlangten Informationen ab, kann nach diesen Grundsätzen kaum behauptet werden, eine Aussagepflicht verlange vom Tatverdächtigen einen Einblick in seine "ureigenste Intimsphäre", denn das Auskunftsverlangen betrifft vorrangig Informationen über Eingriffe in Rechtsgüter anderer 142• Mit einer Charakterisierung des nemo tenetur-Grundsatzes als Informationsverfiigungsrecht läßt sich auch nicht überzeugend darlegen, warum auf der einen Seite zwar kein Zwang zu selbstbelastenden Angaben ausgeübt werden darf, es aber andererseits zulässig sein soll, sich diese Informationen im Rahmen einer Telefonüberwachung zu verschaffen. In beiden Fällen werden Informationen filr Zwecke der Strafverfolgung erhoben, wobei nur die ftlr das informationelle Selbstbestimmungsrecht unerhebliche Informationserhebungsmethode differiert. Lediglich anband weitergehender, vom Recht auf informationeile Selbstbestimmung nicht vorgegebener Kriterien läßt sich darüber hinaus die Ausgestaltung der strafprozessualen Mitwirkungspflichten des Beschuldigten erfassen. Wenn das BVerfD feststellt, daß jeder einzelne die Befugnis habe, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte dem Staat zur Kenntnis gebracht werden, dann kann dem entgegen der Auffassung Nothelfers keine Beschränkung der Entscheidungsfreiheit auf die aktive Offenbarung von Informationen entnommen werden 143 • Die Inkonsequenz dieser Argumentation zeigt sich daran, daß InforVgl. BVertGE 80, 375. Vgl. SK-Schlüchter, § 261 StPO, RN 51 m. w. N. Diese Ansicht verkennt allerdings, daß der Autor eines Tagebuchs lediglich eine schriftliche Auseinandersetzung mit sich, jedoch nicht mit der Allgemeinheit sucht. 141 Vgl. BGH NStZ 95, 79 f. Bezeichnend auch, daß der BGH in diesem Fall ein besonderes Aufklärungsinteresse mit den Schwierigkeiten einer Feststellung des Tatvorsatzes begründet hat, sofern auf eine Verwertung der tatbezogener Äußerungen verzichtet würde. 142 Vgl. auch Günther, GA 78, S. 197. 143 Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 91 f. unter Bezugnahme aufBVertGE 65, 42. 139

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mationen der Dispositionsbefugnis des Betroffenen entzogen sein sollen, wenn sie bereits reale Verkörperung in der Umwelt gefunden haben und damit einem objektiven Beweisverfahren zugänglich sind. Da jedoch beispielsweise die Blutentnahme zur Feststellung der BAK-Konzentration auch als Informationseingriff angesehen werden kann, beruht diese Unterscheidung letztlich auf einer fiir das informationeile Selbstbestimmungsrecht abgelehnten Trennung unterschiedlicher Sphären der Persönlichkeitsentfaltung oder es müßte konsequenter Weise von der Verfassungswidrigkeit des§ 8la StPO ausgegangen werden. So greift auch Nothelfer systemfremd auf Kriterien der Sphärentheorie zurück, wenn er darauf abstellt, daß bereits verkörperte Informationen "nicht nur Bestandteil der geistig-seelischen Sphäre sind" 144, über welche ausschließlich der einzelne disponieren könne. Dies beinhaltet zugleich das Eingeständnis aus dem durch das BVerfG sehr weit gefaßten informationeilen Selbstbestimmungsrecht, keinen Maßstab über Reichweite und Funktion des nemo tenetur-Prinzips gewinnen zu können. Unter dem Aspekt des informationellen Selbstbestimmungsrechts unterliegen Informationseingriffe, gleichgültig ob durch den Eingriff ein verfahrensunbeteiligter Dritter oder der Beschuldigte betroffen ist, einem einheitlichen Maßstab der lediglich im Rahmen der erforderlichen Abwägung eine Differenzierung nach selbst- oder drittbelastenden Informationen beinhaltet. Zudem wird der Beschuldigte selbst dann vor Zwang zur Preisgabe bestimmter Informationen geschützt, wenn die betreffenden Informationen sowohl dem Gericht als auch der Allgemeinheit bekannt sind. Ob in diesem Fall entsprechende Angaben unter dem Blickwinkel des informationeilen Selbstbestimmungsrecht aber noch gleichermaßen schützenswert sind, muß bezweifelt werden. Das informationeile Selbstbestimmungsrecht hat im Zusammenspiel mit dem spezielleren, jedoch nicht vollständig umfaßten nemo tenetur-Prinzip einerseits die Aufgabe zu verhindern, daß durch die ständige Erweiterung verdachtsunabhängiger Ermittlungsmethoden dieses Prinzip tatsächlich gegenstandslos wird und andererseits die Komplementärfunktion, dort wirksam zu werden, wo im Interesse einer größtmöglichen Abwägungsresistenz dem nemo tenetur-Grundsatz zwangsläufig Grenzen gesetzt werden müssen.

cc) Verdeutlichung der Komplementärfunktion des Rechts auf informatione//e Selbstbestimmung am Beispiel des Asylverfahrens Diese Verknüpfung soll am Beispiel einer Entscheidung des BGH aus dem Bereich des Asylverfahrens verdeutlicht werden. Der BGH hat in einer sehr umstrittenen Entscheidung festgestellt, daß Angaben, die ein Asylbewerber im Rahmen der nach § 8 II AsylVfG vorgeschriebenen Anhörung über die Modalitäten seiner Einreise macht, in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren we144

Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 92.

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geneines Vergehens nach § 47 I Nr. 1 Getzt: § 92) AuslG auch ohne seine Zustimmung verwertet werden können 145 • Im Schrifttum wurde diese Entscheidung heftig kritisiert 146 . Die §§ 136, 136a StPO könnten zwar nicht unmittelbar auf die geschilderte Fallkonstellation angewendet werden, da diese nur Äußerungen in einem bereits eingeleiteten Strafverfahren erfassen, die im Gemeinschuldnerbeschluß 147 entwickelten Grundsätze seien aber auf diesen Fall zu übertragen, so daß im Wege der Analogie zu § 393 II AO ein Verwertungsverbot ftlr die selbstbelastenden Angaben angenommen werden müsse 148• Das Asylverfahren kenne selbst keine den§§ 100, 101 KO vergleichbare, zwangsweise durchsetzbare Auskunftspflicht des Asylbewerbers, dennoch sei ein Analogieschluß geboten, da es bei der Frage der Anerkennung als Asylbewerber um einen gewichtigen und existentiellen Eingriff in die Position des Bürgers geht. Das BVerfG hat die Notwendigkeit eines Verwertungsverbotes fiir Angaben des Gemeinschuldners damit begründet, daß dessen strafprozessuales Schweigerecht weitgehend illusorisch würde, wenn eine außerhalb des Strafverfahrens erzwungene Selbstbezichtigung gegen dessen Willen verwertet werden dürfte. Da die Ausländerbehörde im Gegensatz zum Konkursgericht weder ein persönliches Erscheinen des Antragstellers noch die Vollständigkeit seiner Angaben erzwingen kann, läßt sich ein aus dem nemo tenetur-Grundsatz abgeleitetes Beweisverwertungsverbot nur mit der Ausweglosigkeit der Lage des Asylbewerbers begründen, der trotz des im Asylverfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes befiirchten muß, daß ihm Asyl nicht gewährt und er ausgewiesen wird 149 . Ihn trifft zwar keine erzwingbare Mitwirkungspflicht, er trägtjedoch insoweit eine gewisse Mitwirkungslast 150, als eine verweigerte Mitwirkung eine Ermäßigung der behördlichen Ermittlungspflicht zur Folge hat und bei einem "non liquet" die Ablehnung des Antrags bedingen kann 151 • Aus Sicht des Betroffenen wird die drohende Abschiebung eher größeren Zwang zur Aussage ausüben als die Androhung von Beugemitteln fiir den Fall der Aussageverweigerung. Im Gegensatz zur Situation des Gemeinschuldners fehlt es jedoch an ei145 BGHSt 36, 328 ff.; einschränkend OLG Hamm, NStZ 89, 187 f; a. A. OLG Hamburg, NJW 85,2541. Vgl. auch BVerfG NVwZ 87, 1068. 146 Ablehnend u. a. Kadelbach, StV 92, S. 506; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 25, RN 13; Ventzke, StV 90, S. 279 m. w. N. 147 Vgl. BVerfGE 56, 37 ff. 148 AG Hofgeismar StV 90, 279. 149 So argumentieren u. a. Ventzke, StV 90, S. 280 f. Zu sehr verharmlosend die Gegenposition von Meyer, JR 86, S. 171, der meint, im Fall der Nichtangabe träfen den Asylbewerber lediglich wirtschaftliche Nachteile. 150 Zu diesem Begriff in Abgrenzung zur Mitwirkungspflicht, vgl. auch BVerfGE 56, s. 46. 151 Vgl. § 8 III S. 2, § 12 IV S. 3 AsyiVtD. Weitere Beispiele fiir diese "Beweislastverteilung" finden sich z. B. in § 26 II VwVtD und § 86 I S. HS. 2 VwGO.

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ner fmalen und unmittelbaren Beziehung zwischen staatlicher Zwangsanwendung und selbstbelastender Aussage des Antragsstellers. Der mittelbare Zwang, dem sich der Asylbewerber ausgesetzt ftl.hlt, beruht lediglich auf einer mit dem erhöhten Beweisrisiko verbundenen, gesteigerten Wahrscheinlichkeit der Abschiebung. Außerdem ist ein Asylbewerber im Gegensatz zum Gemeinschuldner nicht aufgrund von Drittinteressen der Konkursgläubiger, sondern eines ausschließlich in seiner Person begründeten Interessenkonflikts gehalten, vollständige Angaben zu machen 152. Der Beteiligte eines öffentlich-rechtlichen Verfahrens kann nicht in allen Fällen gleichermaßen Schutz vor Selbstbezichtigung und Anspruchsverwirklichung verlangen, sondern er muß sich, abgesehen von Sonderregelungen des Sozialrechts IS3, in aller Regel entscheiden, welchen seiner Interessen er den Vorrang einräumen möchte 154. Der Schutz vor Selbstbezichtigung würde eindeutig übertrieben, wenn man dem Asylbewerber einerseits die Möglichkeit einräumt, Nachfluchtaktivitäten im Inland zur Begründung seines Asylantrags vorzubringen, andererseits aber der Ausländerbehörde versagt, dies zum Anlaß zu nehmen, die entsprechenden Angaben an die Strafverfolgungsbehörden weiterzuleiten m. Das nemo tenetur-Prinzip hat nicht den Zweck dem einzelnen zu ermöglichen, gefahrlos und damit u. U. auch rechtsmißbräuchlich einen begünstigende Verwaltungsentscheidung zu erlangen. Sieht man seine Aufgabe auch in der Abwehr von Vermögensnachteilen oder anderen Rechtsnachteilen des Betroffenen156, so gerät es zu einem von vielen Faktoren in der in diesem Bereich zwangsläufig notwendigen Abwägung von staatlichem Strafverfolgungsinteresse und Individualrechtsgüterschutz. Es besteht dann tatsächlich die Gefahr, daß der nemo tenetur-Grundsatz "zur kleinen Münze verkommt" 157. Sofern kein urunittelbarer staatlicher Zwang auf den Betroffenen ausgeübt wird, selbstbelastende Angaben zu machen, lassen sich kaum plausible Kriterien fmden, die erklären könnten, wann eine bestimmte Aussage so sehr Folge einer filr den Betroffenen gegebenen Zwangslage ist, daß diese als unfreiwillig erachtet werden muß. Soll dafilr beispielsweise bereits die Sanktionierung des Verschweigens selbstbelastender Angaben des pflichtversicherten Versicherungsnehmers gegenüber seiner Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung genügen, die als Obliegenheitsverletzung gegebenenfalls eine Regreßmöglichkeit des Versicherers bis Vgl. BGHSt 36,333 f.; ähnlich OLG DüsseldorfStV 92, 503. Nach § 65 III SGB I muß der Sozialträger·auch im Fall der Auskunftsverweigerung des AnspruchssteHers weiterzahlen. Vgl. auch Stürner, NJW 81, 1762. 154 Vgl. Dinge/dey, NStZ 84, S. 534. 155 Zu Recht ablehnend BGHSt 36, 328; dagegen Ventzke, StV 90, S. 279 ff. 156 Dagegen zutreffend Meyer, JR 86, S. 171; Reiß, NJW 82, S. 2540 f. 157 So Lorenz, JZ 92, S. 1006. 152 153

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zu DM 5000,- im Schadensfall zur Folge haben kann 158? Die überwiegende Auffassung verneint dies zu Recht und hält eine Beschlagnahme der belastenden Unterlagen oder eine Vernehmung des Sachbearbeiters als Zeuge ftlr zulässig. Den Versicherungsnehmer treffe zwar nach§ 34 VVG und§ 7 I Nr. 2 S. 3 AKB eine umfassende Offenbarungspflicht bezüglich des Unfallgeschehens, die bei einer Verletzung dieser Pflicht eintretende Regreßmöglichkeit des Versicherers habe jedoch keine existenzbedrohliche Wirkung, so daß auch eine durch den nemo tenetur-Grundsatz untersagte Zwangswirkung nicht angenommen werden könne 159 . Ganz abgesehen davon, daß es in diesen Fällen bereits an einer staatlich zurechenbar veranlaßten Zwangseinwirkung fehlt, wird deutlich, daß bei Einbeziehung von nicht unmittelbar staatlich erzwungenen Aussagen die Anwendbarkeit des nemo tenetur-Prinzips einer einzelfallorientierten Gesamtwürdigung überantwortet wird. Das zeigt sich auch an der Argumentation Roxins, der sich ftlr den Bereich des Asylverfahrens bei selbstbelastenden Angaben des Asylbewerbers ftlr ein aus dem nemo tenetur-Grundsatz abgeleitetes Beweisverwertungsverbot ausspricht 160• An anderer Stelle geht Roxin aber davon aus, daß Angaben eines Asylbewerbers aus einem im Ausland gestellten, schriftlich verfaßten Asylantrag, in dem sich dieser schwerer Straftaten bezichtigt, gegen ihn verwertet werden dürften. Diese Angaben sollen im Gegensatz zu dem geschilderten Ausgangsfall freiwillig und ohne Zwang erfolgt sein. Der Grund daftlr, warum selbstbelastende Angaben vor den deutschen Ausländerbehörden unfreiwillig, gegenüber einer ausländischen Einwanderungsbehörde aber freiwillig erfolgen, verschließt sich auch der näheren Betrachtung 161 • Diese im Ergebnis zutreffende Differenzierung beruht wohl darauf, daß in der Ausgangsentscheidung des BGH wegen verhältnismäßig geringfilgigen Vergehen ermittelt wurde, während das OLG DUsseldorf über schwerwiegende Verbrechen zu entscheiden hatte. Sie läßt sich deshalb mit einem überwiegenden Allgemeininteresse an der Verfolgung schwerer Straftaten rechtfertigen, -ein Weg, der bei Berufung auf das nemo tenetur-Prinzip allerdings verschlossen bleiben muß. Im Interesse eines klar abzugrenzenden Normbereichs des nemo teneturGrundsatzes und damit auch im Sinne seiner möglichst effektiven Gewährlei158 Vgl. OLG Celle JR 82, 475 ff. Zu Recht ablehnend Rengier, JR 82, S. 477 ff. Ebenfalls verneinend BVerfU NStZ 95, 599; OLG Celle NJW 85, 640; KG NStZ 95, 146m. w. N. 159 Vgl. die umfangreichen Nachweise bei KG NStZ 95, S. 147; Dingeldey, NStZ 84, S. 533; D. Meyer, MDR 75, S. 896 ff.; Reiß NJW 82, S. 2541. 160 Dazu und im folgenden Roxin, Strafverfahrensrecht, § 25, RN 13. Zur letztgenannten Fallkonstellation, vgl. OLG DUsseldorf StV 92, 503 ff. 161 In dem vom OLG DUsseldorf zu entscheidenden Fall ging es um Angaben gegenüber einer schwedischen Behörde über Straftaten, die nach § 6 Nr. 2 und 7 II Nr. 2 StGB gegebenenfalls auch deutscher Strafgerichtsbarkeit unterliegen. Das schwedische Asylverfahrensrecht kennt, vergleichbar dem deutschen Recht, keine Pflicht zur wahrheitsgemäßen und vollständigen Angabe aller verfahrensrelevanten Umstände.

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stung sollte der Schutz vor Umgehung des Selbstbelastungsprivilegs in strafverfahrensfremden Zwecken dienenden Beweiserhebungssituationen dem sachnäheren Recht auf informationeile Selbstbestimmung überlassen bleiben. Dieses Recht gewährt dem einzelnen auch die Befugnis, darüber zu entscheiden, innerhalb welcher Grenzen die freiwillig offenbarten persönlichen Daten weiter verwendet werden dürfen, schützt also in bestimmtem Umfang vor zweckfremder Verwendung der Angaben des Betroffenen 162 • Es gibt dem einzelnen, im Gegensatz zu der durch den nemo tenetur-Grundsatz absolut geschützten Entscheidungsfreiheit, zwar kein Recht auf uneingeschränkte Herrschaft über seine persönlichen Daten. Insbesondere in öffentlich-rechtlichen Verfahren der Leistungsverwaltung ermöglicht das informationeHe Selbstbestimmungsrecht aber die erforderliche Abwägung von Geheimhaltungsinteressen des Betroffenen, Zielen des Ausgangsverfahrens und dem Allgemeininteresse an effektiver Strafverfolgung. Dabei bleibt es dem Ermessen des Gesetzgebers überlassen, ob er als Ausdruck dieser Abwägung dem Verfahrensbeteiligten bereits im Vorfeld ein Aussageverweigerungsrecht einräumt 163 oder die Weitergabe der selbstbelastenden 'Angaben von bestimmten, mit dem Recht auf informationeile Selbstbestimmung in Einklang stehenden Voraussetzungen abhängig mache 64• Eine Überantwortung der oben beispielhaft angesprochenen Fälle an das Recht auf informationeile Selbstbestimmung hat den Vorteil, das nemo tenetur-Prinzip weitgehend frei von Abwägungen zu halten und damit in seinem herkömmlichen Anwendungsbereich wirkungsvoller zu gestalten 165 • So halten die Befiirworter eines Verwertungsverbotes fiir selbstbelastende Angaben eines Asylbewerbers eine Weitergabe der Angaben z. T. dann fitr zulässig, sofern schwerwiegende Straftaten Verfahrensgegenstand sind 166 • Steht jedoch fest, daß unzulässig Zwang zur Selbstbelastung ausgeübt worden ist, dann müssen die so erlangten Angaben unabhängig von den in Frage stehenden Delikten unverwertbar sein. Läßt man in wenig eingrenzbaren Randbereichen Abwägungen zu, so wird dies fast zwangsläufig auch zu Rückkoppelungen in eigentlich abwägungsfesten Bereichen filhren. Festzuhalten bleibt, daß der nemo tenetur-Grundsatz kein allgemeines Informationsverfitgungsrecht gewährt, sondern die Verwendung erhobener Informationen nur dann untersagt, wenn sie mittels bestimmter Methoden vom Beschuldigten erlangt worden sind 167 • BVerfDE 65, I (46). So im Sozialrecht, vgl. § 65 III SGB I. 164 Vgl. die Regelungen in§§ 30,31 AO und§ 35 SGB I i. V. m. §§ 67 ff. SGB X. 165 Anders wohl Keller, Rechtliche Grenzen, S. 148, der aufgrundder Auflösung der Verfahrensgrenzen durch moderne, staatliche Kontrollmethoden folgert, daß ursprünglich verfahrensinterne Schutzrechte ausgedehnt und damit aber zugleich insgesamt relativiert werden müssen. 166 Vgl. Kade/bach, StV 92, S. 508. 167 Zutreffend, jedoch konkretisierungsbedürftig die Feststellung Kellers, Rechtliche Grenzen, S. 132, daß strafverfahrensrelevante Informationen nicht rundum, sondern nur 162 163

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111. Kern- und Abwägungsbereich des nemo tenetur-Grundsatzes

Die Untersuchung würderechtlicher Konzeptionen des nemo tenetur-Prinzips hat ergeben, daß sich dessen absoluter Schutz nicht mittels eines Rückgriffs auf Art. 1 GG widerspruchsfrei begründen läßt. Damit ist jedoch kein endgültiges Urteil darüber getroffen, ob der Grundsatz mit Rücksicht auf andere Interessen im Strafverfahren eingeschränkt werden darf. Die überbetonte Verbindung von Strafprozeßrecht und Verfassungsdogmatik hat dazu gefil.hrt, daß ein strafprozessuales Prinzip nur dann absoluten Schutz genießen kann, wenn es entweder mit einem hohen Menschenwürdegehalt ausgestattet ist oder einem letztlich nur sehr unsicher zu bestimmenden Kernbereich oder Wesensgehalt einer Verfassungsbestimmung zugeordnet wird. Dabei scheint das Verständnis dafiir verlorengegangen zu sein, daß bestimmte Grundprinzipien im Strafprozeß zu unabdingbaren Bestandteilen einer fairen Verfahrensgestaltung gehören können und deshalb kraft des geschützten prozessualen Interesses einer Abwägung entzogen sein müssen. Wägt man die Aussagefreiheit des Beschuldigten mit den Gefahren eines Ermittlungsnotstandes im Bereich der organisierten Kriminalität 168 oder der von einem Gewohnheitsverbrecher ausgehenden Bedrohung fiir das Leben Unschuldiger ab 169, kann am Ergebnis des Abwägungsvorgangs kaum ein Zweifel bestehen. Beispielsweise hat der BGH nach einer Abwägung des strafprozessualen Schweigerechts mit den Erfordernissen des Einigungsprozesses der Verwertung einer unter Geltung der DDR-StPO ohne Belehrung erfolgten Beschuldigtenvernehmung zugestimmt, um eine ansonsten praktisch unmögliche Fortfilhrung dieser Verfahren zu ermöglichen 170• Dies wirft die grundsätzliche Frage auf, ob eine Einzelfallabwägung bei Eingriffen in den Schutzbereich des nemo tenetur-Grundsatzes statthaft ist, oder ob sich dies nicht deshalb verbietet, weil hier "höchstpersönliche Dinge( ... ) auf dem Spiel" stehen 171 • Kann tatsächlich behauptet werden, daß jeder Eingriff seinen unantastbaren, ionersten Lebensbereich, seinen Kernbereich oder Wesensgehalt berührt 172? insoweit geschützt sind, als sie durch willentliches Handeln des Beschuldigten zu erheben sind. 168 So etwa Lagodny, StV 96, S. 171 f. 169 Vgl. Hassemer, FS fiir Maihofer, S. 182, wobei die genannten Beispielen jedoch ebenso wie die Tagebuchentscheidungen des BVerfDE 80, 386 ff., eine Differenzierung zwischen präventivem und repressivem Handlungszweck vermissen lassen. 170 Vgl. BGHSt 38, 267 ff. 171 Vgl. Roga/1, Der Beschuldigte, S. 147. 172 Auf eine wenig gewinnbringende Differenzierung zwischen Wesensgehalts- und Kernbereichserwägungen wird an dieser Stelle verzichtet. Vgl. aber u. a. Roga/1, Der Beschuldigte, S. 144 f. Abgesehen davon, daß eine eigenständige Aufgabe der Wesensgehaltsgarantie auch in der Verfassungsdogmatik umstritten ist (vgl. dazu die N. bei Geis, JZ 91, S. 115), muß aufgrundder fehlenden Trennschärfe dieser Begriffe bezweifelt werden, daß etwa die von Wolter, NStZ 93, S. 6, vorgeschlagene Stufung in "drei

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Sofern aufgrund des spezifischen Zusammenwirkens von Art. 2 I und Art. 1 GG bei Bestimmung des "höchstpersönlichen" Charakters des Rechts auf Freiheit von Selbstbelastungszwang auf Aspekte der Menschenwürde zurückgegriffen wird, sieht sich diese Vorgehensweise den bereits oben aufgezeigten, gleichen Bedenken wie bei unmittelbarer Inanspruchnahme von Art. I GG ausgesetzt. Vor allem läßt sich eine übergreifende Regel ("der Beschuldigte darf nie zur Selbstbelastung im Strafverfahren gezwungen werden") nicht mit einer Rechtsprechung in Einklang bringen, die sich bei Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ausschließlich auf "case law" beschränkt 173 • Andererseits ist aber eine Verankerung des nemo tenetur-Grundsatzes im Wesensgehalt des Art. 2 I GG durchaus verständlich, denn jede Verletzung des Prinzips fUhrt zwangsläufig zu einer weitgehenden Entwertung der dadurch geschützten Rechtsposition 174. Nur sollte dieses Ergebnis nicht damit begrUndet werden, daß ein Zwang zur Selbstbelastung in die Intimsphäre des einzelnen eingreife und dadurch letztlich nur ein außerstrafprozessual begründetes Geheimhaltungsinteresse des Beschuldigten verletzt werde 175 . Die grundsätzliche Berechtigung einer sphärenorientierten Betrachtung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts soll dabei nicht in Frage gestellt werden 176, selbst wenn angesichts der zweiten Tagebuchentscheidung des BVerfG kaum noch ein absolut geschützter Bereich menschlicher Lebensgestaltung denkbar ist, in den nicht nach abwägender Einzelfallbetrachtung eingegriffen werden kann 177 • Speziell auf die Funktion des nemo tenetur-Grundsatzes bezogen, kann Kernbereichskategorien", d. h. in Bereiche extremer Menschenrechtswidrigkeit, in die Verletzung der (verbleibenden) Menschenwürdegarantie und in die Wesensgehaltsgarantie, tatsächlich praktikabel ist. Es ist überhaupt fraglich, ob sich eine übergreifende Strafprozeßrechtstheorie aus der Verfassung ableiten läßt (so aber Wolter, a. a. 0., S. 1). In aller Regel dienen vergleichbare Ansätze eher dazu, die Schlagkraft geäußerter Reformanliegen zu verstärken. 173 Vgl. Geis, JZ 91, S. 112. 174 So Roga/1, Der Beschuldigte, S. 147. 175 Vgl. dazu die Argumentation bei Roga/1, Der Beschuldigte, S. 146 ( 176 Kritisch zur Sphärentheorie und damit zur Abgrenzung von Individual-, Privatund Intimsphäre u. a. Rohlf, Schutz der Privatsphäre, S. 25 ff. Mit beachtenswerten Argumenten tritt dagegen Geis, JZ 91 , S. 112 ff., fiir eine Fortentwicklung der Sphärentheorie ein. Speziell auf den nemo tenetur Grundsatz bezogen, ablehnend Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip, S. 43 ff. m. w. N. 177 V gl. BVerfDE 80, 367 ff. Dies ergibt sich bereits aus dem Kriterium des Sozialbezugs, das eine Zuordnung zum absolut geschützten Innenbereich je nach "Qualität und Intensität des Sozialbezugs" einer menschlichen Beziehung erfordert. Vgl. dazu auch Lorenz, GA 92, S. 254 ff. (263 ff.) m. umfangreichen N. Eine klare Abgrenzung der verschiedenen Sphären der Persönlichkeitsentfaltung mittels des Kriteriums des Sozialbezugs wird sich jedoch kaum verwirklichen lassen, denn ein Verhalten gewinnt in aller Regel seine Sozialerheblichkeit immer erst im Umgang mit anderen (vgl. auch Pieroth I Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, RN 434 f. m. w. N.). Zur Rechtsprechung des BGH in Strafsachen, vgl. die Nachweise bei Geis, JZ 91, S. 113 in FN 16.

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dessen "absoluter" Schutz jedoch kaum mit einem unantastbaren Geheimhaltungsinteresse des Betroffenen begründet werden. Straftatrelevante Informationen zeichnen sich durch einen hohen Gemeinschaftsbezug aus und sie werden nicht dadurch intimer, daß sie fUr bestimmte Zwecke erhoben werden 178• Besonders deutlich wird dies an der (fragwürdigen) Argumentation des BVerfG, eine Verletzung der Menschenwürde komme dann nicht in Betracht, wenn die Auswertung - in diesem Fall privater Schriftstücke - fiir eine gerechte, nicht zuletzt durch das in Art. 1 GG wurzelnde materielle Schuldprinzip geforderte Bewertung des Tatgeschehens unerläßlich sei. Die verfassungsrechtlich gebotene Aufgabe, Straftaten aufzuklären, bedingt notwendigerweise, daß dieses insbesondere von Rogall speziell hervorgehobene Geheimhaltungsinteresse verletzt wird 179. Ein Einbruch in die verfassungsrechtlich geschützte Intimsphäre des Betroffenen kann sich deshalb allenfalls aus den besonderen Umständen der Informationserhebung ergeben, etwa dem Eingriff in den räumlich gegenständlichen Bereich der Ehe 180, einer ohne Wissen des Beschuldigten angefertigten Tonbandaufnahme eines privaten Gesprächs 181 und natürlich auch aus der Art und Weise einer Zwangsausübung beispielsweise der Anwendung folterähnlicher Methoden 182• Damit ist jedoch kein Speziftkum des nemo tenetur-Grundsatzes getroffen, sondern immer ein vorwiegend prozeßfremdes Interesse des Beschuldigten. Der nemo tenetur-Grundsatz hat nicht einen Bereich, "filr sich zu sein, sich selbst anzugehören" 183 und damit einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung im Auge 184, denn die Strafverfolgungsbehörden müssen sich bei Aufklärung der Straftat zwangsläufig um "die Kenntnis der Biographie des 178 So aber der zweifelhafte Ansatz von Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 75, der ohne Begründung davon ausgeht, eine Menschenwürdeverletzung liege lediglich dann vor, wenn der Selbstbelastungszwang Strafverfolgungsinteressen diene. 179 Vgl. dazu FN 211. Zu diesem Schluß, der bei anderer Betrachtung letztlich zur Unzulässigkeil staatlicher Strafverfolgung fUhren müßte, vgl. bereits Günther, GA 78, S. 195 f.; Rieß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 165 f.; Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip, S. 47 m. w. N . 180 V gl. dazu BGHSt 31, 296 ff. 181 Vgl. BVerfGE 34, 328 ff. 182 Interessanterweise trennt Roga/1 in späteren Stellungnahmen klarer zwischen dem Persönlichkeitsrecht auf Privatheit und dem nemo tenetur-Prinzip, wenn er auch - wohl zu recht - eine enge Verwandtschaft zwischen beiden Rechten anerkennt. Er verzichtet dabei auf die Erwähnung eines wie auch immer gearteten Geheimhaltungsinteresses des Beschuldigten. 183 So Roga/1 unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG, vgl. Der Beschuldigte, S. 146 mit FN 199. 184 So aber ausdrücklich Jerouschek, ZStW 102 (1990), S. 796. Der Beschuldigte solle vor "entwürdigenden" Übergriffen geschützt werden, die ihn seiner Herrschaft über das "forum intemum" entäußern.

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Beschuldigten" bemühen und dabei in "zentrale Bereiche der Beschuldigtenpersönlichkeit" 185 eindringen. Der nemo tenetur-Grundsatz will vielmehr dem Beschuldigten die Möglichkeit der Selbstdarstellung in einem ganz speziellen Bereich, dem Strafprozeß, eröffnen. Das wird offensichtlich an der Argumentation Rogalls, das "neue Persönlichkeitsrecht" würde entwertet, wollte man dem Grundrechtsträger "die Sicherheitsposition nehmen, die Voraussetzung einer Persönlichkeitsentfaltung ist" 186• Es kann aber wohl kaum behauptet werden, die Intimsphäre des Straftäters müsse deshalb geschützt werden, um dem Straftäter zu ermöglichen, unbefangen und im Bewußtsein, nicht zu einer Selbstbelastung gezwungen zu werden, Straftaten begehen zu können. Wie im folgenden aufzuzeigen sein wird, kann aber auch ohne den problematischen Rückgriff auf einen von entgegenstehenden Gemeinschaftsinteressen abhängigen Kernbereich die Unverfilgbarkeit des nemo tenetur-Grundsatzes im Bereich der Aussagefreiheit begründet werden. Im Sinne einer allumfassenden Abwägungslehre vollzieht sich insbesondere im Bereich des Strafverfahrensrechts ein Wandel weg von der Idee unverfiigbarer Rechtsprinzipien hin zu einer funktionalistischen Betrachtungsweise des Rechts 187 . Verfahrensübergreifende Prinzipien werden nicht statisch anband klarer begrifflicher Vorgaben interpretiert, sondern als Teil eines beweglichen Systems von gegeneinander abzuwägenden Werten verstanden 188 • In diesem System, müssen sich strafprozessuale Grundprinzipien an den Erfordernissen einer "funktionstüchtigen Strafrechtspflege 189" messen lassen, ohne die einer am InDies verkennt Roschmann, Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 14 f. Roga/1, Der Beschuldigte, S. 147. 187 Vgl. auch Hassemer, FS filr Maihofer, S. 187 ff. Über den Begriff der Funktion eines Rechts scheint allerdings keine Übereinstimmung zu bestehen (vgl. dazu Lüderssen, ZStW 107 (1995), S. 877 ff.). Hier soll unter funktionaler Betrachtungsweise eine zweckorientierte und die jeweiligen Folgen einer Entscheidung berücksichtigende Auslegung des Rechts verstanden werden, vgl. dazu auch unten Teil II, bei FN 1. 188 Vgl. Grünwald, StV 87, S. 457; zustimmend Vogler, JR 88, S. 139. 189 Vgl. u. a. BVerfGE 19, 347; 33, 383 f.; 34, 2; 38, 115 f.; 53, 160; 64, 116; 80, 375; NJW 94, S. 573; BGHSt 26, 230; 29, 25. Kritisch zu diesem Begriff Hassemer, StV 82, S. 275 ff. m. w. N.; Wolter, GS filr K.H. Meyer, S. 502 f. In neueren Entscheidungen spricht das BVerfG dagegen häufig von den Erfordernissen "rechtsstaatlicher Gewährung der Strafrechtspflege" (vgl. BVerfGE 77, 82), den Erfordernissen eines. an rechtsstaatliehen Garantien ausgerichteten Strafverfahrens (vgl. BVerfGE 80, 375) oder der rechtsstaatlich gebotenen Verfolgung von Straftaten (vgl. BVerfG StV 95, 562). Daß damit auch eine Veränderung des "Wie" der Abwägung zugunsten des Individualschutzes verbunden ist (so Lorenz GA 92, S. 277 f.; GA 97, S. 61 m. umfangreichen N.; Ransiek, StV 94, S. 346), muß aufgrund der Weite des Rechtsstaatsbegriffs bezweifelt werden. Am Ergebnis der Abwägung wird sich dadurch wohl kaum etwas ändern, denn beide Begriffe sind gleichermaßen doppeldeutig. Vgl. aber auch das abweichende Votum von Mahrenholz in der Entscheidung des BVerfG zur Schuldschwere bei lebenslanger Freiheitsstrafe (BVerfGE 80, 375). Mahrenholz betont, daß der aufgezeigte Be185

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teresse der Wahrheitsfmdung orientierten "Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann" 190. Was dabeijedoch häufig verkannt wird, ist, daß eine funktionelle Betrachtung strafprozessualer Grundprinzipien keinesfalls immer zu einer Verkürzung der Rechtsposition des Beschuldigten filhren muß 191 . Auch dessen Verteidigungsrechte können funktionsorientiert ausgelegt werden, um flexibler auf die Veränderung durch neue Ermittlungsmethoden reagieren zu können. Ihre Bestätigung findet die beschriebene, allumfassende Abwägungslehre in einer funktionalen Grundrechtskonzeption, die das Vorhandensein "absoluter", einer Diskussion per se entzogener verfassungsrechtlicher Gewährleistungen bestreitet. Besonders deutlich läßt sich dieses Grundrechtsverständnis an der Arbeit Alexys aufzeigen, der die verfassungsrechtliche ·Diskussion in diesem Punkt wesentlich mitgeprägt hat 192. Im Gegensatz zu Regeln, die nur entweder erfullt oder nicht erfullt sein können 193 , werden Grundrechte im Sinne dieser Grundrechtsdogmatik als Prinzipien charakterisiert. Ein Prinzip zeichnet sich als Optimierungsgebot dadurch aus, daß es in unterschiedlichem Grade erfullt sein kann und in einer Konfliksituation nicht per se absolute Geltung beansprucht, sondern lediglich die größtmögliche "Optimierung" der geschützten verfassungsmäßigen Werte verlangt. Das gebotene Maß seiner Erfilllung ist nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten, d. h. den gegenläufigen Prinzipien und Regeln abhängig 194. In der strafprozessualen Literatur wird diese Differenzierung zunehmend zur Inhaltsbestimmung von Grundprinzipien des Strafprozesses herangezogen, die als Ausdruck grundrechtlich geschützter Rechtspositionen unmittelbar die Subjektstellung des Beschuldigten betreffen 195. Auch der nemo tenetur-Grundsatz ist in diesem Sinne bereits als ein Prinzip charakterisiert worden, das die Auf~ gabe habe, "strafprozessuale Förmlichkeiten, quasi als Katalysator, zu effektuieren"I96.

griffswechsel erforderlich gewesen sei, um der Gefahr der "rechtsstaatswidrigen Entgrenzung" des Rechtsstaatsprinzips zu begegnen. 190 Vgl. BGH StV 87, S. 422. Weitere Nachweise zur Rspr. des BVertD bei Hassemer, StV 82, S. 275. 191 Einseitig deshalb die Sichtweise von Hassemer, FS fiir Maihofer, S. 187 ff. 192 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte. 193 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 76. Als Beispiel filhrt Alexy § 5 I StVO an. "Man kann nur entweder links oder rechts überholen". 194 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 76. 195 Etwa das Faimeßprinzip als Optimierungsgebot, vgl. Steiner, Das Faimeßprinzip, S. I40 ff.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § I I, RN I I. 196 So Lorenz, JR 94, S. 431 und JZ 92, S. 1006 f.

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Es muß jedoch bezweifelt werden, daß mit dieser Beschreibung allzuviel gewonnen ist. So ist doch jeder Abwägungsvorgang auf einen optimalen Ausgleich der konfligierenden Interessen angelegt und es läßt sich eben häufig nicht wertungsfrei und ausschließlich rational begründen, warum in einer konkreten Situation einem bestimmten Interesse der Vorrang gebührt. Zudem scheint es eine seltsame Verkehrung der Funktion von Form und Schutzrechten des Beschuldigten zu sein, wenn dem nemo tenetur-Grundsatz die Aufgabe zugewiesen wird, die Wirkungskraft strafprozessualer Förmlichkeiten zu steigern. Es dürfte statt dessen vielmehr zutreffen, daß die noch zu klärende Funktion des nemo tenetur-Grundsatzes bestimmter Förmlichkeiten bedarf, um sich tatsächlich effektiv entfalten zu kÖnnen. Die strafprozessuale Form besitzt keinen Eigenwert, sondern dient immer nur der Verwirklichung übergeordneter Ziele bestimmter Prinzipien und Grundsätze des Strafverfahrens. Daß sich andererseits viele prozessuale Prinzipien und Grundsätze gegenseitig unterstützen - etwa die Unschuldsvermutung und der nemo tenetur-Grundsatz - und damit in ihrem Zusammenspiel effektiver entfalten, ist eine Selbstverständlichkeit. Dies rechtfertigt es jedoch nicht, einem fundamentalen Recht wie dem nemo teneturGrundsatz lediglich eine dienende Funktion zuzuweisen. Die Erkenntnis, die aus der Arbeit Alexys filr die Inhaltsbestimmung von strafprozessualen Prinzipien statt dessen gewonnen werden kann, ist die Tatsache, daß diese Grundsätze in ihrer Allgemeinheit nicht fUr alle Fälle verbindlich angeben können, wo im Falle einer Kollision mit anderen Prinzipien, und hier insbesondere der Effektivität der Strafrechtspflege, die Grenze gezogen werden muß, die zur Sicherung des elementaren Gehalts - etwa der Aussagefreiheit des Beschuldigten - nicht überschritten werden darf. Auch der Hinweis darauf, daß die Bestimmung des Umfangs und der Ausgestaltung eines als absolut erachteten strafprozessualen Prinzips, wie etwa des nemo tenetur-Grundsatzes, selbst Ausdruck einer wertenden Betrachtung ist, vermag viel zur Klärung der zugrundeliegenden Strukturen beizutragen. Zur Verdeutlichung kann auf die Entscheidung des BGH zu den Folgen einer unterlassenen Beschuldigtenbelehrung nach § 136 I StPO verwiesen werden. Der BGH stellt zunächst darauf ab, daß die Anerkennung des nemo teneturPrinzips der Achtung vor der (unantastbaren) Menschenwürde des Betroffenen entspricht 197, begründet dann jedoch seine Entscheidung durch eine umfassende Abwägung mit den gegen ein Verwertungsverbot sprechenden Interessen und berücksichtigt dabei auch die Schwere des Verfahrensverstoßes 198 • Ein scheinbar unauflöslicher Widerspruch 199, wenn außer acht gelassen wird, daß der BGH nur den Gedankengang offengelegt hat, der logisch der Behauptung vorVgl. BGHSt 38, S. 220. Vgl. BGHSt 38, S. 221 ff. 199 Vgl. auch Koriath, Über Beweisverbote, S. 94. 197 198

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geschaltet ist, der nemo tenetur-Grundsatz gehöre kraft seines Menschenwürdegehalts zum Unverftlgbaren im Strafprozeß. Angesichts der Offenheit der Menschenwürdenorm ist sowohl die Bestimmung dessen, was als menschenwürdeverletzend erachtet wird, Ausdruck einer Abwägung200 wie auch die Klärung des Inhalts und der unabdingbaren Voraussetzungen des nemo tenetur-Prinzips. Fehlerhaft ist lediglich der in der Literatur anzutreffende Umkehrschluß, bestimmte Ermittlungsmaßnahmen könnten schon deshalb nicht den nemo teneturGrundsatz berühren, weil sie keine Menschenwürderelevanz besitzen. So wird beispielsweise eine Würdigung teilweisen Schweigens des Beschuldigten in der Hauptverhandlung fi1r zulässig erachtet, denn "ein sehr mittelbarer Zwang, nicht bei der halben Wahrheit stehen zu bleiben, beeinträchtige schwerlich die Menschenwürde, deren Schutz als ratio decidendi der Verfassungsrechtsprechung nicht aus den Augen verloren werden sollte"201 • Eine bei funktionaler Betrachtungsweise äußerst fragwürdige Argumentation, die nicht versucht, anband des Schutzgutes des nemo tenetur-Grundsatzes festzustellen, ob dieser verletzt sein könnte, sondern zunächst eine vollumflingliche Verbürgung durch Art. 1 I GG unterstellt und daraus dann in Form eines Zirkelschlusses auf eine Begrenzung des Geltungsbereiches schließr02 • Dennoch müssen gegenüber einer immer am jeweiligen Einzelfall ausgerichteten Abwägung Zweifel geltend gemacht werden203 • Zum einen scheint es nicht gerechtfertigt, wenn auf die eine Seite der Abwägung lediglich die im konkreten Fall betroffenen Individualrechtsgüter statt der Schutz der Privatssphäre oder der Justizllirmigkeit des Verfahrens gestellt werden, während auf der anderen Seite der Waagschale das übermächtige Allgemeinrechtsgut der Funktionsfiihigkeit der Strafrechtspflege zu Buche schlägt. Dies überzeugt vor allem deshalb nicht, weil dieses Allgemeinrechtsgut auch dann in den Abwägungsvorgang miteinbezogen wird, wenn lediglich eine konkret einzelfallbezogene Ab200 Daß dies selbst fiir den Schutzbereich der Menschenwürde gilt, hat A/exy, Theorie der Grundrechte, S. 94 ff. überzeugend nachgewiesen. 201 Stürner, NJW 81, S. 1758. 202 Ein ähnlich zirkulärer Schluß liegt auch Argumentationen zugrunde, die sich gegen eine erweiterte Auslegung des nemo tenetur-Prinzips aufgrund der "persönlichkeitsrechtlichen" Zusammenhänge wenden (So etwa SK-Rogall, vor § 133 StPO, RN 137; aus den gleichen Erwägungen unbegründet auch die Kritik a. a. 0., RN 132). Zunächst ist mit Hilfe einer zweckorientierten Auslegung die Funktion eines Prinzips zu klären, und dann kann gegebenenfalls behauptet werden, daß diese vollumflinglich von einem bestimmten Grundrecht erfaßt wird, nicht jedoch umgekehrt. Interessanterweise spricht Rogall in einer Rezension in StV 96, S. 64, selbst von einer Überschätzung der Bedeutung, die der (verfassungsrechtlichen) Herleitung des nemo tenetur-Grundsatzes tatsächlich zukommt. 203 Die moderne Verfassungsdogmatik bezeichnet das Ergebnis der Abwägung zweier Prinzipien unter Berücksichtigung der Umstände des konkreten Einzelfalls als (bedingte) Vorrangrelation, vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 81. Dazu auch Koriath, Uber Beweisverbote, S. 95 ff. m. w. N.

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wägung erfolgt. So wird aber beispielsweise die Unverwertbarkeit eines bestimmen Beweismittels in einem konkreten Verfahren niemals die Funktionstüchtigkeit des Gesamtsystems beeinträchtigen können. Geht man gar davon aus, daß sich der Schutzpflicht des Staates nach Art. 1 I S. 2 GG "ein Grundrecht der Allgemeinheit auf Sicherheir04" entnehmen läßt, wird die durch den Menschenwürdegehalt der Grundrechte gezogene Grenze faktisch aufgehoben, denn in einem Kollisionsfall kann die Menschenwürdegarantie des Beschuldigten wohl kaum gegen ein mit Menschenwürderelevanz ausgestattetes Sicherheitsinteresseder Allgemeinheit bestehen205 • Außerdem ist bereits das verfassungsrechtliche Erfordernis einer wirksamen und "gerechten" Strafrechtspflege doppeldeutig, denn neben dem Ziel der Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs, muß ein rechtsstaatliches Strafverfahren zugleich die größtmögliche Sicherung individueller Freiheitsrechte des Betroffenen gewährleisten206• Lediglich als kosmetischer Eingriff ist es insofern zu werten, wenn das BVerfG nunmehr nicht von einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, sondern von den Erfordernissen einer rechtsstaatlich gebotenen Strafrechtspflege spricht. Durch diese Bezeichnung wird die erforderliche Abwägung lediglich vorverlagert, denn was rechtsstaatlich geboten ist, läßt sich eben nur durch einen Vergleich von Allgemein- und Individualinteressen ermitteln. Ein Strafverfahren, das Wahrheitserforschung auch um den Preis unabdingbarer Freiheitsrechte des Betroffenen betreibt, verlöre aber seine Anerkennung und Glaubwürdigkeit und damit zugleich seine Legitirnation207 • Die Aussagefreiheit des Beschuldigten wird nicht nur deshalb geschützt, weil die persönliche Freiheit des Betroffenen gewahrt bleiben soll, sondern ihre Beachtung liegt auch im Interesse der "Würde der staatlichen Strafrechtspflege"208 , deren Erfolge nicht auf persönlichkeitsmißachtenden Vernehmungsmethoden basieren dürfen. 204 So Scholz I Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung, S. 111 ff. , 175 ff. m. w. N. In diesem Sinne auch die Erörterungen von Lorenz, JZ 92, S. 1002. 205 Zu Recht ablehnend Wo/ter, Strafprozeßreform bis 2007, S. 29 f. Er weist dabei zutreffend auf die systemfremde Übernahme präventiver Zwecksetzung in das repressive Strafprozeßrecht hin. 206 Vgl. dazu auch Stern, Staatsrecht III I 2, S. 579 m. w. N. Zutreffend insbesondere der Hinweis, daßangesichtsder Vielfalt rechtsstaatlicher Gestaltungsmöglichkeiten des Prozeßrechts kaum die Notwendigkeit einer ganz bestimmten, die verfassungsrechtlich abgesicherte Rechtsstellung des Beschuldigten einschränkenden Regelung begründet werden kann. 207 Vgl. Wolter, GS filr Meyer, S. 503 mit FN 65 und SK, vor§ 151 StPO, RN 25. Das BVerfD hat aus dem Rechtsstaatsgebot auch die Pflicht des Staates abgeleitet, das Vertrauen der Bürger in die Funktionstüchtigkeit staatlicher Organe zu schützen (vgl. BVerfDE 51, 343; NStZ 87, 419). Dieses Vertrauen gründet sich aber auch auf den Erhalt rechtsstaatlicher Garantien zugunsten des Beschuldigten. 208 So Bauer, Die Aussage, S. 64.

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Teil I: Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes

Durch den rechtfertigenden Rückgriff auf die rechtsstaatliche Idee der Gerechtigkeit hat das BVerfG selbst viel zur fehlenden Abwägungstauglichkeit der genannten Belange beigetragen, denn (Einzelfall-) Gerechtigkeit wird sich entgegen der aufgezeigten Begriffsverwendung, häufig nur durch einen Verzicht auf Rechtssicherheit oder Zweckmäßigkeit verwirklichen lassen209• Unter dem Blickwinkel der Sicherung von Rechtsfrieden durch ein ausgewogenes Strafverfahren sind zudem Justizförmigkeit und Beschuldigtenschutz nicht lediglich Individualinteressen, sondern zugleich selbst zentrales Anliegen des Verfahrens und damit der Gemeinschaft210 • Der Topos einer rechtsstaatlich "gebotenen" oder einer "funktionstüchtigen" Strafrechtspflege kennzeichnet ebenso wie die Begriffe Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden lediglich das Ergebnis einer Abwägung, d. h. die richtige Gewichtung von staatlichem Verfolgungsanspruch und Freiheitsinteresse des einzelnen, und nicht den eigentlichen Abwägungsvorgang. Da sich die "Funktionen" des Strafprozeßrechts nicht auf die Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs reduzieren lassen, erfordert eine "funktionstaugliche Strafrechtspflege" beispielsweise ebenso eine bestmögliche Verwirklichung der verfassungsrechtlich abgesicherten Aussagefreiheit des Beschuldigten. Effektiv ist eine Strafrechtspflege nur dann, wenn das Verfahren und die Verteidigungsrechte des Betroffenen so ausgestaltet sind, daß sichergestellt ist, daß kein Unschuldiger bestraft wird und nicht unverhältnismäßig in die Rechtspositionen der Verfahrensbeteiligten eingegriffen wird. Reduziert man deshalb im Interesse einer rational nachvollziehbaren Abwägung die genannten Abwägungselemente um ihren zugleich beschuldigtenschützenden Inhalt, so verbleibt nicht mehr als das staatliche Interesse an möglichst vollständiger Wahrheitsermittlung211. Selbst wenn man entgegen dieser Auffassung davon ausgeht, daß sich die konkret verfolgten öffentlichen Belange und das eingeschränkte Individualinteresse tatsächlich antinomisch gegenüberstellen lassen, ist ihre Abwägung nicht durch meßbare, rangmäßig fest einstutbare Größen gekennzeichnet,

209 Es sei denn, der Begriff der Gerechtigkeit wird allein mit "Gleichgerechtigkeit" umschrieben. Zur Gerechtigkeit als Abwägungselement hat bereits Eb. Schmidt treffend ausgefilhrt: " ( ...) daß die Waage der Justitia in ihren Schalen mit Dingen vollgepackt wird, mit denen man alles möglich machen kann, nur eines nicht: sie abwägend vergleichen" (JZ 68, S. 684). 210 Die Erkenntnis, daß das Verfahrensziel nicht einseitig arn materiellen Strafrecht und seiner Durchsetzung mit justizförmigen Mitteln ausgerichtet ist, findet immer breiteren Konsens, wenn auch keine Einigkeit über das darüber hinausreichende Prozeßziel besteht, vgl. nur Rieß, FS filr Schäftr, S. 168m. w. N. und unten Teil Il, § 5. 211 Interessant in diesem Zusammenhang, daß auch der BGH zunächst etwa das grundrechtlich abgesicherte Recht auf Schutz privater Aufzeichnungen lediglich gegen die "Berücksichtigung des Strafverfolgungsinteresses" abgewogen hat (Vgl. BGHSt 19, 333). Zur Kritik arn Konzept der Abwägung als rationales Verfahren, vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 143 ff.; Koriath, Über Beweisverbote, S. 96 ff. jeweils m. w. N.

§ 2 Verfassungsrechtliche Ableitung des nemo tenetur-Grundsatzes

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sondern abhängig von einer flexiblen, nur eingeschränkt rational begründbaren Bewertung, die je nach den Besonderheiten der rechtlichen und tatsächlichen Situation unterschiedlich ausfallen muß212 • Es gibt demnach Kollisionslagen, in denen sich die betroffenen Güter nur schwerlich vergleichen lassen und ein bestimmtes Individualrechtsgut nur dann bestehen kann, wennestrotz entgegenstehender, gewichtiger Allgemeininteressen mittels einer wertenden Betrachtung für unverzichtbar erachtet wird. In diesem Sinne kann ein Zwang, durch eigene Angaben selbstbelastende Informationen preiszugeben, zwar nach Abwägung der widerstreitenden, über die Zwecke der Strafverfolgung hinausgehenden Allgemein- oder Drittinteressen gerechtfertigt sein213 • Das Strafverfolgungsinteresse ist aber für sich genommen nicht geeignet, ein diesbezügliches Auskunftsbegehren zu rechtfertigen. Man kann deshalb, sofern ein Eingriff in die Äußerungsfreiheit des Beschuldigten spezifisch strafverfahrensrelevante Zwecke verfolgt, diese als absolut geschützt bezeichnen. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bestimmung der Reichweite dieses Rechts und der Eingriffsqualität von Handlungen der Strafverfolgungsbehörden selbst nur im Rahmen eines abwägenden Wertungsvorganges erfolgen kann214 • Ist im Rahmen dieses ersten Wertungsschrittes ein Konsens über die prozessuale Schutzfunktion des nemo tenetur- Grundsatzes erreicht worden, so kann in einem zweiten Schritt einer nur am Einzelfall orientierten Abwägung von persönlichkeitsrechtlicher Eigensphäre und Strafverfolgungsinteressen wirksam begegnet werden. Der grundlegende Wertungsvorgang der "ersten Stufe" wird nicht nur durch Aspekte der Menschenwürde oder des Persönlichkeitsrechts beeinflußt, sondern auch durch Erwägungen, die den mehr verfahrensorientierten rechtsstaatliehen Unterprinzipien entnommen werden können. Diese Einflüsse sollen im folgenden näher betrachtet werden. IV. Einflüsse einer rechtsstaatsorientierten Betrachtung des nemo tenetur-Grundsatzes

1. Das nemo tenetur-Prinzip als Grundsatz eines rechtsstaatliehen Verfahrens Der nemo tenetur-Grundsatz ist als zwingende Folge der gewandelten Rechtsstellung des Beschuldigten im Strafprozeß des konstitutionellen, modernen Rechtsstaates unzweifelhaft auch Bestandteil des in Art. 20 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips. In diesem Sinne wird das Verbot des Selbstbezichtigungs212 Zur Problematik der Abwägung beider Interessen, vgl. Degener, Verhältnismäßigkeit, S. 32 f. 213 Vgl. auch BVerfGE 34, 249; 56, 49. 214 Nicht umsonst verlangt Wo/ter, Strafprozeßreform bis 2007, S. 23 eine "konkretisierende und deklaratorische" Festlegung des Unverfiigbaren im Strafverfahren.

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Teil 1: Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes

zwanges von der Rechtsprechung215 und Teilen der Literanu-2 16 als "selbstverständlicher Ausdruck einer rechsstaatlichen Grundhaltung" bezeichnet, die auf dem Leitgedanken der Achtung vor der Menschenwürde beruht. Dabei bleibt allerdings insbesondere in der Rechtsprechung des BVerfG und des BGH offen, ob der Verankerung des nemo tenetur-Grundsatzes im Rechtsstaatsprinzip eine eigenständige Bedeutung zukommt, oder ob damit lediglich derselbe Sachverhalt "nur von verschiedener Seite her, d. h. einmal vom Individuum, einmal vom Staat her betrachtet" wird217 . Unter Zugrundelegung dieses vorrangig formellen Rechtsstaatsverständnisses wendet sich vor allem Rogall gegen eine "Überbetonung" des rechtsstaatliehen Gehalts der Selbstbelastungsfreiheit218, aus dem nicht mehr als eine "blankettartige Bezeichnung" gewonnen werden könne219• Eine Herleitung aus dem Rechtsstaatsprinzip könne nicht die notwendig individualethische Betrachtungsweise gewährleisten, sondern überantworte das nemo tenetur-Prinzip dem jeweils vorherrschenden Staatsverständnis. Schließlich soll eine (alleinige) Verankerung im Rechtsstaatsprinzip die Gefahr einer fehlenden inhaltlichen Begrenzung möglicher Ausnahmen begründen, die sich argumentativ auch nur schwer erschließen ließen220 • Zugestimmt werden kann dem nur insofern, als eine abstrakte, den Staat als Ganzes im Auge habende Fundamentalnorm wie das Rechtsstaatsprinzip, nicht in ihrem gesamten Begriffsumfang starr und durch die "Ewigkeitsgarantie" des Art. 79 III GG unabänderlich sein kann, sondern nur insoweit wie ihr von Wertungen abhängiger,

215 Vgl. BVerfGE 38, 113; 55, 150; StV 95, 505 f.; BGHSt 1, 14; 1, 40; 25, 330 f.; 31, 308; 34, 46; 38, 220 f.; 38, 266; 38, 305; BayObLG JZ 84, 492 jeweils m. w. N. Dabei wird häufig im gleichen Atemzug auch das Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten angeführt. 216 Vgl. dazu oben Teil I, FN 18. 217 So bestreitet insbesondere Roga/1, Der Beschuldigte, S. 138, unter Bezugnahme auf das Modell von Krauß, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 153 f. FN 5, daß eine am Rechtsstaatsprinzip orientierte Betrachtungsweise aufschlußreich für die Analyse des nemo tenetur-Prinzips ist. Soweit er sich dabei auf den Gemeinschuldnerbeschluß des BVerfG beruft (vgl. SK-Roga/1, vor§ 133 StPO, RN 132 ff.) kann ihm nur teilweise zugestimmt werden, denn das BVerfG zieht auch in neueren Entscheidungen sowohl Art. 2 I, I I GG als auch das Rechtsstaatsprinzip bzw. das Recht auf ein faires Verfahren heran, und entzieht sich dabei einer näheren Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Standorts (vgl. u. a. BVerfG StV 95, S. 505 f. ). Überinterpretierend auch die Analyse Lagodnys, StV 96, S. 171, der ähnlich wie Rogall meint, das BVerfG habe sich mit der Gemeinschuldner-Entscheidung einer persönlichkeitsrechtlichen Betrachtung angeschlossen. Tatsächlich wird sich das BVerfG darüber aber wohl weniger Gedanken gemacht haben, als man auf den ersten Blick vermuten möchte, sondern wohl eher versucht haben, in einer Art "Gesamtschau" zu vernünftigen Ergebnissen zu gelangen. 218 SK-Roga/1, vor § 133 StPO, RN 132 m. w. N.; ähnlich auch Stürner, NJW 81, S. 1758. 219 Roga/1, Der Beschuldigte, S. 139. 220 Vgl. dazu Lagodny, StV 96, S. 171.

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"unantastbarer Kernbereich", d. h. ihr Menschenwürdegehalt reichr21 • Zudem hat das Rechtsstaatsprinzip die zwiespältige Funktion, einerseits durch eine "Bindung der Staatsgewalt", die Freiheitssphäre des Bürgers zu schützen und andererseits aber auch die erforderlichen Freiheitseingriffe zu legitimieren, soweit dies aus Gründen der Strafverfolgung erforderlich isr22 • Wie bereits oben dargestellt, zeigt die eigentlich im Sinne einer Stärkung der Beschuldigtenstellung unternommene Suche nach Unabänderlichkeit des nemo tenetur-Grundsatzes aber durchaus auch kontraproduktive Wirkung und filhrt gerade. in Randbereichen zu einer restriktiven Interpretation seines Wirkungsbereichs. Darüber hinausgehend ist es auch unzutreffend anzunehmen, der materiellrechtliche und einer individualethischen Betrachtungsweise zugängliche Gehalt des Rechtsstaatsprinzips erschöpfe sich darin, daß der Staat als Rechtsstaat (Art. 20 III GG) ein Verfahren zu gewährleisten habe, das den Grundrechten und damit auch dem nemo tenetur-Grundsatz Geltung verschaffe223 • Soweit das Rechtsstaatsprinzip im Grundgesetz explizit Ausdruck gefunden hat, handelt es sich zwar lediglich um objektiv-rechtliche Verfassungsnormen, die nur mittelbar über eine extensive Auslegung der Grundrechtsschranke der verfassungsgemäßen Ordnung in Art. 2 I GG zu rügeflihigen Rechten werden224 . Der materiellrechtliche Bedeutungsgehalt des Rechtsstaatsprinzips wird jedoch durch den Rückgriff auf Art. 2 I GG und Art. I I GG nicht ausgeschöpft. Er gewinnt über die (teilweise ungeschriebenen) rechtsstaatliehen Unterprinzipien, beispielsweise der Unschuldsvermutung, des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Verfahrensfairneß einen eigenständigen und im übrigen zu Art. 2 I und 1 I GG auch spezielleren Bedeutungsgehalt, der sich nicht bereits aus dem Wesen anderer Grundrechtsverbürgungen oder Art. 2 I GG erschließen läßr25 . Das Rechtsstaatsprinzip läßt sich nicht auf formelle Elemente und damit bloße Legalität durch staatsorganisatorische Formprinzipien reduzieren. Sie bilden sein 221 Art. 79 III GG ist restriktiv zu interpretieren und erfaßt nur die in Art. 1 und Art. 20 GG enthaltenen Grundsätze, vgl. dazu BVerfGE 30, 24 f; Stern, Staatsrecht I,

S. 171 ff. m. w. N. inFN 177. 222 Vgl. dazu bereits oben Teil I,§ 2 III. 223 So aber Rogall, Der Beschuldigte, S. 138. 224 Etwa die Staatszielbestimmungen des Art. 1 GG sowie die in Art. 20, 28 GG niedergelegten Bekenntnisse zu Republik, Demokratie, Bundesstaatlichkeit und Sozialstaat, aber auch materielle, d. h. inhaltliche Gesichtspunkte, vgl. u. a. BVerfGE 6, 57 ff.; 63, 108 f. Dazu auch Mangoldt I Klein I Starck, Art. 2, RN 16 ff.; v. Münch, Grundgesetz, Art. 2 GG, RN 23; Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 12 f. m. jeweils w. N. 225 Zutreffend die Feststellung Paeffgens, Vorüberlegungen, S. 71, daß zur Bestimmung des Inhalts dieser Prinzipien zwar teilweise auf Art. 2 I, 1 I GG zurückgegriffen werden muß, dies jedoch darin begründet liegt, daß sie als alles durchwaltende Grundprinzipien der Verfassung letztlich fiir jede Auslegung eine oberste Leitlinie und den äußersten Systemrahmen bilden. A. A. u. a. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 350 ff. und v. Münch, Grundgesetz, Art. 2 GG, RN 24m. w. N.

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Teil I: Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes

Fundament, das mit materiellen Elementen angereichert werden muß, um Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit gewährleisten zu können226. Der Gefahr einer Überfraehrung des rechtsstaatliehen Prinzips mit der Folge begrifflicher Unschärfe und mangelnder "Operationalität" ist durch Herausbildung von Fallgruppen oder rechtsstaatliehen Unterprinzipien zu begegnen, soweit diese bereits im Grundgesetz angedeutet sind oder auf althergebrachter, unbestrittener Rechtsüberzeugung beruhen227 . Dieser Weg, wäre bei der Suche nach der richtigen "Anspruchsgrundlage" des nemo teneturGrundsatzes aber überflüssig, wenn seine Funktion erschöpfend als Persönlichkeits- und damit primär als Abwehrrecht umschrieben werden könnte228 • Er hat jedoch nicht nur eine persönlichkeitsrechtsorientierte, sondern auch eine primär verfahrensbezogene Funktion, die sich mit der Qualifizierung als Freiheitsrecht nicht hinreichend erfassen läßt229. Diese nicht lediglich abwehrende, sondern auch positive, d. h. rechtsgestaltende Funktion läßt sich gut am Beispiel der Belehrungsvorschriften verdeutlichen. Die Belehrungsvorschriften werden auch von Vertretern einer persönlichkeitsrechtlichen Ableitung des nemo tenetur-Prinzips als Konkretisierung230 und prozessuale Ausgestaltung des Rechtsstaatsgedankens verstanden231 • Wird in einer Vernehmungssituation ein selbstständiger Wille des Beschuldigten erkennbar, sich durch Reden zu verteidigen, so kann es kaum als Eingriff in ein 226 Vgl. dazu Stern, Staatsrecht I, S. 78I ff. m. w. N. Zum geschichtlichen Wandel vom formellen zum materiellen Rechtsstaat, ders., S. 764 ff. Auch das BVerfD betont den materiellen Gehalt des Rechtsstaates u. a. in BVerfDE 52, I44 f. : "Das Rechtsstaatsprinzip enthält eine materielle Komponente. Sie zielt auf die ,Erlangung und Erhaltung materieller Gerechtigkeit im staatlichen und staatlich beeinflußbaren Bereich' ". 227 Vgl. auch Maunz I Dürig I Herzog, Art. 20, Abschn. VII, RN 32 f.; Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip, S. 39m. w. N. 228 Vgl. Rogal/, StV 96, S. 64: "(...) und insoweit natürlich auch am Rechtsstaatsprinzip als ,Kehrseite der Medaille' Teil hat". So bereits schon Bauer, Die Aussage, S. 63. 229 Vgl. aber SK-Rogall, vor § 133 StPO, RN 135. Die von Roga/1 geäußerte Ansicht, der nemo tenetur-Grundsatz sei kein Verfahrensrecht, sondern ein subjektiv öffentliches Abwehrrecht, ist deshalb dahingehend zu korrigieren, daß das nemo teneturPrinzip "auch" eine verfahrensorientierte Funktion besitzt. 230 Seebade, MDR 70, S. I86. 23 1 Vgl. u. a. Dencker, MDR 75, S. 36I; Kühne, Strafprozeßlehre, RN I57; Kunert, MDR 67, S. 539 f. : "Konkretisierung des Art. I I GG"; Rogal/, Der Beschuldigte, S. I87, 214 f. m. w. N. Insgesamt zweifelnd, ob die Belehrungsvorschriften überhaupt verfassungsrechtlich abgesichert sind, Lorenz, JZ 92, S. I 006 und StV 96, S. I75, wohl in Anlehnung an die Rechtsprechung des U.S. Supreme Courts, der im Fall Orgeon v. Elstad, 470 U.S. 298 die "Miranda wamings" lediglich als "constitutional safeguards" bezeichnet und nicht als "constitutional rights in themselves". Lorenz geht davon aus, daß die Belehrungsvorschriften ihre "Legitimationskraft" nicht aus den verfassungsrechtlichen Werten beziehen, sondern aus Gesichtspunkten der "Effektivität". Dabei verkennt er zumindest, daß es ein unmittelbares, verfassungsrechtliches Gebot ist, ein Verfahren so auszugestalten, daß sich Grundrechte "effektiv" entfalten können.

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Persönlichkeitsrecht gewertet werden, wenn die nach § 136 I StPO erforderliche Belehrung unterlassen wird232. Man wird in diesen Fällen bereits eine Erngriffssituation bezweifeln müssen, sofern der Beschuldigte in Kenntnis der Vernehmungssituation und ohne Veranlassung durch die Strafverfolgungsbehörden irrtümlich eine Aussagepflicht annimmt. Wenn auch in diesen Fällen von einer unbedingten Belehrungspflicht auszugehen ist, so läßt sich dies nur aus der Forderung nach einer rechtsstaatliehen und fairen Verfahrensleitung erklären. Das Recht auf ein faires Verfahren gebietet es, verfahrensrechtliche Vorkehrungen zum Schutze subjektiver Rechte vorzusehen und das Verfahren so auszugestalten, daß sich die entsprechenden Rechte auch entfalten können233 • Das nemo tenetur-Prinzip beansprucht damit schon Geltung, bevor es überhaupt zu einer Persönlichkeitsrechtsverletzung gekommen ist und schafft das notwendige Gegengewicht zur Ausbalancierung des im Strafverfahren bestehenden Machtgeflilles. Diese - u. a. in den Belehrungsvorschriften zum Ausdruck gebrachte Funktion - läßt sich aus der "einem fairen Verfahren immanenten Forderung nach verfahrensmäßiger Selbständigkeit des in ein justizförmiges Verfahren hineingezogenen Bürgers bei der Wahrnehmung ihm eingeräumter prozessualer Rechte"234, nicht jedoch allein aus der Abwehrfunktion des nemo tenetur-Grundsatzes erklären. Das nemo tenetur-Prinzip besitzt damit auch eine objektivrechtliche, verfahrensgestaltende Funktion, Geflihrdungen vorzubeugen, damit der einzelne seine grundrechtlich gewährleistete Chance zur Selbstbestimmung mit der erforderlichen Sachkunde tatsächlich wahrnehmen kann235 . Eine nähere Betrachtung dieser verfahrensbezogenen Funktion hat von den konkreter faßbaren rechtsstaatliehen Unterprinzipien auszugehen236 • Deren Einfluß auf die Inhaltsbestimmung des nemo tenetur-Grundsatzes dürfte argumentativ auch besser nachzuzeichnen sein als die häufig pauschale Berufung auf ein rechtsstaatlich gewachsenes Verständnis dieses Prinzips237 • Zweifelnd auch Stürner, NJW 81, S. 1758. Vgl. BVerfDE 57, 275; Niebler, FS für Kleinknecht, S. 302 ff. m. w. N.; Niemöller I Schuppert, AÖR 107 (1982) 402 f.; Wolter, GS für Meyer, S. 494 ff. Auch Rogall, SK, vor § 133, RN 165, sieht die Belehrungspflicht als notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens an, obwohl sich dieser Rückgriff bei der von ihm befilrworteten, persönlichkeitsrechtlichen Betrachtung eigentlich erübrigen sollte. 234 BVerfDE 38, 117. 235 Nicht ausreichend ist es, allein auf den objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte abzustellen. Dieser garantiert nur ein prozessuales Minimum, sofern Grundrechte in ihrem Menschenwürdekern betroffen sind. Vgl. dazu Wolter, GS für Meyer, S. 495 m.w.N. 236 Zum grundrechtsdogmatisch sicherlich interessanten, filr das nemo teneturPrinzip jedoch wenig aufschlußreichen Verhältnis der rechtsstaatliehen Unterprinzipien zum Rechtsstaatsgebot, vgl. ausfilhrlich, Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 20 ff. 237 So begnügen sich entsprechende Ansätze meist mit dem Verweis auf die rechtsstaatliche Entwicklungsgeschichte des Grundsatzes, ohne jedoch positiv zu umschrei232 233

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Teil I: Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes

2. Die rechtsstaatliehen Unterprinzipien und ihr Einfluß aufdie Auslegung des nemo tenetur-Prinzips

a) Fairneßgebot und Inhaltsbestimmung des nemo tenetur-Grundsatzes Die letztgenannte, verfahrensorientierte Funktion des nemo teneturGrundsatzes legt es nahe, dessen verfassungsrechtliche Quelle im Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren, insbesondere der Forderung nach prozessualer Waffengleichheit zu suchen238 . Auch der BGH hat wiederholt festgestellt, das Recht, frei von Zwang zur Mitwirkung an der eigenen Überfiihrung zu sein, sei "notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens"239 • Auf den ersten Blick läßt sich der Rechtsprechung des BGH allerdings nicht entnehmen, ob der Herleitung des nemo tenetur-Prinzips aus dem Grundsatz des fair trial ein eigenständiger Erklärungswert zukommt, oder ob damit nur, letztlich überflüssig, auf ein beliebig einsetzbares Schlagwort zurückgegriffen wird, dessen Aussagegehalt nicht über das hinausreicht, was auch durch Konkretisierung der spezielleren Verfahrensrechte erreicht werden könnte240 • Sofern man das Gebot eines fairen Verfahrens als obersten, alles durchdringenden Grundsatz des Strafverfahrens ansiehr41 , ist dieser fiir eine Inhaltsbestimmung des dann zwangsläufig mitumfaßten oder -betroffenen nemo tenetur-Prinzips wenig aufschlußreich. Diese Deutung des Fairneßgebots schafft eine Generalklausel allgemeiner Verfahrensgerechtigkeir42 , die im Einzelfall zwar sinnvolle Korrekturen ermöglichen kann, letztlich jedoch zu unbestimmt ist, als daß sie zur Präzisierung speziellerer Verfahrensgrundsätze beitragen könnte. Ebenso wie sich die Vorstellung von Verfahrensgerechtigkeit kaum durch eine abstrakte, an ben, warum es inhaltlich geboten ist, das nemo tenetur-Prinzip aus Art. 20 111 GG abzuleiten (vgl. nur Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip, S. 40 ff.) 238 Vgl. dazu die Nachweise in Teil I, FN 18. Der fair trial-Grundsatz ist mit einfachgesetzlichem Rang durch Art. 6 I MRK verbürgt, aber nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG verfassungsrechtlich durch das Rechtsstaatsprinzip unter Miteinbeziehung der Grundrechte von Art. 2 I, II und Art. I I GG, abgesichert; grundlegend BVerfGE 26, 71 und 57, 274 ff. (Vgl. auch die umfangreichen Nachweise zur Rechtsprechung des BVerfD bei Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 41 ff.; Steiner, Das Faimeßprinzip, S. 35 ff. und Tettinger, Faimeß und Waffengleichheit, S. 12 ff.). Im Schrifttum besteht keine Einigkeit über die verfassungsrechtliche Grundlage des Fairneß-Gebots, vgl. dazu die Nachweise bei Lammer, Verdeckte Ennittlungen, S. 189. 239 Vgl. nur BGHSt 25, 330; 34, 45 f. ; 38, 220; ebenso BVerfG StV 95, 506. 240 So etwa die Kritik von Heube/, Fair trial, S. 73, 122, 145, der dem Grundsatz des fairen Verfahrens jeden eigenständigen Bedeutungsgehalt abspricht. Ablehnend auch KMR-Paulus, vor § 226 StPO, RN 30; vgl. ergänzend die Nachweise bei Steiner, Das Faimeßprinzip, S. 104 ff. 241 So etwa Roxin, Die Rechtsprechung des BGH zum Strafverfahrensrecht, S. 91 ff.; ders., Strafverfahrensrecht, § II V.), RN 9. 242 Vgl. dazu Vollkommer, GS fiir Bruns, S. 215m. w. N.

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bestimmte Tatbestandsvoraussetzungen gebundene Norm erfassen läßt, ist auch der Versuch einer einheitlichen Bestimmung von Funktion, Regelungsgehalt und Rechtsfolgen einer Verletzung des Fairneßgebots zum Scheitern verurteilt243. Sie ist allenfalls Ausdruck des Wunsches nach einer verfassungsrechtlichen Fixierung der im deutschen Strafprozeß fil.r maßgeblich gehaltenen Prozeßziele und damit in ihrer allgemeinen Umschreibung zu abstrakt gehalten, um tatsächlich justitiabei zu sein244 . Ein großer Teil des Schrifttums hat deshalb auch einen anderen Weg eingeschlagen und Fallgruppen herausgebildet, in denen Prozeßrechte des Beschuldigten leerzulaufen drohen und deshalb eine ergänzende Anwendung des Fairneßgebots erforderlich isf45 . Die zu Fallgruppen verdichteten Einzelbeispiele sind ihrerseits von völlig unterschiedlicher Qualität und z. T. ebenso konkretisierungsbedürftig wie das Fairneßgebot. So werden als Voraussetzungen eines fairen Verfahrens das Recht auf einen Verteidiger, eine angemessene Verfahrensdauer, das Recht des Angeklagten auf persönliche Anwesenheit in der Hauptverhandlung, das Gebot der Offenheit des Verfahrens, die Verpflichtung zu Belehrungen und Hinweisen, das Recht auf Zuziehung eines Dolmetschers und die generalklauselartigen Fallgruppen der prozessualen Waffengleichheit, der gerichtlichen Fürsorgepflicht, des Rechts auf effektive Verteidigung, des Mißbrauchsverbots sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe, angefU~46 . Al243 Vgl. auch die Kritik von Heubel, Fair trial, S. 53 ff.; Hübner, Fürsorgepflicht, S. 72 f.; K. Meyer, IR 84, S. 174. 244 So sieht beispielsweise Roxin, Die Rechtsprechung des BGH zum Strafverfahrensrecht, S. 91 f., die zentrale Aufgabe des Strafprozesses in der sozialen Konfliktlösung und verbindet in Abkehr von der anglo-amerikanischen Tradition des FaimeßGebots dessen Rechtsstaatsgehalt mit dem Gedanken der sozialstaatliehen Fürsorgepflicht. Das Faimeß-Gebot wird damit als Verbindung "oberster Verfassungsgrundsätze" (S. 92) im Ergebnis zu einem dem jeweils fUr maßgeblich gehaltenen Prozeßziel entsprechenden, verfassungsrechtlichen Korrektiv. 245 Auch das BVerfG ist der Auffassung, daß sich dem Faimeß-Gebot keine in allen Einzelheiten bestimmten Gebote oder Verbote entnehmen lassen, sondern daß eine der Zwecksetzung und der Verfahrensstruktur angepaßte "Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten" erfolgen muß (vgl. BVerfGE 57, 275 f.). Zu dieser methodischen Vorgehensweise und den einzelnen Fallgruppen, vgl. Dörr, Faires Verfahren, S. 157; Hübner, Fürsorgepflicht, S. 70 ff.; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1208 f.; Tettinger, Faimeß und Waffengleichheit, S. 4, 51; Teske, JA 86, S. 108 f. ; Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 7 jeweils m. w. N. Die Kritik von Steiner, Das Faimeßprinzip, S. 132 ff., der sich mit seiner Deutung des Faimeßprinzips als Optimierungsgebot gegen die "Fallgruppenmethode" wendet, die nur das "vorletzte Wort" darstellen könne, nicht jedoch die notwendige Verbindlichkeit fiir künftige Fälle schaffe (vgl. S. 122 f.), Oberzeugt nicht. Sieht man die Aufgabe des Faimeßprinzips darin, eine größtmögliche Optimierung bestimmter Werte zu erreichen, so verschiebt man die Problematik lediglich auf eine Begriffsbestimmung der anderweitig, beispielsweise der Verfassung als objektive Wertordnung, zu entnehmenden Güter. 246 Vgl. dazu Steiner, Das Faimeßprinzip, S. 87 ff. m. w. N. Die Akzeptanz der jeweiligen Fallgruppen differiert allerdings erheblich.

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Teil I: Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes

Iein diese Aufzählung macht deutlich, daß das Faimeßgebot nicht unmittelbar rechtserzeugend wirkt, sondern sich vorwiegend im Rahmen bereits anerkannter Prinzipien und Prozeßrechte entfaltet. Als gemeinsamer Nenner liegt den genannten Fallgruppen die Forderung nach einer die soziale Handlungskompetenz des Beschuldigten sichemden und seine Mitwirkungs- und Einflußnahmemöglichkeiten verstärkenden Auslegung bereits bestehender Rechte zugrunde247• Der Anspruch auf ein faires Verfahren verwirklicht sich vor allem dann, wenn die Einhaltung bereits anerkannter, der Selbstbeschränkung staatlicher Mittel entsprechenden Regeln alleine nicht ausreicht, sondern zu deren effektiver Gewährleistung sichergestellt werden muß, daß der Betroffene seine prozessualen Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrnehmen und damit auf den Gang und das Ergebnis des Strafverfahrens Einfluß nehmen kann248 • Selbst nach Auffassung derer, die das Faimeßgebot als einen die gesamte Verfahrensordnung umfassenden Grundsatz verstehen, soll dieser nur dann Bedeutung erlangen, wenn der Schutz durch speziellere Prozeßrechte und Normen der StPO nicht ausreichr49. Der maßgebliche Anwendungsbereich des Rechts auf ein faires Verfahren erstreckt sich damit darauf, in Form einer prozeßzielorientierten Auslegungsrichtlinie das Verfahren so auszugestalten, daß der Angeklagte seine Verteidigungsmöglichkeiten und damit natürlich auch die durch das nemo tenetur-Prinzip abgesicherten Verhaltensweisen effektiv wahrnehmen kann250• Es kann aus diesem Grund zwar nicht die verfassungsrechtliche Grundlage des nemo tenetur-Prinzips sein, beeinflußt jedoch in Bereichen, in denen klare gesetzliche Vorgaben nicht vorhanden sind, dessen Auslegung und 247 Da diese "Auslegungsrichtschnur" und Leitlinie bei der Verfahrensausgestaltung auch ungeschriebene Verfahrensgrundsätze erfaßt, ist der Streit, ob dem Fairneß-Gebot der Rang einer unmittelbar anwendbaren Rechtsnorm zukommt, im wesentlichen bedeutungslos, vgl. dazu Hamm, FS fur Saiger, S. 290m. w. N. Selbst dann, wenn wie im Bereich der Absprachen einfachgesetzliche Vorschriften fehlen, charakterisiert der fair trial-Grundsatz lediglich andere Rechtsgrundsätze, etwa die Unabhängigkeit des Gerichts, den Ermittlungsgrundsatz, das Gleichheitsgebot oder das Schuldprinzip, vgl. dazu BGHSt 36,210, 37,99 ff.; StV 90,388. 248 Vgl. u. a. BVerfGE 38, 111; 63, 61, 67; 64, 145; 65, 174 f.; 66, 318; vgl. auch BGHSt 36, 309. 249 V gl. Roxin, Die Rechtsprechung des BGH zum Strafverfahrensrecht, S. 92; Steiner, Das Fairneßprinzip, S. 206. Der insofern subsidiäre Charakter des Fairneß-Gebots dürfte weitgehend anerkannt sein, vgl. auch BVerfGE 57, 274 ff.: Am Anspruch des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren hat das BVerfG "solche Beschränkungen Verfahrensbeteiligter gemessen, die von den speziellen Gewährleistungen nicht erfaßt werden". Man kann deshalb mit Rogall, SK, vor § 133, RN 101 m. w. N., das Recht auf ein faires Verfahren als prozessuales Recht mit Auffangcharakter bezeichnen. 250 Vor allem im verfassungsrechtlichen Schrifttum wird das Recht auf ein faires Verfahren als Ergänzung zu der bereits angesprochenen grundrechtsschützenden Funktion des Verfahrens gesehen, Stern, Staatsrecht III I 2, S. 1204 m. w. N.

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kann dort zur Inhaltsbestimmung des nemo tenetur-Grundsatzes herangezogen werden. So ist beispielsweise das Faimeßgebot viel eher geeignet, das Wesen der Belehrungsvorschriften und die sich aus ihnen ergebenden prozessualen Konsequenzen zu erfassen, wie der im deutschen Strafprozeß überbetonte Fürsorgegedanke2SI. Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß in diesem Bereich allerdings noch einige, unmittelbar aus dem Faimeßgrundsatz abzuleitende Konsequenzen nicht verwirklicht sind. Als Beispiel kann auf die Entscheidung des BGH zur Frage der Verwertbarkeit des Schweigens des Beschuldigten in einem früheren Verfahrensabschnitt bei Aussage zur Sache in der Hauptverhandlung verwiesen werden. Der BGH geht davon aus, daß dieses Schweigen allenfalls dann verwertet werden könne, wenn der Beschuldigte bereits bei der polizeilichen Vernehmung belehrt worden sei, sein anfil.ngliches Schweigen könne später, falls er sich zur Aussage entschließen sollte, zu seinem Nachteil gewertet werden252 . Zu Recht stellt der BGH damit in den Urteilsgründen darauf ab, daß der Faimeßgedanke, explizit der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes, unmittelbaren Einfluß auf die Form hat, in der der Beschuldigte zu belehren ist. Diese Rechtsprechung liegt auf einer Linie mit Entscheidungen des BVerfG, die den Grundsatz eines fairen Verfahrens bei Akten der Judikative und Exekutive als verletzt angesehen haben, wenn das von den Verfahrensbeteiligten in Handlungen dieser Organe investierte Vertrauen nicht hinreichend gewahrt worden ist253 . Darüber hinaus müßte diese Schlußfolgerung aber auch filr den vergleichbaren, spiegelbildlich gelagerten Fall gezogen werden: Der Beschuldigte ist bereit, vor der Polizei auszusagen, er weiß jedoch nicht, daß diese Aussage auch dann verwertbar ist, wenn er sich in der Hauptverhandlung entschließen sollte, von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. Auch in dieser Konstellation ist die durch das Fairneßgebot geforderte, größtmögliche Transparenz des Verfahrensablaufes nicht gewährleister54• Aus diesem Grund 251 Entgegen der im Schrifttum z.T. vertretenen Auffassung (vgl. Roxin, § 42, RN 23; Steiner, Das Fairneßprinzip, S. 177m. w. N.) ist die Fürsorgepflicht ihrerseits nicht Bestandteil des fair trial-Gebots (zu Recht ablehnend auch SK-Rogall, vor§ 133 StPO, RN 101). Mit der aus dem Fairneßgebot abzuleitenden Forderung nach möglichst hoher Verwirklichung persönlicher Freiheit und Befiihigung zur selbstständigen Wahrnehmung von Verteidigungsrechten muß eine bevormundende, sozialstaatlich orientierte Fürsorgepflicht fast zwangsläufig in Konflikt geraten. AusfUhrlieh unten Teiiiii, § 7 I. 252 V gl. BGHSt 20, 284. 253 V gl. dazu die Nachweise bei Pieroth, JZ 90, S. 285 f. V gl. auch Tettinger, Fairneß und Waffengleichheit, S. 4 m. w. N., der auf die enge, sprachliche Verwandtschaft zwischen dem Fairneß- und Vertrauensbegriffhinweist 254 Nach zutreffender Auffassung folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip, namentlich dem im Fairneß-Gebot verankerten Vertrauensschutz des Beschuldigten, das Gebot der Transparenz des Verfahrensablaufes. Diese Forderung ist zudem ein Gebot der Verwirklichung von Chancengleichheit (vgl. u. a. Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 191; Roxin, Strafverfahrensrecht, § II , RN 12; Wolter, GA 88, S. 87.).

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setzt die Verwertbarkeit einer in polizeilicher Vernehmung erlangten Aussage des Beschuldigten nicht nur voraus, daß der Beschuldigte belehrt wird, es stehe ihm frei, ob er zur Sache aussagen will. Die Belehrung muß auch den weitergehenden Hinweis umfassen, daß, falls er sich entschließen sollte, zur Sache auszusagen, diese Aussage gegebenenfalls später gegen ihn verwertet werden kann255 • Der BGH hat in einem anderen Zusammenhang treffend ausgefiihrt, daß ein Gericht, das auf die Vorteile einer bestimmten Verfahrensmöglichkeit hinweist - und liegt nicht in jeder Vernehmung auch das Angebot an den Beschuldigten, sich zu verteidigen? -, aus Gründen der Fairneß auch auf die damit möglicherweise verbundenen Nachteile aufmerksam machen muß256 • Betont man aber im deutschen Strafverfahren den Gedanken des rechtlichen Gehörs bei Vernehmungen, so kann ein entsprechender Hinweis als zwingende Konsequenz der oben aufgezeigten Rechtsprechung bezeichnet werden. Aus der Sicht des Vernehmenden mag dieser Hinweis hinderlich sein, denn er dient sicherlich nicht dazu, die Aussagebereitschaft des Beschuldigten zu fördern257. So wurde im Rahmen der Vorarbeiten zur RStPO eine entsprechende, in einem Entwurf zu § 123 StPO a. F. vorgesehene Eröffnungspflichr58 mit der Begründung abgelehnt, der Beschuldigte könne darin eine "Art von Drohung" oder "Abmahnung vom Einlassen auf die Vernehmung erblicken" und deswegen die Aussage verweigern259• Eine faire Verfahrensgestaltung setzt je255 Vgl. auch die Forderungen des Strafrechtsausschusses der BRAK, Band 43 A, S. 63, wiedergegeben bei Eb. Schmidt, NJW 68, S. 1213 f. Einen entsprechenden Hinweis fordern auch Herrmann, FS ftlr Moos, S. 231; Radbruch, FS filr Sauer, S. 121. 256 Vgl. BGHSt 24, 24; 32, 44. 257 Nach Kaiser, NJW 68, S. 778 soll bereits die durch das StPÄG angepaßte Belehrungsformel des § 136 I StPO dazu gefilhrt haben, daß nunmehr etwa 25 bis 35 %der Beschuldigten vor der Polizei die Aussage verweigern, während es früher nur 10 bis 15 % gewesen sein sollen. Die Richtigkeit dieser - im übrigen unbelegten Angaben - muß jedoch bezweifelt werden, denn nur die wenigsten Beschuldigten werden tatsächlich konsequent schweigen, sondern in aller Regel versuchen, sich zu entlasten (vgl. auch Baumann, JUS 65, S. 175). Auf jeden Fall überzogen sind die Beftlrchtungen, ein Richter werde durch Belehrungen "genötigt (... ) der Überfilhrung des tatsächlich Schuldigen ( ...) entgegenzuwirken" (so der DRB in einer Stellungnahme zum StPÄG, zitiert nach Eb. Schmidt, NJW 68, S. 1214). Empirische Untersuchungen, inwiefern sich die Belehrungsformel auf das Aussageverhalten des Beschuldigten auswirkt, sind jedoch nur unzureichend vorhanden, da vor allem Vergleichszahlen vor und nach Änderung des § 136 I StPO fehlen (vgl. aber auch die Nachweise bei Rieß, § 163a StPO, RN 77). Ein Vergleich zur Diskussion in der Schweiz über die Einfilhrung einer Belehrung über das Recht der Aussageverweigerung zeigt, daß Befilrchtungen über die negativen Auswirkungen dieses Hinweises meist überzogen und wenig sachlich fundiert sind. So wurde in Luzern noch 1989 von einer Expertenkommission angenommen, eine Belehrung sei geeignet, "das ganze System allmählich aus den Angeln zu heben" (zitiert nach Hauser, JR 95, s. 254). 258 Vgl. dazu den Antrag der Abgeordneten Herz, Eysoldt und Klotz wiedergegeben bei Hahn, Motive, l. Abtheilung, S. 703. 259 V gl. Hahn, Motive, 1. Abtheilung, S. 704 ff.

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doch voraus, daß die Konsequenzen einer Verfahrenshandlung filr den Beteiligten erkennbar, nachvollziehbar und frei von Überraschungen sind. Nur wenn dem einzelnen die faktische Bindung an eine einmal erfolgte Aussage vor Augen gefilhrt wird, besitzt er eine sichere Entscheidungsgrundlage, um eigenverantwortlich über die Ausübung seiner Verteidigungsrechte zu entscheiden. Letztlich ist dies eine konsequente Fortentwicklung der Rechtsprechung des BGH zur Unverwertbarkeit von Aussagen bei unverstandener Beschuldigtenbelehrung260. Der BGH hat zwar explizit nur zu dem Fall Stellung genommen, daß der Beschuldigte infolge geistig-seelischer Mängel den Sinn der Belehrung nicht erfassen konnte. Die Belehrung muß jedoch losgelöst von dieser speziellen Konstellation einen gewissen Mindeststandard erfilllen, damit sie überhaupt geeignet ist, eine sinnvolle Rechtsausübung zu ermöglichen. Nicht allein das Wissen des Beschuldigten über seine Rechte kann entscheidend sein, sondern er muß zugleich ein gewisses Minimum an Verständnis über deren Bedeutung besitzen261 . Deshalb ist auch die Auffassung des BGH abzulehnen, der Zweck der Belehrung sei auch dann erreicht, wenn die Belehrung nicht entsprechend des Wortlauts der §§ 136 I S. 2, 243 IV S. 1 StPO erfolge, sondern der Beschuldigte lediglich gefragt werde, "ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle"262 . Mit dieser Auffassung setzt sich der BGH über den klaren Willen des Gesetzgebers hinweg. Könnte dem BGH in diesem Punkt zugestimmt werden, dann hätte es einer Neufassung des § 136 I S. 2 StPO nicht bedurttl63 . Dagegen war es gerade das Ziel der Novellierung, dem Beschuldigten seine Aussagefreiheit deutlicher als bisher vor Augen zu filhren264• Entgegen der vom BGH geäußerten Ansicht kann, unter Berücksichtigung der Grundsätze eines fairen Verfahrens, selbst der durch StPÄG geänderte Wortlaut nicht die sich aus dem Zweck der Belehrung ergebenden Anforderungen erfilllen. Auch die hier vorgeschlagene Modifikation kennzeichnet nur den Minimalgehalt der Belehrungsformel. Es entspricht zwar einer weitverbreiteten Auffassung, daß die Verwendung einer anderen Wortwahl unschädlich ist, wenn sie dem Beschuldigten

260 Vgl. BGHSt 39, 349 ff.

Vgl. auch Kiehl, NJW 94, S. 126. Vgl. BGH NJW 66, 1718 (; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136 StPO, RN 8 m. w. N.; dem BGH zustimmend Meyer, JR 67, S. 308m. w. N. Bedenklich der Hinweis Meyers, ,jedes andere Ergebnis wäre ein besonders unvernünftiger Formalismus". Dagegen bereits zutreffend Baumann, JUS 65, S. 174; Eb. Schmidt, NJW 68, S. 1209 ff. (1211) m. umfangreichen N. zur Diskussion über die Form der Belehrung des Beschuldigten. Zur Entstehungsgeschichte der gegenwärtigen Fassung auch Bauer, Die Aussage, S. 77 ff.; Kroth, Die Belehrung des Beschuldigten, S. 73 ff. 263 Zutreffend Fincke, NJW 69, S. 1015 in FN 15, der BGH werfe dem Gesetzgeber damit vor, ein schlichtweg überflüssiges Gesetz gemacht zu haben. 264 Vgl. dazu auch Bauer, Die Aussage, S. 88 ff. 261

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ebenfalls Klarheit über seine Rechte verschafft265 . Doch wie soll dies festgestellt werden und welcher Grad an Kenntnis soll dafiir ausreichend sein? Nicht erforderlich ist es hingegen, daß die Belehrung des Beschuldigten auch noch um einen Hinweis auf die Unschädlichkeit des Schweigens oder Leugnens ergänzt wird266. Da im Einzelfall Schweigen fiir den Beschuldigten tatsächlich von Nachteil sein kann - etwa bei teilweisem Schweigen, das zumindest nach Auffasung der Rechtsprechung zu Lasten des Beschuldigten verwertet werden kann267 -, ist eine entsprechende Belehrungsformel leicht geeignet, Mißverständnisse beim Vernonunenen hervorzurufen. b) Bedeutung des Gebots der Waffengleichheit fiir die Aussagefreiheit des Beschuldigten aa) Waffengleichheit und die Beweisbarkeit eines Verfahrensverstoßes bei Vernehmungen Weitere Direktiven zu Ausgestaltung und Form der Beschuldigtenvernehmung und zu den damit verbundenen Beweisfragen bei Verletzung des nemo tenetur-Grundsatzes können dem Gebot verfahrensrechtlicher Waffengleichheit entnommen werden268 . Daß dieser Grundsatz in einem nicht kontradiktorisch ausgestalteten "Anklageverfahren mit Ermittlungsgrundsatz" eine andere Bedeutung besitzen muß als in einem Parteiprozeß, ist eine Selbstverständlichkeit269. Läßt sich deshalb eine "Waffengleichheit im formellen Sinne" mit der

265 Vgl. BGH a. a. 0.; SK-Roga/1, § 136 StPO, RN 52; KK-Boujong, § 136 StPO, RN 10; zum Ganzen auch Lorenz, StV 96, S. 173. 266 So aber Bauer, Die Aussage, S. 71 . 267 Verwertet wird dabei natürlich nicht die Tatsache des Schweigens an sich, sondern die Lückenhaftigkeit der Aussage. 268 Die Frage, ob der Begriff der Waffengleichheit ein spezieller Gesichtspunkt des fairtrialist (so BVerfGE 38, 111; 63, 61, 67; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 194; E. Müller, NJW 76, S. 1063 ff.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 11, RN 13) oder letztlich verzichtbar ist, da sich dessen Normgehalt bereits aus dem Gleichheitssatz und aus dem Fairneßgebot ergibt (vgl. Steiner, Das Fairneßprinzip, S. 205 m. w. N.), kann an dieser Stelle offenbleiben, da dies keinen Einfluß auf dessen Bedeutung fiir das nemo teneturPrinzip hat. 269 Deshalb kann der Auffassung Roga/ls, Der Beschuldigte, S. 113 f., nicht zugestimmt werden, der Grundsatz der Waffengleichheit könne auf das nemo tenetur-Prinzip nicht angewandt werden, denn dies müßte zur Folge haben, "daß auch dem Staatsanwalt im Prozeß das Privileg gegen Selbstinkriminierung zugebilligt werden müßte". Dies würde zudem voraussetzen, daß sich auch staatliche Organe auf diesen Grundsatz berufen können, was offensichtlich nicht der Fall sein kann (vgl. Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 196 m. w. N.). Daß dieses Bild eines von "equality of arms" geprägten, sportlichen Wettkampfs vor einem neutralen Schiedsrichter im übrigen auch fiir das Verfahren anglo-amerikanischer Prägung unzutreffend ist und auch in dieser Verfah-

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Struktur des deutschen Strafverfahrens nicht in Einklang bringen, so bleibt dennoch die Verpflichtung zu einer "Ausbalancierung" der Rechte von Angeklagtem und Ankläger unter Beiilcksichtigung der Verschiedenartigkeit der Prozeßrollen270. Das Recht des Beschuldigten zu Schweigen ist wichtiger Bestandteil dieser Forderung nach gleichen Einwirkungschancen auf die Entscheidung. Obwohl die Ermittlungsbefugnisse der Strafverfolgungsorgane im Ermittlungsverfahren die Einflußmöglichkeiten des Beschuldigten auf den Verfahrensverlauf überwiegen, ist dieser, sofern er schuldig ist, der einzige, der über eine umfassende Sachverhaltskenntnis verfUgt, ohne diese in den Prozeß einbringen zu müssen. Der Grundsatz der Waffengleichheit kann bei Beiilcksichtigung dieser Tatsache durchaus zwingende Konsequenzen nach sich ziehen und fiir die Auslegung des nemo tenetur-Grundsatzes mitbestimmend werden271 • Dabei verdienen vor allem zwei, bisher nicht klar genug erkannte Aspekte Beachtung. Der eine betrifft die Frage der Ausstrahlungswirkung des nemo teneturGrundsatzes auf die formale Verfahrensgestaltung. In vielen Fällen werden Verstöße gegen die Belehrungsptlicht und von Methoden der Strafverfolgungsbehörden, die die Aussagefreiheit des Beschuldigten in verfahrensrechtlich unzulässiger Weise beeinträchtigen, ungeahndet bleiben, da der Beschuldigte außerstande ist, entsprechende Verfahrensfehler nachzuweisen. Hier zwingt der Grundsatz der Waffengleichheit dazu, die äußeren Umstände der Vernehmung zu verändern und Beweismöglichkeiten zur größtmöglichen Kontrolle polizeilicher Vernehmungen zu schaffen, um die Einhaltung der Regeln zur Wahrung der Aussagefreiheit sicherzustellen. Daß dies tatsächlich eine verfassungsrechtliche Direktive ist, kann durch eine Parallele zu einer Entscheidung des BVerfG zur Frage der Beweislastverteilung im Arzthaftungsprozeß verdeutlicht werden272. Nach der überzeugenden, wenn auch nicht entscheidungstragenden Auffassung von vier Richtern gebietet der Grundsatz der Waffengleichheit eine faire Handhabung des Beweisrechts im Prozeß und damit auch eine gleichmäßige Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang. Dabei begegne es verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn die Beweislast einer Seite aufgebürdet werde, "die von der typischen Art der Fallkonstellation her in der Regel nicht in der Lage rensart Ankläger und Angeklagter nicht den gleichen Regeln unterworfen werden, hat bereits Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung, S. 152 ff., aufgezeigt. 270 E. Müller, NJW 76, S. 1063; Kleinknecht I Meyer-Goßner, Einl., RN. Eine Übernahme des Grundsatzes der Waffengleichheit ablehnend, Peters, Strafprozeß, S. 101. Einschränkend Rieß, FS für Schäfer, S. 174, nach dessen Auffassung dieser Grundsatz notwendig eine dreiseitige Verfahrensstruktur voraussetzt. 271 Irreführend Steiner, Das Faimeßprinzip, S. 205: "Waffengleichheit könnte beispielsweise auch durch die Reduzierung von Rechten auf beiden Seiten erlangt werden ( ...)".Zum einen gibt es Rechte, die zwingenden verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechen, zum anderen ist ein gewisser Bestand an Ermittlungsbefugnissen zur Gewährleistung einer "funktionstüchtigen Strafrechtspflege" unabdingbar. 272 Vgl. BVerfGE 52, 143 ff. 6 Bosch

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sein kann, den erforderlichen Beweis zu erbringen"273 . Nun kennt das Beweisrecht der StPO allerdings keine dem Zivilprozeß entsprechende Beweislast Die Interpretation des Grundsatzes der Waffengleichheit im Zivilrechtsstreit als "Gleichheit der Bürger vor dem Richter"274 läßt sich in dieser Form nicht auf den Strafprozeß übertragen. Außerdem geht es im Strafprozeß bei der Frage von Verfahrensverstößen nicht um den Beweis filr anspruchsbegründende Tatsachen. Dennoch ist die rein tatsächliche Situation vergleichbar. Bedingt durch die typische Situation einer Beschuldigtenvernehmung im Ermittlungsverfahren ist ein Beweis filr die den Verfahrensverstoß begründenden Tatsachen, und damit die Nichterfilllung des Anspruchs des Beschuldigten auf ein justizförmiges, seine Grundrechte beachtendes Verfahren, nur mit Hilfe einer "richtigen und umfassenden Dokumentation" 275 der Vernehmungssituation zu erbringen. Fehlt es an einer entsprechenden Dokumentation durch Videobänder, Tonbänder oder einer Kontrolle durch unabhängige Dritte, so wird das Gericht in Ermangelung anderweitiger Aufklärungsmöglichkeiten der polizeilichen oder staatsanwaltschaftliehen Autorität vertrauen und von einem ordnungsgemäßen Verfahren ausgehen. Was filr das Zivilverfahren zu gelten hat, in dem sich zwei gleichberechtigte Parteien gegenüberstehen, muß erst recht in einem Strafverfahren verwirklicht werden, bei dem noch mehr als im Zivilprozeß der Schutz vor einer mit der materiellen Rechtslage nicht übereinstimmenden Verurteilung angestrebt werden muß. Die Forderung nach Waffengleichheit von Strafverfolgungsbehörden und Beschuldigten zwingt deshalb zu kompensatorischen Maßnahmen, um der Gefahr zu begegnen, daß das bestehende Ungleichgewicht durch die Strafverfolgungsbehörden ausgenützt werden kann276. Welche Maßnahmen dafiir in Betracht kommen, ist natürlich keine Frage, die sich zwingend aus der Verfassung ableiten läßt, so daß darauf bei der einfachgesetzlichen Ausgestaltung und praktischen Handhabung des nemo tenetur-Grundsatzes einzugehen sein wird. bb) Waffengleichheit und Grundsatz der Offenheil staatlicher Ermittlungen bei Eingriffen in den Normbereich des nemo tenetur-Grundsatzes

(I) Parität des Wissens als Ziel der Verwirklichung von Chancengleichheit? Unmittelbaren Einfluß auf die Inhaltsbestimmung des nemo teneturGrundsatzes hat das Gebot der Waffengleichheit des weiteren bei der Frage BVerfGE 52, 146. Vgl. Maunz I Dürig I Herzog, Art. 3, RN 50 m. w. N. ; Tettinger, Faimeß und Waffengleichheit, S. 19. 275 So für die ärztliche Dokumentationspflicht, BVerfDE 52, S. 149. 276 Eingehend dazu unten Teil III, § 15 I. 273

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nach der rechtlichen Zulässigkeit von verdeckten Vernehmungen des Beschuldigten, d. h. von Täuschungen des Beschuldigten über die Identität seines Gesprächspartners. Dabei muß man sich zunächst vergegenwärtigen, daß die Verwirklichung von Waffengleichheit nicht nur in der Hauptverhandlung, sondern im gesamten Strafverfahren geboten ist277• Sie erfordert auch im Stadium des Ermittlungsverfahrens ausreichende Chancen der Verfahrensbeeinflussung278 und die Schaffung eines Gegengewichts zur übermächtigen Stellung der Staatsanwaltschaft und Polizei. Notwendiger Bestandteil dieses Ausgleichs ist u. a. die Befugnis des Beschuldigten, selbst entscheiden zu können, inwieweit er die Strafverfolgungsbehörden durch Mitteilung straftatrelevanter Informationen bei seiner eigenen Überfiihrung positiv unterstützen möchte. Die Aussagefreiheit des Beschuldigten besteht, wie bereits oben aufgezeigt, nicht allein deshalb, weil es ihm nicht zuzumuten ist, wider seinen Selbsterhaltungstrieb zu einer selbstbelastenden Aussage gezwungen zu werden279 . Sie läßt sich nicht nur negativ formuliert als Abwehrrecht erfassen, sondern verschafft dem Beschuldigten auch die Möglichkeit, dadurch positiv auf das Ergebnis der Ermittlungen Einfluß zu nehmen, daß er den Strafverfolgungsbehörden die nur durch seine Vernehmung erhältlichen Informationen verweigert. Nicht verallgemeinert werden kann deshalb die Auffassung des BGH zur Auslegung des§ 147 StPO, das Gebot der Waffengleichheit verlange es, die erforderliche "Parität des Wissens" 280 zwischen den Verfahrensbeteiligten herzustellen. Waffengleichheit läßt sich filr den Beschuldigten häufig nur dadurch erreichen, daß die Strafverfolgungsbehörden in gewissem Umfang einer einseitigen Informationspflicht unterworfen werden. Auch von den Strafverfolgungsbehörden kann kaum eine vollständige Unterrichtung des Beschuldigten über den Verfahrensstand erwartet werden. Verdeckte Ermittlungsmethoden leiten ihre Effektivität gerade aus der Tatsache ab, daß der konkrete Informationseingriff gegenüber dem Beschuldigten geheimgehalten wird. Da diese Methoden auf Heimlichkeit angewiesen sind, läßt sich das durch eine ständige Erweiterung dieser Informations- und Handlungsmöglichkeiten entstehende Machtgeflille nicht durch Anwesenheits-, Akteneinsichts-, Beweisantrags- und Informationsrechte oder durch eine frühzeitige Belehrung ausgleichen. Diese Teilhaberechte sind mit dem Wesen der verdeckten Ermittlungsmethoden unvereinbar und können, auch wenn sie möglichst früh und um277 A. A. Sandermann, Waffengleichheit, S. 38; zutreffend dagegen Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 198m. w. N. Zur Rechtsprechung des BVerfG, vgl. Steiner, Das Fairneßprinzip, S. 47 ff. 278 Zu weitgehend Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 197: "annähernd gleiche Chancen". Diese Forderung dürfte zumindest in einem Frühstadium der Ermittlungen kaum zu verwirklichen sein. 279 Vgl. oben Teil I,§ 2 I I. 280 Vgl. BGHSt 36,309 m.w.N.

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fassend eingreifen281 , den Informationsvorsprung der Ermittlungsbehörden und damit die Festlegung des Ermittlungsergebnisses nur unzureichend kompensieren282. Will man aber verhindern, daß der Beschuldigte seiner Einflußmöglichkeiten im Verfahren völlig beraubt und zum bloßen "Untersuchungsgegenstand" wird, so muß die zu Recht geforderte Erweiterung von Mitwirkungs- und Kontrollrechten mit einer Beschränkung verdeckter Ermittlungsmethoden einhergehen. Dem Beschuldigten muß trotz allen Strebens nach möglichst effektiver Strafverfolgung die Möglichkeit verbleiben, selbst entscheiden zu können, ob er sein tatrelevantes Wissen den Strafverfolgungsbehörden mitteilen möchte. Zumindest bezüglich seines eigenen Aussageverhaltens muß die Freiheit des Beschuldigten, eine eigene Entscheidung über die Form seiner Verteidigung zu treffen, gewahrt bleiben. Läßt man es zu, daß der Beschuldigte unter Täuschung über die Beweisrelevanz, d. h. die Verwertbarkeit seiner Angaben in einem späteren Strafverfahren, zu selbstbelastenden Angaben durch die Ermittlungsbehörden veranlaßt wird283 , so wird ihm diese Entscheidungsbefugnis genommen und sein Aussageverweigerungsrecht gerät zu einer weitgehend leeren und wertlosen Hülle. Ein Blick auf die Systematik strafprozessualer Ermittlungsbefugnisse zeigt, daß diese Forderung nach einer eingeschränkten Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden zu offenem Handeln der Grenzziehung zwischen zulässiger Heimlichkeit und gebotener Offenheit im Ermittlungsverfahren entspricht. (2) Beschränktes Gebot der Offenheit staatlicher Ermittlungen Die Strafprozeßordnung kennt insbesondere im Ermittlungsverfahren kein generelles Gebot, offen zu ermitteln284• Ohne Telefonüberwachung, heimliche computergestützte Ermittlungsmethoden und den Einsatz Verdeckter Ermittler kann der Bedrohung durch organisierte Kriminalität nicht wirksam begegnet werden. Zur Begründung der Zulässigkeit heimlicher Beweisgewinnung durch die Strafverfolgungsbehörden muß nicht erst auf die neu in die Strafprozeßordnung eingefugten Befugnisnormen der §§ lOOc, llOa ff. StPO verwiesen wer281 So unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 201. Vgl. auch LR-Lüderssen, § 147 StPO, RN 4 m. w. N. 282 Illusorisch die Behauptung, der durch verdeckte Vernehmungen erlangte "vorübergehende" Informationsvorsprung der Ermittlungsbehörden könne ausgeglichen werden (so Sternberg-Lieben, JURA 95, S. 310m. w. N.). 283 Zum Kriterium der Veranlassung, vgl. unten Teil III, § 11. 284 Zum Gebot der Offenheit staatlicher Ermittlungen, vgl. u. a. Amelung I Schall, JUS 75, S, 569 f.; Dencker, StV 94, S. 674 ff.; Haas, V-Leute, S. 91 ff.; Hund, StV 93, S. 379; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 142 ff.; Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 205 ff.; Wo/ter, GA 88, S. 87 ff. m. jeweils w. N. Ablehnend BGHSt (Großer Senat) 42, 150.

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den. Bei diesen Vorschriften besteht zumindest die Möglichkeit, daß sie nichterweiterungsf!i.hige Ausnahmekompetenzen zu einem ansonsten bestehenden Grundsatz offener Ermittlungstätigkeit sind. Eine uneingeschränkte Pflicht der Polizei, offen zu ermitteln, läßt sich vor allem deshalb nicht aufrechterhalten, weil sich bei Kenntnis des Beschuldigten von bestimmten Handlungen der Ermittlungsbehörden der Anordnungszweck dieser Maßnahmen in vielen Fällen nicht verwirklichen läßt. So kennt die Strafprozeßordnung fiir das Ermittlungsverfahren weder eine Pflicht zur vollständigen Offenlegung des Standes der Ermittlungen, noch muß die Ermittlungsbehörde den Beschuldigten über alle Ermittlungshandlungen bei Dritten informieren285 • Dies will im Grundsatz wohl auch niemand ernsthaft bestreiten, denn das überlegene Tatwissen des Täters könnte es ihm leicht ermöglichen, Beweismittel zu beseitigen oder Einfluß auf Tatzeugen zu nehmen. Selbst Handlungen des Beschuldigten können unter Beachtung seiner verfassungsrechtlich geschützten Privatsphäre und seines Rechts auf informationeHe Selbstbestimmung zu Beweiszwecken heimlich ausgenützt werden. So darf er beobachtet, sein Telefon abgehört und seine Korrespondenz heimlich beschlagnahmt werden286 • "Absolute Grenzen" fiir heimliches Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden ergeben sich dabei lediglich in Teilbereichen. Dem Beschuldigten darf durch Heimlichkeit nicht die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes genommen und es müssen die zum Schutze der Privatsphäre gesetzten Grenzen beachtet werden287. All diesen Fällen zulässiger Heimlichkeit ist aber gemeinsam, daß sich die Strafverfolgungsbehörden lediglich ein von ihren Ermittlungshandlungen unabhängiges Verhalten des Beschuldigten zunutze machen. Es ist ihnen hingegen durch keine strafprozessuale Befugnisnorm gestattet, eine Leistung des Beschuldigten unter Umgehung eines "Leistungsverweigerungsrechts" heimlich in Anspruch zu nehmen. Genau diese Unterscheidung markiert auch die Grenzlinie zwischen zulässiger und unzulässiger Heimlichkeit im Ermittlungsverfahren. Offenheit ist aus Gründen der Chancengleichheit immer dann erforderlich, wenn der Beschuldigte bei heimlichem Handeln der Ermittlungsbehörden nicht die Möglichkeit hat, von einem bei vergleichbarem offenem Handeln gewährten Abwehrrecht Gebrauch zu machen. Das (beschränkte) Gebot der Offenheit trägt damit wesentlich dazu bei, daß bestehende Verfahrensrechte effektiv wahrgenommen und unverhältnismäßige hoheitliche Eingriffe abgewehrt werden kön285 Vgl. u. a. §§ 147 II, 168c V StPO. Zu § 147 II StPO, vgl. etwa BGHSt 29, 102; StV 88, 193 f.; StV 96, 79. Auch das BVerfG stellt in der Abhörentscheidung (BVerfGE 30, 26) fest, daß Art. 1 I S. I GG nicht durch jede Regelung oder Anordnung verletzt wird, durch die der Bürger einer ihm unbekannten und unbekannt bleibenden Maßnahme unterworfen wird. Vgl. auch BVerfG NJW 84, 1451 f.; StV 94,465. 286 Vgl. u. a. §§ 99, IOOa, 163e StPO. 287 V gl. dazu Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 206 f.

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nen288 • Immer dann, wenn durch eine Leistung des Tatverdächtigen ein Beweismittel auf staatliche Veranlassung erst geschaffen werden soll, muß dies offen erfolgen289 . Ein gewisses Indiz daftlr, daß dieses eingeschränkte Gebot der Offenheit staatlicher Ermittlungen der Systematik strafprozessualer Eingriffsbefugnisse entspricht, ist auch die Vorschrift des § 163a I, IV StPO. Der Beschuldigte ist nach dieser Norm erst dann über den gegen ihn bestehenden Tatvorwurf zu unterrichten, wenn er zum Tatvorwurf vernommen, d. h. zumindest aus Sicht der Polizei eine Leistung von ihm verlangt wird290• Dagegen können die Strafverfolgungsbehörden unter Beachtung der verfassungsrechtlich abgesicherten Privatsphäre des Betroffenen dort heimlich handeln, wo sie lediglich bereits bestehende Kommunikationsbeziehungen ausnutzen291 • Diese Erkenntnis muß unmittelbare Konsequenzen ftlr die Auslegung des nemo tenetur-Grundsatzes besitzen. Eine am Grundsatz der Waffengleichheit orientierte Auslegung filhrt zu dem Ergebnis, daß die aus verdeckter Ermittlungstätigkeit erlangten Kenntnisse dann wegen Verstoßes gegen das nemo tenetur-Prinzip unverwertbar sind, wenn der Beschuldigte eine entsprechende Mitwirkung bei offenem Handeln der Strafverfolgungsbehörden verweigern könnte. Die grundsätzliche Berechtigung verdeckter Ermittlungen soll damit nicht in Frage gestellt werden 292 • Dennoch muß die aufgezeigte Grenzziehung auch bei der Auslegung der ftlr Verdeckte Ermittler geschaffenen Befugnisse der§§ 110 a ff. StPO beachtet werden. Ob diese, durch das OrgKG in die StPO 288 Zu einseitig die Funktionszuweisung von Lammer, Verdeckte Ermittler, S. 144 ff. Ausgehend vom Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens sieht Lammer die Funktion des Gebots der Offenheit darin, Entscheidungen fiir den Bürger und die Allgemeinheit einsichtig und akzeptabel zu machen. Deshalb geht er konsequent davon aus, daß grundsätzlich die nachträgliche Offenlegung einer Maßnahme ausreichend ist (ähnlich auch der Ansatz von Haas, V-Leute, S. 91, das Gebot der Offenheit staatlichen Handeins habe "ordnungssichemde Funktion"). Die Forderung nach offenen Ermittlungen dient im Ermittlungsverfahren dagegen vorwiegend der Sicherung von Einwirkungsmöglichkeiten auf den Verfahrensablauf und besitzt damit einen individualrechtsschützenden Charakter. 289 § 33 IV StPO ist kein Argument fiir oder gegen die hier vertretene Auffassung, denn er gestattet lediglich das Absehen von vorheriger Anhörung, während die Durchfiihrung der Maßnahme dennoch offen erfolgt (vgl. aber auch Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 152). 290 Auch wenn dies eigentlich nicht der Zweck von Vernehmungen ist, vgl. dazu unten Teil III, § 10 I. 291 So unter Beachtung der betroffenen Grundrechtspositionen beispielsweise bei der Telefonüberwachung, der polizeilichen Beobachtung und der Herstellung von Lichtbildern. 292 Zur generellen Zulässigkeit verdeckter Ermittlungen, vgl. Keller, StV 84, S. 522 f. ; Lammer, Verdeckte Ermittlungen; Wolter, GA 88, S. 49 ff., 86; Roga/1, JZ 87, S. 849 m. jeweils w. N.; dazu auch BGHSt (Großer Senat) 32, 121 ff.; BVerfDE 57, 250 ff., 284). In dieser Arbeit soll lediglich erörtert werden, welche Grenzen bei verdeckten Ermittlungen aufgrund des nemo tenetur-Grundsatz zu beachten sind.

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eingefiihrte Regelung auch verdeckte Vernehmungen des Beschuldigten gestatten soll293 , läßt sich weder unmittelbar dem Gesetzeswortlaut entnehmen, noch wurde die Frage eines Beweisverwertungsverbots filr Informationen, die durch derartige Gespräche erlangt worden sind, in den Gesetzesberatungen angesprochen294. Dabei hätte eine Erörterung der Problematik nahegelegen, denn der Einsatz eines Verdeckten Ermittlers setzt nach der Regelung des § 11 Oa I S. 1 den Anfangsverdacht einer Straftat voraus und seine Ermittlungen werden sich damit früher oder später gegen eine bestimmte Person, den Beschuldigten, richten295 . Ein gewisses Indiz filr die Auslegung der § 11 Oa ff. StPO ist lediglich § llOc S. 3 StPO, der festlegt, daß sich die Befugnisse des Verdeckten Ermittlers aus der StPO und anderen Rechtsvorschriften ergeben. Dies legt den Schluß nahe, daß auch Verdeckte Ermittler vor "Vernehmungen" des Beschuldigten, diesen gemäß § 136 StPO über seine Rechte belehren müssen296 . Da dies dem Wesen verdeckter Ermittlungen offensichtlich widerspricht, andererseits aber der Einsatz des Verdeckten Ermittlers zur Aufklärung von Straftaten297 notwendigerweise "vernehmungsähnliche" Gespräche mit Zeugen und Tatverdächtigen bedingt, drängt sich die vom Gesetzgeber offengelassene Frage auf, wie 293 Der BGH hat eine analoge Anwendung der fiir VerdeckteErmittler (zur Legaldefinition des§ IIOa li S. I StPO, vgl. KK-Nack, § IIOa StPO, RN 5) geschaffenen Regelung der §§ II Oa ff. StPO auf Vertrauenspersonen oder andere Informanten der Polizei abgelehnt (vgl. BGH StV 95, 228 f.) und darüber hinausgehend in Einklang mit den Gesetzesmaterialien die§§ IIOa ffStPO auch dann nicht fiir einschlägig erachtet, wenn ein Polizeibeamter nicht unter einer Legende, sondern lediglich "im Einzelfall" verdeckt ermittle (vgl. BGH StV 95, 28I und 398; BT Drucksache I2 I 989, S. 4I f.). Um zu verhindern, daß die Strafverfolgungsbehörden V-Personen "einsetzen", um damit die Einsatzvoraussetzungen des Verdeckten Ermittlers zu umgehen, darf das Fehlen einer gesetzlichen Regelung nicht so interpretiert werden, als wären in diesen Fällen weitergehende Ermittlungsbefugnisse eröffuet. Was fiir die §§ I IOa ff. StPO zu gelten hat, muß um so mehr filr die Fälle Geltung beanspruchen, die sich allenfalls auf die allgemeine Regelung der§§ I6I, I63 StPO stützen können. Allgemein zur Problematik, ob der Einsatz von V-Leuten eine Eingriffsermächtigung voraussetzt, Duttge, JZ 96, S. 556 ff.; Weiler, GA 96, S. I03 m. umfangreichen N. in FN IO. 294 Die Materialien zum OrgKG weisen lediglich darauf hin, daß aus der gesetzlichen Regelung der§§ I I Oa ff. StPO nicht auf die Unzulässigkeil der Heranziehung von anderen Personen (Informanten, V-Personen etc.) geschlossen werden dürfe (vgl. BIDrucksache 12 I 989, S. 4I). Wie noch aufzuzeigen sein wird, überzeugt die vorgenommene Gleichstellung von V-Personen mit normalen Zeugen jedoch zumindest dann nicht, wenn sich der Tatverdächtige nicht aus eigenem Antrieb der V-Person offenbart. Eine V-Person ist zwar unbestritten "strafprozessual Zeuge" (a. a. 0.), wenn sie im Prozeß vernommen wird. Daraus läßt sich nicht ableiten, daß dadurch eine gesetzliche Grundlage fiir ihren Einsatz im Ermittlungsverfahren vorhanden ist (so aber a. a. 0.). 295 Wie sich aus § I I Ob li S. I Nr. I StPO ergibt, wird dadurch der weitere Einsatz nicht unzulässig, sondern lediglich einer schwer kontrollierbaren Zustimmungsregelung unterworfen. 296 Zur genaueren Eingrenzung, vgl. unten Teil III, § I I IV. 297 Vgl. den Wortlaut von§ IIOa I S. I StPO, der insofern als (gesetzlich unbestimmte) Generalermächtigung interpretiert werden könnte.

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weit der Schutz der Aussagefreiheit des Beschuldigten reicht und ob er gegebenenfalls die Unverwertbarkeit entsprechender Angaben zur Folge haben muß. Ohne diese Frage hier bereits abschließend zu beantworten298 , kann zumindest festgehalten werden, daß aus der Tatsache, daß eine Belehrung der Natur der Sache nach nicht möglich ist, keineswegs zwingend auf die Verwertbarkeit von Angaben geschlossen werden muß, die ohne Belehrung erlangt worden sind299• (3) Beschränktes Gebot offener Ermittlungen und Täuschungsverbot des§ 136a StPO Geht man davon aus, daß durch Täuschung erlangte Aussagen des Beschuldigten nur dann unverwertbar sind, wenn die Täuschungshandlung von § 136a StPO erfaßt ist, muß man einer Verwertbarkeit der von V-Leuten erlangten Informationen uneingeschränkt zustimmen. Die Benutzung einer Legende, mit deren Hilfe der VerdeckteErmittler über seine wahre Identität täuscht, kann keine verbotene Täuschung i. S. d. § 136a StPO sein. Diese Täuschung wird und muß ihm durch § 11 Oa II, IIl StPO ausdrücklich gestattet sein oder man müßte von der generellen Unzulässigkeit verdeckter Ermittlungen ausgehen300• Dabei überzeugt es zwar nicht, wenn das Täuschungsverbot deshalb fiir bedeutungslos erachtet wird, weil eine normative Betrachtung zum Ergebnis filhren müsse, daß die Nichtaufklärung über die amtliche Eigenschaft des Gesprächspartners die Entschließungsfreiheit des Betroffenen, ob und wie er sich äußern wolle, nicht beeinträchtige301 . Anders als in Fällen des Mithörens eines Telefonats zwischen Beschuldigtem und Dritten oder der Informationsgewinnung durch "Lauschangriff''302, gründet sich das Vertrauen des Betroffenen, das diesen veranlaßt, sich dem Verdeckten Ermittler mitzuteilen, auf aktive Täu-

Vgl. dazu unten Teil III, § 15 V. So aber die Argumentation von Kleinknecht I Meyer-Goßner, § II Oe StPO, RN 2; SK-Rudolphi, § II Oe StPO, RN 13; zutreffend dagegen Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 8, S. 96, RN 30; KK-Nack, § !!Oe StPO, RN 8; Weiler, GA 96, S. 105 ff. allerdings unter dem Aspekt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung; vermittelnd fordert Lagodny, StV 96, S. 168, I 72, eine restriktive Auslegung der Ausnahmevorschrift des § II Oe StPO. 300 Vgl. auch BGHSt 33, 223 ; 39, 346 ff.; 40, 211 ff.; KK-Nack, § li Oe StPO, RN 9; Wolter GA 88, S. 89; SK-Roga/1, § l36a StPO, RN 57 m. w. N. 301 Sou. a. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen, S. 240 ff.; Duttge, JZ 96, S. 562; Keller, Rechtliche Grenzen der Provokation von Straftaten, S. 123 ff.; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136a StPO, RN 16; LR-Hanack, § 136a StPO, RN 6, 36 ff.; Rogall, JZ 87, S. 851; SK-Roga/1, § l36a StPO, RN 57; Wolter, GA 88, S. 89 und S. 131 jeweils m. w. N. 302 Zur Verwertbarkeit von mittels Lauschangriffs erlangten Informationen, vgl. BGH NStZ 95, S. 601 f. 298

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schungshandlungen des Polizeibeamten303 • Im Gegensatz zur Telefonüberwachung nutzt die Polizeibehörde nicht lediglich ein bereits bestehendes Vertrauen des Beschuldigten aus, das diesen, wenn auch in Unkenntnis der Begleitumstände veranlaßt, sich freiwillig einem Dritten mitzuteilen. Sie entfaltet statt dessen eine Vielzahl von Aktivitäten und wirkt unmittelbar auf den Verdächtigen ein, um eine entsprechende Äußerung erst hervorzurufen. Diese Unterscheidung wird meist nicht klar genug erkannt, so daß § 1OOa StPO als eines der Hauptargumente gegen ein "Schweigerecht im weiteren Sinne" angeführt wird. Beispielsweise geht Wolter davon aus, daß die Täuschung des verdeckten Ermittlers weder§ 136a StPO verletze noch wegen Umgehung des nemo teneturGrundsatzes unzulässig sei, denn die Einbeziehung einer "Täuschung durch Unterlassen" müßte letztlich auch zur Verfassungswidrigkeit der Telefonüberwachung fiihren 304• Zum einen täuscht der Verdeckte Ermittler jedoch aktiv, und zum anderen ist bei der Telefonüberwachung die Täuschung durch Unterlassen nicht kausal für die Aussage des Telefonierenden, denn der Abhörende schöpft lediglich zuflillig preisgegebene, präsente Beweismittel ab, d. h. er kommuniziert nicht selbst, sondern überwacht nur die Kommunikation anderer. Im Gegensatz dazu verbirgt der Verdeckte Ermittler nicht nur seine wahre Identität, vielmehr erzeugt er durch aktive Handlungen eine bestimmte Legende und damit den Anschein, als gehöre er derselben Organisation, Gruppe oder dem gleichen Milieu wie die Person an, von der er Informationen erhalten möchte305 • Eine Deutung als normatives Unterlassen würde voraussetzen, daß 303 Dies verkennt Köhler, StV 96, S. 187 und ZStW 107 (1995), S. 24 ff., der auch bei lediglich "mitgehörten" Gesprächen des Beschuldigten den Rechtsgedanken der §§ 136, 136a StPO heranziehen möchte, sofern die Bekundungen zu vergangeneo Taten "Aussagequalität" besitzen. Die Aussagefreiheit des Beschuldigten wird jedoch nur in bestimmten, durch die Strafverfolgungsbehörden geschaffenen oder veranlaßten Kornmunikationssituationen geschützt und verbietet nicht generell "das heimliche Eindringen in die nächste Kommunikationssphäre des Verdächtigen". Für sich genommen verletzen weder Telefonüberwachung noch Lauschangriff den nemo tenetur-Grundsatz (so aber Köhler auch fiir die Telefonüberwachung bei "Selbstmitteilung" des Beschuldigten, vgl. ZStW 95, S. 41), vielmehr ist die Zulässigkeit dieser Eingriffe allein an Hand der Art. I 0, 13 GG und der Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten zu beurteilen. Die Auffassung Köhlers, Äußerungen, die "potentieller Vernehmungsinhalt" sein könnten (vgl. S. 24 f. , 37 f.), unterlägen als Folge der Äußerungsfreiheit des Beschuldigten einem totalen Beweiserhebungs- und Verwertungsverbot, verkennt die Reichweite des nemo tenetur-Grundsatzes. Der nemo tenetur-Grundsatz ist kein umfassendes Kommunikationsgrundrecht im Sinne eines Rechts auf Privatheit, sondern schützt nur in einem im einzelnen noch zu bestimmenden Umfang vor staatlicher Einflußnahme auf den Inhalt der Kommunikation. 304 Vgl. Wolter, GA 88, S. 89; ähnlich auch BGHSt 33, 223; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 160; Verrel, NStZ 97, S. 416; Weßlau, Vorfelderrnittlungen, S. 212, 218m. w. N. ; vgl. aber auch Hund, StV 93, S. 379. 305 Auch der BGH spricht davon, daß die Tätigkeit der als Verdeckte Errnittler agierenden Polizeibeamten auf Täuschung angelegt ist und deshalb mit dem "sonst!" fiir Polizeibeamten geltenden Täuschungsverbot in Konflikt geraten kann (vgl. BGH (3. Senat)

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der Betroffene sich unabhängig von der Identität seines Gegenübers gleichermaßen jedem beliebigen Dritten offenbaren will, - ein Schluß, der offensichtlich nicht gezogen werden kann. Selbst wenn man eine aktive Täuschungshandlung des Verdeckten Ermittlers verneinen würde, so wäre es dennoch unzutreffend, fiir Befragungen des Beschuldigten durch diesen eine Täuschung deshalb abzulehnen, weil eine Täuschung durch Unterlassen nur dann den Anwendungsbereich von § 136a StPO eröffnet, sofern die Strafverfolgungsorgane eine gesetzliche Pflicht trifft, entsprechenden Fehlvorstellungen des Befragten entgegenzutreten. Bei Vernehmungen ergibt sich die geforderte Aufklärungspflicht aus § 136 StPO, so daß ein Verdeckter Ermittler zumindest ab dem Moment durch Unterlassen täuscht, in dem er zu einer Vernehmung des Betroffenen übergeht und dabei bewußt die gesetzlichen Belehrungspflichten mißachtet. Ebensowenig kann man behaupten, diese Täuschung beeinträchtige die Willensentschließungsfreiheit des Betroffenen weniger als die übrigen in § 136a StPO genannten Modalitäten und könne deshalb im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung als erlaubte List aus § 136a StPO ausgeklammert werden306 • Diese Unterscheidung ist genauso unbestimmt wie Ansätze, die die Grenze zur unzulässigen Täuschung erst dann fiir überschritten erachten, wenn der Verdeckte Ermittler über das zur Aufrechterhaltung seiner Rolle erforderliche Maß hinaus täuscht307. Schließlich fehlt jeder praktikable Maßstab dafiir, was im Einzelfall an Täuschung erforderlich ist, um eine szenengerechte Rolle spielen zu können. Sicherlich nimmt nichtjede Täuschung am Menschenwürdegehalt des§ 136a StPO teil und kann deshalb unter keinen Umständen gerechtfertigt werden308• Dennoch läßt sich gleichermaßen gut vertreten, daß eine heimliche Vernehmung im Vergleich mit offenem Zwang zur Selbstbelastung wegen der faktisch und rechtlich eingeschränkten (Rechts-) Schutzmöglichkeiten, aber auch wegen des fast völligen Entzugs einer eigenverantwortlichen Entscheidung zur Selbstbelastung unter dem Blickwinkel der Aussagefreiheit des Beschuldigten der grundrechtsintensivere Eingriff ise 09 . Die dargestellten Ansätze einer einschränkenStV 95, S. 229). Er scheint damit auch der Auffassung nahezustehen, die Erfordernisse verdeckter Ermittlungstätigkeit könnten eine im "Normalfall" durch § 136a StPO verbotene Täuschung rechtfertigen. Diese Differenzierung erscheint aber angesichts der Ratio des§ 136a StPO (vgl. dazu unten Teil Ill, § 10 li) problematisch. 306 So u. a. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen, S. 241 m. w. N. Vgl. auch Teil 111, § 10 li. 307 Sou. a. Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 169. 308 Vgl. u. a. Kühne, Strafprozessuale Beweisverbote, S. 129; Kleinknecht I MeyerGoßner, § 136a StPO, RN 12; Otto, GA 70, S. 294; Puppe, GA 78, S. 289. 309 Vgl. auch Wolter, GA 88, S. 86; a. A. Lagodny, StV 96, S. 169. Viel zu pauschal deshalb die häufig zur Rechtfertigung des eingeschränkten Schutzes der Willensentschließungsfreiheit angefilhrte Behauptung, die Täuschung wirke weniger intensiv als

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den Auslegung von § 136a StPO überzeugen vor allem deshalb nicht, weil ihnen die unausgesprochene und deshalb auch unbegründete Annahme zugrundeliegt, die rechtliche Zulässigkeit des Einsatzes Verdeckter Ermittler sei davon abhängig, ob man einer Verwertung selbstbelastender Angaben des Beschuldigten zustimmt. Die durch den Einsatz Verdeckter Ermittler betroffenen Grundrechte und grundrechtsähnlichen Rechte gebieten jedoch unabhängig von der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Einsatzes eine differenziertere, an der jeweils betroffenen Grundrechtsposition orientierte Betrachtung310 • Das den Einsatz rechtfertigende rechtsstaatliche Gebot der Verfolgung von Straftaten311 muß nicht zwingend auch eine generelle Verwertbarkeit der erlangten Informationen zur Folge haben, denn die Effektivität verdeckter Ermittlungen wird erst dann weitgehend aufgehoben, wenn das Verwertungsverbot filr Aussagen des Betroffenen Fernwirkung besitzt und die gewonnenen Erkenntnisse nicht Anknüpfungspunkt filr klassische Ermittlungsmethoden sein dürfen312. Die gebotene Differenzierung zwischen abstrakter Zulässigkeit des Einsatzes eines Verdeckten Ermittlers und der Verwertbarkeit von Informationen, die in Vernehmungssituationen erlangt werden, kann bei einer am Grundsatz der Waffengleichheit und des Fairneßprinzips orientierten Auslegung des nemo teneturGrundsatzes nur zu dem Ergebnis fiihren, daß der Schutz der Aussagefreiheit die Anerkennung eines selbständigen Beweisverwertungsverbotes filr diese Fälle erfordert. Den Belehrungsvorschriften zum Schutze der Aussagefreiheit liegt erkennbar die gesetzgeberische Entscheidung zugrunde, daß der Beschuldigte zur Offenbarung tatrelevanten Wissens nur in offenen Vernehmungen veranlaßt werden darf. Ist dies aufgrund tatsächlicher Gegebenheiten nicht möglich und flillt dem "Vernehmenden" deshalb kein Verfahrensverstoß zur Last, so darf dem Beschuldigten daraus kein Nachteil erwachsen. Auffassungen, die § llOc StPO als (deklaratorische) Spezialregelung zu den §§ 136, l36a StPO ansehen313 , verkennen, daß der Schutz der durch den nemo tenetur-Grundsatz der kompulsive Zwang und die Drohung (so u. a. Keller, Rechtliche Grenzen, S. 137; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 160 und Sternberg-Lieben a. a. 0.). 310 Vgl. auch Lagodny, StV 96, S. 170. 311 Vgl. BVerfGE 57,284. 312 Zutreffend erkannt von BGH StV 96, 246. 31 3 Vgl. Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 110c StPO, RN 2; Krey, Rechtsprobleme des strafprozessualen Einsatzes Verdeckter Ermittler, RN 166, 221 ff.; SK-Rudolphi, § 110c StPO, RN 13. Selbst der 5. Senat scheint zumindest von der Legitimierbarkeit einer heimlichen Ausforschung durch private V-Leute auszugehen, denn er hält Erkenntnisse aus einer gezielten, heimlichen Befragung durch Private (nur) "solange" filr nicht verwertbar, wie eine gesetzliche Grundlage filr deren Einsatz fehlt (vgl. BGH StV 96, 246; ähnlich auch Weiler, GA 96, S. 112 f. und S. 114: "gesetzlich erlaubte Täuschung"). Vgl. dazu auch Fezer, NStZ 96, S. 290. Auch der 3. Senat scheint die Auffassung zu vertreten, daß die§§ 110a ff. StPO konstitutive Ausnahmeregelungen zu § 136a StPO sind, denn er stellt fest, der Gesetzgeber wollte mit dieser Regelung die "heimliche und auf Täuschung angelegte Tätigkeit" von Verdeckten Ermittlern, die zu dem Täu-

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erfaßten Aussagefreiheit auch angesichts schwerster Kriminalität nicht aus Gründen der Strafverfolgung relativiert werden darf. Da die Grenzen der Aussagefreiheil des Beschuldigten vorrangig weder durch den Unzurnutbarkeitsgedanken noch von Verhältnismäßigkeilserwägungen bestimmt werden314, kann das Schweigerecht auch dann nicht eingeschränkt werden, wenn der Täter einer der Straftaten des § 11 Oa StPO verdächtig ise 15 • Im übrigen ließe sich sowohl unter Verhältnismäßigkeits- als auch unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten nicht eindeutig begründen, wo die Grenze zwischen Aussagepflicht (oder legitimierbarer Täuschung über diese) und Aussagefreiheit verläuft. Die gesetzlichen Wertungen beispielsweise der §§ lOOa, llOa, und 112 III StPO als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips zeigen deutlich, daß dem Tatverdächtigen um so mehr zugemutet wird, je schwerwiegender die in Betracht kommende Straftat ist. Vergleicht man die "passiven Selbstbelastungspflichten" von§ 8la li StPO mit der Korrespondenzvorschrift des § 46 IV OWiG fällt ebenso auf, daß der Umfang von selbstbelastenden Duldungspflichten von der Schwere des jeweiligen Normverstoßes abhängig ist. Im gleichen Ausmaß steigt jedoch angesichts des höheren Strafmaßes auch der auf dem Betroffenen lastende, psychische Druck und daraus resultierend die Unzumutbarkeit, wider den natürlichen Selbsterhaltungstrieb gegen sich selbst aussagen zu müssen. Es ließe sich damit ebenso gut vertreten, daß trotz des geringeren Strafverfolgungsinteresses eine Aussagepflicht oder eine Umgehung des Schweigerechts lediglich bei Bagatelldelikten, nicht jedoch in Fällen der Schwerstkriminalität rechtlich zulässig sein kann316 . Festzuhalten bleibt, daß der nemo tenetur-Grundsatz in seinem Funktionsbereich die Offenheit staatlicher Ermittlungen gebietet. Wie die dargestellten Anforderungen an eine am Gebot der Waffengleichheit orientierte Auslegung des nemo tenetur-Prinzips im einzelnen umgesetzt werden können, läßt sich natürlich nicht in allen Details der Verfassung entnehmen. Angesichts der schungsverbot in § 136a StPO "in Widerspruch geraten kann", zum Schutze der Polizeiharnten auf eine gesetzliche Grundlage stellen (vgl. BGH JZ 96, S. 971). Diese Pflicht bestehe fiir verdeckt handelnde Privatpersonen nicht, da sie nicht gegen die ,.sonst ftir sie geltenden Amtspflichten verstoßen" könnten. 314 Vgl. oben Teil I,§ 2l. 315 A. A. Lagodny, StV 96, S. 172: § I IOa ff. StPO ,.konstitutive Ausnahmevorschriften" zu §§ 136, 136a StPO und deshalb auf "Fälle (aller-)schwerster Kriminalität" zu beschränken. Nach seiner Auffassung können durch sie Täuschungen zur Umgehung des Schweigerechts legitimierbar sein. Ob man angesichts des von Lagodny in Bezug genommenen Katalogs von § ll Oa I StPO noch von enggefaßten Ausnahmeflillen sprechen kann, ist zweifelhaft. 316 So etwa Günther, GA 78, S. 204 ff. und Stümpjler, DAR 73, S. 9 f. Deshalb ist auch die Regelung des § 393 Il S. 2 AO verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen, denn durch den Verweis auf§ 30 IV Nr. Sa, b AO besteht gerade in Fällen, in denen die Erftillung der Steuererklärungspflicht zur Offenbarung von schwerwiegenden Straftaten ftihrt, kein Verwertungsverbot fiir selbstbelastende Angaben des Steuerschuldners, vgl. dazu auch Samson, wistra 88, S. 131 ff. m. w. N.

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Zielrichtung der verfassungsrechtlichen Analyse des nemo tenetur-Grundsatzes sollten an dieser Stelle aber auch lediglich normative Leitlinien fiir die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Prinzips gewonnen werden. c) Die Unschuldsvermutung Flankierenden Schutz erflihrt der nemo tenetur-Grundsatz auch durch die in Art. 6 II MRK317 und Art. 14 II IPBPR ausdrücklich verankerte Unschuldsvermutung. Zwischen dieser und dem nemo tenetur-Prinzip wurde seit jeher eine enge, auch historisch bedingte Verwandtschaft anerkannt318 • Darüber hinaus entspricht es einer weitverbreiteten Auffassung, daß die als rechtsstaatliches Unterprinzip auch verfassungsrechtlich abgesicherte Unschuldsvermutung319 den nemo tenetur-Grundsatz mitumfasse, da nicht einerseits zugunsten des Angeklagten seine Unschuld vermutet und er andererseits zur Selbstbelastung verpflichtet werden könne320 . Eine funktionale Verknüpfung beider Rechtsinstitute kann nicht geleugnet werden. Ohne die Sicherheit, daß bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld die Unschuld des Angeklagten vermutet wird321 , könnte sich dieser in Fällen unklarer Beweislage nicht auf die Verweigerung der Mitwirkung beschränken, sondern würde einem mittelbaren psychischen Druck ausgesetzt, sich durch entlastende Aussagen aktiv verteidigen zu müssen322 . In bewußter Abkehr von der obrigkeitsstaatliehen Vorstellung, ein Angeklagter habe die Pflicht, sich vor Gericht zu verantworten, schaffen die Unschuldsver317 Nach überwiegender Auffassung besitzt die europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten den Rang einfachen Bundesrechts, vgl. Maunz I Dürig I Herzog, Art. 1 GG, RN 57 ff. m. w. N. Zu weiteren Rechtsquellen der Unschuldsvennutung, vgl. auch Gropp, JZ 91, S. 804. 318 Zur eng verknüpften Entwicklungsgeschichte Guradze, FS filr Loewenstein, S. 151 ff. Vgl. auch die Fonnulierung des BVerfGE 38, 115: "Das Recht des Zeugen, etwaige Verfehlungen geheimzuhalten ( ... )ist von der Achtung vor seiner menschlichen Würde geprägt, die sich darin mit den rechtsstaatliehen Grundsätzen der Unschuldsvermutung und der Einlassungsfreiheit verbindet." 319 Die Verankerung der Unschuldsvennutung im Rechtsstaatsprinzip ist auch durch das BVerfG bestätigt, vgl. BVerfGE 22,264 f.; 25, 331; 38, 115; 53, 162; BVerfG NJW 90, 2741; NStZ 92, 290; grundlegend BVerfGE 74, 381 ff. Einige Länderverfassungen enthalten eine ausdrückliche Regelung der Unschuldsvennutung, vgl. die Nachweise bei Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 37 f. 320 Vgl. Arndt, NJW 66, S. 870 f.; Bauer, Die Aussage, S. 51; Bottke, DAR 80, S. 240; Dingeldey, JA 84, S. 409; Guradze, FS filr Loewenstein, S. 163; Kadelbach, StV 92, S. 507, FN 4; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1263; Peres, Strafprozessuale Beweisverbote, S. 121 f.; Pfenninger, FS filr Ritt/er, S. 369; Puppe, GA 78, S. 299; Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 70 f.; Rüping, JR 74, S. 138; Wessels, JUS 66, S. 171. 32 1 So die Art. 6 Il MRK entsprechende Fonne1 des BVerfG, vgl. BVerfGE 22, 265. Zur deutschen Fassung von Art. 6 II MRK, vgl. BGBI. 1952 II, S. 688. 322 So bereits Arndt, NJW 66, S. 870; Eser, ZStW 86 (I 974), Beiheft, S. 136 f.

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mutung und der daraus abzuleitende in dubio pro reo Grundsatz323 eine Beweislastverteilung, die sicherstellt, daß ein möglicherweise durch Schweigen verursachtes "non liquet'' nicht zu Lasten des Angeklagten gewertet wird324. Soweit der Unschuldsvermutung auch eine verfahrensbezogene und limitierende Funktion zugesprochen wird, d. h. eines Verbot der Gleichbehandlung des Verdächtigen mit einem Schuldigen und der willkürlichen Ungleichbehandlung des Verdächtigen gegenüber einem Nichtverdächtigen325 , fördert dies eine Verfahrensgestaltung, in der sich der nemo tenetur- Grundsatz effektiv verwirklichen kann. Damit soll vor allem die dem angelsächsischen Rechtskreis entnommene Forderung angesprochen werden, das Prinzip der Unschuldsvermutung verlange eine vornehme und unvoreingenommene Verhandlungsfiihrung, die als Ausdruck der damit verbundenen Achtung der Menschenwürde des Betroffenen nicht präjudiziere, sondern dem Angeklagten unparteiisch die Möglichkeit der Verteidigung gewähre326• Daß dieses Verlangen nach einer an der Unschuldsvermutung orientierten Prozeßfilhrung "mit nemo tenetur nichts zu tun hat"327, muß bezweifelt werden. Ausgehend von dem Grundsatz, Art. 6 II MRK regle vorrangig die Art und Weise, in der sich der Tatrichter seiner Aufgaben entledige328, hat beispielsweise die Europäische Kommission filr Menschenrechte die Drohung eine Richters gegen den Angeklagten - wenn dieser bei seiner als unglaubwürdig erachteten Darstellung bleibe, könne sich dies straferschwerend auswirken - als Verletzung der Unschuldsvermutung angesehen329. Der Zusammenhang mit der durch das nemo tenetur-Prinzip mitgewährleisteten Aussagefreiheit des Beschuldigten ist offensichtlich. Nur eine vorur323 SK-Rogall, vor§ 133 StPO, RN 74; Stern, Staatsrecht III I 2m. jeweils w. N. Gegen eine Ableitung des Grundsatzes in dubio pro reo aus der Unschuldsvermutung, Meyer, FS fiir Tröndle, S. 67 m. w. N. 324 Wenig überzeugend die Kritik bei Roga/1, Der Beschuldigte, S. 111 f., der nemo tenetur-Grundsatz müßte selbst dann gelten, wenn der Angeklagte als schuldig vermutet würde. Eine Abhängigkeit von Unschuldsvermutung und nemo tenetur-Prinzip ergebe sich weder aus begrifflichen noch dogmatischen Notwendigkeiten. Ein Verfahren, das die Schuld des Angeklagten voraussetzt, begründet nicht notwendigerweise Zwang zur Selbstanklage, aber auf alle Fälle einen - auch durch das nemo tenetur-Prinzip untersagten- Zwang zur Aussage, um bei unklarer Beweislage einer Verurteilung zu entgehen. 325 Gropp, JZ 91, S. 806 ff. 326 Vgl. die Nachweise bei Guradze, Internationaler Kommentar zur EMRK, Art. 6, RN 405; Kühl, FS fiir Hubmann, S. 245 f. und Peukert, EuGRZ 80, S. 260. Diese persönlichkeitsrechtsorientierte Sichtweise vertritt auch Sax in Rettermann I Nipperdey I Scheuner, III/2, S. 987 ff.; ähnlich Kühl, FS fiir Hubmann, S. 250 ff. Kritisch Meyer, FS fiir Tröndle, S. 63 f. 327 So Roga/1, Der Beschuldigte, S. 110. 328 Vgl. Peukert, EuGRZ 80, S. 260m. w. N. 329 Nachweis bei Guardze, Internationaler Kommentar zur EMRK, Art. 6, RN 405. Vgl. dazu auch Meyer, FS fiir Tröndle, S. 71 m. w. N.

§ 2 Verfassungsrechtliche Ableitung des nemo tenetur-Grundsatzes

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teilsfreie Verhandlungsftlhrung ist Ausdruck des Respekts vor der Aussagefreiheit des Beschuldigten und kann der Gefahr begegnen, aus prozeßökonomischen Gründen auf selbstbelastende Angaben des Beschuldigten hinzuwirken. Dieser durch das nemo tenetur-Prinzip und die Unschuldsvermutung gleichermaßen verbürgte Teilaspekt betrifft jedoch vorrangig den Bereich richterlicher Vernehmungen in der Hauptverhandlung. Der Einfluß der Unschuldsvermutung auf das Ermittlungsverfahren ist deutlich geringer, denn im Gegensatz zur Person des Richters wird dem vernehmenden Polizeibeamten durch Art. 6 II MRK weder untersagt, den Beschuldigten fi1r schuldig zu halten, noch sich dementsprechend zu verhalten. Dies wäre auch angesichts des polizeilichen Auftrages, Straftaten zu erforschen, eine nicht justitiable Forderung, denn die Polizei muß einem Tatverdächtigen zwangsläufig mit einer gewissen Schuldvermutung entgegentreten. Zu weit geht auch die Auffassung der Kommission, die Berücksichtigung von belastenden Angaben des Beschuldigten bei der Urteilsfmdung sei eine Verletzung von Art. 6 II MRK, wenn diese im Vorverfahren in unerlaubter Weise erlangt oder erpreßt worden sind330• Mag diese Auffassung auch einen direkten Zusammenhang zwischen dem nemo tenetur-Grundsatz und der Unschuldsvermutung andeuten, so ist sie doch Ausdruck einer wenig systematischen Einzelfallrechtsprechung, die die Unschuldsvermutung als allgemeines Beweiswürdigungsregulativ mißbraucht. Eine Verletzung von Verfahrensvorschriften bei der Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren hindert den Richter nicht, die so erlangte Aussage besonders kritisch zu würdigen und auch weiterhin von der Unschuld des Angeklagten auszugehen. Die darüber hinausreichende, schuldpräsumtive Wirkung des Ermittlungsverfahrens auf die richterliche Entscheidungsfmdung ist eine Folge der bestehenden Verfahrensaufteilung, die fi1r sich genommen sicherlich nicht gegen Art. 6 II MRK verstößt. Des weiteren muß den Kritikern dieses Aspektes der Unschuldsvermutung zugestanden werden, daß die aufgezeigte Garantie der Offenheit des Verfahrensausgangs in einem rechtsstaatliehen Verfahren eine Selbstverständlichkeit ist, ohne daß es eines Rückgriffs auf die Unschuldsvermutung bedarf31 • Die darüber hinausreichende, verfahrenslimitierende Funktion der Unschuldsvermutung verbietet vor der gerichtlichen Schuldfeststellung Eingriffe, die hinsichtlich Qualität und Intensität faktischen Strafcharakter besitzen und deshalb nur einem Schuldigen zugemutet werden können332. Das schließt nach überwiegender Auffassung nicht aus, die Intensität bestimmter Zwangsmaß330 Vgl. Peukert, EuGRZ 80, S. 261; kritisch Meyer, FS filr Tröndle, S. 61 ff.; SKRogall, vor § 133 StPO, RN 76. 331 Vgl. die Nachweise bei Haberstroh, NStZ 84, S. 289. 332 Nach h.A. liegt darin der eigenständige Regelungsgehalt der Unschuldsvermutung, vgl. Gropp, JZ 91, S. 807 m. w. N.

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nahmen nach dem Grad des gegen den Betroffenen bestehenden Tatverdachtes abzustufen333 • Dieses "Vorgriffs- oder Vorwegnahmeverbot", das einer Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes dient334, beinhaltet nicht zwingend die Forderung nach· Schutz vor Zwang zur Selbstbelastung. Nicht jede Selbstbelastungspflicht ist zwangsläufig mit einer durch die Unschuldsvermutung untersagten Schuldpräsumtion verbunden. So könnte doch zweifelsohne gesetzlich festgelegt werden, daß auch den Beschuldigten eine Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage im Strafprozeß trifft, ohne daß damit zugleich zwingend die Behauptung der Schuld des Angeklagten verbunden ist335 • Der Beschuldigte wäre damit nicht schlechter gestellt als jedes andere Mitglied der Gesellschaft, das bei Zeugenaussagen vor Gericht zur vollständigen und wahrheitsgemäßen Aussage verpflichtet ist. Ein Verstoß gegen Unschuldsvermutung und zugleich nemo tenetur- Prinzip ist erst dann anzunehmen, wenn der Beschuldigte durch den Richter mit Zwangsmitteln oder Drohungen veranlaßt wird, von einer filr unwahr erachteten Aussage abzurücken. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß der sachliche Gehalt der Unschuldsvermutung Teilbereiche des nemo tenetur-Prinzips umfaßt. Darüber hinaus trägt die Unschuldsvermutung als Verfahrensdirektive durch ihre verfahrensgestaltende Wirkung336 dazu bei, daß die durch den nemo tenetur-Grundsatz ermöglichten Verteidigungsformen effektiv wahrgenommen werden können. Zumindest ist die durch die Unschuldsvermutung bewirkte Verteilung des "Prozeßrisikos" unabdingbare Voraussetzung filr eine sinnvolle Ausübung des Aussageverweigerungsrechts des Beschuldigten.

§ 3 Bestimmung der Schutzrichtung des nemo tenetur-Grundsatzes aus der Entwicklungsgeschichte des Anklageprozesses

Viele Monographien, die sich mit der Bestimmung von Schutzrichtung und Regelungsbereich des nemo tenetur-Prinzips befassen, stehen unter der Prämisse, daß nur durch einen Rückgriff auf seine Entwicklungsgeschichte konkrete Aussagen über seine verfassungsrechtliche Verankerung als auch seine immanenten Grenzen getroffen werden können337 • Für die Entwicklung des nemo Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § II, RN 4 m. w. N. Vgl. auch BVerfG StV 91, 112. Gegen eine Verknüpfung von Unschuldsvermutung und Verhältnismäßigkeitsprinzip, Haberstroh, NStZ 84, S. 290. 335 Vgl. auch Puppe, GA 78, S. 299. 336 Vgl. BVerfGE 74, 372. 337 Vgl. etwa Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, S. 140; Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 146; Roga/1, Der Beschuldigte, S. 67; Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip, S. 40. Sehr deutlich auch die Kritik von Rieß, GA 81, S. 47, an der Abhandlung von Fischer, Divergierende Selbstbelastungspflichten: "Der schwerwiegendste methodische Einwand 333

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§ 3 Entwicklungsgeschichte des Anklageprozesses

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tenetur-Grundsatzes in Deutschland wird dabei vor allem auf die politische Auseinandersetzung· um die Reform des Strafverfahrens seit Beginn des 19. Jahrhunderts verwiesen, die info1ge der bürgerlichen Revolution von 1848 zur Ablösung des Inquisitions- durch das Akkusationsverfahren filhrte 33s. Auslösend für diesen Wandel war die veränderte Sichtweise des Verhältnisses des einzelnen zum Staat. Der Straftäter wurde nunmehr als ein mit eigenen Verteidigungsrechten ausgestattetes Individuum anerkannt. Mit dieser Achtung der persönlichen Freiheit des einzelnen als selbständigem Staatszweck339 wurde dem Staat die Berechtigung abgesprochen, einen Gewissensakt des Angeklagten zu erzwingen 340 . Dieser geschichtliche Hintergrund legt es nahe, das nerno tenetur-Prinzip als "materiell-staatsrechtlichen Grundsatz"341 zur Regelung des Verhältnisses zwischen dem Beschuldigten und den staatlichen Organen zu interpretieren, der es aufgrund seiner "negativen Abwehrfunktion"342 verbietet, den einzelnen unter Mißachtung seiner Persönlichkeit zu einer aktiven Mitwirkung arn Strafprozeß zu zwingen343 • Sofern die Forderung nach einer arn historischen Verständnis des nerno tenetur- Grundsatzes orientierten Auslegung jedoch als Argument gegen dessen Erweiterung vorgebracht wird, müssen dagegen Bedenken geltend gernacht

liegt im völligen Verzicht auf einen rechts- und dogmengeschichtlichen Rückgriff auf die Entstehung des Prinzips(... )". Auch Bauer, Die Aussage, S. 37, spricht davon, daß sich die Grundidee und der Umfang des Schweigerechts nur aus der historischen Entwicklung erschließen lassen. Welchen konkreten Nutzen aber ein beim Talmud und dem kanonischen Recht beginnender Rückblick für die gegenwärtige Auslegung des nemo tenetur-Grundsatzes besitzt (vgl. zuletzt Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 3 f.), bleibt dennoch unklar. 338 Art. X, § 179 der von der Nationalversammlung beschlossenen Verfassung lautet schlicht: "In Strafsachen gilt der Anklageprozeß." Ausführlich zur Entstehungsgeschichte Rogal/, Der Beschuldigte, S. 87 ff., 91 ff., der nachweist, daß der nemo teneturGrundsatz nicht auf einer deutschen Rechtsentwicklung beruht, sondern das Ergebnis einer Rezeption ausländischen Rechts ist und seine Entstehung in der heutigen Form vorrangig der Entwicklung in England verdankt. V gl. ergänzend auch Bauer, Die Aussage, S. 38 ff.; Plöger, Die Mitwirkungspflichten des Beschuldigten, der im Schwerpunkt seiner Arbeit aufzeigt, welche dogmatischen und geistigen Grundlagen des Inquisitionsverfahrens einer Anerkennung des nemo tenetur-Grundsatzes im Wege standen; Walder, Die Vernehmung, S. 32 ff. 339 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte, S. I 08. 340 Gneist, Vier Fragen zur Stratpr~zeßordnung, S. 84, erachtet den Zwang zur Aussage als eines "rechtsprechenden Staates nicht würdig". Vgl. u. a. auch Geyer, Lehrbuch des gemeinen deutschen Stratprozeßrechts, S. 85 ff.; Glaser, Handbuch des StrafProzesses I, S. 610 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 52. 341 Vgl. Eb. Schmidt, NJW 68, S. 1213. 342 Nach Rogall, Der Beschuldigte, S. 60, ist dies das primäre Wesenselement des nemo tenetur-Grundsatzes. 343 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte, S. 108, unter Verweis auf Eb. Schmidt, Strafprozeß und Rechtsstaat, S. 231. 7 Bosch

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werden344• Der Grundsatz mag seinen Ursprung in der Erkenntnis haben, eine Pflicht des Angeklagten, Zeuge in eigener Sache zu sein, verlange von diesem unter Verkennung der psychologischen Grenzen des Selbsterhaltungstriebes Übermenschliches und verstoße deshalb gegen das naturrechtliche Gebot des Selbstschutzes345 • Der historische Hintergrund legt damit tatsächlich eine zwangsorientierte Betrachtungsweise nahe, die nur eine Pflicht zur aktiven Selbstüberfilhrung fUr unzulässig erachtet, bei passiven Duldungspflichten oder durch Täuschung erwirkten Aussagen des Beschuldigten jedoch einen Verstoß gegen das nemo tenetur-Prinzip verneint. Das damit verbundene, formale und statische Verständnis von Grundsätzen und Prozeßmaximen des Strafprozesses ist aber durch die ständige Veränderung der strafprozessualen Rahmenbedingungen zwangsläufig mit einem Funktionsverlust auf seiten der beschuldigtenschützenden Rechte verbunden. Die vorrangige Bestimmung des nemo teneturGrundsatzes aus seiner Entwicklungsgeschichte filhrt zu einer Versteinerung des Prinzips. Eine effektive Garantie der Beschuldigtenrechte läßt sich dagegen nur dann erreichen, wenn die Funktion des jeweiligen Grundsatzes im Zusammenspiel mit den das Strafverfahren beherrschenden Prozeßmaximen erkannt und dessen inhaltliche Begrenzung der jeweiligen Ausgestaltung des Strafverfahrens angepaßt wird346• Um dem Vorwurf der willkürlichen Relativierung traditioneller Beschuldigtenrechte zu begegnen, ist im Rahmen der notwendigen Funktionsbestimmung der historisch gewachsene Minimalgehalt zugrundezulegen, der jedoch lediglich geeignet ist, den Kerngehalt - hier des nemo teneturPrinzips - zu charakterisieren. Im Zusarnrnenhang mit der Bestimmung des Funktionsgehalts des nemo tenetur-Prinzips ist vorrangig der Blick auf das der Paulskirchen-Verfassung zugrundeliegende Verständnis des Akkusationsprinzips von Nutzen. Dies u. a. auch deshalb, weil sich immer wieder Stimmen in der Literatur fmden, die das nemo tenetur-Prinzip aus dem Wesen des Anklageprozesses und der freien Be-

344 So etwa Lorenz, JZ 92, S. 1006, der auch aus historischen Gründen den Schutz des nemo tenetur-Prinzips auf Zwang zur Erhaltung von Aussagen gegen sich selbst beschränken möchte. Ihm wohl folgend Verre/, NStZ 97, S. 415 f. m.w.N. Tatsächlich ist damit sicherlich ein Gewinn an Rechtssicherheit verbunden, denn das Prinzip wird resistenter gegenüber der Veränderung gesellschaftlicher Wertvorstellungen als bei einer vom Wandel dieser Anschauungen abhängigen, zweckorientierten Auslegung (vgl. dazu auch AK-Loos, Einl. III, RN 4 ff. m. w. N., der den Vorrang der historischen Auslegung vor allem mit der insbesondere von Luhmann eingehend erörterten Stabilisierungsfunktion des Rechts begründet). 345 Eb. Schmidt, NJW 69, S. 1139; Welzel, JZ 58, S. 496; Roga/1, Der Beschuldigte, S. 145m. w. N . Vgl. dazu bereits oben Teil I,§ 2 I. 346 Zu der auch in der juristischen Methodenlehre erkennbaren Abkehr von einem dogmatisch-systematischen hin zu einem problemorientierten begrifflichen Denken, vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 128 ff.; Rieß, FS fiir Schäfer, S. 188 m. w. N.

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weiswürdigung ableiten wollen347 . Begründet wird dies damit, daß durch den akkusatorischen Charakter des kontinental-europäischen Strafverfahrens vorwiegend die Anklagebehörde zur Materialsanunlung verpflichtet sd48 • Da sich durch dieses Rollenverständnis jede Form einer aktiven Prozeßförderungspflicht des Beschuldigten als systemfremd erweist, ist ftlr die Vertreter dieser Auffassung die Anerkennung des nemo tenetur-Grundsatzes im deutschen Strafverfahren zwingend durch die vorgegebene Verfahrensstruktur bedingt. Wie im folgenden aufgezeigt werden soll, entspricht ein weites, materiellorientierte Verständnis des Akkusationsprinzips jedoch nicht mehr seiner gegenwärtigen, formalen Begriffsbestimmung. Zudem muß gefragt werden, ob durch diese Ableitung viel gewonnen ist, denn die Diskussion um die Einfiihrung des "richtigen Anklageverfahrens" ist zumindest ebenso vielschichtig wie die Problematik der Rechtsnatur des nemo tenetur-Grundsatzes. Obwohl unter den Reformern zu Zeiten der bürgerlichen Revolution von 1848 die rechtliche Natur des Anklageverfahrens umstritten war349, bestand doch Einigkeit darüber, daß mit der Proklarnation des Anklageprozesses durch die Nationalversanunlung auch eine veränderte prozessuale Stellung des Beschuldigten verbunden ist, die es untersagt, auf den Beschuldigten Zwang zur Erlangung einer Aussage oder gar eines Geständnisses auszuüben350• Eines der Hauptübel, die der Inquisitionsprozeß mit sich brachte, war die Tatsache, daß 347 Vgl. Nick/, Das Schweigen des Beschuldigten, S. 23 ff.; Rüping, JR 74, S. 136 f.; Seebade, MDR 70, S. 185m. w. N. Ergänzend auch Lorenz, JZ 92, S. 1006, der Inhalt und Reichweite des nemo tenetur-Prinzips unter Berücksichtigung historischer und systematischer Zusammenhänge und dabei insbesondere des akkusatorischen Modells bestimmen möchte. Im älteren Schrifttum ist eine Ableitung aus dem Akkusationsprinzip häufiger anzutreffen, vgl. dazu Sautter, AcP 161 (1962) S. 252. Insbesondere in der Diskussion in Österreich wird der nemo tenetur-Grundsatz als Ausfluß eines materiell interpretierten Anklageprinzips anerkannt, vgl. dazu die Nachweise bei Moos, Juridikum, 95, S. 35. 348 Seebade, JA 80, S. 495 f. 349 Die Reformer waren sich uneinig, ob ein Verfahren nach englischem Vorbild, d. h. eine Verbindung von Anklage- und Verhandlungsgrundsatz, geschaffen werden sollte, oder ob lediglich ein Verfahren mit Anklageform eingefilhrt werden soll, d. h. nach Anklageerhebung die vom Parteiwillen unabhängige Untersuchungstätigkeit des Richters beginnt. Vgl. dazu Geyer, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafprozeßrechts, S. 89 ff. ; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 53; Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung, S. 49 ff. m. w. N. 350 Vgl. etwa Glaser, Handbuch des Strafprozesses I, S. 18 ff., 162 ff. und S. 618, FN 19: Jedes "Drängen zum Geständnis sei mit dem Grundgedanken des accusatorischen Verhörs", unvereinbar.Vgl. auch Mittermaier, Mündlichkeit, S. 281 ff.; Glaser (vgl. a. a. 0. S. 31) und Mittermaier (vgl. Mündlichkeit, S. 282) gehen jedoch ersichtlich davon aus, daß sich die "Anklageform" uneingeschränkt nur im kontradiktorischen Verfahren verwirklichen läßt und legen damit ein weites Verständnis des Akkusationsprinzips zugrunde; dazu auch Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung, S. 55 ff. Vgl. i. ü. die Nachweise bei Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 146 f. ; Rogall, Der Beschuldigte, S. 92, 95 m. w. N.

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der Untersuchungsrichter vor die psychologisch unmögliche, geradezu übermenschliche Aufgabe gestellt wurde, sowohl Ankläger als auch Verteidiger und Urteiler in einer Person zu sein. Damit war er gezwungen, "bald auf die eine, bald auf die andere Seite zu springen und mit beiden Waffen resp. gegen sich selbst zu fechten, zugleich aber auch als Kampfrichter den Streit zu leiten" 351 • Die Einfilhrung eines Anklageprozesses war zunächst als Beschreibung einer prinzipiellen Gegenposition zum Inquisitionsprozeß gedacht, die den strafprozessualen Forderungen des Liberalismus nach Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens, insbesondere aber auch nach einer veränderten prozessualen Stellung des Beschuldigten Geltung verschaffen sollte352 . Die Entscheidungsfunktion des Richters sollte dadurch von suggestiven Einflüssen freigehalten werden, die zwangsläufig durch seine eigene, angreifende und ermittelnde Tätigkeit entstehen müssen353 • Während der Inquisitionsprozeß dem Richter nahezu unumschränkte Rechte bei seiner Pflicht, die Wahrheit zu ermitteln, zur Verfugung stellte und damit der Beschuldigte unvermeidlich zum wichtigsten "Gegenstand" der Untersuchung avancierte, entsprach es dem Grundverständnis des Anklageprozesses, daß der Ankläger die Pflicht hat, seine Behauptungen zu beweisen und den Angeklagten keine Pflicht traf, ihn darin zu unterstützen354• Darüber hinaus wurde von einem Teil der Reformer das Wesen des Anklageprozesses darin gesehen, daß das Gericht nicht selbst an der Stoffsammlung beteiligt, sondern seine Aufgabe auf die Beurteilung der Beweisergebnisse beschränkt wird355 . Die aufgezeigte Beweislastverteilung entsprach dem Bedürfnis der Reformer, die Tendenz der richterlichen Vernehmung zu einem Geständnis des Angeklagten zu beseitigen356 • Die dargestellte, materielle Interpretation des Anklageprinzips umfaßte damit zwangsläufig alle Prozeßrechte, die Ausdruck der Subjektsstellung des Beschuldigten sind. In der modernen Ausgestaltung des Strafverfahrens beschränkt sich die Funktion des Anklagegrundsatzes jedoch im wesentlichen auf den bei Schaf351 Zachariae, Gebrechen, S. 143 f. Vgl. auch Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 52; Eb. Schmidt, FS fiir Kohlrausch, S. 273 ff. und die eindrucksvolle Schilderung bei Radbruch I Zweigert, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 185 ff. m. w. N. 352 So hat etwa Zachariae, Gebrechen, S. 278, aus dem akkusatorischen Prinzip die These einer "völligen Gleichheit der Angriffs- und Verteidigungswaffen" von Staatsanwaltschaft und Verteidiger abgeleitet. 353 Vgl. auch Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Band I, RN 347 f. und Einfiihrung in die Geschichte,§§ 266, 287 jeweils m. w. N. 354 Vgl. Glaser, Handbuch des Strafprozesses I, S. 31; Rogall, Der Beschuldigte, S. 95 m. w. N. in FN 72. 355 Vgl. die Nachweise bei Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung, S. 56 und S. 60 ff. Prägnant auch Glaser, Handbuch des Strafprozesses, S. 41 : "Ein unbefangener Richter" setzt voraus "dass die Beschuldigung, über deren Begründung er urtheilen soll, nicht von ihm selbst erhoben werde". 356 Zachariae, Gebrechen, S. 54 ff.

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fung der RStPO in der Strafverfahrensdogmatik verwendeten Begriff der "Anklagefonn", d. h. die Abhängigkeit der richterlichen Entscheidungsfunktion von einer Anklage, ohne daß dadurch dem Richter eine eigenständige, inquisitorische Sachverhaltserforschung untersagt wird357 • Eine fiir die Verwirklichung des nemo tenetur-Grundsatzes günstige Verfahrensgestaltung bewirkt der Allklagegrundsatz nur noch insofern, als der Richter durch die Trennung von anklagendem und urteilendem Organ von der Sammlung des Verdachtsmaterials im Vorverfahren freigehalten wird und damit weniger geneigt sein sollte, den zum Hauptverfahren fUhrenden Verdacht bestätigen zu wollen. Wenn damit festgestellt werden muß, daß das nemo tenetur-Prinzip lediglich eine historische Verbindung zum Anklagegrundsatz besitzt, aus diesem jedoch nicht abgeleitet werden kann, so bedeutet dies nicht, daß ein Blick auf das historische Verständnis des Akkusationsprinzips nicht aufschlußreich fiir die Bestimmung des Schutzgehalts des nemo tenetur-Grundsatzes ist. So glaubte man der nach Abschaffung der Folter im Inquisitionsverfahren verbreiteten "perfiden Jagdwissenschaft"358 dadurch ein Ende bereiten zu können, daß die verdachtsennittelnde und -überprüfende Tätigkeit auf ein auch der Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtetes, Anklageorgan übertragen wird, das jedoch - und dies ist der entscheidende Aspekt - bezüglich des Prozeßgegenstandes nichts Endgültiges zu leisten hat359• Das dieser Verfahrens- und Funktionsaufteilung zugrundeliegende Strukturverständnis des Strafverfahrens entspricht jedoch schon lange nicht mehr seiner tatsächlichen Ausgestaltung. Im Vor- oder Ennittlungsverfahren werden bereits die wesentlichen Weichen fUr den Verfahrensausgang gestellt und die zunehmende Erweiterung staatsanwaltschaftlicher Ennittlungsbefugnisse360 trägt ihr übriges dazu bei, daß entgegen der gesetzgeberischen Intention das Ergebnis der Hauptverhandlung weitgehend durch den Gang des Ennittlungsverfahrens 357 Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen Anklageverfahren und Anklageform, vgl. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 98. 358 Vgl. Köstlin, Der Wendepunkt des deutschen Strafverfahrens, S. 94 (zitiert nach Rogall, Der Beschuldigte, S. 90). Mit Beseitigung der Folter wurde nach neuen Methoden gesucht, dem Beschuldigten ein Geständnis abzuringen. Nach Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 49, ermahnte man den Beschuldigten zur Wahrheit, schreitet zur Wiederholung des Verhörs, versucht, in Widersprüche zu verwickeln und diese auszunützen; man läßt ihn im dunklen tappen, überrascht, überrumpelt, zermürbt ihn und bedient sich Mitteln der List, um den Erfolg der Waffen zu sichern. Die heute gängige Polizeipraxis scheint sich nicht weit von diesem historischen Vorbild entfernt zu haben, denn viele dieser Methoden werden auch heute noch als legitim erachtet. 359 Vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Band I, RN 365. 360 Beispielsweise die Bemühungen um Beschleunigung des Verfahrens durch die Verlagerui:Jg von Zuständigkeiten des Ermittlungsrichters im Vorverfahren auf die Staatsanwaltschaft, durch die Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung und durch Erweiterung von Eingriffs- und Anordnungskompetenzen von Staatsanwaltschaft und Polizei, vgl. dazu bereits Achenbach, JUS 80, S. 85 ff.; Herrmann, JUS 76, S. 413.

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Teil 1: Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes

determiniert wird361 und Fehler und Mängel, die im Ermittlungsverfahren erfolgt sind, in aller Regel in der Hauptverhandlung nicht mehr beseitigt werden können362 • Dabei liegt zwar auch heute noch der juristische Schwerpunkt in der Hauptverhandlung, die dafilr notwendige Tatsachengrundlage wird jedoch vorwiegend außerhalb dieser geschaffen, so daß die Aussage des BVerfG: "Die Hauptverhandlung stellt - als alleinige Erkenntnisgrundlage der Urteilsfmdung das Kernstück des Strafverfahrens dar. Alle vorhergehenden Verfahrensabschnitte sind ihr gegenüber von untergeordneter Bedeutung (... ) ", mit der tatsächlichen Bedeutung des Ermittlungsverfahrens schon seit langem nicht mehr in Einklang stehe63 • Verschärfend wirkt bei dieser Entwicklung zusätzlich die Tatsache einer weitgehenden Delegation der Ermittlungstätigkeit auf Strafverfolgungsbeamte der Polizee64 , von denen aufgrund äußerer Erfolgszwänge kaum eine von "gelassener Objektivität" geprägte Grundhaltung erwartet werden kann365 • Zudem nimmt diese nicht wie die Staatsanwaltschaft lediglich Aufgaben der Strafverfolgung wahr, sondern wird ebenso im Bereich der Verbrechensprävention tätig. Dadurch wird die Gefahr begründet, daß gegebenenfalls auf Heimlichkeit angewiesene Befugnisse zur ErfiUlung von Präventionsaufgaben im Vorfeld strafrechtlicher Ermittlungen auch für Zwecke der Strafverfolgung ausgenützt werden366•

361 Obwohl keine umfassende empirische Untersuchung zu dieser Fragestellung vorliegt, scheint über diese Tatsache weitgehend Einigkeit zu bestehen, vgl. nur Kühne, Strafprozeßlehre, RN 155.1; Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 7, 133 ff., nach Auswertung von über II 00 Wiederaufnahmeverfahren; Krause, StV 84, S. 174 f.; Müller, NJW 81, S. 1805 f.; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1227 f.; Peters, Fehlerquellen, Band 2, S. 195 ff.; Richter//, StV 85, S. 385 f. m. w. N. in FN 29; Wolter, Strafprozeßreform bis 2007, S. 53 ff.; Rieß, FS filr Schäfer, S. 207 f. Als gewisses Indiz kann die sehr geringe Freispruchquote in der Hauptverhandlung herangezogen werden. Auch anband der vorgenannten empirischen Untersuchungen läßt sich aufzeigen, daß das Ermittlungsverfahren das gesamte spätere Verfahren in kaum noch zu korrigierender Art und Weise vorprägt. 362 Vgl. dazu Blankenburg I SessarI Feest, Die Staatsanwaltschaft, S. 89 ff., 303 f.; Peters, Fehlerquellen, Band 2, S. 195. 363 BVerfGE 39, 167 f.; vgl. auch BVerfGE 74, 372. 364 Vgl. zur diesbzgl. Reformdiskussion die Nachweise bei Mü/ler-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1199, FN 90. Steffen, Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit, S. 294, kommt in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, daß die Polizei faktisch "Herrin des Ermittlungsverfahrens" ist. 365 So unter Hinweis auf§§ 152 II, 160 I, II, 170 I, li StPO, Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Band I, RN 363 ff. Daß Staatsanwaltschaft und Polizei sich unterschiedlichen Zielen verpflichtet filhlen, konnte auch in empirischen Untersuchungen nachgewiesen werden (vgl. Steffen, Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit, S. 124, 282 ff.). 366 Vgl. auch Hamm, FS filr Saiger, S. 280 ff. und Wolter, GA 88, S. 53 m. umfangreichen N., der darauf hinweist, daß Befugnisse zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten zunehmend auch dazu verwendet werden, "Vorsorge filr die spätere Strafverfolgung" zu betreiben.

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Die in der Einfilhrung des Anklageverfahrens zum Ausdruck gebrachten Reformbestrebungen erschöpften sich nicht darin, zur Wahrung der Würde des Gerichts einseitige Ermittlungsmethoden auf ein von diesem abgetrenntes Strafverfolgungsorgan zu übertragen367 . Das eigentliche Anliegen der Reformer war es, dem Beschuldigten prozessuale Möglichkeiten an die Hand zu geben, selbständig und in beachtlicher Weise auf die Prozeßgestaltung und auf die Gewinnung des Beweismaterials einzuwirken. Dieses Verständnis des nemo teneturGrundsatzes als aktives Verteidigungsrecht wird heute nicht ausreichend berücksichtige68. Welchen Wert soll beispielsweise ein Geständnis haben, das in der Hauptverhandlung erfolgt, obwohl der Angeklagte auch ohne seine Zustimmung problemlos durch eine bereits im Ermittlungsverfahren erfolgte Aussage überfUhrt werden kann? Läßt man es zu, daß bereits im Ermittlungsverfahren durch verdachtsermittelnde Maßnahmen - etwa eine ohne Belehrung erfolgte informatorische Befragung oder eine verdeckte Vernehmung des Beschuldigten- eine weitgehende Festlegung des Aussageverhaltens des Beschuldigten erfolgt, so können die weitreichenden Verteidigungsbefugnisse in der Hauptverhandlung dem Beschuldigten keine tatsächliche Einflußnahme auf den Prozeß ermöglichen. Er wird durch die vielfiiltigen Möglichkeiten der Einfilhrung polizeilicher Vernehmungen in die Hauptverhandlung - beispielsweise die Vernehmung der Verhörperson sowie Vorhalte aus den Protokollen an Zeugen und Beschuldigten - und bedingt durch die Aktenkenntnis des Vorsitzenden, auf eine im Ermittlungsverfahren erfolgte Aussage festgelegt, die z. T. unter fragwürdigen Umständen erlangt, zumindest aber häufig in Unkenntnis der prozeßentscheidenden Bedeutung abgegeben wurde369. Zur Beseitigung dieses Mißstandes sind abgesehen von Reformen, die auf eine Aufhebung der Dreiteilung des Strafverfahrens abzielen, grundsätzlich zwei Wege denkbar. Der eine Weg fUhrt zur Umgestaltung des Ermittlungsverfahrens in ein "kontradiktorisches" oder "kooperatives" Vorverfahren370, durch eine im Wege der Gesetzesänderung zu vollziehende Verstärkung von Teilnah367 Dabei sei an das vielfach angefilhrte Zitat Radbruchs, FS filr Sauer, S. 126 erinnert, der fur die Ausgestaltung von Vernehmungen feststellt, es dürfe nicht der Eindruck entstehen, "als hause die Strafrechtspflege in der Beletage, in welcher gepflegte Umgangsformen herrschen, die Kriminalpolizei aber in der Kellerwohnung darunter, in der rauhere Sitten üblich sind." 368 Dieser Grundgedanke wird statt dessen in sein Gegenteil verkehrt, wenn etwa die das Aussageverweigerungsrecht des Angeklagten schützenden Belehrungsvorschriften als Normen mit "antiprozessualem" Schutzgehalt bezeichnet werden, die letztlich das Interesse des Angeklagten an einem unverdienten Freispruch sichern und damit dem Interesse an Wahrheitstindung zuwiderlaufen (so etwa Blomeyer, JR 71, S. 149). 369 Dabei sei als Beispiel nur auf die schwierigen Abgrenzungsfragen bei der Feststellung von bedingtem Vorsatz des Täters oder subjektiver Mordmerkmale erinnert. 370 V gl. zu diesen Begriffen Dahs, NJW 85, S. 1117 f.; Richter li, StV 85, S. 387 ff. m.w. N.

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Teil I: Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes

me-, Informations- und Verteidigungsrechten des Beschuldigten. Dies entspricht jedoch nicht der gegenwärtigen Konzeption der strafprozessualen Verfahrensausgestaltung und kann deshalb nur als Aufforderung an den Gesetzgeber verstanden werden. Will man im Rahmen der bestehenden Gesetzeslage verhindern, daß der Beschuldigte in Unkenntnis der weitreichenden Konsequenzen bereits in einem frühen Ermittlungsstadium seiner Verteidigungsmöglichkeiten beraubt wird, so läßt sich dies nur durch eine der Strafverfahrensentwicklung angepaßte Interpretation des nemo tenetur-Grundsatzes erreichen. Früher wurde unter Strafverfahren im wesentlichen das verstanden, was unter Beteiligung des Gerichts stattfand, während die Tätigkeit der Polizei hauptsächlich auf die Ermittlung möglicher Beweismittel beschränkt und insbesondere die Vernehmung des Angeklagten der richterlichen Beweiserhebung vorbehalten bleiben sollte371 • Wird statt dessen in der polizeilichen Praxis versucht, möglichst frühzeitig (selbstbelastende) Angaben des Beschuldigten zu erhalten372 und fehlt für den Beschuldigten eine § 252 StPO vergleichbare Regelung,

Vgl. Dencker, StV 94, S. 677 m. w. N. Fast in allen Polizeihandbüchern finden sich Ratschläge zur möglichst frühzeitigen Vernehmung des Beschuldigten, sofern dies möglich ist, am besten unmittelbar nach der Tat. Zur Rechtfertigung dieser Praxis wird auf die nachlassende Erinnerungsfähigkeit mit fortschreitendem Zeitablauf verwiesen. In Wirklichkeit soll jedoch nur die Verwirrung und Überraschung des Betroffenen ausgenützt werden. So stellt Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 114, fest: "Die erste Vernehmung ist die wichtigste! (... ) auch Beschuldigte(... ) , sind unter dem Eindruck des plötzlichen Freiheitsentzuges am ehesten geneigt, wahrheitsgetreue Angaben zu machen, die nicht selten ein Geständnis bedeuten. In diesem Stadium sind sie oft froh, wenn sie ihr Herz erleichtern und sich von einer Last befreien können( ... ) . Ob diese Bereitschaft zur Aussage später noch besteht ( ...), ist immer fraglich." Auch für die Aufklärung innerer Tatumstände, etwa die Ermittlung des aus Tätersicht zu beurteilenden Rücktrittshorizonts, wird auf die besondere Bedeutung der ersten Vernehmung verwiesen, denn "hat der Beschuldigte erst einmal einen Verteidiger, ist dieser verpflichtet, ihn über die entscheidenden rechtlichen Gesichtspunkte aufzuklären" (Esders, Die Beschuldigten- und Zeugenvernehmung, S. 16). Klar auch die Tendenz der Hinweise bei Schuber!, Die Vernehmung im Ermittlungsverfahren, S. 53 f.: " Zeitverzug fUhrt möglicherweise zu (... ) Schwund der Gefoh/sbeteiligung, was das Mitteilungsbedürfnis und die potentielle Geständnisbereitschaft negativ beeinträchtigt. ( ... ) Die Überraschung ist zur Geständnisgewinnung zu nutzen. ( ... )Es mangelt an Zeit, ein Lügengespinst zu ersinnen. Der Beschuldigte ist mit seiner Aussage festzulegen(!)". I. d. S. auch Geerds, Vernehmungstechnik, S. 40 f.: "Jedoch nach Schluß der Vernehmung, kommt der Beschuldigte wieder zur Ruhe. Er findet einigermaßen sein Gleichgewicht und den Überblick wieder. ( ...)Der sich wieder in den Vordergrund drängende Selbsterhaltungstrieb legt dann die Erwägung nahe, daß es eigentlich doch gar nicht nötig gewesen wäre, sich durch ein Geständnis selbst ans Messer zu liefern". Die Erfahrung, daß ein Geständniswiderruf meist nach "lang überlegtem Verteidigungsplan" erfolgt oder nach Aufklärung durch "ehrgeizige Verteidiger, denen es weniger auf die Feststellung der objektiven Wahrheit als vielmehr auf Ruhm und Erfolg in der Verteidigungspraxis ankommt", muß nach Geerds (S. 41) den erfahrenen Kriminalisten nicht erschrecken, denn er kann den Beschuldigten in der Vernehmung so fostlegen, daß ein Widerruf des Geständnisses "von vornherein zum Scheitern 371

372

§ 3 Entwicklungsgeschichte des Anklageprozesses

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die es diesem ermöglichen würde, eine einmal erfolgte Aussage zu neutralisieren, so muß eine polizeiliche Vernehmung vergleichbare, im Einzelfall auch höhere Anforderungen erfilllen, als eine richterliche Vernehmung, um verwertbar zu sein. Mit der vom nemo tenetur-Grundsatz umfaßten Aussagefreiheit sind allein aus diesem Grunde weder verdeckte Vernehmungen des Beschuldigten noch Täuschungen, um eine Aussage des Beschuldigten zu erhalten, vereinbar. Die in Teilbereichen zu beobachtende Auflösung der funktionalen Trennung von Gericht und Staatsanwaltschaft bzw. Polizei wird nur schwerlich beseitigt werden können. Um so wichtiger ist es, daß Aussagen des Beschuldigten oder verdächtiger Personen auch im Ermittlungsverfahren nur in der fiir das Hauptverfahren vorgesehenen, streng formalisierten Form gewonnen werden können373. Wie aufzuzeigen sein wird, erfordert dies beispielsweise im Bereich der Vorfeldermittlungen die Anerkennung selbständiger, aus dem nemo teneturPrinzip folgender Beweisverwertungsverbote, um der Aufweichung und Auflockerung prozessualer Formen entgegenzuwirken374 . Sofern zur näheren Inhaltsbestimmung des nemo tenetur-Prinzips ein Blick auf seine rechtsstaatliche Entwicklungsgeschichte überhaupt filr unabdingbar gehalten wird, läßt sich aus dessen historischem Verständnis im Zusammenspiel mit der Einfilhrung des Anklageprinzips die Erkenntnis gewinnen, daß diesem Grundsatz vor allem die Aufgabe zugewiesen wurde, die beweisrechtliche Autonomie des Beschuldigten und die Möglichkeit zu einer selbstbestimmten Entscheidung über die Mitwirkung im Strafprozeß zu sichern. In diesem Sinne bildet er das notwendige Gegengewicht zu einer Verfahrensstruktur, in der der Wert einer offiziellen Erforschung der materiellen Wahrheit so überbetont ist, daß sie den Beschuldigten eher zur Aufgabe der eigenen Verteidigungsposition zwingt als ihm eine autonome Stellungnahme zum Tatvorwurf zu ermöglichen375 . Der nemo tenetur-Grundsatz ist damit Teil der Bestrebungen, dem Betroffenen eine effiziente Partizipation an Entscheidungen im Strafprozeß zu ermöglichen. Nur durch Anerkennung des Grundsatzes, daß der Beschuldigte nicht verpflichtet ist, dem Ankläger den Beweis der Anklage zu erleichtern, läßt sich eine annähernde Chancen- und Waffengleichheit sowie ein Ausgleich zwischen Individual- und Staatsinteressen im Strafverfahren verwirklichen. Dieses Ergebnis spricht jedoch eher filr eine dynamische, zweckorientierte Auslegung des nemo tenetur-Prinzips, die sich ausgehend von dessen Funktion dem Wandel der strafprozessualen Ermittlungsmethoden anpaßt, anstatt an einem vermeintverurteilt" ist (kursive Hervorhebungen durch den Verfasser). Vgl. auch Bender I Räder I Nack, Vernehmungslehre, RN 747 ff. ; Kaiser, NJW 68, S. 778. 373 Zur Bedeutung der prozessualen Form in seiner rechtsstaatliehen Entwicklung, vgl. auch Eb. Schmidt, NJW 69, S. 1137 ff. (1140 ff.). 374 V gl. unten Teil III, § 12 III I d). 375 V gl. Herrmann, Deramerikanische Strafprozeß, S. I 59.

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Teil 1: Die Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes

lieh historisch gewachsenen Verständnis festzuhalten. Bei den Prozeßmaxirnen der Unmittelbarkeit, Mündlichkeit und Öffentlichkeit, des Anklageprinzips und der freien Beweiswürdigung ist längst anerkannt, daß diese als prinzipielle Gegenpositionen zur Verfahrenswirklichkeit des Inquisitionsprozesses heute eine ganz andere Bedeutung und Ausgestaltung besitzen als noch bei Einfilhrung der Reichsstrafprozeßordnung376 . Da zwischen diesen Grundsätzenjedoch vielfache Funktionszusammenhänge bestehen, muß auch die Auslegung des nemo teneturGrundsatzes den veränderten Rahmenbedingungen im Strafverfahren angepaßt werden. Andernfalls bleibt wirklich nur die resignierende Feststellung, "daß das Prinzip der Freiheit von Selbstbezichtigungszwang auf Nimmerwiedersehen in der Mottenkiste der Rechtsgeschichte"377 verschwunden ist.

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Vgl. nur Rieß, FS fiir Schäfer, S. 188m. w. N. So Kirsch, in: Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S. 243.

Teil II

Der Anspruchsinhalt des nemo tenetur-Grundsatzes bei funktioneller, am Schutzgegenstand orientierter Auslegung § 4 Prozeßzielorientierte Betrachtung der Funktion des nemo tenetur-Grundsatzes

Die verfassungsrechtliche Überprüfung des nemo tenetur-Grundsatzes hat aufgezeigt, daß sein anerkannter Schutzbereich durch mehrere grundrechtliche Bestimmungen verbürgt ist, ohne daß diesen jedoch mehr als Leitlinien entnommen werden können. Deshalb verbleibt nur die Möglichkeit, den Schutzbereich durch eine Bestimmung der Funktion dieses Prinzips weiter einzugrenzen. Der dieser Arbeit zugrundeliegende Funktionsbegriff orientiert sich dabei nicht am traditionellen, sozialwissenschaftliehen Sprachgebrauch, der unter Funktion die Summe der objektiven Konsequenzen, d. h. der realen Folgen einer Sache versteht, sondern an Defmitionen, die Funktionalität als die Frage nach der Aufgabe, dem Nutzen und dem Zweck eines Teils des Systems im Rahmen des Ganzen kennzeichnen 1• Ausgehend von der Aufgabe und dem Zweck, die diesem Grundsatz zu Erftlllung der verschiedenen Prozeßziele zugewiesen sind, wird sich auch dessen Normbereich klarer abgrenzen lassen. Dabei soll den folgenden Erörterungen die These vorangestellt werden, daß sich die Aufgabe des nemo tenetur-Grundsatzes nicht darin erschöpft, ein Abwehrrecht fUr bestimmte Formen der Zwangsanwendung zu sein. Vielmehr beabsichtigt dieser darüber hinaus auch den Schutz der allgemeinen Entschließungsfreiheit des Beschuldigten vor staatlich manipulierter Selbstbelastung, um ihm eine eigenverantwortliche Teilnahme am Prozeß zu ermöglichen2• Der Versuch einer kritischen Wür1 Vgl. dazu Krauß, in: Dogmatik und Praxis, S. l ff.; Schlüchter, Theorie und Systematik, S. 217 ff. Nach Feststellung der Ratio einer Norm legt eine funktionale Betrachtung offen, welche Bedingungen beispielsweise zur Verwirklichung des Zwecks eines strafprozessualen Grundsatzes im Gesamtsystem des Strafverfahrens erfiillt sein müssen und welchen Relativierungen er zwangsläufig unterliegt. 2 Obwohl der Begriff der Eigenverantwortlichkeit sowohl von Rechtsprechung als auch Literatur (vgl. u.a. Rüping, Das Strafverfahren, S. 32, RN 91) verwendet oder synonym davon gesprochen wird, der Beschuldigte stehe der Strafrechtspflege als "selbstverantwortliche, sittliche Persönlichkeit gegenüber" (vgl. bereits BGHSt 5, 333 f.; Eser, ZStW 79 (1967), S. 570), besteht kein Konsens darüber, welche Voraussetzun-

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Teil II: Anspruchsinhalt bei funktioneller Auslegung

digung der bisherigen Diskussion zu den Zielen des Strafprozesses würde die gesteckten Grenzen der vorliegenden Arbeit weit überschreiten, und so soll lediglich versucht werden, deren Kernaussagen heranzuziehen, um dadurch möglicherweise Übereinstimmungen mit der vorgenannten These aufzeigen und diese zumindest teilweise bestätigen zu können. Es soll bei dieser Vorgehensweise nicht verkannt werden, daß sich angesichts der Vielfalt diskutierter Verfahrensziele in Einzelfragen nahezu jedes gewünschte Ergebnis mittels einer "prozeßzielorientierten" Betrachtung begründen läßt. Mehr als eine grundlegende Leitlinie fUr eine funktionsorientierte Auslegung des nemo teneturGrundsatzes wird sich deshalb im folgenden nicht gewinnen lassen. I. Nemo tenetur-Grundsatz und Wahrheitstindung im Prozeß

Betrachtet man zunächst isoliert das Prozeßziel, eine dem wahren Sachverhalt entsprechende, materiell richtige Entscheidung zu treffen3, so scheint es auf den ersten Blick nicht recht einzuleuchten, warum vom Angeklagten nicht verlangt werden kann, an der Aufklärung der ihm zur Last gelegten Tat aktiv mitzuwirken. Nicht zur Wahrheitsfmdung geeignet sind lediglich der Einsatz von Folter, Mißhandlungen und Quälerei, unter deren Wirkungen auch der Unschuldige bereit sein wird, die Vorwürfe der Anklage zu bestätigen. Selbst diese Methoden der Aussageerpressung können aber der Wahrheitsfmdung im Prozeß dienlich sein, wenn die erfolterte Aussage nicht selbst verwertet wird, sondern lediglich als Anknüpfungspunkt fUr weitere Ermittlungen dient4 • Wird beispielsweise durch die Anwendung von Zwang der Angeklagte veranlaßt, das Versteck der Tatwaffe preiszugeben, so wird man kaum behaupten können, die Maßnahme sei der Wahrheitsfmdung hinderlich gewesen. Darüber hinaus sind durchaus Methoden denkbar, die den Angeklagten zumindest in gewissem Umfang bewegen werden, an der Wahrheitsfmdung im Strafprozeß mitzuwirken. Es wird zwar immer davon ausgegangen, daß es kaum möglich ist, den Angeklagten durch Androhung adäquater, im Verhältnis zur vorgeworfenen Tat stehender Rechtsfolgen zur Offenbarung seines Wissens und damit zur Aufgabe der von ihm gewählten Form der Verteidigung zu veranlassen. Der generelle Verzicht auf eine Sanktionierung des Aussageverhaltens des Beschuldigten läßt sich durch Praktikabilitätgerwägungen jedoch nicht plausibel begründen, denn es ist sehr wohl möglich, den Angeklagten durch In-Aussicht-Stellen mittelbarer gen eine eigenverantwortliche Entscheidung zur Selbstbelastung erfiillen muß. Zum Begriff der Eigenverantwortlichkeit, vgl. auch Herrmann, Der amerikanische Strafprozeß, S. 143 ff. 3 Vgl. nur Roxin, Strafverfahrensrecht, § I, RN I und BVerfGE 29, 194; 44, 374; 57, 275 f.; 63, 62; 77, 77; 80, 378; wistra 87, 134; BGHSt I, 96 4 Vgl. auch Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 15.

§ 4 Prozeßzielorientierte Betrachtung der Funktion

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Nachteile im Rahmen der Beweiswürdigung zu einer gewissen Prozeßllirderung zu bewegen. Mag ein generelles Schweigen des Angeklagten auf den Anklagevorwurf noch keinen Schluß auf seine Täterschaft zulassen, so ist es dennoch vorstellbar, ein der Verurteilung entgegenstehendes Entlastungsvorbringen des Täters deshalb als weniger glaubwürdig zu erachten, weil der Angeklagte es erst sehr spät in der Hauptverhandlung vorgebracht hat, obwohl es ihm ohne weiteres möglich gewesen wäre, dieses bereits bei der polizeilichen Vernehmung geltend zu machen5. Selbst wenn dieses Verhalten noch keinen eindeutigen Schluß auf die Täterschaft des Angeklagten zuläßt, so kann ihm dennoch ein gewisser Indizwert nicht abgesprochen werden. Läßt sich beispielsweise der Angeklagte nach Monaten schweigend erlittener Untersuchungshaft erstmalig dahingehend zur Sache ein, daß er sein Tatopfer in Notwehr getötet habe6, so scheint es bei Berücksichtigung der durch das Schweigen in Kauf genommenen, schweren Nachteile gegen jede Erfahrungsregel zu sprechen, das Verteidigungsvorbringen des Angeklagten nicht bereits deshalb als unglaubwürdig zu erachten, weil er es nicht zu einem früheren Zeitpunkt vorgebracht hat'. Erklären lassen sich die aufgrund des nemo tenetur-Grundsatzes erforderlichen Einschränkungen der freien Beweiswürdigung nur damit, daß die Entschließungsfreiheit des Beschuldigten in allen Verfahrensstadien gleichermaßen gewahrt bleiben soll. Es gibt wohl keinen Satz des BGH, der häufiger zitiert und gelobt worden ist, als die im Zusammenhang mit der rechtlichen Beurteilung heimlicher Tonbandaufnahmen getroffene Feststellung, es sei "auch sonst kein Grundsatz der Strafprozeßordnung, daß die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müßte"8. 5 In diesem Sinne beispielweise die Regelung in Part III, Nr. 27 ff., der "Criminal Justice and Order Bill" im englischen Recht. Ohne daß dies hier näher ausgeftlhrt werden kann, wird zwar eine vergleichbare Beweiswürdigung im deutschen Recht als unzulässig angesehen (vgl. nur BGHSt 38, 305m. w. N.; BGH StV 97, 293: "Heranziehung des Zeitpunktes, zu dem der pauschal bestreitende Angeklagte einen Entlastungszeugen ... benannt hat, rechtlich bedenklich"; Stree, JZ 66, S. 597), jedoch zeigen sich auch dort ähnliche Tendenzen, wenn etwa die Anordnung des Verfalls nach § 73 d StGB - eine Sanktion mit Strafcharakter - bereits dann zulässig sein soll, wenn Umstände die Annahme rechtfertigen, daß Gegenstände aus oder ftlr Straftaten erlangt worden sind (vgl. dazu auch Eser, FS ftlr Stree und Wesse/s, S. 846 m. w. N). Ebenso sieht § 467 III Nr. I StPO eine Kostentragungsptlicht des Angeklagten vor, wenn. dieser die Erhebung der Klage dadurch veranlaßt hat, daß er wesentliche, entlastende Umstände verschwiegen hat. Will der Angeklagte die ftlr ihn unzweifelhaft nachteiligen Folgen vermeiden, so ist er gezwungen, an der Aufklärung des Sachverhaltes (frühzeitig) mitzuwirken. 6 So der Sachverhalt in BGH StV 83, 321 f. 7 Auch die Bedenken, die sich daraus ergeben könnten, daß die Belehrung einer Zusicherung gleichgestellt werden könnte, aus dem Schweigerecht keine Schlüsse zu ziehen (vgl. dazu Günther, JR 78, S. 91; zum amerikanischen Recht, Sa/ditt, GA 92, S. 58), lassen sich leicht durch einen ergänzenden Hinweis auf die möglicherweise nachteiligen Folgen einer verspäteten Einlassung beseitigen. 8 Vgl. BGHSt 14, 365; seitdem ständige Rechtsprechung, vgl. nur BGHSt 31,309.

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Gibt der BGH damit aber nicht zugleich zu erkennen, daß eine dem tatsächlich in der Vergangenheit stattgefundenen Geschehen entsprechende Wahrheit sich auch mit Mitteln der Täuschung, der Drohung und des Zwangs ermitteln läßt, daß dies jedoch "Kosten" sind, die sich ein rechtsstaatlich ausgerichteter Strafprozeß nicht leisten kann9? Defmiert man in diesem Sinne das Ziel der Wahrheitsfmdung als Rekonstruktion der Wirklichkeit und betont die fundamentale Aufgabe der Hauptverhandlung, "den vollen Beweis filr die Existenz eines bestimmten Tatgeschehens" 10 zu erbringen, der durch nichts ersetzt werden könne, so läßt sich der generelle Verzicht auf eine erzwungene Aussage oder Mitwirkung des Beschuldigten kaum plausibel begründen. Bei diesem Verständnis von Wahrheitsfmdung im Prozeß spricht vieles dafilr, rechtsstaatliche Prinzipien eng zu interpretieren und damit den nemo tenetur-Grundsatz auf die Abwehr rechtsstaatlich offensichtlich bedenklicher Zwangsanwendung zu beschränken. Natürlich setzt sich heute zunehmend die Auffassung durch, daß die Wahrheit, die sich aus erkenntnistheoretischen und pragmatischen Gründen im Prozeß tatsächlich fmden läßt, nur eine normative Konstruktion der Wirklichkeit ist11 • Pragmatisch, weil sich aus Kosten- und Zeitgründen die "Wirklichkeit" auch bei größten Bemühungen nicht feststellen lassen wird 12• Diese faktischen Grenzen der Wahrheitsermittlung sollten zwarangesichtsder Gefahren, die dadurch filr die Teilhabe- und Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten entstehen können, nicht zu eigenständigen "Formalzielen" des Strafverfahrens 13 aufgewer9 Zu dieser Grundhaltung und zur Diskussion über den Begriff der Wahrheit, treffend auch Volk, FS fUr Saiger, S. 411 ff. (417) m. w. N. Vgl. aber auch BGHSt I, 105: " (...) die geltende Verfahrensordnung sieht um der Wahrheitstindung willen davon ab, den Schuldigen zum Geständnis zu verpflichten" 10 Vgl. Schünemann, StV 93, S. 658. 11 So sieht selbst die Strafprozeßordnung einen unterschiedlichen Grad an "materieller" Wahrheit, d. h. der gemeinsam gewonnenen Überzeugung von der Übereinstimmung des tatsächlichen mit dem festgestellten Sachverhalt, fUr verschiedene Formen der Verurteilung des Täters vor. Beispielsweise genügt nach der Regelung des § 408 II S. 1 StPO fUr den Erlaß eines Strafbefehls ein hinreichender Tatverdacht (vgl. auch Herrmann, Deramerikanische Strafprozeß, S. 149). Wahrheitstindung im Prozeß ist damit nicht nur die Suche nach dem wirklichen Geschehen, sondern ebenso eine verfahrensabhängige, juristische Rekonstruktion der Wirklichkeit. I. d. S. hat Volk, FS fUr Saiger, S. 415, 418, treffend festgestellt, daß im Strafprozeß "diverse Wahrheiten" existieren. Ein Überblick zu den philosophischen und juristischen Wahrheitstheorien findet sich bei Hilgendorf, GA 93 S. 547 ff. m. w. N. Vgl. ergänzend auch Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 17 ff. m. umfangreichen N., der insofern von einer an den Verfahrensanforderungen ausgerichteten, "funktionalisierten Wahrheit" spricht (a. a. 0. S. 18). 12 Auch der "kurze Prozeß" des beschleunigten Verfahrens nach§§ 417 ff. StPO zeigt, daß man sich trotz Untersuchungsgrundsatz und vollständiger Wahrheitsermittlung aus Kostengründen mit unterschiedlichen Wahrheiten zufriedengibt (vgl. nur§ 420 I, II und IV StPO). Dabei soll allerdings nicht geleugnet werden, daß ein zügig durchgefUhrtes Verfahren auch der Wahrheitstindung dienlich sein kann. 13 Vgl. aber Rieß, FS fUr Schäfer, S. 173; Wo/ter, GA 85, S. 55.

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tet werden. Eine insgesamt leistungsfiihige Strafrechtspflege, die zudem dem in Art. 6 I MRK verbürgten Beschleunigungsgrundsatz Rechnung trägt, kann jedoch zwangsläufig nicht bis zum äußersten, sondern eben nur bestmögliche Aufklärung betreiben. Die Gesichtspunkte der Verfahrensökonomie und zügigen Durchfilhrung des Verfahrens erlangen damit zumindest mittelbar Bedeutung filr die Erfüllung des, wie noch aufzuzeigen sein wird, übergeordneten Prozeßziels, Rechtsfrieden herzustellen, sofern deren Berücksichtigung erforderlich ist, um die mit einem Verfahren verbundenen Rechtsnachteile insbesondere filr den unschuldig Betroffenen gering zu halten und das Vertrauen der Allgemeinheit in die Leistungsfiihigkeit des Systems zu stärken. Erkenntnistheoretisch stellt sich die gerichtliche Urteilsfmdung so dar, daß die im Prozeß gefundene "Wirklichkeit" eine durch viele Faktoren mitgeprägte Interpretation des ursprUngliehen Tatgeschehens ist, die im günstigsten Fall zwar von allen Prozeßbeteiligten filr verbindlich erachtet wird, deshalb dennoch nicht mehr als eine Annäherung, nie aber ein getreues Spiegelbild des tatsächlich vorgefallenen Geschehens sein kann. Es liegt deshalb nicht völlig fern, wenn von den Kritikern der Korrespondenztheorie vorgebracht wird, es gebe kein objektives Kriterium der Erkenntnis an sich, sondern Wahrheit im Prozeß sei dann gefunden, wenn ein weitgehender Konsens der am Verfahren Beteiligten über das objektive Geschehen erreicht ise 4 . Bereits die Vorgaben des materiellen Rechts zwingen den Vernehmenden dazu, nach bestimmten Fakten zu suchen. Sein Interesse und damit auch sein Vernehmungsstil ist notwendigerweise selektiv und beschränkt sich meist auf eine bestimmte, filr richtig gehaltene Aufklärungslinie 15 • Er sondiert aus der unendlichen Fülle von Details des komplexen Sachverhalts diejenigen heraus, die er in Anbetracht der von ihm bereits ausgewählten Normen filr relevant erachtet 16 . So erfolgt insbesondere die Feststellung subjektiver Tatbestandsmerkmale in gewissem Umfang schematisch, um die in der Praxis äußerst schwierige Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewußter Fahrlässigkeit, aber auch die Feststellung bestimmter Absichten überhaupt leisten zu können 17• Von den wenigen Fällen abgesehen, in 14 Vgl. dazu auch Kempf, in: Wahrheitsfindung, S. 21 ff. m. w. N. Dennoch geht es zu weit, wenn behauptet wird, im Prozeß werde ausschließlich eine neue Realität geschaffen, in der sich der Beschuldigte wiederfinden kann, und die dem Richter die Möglichkeit zu urteilen verschaffe (vgl. Preuß, KritJ 81, 109 ff.). Ebensowenig, wie sich behaupten läßt, das Prozeßergebnis stimme mit der "Wirklichkeit" überein, läßt sich dessen Gegenteil beweisen. 15 Dieser Selektionsprozeß setzt sich, verstärkt durch strukturelle Defizite in der Hauptverhandlung, auch bei der Vernehmung durch den Vorsitzenden fort, vgl. dazu Herrmann, ZStW 100 (1988), S. 46 ff. m. w. N. 16 Vgl. dazu auch Kühne, Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem, S. 51 ff. 17 In der Praxis geht es dabei notgedrungen mehr um die Frage einer Zuschreibung mit Hilfe von Vorgaben des Vernehmenden an den Beschuldigten, als daß tatsächlich innere "Tatsachen" festgestellt werden könnten. So empfiehlt beispielsweise Walder,

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denen ein Schluß von den äußeren Tatumständen auf die innere Tatseite zu einem eindeutigen Ergebnis fiihrt 18, wird sich der Tatvorsatz ebenso wie die individuelle Verantwortlichkeit des Täters in aller Regel nur mittels einer Aussage des Beschuldigten mit ausreichender Sicherheit feststellen lassen 19 • Zudem ist ein Geständnis oder die Angabe selbstbelastender Tatsachen häufig die Folge einer bestimmten Erwartungshaltung des Vernehmenden, die der Befragte nach Vorhaltung scheinbar bestätigf0 • Deshalb ist es sicherlich sehr wichtig, daß auch der Beschuldigte die Chance hat, möglichst unbeeinflußt seine Interpretation des Tatgeschehens vorzubringen, olme daß ihm die Interpretation des Vernehmenden aufgedrängt wird21 . Dennoch ist es unrichtig, wenn ein Gegensatz zwischen Wahrheitsfmdung und dem Recht, sich nicht selbst zu beschuldigen, gänzlich geleugnet wird22 • Für das Verbot von groben Täuschungen oder Zwang mag man dem zustimmen, obwohl auch diese geeignet sein können, weitere, von der Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden nicht unmittelbar berührte Sachbeweismittel festzustellen. Ein umfassender Schutz der Entschließungsfreiheit des Beschuldigten läßt sich durch diesen Erklärungsansatz jedoch kaum rechtfertigen. Insbesondere vermag diese Deutung nicht zu erklären, warum der Beschuldigte über sein Aussageverweigerungsrecht belehrt werden muß und nicht über die Funktion und Person seines Gegenübers getäuscht werden darf. Der Beschuldigte wird sich wesentlich freier und unbeeinflußter Die Vernehmung, S. 141, eine Vorgabe der Vorsatzmerkmale in der Umgangssprache, sofern der Beschuldigte bestreitet, vorsätzlich gehandelt zu haben. Auch zur oft schwierigen Feststellung der Bereicherungsabsicht i. S. v. § 263 StGB empfiehlt Walder, a. a. 0., S. 159, "dunkle Fragen", denn bei ausreichendem Wissen des Beschuldigten wird sich diese häufig nicht feststellen lassen. So bestehen in diesem Deliktsbereich - sofern der Beschuldigte schweigt oder die Tat leugnet - die größten Beweisschwierigkeiten, vgl. dazu auch Steffen, Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit, S. 166 ff. 18 Sie können nur ein Indiz fur den Tatvorsatz sein, vgl. auch Hruschka, FS fur Kleinknecht, S. 191 ff. 19 Vgl. auch Bauer, Die Aussage, S. 2m. w. N. Im kriminalistischen Schrifttum wird deshalb der Vernehmung insbesondere fur die Ermittlung des subjektiven Tatbestandes ein hoher Stellenwert eingeräumt, vgl. Wu/f, Strafprozessuale und kriminalpraktische Fragen, S. 42. Krauß, in: Dogmatik und Praxis, S. 6, zieht deshalb den Schluß, daß die dogmatische Figur des dolus eventualis im wesentlichen eine Konsequenz der bei Aussageverweigerung entstehenden Beweisnot ist. Unverständlicherweise sieht Walder, Die Vernehmung, S. 17 ff., den Vorteil der Vernehmung im kontinental-europäischen System darin, daß im Gegensatz zum englischen Strafverfahren der subjektive Tatbestand, die Tatmotive und die Täterpersönlichkeit besser erfaßt werden könnten. Dies verdeutlicht die Tendenz, es im deutschen Strafverfahren mit der Aussagefreiheit des Beschuldigten nicht ganz so ernst zu nehmen wie im anglo-amerikanischen Strafverfahren. 20 Vgl. dazu auch Peters, Fehlerquellen, Band 2, S. 205 ff. 21 Vgl. dazu Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 80 ff. 22 So aber Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 84 f. Vgl. bereits Bauer, Die Aussage, S. 64 f.: "Nur die auf freier Willensentschließung beruhende Einlassung des Beschuldigten kann die Wahrheitsfindung fördern." Offen bleibt dabei natürlich, wann eine Willensentschließung "frei" ist.

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äußern, wenn er in den Glauben versetzt wird, er könne sich einer Privatperson anvertrauen, als wenn ihm durch eine Belehrung deutlich der Zweck der Gesprächssituation vor Augen gefilhrt wird. Auf die Spitze getrieben müßten konstruktivistische Erklärungsansätze, die voraussetzen, Wahrheit könne nicht gefunden, sondern lediglich im Zusammenspiel mit den übrigen Prozeßbeteiligten hergestellt werden2 \ im Falle der Aussageverweigerung des Beschuldigten davon ausgehen, daß der Strafprozeß sein Ziel und damit seine Legitimation verloren hat.

II. Der nemo tenetur-Grundsatz aus der Sicht kommunikationstheoretischer Modelle Durch kommunikationstheoretische Ansätze, die eine symmetrische Verteilung der Kommunikationschancen im Strafverfahren verlangen24 , läßt sich das Wesen des nemo tenetur-Grundsatzes nicht vollständig erfassen25 . Hebt man die Aufgabe der Kommunikationsoptimierung als tragendes verfahrensrechtliches Prinzip im Prozeß hervor, so lassen sich damit durchaus wichtige Erkenntnisse fiir den Teilbereich der positiven Äußerungsfreiheit des Beschuldigten gewinnen. So fördert dies die Einsicht, daß der Betroffene durch Vernehmungen und Ermittlungshandlungen nicht in eine Abwehrsituation gedrängt werden darf und deshalb die Möglichkeit haben muß, in seiner Sprache und möglichst unbeeinflußt von Vorgaben des Vernehmenden26 die ihm wichtig erscheinenden Fakten vorzutragen. Darüber hinaus wird durch diesen Ansatz ebenso verdeutlicht, wie wichtig wegen häufig nur mangelhafter Sprach- und Erkenntnistahigkeit des 23 Vgl. etwa Hengesch, ZStW 101 (1989), S. 622 f. und Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 78 ff. (80); ders., StV 94, S. 346 m. w. N. Der Ansatz Ransieks, die "Selbstbezichtigungsfreiheit sei Bedingung, um Wahrheit zu ermitteln", kann deshalb aus dem Blickwinkel der von ihm vertretenen Konsistenztheorie nur den grundsätzlich kooperativen Beschuldigten erfassen. Dabei soll natürlich nicht die Berechtigung dieses Ansatzes filr den aussagebereiten Beschuldigten in Abrede gestellt werden. So hat etwa die Untersuchung von Schmitz eindrucksvoll aufgezeigt, daß die Rekonstruktion des Tatgeschehens und dessen Protokollierung bei polizeilichen Vernehmungen zwischen Vernehmendem und Vernommenem ausgehandelt wird (vgl. ders., Tatgeschehen, Zeugen und Polizei, S. 545 f.). 24 Vgl. dazu die Nachweise bei Rüping, Das Strafverfahren, S. 10, RN 20. 25 So nimmt auch Kühne, Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem, S. 61, den schweigenden Beschuldigten explizit von seinem kommunikationstheoretischen Modell des Strafverfahrens aus, da in diesem Fall aufgrund der fehlenden Mitwirkungsbereitschaft des Beschuldigten auch keine Optimierung der Kommunikationssituation möglich ist und dem Richter eine kommunikative Interpretation des Schweigens versagt ist. 26 Auch Täuschungen beinhalten bereits eine Interpretation des Tatgeschehens, die der Täuschende dadurch zum Ausdruck bringt, daß er den Getäuschten zur Preisgabe einer bereits als wahr unterstellten Tatsache veranlassen möchte.

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Angeklagten flankierende Maßnahmen zum Ausgleich dieser Defizite sind, um die rechtliche Hypothese, der Angeklagte sei zur effektiven Teilnahme an der Hauptverhandlung fähig, aufrechterhalten zu können. Andererseits fmdet das Bild von der "partnerschaftlichen Kommunikation"27 dort seine Grenzen, wo der Beschuldigte u. U. gar nicht an der Aufklärung des "wahren" Sachverhalts interessiert ist, weil er die ihm vorgeworfene Tat tatsächlich begangen hat und er es wegen der unklaren Beweislage fiir die bessere Verteidigungsstrategie hält zu schweigen. Es geht in diesen Fällen nicht darum, Kommunikationsbarrieren abzubauen, sondern ganz im Gegenteil muß sichergestellt sein, daß der Beschuldigte seinen Anspruch auf Kommunikationsverweigerung auch tatsächlich ausüben kann. Kommunikationstheoretische Erklärungsansätze sind mehr auf die Situation der richterlichen als die der polizeilichen Vernehmung zugeschnitten. Insbesondere fiir die Situation des Ermittlungsverfahren zeigen empirische Untersuchungen, daß der Beschuldigte durch unkooperatives Verhalten häufig effektiver auf das Verfahren Einfluß nehmen kann als durch seine Geständnisbereitscha~8. Bezeichnenderweise sind deshalb psychologische Techniken, die geeignet sind, dem Beschuldigten eine freundliche und gelöste Atmosphäre vorzuspiegeln, den Polizeibeamten wesentlich geläufiger als dem Juristen. Je bewußter dem Beschuldigten die Tatsache ist, daß bei einer Vernehmung keine einem Privatgespräch vergleichbare Kommunikation stattfmdet, desto eher wird er in der Lage sein, seine Strategie der teilweisen oder vollständigen Mitwirkungsverweigerung tatsächlich weiterzuverfolgen. Partnerschaftliehe KommuVgl. Kühne, Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem, S. I 06 f. Empirische Untersuchungen belegen, daß ein Geständnis das wichtigste Entscheidungskriterium über Einstellung oder Anklage ist; (vgl. dazu insbesondere Blankenburg I Sessar I Steffen, Die Staatsanwaltschaft, S. 138 ff., 311, die aus dem Zusammenhang zwischen Sanktionierungswahrscheinlichkeit und Geständnisbereitschaft des Tatverdächtigen schließen, daß dessen Geständnis sowohl fiir die Polizei als auch die Justiz "das herausragende Beweismittel", "die Krone des Ermittlungsverfahrens" ist (S. 187), während es aus Sicht des Betroffenen wesentlich günstiger sei, kein Geständnis abzulegen (S. 193). Auch Steffen, Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit, S. 191 ff. (193), kommt durch einen Vergleich von Geständnis, erfolgter Anklage und Verurteilung zu dem Ergebnis, daß es sich aus Sicht des Beschuldigten günstiger erweist, unkooperativ zu sein. Empirische Untersuchungen zeigen, daß sich bei unklarer Beweislage gerade unkooperatives Verteidigungsverhalten häufig sanktionsmildernd auswirken kann, vgl. dazu auch die Nachweise bei Dencker, ZStW 102 (1990), S. 53 in FN 10 und MüllerDietz, ZStW 93 (1981), S. 1233. Kommunikationsoptimierung zur Steigerung der Einflußnahme des Beschuldigten auf den Prozeßverlauf "lohnt" sich deshalb fiir allem fiir den Unschuldigen oder den offensichtlich Schuldigen. Im übrigen ist der Beschuldigte mögliche Absprachen ausgeklammert - im Ermittlungsverfahren in aller Regel am besten beraten, wenn er auf jegliche Kooperation mit den Polizeiorganen verzichtet, vgl. dazu auch Wu/f, Strafprozessuale und kriminalpraktische Fragen, S. 38 f. m. w. N. Deshalb kann sich die Forderung nach einer "pseudo-symmetrischen" Kommunikation (vgl. dazu Banscherus, Polizeiliche Vernehmung, Formen, Verhalten und Protokollierung, S. 52 f.), die dem Beschuldigten mehr Einfluß auf den Verfahrensablauf sichern soll, durchaus als "Schuß nach hinten" für den Beschuldigten erweisen. 27

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nikation lebt davon, daß beiden Beteiligten eine freie Handhabung der Gesprächssituation gestattet wird. Eine die Aussageverweigerung des Beschuldigten respektierende Verfahrensgestaltung erfordert dagegen einen hohen Grad an Formalisierung, damit sichergestellt ist, daß der Beschuldigte die Möglichkeit hat, weitgehend unbeeinflußt die Wahl seines Verteidigungsverhaltens zu bestimmen. Dies auch deshalb, weil das Recht, zwischen Schweigen und Reden zu wählen, mit der nach Belehrung erklärten Bereitschaft auszusagen nicht untergeht, sondern während der gesamten Vernehmung gewahrt bleiben muß. Schließlich vermögen kommunikationstheoretische Modelle nicht in gleichem Maß das Auskunftsverweigerungsrecht des sich möglicherweise selbstbelastenden Zeugen zu erklären, obwohl kein Zweifel besteht, daß es auf den gleichen Rechtsgedanken wie das Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten zurückzufilhren ist. Läßt sich fiir das Verhältnis von Gericht und Beschuldigtem noch in gewissem Maße die These vertreten, daß zwischen diesen die Wirklichkeit "ausgehandelt" wird, so paßt sie nicht ft1r die Situation des verdächtigen Zeugen, dessen Konflikt nicht dadurch behoben wird, daß er sich zur Auskunft bereit erkliilf9 . Er verfolgt auch dann noch das Ziel, die eigene Straftat zu verschleiern, ohne daß dieses Interesse jedoch im Willensbildungsprozeß des Verfahrens berücksichtigt werden darf. 111. Nemo tenetur-Grundsatz und das Ziel des Strafverfahrens, Rechtsfrieden zu schaffen Der scheinbare Widerspruch des nemo tenetur-Grundsatzes mit dem Ziel des Strafverfahrens beginnt sich aufzulösen, wenn man berücksichtigt, daß die Suche nach Wahrheit kein Selbstzweck des Verfahrens ist, sondern dazu dient, ein gerechtes und Rechtsfrieden schaffendes Urteil zu ermöglichen30. Obwohl sich fur den Begriff der Gerechtigkeit wohl keine allgemein verbindliche Definition finden läßt, besteht Einigkeit doch zumindest darüber, daß ein Urteil nur dann gerecht ist, wenn es sachangemessen auf das tatsächliche Geschehen reagiert31 .

29 Zur Frage, ob § 55 StPO überhaupt den Schutz der Wahrheitstindung beabsichtigt, vgl. die umfangreichen Nachweise bei Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, S. 56,

FN 2-5.

30 Statt vieler: Rieß, FS für Schäfer, S. 170 ff. ; Roxin, Strafverfahrensrecht, § I, RN 2 ff. m. w. N. Vgl. auch Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Band. I, RN 20 ff. m. w. N. Treffend umschreibt Roxin den Begriff Rechtsfrieden mit der Aufgabe des Strafverfahrens, soziale Konflikte zu lösen (vgl. ders., 40 Jahre Bundesgerichtshof, S. 91). 31 Insbesondere das BVerfG benutzt beide Begriffe weitgehend synonym. So führt es u. a. aus, der Auftrag des Gemeinwesens, Straftaten aufzuklären, könne durch Verfahrensvorschriften, "die der Ermittlung der Wahrheit und damit einem gerechten Urteil entgegenstehen, empfindlich bertihrt werden" (vgl. BVerfGE 77, 76; ergänzend auch BVerfGE 7, 92; 20, 331; 21, 388).

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Damit ist ein (sach-) gerechtes Urteil nur auf der Basis zutreffender Informationen möglich, und Rechtsfrieden, sofern er nicht lediglich auf den Aspekt der Bewährung der Rechtsordnung beschränkt wird32, setzt vor allem voraus, daß sowohl die Allgemeinheit als auch der in das Verfahren verstrickte Beschuldigte die Verfahrensentscheidung als gerecht empfmden33 . Unter diesen Prämissen stehen diese Kriterien nicht gleichberechtigt nebeneinander, sondern bedingen sich gegenseitig und müssen, um das genannte Verfahrensziel optimal zu verwirklichen, in einen bestmöglichen Ausgleich gebracht werden34• Auch der Begriff der Gerechtigkeit besitzt nicht nur eine materiellrechtliche, sondern auch eine prozessuale Komponente, die nicht allein an der Qualität des Verfahrensergebnisses, sondern ebenso am Verfahrensablauf gemessen werden muß35 • Daneben noch die Justizförmigkeit des Verfahrens als eigenständiges Verfahrensziel zu proklamieren36, erscheint überflüssig, denn sie kennzeichnet nur die Einhaltung von Regeln und formalen Garantien, die gerade im Interesse eines auch individuell gerechten Urteils geschaffen worden sind37 • Der Begriff der Justizförmigkeit beschreibt lediglich den Weg, der im Regelfall beschritten muß, damit die Verfahrensgestaltung den genannten Zielvorgaben entspricht. Welchen Wert "schützende Formen38" für die Verwirklichung des Verfahrensziels besitzen, läßt sich aber nur dann abschließend beurteilen, wenn feststeht, welches Interesse durch die vorgeschriebene Form gewahrt werden soll. Beispielsweise ist die Verwertung einer entgegen § 81 a StPO durch einen Medizinalassistenten entnommenen Blutprobe39 trotz Formverstoß geeignet, sowohl zur Wahrheitsfmdung als auch zu einem gerechten Urteil beizutragen. Ließe So aber das BVerfG, vgl. BVerfGE 51, 324 Anders etwa Schmidhäuser, FS fiir Eb. Schmidt, S. 511 ff., der den Begriff des Rechtsfriedens normativ als einen Zustand interpretiert, "bei dem es von der Gemeinschaft vernünftigerweise erwartet werden kann, daß sie sich über den Verdacht einer Straftat beruhige". Da aber auch Schmidhäuser Gerechtigkeit als oberstes Ziel des Strafverfahrens ansieht, erlangt der Begriff des Rechtsfriedens eine eigenständige Bedeutung wohl nur fiir die Fälle, in denen ein Urteil als ungerecht empfunden wird, aber dennoch Bestand haben soll. 34 Die Wahrheitserforschung hat deshalb allein eine der Gerechtigkeit dienende Funktion, vgl. dazu auch Neumann, in: Jenseits des Funktionalismus, S. 74. Zutreffend zum Zusammenhang zwischen den genannten Kriterien auch Kühl, Unschuldsvermutung, S. 73 ff. und JUS 86, S. 116m. jeweils w. N. 35 Vgl. auch Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1205 f. 36 So etwa Rüping, Das Strafverfahren, S. 6, RN 8 f. Einen Anspruch des Angeklagten auf ein justizllirmiges Verfahren anerkennen u. a. Niese, JZ 53, S. 223 und Eb. Schmidt, JZ 58, S. 596 ff. Zutreffend weist Eb. Schmidt aber anderer Stelle (NJW 68, S. 1213) im Zusammenhang mit der Belehrungspflicht nach § 136 I StPO darauf hin, daß die prozessuale Form nur der Realisierung eines vom Prozeßrecht vorausgesetzten, materiellstaatsrechtlichen Grundsatzes dient. 37 Vgl. auch Niese, ZStW 63 (1951), S. 218. 38 So genannt von Zachariae, Handbuch des Strafprozesses, Band I, S. 146. 39 Vgl. dazu BGHSt 24, 125. 32 33

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man die Verwertung nicht zu, so müßte der Angeklagte wegen Beweisnot freigesprochen werden, obwohl das Beweismittel der Wahrheitsfmdung dienlich ist und die Verwertung die prozessuale Rechtsstellung des Angeklagten nicht be-

rührt.

Man wird deshalb den Zweck des Strafverfahrens treffend mit der "Herstellung von Rechtsfrieden" umschreiben können, ohne dabei die notwendigen Zwischenziele der Wahrheitssuche und Gerechtigkeit aus den Augen zu verlieren40. Zudem verdeutlicht diese Defmition die dienende Funktion des Strafverfahrens, dessen Aufgabe es ist, materielles Strafrecht durchzusetzen und dessen Ziel deshalb nicht losgelöst von den Zielen des Strafrechts umschrieben werden kann41 . Bier soll nicht allein der generalpräventive, auf Durchsetzung des Rechtsgüterschutzkonzeptes des materiellen Strafrechts ausgerichtete Verfahrenszweckangesprochen werden42. Selbst wenn sich die unbeteiligten Bürger sagen müssen, daß eine Verurteilung nur gelingen konnte, weil der Staat die Grenzen der Aussagefreiheit des Beschuldigten mißachtet hat, wird dadurch die Strafe ihre generalpräventive Wirkung wohl nicht verlieren. Dies mag allenfalls für einen Teil der in§ l36a StPO genannten Methoden zutreffen. In diesem Zusammenhang soll statt dessen vor allem auf die spezialpräventive Zielbestimmung des Strafprozesses hingewiesen werden, die wesentlich davon abhängig ist, inwieweit der Bürger bereit ist, das gegen ihn verhängte Urteil anzunehmen43. Damit soll nicht der unter Aspekten der Unschuldsvermutung fragwürdige Anspruch erhoben werden, daß bereits das Strafverfahren der Resozialisierung des Täters dienen soll. Von einem Rechtsfrieden schaffenden Strafprozeß kann lediglich erwartet werden, daß das Verfahren so gestaltet wird, daß dem Täter die Chance der Wiedereingliederung möglichst erleichtert wird, mag sie tatsächlich auch kaum genützt werden. Man könnte meinen, ein Geständnis des V gl. auch Rieß, FS fiir Schäfer, S. 170. Der systemtheoretische Ansatz von Luhmann soll hier ausgeklammert werden. Damit soll nicht ein gewisser Eigenwert des Strafverfahrens als "staatliche Demonstration des Bemühens um Gerechtigkeit und Rechtsfrieden" in Frage gestellt werden (vgl. dazu Wo/ter, GA 85, S. 53 m. w. N.). Selbst über diesen Eigenwert scheint jedoch Uneinigkeit zu bestehen. So sieht etwa Müller-Dietz, ZStW 93 (1983), S. 1206, den Eigenwert des Verfahrens in der Gewährung des fair trial. 42 Vgl. zum Parallelproblem, ob Verwertungsverbote damit begründet werden können, daß der Staat die Straflegitimation verliert, wenn er die Verurteilung des Täters auf einen Rechtsbruch stützt, Amelung, lnformationsbeherrschungsrechte, S. 20 ff. m. w. N . Ohne abschließend auf diese Frage einzugehen, muß zumindest fiir Verstöße im V orverfahren oder in anderen staatlichen Verfahren bezweifelt werden, daß das Gericht seine Autorität gefahrdet, wenn es einen Schuldspruch auf die Verletzung eines Beweisverbotes stützt (so aber der Ansatz von Dencker, Verwertungsverbote, S. 59 ff., 64 ff.). 43 Zur Berücksichtigung des Wandels vom Vergeltungsdenken zum täterorientierten Präventivdenken im Strafverfahren und in der Diskussion um dessen Zweckbestimmung, vgl. auch Peters, Stratprozeß, § 2, S. 7 ff.; Rieß, FS fiir Schäfer, S. 162, 179 ff. m.w. N. 40

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Täters sei der erste Schritt auf diesem Wege und deshalb sei es durchaus legitim, dem Täter fiir den Fall des Eingestehens seiner Schuld Vorteile bei der Strafzumessung in Aussicht zu stellen oder ihn auf anderem Wege zu einem Geständnis zu bewegen44 • So wird auch immer wieder betont, daß ein "eingehendes Geständnis im Strafprozeß" der "Beginn einer echten Sühneleistung des Täters"45 ist. Dabei wird jedoch verkannt, daß ein Geständnis nur dann Ausdruck der Rückkehr zur Rechtsordnung und damit der erste Schritt zur Resozialisierung des Täters sein kann, wenn es in freier Selbstbestimmung und nicht unter dem Druck möglicher Nachteile ftlr den Fall des Schweigens erfolgt46. Nur wenn der Beschuldigte insgesamt das Gefiihl vermittelt bekommen hat, daß ihm ein fairer Prozeß gemacht worden ist, wird er möglicherweise bereit sein, seine Chance zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu nutzen. Daß der Angeklagte um so eher bereit sein dürfte das Urteil anzunehmen, je mehr er die Möglichkeit hatte, seine Version des Sachverhalts darzulegen, dürfte eine Selbstverständlichkeit sein47 • Damit ist, wie bereits oben angedeutet, nicht die Ausgestaltung der Vernehmung als partnerschaftliehe Kommunikation gemeint. Diese kann sogar zu einer erheblichen Enttäuschung des Angeklagten fiihren, sofern dieser zunächst das Gefiihl freundschaftlichen Verständnisses vermittelt bekommt, sich deshalb unbeschränkt zur Sache einläßt und anschließend eine deutliche Strafe gegen ihn verhängt wird48 . Ebensowenig soll damit die wohl utopische Forderung nach einem "herrschaftsfreien Diskurs"49 in der Hauptverhandlung angesprochen sein. Eine "ideale Sprechsituation" wird sich kaum

44 So fordert Fischer, Divergierende Selbstbelastungspflichten, S. 35, eine beschränkte Auskunftspflicht des Beschuldigten, denn diese sei ein erster Schritt zur notwendigen Anerkennung des Rechts durch den Beschuldigten. Diese Begründung stößt sicherlich auf allgemeine Ablehnung. Dennoch verfiihrt die Praxis ganz in diesem Sinne, wenn sie Geständnisse bei der Strafzumessung honoriert und unkooperatives Verhalten des Beschuldigten nicht ausreichend akzeptiert wird. 45 So Walder, Die Vernehmung, S. 18; vgl. auch Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 225 f. Zutreffend hat dagegen Radbruch, FS fiir Sauer, S. 124, darauf hingewiesen, daß der Polizei auch keine kleineren "Kriegslisten" gestattet werden könnten, denn nur wenn diese dem Beschuldigten in sittlicher Überlegenheit gegenübertrete, könne der Rechtsbrecher der Sühne wie der Erziehung zugänglich sein. 46 Vgl. dazu auch Peters, Strafprozeß, § 7 IV, S. 44 f., wobei jedoch dessen Äußerung, dem Täter müsse nicht erst im Strafvollzug, sondern bereits im Strafverfahren "menschliche Leitung und Führung zuteil werden", bedenklich stimmt. 47 Vgl. auch Herrmann, ZStW I 00 ( 1988), S. 48. 48 Diese Wirkung bezweifelnd Gundlach, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 109. Nicht umsonst schreibt aber Walder, Die Vernehmung, S. 143: "Der Vernehmende wird dann gemein, wenn er sich menschlich gibt." 49 Vgl. die Nachweise bei Schlüchter, in: Theorie und Praxis des Strafverfahrens, S. 211 f. Zum Konstrukt der idealen Speechsituation von Habermas, vgl. auch Sege, Kommunikative Aspekte, S. 40 ff. m. w. N.

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verwirklichen lassen und ist aus Sicht des Angeklagten und seines Interesses an einer effektiven Verteidigung auch nicht wünschenswert. Sind doch gerade die fiir eine Ausübung des Schweigerechts dringend erforderlichen "schützenden Formen" mit einem an Herrschaftsfreiheit orientierten Verfahren nicht in Übereinstimmung zu bringen. Soweit dies jedoch möglich ist, verbürgt der nemo tenetur-Grundsatz die Chance des Angeklagten, eigenverantwortlich und weitgehend unbeeinflußt von den Strafverfolgungsbehörden eine Entscheidung über sein Aussageverhalten und die Form seiner Verteidigung zu treffen50 - und dies, was leider allzu oft verkannt wird, unabhängig von vermeintlicher staatlicher Fürsorge51 • Die Wahrung dieser Freiheit ist selbst Bestandteil des Prozeßziels, Rechtsfrieden herzustellen und muß deshalb nicht erst mit externen, verfahrensfremden Prinzipien52 oder damit begründet werden, daß fiir das Ziel der Wahrheitsfmdung nur justizförmige Mittel eingesetzt werden dürfen. Wenn die Sicherung des Rechtsfriedens die Einräumung effektiver Handlungsmacht fUr die Betroffenen erfordert53, dann ist das Recht, selbst den Grad der eigenen Mitwirkung im Strafverfahren bestimmen zu können, eines der wesentlichen Bestandteile dieses Verfahrensziels. Wird der nemo tenetur-Grundsatz im Lichte dieses Verfahrensziels ausgelegt, zeigt sich, daß dessen Beschränkung auf die durch Zwang zur Aussage ausgelöste moralische Erniedrigung einer Wahl zwischen Selbstbelastung und Lüge nicht der entscheidende Gesichtspunkt sein kann54 • Das "Bedürfnis gerade 50 Vgl. auch Kühl, JUS 86, S. 117. Dies ist zwar nach allgemeiner Auffassung wesentlicher Bestandteil der Subjektsqualität des Beschuldigten (vgl. nur Rieß, FS für Schäfer, S. 181), Zweck des nemo tenetur-Grundsatzes soll dennoch nicht der Schutz eines Teilbereiches dieser Entschließungsfreiheit sein (vgl. nur SK-Rogall, vor § 133 StPO, RN 137m. w. N. 51 Die sozialstaatliche Forderung nach resozialisierender Einwirkung auf den Verurteilten schon im Strafverfahren (vgl. etwa Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1, RN 8, der darin ein weiteres Prozeßziel sieht) darf nicht zu einer Entmündigung des Beschuldigten führen. Hier sei nur an das bekannte Hegei-Zitat erinnert: "Es ist mit der Begründung der Strafe auf diese Weise (Anm. d. Verf.: spezialpräventiv), als wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt, und der Mensch wird nicht nach seiner Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt." (ders.,Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz zu § 99). Wolter bezeichnet es zu Recht als Mißstand, daß die (spezial)-präventiven Ziele des Verfahrens nicht auf "emanzipativem" Weg erstrebt werden (vgl. Strafprozeßreform bis 2007). 52 So aber Neumann, in: Jenseits des Funktionalismus, S. 77 m. w. N. Sofern vorgebracht wird, daß sich elementarer Beschuldigtenrechte nur durch eine externe Ableitung "wetterfest" machen lassen, da sie dann nicht an konkurrierende Verfahrenszwecke gebunden sind, muß dem widersprochen werden. Wird ein Prinzips als Teil des Verfahrenszwecks anerkannt, spricht dies für eine weitere Auslegung des Prinzips und man wird sich insgesamt mehr bemühen, dieses Ziel zu verwirklichen. 53 So Rieß, FS für Schäfer, S. 171 . 54 So aber die weitaus h. A., vgl. u. a. Eser, ZStW 79 ( 1967), S. 571; Grünwald, JZ 81, S. 428; Puppe, GA 78, S. 299; Roga/1, Der Beschuldigte, S. 208 f. und die Nachweise in Teil I, Fn 32 ff.

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des Schuldigen nach Schonung"55 und der auf dem Angeklagten lastende Druck, der es als unzumutbar erscheinen läßt, vom Angeklagten zu verlangen, "sein Schicksal selbst zu besiegeln"56, kann schon deshalb nicht ausschlaggebend sein, weil der nemo tenetur-Grundsatz auch fiir den Unschuldigen gleichermaßen Geltung beansprucht, obwohl er sich in keiner vergleichbaren Zwangslage befinden kann57 . Der nemo tenetur-Grundsatz priviligiert seinem Inhalt nach gerade nicht ausschließlich den Straftäter58, sondern auch den rechtstreuen Bürger. Diesen lediglich deshalb mitzuschützen, weil er unschuldig sein könnte, steht in klarem Widerspruch zu der andererseits häufig anzutreffenden Argumentation, der Beschuldigte könne vor allem deshalb nicht zu einer Selbstbelastung gezwungen werden, weil dies seine Schuld voraussetzen würde59• Es geht im Kern nicht um den Schutz der "Ehre", eines Schamgefilhls oder den Schutz des einzelnen vor sonstigen Verletzungen eines wie auch immer gearteten Intimbereichs, sondern um ein verfahrensimmanentes Ziel. Es soll die fiir eine Annahme des Urteils und damit, falls sich die Schuld des Betroffenen herausstellen sollte, fiir eine Resozialisierung des Täters notwendige Voraussetzung geschaffen werden, den Beschuldigten als mündigen Bürger zu akzeptieren, der selbst entscheiden kann und darf, inwieweit er durch eigene Aussagen zur Urteilsfindung beitragen möchte. Ohne daß dies hier näher ausgefilhrt werden kann, ist es deshalb auch unzutreffend, wenn der das Selbstbestimmungsrecht des Beschuldigten schützende nemo tenetur-Grundsatz zur Begründung des Zeugnisverweigerungsrechts des Angehörigen nach § 52 I StPO herangezogen und auf den gleichen Rechtsgedanken zurückgefiihrt wird60 • Während die Regelung des § 52 I StPO tatsächlich nur bei Berücksichtigung der spezifischen Konfliktsituation des Zeugen verständlich ist, bezweckt der nemo tenetur-Grundsatz ein darüber hinausreichendes, im Einzelfall auch von einer vergleichbaren Konfliktsituation unabhängiges, prozessuales Interesse des Beschuldigten. Weist man dem nemo tenetur-Grundsatz auch den Schutz spezieller Kommunikationsund Vertrauensbeziehungen zu, dann ist nicht ganz einzusehen, warum nicht auch die Verwertung von Tagebuchaufzeichnungen und vergleichbaren privaten Informationen verboten ist. Der durch Einbeziehung privater Kontakte bewirkte mittelbare Schutz vor Selbstbelastung steht bei bestimmten Formen des So Puppe, GA 78, S. 299. So Günther, JR 78, S. 91 zum Zweck des Schweigerechts. 57 Ähnlich bereits Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 51 f. 58 So aber Samson, wistra 88, S. 131 m. w. N. 59 Vgl. dazu bereits oben Teil I,§ 2 IV 2 c). 60 So aber Rogall, Der Beschuldigte, S. 150 ff., wohl in Anlehnung an Petry, Beweisverbote, S. 37, 45 ff.; ebenso Duuge, JZ 96, S. 562 in FN 132; unklar auch Kirsch, in: Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S. 230. Ebenso irreruhrend die Feststellung, daß zwischen beiden Rechten ein enger Zusammenhang besteht (so u. a. Amelung, lnformationsbeherrschungsrechte, S. 35 m. w. N. und Sternberg-Lieben, JZ 95, S. 844). Ablehnend Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, S. II f. , 23. 55

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§ 5 Sicherung der personalen Freiheit der Willensentschließung

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"Selbstgesprächs" in einem noch wesentlich engeren Zusammenhang zur Zwecksetzung des nemo tenetur-Grundsatzes61 , als die durch § 52 StPO erfaßten Vertrauensverhältnisse. Hier leuchtet es losgelöst vom Kriterium der Unzumutbarkeit noch mehr ein, das in § 53 I Nr. 2 StPO verankerte Zeugnisverweigerungsrecht des Rechtsanwalts zumindest teilweise aus dem nemo teneturGrundsatz abzuleiten.

§ 5 Aufgabe des nemo tenetur-Grundsatzes - Sicherung der personalen Freiheit der Willensentschließung

Es kann nicht allein Sinn und Zweck des nemo tenetur-Grundsatzes sein, auf das "elementare Bedürfnis" des Beschuldigten, "seine Schwächen und sein Versagen zu verbergen"62 , Rücksicht zu nehmen, denn dieses Interesse fmdet auch sonst im Strafverfahren nur wenig Beachtung63 • Die den Strafverfolgungsbehörden durch den nemo tenetur-Grundsatz gesetzten Schranken werden dagegen wesentlich verständlicher, wenn sie als Bestandteil der aus dem Selbstbestimmungsrecht abzuleitenden "personalen Freiheit der Willensentschließung" begriffen werden64 . Dem Beschuldigten diese Freiheit des Willens zu belassen das Unrechtsmäßige seines Verhaltens einzugestehen und sich damit dem Anspruch der Gemeinschaft auf sozialadäquates Verhalten zu beugen oder diese Selbstunterwerfung zu verweigern -, bedeutet, ihn als Subjekt des Verfahrens anzuerkennen. Aussagen des Beschuldigten müssen auf einem Weg gewonnen werden, der ihm nicht die Möglichkeit nimmt, seine Aussage als selbstverantwortlichen Beitrag zur Klärung des Sachverhaltes anzusehen und sich gegebenenfalls fiir diesen verantworten zu können. Nicht ganz einsichtig ist, warum gegen diese erweiterte, auf den Schutz der Eigenverantwortlichkeit abzielende Auslegung des nemo tenetur-Grundsatzes65 vorgebracht wird, daß diese Vgl. auch Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, S. 12. So Puppe, GA 78, S. 299. Vgl. auch Peters, ZStW 91 (1979), S. 123: "ein zu hohes Verlangen( ...) vom Menschen zu fordern (ist), daß er sich selbst ans Messer liefert". 63 Beispielsweise bleibt ein Zeuge auch bei drohender Bestrafung wegen einer Disziplinarrechtsverletzung zur Aussage verpflichtet und er muß anders als im Zivilprozeß auch ehrenrührige und vermögensschädigende Umstände offenbaren, vgl. dazu u. a. Baumann, FS fiir Kleinknecht, S. 19 ff. 64 Obwohl das BVerfG auch das Kriterium der Unzumutbarkeit heranzieht, beruft es sich bei der Prüfung der Reichweite des nemo tenetur-Grundsatzes auch auf die allgemeine Entschließungsfreiheit des Betroffenen (vgl. BVerfGE 56, 42). Entgegen SKRogall, vor§ 133 StPO, RN 139, läßt sich diesem Urteil damit keine eindeutige Absage an eine erweiterte, den Schutz der allgemeinen Entschließungsfreiheit umfassende Auslegung des nemo tenetur-Grundsatzes entnehmen. 65 Ähnliche Ansätze finden sich bereits bei Kühl, StV 86, S. 190; Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 47 ff.; Wolfs/ast, NStZ 87, S. 103 ff. Auch Roxin, NStZ 61

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zwangsläufig zu einer Relativierung des Grundsatzes filhren müsse und deshalb wohl nicht im Interesse des Beschuldigten sein könne66• Der durch eine zwangsorientierte Betrachtung gekennzeichnete Grundgehalt bleibt durch die vorgeschlagene funktionale Betrachtung des nemo tenetur-Grundsatzes unberührt und ist als Minimalkonsens auch weitgehend unumstritten. Damit läßt sich diese Kritik überspitzt dahingehend umformulieren, einer Erweiterung des Schutzes des Betroffenen könne nicht zugestimmt werden, weil dieser Schutz nicht absolut sein könne. Da die veränderte Sichtweise aber auf alle Fälle mit einem effektiveren Schutz des Beschuldigten verbunden ist, bleibt der tiefere Sinn der geäußerten Bedenken verborgen. Wenn es aber Aufgabe des nemo tenetur-Grundsatzes ist, den Strafverfolgungsbehörden diese Distanz aufzuzwingen, dann macht es keinen Unterschied, ob die zur Wahrung der Subjektsqualität des Beschuldigten gesetzten Grenzen gewaltsam oder durch Täuschung überschritten werden. Können dem Beschuldigten nur die Eingriffe auferlegt werden, die einem Unschuldigen eben noch als Sonderopfer zugemutet werden können67, dann verwundert es, wenn im gleichen Atemzug darauf hingewiesen wird, eine faire Behandlung schließe (lediglich) die Anwendung massiver und nachhaltiger Methoden der Beeinträchtigung der Entschließungs- und Handlungsfreiheit aus68 • Darf der Beschuldigte denn wirklich durch den Staat ausgetrickst werden, indem er über den eigentlichen Zweck einer Befragung getäuscht wird? Soll dem Beschuldigten tatsächlich die Freiheit der Willensentschließung und -betätigung in Hinblick darauf, ob und inwieweit er zum Prozeßgegenstand Stellung beziehen will, ungeschmälert erhalten bleiben69, so muß seine Entscheidung, nicht zur Sache 97, S. 19 f. und NStZ 95, S. 466, scheint sich filr eine weite Interpretation des nemo tenetur-Grundsatzes auszusprechen. Nach seiner Auffassung schützt der "gesamte nemo tenetur-Grundsatz vor staatlich veranlaßter irrtumsbedingter Selbstbelastung" (wohl in Anlehnung an Wolfs/ast, NStZ 87, S. 104). Im Ansatz ist dies zwar richtig, es fehltjedoch jede Eingrenzung, welche Irrtümer i. S. d. nemo tenetur-Grundsatzes relevant sind. Darf die Polizei beispielsweise bei einer Lösegelderpressung dem Täter, der glaubt er könne das Lösegeld unbeobachtet abholen, keine Falle stellen? Letztlich ist jede Selbstbelastung aus ex-ante Sicht "irrtümlich" erfolgt, zumindest wenn der Täter aufgrund seines eigenen Verhaltens verurteilt wird. 66 So die Kritik von Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 157; Lorenz, JZ 92, S. 1006. Ähnlich auch Sternberg-Lieben, JZ 95, S. 848, zur Frage der Verwertbarkeit von Angaben eines Zeugen gegenüber V-Leuten. Er wendet sich gegen ein Verwertungsverbot und filhrt am Ende aus, es müsse einer Expansion des Verfassungsrechts durch vorschnelles "Ausweichen in das eher verminte Feld verfassungsunmittelbarer Beweisverbote" entgegengewirkt werden. Sonst könnten durch die dabei erforderliche Einzelfallabwägung vorhandene Schutzgarantien des Strafverfahrensrechts ,.unterspült" werden. Eine seltsame, aber häufig anzutreffende Argumentation, dem Bürger deshalb keine Rechte zuzugestehen, weil ihm dafilr andere genommen werden könnten. 67 So Roxin, Strafverfahrensrecht, § 11, RN 4; SK-Rudolphi, vor§ 94, RN 9 m. w. N. 68 Vgl. Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1206 f. 69 Vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, S. 81, RN 99.

§ 5 Sicherung der personalen Freiheit der Willensentschließung

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auszusagen, auch bei erdrückender Beweislage respektiert werden und es darf selbst in guter Absicht nicht versucht werden, ihn in seiner Entscheidung zu beeinflussen70. Der nemo tenetur-Grundsatz beinhaltet nicht lediglich eine "negative Abwehrfunktion71", sondern ein weiter gefaßtes, positives Schutzgut, die Wahrung dieser Selbstbestimmtheit Soweit die weitaus überwiegende Auffassung dagegen davon ausgeht, daß sich positive und negative Äußerungsfreiheit klar trennen lassen, kann dem nicht zugestimmt werden72• Die Inkonsequenz dieser Auffassung zeigt sich bereits daran, daß die h. A. eine Würdigung des zeitweisen Schweigens trotz Absicherung dieser Verteidigungsform durch den nemo tenetur-Grundsatz fUr zulässig erachtet. Dies setzt jedoch voraus, daß zeitweises Schweigen keine Form der "Nichteinlassung" ist, sondern einen bestimmten Indizwert beinhaltet, der einer (positiven) Äußerung des Beschuldigten vergleichbar ist. Daß der nemo tenetur-Grundsatz den Schutz der Aussagefreiheit in einem umfassenderen Sinne gewährleistet, ist schließlich auch nicht deshalb zweitrangig, weil die positive Äußerungsfreiheit zumindest vom Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör umfaßt ist73 . Wie sich auch an den Regelungen der §§ 115, 118, 128, 136 StPO zeigt, garantiert Art. 103 II GG dem Beschuldigten nur, daß er Gelegenheit erhält, sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern. Auch wenn dieser Anspruch in einem weiten Sinne als Möglichkeit des Angeklagten zur unbeeinflußten Stellungnahme verstanden wird, ist damit allein noch nicht zwingend vorgegeben, daß die Entschließungsfreiheit des Beschuldigten in jeder Form der staatlichen Befragung gleichermaßen geschützt sein muß. Zum grundlegenden Verständnis der Aussagefreiheit des Beschuldigten muß zudem darauf hingewiesen werden, daß entgegen einer überwiegend vertretenen Auffassung74 Schweigen und Einlassung zur Sache zwei völlig gleichwertige Verteidigungsformen sind. Deshalb macht der Beschuldigte mit seiner Entscheidung, zur Sache auszusagen, nicht nur von seinem Recht auf Verteidigung Vgl. auch Kühl, JUS 86, S. 117. So Eser, ZStW 79 (1967), S. 571 und ZStW 83 (1974), S. 147. Verfehlt auch Dingeldey, JA 84, S. 409. Der nemo tenetur-Grundsatz ist nach seiner Auffassung nur ein "passives Verteidigungsrecht", das nicht die Möglichkeit der Verfahrensbeteiligung sichern soll. Diese Unterscheidung dürfte aber der absolut überwiegenden Auffassung entsprechen, vgl. u. a. auch Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 3, S. 28, RN 1.; Schneider, Selbstbegünstigungsprivileg, S. 28 f. m. w. N. Allgemein wird dabei zwischen einer negativen, durch den nemo tenetur-Grundsatz geschützten und einer positiven, meist dem Anspruch auf rechtliches Gehör zugeordneten Funktion der Aussagefreiheit unterschieden (vgl. nur Rüping, Das Strafverfahren, S. 34, RN 97). 72 Vgl. statt vieler Nicki, Das Schweigen des Beschuldigten, S. 30: "Unterscheidung zwischen Aussagefreiheit als allgemeiner Aussageverhaltensfreiheit und Schweigerecht als Selbstbelastungsfreiheit". 73 Sou. a. Eser, ZStW 86 (1974), S. 147; vgl. auch Rogall, Der Beschuldigte, S. 125. 74 Vgl. dazu die Nachweise in FN 71. 70

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Teil II: Anspruchsinhalt bei funktioneller Auslegung

und rechtliches Gehör Gebrauch, sondern er verzichtet zugleich auf sein grundrechtlich abgesichertes Recht zu schweigen. Dieser Verzieht ist aber unabhängig davon, ob eine Täuschung ein zwangsgleiches Empfmden beim Rechtsgutinhaber erzeugt, unfreiwillig, sofern sie unmittelbar rechtsgutsbezogen ist und nicht lediglich ein unbeachtliches Motiv zur Äußerung betriffi. Nun ist der Kritik der herrschenden, allein zwangsorientierten Auslegung des nemo teneturGrundsatzes insoweit recht zu geben, als der nemo tenetur-Grundsatz nicht jede Form der Willensbeeinträchtigung durch die Strafverfolgungsorgane erfassen kann. Eine völlig autonome, unbeeinflußte Entscheidung zur Selbstbelastung ist kaum möglich und in vielen Fällen wird der konkrete Einfluß des Ermittlungsbeamten auf die Willensbildung des Beschuldigten rechtlich nicht erfaßbar sein75 . Es kann auch nicht jedes Wissensdefizit des Beschuldigten ausschlaggebend sein, denn welcher allein aufgrund eines von ihm abgegebenen Geständnisses verurteilte Beschuldigte würde sich bei Kenntnis dieser Sachlage nicht gegen eine Selbstbelastung entscheiden? Das Erfordernis einer eigenverantwortlichen Entscheidung zur Selbstbelastung kann nicht als tatsächliche Gegebenheit, d. h. als "schlicht vorhandene Fähigkeit zu verantwortungsbewußten eigenen Entscheidungen"76 interpretiert werden. Es soll nicht bestritten werden, daß dieser Ansatz dem Idealbild einer möglichst weitgehenden Wahrung der Autonomie des Verfahrensbeteiligten am nächsten kommt. Er sieht sich jedoch unüberwindlichen, praktischen Schwierigkeiten ausgesetzt, denn die konkrete Feststellung, inwieweit die Entscheidung zur Selbstbelastung fremdbestimmt ist, müßte fiir jeden Beschuldigten im Einzelfall neu erfolgen und verschließt sich damit aufgrund der fehlenden objektiven Kriterien einer justitiablen Handhabung durch die Gerichte. Von diesen kann lediglich verlangt werden, daß sie Beweiserhebungen, die eine Mitwirkung des Beschuldigten erfordern, so ausgestalten, daß diesem eine eigenverantwortliche Übernahme des mit seiner Mitwirkungsbereitschaft verbundenen Risikos ermöglicht ist. Die Feststellung, ob der Betroffene im Einzelfall tatsächlich freiwillig gehandelt hat, stößt dagegen ähnlich wie der Streit um die Determiniertheil oder Indeterminiertheil menschlichen Verhaltens an unüberwindliche Grenzen. Wie bei der Diskussion der Freiwilligkeit von Rücktrittsmotiven existieren auch bei der Bestimmung der Motivation zu einer Aussage so viele Abstufungen, daß es rational kaum begründbar ist, ab welchem Punkt von einer freiwillig erbrachten Leistung des Beschuldigten ausgegangen werden kann77• Diese Einschränkung des Begriffs 75 Vgl. auch AK-Kühne, § 136a StPO, RN 16; Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 55. 76 So Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 55. Präzisierungsbedürftig auch die Behauptung, der Beschuldigte müsse sich "eigenverantwortlich selbst belasten" (so Ransiek, StV 94, S. 345). Zumindest bei ex ante-Betrachtung wird dies kaum einmal der Fall sein. Es genügt, wenn er eigenverantwortlich ausgesagt hat. 77 Vgl. dazu SK-Rudolphi, § 24 StGB, RN 24m. w. N. Zu welch seltsamen Konsequenzen eine ausschließlich subjektive Betrachtung des Freiheitsbegriffs fiihren kann,

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der Eigenverantwortlichkeit setzt natürlich voraus, daß der Beschuldigte die grundsätzliche Fähigkeit zu einer selbstbestimmten Entscheidung über die Wahl seines Aussageverhaltens besitzt. Kann der Beschuldigte beispielsweise aus in seiner Person liegenden Gründen den Sinn der Belehrung über sein Aussageverweigerungsrecht nicht erfassen, so darf eine Aussage gegen seinen Willen selbst dann nicht verwertet werden, wenn der vernehmende Polizeibeamte alles in seinen Möglichkeiten Liegende getan hat, um dem Beschuldigten die Bedeutung seiner Rechte vor Augen zu filhren78 • Die Befilrchtung, infolge dieser Einschränkung werde jeder Beschuldigte behaupten, er habe die Belehrung "nicht verstanden"79, ist überzogen und zeigt nur, wie wenig ernst die Aussagefreiheit des Beschuldigten tatsächlich genommen wird. Bei seinem Entschluß, zur Sache auszusagen, muß der Beschuldigte die abstrakte Fähigkeit besitzen, den Wert und den Rang der von dieser Entscheidung berührten Güter und Interessen sowie mögliche Folge und Risiken seines Handeins abzuschätzen. Ob er im kon.: kreten Einzelfall vernünftig gehandelt oder seine Entscheidung nicht ausreichend überlegt hat, ist bei pflichtgemäßem Handeln der Ermittlungsbeamten allein seinem Risikobereich zuzurechnen und fi1r die Verwertbarkeit der Aussage ohne Belang. Wenn im folgenden von einer "freiwilligen" Selbstbelastung gesprochen wird, so ist deshalb von einer "formalisierten" und nicht von einer letztlich unpraktikablen, "absoluten" Freiwilligkeit auszugehen. Der Begriff der Eigenverantwortlichkeit ist normativ80 und rechtsgutbezogen zu bestimmen. Entscheidend ist, ob der Beschuldigte das mit einer Aussage verbundene Risiko so erfassen kann, daß eine möglicherweise fi1r ihn ungünstige Verwertung seiner Aussage seinem Verantwortungsbereich zugeordnet werden kann. Die Frage, ob etwa eine Täuschung eine "psychische Zwangslage81" belegt auch eine Äußerung Sauers, JR 49, S. 500, zur Zulässigkeit der Narkoanalyse. Es sei die Aufgabe des Arztes, eine Dosis zu wählen, die geeignet sei, die normale Willensfreiheit zu steigern, "damit die Aussage um so reiner und vollkommener als Werk und Schöpfung des Aussagenden erscheint". Selbstverständlich würde dies heute niemand mehr vertreten, dennoch filhlt man sich an die Diskussion über die Grenzen zulässiger Täuschung erinnert. Handelt der Getäuschte nach einer "unerheblichen" Täuschung nicht "um so freier"? 78 Vgl. dazu auch BGHSt 39, 351. 79 So die Kritik Kramers, Grundbegriffe des Strafverfahrensrechts, RN 27, an der Entscheidung des BGH. Er verkennt dabei zum einen die "Rügelast" des Revisionsrechts (vgl. dazu unten Teil III, § 14 I) und zum anderen verwundert die Gleichstellung von geistig-seelischen Störungen des Beschuldigten mit Fällen, in denen der Beschuldigte lediglich "unkonzentriert" gehandelt hat. 8 Für§ 136a StPO wird dies vielfach vertreten (vgl. SK-Rogall, § 136a StPO, RN 53). Der Maßstab des § 136a StPO läßt jedoch nur bedingt Rückschlüsse auf den Geltungsumfang des nemo tenetur-Grundsatzes zu. 81 So zu§ 136a StPO Haas, V-Leute, S. 97, mit der seltsamen Behauptung "List soll bestimmen, aber zwingt nicht"; Hilland, Das Beweisgewinnungsverbot, S. 108; Joerden, JUS 93, S. 930; Puppe, GA 78, S. 305; Sternberg-Lieben, JURA 95, S. 308.

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Teil II: Anspruchsinhalt bei funktioneller Auslegung

verursacht hat, ist filr eine nonnative Betrachtung ebenso ungeeignet, wie der dem § 136a StPO entnommene "Erheblichkeitsmaßstab"82 • So kann beispielsweise entgegen der mit dieser Umschreibung beabsichtigten Einschränkung bereits ein gewisses Verständnis des Polizeibeamten filr die Situation des Beschuldigten "erheblich" filr dessen Entscheidungsprozeß sein. Auch die unvermeidbaren situationsbezogenen Zwänge, die allein aus der Tatsache einer Vernehmung durch die Strafverfolgungsorgane resultieren, sind erheblich filr die Willensentschließung und -betätigung des Beschuldigten. Genauso wenig kann aber behauptet werden, daß die Entschließungsfreiheit nur insofern geschützt sein soll, als nach "subjektiver Situationsbewertung die Wahlfreiheit auf eine einzige Verhaltensmöglichkeit reduziert ist"83 • Dann müßte der Grad zulässiger Beeinflussung des Beschuldigten zwangsläufig von der Schwere des ihm vorgeworfenen Delikts abhängig sein, denn solange der mit einer Drohung, Täuschung oder vergleichbaren Methoden verbundene Druck nicht ein der drohenden Sanktion vergleichbares Maß erreicht, bleibt die Verweigerung der erwarteten Leistung immer noch eine sinnvolle Alternative der Verteidigung84 • Macht man die Feststellung eines Verstoßes gegen den nemo tenetur-Grundsatz lediglich davon abhängig, ob der Beschuldigte sich subjektiv zur Aussage verpflichtet filhlt, weil ihm keine vernünftig erscheinende Wahlmöglichkeit verbleibt, lassen sich insbesondere die intensivere Formen der Täuschung ohne weiteres legitimieren. Wer so getäuscht wird, daß er sich der Wahlsituation gar nicht bewußt ist, sieht sich auch nicht vor das Problem gestellt, eine bestimmte Wahl treffen zu müssen85 . Ansatzpunkte filr eine nonnative Auslegung des Begriffs der Eigenverantwortlichkeit lassen sich nicht isoliert aus § 136a StPO gewinnen, noch läßt sich diese Norm überhaupt als Argument gegen eine funktionale, am Schutz der Willensfreiheit orientierte Auslegung des nemo tenetur-Grundsatzes anftlhren86. 82 So die h. M. zu§ 136a StPO, vgl. SK-Roga/1, §136a StPO, RN 53 m. w. N. Auch die Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden nach § 136a StPO fUhrt nur dann zur Unverwertbarkeit der so erlangten Aussage, sofern sie die Willensfreiheit des Beschuldigten beeinträchtigt hat und damit filr dessen Aussage (möglicherweise) kausal geworden ist (zu dieser "doppelten Kausalbeziehung", vgl. KK-Boujong, § 136a StPO, RN 38 rn. w. N.). 83 So AK-Kühne, § 136a StPO, RN 16; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 160. Daß "Zwang" filr sich genommen kein taugliches Kriterium zur Bestimmung der Grenzen des Schutzes der Entschließungsfreiheit des Beschuldigten ist, zeigt sich auch an der Regelung des § 136a I S. 2 StPO, die zwischen zulässigem und unzulässigem Zwang differenziert. 84 Zu Recht kritisch SK-Roga/1, § 136a StPO, RN 54, ohne aber den weitergehenden Schluß zu ziehen, daß der nemo tenetur-Grundsatz die Willensentschließungsfreiheit in weiterem Umfang als § 136a StPO schützt. 85 Dies verkennt Sternberg-Lieben, JURA 95, S. 309 in FN 154. 86 Vgl. dazu eingehender unten Teil III, § 9.

§ 5 Sicherung der personalen Freiheit der Willensentschließung

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Nur aus der Gesamtschau der strafprozessualen Belehrungs-und Vernehmungsvorschriften unter Berücksichtigung der aufgezeigten verfassungsrechtlichen Auslegungsrichtlinien läßt sich der erforderliche, nonnative Maßstab erschließen. So setzt Eigenverantwortlichkeit beispielsweise nicht voraus, daß der Entscheidende alle ftir seinen Entschluß relevanten Tatsachen gekannt hat, sondern es genügt, wenn er die durch die nonnative Leitlinie des § 136 I S. 1 StPO vorausgesetzten Infonnationen besitzt87 • Aus § 136 I S. 2 StPO wird hingegen deutlich, daß auch das Wissen um eine Vernehmungssituation zu den Voraussetzungen einer eigenverantwortlichen Entscheidung gehört. Die Behauptung, wer sich einem verdeckt ennittelnden Polizeibeamten gegenüber äußere, handle eigenverantwortlich, denn er weiß, daß er eine selbstbelastende Infonnation in die von ihm unbeherrschbare Außenwelt entlasse88, ist schlichtweg falsch, denn mit dieser Argumentation könnte auf eine Belehrung des Beschuldigten gänzlich verzichtet werden. Auch der unbelehrte Beschuldigte erfaßt den selbstbelastenden Charakter seiner Äußerungen, nur er ist sich - ebenso wie bei verdeckter Vernehmung- seiner Wahlmöglichkeit nicht bewußt bzw. sieht sich nicht in der Lage, von dieser Gebrauch zu machen. Es ist deshalb ein nonnativ beachtlicher Unterschied, ob die selbstbelastenden Infonnationen unmittelbar oder mittelbar zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangen. Diese Beispiele verdeutlichen, daß sich der erforderliche Maßstab der Eigenverantwortlichkeit nur im Rahmen einer differenzierten, an den unterschiedlichen, einfachgesetzlichen Konkretisierungen des nemo tenetur-Grundsatzes orientierten Betrachtung gewinnen läßt. Im folgenden sollen deshalb die funktionalen Verknüpfungen zwischen den entsprechenden strafprozessualen Ausgestaltungen des nemo tenetur-Grundsatzes und dessen Zweck, dem Beschuldigten eine selbstbestimmte Entscheidung zur Selbstbelastung zu ennöglichen, aufgezeigt werden.

87 Damit wird nicht etwa ein verfassungsrechtlich abgesichertes Recht an seiner einfachgesetzlichen Ausgestaltung gemessen, vielmehr ist § 136 I S. 1 StPO Ausdruck einer zutreffenden Abwägung, wieviel an Informationen der Beschuldigte zur Rechtsausübung besitzen muß. 88 So die Argumentation von Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 158 f.

Teil III

Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes § 6 Informations- und Belehrungsvorschriften zur Sicherung einer eigenverantwortlichen Entscheidung

Der Schutz vor ungewollter Selbstbelastung wäre unzureichend, wenn im Rahmen des durch die StPO vorgegebenen Verfahrensablaufs nicht zugleich sichergestellt würde, daß der Beschuldigte durch die Strafverfolgungsorgane so über die ihm zustehenden prozessualen Rechte infonniert wird, daß ihm eine eigenverantwortliche Entscheidung über die Ausübung seiner Rechte ennöglicht wird. So kennt die StPO eine Vielzahl von Vorschriften, die das im entsprechenden Verfahrensabschnitt tätige Strafverfolgungsorgan dazu verpflichten, den Beschuldigten auf seine Aussage- und Mitwirkungsfreiheit hinzuweisen 1• Der Beschuldigte ist nach diesen Bestimmungen bereits bei Beginn der ersten Vernehmung durch ein Strafverfolgungsorgan so über die ihm eingeräumten prozessualen Verhaltensmöglichkeiten und Verteidigungsrechte sowie über den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf zu infonnieren, daß ihm eine wirksame Verteidigung ennöglicht wird2 • Nur bei einer hinreichenden Aufklärung über das gewährte Recht der Aussagefreiheit kann es auch durch einen juristisch unerfahrenen Beschuldigten nutzbringend ausgeübt werden3 . Diese vordergründige Intention der gesetzlich geregelten Belehrungs- und Hinweispflichten, einer möglichen Unkenntnis über Verfahrensrechte vorzubeugen, um damit die gegenüber dem Vernehmungsorgan meist geringere Handlungskompetenz auszugleichen, macht deutlich, daß die entsprechenden Belehrungspflichten im Schnittpunkt zwischen Wahrheitserforschung auf der 1 Vgl. die Zusammenstellungen bei Roga/1, Der Beschuldigte, S. 212 und Schorn, JR 67,203 ff. 2 Vgl. filr die erste polizeiliche Vernehmung§§ 163a IV, 136 I S. 2 StPO. Dies gilt auch filr jede weitere "erste Vernehmung" durch die Polizei, die Staatsanwaltschaft und den Richter, gleichgültig, ob im Haupt-, Vor-, Ermittlungsverfahren oder in einer anderen Verfahrensart wie etwa in Haft- oder Unterbringungssachen. 3 Bauer, Die Aussage, S. 94; Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, S. 148; Roga/1, Der Beschuldigte, S. 187.

§ 6 Informations- und Belehrungsvorschriften

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einen und Gewährung effektiver Verteidigung auf der anderen Seite stehen. Die Bezeichnung der Aussagefreiheit als "prozessuale Binsenwahrheit"4 kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Ausübung dieses Rechts in hohem Maße davon abhängig ist, inwieweit der Betroffene über die ihm unzweifelhaft zustehenden Rechte informiert ist. Auch wenn häufig betont wird, daß derjenige, der sich nicht zur Sache einlasse, auf sein Recht verzichte, sich redend zu verteidigen und damit bei fiir ihn ungünstiger Beweislage nicht immer die zweckmäßigste Art der Verteidigung wähle5 , kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Beschuldigte insbesondere bei Beweisnot der Strafverfolgungsbehörden im Interesse einer optimalen Verteidigung besser beraten ist, wenn er schweigt oder gar lügt. Berücksichtigt man obendrein die immense strafrechtspraktische Bedeutung des Geständnisses6, wird deutlich, warum der Gesetzgeber nur sehr zögerlich Belehrungspflichten eingefiihrt hat und auch die Rechtsprechung in diesem Bereich sehr zurückhaltend bei der Anerkennung von Beweisverwertungsverboten ise. Daß dem Beschuldigten keine Aussage- und nur eine beschränkte Mitwirkungspflicht obliegt, ist ein anerkannter und unbezweifelter Grundsatz des Strafverfahrens. Die Versuchung, dieses Recht im Interesse einer möglichst vollständigen Sachverhaltsaufklärung durch eine nur mangelhafte oder verzögerte Belehrung über dessen Inhalt zu unterlaufen, ist deshalb speziell im Rahmen polizeilicher Vernehmungen besonders groß8 . Dies wird sich wohl auch durch die gewandelte Rechtsprechung des BGH zur Verwertbarkeit einer im Rahmen polizeilicher Vernehmungen unter Belehrungsverstoß erlangten Beschuldigtenaussage nicht grundlegend ändern9 , da die herrschende Auslegung Niese, ZStW 63 (1951), S. 219. Vgl. BGHSt 25, 332; Bauer, Die Aussage, S. 58 m. w. N.; Kleinknecht I MeyerGoßner, § 136 StPO, RN 7; LR-Hanack, § 136 StPO, RN 21; Meyer, JR 66, S. 310; Ranft, Strafprozeßrecht, S. 69. 6 Eine Untersuchung von Schmitz, Tatgeschehen, Zeugen und Polizei, S. 119 ff. und 548 ff., hat ergeben, daß Polizeibeamte dem Personalbeweis (unter Einschluß des Zeugenbeweises) sowohl innerhalb polizeilicher Vernehmung als auch vor Gericht einen höheren Beweiswert zusprechen als dem Sachbeweis. Empirisch: V gl. auch Wulf, Strafprozessuale und kriminalpraktische Fragen, S. 173 ff., 197 ff. 7 V gl. zur legislatorischen Entwicklung der Belehrungspflicht, Bauer, Die Aussage, S. 66 ff. ; Kroth, Die Belehrung des Beschuldigten, S. 138 ff. 8 Dies bestätigt auch eine empirische Untersuchung von Wulf, Strafprozessuale und kriminalpraktische Fragen, S. 173 ff. (218), nach der bei I 00 beobachteten Belehrungen der Vorschrift des § 136 StPO lediglich in neun Fällen in jeder Hinsicht Genüge getan und in 74 Fällen der Tatvorwurf nicht entsprechend der gesetzlichen Vorgabe eröffhet wurde. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Steifen, Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit, S. 190, die feststellen konnte, daß alle von ihr befragten Polizeibeamten bestimmte Strategien zur Umgehung der Belehrungspflicht entwickelt haben, da sie erkennen mußten, daß durch eine korrekte Beschuldigtenbelehrung die Aussagebereitschaft abnimmt. 9 Vgl. nur BGHSt 38, 214 ff. ; 38, 263 ff. ; 38, 372 ff.; 39, 349 ff. 4

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9 Bosch

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

von§ 136 StPO einen noch näher zu bestimmenden Spielraum zur Umgehung der Beschuldigtenrechte eröffnet. Sobald der Blick jedoch nicht nur auf die Ergebnisse der vom BGH erlassenen Entscheidungen, sondern auch auf deren Argumente gerichtet wird, zeigt sich deutlich, daß mit diesen Entscheidungen tatsächlich eine bedeutende Trendwende verbunden ist. Wenn der BGH in Hinblick aufdie nach§§ 163a IV S. 2, 136 I S. 2 erforderliche Belehrung über das Recht zur Verteidigerkonstellation feststellt, es sei nicht allein die Kenntnis des Beschuldigten von seinem Recht, Angaben zu verweigern, entscheidend, sondern er müsse auch den Eindruck haben, sie durchsetzen zu können 10, so sind damit sehr hohe Anforderungen an den durch Belehrungen zu ermöglichenden Ausgleich der mit polizeilichen Vernehmungen notwendigerweise einhergehenden Zwangswirkung verbunden 11 . Sofern man der Rechtsprechung des BGH folgt und ein Verwertungsverbot auch dann bejaht, wenn der Beschuldigte den Hinweis des vernehmenden Polizeibeamten auf seine Aussagefreiheit infolge seines geistig-seelischen Zustandes nicht verstanden hat12, drängt sich unmittelbar die Frage auf, welcher Grad an Verständnis und Entschließungsfreiheit beim Beschuldigten sichergestellt sein muß, um von einer freiwillig erfolgten und damit verwertbaren Aussage sprechen zu können. Die genannten Entscheidungen bilden sicher nicht den Schlußpunkt einer Entwicklung, denn sie werfen bedingt durch die veränderte Blickrichtung des BGH viele Folgefragen auf. Deshalb soll im weiteren vorrangig am "Grundtypus" 13 der Belehrungsvorschriften, den§§ 136 I S. 2 und 243 IV S. 1 StPO und der korrespondierenden Vorschrift des § 55 StPO, auf die Frage eingegangen werden, welche Folgerungen aus Funktion und Wesen der Belehrungsvorschriften gezogen werden müssen, um die bestehenden Lücken im Schutz der Aussagefreiheit des Beschuldigten zu schließen. I. Die Fürsorgepflicht - eine unbrauchbare Grundlage

für die Belehrung des Beschuldigten

Die in § 136 I S. 2 und § 243 IV S. 1 StPO geregelte Pflicht, den Angeklagten auf seine Aussagefreiheit hinzuweisen, hat nach geltendem Prozeß- und Verfassungsverständnis Vorsorglichkeits- und Fürsorgecharakter 14 und ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens 15 • Auch der BGH beruft sich auf BGHSt 38, 375. V gl. auch BGHSt 38, 222. 12 BGHSt 39, 351. 13 So Roga/1, Der Beschuldigte, S. 212. 14 BGHSt 25, 330; Bauer, Die Aussage, S. 92 m. w. N.; Rieß, Reichsjustizamt, S. 433 f.; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 836 m. w. N. 15 SK-Roga/l, vor § 133 StPO, RN 110. 10 11

§ 6 Informations- und Belehrungsvorschriften

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die aus dem Sozialstaatsprinzip 16 abgeleitete gerichtliche Fürsorgepfliche7 als verfassungsrechtliche Quelle der vielfliltigen, in der StPO geregelten Hinweis-, Belehrungs- und Fragepflichten. Er stellt fest, § 243 IV S. 1 StPO habe als Ausfluß der Fürsorgepflicht die Aufgabe, das beim Angeklagten gegebene Verstehensdefizit auszugleichen 18 • Es ist sicherlich richtig, daß beispielsweise die Hinweispflicht nach § 265 StPO die ftlrsorgerische Funktion hat, den Angeklagten vor Überraschungen zu bewahren, auf die er seine Verteidigung nicht einrichten konnte. Daß auch die Belehrungsvorschriften zum Schutz der Aussagefreiheit treffend dadurch charakterisiert sind, daß man ihnen vorrangig ftlrsorgerische Funktion zuschreibt und sie aufgrund einer prozessualen Fürsorgepflicht fUr erforderlich hält, muß hingegen bezweifelt werden. Wie problematisch diese EinfUhrung eines sozialstaatlichen Aspektes im Hinblick auf die Aussagefreiheit des Beschuldigten ist, läßt sich an einem den Kommentierungen zu§ 136 StPO zu entnehmenden Beispiel aufzeigen. So entspricht es allgemeiner Auffassung, daß der Vernehmende eine "anscheinend nicht genügend überlegte" 19 Aussageverweigerung des Beschuldigten nicht einfach hinnehmen müsse, sondern statt dessen die prozessuale Fürsorgepflicht zur "unverhüllten Empfehlung zwingen"20 könne, zur Sache auszusagen. Selbst wenn der Verteidiger dem Beschuldigten geraten hat, die Aussage zu verweigern, soll es zulässig sein, diesem vor Augen zu fUhren, daß sein Schweigen aufgrund des bisherigen Ermittlungsergebnisses "zweischneidig" 21 ist. Durch diese Interpretation der Belehrungsvorschriften aus dem Blickwinkel einer noch unzureichend konkretisierten Fürsorgepflicht wird den Strafverfolgungsbehörden ein unter dem Aspekt der Aussagefreiheit zweifelhafter Spielraum eröffnet, auf ein Geständnis des Beschuldigten hinzuwirken. Noch fragwürdiger wird dieser Standpunkt, wenn man mit Kleinknecht davon ausgeht, daß die prozessuale Fürsorgepflicht alle Strafverfolgungsbehörden gleicherma-

Vgl. Art. 20 I GG. Vgl. allgemein KMR-Sax, Einl. XII; Maiwald, FS fUr Lange, S. 745 ff. ; Schlüchter, Das Strafverfahren, RN 35.3 f.; kritisch Jung, Recht und Gesetz im Dialog II, Saarbrücker Vorträge, S. 107 ff. ; Rüping, JZ 83, S. 664; ablehnend v. Löbbecke, GA 73, S. 200 ff.; Müller, Recht und Gesetz im Dialog II, S. 123 ff. ; vgl. zur Ableitung der BeIehrungsvorschriften aus einer prozessualen Fürsorgepflicht vor allem Bauer, Die Aussage, S. 91 ff.; Dencker, MDR 75, S. 361. 18 Vgl. BGHSt 25, 330. 19 Kleinknecht, JZ 65, S. 156 20 V gl. Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136 StPO, RN 8; SK-Rogall, § 136 StPO, RN 34, KK-Boujong, § 136 StPO, RN 12 unter Bezugnahme aufBGH Urt. v. 27.7.65, I StR 156/65; KK-Wache, § 163a StPO, RN 27; LR-Hanack, § 136 StPO, RN 24 f.; kritisch aber grundsätzlich zustimmend Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 565. 21 Dahs, Handbuch, RN 238; LR-Hanack, § 136, RN 24, Rieß, JA 80, S. 296. 16 17

9•

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

ßen trifft22 . Der vernehmende Polizeibeamte wird in aller Regel kaum in der Lage sein, den weiteren Verfahrensgang so zu überblicken, daß er tatsächlich beurteilen kann, ob der Beschuldigte durch Berufung auf sein Aussageverweigerungsrecht eine sinnvolle Verteidigungsstrategie gewählt hat. Dies gilt um so mehr, als der Polizeibeamte bis zum Abschlußvermerk nach § 147 II StPO bei der nach § 136 II StPO vorgeschriebenen Mitteilung der gegen den Beschuldigten sprechenden Verdachtsgründe diejenigen Tatsachen verschweigen kann, deren Offenbarung nach dem Stand der Ermittlungen den Untersuchungszweck gefährden könnten23 • Der Beschuldigte ist wegen dieser Einschränkung kaum in der Lage, die vielleicht gutgemeinte Empfehlung des Polizeibeamten auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, wird sich aber dennoch aufgrund der scheinbar belastenden Beweissituation zu einer Aussage genötigt sehen. Wenn sich dann im weiteren Verlauf herausstellt, daß der vernehmende Polizeibeamte die Beweissituation falsch beurteilt hat, der Beschuldigte sich jedoch aufgrund der fragwürdigen Empfehlung zu einer möglicherweise selbstbelastenden Aussage gezwungen sah, kann kein Zweifel daran bestehen, daß die u. a. durch § 136 StPO zu gewährleistende Aussagefreiheit beeinträchtigt worden ist. Es ist zudem trotz der Regelung des § 136 II StPO wenig sinnvoll, von der Staatsanwaltschaft und noch mehr natürlich von der Polizei zu erwarten, sie würden die ihnen auferlegte Fürsorgepflicht im Interesse des Beschuldigten wahrnehmen. Obwohl diese gehalten ist, auch zugunsten des Betroffenen zu ermitteln, steht bei ihrem Handeln dennoch die "Belastungsperspektive"24 im Vordergrund. Solange Aufklärungsquoten als Indikatoren fiir den Erfolg eines Polizeibeamten und fiir die Effizienz seiner Ermittlungstätigkeit angesehen werden, kann die Auferlegung einer "fiirsorgerischen Zurückhaltung" kaum auf fruchtbaren Boden stoßen25 . Würde man der Belehrung in der polizeilichen Vernehmung tatsächlich fiirsorgerischen Charakter zusprechen, so müßte der Vernehmungsbeamte auch im umgekehrten Fall, d. h., wenn er erkennt, daß der V gl. FN 20 und Kleinknecht I Meyer-Goßner, Ein!. RN 156. LR-Hanack, § 136 StPO, RN 34m. w. N. 24 Dazu Müller-Dietz, ZStW 93 ( 1981 ), S. 1238; vgl. auch Jung, Recht und Gesetz im Dialog II, S. 117, der, wenn auch in anderem Zusammenhang, zu Recht davor warnt, der Begriff der gerichtlichen Fürsorgepflicht könne ein bedenkliches Eigenleben entfalten. 25 Dazu Steifen, Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit, S. 76 ff. ; vgl. auch exemplarisch die bei Feest I Blankenburg, Die Definitionsmacht der Polizei, S. 33 (m. w. N. zum angesprochenen Rollenkonflikt), wiedergegebene Äußerung eines Kriminalbeamten, der sich sowohl dem Ruf nach effektiver Bekämpfung der Kriminalität als auch den Reformen zur Verwirklichung einer humaneren Strafrechtspflege ausgesetzt sieht: "Da wird sich die Gesellschaft entscheiden müssen, was sie will." Tatsächlich sollte nicht der Polizei eine ihren Interessen zuwiderlaufende Pflicht auferlegt, vielmehr sollte das Verfahren so gestaltet werden, daß der Beschuldigte der Fürsorge der Beamten so gut wie nicht bedarf. 22 23

§ 6 Informations- und Belehrungsvorschriften

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aussagebereite Beschuldigte sich durch eine Aussage lediglich be-, nicht jedoch entlasten kann, "fursorgerisch" tätig werden und den Beschuldigten darauf hinweisen, daß es fur ihn sinnvoller ist zu schweigen26 . Im Interesse der Wahrheitsfmdung wird wohl vernünftigerweise niemand den Vernehmungsorganen eine solche Pflicht auferlegen. Will man den oben aufgezeigten Rollenkonflikt sinnvoll auflösen, so kann dies nur dadurch bewerkstelligt werden, daß die Polizei verpflichtet wird, die Vernehmung sofort abzubrechen, wenn der Beschuldigte nach ausfuhrlieber Belehrung erklärt, er entscheide sich, von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen27 • Ein Blick in die einschlägige Vernehmungsliteratur bekräftigt die dargestellten Zweifel. So soll es nicht unzulässig sein, mit dem Beschuldigten das "Für und Wider" der Aussageverweigerung zu diskutieren, um diesen zu überzeugen, "daß eine Stellungnahmen(... ) auch in seinem( ... ) Interesse liege"28 • Der Vernehmende dürfe ohne weiteres darauf hinweisen, "daß sich den Belastungszeugen ausliefert, wer schweigt", und daß "Schweigen fur solche Täter die beste Taktik ist, die schuldig sind und filr ihre Tat keinerlei Milderungsgründe anfUhren können"29 . Dem Vernehmenden wird vorgeschlagen, den Beschuldigten nach seinen Gründen filr die Aussageverweigerung zu fragen und diese "gegebenenfalls ( ... ) als nichtig zu erweisen30". Sollte dies nichts helfen, so könne

Vgl. auch das Beispiel bei Maiwald, FS für Lange, S. 756. Für den eingeschränkt vergleichbaren Fall der Belehrung über das Recht zur Verteidigerkonstellation hat der 5. Strafsenat des BGH in einem obiter dieturn vergleichbare Grundsätze aufgestellt, vgl. BGHSt 42, I 5, 19. Der 1. Strafsenat hat sich jedoch in einer Folgeentscheidung dem nicht angeschlossen (BGHSt 42, 170 ff.); vgl. dazu aber die instruktive Schilderung von Herrmann, NStZ 97, S. 210 ff., der an Hand des polizeilichen Vernehmungsprotokolls deutlich macht, wie wenig die Entscheidung zur Fortsetzung der Vernehmung auf einem freien Willensentschluß des Beschuldigten basiert. Den Materialien zur Strafprozeßordnung läßt sich entnehmen, daß die Kommission der Forderung nach Vernehmungsabbruch ablehnend gegenüberstand. So wurde der Zusatz "falls er sich vernehmen läßt" (zu§ 123 StPO a. F., entspricht§ 136 li StPO n. F.) nicht in§ 123 StPO a. F. aufgenommen, weil daraus geschlossen werden könne, daß die Vernehmung nach Aussageverweigerung abzubrechen sei, ohne daß der Beschuldigte Gelegenheit zur Rechtfertigung und zur Beseitigung der Verdachtsgründe erhalten habe (vgl. Hahn, Motive, I. Abtheilung, S. 704). Im älteren Schrifttum wurde die Forderung nach Abbruch der Vernehmung bei Aussageverweigerung vereinzelt erhoben, allerdings lediglich unter pauschalem Hinweis auf die Aussagefreiheit des Beschuldigten, vgl. Gerland, Der deutsche Strafprozess, S. 238. 28 Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 31 . Hervorhebung durch den Verfasser. Deutlich auch Ranft, Strafprozeßrecht, S. 69. Er bezeichnet es als Gebot der prozessualen Fürsorgepflicht, den Beschuldigten darauf hinzuweisen, daß er sich durch die Verweigerung der Einlassung zur Sache der "Chance (?) einer schnellen und wirkungsvollen Aufklärung des Tatvorwurfs" begebe. 29 Esders, Die Beschuldigten- und die Zeugenvernehmung, S. 3. Solche Äußerungen dürften bereits die Grenze des§ 136a StPO überschreiten. 30 Walder, Die Vernehmung, S. 134. 26

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versucht werden, ein Gespräch über andere Dinge aufzunehmen, denn "ein psychisch Normaler wird schließlich antworten"31 • Ohne die Kenntnis dessen, was der Beschuldigte eigentlich verschweigen will, wird der Vernehmende jedoch kaum in der Lage sein, die Sinnlosigkeit der Aussageverweigerung zu beurteilen. Hat der Vernehmende allerdings durch die vorgeschlagene Strategie ein entsprechendes Wissen erlangt, ist dem Beschuldigten die Möglichkeit genommen, sein Schweigerecht sinnvoll auszunutzen. Gleich zu beurteilen ist auch die Feststellung eines polizeilichen Vernehmungshandbuches, eine "Verweigerung der Aussage sei häufig nur eine momentane Reaktion und nicht so endgültig, wie es oft den Anschein hat" 32 . Wenn deshalb der Ratschlag gegeben wird, "nicht gleich die Flinte ins Korn zu werfen", weil man in aller Regel "nur in wirklich aussichtslosen Fällen die Vernehmung ohne Ergebnis abbrechen müsse" 33 , zeigt sich, daß die Beratung des Beschuldigten lediglich im Interesse einer vollständigen Aufklärung der Tat erfolgt, nicht aber um dem Beschuldigten die Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechts zu ermöglichen. Dabei muß zusätzlich bedacht werden, daß es kaum Stimmen in der Literatur gibt, die ein Schweigen des Beschuldigten fllr eine zweckmäßige Verteidigungsstrategie halten. Statt dessen wird ausdrücklich betont, daß der Angeklagte mit seiner Wahl zu schweigen eine riskante und häufig unvernünftige Entscheidung treffe, die in den meisten Fällen dem gesunden Verteidigungsinstinkt des Menschen widerspreche34• Schließlich habe der Beschuldigte (nur) durch ein Geständnis die Möglichkeit, auf das Urteil und den Verfahrensgang Einfluß zu nehmen35• Die Praxis des Gerichtsalltags dürfte das genaue Gegenteil nahelegen, denn häufig schlägt die Einlassung des Angeklagten ungewollt zu dessen Lasten aus, und er offenbart aus rechtlicher Unkenntnis sonst unbeweisbare, belastende Umstände zur subjektiven Tatseite oder verstrickt sich in Widersprüche, die seine Glaubwürdigkeit erschüttern36.

Walder, ebd. So und im folgenden Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 31. 33 Wie FN 32. 34 In diesem Sinne u. a. Dahs, Handbuch, RN 40; LR-Hanack, § 136 StPO, RN 21 ; Kühl, JUS 86, S. 118; Seibert, NJW 65, S. 1706; Stree, JZ 66, S. 596; Wesse/s, JUS 66, S. 172. Häufig wird dabei auf Liepmann, ZStW 44 (1924), S. 671 , verwiesen, der das "Schweigerecht" als ein "privilegium odiosum" bezeichnet hat. Deshalb wird auch behauptet, die Bezeichnung Schweige-"recht" stelle die Dinge auf den Kopf, denn wer schweigt, übe kein Recht aus, sondern verzichte darauf (vgl. Meyer, JR 66, S. 310). Sieht man Schweigen und Einlassung aber als gleichwertige Formen der Verteidigung an, so ist statt dessen mit jeder Wahl zwischen den beiden Alternativen zugleich der Verzicht auf das Komplementärrecht verbunden. 35 Vgl. u. a. Quentmeier, JA 96, S. 216. 36 Vgl. auch Günther, JR 78, S. 91 f. 31

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Der Fürsorgegedanke darf deshalb nicht als Rechtfertigung herangezogen werden, um die vom Beschuldigten frei gewählte Verteidigungsstrategie auszuhebeln37. Es ist nicht Sache der Ermittlungsbehörden, die vom Beschuldigten gewählte Form und Konzeption der Verteidigung auf ihre Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen. Aufgrund dieser Tatsache hat sich die Polizei entgegen der h. A. 38 jeglicher Empfehlungen zu enthalten und dem Beschuldigten lediglich, soweit der Ermittlungszweck dadurch nicht beeinträchtigt wird, die gegen ihn sprechenden Verdachtsmomente mitzuteilen, um ihm eine eigenverantwortliche Entscheidung zur Aussage zu ermöglichen. Zur Absicherung der dargestellten Anforderungen muß die Eröffhung der VerdachtsgrUnde unmittelbar vor der Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht erfolgen. Gesteht man den Vernehmungsorganen die Möglichkeit zu, die belastenden Tatsachen dem Beschuldigten "tröpfchenweise" nach erfolgter Aussageverweigerung mitzuteilen, so wUrde der vernehmende Polizeibeamte in die Lage versetzt, durch eine entsprechende "Zermürbungsstrategie" den Beschuldigten von der Aussichtslosigkeit seines Schweigens zu überzeugen. Entscheidet sich der Beschuldigte, nicht zur Sache auszusagen, so ist diese Entscheidung zumindest filr den Bereich polizeilicher und staatsanwaltschaftlieber Vernehmungen ausnahmslos zu respektieren und die Vernehmung abzubrechen. Damit ist auch einer Rechtsprechung der Boden entzogen, die es filr unbedenklich hält, daß Angaben des Angeklagten verwertet werden, die dieser nach erklärter Aussageverweigerung und Abbruch der Vernehmung in einem "anschließenden zwanglosen Gespräch" mit dem vernehmenden Polizeibeamten zur Sache abgegeben hae9 . Wenn die Rechtsprechung in diesen Fällen annimmt, es lägen Äußerungen außerhalb einer Vernehmung vor und der Polizeibeamte sei "nicht zur rechtlichen Nachhilfe über die Verwertbarkeit von Beweismitteln verpflichtet"40, so kann dies nur die oben angefilhrte Forderung unterstützen. Hinnehmbar dürfte es lediglich sein, daß der Polizeibeamte den Beschuldigten nach dessen Weigerung, zur Sache auszusagen, fragt, ob er bereit sei, in Anwesenheit oder nach Rücksprache mit einem Verteidiger zum Tatvorwurf Stellung zu nehmen. Die dargestellten Grundsätze können in der Hauptverhandlung nicht uneingeschränkt Geltung beanspruchen. Vor allem gegenüber einem rechtsunkundigen und unverteidigten Angeklagten kann hier der Verpflichtung zur gerichtlichen Fürsorge in Ausnahmeflillen tatsächlich die Funktion eines "wichtigen Re-

Vgl. Jung, Recht und Gesetz im Dialog li, S. 118. Vgl. FN 20. 39 Vgl. dazu und im folgenden BGH NJW 56, 558 f.; DAR 77, 177; LG Verden, MDR 75,950. 40 BGH NJW 56, 559. 37 38

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gulativs filr eine fair gehandhabte Inquisitionsmaxime zugeschrieben"41 werden. Der Richter ist durch seine dominierende Stellung oftmals allein in der Lage, einen Ausgleich der mangelnden Handlungskompetenz des Beschuldigten zu übernehmen. So kann es im Einzelfall nicht nur zulässig, sondern auch geboten sein, offensichtliche Fehlvorstellungen (z. B. "Mir glaubt ja doch keiner"42) richtigzustellen oder den Beschuldigten, um ihn vor überraschenden Entscheidungen zu bewahren, darauf hinzuweisen, daß er es aufgrund der erdrückenden Beweislage allein in der Hand habe, die belastenden Beweisergebnisse zu entkräften. Letztlich sind diese Korrekturen wegen der in der geltenden Verfahrensordnung nur mangelhaft verwirklichten Waffengleichheit notwendig, auch wenn sie einen gewissen Gegensatz zur Unparteilichkeit des Richters bilden43 . Solange der Angeklagte lediglich in den Fällen des § 140 StPO Anspruch auf Bestellung eines Verteidigers hat, muß dieser Widerspruch hingenommen werden, um auch dem unverteidigten Angeklagten eine ausreichende Handlungskompetenz zu sichern. Wenn man es ernst meint mit der Anerkennung einer eigenverantwortlichen Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren, müssen die Grenzen zulässiger Fürsorge allerdings eng gezogen werden, um ihn nicht der Möglichkeit zu berauben, selbst Verantwortung fiir die von ihm gewählte Verteidigungsstrategie zu tragen44 • Sonst gelangt man über den Umweg einer vermeintlicher Verfahrensgerechtigkeit zu einer bereits in den Motiven zur StPO erkennbaren Wertung, dem Angeklagten könne nicht zugetraut werden, selbst und eigenverantwortlich über die Wahrnehmung seiner Rechte zu entscheiden45 . Der Richter hat sich deshalb bei der Belehrung des Angeklagten jeglicher Wertung zu enthalten und sich auch dann, wenn sich der Angeklagte entschließt, nicht zur Sache auszusagen, auf die Mitteilung von Tatsachen, rechtlichen Hinweisen und Belehrungen zu beschränken. Eine darüber hinausgehende, umfassende Verpflichtung des Gerichtes, allen Beteiligten eine effektive Wahrnehmung ihrer Rechte zu ermöglichen, fiihrt faktisch zu einer schwer kontrollierbaren, unbestimmten und Roxin, Strafverfahrensrecht, § 42, RN 23. Vgl. die Beispiele bei Pohl, Praxis des Strafrichters, S. 81 f. 43 Allgemein zum Spannungsverhältnis zwischen Fürsorgepflicht und Stellung des Richters: Müller, Recht und Gesetz im Dialog II, S. 125. 44 Dazu bereits Maiwald, FS fur Lange, S. 762; Müller, Recht und Gesetz im Dialog II, S. 125. 45 Vgl. Hahn, Motive, I. Abtheilung, S. 139. Nach den Motiven wurde ein Belehrungszwang abgelehnt, da sich die Verweigerung der Aussage fur den Beschuldigten selbst nachteilig auswirken könne. Andererseits läßt sich dem Bericht der Kommission nach Abschluß der 2. Lesung ein deutlicher Hinweis gegen eine fursorgerische Beratung des Beschuldigten entnehmen: "Er (der Angeklagte) ist befugt, die Antwort zu verweigern; ( ... ) Die Beurtheilung, ob nicht im eigenen Interesse des Angeklagten die Beantwortung erfolgen möchte, kann ihm überlassen werden."; vgl. Hahn, Motive, 2. Abtheilung, S. 1531. 41

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damit letztlich auch wenig wirkungsvollen "Treu und Glauben"-Klausel der Verfahrensgerechtigkeit46 • Der Fürsorgegedanke kommt deshalb im Zusammenhang mit der Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht vor allem dann zum Tragen, wenn offensichtliche Fehlvorstellungen über die Folgen einer Aussageverweigerung vorhanden sind, die der Richter korrigieren kann, ohne den Angeklagten bei seiner Entscheidung unmittelbar zu beeinflussen, oder wenn weitergehende Belehrungen und Hinweise aufgrund eines vorangegangenen Fehlverhaltens des Gerichts oder der Polizeibehörden erforderlich sind. Als Beispiel kann auf die Rechtsprechung des BGH verwiesen werden, die ein Verwertungsverbot bei unterbliebener Belehrung vor polizeilicher Beschuldigtenvernehmung verneint, wenn der Angeklagte nicht bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt einer Verwertung widersprochen hat47 • Diese Einschränkung gilt beim unverteidigten Angeklagten nur dann, wenn er zuvor durch den Vorsitzenden kraft der diesem auferlegten Fürsorgepflicht über die Möglichkeit des Widerspruchs belehrt worden ist. Dem aufgezeigten engen Verständnis prozessual zulässiger, richterlicher Fürsorge widerspricht es, wenn die Belehrung nach § 243 IV S. I StPO mit Hinweisen oder Zusicherungen über die günstigen Folgen einer Aussage fiir den Angeklagten verbunden wird. Die häufig anzutreffende Praxis, den Angeklagten einerseits über sein Schweigerecht zu belehren, ihm andererseits aber fiir den Fall eines Geständnisses eine milde Strafe in Aussicht zu stellen, ist auch in Fällen eindeutiger Beweislage nicht hinnehmbar48 • Nicht untersucht werden sollen in diesem Zusammenhang die Fälle, in denen es tatsächlich zu einer bindenden Zusage des Gerichts oder zu einer Absprache zwischen den Prozeßbeteiligten gekommen ist, denn dabei geht es nicht um die Frage einer Umgehung oder Modifikation der nach § 136 StPO zu erteilenden Belehrung aufgrund prozessualer Fürsorgepflicht49 . Weitgehend ausgeklammert werden soll vorerst auch das Problem, inwieweit sich ein Geständnis im Einzelfall tatsächlich

Vgl. auch Rüping, JZ 83, S. 664. BGHSt 38,214,225 f. Dazu unten Teil III, § 141V. 48 Nicht hinnehmbar ist beispielsweise die von Pohl, Praxis des Strafrichters, S. 81, vorgeschlagene Belehrungsfonnel: "Es ist ihr gutes Recht zu schweigen. ( ...)Ein Angeklagter, der schweigt, kann freilich auch nicht vorbringen, wie es zu der Tat hat kommen können, wie er die Tat heute sieht, ob er sie bedauert oder gar bereut. Und der schweigende Angeklagte verzichtet darauf, das Gericht durch ein rechtzeitiges (!) Geständnis milde zu stimmen." Ähnlich Gössweiner-Saiko, Vemehmungskunde, S. 47. 49 Das Problem, wie Absprachen im "außerprozessualen" Raum aus Sicht des nemo tenetur-Grundsatzes zu bewerten sind, kann hier nicht ausgefiihrt werden (vgl. dazu die Darstellung m. w. N. bei KK-Pfeiffir, Einl., RN 29a ff.). Ohne auf diesen Punkt näher eingehen zu können, wird bei Lösung dieser Frage vor allem entscheidend sein, ob sich ein - bisher noch systemfremdes, aber fiir diesen Fall erforderliches- Verfahren außerhalb der Hauptverhandlung schaffen läßt, das sicherstellt, daß die Initiative zu einer Absprache überwiegend vom Beschuldigten ausgegangen ist. 46

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strafmildernd auswirken kann, denn die Zulässigkeil einer strafmildemden Berücksichtigung des Prozeßverhaltens ist von der Frage der Zulässigkeit eines entsprechenden Hinweises zu trennen50• Die weitaus überwiegende Auffassung hält es fUr zulässig, daß das Gericht oder die Ermittlungsbehörden den Angeklagten darauf hinweisen, ein Geständnis könne strafmildemde Wirkung haben, wenn es von Schuldeinsicht, Sühnebereitschaft und Reue getragen sei51 . Aufgrund der gerichtlichen Fürsorgepflicht sei dieser Hinweis nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten52 und nur dazu angetan, dem Beschuldigten "die richtige Einschätzung seiner Lage" zu erleichtem53. Der vorrangig unter dem Blickwinkel des Versprechens eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils i. S. v. § 136a I S. 3 diskutierte Hinweis soll vor allem dann zulässig sein, wenn wegen der erdrückenden Beweislage die Zubilligung mildemder Umstände allein aufgrund eines Geständnisses in Frage komme54. Für unzulässig erachtet wird nach überwiegender Auffassung ein solcher Hinweis lediglich dann, wenn der Vernehmende entweder zur Gewährung des Vorteils nicht befugt ist und dies nicht hinreichend deutlich macht oder eine bindende Zusage der Strafmilderung erfolgt55 . Eine Strafmilderung könne dann bei Ablegung des Geständnisses meist nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der Angeklagte habe sich nur aus prozeßtaktischen Gründen zur Aussage entschlossen, um den vom Gericht in Aussicht gestellten Vorteil zu erlangen, denn es lasse sich in aller Regel nicht ausschließen, "daß das Geständnis auch auf einer durch die Belehrung gewonnenen Einsicht beruhe und damit Rückschlüsse auf die Einstellung des Angeklagten zur Tat ermögliche"56. Besonders bedenklich ist schließlich die Begründung, solche Vorhaltungen würden nicht die Entschließungsfreiheit beeinträchtigen, denn sie beträfen nur Überlegungen, die der Beschuldigte selbst hätte anstellen können57 •

50 Zur Zulässigkeit der strafmildernden Berücksichtigung des Geständnisses, vgl. unter Teil III, § I 0. 51 Zur Zulässigkeit des Hinweises, vgl. BGHSt I, 387 f.; 14, 189 ff.; 20, 268 f.; BVerfG NJW 87, S. 2663; Erbs, NJW 51, S. 389; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall3, S. 34, RN 36; Schmidt-Hieber, NJW 82, S. 1021; LR-Hanack, § 136a StPO, RN 55, m. w. N.; kritisch Eb. Schmidt, JR 61, S. 71 f.; Grünwald, NJW 60, S. 1941; Niese, JZ 53, S. 220. 52 Schmidt-Hieber, NJW 82, S. 1021. 53 BGHSt 1, 388. 54 Vgl. FN 20 und vor allem den in BGHSt 14, 190 geschilderten Sachverhalt. 55 Ein In-Aussicht-Stellen des Vorteils genügt nicht, a. A. Grünwa/d, NJW 60, S. 1941; Schlüchter, Das Strafverfahren, RN 93 m. w. N. zur h. M. Natürlich darf dem Beschuldigten auch keine der Wirklichkeit nicht entsprechende, erdrückende Beweislage vorgespiegelt werden (vgl. BGHSt 35, 328). 56 U. a. Schmidt-Hieber, NJW 82, S. 1021. 57 BGHSt I, 387; KK-Boujong, § 136a StPO, RN 31.

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Soweit die h. M. davon ausgeht, daß eine Belehrung über möglicherweise günstige Folgen eines Geständnisses in aller Regel nicht gegen § l36a StPO verstößt, ist dem zuzustimmen58 • Damit ist allerdings nicht der Kernpunkt der angesprochenen Problematik getroffen. Das entscheidende Argument gegen die Zulässigkeil dieser Vorgehensweise ergibt sich aus § 243 StPO, der in den genannten Fällen faktisch entwertet wird. Welcher Angeklagte wird denn bei Hinweis auf eine völlig erdrückende Beweislage nicht den einzigen ihm angebotenen Strohhalm ergreifen, um wenigstens die Vergünstigung einer Strafmilderung zu erhalten? Ganz abgesehen von der unter Strafzumessungsgesichtspunkten abzulehnenden Auffassung59, hier könne noch von besserer Einsicht gesprochen werden, ist zumindest die Entschließungsfreiheit des Betroffenen in aller Regel aufgehoben. Entgegen der h. A. kann viel eher in den Fällen, in denen die Beweislage noch offen und dem Angeklagten dies bewußt ist, von einer selbstbestimmten Entscheidung gesprochen werden, nicht jedoch dann, wenn der Angeklagte auf die einzige Möglichkeit hingewiesen wird, einer harten Strafe zu entgehen60• Interessant ist insoweit die Begründung des BVerfG bei Überprüfung der Zulässigkeil einer Absprache im Strafverfahren. Das BVerfG verneint eine rechtsstaatlich bedenkliche Beeinträchtigung der Willensentschließungsfreiheit u. a. deshalb, weil der Angeklagte seine prozessuale Situation aufgrund einer selbst gewonnenen Erkenntnis filr aussichtslos hielt. Er sei ,jederzeit uneingeschränkter Herr seiner Entschlüsse" geblieben, da es um die Wirkung einer von "ihm angeregten" Verständigung ging61 • Wenn es tatsächlich so ist, daß der Betroffene entsprechende Überlegungen auch von selbst anstellen kann62, dann spricht auch nichts dagegen, auf entsprechende Hinweise zu verzichten, um zu verhindern, daß der Angeklagte entgegen der Belehrung nach § 136 StPO den Eindruck gewinnt, keine Wahlmöglichkeit zu besitzen.

58 Ein Grenzfall ist insofern die Entscheidung des BGH NJW 60, 1212. Wenn ein Richter trotz erdrückender Beweislage dem Angeklagten erklärt, er könne mildernde Umstände nur durch ein Geständnis erlangen, ihm dann aber im Urteil dies mit der Begründung verwehrt, das Geständnis sei nur Ausdruck von Berechnung, nicht aber von Schuldeinsicht, so wird die Grenze des § 136a StPO entgegen der Auffassung des BGH überschritten. 59 Einschränkend auch LK-Hirsch, § 46 StGB, RN 96; Eh. Schmidt, JR 61, S. 71. 60 Insoweit interessant BGH MDR 66, 727. Nach diesem wenig beachteten Urteil des BGH kann ein Geständnis nicht strafmildernd wirken, wenn es auf erdrückenden Beweisen beruht. Nach BGH StV 81, 235, darf es ebensowenig als Strafmilderungsgrund dienen, wenn es auf eindringlichen Vorhalt abgegeben wurde. Da die Eröffnung der Hauptverhandlung hinreichenden Tatverdacht voraussetzt (§ 203 StPO), wird man sowieso von besserer Einsicht in aller Regel nur bei einem Geständnis vor Eröffnungsbeschluß sprechen können. 61 BVerfD NJW 87,2663. 62 Vgl. FN 137.

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Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß die Behauptung, die Belehrungsvorschriften zum Schutze der Aussagefreiheit besäßen Fürsorgefunktion, das Wesen der betreffenden Vorschriften unzutreffend charakterisiert. Die Belehrung soll die Kenntnis des Betroffenen von seinem Wahlrecht, zu reden oder zu schweigen, sicherstellen, um ihm dadurch zu ermöglichen, seine prozessualen Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbständig und vor allem selbstbestimmt wahrzunehmen63 • Die Belehrung hat insbesondere in polizeilichen Vernehmungen nicht die filrsorgerische Funktion, durch eine möglichst umfassende Information die günstigste Verteidigungsstrategie zu ermöglichen64. Würde man ihr diese Funktion zusprechen, so wäre kaum verständlich, warum die Polizei nicht verpflichtet wird, dem Beschuldigten alle gegen ihn sprechenden Beweisergebnisse mitzuteilen oder Irrtümer Ober die Beweislage aufzuklären, um dem Beschuldigten wirklich die Möglichkeit der Wahl der besten Verteidigungsstrategie auf sicherer Tatsachengrundlage zu eröffnen. Statt dessen wird aber in einschlägigen Leitfaden fiir polizeiliche Vernehmungen immer explizit darauf hingewiesen, daß keine Pflicht besteht, einen Irrtum des Beschuldigten über das gegen ihn vorliegende Beweismaterial zu korrigieren. Entsprechende Irrtümer dürften sogar mittelbar provoziert werden, um den Beschuldigten zu einer irrtumsbedingten Aussage zu veranlassen65.

II. Der Zweck der Belehrung: Formalisierung der Kommunikation in Vernehmungen Mit der von der h. L. angesprochenen Funktion der Beschuldigtenbelehrung, einen ausreichenden Kenntnisstand des Beschuldigten über seine prozessualen Rechte sicherzustellen, ist deren Wesen noch nicht ausreichend charakterisiert. Ihr kommt insbesondere bei polizeilicher Vernehmung auch die Aufgabe zu, als eine Art "Kriegserklärung"66 zu einer Formalisierung der Vernehmungs- und Kommunikationsstruktur und damit auch zu einer Stärkung der Handlungskompetenz des Beschuldigten beizutragen. Nicht umsonst wird in der Praxis versucht, diese Wirkung der Belehrung durch die Einleitung eines Vorgespräches abzumildern, in dessen Rahmen die kommunikationshemmende Wirkung der Belehrung abgebaut und das Vertrauen des Beschuldigten gewonnen werden soll, um dessen Geständnisbereitschaft zu fflrdern. Mittels dieser "Beicht-

Vgl. BVerfGE 38, 111; Günther, JR 78, S. 92. Vgl. zum Aspekt der Selbstbestimmtheit bei§ 136a StPO, Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 69. 65 Esders, Die Beschuldigten- und Zeugenvernehmung, S. 18. 66 So für den angelsächsischen Rechtskreis v. Ger/ach, NJW 69, 777, bezugnehmend auf Devlin, The Criminal Prosecution in England, S. 31. 63

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vatertaktik67" wird versucht, dem Beschuldigten eine freundschaftliche oder väterliche Gesinnung vorzuspiegeln68 , damit der Beschuldigte den eigentlichen Hintergrund und das Ziel der Vernehmung aus den Augen verliert und dem Vernehmungsbeamten sein Herz ausschüttet69 . Durch diese Taktik wird dem Beschuldigten jedoch konkludent eine zu polizeilichen Interessen konträre und damit in Wahrheit unerfiillbare Zusage vorgespiegelt, über die Aussagen des "Beichtkindes" Stillschweigen zu bewahren. Auch vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, die Entscheidung des Beschuldigten, nicht zur Sache auszusagen, ausnahmslos zu respektieren und die Vernehmung nach Aussageverweigerung sofort abzubrechen, denn der Vernommene gibt durch diese Erklärung zu erkennen, daß er sich dem durch die Vernehmungssituation erzeugten Druck und deren besonderen Kommunikationsregeln nicht gewachsen fühlt. Läßt man es zu, daß die Vernehmungsbeamten auch nach diesem Zeitpunkt noch weiter auf den Beschuldigten einwirken können, so wird eine wichtige Funktion der Belehrung entwertet. Der Vernehmende zeigt durch die Belehrung nicht nur die verschiedenen Verteidigungsalternativen auf, sondern er gibt dadurch auch seine Bereitschaft zu erkennen, beide Alternativen gleichermaßen zu akzeptieren70• Stellt der Vernehmende jedoch nach Verweigerung der Aussage weitere Fragen oder gibt er Empfehlungen fiir eine vermeintlich bessere Verteidigungsstrategie ab, so muß beim Beschuldigten zwangsläufig der Eindruck entstehen, seine Entscheidung werde nicht respektiert, und er wird sich zu einer Aussage genötigt fiihlen71 • Der Zweck von § 136 I S. 2 StPO besteht deshalb nicht allein darin, den Beschuldigten vor dem Irrtum zu schützen, zur Aussage verpflichtet zu sein, sondern die Belehrung soll auch dazu beitragen, ihm deutlich vor Augen zu führen, daß eine Strafverfolgungszwecken dienende Vernehmungssituation gegeben ist72 und in dieser besonderen Situation die alltäglichen Kommunikationsregeln

67 Herren, Archiv für Kriminologie 77, S. 137; zu Recht sehr kritisch dazu Glatze/, StV 82, S. 286. 68 Vgl. etwa die Empfehlungen von Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 22 ff. 69 Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 21. 70 Zu dieser wichtigen Funktion der Belehrung im amerikanischen Recht, Salditt, GA 92, S. 55 ff., 68. Ganz im Gegensatz dazu hält Walder, Die Vernehmung, S. 23, die Frage des Vernehmenden an den Beschuldigten, ob dieser an seinen bisherigen Bestreitungen festhalten wolle, für "psychologisch ungeschickt", denn dadurch gebe der Vernehmende zu erkennen, daß er sich mit dem Aussageverhalten des Vernommenen abfinde. 71 Einer aktiven Rechtsverweigerung durch die Polizei bedarf es insofern nicht (so aber wohl BGHSt 42, 173 f.). Allein durch die Fortsetzung der Vernehmung entsteht bei dem Vernommenen der Eindruck, er könne seine Rechte nicht durchsetzen. Damit ist das Erfordernis, die Vernehmung abzubrechen, nicht lediglich eine Folge des fair triaiGebots, sondern zwingende Konsequenz des nemo tenetur-Grundsatzes. 72 Zu dieser weiten Auslegung auch Roxin, NStZ 95, S. 466.

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

- etwa, daß man auf Fragen zu antworten hat - keine Geltung beanspruchen73 • Erfaßt der Beschuldigte Thema und Relevanzbereich der bestehenden Vernehmungssituation nur unzureichend, kann von freier Willensentschließung und eigenverantwortlicher Selbstbelastung kaum gesprochen werden74 • Nur am Rande sei deshalb bereits hier darauf hingewiesen, daß allein aus diesem Grund die Behauptung des BGH, "wer sich einer Privatperson gegenüber äußert, kann über die Freiwilligkeit dieses Tuns nicht im Zweifel sein ( •.• )" 75 , nur dann richtig sein kann, wenn die Privatperson nicht bewußt von den Strafverfolgungsbehörden eingesetzt worden ist, um unter Umgehung der sonst erforderlichen fOrmliehen Vernehmung den Beschuldigten auszuhorchen. Wenn man der Annahme Roxins16, den §§ 136 ff. StPO liege erkennbar das Bild der "offenen Vernehmung" zugrunde, zustimmt, so heißt dies auch, daß sich der Gesetzgeber eindeutig dafilr ausgesprochen hat, auf Aussagen des Beschuldigten nur im Rahmen der§§ 136 ff. StPO und nicht in verdeckten Vernehmungen hinzuwirken. Der Beschuldigte wird sich in aller Regel immer noch besser und freier verteidigen können, wenn er sich zwar zu einer Aussage verpflichtet sieht, aber zumindest weiß, daß eine auf Erlangung von Beweismaterial gerichtete Vernehmung vorliegt, als wenn er davon ausgeht, sich außerhalb eines Strafverfahrens gegenüber einer Privatperson frei zu äußern. Soweit die Polizeibeamten den Beschuldigten selbst verdeckt vernehmen, kommt es zudem durch die erhöhte Glaubwürdigkeit der Beamten bei Vernehmung in der Hauptverhandlung zu einer zusätzlichen Schwächung der Verteidigungsposition des Beschuldigten. Im Gegensatz zu Aussagen, die beispielsweise von Zeugen aus dem Täterumfeld abgegeben werden, ist die Aussage eines verdeckt befragenden Beamten aufgrund der fehlenden oder geringeren persönlichen Verflechtungen mit dem Täter durch eine gesteigerte Beweiskraft ausgezeichnet. Sieht man allein die Abwehr finaler Zwangsausübung, d. h. die unmittelbare oder mittelbare Ausübung von Druck, als kennzeichnend filr die Schutzrichtung des nemo tenetur-Prinzips an77, ist schwer nachvollziehbar, warum von den Verfechtern dieses Standpunktes die Belehrungspflicht als Ausfluß des Verbots zur Selbstbelastung angesehen wird78• In Fällen, in denen sich der Vernehmungsbeamte während der Vernehmung jeglichen Drucks enthält und dem BeVgl. auch Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 56. So auch Glatze/, StV 82, S. 286; der auf den häufigen Dissens zwischen Einlassungen eines Beschuldigten bei Erstvernehmung und der nicht selten abschwächenden Einlassung in der Hauptverhandlung verweist, den er auf einen Lemprozeß zwischen Erstvernehmung und Folgeeinlassung zurückfUhrt. 75 BGHSt 39, 347. 76 Wie FN 72. 77 Vgl. u. a. Dingeldey, JA 84, S. 408; Kühl, JUS 86, S. 117; SK-Roga/1, vor§ 133 StPO, RN 139m. w. N. 78 Vgl. Dingeldey, JA 84, S. 408; Roga/1, Der Beschuldigte, S. 187. 73

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§ 7 Das Informationsrecht der§§ 136 I S. I, 163a IV StPO

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schuldigten auch keinerlei Rechtsnachteile filr den Fall der Aussageverweigerung in Aussicht stellt, wäre dann eine Belehrung völlig überflüssig, da der nemo tenetur-Grundsatz aufgrund fehlenden Zwangs nicht berührt sein könnte79. Anerkennt man hingegen die wichtige Aufgabe der Beschuldigtenbelehrung, den notwendigen formellen Rahmen filr eine effektive Entfaltung der Aussagefreiheit des Beschuldigten zu schaffen, dann ist es schließlich eine Selbstverständlichkeit, daß diese Belehrung nicht nur bei einem Wechsel des Verfahrensstadiums oder Vernehmungsorgans, sondern vor jeder Vernehmung des Beschuldigten erfolgen muß80. Der Beschuldigte bedarf in jeder Vernehmungssituation erneut der Distanz, die bei ordnungsgemäßer Belehrung geschaffen wird, um selbstbestimmt über die Ausübung seines Aussageverweigerungsrechts entscheiden zu können. Der Wortlaut von § 136 I S. 1 StPO - "erste Vernehmung" - mag zwar ein anderes Ergebnis nahelegen, da die Belehrungsvorschriften jedoch nur eine unzureichende Konkretisierung einer sich aus dem nemo tenetur-Grundsatz unmittelbar ergebenden Pflicht sind, kann allein durch Wortlauterwägungen diese Konsequenz nicht in Abrede gestellt werden. Sie müßte selbst von den Vertretern gezogen werden, die den Sinn der Beschuldigtenbelehrung darin sehen, den Beschuldigten vor der irrtümlichen Annahme einer Aussagepflicht zu schützen. Verweigert der Beschuldigte in der ersten Vernehmung die Aussage und versucht die Polizei erneut, ihn zu vernehmen, so kann beim Beschuldigten leicht der Eindruck entstehen, es werde so lange versucht, eine Aussage von ihm zu erhalten, bis er sich zur Sache eingelassen hat. Ganz entgegen einer weitverbreiteten Auffassung81 wird dieser Irrtum um so mehr gefi>rdert, um so eher sich die äußeren Umstände der Vernehmungssituation gleichen.

§ 7 Das Informationsrecht der §§ 136 I S. 1, 163a IV StPO Vor Beginn der ersten richterlichen Vernehmung muß dem Beschuldigten gern. § 136 I S.l StPO mitgeteilt werden, welche Tat ihm zur Last gelegt wird Vgl. auch Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 57. Vgl. auch Bauer, Die Aussage, S. 133 ff. m. w. N. und Eb. Schmidt, LK II (Nachtrag), § 136 StPO, RN 6. Inkonsequent aber die Rückausnahme Bauers, ein Verwertungsverbot entfalle bei Folgevernehmungen, wenn der Beschuldigte sein Schweigerecht bereits positiv kenne (a.a.O., S. 177). A. A. die wohl h. A. die eine Belehrung in aller Regel nur bei einem Wechsel des Vernehmungsorgans- z.B. Vernehmung durch Polizei und anschließend durch die Staatsanwaltschaft - oder einer Erweiterung des Tatvorwurfs ftlr erforderlich hält, vgl. u. a. KK-Boujong, § 136 StPO, RN 5 und Wache, § 163a StPO, RN 25; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136 StPO, RN I; LR-Hanack, § 136 StPO, RN 9a und Rieß, § 163a StPO, RN 78 m. jeweils w. N. Zuletzt offen gelassen von BGH NStZ 97, 297. 81 So Bauer, Die Aussage, S. 137 m. w. N. 79

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und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Für die polizeiliche Vernehmung wird diese Hinweispflicht durch § 163a IV dahingehend eingeschränkt, daß keine Pflicht zur Bezeichnung der in Frage kommenden Strafnormen besteht. Soweit diese beschränkte Aufklärungspflicht damit begründet wird, daß den Polizeibeamten die zu einer Subsumtion erforderlichen Rechtskenntnisse fehlen 82, kann dies trotzder eindeutigen gesetzlichen Regelung nur teilweise überzeugen. Das sich aus den§§ 136 I S.1, 163a IV StPO ergebende Informationsrecht steht, was häufig nicht klar genug erkannt wird, in engem Zusammenhang mit dem Schutz vor ungewollter Selbstbezichtigung83 . Bereits oben wurde beispielhaft aufgezeigt, welche wichtige Aufgabe die Eröffuungspflicht der §§ 136 I S. 1, 163a IV StPO fiir eine sinnvolle Ausübung des Aussageverweigerungsrechts des Beschuldigten besitzt. Nur bei ausreichendem Wissen über den Tatvorwurf und dessen rechtliche Konsequenzen kann der Beschuldigte eigenverantwortlich entscheiden, ob er von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen soll. In den gesetzgeberischen Motiven zu § 123 I - der in diesem Punkt § 136 I StPO n. F. entspricht- ist diese Verknüpfung noch klar erkennbar. Die Einfiihrung der Eröffimgspflicht bezweckte ausweislich der Motive eine bewußte Abkehr von inquisitorischen Überrumpelungsmethoden und verfolgte das Ziel, die Anerkennung des nemo tenetur- Grundsatzes "deutlich zum Ausdruck" zu bringen84• Wie sich auch aus Zeitpunkt und Umfang der Eröffuung ergibt, dient diese nicht vorrangig der Gewährung rechtlichen Gehörs oder effektiver Verteidigung, sondern ist vor allem als zwingende Konsequenz des nemo tenetur-Grundsatzes zu begreifen. Nur so kann erklärt werden, daß dem Beschuldigten bereits vor Belehrung über das ihm zustehende Recht der Aussageverweigerung der wesentliche Inhalt der Bezichtigung, die gegen ihn erhoben wird, bekanntzugeben ist85 . Sieht man die Gewährung rechtlichen Gehörs oder effektiver Verteidigung als Hauptzweck von § 136 I S.1 StPO, so fallt einem die Begründung schwer, warum dem Beschuldigten nicht auch alle belastenden Umstände mitzuteilen sind86 und warum er nicht darüber zu informieren ist, welchen Beweiswert der Vernehmende einzelnen Tatsachen beimißt Ebenso wie durch die Versagung der Akteneinsicht nach § 147 II StPO wird durch 82 H. A. vgl. Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 163 a StPO, RN 4; KK-Wache, § 163a StPO, RN 25 m. w. N.; abl. Fincke, ZStW 95 (1983), S. 956 ff. ; Gund/ach, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 42; LR-Rieß, § 163a StPO, RN 79. 83 Vgl. auch Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, S. 138 f. 84 Hahn, Motive, I. Abtheilung, S. 704. 85 Eh. Schmidt, JZ 68, S. 365; LR-Hanack, § 136 StPO, RN 15 f. 86 Obwohl nach § 136 II StPO dem Beschuldigten Gelegenheit gegeben werden soll, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen, kann daraus keine Pflicht der Strafverfolgungsbehörden zur vollständigen Offenlegung des bisherigen Ermittlungsergebnisses geschlossen werden, vgl. dazu auch BVerfG NStZ 84, 228.

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die verweigerte Mitteilung dieser Umstände, die Verteidigungsmöglichkeit des Beschuldigten im Vergleich zum Hauptverfahren deutlich eingeschränkt. Die Aussagefreiheit ist dabei jedoch, abgesehen von Fällen der Täuschung über belastende Umstände, nicht berührt, denn die mangelnde Kenntnis belastender Beweismittel fiihrt nicht dazu, daß eine Aussage unfrei erfolgt ist. Ausgehend vom Zweck des § 136 I S.l StPO wird eine Beeinträchtigung der Aussagfreiheit nur dann in Betracht kommen, wenn die beschränkte Mitteilung belastenden Beweismaterials nicht dazu dient, die Zerstörung oder Beeinträchtigung von Beweismaterial durch den Beschuldigten zu verhindern, sondern dazu millbraucht wird, ein Geständnis des Beschuldigten zu erlangen. Die einseitige Sichtweise, der Hinweis sei erforderlich, um dem Beschuldigten Gelegenheit zu geben, die gegen ihn sprechenden Verdachtsgründe zu beseitigen87, begründet die Gefahr einer unter ermittlungstaktischen Gesichtspunkten am erfolgversprechendsten, sukzessiven Vorgehensweise des Vernehmungsbeamten88. Rechtliches Gehör zu allen Punkten des Tatvorwurfs wird dem Beschuldigten auch dann gewährt, wenn er erst im Verlauf der Vernehmung über die einzelnen Punkte des Tatverdachts informiert wird und dazu Stellung nehmen kann89 . Auch unter dem Gesichtspunkt effektiver Verteidigung kann es fiir den Beschuldigten günstiger sein, nur eingeschränkt informiert zu werden, da der Unschuldige sich meist um so glaubwürdiger verteidigt, je weniger er weill90 . Insbesondere wenn man, wie es hier geschieht, zwingend einen Vernehmungsabbruch nach erklärter Aussageverweigerung fordert, kann der Hauptzweck der Eröffnung nur darin gesehen werden, einen ausreichenden Wissenstand beim Beschuldigten sicherzustellen, damit dieser eine eigenverantwortliche Entscheidung über sein weiteres Prozeßverhalten treffen kann. Dieser Zweck der Eröffnungspflicht kann nur verwirklicht werden, wenn dem Beschuldigten bereits zu Beginn der Vernehmung der vollständige Tatvorwurf sowie diejenigen Beweistatsachen mitgeteilt werden, die ihm ohne Gefährdung 87 So Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136 StPO, RN 13. 88 So spricht etwa das OLG Köln MDR 72, S. 966, davon, daß § 136a StPO nicht ein

vernehmungspsychologisch geschicktes Vorgehen verbiete, das darauf angelegt sei, den Beschuldigten zu ihm nachteiligen Äußerungen zu veranlassen. Deshalb müsse der Vernehmende nicht bereits zu Beginn der Vernehmung "alle Karten aufdecken" (zustimmend KK-Boujong, § l36a StPO, RN 20m. w. N.). Für§ 136a StPO mag dies zutreffend sein, nicht jedoch bei Berücksichtigung der Aussagefreiheit des Beschuldigten. 89 Teilweise wird gar behauptet, ein Ermittlungsverfahren könne ohne jede Information des Beschuldigten durchgefilhrt werden, vgl. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 223. 90 Zutreffend Fincke, ZStW 95 (1983), S. 957. Walder, Die Vernehmung, S. 119, widersetzt sich deshalb einer vollständigen Eröffnung des Tatvorwurfs. Andernfalls wäre es unmöglich, das Geständnis des Beschuldigten zu überprüfen. 10 Bosch

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des weiteren Ermittlungsverfahrens offenbart werden können91 • Nur so läßt sich vermeiden, daß der Beschuldigte im Laufe der Vernehmung durch eine zielgerichtete (Teil)-Information seitens der Polizeibeamten zu falschen Schlußfolgerungen und damit zu einer ungewollten Selbstbelastung verleitet wird. Dadurch wird eine effektive kriminalistische Arbeit keineswegs über die Maßen beeinträchtigt, denn wie noch auszufilhren sein wird, soll eine Vernehmung dem Beschuldigten vorrangig rechtliches Gehör gewähren und es ist nicht deren Zweck, den Vernommenen durch eine geschickte Befragungstechnik in seinem eigenen "Lügengebäude zu vestricken'.n. Es ist ferner auch völlig gleichgültig, ob der Beschuldigte bereits anderweitig über den gegen ihn bestehenden Tatverdacht informiert wurde. Ähnlich wie die Vornahme der Beschuldigtenbelehrung hat auch die Eröffnung des Tatvorwurfs die Aufgabe, den fiir eine freie Entscheidung über das künftige Prozeßverhalten notwendigen formellen Rahmen zu schaffen. Neben der Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht verdeutlicht die Eröffnung des Tatvorwurfs dem Beschuldigten seine prozessuale Stellung und schaffi das erforderliche Bewußtsein filr die Besonderheiten der Gesprächssituation. Mit dieser Verknüpfung von Aussagefreiheit und Eröffnung des Tatvorwurfs sind weitere, bisher nicht verwirklichte Anforderungen verbunden. So gebietet ein effektiver Schutz der Aussagefreiheit, daß dem Beschuldigten bei Vernehmung zu mehreren Taten bereits vor Vernehmung zur ersten Tat der gesamte beabsichtigte Vernehmungsgegenstand eröffnet wird. Es genügt nicht, wenn ihm die weiteren Taten erst bei Vernehmung zu diesen eröffnet werden93 , denn die Entscheidung, ob es fiir den Beschuldigten sinnvoll ist zu schweigen, kann in hohem Maße davon abhängen, welcher Gesamtvorwurf gegen ihn erhoben wird. Werden dem Beschuldigten beispielsweise mehrere, nicht durch den strafprozessualen Tatbegriff verknüpfte Deliktsbegehungen vorgeworfen94 und weiß der Beschuldigte, daß ihm einzelne Taten mit Sicherheit nachgewiesen 9 1 A. A. im Einklang mit der h. A. Dencker, StV 94, S. 676 m. w. N. Sofern Dencker zur Begründung seiner Auffassung auf§ 244 I StPO und damit die Vernehmung in der Hauptverhandlung verweist, muß ihm widersprochen werden. Andernfalls würden strukturelle Defizite der Hauptverhandlung als Argument fiir einen eingeschränkten Schutz der Aussagefreiheit im Ermittlungsverfahren angeführt. Dabei geht es auch nicht um eine "Garantie der Entkräftung" (so aber die Kritik Denckers, a. a. 0.), sondern lediglich um eine effektive Kontrolle polizeilicher Vernehmungstätigkeit 92 I. d. S. aber Walder, Die Vernehmung, S. 140. Die von Hilland, Das Beweisgewinnungsverbot, S. 117, vorgeschlagene Einzelfallprüfung dürfte dagegen weitgehend leerlaufen, denn Hilland nennt keine praktikablen Kriterien zur Abgrenzung" ( ... ) zwischen zulässiger kriminalistischer Befragung und gezieltem Hervorrufen eines Irrtums." 93 Anders die h. A., vgl. KK-Boujong, § 136 StPO, RN 8; LR-Hanack, § 136 StPO, RN 18m. w. N. 94 Bei einheitlicher Tat i. S. v. § 264 I StPO, muß dem Beschuldigten auch nach h. A. der gesamte Lebensvorgang in seinen Grundzügen mitgeteilt werden. Vgl. dazu das eindrucksvolle Beispiel bei Peters, § 41 D III 2.), S. 341.

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werden können, so wird sein Aussageverhalten wesentlich durch den Umfang des Tatvorwurfs bestimmt sein. Aufgrund der vergleichbaren Interessenlage kann auch die fehlende Mitteilung der möglicherweise durch die Tat verletzten Straftatbestände in polizeilicher Vernehmung nicht uneingeschränkt hingenommen werden. Das Verteidigungsverhalten des Beschuldigten bei Vorwurf eines einfachen Diebstahls, der bei Ersttätern in aller Regel mit einer Geldstrafe geahndet wird, kann völlig anders ausfallen, wenn er erkennen muß, daß dieselbe Tat auch als Raub eingestuft werden könnte95 • Wegen der häufig schwierigen Grenzziehung zwischen einzelnen Straftatbestimmungen kann zwar keine detaillierte Belehrung über Einzelheiten der Strafvorschriften von den vernehmenden Beamten erwartet werden. Der Schutz der Aussagefreiheit gebietet jedoch eine grobe Mitteilung der in Betracht kommenden Tatbestände oder zumindest in zweifelhaften Fällen einen Hinweis darauf, daß die Tat auch unter anderen, noch nicht abschließend zu beurteilenden rechtlichen Gesichtspunkten relevant sein kann96• Wird diese modifizierte Pflicht zur Eröffnung des Tatvorwurfs verletzt, so muß wegen des aufgezeigten engen Zusammenhangs zur Aussagefreiheit des Beschuldigten dessen Aussage auch unterhalb der Schwelle des § 136a StPO unverwertbar sein97. Eine exakte Mitteilung der strafrechtlichen Einstufung der Tat kann dagegen nicht gefordert werden. Das durch eine vollständige Mitteilungspflicht ausgelöste Risiko einer dem Beschuldigten schadenden Fehlinformation ist insofern höher zu bewerten als dessen sicherlich berechtigtes Interesse, möglichst umfassend über die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen informiert zu werden. So kann ein nicht der wirklichen Rechtslage entsprechender Hinweis auf eine eventuelle Freiheitsstrafe den Beschuldigten zu einem Geständnis veranlassen, das er in Kenntnis der wahren Sachlage nicht abgegeben hätte. Kommt die Ermittlungsbehörde den oben dargelegten Anforderungen nach, so spricht auch nichts dagegen, daß Informationen des Beschuldigten zu bisher noch unentdeckten Straftaten verwertet werden. Der Vernehmungsbeamte ist insofern nicht verpflichtet, den Beschuldigten zu unterbrechen, um ihn erneut über seine rechtliche Situation zu belehren98 . Der Beschuldigte, der Tatsachen zu Strafta95 Vgl. das Beispiel bei Gundlach, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 43 . Wenig überzeugend aber die Argumentation Gundlachs, eine Mitteilung der Strafvorschriften sei notwendig, damit der Beschuldigte sich über das drohende Strafmaß informieren könne (S. 42). Findet die Vernehmung nicht in Beisein eines Verteidigers statt, so ist der Beschuldigte auch in Hinblick auf die möglichen Rechtsfolgen der Tat auf eine Informierung durch die Strafverfolgungsbehörden angewiesen. 96 Vgl. LR-Hanack, § 136 StPO, RN 20; KK-Boujong, § 136 StPO, RN 20 f. 97 Anders die wohl h. A., vgl. u. a. SK-Rogall, § 136 StPO, RN 57 m. w. N. und LRHanack, § 136 StPO, RN 73, nach dessen Auffassung ein Verstoß gegen die Eröffnungspflicht - abgesehen von einer absichtlichen Verschleierung des Tatvorwurfs - im Gesamtvorgang der Vernehmung keine wesentliche Bedeutung erlange. 98 So aber die Forderung von Gundlach, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 44.

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ten offenbart, die nicht den Gegenstand der Vernehmung betreffen, hat, indem er davon ausgeht, daß diese auch filr seine gegenwärtige Vernehmung relevant sein könnten, lediglich unzutreffend subswniert, und dies muß seinem eigenen Risikobereich zugerechnet werden.

§ 8 Strukturelle Defizite des Vernehmungsablaufs und ihr Einfluß auf die Aussagefreiheit I. Pflicht zur Angabe der Personalien und der persönlichen Verhältnisse

Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 243 II S. 2, IV S.l StPO ist der Angeklagte zunächst über seine persönlichen Verhältnisse zu vernehmen und erst anschließend darauf hinzuweisen, daß es ihm freisteht zur Sache auszusagen99 • Um der Gefahr zu begegnen, ein Strafverfahren gegen den Falschen zu filhren, soll vorab im Rahmen der Vernehmung zu den persönlichen Verhältnissen die Identität des Beschuldigten überprüft werden. Außerdem wird die Vernehmung des Angeklagten zur Person dazu benutzt, noch bestehende Zweifel am Vorliegen der von Amts wegen festzustellenden Prozeßvoraussetzungen - insbesondere der Verhandlungsfahigkeit des Angeklagten 100 - zu klären. Nach Belehrung erfolgt anschließend die Vernehmung zur Sache, d. h. zur Gesamtheit der Tatumstände, die fiir die Beurteilung der Schuld- oder Straffrage von Bedeutung sind. Da nach allgemeiner Auffassung der Begriff der persönlichen Verhältnisse aber nicht nur Identitätsangaben, sondern alle auf die Persönlichkeit des Angeklagten bezogenen Umstände zusammenfaßt, die ein wnfassendes Bild von der Person des Angeklagten vermitteln 101 , ermöglicht er keine klare Trennung zwischen den beiden in § 243 StPO festgelegten Vernehmungsabschnitten. Insbesondere das Maß der persönlichen Schuld, die Strafempfmdlichkeit des Täters und die sonstigen strafzumessungsrelevanten Tatsachen können ohne Berücksichtigung der bereits im ersten Vernehmungsabschnitt erlangten Persönlichkeitsmerkmalenicht beurteilt werden 102• Da der Begriff der Verhandlungsfiihigkeit die Befiihigung des Angeklagten beinhaltet, seine Interessen in der Verhandlung vernünftig wahrzunehmen, wird sich auch diese Prozeßvoraussetzung häufig nicht klären lassen, ohne daß bereits vor Belehrung und Vernehmung zur 99 Ein vergleichbares Problem tritt natürlich auch bei der Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren auf. 100 Vgl. Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 243 StPO, RN II; LR-Gollwitzer, § 243 StPO, RN 37m. w. N. 101 Vgl. u. a. BGH bei Dallinger MDR 75, 368; LR-Gollwitzer, § 243 StPO, RN 38 m. w. N. und den "Katalog" bei Roschmann, Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 81 f. 102 Vgl. BGH NStZ 81, 300; StV 83, 22.

§ 8 Strukturelle Defizite des Vernehmungsablaufs

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Sache der Gegenstand des Verfahrens angesprochen wird. Ähnlich wie bei der Feststellung subjektiver Tatbestandsmerkmale verursachen die aufgezeigten praktischen Feststellungsnotwendigkeiten und -Schwierigkeiten eine Gefährdung der Aussagefreiheit des Beschuldigten. Daraus ergibt sich die sehr umstrittene Frage, ob der Beschuldigte auch dann zu einer Aussage über seine persönlichen Verhältnisse verpflichtet ist, wenn sie zugleich Gesichtspunkte der Strafzumessung oder Schuldfeststellung berührt und damit eigentlich der Vernehmung zur Sache vorbehalten bleiben sollte. Wie die Vielzahl dazu ergangener Entscheidungen zeigt103 , werden im Rahmen der Vernehmung zur Person häufig strafzumessungsrelevante, d. h. selbstbelastende Angaben des Beschuldigten erlangt und im Urteil verwertet, obwohl der Beschuldigte nach Belehrung Angaben zur Sache verweigert. Hingenommen werden kann diese Praxis nur dann, wenn der Beschuldigte zu seinen Personalien uneingeschränkt auskunftspflichtig ist. In diesem Sinne wird z.T. die Auffassung vertreten, der Beschuldigte sei in dem durch § 111 OWiG vorgezeichneten Rahmen auch bei Gefahr der Selbstbelastung zu Angaben zur Person verpflichtet104. Auf den ersten Blick läßt sich diese uneingeschränkte Auskunftspflicht des Beschuldigten zur Person auf die systematische Erwägung stützen, daß die Belehrungspflicht der §§ 136 I S. 2, 243 IV S. 1 StPO ausdrücklich nur die Vernehmung zur Sache erfaßt. Daraus könnte geschlossen werden, daß bis auf die Angabe der durch § 243 IV S. 4 StPO explizit ausgeklammerten Vorstrafen eine Aussage zu den persönlichen Verhältnissen nicht verweigert werden darf. Diese Argumentation verkennt jedoch den rechtlichen Gehalt der Belehrungsvorschriften, die zwar eine zwingende Folge, nicht jedoch eine abschließende Regelung des nemo tenetur-Grundsatzes sind. Darüber hinaus begründet § 111 OWiG keine spezifisch strafrechtliche Aussagepflicht, sondern dient nur der Ahndung einer anderweitig vorausgesetzten Handlungspflicht 105 • In § 111 OWiG fehlt eine nähere Bestimmung des Zwecks, fiir den die Angabe der aufgezählten persönlichen Daten verlangt werden kann. Die Vorschrift genügt deshalb dem Bestimmtheitserfordernis nur dann, falls das Merkmal der "Zuständigkeit" des Amtsträgers so interpretiert wird, daß eine Ahndung der Verweigerung der Personalangaben die Rechtmäßigkeit des Auskunftsverlan-

103 Vgl. u. a. BGHSt 21, 334 ff. (364); 25, 13 und 328; MDR bei Da/linger 75, 368; GA 77, 366; StV 86, 287; BayObLGSt 79, 16 ff.; 83, 153; MDR 71, 775; NJW 79, 1054; StV 81, 12; OLG Harnburg MDR 76, 601; OLG Stuttgart NJW 75, 703; MDR 87, 521; OLG DüsseldorfNJW 70, 1889; OLG Oldenburg, NJW 71,2237. 104 So BayObLGSt 71, 44; BGH bei Dallinger MDR 75, 368; Göhler, § III OWiG, RN 17m. w. N.; Krey, Strafverfahrensrecht I, RN 787. Vgl. auch die Nachweise bei Seebode, JA 80, S. 498 in FN 8. 105 Casiringius, Schweigen und Leugnen, S. 55 (noch zu § 360 I Ziff. 8 StGB a. F.); Rieß, JA 80, S. 294; Seebode, MDR 70, S. 189 und FN 51 m. w. N.; a. A. noch RGSt 17, 224 ff.; 72, 30.

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gens nach anderen Vorschriften voraussetzt 106• Soweit außerstrafprozessuale Normen eine solche Verpflichtung begründen könnten, müssen sie wegen des klaren Widerspruchs zur Regelung des § 136 I S.2 StPO auf die Fälle beschränkt werden, in denen sich der Verpflichtete nicht selbst belasten muß 107 . Die Begründung mit bewehrten, gesetzlichen Auskunftspflichten außerhalb der StPO, überzeugt vor allem deshalb nicht, weil der Regelungsgehalt dieser Vorschriften nicht auf die besondere strafprozessuale Situation einer Beschuldigtenvernehmung übertragbar ist. Anderenfalls würde ein verfassungsrechtlich verankertes Recht des Beschuldigten aus der einfachgesetzlichen Ausgestaltung abgeleitet. Der Blick auf vergleichbare, repressiv-polizeilichen Befugnisnormen zur Feststellung der Identität zeigt stattdessen, daß der Betroffene kraft seiner verfahrensrechtlichen Stellung lediglich zur Duldung der Identifizierung verpflichtet ist, ihm jedoch keine korrespondierende Handlungspflicht auferlegt werden darf 08 • Der Gesetzgeber mag bei Änderung der Strafprozeßordnung durch das StPÄG der entgegengesetzten Auffassung nahegestanden haben und von einer Aussagepflicht zur Person ausgegangen sein 109• Diese Feststellung ist aber fiir die Erörterung der Grenzen bestehender Auskunftspflichten weitgehend unergiebig, zumindest wenn man ein Aussageverweigerungsrecht als zwingendes Gebot der Verfassung ansieht. Aufgrund der oben aufgezeigten Bedenken setzt sich immer mehr die vermittelnde Auffassung durch, daß die Vernehmung zu den persönlichen Verhältnis106 Vgl. BVerfG StV 96, 144 f. m. w. N. auch zur hier nicht interessierenden Frage, ob § !II OWiG lediglich die formelle oder weitergehend auch die materielle Rechtmäßigkeit der Diensthandlung voraussetzt. Da die Aufforderung zur Angabe der genannten Daten nach zutreffender Ansicht des BVerfG in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreift, kann unter Berücksichtigung des Bestimmtheitsgrundsatzes § 111 OWiG lediglich als Verweisungsnorm und nicht als selbständige Regelung einer Auskunftspflicht interpretiert werden. 107 Deshalb sind auch alle Ansätze abzulehnen, die lediglich im Einzelfall prüfen wollen, ob eine Ordnungswidrigkeit nach § lll OWiG wegen Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens entfallt. So aber Roxin, Strafverfahrensrecht, § 25, RN 8. 108 Vgl. §§ 8lb, 127, l63b StPO. Auch § 1 des Gesetzes über Personalausweise begründet lediglich die Pflicht, auf Verlangen den Personalausweis vorzulegen, nicht jedoch, ihn mitzufUhren. Im übrigen können die Daten, die sich dem Personalausweis entnehmen lassen, keine selbstbelastende Wirkung besitzen, so daß der Auffassung Rogalls, Der Beschuldigte, S. 177, nicht zugestimmt werden kann, daß den Beschuldigten wie bei § 95 StPO keine Editionspflicht trifft, wenn dieser zur Vorlage seines Personalausweises aufgefordert wird. 109 Vgl. BT-Drucksache IV I 178, S. 32 zur EinfUhrung der Beschuldigtenbelehrung: "An der Pflicht des Beschuldigten, die erforderlichen Angaben zur Person zu machen, ändert der Entwurf nichts." Andererseits findet sich in der Begründung des Entwurfs zur Umwandlung von § 360 I Nr. 8 StGB in eine Ordnungswidrigkeit der Hinweis, daß dadurch die Frage, ob der Beschuldigte zu Personalienangaben verpflichtet ist, nicht entschieden werden soll (vgl. BR-Drucksache l I 72, S. 338). Zur Diskussion bei EinfUgung von§ 163b StPO vgl. Seebode, JA 80, S. 294m. w. N.

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sen ohne Belehrung zulässig ist, soweit sie lediglich der Feststellung der IdentiHit oder der Klärung der Verhandlungs- und V erteidigungs&higkeit des Beschuldigten dient 110. Wenn aber im Einzelfall bei Preisgabe persönlicher Daten ein Bezug zum vorgeworfenen Sachverhalt nicht ausgeschlossen werden kann oder die Angaben fUr die Rechtsfolgenfestsetzung von Bedeutung sind, so darf der Beschuldigte Auskünfte auch zu diesen Punkten verweigern. Falls der Beschuldigte dennoch bereits vor Belehrung Angaben zur Sache macht, dürfen diese zumindest dann nicht verwertet werden, wenn er hernach die Einlassung zur Sache verweigert. Da nach § 46 II StGB im Rahmen der Strafzumessung auch die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten, d. h. die Entwicklung der Täterpersönlichkeit auf der einen und dessen wirtschaftliche Lage zum Tatzeitpunkt auf der anderen Seite, zu berücksichtigen sind111 , ist trotz dieser Einschränkung die Gefahr sehr groß, daß bereits bei Vernehmung zur Person mittelbar Auskünfte zur Sache erlangt werden. Der Vernehmende müßte bellseherische Fähigkeiten haben, wollte er beurteilen, ob sich bestimmte Angaben des Beschuldigten gegebenenfalls im Rahmen der Strafzumessung zu Lasten des Beschuldigten auswirken können. Außerdem hängt auch in anderen Fällen das Recht, die Aussage zu verweigern, nicht davon ab, ob sich die Angaben im Einzelfall tatsächlich selbstbelastend auswirken können. Kann der Beschuldigte lediglich teilweise die Aussage zu seinen persönlichen Verhältnissen verweigern, so bedingt die zwangsläufig entstehende Lückenhaftigkeit der Aussage einen mittelbaren Zwang zur Selbstbelastung 112• Im übrigen sind abgesehen von Name und Adresse des Beschuldigten kaum selbstbelastungsneutrale Persönlichkeitsmerkmale denkbar. Selbst die berufliche Stellung des Angeklagten kann im Einzelfall strafschärfend oder -begründend wirken, wenn sie gerade fiir das verletzte Rechtsgut erhöhte Pflichten begründet 113 oder bei Fahrlässigkeitsdelikten zur Bestimmung des Sorgfaltsmaßstabes herangezogen wird. Vereinzelt wird deshalb sogar geraten, bei der Vernehmung zur Person Fragen zur beruflichen Tätigkeit zu stellen, um das Intelligenzniveau und die Erfahrungen des Beschuldigten zu erforschen 114 • Ebenso kann sich auch die Staatsangehörigkeit von Ausländern hinsichtlich verschiedener Straftatbestände des AuslG oder im Zusammenspiel mit zusätzlichen Faktoren bei der Strafzumessung ungünstig 110 U. a. BayObLGSt 80, 79 f.; Dähn, JA 79, S. 581; Dencker, MDR 75, S. 365; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 3, S. 30, RN 12; LR-Gollwitzer, § 243 StPO, RN 39; Ranft, Strafprozeßrecht, S. 68; Rieß, JA 80, S. 299; Roga/1, Der Beschuldigte, S. 178; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 25, RN 5, 8; Schlüchter, Strafprozeßrecht, S. 47; Wesse/s, JUS 66, S. 176; filr ein umfassendes Schweigerecht u. a. Rüping, Das Strafverfahren, S. 35, RN 101; Wolter, GA 85, S. 84 jeweils m. w. N. 111 V gl. BGH NJW 76, 2220; StV 84, 192. 112 Eser, ZStW 79 (1967), S. 576. 113 Dazu Dreher I Tröndle, § 46 StGB, RN 25b m. umfangreichen N. zur Rechtsprechung. 114 Vgl. etwa Wa/der, Die Vernehmung, S. 121 f.

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auswirken 115• Diese feinen Differenzierungen werden dem Beschuldigten in aller Regel jedoch nicht bewußt sein. Da den Belehrungsvorschriften aber die Wertentscheidung zugrunde liegt, aus dem Verstehensdefizit des Beschuldigten keinerlei Vorteile zu ziehen, kann die konsequente Absicherung von Beschuldigtenrechten nur bedeuten, daß der Beschuldigte lediglich zur Namens- und Wohnortangabe verpflichtet und darauf bereits vor Vernehmungsbeginn hinzuweisen ist, ohne daß dies jedoch die eigentliche Belehrung überflüssig machen würde 116• Prozessual erzwungen werden kann die Aussage zur Person in vielen Fällen ohnehin nicht 117, und die Bestrafung als Ordnungswidrigkeit wird einen zum Schweigen entschlossenen Beschuldigten wohl kaum zur Aussage bewegen können. Eine Auffassung, die bei Vernehmung zu den persönlichen Verhältnissen dagegen lediglich ein partielles, auf einer Einzelfallprüfung basierendes Weigerungsrecht gewährt, führt zu einer unangemessenen und rechtsstaatlich bedenklichen Bevorzugung des gerichtserfahrenen Beschuldigten. Für ein nahezu umfassendes Weigerungsrecht des Beschuldigten sprechen zudem psychologische Erwägungen. Einerseits führt die Vernehmung zu den persönlichen Verhältnissen oft zu einem ungünstigen Bild des Beschuldigten und kann dadurch die Unvoreingenommenheit des Richters geflihrden 118 • Auf der anderen Seite flillt es dem Angeklagten insbesondere in der Situation der richterlichen Vernehmung in der Hauptverhandlung wesentlich schwerer, nach Erörterung der persönlichen Verhältnisse die einmal begonnene "Kommunikation" mit dem Richter abzubrechen, als wenn er bereits von Beginn an die Möglichkeit hat, diese vollständig zu verweigern. Dabei muß auch die gängige Vernehmungspraxis vieler Richter mitbedacht werden, die nach Vernehmung zu den persönlichen Verhältnissen und Verlesung des Anklagesatzes unmittelbar zur Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht übergehen, so daß filr den Angeklagten keine deutliche Zäsur erkennbar ist, die ihm seine veränderte Pflichtenstellung bei der Vernehmung zur Sache tatsächlich verdeutlichen könnte. Dies gilt natürlich in besonderem Maße auch filr die Situation der poli115 Vgl. BGH bei Da/linger MDR 75, 195; NStZ 82, 112; NStZ 93, 337. Zum Ganzen vgl. Dreher I Tröndle, § 46 StGB, RN 25a. 116 Im älteren Schrifttum wurde dagegen aufgrund eines erst-recht-Schlusses häufig vertreten, daß das Aussageverweigerungsrecht auch auf die Angabe von Namen und Wohnort erstreckt werden muß,"( ...) denn u. U. kann das Zugeständnis der Identität einer Selbstverurtheilung gleichkommen" (Glaser, Handbuch des Strafprozesses I, S. 628). Vgl. auch v. Hippe!, Der deutsche Strafprozess, S. 423 mit FN 2 und Seebode, MDR 70, S. 85, mit umfangreichen Nachweisen in FN 3. Im neueren Schrifttum vertreten von Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, S. 152, FN 37; Dingeldey, JA 84, S. 412; Seebode, JA 80, S. 495; Eb. Schmidt, NJW 68, S. 1215, FN 57; Rüping, Das Strafverfahren, S. 35, RN 101 . 117 Vgl. Seebode, MDR 70, S. 186m. w. N. 118 So auch die Anhänger eines informellen Schuldinterlokuts, vgl. die Nachweise bei Schlüchter, Das Strafverfahren, RN 461 mit FN 160.

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zeilichen Vernehmung, bei der darüber hinaus häufig bereits bei der fonnularmäßigen Erhebung der Personaldaten weitergehende Angaben des Beschuldigten erfragt werden, und in der von den Polizeibeamten auch kaum erwartet werden kann, daß zwischen den beiden Vernehmungsabschnitten klar getrennt wird 119 . Trotz der hier vorgeschlagenen Beschränkung soll nicht verkannt werden, daß eine, insbesondere zur Straffestsetzung notwendige, dem spezialpräventiven Zweck von Strafe und Strafverfahren entsprechende Erforschung der Täterpersönlichkeit ohne Vernehmung und Mitwirkung des Beschuldigten kaum bewerkstelligt werden kann. Ohne daß sich dies angesichts der thematischen Begrenzung dieser Arbeit vertiefen läßt, soll in diesem Zusammenhang doch darauf hingewiesen werden, daß die vielfach geforderte Zweiteilung der Hauptverhandlung in eine gesonderte Erhebung zur Schuld- und Straffrage 120 einen gewissen Beitrag zur Entschärfung der Problematik leisten könnte 121 . Wenn die Schuldfrage bereits festgestellt ist und nur noch über die Straffrage und hier insbesondere über die Strafhöhe verhandelt wird, dürfte der Angeklagte auch ohne Beeinflussung durch die Strafverfolgungsbehörden viel eher bereit sein, seine persönlichen Lebensverhältnisse zu offenbaren. So entspricht es einer weitverbreiteten Auffassung, daß das Schweigen fUr den Angeklagten vor allem auch deshalb eine geflihrliche Verteidigungsstrategie ist, weil er sich so der Möglichkeit begibt, durch Darstellung der nur ihm bekannten persönlichen Konfliktlage Verständnis fUr sein Verhalten zu wecken 122 • Werden die aufgezeigten strukturellen Defizite der Vernehmung in der Hauptverhandlung beseitigt, so wird der Angeklagte aufgrund des geringeren Selbstbelastungsrisikos von sich aus an der Festeilung der genannten Persönlichkeitsmerkmale mitwirken. II. Definitorische Unbestimmtheit des Beschuldigtenbegriffs

Der Schutz der Aussagefreiheit wird erheblich durch die verfahrensrechtlich vorgegebene Rolle der betreffenden Aussageperson beeinflußt. Insbesondere

119 Stattdessen wird in der polizeilichen Vernehmungsliteratur betont, wie wichtig die Phase der Vernehmung zu den persönlichen Verhältnisse fiir "die Kontaktgewinnung und zum Abbau von Hemmungen ist" (Schubert, Die Vernehmung im Ermittlungsverfahren, S. 148; vgl. auch Walder, Die Vernehmung, S. 120, der betont, daß sich durch die Vernehmung zur Person ein "guter Kontakt" zum Beschuldigten herstellen läßt.). 120 Vgl. dazu Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung, S. 448 ff., und die Nachweise bei Roxin, Strafverfahrensrecht, § 42, RN 60 ff. 121 Vgl. auch Dahs, NJW 70, S. 1705 ff., der zutreffend auch auf den Konflikt des Strafverteidigers hinweist. 122 In diesem Sinne etwa Stree, JZ 66, S. 596.

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der strafprozessual vorgesehene Umfang der Aussagefreiheit hängt wesentlich davon ab, ob ein Verdächtiger den Status eines Beschuldigten erlangt hat. Die Stellung des Beschuldigten ist im Gegensatz zu der des verdächtigen Zeugen, dessen Verpflichtung zur Aussage nur nach Maßgabe der §§ 52 ff. StPO begrenzt ist, durch ein Fehlen jeglicher Aussagepflicht gekennzeichnet. Um sich effektiv verteidigen zu können, ist es darüber hinaus ftlr den Betroffenen von erheblicher Bedeutung, möglichst frühzeitig von dem gegen ihn bestehenden Verdacht zu erfahren, um noch wirksam Einfluß auf den Ausgang des Verfahrens nehmen zu können. Durch die ständige Erweiterung staatsanwaltschaftlieber Ermittlungsbefugnisse und die kontinuierlich fortschreitende Vorverlagerung des Ermittlungsschwerpunktes sind wohl eine Vielzahl aller in der Hauptverhandlung getroffenen Entscheidungen durch die Beweiserhebung im Ermittlungsverfahren so vorgeprägt, daß eine grundlegend abweichende Sachverhaltsfestellung eher die Ausnahme sein dürfte 123 • Dennoch ist es verfrüht, aus dieser unterschiedlichen Ausgestaltung der Aussagepflicht von Zeugen und Beschuldigten zu schließen, daß auch die Frage der Verwertbarkeit einer unfreiwillig erfolgten Aussage von der Qualifizierung der Aussageperson als Beschuldigter abhängig gemacht werden kann. Die im folgenden aufzuzeigenden Abgrenzungsschwierigkeiten bei der Bestimmung der im deutschen Strafprozeß unvereinbaren Rollen von Beschuldigtem und Zeugen 124 lassen es in Grenzbereichen aussichtslos erscheinen, trennscharfe Kriterien fiir den Zeitpunkt der BegrUndung der Beschuldigteneigenschaft zu entwikkeln. Aufgrund dieser Defmitionsschwächen kann kaum verhindert werden, daß die Strafverfolgungsbehörden durch Vorenthaltung der Beschuldigtenstellung den Schutz der Aussagefreiheit unterlaufenm. Den Vernehmungsorganen- und hier insbesondere der Polizei im Ermittlungsverfahren - verbleibt infolge dieser Abgrenzungsschwierigkeiten ein erheblicher Defmitionsspielraum ftlr die Frage, ab wann sie zu einer die Hinweispflichten nach § 136 I S. 2 auslösenden Beschuldigtenvernehmung übergehen. Wenn im folgenden die unterschiedlichen in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Positionen zur Begründung der Beschuldigteneigenschaft dargestellt werden 126, so geschieht dies allein deshalb, um deutlich zu machen, daß, gleichgültig welcher Auffassung man folgt, Lükken im Schutz der Aussagefreiheit verbleiben, die nur auf anderem Wege geschlossen werden können.

Zu dieser Entwicklung vgl. Fezer, FS tur Schröder, S. 412 ff. und oben Teil I,§ 3. Vgl. nur RGSt 6, 280; BGHSt 10, 10; BGH NJW 64, 1034. 125 Vgl. auch BGHSt 38, 227. 126 Ausfilhrlich Arzt, Kriminalistik 70, S. 379 ff.; Fincke, ZStW 95 (1983), S. 918 ff.; von Ger/ach, NJW 1969, S. 776 ff.; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1177 m. w. N. 123

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I. Materielle oder formelle Beschuldigtentheorie- ein Gegensatz?

Aus § 157 StPO geht lediglich mittelbar hervor, daß Beschuldigter im engeren Sinne eine Person ist, gegen die ermittelt wird, ohne daß diese bereits die Stellung eines Angeschuldigten oder Angeklagten innehat. Der StPO läßt sich hingegen nicht entnehmen, wann jemand beginnt, Beschuldigter zu sein. Bei Schaffung der StPO wurde bewußt auf eine Legaldefinition des Beschuldigtenbegriffs verzichtet, da der Versuch, "die Kategorie des ,Beschuldigten' nach einem bestimmten Anfangsmoment abzugrenzen, in dieser Ausfiihrung ( ... ) verfehlt und an sich kaum ( ...) ausfiihrbar" sei und sich der Zeitpunkt des Entstehens der Beschuldigteneigenschaft "im Sinne der Strafprozeßordnung ( ...)überhaupt einer allgemein durchgreifenden Feststellung entziehe 127." Eine nähere Konkretisierung des Beschuldigtenbegriffs ist deshalb der Rechtsprechung und dem Schrifttum überlassen worden, die zur Präzisierung zwei unterschiedliche, sich jedoch zunehmend annähernde Grundpositionen entwickelt haben. So wird im Rahmen der materiellen Theorie versucht, einer mißbräuchlichen Umgehung von Beschuldigtenrechten dadurch entgegenzuwirken, daß fiir die Begründung der Beschuldigteneigenschaft nicht ein Akt des ermittelnden Strafverfolgungsorgans, sondern allein der Stand der Ermittlungen entscheidend sein soll 128 • Dabei wird entweder auf den Standpunkt eines objektiven Betrachters in der jeweiligen Verfahrenssituation 129 oder auf die Sicht des ermittelnden Strafverfolgungsorgans abgestellt und gefragt, ob sich zwingende und vom Strafverfolgungsorgan zur Kenntnis genommene Anhaltspunkte ergeben, die nach § 152 II StPO ein Einschreiten fiir geboten erscheinen lassen 130• Die Gegenposition der formellen oder subjektiven Theorie lehnt einen von selbst Erwerb des Beschuldigtenstatus bei entsprechendem Anfangsverdacht ab und geht davon aus, daß die Beschuldigteneigenschaft "Produkt eines Zuschreibungsprozesses131" ist und als Prozeßhandlung lediglich durch einen Willensoder lnkulpationsakt der Strafverfolgungsbehörde begründet werden kann 132 . 127 Hahn, Motive, 2. Abtheilung, S. 2180. Vgl. auch Gundlach, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 6, zum ursprünglichen Entwurf einer Legaldefinition des Beschuldigtenbegriffs in § 119a. 128 Einen weiten, materiell zu bestimmenden Beschuldigtenbegriff vertreten u. a.; Peters, Strafprozeß, S. 200 f.; einschränkend Prittwitz, Der Mitbeschuldigte, S. 41, 103 f.; 153 ff. m. w. N.; vgl. auch Montenbruck, ZStW 89 (1977), S. 880 ff. 129 Objektiver Beschuldigtenbegriff, vertreten von Geerds, GA 65, 327 f.; v. Ger/ach, NJW 69, S. 779 f. 130 So die in FN 128 Genannten. 131 Jung, Straffreiheit für den Kronzeugen, S. 74. 132 So der zwischenzeitlich wohl überholte Standpunkt der Rechtsprechung seit RGSt 32, 73 f.; BGHSt 10, II f.; 34, 140; 37, 48. Auch Ausgangspunkt der formellmateriellen Betrachtungsweise, vgl. nur Lenckner, FS für Peters, S. 340; Moos, FS für

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Ein entsprechender Willensakt liegt dann vor, wenn das ermittelnde Strafverfolgungsorgan das Verfahren gegen den Betroffenen "als Beschuldigten betreibt". Der Gefahr einer Umgehung von Beschuldigtenrechten bei ausschließlich subjektiver Betrachtung versucht die Rechtsprechung durch eine Willkürüberprüfung zu begegnen. Ergibt diese, daß die Rollenzuweisung ermessensmißbräuchlich ist, d.h. auf sachfremden Erwägungen beruht, so soll sie unbeachtlich und nicht geeignet sein, dem Betroffenen seinen "materiellen" Beschuldigtenstatus vorzuenthalten 133 • Die Strafverfolgungsbehörden überschreiten nach dieser Auffassung erst dann die Grenzen des ihnen eingeräumten Ermessensspielraums - beispielsweise durch Unterlassen der gemäß § 136 I S. 2 StPO erforderlichen Belehrung - wenn sich der bei Beginn einer Vernehmung bestehende Verdacht so verdichtet hat, daß die vernommene Person ernstlich als Täter einer Straftat in Betracht kommt134 • Die Bezeichnung des nach subjektiver Betrachtungsweise zur Begründung der Beschuldigteneigenschaft erforderlichen Willensaktes als Ermessensentscheidung ist ungenau 135 • Ermessen kann nur auf Rechtsfolgenseite bestehen, wenn der handelnden Behörde die Wahl zwischen mehreren rechtmäßigen Rechtsfolgeentscheidungen verbleibt. Die Beurteilung, ob ein Betroffener Beschuldigter ist, erfolgt dagegen auf Tatbestandsebene und zieht auf Rechtsfolgenseite zwingende Konsequenzen nach sich. Auf Tatbestandsebene kann lediglich bei Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, die mit einer bestimmten Prognose oder Wertung künftiger Entwicklungen verbunden sind, ein nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum bestehen 136 • Die Strafverfolgungsbehörde ist nach dem Legalitätsprinzip (§§ 152 I, 160 StPO) zwar verpflichtet denjenigen zu verfolgen, fiir dessen Tatbeteiligung und Verfolgbarkeit zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen 137, sie trifft dabei aber ein Jescheck, S. 753. Weitere Nachweise bei Lesch, JA 95, S. !58 in FN II und Prittwitz, Der Mitbeschuldigte, S. 41 in FN 68. Zum älteren Schrifttum vgl. die Nachweise bei Bauer, Die Aussage, S. 17 ff. 133 BGHSt 10, 12; 37, 51; so auch Beulke, StV 90, S. 181 m. w. N. Sieht man den Willensakt als alleinige Grundlage der Rollenzuweisung, so ist diese materiellorientierte Rückausnahme widersprüchlich und nicht geeignet, die durch eine subjektive Betrachtungsweise ausgelöste Rechtsunsicherheit zu beseitigen (vgl. dazu Rogall, Der Beschuldigte, S. 26 und ders., MDR 77, S. 978; NStZ 97, S. 400). 134 Vgl. u. a. BGHSt 37, 51 f. ; OLG Karlsruhe MDR 94, 501; OLG Oldenburg StV 95, 179. 135 BGHSt 10, 12; zutreffend dagegen Fincke, ZStW 95 (1983), S. 935; LR-Hanack, § 136 StPO, RN 4 mit FN II; Ranft, Strafprozeßrecht, S. 62; vgl. auch OLG München NStZ 85, 549. 136 So auch dieneuere Rechtsprechung vgl. BGHSt 37, 51 ; 38, 228; NJW 94, 2907; StV 95, 283 . Zur Lehre vom Beurteilungsspielraum und zu dessen Fallgruppen vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7, RN 31 ff. m. umfangreichen N. 137 BVerfG (Vorprüfungsausschuß) NStZ 82, 430; a. A. Gundlach, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 24 ff.

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rein tatsächlich nur eingeschränkt überprüfbares Wahrscheinlichkeitsurteil 138 . So wird sich beispielsweise bei einem Polizeibeamten, der aufgrund einer nicht näher konkretisierten Anzeige gegen ein bestimmtes Unternehmen wegen Gewässerverunreinigung ermittelt, der eine Inkulpationspflicht auslösende, personenbezogene Tatverdacht oft erst schrittweise während der Vernehmung der Betriebsangehörigen ergeben. Sofern nicht einer der Vernommenen ausdrücklich erklärt, wer fiir den entsprechenden Betriebsvorgang verantwortlich ist, kann nachträglich kaum nachvollzogen werden, ab welchem Zeitpunkt sich die Indizienlage gegen eine bestimmte Person so verdichtet hat, daß der Betroffene von dem ermittelnden Beamten als Beschuldigter behandelt werden muß. Diese Schwierigkeiten, die auch durch die Figur des objektiven Beobachters allenfalls hypothetisch zu beheben sind 139, rechtfertigen es, dem Ermittlungsorgan einen gewissen Beurteilungsspielraum zuzugestehen, der erst bei sachfremden oder willkürlichen Erwägungen überschritten ist 140. Insbesondere in Befragungssituationen wird auch ein "unbefangener Beobachter" nicht ohne vom Willen des Vernehmenden abhängige Indizien - etwa die Länge des Gesprächs und die Detailliertheit der gestellten Fragen - feststellen können, wann dieser zu einer Beschuldigtenvernehmung übergangen ist. Der Begriff des Verdachts beinhaltet notwendigerweise ein gewisses Maß an Subjektivität, denn er hängt wesentlich davon ab, welche Bedeutung der Urteilende aufgrund seines höchstpersönlichen Erfahrungsschatzes bestimmten Indizien zur Feststellung der Täterschaft des Betroffenen beimißt Gerade in Grenzflillen, in denen dieses Urteil nicht von jedem beliebigen Dritten geteilt würde, existiert kein objektiver Beobachter, der aber fiir eine ausschließlich materielle Betrachtung unabdingbar ist. Rein faktisch ist der Tatverdächtige damit tatsächlich auf das "rechtsstaatliche Fingerspitzengefilhl141" des Ermittlungsbeamten angewiesen, der jedoch rollenbedingt nur in seltenen Fällen einen den Beschuldigten schützenden Standpunkt beziehen wird. Die Grenzen des gegebenen Beurteilungsspielraums dürfen jedoch nicht von der Schwere des konkreten Tatvorwurfs abhängig gemacht werden. Der BGH 138 Vgl. auch Kuh/mann, NStZ 83, S. 130 f.; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 152 StPO, RN 4. 139 Die Figur des objektiven Betrachters mag etwa bei Prüfung eines objektiven Sorgfaltspflichtverstoßes hilfreich sein. Dies läßt sich jedoch entgegen Gundlach, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 32 f., nicht ohne weiteres auf die Feststellung der Beschuldigteneigenschaft übertragen, da insbesondere bei der Frage, wann jemand als Beschuldigter vernommen wird, vergleichbare objektive Anhaltspunkte nicht vorhanden sind. 140 Wie vom OLG München NStZ 85, 550, zutreffend erkannt, kann nur durch einen gewissen Beurteilungsspielraum der Position des Beamten, der sich im Spannungsfeld zwischen § 258a StGB einerseits und §§ 344, 164 StGB andererseits befindet, ausreichend Rechnung getragen werden. 141 So Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, S. 150.

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scheint dieser Auffassung aber nahezustehen. Er hat in einer Fallkonstellation, in der es zweifelhaft war, ob die vernehmenden Polizeibeamten den ihnen zustehenden Beurteilungsspielraum nicht bereits Oberschritten und deshalb den Beschuldigten möglicherweise zu spät Ober seine Rechte nach § 136 StPO belehrt hatten, das Unterlassen der Beschuldigtenbelehrung mit der Schwere des Tatvorwurfs gerechtfertigt. Der BGH hat darauf hingewiesen, daß vor Beantwortung der Frage, wann die Polizei von der Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung Obergehen muß, "gerade bei dem besonders schweren Vorwurf' eines Tötungsdelikts "eine sehr sorgfaltige Abwägung" geboten sei 142 • Diesem einschränkenden Hinweis des BGH mag die einseitige Erwägung zugrunde gelegen haben, daß die belastende und sozial diffamierende Wirkung des Inkulpationsaktes auf einen unschuldig in ein Strafverfahren verwickelten BUrger bei Kapitalverbrechen schwerer wiegen kann als bei Bagatelldelikten. Zudem ist die Stellung des Beschuldigten im Gegensatz zu der des Zeugen nicht nur mit einem besonderen Schutz, etwa dem Fehlen jeglicher Aussagepflicht ausgestattet, sondern der Beschuldigte unterliegt auch einer Reihe von Eingriffsmaßnahmen, die der Zeuge nicht zu dulden hat. Der Status des Beschuldigten besitzt damit nicht nur eine Schutz-, sondern zugleich eine eingriffslegitimierende Funktion, die es als wenig sinnvoll erscheinen läßt, einseitig filr eine Ausdehnung des Beschuldigtenbegriffs einzutreten. Dennoch kann kein Zweifel bestehen, daß gerade bei schweren Delikten Informations- und Verteidigungsrechte des Betroffenen nicht dadurch unterlaufen werden dUrfen, daß der Zeitpunkt der formellen Beschuldigtenvernehmung im Interesse einer gesicherten Beweislage oder Überzeugung des Ermittelnden hinausgezögert wird. Eine solche Abwägung verbietet sich bereits deshalb, weil zwischen den GrUnden, die filr und gegen eine frühe oder späte Inkulpation sprechen, ein "Patt" besteht 143, so daß es nicht gerechtfertigt werden kann, einem dieser Interessen einseitig den Vorzug einzuräumen.

2. Gesetzesanalogie zu§ 397 I AO In der neueren Rechtsprechung zeichnet sich eine noch weitergehende Annäherung an die wohl Oberwiegend vertretene formell-materiellrechtliche Betrachtungsweise ab, die zwar grundsätzlich an der konstitutiven Bedeutung eines zweckorientierten Verfolgungsaktes festhält, jedoch glaubt, einen entsprechenden (verobjektivierten) Willen der Strafverfolgungsbehörden an bestimmten

142 BGHSt 37, 52. Laut Sachverhalt wurde der später wegen Mordes verurteilte Angeklagte über fünf Stunden vernommen, obwohl die Polizei wegen der besonderen Umstände bei Auffinden des Tatopfers bereits vor Vernehmungsbeginn von einem Tötungsdelikt ausgegangen ist. 143 So überzeugend Fincke, ZStW 95 (1983).

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Maßnahmen festmachen zu können 144. Diese "faktischen Verfolgungshandlungen145" werden unter Heranziehung des Rechtsgedankens von § 397 I AO dadurch charakterisiert, daß die Strafverfolgungsbehörde eine Maßnahme trifft, die, wie § 397 I AO verlangt, erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden wegen einer Tat strafrechtlich vorzugehen. Dafiir bedarf es jedoch keiner, in anderen Rechtsordnungen vorgesehenen, formalisierten Fixierung des Inkulpationsaktes146. Analog zur Regelung des § 397 I AO ist nicht entscheidend, ob der Beamte ein entsprechendes Bewußtsein hat, sondern lediglich erforderlich, daß ihr strafverfolgender Charakter nach außen erkennbar ise 47. Worin der Gewinn der Gesetzesanalogie zu § 397 I AO bestehen soll, bleibt aber gerade in den hier interessierenden Fällen der Abgrenzung von Zeugenund Beschuldigtenvernehmungen offen. Im Steuerstrafverfahren wird die Erkennbarkeit gern. § 397 li AO durch Aktenvermerk hergestellt 148. In anderen Strafverfahren kann die durch § 397 I AO vorausgesetzte Zielrichtung nur dann objektiv "erkennbar" bestimmt werden, wenn es sich um Maßnahmen handelt, die eindeutig nur gegen einen Beschuldigten ergehen können, beispielsweise die Anordnung einer körperlichen Untersuchung nach § 81a StPO, die vorläufige Festnahme nach § 127 StPO oder die Aufuahme von Ermittlungen gegen eine bestimmte Person aufgrund einer Strafanzeige. Bei vielen Maßnahmen läßt sich die strafverfolgende Zielrichtung jedoch lediglich dann erkennen, wenn außerhalb der Maßnahme liegende Umstände hinzutreten, die eine klare Zuordnung ennöglichen. So ist beispielsweise die Vernehmung durch Polizeibeamte eine Maßnahme, die sich ohne Rückgriff auf die äußeren Umstände der Vernehmungssituation erst dann als Zeugen- oder Beschuldigtenvernehmung qualifizieren läßt, wenn der Vernehmende dazu übergeht, den Vernommenen entsprechend seiner prozessualen Stellung zu belehren 149. Ob diese Belehrung 144 V gl. BGHSt 38, 228: Kombination objektiver und subjektiver Merkmale, die auch der Vorschrift des§ 397 I AO zugrunde liegt; ebenso BGH NStZ 97, S. 398 f. Eine an § 397 I AO orientierte, d. h. materiell-objektive Betrachtungsweise entspricht der wohl heute h. M. Vgl. die Nachweise bei SK-Roga/l, vor§ 133 StPO, RN 33 und ders., NStZ 97, S. 399 f.; Lesch, JA 95, S. 158, FN 20; Rüping, Das StrafVerfahren, S. 32, RN 92. 145 So Moos, FS fiir Jescheck, S. 754. 146 Dagegen auch Fincke, ZStW 95 (1983), S. 946 f.; Geppert, FS fiir Oeh/er, S. 327 m. w. N. zur abweichenden A. in FN 18. 147 Allgemeine Auffassung, vgl. u. a. Hirnsei in Koch I Scholtz, Abgabenordnung, § 397 AO, RN 3; Kühn-Kotter, Abgabenordnung, § 397 AO, RN 2 m. w. N. 148 Ein vergleichbarer formeller Akt außerhalb des Steuerstrafverfahrens würde zu keinem verbesserten Schutz des Beschuldigten filhren, vgl. dazu bereits Herrmann, ZStW 89 (1977), S. 742. 149 Der Verfolgungswille ist natürlich auch dann eindeutig erkennbar, wenn wie in BGH StV 85, 397 f. die Staatsanwaltschaft verfugt, eine Person "als Beschuldigten" zu vernehmen. Dieses Ergebnis läßt sich unproblematisch auch bei rein formeller Betrachtungsweise begründen und ist entgegen SK-Roga/l, vor§ 133 StPO, RN 33, kein Hinweis auf eine Annäherung des BGH an eine formell-materielle Sichtweise.

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"statusentsprechend" erfolgt ist, läßt sich aber nur feststellen, wenn man die Position eines objektiven Beobachters oder eines "ermessensgerecht" handelnden Polizeibeamten einninunt und fragt, ob aus dessen Sicht "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" vorliegen, die den Vernehmenden hätten veranlassen müssen, den Betroffenen als Beschuldigten zu vernehmen 150. Wie wenig der Rückgriff auf§ 397 I AO zu leisten vermag, wird daran deutlich, daß auch eine mißbräuchliche Vernehmung des Inkulpaten eine Manifestation des Verfolgungswillens sein soll 151 • Die Qualifizierung einer getarnten Verfolgungsmaßnahme am Maßstab des § 397 I AO müßte aber ohne Berücksichtigung objektiver, außerhalb der Maßnahme liegender Umstände zu dem gegenteiligen Schluß fUhren, daß das Strafverfolgungsorgan den Betroffenen gerade nicht als Beschuldigten vernehmen will. Eine Korrektur dieser offensichtlich unerwünschten Konsequenz läßt sich lediglich damit begründen, daß dem Betroffenen rechtsmißbräuchlich ein entsprechender Status vorenthalten wird. Die Notwendigkeit dieser Berichtigung und der damit verbundene Rückgriff auf Kriterien, die einer Überprüfung verwaltungsrechtlicher Beurteilungsspielräume nahekonunt, kann es kaum rechtfertigen, davon zu sprechen, eine an§ 397 I AO orientierte Betrachtungsweise sei mit einem Mehr an Rechtssicherheit verbundeni52. Gegen eine Analogie zu § 397 I AO spricht auch die mangelnde Vergleichbarkeit der jeweils betroffenen Sachverhalte. § 397 I AO hat die Besonderheit des Besteuerungsverfahrens vor Augen und legt im Interesse einer sonst kaum zu gewährleistenden Transparenz den Übergang vom Besteuerungs- in ein von derselben Behörde, meist sogar von demselben Sachbearbeiter, fortgefiihrtes Steuerstrafverfahren durch den Vermerk nach§ 397 II AO fest 153 • Die Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden dient dagegen von Beginn an strafrechtlichen Zwecken und erwächst nicht aus einem vorausgehenden Verwaltungsverfahren. Maßnahmen wie die Vernehmung des Steuerpflichtigen mögen im Bereich des Steuerrechts aufgrunddes angesprochenen Wechsels des Verfahrenszwecks eine eindeutige Zuordnung erkennen lassen 154• Im allgemeinen Strafverfahren liefert der Rechtsgedanke des § 397 I AO jedoch lediglich fiir einen Teilbereich In dieser Richtung die Prüfung des BGH in BGHSt 37, 51 f. Vgl. SK-Roga/1, vor§ 133 StPO, RN 32; Fincke, ZStW 95 (1983), S. 936. 152 So aber die überwiegende Auffassung, vgl. SK-Roga/1, vor§ 133 StPO, RN 32 f. 153 Zu den mit der Doppelstellung der Steuerfahndung verbundenen Problemen bei Belehrung des Steuerpflichtigen über sein strafprozessuales Aussageverweigerungsrecht, vgl. auch Kohlmann, FS fiir Tipke, S. 500 ff. m. w. N. 154 Lediglich ergänzend sei darauf hingewiesen, daß auch im Steuerstrafrecht umstritten ist, ob und inwieweit Vorermittlungen (d. h. informatorische Maßnahmen zur Verdachtsprüfung) als Einleitungsmaßnahmen zu qualifizieren sind. Vgl. dazu und im Folgenden Koch I Scholtz, Abgabenordnung, § 397 AO, RN 7 m. w. N. Ebensowenig werden "Vorfeldermittlungen" als Einleitung eines Strafverfahrens angesehen (vgl. dazu auch unten Teil III, § 12 I). 150 151

§ 9 Einfluß des Vernehmungszwecks

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möglicher Strafverfolgungsmaßnahmen eine klare Zuordnung, während in den übrigen Fällen den Strafverfolgungsbehörden der bereits angesprochene, nur eingeschränkt überprüfbare Beurteilungsspielraum verbleibt. Der Streit um die richtige Sichtweise dürfte damit eher dogmatischer Natur sein, denn zumindest bzgl. des Beginns der Beschuldigteneigenschaft kommen bei extensiver Auslegung der von der älteren Rechtsprechung propagierten Mißbrauchsklausel die verschiedenen Theorien weitgehend zu gleichen Ergebnissen, ohne daß jedoch mit ihrer Hilfe, die erhebliche Beweisproblematik überwunden werden kann. Dieses Ergebnis zwingt zu kompensatorischen Maßnahmen, wobei sich ein Ausgleich des beschriebenen strukturellen Defizits - dies sei hier bereits vorweggenommen - wohl nur rückwirkend, durch Anerkennung eines selbständigen Beweisverwertungsverbots erreichen läßt.

§ 9 Einfluß des Vernehmungszwecks auflohalt und Grenzen des nemo tenetur-Prinzips I. Zweck der Beschuldigtenvernehmung- Gewährung rechtlichen Gehörs

Der in § 136 II StPO festgelegte Zweck der Beschuldigtenvernehmung wurde bisher außer acht gelassen, obwohl sich auch dieser Vorschrift wichtige Leitlinien fiir die Bestimmung der Grenzen der Aussagfreiheit des Beschuldigten entnehmen lassen. Besteht Klarheit über den Zweck einer Beschuldigtenvernehmung, so erleichtert dies sowohl die Defmition des Vernehmungsbegriffs als auch die Festlegung der erforderlichen Rahmenbedingungen fiir eine Vernehmung i. S. d § 136 StPO. Zudem läßt sich an den Erörterungen zu § 136 li StPO aufzeigen, daß vieles, was in der gegenwärtigen Diskussion um die Aussagefreiheit des Beschuldigten und deren Grenzen als rechtsstaatliche Errungenschaft gepriesen wird, schon vor Einfugung des § 136a StPO im Rahmen einer allein an § 136 li StPO orientierten Auslegung eine Selbstverständlichkeit zu sein schien. Dabei soll nicht der täuschende Eindruck einer linearen Entwicklung erweckt werden 155 • Wesentlich wichtiger ist die Erkenntnis, daß mit Einführung des § 136a StPO eine neue Gewichtung des Zwecks einer Beschuldigtenvernehmung und damit auch der Grenzen der Aussagefreiheit des Betroffenen eingetreten ist. Diese hat allerdings in vielen Punkten zu einem Verlust des Bewußtseins um die Subjektsstellung des Beschuldigten in Vernehmungen gefiihrt156.

So aber wohl Grünwald, StV 87, S. 453 ff. Sehr deutlich etwa Walder, Die Vernehmung, S. 65: "Welchen Sinn hätten die u. a. dem Vernehmenden auferlegten Beschränkungen, wenn die Befragung des Beschuldigten nur der Verteidigung zu dienen hätten?". Stattdessen gibt es auf die Frage 155

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II Bosch

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

Die folgenden Erörterungen brauchen nicht auf alle in § 136a StPO genannten Vernehmungsmethoden einzugehen; es genügt in diesem Zusammenhang, wenn an einigen Beispielen aufgezeigt wird, daß mit dem Blickwechsel von § 136 II zu§ 136a StPO auch eine veränderte, restriktivere Sichtweise der Aussagefreiheitdes Beschuldigten verbunden gewesen ist. § 136a StPO wird in diesem Sinne gegenwärtig nicht als Beschränkung staatlicher Ermittlungstätigkeit, sondern eher als Befugnisnorm interpretiert, die im einzelnen vorgibt, was den Strafverfolgungsbehörden im Interesse der Wahrheitsfmdung noch gestattet werden kann. Diese Entwicklung beschränkt sich aber nicht lediglich auf die ursprünglich von§ 136 II StPO erfaßten Ermittlungsmethoden, sondern setzt sich auch bei der Auslegung korrespondierender Vernehmungsvorschriften fort, die damit zur Einbruchstelle fUr eine abgemilderte Form des Inqusitionsverfahrens umfunktionalisiert werden. In diesem Punkt scheint eine Rückbesinnung auf das historische Verständnis von Funktion und Wesen der Beschuldigtenvernehmung tatsächlich gewinnbringend zu sein. In den Motiven zu§ 123 I StPO a. F. kommt der Zusammenhang zwischen Vernehmungszweck und Aussagefreiheit des Beschuldigten viel klarer als in der gegenwärtigen Funktionsbestimmung zum Ausdruck 157• So heißt es in den Motiven: "Wenn sich der Richter bei der Vernehmung" deren Zweck "vergegenwärtige", "dem Beschuldigten Gelegenheit zur Rechtfertigung und Beseitigung der gegen ihn sprechenden Verdachtsgründe" zu geben, so werde der Richter "ausfiihrliche Vorschriften über die Einzelheiten des Verfahrens ( ...) zUglieh entbehren können, andererseits aber auch dem berechtigten Anspruch des Beschuldigten auf Schutz gegen ungehörige Zurnutbungen genug gethan sein." 158 Die Gefahren, "welche aus der Beibehaltung des früher üblichen Verhörs leicht entspringen können" 159, wurden deutlich erkannt, man glaubte jedoch auf eine Vernehmung des Beschuldigten nicht völlig verzichten zu können. Stattdessen wurde versucht, durch die Fassung von§ 123 li StPO a. F. die bewußte Abkehr von jeglicher inquisitorischen Befragung des Beschuldigten zum Ausdruck zu bringen 160 • Nach der klaren gesetzgeberischen Intention sollte Zweck der Ver-

Walders, was der Vernehmende unternehmen dürfe, um den Beschuldigten "zum Sprechen zu bringen" (vgl. a. a. 0. S. 133) überspitzt formuliert nur eine Antwort: "Nichts!". 157 Die in der endgültigen Gesetzesfassung in Absatz II verwiesene Regelung des § 123 I StPO a. F. stimmt im wesentlichen mit§ 136 II StPO überein. 158 Hahn, Motive, I. Abtheilung, S. 139. 159 Hahn, Motive, 2. Abtheilung, S. 1531 f. 160 Vgl. dazu auch Rieß, Reichsjustizamt, S. 416. Interessant der Verweis auf den Entwurf zur Strafprozeßordnung von 1919, der bei Aussageverweigerung in der Hauptverhandlung ein Beweisverbot filr frühere Aussagen vorschlug, um eine absolute Absicherung der Aussagefreiheit des Beschuldigten zu gewährleisten (vgl. Rieß a. a. 0., S. 417). Unter dem Blickwinkel eines endgültigen Bruchs mit jeder Form des inquisitorischen Verhörs ein konsequentes Reformanliegen. Im Gegensatz zu dieser Rechtsposi-

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nehmung nicht ein Geständnis des Beschuldigten, sondern die Gewährung rechtlichen Gehörs sein. Daß daneben die Vernehmung zugleich ein Mittel der Sachautklärung ist, wurde auch vom historischen Gesetzgeber nicht verkannt 161 • Man ging davon aus, daß eine völlige Untersagung der Vernehmung des Beschuldigten nicht "dem Bedürfuisse der Praxis" entspreche. "Die Erzählung des Angeschuldigten" liefere bekanntlich in vielen Fällen den Stoff zu Umfang und Richtung der Beweisaufnahme, und es könne nicht geleugnet werden, daß einem glaubhaften Geständnis häufig ein bedeutenderes Gewicht als anderen Beweismitteln beigemessen werden muß 162 • Wenn damit als mittelbare Funktion der Vernehmung die Wahrheitsermittlung nicht in Frage gestellt wurde, so sollte dennoch die Art der Vernehmung allein durch die in§ 136 II StPO festgelegte Richtlinie bestimmt sein 163 • Es geht demnach bei Klärung des in § 136 II StPO verankerten Zwecks der Beschuldigtenvernehmung weniger um die Frage, ob diese "auch" der Wahrheitsermittlung dient. Sie muß es, denn andernfalls würde der Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör lediglich bedeuten, daß diesem die Möglichkeit zur Stellungnahme eröffnet wird, ohne daß das Gericht die Aussage jedoch bei der Urteilsfmdung zu berücksichtigen braucht164 • Es wäre auch völlig unrealistisch, von den im Ermittlungsverfahren tätigen Strafverfolgungsbeamten einen Vernehmungsstil zu erwarten, der sich ausschließlich daran ausrichtet, Äußerungen des Beschuldigten entgegenzunehmen. Nur sollte diese rein faktische und wohl kaum zu ändernde polizeiliche Praxis nicht mit dem Zweck und der Legitimation einer polizeilichen Vernehmung des Beschuldigten verwechselt werden 165 . Nun könnte natürlich behauptet werden, diese Unterscheidung sei sowieso lediglich theoretischer Natur, denn was bringt das Postulat eines ausschließlich am Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör orientierten Vernehmungszwecks, wenn dieser in der polizeilichen Vernehmung sowieso tion muß die gegenwärtige Absicherung des Schweigerechts als eindeutiger Rückschritt gewertet werden. 161 A. A. wohl Degener, GA 92, S. 456 ff., der die folgenden Passagen in den Motiven zur StPO jedoch unberücksichtigt läßt. 162 Vgl. Hahn, Motive, 2. Abtheilung, S. 1531. 163 Noch weitgehender Niese, ZStW 63 (1951), S. 219 in FN 21. Nach seiner Auffassung ergibt sich aus der Regelung des § 136 II StPO die allgemeine Rechtsansicht, daß den Beschuldigten die Herausgabepflicht des § 95 StPO nicht trifft. 164 Deshalb ist es wenig überzeugend, wenn eine Beweiserhebung als Zweck der Vernehmung völlig abgelehnt wird (so Degener, GA 92, S. 462; ähnlich bereits Prittwitz, Der Mitbeschuldigte, S. 221 ff.). Selbst eine Vernehmung, die dem Beschuldigten ausschließlich die Möglichkeit der Entlastung bietet, dient damit zugleich der Wahrheitsfindung. Zumindest bleibt Degener eine Begründung dafiir schuldig, warum in der Vernehmung gewonnenes, belastendes Beweismaterial gegen den Beschuldigten verwendet werden darf. 165 Vgl. dazu bereits Prittwitz, Der Mitbeschuldigte, S. 219 f. m. w. N. II*

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nicht beachtet wird? Entscheidend ist aber, daß die durch § 136 II StPO klar zum Ausdruck gebrachte Intention des Gesetzgebers, in der gegenwärtigen Diskussion des strafprozessualen Schrifttums weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Dadurch wurde der Weg geöffuet filr eine restriktivere Interpretation der Vernehmungsvorschriften, die dem Schutz des Beschuldigten und dem Ausgleich der wohl kaum zu ändernden polizeilichen Vernehmungspraxis dienen sollten. Seine Ursache hat diese Entwicklung sicherlich auch in dem Umstand, daß ein Geständnis des Beschuldigten nicht nur die bequemste, sondern zugleich die das Gewissen beruhigendste Form aller Beweismittel ist 166 • Welcher Richter wird selbst bei noch so sicherer Beweislage nicht von Zweifeln geplagt, wenn er den schweigenden oder leugnenden Angeklagten allein aufgrund von Indizien verurteilen muß? Diese psychologische Tatsache sollte jedoch nicht den Blick dafiir versperren, daß "das Verhör'' des Beschuldigten vorwiegend in dessen Interesse beibehalten worden ist. Mit unterschiedlichen Akzentuierungen besteht in Rechtsprechung und Lehre weitgehend Einigkeit darüber, daß die Vernehmung eine doppelte Funktion besitzt, wobei insbesondere im Schrifttum der Nachkriegszeit der Zweck der Wahrheitserforschung gegenüber dem Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör deutlich in den Vordergrund gerückt wird 167 • Für die gegenwärtige So zum Lügendetektor, Radbruch, FS filr Sauer, S. 123. Vgl. etwa Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 175: "( ... )wäre es falsch, daraus zu folgern, die Vernehmung des Beschuldigten diene lediglich dem Verteidigungszweck. In Wirklichkeit ist sie nur in dem umfassenden Zweck der Wahrheitstindung zu begreifen". Er bezeichnet deshalb die Aussage des Beschuldigten als "hervorragend wichtiges Mittel zur Sachverhaltsaufklärung (S. 173)." AusfUhrliehe Nachweise zum älteren Schrifttum bei Degener, GA 92, S. 460. Zum neueren Schrifttum vgl. Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136 StPO, RN 14: " (...) in ihrem Rahmen ist die Vernehmung aber auf Ermittlung der Wahrheit und Beweissicherung ausgerichtet"; Rieß, JA 80, S. 293 : "(...) nicht nur Mittel der Wahrheitserkenntnis, sondern auch Mittel der Verteidigung." (vgl. aber auch a. a. 0., S. 297); ähnlich Walder, Die Vernehmung, S. 61 ff.; KKBoujong, § 136 StPO, RN 1, 19; LR-Hanack, § 136 StPO, RN 35m. jeweils w. N. Entgegen Degener und Grünwald handelt es sich dabei allerdings nicht um eine kontinuierliche Entwicklung. So vergleicht Grünwald lediglich die 9. Auflage des LöweRosenberg von 1898 mit der 24. Auflage von 1984 und kommt dabei zu dem Schluß, daß sich der Zweck der Vernehmung von seinem ursprünglichen rechtsstaatliehen Leitbild weit entfernt habe (vgl. StV 87, S. 453). In der 1879 erschienen Ausgabe hat Löwe dagegen noch vorgebracht, eine dem § 43 der braunschweigischen Prozeßordnung vom 21. 10. 1858 vergleichbare Belehrung über das Schweigerecht des Beschuldigten sei weder "angemessen" noch "statthaft", denn es könne nicht Aufgabe des Richters sein, den Beschuldigten von der Vernehmung abzuhalten und auch die Eröffnung, daß die Aussage des Beschuldigten in der Hauptverhandlung als Beweismittel benutzt werden könne, sei unzulässig (zitiert nach Bauer, Die Aussage, S. 73, mit genauem Nachweis). An diesen Fundstellen zeigt sich ein zu den von Grünwald zitierten Stellen konträres Verständnis der Beschuldigtenvernehmung. Richtig ist dagegen, daß sich im Laufe der Zeit eine von der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers abweichende Rechtsauffassung durchsetzen konnte. 166 167

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Entwicklung ist sicherlich auch der unglücklich gewählte Wortlaut des § 136 II StPO verantwortlich, der lediglich davon spricht, die Vernehmung solle dem Beschuldigten Gelegenheit geben, Verdachtsgründe zu beseitigen und Entlastungstatsachen geltend zu machen. Daraus wird im Widerspruch zum historischen Verständnis von § 136 II StPO der Gegenschluß gezogen, der Gesetzgeber hätte durch Verwendung eines "nur" klarstellen müssen, daß die Vernehmung allein der Verteidigung des Beschuldigten diene 168 • Die vermehrte Berufung auf den Wahrheitserforschungszweck der Beschuldigtenvernehmung fiihrt aber zu einer schleichenden Entwertung des u. a. durch § 136 II StPO beabsichtigten Schutzes der Aussagefreiheit Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten vermag der Zusammenhang zwischen dem in Art. 103 I, 104 III S.1 GG abgesicherten und in § 136 II StPO zum Ausdruck gebrachten Anspruch auf rechtliches Gehör und der Aussagefreiheit des Beschuldigten vielleicht nicht sofort einzuleuchten. So ist Stellungnahmen im Schrifttum, die den Anspruch auf rechtliches Gehör als verfassungsrechtliche Grundlage der strafprozessualen Aussagefreiheit betrachten 169, zu Recht entgegengehalten worden, daß dieser Anspruch lediglich ein "positives" Äußerungsrecht des Beschuldigten gewährleiste, sich vor Erlaß einer Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zur Sache äußern zu können 170• Das Recht auf Aussagefreiheit umfaßt dagegen (auch) ein "negatives" Abwehrrecht gegen unfreiwillige Selbstbelastung, das es dem Beschuldigten ermöglicht, sein Sachwissen dem Gericht vorzuenthalten 17 1• Damit wird die Aussagefreiheit des Beschuldigten als wichtigste Ausprägung des nemo tenetur-Prinzips jedoch nicht, wie Ragall meint, zu einer genau entgegengesetzten Komponente des rechtlichen Gehörs 172• Der in Art. 103 I GG verbürgte Anspruch aufrechtliebes Gehör gewährleistet als Ausprägung des Rechtsstaatsgedankens dem Einzelnen das Recht, zu Wort zu kommen, um zur Wahrung seiner Rechte Einfluß auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können 173 • Das bedeutet zugleich, daß der Einzelne im Strafverfahren auch das Recht haben muß, frei von Zwang und möglichst unbeeinflußt eine eigene Stellungnahme zum Tatvorwurf

168 Vgl. etwa Walder, Die Vernehmung, S. 65. Auch§ 136 III StPO scheint fiir diese Auffassung zu sprechen, da er anordnet, daß bei Vernehmungen "zugleich auf die Ermittlung" der persönlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen ist. 169 Bauer, Die Aussage, S. 51 ; Castringius, Schweigen und Leugnen, S. 21; Niese, ZStW 63 ( 1951 }, S. 219 ff. (221 ); zur Kritik an dieser Ableitung, vgl. Rogall, Der Beschuldigte, S. 124 f. ; Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 51 ff. 170 Ständige Rspr., vgl. nur BVerfGE 6, 16; 69, 148; BGHSt 26, 335. 171 Ausführlich Nothelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 53 f. 172 Rogall, Der Beschuldigte, S. 125. 173 BVerfGE 66, 318; 84, 190; 86, 144.

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abgeben und seine Version des Sachverhalts darstellen zu können 174 • Darüber hinaus wurde bereits oben dargestellt, wie wichtig eine ausreichende Aufklärung über den Tatvorwurf filr eine sinnvolle Ausübung des Schweigerechts ist 175 . Dieser Anspruch auf vollständige Information über den Verfahrensstoff wird aber auch durch Art. 103 I GG geschützt, so daß sich der Anspruch auf rechtliches Gehör in wichtigen Teilaspekten mit der Äußerungsfreiheit des Beschuldigten überschneidet. Er gewährleistet in vielen Fällen einen flankierenden Schutz vor ungewollter Selbstbelastung und ermöglicht es dem Beschuldigten zur Klärung des Sachverhalts aus eigener Sicht und in eigenem Interesse Stellung zu nehmen. Eine Vernehmungssituation, die vornehmlich darauf ausgerichtet ist, dem Beschuldigten rechtliches Gehör zu gewähren, respektiert somit zwangsläufig auch die Aussagefreiheit des Befragten. Insbesondere im Ermittlungsverfahren findet das Verbot einer inquirierenden Befragung nur sehr eingeschränkte Anerkennung. So deutlich wie Henkel, der meint, der Stil der Vernehmung müsse nicht überall gleichartig sein, denn "bei einer Kampftruppe vor dem Feind" herrschen "ganz naturgemäß rauhere Sitten ... als in den rückwärtigen Stäben 176, wird es heute nicht mehr zum Ausdruck gebracht. Dennoch muß es verwundern, wenn man Stellungnahmen zur Situation des Beschuldigten nach Abschaffung der Folter liest und diese mit der gegenwärtigen Situation des Beschuldigten in polizeilichen Vernehmungen vergleicht. So beklagt K/einschrod um 1799, daß sich mit Abschaffung der Folter nur die Methode, nicht aber das Ziel der inquisitorischen Beweistätigkeit verändert habe. Der Beschuldigte werde zur Wahrheit ermahnt, man läßt ihn im Dunkeln tappen, Beweisergebnisse werden ihm nur unzureichend mitgeteilt, er wird überrascht und überrumpelt, wiederholt verhört, um ihn zu zermürben und es fehlt nicht an List des Untersuchungsrichters, um dem Beschuldigten ein Geständnis abzuringen 177• Vernehmungsmethoden die- wie im folgenden teilweise aufzuzeigen sein wird - sich nicht wesentlich von denen der gegenwärtigen polizeilicher Vernehmung unterscheiden.

II. Aussagefreiheit und Täuschungsverbot des § 136a StPO An der Auslegung des Merkmals der Täuschung in § 136a StPO läßt sich beispielsweise verdeutlichen, daß sich die gängige Auffassung des strafprozes174 Das verkennt Fischer, Divergierende Selbstbelastungspflichten, S. 109, die davon ausgeht, eine Se1bstüberfiihrungspflicht erfiille den Anspruch auf rechtliches Gehör in seiner ausgeprägtesten Form. Zutreffend aber Herrmann, ZStW 100 (1988), S. 47 f. 175 Vgl. oben Teil Ill, § 7 176 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 180, FN 42. 177 Vgl. Schilderung von Kleinschrod, ArchCrimR, Band I, 1799, S. 67 ff., zitiert nach Bauer, Die Aussage, S. 40 f.

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sualen Schrifttums zum Zweck der Beschuldigtenvernehmung weit von der ursprünglichen Funktionsbestimmung des Gesetzgebers entfernt hat. Es entspricht heute einer weitverbreiteten Auffassung, daß ein gewisses Maß an Verschleierung oder unterlassener Offenlegung in der Regel geradezu zum Wesen einer strafrechtlichen Vernehmung gehöre 178• Erliste der vernehmende Beamte mittels einer (einfachen) Täuschung ein Geständnis des Beschuldigten, so könne in diesem Verhalten keine Verletzung der Menschenwürde erblickt werden, da sich dieses Vorgehen im Rahmen allgemeiner geistiger Auseinandersetzung halte 179• Besonders bedenklich ist schließlich die Feststellung, daß kriminalistische List nicht durch § 136a StPO verboten sei 180, da nur eine restriktive Auslegung Ergebnisse vermeiden könne, die die Ermittlungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden lahrnlege 181 • Die Aussagefreiheit des Beschuldigten kann aber nur dann volle Anerkennung fmden, wenn die Strafverfolgungsbehörden bereit sind, auf jede Täuschung und damit gegebenenfalls auf eine Aussage des Beschuldigten zu verzichten. Werden bestimmte Vernehmungsmethoden dagegen als unentbehrlich ftlr die Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege bezeichnet, so kann dies nur bedeuten, daß mit inquisitorisch anmutenden Vernehmungsmethoden versucht wird, auch unter Mißachtung der Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten einen Zugriff auf dessen Wissen zu ermöglichen. Die angefilhrten Auffassungen können noch einleuchten, sofern damit lediglich Aussagen über den Anwendungsbereich von § 136a StPO getroffen werden. Ein Vergleich mit den übrigen in § 136a StPO genannten, verbotenen Vernehmungsmethoden legt es nahe, daß der Gesetzgeber mit dieser Vorschrift nur besonders schwerwiegende Verstöße erfassen wollte. So wird man insbesondere eine unbewußte, fahrlässige Lüge nicht als Täuschung i. S. d. § 136a StPO qualifizieren können 182• Dieses Ergebnis läßt sich zwar nicht mittels einer grammatischen Auslegung erzielen, denn der Begriff der Täuschung beinhaltet nicht

LR-Hanack, § 136a StPO, RN 33. Kühne, Strafprozessuale Beweisverbote, S. 129; vgl. auch Otto, GA 70, S. 290. 180 Vgl. Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136a StPO; zum Merkmal der List vgl. insbesondere Puppe, GA 78, S. 289; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 25, RN 23 jeweils m. w.N. 181 Allgemeine Auffassung, vgl. Baumann, GA 59, S. 33 f.; Erbs, NJW 51, S. 388; KK-Boujong, § 136a StPO, RN 19; LR-Hanack, § 136a StPO, RN 33m. w. N. in FN 68; ablehnend vor allem Degener, GA 92, S. 464. 182 BGHSt 31,399 f.; 35, 328 f.; StV 89, 515. Eingehend Lindner, Täuschung in der Vernehmung des Beschuldigten, S. 94 ff. Vgl. auch Achenbach, StV 89, S. 516 ff.; Degener, GA 92, S. 447 m. w. N. in FN 23; KK-Boujong, § 136a StPO, RN 23 f. und Bauer, Die Aussage, S. 152m. umfangreichen N. auch zur abweichenden Auffassung. Auf den objektiven Gehalt abstellend Hi/land, Das Beweisgewinnungsverbot, S. 109 f. m. w. N. 178 179

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begriffsnotwendig ein fmales, auf gezielte Irrefilhrung gerichtetes Element 183 . Ohne Berücksichtigung des Zwecks von§ 136a StPO läßt sich nicht zwingend erschließen, ob die Auslegung des Täuschungsverbots aus Sicht des Erklärenden oder des Emptangers zu erfolgen hat. Für die letztgenannte Alternative und damit einen weiten Täuschungsbegriff läßt sich anfUhren, daß sich der Betroffene unabhängig von einem entsprechenden Handlungswillen des Vernehmenden durch objektiv falsche oder mißverständliche Angaben getäuscht filhlen kann. Eine extensive, lediglich auf den durch die Täuschung verursachten Erfolgsunwert abstellende Interpretation des Täuschungsbegriffs verbietet sich aber deshalb, weil§ 136a StPO über§ 69 III StPO auch auf die Vernehmung des Zeugen Anwendung findet und fiir beide Vernehmungskonstellationen einheitlich ausgelegt werden muß 184 • Es läßt sich aber kaum plausibel begründen, warum Angaben eines Zeugen unverwertbar sein sollen, die zwar durch eine unbeabsichtigte Täuschung des Vernehmungsbeamten verursacht worden sind, deren Wahrheitsgehalt aber unzweifelhaft feststeht. Anders als beim Beschuldigten, der innerhalb von Vernehmungssituationen die völlige Freiheit über das Ob und Wie seiner Aussage besitzt, muß ein Zeuge nicht in gleichem Umfang vor unbeabsichtigt hervorgerufenen Irrtümern geschützt werden 185 • Wird die Aussage eines Zeugen durch ein Verhalten der Ermittlungsbehörden beeinflußt, so gebietet der durch § 136a StPO intendierte Schutz des Zeugen lediglich dann die Unverwertbarkeit der Aussage, wenn dieses Verhalten zugleich Ausdruck der Mißachtung von dessen Persönlichkeit ist. Nur der mit einer absichtlichen Täuschung verbundene Handlungsunwert kann einen absoluten Verzicht auf eine so erlangte Zeugenaussage rechtfertigen, während ansonsten eine Abwägung mit Gesichtspunkten der Wahrheitsfmdung im Strafverfahren geboten ist. Verlangt man allerdings eine vergleichbar massive Persönlichkeitsbeeinträchtigung wie bei den übrigen in§ 136a StPO genannten Vemehmungsmethoden, dann ist tat-

183 So aber LR-Hanack, § 136a StPO, RN 41 f.; vgl. auch SK-Rogall, § 136a StPO, RN 47 f. m. umfangreichen N. zur h. A. 184 Unverständlich lediglich der Gegenschluß von Rogall, SK, vor§ 133 StPO, RN 13 7, die Verschiedenartigkeit der RechtsgUter von § 136a StPO und des nemo teneturGrundsatzes lasse sich daran aufzeigen, daß § 136a StPO auch beim unverdächtigen Zeugen gelte, der sich nicht in Gefahr einer Selbstbelastung befinde. Deshalb könne der nemo tenetur-Grundsatz nicht den Schutz der Entschließungsfreiheit des Beschuldigten beabsichtigen. Zwingend ist dieser Schluß keineswegs, denn er lebt von der unbewiesenen Hypothese, daß § 136a StPO die Entschließungsfreiheit in weiterem Umfang schlitzt als der nemo tenetur-Grundsatz. 185 Dies verkennt Hilland, Das Beweisgewinnungsverbot, S. 110, wenn er zur Begründung einer weiten Auslegung des Täuschungsbegriffs auf die Aussagepersönlichkeit des Beschuldigten verweist und dabei außer acht läßt, daß dieses Merkmal für Zeugenwie Beschuldigtenvernehmung einheitlich interpretiert werden muß. Die übrigen in § 136a StPO angeführten Vernehmungsmethoden sind dagegen bereits ohne Berücksichtigung der inneren Einstellung des Vernehmungsbeamten geeignet, die Würde des Vernommenen zu verletzen.

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sächlich erforderlich, daß die Einflußnahme durch einen anderen so starke Motive in eine Richtung erzeugt, daß der Vernommene praktisch die Möglichkeit verliert, sich anders zu entscheiden 186 • Zudem kann nur eine gewisse Erheblichkeit der Täuschung es rechtfertigen, diese der Dispositionsfiihigkeit des Beschuldigten durch § 136a III S. I StPO zu entziehen. Das an Art. I I GG anknüpfende absolute und unverzichtbare Verwertungsverbot des § I36a III S. I StPO begründet auch die eigentliche Funktion der ansonsten überflüssigen strafprozessualen Norm 187• Da sich mit Relings Worten "noch Generationen den Kopf zerbrechen" werden "was freilich die Menschenwürde ist" 188, hat der Gesetzgeber mit Hilfe des § I36a StPO versucht, menschenunwürdige Ermittlungsmethoden zu katalogisieren, um diese einer Diskussion per se zu entziehen. Die gesamte Debatte entfaltet jedoch kontraproduktive Wirkung, wenn damit zugleich Aussagen über Anwendungsbereich und Funktion von§ 136 StPO verknüpft werden 189• § I36a StPO wurde als bewußte Absage an nationalsozialistische Vernehmungsmethoden und als Reaktion auf die in der Nachkriegszeit entstandene Diskussion um die Ausnutzung neuer technischer und medizinischer Erkenntnisse zur Wahrheitserforschung in die Strafprozeßordnung eingefiigt 190 . § I36a StPO hat im wesentlichen Programmsatzfunktion und verdeutlicht lediglich einen ohnehin gültigen Prozeßgrundsatz, die Achtung der Menschenwürde und die Gewährleistung einer integeren, rechtsstaatliehen Strafrechtspflege 191 • Dieses historische Verständnis von § 136a StPO wird heute auf den Kopf gestellt, wenn § 136a StPO als Kernvorschrift oder gar konstitutive Vorschrift zum Schutze der Aussagefreiheit erhoben wird 192 . Die falsche Gewichtung der Bedeutung von § 136a StPO verleitet zu einer Schlußfolgerung, die ganz im Gegensatz zu den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers steht, der glaubte, aufgrundder Regelung des § I36 II StPO auf eine dem § 136a StPO vergleichbare Vorschrift verzichten zu können. Obwohl § I36a StPO nicht In diesem Sinne Puppe, GA 78, S. 297. Vgl. auch Frister, ZStW 106 (1994), S. 313. Es gab bereits bei Schaffung von § 136a StPO Stimmen, die diese Norm als überflüssig bezeichneten (vgl. etwa Bader, JZ 51, S. 123). Eine wesentliche Funktion des § 136a StPO ist natürlich der Schutz des Zeugen, der grundsätzlich zur Aussage verpflichtet ist. 188 Beling, Die Beweisverbote als Grenzen der Wahrheitserforschung, S. 37. 189 So bereits Grünwald, StV 87, S. 454. 190 Beispielsweise Lügendetektor und Narkoanalyse. Zurgesetzgeberischen Motivation bei Schaffung des § 136a StPO vgl. LR-Hanack, § 136a StPO, RN 2. 191 Joerden, JUS 93, S. 927; Peters, Strafprozeß, § 41, S. 333. Die meisten der in § 136a StPO angeordneten Verbote wurden bereits vor Einfugung des§ l36a StPO fiir selbstverständlich gehalten, da sie im wesentlichen durch materiellrechtliche Straftatbestände erfaßt sind (vgl. nur§§ 223 ff., 229, 240, 340 und 343 StGB). 192 So KK-Boujong, § 136a StPO, RN I; Rogall, Der Beschuldigte, S. 50 f., 105 f. 186 187

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mehr ist als eine im wesentlichen überflüssige Ergänzung des Normgehalts von § 136 StP0 193 , finden sich in der Diskussion um Einzelfragen der strafprozessualen Aussagefreiheit vielfach Argumentationen, die plakativ mit dem Satz "was nicht gegen § 136a StPO verstößt, ist zulässig 194" umschrieben werden können. Ein prägnantes Beispiel filr die Umkehrung des normativen Rangverhältnisses von § 136a zu § 136 StPO ist die oben angefiihrte Auslegung des Täuschungsbegriffs von§ 136a StPO. Bevor§ 136a in die Strafprozeßordnung eingefUgt wurde, ging ein überwiegender Teil des Schrifttums davon aus, daß jeder Versuch, die Aussage des Angeklagten durch Täuschung zu beeinflussen, dem Zweck von § 136 StPO widersprechen und die Aussagefreiheit des Beschuldigten unzulässig beeinträchtigen würde 195 . Mit der Schaffung von § 136a StPO hat sich die Aufmerksamkeit auf die Frage verlagert, welche Täuschungen aufgrund eines systematischen Vergleichs mit dem Gewicht der übrigen in § 136a StPO genannten Vernehmungsmethoden als rechtsstaatlich bedenklich eingestuft werden müssen. Da letztlich alle Abgrenzungsversuche auf einer erheblichkeitsorientierten Einzelfallabwägung basieren, wirken sie gekünstelt und vermögen insgesamt nicht zu überzeugen 196• So wird zwischen groben Lügen und feiner List unterschieden 197, Fangfragen werden als zulässig erachtet, da sie lediglich "Äußerungsmotive" 198, nicht aber die Entschließungsfreiheit berühren, Suggestivfragen werden nur bei nachhaltiger Beeinträchtigung als rechtserheblich erachtet 199, es wird zwischen bewußter Irrefilhrung und fahrlässiger FehlVgl. auch BGHSt I, 387. So auch Degener, GA 92, S. 454; Grünwa/d, StV 87, S. 454. Bezeichnend etwa die Feststellung des Großen Senats (BGHSt 42, 153), die "Einbeziehung der staatlich veranlaßten irrtumsbedingten Selbstbelastung in den Gegenstand der Selbstbezichtigungsfreiheit" führe dazu, "daß diese einen weiterreichenden Schutz gewährte, als es § 136a StPO, der lediglich Täuschungen unterbindet, vorsieht (BGHSt 40, 66, 72)". Dem Großen Senat folgend u. a. Verre/, NStZ 97, S. 416. 195 Vgl u. a. v. Hippe/, Der deutsche Strafprozess, S. 422 m. w. N.; Löwe, Strafprozessordnung, 13. Auflage, 1913, S. 488. Sehr deutlich auch Geyer, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafprozeßrechts, S. 546 ff. und vor allem S. 723: "List ist ein des Richters unwürdiges Mittel, ( ...); ist sie von anderen gebraucht worden, so hat der Richter zu prüfen, inwiefern dadurch Mißverständnisse, falsche Hoffnungen, ( ...) hervorgerufen wurden, welche das Geständnis nicht als das Ergebnis des Willens, die Wahrheit zu sagen, ansehen lassen". Ausführlich zum Verbot zweideutiger, verfiin.glicher (captiöser) und mit Einschränkungen auch suggestiver Fragen Glaser, Handbuch des Strafprozesses I, S. 599 ff. insbesondere 632 ff. m. w. N. 196 Kritisch auch Bloy, JR 90, S. 165; LR-Hanack, § 136a StPO, RN 33. 197 Früher verbreitete Unterscheidung, vgl. die Nachweise bei LR-Hanack, § 136a StPO, RN 33 mit FN 84. Heute wird häufig zwischen Täuschung und erlaubter List differenziert, vgl. nur BGHSt 39, S. 348 m. w. N. 198 SK-Roga/1, § 136a StPO, RN 54 m. w. N. 199 KK-Boujong, § 136a StPO, RN 20; Bezeichnend Walder, Die Vernehmung, S. 156 ff.: "Indessen wird man bei Vernehmung eines Nicht-Geständigen kaum je ohne Suggestivfragen oder suggestive Vorhalte auskommen." 193

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bewertung differenziere00 , objektiv unrichtige Angaben über Rechtsfragen werden ausgeklammert, und es wird als unbedenklich angesehen, Irrtümer des Beschuldigten auszunutzen 201 • Wenn es dann noch allgemeiner Auffassung entspricht, daß die Freiheit der Willensentschließung oder Willensbetätigung im Kern betroffen sein müsse202 , wird der Bereich des objektiv Nachvollziehbaren völlig verlassen. Bezeichnend filr die im Rahmen dieser Unterscheidung zum Ausdruck gebrachte Geisteshaltung ist Hanacks Feststellung, es liege geradezu in der Natur der Vernehmung, daß der Vernehmende den Beschuldigten zu Angaben veranlassen will, deren Bekanntwerden filr ihn unangenehme Folgen habe. Ein geschickter Vernehmungsbeamter solle deshalb diese Seite der Vernehmung nicht in den Vordergrund rücken, sondern müsse bestrebt sein, das Wissen um die besondere Situation aus dem Bewußtsein des Beschuldigten zu verdrängen203 • Die genannten Ansichten vermitteln den Eindruck, als wolle man dem Beschuldigten lediglich das Ob einer Aussage anheimstellen. Läßt er sich jedoch durch seine grundsätzliche Aussagebereitschaft auf ein "Ringen" mit den Strafverfolgungsbehörden ein, so muß er gleich einem sportlichen Wettkampf auch hinnehmen, aufgrund der überlegenen Stellung des Konkurrenten ausgetrickst zu werden. Die aufgezeigten Beispiele wecken den Verdacht, als habe man völlig aus den Augen verloren, daß der Beschuldigte in Vernehmungen aufgrund seines verfassungsrechtlich abgesicherten Selbstbestimmungsrechts die völlige Freiheit über Art und Weise seiner Einlassung besitzt. Welchen Sinn sollen die Belehrung über das Recht der Aussagefreiheit und § 136 II StPO haben, wenn es im Interesse der Wahrheitstindung als sachgemäß erachtet wird, in der Vernehmung diesem Wissen um das Besondere der Situation entgegenzuwirken? Akzeptiert werden könnte eine solche Grundeinstellung allenfalls dann, wenn das unzweifelhaft bestehende Machtgefalle in der polizeilichen Vernehmung etwa durch das Anwesenheitsrecht eines Verteidigers - so ausgeglichen würde, daß man tatsächlich von verwirklichter Waffengleichheit sprechen könnte. Die Funktion der Beschuldigtenvernehmung bestünde dann vor allem darin, das Wissen des Beschuldigten auszuforschen, und Schranken auf dem Weg zur Erreichung dieses Ziels würden allein durch § 136a StPO gesetzt. Da vor Einfügung des § 136a StPO ein absoluter Schutz des Beschuldigten vor Täuschungen propagiert wurde, steht eine eingeschränkte Auslegung des Täuschungsbegriffs lediglich dann im Einklang mit § 136 - insbesondere Abs. II - StPO, wenn man unterstellen würde, durch§ 136a StPO sollte der Schutz der Aussagefreiheit auf 200 BGHSt 31, 399; 35, 328; StV 89, 515. Eingehend Lindner, Täuschung in der Vernehmung des Beschuldigten, S. 94 ff. m. w. N. 201 BGH NJW 86, 2772; KK-Boujong, § l36a StPO, RN 22m. w. N. 202 Vgl. BGHSt 35, 330; LR-Hanack, § l36a StPO, RN 33, Puppe, GA 78, S. 297m.

w.N.

203

LR-Hanack, § l36a StPO, RN 34.

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den Schutz vor besonders verwerflichen Methoden beschränkt werden. Eine Konsequenz, die in deutlichem Widerspruch zu der mit § 136a StPO beabsichtigten Verstärkung der Rechtsstellung des Beschuldigten steht. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß sich aus § 136a StPO keine Rückschlüsse auf den Umfang der Aussagefreiheit des Beschuldigten ziehen lassen. Welche Täuschungen und Irrtümer im einzelnen unter dem Aspekt des nemo tenetur-Grundsatzes relevant sind, hängt dagegen wesentlich davon ab, welches Wissen als unentbehrlich fiir eine eigenverantwortliche Entscheidung zur Selbstbelastung erachtet wird. Abgesehen von grundlegenden Irrtümern, etwa dem Irrtum über das Vorliegen einer Vernehmungssituation, wird sich fiir die Lösung dieser Frage wohl kein alle möglichen Fehlvorstellungen umfassender Maßstab finden lassen. Ein gewisses Indiz könnte allenfalls sein, ob der Irrtum eher einem bloßen Bewertungsirrtum nahesteht und damit unbeachtlich ist - so etwa bei fehlerhafter Einschätzung der Beweiserheblichkeit einer Tatsache - oder ob er die tatsächlichen Umstände der Vernehmungssituation und Gegebenheiten des Sachverhaltes erfaßt. 111. Vernehmungszweck und Recht des Beschuldigten auf einen geschlossenen Bericht Als konsequente Folge des Bruchs mit jeder Form inquisitorischer Befragung, wurde im älteren Schrifttum gefordert, daß dem Beschuldigten zunächst die Möglichkeit zu einer freien, zusammenhängenden Aussage gegeben werden muß204 • Obwohl nur diese Art der Vernehmung sicherstellt, daß der Beschuldigte die Form und den Inhalt seiner Aussage selbst bestimmen kann, beginnt sich die Auffassung durchzusetzen, daß die Vernehmung von vornherein in Form von Fragen und Antworten erfolgen 205 oder der Vernehmende zumindest aus Ermessensgesichtspunkten von der in § 69 I S.l StPO fiir den Zeugen vorgesehenen Reihenfolge abweichen kann206 . Zumindest soll der Vernehmende nach allgemeiner Auffassung verpflichtet sein, sich gegebenenfalls in die Sachverhaltsschilderung einzuschalten, um sachdienliche Angaben zu "erwirken"207 • 204 Im älteren Schrifttum allgemein anerkannt, vgl. nur Glaser, Handbuch des Strafprozesses I, S. 629. Deutlich auch noch Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 175: Die Vernehmung zur Sache "vollzieht sich nicht als Beantwortung gestellter Fragen (etwa im Sinne des gemeinrechtlichen "artikulierten" Verhörs)." 205 OLG Köln MDR 56, 694; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136 StPO, RN 17; KKBoujong, § 136 StPO, RN 19; KMR-Müller, § 136 StPO, RN S; einschränkend LRHanack, § 136 StPO, RN 40; a. A. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 25, RN 7; SK-Roga/1, § 136 StPO, RN 21 m. w. N. 206 BGHSt 13, 361; StV 82, 458. Bei einem Verstoß in der Hauptverhandlung kann allerdings die Revision begründet sein, vgl. BGH StV 90, 245; offen gelassen von BGH NStZ 97, 198 f. 207 SK-Roga/1, § 136 StPO, RN 21.

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Der Zweck der Vernehmung gerät damit zugunsten eines auf vermeintliche Wahrheitstindung ausgerichteten "Frage- und Antwortspiels" in den Hintergrund, und dem Beschuldigten wird die Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechts sowie eine sinnvolle Verteidigung wesentlich erschwert. Und das, obgleich es durchaus im Interesse der Wahrheitsfmdung liegen kann, wenn der Beschuldigte sich zunächst zusammenhängend äußern kann, ohne durch möglicherweise suggestive Fragen vorbelastet zu sein208 • Der Beschuldigte wird so mehr "verhört" als "gehört"209 und zu Auskünften veranlaßt, die er eigentlich gar nicht geben will. Unterbrechende Fragen zu Beginn der Vernehmung fUhren in aller Regel zu dessen Verunsicherung und vermitteln ihm den Eindruck, seine Form der Einlassung werde durch den Vernommenen nicht respektiert210• Auch in diesem Punkt scheint der konsequente Bruch mit jeder Form des gemeinrechtlichen, "artikulierten" Verhörs aus den Augen verloren worden zu sein. IV. Vernehmungszweck und Anwesenheitsrecht eines Verteidigers Daß insbesondere die polizeiliche Vernehmung nicht vorrangig auf die Gewährung rechtlichen Gehörs ausgerichtet ist, sondern vor allem dazu dienen soll, dem Beschuldigten ein möglicherweise nicht ausreichend überlegtes Geständnis abzuringen, zeigt sich zudem an der fehlenden Normierung eines Anwesenheitsrechts des Verteidigers bei Beschuldigtenvernehmungen. Begründet werden kann dies lediglich mit systematischen Erwägungen, denn der Gesetz208 Der Beschuldigte ist zumindest dann, wenn er die vorgeworfene Tat tatsächlich begangen hat, auch viel besser in der Lage zu erkennen, welche Fakten filr das Gericht von Bedeutung sein könnten und bedarf deshalb deutlich weniger einer irgendwie gearteten Lenkung durch den Vernehmenden. A. A. Walder, Die Vernehmung, S. 124, der meint, zusammenhängende Darstellungen könne im allgemeinen nur der intelligente geständige Beschuldigte oder der dreiste Lügner geben. Er unterscheidet deshalb auch die Vernehmung des Geständigen, dem er die Möglichkeit des Berichts zugesteht, und die Vernehmung des Bestreitenden (a. a. 0., S. 125). Vgl. darüber hinaus aus empirischer und vernehmungspsychologischer Sicht: Döhring, Erforschung des Sachverhalts, S. 32 ff.; Gundlach, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 154 ff. und Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 842 m. w. N., der aber bezeichnenderweise zwischen richterlicher (a. a. 0.) und polizeilicher Vernehmung differenziert (vgl. ders., a. a. 0., RN 583). Bei polizeilicher Vernehmung sieht er die Gefahr, daß durch einen solchen Ablauf die aussagende Person eine "gewisse Dominanz" erlangen könne, so daß der Vernehmende die "Kontrolle" über die Vernehmung verliere. 209 So Mezger, ZStW 40 ( 1920), S. 451. 210 Soweit in der polizeilichen Vernehmungsliteratur vorgeschlagen wird, den Beschuldigten zunächst selbst berichten zu lassen, dann nur, um i. S. d "edlen Judos" den "redesüchtigen Beschuldigten" zunächst fallweise reden zu lassen, wobei man nur wissen müsse, wann man die Rede stoppt, um den größtmöglichen Erfolg zu erzielen (vgl. Gössweiner-Saiko, Vernehmungskunde, S. 53). Ansonsten verläßt man sich besser auf die "vernehmungspsychologisch stets bewährte Verunsicherung" (vgl. a. a. 0., S. 51).

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geber hat ein Recht auf Anwesenheit explizit nur filr staatsanwaltschaftliehe Vernehmungen des Beschuldigten vorgesehen (vgl. §§ 163a III S. 2, 168 c I, V)211 • Dies vermag jedoch nicht zu erklären, warum ein Anwesenheitsrecht nicht auch auf die Situation der polizeilichen Vernehmungen erstreckt worden ist. Bei sonstigen Ermittlungshandlungen, beispielsweise der Vernehmung von Zeugen oder von Ermittlungsmaßnahmen, die einen Überraschungseffekt haben sollen, kann die Gefahr bestehen, daß sich bei Anwesenheit oder Benachrichtigung des Verteidigers der Ermittlungszweck nicht in gleichem Maße erreichen läßt. Eine Übertragung dieser Argumentation auf die Vernehmung des Beschuldigten kann aber doch nur bedeuten, daß es ohne Teilnahme eines Verteidigers leichter ist, den Beschuldigten zu überraschen, ihn zu überrumpeln und auf sonstige Weise in seinem Aussageverhalten zu beeinflussen. Würde sich die Praxis tatsächlich daran orientieren, daß auch die polizeiliche Vernehmung der Gewährung rechtlichen Gehörs unter Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Beschuldigten dient, so müßte die Anwesenheit des Verteidigers im Regelfall gestattet werden, denn der Beschuldigte wird die filr ihn wesentlichen Punkte häufig nur mit Unterstützung seines Verteidigers sachgerecht vorbringen können. Stattdessen wird insbesondere in der polizeilichen Vernehmungsliteratur darauf hingewiesen, daß der Verteidiger nur in "Ausnahmefiillen" zuzulassen ist, "wenn dies zur Aufklärung des Sachverhaltes zwingend geboten erscheint212", denn die Anwesenheit Dritter wirke sich im allgemeinen stark kommunikationshemmend aus und die Polizei könne das Verfahren nur ohne den Verteidiger "rasch und zügig durchfilhren213". Ein Ausnahmefall wird dabei meist nur filr den Fall angenommen, daß der Beschuldigte sich nur in Beisein eines Verteidigers zur Aussage bereit erklärt, denn es "ist schon besser, überhaupt eine Erklärung als gar keine zu erlangen214". Soll durch diese Unterscheidung der gerichtsunerfahrene Beschuldigte nicht willkürlich benachteiligt werden, so müßte aus Gründen der Fairneß die Belehrung nach § 136 I S. 2 StPO um einen Hinweis auf die Möglichkeit der Durchsetzung einer Vernehmung in Anwesenheit eines Verteidigers ergänzt wer211 Vgl. auch Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 163 StPO, RN 16 und Krause, StV 84, S. 169 ff. m. w. N. Zur Gegenauffassung, die ein Anwesenheitsrecht u. a. aus § 137 I S. I, § 136 I S. I StPO und unter Hinweis auf BVerfDE 38, 105 ff. aus dem Recht auf ein faires Verfahren oder daraus ableitet, daß die Polizei nur von der Staatsanwaltschaft abgeleitete Befugnisse habe, vgl. die Nachweise bei LR-Rieß, § 163a StPO, RN 95 (FN 177). 212 Vgl. u. a. Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 205 f.; Kleinknecht, Kriminalistik 65, S. 454; Schubert, Die Vernehmung im Ermittlungsverfahren, S. 61. 213 Vgl. Kleinknecht, Kriminalistik, S. 449 ff. Stattdessen wird z. T. sogar vorgeschlagen, die Vernehmung des Beschuldigten in Anwesenheit eines Tatzeugen durchzuführen, denn dann "wagt" der Beschuldigte es oft nicht, "überhaupt alles zu bestreiten" (vgl. Wa/der, die Vernehmung, S. 114). 214 Krüger, Kriminalistik 74, S. 392 ff.

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den215 • Um zu verhindern, daß ein entsprechendes Verhalten des Beschuldigten zur Übung werden könnte, wird stattdessen angemerkt, daß der Beschuldigte auch durch eine bedingte Aussageverweigerung nicht die Anwesenheit seines Verteidigers erzwingen könne. Folge der Beschuldigte einer erneuten Vorladung der Polizei nicht, nachdem er zwischenzeitlich ausreichend Zeit gehabt habe, seinen Verteidiger zu konsultieren, so könne auf seine Vernehmung gänzlich verzichtet werden, denn er habe ausreichendes rechtliches Gehör im Sinne des§ 163a I StPO erhalten216 • Der BGH hat in anderem Zusammenhang selbst betont, daß das Aussageverhalten einer der wichtigsten Fragen ist, die der Verteidiger des Beschuldigten mit diesem zu erörtern habe217. Tatsächlich wird der Beschuldigte in vielen Fällen nur durch einen Verteidiger ausreichend über Umfang und Auswirkungen seiner Einlassungsfreiheit informiert werden können. Auch der nach § 136 I S. 2 StPO gebotene Hinweis auf das Recht der Verteidigerkonsultation dient bei polizeilicher Vernehmung vornehmlich dazu, den Beschuldigten vor einer unbedachten, weil ohne sachkundigen Beistand abgegebenen Erklärung zu bewahren218. Dann kann aber mit der Versagung des Anwesenheitsrechts nur das Ziel verfolgt werden, dem Beschuldigten eine eigenbestimmte Entscheidung über die Form seiner Einlassung unmöglich zu machen. Es soll hier nicht bestritten werden, daß es Aufgabe des Gesetzgebers ist, ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei polizeilichen Vernehmungen ausdrücklich zu regeln219 • Dennoch zeigt sich an den Gründen, die für dessen Verweigerung ins Feld gefilhrt werden, daß der Zweck der Beschuldigtenvernehmung eine zur gesetzgeberischen Intention konträre Umsetzung erfahren hat. Aus § 163a IV, der auch auf § 136 II StPO verweist, folgt jedoch eindeutig, daß auch die polizeiliche Vernehmung keinen anderen Zweck hat als die staatsanwaltschaftliehe oder richterliche und damit primär der Gewährung rechtlichen 215 Deshalb ist dieser Problemkreis auch keinesfalls "theoretischer Natur", so aber Kramer, Grundbegriffe des Strafverfahrensrechts, RN 27. Darüber hinaus ist natürlich eine allgemeine, gesetzlich ausdrücklich geregelte Zulassung eines Verteidigers bei polizeilichen Vernehmungen des Beschuldigten wünschenswert. 216 Dies läßt Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 71 f. unberücksichtigt; vgl. auch die Nachweise bei Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 3, S. 31, RN 18; Krause, StV 84, S. 174. Unzutreffend deshalb auch BGHSt 42, 174, mit der Behauptung, der Beschuldigte könne seine Rechte aus§ 137 I S. I StPO unschwer durchsetzen, wenn er Angaben zur Sache verweigere. Vgl. aber auch Beulke, NStZ 96, S. 258m. w. N und Rieß JR 93, s. 335. 217 Vgl. u. a. BGHSt 38, 214; 38, 373. 218 Vgl. dazu auch Beulke, NStZ 96, S. 258m. w. N.; Herrmann, NStZ 97, S. 209; Ransiek, StV 94, S. 343 m. w. N. 219 Auf die Frage, inwieweit die Aussagefreiheit des Beschuldigten eine Reform der notwendigen Verteidigung auch bei polizeilichen Vernehmungen erforderlich macht, kann hier nicht eingegangen werden, vgl. dazu Herrman StV 96, S. 396 ff.

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Gehörs und nicht dazu dienen soll, ein Geständnis des Beschuldigten zu erlangen22o. Die angeführten Beispiele haben verdeutlicht, daß sich die Stellungnahmen der Literatur zu Einzelfragen der Beschuldigtenvernehmung weit von deren ursprünglichen Funktionsbestimmung entfernt haben. Eine Rückkehr zum ursprünglichen Zweck der Beschuldigtenvernehmung zwingt jedoch nicht dazu, dieser jegliche Beweisfunktion abzusprechen221 . Vielmehr sollte erkannt werden, daß es dem Ziel der Wahrheitsermittlung dienlich sein kann, wenn davon abgesehen wird, die Aussage des Beschuldigten in der hier aufgezeigten Art und Weise zu beeinflußen222 . Wahrheitserforschung auf der einen sowie Aussagefreiheit und Gewährung rechtlichen Gehörs auf der anderen Seite sind nicht ausschließlich begriffliche Gegensätze, sondern stehen in einem funktionalen Abhängigkeitsverhältnis223 • Wahrheit kann häufig nur dann ermittelt werden, wenn der Beschuldigte möglichst unbeeinflußt zum Tatgeschehen Stellung nehmen kann. Werden diese Zusammenhänge verkannt und glaubt der Vernehmende durch direktive Fragen die Wahrheit erschließen zu können, so erhält er überproportionalen Einfluß auf das Vernehmungsergebnis, und es wird sich in zweifelhaften Tatbestandsfragen vorrangig seine eigene Auffassung vom Tatgeschehen, nicht jedoch das Wissen des Täters um die Tat darin niederschlagen.

§ 10 Fallgruppen des mittelbaren Aussagezwangs I. Überbewertung eines Geständnisses im Rahmen der Beweiswürdigung

Auch die gewandelte Bewertung und Gewichtung eines Geständnisses des Beschuldigten ist ein Indiz filr den schleichenden Abbau der strafprozessualen Garantie der Aussagefreiheit des Beschuldigten. So wurde im älteren Schriftturn die Forderung erhoben, daß eine Verurteilung des Beschuldigten niemals allein auf dessen Geständnis gestützt werden könne, sondern unabhängig davon wahrscheinlich gemacht werden müsse, daß dieser die Tat wirklich begangen habe224. Andere Autoren verlangten, daß lediglich einem vor dem erkennenden Gericht abgelegten Geständnis eine zur Verurteilung ausreichende Beweiskraft 220 Bezeichnend auch die Argumentation des 1. Senats des BGH in NStZ 96, 452 ff., vgl. dazu Herrmann, NStZ 97, S. 211. 221 So Degener, GA 92, S. 462, ähnlich bereits Priltwitz, vgl. FN 164 222 Dies wurde im älteren Schrifttum deutlich erkannt, vgl. nur v. Hippe!, Der deutsche Strafprozess, S. 422. 223 Zum Gegensatz von Selbstbestimmtheit und Wahrheitsermittlung, vgl. auch Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 78 ff. 224 Wie Glaser, Handbuch des Strafprozesses I, S. 723 .

§ 10 Fallgruppen des mittelbaren Aussagezwangs

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zugesprochen werden könne, einem im Ermittlungsverfahren erlangten Geständnis dagegen allenfalls eine gewisse Indizfunktion zukomme225 . Daß dem Geständnis damit nur eine eingeschränkte Beweiskraft zuerkannt wurde, lag nicht allein an dessen häufig fragwürdigem Beweiswert Diese Ansicht ist ebenso Ausdruck der bewußten Abkehr von der Geisteshaltung des lnquisitionsprozesses, die ein Geständnis des Beschuldigten als die Krone der Beweise ansah226. Auch Autoren, die einer Beschränkung der Beweiskraft des Geständnisses unter dem Gesichtspunkt der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht zustimmen wollten, betonten zumindest, daß das Geständnis keine bevorzugte Stellung einnehmen dürfe und deshalb dessen Erlangung nicht eifriger als die der anderen Beweise anzustreben sei227 . Aus § 136 II StPO ergebe sich die selbstverständliche Forderung, daß der Richter in keiner Weise auf die Ablegung eines Geständnisses hinwirken dürfe228 • Das Verhör des Beschuldigten müsse deshalb häufig weniger auf Fragen und Antworten als auf dem Austausch von Mitteilungen beruhen. Es bestehe deshalb kein Anlaß, sich mit dem Ziel, den Beschuldigten zu überlisten, auf ein geistiges Ringen mit diesem einzulassen229. Dabei wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Vernehmung innerhalb und außerhalb der Hauptverhandlung nach den gleichen Grundsätzen erfolgt230• Betrachtet man die gegenwärtige strafprozessuale, insbesondere die polizeiliche Vemehmungsliteratur, so finit auf, daß diese bewußte Absage an eine inquisitorische Geständnisjagd in Vergessenheit geraten ist. Die signifikant erhöhte Verurteilungsrate bei geständigen Beschuldigten deutet darauf hin, daß deren Geständnis zwischenzeitlich zum wichtigsten Beweismittel avanciert ist231 . Dies macht das Geständnis aber zugleich zu einer der Hauptursachen strafgerichtlieber Fehlurteile232 • Es entpricht heute allgemeiner Auffassung, daß, bedingt durch die Beweismittelfunktion des Beschuldigten, eine Verurteilung allein auf dessen Geständnis gestützt werden kann233 . Für den Fall eines in der HauptverVgl. die Nachweise bei Glaser, Handbuch des StrafProzesses I, S. 607. Vgl. dazu v. Hippe/, Der deutsche Strafprozess, S. 36 ffm. w. N. 227 Glaser, Handbuch des Strafprozesses I, S. 609. 228 Löwe, StrafProzessordnung, 13. Auflage (1913), § 136 StPO, S. 487. 229 Wie FN 227, S. 631. 230 Wie FN 227, S. 625. 231 Vgl. z. B. die Untersuchung von Blankenburg I SessarI Steifen, die Staatsanwaltschaft, S. 138 ff. 232 Ein falsches Geständnis spielt nach einer Tübinger Untersuchung in 7% aller Wiederaufnahmeverfahren zugunsten des Beschuldigten eine Rolle, vgl. Peters, Strafprozeß, S. 398 und Stern, StV 90, S. 563 m. w. N. 233 LR-Gollwitzer, § 244 StPO, RN 30; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 15, RN 19. Vgl. aber auch Jerouscheck, ZStW 102 (1990), S. 799 m. w. N., der dem Geständnis nur indizielle Bedeutung zumißt In der praktischen Rechtsanwendung dürften aber die Fälle nicht selten sein, in denen eine Verurteilung ausschließlich oder überwiegend auf ein 225

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handJung abgelegten Geständnisses mag dem noch zuzustimmen sein, denn in deren Rahmen ist zumindest sichergestellt, daß sich der Richter einen eigenen Eindruck von der Glaubwürdigkeit des Geständnisses verschaffen kann. Zudem besitzt der Angeklagte in der Hauptverhandlung noch eine echte Wahlmöglichkeit, von seiner Aussagefreiheit Gebrauch zu machen, sofern eine Verurteilung nicht ausschließlich auf ein polizeilich erlangtes Geständnis gestützt werden kann. Natürlich sind solche Beweisregeln mit dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung kaum in Einklang zu bringen. Ob der Richter im Rahmen der freien Beweiswürdigung jedoch immer in der Lage ist, die in diesen Regeln zum Ausdruck kommende Skepsis gegenüber bestimmten Formen des Beweises zu beseitigen, mag zumindest bezweifelt werden dürfen. Zur Wahrung der Aussagefreiheit des Beschuldigten ist es deshalb um so wichtiger, daß außergerichtliche Geständnisse des Beschuldigten nur in einer Form in die Hauptverhandlung eingefUhrt werden können, die einerseits keinen unzulässigen Druck auf das weitere Aussageverhalten des Angeklagten ausübt und zum anderen dem Gericht noch eine tatsächliche Überprüfungsmöglichkeit der Freiwilligkeit eines Geständnisses beläßt.

II. Aussagefreiheit des Beschuldigten und Einführung polizeilicher Vernehmungsprotokolle in die Hauptverhandlung Bedenklich wird die aufgezeigte Überbewertung eines Geständnisses des Beschuldigten in der gegenwärtigen Verfahrensausgestaltung vor allem dann, wenn sie im Kontext zur herrschenden Auslegung des § 254 I StPO gesehen wird234 • Nach allgemeiner Auffassung untersagt § 254 I StPO lediglich die Verlesung nichtrichterlicher Vernehmungsprotokolle zum Zweck der Beweisaufnahme über ihren Inhalt, nicht jedoch eine mittelbare Einfilhrung eines Geständnisses des Beschuldigten in die Hauptverhandlung durch Zeugenvernehmung des Vernehmungsbeamten235 . Ebensowenig soll § 254 I StPO Vorhalte aus polizeilichen Protokollen an den Angeklagten oder die Verhörperson verbieten236. Gleichgültig ob man einen Vorhalt des Protokolls gegenüber dem Geständnis des Beschuldigten gestützt wird und in denen nach einem Geständnis auf die Einvernahme weiterer Zeugen verzichtet wird (vgl. auch Roxin a. a. 0.). 234 Der Begriff des Geständnisses in § 254 StPO ist nach h. A. weit auszulegen und umfaßt alle Erklärungen, die fiir den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch von Belang sind, vgl. bereits RGSt 54, 126 f.; BGH MDR 77, 984. Weitere Nachweise bei LRGollwitzer, § 254 StPO, RN 12. A. A. Kuckuck, Zur Zulässigkeil von Vorhalten, S. 191, der den Begriff in einem engeren Sinn als volles Tatsachenbekenntnis interpretiert. 235 Vgl. nur BGHSt 3, 149 f.; 14, 312; 22, 170 f.; LR-Gollwitzer, § 254 StPO, RN 8 m.w.N. 236 Vgl. BGHSt 3, 150; 5, 279; 11, 160; 14, 312 und die Nachweise bei Schroth, ZStW 87 (1975), S. 105.

§ I 0 Fallgruppen des mittelbaren Aussagezwangs

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Zeugen fiir zulässig hält237 oder darin eine Verletzung des Unmittelbarkeitsbzw. Mündlichkeitsgrundsatzes sieht, wird der Angeklagte an ein unter dem besonderen Druck einer polizeilichen Vernehmung erlangtes Geständnis gebunden. Er kann sich deshalb in der Hauptverhandlung nicht mehr auf Aussageverweigerung beschränken, sondern muß schon einiges an Entlastungsbeweis anzubieten haben, um das vielleicht zweifelhaft erlangte Geständnis zu entkräften238. Für den Polizeibeamten dürfte es sowieso eine Selbstverständlichkeit sein, sich vor der richterlichen Vernehmung das von ihm selbst erstellte Vernehmungsprotokoll durchzulesen, um sich so auf eine "sichere Aussage" vor Gericht vorzubereiten239 • Auch ohne ausdrücklichen Vorhalt des Vernehmungsprotokolls ist es deshalb wohl eher ein Ausnahmefall, daß der als Zeuge zu vernehmende Polizeibeamte seine eigene Ermittlungsarbeit zunichte macht, indem er vor Gericht zugibt, sich nicht mehr an die Vernehmung zu erinnern. Infolge der aufgezeigten Interpretation von § 254 StPO kann der Angeklagte, trotz Aussageverweigerung in der Hauptverhandlung, allein aufgrund eines meist auch noch ohne Anwesenheit eines Verteidigers - in polizeilicher Vernehmung abgegebenen Geständnisses verurteilt werden. Es entspricht zwar allgemeiner Auffassung, daß sowohl eine Verlesung des richterlichen Protokolls, als auch eine Verwertung des in polizeilicher Vernehmung erlangten Geständnisses nur dann zulässig ist, wenn der Beschuldigte ordnungsgemäß nach § 136 StPO belehrt worden ist. Unter Berücksichtigung der Aussagefreiheit des Beschuldigten ist aber kaum nachvollziehbar, warum richterliche Vernehmungsprotokolle auch dann verlesbar sein sollen, wenn das Protokoll die Vernehmung des Beschuldigten in einem vorangegangenen Verfahren- oder Verfahrensabschnitt als Zeuge zum Gegenstand har40 • Zumindest Vernehmungsprotokolle, 237 So BGHSt 14, 312 mit der sehr problematischen Trennung, daß nur das verwertet werden könne, was in dem Gedächtnis des Zeugen haften geblieben ist und von ihm bestätigt wird; a. A. Niese, JZ 53, S. 518; Hanack, JZ 72, S. 274; Roxin, § 44, RN 18m. w. N. Vgl. dazu auch Herrmann, ZStW 95 (1983), S. 137. Die Zulässigkeit der Verlesung polizeilicher Vernehmungsprotokolle und Vorhalte aus diesen soll im folgenden unter Ausklammerung einer möglichen Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes allein aus Sicht der Aussagefreiheit des Beschuldigten erfolgen. 238 Nach Dahs, Handbuch, S. 137, RN 204, ist es filr den Beschuldigten so gut wie unmöglich von einer polizeilich protokollierten Aussage loszukommen. 239 Vgl. Kube, ArchKrim 163, S. 176; Riegner, NJW 61, S. 63 f. Das eigentliche Problem ist jedoch die mangelnde Überprüfung der bloßen Bestätigung des Polizeibeamten durch den Richter. So könnte dieser durch gezielte Fragen, etwa "wann haben sie das Protokoll zuletzt gelesen", überprüfen, inwieweit sich der Polizeibeamte tatsächlich selbst erinnert. 240 A. A. die h. M., vgl. u. a. Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 254 StPO, RN 4, unter mißverständlichem Verweis aufBGH JR 52, S. 289, denn dieses Urteil des BGH nimmt zu diesem Problemkreis nicht Stellung. Der BGH fiihrt lediglich aus, daß eine Verlesung des richterlichen Protokolls auch dann zulässig sein soll, wenn der Vernehmungsrichter (nicht der Beschuldigte!) in der Hauptverhandlung zugleich als Zeuge vernommen wird; unzutreffend auch der Hinweis von Schroth, ZStW 87 (1975), S. 103, auf BGH NJW

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die zu Strafverfolgungszwecken erstellt worden sind, dürfen lediglich dann nach § 254 I StPO verlesen werden, wenn der Angeklagte die darin enthaltenen Erklärungen als Beschuldigter abgegeben hat241 . Ansonsten könnte der Beschuldigte allein aufgrund einer staatlich erzwungenen, ohne Beschuldigtenbelehrung erfolgten Aussage verurteilt werden und hätte damit niemals eine echte Wahlmöglichkeit gehabt, von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. Daß der Umfang der Aussagefreiheit des Beschuldigten nicht von der Zufälligkeit einer vorangegangenen Vernehmung als Zeuge abhängig gemacht werden kann, läßt sich auch durch einen Vergleich zu den verfahrensrechtlichen Folgen einer Auskunftsverweigerung nach § 55 StPO belegen. Hier entspricht es der weitaus überwiegenden Auffassung, daß sowohl eine ohne Belehrung nach § 55 StPO erfolgte Zeugenaussage242 als auch die Tatsache der Auskunftsverweigerung an sich243 einer Beweiswürdigung in einem Folgeverfahren gegen den Zeugen als Beschuldigten durch den Richter entzogen ist. Wird in diesen Fällen argumentiert, die Tragweite des Schweigerechts des Beschuldigten dürfe nicht von der Art der Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft beeinflußt sein244 , so muß dies um so mehr fiir richterliche Vernehmungen des Beschuldigten gelten. Eine Differenzierung zwischen unzulässiger Verlesung und zulässigem Vorhalt des polizeilichen Vernehmungsprotokolls wäre aber hinfiillig, sofern § 254 StPO in einem umfassenderen Sinn als generelles Verbot interpretiert werden müßte, bei polizeilicher Vernehmung gewonnene Aussagen des Beschuldigten in die Hauptverhandlung einzufUhren, wenn er hier keine Angaben zur Sache macht245 • Auf den ersten Blick ist diese Sichtweise durchaus einleuchtend, denn 52, S. 1027, denn in diesem Urteil nimmt der BGH lediglich Bezug auf die Einfiihrung polizeilicher Beschuldigtenvernehmungen; LR-Gollwitzer, § 254 StPO, RN 13; Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 68. Vgl. ergänzend die Nachweise bei SK- Schlüchter, § 254 StPO, RN 2. Ob der BGH nach seinem Sinneswandel bezüglich der Folgen einer unterlassenen Belehrung bei polizeilicher Vernehmung einer Protokollverlesung tatsächlich zustimmen würde, erscheint eher zweifelhaft. Dagegen zutreffend KK-Mayr, § 254 StPO, RN 3; SK-Schlüchter, § 254 StPO, RN 2. Entgegen Schlüchter ist aber auch ein Vorhalt aus diesen Vernehmungsprotokollen unzulässig. 241 Auf die differenziert zu lösende Verwertbarkeit außerstrafprozessual erstellter Protokolle kann hier nicht eingegangen werden. V gl. beispielsweise zu Protokollen, die zu steuerrechtliehen Zwecken erstellt worden sind, Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 68 ff. 242 Vgl. dazu u. a. die Nachweise bei Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 55 StPO, RN 17. 243 Vgl. nur BGHSt 38, 305 und die Nachweise bei Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 1130. 244 BGHSt 38, 305. 245 So Grünwald, JZ 68, S. 754 und ders., JZ 83, S. 719 in FN 20; ihm folgend Hanack, JZ 72, S. 274; Schroth, ZStW 87 (1975), S. 119 ff.; ähnlich auch Kuckuck, Zur Zulässigkeit von Vorhalten, S. 196 ff. A. A. die h. A., vgl. dazu die Nachweise in FN 235 ff.und Peters, Strafprozeß, S. 322; vgl. auch Herrmann, ZStW 95 (1983), S. 138.

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wenn dem Angeklagten in der Hauptverhandlung ein Wahlrecht zwischen Einlassung und Aussageverweigerung eingeräumt wird, so setzt das doch voraus, daß der Angeklagte überhaupt noch eine echte Wahlmöglichkeit besitzt246 • Aus diesem Grund wurde der nach § 243 IV S. 1 StPO gebotene Hinweis auf die Aussagefreiheit geradezu als irrefuhrend bezeichnet, denn der wirklichen Rechtslage entsprechend müßte der Beschuldigte eigentlich durch den Richter in der Hauptverhandlung dahingehend belehrt werden, daß es ihm zwar freistehe nicht zur Sache auszusagen, er aber selbst bei Aussageverweigerung oder Leugnen in der Hauptverhandlung an seiner früheren Aussage festgehalten werden könne247. Diese Kritik ist insoweit berechtigt, als die in § 254 I StPO vorgenommene Unterscheidung zwischen richterlichen und nichtrichterlichen Vernehmungen nicht ausschließlich auf der Befiirchtung beruht, nichtrichterliche Protokolle gäben oft nur unzureichend wieder, wie der Angeklagte sich tatsächlich geäußert hat248• Sie ist zugleich Ausdruck des Mißtrauens gegenüber Geständnissen die in polizeilicher Vernehmung erlangt worden sind249. Zwar entsteht auch durch die nach § 254 I StPO fiir zulässig erklärte Verwertung richterlicher Protokolle eine faktische Bindung an eine einmal erfolgte Aussage, jedoch bieten diese Vernehmungen eine wesentlich größere Gewähr dafiir, daß sie unter Respektierung der Aussagefreiheit des Beschuldigten stattgefunden haben. Allein diese erhöhte Garantie fiir eine nicht ausschließlich auf ein Geständnis des Beschuldigten abzielende Befragungstechnik und die bessere Nachprütbarkeit der Entstehungsgeschichte eines Geständnisses in richterlicher Vernehmung rechtfertigen es, polizeiliche Vernehmungsprotokolle nur eingeschränkt der tatrichterlichen Beweiswürdigung zur VerfUgung zu stellen. Dies folgt letztlich auch aus der Überlegung, daß Vernehmungsprotokolle im Falle ihrer Beweistauglichkeit faktisch eine eigene Aussage des bestreitenden oder schweigenden Angeklagten in der Hauptverhandlung ersetzen können250. Hingenommen werden kann dies aber lediglich dann, wenn die der Hauptverhandlung vorangegangene Hanack, JZ 72, S. 274. So Grünwald (wie FN 245). Interessant insoweit ein Vergleich zur Argumentation des BGH zur Frage der Verwertbarkeit zeitweisen Schweigens des Beschuldigten. Der BGH hat es als ein Gebot der Fairneß angesehen, daß der Hinweis auf ein Recht, das dem Angeklagten Nachteile der dort bezeichneten Art bringen könne, die möglicherweise negativen Folgen der Rechtsausübung beinhalten müsse (vgl. BGHSt 20, 283 f.). 248 BGHSt 14, 313; Döhring, Erforschung des Sachverhalts, S. 87 ff. ; Gundlach, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 182 ff. m. w. N. Banscherus, Polizeiliche Vernehmung, Formen, Verhalten und Protokollierung, S. 244, hat in 17 von 21 Fällen Protokollierungsfehler festgestellt, die sich in der Hauptverhandlung hätten auswirken können. 249 Vgt: Grünwald, JZ 68, S. 754; Schroth, ZStW 87 (1975), S. 130; Rieß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 71. 250 Vgl. dazu auch Schroth, ZStW 87 (1975), S. 110. 246 247

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Vernehmung einen vergleichbaren formellen Rahmen bietet wie die Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung. § 254 StPO ist deshalb ähnlich wie§ 252 StPO, der sachlich zu den§§ 52 ff. StPO gehört, in engem gesetzessytematischen Zusammenhang mit den Vorschriften zur strafprozessualen Absicherung der Aussagefreiheit des Beschuldigten zu sehen251 • Nur durch diese Intention des§ 254 StPO läßt sich erklären, warum die§§ 251 II, 253 StPO auch die Verlesung polizeilicher Vernehmungsprotokolle bei oder an Stelle von Zeugenvernehmungen ausdrücklich fiir zulässig erklären252 • Angesichts der Aussagefreiheit des Angeklagten darf dieser nicht in gleichem Maße wie ein vernommener Zeuge auffrühere Aussagen festgelegt werden. Aus diesem Schutzzweck des § 254 StPO kann aber keinesfalls der Schluß gezogen werden, daß freiwillig erfolgte Aussagen in keinem Fall mittelbar in der Hauptverhandlung reproduziert werden dürften253 • Wie im folgenden aufzuzeigen sein wird, ist stattdessen wesentlich entscheidender, zu welchem Zeitpunkt dies geschieht. Die StPO kennt fiir den Beschuldigten gerade keine dem § 252 StPO vergleichbare Regelung, die einen Widerruf einer einmal erfolgten, freiwilligen Aussage ermöglicht. Auch unmittelbar aus dem nemo teneturGrundsatz läßt sich kein Anspruch ableiten, einen bereits geleisteten Beitrag zur Wahrheitserforschung zurückzuziehen254 • Wird die oben geforderte Modifizierung der gesetzlich fixierten Belehrungsformel beachtet und der Beschuldigte bereits bei polizeilicher Vernehmung darauf hingewiesen, daß seine Aussage später gegen ihn verwendet werden kannm, dann hat sich dieser im Bewußtsein der rechtlichen Folgen und des Risikos einer Aussage und damit freiwillig auf die Vernehmung eingelassen. Daß er nach der einmal erfolgten Aussage in der Hauptverhandlung Schwierigkeiten haben mag, davon abzurücken, um einer Verurteilung zu entgehen, ist allein seinem Risikobereich zuzurechnen. Eine vergleichbare Wirkung tritt zudem auch bei erdrückender Beweislage ein, ohne daß in diesem Fall festgestellt werden könnte, eine Aussage des Beschuldigten sei unfreiwillig erfolgt. Selbst wenn sich die Prozeßsituation filr den Angeklagten aufgrund einer früheren, freiwillig erfolgten Aussage so gestaltet, daß eine Einlassung die einzig sinnvolle Form der Verteidigung ist, bleibt dessen Freiheit zu schweigen grundsätzlich unberührt, denn dieser Zwang durch die äußeren Gegebenheiten ist nicht den Strafverfolgungsbehörden zuzurechnen256• § 254 I StPO hat deshalb nicht die Aufgabe, daß der Angeklagte sich abgesehen von Vgl. auch Schroth, ZStW 87 {1975), S. 117. Zum strittigen Zweck und Normbereich des § 253 StPO, vgl. die Nachweise bei KK-Mayr, § 253 StPO, RN 1 f. 253 Dies würde auch nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen, vgl. dazu Glaser, Handbuch des Strafprozesses I, S. 622 m. w. N. 254 So Stree, JZ 66, S. 597. 255 Vgl. dazu oben Teil I,§ 2 IV 2 b). 256 Vgl. auch Rogall, Der Beschuldigte, S. 241 . 251

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richterlichen Vernehmungen bis zuletzt ohne Rückgriff auf frühere Vernehmungen entscheiden kann, ob er sich be- oder entlasten will257• Sonst müßten im übrigen auch schriftliche Äußerungen des Angeklagten nach§ 163a I S. 2 StPO unverwertbar sein, die dieser in Kenntnis seines Aussageverweigerungsrechts abgegeben hat, obwohl bei diesen gerade nicht die Gefahr eines unzulässigen Drucks auf den Angeklagten besteht258 • Bei Berücksichtigung dieser Anforderungen kann dann aber ebensowenig behauptet werden, durch einen Vorhalt der vor der Polizei erfolgten Aussage werde die Aussagefreiheit des Angeklagten beeinträchtigt259• Ein entsprechender Vorhalt mag im Einzelfall suggestive Wirkung besitzen und deshalb unzulässig sein. Ansonsten wird man es aber als ein hier richtig verstandenes - Gebot richterlicher! Fürsorge betrachten müssen, den aussagebereiten Angeklagten260 auf Widersprüche in seiner Einlassung hinzuweisen, um diesem die Gelegenheit zu eröffnen, die aufgetretenen Unstimmigkeiten in seiner Aussage zu beseitigen261 • Eine völlig andere, bisher, soweit ersichtlich, nicht berücksichtigte Frage ist, zu welchem Zeitpunkt ein entsprechender Vorhalt erfolgen darf. Grundsätzlich mag es dem Interesse des Angeklagten entsprechen, bereits vor der eigentlichen Beweisaufnahme vollumfilnglich zum Anklagevorwurf Stellung nehmen zu können, um damit dem Gericht die Möglichkeit zu geben, seine Sicht der Dinge während der Beweiserhebung zu berücksichtigen262 • Werden dem Angeklagten aber bereits bei seiner Vernehmung zu Beginn der Hauptverhandlung zum Zwecke des Vorhalts Teile aus dem Vernehmungsprotokoll vorgelesen, so besteht die Gefahr, daß dem Angeklagten Tatsachen vorgehalten werden, die der Polizeibeamte, der das Protokoll erstellt hat, bei seiner eigenen Vernehmung in der Hauptverhandlung nicht bestätigen kann263 • Der BGH hat aber zu Recht So Schroth, ZStW 87 ( 1975), S. 130. Nach h. A. bezieht sich § 254 I StPO aber gerade nicht auf schriftliche Äußerungen des Angeklagten, selbst wenn diese eine Vernehmung des Beschuldigten ersetzen, vgl. dazu u. a. LR-Gollwitzer, § 254 StPO, RN 8. 259 Zur generellen Zulässigkeil des Vorhalts BGHSt 11, 159 f.; einschränkend Roxin, Strafverfahrensrecht, § 44, RN 18m. w. N.; ablehnend vor allem Kuckuck, Zur Zulässigkeit von Vorhalten, S. 116 tf.; Schroth, ZStW 87 ( 1975), S. 111 tf. ( 130 f. ). 260 Bei einem schweigenden Angeklagten scheidet die Möglichkeit des Vorhalts aus, vgl. dazu Rogall, Der Beschuldigte, S. 240. 261 Vgl. auch BGHSt 3, 150. Der BGH spricht in diesem Urteil allerdings sehr zurückhaltend davon, der Vorhalt sei zulässig, um den Angeklagten zu einer Erklärung zu veranlassen, ob er seine frühere Aussage bestätige oder widerrufe. Durch den Vorhalt soll aber häufig eine darüber hinausreichende Aussage des Angeklagten bewirkt werden. 262 Gegen den Willen des Angeklagten darf von diesem durch § 243 StPO vorgezeichneten Ablauf der Hauptverhandlung grundsätzlich nicht abgewichen werden, vgl. dazu BGHSt 19, 97; StV 91, 148. 263 Unabhängig davon, ob dies bereits zu Beginn der Vernehmung geschieht, was dem Angeklagten eine freie, unbeeinflußte Aussage sowieso unmöglich machen würde, oder erst an deren Ende (so der Vorschlag von Schroth, ZStW 87 (I 975), S. 121. 257 258

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betont, Beweismittel sei bei einem Protokollvorhalt an den Zeugen nicht das Protokoll selbst, sondern verwertet werden dürfe nur das, was der Vernehmungsbeamte noch selbst in Erinnerung habe264 • Kann sich der Polizeibeamte aber nicht an die protokollierten Aussageteile erinnern, so würde dem Angeklagten bei seiner Vernehmung ein nach § 254 StPO unverwertbares und damit nicht existentes Beweismittel vorgehalten. Er würde damit in seiner freien Entscheidung, ob er auch weiterhin an seinem ursprünglichen Geständnis festhalten möchte, in unzulässiger Form beeinflußt. Ein Vorhalt des polizeilichen Vernehmungsprotokolls bzw. der Aussage des vernehmenden Polizeibeamten ist deshalb erst nach Bestätigung der betreffenden Protokollteile durch den Zeugen statthaft265 • Diese Differenzierung ist ferner deshalb notwendig, weil sich die inhaltliche Verläßlichkeit eines Geständnis nur bei Berücksichtigung des Entstehungsprozesses ausreichend würdigen läßt266• Kann die vorgehaltene Aussage durch den Zeugen nicht bestätigt werden, hat ein Vorhalt an den Angeklagten einen nicht überprüfbaren Einfluß auf dessen Aussage zur Folge. Bei Bestätigung der protokollierten Aussage durch den Zeugen ist ein Beweismittel bereits vorhanden, und es kann somit nur im Interesse des Angeklagten sein, dazu Stellung zu nehmen. Wenn der Zeuge sich nicht erinnern kann, aber dennoch ein Vorhalt an den Angeklagten erfolgt, wird eine inhaltlich den Vorhalt häufig lediglich wiedergebende Aussage durch unzulässigen Druck herbeigefiihrt267• Selbst von Seiten der Polizei wird darauf hingewiesen, daß der Richter infolge seiner Aktenkenntnis bemüht sein wird, Konkordanz zwischen dem Protokollinhalt und den Informationen herzustellen, die er im Rahmen der Vernehmung des Beschuldigten erhält268 • Da dieser Gefährdung der Aussagefreiheit des Beschuldigten bei der bestehenden Verfahrensstruktur nur eingeschränkt begegnet werden kann, sollte es zumindest eine Selbstverständlichkeit sein, daß an sich nicht zur 264 Vgl. u. a. BGHSt 14, 310, wobei natürlich fraglich ist, ob diese Trennung den Richter nicht überfordert. 265 An diesem Beispiel kann auch verdeutlicht werden, daß eine Vernehmung des Angeklagten am Ende der Hauptverhandlung - die natürlich dessen Recht, Fragen an die Zeugen zu stellen, unberührt läßt - eher geeignet ist, dessen Aussagefreiheit volle Wirkungskraft zu verleihen. Für ein Wahlrecht des Angeklagten, zu welchem Zeitpunkt er vernommen werden möchte, Herrmann, ZStW 100 (1988), S. 65. 266 Vgl. dazu auch Schroth, ZStW 87 (1975), S. 115m. w. N. 267 Schon Schroth, ZStW 87 ( 1975), S. 122, hat generell zur Zulässigkeit von Vorhalten ausgeführt, daß deren Suggestivkraft allenfalls durch eine qualifizierte Belehrung beseitigt werden könnte. Weist man den Beschuldigten aber daraufhin, daß Beweismittel allein seine jetzige Aussage ist, so wird er, soweit er überhaupt in der Lage ist, diese Differenzierung richtig einzuordnen, kaum zu einer Bestätigung seiner ersten Aussage bereit sein. 268 Vgl. Kube, Archiv Krim, 163, S. 176, der die Strategie durch Vorhalte den rechtlich relevanten Sachverhalt auszuhandeln, als ein Wesensmerkmal richterlicher Verhöre im Strafprozeß bezeichnet.

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Verfugung stehende Protokollinhalte nicht in den Prozeß des "Aushandelns" miteinbezogen werden. Ohne hier auf Aspekte des Unmittelbarkeitsgrundsatzes einzugehen, wird man zudem verlangen müssen, daß das Protokoll zum Zwecke des Vorhalts wörtlich verlesen wird269. Jede Zusammenfassung durch den Richter bewirkt einen kaum zu bestimmenden Einfluß auf die eigene Stellungnahme des Angeklagten. Nach den vorangegangenen Erörterungen wird deutlich, daß durch die herrschende Auslegung von § 254 StPO die Polizei ermutigt wird, mit dem nötigen Druck auf ein Geständnis des Beschuldigten hinzuarbeiten, von dem sich dieser in aller Regel nur schwerlich lösen kann. Dennoch kann daraus nicht auf ein generelles Verbot der nicht im Einverständnis mit dem Angeklagten erfolgten Einfiihrung polizeilicher Vernehmungsergebnisse in die Hauptverhandlung geschlossen werden. Stattdessen sollte auch in diesem Punkt eine Rückbesinnung auf den vom Verfahrensstadium unabhängigen, ursprünglichen Zweck einer Beschuldigtenvernehmung erfolgen und darauf Bedacht genommen werden, daß trotz der Möglichkeit, polizeiliche Vernehmungsergebnisse in die Hauptverhandlung einzufilhren, kein Druck auf dessen Aussageverhalten ausgeübt wird.

III. Positive Äußerungsfreiheit des Angeklagten und mittelbare Sanktionierung des Aussageverhaltens Eng mit der Bestimmung des in Konfliktfiillen maßgebenden Vernehmungszwecks verknüpft, ist die Frage, ob den Beschuldigten bei seiner Aussage zur Sache eine als Iex imperfecta ausgestaltete Wahrheitspflicht tri~70 oder ob ihm als Folge der Aussagefreiheit ein "Recht auf Lüge" zuzubilligen ist271 • Da die Strafprozeßordnung keine dem§ 138 I ZPO vergleichbare Regelung enthält und die Vorschriften der§§ 57 und 66c StPO erkennbar nur filr die Zeugenvernehmung Geltung beanspruchen, hat sich weitgehend die vermittelnde Auffassung durchgesetzt, daß den Beschuldigten einerseits zwar keine rechtliche Verpflichtung zur wahrheitsgemäßen Aussage trifft, ihm andererseits aber auch kein Recht auf Lüge zugestanden werden kann272 • Ohne Zweifel habe der Beschul269 A. A. u. a. Gund/ach, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 178; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 44, RN 18m. w. N, nach dessen Auffassung nur ein formloser Vorhalt zulässig ist. 270 So Dohna, Strafprozeßrecht, S. 107: "( ... )es sei ihm unerfindlich, wiejemand aus der Begehung eines Verbrechens sollte das Recht herleiten dürfen, das Gericht zu belügen"; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 177; Höra, Wahrheitspflicht und Schweigebefugnis, S. 67 ff.; Peters, Strafprozeß, S. 207; Wa/der, Die Vernehmung, S. 71 ff. (79) jeweils m. w. N. 271 Vgl. Koh/haas, NJW 65, S. 2284; Kühne, Strafprozeßlehre, RN 466; Pfenninger, FS für Ritt/er, S. 368 ff.; Wessels, JUS 66, S. 173 ff. 272 LR-Hanack, § 136 StPO, RN 41 m. w. N. zur h. M.

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digte eine sittliche oder ethische Wahrheitspflicht Diese sei jedoch prozeßrechtlich ohne Bedeutung, so daß letztlich auch dem Streit um eine entsprechende Pflicht keine praktische Bedeutung zukomme273 • Ein "Recht zur Lüge" kraft prozessualer Stellung könne nicht anerkannt werden, denn der Beschuldigte müsse bei seiner Aussage zumindest die materiellrechtlichen Grenzen der §§ 145d, 164, 185 ff., 258 f. StGB beachten274 . Dadurch werde der Beschuldigte jedoch nicht in der Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte, explizit seiner Aussagefreiheit beeinträchtigt, denn eine Lüge sei mangels prozessualer Sanktionierung innerprozessual belanglos. An dieser weitverbreiteten Ansicht, daß eine Beschuldigtenlüge außerhalb der durch die oben genannten Strafnormen gezogenen Grenzen prozessual folgenlos ist und der Beschuldigte sich deshalb durchaus auch durch Lügen verteidigen kann275 , müssen angesichts der Rechtsprechung zu Fragen der Beweiswürdigung und Strafzumessung erhebliche Zweifel geltend gemacht werden. Wenn es tatsächlich der eigenverantwortlichen Entscheidung des Beschuldigten überlassen bleiben soll, ob und inwieweit er wahrheitsgemäß zum Tatgeschehen Stellung nehmen möchte, warum wird es dann weitgehend filr zulässig erachtet, daß der Richter den Beschuldigten zur Wahrheit ermahnt, soweit er annimmt, daß dieser die Unwahrheit sagt, und daß er ihn - möglicherweise noch im gleichen Atemzug - auf die möglicherweise ungünstigen Folgen "hartnäckigen Leugnens" bei der Strafzumessung hinweist276? Zudem mutet es seltsam an,

273 Vgl. Castringius, Schweigen und Leugnen, S. 10 ff. (11) m. w. N.; Eb.Schmidt, LK II (Nachtrag), § 136 StPO, RN 26; Quentmeier, JA 96, S. 217; Rieß, JA 80, S. 296; SK-Roga/1, vor § 133 StPO, RN 72. In diesem Sinne auch die Motive zu § 136 StPO a.F., vgl. Hahn, Motive, I. Abtheilung, S. 139. 274 Vgl. zum ganzen auch Roga/1, Der Beschuldigte, S. 37 ff. Befremdlich aber dessen Äußerung, der Beschuldigte dürfe nicht in den Rechtskreis Dritter eingreifen, weil er das "Risiko des Strafverfahrens trage" (S. 38). Nicht der Beschuldigte, sondern der Staat hat dieses Risiko zu tragen, denn der Beschuldigte gilt bis zu seiner Verurteilung als unschuldig. Diese Äußerung ist zugleich auch Indiz filr die bedenkliche Grundhaltung, die gegenüber einem Beschuldigten eingenommen wird, der sich durch Lügen zu verteidigen sucht. 275 So BGH StV 85, 356 f. Bereits in BGHSt 1, 105 f., hat der BGH ausgefilhrt, das Prozeßverhalten dürfe nicht um seiner selbst willen als Strafzumessungsgrund berücksichtigt werden. 276 AUgemeine Auffassung, vgl. nur LR-Hanack, § 136 StPO, RN 43 m. w. N. in FN 116; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136 StPO, RN 18. Aus der polizeilichen Vernehmungsliteratur, vgl. Gössweiner-Saiko, Vernehmungskunde, S. 47; einschränkend Fezer, FS fUr Stree/Wessels, S. 678; Ransiek, StV 94, S. 345. Dagegen wendet sich bereits Radbruch, FS fUr Sauer, S. 121 ff., gegen die polizeiliche Praxis, in Vernehmungen durch Inaussichtstellen prozessualer Nachteile oder Vorteile auf ein Geständnis zu dringen. In Anlehnung an das englische Strafverfahren hält er zu Recht auch den weitgehend fUr unbedenklich gehaltenen Hinweis an den Beschuldigten: "Es könnte besser fUr Sie sein, die Wahrheit zu sagen, als zu lügen", fUr rechtsstaatlich bedenklich (vgl. a. a. 0 ., S. 124).

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wenn auf der einen Seite festgestellt wird, die Frage, ob der Beschuldigte verpflichtet ist, die Wahrheit zu sagen, bewege sich als solche nicht auf prozeßrechtlichem Gebiet und anderseits aber der Beschuldigte fUr verpflichtet gehalten wird, die nachteiligen Konsequenzen einer filr unwahr erkannten Aussage im Rahmen der Beweiswürdigung und Strafzumessung in Kauf zu nehrnen277. Bereits die Behauptung, alle wirklichen Folgen der Lüge lägen im Bereich des materiellen Rechts278, kann angesichts der möglichen Folgen einer Beschuldigtenlüge im Rahmen der Beweiswürdigung nicht überzeugen. Bei völligem oder zeitweisem Schweigen des Beschuldigten hat sich allgemein die Auffassung durchgesetzt, daß dem Richter eine Verwertung des Schweigens bei der Schuld- oder Straffrage verwehrt sein muß, da sonst mittelbarer Zwang zur Äußerung auf den Beschuldigten ausgeübt und se~e verfahrensmäßigen Rechte in unzulässiger Weise beschränkt würden279• Sofern man, wie im folgenden dargestellt, die fehlende Wahrheitspflicht als positiven Aspekt der verfassungrechtlich abgesicherten Aussagefreiheit begreift, kann nichts anderes gelten. Folgt man dem nicht, so steht es dem Beschuldigten mangels unmittelbarer prozessualer Zwangsmittel zwar frei, sich durch Lügen zu verteidigen, dieses Prozeßverhalten wird dann jedoch mittelbar im Rahmen der Beweiswürdigung sanktioniert. Diese Sanktionierung kann so weit gehen, daß der Beschuldigte seine Glaubwürdigkeit insgesamt verliert und ihm auch in anderen Punkten seiner Aussage nicht geglaubt wird280• Sofern der Beschuldigte lügt, werden ihm damit seine prozessualen Verteidigungsbefugnisse faktisch weitgehend entzogen. Eine vergleichbare Sanktionswirkung tritt auch dann ein, wenn man es filr zulässig erachtet, das Prozeßverhalten des Täters bei der Strafzumessung als Nachtatverhalten i.S.d. § 46 li StGB oder bei der Prognoseentscheidung nach § 56 StGB zu berücksichtigen281 • Mögen die Folgen auch materiellrechtlicher Natur sein, so bildet doch das Prozeßverhalten Bewertungsgrundlage fUr die Höhe des Strafmaßes. Die angefilhrten Beispiele verdeutlichen, daß eine ausschließlich am materiellen Recht orientierte Betrachtungsweise dem prozessualen Stellenwert der Beschuldigtenaussage und dessen Aussagefreiheit nicht ausreichend Rechnung trägt282 • Die Grenzen des prozessual Zulässigen sind deshalb vorrangig aus prozessualer Sicht unter Berücksichtigung des Vernehmungszwecks und der Aussagefreiheit des Beschuldigten zu ermitteln. Vgl. LR-Hanack, § 136 StPO, RN 41 f. So Eb. Schmidt, LK II (Nachtrag), § 136 StPO, RN 28. 279 Vgl. nur Wessels, JUS 66, S. 171; Stree, JZ 66, S. 596; zusammenfassend Roschmann, Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 110 ff. m. w. N. 280 Vgl. KK-Boujong, § 136 StPO, RN 20; Rieß, JA 80, S. 297; Rüping, JR 74, S. 139m. w. N . 281 Vgl. die umfangreichen Rechtsprechungsnachweise bei Schönke I Schröder-Stree, § 46 StGB, RN 41 ff. 282 So auch Fezer, FS fiir Stree I Wessels, S. 665. 277 278

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1. Grenzen zulässiger Beeinflussung des Aussageverhaltens bei Lügen des Beschuldigten

Während es im älteren Schrifttum einer weitverbreiteten Auffassung entsprach, daß der Richter den Beschuldigten nicht zur wahrheitsgemäßen Aussage ermahnen dürfe, da er in keiner Weise auf ein Geständnis des Beschuldigten hinwirken solle283 , wird diese Ermahnung heute weitgehend fiir zulässig erachtet, wobei manchmal einschränkend darauf abgestellt wird, sie müsse "im wohlverstandenen Interesse des Beschuldigten" sein284 • Eine Ermahnung zur Wahrheit kann jedoch nur dann zulässig sein, wenn die Aussagefreiheit des Beschuldigten nicht auch das Recht umfaßt, bei seiner Aussage zu lügen, denn sonst würde der Richter durch seinen Hinweis versuchen, den Angeklagten vom Gebrauch seiner verfassungsrechtlich abgesicherten Verteidigungsrechte abzuhalten. Daß den Beschuldigten keine rechtliche Verpflichtung zur Wahrheit trifft, dürfte weithin anerkannt sein, denn sie läßt sich weder den Schranken des allgemeinen Sittengesetzes285 noch der Stellung des Angeklagten im Strafverfahren oder seiner "Pflicht zur Sühne" entnehmen286 • Auch aus der Beweismittelfunktion des Beschuldigten und dem Wahrheitsermittlungszweck des Strafverfahrens kann eine Wahrheitspflicht des Beschuldigten nicht abgeleitet werden 287• Gleichgültig ob man den Beschuldigten lediglich als Beweismittel in einem weiteren, materiellen Sinne betrachtet, als Beweismittel eigener Art bezeichnet oder die Beweismitteleigenschaft des Beschuldigten völlig leugnet, kann seine Einlassung unzweifelhaft als Urteilsgrundlage dienen und unterliegt wie jedes andere Beweismittel der freien Beweiswürdigung des Gerichts288 • Dennoch ist der Beschuldigte auch im Falle seiGeyer, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafprozeßrechts, S. 547. Vgl. u. a. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 178; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136 StPO, RN 18. Zur Begründung wird auf eine Entscheidung des OLG Braunschweig NJW 47/48, S. 150, Bezug genommen, das es für zulässig erachtet hat, daß der Richter den Angeklagten mit den Worten belehrt: "Ich mache Sie darauf aufmerksam, wenn Sie nicht die volle Wahrheit sagen, so können Sie mit hohen Strafen rechnen". Eine Belehrung in dieser Form dUrfte bereits die Schwelle des§ 136a StPO erreicht haben. 285 So Castringius, Schweigen und Leugnen, S. I 0 ff., 60 f. 286 So unter eindeutiger Mißachtung der Unschuldsvermutung des Art. 6 li MRK, Walder, Die Vernehmung, S. 71 ff. Insgesamt ablehnend zur Frage einer rechtlichen Wahrheitspflicht bereits Wessels, JUS 66, S. 169 ff. 287 So aber Höra, Wahrheitspflicht und Schweigebefugnis, S. 71 ff. Die Idee der Sachgerechtigkeit paßt jedoch nur für die Vernehmung des Beschuldigten im Parteiprozeß, wenn sich dieser als Zeuge zur Verfilgung stellt. 288 Eingehend zum wenig ergiebigen und im wesentlichen terminologischen Streit Ober die Beweismittelfunktion des Beschuldigten, Prittwitz, Der Mitbeschuldigte, S. 197 ff.; SK-Roga/1, vor§ 133 StPO, RN 122m. w. N. Nachweise zum älteren Schrifttum bei Bauer, Die Aussage, S. 7 f. Bereits im Bericht der Kommission wird klargestellt, daß der Beschuldigte zwar nicht "lediglich" Beweismittel sei, diese Anschauung aber auch 283

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ner Einlassung nicht mit den übrigen in der StPO vorgesehenen Beweismitteln vergleichbar. Es ist ein Wesensmerkmal des reformierten Strafprozesses, daß der Richter die Wahrheit mit den in der StPO vorgesehenen Beweismitteln auch ohne Mitwirkung des Beschuldigten ermitteln muß, wenn sich dieser auf die Rolle eines Passivbeteiligten beschränkt289 • So ist, um dem Zwiespalt zwischen Aussage- und Wahrheitspflicht einerseits und dem Recht auf Verteidigung oder Schweigerecht andererseits Rechnung zu tragen, im deutschen Strafprozeß keine Vernehmung des Beschuldigten als Zeuge vorgesehen290• In der Strafprozeßordnung ist bewußt auf wahrheits- und aussagesichemde Zwangsmittel und Strafandrohungen filr den Beschuldigten verzichtet worden, da es allein die Aufgabe des Staates ist, dem Beschuldigten dessen Schuld nachzuweisen. Ihn trifft weder eine Beweislast noch ist er verpflichtet, das Gericht durch die Angabe entlastender Umstände bei der Wahrheitstindung zu unterstützen. Aufgrund seiner prozessualen Autonomie hat er einen Anspruch darauf, soweit wie möglich nicht gegen seinen Willen in den objektiven Erkenntnisprozeß eingespannt werden. Diese Verfahrensstruktur hat zwar nicht, wie Fezer meint, zur Folge, daß das Aussageverhalten des Beschuldigten beweisrechtlich irrelevant ist291 , denn dann müßte es einer gerichtlichen Beweiswürdigung vollständig entzogen sein und das Gericht wäre beispielsweise daran gehindert, der Aussage des Angeklagten mehr Glauben zu schenken als der eines Zeugen. Dennoch ist es richtig, daß der in der StPO auch inhaltlich vorgesehene Freiraum filr eine Aussage des Beschuldigten dazu zwingt, keinerlei Anforderungen an den Inhalt der Aussage zu stellen. Entgegen der Auffassung Fezers folgt aber allein aus der Feststellung eines materiell- und prozeßrechtlichen Freiraums noch nicht zwingend, daß Lügen als nicht völlig verworfen werden könne (vgl. Hahn, Motive, 2. Abteilung, S. 1531 ). Im übrigen zeigt bereits allein die Existenz von § 254 I StPO, daß eine Einlassung des Beschuldigten im Urteil verwertet werden kann und damit Beweismittel ist. Aus der Bezeichnung als materielles bzw. untechnisches oder andererseits formelles bzw. technisches Beweismittel oder Beweismittel im engeren oder weiteren Sinne dürften sich daneben keinen unmittelbaren Konsequenzen ableiten lassen (zur Terminologie vgl. die Nachweise bei Prittwitz, Der Mitbeschuldigte, S. 201 f.). Auf alle Fälle über das Ziel hinausgeschossen ist es, wenn eine Beweismitteleigenschaft völlig geleugnet wird und die Begriffe "Beweismittel" oder "Prozeßsubjekt" als Alternativen gegenübergestellt werden (so Prittwitz, Der Mitbeschuldigte, S. 204 ff, 206). Auch ein eigenverantwortlich abgegebenes Geständnis ist Ausdruck der Subjektstellung des Beschuldigten. Inkonsequent auch Kuckuck, Zur Zulässigkeit von Vorhalten, S. 190 f., der ebenso die Beweismitteleigenschaft des Beschuldigten weitgehend leugnet, aber davon ausgeht, das Geständnis könne als "Wegweiser ... zur Aufspürung des wahren Sachverhalts" dienen. 289 Deshalb kann es auch keine Wahrheitspflicht aus der "Natur der Sache" geben, so wie dies Höra, Wahrheitspflicht und Schweigebefugnis, S. 73, 114, behauptet. 290 Zur Unvereinbarkeit von Zeugen - und Beschuldigtenrolle in eigener Sache grundlegend BGHSt 10, 10. 29 1 Vgl. Fezer, FS fiir Stree I Wessels, S. 666 ff. (671 ).

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zulässiges Prozeßverhalten jeder negativen Berücksichtigung im Rahmen der Strafzumessung und Beweiswürdigung entzogen ist292 • Würde man dieser Ableitung folgen, so müßte dem Gericht jegliche Würdigung des Aussageverhaltens des Beschuldigten untersagt werden, denn auch dessen wahrheitsgemäße Aussage bewegt sich offensichtlich im Bereich des prozessual Zulässigen. Daß der Beschuldigte sich auch durch Lügen verteidigen kann, ist vielmehr eine Konsequenz der Aussagefreiheit und damit des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen. Der Konfliktlage des Beschuldigten wird nicht bereits dadurch ausreichend Rechnung getragen, daß es ihm freisteht, ob er zur Sache aussagen will, sondern er behält auch während der gesamten Vernehmung die Freiheit über das "Wie" seiner Aussage. Durch die Entscheidung, auszusagen, verliert er nicht etwa sein Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, sondern er verzichtet lediglich auf das durch den nemo tenetur-Grundsatz mitgeschützte Recht zu Schweigen293 • Der Schutz vor Selbstbelastung würde entschieden verkürzt, wenn man dem Beschuldigten lediglich gestattet, sich gegenüber dem Anklagevorwurf passiv zu verhalten. Entgegen der überwiegenden Auffassung kann die prozessuale Zulässigkeit der Lüge nicht getrennt von der Frage beurteilt werden, ob der Beschuldigte das Recht hat ein Schuldbekenntnis vorzuenthalten. Von einem schon begrifflich widersprüchlichen "Recht auf Lüge" muß deshalb nicht gesprochen werden294 • Viel wichtiger ist es zu akzeptieren, daß auch während der Vernehmung kein Zwang auf den Beschuldigten ausgeübt werden darf, wahrheitsgemäß auszusagen. Selbst wenn der Beschuldigte lügt, hat der Vernehmende kein Recht, ihn zu einer Rückkehr zur Wahrheit zu ermahnen, denn dadurch würde er aus seiner Sicht zugleich wahre, d. h. selbstbelastende Angaben des Beschuldigten fordern. Deshalb überzeugt insbesondere filr den Bereich richterlicher Vernehmungen die Differenzierung zwischen zulässigen Täuschungen, die dazu dienen, den Beschuldigten einer Lüge zu überftlhren, und unzulässigen Täuschungen, die zu einem Geständnis motivieren sollen, nicht295 • Dem könnte nur zuVgl. FN 291, S. 681 ff. In diesem Sinne auch Ransiek, StV 94, S. 345. 294 Ein "Recht auf Lüge" impliziert, daß der Vernehmende die Aussage nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Desahlb sollte besser von prozessual zulässigem und unzulässigem Prozeßverhalten gesprochen werden. Vgl. auch Castringius, Schweigen und Leugnen, S. 17 f. Grundlegend zu den Bedenken einer uneingeschränkten Übernahme des materiellrechtlichen Begriffspaars "Rechte" und "Pflichten" in den prozessualen Bereich Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Band I, RN 64 ff. 295 So aber Puppe, GA 78, S. 301 ff., mit der wenig überzeugenden Differenzierung, daß nur das bewußte Eingeständnis der Schuld nicht erschlichen werden darf. Mit der Entscheidung, zur Sache auszusagen, beginne dagegen das Feld "des Kampfes" in dem der Vernehmende kein Recht verletze, wenn er durch Täuschung den Beschuldigten veranlasse, sich unbewußt selbst zu belasten. Dagegen auch Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 59. 292 293

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gestimmt werden, wenn der Beschuldigte durch eine unwahre Aussage zur Sache seine aus dem nemo tenetur-Prinzip folgenden Rechte verwirken würde. Das läßt sich jedoch kaum begründen und steht auch im Widerspruch zu der Feststellung, daß der Beschuldigte weder zur Vollständigkeit seiner Ausfiihrung genötigt werden kann296 , noch verpflichtet ist, das Gericht bei der Wahrheitsfmdung zu unterstützen297 • Ein Blick auf die Rechtsprechung zur Zulässigkeit und Verwertbarkeit pauschalen Leugnens des Angeklagten zeigt, daß die Auffassung, der nemo teneturGrundsatz gebe dem Angeklagten lediglich das Recht, sich gegenüber dem Anklagevorwurf passiv zu verhalten und nicht die Möglichkeit, sich aktiv gegen die Wahrheitstindung zu stellen298, in der Judikatur nicht konsequent eingehalten wird. So stellt beispielsweise das BayObLG fest, daß ein Angeklagter, der trotz des Bewußtseins möglicher strafrechtlicher Folgen ftlr den Zeugen geltend macht, dieser habe unwahr ausgesagt, nicht wegen falscher Verdächtigung strafbar ist, denn es sei das gute Recht eines Angeklagten, die Tatbegehung zu leugnen299 • Die Begründung, woraus sich dieses "gute Recht" ergeben soll, wird durch das BayObLG offen gelassen300. Allein der Hinweis auf die mögliche Schuldlosigkeit des Täters unter dem Gesichtspunkt der Selbstbegünstigung vermag lediglich die Straflosigkeit der Handlung, nicht jedoch deren prozessuale Zulässigkeit zu erklären. In die richtige Richtung weist jedoch die in den Gründen getroffene Feststellung, es sei kein Grund ersichtlich, den Fall der positiven Behauptung der Unwahrheit anders zu bewerten als das bloße Leugnen301. Auch durch bloßes Leugnen oder Bestreiten wird unmißverständlich die Unwahrheit der Zeugenaussage behauptet, ohne daß dadurch schutzwürdige Belange des Zeugen oder der Rechtspflege weniger beeinträchtigt würden. Dieser Begründung liegt unausgesprochen ein normativer Vergleich von Schweigen und positiver Lüge zugrunde, der zu der Schlußfolgerung zwingt, daß in dem materiell- strafrechtlich gezogenen Rahmen auch Lügen gestattet sein muß, wenn man dem Angeklagten keine Pflicht zur Selbstbezichtigung auferlegen 296

S. 45.

Vgl. BGHSt 5, 334; Eser, ZStW 79 (1967), S. 576; Roga/1, Der Beschuldigte,

Vgl. BGH StV 86, S. 422; LR-Schäfer, Ein!. Kap. 13, RN 48. So bezeichnet beispielsweise Ragall den nemo tenetur-Grundsatz als Recht zur Passivität, vgl. Rogall, Der Beschuldigte, S. 158 299 BayObLG JR 86, 28; so auch die h. M., vgl. die Nachweise bei Schänke I Schröder, § 164 StGB, RN 5. Vgl. auch OLG DUsseldorf MDR 92, S. 286, das die bloße Bezichtigung einer anderen Person als zulässiges Verteidigungsverhalten bezeichnet hat. 300 Vgl. auch BGH StV 96, 88: Der Grundsatz, daß Prozeßverhalten fiir sich genommen nicht strafschärfend wirken darf "reicht weiter als das aus dem nemo-teneturPrinzip folgende Verbot, dem Angeklagten mangelnde Mitwirkung an der Sachaufklärung strafschärfend anzulasten". 301 A. A. OLG Hamm NJW 65, 62, jedoch ohne überzeugende Begründung, warum die positive Behauptung "ein Mehr" beinhaltet als das bloße Leugnen. 297 298

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wile02. Ohne daß auf die materiellrechtliche Problematik selbstbegünstigender Aussagen näher eingegangen werden soll, ist selbstverständlich, daß der Schutz vor Selbstbezichtigung in den§§ 145d, 164, 187 etc. StGB seine materiellstrafrechtliche Grenze findet, wenn Individualrechtsgüter Dritter beeinträchtigt werden303. Das Prinzip der Aussagefreiheit kann als prozessuales Schutzprinzip keine Rechtfertigung für die Verletzung von Rechtsgiltern Dritter und damit die Schaffung neuen Unrechts sein304. Innerhalb des materiellstrafrechtlich unzweifelhaft vorhandenen Freiraums305 muß Lügen dem Beschuldigten unter dem Blickwinkel der Freiheit von Selbstbelastungszwang jedoch auch dann gestattet sein, wenn es prinzipiell geeignet ist, die richterliche Arbeit zu verlängern. Das Rechtsgut der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs und der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege muß insoweit hinter dem Schutz vor Selbstbelastung zurücktreten. Die Rechtsprechung geht weiterhin davon aus, es stehe dem Schweigen gleich, wenn der Beschuldigte seine Täterschaft bestreite oder allgemein erkläre, unschuldig zu sein306 . Dies soll auch dann gelten, wenn dadurch notwendigerweise ein anderer belastet wird, so z. B., wenn von zwei Fahrzeuginsassen einer bestreitet, das Unfallauto gefahren zu haben 307 • Selbst dann, wenn der Beschuldigte erklärt, nicht er, sondern ein nicht näher bezeichneter Verwandter habe die Tat begangen, soll dem Tatrichter eine Würdigung dieser Einlassung untersagt sein, denn sie beinhalte nur die Behauptung eigener Unschuld308 . Doch auch die Beteuerung eigener Unschuld, die Verdächtigung eines "Unbekannten" oder eines tatbeteiligten Dritten ist bei nachgewiesener Täterschaft des Angeklagten unzweifelhaft eine wissentlich unwahre Behauptung. Ohne auf die Würdigung teilweisen Schweigens an dieser Stelle näher einzugehen, mutet es deshalb angesichts der Behauptung, der nemo tenetur-Grundsatz gewähre lediglich ein Recht zur Passivität seltsam an, eine Würdigung dieser doch unzweifelhaft aktiv erfolgten Angaben als Verstoß gegen den nemo tenetur-Prinzip zu werten. Dies soll sogar dann gelten, wenn die Täterschaft des Angeklagten nachgewiesen ist, dieser also unzweifelhaft gelogen hat. Soweit dabei verdeckt abgewogen wird, ob das schlichte Abstreiten oder Lügen ver302

A.A. Keller, JR 86, S. 30 f.

Ausruhrlieh Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip, insbesondere S. 236 ff. m.w.N. 304 LR-Hanack, § 136 StPO, RN 41 ; Rieß, JA 80, S. 297. 305 Zu den strafrechtlichen Grenzen der Beschuldigtenlüge, Fezer, FS fiir Stree I Wessels, S. 671 ff. 306 BGHSt 25, 368; 34, 326; 38, 307; OLG Celle NJW 74, 202; OLG DUsseldorf MDR 88, 796; 92, 286; OLG Harnburg MDR 76, 864 jeweils m. w. N. 307 Vgl. OLG Celle NJW 64, 732 ff.; OLG Hamm NJW 65, 62. 308 OLG Stuttgart VRS 69, 295; vgl. auch BayObLG VRS 59, 348; OLG Karlsruhe VRS 59, 433; OLG Koblenz VRS 59, 433. 303

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gleichbaren Aufklärungsaufwand bei der Urteilsfmdung verursache09 oder welchen faktischen Aussagewert die Erklärung besitzt, erscheint dies willkürlich und durch die damit verbundene Umdeutung eines aktiven Bestreitens in ein normatives Unterlassen äußerst problematisch310 • Es entspricht eher zivilprozessualem Denken, zwischen schlichtem Klageleugnen und substantiiertem Bestreiten zu differenzieren. Strafprozessual ist beides - ob qualifiziert oder unqualifiziert - als Lüge zu werten. Darüber hinaus ist wohl jede Form des Schweigens, Leugnens oder Lügens tendenziell geeignet, ein Mehr an Ermittlungstätigkeit zu verursachen 311 • Daß die durch das nemo tenetur-Prinzip abgesicherte Aussagefreiheit des Beschuldigten nicht auf ein passives Schweigerecht beschränkt werden kann, sondern auch die positive Äußerungsfreiheit und damit die Inhaltsfreiheit der Aussage umfaßt, kann durch einen Blick auf die Begründung der Verwertbarkeit teilweisen Schweigens untermauert werden. Die zunehmend in Kritik geratene Rechtsprechung312 begründet die Verwertbarkeit der teilweisen Einlassung, d. h. der lediglich partiellen Einlassung des Beschuldigten und des Schweigens zu einzelnen Punkten, u. a. damit, daß es filr den Richter psychologisch unmöglich sei, den Umstand der teilweisen Auskunftsverweigerung aus seiner Überzeugungsbildung auszuklarnmem313 • Sicherlich dürfen psychologische Schwie309 In diesem Sinne Meyer, StV 85, S. 499. Kaum haltbar ist deshalb auch die vom BGH JR 81 , S. 432- allerdings llir den Fall des§ 52 StPO- vorgenommene Gleichstellung von teilweisen Angaben des Zeugen mit dessen völliger Zeugnisverweigerung, weil der Angehörige nur Angaben gemacht habe, die für die Beurteilung der Tatfrage ohne Bedeutung sind. 310 Vgl. zu dieser Umdeutung aus strafprozessualer Sicht auch Rogal/, Der Beschuldigte, S. 251 f. 311 Deshalb überzeugt es nicht, wenn diese Fälle mit der Begründung aus § 145d II Nr. I StOB ausgeklammert werden, die durch § 145d StOB geschützte Ermittlungslage sei nicht zu Lasten der Strafverfolgung beeinträchtigt worden, vgl. die Nachweise bei Schänke I Schröder, § 145d StOB, RN 15; SK-?, §145d StOB, RN 15. 312 Aus der neueren Rspr. vgl. u. a. BGHSt 20, 298 ff.; NStZ 84, 377; StV 97, 6; OLG Stuttgart NStZ 81, 273; OLG Zweibrücken StV 86, 290. Zum Schrifttum, vgl. die umfangreichen Nachwiese bei Bauer, Die Aussage, S. 56; Rieß, JA 80, S. 295; Wessels, JUS 66, S. 172 und bei Quentmeier, JA 96, in FN 32. Ablehnend u. a. Günther, JR 78, S. 91 ; Kühl, JUS 86, S. 120 f.; Rogal/, Der Beschuldigte, S. 250 ff.; Stree, JZ 66, S. 598; Schneider JURA 90, S. 579 jeweils m. w. N. 313 OLG Oldenburg NJW 69, 806. Vgl. auch Fuhrmann, JR 65, S. 418 f., der wohl zutreffend darauf hinweist, daß das Schweigen zu einzelnen Fragen den Richter zwangsläufig beeinflussen wird. Verfehltjedoch der Schluß Quentmeiers, JA 96, S. 220, der aus dieser psychologischen Tatsache den Schluß zieht, der Beschuldigte müsse, um Widersprüchlichkeiten zu vermeiden, auf diese "Zweischneidigkeit" des Schweigens hingewiesen werden. Mit einer entsprechenden, irrefUhrenden Belehrungsformel würde unzweifelhaft Druck auf den Angeklagten ausgeübt, sich zur Sache einzulassen. Man stelle sich nur die von Quentmeier wohl ins Auge gefaßte Belehrungsformel vor: "Es ist zwar ihr gutes Recht zu schweigen, das Gericht sieht sich jedoch psychologisch außer Stande, Ihr Teilschweigen nicht zu Ihren Lasten zu verwerten".

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rigkeiten für sich genommen kein Anlaß sein, die Pflicht zu rationaler Beweiswürdigung beiseite zu schieben. Es bleibt aber dennoch die psychologische Tatsache, daß dem Vernehmenden die Verweigerung der Kommunikation zu bestimmten Fragen verdächtig erscheinen muß. Warum sollte beispielsweise ein Angeklagter den Namen eines ihm bekannten, tatunbeteiligten Zeugen verweigern, wenn dieser allein in der Lage ist, sein Tatzeitalibi zu bestätigen314? Denkgesetzlich ist es sicherlich möglich, Gründe zu fmden, die dagegen sprechen, allein aufgrund des Teilschweigens die Angabe des Angeklagten als Schutzbehauptung zu werten. Dennoch wird das "verdächtige Schweigen" den weiteren Gang der Vernehmung, die Einstellung des Vernehmenden gegenüber dem Aussagenden und zumindest unbewußt auch die Beweiswürdigung beeinflussen. Dem dadurch ausgeübten, psychisch vermittelten Zwang zu selbstbelastenden Angaben kann der Beschuldigte nur durch Lügen entgehen. Das zwingt dazu, dem Beschuldigten die Möglichkeit zu belassen, diese selbstbelastenden Lücken durch unwahre Angaben zu schließen, um sich nicht selbst offenbaren zu müssen315 • Daraus resultiert sowohl die Unzulässigkeil einer Ermalmung zur Wahrheit als auch eines Vernehmungsstils, der, wie die Festlege-, Verstrikkungs- und Zermürbungsstrategie darauf angelegt ist, den Beschuldigten in seinem "eigenen Lügengebäude zu verfangen"316. Soweit dem Beschuldigten dabei lediglich Widersprüche zu belastendem Beweismaterial aufgezeigt werden oder versucht wird, auf Einzelheiten seiner Darstellung einzugehen, ist dies unproblematisch zulässig. Ebenso ist nichts gegen den Hinweis auf die möglichen strafrechtlichen Folgen einer unwahren Aussage einzuwenden, wenn der Vernehmende erkennt, daß der Beschuldigte tatsächlich mit seiner Aussage die Strafbarkeilsgrenze überschritten hat. Unzulässig ist es dagegen, dem Beschuldigten durch einen überraschenden und verwirrenden Wechsel des Gesprächsgegenstandes zunächst seine kommunikative Kompetenz zu nehmen317 und dadurch den Sinn der vorangegangenen Belehrung zu entwerten, um ihn anschließend unvermittelt mit der "vermeintlichen Wahrheit" zu konfrontieren. Dadurch würde dem Beschuldigten seine Willens314

dorf.

Vgl. den in StV 90, 442 dargestellten Sachverhalt eines Urteils des OLG Düssel-

315 Gegen diese Ableitung aus dem nemo tenetur-Grundsatz Fezer, FS llir Stree I Wessels, S. 677, der ein eigenständiges "Recht zur Lüge" vorrangig mit der prozessualen Stellung des Beschuldigten begründet. Vgl. aber auch Pfonninger, SJZ 57, S. 148: "Gerade weil das bloße Schweigerecht zur Verteidigung nicht genügt und in der Regel belastend wirkt", müsse dem Beschuldigten als Konsequenz des nemo teneturGrundsatzes nicht nur das Recht auf Aussageverweigerung, sondern auch das "Recht auf Lüge" zugestanden werden. 3 16 Vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 595; Geerds, Vernehmungstechnik, S. 97; Gundlach, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 148 ff. m. w. N. Gegen die Zulässigkeil entsprechender Methoden Ransiek, StV 94, S. 345. 3 17 Gundlach, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 151.

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entschließungsfreiheit geraubt und er würde in einer, mit seiner Äußerungsfreiheit unvereinbaren Weise, zum Mittel der eigenen Überfilhrung funktionalisiert. Die prozessuale Faimeß oder Fürsorge gebietet es aber nicht, den Beschuldigten darauf hinzuweisen, daß er gegebenenfalls auch zur Lüge Zuflucht nehmen könne318 • Eine Belehrung diesen Inhalts wäre zumindest mißverständlich, denn der Belehrende würde dadurch den Anschein erwecken, der Beschuldigte könne gerne lügen, denn seine Aussage sei sowieso ohne Relevanz. Überdies kann kaum eine Belehrungsformel gefunden werden, die dem Beschuldigten zugleich in verständlicher Form die Strafbarkeitsgrenzen der zulässigen Beschuldigtenlüge aufzeigt. Der nemo tenetur-Grundsatz entfaltet in diesem Bereich damit vorrangig eine Abwehrfunktion, die es gebietet, nicht durch mißverständliche Ermahnungen zur Wahrheit, auf eine selbstbelastende Aussage des Beschuldigten hinzuwirken. 2. Sanktionierung des Prozeßverhaltens in Beweiswürdigung und Strafzumessung

a) Bewußt unwahre Angaben zur Sache und ihre Berücksichtigung bei der Beweiswürdigung Auf den ersten Blick scheint die aufgezeigte weite Interpretation des Normgehalts des nemo tenetur-Grundsatzes in Kollision mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung zu geraten. Für den Fall völligen oder zeitweisen Schweigens ist anerkannt, daß dieses aus Rechtsgründen der freien Beweiswürdigung entzogen sein muß. Andernfalls würde der Beschuldigte gezwungen sich zu äußern, damit sein Schweigen nicht als Schuldindiz gewertet wird319 • Jede Würdigung dieser Form des Schweigens würde die Aussagefreiheit als die Möglichkeit "freier Selbstdarstellung im Prozeß320" einschränken. Sieht man auch die Angabe unwahrer Behauptungen durch den nemo tenetur-Grundsatz mitumfaßt, so müßten der Beweiswürdigung auch in diesem Punkt rechtliche Schranken gesetzt werden321 • Auf den ersten Blick erscheint dies widersinnig, denn durch die Entscheidung, auszusagen und nicht zu schweigen, gibt der Beschuldigte klar zu erkennen, daß er die von ihm aufgestellten Behauptungen in die richterliche Beweiswürdigung miteinbezogen wissen will. Der Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn man erkennt, daß der Schutz vor unfreiwilliger Selbstbelastung le318 So aber Bottke, ZStW 96 (1984), S. 758, aufgrundeines Vergleichs mit der Belehrungpflicht nach § 136 StPO. Dagegen Fezer, FS filr Stree I Wessels, S. 680. 319 Allgemeine Auffassung, vgl. nur BVerfG StV 95, 505; LR-Gollwitzer, § 261 StPO, RN 75 m. umfangreichen N. 32 Kühl, JUS 86, S. 121. 321 Deshalb gegen ein "Recht auf Lüge" Rüping, JR 74, S. 139; dazu auch Fezer, FS flir Stree I Wessels, S. 672, 682.

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diglich erfordert, die Tatsache, daß der Beschuldigte gelogen hat, der Beweiswürdigung zu entziehen. Dies entspricht auch der selbst von Vertretern der gegenteiligen Auffassung anerkannten Erfahrungsregel, daß es keineswegs ungewöhnlich ist, daß auch Unschuldige im Strafprozeß die Unwahrheit sagen, weil sie befilrchten, ihre Lage bei wahrheitsgemäßer Aussage zu verschlechtern322 • Die Tatsache einer erwiesenen Lüge des Beschuldigten darf deshalb nicht als Indiz dafilr gewertet werden, daß er auch zu einem anderen, damit nicht verknüpften Punkt die Unwahrheit gesagt hat, und sie darf nicht dazu dienen, dem Beschuldigten seine Glaubwürdigkeit insgesamt abzusprechen323 • Betrachtet man die Rechtsprechung zu Fragen der Beweiswürdigung unwahrer Angaben des Beschuldigten, so fällt auf, daß die aus normativen Gesichtspunkten erforderliche Beschränkung der Beweiswürdigung - wenngleich mit anderer Begründung - weitgehend verwirklicht ist. Der BGH formuliert zwar sehr zurückhaltend, daß Lügen, mit denen der Angeklagte sich verteidigen dürfe, nur mit Vorsicht als Beweisanzeichen filr strafrechtliche Schuld verwertet werden könnten324. Auch ein Unschuldiger könne vor Gericht Zuflucht zur Lüge nehmen, und sie gestatte kaum Rückschlüsse darauf, was sich wirklich ereignet habe. Sieht man diese Aussage jedoch im Zusammenhang mit anderen Entscheidungen des BGH zur Frage der Beweiswürdigung unwahrer Beschuldigtenaussagen, muß man feststellen, daß die Tatsache der Lüge einer negativen Bewertung so gut wie entzogen ist. So können nach Auffassung des BGH fiir widerlegt erachtete Behauptungen eines Angeklagten nicht Grundlage oder Beweisanzeichen filr eine Verurteilung sein325 . Ebenso gilt das Scheitern eines Alibis nicht als Indiz filr die Schuld. Es geht nur insofern zu Lasten des Angeklagten, als sein Versuch, unabhängig von den sonstigen Beweisergebnissen einen Freispruch zu erreichen, gescheitert ist326 . Schließlich dürfen aus der Tatsache, daß der Angeklagte anfli.nglich geleugnet hat und erst unter dem Druck der Beweise zugibt, gelogen zu haben, keine Rückschlüsse auf einen anderen Tatkomplex gezogen werden, den der Angeklagte weiterhin leugnet327 • Genau betrachtet sind damit alle Rückschlüsse von der Lüge auf andere, mit dieser nicht verknüpfte Beweisfragen ausgeschlossen. Dem Gericht bleibt es lediglich unbenommen, einen Wechsel in der Einlassung des Beschuldigten im Laufe des Verfahrens als Indiz filr die Unrichtigkeit des veränderten Vorbeingens mitzuberücksichtigen328• Ansonsten verhindern im BeWessels, JUS 66, S. 174. So aber KK-Boujong, § 136 StPO, RN 20; LR-Hanack, § 136 StPO, RN 42; Rieß, JA 80, S. 297; Rüping, JR 74, S. 139. 324 Vgl. nur BGHSt 41, 153; BGH StV 85, 356 f.; 97, 325; StV 97,291 f. m.w.N. 325 BGHSt 25, 287; BGH NStZ 86, 325. 326 BGH StV 92, 259; NStZ 83, 422; JR 74, 383 jeweils m. w. N. 327 BGH bei Pfeiffer, NStZ 82, 190. 328 Vgl. auch BGH StV 96, 5. 322 323

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reich richterlicher Beweiswürdigung die strafprozessualen Verfahrensgarantien filr den Angeklagten die Anwendung des sprichwörtlichen Erfahrungssatzes, "wer einmal lügt, dem glaubt man nicht". Eine Lüge des Beschuldigten kann das Gericht nicht von der Pflicht entbinden, auch das weitere Vorbringen des Beschuldigten unvoreingenommen auf seinen Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Angesichts der zahlreichen Motive filr eine falsche Aussage des Beschuldigten, etwa einer Höherbewertung anderer Interessen, der Scham oder der Unsicherheit, durch eine wahre Aussage nur alles "noch schlimmer zu machen",. wird ein Schluß von einer Lüge des Beschuldigten auf dessen Schuld empirisch auch in den seltensten Fällen zwingend sein329• Selbst die Frage, ob die Unschuldsbeteuerung oder das qualifizierte Abstreiten der Tat mit der objektiven Wahrheit nicht in Einklang steht, kann das Gericht nur dann beurteilen, wenn es die Überzeugung vom wirklichen Tatgeschehen bereits anderweitig gewinnen konnte. Auch bei Beurteilung dieser Frage kann die Tatsache der Lüge filr die gerichtliche Überzeugungsbildung keine Rolle spielen330• Das gilt nicht nur filr den Fall des schlichten Abstreitens, das sowieso nicht mehr an Erklärungwert besitzt als die Behauptung, unschuldig zu sein, sondern auch filr falsche Tasachenbehauptungen des Beschuldigten. Jede Würdigung der Lüge setzt voraus, daß feststeht, warum der Beschuldigte gelogen hat331 • Ganz abgesehen von der Vielzahl möglicher Motive, die kaum einen tragfähigen Rückschluß darauf zulassen, welcher Beweggrund den Beschuldigten veranlaßt hat zu lügen, setzt auch hier eine zulässige Beweiswürdigung voraus, daß das Gericht die Überzeugung von der schuldbestätigenden Motivation zur Lüge bereits durch andere Beweismittel gewonnen hat. Entzieht man die Tatsache der Lüge des Beschuldigten aus normativen Erwägungen der Beweiswürdigung, wird diese nicht mehr beschränkt, als sie es rein faktisch ohnehin schon ist. Zudem werden sich in einer überwiegenden Anzahl der Fälle selbst aus unwahren Angaben des Beschuldigten Anhaltspunkte ergeben, die Rückschlüsse auf das tatsächliche Tatgeschehen ermöglichen. b) Das Aussageverhalten des Beschuldigten und StrafzumessungseTWägungen des Gerichts aa) Das Geständnis im Rahmen der Strafzumessung

Als weitergehende Konsequenz darf weder die straflose Beschuldigtenlüge um ihrer noch ein Geständnis des Angeklagten um seiner selbst willen als Straf329 33

Vgl. auch BGH NStZ 86, 286; OLG Köln NStZ 91 , 53 m. w. N.

° Für ·den Fall schlichten Abstreitens, vgl. Castringius, Schweigen und Leugnen,

S. 67.

33 1

Vgl. Castringius, Schweigen und Leugnen, S. 68.

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zumessungsgrund verwertet werden. Beiden Alternativen ist gemeinsam, daß ein an sich zulässiges und damit schuldneutrales Aussageverhalten im Prozeß straferhöhend- bzw. mildernd wirken soll. Sowohl in den Fällen einer strafschärfenden Verwertung des Leugnens als auch bei schematischer stratinildemder Berücksichtigung eines Geständnisses wird das Verteidigungsverhalten des Angeklagten maßgeblich beeinflußt und Druck auf einen sich unkooperativ verhaltenden Angeklagten ausgeübt. Die Rechtsprechung bedient sich bei der Berücksichtigung des Aussageverhaltens des Angeklagten im Rahmen der Strafzumessung einer "doppelten lndizkonstruktion"332 • Ein Geständnis kann als Nachtatverhalten strafinildemd wirken, wenn sich aus ihm auf Reue und aus der Reue auf eine verminderte Tatschuld schließen läßt. Auch wenn immer wieder betont wird, das Geständnis müsse Beweisanzeichen fUr eine "innere Umkehr" und "ehrlich empfundene" Reue des Täters sein333 , so spricht die pauschale Berücksichtigung kooperativen Verhaltens bei der Strafzumessung im Gerichtsalltag eine deutlich andere Sprache334 • Hier treten vor allem prozeßökonomische Gesichtspunkte in den Vordergrund, die dazu ftlhren, daß ein Geständnis vor allem dann honoriert wird, wenn es eine Arbeitserleichterung fUr das Gericht mit sich bringt335 • Die durch ein Geständnis bewirkte Verfahrensbeschleunigung 332 Grundlegend BGHSt I, I05 ff. Vgl. ansonsten zur (fast) unübersehbaren Einzelfallrechtsprechung der Gerichte d. umfangreichen N. bei Bruns, Recht der Strafzumessung, S. 23 ff.; Krösehel I Meyer-Goßner, Die Urteile in Strafsachen, S. I70 f.; Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 290 ff. Kritisch zur "doppelten Indizkonstruktion u. a. Dencker, ZStW I02 (I990), S. 56 f. m. w. N. Mit seinem eigenen Ansatz- ein Geständnis könne deshalb strafinildernd berücksichtigt werden, weil das Gericht strafzumessungsrelevante Angaben häufig nur mit Mitwirkung des Angeklagten ermitteln kann und ohne dessen Mitwirkung von der Normalfallhypothese ausgehen muß - rennt Dencker allerdings offene Türen ein (a. a. 0 ., S. 67 ff.). Nicht das Geständnis fiir sich genommen hat dann eine strafinildernde Funktion, sondern allenfalls die dadurch vorgebrachten Tatsachen, die allein schon deshalb berücksichtigt werden müssen, weil der Angeklagte einen Anspruch auf rechtliches Gehör hat. Ablehnend auch Frisch, ZStW 99 ( I987), S. 779 f. 333 So Krösehel I Meyer-Goßner, Die Urteile in Strafsachen, S. I70. Vgl. auch Bruns, Recht der Strafzumessung, S. 233m. w. N. 334 Bezeichnend etwa Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 296, "ein Geständnis sollte stets strafinildernd berücksichtigt werden". Wer könne schon feststellen, ob ein Geständnis von Einsicht in das begangene Unrecht getragen ist. V gl. auch Hammerstein, FS fiir Odersky, S. 405 m. w. N. 335 Vgl. dazu auch die Ratschläge Rückeis in NStZ 87, S. 297 ff. (302 f.), fiir die Verteidigung des Beschuldigten, der offensichtlich davon ausgeht, daß der Wert des Geständnisses im wesentlichen von dessen verfahrenserleichternden Funktion abhängt. So auch Schmidt-Hieber, Verständigung im Strafverfahren, RN I69 ff. Auch Schäfer, Praxis des Strafverfahrens, RN 297, glaubt § 3I BtMG den allgemeinen Rechtsgedanken entnehmen zu können, daß eine Aufklärungshilfe in jedem Fall strafinildernd zu berücksichtigen ist. Zur gängigen Praxis der Strafgerichte diesbzgl. Schänke I SchröderStree, § 46 StGB, RN 4Ia. Ob bindende Absprachen allein aus prozeßökonomischen Erwägungen zulässig sind, kann hier nicht entscheiden werden. Dies wird wesentlich davon abhängen, unter welchen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen die Absprache

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kann es fUr sich genommen jedoch nicht rechtfertigen, das Geständnis strafi:nildernd zu honorieren. Es sei denn, man ginge davon aus, der Täter schaffe dadurch, daß er sich verteidigt, zusätzliches Unrecht. Letztlich wird durch diese Praxis mittelbarer Druck auf den Angeklagten ausgeübt, der sich der Möglichkeit einer fakultativen Strafmilderung nicht begeben möchte336• Über Umwege wird dadurch eine unserem gegenwärtigen Verfahrensverständnis nicht entsprechende Prozeßilirderungspflicht des Beschuldigten eingefilhrt. Man wird sicherlich nichts dagegen einwenden können, daß ein Geständnis dann strafmildernd berücksichtigt wird, wenn der Täter versucht, den durch die Straftat verursachten Schaden aus eigener Initiative wiedergutzumachen337 sich beispielsweise bei Ehrverletzungsdelikten beim Tatopfer entschuldigt oder bei Vermögensdelikten versucht den Schaden auszugleichen. In diesem Sinne ist es auch hinzunehmen, daß § 46 II StGB im Ergebnis nur den geständigen Beschuldigten belohnt, der sich um einen Ausgleich mit dem Opfer bemüht. § 46 II StGB bewertet nur ein von der Verteidigungsstrategie des Angeklagten unabhängiges, außerstrafprozessuales Verhalten338 • Im Rahmen von § 46 II StGB wirkt nicht das Geständnis fUr sich genommen strafmildernd, sondern es ist lediglich mittelbare Voraussetzung fUr darüber hinausreichende Ausgleichsbemühungen des Angeklagten, die sich gegebenenfalls fUr diesen günstig auswirken können339• Ein Geständnis des Täters kann diese Wirkung selbst auch gar nicht besitzen, denn allein durch das Bekennen der Tat gleicht der Täter noch nicht das dem Opfer zugefUgte Unrecht aus.

zustandegekommen ist. Die "doppelspurige Indizkonstruktion" des BGH versagt bei Absprachen auf jeden Fall, da bei diesen ein Geständnis nicht aus Reue, sondern zum Tausch gegen Strafinilderung abgelegt wird. Ablehnend zur Berücksichtigung des Tataufklärungsbeitrages bei der Strafzumessung Weigend, JZ 90, S. 778; kritisch Hammerstein, FS llir Odersky, S. 409. 336 Vgl. auch Jerouschek, ZStW 102 (1990), S. 806; Weßlau, KritJ 93, S. 463 m.w.N. 337 Nicht eingegangen werden kann hier auf die spiegelbildlich gelagerte, materiellrechtlich zu beurteilende Selbstbegünstigungsproblematik, ob ein außerstrafprozessuales Nachtatverhalten strafschärfend wirken kann - beispielsweise die Fälle des Nachtrunks, des Versteckens der Beute, das Vernichten von Tatspuren und dgl., vgl. dazu u. a. Bruns, Recht der Strafzumessung, S. 235, 239. 338 Kritisch zur ungenauen Formulierung des § 46 II StGB Bruns, Recht der Strafzumessung, S. 230. Der Wortlaut leiste der selbständigen Berücksichtigung eines Geständnisses "i. S. einer vulgär moralisierenden Betrachtungsweise Vorschub". 339 Vgl. dazu auch LK-Gribbohm, § 46 StGB, RN 214. Zwar kann auch ein bloßes Bemühen des Täters zur Strafinilderung filhren, ein Geständnis wird diese Wirkung jedoch in aller Regel nicht haben. Die gleichen Grundsätze müssen auch filr § 46a StGB gelten. Kritisch zu § 46 II StGB, insbesondere zu der sich daraus entwickelnden Praxis, die fehlende Wiedergutmachung strafschärfend zu berücksichtigen und damit Druck auf das Verteidigungsverhalten des Angeklagten auszuüben, Brauns, Die Wiedergutmachung der Folgen, S. 124 ff. (126 f.). m. w. N.

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Problematisch ist es hingegen, daß ein Geständnis bereits dann strafmildernd wirken soll, wenn es beispielsweise dem Opfer einer Sexualstraftat eine Vernelunung in der Hauptverhandlung erspart und dieses damit vor einer "sekundären Viktimisierung" durch das Strafverfahren bewahrt340• Hier gleicht der Täter nicht etwa ein bereits begangenes Unrecht aus, sondern er verhindert lediglich, daß dem Opfer erneut Schaden zugefilgt wird. Es sei in diesem Zusammenhang erneut an die Warnung des BGH erinnert, es sei "unzulässig, den geständigen Verbrecher nur seines Geständnisses wegen milder ... zu bestrafen, weil eine solche schematische Berücksichtigung ... als unzulässiger Druck auf den Angeklagten wirken könnte"341 • Nun ist diese Begründung natürlich insoweit offen, als nicht nur eine "schematische Berücksichtigung" des Geständnisses indirekten Druck auf den Angeklagten ausübt, sondern jede Form der Vergünstigung fiir kooperatives Verhalten im Prozeß, gleichgültig auf welchen Erwägungen sie beruhe42 . Dennoch deutet dieses Urteil in die richtige Richtung. "Unzulässiger" Zwang wird auf den Angeklagten nur dann ausgeübt, wenn allein die Tatsache eines Geständnisses bei der Strafzumessung berücksichtigt wird, nicht jedoch, sofern ein Geständnis lediglich Voraussetzung filr ein weiteres, über den Prozeßverlauf hinausreichendes Verhalten des Täters ist, das sich strafmildernd auswirken kann343 • Will man den 340 Vgl. dazu die interessanten Ausfilhrungen von Weßlau, KritJ 93, S. 467 ff. m. w. N. und Dencker, ZStW 102 (1990), S. 58 ff. (61). Vgl. auch den Ansatz von Frisch, ZStW 99 (1987), S. 776 ff., der ein Geständnis dann als Nachtatverhalten honorieren möchte, wenn der Täter durch dieses verhindert, daß die durch den verletzten Tatbestand geschützten Rechtsgüter erneut beeinträchtigt werden. Auf alle Fälle verbietet sich aber der beispielsweise von Walder, Die Vernehmung, S. 143, vorgeschlagene Hinweis an den Beschuldigten, ob er es verantworten könne, daß das Kind nochmals befragt werde. Daß es nicht strafschärfend gewertet werden kann, wenn der Angeklagte auf die Einvernahme des Tatopfers besteht, hat auch die Rechtsprechung anerkannt (V gl. dazu bereits BGHSt I, 342 ff.; ebenso BGH GA 62, 339; NJW 66, 894; StV 86, 429). A. A. Schäfer die Praxis der Strafzumessung, RN 292, der dabei offen bekennt, daß der Täter diese Rechtsfolge nur durch ein umfassendes Geständnis abwenden kann. Nur am Rande sei erwähnt, daß sich viele der aufgezeigten Problem vermeiden ließen, wenn eine Zweiteilung der Hauptverhandlung eingefilhrt und dadurch dem Angeklagten ermöglicht würde, sich nach Feststellung der Schuld um die Wiedergutmachung des angerichteten Schadens zu bemühen. 341 Vgl. BGHSt 1, 106. 342 Ähnlich auch Weßlau, KritJ 93, S. 465. 343 Nicht überzeugend die Festellung, Weßlaus, KritJ 93, S. 465 f., was ein unzulässiger Druck ist, lasse sich nicht von der Aussagefreiheit her entscheiden, sondern allein aus dem Strafzumessungsrecht. Anerkennt man eine funktionale Verknüpfung von Strafzumessung und Aussagefreiheit des Beschuldigten, so müssen die anerkannten Strafzumessungserwägungen natürlich ihrerseits in ihren Wirkungen auf die Verteidigungsfreiheit des Beschuldigten untersucht werden. Sonst müßte sich Weßlau den gleichen Vorwurf wie die von ihr zuvor kritisierten Autoren machen lassen (vgl. S. 464), daß sie im Wege einer nicht ausreichend begründeten Abwägung einem der beiden Interessen aufgrundeines beliebigen Wertungsvorgangs den absoluten Vorrang einräumt.

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Angeklagten in diesem Punkt nicht mittelbar zur Aufgabe seiner Verteidigungsposition zwingen, so sollte besser auf eine letztlich systemfremde "opferbezogene Strafzumessung" verzichtet und nach anderen Möglichkeiten des Opferschutzes gesucht werden. Man kann zwar sicherlich nicht behaupten, die Aussagefreiheit des Beschuldigten beanspruche per se absoluten Vorrang vor Opferschutzgesichtspunkten. Dennoch kann eine funktionale Verknüpfung der gegensätzlich gelagerten Interessen von Opfer und Angeklagtem nicht geleugnet werden344. Ein Gesichtspunkt, der bei dem gegenwärtigen Trend zu einer "Opferbezogenen Strafrechtspflege" unter Mißachtung des an sich tat- und täterbezogenen Strafzumessungsrechts nicht außer acht gelassen werden sollte. Im übrigen dürfte ein Geständnis des Täters das Gericht häufig nicht von seiner Aufklärungspflicht entbinden, so daß in diesen Fällen oft nur der "gute Wille" des Angeklagten bewertet werden kann345 . Dafilr ist jedochtrotzder Tatsache, daß das Gericht bei der Strafzumessung die innere Einstellung des Täters zur Tat bewerten muß, die doppelte Indizkonstruktion des BGH völlig ungeeignet. Denkbar wäre es allenfalls, ein Geständnis dann als Ausdruck der Rückkehr zur Rechtsordnung zu werten, wenn der Täter dabei bisher unentdeckt gebliebene Taten offenbart, die nicht den Gegenstand des gegenwärtigen Verfahrens bilden346, und damit zum Ausdruck bringt, daß er mit seinem bisherigen rechtsfeindlichen Verhalten abschließen möchte347. Im übrigen könnte lediglich ein freiwillig erbrachtes Geständnis als eigenständige, dem Angeklagten zurechenbare Leistung bei der Strafzumessung Berücksichtigung fmden. Mit dem Beginn der Hauptverhandlung hat sich aber - wegen der erhöhten Verurteilungsswahrscheinlichkeit ab diesem Zeitpunkt - der gegen den Angeklagten wirkende Druck so verdichtet, daß sich der Grad der noch bestehenden Eigenmotivation nur an Indizien feststellen läßt, die über das eigentliche Geständnis hinausreichen348. V gl. dazu auch Bruns, Recht der Strafzumessung, S. 232. Zwar genügt auch bei § 46 II StGB das "Bemühen" um Wiedergutmachung, ein Geständnis kann eine vergleichbare Indizwirkungjedoch nicht entfalten. 346 Vgl. auch BGH StV 87, 487. 347 Ohne daß dies hier näher ausgefilhrt werden soll, werden sich unter diesem Gesichtspunkt die meisten Kronzeugenregelungen (etwa § 129a StGB,§ 31 BtMG) dogmatisch klar begrenzen lassen. Ein ähnlicher Grundgedanke liegt auch § 153e StPO zugrunde, der die Möglichkeit eröffnet, von der Verfolgung bestimmter Taten abzusehen, wenn der Täter eine über das Geständnis hinausreichende Aufklärungshilfe filr Taten Dritter leistet. Hier wird demnach nicht das Geständnis an sich belohnt, sondern aus generalpräventiven Erwägungen Strafmilderung gewährt. Entscheidend ist, daß der Täter keine Angaben zu seinem eigenen Tatbeitrag und zu seiner Schuld liefern muß. Ähnlich auch der Ansatz von Jerouschek, ZStW I 02 ( 1990), S. 809 ff. Kritisch in Anbetracht des Aussageverweigerungsrechts des Beschuldigten aber Roxin, Strafverfahrensrecht, § 14, RN20. 348 Zur Berücksichtigung des Verfahrensstadiums bei Wiedergutmachungsleistungen des Täters vgl. auch Brauns, Die Wiedergutmachung der Folgen, S. 229m. w. N. 344 345

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bb) Strafschärfende Berücksichtigung qualifizierten Leugnens

Während demnach zumindest Fälle denkbar sind, in denen ein Geständnis mittelbare Voraussetzung ftlr eine Strafmilderung ist, kann weder ein unqualifiziertes Bestreiten noch ein substantiiertes Leugnen der Tat Anlaß ftir eine Strafschärfung sein. Für die Fälle teilweisen Schweigens ist anerkannt, daß dieses nicht als Indiz ftlr einen höheren Schuldgrad dienen kann, da der Beschuldigte nur von einem ihm zustehenden Recht Gebrauch mache49 • Dagegen soll ein hartnäckiges, substantiiertes Leugnen des Täters als Nachtatverhalten Berücksichtigung fmden können, wenn es den Schluß auf eine rechtsfeindliche Gesinnung oder auf mangelnde Unrechtseinsicht zuläße50• Diese Überbewertung des Prozeßverhaltens des Täters muß bei nüchterner Betrachtung als Relikt eines überkommenen obrigkeitsstaatliehen Verfahrensverständisses angesehen werden351 • Sie paßt jedoch nicht zu einem modernen Prozeßrechtsverständnis, daß nur die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat und nicht sein Verhalten gegenüber der Autorität des Gerichts bewertee52• Überschreitet der leugnende Angeklagte nicht materiellstrafrechtlich gesetzte Grenzen, so kann dessen Prozeßverhalten weder unter Schuld- noch unter Präventionsgesichtspunkten eine Strafschärfung rechtfertigen353 • Ein Geständnis kann zumindest mittelbare Voraussetzung ftir eine Schadenswiedergutmachung sein und berührt durch die dadurch herbeigeftlhrte Vermeidung eines Dauerschadens die Erfolgskomponente der Strafzumessungschuld. Zudem kann ein Geständnis auch die Präventionswertung der Strafzumessung beeinflußen, wenn es sich, wie oben beispielhaft angeftlhrt, nicht auf die verfahrensgegenständliche Tat bezieht. Ein Leugnen des Täters kann jedoch unter keinem der genannten Strafzumessungserwägungen relevant werden, es sei denn, man will den Täter daftlr bestrafen, daß er von einer in eng begrenzten Fällen zulässigen, fakultativen Strafmilderung keinen Gebrauch gemacht hat. 349 BGH bei Dallinger MDR 73, 370; BGH StV 81, 276 f.; NStZ-RR 96, S. 71; LRGollwitzer, § 261 StPO, RN 76; Dingeldey, JA 84, 413 f.; Grünwald, Beweisrecht, S. 67 f. m. jeweils w.N. 350 Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 591 ff; Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 291; Schänke I Schröder-Stree, § 46 StGB, RN 42; LR-Hanack, § 136 StPO, RN 42 m. w. N.; ablehnend Fezer, FS filr Wessets I Stree, S. 683; wohl auch Roxin, Strafverfahrensrecht, § 25, RN 9, die jedoch beide die Änderung der Rechtsprechung nicht ausreichend zur Kenntnis nehmen. 351 Hier sei an eine Bemerkung Liepmanns erinnert, der die Würdigung der LUge als Indiz filr die Schuld als "Erbstück aus dem lnquisitionsprozeß" bezeichnet hat (Vgl. ZStW 44 (1924 ), S. 662). 352 Vgl. auch Wessels, JUS 66, S. 175, der zutreffend daraufhin weist, daß dies allenfalls filr § 168 GVG als bloße Ordnungswidrigkeit von Bedeutung sein könne. 353 Allgemein zum Bezug zwischen Nachtatverhalten und Ermittlung der Strafzumessungsschuld vgl. neuerdings auch Brauns, Die Wiedergutmachung der Folgen, S. 204 ff.

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Die Rechtsprechung hat die oben dargelegte Grundposition354 jedoch zwischenzeitlich so weitgehend relativiert, daß man kaum noch davon sprechen kann, aus einer straffreien Beschuldigtenlüge könnten nachteilige Schlüsse auf die Täterpersönlichkeit gezogen werden. Die Behauptung, daß wahrheitswidrige Angaben des Beschuldigten straferhöhend wirken können, wenn sie auf "Verstocktheit, Verschlagenheit, Mangel an Reue oder Einsicht" schließen lassen355, muß weitgehend als überholt erachtet werden. Bereits die Einschränkung, eine strafschärfende Würdigung sei ausgeschlossen, wenn der Täter aus Furcht vor Bestrafung oder aus Scham über die Tat (qualifiziert) leugne356, läßt die Möglichkeit einer strafschärfenden Berücksichtigung fast gänzlich entfallen. Die Furcht vor Strafe wird zumindest als Begleitmotiv regelmäßig vorhanden sein357, und welcher Richter wird nicht psychlogisch überfordert, wenn er beurteilen muß inwieweit dieses Motiv bewußtseinsdominant geworden ist? Des weiteren erachtet der BGH es filr unzulässig, die Belastung eines Mitangeklagten oder Zeugen durch unwahre Behauptungen des Angeklagten strafschärfend zu berücksichtigen soweit dieser nicht die Grenzen "angemessener Verteidigung" überschreitee 58• Auch herabwürdigende, unwahre Behauptungen, die die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage des Tatopfers erschüttern sollen, dürfen nicht straferhöhend wirken, wenn sie sich in den Grenzen zulässigen Verteidigungshandeins bewegen359. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Begründung des BGH, warum der Angeklagte sich durch Lügen verteidigen dürfe. Ein Angeklagter, der einerseits die Vergewaltigung des Tatopfers bestritt, dem auf der anderen Seite aber bereits nachgewiesen worden war, mit dem Tatopfer Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, hätte sich in einem "Erklärungsnotstand" befunden, in dem es nahelag, freiwilligen Geschlechtsverkehr zu behaupten360• Vgl. BGHSt I, 105 und 107. So die ältere Rechtsprechung vgl. BGHSt I, 106; 3, 199; NJW 55, 1158; KG JR 66, 355; OLG Köln, GA 58, 251. 356 Vgl. BGH StV 94, S. 125. Eine Würdigung unqualifizierten Leugnens erachtet der BGH regelmäßig für unzulässig, vgl. nur BGH NStZ 83, 118; 85, 545. Dies auch dann, wenn die Schuld des Angeklagten bereits rechtskräftig festgestellt ist, vgl. BGH StV 96, 88. 357 Eb. Schmidt, JZ 58, S. 69; sehr kritisch auch Bruns, Stafzumessungsrecht, S. 603. 358 BGH StV 89, 388; 90, 403 und 404. Zu den zahlreichen Einschränkungen der Rechtsprechung, vgl. auch d. umfangreichen N. bei Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 291 f. Auch das OLG Koblenz, StV 96, S. 14, verlangt eine über die bloße Verdachtsäußerunghinausgehende Herabwürdigung oder Verleumdung eines Zeugen, die "trotz der dem Angeklagten zustehenden Verteidigungsfreiheit auf Rechtsfeindschaft, Gefährlichkeit und die Gefahr künftiger Rechtsbrüche hinweist." Ebensowenig dürfen nach Auffassung der Rechtsprechung aus einem Leugnen des Täters ungünstige Schlüsse im Rahmen der Prognoseentscheidung nach § 56 StGB gezogen werden, vgl. dazu die Nachweise bei LK-Gribbohm, §56 StGB, RN 23. 359 BGH StV 94, S. 305; StV 86, 420. 360 Wie FN 359 354 355

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Genau genommen anerkennt der BGH damit auch, daß es Situationen gibt, in denen das Unterlassen einer unwahren Behauptung einer Selbstbelastung gleichzustellen ist. Er unterläßt jedoch eine klare Definition des Begriffs der "angemessenen oder zulässigen Verteidigung" und beschränkt sich stattdessen auf eine z. T. auch widersprüchliche Einzelfallrechtsprechung. Da der BGH es sogar als angemessenes Verteidigungsverhalten erachtet, wenn der Angeklagte versucht, seine Täterschaft durch die Vorlage eines gefiilschten Tagebuchs zu verdecken, in dem er, wenn auch nur vage und verklausuliert, das Tatopfer und andere Personen beschuldigt361 , dann sind kaum noch Fälle denkbar, in denen materiellstrafrechtlich nicht erfaßtes LUgen bei der Strafzumessung berücksichtigt werden kann. Es wäre deshalb dringend erforderlich, daß der BGH sich endgültig und eindeutig von der Auffassung verabschiedet, ein Leugnen des Täters könne strafschärfend berücksichtigt werden. Nur dadurch kann der ständigen Praxis der Untergerichte, Druck auf das Aussageverhalten des Angeklagten auszuüben, wirksam begegnet werden. Die diffuse Negativabgrenzung des BGH, ein Leugnen des Angeklagten könne dann nicht strafschärfend berücksichtigt werden, wenn der Angeklagte sonst seine "zulässige Verteidigungsposition" aufgeben müßte, bedarf einer positiven Umformulierung. Dadurch könnte zumindest eine gewisse Signalwirkung auf die tatrichteriebe Entscheidungsfmdung ausgeübt werden362 • Auch wenn der psychologische Einfluß einer BeschuldigtenlUge auf die Strafzumessung sicherlich nicht vollständig beseitigt werden kann, so sollte der BGH dennoch klarstellen, daß der Beschuldigte ein unmittelbar aus dem nemo tenetur-Grundsatz abzuleitendes Recht hat, innerhalb der strafrechtlich gesetzten Grenzen die Tat zu Leugnen.

§ 11 Vernehmungsbegriff und Aussagefreiheit des Beschuldigten Im Rahmen polizeilicher Ermittlungstätigkeit ist der filr alle Formen der Befragung von Zeugen oder Tatverdächtigen einheitlich zu bestimmende Begriff der Vernehmung von entscheidender Bedeutung filr die Reichweite der Aussagefreiheit des Beschuldigten. Er bestimmt einerseits den Zeitpunkt, zu dem die Strafverfolgungsbehörden den Tatverdächtigen über seine Rechte belehren müssen. Auf der anderen Seite setzt sowohl ein Beweisverwertungsverbot wegen Anwendung unzulässiger Vernehmungsmethoden nach § 136a StPO als BGH StV 91, 254. Vgl. u. a. BGH StV 83, 501. Wenn Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 233, beklagt, es sei schwer zu begreifen, warum den Tatrichtern in diesem Bereich ständig Fehler unterlaufen, obwohl hier von einer "rechtsdogmatischen Überforderung" kaum die Rede sein könne, so verkennt er, daß der BGH durch seine mangelnde Konsequenz zu diesem Mißstand erheblich beigetragen hat. 361

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auch wegen Verletzung gesetzlich vorgeschriebener Belehrungspflichten eine Vernehmungssituation voraus363 • Die begriffliche Vielfalt der zur Abgrenzung möglicher Gesprächssituationen verwendeten Kategorien der Spontanäußerung, der informatorischen Befragung, des Vorgesprächs und auch der vernehmungsähnlichen Situation läßt bereits die Tendenz der Rechtsprechung und eines Teils der Literatur erahnen, durch formale Argumentationen den Schutz der Aussagefreiheit des Beschuldigten zu verkürzen. Verantwortlich dafiir ist u. a. die Tatsache, daß der in den §§ 136, 136a StPO verwendete Vernehmungsbegriff - fiir den in der StPO keine Legaldefmition existiert - weit von einer Klärung oder einer allgemein filr verbindlich erachteten Begriffsbestimmung entfernt ist. I. Formeller Vernehmungsbegriff

Insbesondere von der Rechtsprechung aber auch von einem großen Teil der Literatur wird mit unterschiedlichen Nuancierungen ein enger, formeller Vernehmungsbegriff vertreten. Er umfaßt lediglich Aussagen vor einem Strafverfolgungsorgan und setzt zudem voraus, daß das Vernehmungsorgan der jeweiligen Aussageperson - Beschuldigter oder Zeuge - in seiner amtlichen Funktion gegenüber getreten ist und diesekraftstaatlicher Autorität befragt hae 64 • Folgerichtig liegt keine Vernehmung vor, wenn die Ermittlungsorgane oder ein von diesen beauftragter Dritter den Zweck einer Befragung verschweigen. Wesentlich mitbestimmend filr diese enge Grenzziehung ist die bereits oben abgelehnte Grundhaltung, in das durch den nemo tenetur-Grundsatz geschützte Recht, die Aussage zu verweigern, könne nur dann eingegriffen werden, wenn sich der Betroffene seinem Gegenüber zur Aussage verpflichtet filhle 65 • Die Funktion der Belehrungsvorschriften wird von den Vertretern dieser Auffassung folgerichtig darauf verkürzt, einen entsprechenden Irrtum zu verhindem und ihm 363 Für § 136a StPO ergibt sich dies aus dessen systematischer Stellung im zehnten Abschnitt des Ersten Buchs der StPO und aus dem Wortlaut des § 136a III StPO ("Aussagen"), vgl. u. a. BGHSt 33, 224; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 3, S. 33, RN 29; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136a StPO, RN 4 m. w. N. 364 BGHSt 31, 304 ff.; 40, 213; 41 (Großer Senat), 145 f.; NStZ 95, 410; BGH bei Dallinger MDR 70, 14; GA 81, S. 89; Kramer, JURA 88, S. 523; Otto, GA 70, S. 299; Roxin, NStZ 95, S. 465; Schlüchter I Radbruch, NStZ 95, S. 354 f. Die Rechtsprechung ist jedoch wenig systematisch und eher ergebnisorientiert, da sich auch Urteile finden lassen, die zu einem weiten Vemehmungsbegriff, tendieren. Vgl. nur BGHSt 17, 19; 31, 304 ff. 365 Vgl. statt aller: BGHSt (Großer Senat) 42, 147; SK-Wolter, vor§ 151 StPO, RN 124m. w. N. Von dieser Auffassung wird der Zweck von§ 136 I S. 2 StPO folgerichtig auf die Verhinderung eines Irrtums über eine nicht bestehende Aussagepflicht verkürzt, vgl. u. a. Fezer, JUS 78, S. 105; Kramer, Grundbegriffe des Strafverfahrensrechts, RN 28a.

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entgegenzuwirken. Wesentliches Element formeller Erklärungsansätze ist die Verknüpfung von Aussagepflicht und Vernehmungsbegriff, d. h. für eine belehrungspflichtige Befragungssituation muß der jeweiligen Aussageperson bekannt sein, daß sie zu einem bestimmten Tatvorwurf in verwertbarer Weise aussagen soll366 oder wie eine neuere Defmition von Gusy es noch deutlicher formuliert, "Vernehmung istjede Anhörung des Bürgers gegen seinen Willen aus strafprozessualen Gründen"367 • Bei dieser restriktiven Umschreibung drängt sich natürlich die Frage auf, ob etwa die Befragung eines Tatzeugen oder eines aussagebereiten Beschuldigten keine Vernehmung sein soll, wenn sich dieser der Polizei freiwillig als Beweismittel zur VerfUgung stellt. Auch bei formeller Betrachtung ist nicht jede als Vernehmung gekennzeichnete Befragung des Beschuldigten oder Dritter mit einem zumindest faktischen Zwang zur Einlassung verbunden. Zudem läßt insbesondere die Defmition von Gusy offen, ob eine Befragung auch dann gegen den Willen des Betroffenen erfolgt, wenn dieser über die Person seines Gegenübers im unklaren ist. Daß der BGH bei der von ihm bevorzugten formellen Betrachtungsweise weitgehend von pragmatischen Erwägungen geleitet wird und sich dabei weniger an den Individualinteressen der Betroffenen als an den Erfordernissen einer effektiven Strafverfolgung orientiert, läßt sich an dessen Sed/mayrEntscheidung verdeutlichen. In diesem Fall hat der BGH entsprechend der oben angefilhrten Defmition festgestellt, eine Vernehmung setze voraus, daß der Vernehmende - hier dem Zeugen - in amtlicher Funktion gegenübertrete und in dieser Eigenschaft von ihm Auskunft verlange368 • Die Entscheidung des BGH Otto, GA 70, S. 299; SK-Roga/1, § 136a StPO, RN 18. Gusy, StV 95, S. 450. Explizit gegen die Definition Gusys wendet sich Widmaier, StV 95, S. 621, mit dem Hinweis darauf, daß diese Definition u. a. deshalb abzulehnen sei, weil das Merkmal der "Zwangskommunikation" bei einem auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten weitgehend unergiebig ist. 368 BGHSt 40, 211 f. Wegen Aufklärungsschwierigkeiten hatte die Polizei im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft zwei Privatleute zur Aushorchung auf zwei Verdächtige angesetzt. Die V-Personen hatten Informationen von der Verlobten eines der späteren Angeklagten erhalten, diese verweigerte jedoch in der Hauptverhandlung die Aussage. Die Verurteilung der Angeklagten wurde deshalb u. a. auf die Aussagen der VLeute gestützt. Da filr die Bestimmung des Vernehmungsbegriffs in§§ 136, 136a StPO auf Entscheidungen des BGH zu § 252 zurückgegriffen und damit innerhalb dieser Bestimmungen ein einheitlicher Vernehmungsbegriff zugrunde gelegt wird, läßt sich die zu § 252 ergangene Entscheidung auch auf § 136 StPO übertragen, auch wenn jeweils ein unterschiedlicher Schutzzweck berührt ist. Der BGH scheint dabei allerdings z. T. von einer analogen Anwendung von § 252 StPO auf die Situation der informatorischen Befragung und der vernehmungsähnlichen Situation auszugehen (vgl. etwa BGHSt 40, 213; anders BGHSt 29, 232 f.). Vgl. zu dieser Schlußfolgerung auch Gusy, StV 95, S. 449. Vgl. auch BGH bei Dallinger, MDR 70, 14, wo der BGH u. a. deshalb eine Vernehmung verneint, weil der Beschuldigte in dem Beamten kein Ermittlungsorgan sah und BGH GA 81, S. 89 f., filr den Fall des Polizeispitzels. Die Rechtsprechung zeigt allerdings eine kaum zu rechtfertigende Tendenz, den Begriff der Vernehmung bei Befra366

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war sichtlich davon geleitet, Befragungen durch V-Leute aus dem Schutzbereich des§ 252 StPO auszuklammern369. Vordergründig argumentiert der BGH aber in seiner Entscheidung mit dem Schutzzweck des § 252 StPO und stellt fest, im konkreten Fall könne die soziale Bindung zwischen befragter Auskunftsperson und Angeklagtem nicht betroffen sein370. Das durch § 52 StPO eingeräumte Zeugnisverweigerungsrecht solle den Angehörigen lediglich vor dem in (offenen) Vernehmungen bestehenden, inneren Konflikt zwischen Wahrheitspflicht bei einer Zeugenvernehmung und den sozialen Pflichten, die aus einer familiären Bindung gegenüber dem Angeklagten erwachsen, schützen. Da solche Defmitionen jedoch häufig aus ihrem Zusammenhang gelöst und auf andere Fälle vermeintlich vergleichbarer "Vernehmungs"-Situationen übertragen werden, hätte der BGH davon absehen müssen, die möglicherweise sinnvolle Begrenzung des Beweisverwertungsverbotes aus § 252 StPO durch eine Einschränkung des Vernehmungsbegriffs zu ermöglichen. Wann eine Vernehmung i. S. der strafprozessualen Vernehmungsvorschriften anzunehmen ist, kann nicht in Abhängigkeit von der jeweils verletzten Verfahrensvorschrift festgestellt werden. Schließlich hat der Gesetzgeber durch die Verwendung des Tatbestandsmerkmals der Vernehmung eine Grundentscheidung getroffen, die nicht durch eine kasuistisch anmutende Rechtsprechung ausgehebelt werden darf. Wenn sich der BGH im Beschluß des Großen Senats zur Frage der Zulässigkeil von verdeckten Vernehmungen durch private Dritte auf die überkommene Bedeutung des Begriffs der Vernehmung und der Aussage beruft371 , so verwundert dies. Legt die Rechtsprechung doch gerade diesen Begriff bei § 252 häufig anders aus als in den§§ 136, 136a StPO. Der Schutz des§ 252 StPO wird dabei auch auf Befragungen außerhalb von llirmlichen Vernehmungen ausgedehne72• Die Rechtsprechung des BGH ist in dieser Frage auch sonst keineswegs einheitlich, und es fmden sich weitere systemwidrige Ausnahmen von der ansonsten präferierten formellen Betrachtungsweise. So ist es kaum zu erklären, warum der BGH auf die Tätigkeit des Sachverständigen § 136a StPO unmittelbar gung zeugnisverweigerungsberechtigter Zeugen weiter auszulegen wie bei Befragung des Beschuldigten. So wohl auch die meisten Vertreter eines formellen Vernehmungsbegriffs, vgl. dazu die Nachweise bei Sternberg-Lieben, JZ 95, S. 845. 369 Vgl. BGHSt 40, 213. 370 Vgl. dazu und im folgenden BGHSt 40, 214 f. 371 BGHSt (Großer Senat) 42, 145 f. Im Widerspruch dazu stellt der Große Senat selbst fest, daß der BGH den Vernehmungsbegriff des § 136a StPO in "ähnlichen Situationen" auch durchaus in einem weiten Sinne interpretiert hat (vgl. a. a. 0., 148). Dies verwundert, da der BGH sich doch auf die "überkommene Bedeutung" des Wortes in der Rechtssprache beruft. 312 Vgl. BGHSt 29, 230 und die Nachweise bei Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 252 StPO, RN 8 f. Deshalb "verzichtet" der Große Senat wohl auch darauf, § 252 StPO in seine Aufzählung strafprozessualer Vernehmungsvorschriften mitaufzunehmen (vgl. BGHSt 42, 146 ). Vgl. dazu auch unten Teil III, § 13 IV 3.

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anwendet, obwohl dieser kein Vernehmungsorgan im Sinne des formellen Vernehmungsbegriffs ise 73 • Die häufig einzelfallorientierte Rechtsprechung könnte - dies sei bereits vorab angemerkt - deutlich klarere Linien gewinnen, wenn zwischen der Frage, ob im konkreten Fall eine Vernehmung anzunehmen ist, und der fiir Vernehmungen erforderlichen Vernehmungsbefugnis differenziert werden würde. II. Materieller Vernehmungsbegriff

Um den genannten Schwierigkeiten und den dadurch eröffueten Mißbrauchsmöglichkeiten vorzubeugen, wird von einem Teil des Schrifttums ein weiter, d. h. am Vernehmungsergebnis orientierter, materieller Vernehmungsbegriff vertreten374 • In diesem Sinne wird eine Vernehmung definiert als eine von einem staatlichen Organ der Strafverfolgung direkt oder indirekt herbeigeführte, nicht notwendigerweise vor ihm erfolgte Aussage375 oder teilweise weitergehend als "Verhalten von Polizeibeamten, das dazu geeignet ist, selbstbelastende Äußerungen hervorzubringen"376• Ergänzend wird teilweise noch hinzugefugt, es müsse sich um eine in einer Vernehmungssituation herbeigefuhrte 373 Vgl. BGH JR 69, 232; BGHSt II, 211 ff. und unter Teil III, § 13 IV 3. Sieht man den Sachverständigen als Richtergehilfen, kann man ebenso von der Polizei beauftragte Dritte als deren Vernehmungsgehilfen qualifizieren. Entgegen SK-Roga/1, § 136a StPO, RN 18, sind die§§ 69 III, 72 StPO damit eher ein Argument gegen als fiir eine formelle Begriffsbestimmung. Insofern konsequent lehnt Roga/1 aber entgegen der h. M. eine Anwendung von § 136a StPO auf die Tätigkeit des Sachverständigen ab, vgl. SK, § 136a StPO, RN 8 m. w. N. zur h. M. 374 Die u. a. schon von Seebode, JR 88, S. 428, vorgeschlagene Bezeichnung als "funktionaler" Vernehmungsbegriff ( ebenso Roxin, NStZ 95, S. 465) ist unpräzise, denn Form und Funktion sind beileibe kein Gegensatz. Auch eine "formelle" Definition weist der Vernehmung und den dabei einzuhaltenden Förmlichkeiten, eine spezifische Funktion zu. 375 Die fiir einen weiten Vernehmungsbegriff angefilhrten Definitionen sind aber keineswegs einheitlich, vgl. u. a. Bauer, Die Aussage, S. 124 ff., 132 (inkonsequent die Behauptung, der Begriff des Beschuldigten und der Vernehmung bedingen einander); Bernsmann, StV 97, S. 117; unklar Bockemühl, Private Ermittlungen, S. 22; präzisierungsbedürftig Dencker, StV 94, S. 674: Vernehmung ist ein "kommunikativer Vorgang im Prozeß", "in welchem eine Person von einem rollengemäß dazu befugten Prozeßorgan zur Entäußerung von noch nicht stofflich fixiertem Wissen veranlaßt wird" (Wann ist das Organ befugt? Wann ist die Äußerung veranlaßt etc.); v. Ger/ach, NJW 69, S. 778 in FN 27; LR-Hanack, § 136a StPO, RN 13, 13a; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136a StPO, RN 4; Kühl, StV 86, S. 188; Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 61 f.; Röhrich, Rechtsprobleme bei der Verwendung von V-Leuten, S. 244; Roschmann, Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 29: Gesprächsteilnahme eines Beamten entscheidend; Seebode, JR 88, S. 427 f. Aus der Rechtsprechung vgl. auch LG Darmstadt, StV 91, S. 104: "Alle Aussagen, die ein Staatsorgan direkt oder indirekt herbeigefUhrt hat", unabhängig von einer llirmlichen Vemehmungssituation. 376 Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 61

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Aussage handeln 377. Durch den zirkulären Rückgriff auf den Begriff der Vernehmung ist mit diesem Zusatz jedoch wenig gewonnen. Kennzeichnend fiir eine materielle Begriffsbestimmung ist, daß weniger auf ein subjektives Zwangsempfmden des Betroffenen als auf den konkreten Einfluß der Strafverfolgungsbehörden auf die Informationspreisgabe abgestellt wird. Mit Hilfe der aufgezeigten Formeln lassen sich lediglich spontane Äußerungen aus dem Anwendungsbereich der§§ 136, 136a StPO ausklammern, wobei natürlich offenbleibt, wann eine Mitteilung des Beschuldigten spontan erfolgt. Diese Form der materiellen Begriffsbestimmung sieht sich aufgrund ihrer fast uferlosen Weite und der Verwendung ihrerseits präzisierungsbedürftiger Definitionsmerkmale Bedenken ausgesetzt. So bieten die genannten Begriffsbestimmungen insbesondere kein Kriterium fiir die Frage, welcher Grad an "Veranlassung" durch die Ermittlungsbehörden erforderlich ist, um von einer Vernehmung i. S. d. §§ 136, 136a StPO zu sprechen378 . Läßt man dafiir bereits ein gewisses Maß an Kausalität genügen, so müßte jede Form der staatlichen Provokation von unbelehrt erfolgten Angaben des Betroffenen, die Unverwertbarkeit der dadurch erlangten Aussage zu Folge haben. Beispielsweise wäre im Sinne der genannten Definitionen eine Vernehmung des Beschuldigten auch dann zu befllrworten, wenn der ermittelnde Polizeibeamte dem Beschuldigten während der Dauer einer ordnungsgemäßen, heimlichen Telefonüberwachung die Tatsache der bevorstehenden Verhaftung mitteilt, um ihn dadurch zu einem für dessen Überfllhrung verwendbaren Telefongespräch zu provozieren379 • Der BGH lehnt es zu Recht ab, diesen Vorgang einer Vernehmung "gleichzustellen"380. Der durch den Polizeibeamten ausgeübte Einfluß auf die konkrete Form der Äußerung, deren Inhalt und Empflinger, ist so geringfügig, daß bei der gebotenen normativen Betrachtung von einer freiwilligen, privaten Selbstbelastung gesprochen werden muß. Das Beispiel verdeutlicht, daß der Verneh377 V gl. Haas, GA 95, S. 231 , der wohl gänzlich auf das Kriterium der Veranlassung verzichten möchte und deshalb davon ausgeht, daß auch die Verwertung "spontaner Geständnisse" dem nemo tenetur-Grundsatz zuwiderläuft (vgl. a. a. 0., S. 231). § 136 StPO verbiete es den Strafverfolgungsbehörden, "eine Stellungnahme des Beschuldigten zum Tatvorwurf in anderer Weise als durch Vernehmung zu erlangen". In diesem Umfang ist dies kaum haltbar. Sollen etwa auch Äußerungen des Beschuldigten gegenüber Dritten unverwertbar sein? 378 Soweit von manchen darauf abgestellt wird, ob das staatliche Organ die Aussage "herbeigeführt" und nicht lediglich passiv "entgegengenommen" hat (vgl. KK-Boujong, § 136a StPO, RN 6; Kühl, StV 86, S. 188), ist dies lediglich ein terminologischer, jedoch kein sachlicher Unterschied. 379 Vgl. den bei BGHSt 33, 223 f. mitgeteilten Sachverhalt. 380 Vgl. BGHSt 33, 224, wobei die Formulierung des BGH entgegen der Auffassung Kühls, StV 86, S. 188 offenläßt, ob der BGH eine analoge oder direkte Anwendung des § 136a StPO in Betracht zieht. Dem BGH zustimmend auch in Anbetracht des Täuschungsverbots, u. a. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 25, RN 23; SK-Wolter, vor§ 151 StPO, RN 124m. w. N. Ablehnend Kühl, a. a. 0 .

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mungsbegriff bei materieller Betrachtung einer Ergänzung durch wertende Kriterien bedarf, mit deren Hilfe entschieden werden kann, welcher Grad an Fremdbestimmung erforderlich ist, um Äußerungen des Beschuldigten einer Aussage in einer förmlichen Vernehmungssituation gleichstellen zu können. Schließlich kann die Kenntnis von jeder rechtmäßigen Ermittlungsmaßnahme den Beschuldigten zu selbstbelastenden Äußerungen veranlassen, auch wenn dies von den Strafverfolgungsbehörden nicht beabsichtigt gewesen ist. Trotz dieser sicherlich berechtigten Kritik überzeugt es insbesondere im Zusammenhang mit den§§ 136, 136a StPO nicht, Vernehmungen auf die Formen der Kommunikation zu begrenzen, die von den Behörden formell als solche gekennzeichnet worden sind. Dann würde der Betroffene ftlr den wichtigen Fall einer absichtlich falschen Erklärung der Behörde über ihren eigentlichen Handlungszweck schutzlos gestellt, ohne daß sich diese Einschränkung plausibel begründen läßt. Der Gebrauch eines materiellen Vernehmungsbegriffs, und damit die Anwendung der§§ 136, 136a StPO aufverdeckte Vernehmungen des Beschuldigten, scheint infolgedessen eher der Intention des Gesetzgebers zu entsprechen. Sie läßt sich aber nur beftlrworten, wenn sie sich mit der Systematik strafprozessualer Vernehmungsvorschriften vereinbaren läßt. 111. Verdeckte Vernehmungen des Beschuldigten Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet die Frage, ob aus der Tatsache, daß die StPO vom Leitgedanken der offenen Vernehmung ausgeht, zugleich geschlossen werden kann, daß eine Vernehmung im Sinne der genannten Vorschriften nur dann gegeben ist, wenn sich das Strafverfolgungsorgan offen als staatlicher Funktionsträger zu erkennen gibe81 • Soweit überhaupt eine Begründung rur diese These erfolgt, wird auf die §§ 133-136a, 163a StPO verwiesen, und hierbei insbesondere auf die Verpflichtung zur Eröffnung des Tatvorwurfs und zur Belehrung des Beschuldigten, die sichtlich offenes Handeln voraussetzen. Daraus ergebe sich unter Berücksichtigung des spezifischen Schutzzwecks dieser Vorschriften- den Beschuldigten vor dem irrtümlichen Glauben an eine Aussagepflicht zu bewahren -, daß diese Normen nur auf die Situation der förmlichen Vernehmung zugeschnitten sind und die "unoffene" nichtformliehe Vernehmung losgelöst von den in§§ 136 ff. genannten Kriterien beurteilt werden müsse382• Der Vorteil dieser Auslegung liegt auf der Hand - die Schaffung eines begrifflich klar umgrenzten Anwendungs- und Schutzbereichs, 381 So BGHSt (Großer Senat) 42, 146 f.; Fezer, NStZ 96, S. 289 f.; Roxin, NStZ 95, S. 465. Ablehnend in der Rechtsprechung LG Stuttgart NStZ 85, S. 569; vgl. auch Dencker, StV 94, S. 674 f. 382 Vgl. Fezer, NStZ 96, S. 289.

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der zudem in Einklang mit dem überkommenen Verständnis des Schutzgegenstandes des nemo tenetur-Grundsatzes steht. Bereits in methodischer Hinsicht müssen jedoch Bedenken an einer vorwiegend an der äußeren Systematik des Gesetzes orientierten Auslegung geäußert werden. Zum einen läßt sich die einem Gesetz zugrundeliegende begriffliche Systematik in aller Regel nur unter Berücksichtigung des Regelungszwecks und der von den gegenständlichen Normen ins Auge gefaßten Wertung der jeweiligen Interessenlage erschließen383 • In Anbetracht dessen bedarf der von den §§ 136, 136a StPO intendierte Freiheitsschutz einer dynamischen Auslegung, die der grundlegenden Veränderung der bei Schaffung dieser Normen gegebenen Interessenlage gerecht wird. Zum anderen legt die Systematik der Vernehmungsvorschriften vorrangig deshalb einen formellen Vernehmungsbegriff nahe, weil die jeweils angeordneten "Rechtsfolgen", d. h. die Erfilllung der Pflichten, die sich aus der Annahme einer Vernehmungssituation fi1r die Strafverfolgungsbehörden ergeben, notwendigerweise offen erfolgen muß384 • Daraus läßt sich jedoch nicht zwingend schließen, es gehöre zum Wesen der Vernehmung, daß einer Vernehmungsperson wissentlich Auskunft gegeben wird. Ganz im Gegenteil ist es ja gerade Aufgabe des § 136 StPO, dem Befragten diese Tatsache deutlich vor Augen zu filhren. Anders ausgedrückt, das systematische Argument greift deshalb nicht, weil es unter Berücksichtigung des Normzwecks näherliegt, die Vernehmungsvorschriften so zu interpretieren, daß alle Vernehmungen materieller Art ("Tatbestandsebene"), um verwertbar zu sein, in einer förmlichen Vernehmungssituation stattfmden müssen ("Rechtsfolgenebene"). Offenheit ist in diesem Sinne eine Forderung f ü r, jedoch kein Kennzeichen v o n Vernehmungen. Die strafprozessualen Vernehmungsvorschriften betreffen lediglich die formelle Abwicklung von Vernehmungen, nicht aber deren materielle Voraussetzungen. Deshalb überzeugt es nicht, daß eingewendet wird, die "unoffene Befragung" sei eine völlig andersartige Ermittlungsmethode und es müsse aufgrund des andersgearteten Schutzbedürfnisses des Beschuldigten fiir diese Form der Vernehmung nach eigenständigen Kriterien gesucht werden385 • Sofern statt dessen aus § 136 I S. 1 StPO ein Verbot der unoffenen Befragung abgeleitet wird386, verkennt diese Auffassung den bereits oben dargestell383 Zur Konkretisierung der Auslegung des Bedeutungszusammenhangs des Gesetzes, vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 327 f. 384 So beispielsweise die Pflicht zur Belehrung und zur Eröffuung des Tatvorwurfs nach§ 136 I S. 1, 2 StPO. 385 So aber Fezer, NStZ 96, S. 289. 386 Fezer, NStZ 96, S. 290, sieht darin die ausschlaggebende Rechtsbeeinträchtigung des Beschuldigten, denn durch diese Regelung habe der Gesetzgeber sich bewußt filr "die MethQde der offenen Befragung" entschieden. Eindeutig ist diese Schlußfolgerung jedoch nur dann, wenn zugleich ein- von Fezer abgelehnter- materieller Vernehmungsbegriff vertreten wird, denn der klare Wortlaut des § 136 I S. 1 StPO läßt ebenso die Deutung zu, daß die Eröffuung des Tatvorwurfs nur bei offenen Vernehmungen erfolgen

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ten Regelungszweck des§ 136 I S. l StPO. Die Regelung des§ 136 I S. l StPO ist geschaffen worden, um dem Beschuldigten eine sinnvolle Ausübung seines Schweigerechts (und natürlich auch eine Entscheidung Uber die Notwendigkeit der Beiziehung eines Verteidigers) zu ermöglichen387 . Deshalb muß vorrangig entscheidend sein, ob bei gezielter heimlicher Befragung des Beschuldigten ein vergleichbares Schutzbedürfnis des Beschuldigten besteht, weil auch diese Form der Ausforschung die Aussagefreiheit des Beschuldigten beeinträchtigt. Der Begriff der Vernehmung bietet fiir die Lösung dieser Problematik ein brauchbares Abgrenzungskriterium und verhindert eine Überdehnung der durch den nemo tenetur-Grundsatz gesetzten Schranken fiir die heimliche Ermittlungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden. Bereits oben wurde aufgezeigt, wie wichtig sowohl Form als auch die mit einer förmlichen Vernehmung verbundenen Informationsrechte für die Wahrung der Aussagefreiheit des Beschuldigten sind. Der BGH hat vor einigen Jahren selbst noch festgestellt, daß eine Belehrung auch dann sinnvoll ist, wenn der Beschuldigte seine Rechte kennt388 • Hat aber die Belehrung eine Uber die bloße Wissensvermittlung hinausreichende Funktion und soll sie dem Befragten helfen, dem in Befragungssituationen bestehenden Erwartungsdruck zu widerstehen, so muß sie unabhängig von verdecktem oder offenem Handeln der Strafverfolgungsbehörden erfolgen, denn auch bei heimlichem Handeln kann ein vergleichbarer "Kommunikationszwang" erzeugt werden. Dies kann nur zur Folge haben, daß den Vernehmungsvorschriften ein materielles Verständnis zugrunde gelegt wird, um jede Form der gezielten Befragung des Beschuldigten durch die Strafverfolgungsbehörden in den formwahrenden Schutz dieser strafprozessualen Vorschriften miteinzubeziehen. Eine hinreichend bestimmte, aber dennoch das Schutzbedürfnis des Betroffenen und den durch § 136 II StPO vorgegebeneneo Vernehmungszweck in ausreichendem Maße berücksichtigende Lösung muß nach materiellen Gesichtspunkten erfolgen und zugleich defmieren, inwieweit die Äußerung durch die Strafverfolgungsbehörden zurechenbar veranlaßt worden ist. Dies läßt sich abgesehen von Fällen, in denen ein Strafverfolgungsorgan verdeckt oder offen unmittelbar an der Befragung beteiligt ist, nur nach dem konkreten Einfluß auf Art und Weise der Äußerungen des Befragten beurteilen. IV. Vernehmung durch "private" Dritte Bei Verwendung eines materiellen Vernehmungsbegriffs drängt sich die Frage auf, inwieweit auch staatlich gesteuerte Handlungen privater Dritter eine soll, während der Gesetzgeber nicht beabsichtigte, zugleich eine Entscheidung über die Zulässigkeit der verdeckten Vernehmung zu treffen. 387 So auch Fezer, NStZ 96, S. 290. 388 BGHSt 38, 224.

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Vernehmungssituation erzeugen können, oder ob eine den nemo teneturGrundsatz berücksichtigende Auslegung tatsächlich zu dem Ergebnis fUhren kann, daß "alles was in der StPO mit Vernehmungen oder vernehmungsähnlichen Situationen zusanunenhängt, ( ... ) auf die Angehörigen der Ermittlungsbehörden beschränkt" ist389 • Folgt man der letzteren Auffassung, so fmdet der Schutz des nemo tenetur-Grundsatzes bei unmittelbarem Handeln von privaten Dritten weitgehend keine Anwendung. Der letztgenannten Alternative hat sich der 2. Senat des BGH bei der Beurteilung der Verwertbarkeit von Erkenntnissen, die durch Hörfallen erlangt wurden, angeschlossen390 . Unter Nichtbeachtung der Tatsache, daß die später als Zeugin vernommene Privatperson zu ihrem Anruf bei dem Angeklagten durch den mithörenden Kriminalbeamten aufgefordert worden war, knüpft der BGH allein an die unmittelbare Tätigkeit der Zeugin an und prüft deren rechtliche Zulässigkeit unter den Aspekten des Femmeldegeheimnisses, des Persönlichkeitsrechts sowie des Schweigerechts des Beschuldigten. In einem zweiten gedanklichen Schritt stellt der BGH dann lapidar fest, es dürfe keinen Unterschied machen, ob der mithörende Dritte eine Privatperson oder ein Polizeibeamter sei391 • Folgt man dieser Auffassung, so können sich die Strafverfolgungsbehörden durch eine "Flucht ins Privatrecht" ihren strafprozessualen Verpflichtungen und ihren Grundrechtsbindungen weitgehend entziehen. Die durch privatrechtliebes Handeln erlangten Erkenntnisse sind unabhängig von der Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften nur dann unverwertbar, wenn ausnahmsweise ein selbständiges Verwertungsverbot in Betracht zu ziehen ise 92. Da sich die Beweisverbote nicht an Privatpersonen wenden, anerkennt die wohl h. A. Verwertungsverbote nur fiir die Fälle, in denen die Beweiserlangung in menschenrechtswidriger Weise oder unter Verletzung der Menschenwürde erfolgt ist393 • 389 So die Begründung des 1. Senats des BGH (vgl. NStZ 95, 557) zur Verwertbarkeit von Hörfallen. Ebenso filr die Vernehmung durch V-Leute: Diese würden zwar die Strafverfolgungsbehörden bei der Aufklärung von Straftaten unterstützen, ohne jedoch Angehörige der Ermittlungsbehörden zu sein, so daß für sie die Vernehmungsvorschriften keine Anwendung finden (vgl. BGHSt 40, 213). Ebenso auch BGHSt 39, 340; Haas, V-Leute, S. 95 m. w. N. 390 Vgl. BGHSt 39, 335 ff. Ähnlich BGHSt (Großer Senat) 42, 147 ff. Zum Begriff der Hörfalle eingehender unten Teil III, § II VI 2. 391 BGHSt 39, 340. Explizit zum Fernmeldegeheimnis, diese Erwägung liegt jedoch der gesamten Entscheidung zugrunde. 392 Weiler, GA 96, S. I 02 f., weist mit beachtenswerten Beispielen auf eine allgemeine und geflihrliche Tendenz der Privatisierung strafrechtlicher Ermittlungsaufgaben hin. 393 BGHSt 14, 365; 27, 357; 34, 52; 36, 172 f. und die Nachweise bei Alsberg I Nüse I Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, S. 484; KK-Boujong, § 136a StPO, RN 3; differenzierend LR-Hanack, § 136a StPO, RN 10. Bei Verletzung der Achtung der Menschenwürde dürfte dies, ganz unabhängig von der Frage, ob diese unmittelbare Drittwirkung besitzt, eine Selbstverständlichkeit sein, denn die Achtung des Wertmaßstabes des Art. I I GG gebietet es, zur Durchsetzung des Strafverfolgungsinteresses kei-

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In Anbetracht der Pflicht des Staates, effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten, wird man diese Auffassung dahingehend zu ergänzen haben, daß auch in anderen Fällen auf rechtswidrige Beweiserlangung durch Private mit einem Verwertungsverbot reagiert werden muß, wenn dies nach einer abwägenden und folgenorientierten Bewertung der widerstreitenden Interessen geboten ise 94 • Die Beschränkung auf Fälle "extremer Menschenrechtswidrigkeit"395 überzeugt deshalb nicht, weil sich abgesehen von Fällen der Aussageerpressung durch Folter kaum ein Konsens fmden lassen wird, welche Maßnahmen in diesem Sinne als "extrem" bezeichnet werden können. Auch nach dieser differenzierenden Betrachtungsweise lösen jedoch lediglich grobe Verstöße gegen § 136a StPO ein selbständiges Verwertungsverbot aus, während im übrigen die strafprozessualen Schutzverkehrungen der §§ 136, 136a StPO bei privater "Vernehmungs- und Ermittlungstätigkeit" weitgehend leerlaufen müssen396• So sind private Dritte weder zu einer Belehrung des Beschuldigten verpflichtet noch sind ihnen materiellstrafrechtlich nicht erfaßte Täuschungen und Drohungen untersagt. 1. Zurechnungsgedanke undverdeckt handelnde Private Es kann aber nicht richtig sein, daß sich die Strafverfolgungsbehörden durch Beauftragung Dritter den ihnen gesetzten strafprozessualen Schranken entzienen Nutzen aus der Verletzung der Menschenwürde anderer zu ziehen (vgl. auch Otto, FS für Kleinknecht, S. 327). 394 Ausfilhrlich SK-Roga/1, § 136a StPO, RN 13 ff. m. w. N., der zutreffend darauf hinweist, daß die häufig nur unzureichende generalpräventive Wirkung materiellstrafrechtlicher Normen durch verfahrensrechtlichen Rechtsschutz zu ergänzen ist; vgl. auch Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 399. Weitergehend Koriath, Über Beweisverbote, S. 101 f. m. w. N., der jeden privaten Rechtsverstoß mit einem Verwertungsverbot belegen will. 395 So die wohl h. A. zurückgehend auf Kleinknecht, NJW 66, S. 1543. 396 Obwohl von Vertretern dieser Abwägungslehre daraufhingewiesen wird, daß jede Verletzung des nemo tenetur-Prinzips durch private Dritte ein selbstständiges Verwertungsverbot auslösen müsse, da kein Fall denkbar sei, in dem dieses Recht und damit die Wahrung der Menschenwürde dem Strafverfolgungsinteresse zu weichen habe (vgl. nur Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 400; Otto, FS filr Kleinknecht, S. 326; Roga/1, Der Beschuldigte, S. 153 f. und ders., SK, § 136a StPO, RN 15 m. w. N.), kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß, abgesehen von Extremfällen das Handeln Dritter den nemo tenetur-Grundsatz in aller Regel nicht berührt. Die Auffassung in der Lehre, die sich für eine generelle Erstreckung von § 136a StPO auf alle von Privaten mit den genannten Methoden erlangten Beweise ausspricht, verkennt, daß der Schutz des Beschuldigten bei Vernehmungen durch § 136a StPO weiter reicht, wie die von Privaten zu beachtenden strafrechtlichen Grenzen der Informationserlangung. Deshalb ist die Diskussion Rogal/s, Der Beschuldigte, S. 210 f., über die Drittwirkung des Selbstbelastungsverbots weitgehend müßig, denn die Fälle, in denen Handlungen Dritter das nemo tenetur-Prinzip tatsächlich verletzen, berühren zugleich in schwerer Weise die Menschenwürde des Beschuldigten und müssen damit auch bei restriktiver Handhabung unverwertbar sein.

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hen können397 • Anders als in Fällen, in denen die Strafverfolgungsbehörden lediglich eine mißbilligte Ermittlungsmethode eines Privaten ausnützen oder dieser selbständig tätig wird und seine Ergebnisse nach Abschluß seiner Ermittlungen an die Strafverfolgungsbehörden weiterleitet, wird der Private in diesen Fällen auf Veranlassung staatlicher Organe tätig. Bedienen sich diese bei Erfullung der sie treffenden Pflicht zur Aufklärung von Straftaten einer Privatperson, so muß auch die Handlung des Privaten als öffentlich-rechtlich qualifiziert werden und den staatlichen Stellen unmittelbar zugerechnet werden398• Deshalb ist im Schrifttum fur das Beweisverwertungsbot des § 136a StPO auch weitgehend anerkannt, daß dessen Schutz nicht durch gezielte staatliche Beauftragung von Privatpersonen umgangen werden könne, sondern § 136a StPO auf deren Handeln analoge Anwendung fmden müsse399• Zieht man jedoch die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts filr die Situation der Aushorchung des Beschuldigten durch private Dritte heran, so kann kein Zweifel daran bestehen, daß das Handeln des privaten Dritten der Behörde unmittelbar zugeordnet werden muß400 • Der I. Senat des BGH vermeidet bei der Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeil von Hörfallen diese Fragestellung, indem er nicht zwischen Eingriffs- und Handlungsqualität differenziert, sondern wenig trennscharf einen hoheitlichen Eingriff filr diese Fälle ablehnt401. Diese fehlende Trennung beruht wahrscheinlich auf der Befilrchtung des BGH, daß bei Zurechnung des Verhaltens der Privatperson eine Rechtsgrundlage filr entsprechende Maßnahmen erforderlich ist. Auch der Große Senat verneint im Hörfallen-Beschluß einen Eingriff in den Privatbereich des Betroffenen bei Befragung durch private Dritte und verweist statt dessen lediglich auf eine ständige Rechtsprechung, die den Einsatz von V-Leuten trotz massiver 397 Vgl. Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 63 f. m. w. N. Zum Ganzen auch Bockemüht, Private Ermittlungen, S. 17 ff. 398 Vgl. dazu auch Dencker, StV 94, S. 671. 399 Vgl. nur Beulke, Strafprozeßrecht, RN 481; Grünwald, JZ 66, S. 497 und StV 87, S. 470 f.; Joerden, JUS 93, S. 928 m. w. N.; Für eine direkte Anwendung von § 136a StPO, da der Vernehmungsbeamte durch "direkten, bewußten" Einsatz des Dritten selbst täuscht, Hilland, Das Beweisgewinnungsverbot, S. 16. Auch bei Hörfallen wird weitgehend eine analoge Anwendung der §§ 136, 136a StPO befilrwortet, vgl. u. a. Beulke, Strafprozeßrecht, RN 48ld; Roxin, NStZ 95, S. 465 f. 400 Vgl. auch Kramer, JURA 88, S: 522, der auf das parallele Argumentationsmodell im Verwaltungsrecht verweist. Auch dort ist anerkannt, daß sich die öffentliche Hand nicht durch Beauftragung privater Dritter bei Erfilllung öffentlicher Aufgaben ihrer Grundrechtsbindung entziehen kann. 401 Vgl. BGHSt 39, 341; vgl. auch Jung, JUS 94, S. 618. In der FürsorgepflichtEntscheidung hat der BGH zumindest ausgefilhrt, daß der gegen einen bestimmten Beschuldigten gerichtete Einsatz eines verdeckten Ermittlers als Eingriff in dessen Persönlichkeitsrecht zu qualifizieren ist (vgl. BGHStV 95, S. 229). Warum dies nicht gleichermaßen llir staatlich beauftrage Dritte gilt, bleibt im Ergebnis unbegründet. Zur Eingriffsqualitätbeim Handeln von V-Leuten, vgl. auch Fezer, JZ 95, S. 972 m. w. N.

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

Kritik im Schrifttum auf die §§ 163, 163a StPO stützt402 • Wenn der Große Senat schließlich noch vorbringt, diese Rechtsprechung basiere letztlich auf einer Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, so ist dies nicht mehr nachzuvollziehen. Für eine Abwägung ist erst dann Raum, wenn der Eingriffscharakter einer Maßnahme feststeht. Hierzu bedürfte es aber auf alle Fälle einer Rechtsgrundlage, die gerade nicht vorhanden ist. Die privaten Dritten handeln zwar nicht als Beliehene des Staates, denn dies würde voraussetzen, daß ihnen durch oder aufgrund eines Gesetzes hoheitliche Befugnisse Obertragen werden und sie bei Erfilllung ihrer Aufgaben selbständig tätig werden403 • Es bietet sich aber ein Vergleich mit der Rechtsfigur des Verwaltungshelfers an, der nicht selbständig handelt, sondern Hilfstätigkeilen im Auftrag und nach Weisung der Behörde wahrnimmt404• Hier entspricht es allgemeiner Auffassung, daß das Handeln der Privatperson als Verwaltungshelfer der beauftragenden Behörde unmittelbar zuzuordnen ist. Die Strafverfolgungsbehörde wird in aller Regel nie eine derart beherrschende Stellung einnehmen, daß man davon sprechen könnte, die eingesetzte V-Person oder der zwischengeschaltete Dritte sei lediglich "Werkzeug" eines mittelbar Vemehmenden405 . In materiell-strafrechtlichen Begriffen wird man hier nur von Anstiftung sprechen können, es sei denn, man sieht den Dritten aufgrund seiner fehlenden Amtsträgereigenschaft als qualifikationslos doloses Werkzeug an. Selbst dann scheint der Vergleich nicht passend zu sein, es sei denn, man will sich auf die kaum praktikable Abgrenzung einlassen, wie stark der auch noch während des Gesprächs genommene Einfluß des Polizeibeamten auf den tatsächlichen Verlauf des Telefonats gewesen ist.

402 BGHSt 42, 154 ff. Zustimmend im Schriffium Sternberg-Lieben JURA 95, S. 306 m. w. N. 403 Vgl. dazu BVerwG NVwZ-RR 91, 330; V. Steiner, JUS 69, S. 69 ff. m. w. N. 404 Vgl. u. a. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23, RN 60. 405 So aber der Vergleich von Dencker, StV 94, S. 671. Ähnlich bereits Fincke, ZStW 95 (1983), S. 939, der davon ausgeht, daß der Private bei Handlungen innerhalb des Auftrages Werkzeug des amtlichen Verfolgers ist und auch seine ihn treffenden Pflichten durch den Privaten als Boten erfüllen kann. Eine vergleichbare Diskussion findet sich auch im älteren Schrifttum zu § 136a StPO, vgl. dazu die Nachweise bei Röhrich, Rechtsprobleme der Verwendung von V-Leuten, S. 236 ff. Ihnen folgend Bernsmann, StV 97, S. 117; Bockemühl, Private Ermittlungen, S. 19, mit dem Verweis auf die Rechtsfigur des Täters hinter dem Täter. Dadurch würde aber die zumindest teilweise vorhandene Eigenständigkeit des handelnden Dritten weitgehend verkannt. Ohne dies als Problem des Vernehmungsbegriffs zu erörtern, ähnlich wie die oben genannten auch Roxin, NStZ 97, S. 18. Kritisch zu diesem Vergleich Schlüchter I Radbruch, NStZ 95, S. 355. Entgegen der Rechtsprechung (vgl. BGH NJW 71 , 2221; OLG Hamm VersR 92, 1227 m. w. N.) ist fiir die Qualifizierung eines Privaten als Verwaltungshelfer kein vergleichbarer Einfluß Voraussetzung, sondern es genügt, wenn der Dritte nach Weisung bei Erfiillung staatlicher Aufgaben tätig wird, vgl. dazu Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 17 ff. m. w. N. ; a.A. KG, StV 97, 175 m. w. N.

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Problematisch ist die Parallele zur Rechtsfigur des Verwaltungshelfers hingegen bei länger eingesetzten V-Leuten, die häufig nicht allein untergeordnete Hilfstätigkeilen wahrnehmen, sondern in der Erfiillung der ihnen gestellten Ermittlungsaufträge eine weitreichende Handlungsfreiheit besitzen406. Dennoch sollte dabei die in der Praxis sicherlich zu beobachtende, mangelhafte staatliche Kontrolle nicht mit der rechtlich gebotenen Überwachung eingesetzter V-Leute verwechselt werden407 . Ansonsten müßte man zu dem wohl kaum wünschenswerten Ergebnis gelangen, daß die Strafverfolgungsbehörden die ihnen auferlegten Bindungen um so leichter umgehen können, je weitreichender sie staatlich eingesetzten privaten Dritten selbständige Entscheidungsbefugnisse einräumen. Eine das Verteidigungsinteresse des Beschuldigten mitberücksichtigende Auslegung muß deshalb allein aufgrund der staatlichen Beauftragung zu dem Ergebnis fiihren, daß eine Vernehmung auch bei Befragung durch Dritte gegeben sein kann, wenn der eingeschaltete Dritte wegen seiner staatlichen Verwendung zur Ermittlung straftatrelevanter Informationen quasi ein Vernehmungsgehilfe der Polizei ist. Dies entspricht im übrigen auch der gewandelten Anschauung im Verfassungsrecht, die den Eingriffscharakter einer Maßnahme nicht ausschließlich nach deren äußeren Form, sondern mehr nach ihrer Wirkungsweise beurteilen möchte408 . Eine differenzierte Betrachtungsweise mag allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn die eingeschaltete Privatperson - wie etwa der Sachverständige - eine in gewissem Maße eigenständige prozessuale Rolle auszufiillen hat und dabei anderen Regeln unterliegt als die beauftragende Ermittlungsbehörde, so daß deren Handlungen nicht ohne weiteres dem Auftraggeber zugerechnet werden können4o9. Im Ergebnis ergeben sich bei verdeckten Vernehmungen durch private Dritte die dafiir vorgesehenen Schranken unmittelbar aus den§§ 136, 136a StPO, und die Rechtslage ist so zu beurteilen, als hätte die Polizei selbst gehandelt. Aufgrund dieser strafprozessualen Zurechnung des Verhaltens von Hilfspersonen muß der Begriff der Vernehmung auch die Befragung des Beschuldigten durch staatlich beauftragte Dritte umfassen. Eine andere, davon zu trennende Frage ist 406 Eine Qualifizierung des V-Mannes als Verwaltungshelfer aus den genannten Gründen ablehnend, Haas, V-Leute, S. 21 ff. 407 Vgl. dazu auch die Diskussion bei Röhrich, Rechtsprobleme bei der Verwendung von V-Leuten, S. 233 ff. m. w. N. Röhrich rechnet das Verhalten privater V-Leute dann den Ermittlungsbehörden zu, wenn die beauftragten Dritten organisatorisch eng an die Behörde angebunden sind, umfassend und systematisch ermitteln und wegen den damit verbundenen Eingriffen in die Privatsphäre einer Ermächtigungsgrundlage bedürfen (a. a. 0., S. 236, allerdings zu§ 136a StPO). 408 Zu diesem materiellrechtlichen Grundrechtsverständnis, vgl. auch Sax, Grundgesetz, vor Art. 1 GG, RN 55 ff. 409 A. A. Fineire (a. a. 0.).

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

es allerdings, ob die Polizei überhaupt befugt ist, Vernehmungen des Beschul-

digten durch private Dritte durchzufilhren410. Abgesehen davon, daß diese "privaten Vernehmungen" den Formerfordernissen der StPO nicht entsprechen und deshalb keine ausreichende Gewähr filr Wahrheitsfmdung und Beschuldigtenschutz bieten, muß dem vor allem deshalb widersprochen werden, weil filr eine Heranziehung Dritter zur Ausübung von Hoheitsbefugnissen, die mit Grundrechtseingriffen verbunden sein können, eine bisher nicht vorhandene Rechtsgrundlage erforderlich ist411 • Es ist auch sonst im öffentlichen Recht anerkannt, daß eine Delegation von Amtsbefugnissen lediglich in gesetzlich ausdrücklich geregelten Ausnahmefällen in Betracht kommt412 . 2. Konsequenzen des materiellen Vernehmungsbegriffs beim Einsatz von V-Leuten

Die hier aufgezeigte Lösung ist sachgerechter als eine analoge Anwendung der §§ 136, 136a StPO, die von einem Teil des Schrifttums vorgeschlagen wird413 . Soweit sich das Schrifttum aufeine Analogie zu den§§ 136, l36a StPO stützt, wird zudem verlangt, daß die Angaben in Unkenntnis der näheren Umstände gegenüber einer privaten Person erfolgt sind, deren Beauftragung gezielt erfolgt ist, um den Schutz der Äußerungsfreiheit durch die §§ 136, 136a StPO zu umgehen414 • Damit kommt es jedoch zu Unstimmigkeiten, die bei funktioneller Betrachtung des nemo tenetur-Grundsatzes nicht zu rechtfertigen sind. So soll nach formeller Betrachtung bei einer nach außen "privat" auftretenden Person keine Vernehmung vorliegen, denn der Beschuldigte wisse, daß er nicht verpflichtet sei, auf Fragen zu antworten415 • Dennoch wird bei gezielter Beauf410 Relevanz erlangt dies vor allem filr den Bereich der Vernehmungen durch private V-Leute. 411 So ist etwa in §§ 105 II S. I, 106 I S. 2 StPO die Heranziehung privater Zeugen bei Durchsuchung einer Wohnung ausdrücklich gestattet. Selbst wenn bei Einsatz von privaten Dritten zur Aushorchung des Beschuldigten ein Verstoß gegen den nemo tenetur-Grundsatz unzutreffend verneint wird, so bedarf es zumindest wegen des Eingriffs in das Recht auf informationeHe Selbstbestimmung einer spezielleren Rechtsgrundlage als die der§§ 161, 163 StPO (vgl. zur Parallelproblematik beim Einsatz von V-Leuten Duttge, JZ 96, S. 556 ff.; Hund, StV 93, S. 381; a. A. Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 110a StPO, RN 4, m. w. N.). Dagegen geht ein Teil der Literatur davon aus, daß das arrangierte Mithören eines Gesprächs mangels Eingriffscharakter auf die §§ 161, 163 StPO gestützt werden kann (vgl. Hilger, NStZ 92, 462 in FN 97; Sternberg-Lieben, JURA 95, S. 306m. w. N. ) 412 Vgl. auch Wa/der, Die Vernehmung, S. 99 f., der die Vernehmung durch Dritte als "nichtig" erachtet. 413 So aber Roxin, NStZ 95, S. 465. 414 Vgl. u. a. Beu/ke, Strafprozeßrecht, RN 481, 481d; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 637 ff. m. w. N.; Roxin, NStZ 95, S. 466. 415 V gl. beispielhaft die Argumentation bei Beu/ke, Strafprozeßrecht, RN 481 d.

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tragung zur Aufklärung vergangener Straftaten der Rechtsgedanke des § 136 StPO analog herangezogen. Dies bedeutet aber zugleich, daß der Befragte dann schutzlos gestellt wird, wenn der Verdeckte Ennittler oder der V-Mann nur allgemein ohne besonderen Auftrag in der Szene eingesetzt wird416 • Angaben gegenüber staatlich beauftragten Dritten erfolgen jedoch entweder generell freiwillig oder allgemein unfreiwillig, denn die Freiwilligkeit der Selbstbelastung kann auch bei nonnativer Betrachtung allein aus Sicht des Betroffenen, nicht aber nach dem Zweck oder der Rechtsstaatlichkeit des Handeins der Strafverfolgungsbehörde beurteilt werden. Im übrigen muß auch festgestellt werden, daß die aufgezeigte, der wohl h. A. im Schrifttum entsprechende Differenzierung kaum praktikabel ist, da sich eine entsprechende Absicht der Strafverfolgungsbehörden nur in extremen Fällen nachweisen lassen wird. In den übrigen Fällen dürfte es fUr die Ermittlungsbehörden ein leichtes sein zu behaupten, ein entsprechender Wille habe nicht vorgelegen. Im Einzelfall mag es, etwa im Bereich der Mitwirkungsfreiheit, die durch das Fehlen einer Vernehmungssituation gekennzeichnet ist, notwendig sein, den Rechtsgedanken der §§ 136, 136a StPO analog anzuwenden. Dies sollte jedoch die Ausnahme bleiben, denn es werden sich filr diesen Bereich keine übergreifenden Regeln fmden lassen, sondern es können höchstens Fallgruppen gebildet werden, die nicht geeignet sind, zur Rechtssicherheit beizutragen417. Darüber hinaus läßt sich durch eine lediglich analoge Anwendung nicht wirksam der Gefahr restriktiver Auslegung durch die Gerichte begegnen418 • Ebenso ist ausgehend vom dargestellten Zurechnungsprinzip nicht einzusehen, warum der Rechtsgedanke des § 136 StPO bei Einsatz eines V-Mannes ohne konkreten Straftatverdacht, nicht zumindest dann, wenn sich Anhaltspunkte fiir eine ganz bestimmte Straftat ergeben, herangezogen wird. Nach der gesetzgeberischen Intention sollen als Verdeckte Ennittler nur Beamte i. S. d. §§ 2, 35 ff. BRRG eingesetzt werden, um "die notwendige straffe Führung und wirksame, auch disziplinarrechtliche, Dienstaufsicht zu gewährleisten"419 • Auch sonst muß bei Einsatz von Privaten im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen eine annähernd vergleichbare Einfluß- und Aufsichtsmöglichkeit der Strafverfolgungsbehörden gegeben sein, um ein Minimum an Rechtsstaatlichkeit der Ermittlungen zu garantieren. So sind beispielsweise die Ermittlungsaufträge an V-Personen so genau und umfassend wie möglich zu erteilen, um die mit ihrem So Beulke, a. a. 0. Diese Tendenz läßt sich gerade an den Entscheidungen aufzeigen, die dem Hörfallen-Beschluß des BGH vorangegangen sind, vgl. nur BGHSt 34, 39 ff.; 362 ff. Eingehender dazu unten Teil III, § 13 IV 2. 418 Vor der Entscheidung BGHSt 34, 39 ff. hat sich der BGH einer analogen Anwendung von§ 136a außerhalb von Vernehmungen weitgehend widersetzt, vgl. nur BGHSt 24, 129; bei Dallinger, MDR 75, 23; GA 81, 89. 419 Vgl. BT-Drucksache 12 I 989, S. 42. 416 417

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

Einsatz verbundenen Eingriffe auf das erforderliche Minimum zu begrenzen420. Davon abgesehen dürfte der schlichte Auftrag, "Augen und Ohren offen zu halten", sowieso nicht der Verfahrenswirklichkeit entsprechen421 . V-Leute werden sicherlich in der Mehrzahl aller Fälle gezielt in einer bestimmten Szene eingesetzt und dabei zugleich beauftragt, straftatverdächtige Personen heimlich auszuhorchen. Selbst wenn der V-Mann keine hoheitlichen Befugnisse und damit natürlich auch kein Recht zur Vernehmung Tatverdächtiger besitzt, muß als Folge dieser Lenkungs- und Kontrollaufgabe der Einsatzbehörde das Handeln der verdeckt ermittelnden Privatpersonen als Handeln der Strafverfolgungsbehörden und damit als Vernehmung qualifiziert werden422 . Für Verdeckte Ermittler ist die Differenzierung zwischen gezieltem und allgemeinem Einsatz in der Szene überdies deshalb nicht haltbar, weil diese - wie jeder andere Polizeibeamte auch - dem Legalitätsprinzip unterliegen und deshalb bei entsprechenden Anhaltspunkten die Pflicht haben, Straftaten zu erforschen und die dazu notwendigen Vernehmungen durchzufUhren hat423 • Bei Einsatz eines Verdeckten Ermittlers ist damit filr die Einsatzbehörde in aller Regel absehbar, daß es auch ohne einen geziehen, straftatbezogenen Ermittlungsauftrag zu Vernehmungssituationen und damit zur Umgehung des § 136 StPO kommen wird424. Festzuhalten bleibt, daß auch bei heimlicher Befragung durch private V-Leute oder sonstige Dritte eine Vernehmungssituation gegeben ist. Ob der Befragte dabei "freiwillig" einen sozialen Kontakt zu den eingesetzten V-Leuten gesucht hat, oder ob diese eine Informationspreisgabe provoziert haben425 , ist filr die Einstufung als Vernehmung unerheblich. Eine Unterscheidung nach dem konkreten Gesprächsverlauf dürfte auch kaum durchfUhrbar sein, denn die Effektivität der Ermittlungshandlungen von V-Leuten gründet sich ja gerade darauf, eine filr den Betroffenen scheinbar normale Gesprächssituation herzustellen. Deshalb ist es ein unmittelbar aus dem nemo tenetur-Grundsatz abzuleitendes 420 Vgl. dazu unter Verweis auf entsprechende landesrechtliche Richtlinien auch Weß/au, Vorfeldermittlungen, S. 88. 421 In diesem Fall ist bereits die Eingriffsqualität einer lediglich beobachtenden Maßnahme der V-Leute zweifelhaft, vgl. Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 194. 422 Zur Zurechnung der Handlungen von V-Leuten, vgl. allgemein Weß/au, Vorfeldermittlungen, S. 88 m. w. N. 423 Vgl. nur KK-Nack, § 110c StPO, RN 3 m. w. N. und ergänzend auch RiStBV Anlage D Nr. II. 4.4. 424 Nach einer von Haas, V-Leute, S. 264 ff. durchgefiihrten Untersuchung, einer Auswertung von 176 Gerichtsakten über Betäubungsmittelverfahren, wurden V-Leute in vielen Fällen auch gezielt aufeinen Beschuldigten angesetzt (vgl. insbesondere S. 271). Im übrigen besteht weitgehend Einigkeit, daß der Einsatz von V-Leuten vorrangig der Beschaffung von Beweismitteln dient. Vgl. dazu die Nachweise bei Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 90 f. Nack, Das verdeckte Verhör, S. 245, spricht vom "Haupteinsatzziel" des Verdeckten Ermittlers. 425 So unter dem Gesichtspunkt des Grundrechtseingriffs die Unterscheidung von Krüger, NJW 82, S. 857.

§ II Vernehmungsbegriffund Aussagefreiheit des Beschuldigten

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verfassungsrechtliches Gebot, daß entsprechend erlangte Infonnationen nicht verwertet werden dürfen. Angesichts dieses Verfassungsgebots ist es auch völlig unerheblich, ob fUr vergleichbare Maßnahmen eine gesetzliche Grundlage geschaffen wird426• V. Vernehmungsbegriffund präventive Zielsetzung des Vernehmungsbeamten Aber nicht nur bezogen auf den Beschuldigten muß von einer Ergänzung des Vernehmungsbegrifffs durch subjektive, auf eine Kenntnis der Vernehmungssituation abstellende Merkmale abgesehen werden. Ebensowenig darf mitbestimmend sein, welchen Zweck die handelnde Person mit der Befragung verfolgt427. Eine Einschränkung hat lediglich insofern zu erfolgen, als - ob offen oder verdeckt - eine Vernehmung nur dann angenommen werden kann, wenn eine Befragung über bereits begangene Straftaten erfolgt428 . Es wäre unter Berücksichtigung des nemo tenetur-Grundsatzes widersinnig, beim Einsatz von VLeuten oder eines "agent provocateur'' dem künftigen Straftäter bereits im Vorfeld der eigentlichen Tatbegehung den vollen Schutz der §§ 136, l36a StPO zuteil werden zu lassen429. Dabei können allerdings unbestritten schwierige Grenzfiille auftreten, so etwa wenn die Polizei einen Tatverdächtigen zur Tat 426 Der im Ergebnis erfreuliche Anfragebeschluß des 5. Senats (NStZ 95, 511 ff.) zur Frage des heimlichen Aushorchens des Beschuldigten durch private Dritte scheint in diesem Punkt eine abweichende Auffassung zu vertreten. So fUhrt der 5. Senat aus, daß die Wertentscheidung der Verfassung eine entsprechende Praxis verbiete, "solange eine gesetzliche Grundlage (fiir diese) fehlt". 427 A. A. BGH bei Da/linger MDR 70, 14. In diesem Fall befragte ein Beamter der Ordnungspolizei eine Person, die einen Mordversuch begangen hatte, am Tatort; Röhrich, Rechtsprobleme bei der Verwendung von V-Leuten, S. 244. 428 A. A. wohl Keller, Rechtliche Grenzen, S. 122. Dessen Beispiel, die Befragung eines Zeugen über den Fundort der Tatbeute und die bevorstehende Flucht des Beschuldigten, bezieht sich zwar auf künftige Ereignisse, die Befragung dient jedoch zugleich der Aufklärung einer bereits begangenen Tat und ist damit unzweifelhaft als Vernehmung zu qualifizieren. 429 H. A., vgl. nur SK-Roga/1, § l36a StPO, RN 19 ff., 22 und die Nachweise bei Keller, Rechtliche Grenzen, S. 120 ff. Deshalb auch verfehlt der fiir eine restriktive Auslegung des nemo tenetur-Grundsatzes angefilhrte Vergleich des Großen Senats (BGHSt 42, 153) mit dem verfassungsrechtlich anerkannten Einsatz eines "agent provocateurs". Für eine Heranziehung des Rechtsgedankens des § 136a StPO dagegen LRHanack, § l36a StPO, RN 4 m. w. N. und Lüderssen, FS filr Peters, S. 361, mit dem kaum haltbaren Schluß, wenn § 136a StPO die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten schütze, so müsse es diesem "erst recht überlassen bleiben", in welchem Ausmaß er selbstbelastendes Material gegen sich produzieren möchte. Zu einem vergleichbaren Problem bei § 55 StPO, vgl. BVerfG NStZ 85, S. 277. Problematisch ist hingegen, ob der Einsatz eines Lockspitzels nicht wegen fehlender Eingriffsermächtigung verfassungswidrig ist, vgl. dazu Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 639 m. w. N.

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Teil 111: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

provoziert, um damit das bei einer früheren Tat verwendete Tatwerkzeug zu finden, mit dem seine Täterschaft bewiesen werden kann430 • Dient die Verleitung zu einer neuen Tat wie in diesem Beispiel zugleich der Aufklärung bereits begangener Straftaten, muß auch der Anwendungsbereich der §§ 136, 136a StPO eröffnet sein, selbst wenn der Zwang, ein Eingehen auf frühere Straftaten ohne Belehrung strikt zu unterlassen, sicherlich zu Effektivitätseinbußen fiir die Lockspitzeltätigkeit fiihrt431 • Entscheidend ist dabei allein der objektive Bezug zu bereits begangenen Straftaten und nicht die subjektive Zielsetzung des vernehmenden Beamten. So genügt es nicht, eine Vernehmung allein deshalb zu verneinen, weil der Beamte lediglich klären will, ob Anlaß zu schutzpolizeilichem, d. h. präventivem Eingreifen besteht. Subjektive Elemente werden bereits bei der Wahl zwischen Zeugen- und Beschuldigtenvernehmung berücksichtigt, während es fiir das Merkmal der Vernehmung genügen muß, daß die Befragung einerseits den Strafverfolgungsbehörden objektiv zurechenbar ist und andererseits bei objektiver Betrachtung in irgendeiner Form der Aufklärung bereits begangener Straftaten dient432 • So hat der BGH im Zusammenhang mit § 252 StPO zu Recht eine Vernehmung selbst dann angenommen, wenn die Aussage über eine begangene Straftat im Rahmen präventiv-polizeilichen Vorgehens erfolgte, und es ist kein Grund ersichtlich, dies nicht auf die allgemeine Bestimmung des Vernehmungsbegriffs zu Obertragen433 . Bei der Doppelaufgabe der Polizei ist eine klare Trennung zu Beginn eines Verfahrens ohnehin nicht immer möglich und wird, wie die Praxis vielfach beweist, durch diese auch nicht vorgenommen434. Die Vermischung von gefahrenabwehrenden, präventiven mit zugleich repressiven Zwecksetzungen entbindet nicht von der Verpflichtung einer strafprozessualen Rechtfertigung, sofern die Informationsgewinnung unmittelbar auch strafverfahrensrechtlichen Zielen dient435 • Ein treffendes Beispiel dafilr ist eine Entscheidung des OLG Oldenburg, das es ablehnte, die Befragung einer einreisenden Person durch einen Zollbeamten als Vernehmung zu qualifizieren und deshalb die dadurch erlangten, selbstbelaVgl. das Beispiel bei Keller, Rechtliche Grenzen, S. 121. Vgl. auch Hilger, NStZ 85, S. 570 und BGH GA 81 , S. 89. Eine klare Trennung von repressiver und präventiver Tätigkeit läßt sich sowieso nur bzgl. der erhobenen Informationen vornehmen, denn der Lockspitzeleinsatz dient nicht allein der Verhinderung künftiger Straftaten, sondern zugleich auch der Aburteilung des bereits im Hinblick auf andere Straftaten verdächtigen Täters. 432 Enger Röhrich, Rechtsprobleme bei der Verwendung von V-Leuten, S. 244. 433 Vgl. BGHSt 29, 230. Gerade bei einer zwangsorientierten Betrachtung, d. h. der Frage nach dem Druck, der durch eine Befragung auf den Vernommenen ausgeübt wird, muß es eine Selbstverständlichkeit sein, daß innere Absichten des Vernehmenden unbeachtlich sind. 434 Vgl. auch Gollwitzer, JR 81 , S. 126. 435 Speziell zur Problematik des Lockspitzels, Fischer I Maul, NStZ 92, S. 8 m. w. N.; LR-Rieß, § 163 StPO, RN 64. 430 431

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stenden Erklärungen ftir uneingeschränkt verwertbar hielt436 • Betrachtet man den zugrundeliegenden Sachverhalt näher, so ruft die Urteilsbegründung erhebliche Bedenken hervor, denn der Zollbeamte hat den Angeklagten nach mitgefiihrten Betäubungsmitteln und Waffen befragt, weil dieser ihm "auffiillig nervös" erschienen ist437 • Als ihm dieser daraufhin zwei Päckchen Marihuana aus dem Auto reichte, setzte der Zollbeamte seine Befragung ohne Belehrung fort. Erst nachdem ihm der Angeklagte weitere drei Päckchen Marihuana übergeben hatte, wurde er belehrt und verweigerte im Anschluß an die Belehrung jede Aussage zur Sache. Lediglich der zweite Teil der Befragung, der sich an die Herausgabe der zwei Päckchen Marihuana anschloß, wurde durch das OLG als Vernehmung gewertet438 , bezüglich des ersten Teils habe der Beamte jedoch in Wahrnehmung seiner allgemeinen (präventiven) Kontrollbefugnis gehandelt, da er den Angeklagten nicht als Täter einer konkreten Straftat angesprochen habe. Diese Differenzierung ist nicht haltbar, denn ftir die Einordnung als Vernehmung muß eine an objektive Merkmale anknüpfende, ex post-Beurteilung entscheidend sein439 • Die gezielte Frage nach Betäubungsmitteln, die nur deshalb erfolgte, weil der Beamte durch den ersichtlich aufgeregten Zustand des Angeklagten einen Verstoß gegen das BtMG oder WaffG in Erwägung zog, zeigt, daß der Beamte nicht lediglich präventiv zur Verhinderung von Einfuhrdelikten etwa nach § 372 AO handelte, sondern vor allem deshalb, um eine bereits begangene Straftat aufzuklären440. Die Frage des Zollbeamten forderte den Tatverdächtigen unmittelbar zu einem Geständnis, einer vergleichbaren konkludenten Handlung oder zum Leugnen einer Straftat auf und ist deshalb objektiv beIehrungspflichtig. Für diese Einordnung kann auch nicht entscheidend sein, ob der Schwerpunkt der Maßnahme auf der Verfolgung repressiv- oder präventivpolizeilicher Zwecke liegt441 . Diese Unterscheidung dient der Klärung der Frage, ob sich ein bestimmter Eingriff auf eine Rechtsgrundlage stützen läßt, sie trifft jedoch keine endgültige Entscheidung darüber, inwieweit auch eine über den Eingriffszweck hinausreichende Rechtsgutbeeinträchtigung gerechtfertigt ist. Der Fall kann generell als Beispiel dafilr angefiihrt werden, daß Verwertungsverbote grundsätzlich aus ihrer eigenen Grundlage heraus zu bestimmen

Vgl. OLG Oldenburg StV 96, 416. Vgl. die nähere Erläuterung des Sachverhalts von Bernsmann, StV 96, S. 416 f. 438 Der Belehrungsverstoß blieb jedoch wegen fehlender Rüge des Verteidigers ohne Folgen, vgl. dazu unten Teil III, § 14 IV. 439 Im Polizeirecht entspricht dies bei doppelfunktionalen Maßnahmen der Polizei der h. A., vgl. dazu die Nachweise bei Welp, NStZ 95, S. 602 (FN 5). 440 Vgl. dazu und zur doppelfunktionalen Aufgabe des Zollobersekretärs bei der Durchführung von Grenzkontrollen, Bernsmann, StV 96, S. 417 m. w. N. 441 So aber ebd. m. w. N. 436 437

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

sind. Nicht entscheidend sein darf, ob der Schwerpunkt der Maßnahme, und damit die Handlung des Strafverfolgungsorgans filr sich betrachtet, durch eine präventive Eingriffsgrundlage gestattet ist. Die Verwertung des so gewonnenen Beweismittels würde andernfalls zu einer vom Eingriffszweck der Rechtsgrundlage nicht erfaßten Rechtsgutverletzung fUhren. Im Beispielfallläßt sich die Gefahr - Einfuhr deklarationsptlichtiger Güter in die Bundesrepublik Deutschland - auch ohne Verwertung der Angaben des Tatverdächtigen im Strafprozeß abwenden. Für die Einstufung als Vernehmung muß dagegen eine am Rechtsgut des nemo tenetur-Grundsatzes orientierte Auslegung entscheidend sein. Damit sind auch Angaben bei "präventiven Vernehmungen" von §§ 136, 136a StPO erfaßt, sofern sich die Vernehmung nicht lediglich auf künftige Ereignisse bezieht, sondern ebenso ein Bezug zu bereits begangenen Straftaten objektiv erkennbar ist. Dies verdeutlicht zugleich, daß es fiir die Bestimmung des Vernehmungsbegriffs wenig hilfreich ist, wenn einschränkend gefordert wird, die Aussageperson müsse "in einem laufenden Strafverfahren" von einem Strafverfolgungsorgan zur Abgabe sach- oder prozeßrelevanter Informationen veranlaßt werden442 • Das zur Abgrenzung verwendete Merkmal der außerprozessualen Informationsveranlassung ist filr sich genommen wenig aussagekräftig, da - wie der Beispielfall verdeutlicht- häufig erst durch die Vernehmung selbst, der innerprozessuale Charakter der Informationssammlung defmiert wird. VI. Die "vernehmungsähnliche Situation" Da die Gefahr der Entwertung verfassungsrechtlich abgesicherter Beschuldigtenrechte im Rahmen heimlicher Polizeiarbeit durchaus erkannt ist, wurde insbesondere von Vertretern eines formellen Vernehmungsbegriffs der wenig trennscharfe Begriff der vernehmungsähnlichen Situation eingefilhrt, um Fällen der Umgehung einer "ordentlichen" Vernehmung Schranken setzen zu können443. Im Einzelfall lassen sich mit diesem Rechtsinstitut durchaus sinnvolle Korrekturen ermöglichen444 • So insbesondere, wenn keine materielle Vernehmungssituation gegeben ist, der Beschuldigte jedoch von den Strafverfolgungsbehörden einem vergleichbaren Kommunikationsdruck ausgesetzt wird445 • Es bleibt jedoch unklar, welche übergeordneten Maßstäbe filr eine vernehmungsähnliche Situation ausschlaggebend sein sollen, die gegebenenfalls zu einem Beweisverwertungsverbot entsprechend den §§ 136, 136a StPO fiihren. Diese Unsicherheiten sind auch dadurch bedingt, daß trotz des übereinstimmenFinck2, ZStW 95 (1983), S. 948 ff.; SK-Roga/1, vor§ 133 StPO, RN 43. So SK-Rogall, vor§ 136 StPO, RN 21. 444 Vgl. etwa BGHSt 33, 224; 34, 363; 39, 335, 348; 40, 66; vgl. auch Schuhmann JZ 86, 67 m. w. N. 445 Beispielsweise bei vorläufiger Festnahme. Vgl dazu unten Teil III, § II VI l. 442 443

§ II Vernehmungsbegriffund Aussagefreiheit des Beschuldigten

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den Vernehmungsbegriffs in§ 136 und§ 136a StPO bei der Frage der Verwertbarkeit der in vernehmungsähnlicher Situation gewonnenen Beweisergebnisse meist nur eine analoge Anwendung von§ 136a, nichtjedoch von§ 136 StPO in Betracht gezogen wird446 • Dies ist auch wenig verwunderlich, denn vor dem grundlegenden Sinneswandel des BGH zur Frage der Verwertbarkeit einer ohne Belehrung erfolgten polizeilichen Aussage des Beschuldigten war der Weg über § 136 StPO verschlossen. Entsprechend uneinheitlich ist das Bild, das sich in der Rechtsprechung zur Problematik der vernehmungsähnlichen Situation abzeichnet. Die dabei aufgetretenen Widersprüche sind vor allem deshalb entstanden, weil sich der BGH einer funktionsorientierten Auslegung des nemo tenetur-Grundsatzes und des Vernehmungsbegriffs verschloß und statt dessen nach anderen Kriterien- etwa den besonderen Umständen einer Haftsituation447 oder der Fixierung des gesprochenen Wortes aufTonband448 - suchte449 •

1. V-Haft-Fälle So hat der BGH in der Haftzellen-Entscheidung eine verdeckte Vernehmung des Beschuldigten durch einen Polizeispitzel filr unverwertbar erklärt, da die Freiheit der Willensentschließung des Angeklagten durch unzulässigen Zwang beeinträchtigt worden sei450 • Der Spitzel wurde gezielt von den Strafverfolgungsbehörden auf den Beschuldigten angesetzt, um diesen auszuhorchen. Zu diesem Zweck wurde er in die U-Haft-Zelle des Beschuldigten verlegt, nachdem er zuvor von einem Kriminalbeamten noch "taktische Anweisungen" erhalten hatte. Der Beschuldigte hatte gegenüber den Strafverfolgungsbehörden seine Tatbeteiligung bestritten, offenbarte sich aber dem unter Aufsicht der Strafverfolgungsbehörden agierenden Mithäftling. Zunächst stellt der BGH in dieser Entscheidung sehr allgemein fest, die §§ 136a und 163a IV S. 2 StPO seien analog anzuwenden, wenn die Strafverfolgungsbehörden mit verbotenen Mitteln auf den Beschuldigten einwirken, um diesen zu selbstbelastenden Angaben gegenüber einer später als Zeugen zu vernehmenden Privatperson zu veranlassen. Eine weitere Konkretisierung, wann die Aussagefreiheit des Beschuldigten durch Täuschung unzulässig beeinträchtigt wird, unterläßt der BGH dann aber. Er richtet statt dessen sein Augenmerk auf die Zwangswirkung der U-Haft, die im vorliegenden Fall dazu mißbraucht worden sei, den Beschuldigten in der

446 Vgl. dazu die Nachweise bei Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 638; Rüping, Das Strafverfahren, S. 36, RN 105. 447 BGHSt 34, 362 ff. 448 BGHSt 34, 39 ff. 449 Vgl. dazu auch Roxin, NStZ 95, S. 467 rn. w. N. 450 BGHSt 34, 362 ff.

15 Bosch

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

Ausübung seines Schweigerechts zu beeinflussen451 • Wie auch in den folgenden, noch zu erläuternden Entscheidungen ist der BGH sichtlich von dem Bemühen geleitet, weitreichende Konsequenzen filr den Bereich verdeckter Ermittlungen zu vermeiden. Im Leitsatz "Was ein Beschuldigter einem Mitgefangenen erzählt hat, der auf Veranlassung der Polizei auf seine Zelle gelegt wurde, um ihn ... auszuhorchen, darf nicht verwertet werden452", klingt ein materiell-orientierten Vernehmungsbegriffs an. Als Konsequenz müßte der BGH filr weite Bereiche der verdeckten Ermittlungstätigkeit der Polizei einen Verstoß gegen § l36a StPO bejahen, denn der Beschuldigte wird auch bei der Tätigkeit von V-Leuten über deren Identität und wahre Absichten getäuscht und so zu selbstbelastenden Angaben veranlaßt453 . Bis zu dieser Entscheidung hatte der BGH jedoch bei vergleichbaren Fällen des Einsatzes von Polizeispitzeln eine Vernehmungssituation und auch eine entsprechende Anwendung der §§ l36a, l63a V StPO verneint454 . Anstatt nun eine praktikable Einschränkung über eine Präzisierung des Vernehmungsbegriffs zu suchen und damit verbunden eine Lösung der Problematik bereits aus § 136 StPO zu erschließen, stellt der BGH wenig überzeugend darauf ab, daß der Beschuldigte in seiner Aussagefreiheit durch eine unzulässige Ausnutzung des Zwangs der U-Haft beeinträchtigt worden sei455 . In der vorliegenden Fallkonstellation entschloß sich der Beschuldigte jedoch nicht aufgrund seiner Zwangssituation, sondern allein deshalb zur Aussage, weil sich der polizeilich gesteuerte Untersuchungshäftling mittels einer Täuschung in sein Ver451 BGHSt 34, 363 f. Dem BGH zustimmend, jedoch in den Konsequenzen unklar, Bockemühl, Private Ermittlungen, S. 18 f. (vgl. S. 22 f. "strafprozessuale Vernehmung, aber keine Vernehmung i.S.d. §§ 136, 163a StPO?); Grünwald, StV 87, S. 570 ff.; Salditt, GA 92, S. 69; Seebode, IR 88, S. 427 ff.; Sternberg-Lieben, JURA 95, S. 306 in FN 116m. jeweils w. N. Die Ausgangsentscheidung des LG Hannover, StV 86, 521 f., bejahte eine unzulässige Täuschung des Beschuldigten, die eine Unverwertbarkeit seiner Aussage gemäߧ 136a StPO zur Folge hat. So auch ein Großteil des Schrifttums, wobei meist wegen der besonders belastenden Umstände der Haft und des dadurch bedingten Kommunikationsbedürfnisses eine Täuschung mit zwangsgleicher Wirkung angenommen wird (vgl. u. a. Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 169; a. A. Roxin, Die Rechtsprechung des BGH, S. 82 f., der der Auffassung ist, daß die Freiheit der Willensentschließung durch den Spitzel nicht beeinträchtigt gewesen sei. Der Lösungsansatz Roxins, eine Unverwertbarkeit der Angaben deshalb anzunehmen, weil fiir derartige Methoden keine Gesetzesgrundlage vorhanden ist und Geständnisse deshalb nur auf dem Weg des § 136 StPO erlangt werden können, hindert den Gesetzgeber aber nicht, eine entsprechende Eingriffsermächtigung zu schaffen, um dann auf diese Weise gegen den Beschuldigten vorzugehen. Später hat sich Roxin von dieser Auffassung jedoch stillschweigend verabschiedet, vgl. nur NStZ 97, S. 19. 452 BGHSt 34, 362. Kursive Hervorhebung durch den Verfasser. 453 Vgl. zu dieser Konsequenz bereits Kramer, JURA 88, S. 523; Fezer, JZ 87, S. 938; Seebode, JR 88, S. 429 f. 454 Vgl. BGH GA 75, 333; 81, 89. 455 BGHSt 34, 364.

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trauen eingeschlichen hatte. Der Beschuldigte hätte durchaus die Wahl gehabt, bei seinem Schweigen zu verharren, ohne daß dies mit irgendwelchen Konsequenzen fi1r ihn verbunden gewesen wäre. Die Haftsituation mag zwar den Kreis potentieller Kommunikationspartner verengt haben, das zwingt den Betroffenen jedoch nicht dazu, seinem Zellengenossen ein Geständnis zu machen. Deshalb läßt sich auch über die Konstruktion der"vernehmungsähnlichen Lage" kein eindeutiges Ergebnis erzielen. Diese soll dadurch gekennzeichnet sein, daß der Beschuldigte einem faktischen Zwang zur Einlassung ausgesetzt wird, der es ihm unmöglich macht, sich der Befragung ohne weiteres zu entziehen456• Als Beispiel dafilr wird insbesondere die Aushorchung durch einen Mitgefangenen angefiihrt, obwohl gerade der vorliegende Fall zeigt, daß sich der Beschuldigte einer Befragung zunächst strikt entzogen und dem Spitzel erst Glauben geschenkt hat, als es diesem durch gemeinsame Fluchtpläne und Deliktsverabredung gelang, dessen Vertrauen zu gewinnen. Durch die Untersuchungshaft wird nur dann ein nach § 136a I S. 2 StPO verbotener Zwang auf die Willensfreiheit des Beschuldigten ausgeübt, wenn die Freiheitsentziehung gezielt zur Herbeifilhrung einer Aussage eingesetzt wird457 • Da die Untersuchungshaft nicht den Zweck hat, das Aussageverhalten des Beschuldigten zu beeinflussen, ist es den Strafverfolgungsbehörden durch§ 136a I S. 2 StPO verwehrt, die Haft zur Geständniserlangung zweckentfremdet auszunützen4s8. Die Unverwertbarkeit von Aussagen des Beschuldigten wegen Anwendung prozeßordnungswidrigen Zwangs setzt damit eine fmale Verknüpfung von Haftsituation und Aussage voraus. Eine dementsprechende Verbindung kann beispielsweise dann angenommen werden, wenn bereits die Anordnung oder Durchführung der Haft rechtswidrig ist oder durch In-Aussicht-Stellen einer kürzeren Haftzeit unzulässig auf die Entschließungsfreiheit des Beschuldigten eingewirkt wird4S9. Dafilr kann es aber nicht allein genügen, daß die Aussage während der Dauer einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung erfolgt ist, sondern die damit verbundene Zwangsanwendung muß sich zudem auf das "Ob" und "Wie" der Aussage ausgewirkt haben460 . Sonst müßten auch Aussagen des So SK-Roga/1, § 136a StPO, RN 21 m. w. N. Vgl. auch Erbs, NJW 51, S. 388; BGH StV 96, 73, 76 f. Ein gezielter Einsatz der Methode wird aber nur von § 136a StPO gefordert. Dieses Kriterium hat keine Relevanz, sofern das Aussageverhalten des Beschuldigten unmittelbar am Maßstab des § 136 StPO gewürdigt wird. 458 Zur Funktion der Zweckbindung von Zwangsmaßnahmen, vgl. SK-Roga/1, § 136a StPO, RN 70 m. w. N. Speziell zur Untersuchungshaft OLG Frankfurt StV 92, 583; Berndt, NStZ 96, S. 117; Seebade, JR 88, S. 430 jeweils m. w. N. 459 Vgl. dazu u. a. BGHSt 20, 268; 34, 369; 89, 2; 92, 356; 96, 76; NJW 65, 2262; OLG Fran!!:furt StV 92, 583 f.; LG Bad Kreuznach StV 93, 629. 460 Insoweit zutreffend BGHSt 34, 369; StV 96, 76; Fezer, JR 91, S. 87 m. w. N . Zu weit dagegen Hamm, NStZ 88, S. 235. Zur Frage der Kausalität vgl. auch Nelles, StV 92, S. 390 f. Allgemein zur notwendigen "doppelten Beziehung" zwischen verbotener 456 457

15•

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

Beschuldigten unverwertbar sein, die während einer richterlich angeordneten, später aber durch das Beschwerdegericht aufgehobenen Haft erfolgt sind. Man wird aber wohl kaum behaupten können, daß sich eine mögliche Verletzung der Aussagefreiheit des Beschuldigten bis zur Entscheidung des Beschwerdegerichts in einem "Schwebezustand" befmdet. Ob eine Aussage freiwillig oder unfreiwillig erfolgt, läßt sich nur zum Zeitpunkt der Aussagesituation beurteilen. Im übrigen ist die Situation des Eingesperrtseins und die daraus resultierende Ungewißheit fast immer mitbestimmend filr das Aussageverhalten des Beschuldigten und dies meist unabhängig von der Frage, ob die Anordnung der Haft rechtmäßig erfolgt ist461 • Die Feststellung des notwendigen Kausalzusammenhangs kann deshalb nicht frei von normativen Wertungen erfolgen, denn die Zwangswirkung der Haftsituation besteht schließlich unabhängig davon, ob sie objektiv rechtswidrig ist, sonst müßte es unter dem Aspekt der Aussagefreiheit des Beschuldigten generell unzulässig sein, den Beschuldigten während der Haft zu vernehmen oder Aussagen von ihm entgegenzunehmen462 • Diese Erwägungen gelten im übrigen auch dann, wenn man den eigentlich überflüssigen Rückgriff auf die Zwangsalternative des § 136a StPO unterläßt463 , und die Einwirkung auf das Aussageverhalten des Beschuldigten unmittelbar am MaßVernehmungsmethode und Aussage SK-Roga/1, § 136a StPO, RN 84 m. w. N. Da per definitionem durch Zwang die Entschließungsfreiheit beeinträchtigt ist, begrenzt sich das Problem vorrangig auf die Frage des Zusammenhangs zwischen dieser Beeinträchtigung und der Aussage des Betroffenen. Unabhängig davon ist eine Aussage auf alle Fälle unverwertbar, wenn sich der Beschuldigte unbelehrt nach vorläufiger Festnahme oder Inhaftnahme gegenüber den Strafverfolgungsbehörden äußert. Dies ergibt sich bereits aus § 136 I S. 2 StPO, ohne daß hier noch Raum fiir die Annahme einer Spontanäußerung des Beschuldigten ist, vgl. dazu AG Mannheim StV 93, 182 und unten Teil III, § 12 IV. Zur rechtswidrigen vorläufigen Festnahme, vgl. LG Bremen StV 96, S. 515. Das LG Bremen hat die Aussage eines Beschuldigten, der zunächst "als Zeuge" rechtswidrig festgehalten worden war, selbst dann noch als unverwertbar angesehen, als dieser während der Zeugenvernehmung langsam "in die Rolle des Beschuldigten hineingewachsen" und dann als Beschuldigter belehrt worden ist. Entscheidend ist in diesem Fall jedoch nicht die von einer rechtswidrigen Haft ausgehende Zwangswirkung auf den Beschuldigten (so aber das LG Bremen), sondern die Fortwirkung eines vorangegangenen Belehrungsverstoßes, der nur durch qualifizierte Belehrung geheilt werden könnte. 461 Bei dieser normativen Bewertung muß bzgl. der unmittelbaren Verwertbarkeit der Aussage entgegen der Auffassung Fezers, JR 91, S. 87, das sog. rechtmäßige Alternativverhalten außer acht bleiben, denn ist ein Verstoß gegen § l36a StPO festgestellt, darf es keine Rolle spielen, ob das konkrete Beweismittel auch auf anderem Weg erlangt worden wäre. 462 Deshalb kann der Argumentation des LG Bad Kreuznach StV 93, 630, nicht gefolgt werden, daß angesichts des nemo tenetur-Grundsatzes bereits jeder objektiv rechtswidrige Zwang zur Unverwertbarkeit der Aussage fuhren kann. Zumindest ein Verstoß gegen § 136a StPO kann nicht ohne Berücksichtigung der Absichten des Strafverfolgungsargans festgestellt werden, mag auch die Situation der Haft filr sich genommen die Annahme einer vernehmungsähnlichen Situation nahelegen. 463 Vgl. bereits Fezer, StV 96, S. 78, der zu Recht an einer eigenständigen Funktion der Zwangsalternative des § l36a StPO zweifelt.

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stab des nemo tenetur-Grundsatzes mißt. Auch in diesem Fall kann nicht allein die Rechtswidrigkeit der Haft für sich genommen eine normativ relevante Beeinträchtigung des Aussageverhaltens des Beschuldigten sein, sondern es müssen sich gerade die besonderen Umstände der rechtswidrigen Haftsituation auf die Entschließungsfreiheit des Beschuldigten ausgewirkt haben464 • Problematisch ist natürlich der Nachweis eines entsprechenden Einflusses im Prozeß. Es ist wenig hilfreich, wenn wegen der fehlenden Nachweismöglichkeiten bei innerpsychischen Abläufen die Aussage bereits dann für unverwertbar erklärt wird, wenn sich nicht ausschließen läßt, daß die konkret erfolgte Aussage auf dem unzulässigen Zwang beruht465 . Statt dessen sind über die Haftsituation hinausgehende Indizien zu fordern, die es nahelegen, daß der mit der Haft verbundene Druck dazu mißbraucht worden ist, das Aussageverhalten des Inhaftierten zu beeinflussen466 • Sind entsprechende Indizien festgestellt, so wird regelmäßig von der Unverwertbarkeit der erlangten Angaben auszugehen sein, denn ein positiver Nachweis fehlender Kausalität dürfte weitgehend unmöglich sein. Ein entsprechendes Indiz begründet beispielsweise der Umstand, daß der Beschuldigte drei Tage nachdem er Haftverschonung erhielt und durch seinen Verteidiger erklären ließ, daß er von seinem Recht, die Aussage zu verweigern, Gebrauch macht, erneut zur richterlichen Vernehmung geladen wird, um nach einem fl1r die Strafverfolgungsbehörden voraussehbaren Verstoß des Beschuldigten gegen die Ladungsanordnung diesen wegen erhöhter Fluchtgefahr in Haft nehmen zu können467 • Auch die Tatsache, daß der Beschuldigte zu Beginn der rechtswidrigen Haft jede Angabe zur Sache verweigerte, sich jedoch nach längerem Zeitablauf oder der Verwerfung einer Haftbeschwerde zu einem Geständnis entschloß468 , kann als Indiz dafiir gewertet werden, daß ohne die Haftsituation eine Aussage des Beschuldigten nicht erfolgt wäre.

464 Auch Amelung, ZStW 95 ( 1983), S. 11, muß seine zunächst vorangestellte Definition, freiwillig sei eine Einwilligung, wenn sie unbeeinflußt von "eingreifendem" staatlichen Zwang erfolgt, einschränken. Sonst wäre der weitaus überwiegende Anteil aller im Haftvollzug in Grundrechtsbeschränkungen erklärten Einwilligungen unfreiwillig und damit unwirksam. 465 Vgl. dazu BGHSt 13, 61; 34,369, und Fezer, StV 96, S. 79 m. w. N. 466 Vgl. dazu auch Nelles, StV 92, S. 391. Der Vorschlag von Fezer, StV 96, S. 78 f., daß bei rechtswidriger Haft bereits dann von der Unverwertbarkeit einer Aussage auszugehen ist, wenn sie erfolgt ist, um die Haft abzuwenden, fiihrt de facto zu einer generellen Unverwertbarkeit, sofern der Beschuldigte sich auf einen entsprechenden Verfahrensverstoß beruft, oder überläßt dies zumindest allein der "Verteidigungskunst" des Beschuldigten. 467 So der Sachverhalt der Entscheidung des OLG Frankfurt StV 92, S. 583 f. 468 Vgl. .LG Bad Kreuznach StV 93, 633. Die Ausschöpfung der Frist des§ 128 I S. 1 StPO wird dazu regelmäßig nicht genügen, denn den Strafverfolgungsbehörden muß aufgrund der fehlenden Ermittlungsbefugnis des Ermittlungsrichters ein gewisser Spielraum zur Klärung des Haftgrundes eingeräumt werden, vgl. dazu Fezer, JR 91, S. 86.

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

Schließlich ist auch dann von einer unzulässigen Einwirkung auf das Aussageverhalten des Beschuldigten auszugehen, wenn diesem ftlr den Fall eines Geständnisses Haftentlassung zugesichert wird. Dabei kommt es entgegen der allgemeinen Auffassung nicht darauf an, ob die Strafverfolgungsbehörden dem Beschuldigten damit einen gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteil im Sinne des § 136a StPO versprechen469 • Zum einen muß bereits bezweifelt werden, ob aufgrund des fragwürdigen Beweiswerts eines Geständnisses, das in der Hoffuung einer baldigen Haftentlassung abgegeben wird, dieses tatsächlich geeignet sein kann, den Haftgrund der Verdunklungsgefahr zu beseitigen. Zum anderen wird dabei - unabhängig von einer Verletzung des § 136a StPO - in unzulässiger Form auf das Aussageverhalten des Beschuldigten eingewirkt470. Daß in diesen Fällen ausschließlich die objektive Verknüpfung von Aussage und Haftsituation zur Unverwertbarkeit der Aussage filhren muß, wird deutlich, wenn man sich die Konsequenzen einer allein am Maßstab des § 136a StPO orientierten Auslegung vor Augen filhrt. Gemessen an § 136a StPO bleibt die Aussage mangels zielgerichteten Vorgehens des Vernehmungsbeamten selbst dann verwertbar, wenn sich später herausstellen sollte, daß dieser keine ausreichenden Rechtskenntnisse besaß und seine Auskünfte deshalb fahrlässig falsch erfolgten471 . Aus dem Blickwinkel des berechtigten Verteidigungsinteresses des Beschuldigten, selbst über Zeitpunkt und Anlaß seiner Aussage zu entscheiden, kann es jedoch keinen Unterschied machen, welche Absichten der Ermittlungsbeamte mit seinem Hinweis verfolgt hat. Geht es vorrangig um die Frage des Schutzes der Aussagefreiheit, so muß bei funktionaler Betrachtung nicht der Handlungsunwert, sondern der Erfolgsunwert, d. h. der Grad der tatsächlichen Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit des Beschuldigten entscheidend sein472 • Der Beschuldigte triffi in den genannten Fällen aufgrund eines vermeintlichen, kurzEine völlig andere Frage ist es aber, inwieweit durch die vorläufige Festnahme bereits eine Belehrungspflicht ausgelöst werden kann, vgl. dazu unten Teil III, § 12 IV. 469 So aber u. a. BGHSt 20, 268 f.; bei Dal/inger, MDR 52, 532; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 687: "in der gebotenen Vorsicht"; LR-Hanack, § l36a StPO, RN 54; SK-Roga/1, § 136a StPO, RN 69 m. w. N. Die h. A. differenziert am Maßstab des § 136a StPO danach, ob ein Geständnis tatsächlich geeignet ist, den Haftgrund zu beseitigen. In BGH StV 89, 515 geht der BGH wohl vom Tatbestandsmerkmal der Drohung mit einer strafverfahrensrechtlich unzulässigen Maßnahme aus. Vgl. dazu Achenbach, StV 89, S. 515 ff. 470 Deshalb die h. A. ablehnend Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 83 f. Auch Peters, Fehlerquellen, Band. 2, S. 7, nennt als eines der Motive filr ein falsches Geständnis die Hoffnung, einem Haftbefehl entgehen zu können. Vgl. dazu auch die Nachweise bei Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 731 und Stern, Der Geständniswiderruf, S. 39m. w. N. 471 Soweit ein Verstoß gegen§ 136a StPO verneint wurde, deshalb zutreffend BGH StV 89, 515. Der Polizeibeamte war in diesem Fall offensichtlich nicht gezielt vorgegangen, sondern hatte dem Beschuldigten sogar geraten, sich vor seiner Aussage mit seinem Verteidiger in Verbindung zu setzen. 472 Vgl zu § l36a StPO auch Achenbach, StV 89, S. 517.

§ II Vernehmungsbegriffund Aussagefreiheit des Beschuldigten

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fristigen Vorteils eine Entscheidung, die den gesamten Verfahrensverlauf prägen wird473 • Verzichtet der Beschuldigte unbeeinflußt oder zumindest nach anwaltlicher Beratung auf die Ausübung seiner Rechte, so ist dies Ausfluß seines Selbstbestimmungsrechts und deshalb einschränkungslos hinzunehmen. Entschließt er sich dazu erst nach "fiirsorgerischer" Rechtsberatung durch den Vernehmungsbeamten, so ist diese Entscheidung nicht selbstbestimmt und seine Aussage unverwertbar. Einem Inhaftierten dürften weder die feinsinnigen Differenzierungen zur Auslegung des Begriffs der Verdunklungsgefahr bekannt sein, noch würde sich ein Beschuldigter von sich aus zu einer Aussage entschließen, weil er glaubt, dadurch die genannten Haftgründe beseitigen zu können. Zudem kann in manchen Fällen die in der Hoffnung auf Haftentlassung gemachte Aussage neue Angaben enthalten, die ihrerseits den Erlaß eines Haftbefehls erforderlich machen414 • Der zusichernde Beamte muß demnach fast schon bellseherische Fähigkeiten besitzen, wenn er den Beschuldigten widerspruchsfrei auf die "günstigen" Folgen einer Aussage hinweisen möchte. Zurückkehrend auf den Ausgangsfall der Aushorchung des Beschuldigten durch einen Zellengenossen muß festgehalten werden, daß zum einen an der Rechtmäßigkeit der Haft kein Zweifel bestand und zum anderen aber auch jedes Indiz fUr eine zweckwidrige Verknüpfung der Haft mit dem Ziel, eine Aussage zu erhalten, fehlt. Wenn statt des durch den BGH eingeschlagenen Lösungsweges die Unverwertbarkeit der gemachten Aussage damit begründet wird, daß der Polizeispitzel den Beschuldigten i. S. v. § 136a StPO getäuscht habe475 , so triffi auch diese Argumentation weder den Kern der Problematik noch ist sie geeignet, in vergleichbaren Konstellationen voraussehbare und praktikable Ergebnisse zu ermöglichen. Dem BGH ist zuzustimmen, wenn er in seiner zweiten V-HaftEntscheidung von der Verwertbarkeit der Aussage eines Mitgefangenen ausgeht, der aus eigenem Antrieb den Angeklagten veranlaßt hat, die vorgeworfene Tat zu gestehen476 • Dem BGH ist darin recht zu geben, daß dem Angeklagten nur etwas widerfahren ist, was jedermann im täglichen Leben widerfahren kann. Die Situation mag nicht völlig vergleichbar sein, denn der Betroffene hat lediglich eine beschränkte Möglichkeit der Wahl seines Kommunikationspartners und die besonderen Umstände der unvertrauten Situation mögen bei ihm häufig 473 Peters, Fehlerquellen, Band 2, S. 8, weist zu Recht darauf hin, wie schwierig es angesichts der weitverbreiteten Auffassung - man schädige sich doch nicht selbst, wenn es nicht der Wirklichkeit entspricht - ist, ein einmal abgelegtes Geständnis durch Widerruf aus der Welt zu schaffen. 474 Vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 687 m. w. N. 475 Grünwald, StV 87, S. 471; Seebode, JR 88, S. 428 ff.; Fezer, JZ 87, S. 937 f. ; Kramer, JURA 88, S. 521 ff.; Schuhmann, JZ 86, 76; Wagner, NStZ 89, S. 34; vgl. auch Peters, Strafprozeß, S. 335; KK-Boujong, § 136a StPO, RN 27. Häufig wird dabei mangels Vernehmung§ 136a StPO (entsprechend) angewendet, wohl um Konsequenzen filr die Auslegung von § 136 StPO zu vermeiden. 476 BGH NStZ 89, 33

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ein gesteigertes Mitteilungs- und Gesprächsbedürfuis verursachen477. Dennoch hat sich der Angeklagte aus freiem, eigenem und vor allem von den Strafverfolgungsbehörden unbeeinflußtem Willensentschluß seinem Mitgefangenen mitgeteilt478. Zweifel an der Verwertbarkeit der auf diesem Wege erlangten Angaben des Beschuldigten tauchen erst ab dem Moment auf, in dem der Mitgefangene in Kenntnis und gegebenenfalls mit besonderen Anweisungen der Ermittlungsbehörden seine Ausforschungstätigkeit fortsetzt. Von diesem Zeitpunkt an muß von einer belehrungspflichtigen, materiellen Vernehmungssituation ausgegangen werden, die gegebenenfalls ein Beweisverwertungsverbot aus § 136 I S. 2 StPO nach sich zieht. Stellt man statt dessen auf das Merkmal der Täuschung ab, so ist, insbesondere wenn man der wohl h. M. folgt, die ftlr die durch § 136a StPO untersagte Vernehmungsmethode der Täuschung nur deren bewußten und gezielten Einsatz genügen läßt479, dem Schutzinteresse des Beschuldigten in vergleichbaren Situationen nicht ausreichend Rechnung getragen. Da nach der überwiegenden Ansicht in Schrifttum und Rechtsprechung § 136a StPO ftlr private Dritte keine unmittelbare Geltung beansprucht480, andererseits es aber auch nicht genügen soll, daß die Strafverfolgungsbehörden einen bereits bestehenden Irrtum des Beschuldigten lediglich ausnützen, ergeben sich schwierige Abgrenzungsprobleme bei Lösung der Frage, ab wann eine Aussage durch die Strafverfolgungsbehörden veranlaßt ist und welcher Grad an Einwirkung seitens der Strafverfolgungsorgane erforderlich ist, um ein Verwertungsverbot in (analoger) Anwendung von § 136a StPO bejahen zu können481 • Schließlich kann nicht be-

477 Vgl. dazu auch die eindrucksvolle Schilderung der "Soziologie der Gefangenschaft" und "Psychologie der Haft" bei Amelung, ZStW 95 (1983), S. 4 ff. m. umfangreichen N. zu empirischen Untersuchungen über die Auswirkungen der Haft auf die Gefangenen. 478 Kaum praktikabel der Vorschlag Hi//ands, Das Beweisgewinnungsverbot, S. 17, in krassen Ausnahmetallen bei einem übersteigerten Kommunikationsdrang des Beschuldigten § 136a StPO anzuwenden. Da ein entsprechendes Mitteilungsbedürfnis die Regel sein dürfte, wird sich kein Maßstab fiir die Bestimmung der Ausnahmetalle finden lassen. 479 Vgl. BGHSt 31, 399; 35, 329; 37, 52 f.; KK-Boujong, § 136a StPO, RN 23; SKRoga/1, § 136a StPO, RN 48. Differenzierend zwischen Täuschung über Rechtsfragen und über Tatsachen hingegen, LR-Hanack, § 136a StPO, RN 41 f.; Kleinknecht I MeyerGoßner, § 136a StPO, RN 13. Ein finales Täuschungselement ablehnend: OLG Bremen NJW 67, 2022 f.; Bauer, Die Aussage, S. 152 f.; Dencker, Verwertungsverbote, S. 94; Lindner, Täuschung in der Vernehmung des Beschuldigten, S. 94 ff. 480 Vgl. nur BGHSt 27, 357; Alsberg I Nüse I Meyer, Der Beweisantrag, S. 484; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24, RN 45; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136a StPO, RN 3 m. w. N. Anders nur wenn das Handeln der Privaten den staatlichen Organen wie ihr eigenes zuzurechnen ist. Vgl. dazu bereits oben Teil III, § II IV. 481 Daß im Ausgangsfall (BGHSt 34, 362 ff.) gegen das Verbot der Täuschung verstoßen wurde ist allerdings unzweifelhaft, vgl. dazu die instruktive Schilderung der nä-

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reits der Einsatz eines Polizeispitzels filr sich genommen eine nach § 136a StPO relevante Täuschung des Beschuldigten sein und er wird es auch nicht dadurch, daß er unter Ausnutzung des Zwangskontakts der Haftsituation erfolgt482 • Die Grenze zur Täuschung wird erst dort zu ziehen sein, wo die Vertrauensperson der Polizei zusätzliche Maßnahmen zur Vertrauensbildung ergreift483 • Anstatt demnach eine Lösung über§ l36a StPO zu suchen, liegt es auch in diesem Falle näher, von einer Vernehmung im Sinne des § 136 StPO auszugehen und ein Beweisverwertungsverbot auf die Unterlassung der dafilr vorgesehenen Form und Belehrung zu stützen484 • Der von der Polizei beauftragte Spitzel ist von dieser gezielt zur Herbeifilhrung einer Aussage des Beschuldigten eingesetzt werden und agiert - wie auch die Tatsache seiner Überwachung und Beratung zeigt - als Vernehmungsgehilfe der Polizei. Eine vergleichbare Aussageleistung des Beschuldigten kann jedoch bei Berücksichtigung des nemo tenetur-Grundsatzes nur in offener Vernehmung verlangt werden. 2. Die Lösung des Großen Senats zur Frage der rechtlichen Zulässigkeil verdeckter Vernehmungen des Beschuldigten mit Hilfe einer Hörfalle

Nachdem oben bereits aufgezeigt worden ist, daß jede Befragung durch private Dritte auf Veranlassung der Strafverfolgungsbehörden als Vernehmung zu qualifizieren und bei verdeckter Durchfilhrung unverwertbar ist, soll im folgenden auf die Besonderheiten einer Konstellation eingegangen werden, die allgemein als "Hörfalle" bezeichnet wird. Seit der grundlegenden Entscheidung des 5. Senats zur Frage der Verwertbarkeit einer ohne Beschuldigtenbelehrung erfolgten Aussage485 hatte sich die Rechtsprechung vermehrt mit Fällen zu befassen, die dadurch charakterisiert werden können, daß die Polizei den Beschuldigheren Umstände bei Grünwald, StV 87, S. 470 und die Literaturnachweise a. a. 0 ., S. 471 in FN l. 482 A. A. Seebade, JR 88, S. 430. 483 Vgl. auch Fezer, JZ 87, S. 938 m. w. N., wobei dann immer noch problematisch bleibt, ob das dadurch erweckte Vertrauen des Beschuldigten geschützt werden muß. In dem von Fezer zitierten Fall (BGH bei Dallinger, MDR 54, S. 17) hatte der in der Hauptverhandlung vernommene Zollbeamte den später Angeklagten "unter Ehrenwort" zugesichert, sie bei einem Geständnis nicht mit Namen anzuzeigen. Dieses Verhalten unterscheidet sich erheblich von dem Fall, daß dem Betroffenen lediglich eine freundschaftliche Gesinnung vorgespiegelt wird. 484 Abzulehnen der Standpunkt Wolters (GA 88, S. 132; ihm folgt Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 116 f.), in diesem Fall sei nicht der nemo tenetur-Grundsatz verletzt, sondern der Schutz der "Geheimsphäre" insbesondere das Recht auf Privatheit und das Grundrecht aus Art. 13 GG mit dem Maßstab des Art 13 II GG. Hier auf den intimen Ort der Haftzelle abzustellen, erscheint willkürlich, denn der Beschuldigte verdient auch dann Schutz, wenn er außerhalb seiner Zelle verdeckt befragt wird (Anders im Fall der Raumgesprächsentscheidung, BGHSt 31, 296 ff. ). 485 Vgl. BGHSt 38,214 ff.

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

ten nicht selbst vernimmt, sondern private Kontaktpersonen damit beauftragt, den Beschuldigten telefonisch auszuhorchen. Das gefiUute Telefonat wurde von den Strafverfolgungsbehörden entweder über eine Mithöranlage selbst verfolgt oder sie verschafften einem Dritten dazu Gelegenheit486 • Der Große Senat ist der Auffassung, daß Privatpersonen auf Veranlassung der Ermittlungsbehörden ohne Aufdeckung der Ermittlungsabsichten ein auf den Untersuchungsgegenstand bezogenes Gespräch mit dem Tatverdächtigen führen dürfen, "wenn es um die Aufklärung einer Straftat von erheblicher Bedeutung geht und die Erforschung des Sachverhalts unter Einsatz anderer Ermittlungsmethoden weniger erfolgsversprechend oder wesentlich erschwert" wäre487. Vorab sei zur Klarstellung angemerkt, daß der im Schrifttum auch für Fälle der vorliegenden Art geprägte Begriff der Hörfalle völlig unterschiedliche Konstellationen vereinigt. Versteht man den Begriff der Hörfalle in einem weiten Sinn als "Sicherung von Beweismaterial durch Mithören seitens sog. Lauschzeugen"488 so sind davon beispielsweise auch die Fälle erfaßt, in denen der verhörende Beamte den Raum verläßt, um den Eindruck zu erwecken, der Verhörte könne sich ungehört mit einem Dritten unterhalten489 • Bei Verwendung eines materiellen Vernehmungsbegriffs ist die Ausgangslage in diesem Fall jedoch grundverschieden von der Konstellation, die dem Beschluß des Großen Senats zugrundegelegen hat. a) Hörfallen und Fernmeldegeheimnis aa) Einwilligungs- und Netzbereichslösung Soweit der Große Senat in den Fällen des Mithörens eines staatlich veranlaßten Telefongesprächs einen Verstoß gegen die §§ lOOa, lOOb ablehnt, ist dies

486 Vgl. dazu BGHSt (Großer Senat) 42, 139 ff.; BGHSt (2. Senat) 39, 335 ff.; BGH (1 . Senat) NStZ 95, 557 unter Bezugnahme auf BGHSt 40, 211; noch offengelassen in MDR 89, 860 f. Die grundlegende Kontroverse zwischen den einzelnen Strafsenaten über die Zulässigkeit dieser Vorgehensweise veranlaßte den 5. Senat nach einem Anfragebeschluß (vgl. BGH (5. Senat) NStZ 95, 410) und einer ablehnenden Stellungnahme des/. Senats (vgl. NStZ 95, 557) die Frage dem Großen Senat vorzulegen (zum Vorlagebeschluß, vgl. BGH (5. Senat) StV 96, 242 ff. m. w. N. zu den vorangegangenen Entscheidungen des BGH). Nach Ansicht Roxins, NStZ 97, S. 19, soll nicht auszuschließen sein, daß die verstärkte Aufstellung von Hörfallen eine Reaktion auf die Entscheidung des 5. Senats zur Belehrungspflicht des§ 136 I S. 2 StPO ist (vgl. BGHSt 38, 214 ff.). 487 Vgl. BGHSt 42, 139. 488 So die Definiton von Sternberg-Lieben, JURA 95, S. 299 m. w. N. Vgl. auch Röhrich, Rechtsprobleme bei der Verwendung von V-Leuten, S. 243 in FN 4 m. w. N. 489 Vgl. Beulke, Strafprozeßrecht, RN 138; SK-Rogall, § 136a StPO, RN 21 m. w. N. Auch bei Verwendung eines materiellen Vernehmungsbegriffs, kann in diesem Fall aufgrund der mangelnden Steuerungsmöglichkeit des Polizisten allenfalls fiir sehr kurze Vernehmungspausen behauptet werden, der Polizist habe den Beschuldigten über den Vernehmungscharakter getäuscht (so aber Beulke a. a. 0.).

§ II Vernehmungsbegriffund Aussagefreiheit des Beschuldigten

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im Ergebnis zutreffend, in der Begründung aber unzureichend. Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. I 0 I GG kann nicht bereits deshalb abgelehnt werden, weil es den Gesprächsteilnehmern angesichts des Schutzbereichs des Fernmeldegeheimnisses unbenommen ist, die Kommunikation Dritten zugänglich zu machen (so aber der 2. Senatt90• Allein die Gleichstellung von mithörenden staatlichen Organen und privaten Dritten ist völlig verfehlt. Gesprächsteilnehmern ist es zwar gestattet, den Inhalt eines Gesprächs unmittelbar und auch während des Gesprächs staatlichen Stellen mitzuteilen. Die Grundkonstellation der Hörfalle zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sich die Teilhabe des Staates nicht auf die Entgegennahme des Gesprächsinhalts beschränkt, sondern daß der mithörende Polizeibeamte selbst am Kommunikationsvorgang teilnimmt491. Es ist auch aus Gründen der Beweiskraft ein erheblicher Unterschied, ob die Polizei neben einem aufgrund der möglichen Tatverstrickung häufig weniger glaubwürdigen Zeugen lediglich als Zeuge vom Hörensagen oder als unmittelbarer Zeuge vernommen werden kann. Zudem stellt sich bei privaten Dritten die Frage einer Schutzbereichsverletzung des Art. I 0 I GG bereits deshalb nicht, weil dieser keine Drittwirkung entfaltet492 • Sollte es tatsächlich zutreffen, daß das Gespräch zwischen den beiden Gesprächspartnern ausschließlich auf privater Eben erfolgt, dann ist der Schutzbereich des Art. 10 I GG lediglich dann nicht eröffnet, wenn beide Gesprächspartner in die mittelbare Beteiligung der öffentlichen Gewalt einwilligen493 . Ein Eingriff in den privaten Kommunikationsvorgang verletzt den Grundrechtsschutz jedes einzelnen Teilnehmers, so daß auch beide Grundrechtsträger in die Aufhebung des Grundrechtsschutzes einwilligen und damit auf ihre aus Art. IO I GG ableitbaren Unterlassungsansprüche verzichten müssen. Da kein Grundrechtsverzicht zu Lasten Dritter möglich ist, steht die Dispositionsbefugnis über den privaten Charakter der Kommunikation nur beiden gemeinschaftlich zu, ohne daß einer den anderen in seiner Entscheidung vertreten könnte494 • 490 So BGHSt 39, 338 ff.; OLG Hamm, StV 88, 374 f. ; z. T. noch anderer Auffassung BGHSt 31, 307; vgl. auch BVerfGE 88, 399; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § IOOa StPO, RN I m. w. N. A. A. dagegen Tietje, MDR 94, S. 1078 ff. unter Hinweis auf Art. 8 I EMR.K. Zur Frage des Eingriffs Welp, NStZ 94, S. 294 f. 491 Zutreffend Tietje, MDR 94, S. 1079 m. w. N. 492 Vgl. nur BVerfGE 85, 399. 493 A. A. die wohl überwiegende Auffassung, vgl. die umfangreichen Nachweise bei OLG Hamm, StV 88, S. 375; SK-Rudolphi, vor§ 94 StPO, RN 60, 65. Vgl. aber auch Amelung, NStZ 88, S. 515 f., der sich mit überzeugenden Argumenten gegen die (noch) herrschende Grundrechtsinterpretation wendet. Die h. A., ablehnend auch Gusy, JUS 86, S. 95; Sternberg-Lieben, JURA 95, S. 301m. umfangreichen N. in FN 25. 494 Vgl. auch BVerfGE 85, 399; Sternberg-Lieben, JURA 95, S. 301 m. w. N. in FN 25 und 33; Tietje, MDR 94, S. 1079. Der BGH sieht dagegen keinen Widerspruch zur zitierten Entscheidung des BVerfG, da die Identität des Anrufers im Hinblick auf eine Fangschaltung ein Umstand sei, den der Teilnehmer im Gegensatz zum Gesprächsinhalt gerade nicht offenbaren wolle.

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

Der Große Senat hat sich von dieser vom BGH und überwiegenden Schrifttum früher verfolgten "Einwilligungslösung" stillschweigend verabschiedet und sich statt dessen auf den beschränkten Schutzbereich des Art. 10 I GG berufen495. Art. 10 I GG schütze lediglich vor Eingriffen in den vom Netzbetreiber zu verantwortenden Übermittlungsvorgang. Dieser technische Übermittlungsvorgang ende am Endgerät des anderen Fernsprechteilnehmers, so daß bei Anschluß einer Mithörvorrichtung an dessen Endgerät das Fernmeldegeheimnis nicht berührt sein könne. Der filr diese formale Betrachtung im Schrifttum angefiihrte Vergleich mit einem Telefax-Ausdruck oder dem Abhören eines Anrufbeantworters überzeugt jedoch nicht, denn in diesen Fällen hat das fernmündlich gesprochene Wort bereits eine Verkörperung in anderen Beweismitteln gefunden, während in den Fällen des Mithörens die Strafverfolgungsbehörden unmittelbar Kenntnis vom Gesprächsinhalt erhalten. Die spezifische Gefährdung erwächst dem Beschuldigten gerade aus dem Umstand, daß er das Telefon als Nachrichtenübermittler benutzt und deshalb darauf vertraut, daß niemand außer seinem unmittelbaren Gesprächspartner die Möglichkeit hat, das Gespräch mitzuhören496 • Für diese weite Auslegung von Art. 10 I GG spricht auch die Tatsache, daß das Fernmeldegeheimnis zu den essentiellen Grundvoraussetzungen der verfassungsrechtlich abgesicherten Privatsphäre des Einzelnen gehört und damit im Sinne eines möglichst effektiven Grundrechtsschutzes ausgelegt werden muß.

bb) Zurechnungsgedanke und Eingriffsbestimmung Mit der dargestellten "Einwilligungs-" oder "Netzbereichslösung" ist allerdings der falsche Ausgangspunkt gewählt. Wird aus den oben aufgezeigten Gründen497, das Handeln der staatlich beauftragten Privatperson als öffentlichrechtlich qualifiziert und unmittelbar der veranlassenden Behörde zugerechnet, dann schließt zwar dieser vom Gesprächspartner nicht erkannte, dienstliche Charakter des Gesprächs filr sich genommen noch nicht aus, daß der Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses eröfthet ist. Entscheidend ist aber, daß aufgrund dieser Zurechnung keine den Schutzbereich des Art. I 0 I GG eröfthende Geflihrdungslage gegeben ist, die dadurch gekennzeichnet ist, daß staatliche 495 Dazu und im folgenden BGHSt (Großer Senat) 42, 153 f. Der Große Senat nimmt dabei auf einen Ansatz von Sternberg-Lieben, JURA 95, S. 302 Bezug. Ebenso Lesch, JA 96, S. 632. 496 A. A. aber Sternberg-Lieben, JURA 95, S. 304, mit dem unzutreffenden Vergleich zur Situation einer Unterredung zwischen Täter und Opfer, die vom Nebenraum aus belauscht wird. Dieses Gespräch kann anders als bei einem Telefonat ohne zusätzliche Hilfsmittel oder Aktivitäten des Opfers problemlos mitverfolgt werden. Vgl. aber auch BVerfGE 85, 399 zu Zählervergleichseinrichtungen und Fangschaltung. 497 Vgl. oben Teil III, § II IV.

§ 11 Vernehmungsbegriff und Aussagefreiheit des Beschuldigten

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Behörden als Dritte Zugriff auf eine privat gefiihrte Kornmunikation nehmen. Bereits oben wurde aufgezeigt, daß sich die Strafverfolgungsbehörden die Handlungen des privaten Dritten über die Rechtsfigur des "Vernehmungshelfers" unmittelbar zurechnen lassen müssen. Nehmen damit die Strafverfolgungsbehörden selbst direkt am Gespräch teil, können sie dessen Inhalt, ohne damit das Fernmeldegeheimnis zu verletzen, an Dritte weitergeben. Eine davon losgelöste Frage ist lediglich, ob sich nicht aus dem Rechtsgedanken des § I OOb I StPO ergibt, daß bei vergleichbaren Ermittlungsmaßnahmen, deren Effektivität auf der Ausnützung eines Überraschungseffektes beruht und damit weder eine vorherige Anhörung noch vorbeugenden Rechtsschutz ermöglichen, nicht eine Eingriffsgrundlage mit Richtervorbehalt erforderlich ist498 • Festzuhalten bleibt, daß der Große Senat sich bei der Urteilsfmdung zu Recht von den Besonderheiten einer telefonischen Aushorchung des Beschuldigten gelöst hat, da sich aus diesen keine Leitlinien filr die Zulässigkeil verdeckter Befragungen durch Privatpersonen ergeben. b) Einfilhrung einer Subsidiaritätsklausel durch den Großen Senat Die Unzulässigkeil der Verwendung von Hörfallen läßt sich statt dessen als Folge der hier vertretenen Zurechnung privaten Handeins unmittelbar aus § 136 StPO und aus der Funktion des nemo tenetur-Grundsatzes ableiten. Auch in diesem Zusammenhang zeigt sich, daß es dem Verteidigungsinteresse des Beschuldigten nicht gerecht wird, wenn eine polizeiliche Vernehmung und somit ein Schutzbedürfnis des Beschuldigten allein deshalb abgelehnt werden, weil derjenige, der sich einer Privatperson gegenüber zum Tatvorwurf äußert, über die Freiwilligkeit dieses Tuns nicht im Zweifel sein könne499 • So ging das LG Stuttgart im Fall eines vom Kriminalbeamten selbst getätigten Anrufs von einer Vernehmung der Beschuldigten aus und stellte fest, daß der Beamte durch das Unterlassen des Hinweises auf seine amtliche Eigenschaft und die nach §§ 163a, 136 StPO erforderliche Belehrung ein "Privatgespräch" provoziert und damit besonders nachhaltig auf die Aussagefreiheit der Beschuldigten eingewirkt habe500. Aus der Sicht des Empfängers - und diese Sicht muß allein filr die 498 Ganz abgesehen von der Tatsache, daß eine Befugnis zum Mithören des Telefonats bei Verstoß gegen den nemo tenetur-Grundsatz verfassungswidrig ist. 499 So aber BGHSt 39, 347; 40, 215; BGHSt (Großer Senat) 42, 153. Verwunderlich dabei die Formulierung "kann er nicht im Zweifel sein". Vor der nicht der Sachlage entsprechenden Formulierung "ist er nicht im Zweifel", scheint auch der BGH zurückzuschrecken. 500 Vgl. LG Stuttgart, NStZ 85, S. 568 f. Der Beamte hatte aufgrund einer Anzeige einer privaten Partnervermittlung den Verdacht einer Tatbegehung i. S. v. § 18la II StGB geschöpft und deshalb unter dem Vorwand an einer "Partnervermittlung" interessiert zu sein, bei der Beschuldigten angerufen, die ihm daraufhin Adressen von Prostituierten vermitteln wollte. Das LG Stuttgart begründet die Unverwertbarkeit der Angaben

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

Bestimmung der Freiwilligkeit einer Aussage ausschlaggebend sein - macht es jedoch keinen Unterschied, ob sein Kommunikationspartner selbst Kriminalbeamter oder eine Privatperson ist, hinter der ein Kriminalbeamter steht. Er hat in beiden Fällen das Gefilhl, sich einer Privatperson gegenüber äußern zu können, so daß die Gesprächssituation keinen autoritativen Charakter besitzt. Verglichen mit der zuerst genannten Konstellation, müßte das Vertrauen des Beschuldigten sogar als weniger schutzwürdig eingestuft werden, denn bei unbekannten Anrufern besteht eher die Gefahr, daß diese nicht aus rein privatem Interesse ein Gespräch suchen. Beide Gesprächsformen zeichnen sich durch eine erhöhte Einflußmöglichkeit der Strafverfolgungsorgane aus, die nicht zuletzt aufgrund ihres bereits vorhandenen Tatwissens den Gesprächsverlauf bestimmen501 • Die Behauptung, der Beschuldigte sei bei seinen staatlich veranlaßten Äußerungen lediglich einem Motivirrtum erlegen502, kann nicht richtig sein, denn wie auch § 136 StPO zeigt, gehört das Wissen um die Vernehmungssituation zu den entscheidenden Voraussetzungen fUr die Verwertbarkeit einer Aussage des Beschuldigten. Der Große Senat hat sich statt dessen auf eine wenig überzeugende Kompromißlösung eingelassen. Obgleich er sowohl einen Verstoß gegen die §§ 136, 136a StPO, den nemo tenetur-Grundsatz als auch Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verneint, hat er doch "Bedenken" gegen eine unbeschränkte Zulässigkeil entsprechender Ermittlungsmethoden und überträgt deshalb die Subsidiaritätsbedingung des § l63e StPO ("erheblich weniger erfolgsversprechend oder wesentlich erschwert") auf die Konstellation der Hörfalle503 • Warum und was der Große Senat hier eigentlich abwägt, bleibt offen, denn er spricht lediglich von der "Nähe" zu den genannten Grundsätzen, ungeachtet der Tatsache, daß er bereits zuvor jegliche Eingriffssituation in geschützte Rechte anderer verneint und sich bei der Beurteilung dieser Maßnahmen allein auf die §§ 161, 163 StPO gestützt hat504. Zudem wägt er nur mit der Pflicht zur "effektiven Strafverfolgung" ab, obwohl die fUr eine Zulässigkeil verdeckter Ermittlungen in Anspruch genommenen BVerfG-Entscheidungen noch von den allerdings (auch) mit einem Verweis auf§ 136a StPO. Für eine Verwertbarkeit der Aussage dagegen Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136a StPO, RN 4 m. w. N.; Kramer, Grundbegriffe des Strafverfahrensrechts, RN 28a f. 501 Dies verkennt Sternberg-Lieben, S. 306, mit seiner Behauptung, die genannten Fälle seien nicht anders zu beurteilen, als wenn der Polizeibeamte zielgerichtet oder zufällig Zeuge eines entsprechenden Gesprächs in einer Gastwirtschaft geworden wäre. 502 So Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 161; Sternberg-Lieben, JURA 95, S. 309 in FN 156. 503 BGHSt (Großer Senat) 42, 139. 504 BGHSt (Großer Senat) 42, 150. Zu diesem methodischen Bruch bereits Rieß, NStZ 96, S. 505, der jedoch völlig unverständlicherweise davon ausgeht, der Beschluß des Großen Senats entspreche dem "Gebot bedeutsamer Fortentwicklung" (vgl. NStZ 96, s. 506).

§ II Vernehmungsbegriffund Aussagefreiheit des Beschuldigten

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Erfordernissen einer "wirksamen Strafrechtspflege" gesprochen haben505 • Daß heimliches Vorgehen effektiver ist, dürfte außer Frage stehen, ob damit die vom BGH getroffene Abwägung aber noch der Rechtsprechung des BVerfG entspricht, muß bezweifelt werden. Ebenso verwundert die bei Abwägung der undefiniert gebliebenen Belange des Beschuldigten getroffene Feststellung, dieser kenne nicht alle fUr seine Entscheidung erheblichen Umstände und er irre sich über den wahren Sinn und Anlaß des gefilhrten Gesprächs506 . Hat der Große Senat doch zuvor noch festgestellt, der Beschuldigte sei trotz dieses Irrtums Herr seiner Entschlüsse geblieben und habe sich freiwillig selbst belastet507• Entweder unterlag der Beschuldigte aber einem unbeachtlichen Motivirrtum oder er äußerte sich aufgrund einer entscheidungsrelevanten Fehlbewertung des Sachverhalts. Zwischen Selbst- und Fremdbestimmtheit existiert unter dem Aspekt des nemo tenetur-Prinzips insoweit keine Grauzone, denn der Beschuldigte kann nur entweder frei oder unfrei handeln. Der BGH kennt dagegen wohl wegen des verfehlten Blicks auf§ 136a StPO- verschiedene Stufen einer unfreiwilligen Selbstbelastung, die aber letztlich weniger auf der Erwägung beruhen, ob der Beschuldigte sich eigenverantwortlich selbst belastet hat, als vielmehr die moralische Verwerflichkeit des Handeins der Strafverfolgungsbehörde erfassen508• Ob der Beschuldigte, wie in den vom Großen Senat angefilhrten "Romeo-Fällen" qualifiziert getäuscht wird, oder ob er sich nach einer einfachen Täuschung über den Zweck eines Gesprächs zu einer Aussage entschließt, ist aber aus Sicht des Befragten gleichgültig509. Mag die enttäuschte Liebesbeziehung in den "Romeo-Fällen" auch eine größere Frustration beim Betroffenen verursachen, so fehlt doch jede Begründung dafilr, warum sich die vielleicht größere Abhängigkeit des Befragten in diesen Fällen auch zugleich auf den konkreten Entschluß zur Preisgabe strafverfahrensrelevanter Informationen auswirken muß. Die vom Großen Senat verwendete Subsidiaritätsklausel des § 163e StPO zeichnet sich zudem durch einen gerichtlich nur schwerlich überprüfbaren Beurteilungsspielraum aus, und ist kaum geeignet einer extensiven Handhabung von Hörfallen durch die Polizei Einhalt zu gebieten510 • Zudem verwundert es, daß sos BGHSt (Großer Senat) 42, 157.

BGHSt (Großer Senat) 42, 156. Zum "Zick-Zack-Kurs" des Großen Senats, vgl. auch Bernsmann, StV 97, S. 116, 118. so? BGHSt (Großer Senat) 42, 153. sos Vgl. BGH (Großer Senat) 42, 154 f. Etwa die Anbahnung eines Liebesverhältnisses durch den Spitzel ("Romeo-Fälle); die besonder Situation eines U-Häftlings (vgl. dazu oben Teillll, § 11 VI) und die Fixierung des gesprochenen Wortes (vgl. dazu unten Teil III, § 13. so9 Vgl. auch Roxin, NStZ 97, S. 20. sw Sehr kritisch auch Bernsmann, StV 97, S. 116m. w. N. zur gerichtlichen Praxis der Überprüfung von Subsidiaritätsklauseln. Allgemein zu diesen Rieß, GS filr K. H. Meyer, S. 367 ff. S06

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

der Große Senat nicht zumindest die strenge Subsidiaritätsbedingung des § 1OOa StPO verwendet hat. Beruft er sich doch bei der Frage, wann eine Straftat von erheblicher Bedeutung vorliegt, auf die Kataloge der §§ 98a, 1OOa, 11 Oa StPO, die allesamt mit einer strengen Subsidiaritätsklausel ("aussichtslos oder wesentlich erschwert") versehen sind511 • Vom Standpunkt des Großen Senats mag dies verständlich sein, schließlich vergleicht er die Vorgehensweise der Strafverfolgungsbehörden mit der Intensität einer bloßen "Beobachtung" selbstbelastenden Verhaltens des Beschuldigten. Damit leugnet er aber zugleich die tatsächliche Einflußnahme der Polizei auf die Entstehung der Aussage des Beschuldigten. Schließlich sind viele der vom Großen Senat vergleichsweise angefuhrten Befugnisse des OrgKG mit einem Richtervorbehalt versehen. Die Entscheidung des Großen Senats verweist den Beschuldigten dagegen auf nachträglichen Rechtsschutz, der bei der Unbestimmtheit der gewählten Subsidiaritätsbedingung zwangsläufig leerlaufen wird. Dies dürfte die Polizei zusätzlich ermutigen, in Zukunft auf eine zeitraubende und umständliche förmliche Vernehmung des Beschuldigten zu verzichtenm. Nicht nur in dieser Entscheidung wird die von der Furcht vor weitgehender Unzulässigkeit verdeckter Ermittlungen getragene Tendenz erkennbar, mit Hilfe formaler Begriffsbestimmung einer Ausweitung der strafprozessualen Rechte der Verfahrensbeteiligten entgegenzuwirken513 . Es ist jedoch kaum erklärbar, warum ein Beschuldigter deshalb weniger Schutz genießen sollte, nur weil ihm gar nicht bewußt ist, daß er von einem Strafverfolgungsorgan zur Preisgabe strafverfahrensrelevanter Informationen veranlaßt worden ist. Bei einer am Verteidigungsinteresse des Beschuldigten ausgerichteten Betrachtung muß es ganz im Gegenteil, als wesentlich schwerwiegender erachtet werden, wenn der Beschuldigte die Entscheidung, ob er an der Aufklärung des Sachverhaltes mitwirken möchte, gar nicht treffen kann, weil ihm gar nicht bewußt ist, daß seine Äußerungen unmittelbar zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangen. Ein Beschuldigter, der zwar unbelehrt, jedoch zumindest in Kenntnis der Funktion seines Gegenübers zum Tatgeschehen Stellung nimmt, wird wenigstens versuchen, auch ohne Wissen um sein Recht, die Aussage zu verweigern, seine Verteidigungsinteressen zu wahren514• Die Auffassung des Großen Senats läßt den Grad staatlicher Einwirkung auf den Gesprächsverlauf völlig 511 Vgl. dazu auch Rieß, NStZ 96, S. 505 f.; Bernsmann, StV 97, S. 119. Zur Stufenregelung des OrgK, vgl. KK-Nack, § lOOc StPO, RN 6. 512 Nack, Das verdeckte Verhör, S. 246, spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer Schönwetter- und Schlechtwetter-StPO. 513 Der 1. Senat hat sich gegen die Anfrage des 5. Senats gewandt, da die beabsichtigte Entscheidung, "das Tor öffhen" würde, "zu weiteren von der StPO nicht vorgesehenen Beweisverboten"(vgl. BGH (1. Senat) NStZ 95, 557); Beulke, StV 90, S. 183, spricht dagegen zu Recht vom verhängnisvollen "ewigen Schielen auf den V -Mann" . 514 Vgl. auch Roxin, NStZ 95, S. 467.

§ 12 Zeitpunkt der Belehrung

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außer acht, der diese Form des Gesprächs gerade von ,,normalen Privatgesprächen" unterscheidetSIS. Sie fUhrt dadurch, daß lediglich auf eine von der Aussageperson empfundene Zwangswirkung abgestellt wird, und die Intentionen und das Handeln der das Gespräch veranlassenden Polizei nicht berücksichtigt werden, letztlich zu einem Zirkelschluß, wenn durch sie mittelbar wiederum festgestellt werden soll, ab wann ein entsprechender Aussagezwang und damit eine Belehrungspflicht begründet wird. Bei der Frage nach der Verwertbarkeit von Erkenntnissen, die durch eine Hörfalle erlangt wurden, existiert damit kein "Mittelweg" der Abwägung516, sondern nur eine Entscheidung zwischen effektiver Rechtsgewährung oder vollständigem Verzicht auf eine angemessene Verteidigung des Beschuldigten.

§ 12 Zeitpunkt der Belehrung I. Befragungen im "Vorfeld" der verantwortlichen Beschuldigtenvernehmung

Durch den Wandel der Rechtsprechung des BGH zur Frage der Verwertbarkeit einer ohne Belehrung erfolgten Beschuldigtenvernehmung gewinnt, wie auch vom entscheidenden Senat erkannt, die Problematik an Gewicht, wann die nicht von § 136 StPO erfaßte "indifferente Informationssammlung durch die Polizei" in eine Belehrungspflichten auslösende Beschuldigtenvernehmung übergeht517• Von besonderer Bedeutung ist dabei die Frage, welche verfahrensrechtlichen Konsequenzen mit den in unterschiedlichen Verfahrensstadien erfolgten Aussagen der betroffenen Aussageperson verbunden sind. Die Befilrchtung, daß die Praxis sich dem bei unterlassener Belehrung ergebenden Verwertungsverbot zu entziehen versucht, indem sie den Bereich der informellen Befragung noch weiter als bisher auf Kosten der formliehen Vernehmung ausdehnen wird, ist sicherlich nicht völlig aus der Luft gegriffen518 • Daß die Polizei519 515 Obwohl auch der 5. Senat des BGH in einer vergleichbaren Fallkonstellation eine (tormliche) Vernehmungssituation verneint und lediglich in analoger Anwendung der §§ 136, l36a StPO ein Beweisverwertungsverbot wegen Verletzung des nemo teneturGrundsatzes befilrwortet, wird von diesem zutreffend angefilhrt, daß die das Gespräch initiierende Polizei in Wahrheit selbst gehandelt hat (vgl. BGH StV 95, 284 f.). 516 So aber Rieß, NStZ 97, S. 506. 517 BGHSt 38, 227. 518 Darauf weist etwa Roxin, JZ 92, S. 924, zutreffend hin. Daß der Beschluß des 5. Senats eine disziplinierende Wirkung auf die Polizeibeamten ausübt, zum richtigen Zeitpunkt zu belehren (so Kiehl, NJW 93, S. 502), muß bezweifelt werden. Durch die oben aufgezeigten Schwächen des Beschuldigtenbegriffs (vgl. oben Teil III, § 8 II) dürfte eher das genaue Gegenteil der Fall sein.

16 Bosch

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

aus Gründen effektiver Ermittlungsarbeit geneigt ist, eine Belehrung des Betroffenen möglichst lange herauszuzögern, wurde bereits vor Anerkennung des Beweisverwertungsverbotes bei unterlassener Beschuldigtenbelehrung vermutet520• Diese Annahme konnte im Rahmen der wenigen, zu dieser Problematik vorhandenen kriminalistischen Untersuchungen auch teilweise bestätigt werden521 . Im Gegensatz zum formalisierten Ermittlungsverfahren ist das zeitlich vorgelagerte, formlose Informationsverfahren durch das Fehlen von Belehrungspflichten gekennzeichnet. Bevor die Polizei zu einer llirmlichen Vernehmung i. S. eines engen Vernehmungsbegriffs übergehen kann, muß sie nach h. A. zunächst klären können, ob sie einer bestimmten Aussageperson die Rolle eines Zeugen oder eines Beschuldigten zuweistm. Dieser Bereich der informatorischen Befragung ist im Gesetz nicht geregelt, er wird jedoch allgemein als kriminalistische Notwendigkeit anerkannt. Der Polizei müsse es "vernünftigerweise" zugestanden werden, im Vorfeld der Ermittlungen durch "Herumfragen" festzustellen, ob ein konkret belegter, Ermittlungspflichten nach § 152 II, 160 I StPO auslösender Anfangsverdacht i. S. v. § 163 I StPO besteht523 • Bevor nun im einzelnen der Frage nachgegangen werden kann, inwieweit der Polizei tatsächlich aufgrund praktischer Erfordernisse ein belehrungsfreier Raum zugestanden werden muß und ob daraus zugleich auch die Verwertbarkeit der dort gewonnenen Beweisergebnisse folgt, muß zunächst eine begriffliche Klarstellung erfolgen: So ist es gänzlich überflüssig und in hohem Maße irrefllhrend, neben der informatorischen Befragung im engeren Sinne, noch von einer informatorischen Erkundigung zu sprechen, deren Funktion in der Klärung der Frage bestehen soll, ob eine möglicherweise als Beweismittel in Betracht kommende

519 Bei staatsanwaltschaftliehen Vernehmungen ist eine Rollenzuschreibung in aller Regel erfolgt, so daß sich hier das Problem der informatorischen Befragung zumeist nicht stellt. 520 Vgl. etwa Geppert, FS filr Gehler, S. 325. 521 Vgl. die empirische Untersuchung von Steffen, Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit, S. 187 ff.; Wulf, Strafprozessuale und kriminalpraktische Fragen, S. 173 ff., 217 ff., und die Nachweise bei ter Veen, StV 83, S. 293 insbesondere in FN 4. 522 BayObLG VRS 58, 423; BGH NJW 68, 1388, 1390; BGH StV 83, 265; OLG DüsseldorfNJW 68, 1840; OLG Stuttgart MDR 77, 70; Bauer, Die Aussage, S. 19 f.; Geppert, FS filr Oehler, S. 323 f.; Gerling, Informatorische Befragung, S. II; Göhler, OWiG, §55 StPO, RN 24; Kleinknecht I Meyer-Goßner, Einl. RN 79, § 163 StPO, RN 9; KK-Boujong, § 136 StPO, RN 4; Krause, Die Polizei 78, S. 305; Rieß, JA 80, S. 298; SK-Rogall, vor § 133 StPO, RN 44; Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 80; differenzierend ter Veen, StV 83, S. 293 ff.; ablehnend Arzt, Kriminalistik 70, S. 382; v. Ger/ach, NJW 69, S. 777. Einschränkend OLG Karlsruhe MDR 94, 500 f.: Bei Kennzeichenanzeige ist der ermittelte Halter des Kfz sogleich nach § 136 I S. 2 StPO zu belehren. 523 Geppert, FS filr Gehler, S. 324. Es besteht zumindest kein personenbezogener Tatverdacht, so daß diese Phase treffend mit einem "Herumstochern mit der Stange im Nebel" umschrieben ist (vgl. Riegel, BayVBL, S. 683).

§ 12 Zeitpunkt der Belehrung

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Person überhaupt etwas Sachdienliches bekunden kann524• Besteht über die strafprozessuale Rolle der Auskunftsperson kein Zweifel, so ist sie entweder als Zeuge oder als Beschuldigter zu vernehmen, ohne daß den Strafverfolgungsbehörden in diesem Punkt ein irgendwie gearteter Freiraum zugestanden werden darf. Des weiteren ist es wichtig zu erkennen, daß, wenn von informatorischer Befragung gesprochen wird, darunter meist auch der Bereich der sogenannten "Spontanäußerung" subsumiert wird525, so daß beide Bereiche trotz unterschiedlicher tatsächlicher Gegebenheiten den gleichen rechtlichen Konsequenzen unterworfen werden. Wie jedoch im folgenden aufzuzeigen sein wird, ist aufgrund der Funktion des nemo tenetur-Grundsatzes eine differenziertere rechtliche Beurteilung dieser beiden Fallkonstellationen erforderlich. Der Bereich der informatorischen Befragung ist schließlich strikt von dem einer schriftlichen Fixierung der Aussage vorausgehenden Vorgespräch im Rahmen polizeilicher Vernehmungen zu trennen526• II. Das Vorgespräch

Es ist unbestritten, daß die Vorbesprechung den gleichen prozessualen Regeln unterliegt wie die anschließende protokollierte Vernehmung527• Im Gegensatz zur informatorischen Befragung ist das Vorgespräch bereits Teil der Sachvernehmung und setzt damit eine entsprechende Belehrung des Vernehmungsorganes voraus. Die Notwendigkeit eines Vorgesprächs wird vorrangig damit begründet, daß zunächst der Gegenstand der Vernehmung in groben Zügen erörtert werden muß, um auf diese Weise später ein übersichtliches und geordnetes Protokoll erstellen zu können528• Diese Ordnungsfunktion des Vorgesprächs LR-Rieß, § l63a StPO, RN 16 und 89. Deshalb wird z. T. in einem umfassenderen Sinne - in den rechtlichen Konsequenzen jedoch unzutreffend und deshalb überflüssig - von einer "informatorischen Anhörung" gesprochen, vgl. etwa Geppert, FS filr Oehler, S. 323; Moormann, Informatorische Anhörung, S. 27 ff.; ungenau auch Gerling, Informatorische Befragung, S. 91. 526 Aus Gründen der begrifflichen Klarheit sollte deshalb von einer Bezeichnung des Vorgesprächs als informatorische Befragung abgesehen werden (so aber häufig die Rspr., vgl. AG München StV 90, S. 104 f.; AG Delmenhorst StV 91, S. 254). Nach Wulf, Strafprozessuale und kriminalpraktische Fragen, S. l 54, wurde in 80 % der von ihm beobachteten Fälle eine Vorbesprechung durchgefiihrt. Banscherus, Polizeiliche Vernehmung: Formen, Verhalten und Protokollierung, kam bei einer Untersuchung von 27 simulierten Vernehmungen zu dem Ergebnis, daß bei neun von diesen Vernehmungen ein fragmentarisches und bei 13 ein ausfiihrliches Vorgespräch stattfand. Zum Vorgespräch aus kommunikationstheoretischer Sicht, vgl. Sege, Kommunikative Einvernahme, S. 71 f. 527 Vgl."Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 580 m. w. N. 528 Vgl. u. a. Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 116 ff.; Krause, Die Polizei 78, S. 306; Schubert, Die Vernehmung im Ermittlungsverfahren, S. 19. 524 525

16•

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Teiliii: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

berührt zwar noch nicht unmittelbar den nemo tenetur-Grundsatz, ruft jedoch zumindest in aussagepsychologischer Hinsicht erhebliche Bedenken hervor529 . Zum einen gehen damit zwangsläufig Details der ersten Aussage verloren, die der Vernehmende als scheinbar unwichtig vorselektiert Zum anderen erhält er dadurch einen überproportionalen Einfluß auf die tatsächlich fixierte und damit im Gerichtverfahren beweiserhebliche "Fassung" der Aussage. Die protokollierte Version der Aussage wird im Vorgespräch zwischen Vernehmendem und Vernommenem ausgehandelt. Der Beschuldigte übernimmt dabei zumindest bruchstückhaft Formulierungen des Vemehmungsbeamten, ohne daß dieser Prozeß der "Gesprächsproduktion" später filr das entscheidende Gericht nachvollziehbar ist530. Wesentlich problematischer ist es unter dem Aspekt des nemo teneturGrundsatzes jedoch, daß die Durchfilhrung eines Vorgesprächs dazu benutzt wird, eine Vernehmungsstrategie zu entwickeln, die den Beschuldigten daran hindem soll, sein Schweigerecht effektiv auszuüben531 . So wird vorgebracht, dieses erste "Kontaktgespräch" biete die Möglichkeit, das Vertrauen des Beschuldigten zu gewinnen und diesem das {trügerische) Gefilhl einer symmetrischen Kommunikation zu vermitteln. Der Vernehmende erhalte so die Möglichkeit, sich von seiner "verständnisvollen, vertrauenswürdigen"532 und "menschlichen"533 Seite zu zeigen. Dadurch könnten dem Aussagenden eventuelle Hemmungen genommen werden, die dieser in Anbetracht der möglicherweise negativen Auswirkungen seiner Aussage hat534 . Man verschenke damit zwar "den Überraschungseffekt beim Verhör", ein Vorgespräch könne aber dennoch empfohlen werden, sofern "die Geständnisbereitschaft des Beschuldigten erst geweckt werden muß"535 . Außerdem könnten bei einem freien Gespräch mit dem Beschuldigten die kommunikationshemmenden Unterbrechungen vermieden werden, die zwangsläufig entstehen, wenn "fehlerhafte Formulierungen

529 Vgl. dazu auch Eisenberg, JZ 84, S. 917 m. w. N.; Gundlach, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 144 ff. 530 Kritisch auch SK-Rogall, vor § 48 StPO, RN 166, der auf die Gefahr hinweist, daß sich der Vernehmende durch das Vorgespräch auf EindrUcke festlegt, von denen er sich später nicht mehr lösen kann. 531 Dabei scheint das Vorgespräch insbesondere bei schwereren Delikten, bei denen naturgemäß eine höhere Hemmschwelle auf seiten des Beschuldigten besteht, eine wichtige Funktion zu besitzen, vgl. dazu Wulf, Strafprozessuale und kriminalpraktische Fragen, S. 101. 532 Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 25. 533 Geerds, Vernehmungstechnik, S. 49 f.; vgl. auch Döhring, Erforschung des Sachverhalts, S. 28 ff. 534 Banscherus, Polizeiliche Vernehmung: Formen, Verhalten und Protokollierung, S. 52 f.; Schuber!, Die Vernehmung im Ermittlungsverfahren, S. 19. 535 Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 116 f.

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korrigiert werden müssen"536• Gegen diese einseitig orientierte Sichtweise ist einschränkend vorgebracht worden, daß trotz aller kriminalistischer Erwägungen das nicht protokollierte Kontaktgespräch nicht die f6rmliche "verantwortliche" Vernelunung ersetzen könne, diese also nicht zur bloßen "Abschlußfeierlichkeit" verkümmern dürfe537 . Dies ist zweifellos richtig, doch bleibt offen, wie im Einzelfall die rechtlichen Grenzen gezogen werden sollen und welche Konsequenzen es hat, wenn diese überschritten werden. Dabei verwundert bereits die durch das Gesetz nicht vorgegebene Unterscheidung in eine "verantwortliche" Vernelunung und ein "unverantwortliches"(?) Kontaktgesprächm. Der nemo tenetur-Grundsatz gebietet es, den Beschuldigten auch im Vorgespräch verantwortlich zu vernelunen, denn nur so bleibt dessen Entscheidungsbefugnis - selbstverantwortlich den Umfang seiner Aussage zu bestimmen auch während der Durchfilhrung der Vernelunung erhalten. Will der Beschuldigte beim Anblick von Schreibmaschine, Bleistift und Notizbuch nicht "offen Rede Und Antwort( ... ) stehen"539, so ist dies sein gutes Recht und zeigt nur, daß eine mögliche Selbstbelastung nicht Ausdruck einer eigenverantwortlichen Entscheidung des Beschuldigten ist. Bereits oben wurde darauf hingewiesen, wie wichtig angesichts des Schutzzwecks des nemo tenetur-Grundsatzes das Bewußtsein um die Beweisrelevanz von Angaben innerhalb von Vernelunungen ist, und daß deshalb die gängige Belehrungsformel um einen Hinweis auf die Verwertungsmöglichkeit selbstbelastender Angaben ergänzt werden muß. Stimmt man dem zu, dann muß aber zugleich verhindert werden, daß die gängige Polizeipraxis darum bemüht ist, dem Beschuldigten diese Zusammenhänge zu verschleiern540• Eine konsequente Absicherung des nemo tenetur-Prinzips erfordert deshalb die Unverwertbarkeit von Angaben, die dieser allein deshalb gemacht hat, weil ilun das Gefiihl vermittelt worden ist, er könne sich zwanglos in einem Kontaktgespräch zur Sache äußern, ohne daß dies rechtliche Konsequenzen fiir ihn haben wird. Dies fuhrt auch zu keiner unangemessenen Beschränkung polizeilicher Ermittlungstätigkeit, denn die Polizei hat es selbst in der Hand, wann sie mit der Protokollierung oder Aufzeichnung der Vernelunung beginnt541 • Einen entsprechenden Verstoß wird der Beschuldigte allerdings- zumindest solange keine VerpflichFischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 118. Vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 581 ; Fincke, ZStW 95 (1983), S. 949. 538 Auch der aufgrund § 136 II StPO gebotene "Bericht" des Beschuldigten (vgl. dazu oben Teil Ill, § 9 Ill) kann ohne weiteres protokolliert werden. 539 Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 118. 540 Zu dem mit dieser Praxis beabsichtigten "Columbo-Effekt", vgl. auch Bender I Röder I Nack, Vernehmungslehre, RN 548 ff. 541 Im Interesse der Wahrheitstindung wird eine vollständige und wörtliche Fixierung jeder Befragung sowieso vielfach für unverzichtbar erachtet, vgl. dazu die Nachweise bei Eisenberg, JZ 84, S. 917. 536

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

tung zur Aufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung durch Tonbandgeräte festgelegt ist - nur schwer beweisen können. Eine praktischen Bedürfnissen entsprechende Lösung muß deshalb am Beginn der "verantwortlichen" Vernehmung ansetzen. Erklärt der Vernehmende nach Belehrung dem zu Befragenden, daß seine Äußerungen noch nicht offiziell seien und deshalb nicht zu Protokoll genommen würden, so müssen die vor Protokollierung erlangten Angaben auch unterhalb der Schwelle des § 136a StPO unverwertbar sein542 • Um zu verhindern, daß dennoch ein "inoffizielles" Gespräch geftihrt wird, muß den Polizeibeamten fiir die Dauer der gesamten Befragung eine durch Verwertungsverbote abgesicherte543 Protokollierungspflicht auferlegt werden.

111. Zulässigkeit und verfahrensrechtliche Folgen einer informatorischen Befragung Anders als in Fällen eines Vorgesprächs bestehen bei informatorischer Befragung tatsächlich praktische Schwierigkeiten, den Befragten "verantwortlich" zu vernehmen. Zur Verdeutlichung der Problematik kann der vielzitierte Beispielsfall eines nach einem Verkehrsunfall zur Unfallstelle gerufenen Polizeibeamten dienen, der im ersten Moment nicht übersehen kann, welche der anwesenden Personen als Zeuge oder als Täter in Frage kommt544 • Bevor der ermittelnde Beamte keine Antworten auf seine Orientierungsfragen "Wer hat etwas gesehen?", "Wer war in das Unfallgeschehen verwickelt?", erhalten hat, ist es ihm unmöglich festzustellen, welche prozessuale Rolle die Anwesenden in einem potentiellen Strafverfahren einnehmen werden. Solange aber noch unklar ist, ob die betroffene Aussageperson als Beschuldigter oder Zeuge in Betracht kommt, besteht nach überwiegender Auffassung auch keine Verpflichtung zur Belehrung nach § 136 oder § 55 StP0545 • Dem wird im Ergebnis auch zuge542 Vgl. AG Delmenhorst StV 91, S. 254. Nach der etwas unklaren Begründung soll zwar noch nicht die Schwelle des § 136a StPO erreicht sein, jedoch wird die Unverwertbarkeit der Angaben wohl aus dem Rechtsgedanken des § 254 StPO abgeleitet. Dabei trat allerdings in diesem Fall die Besonderheit hinzu, daß die vernehmende Polizeibeamtin dem Beschuldigten erklärte, daß seine Äußerungen noch nicht Bestandteil der offiziellen und dann auch zu Protokoll genommenen Aussagen sind. 543 Vgl. dazu auch unten Teil III, § 14 I. 544 Ähnliche Beispielsflllle finden sich etwa bei Bauer, Die Aussage, S. 19; Krause, Die Polizei 78, S. 305; Rieß, JA 80, S. 298. Die gerade zu dieser Konstellation ergangenen Entscheidungen der Rechtsprechung. bestätigen die praktische Relevanz des gewählten Beispiels, vgl. nur OLG Stuttgart, MDR 77, 70 und FN 522. 545 Vgl. FN 522. Für eine unmittelbare Anwendung von § 55 li StPO, Schlüchter, Das Strafverfahren, RN 85 und Strafprozeßrecht, S. 43 in FN 197 m. w. N. Für eine analoge Anwendung, Gerling, Informatorische Befragung, S. 93 ff.; filr eine Belehrungsptlicht auch Lüderssen, wistra 83, S. 232; Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 60 m. w. N. in FN 46.

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stimmt werden müssen, selbst wenn die überkommene Begründung der fehlenden Belehrungspflicht nicht überzeugen kann. Soweit aus der fehlenden Möglichkeit, den Verdacht gegen eine bestimmte Person zu konkretisieren, zugleich geschlossen wird, daß keine Vernehmungssituation gegeben ise46 , muß dem widersprochen werden. Selbst bei Verwendung eines formellen Vernehmungsbegriffs, kann zumindest dann, wenn der Polizist eine der anwesenden Personen befragt, kein Zweifel bestehen, daß er dieser Person als Zeugen oder Beschuldigten in amtlicher Funktion gegenübertritt und in dieser Eigenschaft von ihm Auskunft verlangt. Da es kein Kennzeichen des Vernehmungsbegriffs ist, daß der Vernehmende eine über "Orientierungsfragen" hinausgehende Befragung durchfilhrt, ist ab dem Zeitpunkt, in dem der Polizist konkrete Fragen an einen der Umstehenden richtet, zumindest von einer Zeugenvernehmung auszugehen547 • Die tatsächliche Unmöglichkeit, eine Auskunftsperson sachentsprechend zu belehren, kann es nicht legitimieren, die Rechte des Betroffenen bereits dadurch zu verkürzen, daß eine Vernehmung im Rechtssinne verneint wird548• Besonders augenscheinlich wird dies dann, wenn behauptet wird, die informatorisch befragte Person sei weder Beschuldigter noch Zeuge, sondern allenfalls "Verdächtiger''549, so daß auch die entsprechenden Belehrungsvorschriften nicht beachtet zu werden brauchen. Da jeder Zeuge ist, der Tatsachen oder Zustände wahrgenommen hat und über diese Wahrnehmung auch Auskunft geben kann, erschließt sich der Begriff des Zeugen über eine Negativabgrenzung zu anderen Verfahrensrollen550• Sobald eine Auskunftspersondurch eine Vernehmung in das Verfahren einbezogen ist, wird ihr, da das geltende Strafprozeßrecht keine Auskunftspersonen sui generis kennt551 , zumindest die Rolle eines Zeugen zugewiesen552 • Fehlt es an einem filr die Be546 Vgl. nur Geppert, FS filr Oehler, S. 323; Gössel, Strafverfahrensrecht, § 4 B I, S. 52 f.; Kleinknecht I Meyer-Goßner, Ein!., RN 79; KK-Wache, § 163a StPO, RN 2; Krause, Die Polizei, S. 305; Kohlhaas, NJW 65, S. 1254; Moormann, Informatorische Anhörung, S. 22 f.; SK-Roga/1, vor § 133 StPO, RN 43 ; Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, § 55 StPO, RN 24m. w. N. 547 Nicht weiterfilhrend die Einschränkung Gundlachs, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 16, Zeuge könne nur sein, wer über Tatsachen von "fallbezogener strafrechtlicher Relevanz" Auskunft gebe. Dies sei bei informatorischen Befragungen gerade nicht der Fall. Einerseits bleibt offen, welche Tatsachen strafrechtlich relevant sein sollen, und andererseits sind sowieso nur die Fälle einer informatorischen Befragung problematisch, in denen der Befragte tatsächlich straftatrelevante Fakten offenbart hat. 548 I. d. S. zutreffend auch LR-Rieß, § l63a StPO, RN 17 und 20. 549 Vgl. Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 3, S. 36 f., RN 52; Kleinknecht, Kriminalisitik 65, S. 451. 550 Vgl. RGSt 52, 89; BGHSt 22, 348 f.; v. Ger/ach, NJW 69, S. 777; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 26, RN l; Ranft, Strafprozeßrecht, S. 93. 551 So aber Bruns, FS filr Schmidt-Leichner, S. 2. 552 Vgl. auch Arzt, Kriminalistik 70, S. 382; Krey, Strafverfahrensrecht I, RN 775; Roga/1, MDR 77, 979. Widersprüchlich dagegen die Verknüpfung von Zeugenrolle,

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

schuldigtenstellung erforderlichen statusbegründenden Akt, so kommt der Zeugenstellung eine Art Auffangfunktion zu. Ebensowenig kann eine Vemelunungssituation deshalb abgelehnt werden, weil die Äußerungen des Befragten nicht innerhalb eines laufenden Strafverfahrens veranlaßt worden sindm. Nach den§§ 160 I, 152 I StPO ist ein Strafverfahren einzuleiten, sobald zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die es fiir möglich erscheinen lassen, daß eine verfolgbare Straftat vorliegt. Deshalb ist das fiir eine informatorische Befragung unzutreffenderweise in Anspruch genommene "Vorfeld des Verdachts" in aller Regel verlassen, wenn die Polizei dazu übergeht zu klären, wer Beschuldigter oder Zeuge einer Straftat sein könnte. Wie auch die Möglichkeit eines Ermittlungsverfahrens gegen Unbekannt zeigt, hängt die Einleitung eines Strafverfahrens gerade nicht von der Feststellung ab, wer als Beschuldigter im konkreten Fall in Betracht kommt. Es existiert in diesem Sinne weder ein rechtsfreier Raum, noch kann fiir diese Phase behauptet werden, es fehle mangels Auskunftspflicht an einem Eingriff in Freiheitsrechte der Befragten554 . Daß dies nicht richtig sein kann, wird besonders deutlich, wenn eine Verurteilung ausschließlich auf die in diesem Zeitabschnitt erfolgten Angaben einer Auskunftsperson gestützt wird, und diese später, nachdem sie in den Beschuldigtenstatus versetzt worden ist, jede Aussage zur Sache verweigertm. Zumindest der Akt der Verwertung dieser Angaben begründet dann einen schwerwiegenden Eingriff in die verfassungsrechtlich abgesicherten Verteidigungsrechte des Beschuldigten556 . Aber auch der Erhebungsakt fUr sich genommen ist aufgrund des gewandelten Verständnisses vom Eingriffscharakter staatlicher Maßnahmen als Eingriff anzusehen. Im Verfassungsrecht ist der Eingriffsbegriff von Vernehmungsbegriffund Belehrungspflichten in SK-Rogall, vor§ 48 StPO, RN 22. Die Auskunftsperson soll zwar bei informatorischer Befragung als Zeuge zu qualifizieren sein, es soll aber keine (förmliche(?)) Vernehmung vorliegen. 553 So etwa Geppert, FS für Gehler, S. 324; SK-Rogall, vor § 133 StPO, RN 43; Bruns, FS für Schmidt-Leichner, S. 3, spricht, allerdings ohne dies näher zu konkretisieren, von einer eigenständigen Vorstufe des Ermittlungsverfahrens. Dies dürfte wohl der überwiegenden Auffassung im Schrifttum entsprechen, vgl. nur die Nachweise bei Haubrich, NJW 81, S. 803, FN 3. 554 So Bruns, FS für Schmidt-Leichner, S. 3; zustimmend Moormann, Informatorische Anhörung, S. 44 ff., aber auch ablehnend S. 60 f. (Insbesondere S. 45, mit dem offensichtlich unzutreffenden Argument, da Angaben in einer Vernehmung nach Belehrung freiwillig erfolgen, müsse dies um so mehr für Befragungen gelten, die keine Vernehmungen sind. Freiwillig erfolgen diese Angaben in einer Vernehmung aber gerade deshalb, weil belehrt worden ist). Vgl. auch Weß/au, Vorfeldermittlungen, S. 201 m.w.N. 555 Dieser Fall ist in BGH StV 83, 265, bewußt offengelassen worden. 556 Dies verkennt das OLG Stuttgart MDR 77, 70, mit der Behauptung, das Rechtsstaatsprinzip gebiete es nicht, den Straftäter "im Vorfeld" der Ermittlungen vor eigenen unvorsichtigen, selbstbelastenden Angaben zu schützen.

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seiner ursprünglich fonnellen, an die Handlungsfonn gebundenen Interpretation gelöst und in Richtung auf eine faktische, inhaltliche Beurteilung gelenkt worden557. Der Schwerpunkt hat sich damit weg von der gewählten Fonn auf die Wirkungen staatlicher Handlungen verlagert. Unter Berücksichtigung dieses gewandelten Eingriffsverständnisses verletzt aber auch eine infonnatorische Befragung unzweifelhaft grundrechtlich geschützte Rechtspositionen des Befragten, denn sie fiihrt, zumindest dann, wenn durch sie ein Tatverdacht konkretisiert wird, zu einer faktischen Beeinträchtigung des Aussageverweigerungsrechts des Vernommenen. Anders als in Fällen der Streifentätigkeit und Observation von allgemein zugänglichen Orten, beschränkt sich die Polizei bei informatorischer Befragung nicht auf "bloße Gelegenheitsbeobachtung"sss, sondern fiihrt durch aktive Einflußnahme eine Grundrechtsgeflihrdung herbei. Es ist zu überlegen, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, von "Verdachtsgewinnungsmaßnahmen" im "Vorfeld" des strafrechtlichen Ennittlungsverfahrens559 oder von Handlungen der Polizei im "V~rfeld des Verdachts"560 zu sprechen. Diese Tenninologie erweckt den Eindruck, als solle ein "Graufeld" fiir Ennittlungsmaßnahmen geschaffen werden, die sich weder durch präventive noch durch repressive Befugnisse rechtfertigen lassen, oder die nur mit Effektivitätseinbußen filr die Strafverfolgung einem der beiden Bereiche zugeordnet werden können. Nimmt man überdies den Begriff der Verdachtsgewinnung wörtlich, so würde dies bedeuten, daß gegen bestimmte Personen ennittelt wird, obwohl kein wie auch immer gearteter Verdacht besteht. Statt dessen sind aber entsprechende Maßnahmen (wie die infonnatorische Befragung) darauf ausgerichtet, einen vagen Verdacht bezogen auf einen der potentiellen Täter oder 557 Beispielsweise wurde durch die Anerkennung des enteignungsgleichen Eingriffs durch die Rechtsprechung auf das Kriterium der Finalität zur Eingriffsbestimmung völlig verzichtet. Vgl. zu diesem Wandel Stern, Staatsrecht 111 I 2, S. 1218 m. w. N. 558 So aber der Vergleich von Weß/au, Vorfeldermittlungen, S. 203. 559 Vgl. u. a. Ranft, Strafprozeßrecht, S. 62; ablehnend zu dieser mißverständlichen Terminologie aber die überzeugenden Ausfiihrungen von Fischer I Maul, NStZ 92, S. 9 m. w. N.; v. Ger/ach, NJW 69, S. 776 f. Vgl. auch Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Band I, RN 45, 57: "Der Strafprozeß beginnt mit der ersten Ermittlungsmaßnahme der verfolgenden Behörde." Deshalb kann auch der Auffassung Weßlaus, Vorfeldermittlungen, S. 80, nicht zugestimmt werden, die informatorische Befragung besitze in Teilbereichen "operativen Charakter". Durch diese Deutung wird die Gefahr der Schaffung eines "Sonderrechtsgebiets" zwischen polizeilichem und strafprozessualem Bereich begründet, das sich an eigenständigen und damit zugleich verfassungswidrigen Regeln orientiert, die im Sinne einer ebenfalls überflüssigen Terminologie nicht rechtsstaatlichen, sondern "operativen Zweckmäßigkeitserwägungen" folgt. Bezeichnend etwa die Ausführungen von Lorenz, JZ 92, S. 1001, 1003, die erste Sichtung von Informationen im Rahmen "operativer Informationserhebung" müsse losgelöst von der Problematik der beweisförmigen Informationserhebung erfolgen. Zu Recht kritisch aber auch Weßlau, a. a. 0., S. 154 ff. 560 So Bauer, Die Aussage, S. 19 f. m. w. N.

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Zeugen zu konkretisieren. Es bleibt deshalb festzuhalten, daß infonnatorische Befragungen als Vernehmungen zu qualifizieren sind und lediglich der Kennzeichnung eines gewissen Bereichs der Verdachtsklärung dienen, in dem die Polizei noch außerstande ist, die jeweilige Aussageperson ihrer künftigen Prozeßrolle entsprechend zu belehren. Die hier vertretene Auffassung wird unterstützt durch einen Blick auf die Rechtsprechung zu § 252 StPO, die den dort vorausgesetzten Vernehmungsbegriff weit auslegt und häufig auch Äußerungen bei infonnatorischen Befragungen in den Schutzbereich der Nonn miteinbezieht561. Da der Vernehmungsbegriff der StPO dazu dient, eine bestimmte Fonn der staatlich initiierten Kommunikation zwischen Strafverfolgungsbehörden und Dritten zu kennzeichnen, muß er einheitlich ausgelegt werden, selbst wenn je nach Vernehmungsbeteiligten, unterschiedliche Rechtsfolgen und -pflichten mit einer Vernehmung verbunden werden. Die hier vertretene Auffassung hat die Konsequenz, daß die Behauptung, eine infonnatorischen Befragung sei durch das Fehlen von Belehrungspflichten gekennzeichnet, in dieser Allgemeinheit unzutreffend ist. Wenn auch eine Beschuldigtenbelehrung entbehrlich ist, weil die Aussageperson bei infonnatorischer Befragung keinen Beschuldigtenstatus besitzt, so hat dennoch bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen von § 55 StPO eine Belehrung über das einem Zeugen zustehende Auskunftsverweigerungsrecht zu erfolgen. Nur ftlr den verbleibenden Bereich, in dem eine Befragung überhaupt erst der Feststellung dienen soll, ob ein Geschehensablauf dazu geeignet ist, den Verdacht einer Straftat zu begründen, kommt der infonnatorischen Befragung tatsächlich eine eigenständige Bedeutung zu. Deshalb ist es sicherlich nicht falsch, wenn Rieß daran zweifelt, ob eine Anerkennung der infonnatorischen Befragung als selbständiges Rechtsinstitut sinnvoll ist, insbesondere wenn es dazu mißbraucht wird, Belehrungen auch dort zu unterlassen, wo sie nach Sachlage möglich und auch rechtlich geboten wären562. Diese bedenkliche Tendenz kann an einerneueren Entscheidung des KG563 aufgezeigt werden. Das Urteil des KG basiert auf folgendem Sachverhalt: Zwei Polizeibeamte hatten aufgrund einer Anzeige wegen Ruhestörung eine Wohnung aufgesucht, in der sich der Angeklagte und zwei weitere Männer befanden. Nachdem einer der Polizeibeamten in einer ihm verdächtig erscheinenden Damengeldbörse Haschisch gefunden hatte, erklärte der Angeklagte auf eine an 561 So etwa BGH NJW 80, 1533: "Im Sinne des§ 252 StPO ist ein Zeuge auch dann "vernommen" worden, wenn ihn die Polizei formlos (informatorisch) über den Ermittlungsgegenstand befragt hat." Der BGH grenzt dabei zu Recht lediglich Spontanäußerungen vom Vernehmungsbegriff aus (dazu unten Teil III, § 12 IV). Vgl. auch BayübLG VRS 59, 205; VRS 59, 268; NJW 83, 1132; OLG Köln, VRS 80, 32m. w. N. 562 LR-Rieß, § 163a StPO, RN 20. 563 KG JR 92, 437.

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ihn gerichtete Frage des Polizeibeamten, wer der Besitzer des Rauschgifts sei, daß es ihm gehöre. Obwohl der Angeklagte sich im weiteren Verfahrensverlauf dahingehend einließ, dies nur gesagt zu haben, wn Unannehmlichkeiten filr die anderen und eine Durchsuchung der Wohnung zu vermeiden, hielt das KG die erste, ohne Belehrung erfolgte Aussage des Angeklagten mit der Begründung fiir verwertbar, daß bei zulässiger informatorischer Befragung keine Belehrungspflicht bestehe. Das Urteil des KG zeigt deutlich, daß sich das Institut der informatorischen Befragung in einer Weise verselbständigt hat, die mit der gesetzliche Regelung der Belehrungsvorschriften nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Ungeachtet dessen, daß auch das KG davon ausgegangen ist, eine informatorische Befragung sei als Zeugenvernehmung einzuordnen, ist es aufgrund der einseitigen Sichtweise, informatorische Befragungen bedürften keiner Belehrung, nicht auf die Frage eingegangen, ob der Polizeibeamte nicht verpflichtet gewesen ist, den Angeklagten nach§ 55 StPO über ein mögliches Auskunftsverweigerungsrecht zu belehren. Zwnindest ab dem Zeitpunkt, zu dem der Polizeibeamte das Haschisch entdeckt hatte, bestanden konkrete Anhaltspunkte dafiir, daß dem später Angeklagten die Einleitung eines Ermittlungsverfahren drohte. Aufgrund dieser Strafverfolgungsgefahr hätte er zumindest nach § 55 StPO belehrt werden müssen. Ausgehend von diesem Fall drängt sich allgemein die Frage auf, inwieweit§ 55 StPO im Vorfeld der Begründung der Beschuldigteneigenschaft ausreichenden Schutz vor unfreiwilliger Selbstbelastung bietet. 1. Der Schutz des" verdächtigen " Zeugen durch§ 55 StPOEin ausreichendes Korrektiv in der Phase der" Verdachtsklärung"? Einen Zeugen trifft grundsätzlich die Pflicht zur wahrheitsgemäßen und vollständigen Aussage564 . Die Lage des Zeugen, der sich bei formaler Zeugenvernehmung in Erfilllung dieser Pflichten der Gefahr eigener Verfolgung aussetzt, ist jedoch - wie auch das BVerfG zutreffend festgestellt hat - der Lage eines Beschuldigten weitgehend vergleichbar, nur daß dieser der drohenden Sanktion bereits nähersteht565 . Es entspricht zudem allgemeiner Auffassung, daß der Anwendungsbereich des nemo tenetur-Grundsatzes nicht auf die Stellung des Beschuldigten beschränkt ist, sondern zumindest innerhalb eines Strafverfahrens unabhängig von der prozessualen Rolle der Aussageperson Schutz vor unfreiwilliger Selbstbelastung gebietet566. Deshalb gewährt § 55 I StPO als notwendiges Korrelat zu den §§ 136, 163a, 243 StPO dem Zeugen das Recht, Vgl. nur§§ 57, 66c, 70 StPO. BVerfGE 38, 113 unter Verweis auf Geerds, FS flir Stock, S. 185 f. 566 Vgl. u. a. BVerfGE 38, 113; NStZ 85, 277; BGHSt II, 216; OLG Zweibrücken, wistra 94, 357; Hahn, Motive, I. Abtheilung, S. 107. 564

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

die Antwort auf solche Fragen zu verneinen, die ihn selbst in die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung bringen würden567. § 55 StPO trägt dieser Spannungslage zwischen Aussagepflicht und Gefahr der Selbstbelastung allerdings nur unzureichend Rechnung568 und ist, wie im einzelnen noch aufzuzeigen sein wird, hauptsächlich auf die Situation der richterlichen Vernehmung in der Hauptverhandlung, nicht jedoch auf das Ermittlungsverfahren zugeschnitten. a) Umfang und Ausübung des Auskunftverweigerungsrechts Zum einen ist § 55 StPO kein Zeugnisverweigerungsrecht im eigentlichen Sinne, sondern gibt dem Zeugen nur ein beweisthemenbezogenes, partielles Recht die Aussage zu verweigern. Lediglich dann, wenn der gesamte Inhalt der Aussage eine Verfolgungsgefahr fi1r den Zeugen begründet oder mit seinem strafbaren Verhalten in so engem Zusammenhang steht, daß eine Trennung nicht möglich ist, kann der Zeuge die Aussage in vollem Umfang verweigern569• Da diese Voraussetzungen bei einem in irgendeiner Form tatbeteiligten Zeugen - und das wird der Hauptfall des § 55 StPO sein - in aller Regel erfilllt sind, trägt diese Form der Auslegung und Gesetzesfassung allerdings dazu bei, das tatsächlich bestehende Regel-Ausnahme-Verhältnis in sein Gegenteil zu verkehren570. Es ist deshalb erwägenswert, ob die Gesetzesfassung des § 55 StPO zur Klarstellung nicht dahingehend abgeändert werden sollte, daß zumindest in den Fällen des § 60 Nr. 2 StPO regelmäßig ein vollumfiingliches Auskunftsverwei-

567 Zur umstr. Frage, ob§ 55 StPO auch der Verhinderung von Falschaussagen und damit der Wahrheitstindung dient, vgl. BGHSt 1, 39; II, 213 ff.; 17; 245; Eb. Schmidt, JZ 58, S. 596; Gossrau, MDR 58, S. 468 ff.; Peters, Strafprozeß, S. 353 f.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24, RN 26; Schöneborn, ZStW 86 (1974), S. 929 jeweils m. w. N. Nach zutreffender Auffassung wird eine entsprechende Wirkung allenfalls mittelbar, jedoch unbeabsichtigt eintreten, denn § 55 StPO ist in seiner Schutzrichtung vor allem aus der prozessualen Stellung des künftigen Beschuldigten zu erklären (vgl. dazu überzeugend bereits Saut/er, AcP 161 (1962), S. 243 f.) 568 Kritisch bis ablehnend u. a. Geerds, FS ftlr Stock, S. 185 ff., 189 ff. 569 Vgl. RGSt 2, 263 f. ; BGHSt 10, 105; 17, 247; NStZ 86, 181 ; StV 87, 328 f. ; KK.Pelchen, § 55 StPO, RN 2 m. w. N. Der Gesetzesvorschlag des AE-ZVR (§ 55 I S. 1 Nr. 2 AE-ZVR) enthält hingegen ein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht ftlr Zeugen, "soweit" diesen durch eine Aussage die Gefahr der Strafverfolgung droht. Da sich aber nach der in diesem Punkt unklaren Entwurfsbegründung das Zeugnisverweigerungsrecht gegebenenfalls auf ein Auskunftsverweigerungsrecht reduzieren kann (vgl. AE-ZVR, S. 68 f. und den interpretationsbedürftigen Wortlaut des § 55 I S. 1 ("soweit")), dürfte mir dieser Regelung kein wesentlich verbesserter Zeugenschutz verbunden sein. 570 Nach BGH NJW 89, S. 2703, soll eine Verweigerung jeglicher Sachauskunft nur "ganz ausnahmsweise" in Betracht kommen. Schlüchter, Das Strafverfahren, RN 493, spricht gar von "Extremfallen". Vgl. aber Hölscher, Das Auskunftsverweigerungsrecht, S. 44 ff.

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gerungsrecht besteht571 • In den übrigen Fällen muß einer Ausdehnung des Auskunftsverweigerungsrechts aber widersprochen werden, da sie zu einer ungerechtfertigten Einschränkung der Beweismöglichkeiten des Staates, und damit der Findung einer materiell richtigen Entscheidung, filhrt572• Dies vor allem deshalb, weil sich - wie noch aufzuzeigen sein wird - ein ausreichender Schutz des Zeugen durch die Anerkennung eines selbständigen Beweisverbotes erreichen läßt. Des weiteren muß der Zeuge, um eine Einschränkung seiner Zeugenpflichten wegen möglicher Selbstbelastung zu erreichen, durch eine ausdrückliche Willenserklärung von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen; er ist im Gegensatz zum Beschuldigten nicht berechtigt, belastende Umstände einfach zu verschweigen573 • Entgegen der daran geäußerten Kritik574 ist dies zumindest fiir die Situation der Hauptverhandlung unumgänglich, selbst wenn der Zeuge damit möglicherweise "den Tip filr die gegen ihn mögliche Untersuchung" liefert575 . Da der Richter bei der Vernehmung des Zeugen davon ausgeht, daß dieser seiner Verpflichtung zur vollständigen Aussage nachkommt, und er zudem die Pflicht hat, die Berechtigung der Auskunftsverweigerung nachzuprüfen(§ 70 StPO), ist eine deutliche Mitteilung des Zeugen unverzichtbar, um Fehler in der Beweiswürdigung zu vermeiden. Erwogen werden könnte lediglich, ob es uneingeschränkt hinnehmbar ist, daß der Richter weiterhin versucht, Antworten zu Fragen zu erhalten, die mit der möglichen Tat des Zeugen nicht in unmittelbaren Zusammenhang stehen. Dies könnte leicht dazu mißbraucht werden, durch eine zielgerichtete Fragetaktik die entstehenden Lücken in der Aussage des Zeugen zu einem Bild über die möglicherweise von ihm begangene Straftat zusammenzusetzen. 571 Unabhängig davon, ob ein formeller oder materieller Beschuldigtenbegriffvertreten wird, läßt sich dieses Ergebnis auch de lege Iata erreichen. So bereits Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, S. 234m. w. N. ; vgl. auch Eb. Schmidt, JZ 70, S. 342. 572 Vgl. auch BVerfD NStZ 85, S. 277. Nicht eingegangen werden soll an dieser Stelle auf die wegen des numerus clausus der Personalbeweismittel in der StPO nur de lege ferenda zu verwirklichende Forderung nach einer eigenständigen Auskunftsperson des Verdächtigen, dem ein Schweigerecht analog zu dem des Beschuldigten zugebilligt werden soll, vgl. dazu Helgerth, Der Verdächtige, S. 37 ff. ; 59 ff.; Bruns, FS für Schmidt-Leichner, S. I ff. ; Bringewat, JZ 81 , S. 294; zu Recht ablehnend Roga/1, NJW 78, S. 2537 m. w. N. 573 Vgl. RGSt 57, 152 f. ; BGHSt 7, 127 f.; 21 , 167; StV 89, 140; BVerfDE 38, 113; Kleinknecht I Meyer-Goßner, §55 StPO, RN II m. w. N. 574 Für eine Angleichung der Zeugen- und Beschuldigtenrechte de lege ferenda Geerds, FS für Stock, S. 193. 575 Schöneborn, ZStW 86 (1974), S. 926. Obwohl die Erklärung an sich noch keine Selbstbelastung bedeutet - sofern der Zeuge damit nicht zugleich Tatwissen preisgibt (vgl. auch Roga/1, Der Beschuldigte, S. 156) - setzt sich der Zeuge dennoch der Gefahr der Strafverfolgung aus, da allein die Tatsache der Berufung auf ein Auskunftsverweigerungsrecht genügen soll, gegen den Zeugen ein Ermittlungsverfahren einzuleiten (vgl. OLG Stuttgart NJW 81, S. 1223).

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b) Substantiierungspflicht des Zeugen bei Glaubhaftmachung Problematischer ist es hingegen, daß nicht allein die entsprechende Erklärung des Zeugen ausreicht, sondern daß dieser die Tatsachen, auf die er die Verweigerung des Zeugnisses stützt, auf Verlangen glaubhaft zu machen hat (§ 56 StPO). Nun wird zwar vorgebracht, es dürften dabei keine Angaben über die Tat verlangt werden, die eine Verfolgungsgefahr begründet, da dies nicht ohne Selbstbelasnmg des Zeugen möglich sei576 • Deshalb soll nach allgemeiner Auffassung als Mittel der Glaubhaftmachung in aller Regel die eidliche Versicherung des Zeugen(§ 56 S. 2 StPO) genügen, "er nehme nach bestem Wissen und Gewissen an, daß eine Auskunft zu einem bestimmten Punkt ihm( ... ), die Gefahr der Strafverfolgung bringen werde"577• Daß die Praxis dieser Forderung tatsächlich entsprechen kann, muß jedoch bezweifelt werdenm. Glaubhaftmachung bedeutet, daß der Zeuge ein "nach Lage der Sache vernünftigerweise zur Entscheidung hinreichende(s) Maß an Wahrscheinlichkeit" dartut579, wobei eine bloße Vermunmg oder rein denktheoretische Möglichkeit der Gefahr eigener Strafverfolgung nicht ausreichend ist580• Es bedarf vielmehr - vergleichbar dem Anfangsverdacht - erkennbarer tatsächlicher Anhaltspunkte filr eine Straftat des Zeugen. Eine inhaltsleere Versicherung i. S. v. § 56 I S. 2 StPO wird dem Richter bei seiner Entscheidung über die Berechtigung der Auskunftsverweigerung aber nur wenig hilfreich sein581 • Das zeigen auch Entscheidungen der Rechtsprechung zu Fällen, in denen die Rechtmäßigkeit der Weigerung zur Auskunftserteilung zweifelhaft erschien und zugleich bei Verzicht auf die Aussage des Zeugen der Verlust eines wichtigen Beweismittels drohte. Der BGH hat sich hier zu Recht nicht damit begnügt, daß der Zeuge lediglich die Gefahr eigener Strafverfolgung behauptet hat. Er hat vielmehr die Verhängung eines Ordnungsgeldes ge576 Vgl. BGH StV 83, 353: Es sei "rechtlich bedenklich", nach den Motiven der Auskunftsverweigerung zu fragen; StV 86, 282; 87, 328. Dagegen ist nach Auffassung Geerds, FS fiir Stock, S. 187, §56 StPO eine rechtspolitisch absolut unbefriedigende Regelung. 577 Hauser, Der Zeugenbeweis, S. 144; Hölscher, Das Auskunftsverweigerungsrecht, S. 140. Vgl. auch Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 1125; Rogall, Der Beschuldigte, S. 157m. w. N. 578 So stellt beispielsweise Dingeldey, JA 84, S. 411, fest, daß eine Berufung auf§ 55 StPO ohne Substantiierungspflicht nicht sachgerecht ist und möchte aber dennoch eine eidliche Versicherung genügen lassen, die dieses Erfordernis gerade nicht erfiillen kann. Konsequent deshalb die substantiierte Darlegungspflicht des § 56 AE-ZVR. 579 BGHSt 21,350. 580 BGH NStZ 94, 500 m. w. N. 581 Insbesondere da der Grundsatz "in dubio pro reo" nicht gilt (vgl. Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 56 StPO, RN 3 m. w. N). Die eidliche Versicherung macht wohl nur dort wirklich Sinn, wo etwa die Tatsache eines Verlöbnisses glaubhaft zu machen ist.

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gen den jede Aussage verweigernden Zeugen fllr zulässig erachtet, da dieser sich nicht bemüht habe, "Tatsachen" anzugeben, die ein Recht zur Verweigerung der Sachauskunft begründen könnten582 . Auf welche Tatsachen soll sich der Richter auch sonst stützen, wenn sich nicht bereits aus dem bisherigen Ermittlungsergebnis eine mögliche Verfolgungsgefahr ergibt? Allein das Erfordernis einer Glaubhaftmachung und einer ausdrücklichen Berufung auf das Auskunftsverweigerungsrecht fUhren noch nicht zu einem Verstoß gegen den nemo tenetur-Grundsatz583 , sofern der Zeuge durch ausreichende Schutzvorkehrungen davor bewahrt wird, daß diese zum Anknüpfungspunkt weiterer Ermittlungen gemacht werden können584• So könnte beispielsweise daran gedacht werden, eine Glaubhaftmachung in Abwesenheit der übrigen Verfahrensbeteiligten durchzufilhren. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz wird dadurch nicht verletzt, denn das Verlangen nach Glaubhaftmachung steht ohnehin im Ermessen des Gerichts und entsprechende Anträge der Prozeßbeteiligten können ohne Begründung abgelehnt werden585 • Ebenso könnte ferner ein ausreichender Schutz des verdächtigen Zeugen dadurch gewährleistet werden, daß bei unfreiwilliger Selbstbelastung im Rahmen der Glaubhaftmachung diese nicht zum Anknüpfungspunkt weiterer Ermittlungen gemacht werden darf86. Entscheidend ist jedoch die bereits oben aufgeworfene Frage, ob die notwendige Substantiierungspflicht nach § 56 StPO auch die Verwertbarkeit selbstbelastender Angaben bei Glaubhaftmachung rechtfertigen kann. c) Lücken im Schutz des "verdächtigen Zeugen" Das Erfordernis der Glaubhaftmachung steht fllr sich genommen der These, die informatorisch befragte Auskunftsperson sei durch § 55 StPO ausreichend geschützt, nicht entgegen. Informatorische Befragungen werden in aller Regel durch Polizeibeamte durchgefilhrt, die eine Glaubhaftmachung der zur Auskunftsverweigerung berechtigenden Tatsachen, nicht verlangen können (vgl. § 163a V StPO). Zweifel an einem effektiven Schutz des informatorisch Befragten entstehen aber vor allem deshalb, weil sich das Ziel des in§ 55 II StPO zum Ausdruck gekommenen Belehrungsprinzips, dem Zeugen eine selbständige, eigenverantwortliche und sachgerechte Entscheidung über die Ausübung oder BGH NJW 89, 2703. Vgl. auch BGH NStZ 94, S. 499 f. A.A. Geerds, FS für Stock, S. 189; Gerling, Informatorische Befragung, S. 73. 584 Insoweit läßt sich eine Parallele zum Gemeinschuldnerbeschluß des BVerfG ziehen (vgl. BVerfGE 56, 37 ff.). 585 Vgl. dazu BGH NJW 72, 1334; bei Dallinger, MDR 71, 188; KMR-Paulus, § 56 StPO, RN 6 m. w. N. 586 So aber OLG Stuttgart NJW 81, S. 1223; Roga/1, Der Beschuldigte, S. 235; a. A. LR-Dahs, § 55 StPO, RN 17. Ein partielles Verwertungsverbot in einem möglichen Folgeverfahren gegen den Zeugen genügt insofern nicht. 582 583

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Nichtausübung seines Auskunftsverweigerungsrechts zu ermöglichen, bei der informatorischen Befragung nur unzureichend verwirklichen läßt587 . Auch in diesem Zusammenhang muß man sich den treffenden Satz, "ein Recht, das man nicht kennt, kann man nicht ausüben" ins Gedächtnis rufen588 . Die Pflicht zu der fiir eine Rechtsausübung unerläßlichen Belehrung entsteht erst, sobald infolge konkreter Anhaltspunkte eine Verfolgungsgefahr wegen einer vor der Aussage begangenen Tat als möglich erscheint589. Bereits bei Bestimmung des einer Belehrungspflicht zugrundeliegenden Gefahrbegriffs tauchen erhebliche praktische Probleme auf. Sicherlich wird man im Interesse effektiver Rechtsgewährung bereits einen einfachen Tatverdacht (vgl. § 152 II StPO) genügen lassen müssen590, und es muß auch völlig gleichgültig sein, ob nur die Bejahung oder die Vemeinung einer Frage den Zeugen· in die Gefahr der Strafverfolgung bringt. Reicht es nicht aus, wenn eine der Möglichkeiten eine entsprechende Gefahr begründet, so würde der Zeuge durch den Gebrauch des Auskunftsverweigerungsrechts zwangsläufig einen Verdachtsgrund gegen sich schaffen, was letztlich dem Schutzzweck des nemo tenetur-Grundsatzes zuwiderläuft591 . Dadurch wird jedoch das Hauptproblem der Belehrung, die Unsicherheiten bzgl. des Entstehungszeitpunkts der Belehrungspflicht und dessen mangelnde Kontrollierbarkeit, nicht beseitigt. Die Phase der Verdachtsklärung, in der eine informatorische Befragung allenfalls in Betracht kommen kann, ist schon begrifflich dadurch gekennzeichnet, daß sich auch vom Standpunkt eines "objektiven Betrachters in der Situation des Zeugen"592 keine Anhaltspunkte fiir eine Straftat gerade dieses Zeugen ergeben. Ein entsprechender Verdacht wird sich dem Vernehmenden in aller Regel erst dann aufdrängen, wenn sich der Vgl. auch BVerfG NJW 75, S. 103. So der Große Senat BGHSt 12, 238 zur Frage der Belehrungspflicht über das Untersuchungsverweigerungsrecht nach§ 81 c I S. 2 StPO a. F. 589 Vgl. BGH bei Dallinger, MDR 53, 402; BGHSt 9, 34 590 Vgl. Dingeldey, JA 84, S. 409; Geerds, FS fiir Stock, S. 175. Zu restriktiv und wegen der damit verbundenen Prognose wenig praktikabel ist die Forderung Peters, Strafprozeß, S. 353, der hinreichenden Tatverdacht (vgl. §§ 170, 203 StPO) verlangt. 591 vgl. BGH bei Ho/tz, MDR 93, 722; Hauser, Der Zeugenbeweis, S. 165 und ausfiihrlich dazu auch Richter, StV 96, S. 458 ff.; A. A. noch OLG Celle, NJW 58, 72. 592 So der Vorschlag von Geerds, FS fiir Stock, S. 175. Die Forderung nach einem objektiven Beobachter ist insbesondere fiir die Situation der polizeilichen Vernehmung, in der das Rechtsschutzbedürfuis des Zeugen wohl am ausgeprägtesten ist, Beweismöglichkeiten im Gegensatz zur Hauptverhandlung in aller Regel jedoch nicht vorhanden sind, lediglich eine nicht durchsetzbare Wunschvorstellung. Daß der Begriff der Gefahr ein "prozessual auszufiillender Rechtsbegriff' ist (so LR-Dahs, § 55 StPO, RN 11 m. w. N.; a. A, BGHSt 10, 105) ändert nichts daran, daß die Rechtswirklichkeit bei polizeilicher Vernehmung ihn zu einer Frage des Ermessens werden läßt. Selbst bei richterlicher Vernehmung ist wegen der in aller Regel fehlenden, wörtlichen Protokollierung einer Zeugenaussage revisionsrechtlich kaum überprüfbar, ab welchem Zeitpunkt eine Belehrung erfolgen hätte müssen. 587 588

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Zeuge bereits unfreiwillig selbst zu belasten beginnt, d. h. der Schutzzweck des § 55 StPO nur noch unzureichend verwirklicht werden kann. Es wird deshalb häufig vorgeschlagen, den Zeugen möglichst frühzeitig zu belehren593 • Da der Zeuge jedoch zunächst zu veranlassen ist, im Zusammenhang über den Vernehrnungsgegenstand zu berichten594, müßte er aus Gründen effektiver Rechtsgewährung eigentlich zu Beginn der Vernehmung über ein mögliches Recht zur Auskunftsverweigerung belehrt werden 595 . Der Zeuge kann zwar auch innerhalb seines zusammenhängenden Berichts die Auskunft über möglicherweise selbstbelastende Tatsachen verweigern, doch wird er dazu aufgrund seiner mangelnden Rechtskenntnis und des fehlenden Wissens um die Grenzen der Selbstbelastung häufig nicht in der Lage sein. Es ist zudem wirklichkeitsfremd, von einem Polizeibeamten zu erwarten, dieser werde einen u. U. wichtigen Zeugen in seinem Bericht unterbrechen, um ihn auf sein Recht aus § 55 StPO hinzuweisen. Auch das BVerfG hat anerkannt, daß der Zeuge häufig selbst bei fehlerfreier Belehrung die rechtlichen Folgen seiner Angaben und den Umfang bzw. die Grenzen seines Auskunftsverweigerungsrecht nicht erkennen kann596 . Da der Zeuge ohne Offenbarung der ihn selbst belastenden Umstände eine Entscheidungshilfe durch den Vernehmenden nicht erwarten kann, hält das BVerfG es aus Gründen der Prozeßfairneß fiir geboten, dem Zeugen das Recht zuzugestehen, sich gegebenenfalls mit einem Rechtsbeistand über die Rechtsausübung zu beraten597 • Diese Forderung muß jedoch zwangsläufig leerlaufen, da das BVerfG aus Effizienzgesichtspunkten des Strafverfahrens die Zulässigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes einer Verhältnismäßigkeitsabwägung überantwortet und es zudem unterlassen hat, darauf hinzuweisen, daß der Zeuge über sein Recht der Verteidigerkonsultation zu belehren ist598 • 593 Vgl. nur Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, S. 165; Geerds, FS filr Stock, S. 188; Montenbruck, ZStW 89 (1977), S. 883 f. ; Roga/1, NJW 78, S. 2537. 594 Dies gilt nicht nur in der Hauptverhandlung (vgl. § 69 I S. 1 StPO), sondern um so mehr in einer Phase, in der völlig unklar ist, ob und was der Zeuge wahrgenommen hat. 595 Zur Zulässigkeit vgl. Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 55 StPO, RN 14m. w. N. Überflüssig der Vorschlag von Dingeldey, JA 84, S. 411, die Belehrung mit der allgemeinen Zeugenbelehrung zu verbinden, wenn die Gefahr der Selbstbelastung von vomherein erkennbar ist. In diesen Fällen ist das Gericht sogar verpflichtet, den Zeugen zu Beginn der Vernehmung nach§ 55 II StPO zu belehren. Generell filr eine Belehrung zu Beginn der Vernehmung: Geerds, FS für Stock, S. 188; Gerling, Informatorische Befragung, S. 79 ff.; Rieß, Besteuerungsverfahren, S. 53 f.; Rogall, Der Beschuldigte, S. 189; Schöneborn, ZStW 86 (1974), S. 926; vgl. auch§ 55 VI S. 2 AE-ZVR; filr eine Verbindung mit der Belehrung gern. § 57 StPO Montenbruck, JZ 85, S. 984. 596 Vgl. BVerfG NJW 75, S. 103. 597 Auch sonst besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem nemo teneturGrundsatz und dem Recht auf Verteidigung, vgl. dazu nur Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 70 f., und StV 94, S. 343 ff. 598 Verschärft wird dieser unzureichende Schutz des Zeugen durch eine restriktive Interpretation der Untergerichte, die ein Recht des sich in der in § 55 StPO umschriebe-

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Abgesehen von den Fällen einer offensichtlichen Tatbeteiligung ist es trotz dieser unübersehbaren praktischen Schwierigkeiten gerechtfertigt, weiterhin daran festzuhalten, daß nicht bereits zu Beginn der Vernehmung zu belehren ist. Allerdings ist das gegen eine Belehrung zu Beginn der Vernehmung vorgebrachte Argument, der so belehrte Zeuge könne darin eine voreilige Verdächtigung erblicken, wenig überzeugend. Wenn die Belehrung nach § 55 StPO jedem Zeugen erteilt wird, so hat der Zeuge auch keinen Anlaß zu der Vermutung, das Gericht mißtraue ihm mehr als einer anderen Auskunftsperson599 • Bereits im Hinblick auf die gegenwärtigen Gesetzeslage und -auslegung wird jedoch häufig gerügt, daß der Richter durch eine entsprechend abgefaßte Belehrung über die filr jeden Zeugen geltende Aussagepflicht sowie die Grenzen des Verweigerungsrechts diesen leicht in die Irre filhren kann. Dies muß um so mehr fUr das Ermittlungsverfahren gelten, das nicht durch richterliche Neutralität, sondern durch Effizienzgesichtspunkte geprägt ist. Es fiillt zudem schwer eine Belehrungsformel zu fmden, die einerseits verdeutlicht, daß unter bestimmten Umständen ein Recht bestehen kann, die Aussage zu verweigern, die andererseits aber keinen Zweifel an der ansonsten bestehenden Aussagepflicht läßt600 • Eine Belehrung bei Vernehmungsbeginn wUrde zwangsläufig rein routinemäßig durchgefUhrt und könnte damit der besonderen Situation des sich möglicherweise selbstbelastenden Zeugen nicht gerecht werden. Sofern die Belehrung erst im Laufe der Vernehmung bei Auftreten bestimmter Verdachtsmomente erfolgt, ist filr den Zeugen die Gefahr klarer erkennbar, er fllhlt sich persönlich angesprochen und das mit der Belehrung verfolgte Ziel, eine Warnung vor unbedachter Selbstbelastung, kann wirkungsvoller erreicht werden601 . Besonders deutlich wird dies auch dann, wenn teilweise eine doppelte Belehrung, d. h. eine Belehrung sowohl bei Auftreten entsprechender Verdachtsmonen Konfliktlage befindlichen Zeugen auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe ins Ermessen des Gerichts stellt und einem Antrag auf Gewährung nur dann zustimmt, wenn sich der Zeuge in einer "tatsächlich und rechtlich sehr schwierigen Situation befindet" (vgl. OLG Stuttgart StV 92, 262). Im übrigen tritt auch hier die vergleichbare Problematik des richtigen Belehrungszeitpunktes auf 599 Vgl. dazu bereits Rieß, Besteuerungsverfahren, S. 54 m. w. N. 600 Vgl. nur die von Gerland, Informatorische Befragung, S. 86, fiir den Beginn der Vernehmung vorgeschlagene Belehrungformel: "Es wäre denkbar, daß Sie selbst mit der Sache zu tun haben; daher brauchen Sie keine Angaben über die Sie selbst belastenden Tatsachen zu machen. Sie können die Aussage aber auch völlig verweigern." Diese Belehrung zu Beginn der Vernehmung wird den Zeugen mehr verwirren als ihm nützen, vor allem weil bei polizeilichen Vernehmungen gar keine Aussagepflicht besteht. 601 Kritisch auch Peters, ZStW 91 (1979), S. 122. Deutlich wird dies auch an den Ausfilhrungen von Rieß, Besteuerungsverfahren, S. 54, der eine diskriminierende Wirkung der Belehrung bei Vernehmungsbeginn mit der Argumentation verneint, bei einer jedem Zeugen gleichermaßen zu erteilenden Belehrung bestehe filr diesen auch kein Anlaß, sich verdächtig zu filhlen. Damit gesteht Rieß aber gleichzeitig zu, daß die Belehrung nicht geeignet ist, dem Zeugen seine Lage deutlich vor Augen zu fUhren.

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mente als auch bei Beginn der Vernehmung gefordert wird602 . Welchen Sinn soll dies haben, wenn bereits die Belehrung am Anfang der Vernehmung geeignet ist, dem verdächtigen Zeugen seine Konfliktlage zu verdeutlichen? Eine doppelte Belehrung kann insbesondere der Situation der informatorischen Befragung nicht gerecht werden, da zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht feststeht, welche Rolle die betroffene Auskunftsperson im Verlauf des späteren Strafverfahrens einnehmen wird. Sie entfaltet in diesem Frühstadium des Verfahrens sogar kontraproduktive Wirkung, falls sich im Verlauf der Vernehmung die Beschuldigtenstellung des Befragten herausstellen sollte und dieser nunmehr - filr ihn offensichtlich widersprüchlich - als Beschuldigter belehrt wird. Nicht nur aus diesen Gründen muß der Wert einer vorsorglichen Belehrung am Beginn der Vernehmung bezweifelt werden, deren sich der Zeuge in der Situation einer möglichen Selbstbelastung häufig nicht mehr bewußt sein wird und die zu vage formuliert ist, um dem Zeugen seine Situation tatsächlich vor Augen fUhren zu können. Eine deutliche Warnung bereits bei Beginn der Vernehmung hätte zudem wohl tatsächlich den in der Rechtsprechung befilrchteten Effekt, daß unbeteiligte Zeugen in ihrem Aussageverhalten beeinflußt werden603 . In empirischen Untersuchungen wurde bisher zwar regelmäßig nur die überragende Bedeutung polizeilicher Vernehmungen, und hier insbesondere der Erstvernehmung der jeweiligen Auskunftsperson, filr die Aufklärung der Tat nachgewiesen604. Es fehlen deshalb naturgemäß jegliche Daten zu der Frage, ob auch bei Belehrung vor informatorischer Befragung ein vergleichbarer Aufklärungserfolg erzielt werden könnte. Ohne hier jedoch gleich von der befilrchteten "Obstruktion der Strafrechtspflege"605 zu sprechen, läßt sich wohl kaum leugnen, daß eine entsprechende Belehrung eine gewisse psychische Distanz schafft und schaffen soll, die nicht ohne Einfluß auf den Inhalt der Aussage bleiben wird. d) Anerkennung eines selbständigen Beweisverwertungsverbotes Die aufgezeigten praktischen Probleme bei der Rechtsanwendung von § 55 StPO fiihren zu dem Schluß, daß ein ausreichender Schutz der Auskunftsperson bei informatorischer Befragung mit Hilfe der bestehenden Belehrungspflichten nicht erreichbar ist. Die Belehrungspflichten sind jedoch nur Ausdruck des als 602 V gl. dazu die in FN 595 genannten. 603 Vgl. BGH NJW 68, 1390. Deutlich übertrieben allerdings die Behauptung, eine

Belehrung in diesem Stadium der Ermittlungen bedeute das Ende jeden Versuchs, die Tat aufzuklären (OLG Stuttgart, MDR 77, 70). 604 Vgl. dazu die Nachweise bei ter Veen, StV 83, S. 295. 605 So die kriminalpolitischen Erwägungen der weitaus überwiegenden Auffassung, vgl. u. a. Krause, Die Polizei, 78, S. 305; Kohlhaas, NJW 65, S. 1250 und die Nachweise bei ter Veen, StV 83, S. 293. Zurückhaltender Geppert, FS für Oehler, S. 325. 17*

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selbstverständlich vorausgesetzten nemo tenetur-Prinzips. Deshalb muß aus der fehlenden Belehrungspflicht nicht zwingend auf die uneingeschränkte Verwertbarkeit von Angaben geschlossen werden, die erfolgt sind, bevor der Vernehmende seine Belehrungspflicht erfilllen konnte606 . Der aufgrunddes nemo tenetur-Grundsatzes abzuwendende Erfolg - eine unfreiwillige, staatlich veranlaßte Mitwirkung des Beschuldigten bei der Verurteilung - ist keinesfalls endgültig eingetreten. Er wird erst dann vollendet, wenn die Verwertung dieser Angaben zugelassen wird. Die entscheidende Frage ist damit, ob das Risiko einer bei nachträglicher Betrachtung unfreiwilligen Selbstbelastung allein deshalb auf den Beschuldigten verlagert werden darf, weil die Strafverfolgungsbehörde in der Phase der Verdachtsklärung keine sachentsprechende Belehrung vornehmen kann. Bisher sind Beweisverwertungsverbote wegen Verletzung des nemo teneturGrundsatzes vorwiegend in Abhängigkeit von Verfahrensverstößen, nicht aber im Bereich der selbständigen Beweisverbote diskutiert worden607• Eine Ausnahme bildet insoweit lediglich das Verbot, das berechtigte Schweigen des Beschuldigten zu verwerten. Dem Gericht ist es im Fall der Aussageverweigerung des Beschuldigten untersagt, die Tatsache der Ausübung des Schweigerechts als belastendes Indiz zu verwerten, obwohl es die Kenntnis von diesem Umstand legitimerweise erworben hat608 • Bei genauer Betrachtung ist zudem die Unverwertbarkeit von bei Vernehmung zur Person erfolgten, selbstbelastenden Angaben des Beschuldigten dem Bereich der selbständigen Beweisverwertungsverbote zuzurechnen609 • Auch in diesem Fall wird aus Praktikabilitätsecwägungen von einer Belehrungspflicht vor der Vernehmung zur Person abgesehen, so daß gegen den Vernehmungsbeamten nicht der Vorwurf verfahrensfehlerhaften Verhaltens erhoben werden kann, sofern dieser lediglich die zur Identitätsfeststellung notwendigen Angaben erfragt. Für den verdächtigen Zeugen hat dies zur Folge, daß zwar Aussagen, die durch Verletzung der Belehrungspflicht nach § 55 II StPO herbeigefilhrt worden sind, in einem folgenden Verfahren gegen den Zeugen, der nunmehr Beschuldigter ist, nicht verwertet werden können610• Jedoch sollen nach allgemei606 So spricht etwa Geppert, FS für Oehler, S. 342, explizit davon, die Aussagefreiheit des Beschuldigten sei begrenzt durch die gesetzlich gebotene Belehrung. 607 Anders für Fälle der außerstrafprozessualen Informationserlangung, vgl. nur BVerfGE 56, 37 ff. Zum Verwertungsverbot des§ 393 II AO, das auch dem Schutz vor erzwungener Selbstbelastung dient, vgl. Roga/1, ZStW 91, S. 17. Für Erkenntnisse, die aufgrundder aktiven Vorstellungspflicht des§ 142 StGB rechtmäßig gewonnen werden, hat Seebode, JA 80, S. 498, vorgeschlagen, daß diese einem (selbständigen) Beweisverwertungsverbot unterfallen müssen. 608 V gl. bereits Kleinknecht, NJW 66, 1538. 609 Vgl. dazu oben Teil III, § 8 I. 610 Soweit dies in der Literatur diskutiert worden ist, entsprach dies schon früher der weitaus überwiegenden Auffassung, vgl. nur Dahs, NStZ 93, S. 215, und LR, § 55

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ner Auffassung Angaben der Aussageperson, die diese in der Phase der Verdachtsklärung und in Unwissenheit ihrer späteren Prozeßrolle abgegeben hat, verwertbar sein und dem Beschuldigten auch bei den folgenden Vernehmungen vorgehalten werden können611 . Dies trotz der Tatsache, daß bei informatorischen Befragungen und Vernehmungen im Vorfeld der Belehrungsmöglichkeit nach § 55 II StPO das Schutzbedürfnis des Zeugen noch größer ist als bei einer förmlichen Vernehmung, in der der Betroffene eher eine ungefähre Vorstellung von der Bedeutung selbstbelastender Angaben hat612 . Der Schluß von der Zulässigkeit der Beweiserhebung in Form von informatorischen Befragungen auf die Verwertbarkeit der so gewonnenen Erkenntnisse ist keineswegs zwingend. Durch diese Verknüpfung würde die Reichweite des nemo tenetur-Grundsatzes und damit die Effektivität einer künftigen Verteidigungsstrategie des Beschuldigten von Zuflilligkeiten abhängig gemacht, ohne daß dafiir eine sachliche Rechtfertigung gegeben werden könnte. Um dies zu verdeutlichen, muß nicht erst auf das etwas lebensfremde Beispiel einer Wirtshausschlägerei mit tödlichem Ausgang zurückgegriffen werden, bei der die Polizei befugt sein soll, ohne Belehrung "herumzufragen", wobei alles verwertbar sei, was die Gäste in der Phase der Verdachtsklärung den Polizeibeamten mitteilen613. Wesentlich häufiger werden Fälle sein, in denen die Polizei beispielsweiStPO, RN 17; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 1130; Jung, JUS 93, S. 81; Rogall, Der Beschuldigte, S. 234 ff. jeweils m. w. N. Auch in der Rechtsprechung ist dies nunmehr anerkannt, vgl. BGHSt 38, 302 ff.; zuvor bereits OLG Stuttgart NStZ 81, 272; BayObLG StV 84, 192. 611 Eine vergleichbare Problematik tritt bei unbedachter Selbstbelastung im Rahmen der Glaubhaftmachung nach § 56 StPO auf. Vgl. zur informatorischen Befragung Geppert, FS ftlr Oehler, S. 323; KK-Boujong, § l36a StPO, RN 6 und Wache,§ 163a StPO, RN 2; Pfeiffer I Fischer, § l63a StPO, RN l m. jeweils w. N. Treffend dagegen Glaser, Handbuch des Strafprozesses I, S. 469: Es sei auch beim "redlichsten Willen" nicht zu vermeiden, daß bei ersten Nachforschungen Personen als Zeugen vernommen werden, wider die sich später selbst der Verdacht des Verbrechens erhebt. "Es giebt in der Tat nur ein sicheres und gerechtes Mittel, ( ...) dass dasjenige, was der spätere Angeklagte über die den Gegenstand dieser Anklage bildende Tat( ...) ausgesagt hat, als Beweismittel gegen ihn nicht benutzt werden darf." Haben sich unsere Gerechtigkeitsvorstellungen seit 1883 so verändert, daß diese Lösung nicht mehr in Betracht gezogen wird? 612 So allerdings ftlr den Fall eines Verwertungsverbotes nach § 252 StPO, BayObLG, MDR 83, S. 428. Es ist jedoch kein Grund ersichtlich, warum die Konfliktlage des sich selbstbelastenden Zeugen weniger stark ausgeprägt sein sollte. 613 Bauer, Die Aussage, S. 19; Bringewat, JZ 81, S. 294; Haubrich, NJW 81, S. 803 f.; Kleinknecht, Kriminalistik 65, S. 451; Schlüchter, Das Strafverfahren, RN 85, FN 238h. Mit diesem Beispiel wird zu verdeutlichen versucht, daß der Aufklärungserfolg gering wäre, müßte die Polizei erst jeden darüber belehren, daß er die Auskunft verweigern oder seinen Verteidiger konsultieren kann. Damit wird aber zugleich eingestanden, wie wichtig unbedarfte, unüberlegte und vor allem in mangelnder Rechtskenntnis erfolgte Selbstbelastungen ftlr die Aufklärung von Straftaten sind. Offen bleibt jedoch, ob dies durch eine restriktive Auslegung von beschuldigtenschützenden Vorschriften unterstützt werden darf, insbesondere da nicht in Abrede gestellt wird, daß auch die Wirtshaus-

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se zu einem Verkehrsunfall gerufen wird614 oder aufgrund des unbestimmten Verdachts einer möglichen Gewässerverunreinigung in einem Unternehmen ermittelt und einen der anwesenden Zeugen oder Unternehmensangehörigen befragt. Vernimmt sie dabei zufttllig zunächst einen der Tatbeteiligten, so kann sie diesen erst nach Auftreten entsprechender Verdachtsmomente sachgemäß belehren. Belastet der Zeuge aber zuvor einen weiteren Tatbeteiligten, so wird die Polizei auch diesen vernehmen und bereits zu Beginn der Vernehmung pflichtgemäß als Beschuldigten belehren. Läßt man eine Verwertung der bei der ersten Vernehmung erfolgten Aussagen zu, so wird derjenige Zeuge willkürlich benachteiligt, der das "Pech" hatte, als erster vernommen zu werden615 • Da es allgemeiner Auffassung entspricht, daß die bei informatorischer Befragung erfolgten Äußerungen dem Beschuldigten bei weiteren Vernehmungen vorgehalten werden können616, tritt damit bereits in der Phase der Verdachtsklärung eine faktisch nicht mehr zu beseitigende Bindungswirkung fiir das Aussageverhalten des Zeugen ein. Es erscheint sehr bedenklich, daß durch eine allzu formale Betrachtung und Gesetzesauslegung das Risiko der fehlenden sachgemäßen Belehrungsmöglichkeit auf den Beschuldigten übertragen wird und dieser bereits in einem frühen Stadium des Verfahrens seiner Chancen der Beeinflussung des Verfahrensergebnisses beraubt wird617 • Dies sollte zumindest in Situationen, in denen eine Vernehmung stattfmdet, den Strafverfolgungsbehörden jedoch aus den genannten Erwägungen eine Belehrung des Beschuldigten oder Zeugen unmöglich ist, dazu zwingen, ein unmittelbar aus dem nemo tenetur-Grundsatz abzuleitendes, selbständiges Beweisverwertungsverbot anzuerkennen, wenn der informatorisch Befragte im weiteren Verlauf des Ermittlungsverfahrens nach qualifizierter Belehrung618 Angaben zur Sache verweigert619 • schläger ein Recht zur Verweigerung von selbstbelastenden Auskünften haben - nur belehrt sollen sie nicht werden, um den Aufklärungserfolg nicht zu gefährden. 614 Vgl. auch die bei Moormann, Informatorische Anhörung, S. 7 ff. , geschilderten Fälle und Fahl, JUS 96, S. 1016 m. w. N. 615 Natürlich kann die Aussage des Zeugen auch gegen den anderen Tatbeteiligten verwertet werden. Der Belastung durch Mitangeklagte kommt jedoch ein deutlich geringerer Beweiswert wie einer Selbstbelastung zu. 616 Vgl. u. a. Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 3, S. 36 f., RN 52 m. w. N.; BGH NStZ 83, 86. 617 Dazu muß nicht erst auf interaktionistische, kommunikationstheoretische Modelle des Strafverfahrens zurückgegriffen werden, die in §§ 136, 136a StPO einen Anspruch auf Kommunikationsverweigerung begründet sehen (vgl. dazu u. a. Giehering in: Hassemer I Lüderssen, Sozialwissenschaften, III, S. 181 ff. (186) m. w. N.), denn eine wirkliche Möglichkeit der Beeinflussung des Verfahrensablaufs hat ein Beschuldigter nur dann, wenn er auch den Zeitpunkt der Beteiligung selbst bestimmen kann. 618 Vgl. dazu unten Teil III, § 14 III. 619 Im Gegensatz dazu die h. A., vgl. die Nachweise in FN 522. Ohne Begründung im Ergebnis jedoch zutreffend dagegen Beu/ke, Strafprozeßrecht, RN 118, wobei dieser jedoch offenläßt, ob die Unverwertbarkeit wegen "entsprechender lnteressenlage" aus § 136 StPO oder unmittelbar als selbständiges Beweisverwertungsverbot aus dem nemo

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Ohne sich mit der grundsätzlichen Frage der Anerkennung eines selbständigen Beweisverbotes auseinanderzusetzen, hat das AG Tiergarten festgestellt, das Ergebnis einer Vernehmung des Beschuldigten nach zuvor erfolgter informatorischer Befragung sei nur dann verwertbar, wenn dieser darüber belehrt werde, daß er sich nunmehr erstmalig ohne jede Rücksicht auf das, was er schon gesagt hat, zur Sache äußern könne620. Sollte es sich bei der ersten Vernehmung des Beschuldigten tatsächlich um eine informatorische Befragung gehandelt haben621, so wäre dieser Hinweis zumindest nach überwiegender Rechtsauffassung unzulässig, denn es ist ja gerade Kennzeichen einer informatorischen Befragung, daß die dabei erfolgten Angaben uneingeschränkt verwertbar sein sollen622. Eine dem Rechtsverständnis der h. A. entsprechende Belehrung hätte vielmehr darauf hinweisen müssen, daß es ihm (dem Beschuldigten) zwar freistehe, zur Sache auszusagen, daß die bei informatorischer Befragung erfolgten Angaben jedoch auch im Falle der Aussageverweigerung gegen ihn verwendet werden können. Dennoch deutet dieses Urteil in die richtige Richtung, sofern sich das im Tenor gedanklich vorausgesetzte selbständige Beweisverwertungsverhot in methodischer Hinsicht mit dem bisherigen Verständnis von Beweisverwertungsverboten in Einklang bringen läßt. Es mag naheliegen, ein entsprechendes Verbot bereits deshalb zu befilrworten, weil im Falle einer uneingeschränkten Verwertbarkeit informatorisch erlangter Angaben die Praxis Belehrungspflichten unschwer unter dem Deckmantel der informatorischen Befragung umgehen kann623 • Dieser Gedanke ist dem tenetur-Grundsatz abgeleitet werden soll. Z. T. ablehnend auch Fezer, StrafProzeßrecht, Fall 3, S. 36 f, RN 52. Unklar LG Nürnberg StV 94, 123. Das LG Nürnberg fordert wohl nur dann die Unverwertbarkeit informatorisch erfragter Angaben, wenn nach der an sich zulässigen, informatorischen Befragung eine normale Vernehmung erfolgt und die Vernehmungsbeamten bei dieser ihre Belehrungspflichten verletzen. Mißverständlich AG Homburg-Saar StV 94, 124, denn der Sachverhalt und die Entscheidungsgründe betreffen keine informatorische Befragung, sondern eine ohne Belehrung erfolgte Beschuldigtenvernehmung. 620 V gl. AG Tiergarten StV 83, 278. 621 Der lediglich sehr knapp dargestellte Sachverhalt - es erfolgte eine protokollierte Vernehmung und dabei schilderte der noch nicht Beschuldigte das gesamte, der Verurteilung zugrundegelegte Tatgeschehen (!) - spricht ftlr das Gegenteil, so daß dieses Urteil wohl zu Unrecht von ter Veen und Teilen der Literatur ftlr eine Erörterung der Problematik der informatorischen Befragung in Anspruch genommen wird. 622 Das verkennt auch ter Veen, StV 83, S. 296. Die qualifizierte Belehrung ist nur ein Ausweg ftlr die Umgehungsproblematik, d.h. sie ist lediglich dann erforderlich, wenn die Polizei die Belehrungspflichten durch eine informatorische Befragung umgehen wollte. Die dabei auftretenden Probleme liegen jedoch in der Frage der Beweismöglichkeiten des Befragten und sind von der Frage der rechtlichen Erfassung zulässiger informatorischer Befragungen zu trennen. 623 So Beu/ke, StrafProzeßrecht, RN 118 (zum Disziplinierungsgedanken, vgl. aber auch ders., StV 90, S. 180). Die weitere Begründung Beu/kes spricht allerdings eher für ein unselbständigen Beweisverwertungsverbot, denn er bringt vor, daß die Interessenla-

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deutschen Recht jedoch weitgehend fremd und entspricht eher der im amerikanischen Recht beheimateten Idee, durch Beweisverbote die Grenzen zulässiger Ermittlungstätigkeit abzustecken und die Polizei zur Einhaltung dieser Grenzen zu disziplinieren624 . Der Disziplinierungsgedanke beeinflußt zwar die Ausgestaltung der revisionsrechtlichen Überprilfung von Verfahrensverstößen625 und gehört deshalb u. U. auch zu den rein faktischen Auswirkungen eines Beweisverwertungsverbotes626. Dieser Ansatz ist jedoch bisher nicht zur Begründung neuer, insbesondere selbständiger Beweisverwertungsverbote herangezogen worden627. Er muß bei der Begründung verfassungsrechtlicher Verwertungsverbote auch zwangsläufig versagen, denn diese setzen ja gerade kein verfahrenswidriges Verhalten der Strafverfolgungsbehörden voraus628 • So kann durch diese Theorie nicht erklärt werden, warum Äußerungen des Beschuldigten dann nicht verwertbar sein sollen, wenn feststeht, daß die Polizei sich eindeutig im Bereich der informatorischen Befragung bewegt hat. In diesen Fällen ist kein rechtswidriges Verhalten der Polizei vorhanden, das prozessual sanktioniert werden müßte, um eine generalpräventive Wirkung auf die Strafverfolgungsorgane auszuüben. Die mit dem Postulat eines selbständigen Beweisverbotes verbundene, aufgrund der erheblichen praktischen Bedeutung von Vorfeldermittlungen möglicherweise auch sehr wesentliche Beschränkung der Aufklärungsmöglichkeit von Straftaten läßt sich mangels der Verletzung von Verfahrenspflichten durch die Strafverfolgungsbehörden nur filr den Fall rechtfertigen, daß bei Nichtanerkennung des Verwertungsverbotes erhebliche materiell-rechtliche Rechtsschutzlükken auftreten629• Selbständige oder verfassungsrechtliche Beweisverwertungsge bei infonnatorischer Befragung mit der bei einer"eigentlichen Vernehmung" vergleichbar ist und rekurriert dabei wohl auf das Institut der vernehmungsähnlichen Situation. Diese ist aber gerade dadurch gekennzeichnet, daß eine Situation gegeben ist, in der die Polizei aufgrund einer der Vernehmung vergleichbaren Drucksituation belehren muß, während bei infonnatorischer Befragung gerade keine Belehrungspflichten bestehen. Auch Nicki, Das Schweigen des Beschuldigten, S. 75 f., hat aus ähnlichen Erwägungen wie Beulke ein Verwertungsverbot fur infonnatorische Befragungen vorgeschlagen, sich dabei, wie sich aus dem weiteren Kontext ergibt, aber auf die Konstellation des Vorgesprächs bezogen. 624 Vgl. dazu Herrmann, FS fur Jescheck, S. 1298 ff. m. w. N. 625 Vgl. dazu unten Teil III, § 14 I. 626 Eine entsprechende Wirkung ließ sich in empirischen Untersuchungen in Amerika nicht nachweisen; vgl. Herrmann, FS fur Jescheck, S. 1301 m. w. N. 627 Zur mangelnden Übertragbarkeit, vgl. Amelung, Infonnationsbeherrschungsrechte, S. 19 ff.; Herrmann, FS fur Jescheck, S. 1302 f.; Rogall, ZStW 91, 16; Störmer, Dogmatische Grundlagen, S. 197 ff.; a. A. Niese, JR 66, S. 284 f.; Grünwald, JZ 66, S. 499, zu§ 136 StPO auch Sieg, MDR 84, S. 726; kritisch Fahl, JUS 96, S. 1017. 628 Vgl. auch Küpper, JZ 90, S. 417. 629 Zum Gesichtspunkt des materiellen Rechtsschutzes durch Beweisverwertungsverbote, vgl. Herrmann, FS fur Jescheck, S. 1292 ff.

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verbote630 werden fUr die Fälle anerkannt, in denen zwar - wie bei der informatorischen Befragung - bei Beweisgewinnung kein Rechtsverstoß begangen wird, jedoch der selbständige Akt der Beweisverwertung, d. h. die Reproduktion des Beweises in der Hauptverhandlung eine eigenständige Grundrechtsverletzung beinhaltet631 • Raum fUr die Anerkennung dieser Art von Beweisverwertungsverboten ist nur dort, wo keine einfachgesetzlichen Vorschriften einschlägig sind, die einen unmittelbaren Rückgriff auf die Verfassung ausschließen könnten632 . Durch sie sollen Lücken im Individualrechtsschutz des einzelnen vermieden werden, die sich auch durch analoge Heranziehung einfachgesetzlicher Vorschriften nicht schließen lassen633 • Die Vorschriften zur einfachgesetzlichen Ausformung des nemo tenetur-Grundsatzes stehen der Anerkennung eines selbständigen Verwertungsverbots allerdings nicht entgegen, denn die Problematik der informatorischen Befragung wurde erst nach Neufassung des § 136 StPO durch das StPÄG aktuell634 und konnte vom historischen Gesetzgeber naturgemäß nicht vorausgesehen werden. Das methodische Vorgehen bei der Bestimmung selbständiger Verwertungsverbote ist dadurch gekennzeichnet, daß nach Ermittlung des grundrechtsrelevanten Eingriffs eine Abwägung im konkreten Einzelfall erfolgt, die Klärung darüber verschaffen soll, ob die Wertigkeit des betroffenen Grundrechtes sowie die Art und Qualität des Eingriffs es angesichts der Schwere des Tatvorwurfs und der Bedeutung des Beweismittels fUr die Bekämpfung von Straftaten als 630 Der Begriff der verfassungsrechtlichen Verwertungsverbote ist ungenau, denn auch unselbständige Verwertungsverbote beruhen häufig auf verfassungsrechtlichen Erwägungen. 631 Grundlegend auch zur Terminologie u. a. Küpper, JZ 90, S. 416 ff.; Rogall, ZStW 91, S. 1 ff.; ders., Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, S. 151; Störmer, JURA 94, S. 393 ff. Aus der Rechtsprechung vgl. BVerfGE 34, 238 ff. ; 54, 143 ff.; 80, 367 ff. ; BGHSt 14, 358; 19, 325 ff.; 31, 296 ff. und 304 ff.; 34, 397 ff.; NJW 94, 1970. Gegen diese Unterscheidung Peres, Strafprozessuale Beweisverbote, S. 14 ff. 632 Wobei diese natürlich häufig selbst Ausformung verfassungsrechtlicher Vorgaben sind und das Strafverfahrensrecht insoweit zutreffend als angewandtes Verfassungsrecht bezeichnet wird (vgl. u. a. BVerfGE 32, 383; BGHSt 19, 330). Verwertungsverbote wegen Verletzung strafprozessualer Vorschriften werden deshalb mittelbar natürlich auch auf verfassungsrechtliche Erwägungen gestützt, so daß der Begriff der selbständigen Verwertungsverbote die Ausgangslage klarer umschreibt. Vgl. i. ü. auch Störmer, Dogmatische Grundlagen, S. 16 ff.; explizit zum nemo tenetur-Grundsatz S. 164 ff. (173 f.). Die Auffassung Störmers, ein unmittelbar aus dem nemo tenetur-Grundsatz folgendes Verwertungsverbot komme nur in Betracht, wenn fiir den Betroffenen ein mit direkten Sanktionen bewehrter "Zwang zur Selbstbelastung" besteht, beruht zum einen auf der hier abgelehnten, ausschließlich zwangsorientierten Betrachtungsweise des nemo tenetur-Grundsatzes und kann zum anderen allein fiir Erkenntnisse gelten, die außerhalb des Strafverfahrens in anderen staatlichen Verfahren gewonnen wurden. 633 Vgl. auch Störmer, JURA 94, S. 393. 634 Erste Stellungnahmen erfolgten erst nach 1965; vgl. etwa Kleinknecht, JZ 65, S. 133 ff; Kohlhaas, NJW 65, S. 1254 ff.

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unverhältnismäßig erscheinen lassen, von einem bestimmten Beweismittel Gebrauch zu machen635 • Eine Abwägung in der aufgezeigten Form fmdet lediglich dann nicht statt, wenn die Verwertung der bei informatorischer Befragung erlangten Informationen den gegen staatliche Eingriffe resistenten Kernbereich der betroffenen Grundrechte, die Intimsphäre berühren würde636 • Anders als in den Fällen, in denen eine Verletzung der durch den nemo tenetur-Grundsatz geschützten Aussagefreiheit des Beschuldigten durch ordnungsgemäßes Verhalten der Strafverfolgungsbehörden hätte vermieden werden können, besitzen informatorisch erhobene Informationen einen höheren Sozialbezug und sind deshalb im Sinne der Sphärentheorie eher dem Bereich der mit geringerer Schutzintensität ausgestatteten Privatsphäre zuzuordnen. Dies zeigt sich u. a. auch daran, daß zumindest die Tatsache, welche Rolle der Befragte im Verlauf des weiteren Verfahrens einnimmt, Anknüpfungspunkt fUr die weitere Tätigkeit der Polizei sein kann und muß. Im übrigen ist die Zuordnung zur innersten Sphäre abhängig von der inhaltlichen Qualität der betreffenden Information. Das Wissen um die künftige Prozeßrolle des Beteiligten weist jedoch unbestreitbar keinen so intimen Charakter auf, als daß es im absolut geschützten Bereich der Intimsphäre angesiedelt werden müßte. Bei der weiteren Abwägung der in Betracht kommenden Faktoren sollte der Grundsatz der Zweckbindung von rechtmäßig erlangten Kenntnissen mitberücksichtigt werden, der ursprünglich fUr die außerhalb des Strafverfahrens erfolgende Informationsbeschaffung entwickelt worden ist637 . Allgemein wird als Zweck und zugleich Rechtfertigung einer von Belehrungspflichten befreiten informatorischen Befragung vorgebracht, daß es den Strafverfolgungsbehörden zur sachgemäßen Belehrung der Auskunftsperson gestattet werden müsse, durch Fragen klären zu können, ob der Befragte Oberhaupt Sachdienliches zur 635 Vgl. Fezer, Grundfragen, S. 6 m. w. N; KMR-Paulus, § 244 StPO, RN 518 ff. Wobei nicht der isoliert angewendet Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sondern die einzelnen Grundrechte selbst die Einfilhrung entsprechender Beweisverwertungsverbote verlangen, vgl. dazu Störmer, Dogmatische Grundlagen, S. 54 m. w. N. 636 Vgl. BVerfGE 80, 373. Zur Sphärentheorie des BVerfG vgl. u. a. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 327 ff.; Koriath, Über Beweisverbote, S. 90; Küpper, JZ 90, S. 418; Störmer, JURA 94, S. 395 m. w. N Daß die Bestimmung der innersten Schutzsphäre selbst nur durch Abwägung möglich ist, wurde bereits oben aufgezeigt, vgl. Teil I, § 2 111. 637 Vgl. dazu u. a. Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 37; Störmer, Dogmatische Grundlagen, S. 135 f. m. umfangreichen N. Dessen Auslegung wird meist auf datenschutzrechtliche Erwägungen begrenzt. Der Leitgedanke dieses Grundsatzes kann jedoch durchaus ergänzend herangezogen werden, da er als Ausdruck der Beschränkung staatlicher Zwangsanwendung verdeutlicht, daß die Informationsverwertung in gewissem Umfang an den Erhebungszweck gebunden ist. So hebt auch das BVerfG im Gemeinschuldnerbeschluß hervor, daß der Schutz vor Selbstbezichtigung in gewissem Umfang von der "Zweckbestimmung" der verlangten Auskunft abhängig ist (vgl. BVerfGE 56, 37 ff.)

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Tataufklärung beitragen kann und welche Prozeßrolle sie ihm zuzuweisen haben638. Die informatorische Befragung verfolgt den Zweck, eine den strafprozessualen Regeln entsprechende Beweiserhebung zu ermöglichen. Sofern der Beschuldigte im weiteren Verlauf nach Belehrung die Aussage verweigert, kann dieser Zweck der informatorischen Befragung nur eingeschränkt verwirklicht werden, da eine entsprechende Beweiserhebung aufgrund der fehlenden Mitwirkungsbereitschaft des Beschuldigten unmöglich ist. Schon diese Tatsache läßt Zweifel daran aufkommen, ob der informatorischen Befragung nunmehr eine völlig andere Zweckbestimmung gegeben werden darf, indem die durch sie erlangten Erkenntnisse zur Beweisfilhrung im Strafverfahren verwertet werden. Der verfahrensrechtlich legitime Zweck der informatorischen Befragung läßt sich auch dann verwirklichen, wenn alle strafverfahrensrelevanten Informationen, die über die Feststellung der jeweiligen Prozeßrolle hinausreichen, unverwertbar sind. Obwohl die tatrelevanten Angaben lediglich dem mit relativem Schutz ausgestatteten Bereich der Privatsphäre zugehörig sind, läßt sich ihre Verwertung nicht durch entgegenstehende verfassungsrechtliche Güter rechtfertigen. Bereits oben ist darauf hingewiesen worden, daß die ansonsten fiir die Annahme selbständiger Verwertungsverbote ausschlaggebende Tatschwere kein taugliches Abwägungskriterium filr die Bestimmung der Reichweite des nemo tenetur-Grundsatzes ist, da dessen Wertigkeit filr den Betroffenen in aller Regel mit steigendem Tatvorwurf zunimmt. Entgegen der ansonsten erforderlichen konkret fallbezogenen Abwägung muß darüber hinaus festgestellt werden, daß auch das öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung generell nicht geeignet ist, die durch den nemo tenetur-Grundsatz geschützten Individualinteressen des Betroffenen zu überwinden639 • Entgegen der herrschenden Auffassung verträgt das nemo tenetur Prinzip innerhalb eines Strafverfahrens keine Differenzierung nach dem bestehenden Verdachtsgrad oder der Situation der Strafverfolgungsbehörden beim ersten Zugriff4°. Die Aussagefreiheit des Beschuldigten entfaltet insoweit eine Vorwirkung in ein Stadium des Verfahrens, in dem wesentliche Weichen filr die künftige Stellung des Beschuldigten gestellt werden. Sofern die weitaus überwiegende Auffassung eine uneingeschränkten Verwertbarkeit der informatorisch erlangten Angaben befilrwortet, basiert dies wohl auf den bereits oben verworfenen Unzumutbarkeitserwägungen. Aufgrund der fehlenden Möglichkeit zur sachentsprechenden Belehrung ist es den Vernommenen eben zumutbar, unbelehrt zur Sache auszusagen und dies, obwohl selbst die h. A. nicht in Zweifel zieht, daß der Befragte auch in diesem Frühstadium des Verfahrens das Recht besitzt, selbstbelastende Angaben zu verweigern. Es zeigt sich hier eine gewisse Begrün-

Vgl. die Nachweise in FN 522 Vgl. dazu bereits oben Teil I,§ 2 III. 640 So aber Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1222. 638 639

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dungsparallele zur Problematik der Verwertbarkeit tagebuchartiger Aufzeichnungen. Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Maßstäben muß der Richter oder Staatsanwalt ein Tagebuch zunächst lesen, ehe er entscheiden kann, ob der Inhalt verwertet werden darf oder nicht641 . Die Information "tagebuchartige Aufzeichnung" kann demnach zwar erhoben werden, die dadurch verursachte Störung muß aber im Rahmen eines Anspruchs auf Wiederherstellung der ursprünglichen, vorteilhaften Lage beseitigt werden 642 . Ähnlich wie bei der informatorischen Befragung erlangen die Strafverfolgungsbehörden Informationen, die der Verletzte zurtickhalten darf, jedoch aufgrundder besonderen Umstände - bei informatorischer Befragung wegen fehlender Belehrungsmöglichkeit - nicht zurtickhalten kann. Sieht man den Schutz der Willensentschließungsfreiheit in seiner oben dargestellten Umgrenzung als Schutzobjekt des nemo tenetur-Prinzips, so beinhaltet die Verwertung der informatorisch erhobenen Informationen eine eigenständige Verletzung seines Schutzbereichs, die aus materiellrechtlichen Erwägungen durch ein Beweisverwertungsverbot abgewehrt werden muß. Der einzelne hat in Vernehmungssituationen das Recht, selbstbelastende Informationen zurückzuhalten, und die Besonderheiten der informatorischen Befragung können schon unter dem Aspekt des G IeichbehandIungsgebots des Art. 3 I GG keinen Anspruch der Strafverfolgungsorgane auf Verwertung dieser in Unkenntnis des Verweigerungsrechts preisgegebenen Informationen begründen643 • Anders als bei den meisten selbständigen Beweisverwertungsverboten kann das Verwertungsverbot fUr informatorisch erfragte Angaben nicht auf den konkreten Einzelfall beschränkt werden, sondern muß diese Form der Vernehmung generell erfassen. Vergleichbar dem Verbot, das berechtigte Schweigen des Beschuldigten im Urteil zu verwerten, kann auch bei informatorischer Befragung das Interesse des Staates an Verwertung der Informationen nicht mit dem spezifischen Schutzinteresse des Beschuldigten abgewogen werden. Bereits bei der grundsätzlichen Frage, ob entsprechende Infor641 Vgl. dazu BGHSt 19, 331; 34, 401; JR 94, 43; BVerfGE 80, 375. Selbst wenn man eine Verwertung auch dann nicht fiir zulässig erachtet, soweit der Tatverdacht eine "außerordentlich schwerwiegende strafbare Handlung" betriffi (vgl. dazu die Kritik bei Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 390 ff. m. umfangreichen N.), so läßt sich dennoch ohne Kenntnisnahme vom Inhalt der Aufzeichnungen nicht klären, ob die Schriftstücke "echte Tagebuchaufzeichnungen" sind. 642 Vgl. auch Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 38 ff. (39). In der Präzisierung dieser "Folgenbeseitigungsfunktion" der Beweisverwertungsverbote liegt das eigentlich Nutzbringende des Ansatzes von Amelung. Er weist zu Recht darauf hin, daß Gesetze der Logik und Gerechtigkeit erfordern, daß Rechte die der staatlichen "Informationsverarbeitung" entgegenstehen, nicht nur bei der Informationsgewinnung, sondern auch danach beachtet werden müssen (vgl. a. a. 0., S. 26). 643 Wie sehr die effektive Ausübung prozessualer Rechte beim ersten Zugriff der Polizei von Beschwerdemacht und Rechtskenntnis des Betroffenen abhängig ist, hat auch die Studie von Feest I Blankenburg, Die Definitionsmacht der Polizei, S. 45 ff., eindrucksvoll aufgezeigt.

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mationen überhaupt einem Beweisverwertungsverbot unterworfen sein können, wird mittels einer Abwägung der berührten Belange, eine in allen Konstellationen gleichennaßen zu beachtende Wertentscheidung getroffen644 • IV. Die Spontanäußerung In den Zusammenhang der vorangegangenen Erörterungen gehört die Frage, ob der Schutzzweck des nemo tenetur-Grundsatzes auch dann berührt ist, wenn der Beschuldigte spontan ein Geständnis ablegt, bevor er belehrt werden konnte. Äußert sich der Beschuldigte, ohne daß ein Strafverfolgungsorgan diese Äußerung erfragt, provoziert oder sich zur Entgegennahme des Tatwissens bereit erklärt hat645 , so kann man sich auch dann, wenn man den Schutzzweck des nemo tenetur-Grundsatzes in der Sicherung der Entschließungsfreiheit des Beschuldigten sieht, auf den Standpunkt stellen, dieser offenbare sich aus freien Stücken und in Kenntnis seines (teilweisen) Rechtsverzichts, so daß seine Bekundung auch ohne Beschuldigtenbelehrung uneingeschränkt verwertbar sein müsse646 • Dies setzt allerdings voraus, daß die Äußerung außerhalb einer Vernehmungssituation erfolgt, denn nur dann ist es gerechtfertigt, davon zu sprechen, diese sei ohne staatliche Veranlassung, d. h. ungefragt und unaufgefordert erfolgt647 • Soweit der Beschuldigte dabei aus eigener Initiative handelt, besteht aufgrunddes Fehlens einer dem § 252 StPO vergleichbaren Vorschrift filr den Beschuldigten kein Anlaß, eine Beeinträchtigung der Aussagefreiheit des Beschuldigten anzunehmen648 • Fraglich bleibt in rechtstatsächlicher Hinsicht jedoch, welche Kriterien filr die Spontaneität der Beschuldigtenaussage maßgeblich sein sollen. Bei der Bestimmung der dafilr entscheidenden Gesichtspunkte kann auf die Rechtsprechung zu § 252 StPO zurückgegriffen werden. Obwohl die rechtlichen Konsequenzen in beiden Konstellationen durchaus unterschied644 Die Vorschriften der§§ IOOb V und 108 II StPO sind Ausdruck einer vergleichbaren antizipierten Wertentscheidung des Gesetzgebers im Bereich der selbständigen V erwertungsverbote. 645 Zu diesen Kriterien bereits BayObLG NJW 83, I 132. 646 So die h. A., vgl. nur Beu/ke, Strafprozeßrecht, RN 113, 118; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24, RN 38; SK-Roga/1, vor§ 133 StPO, RN 44 m. jeweils w. N; z. T. ablehnend Fezer, StV 90, 195 f.; ter Veen, StV 83, S. 293 ff. 647 Völlig abzulehnen ist die Auffassung, daß Spontanäußerungen auch gelegentlich einer Befragung erfolgen können, so aber Moormann, Informatorische Anhörung, S. 28, 34. 648 Aufgrund des Schutzzwecks von § 52 StPO und der dazu im Kontext stehenden Vorschrift des § 252 StPO sind die Fälle einer Spontanäußerung des zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen nur eingeschränkt mit einer Äußerung des Beschuldigten vergleichbar. Eine Anwendung von § 252 StPO auf eine Spontanäußerung des Zeugen befiirwortet u. a. OLG Köln, VRS 80, 33 f.; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 1303; Fezer, Strafprozeßrecht, Falll5, RN 53 m. w. N. auch zur ablehnenden h. M.

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lieh ausfallen können, muß doch die Wertung, ob eine Aussage spontan erfolgt ist, in beiden Fällen gleich ausfallen. Der Begriff der Spontanäußerung erschließt sich vor allem durch eine Negativabgrenzung zu vernehmungsähnlichen Situationen. Diese sind, wie oben angedeutet, dadurch gekennzeichnet, daß zwar keine Vernehmung des Betroffenen erfolgt, dieser jedoch einem vergleichbaren Druck ausgesetzt ist, so daß nicht mehr von einer eigenverantwortlichen Selbstbelastung gesprochen werden kann. Die häufig schwiergige Grenzziehung läßt sich gut an einem durch den BGH entschiedenen Fall verdeutlichen649 • Der Entscheidung des BGH lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Beschuldigter hatte nach Festnahme wegen Verdachts des versuchten Totschlags gegenüber einem Polizeibeamten ungefragt erklärt, er sei es gewesen, ihm tue das leid. AufNachfrage des Beamten bekräftigte er, die Tat begangen zu haben - er bedauere lediglich, daß seine Frau noch lebe, denn er habe sie umbringen wollen. Die "Spontanäußerung" des Beschuldigten erfolgte mehr als eine Stunde nach der Festnahme, ohne daß er durch die zwei anwesenden Polizeibeamten belehrt worden war. Der Polizeibeamte, der die Aussage entgegennahm, wollte den Beschuldigten ordnungsgemäß belehren und war gerade dabei, ihm den Grund seiner Festnahme zu erläutern, als dieser die Tat gestand. Der BGH geht in Übereinstimmung mit seiner Rechtsprechung zu § 252 StP0650 davon aus, daß die allererste Äußerung des Beschuldigten außerhalb einer Vernehmung und damit spontan, d. h. "ohne Zutun des Polizeibeamten" erfolgt ist. Ob der Polizeibeamte den Beschuldigten nach Entgegennahme der "spontanen Reuebekundung" hätte belehren müssen, bevor er ihn nach deren Bedeutung befragen durfte, läßt der BGH offen, da der Verfahrensverstoß nicht von einem solchen Gewicht gewesen sei, als daß er zur Unverwertbarkeit der daraufhin abgegebenen Erläuterung fUhren müßte. Negativ formuliert geht der BGH damit zunächst zutreffend davon aus, daß fiir Spontanäußerungen auf alle Fälle dann kein Raum ist, wenn die Vernehmung des Beschuldigten bereits begonnen hat. Er legt den Begriff der Vernehmung jedoch zu eng aus, wenn er formalisierend sich allein daran orientiert, ob der Beamte bereits eine Frage an den Vernommenen gestellt hat. Dies vor allem deshalb, weil im vorliegenden Fall der Vernehmungsbeamte bereits zur Eröffnung des Tatvorwurfs angesetzt hatte. Sowohl der Wortlaut des § 136 I S. l StPO als auch dessen Zweck zeigen, daß diese Eröffnung bereits Teil der Vernehmung ist. Damit muß aber selbst eine nicht zu verhindernde Äußerung des Beschuldigten während dieser Belehrung unverwertbar sein651 • Zudem hätte der Vgl. dazu und im folgenden BGH StV 90, 194. Vgl. BGHSt 29, 230 f.; BGH GA 70, 153; StV 88, 46; NStZ 90, 95; NStZ 92, S. 247; Bay ObLG VRS 80, 205 f.; OLG Stuttgart VRS 63, 52 f. 651 Ablehnend auch Fezer, StV 90, S. 195, und Haas, GA 95, S. 230 f.; dem BGH zustimmend Ranft, Strafprozeßrecht, S. 69; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24, RN 38. 649 650

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BGH, wenn er schon einen einschränkenden formalen Standpunkt bezieht, sich dann auch dem Vorteil der klaren Bestimmtheit dieser Sichtweise unterwerfen und ein Nachfragen des Polizeibeamten ohne Belehrung als einen Verstoß gegen § 136 StPO werten müssen. Losgelöst von der Besonderheit des Falls, daß der Polizeibeamte bereits unmittelbar zur Vernehmung des Beschuldigten angesetzt hat, müssen grundsätzliche Bedenken daran angemeldet werden, daß jede (ungefragte) Äußerung des Beschuldigten außerhalb einer Vernehmung spontan und damit verwertbar ist652 • Es kann nicht richtig sein, den Polizeibeamten die Möglichkeit zu eröffnen, die Belehrung möglichst lange in der Hoffhung herauszuzögern, daß der Beschuldigte dem durch das Schweigen entstehenden Druck nicht gewachsen ist und sich bereits vor Belehrung "spontan" belastet653 • Die psychologisch anerkannte Tatsache, daß der Beschuldigte die Festnahme häufig auch als Befreiung aus einer drückenden, durch die Furcht vor Entdeckung ständig wachsenden Ungewißheit empfmdet654 und deshalb gerade bei Erstvernehmungen fOrmlieh gedrängt ist, diesen quälenden Zustand durch ein Geständnis zu beseitigen, wird häufig genug bei Vernehmungen durch eine "geständnisf()rdernde Schweigetaktik" ausgenutzt655 • Zudem ist insbesondere bei vorläufigen Festnahmen oder Festnahmen aufgrund eines Haftbefehls der Beschuldigte nicht selten davon geleitet, die Gefahr der Aufrechterhaltung der Haft abzuwenden656. Das kann 652 So filr § 252 StPO aber Gollwitzer, JR 81, S. 126; SK-Schlüchter, § 252 StPO, RN 8 m. umfangreichen N. in RN 7, 7a. Vgl. aber auch Schlüchter, Strafprozeßrecht, S. 131, wo dieser Ansatz dahingehend präzisiert wird, daß eine "erfragte" Erklärung auch dann anzunehmen sein soll, wenn der Wille des Ermittlungsbeamten erkennbar geworden ist, den "Befragten" als Beweisperson heranzuziehen. Interessant in diesem Zusammenhang die Entscheidun~ des OLG Hamburg, StV 90, 535. Die Polizei hatte in diesem Fall dem Beschuldigten Außerungen seiner Ehefrau in deren Gegenwart vorgehalten, ohne diese jedoch ausdrücklich in dessen Vernehmung einzubeziehen. Das OLG fiihrt aus, die Polizei habe damit rechnen müssen (und das sei auch der Zweck einer solchen "Gegenüberstellung"), daß der Beschuldigte den Zeu_gen zur Rechenschaft auffordert und daß der Zeuge daraufhin seine früher erfolgten Außerungen wiederholt. Deshalb hätte der Zeuge vor dem Vorhalt an den Angeklagten belehrt werden müssen. Damit stellt das OLG zu Recht nicht auf das Kriterium einer ausdrücklichen Frage ab, sondern darauf, ob die Polizei eine Äußerung zurechenbar veranlaßt hat. Gegen die Unterscheidung "gefragt I ungefragt" auch Geppert, FS filr Oehler, S. 34, dessen eigener Vorschlag, eine Spontanäußerung sei dann anzunehmen, wenn eine Angabe "eigentlich mehr beiläufig erfolgt ist", aber auch etwas willkürlich erscheint. 653 Der BGH StV 90, 194 stellt dagegen fest, daß eine Wartezeit ab Festnahme von nur wenig mehr als einer Stunde keine "unsachgemäße Verzögerung" ist. Er läßt dabei außer acht, daß bereits eine Blutprobe ohne vorherige Belehrung entnommen worden ist. 654 Glatze/, StV 82, S. 285; Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 136 f. 655 Vgl. Bender I Räder I Nack, Vernehmungslehre, I 13 f. ; Geerds, Vernehmungstechnik, S. 182 ff.; Schuber/, Die Vernehmung im Ermittlungsverfahren, S. 83 f.; dabei wird bezeichnenderweise von einem inneren Geständniszwang gesprochen. 656 Die ungewohnte Haftsituation filhrt deshalb auch häufig zu falschen Geständnissen, vgl. u. a. Dahs, Handbuch, S. 179, RN 276.

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nur dann akzeptiert werden, wenn der Beschuldigte sich in Kenntnis seiner Wahlalternativen und seiner fehlenden Aussagepflicht bewußt entschließt, sich dem einer Vernehmung per se innewohnendem Druck auszusetzen. Im Vorfeld von Vernehmungen kann es hingegen zu staatlich veranlaßten Zwangssituationen kommen, in denen es der Schutz der Aussagefreiheit gebietet, dadurch bedingte Aussagen als nicht mehr spontan und deshalb unverwertbar zu erachten. Der insbesondere durch eine vorläufige Festnahme zurechenbar verursachte Druck steht beispielsweise der Auffassung des BGH entgegen, die Aussage eines wegen Mordversuchs verdächtigen Beschuldigten, der sich gegenüber dem begleitenden Polizeibeamten auf der Fahrt zur Polizeistation ungefragt äußert, sei uneingeschränkt verwertbar, da sich dieser spontan ohne Einwirkung der Strafverfolgungsbehörden geäußert habe657 • Dies ist auch kein Widerspruch zu der oben getroffenen Feststellung, daß nicht alle Äußerungen des in Haft befindlichen Beschuldigten unfreiwillig erfolgen658 , denn zu Beginn der Haft ist der Beschuldigte unverzüglich dem Richter vorzufiihren, über den Gegenstand der Beschuldigung zu vernehmen und sachentsprechend zu belehren (§ 115 StPO). Damit wird zumindest ein gewisser Druck vom Beschuldigten genommen und dessen Entschließungsfreiheit in ausreichendem Maße gewährleistet. So zeigt auch die Praxis, daß der Verzicht auf das Recht, sich nicht zur Sache einzulassen, in aller Regel in der Zeitspanne zwischen vorläufiger Festnahme und Vorfiihrung vor den Haftrichter erfolgt659. Wenn als Lösung filr diese Fälle vorgeschlagen wird, den Vernehmungsbeginn mit der Folge einer Belehrungspflicht aus der Situation heraus zu bestimmen660, so entspricht dies dem bereits oben abgelehnten, allzu unbestimmten, weiten Vernehmungsbegriff, der sich allein daran orientiert, ob eine Äußerung staatlich veranlaßt ist. Da letztlich die Aussage des Beschuldigten schon allein durch die Anwesenheit des Polizeibeamten kausal hervorgerufen wird, müssen objektiv bestimmtere Kriterien herangezogen werden, die das Merkmal der Spontaneität auch justitiabei machen. In Fällen vorliegender Art ist die zeitliche Grenze filr die Verwertbarkeit einer ohne Belehrung gewonnen, nicht erfragten Aussage auf die Einleitung einer freiheitsentziehenden oder freiheitsbeschränkenden Maßnahme eines Strafverfolgungsorgans festzulegen. Ab diesem Zeitpunkt wissen sowohl Polizeibeamte als auch Beschuldigter, daß es, wenn auch in vielen Fällen nicht sofort, so doch in gewisser Zeit zu einer Vernehmung kommen wird. Durch die Festnahme gerät der Beschuldigte ungewollt in eine ihm ungewohnte Umgebung des Zwangs, mit der Folge, daß die ohne BelebBGH bei Dallinger MDR 70, 14. Vgl. oben Teil III, § 11 VI l. 659 Vgl. dazu auch Deckers, NJW 91 , S. 1156. 660 So Fezer, StV 90, S. 195. Ähnlich auch Geppert, FS fiir Oehler, S. 344, mit der Frage danach, ob eine "Äußerung insgesamt im Rahmen einer amtlichen Befragung gefallen ist". 657 658

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rung erfolgte Aussage fremdbestimmt und damit unverwertbar ist. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu Fällen, in denen die Aussageperson sich aufgrund eines eigenbestimmten Entschlusses an die Polizei wendet, beispielsweise das Polizeiamt betritt, um ein Geständnis abzulegen661 oder die Polizei anruft, um freiwillige Erklärungen abzugeben662 • Selbst in diesen Fällen kann nicht mehr von Spontanäußerungen gesprochen werden, wenn sich der Beschuldigte zwar auf eigene Initiative zu einer förmlichen Vernehmung auf die Polizeiwache begibt, jedoch zuvor telefonisch angekündigt hat, zum Tatgeschehen auszusagen663. Ebensowenig ist Raum filr eine spontane Erklärung des Beschuldigten, sofern dieser lediglich einer bereits unmittelbar bevorstehenden Vernehmung vorgreift und sich beispielsweise gegenüber den ermittelnden Polizeibeamten sofort nach Öffnen der Wohnungstüre ungefragt äußert664 . Die Erklärung des Beschuldigten nach Erscheinen der Polizei ist nur als Reaktion auf den durch ihr Auftreten erzielten Überraschungseffekt zu erklären und entspringt damit der besonderen Druck- und Konfliktlage einer vernehmungsähnlichen Situation. Eine Abgrenzung danach, ob in diesen Fällen der Polizeibeamte die erste Frage gestellt hat oder ob der Beschuldigte dem zuvorgekommen ist, wirkt gekünstelt und wird häufig auch nicht praktikabel sein. Statt dessen ist es sinnvoller zu fragen, ob die Äußerungen des (künftigen) Beschuldigten einen gewissen Bezug zum Ermittlungsgegenstand besitzen, der die Polizei veranlaßt hat, die Auskunftsperson aufzusuchen665 • Diese Beschränkung ist erforderlich, da in den Fällen, in denen sich der Beschuldigte zu einem Tatgeschehen äußert, das in keinem Zusammenhang mit der konkreten Ermittlungstätigkeit der Polizei steht, nicht behauptet werden kann, die Polizei habe die Äußerungen des Beschuldigten zurechenbar veranlaßt Sofern der Begriff des Ermittlungsgegenstandes weit definiert wird und bei einem unbestimmten Verdacht der Polizeibehörden alle

661 Vgl. fiir den Fall des § 252 StPO BGH NJW 56, 1886, und bei Miebach, NStZ 89, 15. Zu weit dagegen BayObLG MDR 83, S. 428, da in dem in Bezug genommenen BGH-Urteil (a. a. 0 .) der Zeuge nach Erscheinen auf der Polizeidienststelle "regelrecht vernommen" wurde. 662 Vgl. BGH NStZ 86, S. 232, NJW 80, 1533. 663 So fiir § 252 StPO, OLG Köln VRS 80, 33 f. 664 A. A. fiir § 252 StPO noch OLG Düsseldorf, NJW 68, 1840. Die sich später auf §52 StPO berufende Zeugin hatte die Polizeibeamten mit den Worten empfangen: "Das ist recht, daß ihr den Trunkenbold endlich einmal erwischt habt." Zu Unrecht wurde wegen des "spontanen Charakters" der Äußerung ein Verwertungsverbot abgelehnt. Zutreffend dagegen das OLG Frankfurt, StV 94, 118 f. In diesem Fall kam die Polizei zur Nachtzeit (22 Uhr) an die Türe der Ehefrau des Angeklagten, nachdem die Beamten zuvor von einem Tatzeugen über einen von dem Angeklagten bei einer Trunkenheitsfahrt verursachten Unfall informiert worden sind. Da hier eine Vernehmung unmittelbar bevorstand und lediglich die Ehefrau oder der Angeklagte selbst als Täter in Betracht kamen, kann es keine Rolle spielen, daß die Ehefrau der Befragung zuvorgekommen ist. 665 Vgl. dazu auch SK-Schlüchter, § 252 StPO, RN 8 f., und Rogall, vor§ 133 StPO, RN 48 f.

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von der Polizei möglicherweise ins Auge gefaßten Delikte beinhaltet, äußert der Beschuldigte sich auf eigenes Risiko, wenn er außerhalb von Vernehmungssituationen zu Straftaten Stellung bezieht, die der Polizei bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt gewesen sind. Zusammenfassend läßt sich damit als Leitlinie feststellen, daß tur "Spontanäußerungen" des Beschuldigten grundsätzlich dann kein Raum mehr ist, wenn eine Äußerung des Beschuldigten als Reaktion auf eine Strafverfolgungsmaßnahme der Strafverfolgungsbehörden erfolgt und ein entsprechender Beweiserhebungswille der Ermittlungsbehörden fUr einen mit den Umständen vertrauten Beobachter erkennbar ist666• Selbstverständlich muß sich der Polizeibeamte auch in den Fällen einer echten Spontanerklärung des Beschuldigten auf die Entgegennahme der Aussage beschränken und kann nicht, um die Gunst der Stunde zu nützen, ohne Belehrung Fragen stellen. Da alle weiteren Fragen unmittelbar der Beweiserhebung dienen, fehlt jede Rechtfertigung dafür, sie außerhalb des vorgesehenen förmlichen Rahmens zu stellen. Es dürfte auch kaum praktikabel sein, nach der Qualität der gestellten Fragen zu differenzieren und deshalb "einzelne Verständnisfragen", noch ohne Belehrung zuzulassen667• Zurückkehrend auf den Ausgangsfall einer vorläufigen Festnahme läßt sich das Fazit ziehen, daß bei vorläufiger Festnahme das gestörte Gleichgewicht durch eine Belehrung ausgeglichen werden muß, damit sichergestellt ist, daß eine Aussage das Ergebnis freier und wohlerwogener Erwägung ist. Abzulehnen sind deshalb alle Ansätze, die darauf abstellen, ob die Aussageperson ungefragt Angaben gemacht hat, denn allein aus dieser Tatsache kann noch nicht auf eine überwiegende Eigeninitiative des Aussagenden geschlossen werden668 • Auch ungefragte Äußerungen des Beschuldigten können dann unverwertbar sein, wenn sie unbelehrt und als Folge einer staatlich veranlaßten Zwangssituation abgegeben werden669. So ist es nicht richtig, wenn der BGH davon ausgeht, Äußerungen des Beschuldigten, die dieser nach Genehmigung durch den vernehmenden Polizeibeamten in dessen Anwesenheit in einer Vernehmungspause gegenüber seiner Freundin macht, seien ausschließlich auf Eigeninitiative des Beschuldigten hin erfolgt670• Man mag daran zweifeln, ob hier tatsächlich eine Vernehmung des Beschuldigten stattgefunden hat, denn die Polizei hat keinen direkten Einfluß auf den Gesprächsverlauf genommen, sondern sich statt dessen sogar vor dem Gespräch schriftlich zusichern lassen, daß der Beschuldigte lediglich über private Dinge mit seiner 666 Zu einem ähnlichen Ansatz fiir § 252 StPO bereits Sternberg-Lieben, JZ 95, S. 845 m. w. N., allerdings mit der zirkulären Beschränkung auf "unfreiwillige" Angaben und einen nach außen erkennbaren Willen des Strafverfolgungsorgans. 667 So aber Kramer, Grundbegriffe des Strafverfahrensrechts, RN 28a. 668 Vgl. für den Fall des § 252 StPO, Joachim, NStZ 90, S. 96. 669 Vgl. bereits oben Teil III, § 11 VI. 670 Vgl. BGHSt 34, 369 f. Die Vernehmung fand zudem während eines rechtswidrigen Freiheitsentzugs statt.

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Freundin reden werde671 • Spontan sind dessen Äußerungen dennoch nicht erfolgt, denn der durch die Situation verursachte Druck wirkt auch in einer kurzen Unterbrechung der Vernehmung fort. Letztlich entscheidended ist jedoch ein weiterer, durch den BGH gänzlich außer acht gelassener Gesichtspunkt, der in diesem Fall zur Unverwertbarkeit der Angaben des Beschuldigten fUhren muß. Bereits zuvor wurde darauf hingewiesen, wie wichtig das Bewußtsein um die Beweisrelevanz der Angaben und die Umstände der Beweiserhebungssituation filr eine effektive Wahrnehmung des Aussageverweigerungsrechts ist. Die zu Beginn der Vernehmung erfolgte Belehrung darf deshalb nicht dadurch entwertet werden, daß dem Beschuldigten das Gefilhl gegeben wird, er könne sich im Anschluß an oder Zusammenhang mit einer Vernehmung wie in einem Privatgespräch äußern, ohne daß dies unmittelbar der Strafverfolgung dient. Durch den Inhalt der schriftlichen Zusicherung und den Umstand, daß ihm das Gespräch vorwiegend deshalb gestattet wurde, weil er zu Beginn des ersten Vernehmungsteils andeutete, er werde nach dem Gespräch ein Geständnis ablegen, mußte beim Beschuldigten jedoch der gegenteilige Eindruck entstehen. Es ist dabei unerheblich, ob das widersprüchliche Verhalten der Polizeibeamten bereits die Schwelle des § 136a StPO überschritten hat, denn es geht hier nicht um die Frage, ob und inwieweit die Strafverfolgungsbehörden die Pflicht trifft, den Beschuldigten darauf aufmerksam zu machen, daß auch seine Äußerungen außerhalb der eigentlichen Vernehmung verwertet werden können672 . Entscheidend ist statt dessen das in § 136 StPO zum Schutze der Aussagefreiheit verankerte Gebot, selbstbelastende Äußerungen des Beschuldigten nur in förmlichen Vernehmungssituationen zu veranlassen. Wie bereits oben ausgefilhrt, erschöpft sich die "Warn- und Schutzfunktion" der Belehrung nicht darin, den Beschuldigten auf seine möglichen Verteidigungsalternativen hinzuweisen. Vielmehr wird durch die formschaffende Funktion der Belehrung der notwendige äußere Rahmen filr eine effektive Ausübung des Aussageverweigerungsrechts geschaffen. Diese schützenden Formen des § 136 StPO dürfen nicht dadurch umgangen werden, daß dem Beschuldigten im Anschluß an oder zwischen zwei Vernehmungsabschnitten das Gefilhl filr die besonderen Umstände der Gesprächssituation genommen wird.

671 Ohne Begründung geht Fezer, Fall 15, RN 52, in diesem Fall von einer Vernehmungssituation aus. Hamm, NStZ 88, S. 235, begründet dagegen die Unverwertbarkeit der Aussage mit Hilfe von 136a StPO. Die Polizeibeamten hätten sich den "vemehmungspsychologischen" Gesamtzusammenhang bewußt zunutze gemacht, was ihnen aber aufgrund der rechtswidrigen Haftsituation verwehrt gewesen sei. Ein hinnehmbares Ergebnis, das jedoch die Lösung vergleichbarer Fälle auf eine kaum faßbare Einzelfallprüfung verlagert. 672 So aher der Prüfungsmaßstab des BGH, vgl. BGHSt 34, 369 f. Ebenso die Fragestellung bei Hilland, Das Beweisgewinnungsverbot, S. 112 ff., bezugnehmend auf LG Verden, NJW 75, 950. 18*

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In diesem Zusammenhang muß auf ein weiteres Problem hingewiesen werden, das sich stellt, wenn man der aus rechtsstaatliehen Erwägungen unverzichtbaren Forderung nach einem sofortigen Vernehmungsabbruch bei Aussageverweigerung des Beschuldigten folgt. Es bleibt unklar, wann die Polizei in solchen Fällen versuchen kann, den Beschuldigten erneut zu vernehmen und ob Äußerungen des Beschuldigten verwertet werden können, die im unmittelbaren Anschluß an den Abbruch der Vernehmung erfolgt sind. Will der Beschuldigte nach Vernehmungsabbruch aus eigenem Entschluß entlastende Angaben zur Sache vorbringen, so würde es sein Recht auf Verteidigung und rechtliches Gehör verletzen, wenn die Polizei diese Angaben nicht entgegennimmt673 . Andererseits kann der bloße Ablauf einer angemessenen Frist ohne tatsächliche Veränderung der Sach- und Rechtslage es nicht rechtfertigen, den Beschuldigten erneut vernehmen zu wollen, wenn dieser eindeutig erklärt hat, nicht zur Aussage bereit zu sein674• Ebensowenig darf die Forderung nach Abbruch der Vernehmung dadurch ausgehebelt werden, daß bereits ein konkludentes Einverständnis des Beschuldigten eine Fortsetzung der Vernehmung rechtfertigen kann675 . In aller Regel sind zwar Prozeßhandlungen - wie der Verzicht auf ein bereits geltend gemachtes Aussageverweigerungsrecht - grundsätzlich formlos möglich und können deshalb auch konkludent erfolgen. Die Forderung nach einer ausdrücklichen und natürlich auch eindeutigen Erklärung des Beschuldigten folgt aber unmittelbar aus einer am Faimeßprinzip orientierten Auslegung des nemo tenetur-Grundsatzes676, die in diesem Fall zu kompensatorischen Maßnahmen zwingt, um den vielfaltigen Umgehungsmöglichkeiten fiir die Polizei klare Schranken zu setzen. So genügt etwa die im Anschluß an den Abbruch der Vernehmung gestellte Frage des Beschuldigten, "was jetzt mit ihm passieren würde"677 , nicht den dargestellten Anforderungen an einen auf Eigeninitiative beruhenden Wunsch nach erneuter Vernehmung. Der Beschuldigte will in dieser Konstellation nicht ein erneutes Gespräch über die Tat aufnehmen, sondern lediglich über die weitere Vorgehensweise der Polizei und seine rechtliche Si673 So der BGHSt 42, 173, allerdings unter Nichtbeachtung der Tatsache, daß der Beschuldigte die gegenständlichen Angaben nur nach Vorhalt gemacht hat (vgl. dazu Herrmann, NStZ 97, S. 211). 674 Anders bei grundsätzlicher Aussagebereitschaft unter der Bedingung anwaltschaftlicher Beratung, vgl. dazu Beulke, NStZ 96, S. 258m. w. N. in FN 9. 615 Vgl. zu § 136 I S. 2 2. Al. StPO auch Beulke, NStZ 96, S. 261, der aber ein konkludentes Einverständnis fiir möglich hält. Das von Beulke gebildete Beispiel - der Beschuldigte nickt auf eine entsprechende Frage des Vernehmungsbeamten - trifft allerdings nicht den Kern der Problematik. Zum einen darf der Vernehmende nach Vernehmungsabbruch keine weiteren Fragen mehr stellen, zum anderen besitzt ein Kopfnicken des Beschuldigten, im Gegensatz zu vielen anderen schlüssigen Handlungen des Beschuldigten, einen eindeutigen Erklärungswert 676 Vgl. dazu bereits oben Teil I,§ 2 IV 2. 677 Vgl. zu einem Parallelfall in den U.S.A.: Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, s. 42 f.

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tuation informiert werden. Wo im Einzelfall die Grenze zwischen Spontanäußerung und staatlich zurechenbar veranlaßter Selbstbelastung gezogen werden muß, läßt sich nicht generell, sondern nur im konkreten Fall entscheiden. Zwingend ist aber .auf alle Fälle, daß der Beschuldigte bei erneuter Vernehmung qualifiziert über die Folgen seines bisherigen Aussageverhaltens belehrt wird.

§ 13 Garantie der negativen Mitwirkungsfreiheit Der Norminhalt des nemo tenetur-Grundsatzes wird gemeinhin mit der Formel umschrieben, daß niemand gezwungen werden dürfte, gegen seinen Willen an seiner eigenen Überfilhrung mitwirken zu müssen678 • Da der Beschuldigte jedoch vielfach Zwangsmaßnahmen und Pflichten unterworfen wird, die oft erst die Dtirchfilhrung eines Strafverfahrens und damit eine Überfilhrung des Beschuldigten ermöglichen, stellt sich die Frage, inwieweit der Beschuldigte über seine Stellung als Beweismittel verfUgen kann. Im Gegensatz zur Aussagefreiheit des Beschuldigten, zu deren Schutz klare Regeln formuliert werden können und die nach Festlegung dieser Regeln zumindest innerhalb eines Strafverfahrens absolute Geltung beansprucht, ist bislang fiir die Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten noch kein Kriterium gefunden worden, das ohne Einzelfallabwägung eine überzeugende Grenzziehung ermöglicht hätte. Da der Beschuldigte auch dann Werkzeug seiner eigenen Überfiihrung ist, wenn er gegen seinen Willen gezwungen wird, seinen Körper als Beweismittel zur VerfUgung zu stellen, schützt bereits die gesetzliche Regelung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen den Beschuldigte nicht umfassend vor Zwang zu selbstbelastender Mitwirkung im Strafverfahren. So hat er beispielsweise die Pflicht, vor Gericht und Staatsanwaltschaft zu erscheinen (vgl. §§ 133 ff., 163a III, 230 I, III StPO) und bestimmte Untersuchungs- bzw. Identifizierungsmaßnahmen und eine Gegenüberstellung mit Zeugen dulden (vgl. §§ 81, 8la, 81b StPO).

I. Differenzierung nach der Handlungsqualität des erzwungenen Verhaltens Hat der Beschuldigte demnach kein umfassendes Recht, jede Mitwirkung am Strafverfahren zu verweigern, so muß er nach h. A. doch zumindest frei ent-

678 BVerfGE 56, 37 ff. (42, 49); BGHSt 42, 152 f.; Beting, Die Beweisverbote als Grenzen der Wahrheitserforschung, S. 11; Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, S. 145; Reiß, Besteuerurigsverfahren, S. 171; Rogall, Der Beschuldigte, S. 60. Diese Umschreibung ist natürlich ungenau und hängt wesentlich davon ab, ob der Begriff der Mitwirkung eng oder weit ausgelegt wird.

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scheiden können, ob er als Aussageperson in einem umfassenderen Sinne eine Beweismittelrolle übernehmen oder bloßer Gegenstand des Augenscheinbeweises sein will679• Der Gesamtheit der strafprozessualen Eingriffsermächtigungen etwa der§§ 81, 8la, 81b, 102, 133 ff., 163a III, 163b I- soll die Erwägung zugrunde liegen, daß der Beschuldigte lediglich Passivbeteiligter fst und nur zu einer von seiner subjektiven Willensentschließung unabhängigen Augenscheinseinnahme gezwungen werden kann680 . Der nemo tenetur-Grundsatz gewährt nach dieser Auffassung ein umfassendes Recht zur Passivität, das den Beschuldigten von jeder aktiven Mitwirkung bei der Durchfiihrung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen befreit und ihm lediglich passive Duldungs- und Verhaltenspflichten auferlegt681 • Die Ausgestaltung und Struktur der gesetzlichen Regelung strafprozessualer Eingriffsrechte wird dann auch von der h. A. als Hauptargument dafiir ins Feld gefiihrt, daß die Grenze zwischen erzwingbarer und nicht erzwingbarer Mitwirkung an der Linie zwischen Aktivität und Passivität verlaufen müsse. Unabhängig davon, ob das Beweisergebnis unter Inanspruchnahme des Beschuldigten gewonnen werde, sei allein entscheidend, ob sich die Beweiserhebung als ein "Geben" des Beschuldigten oder ein "Nehmen" der Strafverfolgungsbehörden darstelle682. Diese Grenzziehung ergebe sich zudem aus dem Wesen des nemo tenetur-Grundsatzes, der nicht die Aufgabe habe, die allgemeine Entschließungsfreiheit vollumflinglich abzusichern, sondern den Beschuldigten nur vor der "Zumutung einer gewissermaßen eigenhändigen Selbstbezichtigungsleistung" bewahren soll683 • Wie bereits oben aufgezeigt, läßt 679 Entgegen Grünwald, JZ 68, S. 752, beschränkt er sich im letzteren Fall jedoch nicht darauf, lediglich als Prozeßsubjekt am Strafverfahren teilzunehmen, sondern hat in beiden Fällen die Funktion eines Beweismittels. 680 BGHSt 8, 144; 14, 121; 24, 39 (45); 34, 39 (46); KG NJW 79, 1668 m. jeweils w. N.; Bauer, Die Aussage, S. 47 f.; SK-Roga/1, vor§ 133 StPO, RN 73; Eb. Schmidt, NJW 62, S. 664 f. und ders., Lehrkommentar, Band II, Nachtrag, § 136 StPO, RN 19; Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, S. 146; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 3, S. 29, RN 3; KK-Boujong, § 136 StPO, RN 10; Kleinknecht, NJW 64, S. 2187; Kleinknecht I MeyerGoßner, Ein!., RN 80; KMR-Paulus, § 81a StPO, RN 46; Kühl, JUS 86, S. 115 (118); Kramer, JR 94, S. 225; Ranft, Strafprozeßrecht, S. 149 f.; Rieß, JA 80, S. 294; Roga/1, Der Beschuldigte, S. 56; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 18, RN 11; Rüping, Das Strafverfahren, S. 87, RN 266; Schlüchter, Das Strafverfahren, RN 179. 1; Seebode, JA 80, S. 493; das Begriffspaar und die Unterscheidungskriterien der h. M. ablehnend, Lorenz, JZ 92, S. I 006. 681 BVerfGE 56, 42; SK-Roga/1, vor§ 133 StPO, RN 73; vgl. auch OLG Frankfurt StV 96,652. 682 SK-Roga/1, vor§ 133 StPO, RN 141. 683 SK-Roga/1, wie FN 1182. Ein umfassenderes Verständnis des nemo teneturGrundsatzes im Bereich der Mitwirkungsfreiheit liegt vor allem den Erörterungen von Sautter, AcP 161 (1962), S. 240 ff. insbesondere S. 249 f. (m. umfangreichen N. zum älteren Schrifttum), zugrunde: "Unter dem Gesichtspunkt des Selbstschutzes (ist es) gleichgültig, ob der Beschuldigte als handelndes oder duldendes Werkzeug zur Selbstüberfiihrung verpflichtet wird". Für eine weite Interpretation wohl auch Wolftlast, NStZ 87, S. 103 (104).

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sich das Prinzip der Freiheit von Selbstbezichtigungszwang im Strafverfahren aber lediglich in Kernbereichen durch Zumutbarkeitserwägungen begründen, während es gerade in Grenzbereichen oft willkürlich erscheint, daß ein Zwang zu Passivität dem Beschuldigten eher zugemutet werden kann als eine Pflicht zu aktivem Verhalten. Auch die Behauptung, aktive Mitwirkungspflichten seien nicht erzwingbar, mag rein formal betrachtet richtig sein684, jedoch ist es sehr wohl denkbar, filr den Fall einer Verweigerung der Mitwirkung Sanktionen vorzusehen, die den Beschuldigten in fast allen Fällen zur Vomahme aktiver Unterstützungshandlungen bewegen werden. So droht in Rechtsordnungen anderer Länder filr den Fall einer Verweigerung entsprechender Handlungen wie der Atemalkoholkontrolle die maximale Strafhöhe der entsprechenden Trunkenheitsfahrt oder ein entsprechendes Fahrverbot68s. Zudem sollte nicht außer acht gelassen werden, daß ein Rückschluß von der einfachgesetzlichen Ausprägung des nemo tenetur-Prinzips auf dessen Regelungsumfang nicht unproblematisch ist686• Oft ist im Hinblick auf die belastenden Auswirkungen auf den Beschuldigten weder ein qualitativer Unterschied zwischen Tun und Unterlassen erkennbar noch lassen sich diese beiden Handlungsformen überhaupt begrifflich klar abgrenzen687 • Verstärkt werden diese Abgrenzungsschwierigkeiten dadurch, daß die aus dem materiellstrafrechtlichen Bereich geläufige Unterscheidung nach dem Schwerpunkt des betreffenden Verhaltens688 , nicht auf das Begriffspaar Aktivität I Passivität übertragen werden kann, denn auch wenn der Schwerpunkt einer Mitwirkungspflicht auf einer Duldung des Betroffenen liegt, so läßt sich dennoch der verbleibende Rest an Aktivität nach h. A. nicht mit dem nemo tenetur-Grundsatz in Einklang bringen. Damit dürfte die begriffliche Unterscheidung der h. A. nicht mehr als ein "Appell an das Rechtsgefilhl"689 des Rechtsanwenders sein, die Grenzen erzwingbarer "Passivität" nach billigem Ermessen zu bestimmen. Wird aber im Bereich der Mitwirkungsfreiheit der Schutzbereich des nemo teneturGrundsatzes zugleich an seiner einfachgesetzlichen Ausgestaltung gemessen, so wird, wie sich beispielsweise am Tatbestand der Unfallflucht aufzeigen läßt, dem Gesetzgeber ein nicht unerheblicher Spielraum bei der Definition passiver Duldungspflichten eröffnet. Diese Problematik wurde im neueren Schrifttum durchaus erkannt, und es wurde nach Kriterien gesucht, die losgelöst von der Zu diesem Argument Eb. Schmidt, NJW 62, 664. Vgl. die Nachweise für England, Frankreich und Holland bei Geppert, FS für Spende/, S. 657 f. 686 In diese Richtung Lorenz, JZ 92, S. 1006, mit der Feststellung, der Schutzbereich des nemo tenetur-Grundsatzes sei normgeprägt und deshalb in hohem Maße von seiner unterverfassungsrechtlichen Ausgestaltung abhängig. 687 Daraufhat schon Wolfslast hingewiesen, NStZ 87, S. 104 688 V gl. dazu Jescheck I Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 603 ff. m. w. N. 689 So Jescheck I Weigend, a. a. 0 ., S. 604, zur "Schwerpunktstheorie". 684 685

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Handlungsqualität des erzwungenen Verhaltens eine begrifflich bestimmtere Eingrenzung der Mitwirkungsfreiheit ermöglichen.

II. Vollstreckungsrechtliche Erklärungsansätze: Vis compulsiva als Kennzeichen unzulässigen Zwangs 1. Unzulässigkeil einer Beeinflussung der Willensbildung

Das maßgebliche Kriterium fiir eine unzulässige Heranziehung des Beschuldigten zu Beweiszwecken ist nach Ansicht Grünwaids die Anwendung von Zwang auf die Willensbildung des Beschuldigten, infolge deren dieser selbst zu seiner Überfiihrung beiträgt690 • Eine klare Trennlinie versucht Grünwald dadurch zu ziehen, daß er nach Art des jeweils angewendeten Zwangsmittels unterscheidet und die Anwendung von vis compulsiva ebenso wie die Androhung von Übeln gegenüber dem Beschuldigten als unzulässigen Zwang zur Selbstbezichtigung definiert691 • Der Einsatz von vis absoluta soll, soweit das Gesetz dies vorsieht, im Lichte des nemo tenetur-Grundsatzes unbedenklich sein, da dem Beschuldigten bei Anwendung absolut wirkenden Zwangs die "Qual der Wahl" zwischen Mitwirkung an der eigenen Überfiihrung und Hinnahme anderer Übel erspart bleiben würde. Diese Abgrenzung nach Art des angewendeten Zwangsmittels sei durch die gesetzliche Ausgestaltung des Zwangsmitteleinsatzes gegen Zeugen und Beschuldigten vorgegeben. Besonders deutlich zeige sich dies bei der Erzwingung körperlicher Untersuchungen, denn während gegenüber dem Beschuldigten gern. § 81 a StPO nur die Anwendung unmittelbaren Zwangs in Betracht komme, werde gegenüber dem Zeugen zunächst versucht, seinen Willen mittels vis compulsiva zu beeinflussen, bevor als letztes Mittel vis absoluta nach§ 81c VI StPO eingesetzt werde. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, daß die von Grünwald vorgeschlagene Differenzierung nach Zwangsmitteln im wesentlichen auf der tradierten Unterscheidung der h. M. beruht und lediglich ein zusätzliches formales Kriterium zur Bestimmung passiven Beschuldigtenverhaltens an die Hand gibt692 • Kann der mittels des Beschuldigten zu erbringende Beweis durch vis absoluta erlangt werden, so ist schon rein begrifflich eine aktive Mitwirkung des Beschuldigten ausgeschlossen, und das so gewonnene Beweismaterial ist unabhängig von einer Grünwald, JZ 81, S. 428; zustimmend Weßlau, StV 97, S. 343. Vgl. dazu und im folgenden Grünwald, JZ 81, S. 428 f. 692 Auch Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 176, dessen Ansatz sich in Ergebnis und Differenzierungskriterium z. T. mit der Auffassung Grünwaids deckt, stellt fest, daß grundsätzlich der h. M. zu folgen sei, der StPO liege das Prinzip der Unterscheidung in unzulässige aktive Mitwirkungspflichten und zulässige passive Duldungsptlichten zugrunde. 690 691

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erzwungenen Mitwirkung des Beschuldigten beschafft worden693 • Dem Gegensatzpaar vis absoluta und vis compulsiva kann jedoch lediglich eine gewisse Indizfunktion zugesprochen werden, ohne daß sich allein aus der Art des angewendeten Zwangsmittels in allen Fällen zweifellos ergibt, ob unzulässiger Zwang zur Selbstbezichtigung ausgeübt worden ist694 • Die von Grünwald vorgeschlagene, formale, am jeweiligen Mitteleinsatz orientierte Betrachtung verkennt, daß fiir den Beschuldigten weniger die zur Durchfiihrung einer Pflicht eingesetzten Mittel als vielmehr der Inhalt entsprechender Handlungspflichten entscheidend ist. Es muß zudem auf eine weitere Schwäche einer vollstreckungsrechtlichen Betrachtungsweise hingewiesen werden. Der Gesetzgeber ist nach dieser Auffassung nicht gehindert, bestehende Duldungspflichten auszuweiten oder neue Pflichten einzufiihren, sofern die neu geschaffenen Pflichten mittels vis absoluta durchsetzbar sind. Zumindest unter dem Gesichtspunkt des nemo teneturGrundsatzes könnte damit die Beweismittelfunktion des Beschuldigten durch Schaffung von Duldungspflichten nach Gutdünken ausgedehnt werden, ohne daß dem eine verfassungsrechtlich oder strafprozessual geschützte Rechtsposition des Beschuldigten entgegenstünde. Diese Blickrichtung fördert ganz entgegen der ihr zugrundeliegenden Intention eine Betrachtungsweise, die nur danach fragt, ob filr eine Zwangsmaßnahme eine Rechtsgrundlage in der Strafprozeßordnung vorhanden ist, statt ganz unabhängig von der gesetzlichen Ausgestaltung beantworten zu können, ob durch entsprechende Befugnisse unverzichtbare Rechte des Beschuldigten eingeschränkt werden. Ein genereller Ausschluß von Einwirkungen auf den Beschuldigten mittels vis compulsiva ist auch aus praktischen Erwägungen nicht durchfiihrbar. Allein das Bestehen einer entsprechenden Rechtsgrundlage zur Ausübung unmittelbaren Zwangs ist in vielen Fällen geeignet, so viel Druck auf den Beschuldigten auszuüben, daß diesem keine andere Wahl bleibt, als sich "freiwillig" als Beweismittel zur VerfUgung zu stellen695 . So ist bei einer Vielzahl der Fälle zwangsweiser Entnahme von Blut nach § 8la I S. 2 StPO die Anwendung von vis absoluta entbehrlich, da sich der Betroffene aufgrund seiner Kenntnis der entsprechenden Duldungsverpflichtung dem Eingriff nicht widersetzt. Auf die Spitze getrieben filhrte die Auffassung Grünwaids letztlich dazu, daß die mittels vis absoluta durchsetzbaren Zwangsmaßnahmen vor ihrem Vollzug nicht angedroht werden könnten. Um durch die Androhung der jeweiligen Maßnahme keinen unzulässigen Zwang auf die Willensbildung des Beschuldigten auszuErgänzend und klarstellend insoweit Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 180. Auch nach Dencker, NStZ 82, S. 154, ist mit diesem Begriffspaar noch nicht "das letzte Wort gefunden", er befiirwortet jedoch die Einbeziehung vollstreckungsrechtlicher Erwägungen. Ablehnend auch Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 70. 695 Vgl. Paeffgen, Vorüber1egungen, S. 70. 693

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üben, müßte sofort zu deren Vollzug übergegangen und damit häufig völlig unnötig vis absoluta angewendet werden. Beispielsweise unterliegt der Beschuldigte nach allgemeiner Auffassung nicht der Editionspflicht des § 95 I StPO und muß deshalb Sachen, die zum Beweis gegen ihn verwendet werden können, nicht herausgeben oder vorlegen696• Folgerichtig ist es den Strafverfolgungsbehörden untersagt, Zwangsmittel zur Durchsetzung ihres Herausgabeverlangens anzuwenden. Unberührt davon kann aber die anstelle einer freiwilligen Herausgabe erforderliche Durchsuchung und Beschlagnahme angedroht werden, um dem Beschuldigten Gelegenheit zu geben, diese Maßnahmen durch Beibringung des gesuchten Gegenstandes abzuwenden. Die Androhung der Maßnahmen wirkt aber unzweifelhaft mittels vis compulsiva auf die Entscheidungsfmdung des Betroffenen ein, obwohl sie sicherlich im Vergleich zu einem unmittelbaren Vollzug der Zwangsmaßnahme das mildere Mittel und damit ein zwingendes Gebot der Verhältnismäßigkeit ist697 • Grünwald will diese Konsequenz nicht ziehen und ist statt dessen der Ansicht, eine Androhung müsse zulässig sein, da diese keine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Übeln schaffen würde. Der Beschuldigte steht jedoch zumindest vor der Wahl, der Androhung "freiwillig" nachzukommen und aktiv mitzuwirken, oder die entsprechende Maßnahme passiv zu dulden. Warum die Vorgabe einer entsprechenden Wahlmöglichkeit unbedenklich sein soll, vermag nicht recht einzuleuchten. Auch die Behauptung, kennzeichnend fUr eine Verletzung des nemo teneturPrinzipes sei es, daß Zwang auf die Willensbildung des Beschuldigten ausgeübt werde, ist Bedenken ausgesetzt und nicht geeignet, den Anwendungsbereich klarer zu umgrenzen. Da nach dieser Auffassung allein der Prozeß der Willensbildung geschützt werden soll, bliebe es den Strafverfolgungsorganen unbenommen, sich mittels vis absoluta das Wissen des Beschuldigten nutzbar zu machen698 . In Anbetracht des nemo tenetur-Prinzips gänzlich schutzlos bliebe der Beschuldigte nach oben genannter Auffassung auch dann, wenn seine Willensbildung nicht durch vis compulsiva beeinflußt, sondern er zu einer Selbstbelastung überlistet wird. Die Qual der Wahl, von der Grünwald spricht699, ist in Fällen der Täuschung de facto bereits ausgeschlossen, obwohl das Selbstbestimmungsrecht des Beschuldigten bei durch Täuschung erwirkter SelbstbelaVgl. LR-Schäfer, § 95 StPO, RN 5 m. w. N. Natürlich wird eine entsprechende Aufforderung nicht als Androhung bezeichnet, sondern davon gesprochen, dem Beschuldigten könne zu einer freiwilligen Herausgabe Gelegenheit gegeben werden (vgl. Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 95 StPO, RN 9; LRSchäfer, a. a. 0.). Egal wie man eine entsprechende Aufforderung bezeichnet, de facto wird Zwang auf den Beschuldigten ausgeübt. 698 Vgl. Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 180; in diese Richtung auch Dencker, NStZ 82, S. 152, der darauf hinweist, daß z.B. Psychodrogen auch dann unzulässig sein müssen, wenn sie absolut wirken und einen Zugriff auf das Wissen des Beschuldigten ermöglichen. 699 Wie FN 691 696

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stung massiver beeinträchtigt sein kann als bei Einsatz von Zwang. Der von Grünwald behauptete qualitative Unterschied besteht weder im Vergleich mit Fällen der Anwendung unmittelbaren Zwangs noch kann man generell behaupten, daß die Demütigung, Werkzeug gegen sich selbst sein zu müssen, in Fällen der durch vis absoluta erzwungenen Passivität geringer sei, als bei durch vis compulsiva aufgenötigter aktiver Mitwirkung700• Als Ergebnis der Überprüfung der von Grünwald vorgeschlagenen Differenzierung läßt sich festhalten, daß dessen Ansatz keine in sich stimmige und widerspruchsfreie Grenzziehung ermöglicht. Die Frage, ob eine Zwangsmaßnahme gegen den Beschuldigten auch mittels vis absoluta durchsetzbar ist, kann lediglich als negatives Abgrenzungsmerkmal dienen. Falls eine Vollstreckung mittels unmittelbaren Zwangs nicht möglich sein sollte, ist in jedem Fall eine aktive Mitwirkung des Betroffenen erforderlich. Daraus folgern zu wollen, die Anwendung von vis absoluta sei bei entsprechender gesetzlicher Duldungspflicht unbedenklich, ist ein zweifelhafter Umkehrschluß. 2. Differenzierung nach dem Handlungserfolg: Unzulässigkeif eines Zugriffs aufdas Wissen des Beschuldigten

Auch fiir Reiß ist die Anwendung von vis absoluta im Gegensatz zur Anwendung von vis compulsiva unbedenklich, da der Schutz vor Selbstbelastung nach der Regelung der StPO dort seine Grenzen finde, wo die Strafverfolgungsbehörden unabhängig von einem Verhalten des Beschuldigten den Beweis seiner Schuld fUhren können701 • Es mute auf den ersten Blick vielleicht etwas seltsam an, daß die Strafverfolgungsbehörden nach dieser Auffassung auf die häufig schwerer wiegende Zwangsform der vis absoluta beschränkt sei, dies erkläre sich jedoch aus der Geschichte des Strafprozesses. In bewußter Abkehr von Beweismethoden des Inqusitionsverfahrens seien die Strafverfolgungsorgane nunmehr gehalten, den Beweis der Schuld ohne eine Mitwirkung des Beschuldigten zu fUhren, wenn diese ihrerseits nicht mittels vis absoluta erzwingbar wäre. Die aufgezeigte Differenzierung entspreche deshalb der grundlegenden Idee des reformierten Strafprozesses, der Beschuldigte habe die Stellung eines nicht in Anspruch zu nehmenden Gegenspielers702• Entscheidend sei allerdings nicht, wie von Grünwald vorgebracht, der Eingriff in den Prozeß der Willensbildung, sondern die Grenze fiir eine zulässige Zwangsausübung unter dem Gesichtspunkt des nemo tenetur-Prinzips verlaufe 700 So auch Wolfs/ast, NStZ 87, 104; insgesamt Kritik übend an einer Argumentation die auf ein vermeintliches Plus-Minus-Verhältnis zwischen den einzelnen "Zwangs"maßnahmen abstellt, Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 70. 70 1 Vgl. dazu und im folgenden Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 179 f. 702 So bereits Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip, S. 36.

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dort, wo der Beschuldigte nicht als Augenscheinobjekt in Anspruch genommen, sondern als Wissensträger zwangsweise veranlaßt werden soll, sein Wissen der Strafverfolgung zur Verfilgung zu stellen. Die vollstreckungsrechtliche Betrachtungsweise erflihrt damit insoweit eine Ergänzung, als ein zwangsweiser Zugriff auf das Wissen des Beschuldigten auch dann unzulässig sein soll, wenn es gelingen sollte, ihm dieses Wissen ohne jedes aktive Tun seinerseits, mittels vis absoluta zu entreißen703 . Soweit Reiß mit dieser Unterscheidung den Charakter des nemo teneturGrundsatzes als Informationsverfilgungsrecht hervorhebt, ist ihm bereits oben widersprochen worden. Auch auf die im wesentlichen auf rechtshistorischen Erwägungen beruhenden Ausfi.ihrungen zur Stellung des Beschuldigten im Strafj>rozeß muß hier nicht erneut eingegangen werden, da sie nur bedingt geeignet sind, die Gegenwartsfunktion des Prinzips zu verdeutlichen. Allerdings weist der Ansatz von Reiß insofern in die richtige Richtung, als er den Blick weniger auf die Handlungsqualität der erzwungenen Selbstbelastung als auf den mit dieser Handlung verbundenen Erfolg lenkt. Über ersteres läßt sich sicherlich trefflich streiten und es wird in diesem Punkt auch zukünftig kein bestimmteres Kriterium gefunden werden können. Verbindet man aber die tradierte Unterscheidung der h. A. mit dem eingetretenen Selbstbelastungserfolg, so wird dem Interesse des Beschuldigten an effektiver Verteidigung weitaus besser Rechnung getragen. Führt man den Ansatz von Reiß fort, so wird man eine Mitwirkungshandlung dann filr "absolut" geschützt erachten können, wenn ihr, wie im folgenden noch darzulegen sein wird, Aussagequalität oder zumindest ein eigenständiger Beweiswert zukommt. In den darüber hinausreichenden Randbereichen spricht dagegen vieles dafilr, dem Beschuldigten auch ein gewisses Maß an Aktivität abzuverlangen, sofern dadurch ein schwerwiegenderer Eingriff von ihm abgewendet werden kann. Nur in dem letzteren, in seiner Bedeutung wohl deutlich überschätzten Bereich kann man tatsächlich davon sprechen, daß der Zumutbarkeitsgrundsatz und damit aber letztlich Verhältnismäßigkeitserwägungen - die Grenzen zulässiger Selbstbelastungspflichten beeinflußt. Daß die Trennung der h. A. zwischen Aktivität und Passivität in Randbereichen auf Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit beruht und deshalb die hier vorgeschlagene Aufspaltung des Schutzes der Mitwirkungsfreiheit durchaus sinnvoll ist, läßt sich auch an der einfachgesetzlichen Ausgestaltung strafprozessualer Mitwirkungspflichten aufzeigen.

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Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 178.

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III. Die Stellung des Beschuldigten als Augenscheinobjekt im Rahmen von §§ 81 und 81a StPO I. Die Pflicht zur Duldung der Beobachtung(§ 81 StPO)

§ 81 StPO gestattet es, den Beschuldigten zur Vorbereitung eines Gutachtens über seine Schuld- oder Verhandlungsflihigkeit in ein psychiatrisches Krankenhaus zu verbringen. Auch § 81 StPO wird allgemein so verstanden, daß der Beschuldigte sich völlig passiv verhalten könne, denn das Gesetz erlaube nur ein "Beobachten" und lege ihm keinerlei Handlungspflichten auf04 • Der Wortlaut und die daraus folgende Beschränkung der Eingriffsmöglichkeiten nach § 81 StPO wird in Verbindung mit der Regelung des § 81 a StPO dafiir angefiihrt, daß die Struktur der strafprozessualen Zwangsvorschriften auf der Anerkennung der Willensfreiheit des Beschuldigten in seiner Entschließung zu aktivem Tun basiert705 . Überzeugend ist dies jedoch nicht, denn würde man tatsächlich die Freiheit des Beschuldigten vor Zwang zur aktiven Mitwirkung ausnahmslos respektieren, so müßte bei dessen Weigerung zur Mitwirkung die Unterbringung wegen fehlender Möglichkeit der Zweckerreichung unzulässig sein706• Auch die bloße Beobachtung des Beschuldigten ist doch nur dann sinnvoll, wenn dessen aktives Verhalten, d.h. dessen sozialer Umgang mit anderen Anstaltsinsassen und Pflegern sowie sein sonstiges Verhalten während der Unterbringung durch einen Sachverständigen begutachtet wird. Nun läßt sich natürlich argumentieren, der Beschuldigte werde ja nicht gezwungen, bestimmte Handlungen vorzunehmen, sondern er könne sich ebenso auf Nichthandeln, d. h. völlige Passivität beschränken. Abgesehen von der Tatsache, daß dies bei einer bis zu sechs Wochen dauernden Unterbringung nicht zurnutbar und aufgrund der vielfliltigen und zugleich notwendigen Sozialkontakte kaum durchfuhrbar ist, läßt sich diese Auslegung auch nicht mit der Lösung der Parallelproblematik, bei Weigerung des Beschuldigten an einer explorativen Befragung mitzuwirken, vereinbaren. So geht die Rechtsprechung davon aus, daß die Anordnung der Unterbringung zur Feststellung der Schuldflihigkeit des Angeklagten aufzuheben ist, wenn eine Begutachtung ohne Explorationsmöglichkeit nicht erfolgen kann, der Angeklagte zu einer Mitarbeit, d. h. zu einem Gespräch jedoch nicht bereit ist707• Die An704 V gl. nur Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 81 StPO, RN 2; Rogall, Der Beschuldigte, S. 55 m. w. N. 705 Vgl. Eb. Schmidt, NJW 62, S. 665; Rogall, Der Beschuldigte, S. 54 ff. 706 Zur Unzulässigkeil der Unterbringung bei fehlender Autklärungsmöglichkeit, vgl., LR-Dahs, § 81 StPO, RN 13. 707 So und im folgenden OLG Celle StV 85, 224; 87, 519; 91, 248. Zustimmend Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 81 StPO, RN 20.

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ordnung sei vor allem deshalb aufzuheben, weil allein die Möglichkeit, daß der Angeklagte während der Dauer seines stationären Aufenthalts nicht nur schweigt, sondern u. U. mit Patienten, Pflegern und Ärzten redet, nicht ausgenützt werden dürfe. Wertet man diese Vorgehensweise zu Recht als unstatthafte Einwirkung auf die Aussagefreiheit des Beschuldigten, so schließt sich zwangsläufig die Folgefrage an, warum es auf der anderen Seite zulässig sein soll, daß die mit der Unterbringung verbundene Zwangswirkung zur Begutachtung aktiver Handlungen des Beschuldigten ausgenutzt werden darf. Ob eine entsprechende Begutachtung aus präventiven Erwägungen zulässig ist, kann hier dahingestellt bleiben. Bei vollständiger Mitwirkungs- und Aussageverweigerung des Beschuldigten wird man aber wohl von einer Unzulässigkeil der Begutachtung nach § 81 StPO auszugehen haben. 2. Die Pflicht zur Duldung körperlicher Untersuchungen(§ 8la StPO) Auch im Rahmen des § 8la StPO wird die gängige Unterscheidung in Duldungs- und aktive Mitwirkungspflichten keinesfalls konsequent eingehalten. Zur Feststellung verfahrenserheblicher Tatsachen gestattet§ 8la StPO die Untersuchung des Beschuldigten, die Entnahme von Blutproben und die Vornahme anderer körperliche Eingriffe. Nach fast einhelliger Auffassung kann der Beschuldigte jedoch nicht zu einer aktiven Beteiligung an der Untersuchung gezwungen werden708 • Insbesondere ist er nicht verpflichtet, Fragen des Untersuchenden zu beantworten709, sich Prüfungen zu unterziehen oder sonstige, eine aktive Mitwirkung erfordernde Tätigkeiten vorzunehmen710• So kann der Beschuldigte weder dazu verpflichtet werden, sich einem Alkoholtest mittels eines Prüfröhrchen zu unterziehen711 , an einem Belastungs-EKG mitzuwirken712, die Knie zu beugen, die Arme auszustrecken oder Gehproben vorzunehmen713 . Auf den ersten Blick erscheint es, als ob sich Praxis und Literatur tatsächlich genau an der Grenzlinie zwischen Aktivität und Passivität orientieren und dem Beschuldigten lediglich die Pflicht zur Duldung des Augenscheins auferlegen. Am 708 Dahs I Wimmer, NJW 60, 2219; Geppert, DAR 80, 318 und ders., FS filr Spende/, S. 659; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 81a StPO, RN 10 f.; LR-Dahs, § 81 a StPO, RN 20 f.; Jagusch I Hentschel, Straßenverkehrsrecht, § 8la StPO, RN 4; OLG Düsseldorf, JZ 88, 984; ablehnend Sautter, AcP 161, 215 ff., der§ 81 a StPO auch bei dieser Auslegung in Widerspruch zum nemo tenetur-Prinzip sieht. Von Sax in: Rettermann I Nipperdey I Scheuner, IIII2, S. 983 ff. wird § 81a StPO insgesamt wegen mangelnder Bestimmtheit filr verfassungswidrig gehalten. 709 OLG Hamm, NJW 74, 713. 710 BGH VRS 39, 185; OLG Hamm, NJW 67, 1524. 711 BGH VRS, 39, 185; Bay ObLGSt 63, 16; OLG Schleswig VRS 30, 344. 712 Schleswig NStZ 82, 81. 713 OLG Hamm, NJW 67, 1524; Dahs I Wimmer, NJW 60, 2220.

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Beispiel eines der häufigsten Anwendungsflille von § 81a StPO, der Entnahme einer Blutprobe zur Feststellung der Blutalkoholkonzentration beim Beschuldigten, läßt sich hingegen aufzeigen, wie wenig eindeutig und klar die Grenzziehung der h. A. ist, und wieweit sie aufgrund praxisbedingter Erwägungen Einschränkungen der oben aufgezeigten Grundsätze zuläßt. Stellt die Polizei einen alkoholverdächtigen Verkehrsteilnehmer, so fordert sie ihn auf, sich einem Röhrchen-Test zu unterziehen und veranlaßt im Fall eines verdachtsbegrtlndenden Ergebnisses oder einer Mitwirkungsverweigerung des Beschuldigten die Entnahme einer Blutprobe. Nach der Entnahme der Blutprobe befragt der ermittelnde Polizeibeamte den Beschuldigten nach seinen Personalien, seiner Alkoholgewöhnung und seinem vorangegangenen Alkoholkonsum. Auch der untersuchende Arzt erhebt ohne weitere Belehrung der sinnlichen Wahrnehmung zugängliche Feststellungen über den Gemüts- und Gesundheitszustand des Beschuldigten, befragt diesen über seine Krankheitsgeschichte und veranlaßt ihn zu weitergehenden, eine aktive Mitarbeit erfordernden Tests714 • Die dadurch ermöglichten Feststellungen bilden zusammen mit einer Vernehmung des Sachverständigen innerhalb der Hauptverhandlung sehr häufig die filr eine Verurteilung des Angeklagten entscheidende und oft auch einzige Beweisgrundlage. Diese weitverbreitete Praxis läßt sich nur schwerlich mit einer Begrenzung auf Zwang zur passiven Duldung vereinbaren. Angesichts dessen, daß der Beschuldigte zu keinerlei Mitwirkung verpflichtet sein soll, mutet es zudem seltsam an, wenn die einhellige Auffassung davon ausgeht, er sei zur Vornahme der erforderlichen Vorbereitungsmaßnahmen fiir eine Untersuchung verpflichtet. So soll der Beschuldigte die Pflicht haben, zur Polizeiwache mitzugehen715 , seine Ärmel hochzukrempeln, sich filr die Untersuchung zu entkleiden und die erforderliche Körperhaltung einzunehmen716, obwohl dabei unzweifelhaft eine aktive Mitwirkung des Beschuldigten verlangt wird, die im Gegensatz zu den übrigen, mit einer Blutentnahme verbundenen Tests auch jederzeit ohne ein positives Tun des Beschuldigten durch vis absoluta erzwungen werden könnte. Auch wenn diese Unterscheidung im Rahmen der von der h. L. getroffenen Grenzziehung kaum erklärbar ist, mag sie dennoch insoweit zu rechtfertigen sein, als es im Regelfall verhältnismäßig und weniger einschneidend ist, wenn der Beschuldigte diese Handlungen selbst vornimmt, als wenn er z. B. gewaltsam entkleidet werden müßte. Da im Falle einer Mitwirkungsverweigerung die entsprechende Maßnahme gleichwohl gegen den Willen des Beschuldigten erzwingbar und eine Beweiserhebung damit auch bei dessen völlig passivem Verhalten erVgl. die Darstellung bei Dahs I Wimmer, NJW 60,2217 m. w. N. LG Düsseldorf, NJW 73, 1931 . 716 Geppert, DAR 80, 318; LR-Dahs, § 81a StPO, RN 17; Schlüchter, Das Strafverfahren, RN 179. 2 m. jeweils w. N. Ablehnend u. a. Seebode, JA 80, S. 494. 714

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möglicht werden kann, müßte die Entscheidungsfreiheit des Beschuldigten auch dann nicht weitergehend eingeschränkt werden. Wahrscheinlich aus kostenrechtlichen Erwägungen wird gleichwohl davon ausgegangen, der Beschuldigte handle rechtswidrig, "wenn er sich durch passives Verhalten dieser Verpflichtung entziehen" will717 . Bedenklich ist ferner die auch im neueren Schrifttum zu beobachtende Tendenz, den Kreis der ärztlich indizierten Vorbereitungs- und Begleithandlungen weit zu fassen und den Beschuldigten auch zu solchen Mitwirkungen zu verpflichten, die der Arzt "üblicherweise"718 von seinen Patienten zu fordern berechtigt ist719 • Auch wenn dieser extensiven Auslegung von § 8la StPO z. T. heftig widersprochen wird720, verdeutlicht sie doch, daß sich allein unmittelbar aus dem Wortlaut oder dem Sinn und Zweck der Vorschrift keine Beschränkung auf passive Duldungspflichten entnehmen läßt. So wurde argumentiert, es könne nicht Sinn und Zweck des Gesetzes sein, "wesentliche Zugehörigkeiten jeder ärztlichen Untersuchung auszuschalten", denn die u. U. auch im Interesse des Beschuldigten liegenden Untersuchungen seien vollständig ohne dessen aktive Mitwirkung überhaupt nicht durchfilhrbar721 • Gerade im Bereich der Feststellung relativer Fahruntüchtigkeit bilden die mit einer Blutentnahme verbundenen Begleituntersuchungen oft die einzige Möglichkeit, dem Beschuldigten eine alkoholbedingte Fahruntauglichkeit nachzuweisen. Sie werden deshalb in der Praxis häufig ohne weitere Prüfung als Grundlage der Verurteilung übernommen722. Eine erweiternde Auslegung von § 8la StPO erscheint deshalb unter Praktikabilitätserwägungen nur verständlich und so findet man in vielen Kommentierungen zu § 81 a StPO immer wieder eine Ausdehnung der passiven Duldungspflichten auf aktive Mitwirkungshandlungen, soweit im Rahmen einer Untersuchungsmaßnahme die Mitwirkung des Beschuldigten unerläßlich ist, um einen bestimmten Untersuchungserfolg herbeiftlhren zu können723 • Andererseits werden auch dem äußeren Anschein nach passive Verhaltensweisen in den Schutzbereich der Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten einbezogen, sofern dies nach wertender Gesamtbetrachtung geboten zu sein scheint. Warum beiLG DüsseldorfNJW 73, 1931. Hervorhebung des Verfassers. 719 So etwa Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 8la StPO, RN 12, unter Berufung auf OLG Harnrn, NJW 68, 1202 und OLG Köln, NJW 62, 692, obwohl auch dieser davon ausgeht, der Beschuldigte könne zu keinerlei aktiver Beteiligung gezwungen werden. Ebenso Geppert, FS für Spende/, S. 660 und S. 664, FN 35. 720 Eb. Schmidt, NJW 62, 664 f.; Geppert, DAR 80, 318; Roga/1, Der Beschuldigte, S. 56. 721 OLG Köln, NJW 62, 692. 722 Dahs I Wimmer, NJW 60, 2219; vgl. nur OLG Harnrn, BA 80, 171 . 723 Diese Grenzziehung wird z. B. vorgeschlagen von Klinkhammer I Stürmann, DAR68, 43. 717 718

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spielsweise die zwangsweise Verabfolgung von Brechmitteln, um Betäubungsmittelportionen zu erhalten, die der Beschuldigte bei seiner Festnahme verschluckt hat, gegen den "Grundsatz der Passivität" verstoßen soll, bleibt in einer Entscheidung des OLG Frankfurt weitgehend unbegründet724 . Es ist jagerade Ziel der Verabreichung brechreizauslösender Mittel, daß der Betroffene unter Ausschaltung seiner Willenssteuerung zur Duldung der Preisgabe der verschluckten Beweismittel gezwungen wird. In strafrechtlichen Kategorien müßte dem Vorgang aus Sicht des Beschuldigten sogar jegliche Handlungsqualität abgesprochen werden. Entscheidend sind damit auch in diesem Fall Verhältnismäßigkeitserwägungen, die im Ergebnis zu einer Unverwertbarkeit der so erlangten Beweismittel führen müssen725 • 3. Die Pflicht zur Duldung der Gegenüberstellung

Wie wenig aussagekräftig das Begriffspaar Aktivität I Passivität ist, zeigt sich schließlich besonders deutlich bei der Diskussion der rechtlichen Grenzen von Identifizierungsgegenüberstellungen726• Auch hier wird vorgebracht, der Beschuldigte sei in seiner Entscheidung zur aktiven Mitwirkung frei und deshalb nicht verpflichtet, bestimmte Körperbewegungen und Gesten nachzuvollziehen127. Er müsse sich lediglich- selbst dann, wenn er jede Einlassung zur Sache verweigere - von Zeugen in Augenschein nehmen lassen728 • Die meisten Gegenüberstellungen gegen den Willen des Beschuldigten sind jedoch im Grenzbereich zwischen Aktivität und Passivität angesiedelt. So hatte das Berliner KG keine Bedenken, daß eine einwandfreie Betrachtung des sich heftig wehrenden Beschuldigten durch Anziehen von Knebelketten und Ziehen an den Haaren ermöglicht wurde729 . Einen Verstoß gegen das nemo tenetur-Prinzip hat das KG ausdrücklich verneint, denn der Beschuldigte habe nicht das Recht, 724 V gl. StV 96, S. 651 ff. Der Sachverhalt, insbesondere die menschenwürdeverachtende Vorgehensweise der Ermittlungsbeamten, spricht allerdings eindeutig fur ein unmittelbar aus Art. 1 I, 2 I GG abzuleitendes Verwertungsverbot Nur so läßt sich auch erklären, warum die beschlagnahmten Drogenpäckchen unverwertbar sind, obwohl sie unzweifelhaft rechtmäßig auf "natürlichem Wege" erlangt werden hätten können. 725 Darauf stützt sich auch im wesentlichen die Begründung des OLG Frankfurt, vgl. StV 96, S. 653 f. 726 Trotz der erheblichen Konsequenzen fur die Anordnungskompetenz soll hier nicht näher auf die Frage eingegangen werden, inwieweit die Gegenüberstellung ihre Rechtsgrundlage in§ 58 II, § 81a oder§ 81b StPO hat, vgl. dazu u. a. BVerfDE 47, 251; Burgdorf I Ehrentraut I Lesch, GA 87, S. 106 m. w. N. und Grünwald, JZ 81, S. 424 ff. Vgl. auch die Nachweise bei Kleinknecht I Meyer-Goßner, §58 II StPO, RN 9. 727 Odenthal, Die Gegenüberstellung, S. 83. 728 Vgl. BGHSt 34, 49; KG NJW 79, S. 1668; Roga/1, Der Beschuldigte, S. 57. 729 KG NJW 79, 1669; JR 79, 347 ff.; BGH Ermittlungsrichter, Beschluß v. 11. 5. 1977 zit. nach Grünwald JZ 81,523.

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durch aktives Verhalten den Zweck der Gegenüberstellung zu vereiteln. Versuche dieser, durch Schneiden von Grimassen, Schließen der Augen oder Senken des Kopfes eine Identifizierung zu verhindern, müsse aus § 58 II StPO zwangsläufig auch die Befugnis fUr Maßnahmen folgen, die zur Vorbereitung der Gegenüberstellung unerläßlich sind730• Die Differenzierung des KG ist heftig kritisiert worden. Im Schrifttum wurde hervorgehoben, daß die Beschuldigten in den genannten Fällen nicht lediglich zur Aufgabe rechtswidrigen Widerstandes gegen eine ihnen obliegende Duldungspflicht, sondern zur Einnahme einer vorgegebenen Körperhaltung und eines bestimmten "normalen" Gesichtsausdrucks und damit zu einem aktiven Verhalten gezwungen worden731 • Diese Kritik ist insoweit zutreffend, als mit der Fragestellung, ob hier dem Beschuldigten ein aktives oder passives Verhalten aufgenötigt wurde, kein eindeutiges Ergebnis erzielbar ist. Je nach Blickrichtung läßt sich ein und dieselbe Situation sowohl als erzwungene Aktivität als auch als Passivität deuten. Es ist allerdings nicht recht einzusehen, warum auch die Kritiker der Kammergerichtsbeschlüsse davon ausgehen, es sei erlaubt, das Senken des Kopfes und das Abdrehen des Körpers "in den Grenzen personeller Angemessenheit'' zu unterbinden732, ja daß sie es fUr zulässig erachten, dem Beschuldigten eine ganz bestimmte Körper- und Kopfhaltung aufzunötigen733 • Soll durch das Anziehen von Knebelketten deshalb Passivität zu Aktivität werden, weil die Zwangsanwendung mit einer vielleicht größeren Schmerzempfindung verbunden ist als andere Formen der Gewaltanwendung, und der Beschuldigte durch den Schmerz bereit ist, dem Wunsch nach Duldung der Gegenüberstellung nachzukommen734? Das überzeugt schon deshalb nicht, weil der Beschuldigte nicht nur bei Zwangsanwendung, die mit Schmerzempfindung verbunden ist, zum willenlosen Objekt staatlichen Zwangs gemacht wird735 • Es

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73 KG JR 69, 348. Die weitergehende Behauptung des 4. Senats des KG, daß der nemo tenetur-Grundsatz selbstverständlich nicht ftlr Maßnahmen gelte, die zur "Vorbereitung" der Gegenüberstellung unumgänglich sind, überzeugt bereits deshalb nicht, weil diesen Maßnahmen- anders als in gewissen Fällen des§ 81a StPO- bereits unmittelbare Beweisbedeutung zukommt und damit nicht mehr von einem lediglich vorbereitenden Charakter gesprochen werden kann. 731 Im Schrifttum wird überwiegend davon ausgegangen, daß hier aktives Verhalten erzwungen worden ist, vgl. u. a. die Kritik von Grünwa/d, JZ 81, S. 428; Kühne, Strafprozeßlehre, RN 239; Odentha/, Die Gegenüberstellung, S. 83 ff.; SK-Roga/1, vor § 133 StPO, RN 73 m. w. N.; Wolfs/ast, NStZ 87, S. 103. 732 Vgl. Odentha/, Die Gegenüberstellung, S. 85. 733 So Grünwald, JZ 81, S. 428, als Folge seiner noch zu erörternden, vollstreckungsrechtlichen Betrachtungsweise. Der Beschuldigte könne jedoch nicht am Verzerren des Gesichts und am Schließen der Augen gehindert werden (S. 429); zustimmend Kühne, Strafprozeßlehre, RN 239. Vgl. auch Roxin, Strafverfahrensrecht, § 33, RN 17. 734 So Grünwa/d, JZ 81, S. 428. 735 So aber Odenthal, NStZ 85, S. 435 m. w. N.; vgl. auch ders., Die Gegenüberstellung, S. 84: Der Widerstand könne "nur durch Ausübung von Zwang auf die Entschlie-

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ist gerade Kennzeichen einer durch vis absoluta erzwungenen Körperhaltung, daß dabei der Wille des Betroffenen völlig ausgeschaltet wird736 • Der einzige Unterschied besteht darin, daß bei Anwendung von vis absoluta, die nicht mit einer Schmerzempfindung verbunden ist, im Gegensatz zur Zufilgung körperlicher Schmerzen in aller Regel kein Willensbildungsprozeß des Betroffenen einsetzen kann. Ein eindeutiges Ergebnis läßt sich in den gewählten BeispielsflUlen auch nicht mittels einer vollstreckungsrechtlichen Betrachtungsweise erzielen. Geht man mit der h. M. von der rechtlichen Zulässigkeit einer zwangsweisen Gegenüberstellung aus 737 , so müssen nach Grünwald auch den Zweck der Gegenüberstellung ermöglichende Maßnahmen statthaft sein, soweit diese mittels vis absoluta durchsetzbar sind. Unter Berücksichtigung dieser Grenzziehung müßten die durch den Ermittlungsrichter des BGH und das KG angeordneten Maßnahmen eigentlich problemlos zulässig sein, denn die Beschuldigten wurden lediglich mittels vis absoluta daran gehindert, den Kopf zu senken, die Augen zu schließen oder das Gesicht zu verzerren. Genau dieses Ergebnis möchte Grünwald aber nicht teilen. Nach seiner Auffassung soll es, eine entsprechende Rechtsgrundlage unterstellt, zwar zulässig sein, dem Beschuldigten durch Festhalten eine bestimmte Körper- und Kopfhaltung aufzunötigen, am Verzerren des Gesichts und am Schließen der Augen dürfe er jedoch nicht gehindert werden738 • Diese Unterscheidung vermag nicht zu überzeugen, denn bei konsequenter Verfolgung des von ihm gewählten Ansatzes müßte Grünwald eigentlich zu dem Ergebnis kommen, daß die betreffenden Zwangsmaßnahmen insgesamt zulässig sind, da mittels vis absoluta eine Duldungspflicht des Beschuldigten durchgesetzt werden soll. Das Beweis- und Verteidigungsinteresse des Beschuldigten kann aber entgegen der Auffassung Grünwaids bei Zwang zur Einnahme einer ganz bestimmten Körperhaltung wesentlich stärker betroffen sein. Das zeigt der Vergleich mit einem Urteil des BGH zur rechtlichen Zulässigkeit von Vergleichsaufnahmen nach § 81 b StPO mit dem Beschuldigten739 . Nach diesem Urteil soll es durch § 81 b StPO gerechtfertigt sein, dem Beschulßungsfreiheit gebrochen werden". Da aber selbst der Zwang, überhaupt an einer Gegenüberstellung teilnehmen zu müssen, die Entschließungsfreiheit des Betroffenen beeinträchtigt, versagt diese Argumentation im Bereich der Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten. 736 Vgl. nur RG 4, 429; Dreher I Tröndle, § 240 StGB, RN 13m. w. N. 737 Vgl. nur Kleinknecht I Meyer-Goßner, §58 StPO, RN 9 m. w. N. 738 Grünwald, JZ 81, 429. 739 Vgl. dazu und im folgenden BGH NStZ 93, S. 47. Ebenso soll es nach § 8lb StPO zul~sig sein, von dem Beschuldigten zusammen mit anderen Personen einen Videofilm herzustellen, um ihn den Zeugen zu Identifizierungszwecken vorzuspielen, obwohl dabei unzweifelhaft ein aktives Verhalten des Beschuldigten festgehalten wird. Vgl. dazu LG Berlin NStZ 89, 488; ergänzend BVerfG NStZ 84, 83 19*

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digten zum Zweck der besseren Wiedererkennungsmöglichkeit eine Strumpfmaske aufzuziehen und ihn am Tatort zu zwingen, eine Körperhaltung einzunehmen, die der Täter bei der Tatbegehung eingenommen hatte740. Im konkreten Fall mußte gegen den Beschuldigten zwar kein unmittelbarer Zwang angewendet werden, dies jedoch nur deshalb nicht, weil ihm angedroht worden war, daß die Maßnahme gegebenenfalls mit Gewalt durchgesetzt werde741 • Die Entscheidung macht deutlich, daß die in der Literatur vorgeschlagene Differenzierung zwischen Tun und Unterlassen im Ergebnis dazu filhrt, daß derjenige sich effektiver verteidigen kann, der sich mit größerem Widerstand der Durchftl.hrung einer Gegenüberstellung widersetzt742. Aus Gründen der Chancengleichheit ist es aber nicht hinnehmbar, daß der besser informierte Gewohnheitsverbrecher, der genau weiß, durch welche Handlungen er den Zweck der Gegenüberstellung vereiteln kann, eine fiir alle Beschuldigten gleichermaßen geltende Duldungspflicht unterläuft. Sieht man dies anders, müßte man, um jedem Beschuldigten das gleiche Maß an Verteidigungsrechten einzuräumen, die Mitwirkung an einer Gegenüberstellung generell von einer Zustimmung des Beschuldigten abhängig machen. Das Kammergericht hat damit in den erstgenannten Fällen zu Recht einen Verstoß gegen das nemo tenetur-Prinzip verneint, wobei natürlich zu beachten bleibt, daß das Maß der mit der Zwangsanwendung verbundenen Sehrnerzzufugung im Zusammenspiel mit dem äußerst geringen Beweiswert einer Ge-

Zustimmend u. a. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 33, RN 17. Da mutet es seltsam an, wenn der BGH davon ausgeht, der Angeklagte habe an der Herstellung der Aufnahmen freiwillig mitgewirkt (wie FN 739). In diesem Urteil findet sich zudem wieder der ergänzende Hinweis auf den "vorbereitenden Charakter" der angeordneten Maßnahmen und damit wohl implizit die Behauptung, daß fiir diese Maßnahmen der nemo tenetur Grundsatz nicht einschlägig sein kann. Von einer vorbereitenden Handlung kann jedoch nur dann gesprochen werden, wenn sie eine ausschließlich dienende Funktion hat und die entsprechende, gesetzlich zulässige Maßnahme erst ermöglicht, nicht jedoch dann, wenn sie lediglich deren Effektivität erhöhen soll (vgl. in anderem Zusammenhang auch SK-Rudo/phi, vor § 94, RN 34). Die Entscheidung zeigt darüber hinaus, daß die von Grünwald fiir entscheidend gehaltene Trennung - nur die Anwendung von vis compulsiva, nicht jedoch von vis absoluta sei durch nemo tenetur untersagt - nicht durchfuhrbar ist (vgl. JZ 81, S. 428). Jeder Anwendung von vis absoluta kann - beispielsweise wie hier durch die Androhung der Maßnahme - vis compulsiva vorausgehen, die den Beschuldigten zur Mitwirkung veranlaßt, um die Anwendung von vis absoluta abzuwenden. 742 Daß dies rein faktisch sowieso der Fall ist, zeigen die Erfahrungen des LorenzDrenkmann-Prozesses. Da es kaum möglich ist, jemanden zur Annahme eines unverstellten Gesichtsausdrucks zu zwingen, ist keine der annähernd l 00 Zeugenaussagen im Urteil verwertet worden, vgl. dazu Nöldeke, NStZ 82, S. 193. Auch dies ist ein Argument gegen die Unterscheidung der h. A. von Aktivität und Passivität, denn sobald der Beschuldigte versucht gezielt auf sich aufinerksam zu machen, ist der Beweiswert eines Wiedererkennens praktisch gleich Null (vgl. Odenthal, Die Gegenüberstellung, S. 44). Die sachgerechte Durchfiihrung einer offenen Gegenüberstellung ist damit immer von einer gewissen Mitwirkungsbereitschaft und damit Aktivität des Beschuldigten abhängig. 740 741

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genüberstellung unter diesen Umständen743 , die Durchfilhrung im Einzelfall unverhältnismäßig werden läßt. In diesem Fall ist statt einer offenen, der Weg einer verdeckten Gegenüberstellung zu wählen744• Da trotz des Widerstandes des Beschuldigten gegen die Durchfilhrung der Gegenüberstellung auf diese nicht völlig verzichtet werden kann, besteht zudem im Rahmen der Beweiswürdigung die Möglichkeit, aus dessen Weigerung nachteilige Schlüsse zu ziehen, wenn er sich im Ubrigen zum Anklagevorwurf eingelassen hae45 . Während nach zutreffender Auffassung ein Teilschweigen des Beschuldigten bei der Beweiswürdigung nicht verwertet werden darf, da dieser nur von seinem Recht Gebrauch macht, die Art und Weise und den Zeitpunkt seiner Aussage selbst zu bestimmen746 , hat er gerade kein vergleichbares Recht, den Augenschein zu verweigern. Läßt sein Verhalten bei Durchfilhrung der Gegenüberstellung den sicheren Schluß zu, daß sein Widerstand dazu dienen soll, eine Identifizierung durch den Zeugen zu verhindern, so kann dies als Indiz fUr seine Täterschaft verwertet werden. Die unterschiedliche Beurteilung des persönlichkeitsrechtsverletzenden Charakters der verschiedenen Maßnahmen vermag eine andere Differenzierung nicht zu rechtfertigen747 . Bei der Bestimmung der Grenzen der Mitwirkungsfreiheit im konkreten Einzelfall sind - im Gegensatz zur Aussagefreiheit des Beschuldigten - Einzelfallabwägungen unvermeidlich. Nur so läßt sich erklären, daß trotz der gängigen Unterscheidung zwischen Aktivität und Passivität die Zulässigkeit bestimmter Formen der Gegenüberstellung, die zwangsläufig auch ein gewisses Maß an Aktivität des Beschuldigten mitumfassen, nicht in Zweifel gezogen wird. So ist es bei Gegenüberstellungen in der Hauptverhandlung unvermeidlich, daß der Zeuge trotz Aussage- und Mitwirkungsverweigerung des Beschuldigten vielfiiltige Gelegenheit hat, dessen Gestik und Mimik zu beobachten. Durch diese "aktiven" Ausdrucksgesten wird der Zeuge gegebenenfalls in seinem Urteil über die Täterschaft des Beschuldigten bestärkt, ohne daß sich der Beschuldigte dem entziehen könnte748• Andererseits ist es dem Gericht zu Recht verwehrt, die TatVgl. dazu Odenthal, Die Gegenüberstellung, S. 44 f. und S. 85 m. w. N. Vgl. auch Nöldeke, NStZ 82, S. 193. Zur Zulässigkeit einer Beobachtung des Beschuldigten mittels eines einseitig durchsichtigen Spiegels ("venezianischer Spiegel"), vgl. auch unten Teiliii, § 13 IV 2. 745 So auch BGH v. 20. 7. 1970- 1 StR 653170, zit. nach Odenwa/d, NStZ 85, S. 434 f. mit FN 18. 746 Vgl. dazu Rogall, Der Beschuldigte, S. 250m. w. N. zur herrschenden Gegenauffassung. 747 Vgl. auch Wolfs/ast, NStZ 87, S. 104. 748 So insbesondere in den Fällen, in denen die Zuverlässigkeit einer Personenerkennung des Zeugen im Vorverfahren in der Hauptverhandlung OberprOfi werden soll (vgl. dazu und zu den verschiedenen Möglichkeiten des Wiedererkennungsexperimentes, Odenthal, Die Gegenüberstellung, S. 101 ff.). 743

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sache, daß der schweigende Angeklagte die Beweisaufuahme "mit lebhafter Mimik und Gestik" begleitet hat, im Urteil zu verwerten749• Auch in letzterem Fall wird die Beweiswürdigung lediglich auf eine Begutachtung des Angeklagten gestützt, so daß weitergehende Kriterien fiir die Unverwertbarkeit entscheidend sein müssen750• Eine sinnvolle Abgrenzung läßt sich nur dadurch erreichen, daß geprüft wird, ob diese Ausdrucksformen als Aussagesurrogate zugleich Aussagequalität besitzen. Aussagesurrogate i. d. S. sind jedoch nicht nur etwa das KopfDicken oder -schütteln auf eine Frage des Vernehmenden, sondern ebenso bestimmte Ausdruckshandlungen, wie das Erröten oder Erbleichen des Beschuldigten. Auch diese Formen der Persönlichkeitsentäußerung müssen von der Aussagefreiheit des Beschuldigten mitumfaßt sein, sofern sie aufgrund des durch sie preisgegebenen Tatwissens, an Stelle einer entsprechenden Aussage im Urteil verwertet werden können751 • Die bisher angefilhrten Fallgruppen lassen zugleich erahnen, was in Grenzfallen tatsächlich ein sinnvolles Kriterium zur Unterscheidung zwischen erzwingbaren und lediglich freiwillig vorzunehmenden Mitwirkungshandlungen des Beschuldigten sein kann. Stellt man die unabdingbare Anwesenheitspflicht des Beschuldigten bei bestimmten Formen der Beweiserhebung, und damit das staatliche Interesse an der Durchfilhrung des Verfahrens, dem Interesse des Beschuldigten an Verweigerung jeglicher Mitwirkung im Strafverfahren gegenüber, so fUhrt dies zu dem Schluß, daß dessen Interesse an effektiver Verteidigung vor allem dann schützenswert ist, wenn die jeweils geforderte Mitwirkungshandlung einen eigenständigen Beweiswert besitzt. Vgl. BGH StV 93, 458. Deshalb wohl die Ergänzung von Bauer, Die Aussage, S. 11, der zwischen einem von Aktivität getragenen Persönlichkeitsakt und einer von der Persönlichkeit des Beschuldigten abstrahierten Begutachtung seiner Person durch Dritte differenzieren möchte (ähnlich Haas, GA 97, S. 369 m. w. N., der Reaktionen des Beschuldigten Aussagequalität abspricht, wenn sie nicht gewollt und von seinem Willen nicht beeinflußt sind). Diese Unterscheidung dürfte kaum praktikabel sein, denn die Übergänge zwischen unbewußten (vgl. die Beispiele von Bauer, a. a. 0., S. 10: "Erröten, Erbleichen und Weinen") und bewußten, und damit unverwertbaren Äußerungen des Beschuldigten sind fließend. 751 Gekünstelt und nicht sachgerecht die Unterscheidung Walders, Die Vernehmung, S. 61, in Ausdruckshandlungen- etwa das In-Tränen-Ausbrechen - und Aussage bzw. Aussagesurrogate. Sie läßt sich nur durch die unterschiedlichen Möglichkeiten der Verhaltenssteuerung fiir den Betroffenen rechtfertigen, entspricht aber nicht der Stellung des Beschuldigten, der selbst entscheiden kann, inwieweit er sein Tatwissen den Strafverfolgungsbehörden preisgeben möchte. Ebensowenig kann fiir die Unterscheidung zwischen zulässiger und unzulässiger Augenscheinseinnahme entscheidend sein, ob mit einer Würdigung von Verhaltensweisen des Beschuldigten zugleich "das Unbewußte" beim Beschuldigten erforscht wird (so Haas, GA 97, S. 370, der aus dem nemo teneturPrinzip ein Verbot des Ausforschungsbeweises des Unbewußten beim Beschuldigten mittels Täuschung ableiten will und damit letztlich auch auf die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten abstellt). 749

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IV. Eigenverantwortliche Entscheidung zur Mitwirkung im Strafverfahren

I. Be/ehrungspj/icht im Rahmen der Mitwirkungsfreiheit Auch im Rahmen der Mitwirkungsfreiheit stellt sich die Frage, welche Grundvoraussetzungen erftlllt sein müssen, damit von einer freiwilligen, d. h. mit ausreichendem Verständnis von Inhalt und Bedeutung des entsprechenden Weigerungsrechts, getroffenen Entscheidung zur Mitwirkung im Strafverfahren ausgegangen werden kann. Bei Überprüfung der strafprozessualen Zwangsbefugnisse der§§ 80 ff., 94 ff. StPO muß man, im Gegensatz zum Mitwirkungsverweigerungsrecht des verwandten Zeugen, das Fehlen einer gesetzlich geregelten Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten feststellenm. Dennoch setzt nach allgemeiner Auffassung eine freiwillige Beteiligung des Beschuldigten an physischen oder psychischen Explorationen zu Beweiszwecken voraus, daß dieser zuvor über die Freiwilligkeit der Mitwirkung belehrt worden ist753 • Die Notwendigkeit einer entsprechenden Belehrung ergibt sich unschwer aus der Tatsache, daß die Kenntnis von der fehlenden Mitwirkungspflicht noch weniger verbreitet sein dürfte als das Wissen des Beschuldigten um sein Aussageverweigerungsreche54. Zwangsmaßnahmen gegen den Beschuldigten sind häufig mit der Anwendung massiven Drucks verbunden. Dadurch wird beim Beschuldigten leicht der Eindruck entstehen, generell zu einer Mitwirkung verpflichtet zu sein, insbesondere da ·ihm die feinen und häufig wenig einleuchtenden Differenzierungen zwischen Aktivität und Passivität kaum geläufig sein werden. Erschwerend kommt hinzu, daß körperliche oder psychische Untersuchungen nach§§ 81, 8la StPO durch einen Arzt vorgenommen werden, der sonst gemeinhin filr schweigepflichtig gehalten wird und dem in aller Regel ein besonderes Vertrauen entgegengebracht wird755 . Im Interesse einer effektiven Wahrnehmung von Beschuldigtenrechten bedarf es gerade in diesen vermeintlich vertrauten Situationen eines deutlichen Hinweises auf den Beweisermittlungszweck der Untersuchungen, um damit eine Formalisierung der Beweiserhebung zu erreichen. Obwohl die Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden zur Belehrung des Beschuldigten über dessen Mitwirkungsfreiheit im Grundsatz anerkannt ist, 752 Vgl. §§ 52 III, 81c III S. 2 2. HS StPO. Entgegen Roga/l, Der Beschuldigte, S. 192 f. kann aufgrund des andersgearteten Schutzzwecks und Umfangs des Weigerungsrechts aus der Existenz dieser Vorschriften nicht in einem "erst-recht-Schluß" die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten abgeleitet werden. 753 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 1628; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 8Ia StPO, RN 12;jeweils m. w. N. 754 So bereits Bauer, Die Aussage, S. 118; Rogall, Der Beschuldigte, S. 191. 755 Vgl. Arzt, JZ 69, S. 439; Bauer, Die Aussage, S. 119; Fincke, ZStW 86 (1974), S. 657.

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müssen die daraus abgeleiteten Konsequenzen als unzureichend erachtet werden. So ist nach allgemeiner Auffassung eine Belehrung nicht erforderlich, wenn der untersuchende Arzt eine Mitwirkung vom Beschuldigten verlangt, die ein Arzt "üblicherweise bei der Untersuchung von seinen Patienten fordert und zu fordern berechtigt ist"756• Bedingt durch seine Unbestimmtheit, wird der Begriff der Üblichkeit jedoch sowohl hinsichtlich Umfang als auch rechtlicher Konsequenzen nicht einheitlich ausgelegt und kann deshalb nicht filr die Frage herangezogen werden, wann eine Belehrungspflicht bei entsprechenden Untersuchungshandlungen entsteht. So wird ausgefiihrt, der Beschuldigte sei nicht zur Vomahme sonstiger Tätigkeiten verpflichtet, müsse also nicht an Gehproben mitwirken, die Knie beugen, die Arme ausstrecken oder sich zur Feststellung des Drehnach-Nystagmus herumdrehen 757 . Auf der anderen Seite wird dann aber festgestellt, daß Tests bei Blutentnahmen, wie Fingerprobe, Sichdrehen und Rombergtest, aber auch die Einnahme einer fiir die Untersuchung erforderlichen Körperhaltung als übliche Mitwirkungshandlungen ohne besondere Belehrung verlangt werden könnten758• Sollte dies dahingehend auszulegen sein, daß derartige Tests zwar nicht verlangt werden dürften, der Beschuldigte aber über die fehlende Mitwirkungspflicht nicht zu belehren sei, so ist dem auf jeden Fall zu widersprechen, "denn ein Recht, das man nicht kennt, kann man nicht ausüben"759 • Im übrigen richtet sich die Üblichkeit einer Mitwirkungshandlung nach der Art der vorzunehmenden Untersuchungshandlung, so daß abhängig von der Art der Untersuchung ein unterschiedlicher Grad der Mitwirkungsverpflichtung bestehen würde und der Beschuldigte auch dementsprechend belehrt werden müßte. Diese mit der herkömmlichen Unterscheidung von Aktivität und Passivität kaum in Einklang zu bringende Differenzierung beruht unausgesprochen auf Zurnutbarkeits- und damit Verhältnismäßigkeitserwägungen. Letztlich liegt ihr der Gedanke zugrunde, daß entsprechende Tests, beispielsweise bei der Blutprobeentnahme zur Feststellung der relativen Fahruntüchtigkeit, in vielen Fällen unerläßlich sind und, sofern man lediglich vom Schweregrad des Eingriffs ausgeht, den Beschuldigten nicht unangemessen belasten. Bei Berücksichtigung des durch den nemo tenetur-Grundsatz geschützten, spezifischen Interesses und des Zwecks des § 81 a StPO, der lediglich gestattet, daß der Beschuldigte Gegenstand des Augenscheins wird, kann dieser Unterscheidung jedoch nicht gefolgt werden. Die Grenzlinie wird vielmehr dort zu ziehen sein, 756 V gl. Alsberg I Nüse I Meyer, Der Beweisantrag, S. 490, mit Nachweisen zur Rechtsprechung in FN 463; Eb. Schmidt, NJW 62, S. 664; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 8la StPO, RN 12; LR-Dahs, § 8la StPO, RN 21; Pfoiffir I Fischer, § 8la StPO, RN 3: "Die bei einer Untersuchung üblichen Befragungen und Testungen sind zulässig"; Schlüchter, Das Strafverfahren, RN 179.2, 180. 757 Vgl. LR-Dahs, § 81a StPO, RN 20. 758 Vgl. LR-Dahs, § 8la StPO, RN 17, 21. Ebenso Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 81a StPO, RN 12m. w. N. 759 Vgl. BGHSt 12, 238.

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wo aktive Handlungen des Beschuldigten keinen unmittelbaren Beweiswert und damit keine selbstbelastende Wirkung besitzen. So kann ohne Belehrung verlangt werden, daß der Beschuldigte sich entkleidet, den Mund öfthet oder seinen Arm ausstreckt, damit ihm Blut entnommen werden kann760 • Sofern die Mitwirkungshandlung wie im Falle einer Finger- oder Gehprobe jedoch selbst Gegenstand des Beweises ist, kann sie nicht erzwungen werden und setzt deshalb fiir ihre Verwertbarkeit eine Belehrung durch die Strafverfolgungsbehörde voraus. Bei Anerkennung einer Belehrungspflicht fiir die genannten Mitwirkungshandlungen des Beschuldigten taucht zudem das Problem auf, daß sich der Zweck der Belehrung- dem Beschuldigten eine effektive Wahrnehmung seiner Rechte zu ermöglichen - in den Fällen einer Begutachtung zum Zweck der Feststellung der Fahrtüchtigkeit häufig auch bei ordnungsgemäßer Belehrung nicht erreichen läßt. Bei absoluter Fahruntüchtigkeit des Beschuldigten, d. h. einer BAK von mehr als l, l Promille, besitzt der Beschuldigte in aller Regel nicht mehr die Fähigkeit, eigenverantwortlich über die Ausübung seiner Verteidigungsrechte zu entscheiden. Die weitaus überwiegende Gegenauffassung, die davon ausgeht, ein Beschuldigter könne auch bei einer BAK von 2 Promille noch vernommen und den genannten Tests Unterzogen werden761 , zeigt, wie wenig ernst die Entschließungsfreiheit des Beschuldigten dann genommen wird, wenn dessen Mitwirkung im Strafverfahren unerläßlich zu sein scheint762• Teilweise wird weitergehend vorgebracht, § l36a StPO könne nicht die Vernehmung eines Beschuldigten verbieten, der sich selbst in den Zustand der Vernehmungsunfiihigkeit gebracht habe, denn ansonsten habe es dieser vollkommen in der Hand, "die Unzulässigkeit der Vernehmung herbeizufilhren"763 • Eine seltsam verkehrte Sicht der Dinge, denn der Beschuldigte muß ja ohnehin keine Angaben zur Sache machen und hat es deshalb auch nicht nötig, sich durch AlA. A. Rogall, Der Beschuldigte, S. 55 ff. Vgl. u. a. BGH MDR 70, 14; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § l36a StPO, RN 10 m. w. N. Kritisch Eisenberg, Beweisrecht de.r StPO, RN 643 m. umfangreichen N. und LR-Hanack, § 136a StPO, RN 28, der zu Recht darauf hinweist, daß die Willensentschließungsfreiheit bereits im Stadium vor Verhandlungsuntahigkeit des Beschuldigten beeinträchtigt sein kann. Vgl. auch OLG Köln, StV 89, 520 f. und OLG Frankfurt VRS 36,366. 762 Es mutet äußerst seltsam an, daß zwar unwiderleglich davon ausgegangen wird, der Beschuldigte könne bei einer BAK von I, I Promille kein Fahrzeug mehr führen, er aber andererseits in der Lage sein soll, die für ihn schwer übersehbare Situation der Begutachtung zu erfassen und sein Verteidigungsverhalten in dieser frühen Verfahrenssituation eigenverantwortlich selbst zu bestimmen. Erfreulich ist dagegen das Urteil des BG Meiningen, DAR 92, 393, das eine Aussage des Beschuldigten filr unverwertbar gehalten hat, weil dieser aufgrund einer BAK von zumindest 1,45 Promille nicht in der Lage gewesen sei, die Belehrung der Beamten zu registrieren und "seine Rechte effektiv wahrzunehmen". 763 So Kramer, Kriminalistik 91, S. 311. 760 761

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koholisierung einer Vernehmung zu entziehen. Ebenso falsch ist es, hier nach einem Ausgleich des Spannungsverhältnisses zwischen Individualinteressen und den Anforderungen einer ausgewogenen Strafrechtspflege zu suchen764 • Geht es um die Freiheit der Entschließung zur Mitwirkung im Strafverfahren, so muß tatsächlich ein einseitiger, die Interessen des Beschuldigten wahrender Standpunkt eingenommen und ausschließlich danach gefragt werden, ob der einzelne noch genügend Verantwortungsbewußtsein und Entscheidungsfähigkeit besitzt, die mit jeder Mitwirkung im Strafverfahren verbundenen Risiken einzuschätzen. Es ist infolgedessen ganz unabhängig von einer Verletzung des § 136a StPO zu unterbinden, daß ein Zustand des Beschuldigten ausgenützt wird, in dem dieser zu Angaben oder einer Mitwirkung bereit ist, die er nüchtern verweigert hätte. Der Gegenauffassung kann nur insofern zugestimmt werden, als sich dieses Ergebnis nicht aus § 136a StPO ableiten läßt, denn dieseNormerfaßt sowohl wegen ihres klaren Wortlauts als auch ihrer menschenwürdeschützenden Ratio nur eine Beeinträchtigung der Willensentschließungsfreiheit durch die Strafverfolgungsbehörden765. Im Gegensatz dazu setzt jedoch bereits die Verhandlungsflthigkeit des Beschuldigten dessen Befähigung voraus, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen und seine Verteidigung in verständlicher und verständiger Form zu filhren766 . Die Frage der "Belehrungsfähigkeit" des Beschuldigten wird noch deutlich unterhalb dieser Schwelle anzusiedeln sein, da sich dieser zwar dem Verfahren nicht entziehen kann, bei Durchfilhrung desselben aber die volle Freiheit über seine Entscheidung zur Mitwirkung besitzt. Man wird deshalb unabhängig von einer Verletzung des§ 136a StPO annehmen müssen, daß jenseits der Grenze absoluter Fahruntüchtigkeit sowohl Mitwirkungshandlungen des Beschuldigten als auch dessen Angaben unverwertbar sind, da der Beschuldigte außerstande ist, Inhalt und Reichweite der Belehrung über die Aussage- und Mitwirkungsfreiheit zu erfassen. 2. Beschränktes Gebot der Offenheit staatlicher Ermittlungen bei Mitwirkungsverweigerungsrecht des Beschuldigten Die im Rahmen offener Mitwirkungshandlungen des Beschuldigten geltenden Grundsätze lassen sich nicht ohne weiteres auf die Fälle einer heimlichen 764

Vgl. Hilland, Das Beweisgewinnungsverbot, S. 85.

765 Vgl. OLG Celle VRS 41, 206 f. Anders der überwiegende Teil der Literatur und

Rechtsprechung, die § l36a StPO unmittelbar anwenden, dadurch aber zwangsläufig eine restriktive Interpretation befilrworten (vgl. dazu die Nachweise bei Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 643). Abweichend Dahs I Wimmer, NJW 60, 2218. 766 Vgl. BVerfD StV 95, 618; BGH MDR 58, 141; Kleinknecht I Meyer-Goßner, Einl. RN 97 m. w. N. Die Frage der Vemehmungsflihigkeit wird dabei meist mit nach den gleichen Grundsätzen beurteilt (vgl. u.a. Neuhaus, NStZ 97, S. 312 m. w. N. in FN 3.

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Beweiserhebung durch die Strafverfolgungsbehörden übertragen. Aktualität erlangt die angesprochene Problematik durch zwei neuere Entscheidungen des BGH, die sich mit der Frage befaßten, inwieweit es zulässig sein kann, daß der Beschuldigte Gegenstand des Augenscheinbeweises ist, ohne über diese Tatsache bei der Beweiserhebung informiert zu sein767• In der ersten, durch den 3. Senat des BGH entschiedenen Fallkonstellation ist auf gerichtliche Anordnung ein Gespräch des inhaftierten Beschuldigten mit dem Leiter der Justizvollzugsanstalt auf Tonband aufgezeichnet worden, um die Art und Weise der Gesprächsfilhrung des Angeklagten durch ein auditiv-phonetisch-sprachwissenschaftliches Gutachten auswerten zu können768 . Die Aufzeichnung erfolgte im Einverständnis mit dem Justizvollzugsbeamten, jedoch ohne Wissen des Beschuldigten. Nachdem der Angeklagte die Zustimmung zu einer Aufuahme seiner Äußerungen in der Hauptverhandlung verweigert hatte, wurde die zuvor angefertigte Gesprächsaufzeichnung im Wege des Augenscheinbeweises in die Hauptverhandlung eingeführt. Der BGH widersprach in diesem Fall einer Verwertung der Tonbandaufuahme mit der Begründung, daß es unzulässig sei, das nichtöffentlich gesprochene Wort des Angeklagten außerhalb der gesetzlich geregelten Fernmeldeüberwachung heimlich auf Tonband aufzunehmen. Er stützte sich aber zugleich auf die Erwägung, daß das Verbot des Zwangs zu aktiver Mitwirkung an einer Untersuchungshandlung eines Strafverfolgungsorgans weitgehend wirkungslos würde, wenn es durch Täuschung über die Tatsache der Beweiserhebung umgangen werden könnte769• Obwohl der BGH dabei ausdrücklich auf den nemo tenetur-Grundsatz und dessen Ableitung aus Art. I I GG Bezug nahm, prüfte er dennoch die Vereinbarkeit mit den strafprozessualen Zwangsbefugnissen der§§ 81 , 8la, 8lb, 94 ff. und 100 ff. StPO. Im Rahmen dieser Prüfung stellte er trotz der Tatsache, daß ein Eingriff in den Schutzbereich des nemo tenetur-Grundsatzes im Rahmen eines Strafverfahrens gesetzlich nicht legitimierbar ist, fest, daß die Entscheidung über die Zulässigkeit heimlicher Tonbandaufzeichnungen zur Stimmidentifizierung dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben müsse770 . In der anschließenden Entscheidung des 4. Senats zeigen sich die Schwächen dieser unklaren und widersprüchlichen Argumentation des 3. Senats des BGH. Der 4. Senat erachtete es filr zulässig, daß das Tatopfer zum Zweck der Stimmidentifizierung des Täters ein Gespräch des Angeklagten mit einem Polizeibeamten mithörte, ohne daß der Angeklagte zuvor auf diese Tatsache hingewiesen 767 Vgl. BGHSt 34, 39 ff.; 40, 66. Anders als in BGH StV 94, 58 ff. und BayObLG, NJW 94, 1671 ff. wurde die Tonbandaufnahme nicht inhaltlich, sondern nur zu Zwekken des Augenscheins verwertet. 768 V gl. BGHSt 34, 39 ff. 769 V gl. BGHSt 34, 43, 45 f. 770 Vgl. BGHSt 34, 50. Der Vorgehensweise des BGH zustimmend dagegen Bottke, JURA 87, S. 360.

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wurde771 • Als Folge der inkonsequenten Bezugnahme der Ausgangsentscheidung auf das Persönlichkeitsrecht am eigenen Wort stützt der 4. Senat die abweichende Beurteilung des zweiten Falls auf die vermeintliche Besonderheit, daß bei dieser Form der Beweiserhebung keine technische Aufzeichnung des Gesprächs erfolgt ist. Diese Differenzierung überzeugt schon deshalb nicht, weil das Persönlichkeitsrecht am eigenen Wort dem einzelnen nur eine vom Charakter der Äußerung abhängige Kontrollbefugnis über den Kreis der Empfänger einer Erklärung erhalten soll772• In beiden Fällen sollte jedoch nicht der Inhalt der Äußerungen zu Beweiszwecken verwertet, sondern es sollten lediglich die sprachlichen Eigenschaften und Eigenheiten des Sprechers zu dessen Identifizierung überprüft werden773 • Selbst wenn man entgegen dem gängigen Grundrechtsverständnis davon ausgehen sollte, daß das Recht am eigenen Wort auch diese rein formalen Aspekte erfaßt, hat der BGH mit diesem Recht dennoch den falschen Prüfungsmaßstab gewählt774 . Im Gegensatz zu den vom nemo tenetur-Grundsatz erfaßten Rechtspositionen ist das Recht am eigenen Wort lediglich in seinem Wesensgehalt unantastbar und Eingriffe in dessen Schutzbereich sind, wie § I OOa StPO beweist, in Fällen schwerer Kriminalität durchaus gesetzlich Iegitimierbar775 . Die in der ersten

771 Vgl. BGHSt 40, 66 ff. Der dort geschilderte Sachverhalt spricht lediglich davon, die Zeugin habe ein "Gespräch" des Angeklagten mit einem Kriminalbeamten belauscht. Nach den oben dargestellten Grundsätzen (vgl. oben Teil III, § II) wird es sich bei diesem "Gespräch" wohl um eine Vernehmung im materiellen Sinne gehandelt haben. Der BGH läßt des weiteren auch die, wie noch zu zeigen sein wird, entscheidende Frage offen, ob der Angeklagte zuvor belehrt worden ist. Die Formulierung des BGH deutet allerdings darauf hin, daß hier keine fiirmliche Vernehmungssituation vorgelegen hat. Diese Differenzierung entgeht auch Achenbach I Perschke, StV 94, S. 579, die unterstellen, daß hier eine "ganz normale Vernehmungssituation" gegeben war. 772 Vgl. BVerfGE 34, 246 ff.; 54, 154; NJW 92, 815 f.; BayObLG, NJW 90, 198; kritisch v. Mangoldt I Klein I Starck, Grundgesetz, Band I, Art. 2 I GG, RN 68. A. A. Achenbach I Perschke, StV 94, S. 578 m. w. N. 773 Vgl. zu dieser Differenzierung Kühne, EuGRZ 86, S. 493; Meyer, JR 87, S. 215. A. A. Küpper, JZ 90, S. 420, der eine solche Trennung filr nicht durchfilhrbar hält, da auch Art und Weise sowie Satzbau und Stil des Gesprächs analysiert worden sind. Gänzlich unerörtert bleibt in BGHSt 34, 39 ff. aber auch die Tatsache, daß bei einem Eingangsgespräch mit dem Leiter einer JVA der "private Lebensbezug" fraglich erscheint. Das Vertrauen des Beschuldigten in die fehlende Verfilgbarkeit seines Wortes verdient sicherlich weniger Schutz, wenn er sich gegenüber einem Vertreter der staatlichen Strafverfolgung äußert, vgl. dazu Bott/ce, JURA 87, S. 359; Wolfs/ast, NStZ 87, S. 105. 774 Für den BGH stellt sich dieses Problematik nicht, da er von einer inhaltlichen Verwertung der Äußerungen ausgeht, vgl. BGHSt 34, 48. A. A. Bottlee JURA 87, s. 357. 115 Zur Abwägung des Rechtsam gesprochenen Wort mit überwiegenden Interessen der Allgemeinheit, vgl. BVerfGE 34, 328 ff. ; BGHSt 34, 401 m. w. N.; Nieb/er, FS filr Kleinknecht, S. 306 f.

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Entscheidung des BGH in Bezug genommenen Urteile des BVerfG776 und die durch den BGH zu beurteilende Fallkonstellation unterschieden sich aber in einem wesentlichen Punkt: Während das BVerfG nur über die Zulässigkeit der Verwertung einer heimlichen Aufzeichnung eines privaten, nicht durch die Strafverfolgungsorgane veranlaßten Gesprächs zu entscheiden hatte 777, bestand die Besonderheit der dem BGH vorgelegten Sachverhalte darin, daß sie eine staatlich provozierte Möglichkeit zur heimlichen Augenscheineinnahme zum Gegenstand hatten778 • Die Strafverfolgungsbehörden nutzten in diesen Fällen nicht einfach eine bereits vorhandene Beweismöglichkeit aus, sondern haben diese, mit Blick auf eine Einfilhrung der gewonnenen Ergebnisse in das Strafverfahren, erst geschaffen. Anzusetzen ist damit nicht vorrangig an der Frage, inwiefern das Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten einer Verwertung des Augenscheinmaterials entgegensteht. Es ist vielmehr danach zu fragen, ob nicht bereits aus der Art der Erhebung zwingend seine Unverwertbarkeit abgeleitet werden muß. Ergibt sich schon aus der den Belehrungsvorschriften zugrundeliegenden, gesetzlichen Wertung eine klare Leitlinie filr die Form einer Beweiserhebung, ist dieser Weg auf jedem Fall vorrangig zu verfolgen. Die auch in den genannten Urteilen zu beobachtende Tendenz der Rechtsprechung, auf verfassungsrechtlich begründete Beweisverwertungsverbote auszuweichen, um damit den Weg der Einzelfallabwägung filr nicht voraussehbare, künftige Fälle offenzuhalten, ist dann nicht hinnehrnbar, wenn die Wahrung fundamentaler Verteidigungsrechte des Beschuldigten zwingend bestimmte strafprozessuale Formen der Beweiserhebung erfordert779• Für die Klärung der rechtlichen Zulässigkeit einer "Stimmenfalle" ist es in Anbetracht des nemo teneturGrundsatzes jedoch völlig gleichgültig, ob die Stimme des Beschuldigten auf Tonband aufgezeichnet wird780• Die bereits in den U-Haftfällen aufgezeigte Vgl. FN 767 Vgl. BVerfGE 34,328 ff. 778 Dabei bezeichnet selbst der BGH die "gezielte Verleitung" zum unbewußten Schaffen von Anknüpfungstatsachen als einen Verstoß gegen wesentliche Strukturprinzipien des Strafverfahrens (vgl. BGHSt 34, S. 52). Diesen bedeutenden Unterschied verkennt BGHSt 14, 358 ff., denn dort stand lediglich die Verwertbarkeit eines ausschließlich durch einen privaten Dritten veranlaßten und aufgezeichneten Gesprächs in Frage. Deshalb überzeugt es nicht, wenn der BGH in dieser Entscheidung ausfUhrt, es sei ein sich u. a. aus den §§ 136, 136a StPO ergebender "Grundsatz rechtsstaatliehen Strafverfahrens, des Angeklagten Wort nicht gegen ihn selbst zeugen zu lassen". Dieser verbiete es auch, eine "unter gleichen Umständen erlangte" Tonbandaufzeichnung gegen ihn zu verwenden (vgl. BGHSt 14, 364 f.). Zumindest der Rechtsgedanke der§§ 136, 136a StPO steht- abgesehen von Fällen extremen Verstoßes gegen die Menschenwürde -wegen dessen fehlender Drittwirkung einer Verwertung in diesem Fall nicht entgegen. 779 So auch Beulke, StV 90, S. 183, der die rechtliche Zulässigkeit der "Stimmenfalle" jedoch am unzureichenden Maßstab des § 136a StPO beurteilen möchte. Vgl. auch Küpper, JZ 90, S. 421. Anders bei privater Aufzeichnung, vgl. BGHSt 36, 167, (174). 780 Zutreffend AG Freiburg, StV 88, 383. 776

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Tendenz der Rechtsprechung, die Diskussion auf "Nebenkriegsschauplätze" zu verlagern, filhrt letztlich dazu, daß nicht bereits aus der Verletzung des nemo tenetur-Grundsatzes ftlr sich genommen eine UnveJWertbarkeit des Beweismittels abgeleitet wird, sondern daß sich diese erst aus der "Summierung" zusätzlich verletzter strafprozessualer Regeln ergeben soll781 • Die StPO sieht ftlr die Erhebung eines Augenscheinbeweises unter Inanspruchnahme einer vom nemo tenetur-Grundsatz erfaßten, d. h. staatlich veranJaßten Leistung des Beschuldigten mit Beweischarakter, ganz unabhängig von der Prüfung eines Eingriffs in das Recht am eigenen Wort, grundsätzlich nur den Weg der offenen und förmlichen Beweiserhebung mit entsprechender Belehrung über die Mitwirkungsfreiheit vor782 • Die §§ 81 ff., 94 ff. StPO legen nicht nur den Umfang passiver Duldungspflichten des Beschuldigten fest, sondern sind, indem sie durchgängig eine offene Beweiserhebung vorsehen, zugleich Ausdruck staatlicher Selbstbeschränkung auf dem Weg zur Wahrheitsfindung. Deshalb ist es entgegen der Auffassung des BGH und eines Teil des Schrifttums auch nicht von entscheidender Bedeutung, ob der Beschuldigte durch eine unter§ 136a StPO zu subsumierende, ausdrückliche oder konkludente Täuschung zur Mitwirkung veranlaßt worden ise83 • Bereits unterhalb der Schwelle des § 136a StPO muß durch BeweisveJWertungsverbote abgesichert sein, daß das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung nicht dadurch umgangen wird, daß die Strafverfolgungsbehörden den Beschuldigten außerhalb fi>rmlicher Beweiserhebungssituationen zu einer Selbstbelastung veranlassen. Der Weg über§ 136a StPO muß insbesondere im Bereich der Mitwirkungsfreiheit auch als unzulänglich erachtet werden, da dieser allein die inhaltliche Auswertung von Aussagen und keine sonstigen Mitwirkungshandlungen des Beschuldigten erfaße84 • Eine Ausnahme davon ist lediglich ftlr die Fälle anzuerkennen, in denen die Mitwirkungshandlung des Beschuldigten den Charakter einer konkludenten Willenserklärung besitzt785 • Nimmt der Beschuldigte in einer VernehmungssiI. d. S. aber ausdrücklich Haas, V-Leute, S. 98. Vgl. dazu auch Denclrer, StV 94, S. 677 ff. 783 Vgl. BGHSt 34, 46; 40, 72; Achenbach I Perschlre, StV 94, S. 579 ( ; Beullre, StV 90, S. 184, und Strafprozeßrecht, RN 138. Zweifelnd, LR-Dahs, § 8lb StPO, RN 9, und ders., in: Wahrheitsfindung, S. 132. 784 So die wohl weitaus h. A. die eine Anwendung von § l36a StPO ablehnt, sofern die Beweismittel außerhalb von Vernehmungssituationen beschafft werden, vgl. BGH bei Dallinger MDR 75, 23; Alsberg I Nüse I Meyer, Der Beweisantrag, S. 482; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136a StPO, RN 4, und SK-Rogall, § 136a StPO, RN 18 ff. m. w. N. Für eine analoge Anwendung u. a. Beullre, StV 90, S. 184. 785 Die Aussage des Beschuldigten ist, sofern lediglich ihre inhaltliche Verwertung in Frage steht und sie nicht zugleich prozeßgestaltende Wirkung besitzt, als Willenserklärung und nicht als Prozeßhand1ung zu qualifizieren. Anders als im Fall der Aussageverweigerung kommt beispielsweise einem Geständnis aufgrund dessen fehlender Bin781

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tuation auf einen bewußt wahrheitswidrigen Vorhalt des Vernehmungsbeamten eine Handlung vor, durch die er sich zugleich als Täter zu erkennen gibt, so kann kein Zweifel daran bestehen, daß auch auf diese Fonn der Aussage die §§ 136, 136a StPO Anwendung fmden müssen786• Damit sollen nicht nur die Fälle angesprochen sein, in denen die Handlung des Beschuldigten lediglich Surrogat einer bestimmten Äußerung des Beschuldigten ist, so etwa wenn der Richter den Angeklagten vor Verlesung des Anklagesatzes auffordert, durch Kopfnicken oder -schütteln zu den einzelnen Anklagepunkten Stellung zu nehmen787. Für die Abgrenzung zu einfachen Mitwirkungshandlungen des Beschuldigten muß in einem weiteren Sinne ausschlaggebend sein, ob die jeweilige Handlung einen eigenständigen, tatrelevanten Erklärungswert beinhaltet. Gibt beispielsweise der zur Herausgabe eines Gegenstandes veranlaßte Beschuldigte damit zugleich zusätzliches Tatwissen preis, so ist auch diese konkludente Äußerung von den§§ 136, l36a StPO umfaßt788 • Das Merkmal der Täuschung kann zum anderen nicht jede Ausnutzung einer bereits bestehenden Irrtumslage erfassen. Man muß sich nur vorstellen, daß die vernehmende Polizei nicht von Beginn der Vernehmung an geplant hat, diese auch zum Zweck des heimlichen Stimmvergleichs auszunutzen, sondern daß der Zeuge in Unwissenheit des vernehmenden Beamten und des Beschuldigten von einem anderen Kriminalbeamten die Gelegenheit erhält, das Gespräch zu belauschen. In Anbetracht seines Rechts, die Mitwirkung im Strafverfahren zu verweigern, ist die Situation filr den Beschuldigten in beiden Fällen völlig vergleichbar. Eine Täuschung nach § 136a StPO setzt dagegen ein gewisses Maß an Finalität und einen zumindest mittelbaren psychischen Kontakt zwischen Täuschendem und Getäuschten voraus, der dann nicht mehr gegeben sein kann, wenn die Polizei lediglich eine bereits vorhandene Vernehmungssituation ausdungswirkung filr das Gericht keine unmittelbare, prozeßrechtliche Wirkung zu, vgl. dazu zutreffend Peters, Strafprozeß, § 32, S. 249; a. A. Paulus, GS filr Meyer, S. 317 m.w.N. 786 Vgl. das Beispiel bei Haas, GA 95, S. 232 f.: Die Polizei kommt in das Atelier eines des Mordes verdächtigen Berufsphotographen, der, um die Tat zu vertuschen, eine Entfilhrung vorspiegeln möchte. Er hat zu diesem Zweck einen an sich selbst gerichteten Erpresserbrief mit dem Photo seiner gefesselten Ehefrau verfaßt Greift der Photograph, nachdem der Polizeibeamte der Wahrheit zuwider erklärt hat, man habe leider diese Photographie verloren, nach einem von mehreren Photoapparaten, um das dort möglicherweise vorhandene Negativ zu entfernen, besitzt diese Handlung ebenso Aussagequalität, wie wenn der Täter dem Beamten mitgeteilt hätte, man möge diesen bestimmten Photoapparat untersuchen. Auch bei wahrheitswidrigem Vorhalt kann der Erklärungswert dieser Handlung deshalb nur nach entsprechender Belehrung verwertet werden. 787 Vgl. BGH NStZ 88, 85. Der BGH hat die vor Belehrung des Angeklagten erfolgten Gesten zu Recht als Teil der Sachaussage gewertet. 788 Vgl. dazu auch das bereits oben in Teil III, § II V geschilderte Beispiel (OLG Oldenburg StV 96, 418).

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nützt789 . Zudem erfordert eine Täuschung durch Unterlassen die Verletzung einer Aufklärungspflicht des Vernehmungsorgans. Ob diese Aufklärungspflicht auch Dritte - wie beispielsweise im Ausgangsfall den Vollzugsleiter - trifft, obwohl dieser keine Vernehmungsbefugnis besitzt, muß bezweifelt werden. Der Beschuldigte ist allerdings nicht über jede nur denkbare Möglichkeit der Verwertung einer freiwillig erfolgten Mitwirkungshandlung zu belehren. So ist dem BGH zuzustimmen, wenn er die Verwertung der Tonbandaufuahme eines Gesprächs zwischen einem Journalisten und dem Beschuldigten uneingeschränkt auch zu Zwecken der Stimmanalyse ft1r zulässig erachtet, wenn dieser zuvor sowohl über die Tatsache der Aufzeichnung als auch deren mögliche Verwendung zu Strafverfolgungszwecken belehrt worden ise90• Da zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar war, daß die Aufuahme auch zu Identifizierungszwekken verwendet werden konnte, kann weder das Täuschungsverbot nach § 136a StPO zur Begründung der Unverwertbarkeit herangezogen werden791 noch kann man überhaupt sagen, daß das Vertrauen des Beschuldigten, seine Angaben in der Vernehmung würden lediglich inhaltlich verwertet, schützenswert ist. Das aus dem Fairneßprinzip abzuleitende Gebot der Offenheit des Verfahrens gebietet es auch im Lichte des nemo tenetur-Grundsatzes nicht, den Beschuldigten vom Risiko einer nicht voraussehbaren Verwendung seines freiwillig produzierten, selbstbelastenden Beweismaterials freizustellen. Es mag zwar in Anbetracht des Persönlichkeitsrechts am eigenen Wort und wegen der nach § 201 StGB erforderlichen Eingriffsermächtigung zweifelhaft sein792, ob eine Tonbandaufzeichung auch dann noch zur Täteridentifizierung verwendet werden darf, wenn sie heimlich bei einer ansonsten ordnungsgemäßen Vernehmung des Beschuldigten erfolgt ist793 • Anders als in Fällen eines 789 Zur dieser Einschränkung des Täuschungsbegriffs, vgl. SK-Rogal/, § 136a StPO, RN 48m. w. N. 790 BGH bei Pfeiffer I Miebach NStZ 86, S. 206 f. Der BGH stützte sich dabei, allerdings nicht unumstr., auf§ 81 b StPO (vgl. dazu die Nachweise in BGHSt 34, S. 45). 791 Vgl. auch AK-Kühne, § 136a StPO, RN 42, der die Anwendung von § 136a StPO bereits deshalb verneint, weil bei Tonbandaufnahmen zur Stimmidentifizierung eine durch Inhaltsbezug gekennzeichnete Vernehmungssituation abzulehnen sei. Dieser sehr formalen Argumentation kann zumindest filr den Fall der Aufzeichnung einer Beschuldigtenvernehmung nicht gefolgt werden. 792 Zur Unvereinbarkeit mit dem Gesetzlichkeitsprinzip, vgl. SK-Rogall, § 136a StPO, RN 58 m. w. N. Da§ 168a II StPO heimliche Tonaufzeichnungen nicht gestattet (vgl. die zutreffende Argumentation OLG Schleswig NStZ 92, 400), sind diese nach derzeitiger Gesetzeslage unzulässig. Auch auf § 81 b StPO lassen sich diese nicht stützen, vgl. dazu Kramer, JR 94, S. 225m. w. N. 793 Offengelassen von BGHSt 34, 52; ablehnend LR-Rieß, § 168a StPO, RN 24; Meyer, JR 87, S. 216; SK-Rogal/, § 136a StPO, RN 58; filr zulässig erachten dies dagegen in Fällen schwerer Kriminalität KK-Paulus, § 136a StPO, RN 25 m. w. N.; KMRPau/us, § 244 StPO, RN 572. Noch weitgehender wohl AK-Kühne, § 136a StPO, RN 42. Da das BVerfG den Schutz des Grundrechts als Befugnis definiert hat, selbst zu

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privat gefiihrten Gesprächs läßt sich eine Persönlichkeitsrechtsverletzung und ein daraus folgendes BeweisveiWertungsverbot zumindest aber nicht damit begründen, es würde "die Beziehung der Menschen zueinander vergiften", wenn jeder damit rechnen müßte, daß seine Worte fixiert und später hervorgeholt werden können, um als Beweismittel gegen ihn veiWendet zu werden794 • Es ist gerade Kennzeichen einer förmlichen Vernehmung, daß der Vernommene aufgrund der vorangehenden Belehrung in diesem Bewußtsein aussagt. Unter dem Aspekt des nemo tenetur-Grundsatzes ist diese Vorgehensweise jedenfalls nicht zu beanstanden, denn der Beschuldigte ist am Beginn der Vernehmung über sein AussageveiWeigerungsrecht belehrt worden und verzichtet mit seinem eigenverantwortlichen Entschluß, zur Sache Stellung zu nehmen, auch auf die Möglichkeit, eine vergleichbare Mitwirkungshandlung zu veiWeigern795 • Weder im Fall des unbemerkt zuhörenden Zeugen noch bei der heimlichen Tonbandaufnahme einer förmlichen Vernehmung des belehrten Beschuldigten überzeugt es, von einer "Umgehung" des Selbstbelastungsverbots zu sprechen796• Soweit vorgebracht wird, der Beschuldigte sei bei Zulässigkeit heimlicher Aufnahmen zum Schutze vor "Stimmenfallen" gezwungen, auf jegliche Kommunikation zu verzichten797, muß dem entgegengehalten werden, daß die gleiche Wirkung bestimmen, ob die gesprochenen Worte einzig dem Gesprächspartner, einem bestimmten Kreis oder der Öffentlichkeit zugänglich sein sollen (vgl. u. a. BVerfDE 54, 155; NJW 1992, 815 m. w. N.), wird man wohl dann keine Verletzung des Rechts am eigenen Wort annehmen können, wenn der Beschuldigte weiß, daß seine Aussage Strafverfolgungszwecken dient. Die Tatsache, daß er in diesen Fällen keine Kenntnis von der "Verdinglichung" (vgl. BVerfDE 34, 245) durch heimliche Tonbandaufnahmen besitzt, dürfte keine andere Beurteilung rechtfertigen, soweit die Aufuahme allein zu Strafverfolgungszwecken benutzt wird. 794 Vgl. BGHSt 14, S. 360. 795 Dieses Ergebnis deckt sich mit der gesetzlichen Regelung des§ 168a II S. 1 StPO, der nach h. A. eine Aufzeichnung der Aussage des Beschuldigten auch gegen dessen Willen gestattet und den Beschuldigten, wenn er dies verhindern möchte, auf sein Recht zu schweigen verweist (vgl. u. a. KK-Wache, § 168a StPO, RN 4; LR-Rieß, § 168a StPO, RN 24 jeweils m. w. N.; a. A. Kühne, StV 91, S. 104). Nimmt man dagegen an, daß die Form der Verwertung einer freiwillig erbrachten Leistung des Beschuldigten auch vom nemo tenetur-Grundsatz umfaßt ist, so wäre diese Auslegung nicht haltbar, denn der Beschuldigte hat grundsätzlich nicht nur das Recht, seine Mitwirkung im Prozeß insgesamt zu verweigern, sondern er kann ebenso den Grad seiner Mitwirkung bestimmen. 796 So Odenthal, Die Gegenüberstdlung, S. 62 m. w. N. Die Widersprüchlichkeit dieser Argumentation zeigt sich dann, wenn Odenthai es ohne weiteres fiir Rechtens erachtet, daß eine bei zulässiger Telefonüberwachung angefertigte Aufzeichnung unter allen kriminalistisch sinnvollen Gesichtspunkten ausgeschlachtet wird, da der nemo tenetur-Grundsatz keinen "Rundumschutz" gegen irrtumsbedingte Selbstbelastungen biete (vgl. a. a. 0. S. 63). 797 Vgl. Küpers, JZ 90, S. 421; Wolfs/ast, NStZ 87, 105 f. und SK-Wolter, vor§ 151 StPO, RN 126, der dieses Ergebnis nicht auf eine Verletzung des nemo teneturGrundsatzes stützt, sondern davon ausgeht, daß vorrangig das Recht auf Kommunikationsfreiheit "im Kern" verletzt ist. Anders noch ders., Strafprozeßreform bis 2007, S. 25 20 Bosch

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eintritt, wenn der Beschuldigte vor seiner Vernehmung auf die Tatsache der Tonbandaufzeichnung hingewiesen wird. Da eine Tonbandaufzeichnung nach § 168a II StPO gegen seinen Willen zulässig ist'98, hat er auch bei Hinweis auf die Tatsache der Fixierung seiner Stimme nur die Möglichkeit zu schweigen. Abgesehen von der geringen Aussagekraft des akustischen Wiedererkennens799, wäre es im übrigen ebenso möglich, dem Polizisten als "Ohrenzeugen" eine anderweitig erlangte Tonaufzeichnung der Täterstimme zur Stimmidentifizierung vorzuspielen. Folgt man der oben vorgeschlagenen Modifikation der Belehrungsformel und verlangt eine Ergänzung dahingehend, daß alle Angaben des Beschuldigten gegen ihn (unter jedem erdenklichen Gesichtspunkt) verwendet werden können800, so nimmt der Beschuldigte im Bewußtsein des Risikos der Selbstbelastung an der Vernehmung teil, auch wenn er nicht auf die Tatsache der Möglichkeit einer Stimmidentifizierung hingewiesen worden ist801 • Erfolgt dieser Hinweis, kann auch nicht davon gesprochen werden, der Beschuldigte sei in einem - nach § 136a StPO relevanten- Irrtum über eine "ganz normale Vernehmungssituation" ohne heimliche Zuhörer oder die Möglichkeit der Tonbandaufzeichnung befangen802 • Selbst die Beftlrworter eines Beweisverwertungsverbotes aus § 136a StPO gehen inkonsequenterweise davon aus, daß heimliche Tonaufnahmen in Fällen schwerer Kriminalität durch die überwiegenden Interessen der

m. w. N.: Entsprechende Maßnahmen liegen "außerhalb der höchstpersönlichen Sphäre". Zu Recht gegen eine Zuordnung zum Kernbereich, Roxin, 40 Jahre Bundesgerichtshof, S. 81. 798 Vgl. FN 795 799 V gl. dazu ausfUhrlieh Odenthal, Die Gegenüberstellung, S. 57 ff. und ders., NStZ 95, S. 579 f. Auch die heimliche Stimmidentifizierung muß nach den Grundsätzen der Wahlgegenüberstellung erfolgen, d. h. es müssen Vernehmungssituationen mit Vergleichspersonennachgestellt werden (Odenthal, a. a. 0., S. 58). 800 Vgl. oben Teil I,§ 2 IV 801 Diesen Unterschied verkennt der BGH, wenn er im Zusammenhang mit Fragen der heimlichen Stimmidentifizierung vom ähnlich gelagerten Problem der Hörfalle spricht (vgl. BGHSt 40, 72). In den letztgenannten Fällen fehlt dem Beschuldigten bereits das Bewußtsein strafverfahrensrelevanter Selbstbelastung. Es ist dabei entgegen der Auffassung des BGH auch nicht entscheidend, ob die Strafverfolgungsbehörden den Beschuldigten getäuscht haben, sondern allein, inwieweit der Normzweck der §§ 136 I S. 2, 163a IV S. 2 StPO auch einen Hinweis auf die Möglichkeit der Stimmidentifizierung gebietet. Unklar deshalb Freund, JUS 95, S. 396, der die entscheidende Frage nach dem Inhalt der Belehrungsformel offen läßt. 802 So aber Achenbach I Perschke, StV 94, S. 579; zu weit gehend auch Dencker, StV 94, S. 680, der einen Stimmvergleich generell nur bei ausdrücklicher Einwilligung des Beschuldigten für zulässig erachtet. Abzulehnen ·aber auch der Standpunkt Schlüchters, Strafprozeßrecht, S. 43, ein heimlicher Stimmenvergleich könne in keinem Fall den nemo tenetur-Grundsatz verletzen. Vgl. ergänzend die Nachweise bei KK-Boujong, § 136a StPO, RN 25.

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Allgemeinheit gerechtfertigt sein können803 . Mit der Anerkennung von § 136a StPO als absolute Schranke der Wahrheitserforschung im Strafprozeß läßt sich eine abwägende Einzelfallbetrachtung jedoch nicht vereinbaren. Voraussetzung filr eine heimliche Maßnahme zur Stimmidentifizierung ist freilich immer eine :llirmliche Vernehmungssituation. Die Durchfilhrung einer verdeckten Stimmgegenüberstellung bei staatlich initiierten "Gesprächen"804 zwischen Beschuldigtem und Strafverfolgungsbehörden bzw. Dritten ist stets als Verstoß gegen den nemo tenetur-Grundsatz und durch das Verheimlichen der Vernehmungssituation zugleich als Täuschung i. S. d. § 136a StPO zu qualifizieren805. Diese Form des Eingriffs läßt sich auch nicht durch § lOOc I Nr. 2 StPO rechtfertigen, der insoweit verfassungskonform auszulegen ist und dessen Anwendungsbereich auf die Fälle eines ausschließlich privat gefiihrten Gesprächs des Beschuldigten beschränkt werden muß. Eine Einschränkung der dargestellten Grundsätze ist dann erforderlich, wenn die Strafverfolgungsbehörden mit der Vernehmung des Beschuldigten von Anfang an ausschließlich den Zweck verfolgen, eine Stimmprobe des Beschuldigten zu erhalten806. In diesem Fall wird man eine Belehrung in der Form des § 136 I S. 1 StPO fUr rechtsmißbräuchlich erachten müssen, da sie lediglich erfolgt, um dem Beschuldigten den eigentlichen Zweck des staatlichen Handeins zu verschleiern und aus diesen Umständen geschlossen werden muß, daß der Beschuldigte bei sachgerechter Belehrung nicht zur Mitwirkung bereit gewesen wäre. Kann die Tatsache der Vernehmung fUr sich genommen noch kein Schützenswertes Vertrauen des Beschuldigten begründen, seine Angaben würden lediglich inhaltlich verwertet, so ist ihre Durchfiihrung jedoch wenigstens mit der konkludenten Zusage der Strafverfolgungsbehörden verbunden, daß sie zumindest auch den Zweck verfolgt, dem Beschuldigten die Möglichkeit der Verteidigung zu geben. Ergänzend wird vom BGH ein Verwertungsverbot auch fiir den Fall eines vorherigen ausdrücklichen Widerspruchs des Beschuldigten vorgeschlagen807 . 803 Vgl. die Nachweise bei KK-Boujong, §136a StPO, RN 25; Wo/ter, Strafprozeßreform bis 2007, S. 25m. w. N. 804 So wohl die Sachlage in BGHSt 40, 66 ff. 805 Vgl. auch den Sachverhalt der Entscheidung des AG Freiburg, StV 88, S. 383, das jedoch darauf abstellt, ob das "Schweigerecht" durch List (gemeint ist wohl Täuschung) umgangen wird. 806 So auch BGHSt 40, 72, wobei allerdings nicht verkannt werden soll, daß der Beschuldigte einen entsprechenden Nachweis in aller Regel nicht fuhren kann und es fiir die Polizeibeamten ein leichtes ist, sich einen darüber hinausgehenden Vernehmungszweck auszudenken. A. A. Freund, JUS 95, S. 396, der zu Unrecht die Ausschließlichkeit des Vernehmungszwecks nicht als taugliches Differenzierungskriterium anerkennt, dabei jedoch die Regelung des § 136 II StPO außer acht läßt. 807 Vgl. BGHSt 40, 72.

20*

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Akzeptiert werden kann diese Differenzierung allenfalls bei entsprechender Belehrung des Beschuldigten über sein Widerspruchsrecht Die ohne einen Hinweis verursachte Besserstellung des besser informierten bzw. verteidigten Beschuldigten läßt sich sachlich nicht rechtfertigen808 • Die Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden zu einem Hinweis auf das Widerspruchsrecht hätte jedoch zwangsläufig die vom BGH wohl unerwünschte Folge, daß die Durchfiihrung heimlicher Stimmidentifizierungen weitgehend unmöglich wird. Im Gegensatz zu der vom BGH vertretenen Auffassung ist ein an den Widerspruch des Beschuldigten gekoppeltes Verwertungsverbot überhaupt unnötig, denn der Beschuldigte hat nicht das Recht, durch eine Erklärung eine an sich zulässige, heimliche Ermittlungsmaßnahme zu verhindern. Über die genannten Fälle hinaus muß festgestellt werden, daß entgegen der von Wolfslast geäußerten Ansicht das Kriterium der Täuschung in Situationen, in denen die herkömmliche Unterscheidung zwischen Aktivität und Passivität an ihre Grenzen stößt, nicht allein ausschlaggebend fiir die Bestimmung der Grenzen unzulässigen Zwangs zur Selbstbelastung sein kann809 • Die StPO gebietet es nicht in allen Fällen, den Beschuldigten über die seine Person betreffenden Ermittlungsmaßnahmen zu unterrichten. Bereits oben wurde aufgezeigt, daß Offenheit und damit bei möglicher Beeinträchtigung des nemo teneturGrundsatzes auch belehrungspflichtiges, staatliches Handeln nur dann geboten ist, wenn bei Heimlichkeit anerkannte Verteidigungsrechte des Beschuldigten leerzulaufen drohen810 • Maßnahmen, die bei Offenheit der Ermittlungen auch gegen den Willen des Beschuldigten zulässig sind, können nicht allein deshalb gegen den nemo tenetur-Grundsatz verstoßen, weil sie heimlich erfolgen und dadurch effektiver sind. So kann etwa in dem von Wolfslast angefiihrten Beispiel der verdeckten Gegenüberstellung, bei der durch Einsatz technischer Hilfsmittel ein unmittelbarer Kontakt zwischen Zeugen und Beschuldigtem verhindert wird, nicht per se davon gesprochen werden, der Beschuldigte werde unter Nichtbeachtung seiner Selbstbezichtungsfreiheit zum Werkzeug gegen sich selbst gemacht811 • Vielmehr wird man danach zu differenzieren haben, inwieweit im Rahmen einer offenen Gegenüberstellung eine entsprechende Beteiligung des Beschuldigten auch zwangsweise durchgesetzt werden könnte. Kann

Vgl. auch Freund, JUS 95, S. 396. Wolfs/ast, NStZ 87, S. 104. 810 Vgl. oben Teil I,§ 2 IV 2 a) bb). 811 So aber die Kritik von Wolfs/ast, NStZ 87, S. 103 f., an einer Entscheidung des KG. Das KG geht in den Urteilsgründen davon aus, daß zum Zweck der Gegenüberstellung die heimliche Beobachtung der Beschuldigten durch einen "venezianischen Spiegel" nicht zu beanstanden sei. Es begrUndet dies u. a. damit, daß eine Wahlgegenüberstellung wegen des zu erwartenden Verhaltens der Beschuldigten "- wie Grimassenschneiden, Fallenlassen und so weiter - nicht sinnvoll gewesen wäre" (ders., NStZ 82, 808

809

215f.).

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der Zeuge etwa den bei Tatausfilhrung maskierten Täter lediglich an seinen Bewegungen und seinem Gang identifizieren, verweigert der Beschuldigte aber die Vomahme einer entsprechenden Mitwirkung, so darf eine entsprechende Leistung des Beschuldigten - die Vorfilhrung bestimmter Gesten und Bewegungsabläufe - ohne dessen Zustimmung auch nicht mittels einer verdeckten Gegenüberstellung in Anspruch genommen werden812 . Abschließend kann zu den zu Beginn diese Abschnitts behandelten Entscheidungen des BGH festgehalten werden, daß die rechtliche Überprüfung der Verwertbarkeit heimlicher Stimmidentifizierungen allein am Maßstab des nemo tenetur-Grundsatzes hätte erfolgen müssen813 • Auch im Bereich der Rechtsprechung zu Fragen einer Umgehung der Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten zeigt sich damit die Tendenz, durch Heranziehung einengender und zugleich sachfremder Kriterien einer Ausweitung des durch den nemo tenetur-Grundsatz gebotenen Schutzes bei heimlicher Informationserhebung entgegenzuwirken. Dabei wäre aufgrund der unklaren Gesetzeslage eine eindeutige Stellungnahme des BGH zu der Frage, inwieweit die Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten die Offenheit der staatlichen Beweiserhebung im Rahmen des Sachbeweises erfordert, wünschenswert gewesen.

3. Der nemo tenetur-Grundsatz als Schranke eigener Ermittlungstätigkeit des Sachverständigen

Bedingt durch die Besonderheiten des "Arzt-Patienten-Verhältnisses" und hier insbesondere den Umstand, daß Ärzte gemeinhin fiir schweigepflichtig gehalten werden, ist die Gefahr einer unbedachten Selbstbelastung fiir den Beschuldigten bei Befragungen oder Untersuchungen durch Sachverständige besonders ausgeprägt. Nach allgemeiner Auffassung ist gerade die üblicherweise zwischen helfendem Arzt und Patienten entstehende Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens unabdingbare Voraussetzung einer zuverlässigen Begutachtung814. Der Beschuldigte wird in aller Regelleichter bereit sein, dem als Sachverständigen bestellten Arzt sein Tatwissen preiszugeben, als er dies in einer förmlichen Vernehmungssituation in ständigem Bewußtsein des Strafverfolgungszwecks ist. Auch der begutachtende Arzt wird oft nicht willens sein, sein eigenes Berufsverständnis im Interesse der Förmlichkeit des Verfahrens zu op-

812 Obwohl dies unter kriminalistischen Erwägungen durchaus wünschenswert ist, vgl. dazu ausfilhrlich Odenthal, Die Gegenüberstellung, S. 49 ff. 813 Allgemein zum Prüfungsmaßstab bei Grundrechtskonkurrenz, Pieroth I Schlink, Grundrechte Staatsrecht li, S. 84, RN 384 ff. m. w. N. 814 Vgl. Geppert, FG filr v. Lübtow, S. 776, und ders., DAR 80, S. 316 jeweils m.w. N.

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

fem 815 • Damit ist der Konflikt zwischen bestmöglicher Verwirklichung des Begutachtungszwecks und Aussagefreiheit des Beschuldigten, die sich nur bei der nötigen Distanz zur jeweiligen Gesprächssituation verwirklichen kann, bereits vorgezeichnet. So kann es nur verwundern, daß der BGH trotz seines grundsätzlichen Sinneswandels zu Fragen der Verwertbarkeit von Aussagen, die ohne Belehrung erlangt wurden, immer noch an seiner Rechtsauffassung festhält, der Sachverständige sei zu einer Belehrung des Beschuldigten oder Tatverdächtigen nicht verpflichtet und aus dieser Tatsache zugleich den Schluß zieht, Angaben des Beschuldigten könnten unabhängig von einer ansonsten erforderlichen polizeilichen Belehrung selbst dann verwertet werden, wenn der Sachverständige den Beschuldigten zum Tatgeschehen befragt816 • Darüber hinaus lehnt der BGH in der Frage der Verwertbarkeit unbelehrt erfolgter Angaben eine Differenzierung zwischen Befund- und Zusatztatsachen ab, so daß eine Einlassung des Beschuldigten vor dem Sachverständigen auch dann verwertbar sein soll, wenn der Sachverständige sie außerhalb seiner Beauftragung lediglich als Zeuge wahrgenommen hat817 • a) Belehrungspflicht des Sachverständigen oder seines Auftraggebers? In Teilen der Literatur wird dagegen mit unterschiedlichen rechtlichen Konsequenzen eine Belehrungspflicht des Sachverständigen in Analogie zu den §§ 136 I S. 2 und 163a V StPO befilrwortet, denn der Sachverständige sei nicht nur Beweismittel, sondern zugleich "Gehilfe des Richters oder Staatsanwalts" 815 Nicht umsonst versucht sich die Polizeipraxis die Erfahrungen der Gesprächspsychotherapie zunutze zu machen, genau diesen Eindruck des "einfiihlenden Verstehens" zu erwecken und sich dabei des Verfahrens der "Verbalisierung der Erlebniswelt" zu bedienen; vgl. aus neuerer Zeit nur Füllgrabe, Die Beschuldigten- und die Zeugenvernehmung, S. 31 ff. m. w. N. 816 Vgl. BGH StV 95, 564; JR 69, 231 f.; bei Spiegel, DAR 80, 203; NStZ 97, 297; so auch KK-Pelchen, § 80 StPO, RN 2; unklar BGHSt 35, 35; zur Belehrung nach § 52 StPO vgl. BGH StV 97, 232. Entsprechend verfahrt die Rechtsprechung bei einer unheIehrt erfolgten Mitwirkung des Beschuldigten an Untersuchungen durch Sachverständige, vgl. u. a. OLG Hamm NJW 67, 1524. 817 Vgl. BGH JR 69, 231 f. Zu welch weitreichenden Konsequenzen dies fiihren kann, läßt sich an einer Entscheidung des LG Oldenburg aufzeigen (vgl. StV 94, 646 f. ). Der Sachverständige hatte in diesem Fall den Angeklagten ausfiihrlich vernommen und ihm bei Widersprüchen das polizeiliche Vernehmungsprotokoll vorgehalten. Daraufbin machte der Angeklagte Angaben, die zum Teil erheblich von dessen bei der polizeilichen Vernehmung abwichen. Der Sachverständige hatte den Beschuldigten zuvor lediglich belehrt, seine Angaben könnten vor Gericht verwertet werden. Abweichend von der Rechtsprechung des BGH lehnte das LG Oldenburg völlig zu Recht eine Verwertung der Beschuldigtenangaben ab. Folgt man dagegen der Auffassung des BGH, so könnte die Einlassung des Beschuldigten mangels Verstoßes gegen § 136a StPO ohne weiteres über eine Zeugenvernehmung des Sachverständigen in die Hauptverhandlung eingefiihrt werden.

§ l3 Garantie der negativen Mitwirkungsfreiheit

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und trage in dieser Funktion erheblich zur Sachverhaltsfeststellung bei818 • Die vom BGH weitgehend außer acht gelassene Gefahr der Umgehung von beschuldigtenschützenden und formwahrenden Vorschriften wird von den Vertretern dieser Auffassung klar erkannt. Dennoch überzeugt es nicht, wenn dem Sachverständigen von diesen eine originäre Belehrungspflicht auferlegt wird, denn er ist weder Organ der Strafverfolgung819 noch besitzt er eine eigene oder abgeleitete Befugnis zur Vernehmung des Beschuldigten820• Er hat auch keine dem Richter angenäherte Stellung, sondern lediglich die Aufgabe, diesem die notwendige Beurteilungsgrundlage bzgl. einer bestimmten Beweisfrage zu vermitteln821 . Die Regelung des § 80 StPO weist darauf hin, daß der Sachverständige, sofern er weitere Anknüpfungstatsachen fUr seine Gutachtenerstellung benötigt, auf die Aufklärungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden angewiesen ist822 • Er besitzt nach § 80 II StPO lediglich ein ergänzendes Fragerecht und dies auch nur in ilirmlichen Vernehmungssituationen, die ausreichende verfahrensrechtliche Garantien fUr die Wahrheitsfmdung und die Respektierung der 818 Vgl. Arzt, JZ 69, S. 493 ff.; Bauer, Die Aussage, S. 121 ff. m. w. N., der eine Belehrung von Sachverständigenund Strafverfolgungsorgan fiir erforderlich hält (S. 123). Er widerspricht damit z. T. aber seinen vorangegangenen Ausfiihrungen, die Gewähr fiir eine sachgemäße Durchfiihrung sei nur bei Belehrung durch den Richter gegeben (a. a. 0., S. 110 f.); Hanack, JZ 71, S. 169; Quentmeier, JA 96, S. 217; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 25, RN 12. Messmer, DAR 66, S. 153 f., geht dagegen von einer bewußten Regelungslücke aus und widersetzt sich deshalb einer Ausdehnung der Belehrungspflicht auf Sachverständige oder Polizei. 819 BGH JR 69, 231; ausfilhrlich zur Stellung des Sachverständigen Fincke, ZStW 86 (1974), S. 658. Zum problematischen Begriff des Richtergehilfen, der mit der klaren Rollenverteilung im Strafprozeß nicht in Einklang zu bringen ist, vgl. die umfangreichen N. bei Peters, JR 69, S. 232, und ders., Strafprozeß, S. 342; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 12, S. 159, RN 10; LR-Dahs, vor § 72 StPO, RN 3. Befilrwortend dagegen Schlüchter, Strafprozeßrecht, S. 137, denn der Begriff verdeutliche die untergeordnete Stellung des Sachverständigen. Dann sollte der Begriff aber auch nicht dazu mißbraucht werden, die Stellung des Sachverständigen entgegen der gesetzlichen Konzeption auszubauen. In der Praxis erlangt der Sachverständige häufig eine verfahrensbeherrschende Rolle; vgl. dazu Krauß, ZStW 97 (1985), S. 81 ff.; AK-Schreiber, vor§ 72 StPO, RN 8 ff. jeweils m. w. N. 820 Vgl. KMR-Paulus, § 80 StPO, RN 4 m. w. N. Mißverständlich deshalb BGHSt 7, 83 f.: "Vernehmung durch den Sachverständigen". 821 Vgl. nur Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 1500 ff., 1589 f. 822 Vgl. auch Dippel, Stellung des s·achverständigen, S. 148; Roga/1, Der Beschuldigte, S. 194; Peters, JR 69, S. 232. Auch der BGH (BGHSt 7, 239) betont zutreffend die alleinige Verantwortung des Richters filr die Ermittlung des Sachverhalts. Nach der Absicht des historischen Gesetzgebers war § 80 StPO allerdings nur ein Recht gegen den Richter und keine Beschränkung der Aufklärungsmöglichkeit des Sachverständigen (vgl. Geppert, FG filr v. Lübtow, S. 788 f.). Die der RStPO zugrundeliegende Rollenverteilung zwischen Sachverständigem und Richter hat sich seit diesem Zeitpunkt jedoch zu Lasten der richterlichen Aufklärungstätigkeit verschoben, so daß § 80 StPO restriktiver zu interpretieren ist. Für ein Recht auf eigene Ermittlungen dagegen Fincke, ZStW 86 (1974), S. 664,670 ff.

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Beschuldigtenrechte bieten823 • Dieses ergänzende Fragerecht darf jedoch keinesfalls dazu filhren, daß die Vernehmungsleitung auf den Sachverständigen übergeht und dem Richter bei der Vernehmung eine untergeordnete Rolle zugewiesen wird824 . Aufgrund der abschließenden Regelung des§ 80 StPO verbietet sich schließlich mangels Regelungslücke auch eine analoge Anwendung des § 136 I S. 2 StPO auf die Tätigkeit des Sachverständigen. Dem Sachverständigen trifft aber nicht nur keine Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten, er ist auch nicht in der Lage, die den Strafverfolgungsbehörden obliegende Belehrungspflicht zu erftillen825 . Die bereits angesprochene, beschuldigtenschützende Funktion der Belehrung nach § 136 StPO, den notwendigen formellen Rahmen fiir eine effektive Rechtswahrnehmung zu schaffen826, kann nicht in gleichem Maße durch den Sachverständigen verwirklicht werden. Um die tatsächliche Bedeutung seiner Angaben zu erkennen, bedarf der Beschuldigte des Hinweises auf sein Schweigerecht durch ein Organ der Strafverfolgung, dessen Aufgaben und Zielsetzungen fiir ihn klar erkennbar sind. Dies ist bei einem psychologischen Sachverständigen, der im Rahmen einer Begutachtung nach § 81 StPO durch besonderes psychologisches Einfiihlungsvermögen versucht, das Vertrauen des Beschuldigten zur Erforschung von dessen Persönlichkeit zu gewinnen, in aller Regel nicht der Fall. Die Kenntnis von seinem Wahlrecht, zu reden oder zu schweigen, kann dem Beschuldigten nicht auf ,jede beliebige Art" vermittelt werden, so daß ein Hinweis des Sachverständigen auch nicht zur Folge hat, daß ein Beruhen des Urteils auf dem Verstoß der Strafverfolgungsbehörden gegen ihre Belehrungspflicht ausgeschlossen ist827• Andererseits soll nicht verkannt werden, daß eine bloße Beobachtung des Beschuldigten oder die Kenntnis der Ermittlungsakten in vielen Fällen zur Be-

823 Vgl. BGH NJW 51, 771; GA 63, 18; LR-Dahs, § 80 StPO, RN 4 m. w. N. Soweit Schreiber, Psychiatrische Begutachtung, darin eine Behinderung der Wahrheitstindung sieht, da es kaum möglich sei, "bei einer förmlichen Vernehmung in amtlichen Räumen eine fiir die Exploration günstige Atmosphäre zu schaffen", zeigt sich daran nur, daß allein in förmlichen Vernehmungssituationen ausreichend Rücksicht auf die Aussagefreiheit des Beschuldigten genommen wird. 824 Vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Band II, § 80 StPO, RN I; KK-Pelchen, § 80 StPO, RN 5. 825 So auch mit z. T. anderer Begründung Fine/re, ZStW 86 (1974), S. 671. Ohne eine Belehrungsptlicht anzunehmen, befiirworten eine Belehrungsmöglichkeit des Sachverständigen: Geppert, FG fiir Lübtow, S. 796; Peters, JR 69, S. 233; Rogal/, Der Beschuldigte, S. 195; KK-Pelchen, § 80 StPO, RN 2. Dabei wird verkannt, daß eine Belehrung oft statusbegründend wirkt, der Sachverständige einen entsprechenden Verfolgungswillenjedoch gar nicht bilden kann. Trotz Belehrung nach§ 136 StPO müßte man deshalb gegebenenfalls eine Beschuldigtenstellung eines tatverdächtigen Zeugen ablehnen, vgl. dazu Fineire, ZStW 86 ( 1974 ), S. 656 ff. 826 Vgl. oben Teil III, § 6 II. 827 A. A. Rogall, Der Beschuldigte, S. 195.

§ 13 Garantie der negativen Mitwirkungsfreiheit

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urteilung des Untersuchungsgegenstandes nicht ausreichend ist. Dem Sachverständigen kann es dann nicht völlig versagt sein, zur Erfilllung des Gutachtenauftrages fachlich gebotene Fragen an den Beschuldigten zu richten828 • Aus dieser Tatsache muß jedoch nicht zwingend auch auf die Zulässigkeit der Einfilhrung von bisher unbekannten, selbstbelastenden Angaben des Beschuldigten in das Strafverfahren geschlossen werden. Auch der BGH betont, daß trotz fehlender Belehrungspflicht des Sachverständigen Angaben des Beschuldigten nur dann verwertet werden können, wenn der Beschuldigte sie freiwillig gemacht hat829• Er beschränkt dann allerdings die Fälle fehlender Freiwilligkeit auf die Anwendung von Zwang oder verbotenen Vernehmungsmethoden nach § 136a StPO. Der BGH geht dabei ersichtlich davon aus, daß Äußerungen gegenüber einem Sachverständigen mit einer Mitteilung des Beschuldigten gegenüber beliebigen Dritten vergleichbar sind, und läßt deshalb in bezug auf die vom Sachverständigen ermittelten Zusatztatsachen eine Vernehmung des Sachverständigen als Zeuge vom Hörensagen zu. Obwohl der Sachverständige selbst nicht zur Vernehmung berufen ist, geschieht die Befragung des Beschuldigten dennoch auf Veranlassung der Strafverfolgungsbehörden in einer vernehmungsähnlichen Situation, so daß Äußerungen des Beschuldigten in aller Regel weder spontan sind noch behauptet werden kann, daß sie wegen des vermeintlich "informatorischen oder vorbereitenden Charakters" der Befragungssituation freiwillig erfolgt sind830. Wenn schon der Auftraggeber des Sachverständigen die Einlassungsfreiheit des Beschuldigten zu respektieren hat, so muß dies erst recht fiir den Sachverständigen gelten, dessen Befugnisse lediglich von seinem Auftraggeber abgeleitet sind831 • Demnach kann kein Zweifel daran bestehen, daß sowohl vor einer Befragung als auch vor jeder sonstigen Untersuchung des Beschuldigten durch einen Sachverständigen eine Belehrung durch die Strafverfolgungsbehörden erforderlich Vgl. auch BGH JR 69, 232. Im folgenden wie FN 828. Daß der Beschuldigte auch gegenüber dem Sachverständigen das Recht hat, die Aussage zu verweigern, ist allgemeine Auffassung. Vgl. dazu Arzt, JZ 69, S. 438 m. w. N. 830 Auch in diesem Zusammenhang ist der vom BGH und Teilen der Literatur (vgl. etwa BGHSt 9, 296, und KK-Pe/chen, § 80 StPO, RN 2; LR-Dahs, § 80 StPO, RN 4) verwendete Begriff überflüssig und irrefiihrend. So meint etwa Dahs informatorische Befragungen könntentrotzder Tatsache, daß der Sachverständige keine Vernehmungsbefugnis besitzt, diesem nicht schlechthin verwehrt sein, sie dürften aber nur den Zweck verfolgen, "die Beweiserheblichkeit des Wissens der Auskunftsperson festzustellen". Läßt man dies zu, so kann das Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten bereits obsolet werden, bevor dieser überhaupt den Beschuldigtenstatus erlangt hat. Zumindest müssen die dabei erlangten Informationen, wenn sie nicht auch in einer folgenden, förmlichen Vernehmung mit qualifizierter Belehrung erlangt werden können, unverwertbar sein. Nur so kann der auch von LR-Dahs, § 80 StPO, RN 5, erörterten Mißbrauchsgefahr wirksam begegnet werden. 831 Vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Band II, § 81 StPO, RN 24. 828 829

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ist832 . Entgegen dem gesetzlichen Wortlaut der§§ 136 I S.l, 163a IV S.l, 243 IV S.l StPO, die eine erneute Belehrung nur bei einem Wechsel des vernehmenden Strafverfolgungsorgans fUr erforderlich halten, kann auf sie auch dann nicht verzichtet werden, wenn der Beschuldigte zuvor bereits durch die Polizei vernommen und dabei ordnungsgemäß belehrt worden ist. Um dem Beschuldigten eine eigenverantwortliche Entscheidung zur Mitwirkung bei der Begutachtung zu ermöglichen, muß er über die besondere Rolle des medizinischen Sachverständigen und die Tatsache unterrichtet werden, daß dieser Mitteilungen nur in der Absicht entgegennimmt, sie im Gutachten zu verwerten833 . Daneben muß die Belehrungsformel auch einen inhaltlich klar getrennten Hinweis sowohl auf Aussage- als auch Mitwirkungsfreiheit beinhalten. Die einfache Belehrung mit der Formel des § 136 StPO reicht nicht aus, da der Beschuldigte aus dem Wissen um sein Aussagerecht nicht zwingend auch auf ein entsprechendes Mitwirkungsverweigerungsrecht schließen kann 834 • Der Beschuldigte wird ohne diese Belehrung auch kaum in der Lage sein, eine eventuell zuvor durch die Polizei vorgenommene Belehrung auf die Situation einer Befragung durch den Sachverständigen zu übertragen. Nur durch diese erneute Belehrung kann dem Beschuldigten der Wechsel der Prozeßsituation so vor Augen gefilhrt werden, daß die Gefahr unbedachter Selbstbelastung ausgeschlossen ist und dem Grundsatz der Offenheit des Verfahrens Genüge getan ist. Diese Belehrung muß als Folge des Gebots der Transparenz von "Beweiserhebungen" unter Mitwirkung des Beschuldigten auch den Zweck, den Umfang und eine grobe Umschreibung der Anknüpfungstatsachen der vorzunehmenden Untersuchung umfassen. Häufig wird der Beschuldigte ein eigenes Interesse daran haben, bei der Erreichung des diagnostischen Ziels mitzuwirken und dennoch die Aussage zu darüber hinausreichenden Punkten des Tatgeschehens verweigern wollen. Beispielsweise wird der Beschuldigte sicherlich zur Kooperation bereit sein, sofern die Chance eines Freispruchs wegen Unzurechnungsfiihigkeit bei Tatbegehung besteht. Er wird aber weder zur Aufdeckung weiterer Straftaten noch dazu beitragen wollen, als gefiihrlich Kranker untergebracht zu werden. Der Beschuldigte besitzt aber unbestritten das Recht, den Grad der Mitwirkung von den damit verknüpften rechtlichen Konsequenzen abhängig zu machen. Deshalb muß er auch in diesem Punkt vor Überraschungen geschützt werden, die dadurch bedingt sein können, Vgl. auch Dippel, Stellung des Sachverständigen, S. 148 f. m. w. N. Im Schrifttum wird diese Belehrung z. T. dem Sachverständigen übertragen, der, sobald er erkennt, daß die Tatsache seiner richterlichen Beauftragung beim Beschuldigten in Vergessenheit gerät, "ihn unmißverständlich daran (seine Stellung) erinnern soll" (vgl. Dippel, Stellung des Sachverständigen, S. 148 f., 198 f.; LR- Dahs, § 76 StPO, RN 2). Unterläßt der Sachverständige diese Belehrung, soll dies jedoch zu keinem Beweisverwertungsverbot filhren, denn dieser Hinweis sei schon in der Belehrung über das Recht, auch gegenüber dem Sachverständigen zu schweigen, enthalten (vgl. Dippel, Stellung des Sachverständigen, S. 199; Peters, JR 69, S. 234). 834 V gl. Dahs I Wimmer, NJW 60, S. 2221. 832

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daß dem Beschuldigten- anders als bei förmlichen Vernehmungen- die Funktion seines Gegenübers und die oft prozeßentscheidende Bedeutung der Untersuchung durch den Sachverständigen unklar ist. Sicherlich wird der Beschuldigte insbesondere bei tiefenpsychologischen Tests - auch bei Beachtung der hier aufgestellten Anforderungen häufig nicht in der Lage sein, den Zweck einer Frage des Sachverständigen zu erkennen. Auf dieses Risiko hat der Beschuldigte sich jedoch bewußt und eigenverantwortlich eingelassen, wenn er sachgemäß belehrt worden ist. b) Unverwertbarkeit von Zusatztatsachen Damit ist der Beschuldigten jedoch nicht ausreichend geschützt. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß der Sachverständige, der selbst nicht zur Belehrung befugt ist, eine weitere Untersuchung oder Befragung abzubrechen hat, wenn er erkennt, daß der Beschuldigte nicht den oben genannten Anforderungen entsprechend belehrt wurde. Zweifellos dürfen die bis zu diesem Zeitpunkt erfolgten Angaben des Beschuldigten nicht verwertet werden835 • Ergänzend müssen Angaben des Beschuldigten aber auch unabhängig von einer vorangegangenen Belehrung unverwertbar sein, wenn der Sachverständige unter Überschreitung seines Gutachtenauftrages Zusatztatsachen vom Beschuldigten erlangt, d. h. Tatsachen, zu deren Wahrnehmung keine besondere Sachkunde erforderlich ist und die das Gericht auch ohne Zuziehung eines Sachverständigen erlangen kann836 • Für diese Tatsachen ergibt sich aus der oben geschilderten, gesetzlichen Beschränkung der Aufklärungstätigkeit des Sachverständigen, daß sie nur in offenen Vernehmungen durch die Strafverfolgungsorgane erhoben werden dürfen, denn lediglich in formwahrenden Vernehmungen ist der Beschuldigte vor Umgehung seines Aussageverweigerungsrechtes ausreichend geschützt837 . 835 Um dies sicherzustellen, empfiehlt es sich, die üblichen Merkblätter filr ärztliche Untersuchungen mit der einleitenden Frage nach einer Belehrung des Beschuldigten durch die Strafverfolgungsbehörden zu versehen, vgl. dazu auch Geppert, DAR 80, S. 319. 836 Zur Unterscheidung von Befund und Zusatztatsachen, vgl. BGHSt 9, 292 ff.; 13, 1 ff., 250 ff.; 18, 108, der diese Differenzierung jedoch nur bei den Zeugnisverweigerungsberechtigten, nicht jedoch beim Beschuldigten filr ausschlaggebend erachtet. Wie hier allerdings auch der Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwa1tkammer, der dabei aber vorrangig von der Leitidee einer klareren Trennung von Richter und Sachverständigenamt geleitet wird: "Zusatztatsachen müssen nach den allgemeinen Regeln in die Hauptverhandlung eingeführt und festgestellt werden (Leitsatz 22). ( ... ) Der Sachverständige darf über Tatsachen, die er sich in unzulässiger Weise verschafft hat, weder als Sachverständiger noch als Zeuge vernommen werden, es sei denn, daß alle Verfahrensbeteiligten zustimmen" (Leitsatz 23). Vgl. im übrigen die Leitsätze 24 ff., abgedruckt bei Dippel, Stellung des Sachverständigen, S. 202 ff. 837 Anders ausdrücklich der BGH in BGHSt 23, 1 ff.: § 80 StPO ist kein Verbot eigener Befragung des Sachverständigen, sondern lediglich eine Möglichkeit, durch die

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

Äußert sich beispielsweise der Beschuldigte gefragt oder ungefragt bei einer Blutprobenentnahme zur Feststellung der Fahrtüchtigkeit, so kann, sofern der Untersuchung eine ordnungsgemäße Belehrung der Polizei vorangegangen ist, die Tatsache, ob die Sprache des Beschuldigten klar oder verwaschen gewesen ist, und dessen Angabe, wieviel Alkohol er genossen hat, ohne weiteres im Gutachten und damit auch im Urteil verwertet werden. Betrifft die Äußerung des Beschuldigten inhaltlich jedoch Fragen, die mit seiner Fahrtauglichkeit nicht in direktem Zusammenhang stehen, etwa daß er mit einem gestohlenen Fahrzeug gefahren ist, so müssen diese Angabenunverwertbar sein838 . Diese Äußerungen sind nicht spontan, sondern in einer staatlich veranlaßten Beweiserhebungssituation erfolgt839 • Da der Sachverständige auch hinsichtlich der Zusatztatsachen kein zufälliger, privater Informationsempfänger ist, wird es dem Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten nicht gerecht, wenn bezüglich der Zusatztatsachen auf die fehlende Parallelvorschrift zu § 252 StPO verwiesen und deshalb davon ausgegangen wird, daß diese freiwillig erfolgt sind. Es überzeugt nicht, wenn vorgebracht wird, der Sachverständige erfahre Informationen, die er nicht zur Aufgabenerfiillung benötige "nur bei Gelegenheit" der Gutachtenerstellung, so daß diese Angaben wie bei jedem privaten Dritten auch ohne Belehrung verwertbar seien840 • Dies kann allenfalls dann richtig sein, wenn der Beschuldigte zuvor über den genauen Umfang der Gutachtenerstellung durch den Auftraggeber belehrt worden ist und sich dennoch eigenverantwortlich, in Kenntnis der Konsequenzen zur Preisgabe der zusätzlichen selbstbelastenden Informationen entschließt. Eine Differenzierung allein danach, ob die Tatsachenerhebung durch die Auftragsstellung gedeckt ist, erscheint zudem willkürlich, denn hat der Sachverständige beispielsweise die Verantwortlichkeit des Beschuldigten fiir die Tat zu begutachten, werden von seinem Auftrag fast sämtliche denkbaren Informationen des Beschuldigten umfaßt sein. Der Sachverständige hätte deshalb in diesen Fällen ein umfassendes Fragerecht, obwohl die Tatsachen ebensogut in förmlicher Vernehmung erlangt werden könnten. Um möglichen Mißbrauchsfl1llen vorzubeugen, müssen die Strafverfolgungsbehörden durch ein "die Erstattung des Gutachtens(... ) gefördert werden kann." Abweichend dagegen noch BGH JR 62, 111. Entgegen Fincke, ZStW 86 (1974), S. 668, ist die Unterscheidung von Befund- und Zusatztatsachen nicht überflüssig, denn Zusatztatsachen können auch bei ordnungsgemäßer Belehrung nicht verwertet werden. 838 Entgegen Fincke, ZStW 86 (1974), S. 667 ff., läßt sich diese im Einzelfall sicherlich schwierige Unterscheidung von Befund- und Zusatztatsachen durchaus bewerkstelligen. So richtet sich der BGH danach, ob die Informationen in einem unmittelbaren, unauflöslichen Zusammenhang zu den zu erhebenden Befundtatsachen stehen (BGH NStZ 93, S. 246m. w. N.). 839 Auch hier ist es nicht entscheidend, ob eine vernehmungsähnliche Situation vorgelegen hat (in diesem Sinne aber Fincke, ZStW 86 (1974), S. 657). Der Schutz des Beschuldigten darf nicht allein deshalb geschmälert werden, weil er sich in dieser speziellen Situation ungefragt selbst belastet hat. 840 Vgl. u. a. Fincke, ZStW 86 (1974), S. 669.

§ 13 Garantie der negativen Mitwirkungsfreiheit

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Verwertungsverbot für Zusatztatsachen dazu angehalten werden, von der weitverbreiteten Praxis abzurücken, nur unzureichendes Anknüpfungstatsachenmaterial zur VerfUgung zu stellen841 • Im Einzelfall mag es für den Sachverständigen umständlich und zeitraubend sein, daß er die Begutachtung in einem bestimmten Punkt abzubrechen hat, sobald er erkennt, daß der Beschuldigte auf Tatsachen zu sprechen kommt, die zwar filr sein Gutachten relevant sein könnten, aber in keinem Zusammenhang mit den Anknüpfungstatsachen stehen, die seiner Beauftragung zugrunde gelegt worden sind842 . Nur wenn diese Grundsätze eingehalten sind, kommt jedoch der Vernehmung des Sachverständigen tatsächlich keine eigenständige Bedeutung für die Ermittlung des Sachverhaltes zu843 und die Strafverfolgungsorgane sind gezwungen, Beweistatsachen auf dem gesetzlich dafür vorgesehenen Weg zu erheben. Es genügt dagegen nicht, eine Belehrungspflicht des Auftraggebers lediglich deshalb zu befilrworten, weil der Sachverständige gewissermaßen als menschliches Werkzeug unter "täuschendem Auftreten des Ermittlers selbst im Arztgewand" 844 eine Vernehmung des Ermittlers durchfilhre. Da der Sachverständige bei der Ermittlung von Zusatztatsachen eigenmächtig handelt, würden ihm folgerichtig bei seiner Vernehmung weder durch § I 36 noch durch § l36a StPO Schranken gesetzt. Warum der Richter sich dann dennoch das weisungswidrige Verhalten "seines" Sachverständigen als eigenes zurechnen lassen muß845 , obwohl andererseits vorgebracht wird, der Sachverständige unterscheide sich in seiner Rechtsstellung nicht von der des Zeugen, bleibt offen846 . Verständlich wird dies nur dann, wenn man die oben dargestellte inhaltliche Begrenzung der Ermittlungstätigkeit des Sachverständigen durch den behördlichen Auftrag und die diesem zugrundegelegten Befundtatsachen berücksichtigt. Vgl. dazu die Beispiele und Nachweise bei Geppert, DAR 80, S. 316 f. In diesem Fall scheint anders als bei "ad hoc"-Entscheidungen der Polizei eine disziplinierende Wirkung eines Verwertungsverbotes durchaus vorstellbar, wird doch ein Gutachtenauftrag durch einen Richter schriftlich und im Bewußtsein dieser Grenzen erstellt. 843 So der BGH in BGHSt 13, 4; JR 69, S. 231, ohne daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. 844 So aber Fincke, ZStW 86 ( 1974), S. 665; ihm folgend Kühne, Strafprozeßlehre, RN 514.1. Abgesehen von den kaum nachweisbaren Fällen einer absichtlichen Umgehung einer formliehen Vernehmungssituation durch die Strafverfolgungsbehörden ist der Sachverständige dann, wenn er "nicht als solcher tätig wird" (vgl. Fincke, a. a. 0. S. 660), gerade kein verlängerter Arm des Auftraggebers. Will man tatsächlich davon ausgehen, daß der Sachverständige auch in diesen Fällen "Beweismittler" der Strafverfolgungsorgane ist, müßte man auch die von Fincke abgelehnte Konsequenz ziehen und dem Sachverständigen doch eine Art Organstellung zuerkennen. 845 So Kühne, Strafprozeßlehre, RN 514.1. 846 Vgl. dazu die Nachweise bei Kleinknecht I Meyer-Goßner, vor§ 72 StPO, RN 8. 841

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Teil 111: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

Die hier vorgeschlagene Lösung wird sicherlich keine ungeteilte Zustimmung finden, denn häufig werden Zusatztatsachen im Rahmen einer Exploration nur deshalb bekannt, weil der Sachverständige mit einem besonderen Einfilhlungsvermögen auf den Beschuldigten eingehen kann. Der bei Verzicht auf eine Verwertbarkeit von Zusatztatsachen zu erwartende Beweismittelverlust ist jedoch hinzunehmen, weil die durch das "professionelle" Einfiihlungsvermögen des Sachverständigen entstehenden Gefahren ftlr die Aussagefreiheit des Beschuldigten diesen gerade von einem beliebigen privaten Dritten unterscheiden.

§ 14 Verwertungsverbote zum Schutz der Aussagefreiheit Wenn die dargestellten Voraussetzungen ftlr die Beweiserhebung nicht beachtet worden sind, so stellt sich die z. T. schon erörterte Frage, ob das rechtswidrig erlangte Beweismittel einem Beweisverwertungsverbot unterliegt. Im folgenden soll nicht der wenig nutzbringende Versuch gemacht werden, ein übergreifendes und Allgemeingültigkeit beanspruchendes Prinzip zur Frage von Inhalt und Reichweite von Beweisverwertungsverboten am Beispiel der Aussagefreiheit zu entwickeln. Da allen im Schrifttum entwickelten Kategorien847 letztlich nur eine ordnende Funktion zukommt848, ohne daß sich aus diesen konkrete Aussagen ftlr künftige Fallgestaltung ableiten ließen, soll lediglich untersucht werden, welche strafprozessualen Folgen sich aus der Verletzung der Belehrungspflichten und der Beeinträchtigung der Aussagefreiheit in den einzelnen Fallkonstellationen ergeben. Übergreifende Prinzipien, die für alle Beweisverwertungsverhole gleichermaßen Gültigkeit beanspruchen, werden sich schon deshalb schwerlich finden lassen, weil Verwertungsverbote vorrangig "prozessuale Mittel zur Durchsetzung des Schutzes materiellen Rechts" sind849. In Abhängigkeit zur jeweils betroffenen Rechtsposition sind damit unterschiedliche 847 Etwa die Einteilung in Beweiserhebungs-, Beweisthemen- und Beweismethodenverbote. Zu weiteren begrifflichen Systematisierungsversuchen vgl., Koriath, Über Beweisverbote, S. 22 ff. Es läßt sich ebensowenig ein Obergreifendes Prinzip finden, das alle Beweisverwertungsverbote gleichermaßen begrUnden könnte. So befUhren sowohl die Rechtskreis- (vgl. dazu erstmals BGHSt 11, 215), Schutzzweck- (vgl. dazu u. a. KMR-Paulus, § 244 StPO, RN 516 f. m. w. N.) als auch die Rechtsmitteltheorie (vgl. Otto, GA 70, S. 290 ff.) nur Teilaspekte der Beweisverwertungsverbotsproblematik. Soweit auf eine Disziplinierungs- oder generalpräventive Wirkung (vgl. dazu Dencker, Verwertungsverbote), der Beweisverwertungsverbote abgestellt wird, vermag dies schon empirisch nicht zu überzeugen (vgl. auch die Kritik von Herrmann, ZStW 95 (1983), S. 111 ff.). Gegen eine "einheitliche Gesarnttheorie" der Beweisverwertungsverbote auch Widmaier, in: Wahrheitsfindung, S. 3. 848 So zutreffend Beu/ke, StV 90, S. 181; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24, RN 23 m. w.N. 849 Vgl. Herrmann, FS für Jescheck, S. 1292.

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Kriterien filr die Reichweite und Anerkennung von Verwertungsverboten verantwortlich, die kaum auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können850. Ausgangspunkt der Überlegungen bildet deshalb die von einem Großteil des Schrifttums im Bereich unselbständiger Verwertungsverbote vertretene Abwägungslehre, die ein Verwertungsverbot filr erforderlich hält, wenn sich aufgrund einer wertenden Betrachtung ergibt, daß die Individualinteressen des Bürgers an der Bewahrung seiner Rechtsgüter das Strafverfolgungsinteresse des Staates überwiegen851 . Daß daneben natürlich auch Schutzzweckerwägungen852 eine bedeutende Rolle spielen, ist offenkundig. Ohne Klärung der Frage, welche konkreten verfassungsrechtlichen Güter durch die Verletzung der jeweiligen Norm berührt sind, kann auch keine Entscheidung über die der Abwägung zugrunde zu legenden Abwägungsparameter getroffen werden. Dennoch hilft es wenig, wenn im Schrifttum betont wird, der Norminhalt einer Beweisgewinnungsvorschrift müsse die Kernfrage der Beweisverwertungsproblematik sein853 . Auch dann bleibt offen, welche Beweiserhebungsvorschriften über das in ihnen geregelte Eingriffsverbot hinaus zum Norminhalt haben, daß das unter Verletzung der Norm gewonnene Beweismittel der Wahrheitsfmdung nicht zur VerfUgung steht854 . Dies läßt sich wiederum nur durch eine folgenorientierte Abwägung der berührten Belange ermitteln855 • Allerdings weist diese Kritik zu Recht daraufhin, daß

850 Interpretiert man beispielsweise einen Großteil der Verwertungsverbote als Informationsbeherrschungsrechte (vgl. Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 30 ff.), so ist damit zunächst wenig gewonnen. Bevor nicht durch Schutzzweckerwägungen geklärt ist, welche subjektiven Rechte dem einzelnen die Befugnis verleihen, über bestimmte Informationen zu verfUgen - wobei selbst dann noch der Umfang des Verfügungsrechts unklar ist und durch Abwägung ermittelt werden muß -, läßt sich dadurch kein Mehr an "Berechenbarkeit und Gerechtigkeit" erreichen (so aber Amelung, a. a. 0., S. 10). Auch der Gesichtspunkt des hypothetischen Ersatzeingriffs (angesprochen in BGHSt 34, 39) ist lediglich ein Aspekt der grundsätzlich gebotenen Abwägung. 851 U. a. Alsberg I Nüse I Meyer, Der Beweisantrag, S. 480; Herrmann, FS für Jescheck, S. 1292 ff.; Roga/1, ZStW 91 (1979), S. 30; Roxin, wie FN 193 und NStZ 89, S. 379. 852 Vgl. zur Schutzzwecklehre u. a. Grünwald, Beweisrecht, S. 141 ff. und Störmer, Dogmatische Grundlagen, S. 181 ff. jeweils m. w. N. Auch die vielgescholtene Rechtskreistheoriedes BGH (vgl. BGHSt ll, 213 ff.) ist nur Ausdruck dieser Frage nach dem Regelungszweck einer Vorschrift (vgl. nur a. a. 0., S. 215: Für die Revisibilität ist vor allem entscheidend "der Rechtfertigungsgrund der Bestimmung und die Frage, in wessen Interesse sie geschaffen ist"). Zutreffend auch Herdegen, in: Wahrheitsfindung, s. 118 f. 853 Fezer, Grundfragen, S. 16. 854 So aber der Ansatz von Fezer, a. a. 0., S. 27. 855 Auch die Ausführungen Fezers belegen dies. So stellt er fest, daß keineswegs jeder Verstoß automatisch ein Verwertungsverbot zur Folge habe, vielmehr durch Auslegung ermittelt werden müsse, inwieweit die Selbstbeschränkung des Staates bei der Wahrheitsfindung in der Norm zum Ausdruck gebracht ist. Doch wer bestimmt dies?

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Teil III: Die Umsetzung des nemo tenetur-Grundsatzes

die grundsätzlich erforderliche Abwägung in vielen Fällen bereits durch den Gesetzgeber bei Schaffung der Beweiserhebungsnonn erfolgt ist856• Das beste Beispiel dafilr ist die Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden, den Beschuldigten über sein Schweigerecht zu belehren. Ist unter Berücksichtigung des Schutzzwecks von § 136 StPO geklärt, wie weit das Belehrungserfordernis reicht, dann ist es der Rechtsprechung verwehrt, diese Wertentscheidung des Gesetzgebers einzelfallorientiert in einem zweiten Abwägungsschritt in Frage zu stellen857• Damit besteht zwischen Schutzzweck- und Abwägungslehre ein geringerer Unterschied, als sich anfänglich vennuten läßt. Schutzzweckerwägungen sind der notwendige erste Schritt zur Feststellung eines Beweisverwertungsverbotes, ohne daß damit jedoch - abgesehen von den Fällen, in denen die zunächst erforderliche, teleologische Auslegung der verletzten Nonn zu dem Ergebnis fiihrt, daß jede Verletzung der Nonn ein Beweisverwertungsverbot auslöst, - ein endgültiges Urteil über die Folgen einer Rechtsverletzung gefällt ist858 . Soweit der belehrungsptlichtige Vernehmende dem Beschuldigten das Bestehen einer Aussagepflicht bewußt vorspiegelt, ergibt sich nach allg. Auffassung bereits aus § 136a 111 S. 2 StPO die Unverwertbarkeit einer dadurch erlangten Aussage, denn § 136a I S. 1 StPO umfaßt auch die absichtliche Täuschung über Rechtsfragen859• Die Frage, ob abgesehen von diesen Fällen die Nichtbeachtung der Belehrungsptlicht ein Verwertungsverbot zur Folge hat, war lange Zeit außerordentlich umstritten. Der BGH ging zunächst auch filr die in § 243 IV S. 1 StPO nonnierte Hinweispflicht davon aus, daß diese lediglich eine Ordnungsvorschrift und nicht zwingendes Recht darstelle und deshalb deren Verletzung kein Verwertungsverbot nach sich ziehe860• In der Folgezeit reLetztlich nur der Richter, der durch Abwägung versucht, die Entscheidung des Gesetzgebers nachzuvollziehen. 856 Vgl. dazu Fezer, Grundfragen, S. 21 ff., 28 ff. 857 So aber völlig verfehlt der 1. Senat des BGH bei Beurteilung der Frage, ob die Polizei eine Vernehmung abzubrechen hat, wenn der Beschuldigte die Hinzuziehung eines Verteidigers verlangt hat, vgl. BGHSt 42, 174 f. Dazu Herrmann, NStZ 97, S. 212. 858 Vgl. auch die überzeugende Kritik von Herrmann, ZStW 95 (1983), S. 116, und Roga/1, in: Zur Theorie und Systematik, S. 154 f. m. w. N. Zutreffend auch Haf!ke, GA 73, S. 77 ff. Unberechtigt deshalb der Vorwurf Amelungs, Informationsbeherrschungsrechte, S. 9 f., die Rechtsprechung drohe sich in einer "Abwägungslehre zu verlieren". Entgegen Amelung (a. a. 0., S. 52) wird die erforderliche Abwägung in vielen Fällen zu dem Ergebnis filhren müssen, daß jede Verletzung einer bestimmten Norm automatisch ein Verwertungsverbot zur Folge haben muß. 859 Vgl. BGHSt 22, 175 f.; 31, 399 f.; OLG Oldenburg NJW 67, 1096, 1098; LRHanack, § 136a StPO, RN 34; SK-Roga/1, vor§ 133 StPO, RN 168m. w. N. Eine Ausdehnung von § 136a StPO auf die Fälle der unabsichtlichen Täuschung und damit auch auf das Unterlassen der Belehrung bejaht u. a. Bauer, Die Aussage, S. 154 f. m. w. N. 860 BGH GA 62, 148; NJW 68, 1719; BGH Urt. v. 13.07.73 (I. StR 232/73); BGHSt 22, 170.

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vidierte er diese Auffassung fiir die nach § 243 IV S. 1 StPO in der Hauptverhandlung erforderliche Belehrung und bejahte einen revisiblen Verfahrensverstoß, wenn der unterlassene Hinweis erforderlich war, um den Angeklagten über seine Rechte zu informieren, und er bei deren Kenntnis die Aussage zur Sache verweigert hätte861 • Unter Hinweis auf Hanack862 verwarf der BGH seine früher vertretene Auffassung, daß § 243 IV S. 1 StPO eine Ordnungsvorschrift sei, als "methodisch veraltet" und stellte nunmehr auf den Verfahrenszweck von § 243 IV S. I StPO und die Auswirkungen eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht auf die Rechtsstellung des Angeklagten ab. Interessant ist, daß der BGH bereits in diesem Urteil ein Verwertungsverbot bei unterlassener Belehrung in der Hauptverhandlung nur einschränkte anerkannte. Ein rügefiihiger Verstoß liegt nach seiner Ansicht nicht vor, wenn der Angeklagte seine Verteidigungsmöglichkeiten ohnehin kenne oder er auch in Kenntnis seiner Aussagefreiheit zur Sache ausgesagt hätte 863 • Der BGH verneinte in diesen Fällen bereits einen Verfahrensverstoß i. S. v. § 337 StPO. Auf die Frage, ob das Urteil auf der Gesetzesverletzung beruht, kam es somit nicht mehr an. Ferner deutete er in diesem Beschluß an, daß die dargestellten Grundsätze nicht ohne weiteres auf das Ermittlungsverfahren übertragen werden könnten, denn was fiir die Hauptverhandlung gelte, auf deren Inbegriff das Urteil beruhe, müsse nicht ohne weiteres fiir das Vorverfahren Gültigkeit beanspruchen864 . Unter Berufung auf diese Entscheidung verneinte der BGH im folgenden dann auch ein Verwertungsverbot fiir Aussagen des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren, sofern der nach §§ 163a IV S. 2, 136 I S. 2 StPO gebotene Hinweis unterlassen wurde865 • Der BGH hat sich nunmehr der langjährigen Kritik an dieser Rechtsprechung gebeugt und ein Verwertungsverbot auch bei unterlassener Belehrung im Rahmen einer polizeilicher Vernehmung angenommen866• Er begründet seine Entscheidung mittels einer umfassenden Abwägung der betroffenen Interessen und berücksichtigt dabei sowohl das Gewicht des Verfahrensverstoßes und dessen Bedeutung fiir die rechtlich geschützte Sphäre des Beschuldigten als auch die Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und der WahrheitserforBGHSt 25, 325. Hanack, JZ 71 , S. 168 f. Zur Kritik an der Qualifizierung von § 136 I S. 2 StPO als bloße Ordnungsvorschrift, vgl. Bau.er, Die Aussage, S. 143 ff. m. w. N. insbesondere in FN 1 aufS. 144. 863 BGHSt 25, 330 f. 864 BGHSt 25, 331 . 865 BGHSt 31, 395. 866 BGHSt 38, 214 ff. Vgl. auch BGHSt 39, 349 ff. ; 42, 25 ff. Zuvor bereits AG Gelnhausen StV 91, 206. Zur Übertragbarkeit der in den genannten Urteilen entwickelten Grundsätze auf das Disziplinarverfahren vgl. BGH StV 97, 337 f. Zur Kritik des Schrifttums, vgl. u. a. die Nachweise bei Grünwald, JZ 83, S. 718 f. 861

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schung. So kommt er zu dem Ergebnis, daß ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht des § 136 I S. 2 StPO in aller Regel ein Verwertungsverbot nach sich zieht. Das Schrifttum kritisiert die Vorgehensweise des BGH mit der Feststellung, daß bei vielen, an genau festgelegte Voraussetzungen gebundenen Vorschriften der Gesetzgeber bereits eine Abwägung getroffen habe, die zur Folge hat, daß ein Verstoß gegen diese Vorschriften eo ipso ein Verwertungsverbot nach sich zieht867 • Diese Kritik verkennt, daß der BGH seine Entscheidung allein auf die in § 136 StPO durch den Gesetzgeber zum Ausdruck gebrachte Wertung gestützt hat. Er unterläßt damit im vorliegenden Fall die allgemein übliche Relativierung der Beweisverwertungsverbote im Rahmen eines Abwägungsvorgangs. Statt dessen zieht er aus der Tatsache, daß die Verfahrensnorm des § 136 StPO dazu bestimmt ist, die "Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung" des Angeklagten zu sichern, den Schluß, bei Verletzung der Hinweispflicht müsse im Regelfall ein Beweisverwertungsverbot angenommen werden. Ob der BGH sich damit tatsächlich der Schutzzwecklehre angeschlossen hat868 , kann offenbleiben. Das von ihm gefundene Ergebnis läßt sich ebenso begründen, wenn man annimmt, daß es abwägungsfeste Verfahrensnormen, wie etwa den § 136 I S. 2 StPO gibt, die sich von Anfang an einer abwägenden Einschränkung durch Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege entziehen, weil die entsprechende Abwägung bereits bei Schaffung der Norm berücksichtigt wurde. Im übrigen wäre es widersinnig, bei Prüfung eines sich aus § 136 I S. 2 StPO ergebenden Verwertungsverbotes das entgegenstehende Aufklärungsinteresse berücksichtigen zu wollen, denn die durch die Aussage gewonnenen Erkenntnisse wären bei rechtzeitiger und ordnungsgemäßer Belehrung und Schweigen des Beschuldigten ohnehin nicht erlangt worden869• Daß die Ableitung des Verwertungsverbotes aus § 136 StPO noch nicht hinreichend gefestigt ist, zeigt sich an zwei Folgeentscheidungen des BGH. Sie nehmen zur Frage Stellung, ob eine Vernehmung des Beschuldigten über eine Verlesung eines richterlichen Protokolls gern. § 254 I StPO in die Hauptverhandlung eingefilhrt werden kann, wenn sie unter Geltung einer Verfahrensordnung erlangt wurde, die keine Belehrung über das Recht, nicht zur Sache auszusagen, vorsieht870• In der ersten der beiden Entscheidungen lehnte der BGH ein Vgl. Fezer, JR 92, S. 385; Roxin, JZ 92, S. 924. So Fezer, JR 92, S. 386. 869 Vgl. auch Paulus, NStZ 90, S. 294. 870 Zur Verwertbarkeit einer unter Geltung der StPO-DDR erlangten Aussage, vgl. BGHSt 38, 263 ff.; zur Verlesbarkeit ausländischer Vernehmungsniederschriften (hier StPO des Kantons Luzern), vgl. BGH NStZ 94, 595 ff. Die Untersuchung wurde in diesem Fall zunächst durch den Amtsstatthalter von Luzern durchgefiihrt. Später wurde das Verfahren von deutschen Gerichten übernommen und der Angeklagte verweigerte in der Hauptverhandlung die Aussage. 867

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Verwertungsverbot filr eine unter Geltung der StPO-DDR ohne Belehrung erlangte Beschuldigtenaussage ab871 , obwohl einer der beiden Angeklagten in der Hauptverhandlung die Einlassung zur Sache verweigerte und der andere Angeklagte von seinen ursprünglichen Angaben abrückte. Zutreffend stellte der BGH zunächst fest, daß allein das Fehlen einer gesetzlich verankerten Belehrungspflicht die Verwertung einer richterlichen Vernehmung nicht rechtfertigen könne872. Dies steht ganz im Einklang mit der oben aufgezeigten Funktion der Belehrungsvorschriften als notwendige, fast spiegelbildliche Konsequenz des auch im früheren Recht der DDR Geltung beanspruchenden nemo teneturGrundsatzes873 und damit der Ableitung des Verwertungsverbotes vorwiegend aus diesem Grundsatz und nicht aus der Verletzung einer ausdrücklich normierten Belehrungspflicht. Inkonsequent ist allerdings die vom BGH vorgenommene Abwägung der rechtsstaatliehen Verfahrensgarantien der Angeklagten mit den praktischen Erfordernissen des Einigungsprozesses874. Zunächst muß bezweifelt werden, daß diese Erfordernisse eine eigenständige Bedeutung gegenüber dem Begriff der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege besitzen. Zumindest als Abwägungsfaktor gegen fundamentale Verfahrensrechte eines Beschuldigten kommt ihnen nicht mehr als die im Urteil selbst angesprochene Bestimmung zu, daß bei Nichtzulassung einer Verwertung eine Fortfilhrung der Verfahren in vielen Fällen unmöglich ist. Damit ist letztlich nichts anderes ausgedrückt, als daß in diesen Fällen die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege schwerwiegend beeinträchtigt würde. Diese Belange bezog der BGH in seiner früheren Entscheidung aber zu Recht gerade nicht in eine Abwägung mit ein, da durch sie das elementare Recht auf Aussagefreiheit nicht relativiert werden darr5 . Der BGH setzt sich aber nicht nur in diesem Punkt in Widerspruch zu seiner vorangegangenen Entscheidung. Er hatte zuvor klar und deutlich festgestellt, der Umstand, daß ein Verfahrensverstoß gegen § 136a StPO in der Regel wesentlich schwerer wiege als ein Verstoß gegen die Hinweispflicht, könne nicht 871 Vgl. Anlage I, Kapitel III, Sachgebiet A, Abschnitt III, Nr. 28 g des Einigungsvertrages. 872 BGHSt 38, 265. 873 Vgl. die Nachweise in BGHSt 38, 267 f. 874 BGHSt 38, 266 ff. 875 Dem BGH im Ergebnisjedoch zustimmend, Fezer, JR 93, S. 428, der in der Verwertbarkeit eine praktisch unumgängliche, politische Entscheidung sieht. Seine Ausführungen, daß bei Unverwertbarkeit der Aussage solche Verfahren erneut durchgeführt werden müßten, verdienen jedoch keine Zustimmung, denn man kann nur hoffen, daß sich die Verurteilung der Täter nicht lediglich auf eine unter fragwürdigen Umständen erlangte Aussage des Beschuldigten bezieht. Sind dennoch nicht ausreichend weitere Beweismittel vorhanden und auch nicht auffindbar, so entspricht es dem Verständnis eines rechtsstaatliehen Strafverfahrens, den Täter freizusprechen. Der Auffassung Fezers folgend dagegen Wohlers, NStZ 95, S. 46.

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zur Begründung der Ablehnung eines Verwertungsverbotes bei Verletzung dieser Pflicht herangezogen werden876• Bei der Frage der Verwertbarkeit früherer DDR-Vernehmungen glaubt der BGH nun, auf diesen wenig nutzbringenden und unsystematischen Vergleich nicht verzichten zu können877• Obwohl er feststellt, es seien Fallgestaltungen denkbar, bei denen der Inhalt einer DDRVernehmung auch dann unverwertbar sei, wenn § 136a StPO nicht verletzt ist, begnügt sich dennoch der Hauptteil der Begründung damit, die Rechtsstaatswidrigkeit eines unter§ 136a StPO zu subsumierenden Vorgehens aufzuzeigen. Dies kann letztlich nur bedeuten, daß der BGH hier einen von ihm bereits abgelehnten "Schwerevergleich" vornimmt878 • Die genannten Entscheidungen sind auch mit der revisionsrechtlichen Würdigung des BGH von Zeugenvernehmungen nach ausländischen Verfahrensordnungen, die ein Zeugnisverweigerungsrecht der Verlobten eines Beschuldigten nicht kennen und deshalb auch keine entsprechende Belehrung vorsehen, nicht in Einklang zu bringen. Warum der BGH in diesen Fällen die Verwertbarkeit unter Hinweis auf den Rechtsgedanken des § 252 StPO auch bei richterlicher Vernehmung verneint879, ist wenig einsichtig, denn § 252 StPO findet nach ständiger Rechtsprechung keine Anwendung aufrichterliche Vernehmungen880• Folgerichtig könnte der BGH ein Verwertungsverbot damit nur mit der auch bei einer Beschuldigtenvernehmung einschlägigen Begründung bejahen, die Belehrung diene der Sicherung eines elementaren Rechtes des Zeugen. Denkt man sich schließlich das zutreffende Argument des BGH hinzu, das Unterbleiben des Hinweises beschränke die Rechtsausübung auf eine Alternative und verkürze das Recht selbst881 , kann der Hinweis, daß in Hinblick auf eine BelehrungsVgl. BGHSt 38, 223. Kritisch auch Kiehl, NJW 93, S. 503 878 Es sei nur am Rande erwähnt, daß auch die vom BGH nur sehr lückenhaft zitierte DDR-Literatur betont, das sozialistische Strafverfahren verzichte auf alle Methoden der Geständniserlangung, die die Würde der Persönlichkeit verletzen und die Stellung des Beschuldigten als Prozeßsubjekt beeinträchtigen oder ausschalten. Es seien deshalb alle Formen der Einwirkung zu vermeiden, mit denen unzulässiger Druck auf den Beschuldigten ausgeübt werden könne, und insbesondere dürfe nicht aus einem Leugnen oder einer falschen Aussage auf die Schuld des Täters geschlossen werden (vgl. Autorenkollektiv unter Leitung von Horst Luther, Strafverfahrensrecht, Lehrbuch, 3. Auflage 1987, S. 150 f.). Der Beschuldigte sei nicht dazu verpflichtet , sich oder andere zu belasten oder an der Erforschung der Wahrheit mitzuwirken, sondern besitze hierzu lediglich ein unbedingt zu respektierendes Recht (a. a. 0., S. 197 (). Bis auf die vom BGH zitierten Lehrbuchstellen unterscheidet sich damit die in diesem Lehrbuch vertretene Auffassung nur wenig von der des bundesdeutschen Musters. 879 BGH NStZ 92, 394. 880 BGHSt 32, 25, 29; 36, 384, 385; BGH NStZ 85, 36. 881 BGHSt 38, 221. Daß der BGH hier lediglich von einer Verkürzung des Rechts spricht, kann nur bedeuten, daß er davon ausgeht, dem Angeklagten verbleibe zumindest die Möglichkeit, sich durch Reden zu verteidigen. Bezogen auf das Recht zur Aussageverweigerung ist die Formulierung in BGHSt 12, 238 (zur Frage einer Belehrung nach 876

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pflicht "unterschiedliche rechtsstaatliche Gestaltungsformen" denkbar sind882, nur so verstanden werden, daß der BGH seine langjährige Rechtsprechung nicht selbst als rechtsstaatswidrig erachten wollte. Entgegen der Auffassung des BGH ist die Belehrung nicht nur "ein wichtiger Beitrag zur Sicherung"883 der Aussagefreiheit, sondern sie ermöglicht in vielen Fällen erst eine Ausübung des Rechts. Ein wesentlicher Gesichtspunkt wird schließlich vom BGH auch in seiner Parallelentscheidung zur Verwertbarkeit einer in einem schweizerischen Ermittlungsverfahren gewonnenen Beschuldigtenaussage884 außer acht gelassen. Er verkennt die besondere Bedeutung des Ermittlungsverfahrens filr die Hauptverhandlung, denn trotz ordnungsgemäßer Belehrung im Hauptverfahren gern. § 243 IV S. l StPO hat der Angeklagten keine wirklich freie Entscheidung mehr, ob er sich durch Reden oder Schweigen verteidigen will, wenn seine frühere, in Unkenntnis der Wahlmöglichkeit abgegebene Erklärung über Verlesung eines richterlichen Vernehmungsprotokolls in die Hauptverhandlung eingefilhrt werden kann. Droht eine entsprechende Verwertung einer früheren selbstbelastenden Aussage, so wird der Angeklagte gezwungen auszusagen, um seine frühere Aussage möglicherweise zu entkräften885 • Die Auffassung des BGH würde dazu fUhren, daß der Angeklagte aufgrund zufälliger Unkenntnis seiner elementaren Verfahrensrechte unter Verstoß gegen Art. 3 I GG willkürlich Rechtsnachteile erleiden müßte 886• Es geht demnach nicht darum, eine andere Verfahreosordnung als "grundlegenden rechtsstaatliehen Anforderungen widersprechend zu beurteilen"887, sondern um die Sicherung elementarer Verfahrensrechte in einer nach den Regeln der StPO durchgefilhrten Hauptverhandlung. I. Rügelast bei Verletzung der Belehrungspflicht

Läßt sich nicht klären, "ob der Hinweis (nach § 136 I S. 2 StPO) gegeben worden ist oder nicht", so ist der BGH der Auffassung, daß"( ... ) der Tatrichter §Sie StPO) wesentlich treffender:"( ... ) ein Recht, das man nicht kennt, kann man nicht ausüben". 882 BGHSt 38, 267 f. 883 BGH a. a. 0. 884 V gl. BGH NStZ 94, 595 ff. 885 Vgl. dazu die zutreffende Argumentation des AG Gelnhausen, StV 91, 206, zur Verwertbarkeit einer unter Verletzung gegen die Belehrungspflicht zustande gekommenen Beschuldigtenaussage in "informatorischer" Befragung. 886 Vgl. auch Kieh/, NJW 93, S. 503. 887 So a,ber BGH NStZ 94, 596. Dies verkennt auch Britz, NStZ 95, S. 608. Zutreffend dagegen Wohlers, NStZ 95, S. 46, der darauf hinweist, daß zwischen der Beweiserhebung, die sich zwangsläufig nach der jeweiligen Verfahrensordnung richten müsse, und der Beweisverwertung im deutschen Strafverfahren differenziert werden müßte.

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den Inhalt der Vernehmung verwerten" darf88 . Die praktische Relevanz dieser Einschränkung dürfte nicht zu unterschätzen sein. Insbesondere in den häufigen Fällen einer Vernehmung ohne ~rrnliche Protokollerstellung, beispielsweise unmittelbar am Unfallort bei Ermittlung wegen einer Verkehrsstraftat, dürfte dem Beschuldigten der Nachweis fehlender, nicht ordnungsgemäßer oder rechtzeitiger Belehrung oft unmöglich sein889. Daß damit Zweifel am Vorliegen eines Verfahrensverstoßes in vielen Fällen zu Lasten des Beschwerdefiihrers gehen, ist aufweite Ablehnung gestoßen890 . Es wird insbesondere hervorgehoben, daß bereits die Möglichkeit eines Verstoßes gegen eine von der Achtung der Menschenwürde und von den Erfordernissen eines fairen Verfahrens geprägten Vorschrift die Anwendung des "in dubio pro reo"-Grundsatzes rechtfertige891 • Es sei nicht einzusehen, warum Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens nicht ebenso schwer wiegen wie Zweifel an der Schuld des Angeklagten892 • Die Begründung des BGH sei in sich widersprüchlich, da Zweifel an der Kenntnis des Aussageverweigerungsrechts zugunsten des Angeklagten wirken würden, obwohl es sich in beiden Fällen um einen lediglich prozessual relevanten Umstand handle893 . Die Auffassung des BGH entspricht jedoch der grundsätzlichen "Beweislastverteilung", wie sie sich den§§ 344 li S. 2, 337 I StPO fUr die Revisionsinstanz entnehmen läßt894 • Mit der Anerkennung eines sich aus den §§ 136 I S. 2, 163a IV S. 2 StPO ergebenden Beweisverwertungsverbotes ist noch keine Aussage darüber getroffen, bis zu welchem Grad das Revisionsgericht davon überzeugt sein muß, daß ein entsprechender Verfahrensverstoß auch tatsächlich stattgefunden hat. Eine Lösung der Problematik ist deshalb mittels der allgemeinen revisionsrechtlichen Grundsätze zu suchen. Für einen Verfahrensverstoß nach § 337 I StPO gilt nach h. A. die Regel, daß dieser zur Überzeugung des Revisionsgerichts feststehen, d. h. bewiesen sein muß895. Der Beschwerdefiihrer hat BGHSt 38, 224. Ergänzung in Klammem durch den Verfasser. Vgl. etwa BG Meiningen DAR 92,393 m. w. N. 890 Bohlander, NStZ 92, S. 505; Hau/, MDR 93, S. 196; Kleinknecht I MeyerGoßner, § 136 StPO, RN 20; Roxin, JZ 92, S. 923; ders., Strafverfahrensrecht, § 15, RN 40 m. w. N.; Wohlers, NStZ 95, S. 46; vgl. bereits Eb. Schmidt, JR 62, S. 110; kritisch z. T. die Rspr. der Untergerichte, vgl. etwa BG Meiningen, DAR 92, 393; eine Anwendung des in dubio pro reo Grundsatzes bei der Feststellung eines Verstoßes gegen § 136a StPO ablehnend LG Marburg StV 93, 238. A. A. auch Bauer, wistra 93, S. 99. 891 Vgl. auch Roxin, 40 Jahre Bundesgerichtshof, S. 77. Nach dessen Auffassung genügt es, wenn ernsthafte Gründe filr die Annahme eines Verfahrensverstoßes vorliegen. 892 Roxin, JZ 92, S. 923 f. 893 Bohlander, NStZ 92, S. 505; Roxin, JZ 92, S. 924. 894 So zutreffend Bauer, wistra 93, S. 99. 895 Vgl. nur BGHSt 16, 164, 167; bei Miebach, NStZ 88, 213; NStZ 93, 395; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 337 StPO, RN 10m. w. N.; ablehnend Eb. Schmidt, JR 62, S. 110 f.; LR-Hanack, § 337 StPO, RN 76; Roxin, NStZ 89, S. 378. 888

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nach § 344 II S. 2 StPO diejenigen Tatsachen anzugeben, aus denen sich der Verfahrensverstoß ergibt, und das Gericht stellt im Freibeweisverfahren die tatsächliche Berechtigung der Rüge fest. Dabei kann ftlr die Feststellung des Verfahrensverstoßes verfassungsrechtlich unbedenklich896 der Zweifelssatz keine Anwendung fmden 897. Daß es andererseits filr den Nachweis der fehlenden Kenntnis der Aussagefreiheit genügt, wenn der Tatrichter aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte ernsthafte Zweifel an dem Wissen des Angeklagten um sein Schweigerecht hat, steht nicht in Widerspruch zu den oben aufgezeigten Anforderungen, denn dies betrifft die Feststellung, ob das Urteil auf dem bereits bewiesenen Verfahrensverstoß i. S. v. § 337 I StPO beruht. Der ursächliche Zusammenhang zwischen Gesetzesverstoß und Urteil muß nach h. A. aber nicht bewiesen sein, sondern es genügt die bloße Möglichkeit, daß das Urteil auf dem Fehler beruhen kann898 . Diese "abgestufte Beweislast" entspricht durchaus sachgerechten Erwägungen899. Steht noch nicht fest, daß das Verfahren unter einem wesentlichen Mangel leidet, so ist es nicht unangemessen, dem Beschwerdefilhrer das Risiko fehlender Nachweismöglichkeit aufzuerlegen. Anders als bei Prozeßhindernissen, die dem Verfahren als Ganzes entgegenstehen, betreffen die Belehrungsvorschriften nur Teilaspekte des Verfahrens und nicht die Frage, ob die Tat überhaupt noch staatlicher Strafgewalt unterliegt900 . Auch die Gegenauffassung, die eine Ausweitung des "in dubio"-Grundsatzes auf die revisionsrechtliche Prüfung von Verfahrensverstößen befilrwortet, schränkt dessen Geltung dahingehend ein, daß nicht jede unsubstantiierte, durch keine konkreten Indizien gestützte Behauptung genügen soll, sondern der Richter ernsthafte Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit des Verfahrensablaufes hegen mUsse901 • Der Unterschied zur Position der h. M. dürfte deshalb geringer sein als vielleicht auf den ersten Blick angenommen werden könnte. Wenn konkrete Anhaltspunkte filr einen Verstoß gegen§ 136a oder§ 136 StPO bestehen, wird, auch wenn man der h. M. folgt, eine Verwertung der dadurch erlangten

896 Nach zutreffender Auffassung auch des BVerfGs in DAR 83, 208, erlangt der "in dubio pro reo"-Grundsatz nur Bedeutung ftlr Frage der Strafe oder Schuld. 897 Ständige Rechtsprechung vgl. nur BGHSt 16, 164, 167; 21, 4, 10; BGH NJW 78, 1390. . 898 Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 337 StPO, RN 37m. w. N. 899 Auch wenn die Begriffe der Darlegungs- und Beweislast i. S. einer klaren strafprozessualen Dogmatik vermieden werden, besteht aufgrund der ähnlichen beweisrechtlichen Konsequenzen eine durchaus vergleichbare Situation, vgl. auch Bauer, wistra 93, s. 100. 900 Dies verkennt Bohlander, NStZ 92, S. 505. 901 Hau/, MDR 93, S. 195; Kühne, Strafprozeßlehre, RN 575; Roxin, NStZ 89, S. 378.

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Aussage zu Lasten des Angeklagten nicht in Betracht kommen902 . Problematisch sind lediglich die Fälle, in denen kein oder nur ein unzureichendes Protokoll erstellt wurde und auch sonst keine darOber hinausgehenden Beweismöglichkeiten vorhanden sind. Soll hier die mangelnde Aufklärbarkeit zu Lasten des Angeklagten gehen, obwohl es allein der Vernehmende in der Hand hatte, durch eine entsprechende Protokollierung die bestehenden Zweifel zu beseitigen? Dabei hilft es wenig, wenn gefordert wird, bereits bei ernsthaften Zweifeln zugunsten des Angeklagten vom Vorliegen eines Verfahrensverstoßes auszugehen, denn worauf sollen sich diese Zweifel stützen, wenn beispielsweise ein Polizeibeamter in Abwesenheit von Zeugen einen Beschuldigten vernimmt? Die Problematik dieser Fälle läßt sich auch nicht dadurch auflösen, daß man eine Glaubhaftmachung analog§§ 26, 44 StPO genügen läßt903 • Glaubhaftmachung im Sinne dieser Vorschriften verlangt zumindest, daß das Gericht die behaupteten Tatsachen filr wahrscheinlich hält. Eine eidesstattliche Versicherung - hier des Angeklagten, er sei nicht belehrt worden - genügt den Erfordernissen einer Glaubhaftmachung nach allgemeiner Auffassung nicht904 . Weitere Beweismittel stehen dem Angeklagten in den vorgenannten Fällen jedoch nicht zur VerfUgung und könnten wohl nur de lege ferenda durch eine erweiterte Kontrolle der polizeilichen Vernehmung geschaffen werden905 • Auch von der in Nr. 45 I RiStBV filr staatsanwaltschaftliehe und polizeiliche Vernehmungen geregelte Verpflichtung, eine vor Vernehmung erfolgte Belehrung aktenkundig zu machen, kann in Einzeltallen abgewichen werden, da sie nur eine Anweisung filr den Regelfall beinhaltet. Dennoch kann mit Hilfe dieser Protokollierungspflicht eine Lösung filr die sich aus der Beweisnot des Angeklagten ergebende Problematik gefunden werden. Der BGH betont selbst die besondere Bedeutung eines entsprechenden Aktenvermerks und weist den Tatrichter an, im Freibeweisverfahren besonders darauf zu achten, ob die erfolgte Belehrung entsprechend Nr. 45 I RiStBV aktenkundig gemacht worden ist906 • Dies kann nicht nur positiv so zu verstehen sein, daß bei erfolgtem AktenverBauer, wistra 93, S. 99 f. So der Vorschlag von Bauer, a. a. 0., S. 100. 904 Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 26 StPO, RN 9 m. w. N. 905 Etwa durch die Verpflichtung zu Video- oder Bandaufzeichnungen (vgl. dazu Steinke, Kriminalistik 93, S. 330 ff.; Eisenberg, JZ 84, S. 917 jeweils m. w. N. Interessant ist insoweit der Versuch des Supreme Court v. Alaska in Stephan v. State, 711 Pacific Reporter, P. 2d 1156, aus der due-process-clause die Verpflichtung zu entsprechenden Maßnahmen abzuleiten. Trotz der unterschiedlichen Voraussetzungen des Entstehens der Belehrungspflicht eine u. U. auch fUr Deutschland übertragbare Argumentation. Ist es nicht Ausdruck einer fairen, rechtsstaatliehen Verfahrensgestaltung, daß durch eine effektive Kontrolle der Polizeivernehmung eine angemessene Risikolastverteilung flir den Nachweis von Verfahrensverstößen sichergestellt wird? Vgl. bereits oben Teil I, § 2 IV 2 b aa). 906 BGHSt 38, 224. 902 903

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merk eine ordnungsgemäße Belehrung bewiesen ist, sondern muß auch umgekehrt so gedeutet werden, daß bei mangelnder schriftlicher Fixierung, eine "Beweislastumkehr" und widerlegbare Vennutung eintritt, daß die vorgeschriebene Belehrung unterlassen worden ist907 . Ein entsprechender, vom Angeklagten zu unterschreibender Vennerk bereitet dem vernehmenden Polizeibeamten zumindest in förmlichen Vernehmungen keine zusätzlichen Schwierigkeiten, da er in aller Regel in den Protokollformularen bereits vorgedruckt sein dürfte. Trotz der unterschiedlichen Prozeßmaximen, die Strafverfahren und Zivilprozeß beherrschen, drängt sich ein Vergleich zu zivilprozessualen Beweisregeln und hier explizit zur Darlegungslast im Arzthaftungsprozeß auf. Da der Patient vergleichbar dem Vernommenen in der Regel nicht in der Lage ist, eine mangelnde oder ungenügende Belehrung (im Arzthaftungsprozeß etwa die Belehrung über die Risiken einer Operation) zu beweisen, wird dem Arzt eine Dokumentationspflicht auferlegt, bei deren Verletzung Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr eintreten908 • Obwohl aufgrund der unterschiedlichen Prozeßarten sicherlich Zurückhaltung geboten ist, erscheint die überlegene Stellung des Polizeibeamten doch mit der eines Arztes in der genannten Situation vergleichbar. Da der Nachweis unterlassener Belehrung in vielen Fällen nur schwer gefilhrt werden kann, darf es nicht im freien Ermessen des Polizeibeamten liegen, ob er eine Dokumentation der Belehrung vornimmt. Es ist deshalb in den Fällen, in denen ein entsprechender - und natürlich um Fälle der rechtsmißbräuchlichen Umgehung zu vermeiden- vom Angeklagten zu unterschreibender Belehrungsvermerk unterlassen worden ist, im Revisionsverfahren widerleglieh von einem Verstoß gegen§ 136 I S. 2 StPO auszugehen. Dieser vor Beginn der Vernehmung vom Beschuldigten zu unterschreibende Belehrungsvennerk muß auch einen deutlich hervorgehobenen Hinweis enthalten, daß vor Belehrung des Beschuldigten weder eine Befragung noch eine sonstige Form der "Unterhaltung" stattgefunden hat. Es ist offensichtlich, daß bei Fehlen eines entsprechenden Hinweises die .bestehende Praxis des "informellen Vorgesprächs" weiter ausgeweitet werden könnte. Entgegen der Auffassung des BGH kann deshalb ein im Verlauf der Vernehmung erstellter Vermerk, die Belehrung habe zu "Beginn der verantwortlichen Vernehmung" stattgefunden909, fiir die im Freibeweisverfahren notwendige Überzeugung des Richters nicht ausreichend sein. Die vorgeschlagene, beschränkte Umkehrung der Beweislast entspricht auch in Fällen der nicht förmlichen Vernehmung oder infor-

907 So hat bereits das AG Offenbach StV 93, 122, entschieden, ein fehlender Aktenvermerk spreche dafiir, daß eine Belehrung unterblieben ist. 908 Vgl. nur Baumbach I Lauterbach I Albers I Hartmann, Zivilprozeßordnung, Anh § 286 .m. w. N. 909 V gl. BGH I. StR 399 I 79, zit. nach Schoreit, in Wahrheitsfindung, S. 161 .

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matorischen Befragung einer angemessenen Risikoverteilung, hat es doch der Vernehmende in der Hand, die Verwertbarkeit der Angaben sicherzustellen.

II. Festlegung der Grenzen des Beweisverwertungsverbotes anband von Fallgruppen? Eine praktisch bedeutsame, weitere Einschränkung des Beweisverwertungsverbotes bei unterlassener Belehrung ergibt sich aus § 337 StPO, der festlegt, daß ein Verfahrensverstoß nur dann die Revision begründen kann, wenn das Urteil bei richtiger Gesetzesanwendung möglicherweise anders ausgefallen wäre. Da das Urteil auf dem Inbegriff der Hauptverhandlung beruht(§ 261 StPO), kommt dessen Aufhebung nur in Betracht, wenn die aufgrund der unterlassenen Belehrung erfolgte Aussage über eine Vernehmung der Verhörperson, Vorhalte oder Verlesung eines richterlichen Protokolls (§ 254 StPO) in die Hauptverhandlung eingefiihrt und ohne Heilung der Gesetzesverletzung im Urteil verwertet worden ist. Ein Verwertungsverbot scheidet aus, wenn der im Vorverfahren erfolgte Verfahrensverstoß sich nicht im Urteil fortgesetzt hat. Der BGH lehnt infolgedessen ein Verwertungsverbot ab, wenn der Verstoß gegen § 136 I S. 2 StPO nicht ursächlich filr die Aussagebereitschaft des Beschuldigten gewesen sein konnte, da feststeht, daß dieser trotz unterlassener Belehrung seine Aussagefreiheit kannte oder auch bei ordnungsgemäßer Belehrung ausgesagt hätte910 • Er ist damit von der in früheren Entscheidungen vertretenen Auffassung abgekommen, daß bei Kenntnis des Beschuldigten von seinem Schweigerecht bereits eine Verletzung der das Schweigerecht schützenden Prozeßnorm (§§ 136 I S. 2, 243 IV S. 1 StPO) zu verneinen ist911 • Diese Einschränkung des BGH verdient keine Zustimmung. In den Fällen, in denen sich der Beschuldigte trotz unterlassener Belehrung in Kenntnis seiner Rechte frei und selbstbestimmt zu einer Aussage entschließt, ist zwar das nemo tenetur-Prinzip nicht verletzt, der vernehmende Richter oder Polizeibeamte muß aber dennoch den Vernommenen belehren. Ein Grundsatz, "daß der Wissende nicht belehrt zu werden braucht"912 oder die Belehrung in diesen Fällen "lediglich der Ordnung halber erfolge"913 , stimmt nicht mit der gesetzlichen Intention überein, in allen Fällen sicherzustellen, daß der Betroffene ausreichend Kenntnis über seine Rechte hat. Andernfalls könnte auch kaum erklärt werden, warum der Hinweis auf die Möglichkeit des Schweigens in jedem Verfahrensstadium erneut zu wiederholen ist. Wenig nutzbringend ist in diesem Zusam910 BGHSt 38, 224 f. Dem BGH zustimmend u. a. KMR-Paulus, § 243 StPO, RN 30 m. w. N. 911 Vgl. BGHSt 25, 330; Dencker, MDR 75, S. 361. 912 Dencker, wie FN 1411. 913 BGHSt 22, 330.

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menhang auch die Diskussion darüber, ob den meisten Staatsbürgern die Möglichkeit der Aussageverweigerung bekannt ist914 • Dem Betroffenen ist in jeder Vernehmung sein Recht, die Aussage zu verweigern, erneut vor Augen zu filhren, um ihm auch in der konkreten Situation eine Rechtsausübung zu ermöglichen. Der Tatrichter muß in jedem Fall belehren, denn andernfalls müßte von ihm verlangt werden, zunächst über die Frage der Kenntnis des Angeklagten Beweis zu erheben. Selbst wenn der Tatrichter in der Vernehmungssituation weiß, daß der Angeklagte ausreichende Rechtskenntnis besitzt, hat er ihm als Folge der bereits oben angesprochenen Formalisierungsfunktion der Belehrung seine Rechte in der speziellen Situation konkret vor Augen zu filhren. Die gegenteilige Auffassung des BGH beruht im Ergebnis auf der bereits oben abgelehnten Auffassung, die Belehrung sei Ausdruck der Fürsorge des Gerichts gegenüber dem Beschuldigten, deren es nicht bedarf, wenn der Beschuldigte bereits über seine Rechte informiert ist915 . Selbstverständlich gilt dies in ganz besonderem Maße filr die Situation der polizeilichen Vernehmung, die den durch die Ereignisse u. U. verängstigten oder verwirrten Beschuldigten unvorbereitet und von seiner vertrauten Umgebung abgeschnitten triffi:916• Hier genügt die abstrakte Kenntnis von bestehenden Rechten in aller Regel nicht, um sie auch tatsächlich ausüben zu können. Diese Gefahr besteht selbst nach schriftlicher Ladung des Beschuldigten zu einer Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft. Geschieht die Ladung unter Androhung der zwangsweisen Vorfilhrung (vgl. § 133 II StPO, Nr. 44 II RiStBV), so muß beim Beschuldigten zwangsläufig der Eindruck entstehen, er habe dem Vernehmenden Rede und Antwort zu stehen und sich filr seine Tat zu verantworten. Daß im übrigen selbst die staatsanwaltschaftliehe oder richterliche Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren nicht ohne diesen Überraschungseffekt auszukommen scheint, läßt sich an der gängigen Auffassung zum notwendigen Inhalt der schriftlichen Ladung nach§ 133 II StPO aufzeigen. So soll ein Hinweis auf das Recht der Aussageverweigerung in der Ladung in aller Regel "fehl am Platze" sein917 , denn es gebe keinen Grund, den Beschuldigten doppelt zu belehren. Ebensowenig müsse in der Ladung die dem Beschuldigten zur Last 914 Vgl. dazu die Nachweise bei Bauer, Die Aussage, S. 95 in FN I, und Eb. Schmidt, NJW 68, S. 1215, der zutreffend von einer Vermutung des Gesetzgebers für die Unwissenheit des Beschuldigten ausgeht. 915 So aber ausdrücklich See/mann, JUS 76, S. 159. 916 Nicht umsonst rät die polizeiliche Vernehmungsliteratur von einer Vernehmung des Beschuldigten in seiner eigenen Umgebung ab, denn dort fühle sich dieser im Gegensatz zum vernehmenden Beamten sicher (vgl. u. a. Walder, Die Vernehmung, S. 112). Die erste Vernehmung treffe den Beschuldigte häufig unvorbereitet und "am Boden zerstört". Der Vernehmende solle sich diese "legale Zwangssituation" zunutze machen (vgl. Gössweiner-Saiko, Vernehmungskunde, S. 71). 917 LR-Hanack, § 133 StPO, RN 3; SK-Rogall, § 133 StPO, RN 4 m. w. N. bezeichnet einen entsprechenden Hinweis als "unsachgemäß" und "ungeschickt".

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gelegte Tat bezeichnet werden. Der Richter habe insoweit "freie Hand" und könne nach "kriminalistischer Zweckmäßigkeit" entscheiden918 • Ergänzend wird diese eingeschränkte Mitteilungspflicht mit § 33 IV S. 1 StPO begründet, der die Möglichkeit des Verzichts auf eine vorherige Anhörung des Verfahrensbeteiligten eröffnet, sofern ohne Überraschung des Betroffenen eine Gefährdung des Zwecks der Anordnung droht919 • Es sind aber kaum Konstellationen denkbar, in denen die bloße Eröffnung des Tatvorwurfs ohne Angabe der bereits vorhandenen Beweismittel zu einer Gefährdung des Untersuchungszwecks fuhren kann. Es sei denn, man sieht den Zweck einer staatsanwaltschaftliehen oder richterlichen Vernehmung darin, den Beschuldigten zu überraschen, indem ihm nicht ausreichende Gelegenheit gegeben wird, sein Prozeßverhalten zu überdenken. Die Ladung fiir sich genommen bietet dem Beschuldigten bereits genügend Möglichkeiten, Beweismittel beiseite zu schaffen, da sie zumindest den Hinweis enthalten muß, daß eine Vernehmung als Beschuldigter beabsichtigt ist. Warum eine doppelte Belehrung unsachgemäß sein soll, ist unverständlich, denn einen Beschuldigten trifft auch dann die Pflicht, zur Vernehmung zu erscheinen, wenn er bereits zuvor erklärt hat, zur Sache nicht aussagen zu wollen. Dies ist auch durchaus sachgemäß, wenn dadurch beispielsweise der Erlaß eines Haftbefehls gegen den Beschuldigten vermieden werden kann. Der tiefere Sinn eines Verzichts auf schriftliche Belehrung ist damit wohl eher die Befiirchtung, man könnte durch diese den Überraschungsbonus bei Belehrung erst unmittelbar vor Vernehmungsbeginn verspielen. Besteht demnach kein Zweifel, daß der Beschuldigte auch bei Kenntnis von seinem Schweigerecht belehrt werden muß, so kann der aufgezeigte Problemkreis lediglich aus revisionsrechtlicher Sicht im Rahmen der Prüfung, ob das Urteil auf dem Verfahrensverstoß beruht, Bedeutung erlangen920• Die h. A. stellt fUr die Frage des Beruhens auf die Kategorie der Kausalität ab921 • Da es jedoch nicht um den Nachweis eines naturgesetzliehen Zusammenhangs gehen kann, ist der Beruhensbegriff treffender als der normative Zusammenhang zwischen Gesetzesverletzung und Urteilstallung gekennzeichnet922 • Dann wird auch wesentlich klarer, warum der BGH aufgrund normativer Erwägungen bei ernsthaften Zweifeln an der Kenntnis des Beschuldigten von seiner Aussagefreiheit die Unverwertbarkeit der Aussage annimmt. Da den Belehrungsvorschriften die Wertentscheidung zugrunde liegt, daß eine Belehrung re9 18 LR-Hanack, § 133 StPO, RN 3. Zustimmend Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 133 StPO, RN 4; einschränkend KMR-Müller, § 133 StPO, RN 2; SK-Roga/1, § 133 StPO, RN4m. w. N. 919 Vgl. u. a. SK-Roga/1, § 133 StPO, RN 4. 920 So bereits Roga/1, Der Beschuldigte, S. 218. 921 Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 337 StPO, RN 37; LR-Meyer, § 337 StPO, RN 206m. w. N. 922 So Bloy, JUS 86, S. 596; Schlüchter, Das Strafverfahren, RN 4.1 und 722.

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gelmäßig notwendig ist, um den Beschuldigten über seine Aussagefreiheit zu informieren oder sie ihm zumindest in der speziellen Situation deutlich vor Augen zu fUhren, ist es Sache des Gerichts zu beweisen, daß ein Ausnahmefall zu der vom Gesetz aufgestellten Grundregel gegeben ist. Darüber hinaus wird deutlich, daß es in diesem Zusammenhang falsch ist, wenn darauf hingewiesen wird, der BGH habe hier, im Gegensatz zur Frage, ob überhaupt eine Gesetzesverletzung gegeben ist, den Grundsatz in dubio pro reo angewendet923 . Die Entscheidung, ob ein Urteil auf dem Gesetzesverstoß beruht, muß auch in den Fällen einer Revision zuungunsten des Angeklagten nach den gleichen Maßstäben getroffen werden, obwohl der "in dubio"-Grundsatz nur zugunsten des Angeklagten Anwendung findet924 . Die ausdehnende Interpretation des Beruhensbegriffs basiert statt dessen auf der Tatsache, daß das Risiko des in vielen Fällen kaum zu filhrenden Nachweises eines tatsächlichen Einwirkens des Gesetzesverstoßes auf das Urteil, nicht zu Lasten des Revisionsfilhrers gehen soll925 • So ist insbesondere der Nachweis, daß der Beschuldigte nur deshalb ausgesagt hat, weil er infolge der fehlenden Belehrung irrig davon ausging, zur Aussage verpflichtet zu sein, im allgemeinen praktisch nicht zu filhren926. Dies um so mehr, als ein Beruhen nicht nur dann zu bejahen ist, wenn der Angeklagte nach Belehrung nicht, sondern ebenso, wenn er in Kenntnis seiner Rechte anders ausgesagt hätte927. Ob der Angeklagte eine entsprechende Kenntnis gehabt hat, kann in aller Regel nur durch seine Befragung geklärt werden. Läßt man den Angeklagten dabei nicht im unklaren über die möglichen Konsequenzen seiner Antwort, so wird er kaum bereit sein, sein möglicherweise vorhandenes Wissen einzugestehen. Praktische Relevanz erlangt die Frage des Beruhens damit nur dann, wenn man wie die Rechtsprechung mit bestimmten Sachverhalten die Vermutung verknüpft, der Beschuldigte habe in der betreffenden Situation seine Rechte gekannt928. In allen übrigen Fällen ist aufgrundder gesetzlichen Wertung der Belehrungsvorschriften von der Unkenntnis des Angeklagten um seine Rechte auszugehen929. 923 Vgl. FN 922. 924 Die von Sarstedt-Hamm, Die Revision in Strafsachen, RN 188, vertretene Auffas-

sung, den Grundsatz auf "in dubio pro appellante" zu erweitern, steht nicht in Einklang mit dessen Ableitung aus dem Schuldgrundsatz. 925 Vgl. Bloy, JUS 86, S. 596. 926 BGHSt 31, 400 verneint u. a. deshalb ein Verwertungsverbot bei Verstoß gegen § 136 I S. 2 StPO. Eb. Schmidt, NJW 68, S. 1217, verlangt infolgedessen filr die Verwertbarkeit der Aussage eine ausdrückliche Erklärung des Angeklagten, daß er von der ihm bekannten Aussagefreiheit keinen Gebrauch machen wollte. 927 Vgl. Dencker, MDR 75, S. 362. 928 Zu den Fallgruppen der Rechtsprechung vgl. die Nachweise in FN 910. 929 SK-Rogal/, vor§ 133 StPO, RN 166.

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Obwohl der BGH ausdrücklich daraufhingewiesen hat, es sei immer anhand des Einzelfalls zu prüfen, ob der Angeklagte bei seiner Vernehmung sein "Recht zu schweigen" gekannt hat930, finden sich auch in der neueren Rechtsprechung Beispiele filr eine faktische Beweislastumkehr aufgrund fragwürdiger allgemeiner Erfahrungssätze. Man kann diese Erfahrungssätze kaum noch als Vermutungen bezeichnen, denn ein Gegenbeweis ist in aller Regel nicht möglich (der Angeklagte kann lediglich behaupten, trotzder auf vermeintlicher Lebenserfahrung basierenden Vermutung in der konkreten Situation keine Kenntnis von seinem Schweigerecht besessen zu haben), so daß sie von den Gerichten faktisch wie Beweisregeln angewendet werden. Dem Hinweis des BGH, es gebe keinen allgemeinen Erfahrungssatz, daß das Schweigerecht bestimmten Personengruppen, etwa Vorbestraften, ohnehin bekannt sei, läßt sich entnehmen, daß der BGH seine zuvor vertretene Auffassung931 zumindest dahingehend revidiert hat, daß allein aus einer in einem anderen Verfahren oder Verfahrensabschnitt erfolgten Belehrung nicht auf die Kenntnis in der konkreten Vernehmungssituation geschlossen werden kann932 • Das ist auch richtig, denn, wie oben aufgezeigt, geht es nicht allein um die notwendige Information eines unwissenden Beschuldigten, sondern zumindest auch darum, ihm die Vernehmungssituation konkret vor Augen zu fiihren. Verdeutlicht werden kann dies am Beispiel eines bereits mehrfach in Strafverfahren vernommenen Beschuldigten, der sicherlich zwischenzeitlich ausreichend Kenntnis über das ihm zustehende Recht der Aussageverweigerung besitzt, jedoch bei der ersten polizeilichen Vernehmung in einer anderen Strafsache noch gar nicht erkannt hat, daß er als Beschuldigter in Betracht kommt933 • Die Belehrung erfüllt in diesen Fällen die wichtige Funktion, dem Beschuldigten ins Bewußtsein zu rufen, in welcher Situation er sich befindet, um ihm zu ermöglichen, sein bereits abstrakt vorhandenes Wissen auch auf die spezielle Situation zu übertragen. Eine vermutete Rechtskenntnis des Beschuldigten in den genannten Fällen stUnde im klaren Widerspruch zur gesetzlichen Intention der Belehrungsvorschriften934, die auch dem Ausgleich der mit jeder Vernehmung verbundenen Zwangswirkung auf den Beschuldigten dienen. Der Gesetzgeber ging BGHSt 38, 225. Vgl. BGHSt 25, 332 932 Dies wird auch fiir die Berufungsverhandlung gelten müssen. Fraglich ist aber, ob damit auch die frühere Rechtsprechung des BGH obsolet ist, eine Verletzung des § 243 IV S. 1 StPO scheide aus, wenn der Angeklagte in derselben Sache bereits mehrfach durch das gleiche Gericht vernommen worden ist (vgl. dazu BGH bei Pfeiffer, NStZ 83, 210). 933 In dieser Fallkonstellation hat es das AG Mannheim StV 93, 182, deshalb zu Recht abgelehnt, eine Kenntnis des Angeklagten über seine Aussagefreiheit zu unterstellen. 934 Vgl. auch Salditt, GA 92, S. 52; Dencker, MDR 75, S. 363; Kunert, MDR 67, S. 541. 930 931

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offensichtlich davon aus, daß die einmalige Belehrung in einem Verfahrensstadium gerade nicht genügt, sondern wiederholt und ohne Rücksicht auf ein vorhandenes Wissen des Beschuldigten zu erfolgen hat. Regelmäßig vorausgesetzt werden kann nach Auffassung des BGH die Kenntnis des Beschuldigten dann, wenn dieser in Gegenwart seines Verteidigers vor der Polizei aussagt935 • Da das "zu wählende Prozeßverhalten eine der ersten und wichtigsten Fragen ist"936, welche der Verteidiger mit seinem Mandanten zu erörtern hat, schließt der BGH aus dieser Informationspflicht des Verteidigers auf ein entsprechendes Wissen des Beschuldigten. Dieser Auffassung ist vor allem deshalb zu widersprechen, weil Belehrungen nicht der Ermöglichung der besten Verteidigungsstrategie dienen und damit primär Aufgabe der Verteidigung sind, sondern vor allem dem Beschuldigten eine eigene Entscheidung über das "Ob" der Aussage ermöglichen wollen. Die vorgeschriebene Belehrung kann im übrigen nur dann effektiv sein, wenn sie durch das Strafverfolgungsorgan unmittelbar vor der jeweiligen Vernehmung erfolgt, so daß auch eine ordnungsgemäße Belehrung durch den Verteidiger deren Funktion nicht ausfiillen kann937• Dem BGH kann allenfalls soweit zugestimmt werden, daß der Verteidiger, beispielsweise aufgrundeiner als erdrückend empfundenen Beweislage, überhaupt eine Einlassung des Beschuldigten als die richtige Prozeßtaktik empfohlen hat938• Daraus kann hingegen nicht geschlossen werden, daß der Verteidiger seinem Mandanten seine Wabialternativen auch tatsächlich vor Augen gefiihrt hat, so daß dieser eine eigene oder zumindest zurechenbare Entscheidung treffen konnte. Für den Bereich polizeilicher Vernehmungen ist der Verteidiger im Gegensatz zur Hauptverhandlung oft auch faktisch nicht in der Lage, seinen Mandanten so zu belehren, daß dessen Entschließungsfreiheit gewährleistet ist, da er häufig weder Akteneinsicht noch ausreichend Zeit zur Beratung hat939• Besonders bedenklich ist diese Erfahrungsregel im Bereich der Pflichtverteidigung, denn dort könnte sie dazu fiihren, daß die Entschließungsfreiheit des Beschuldigten von einem nicht selbstgewählten Verteidiger abhängig gemacht wird. Auf die Spitze getrieben könnte - wenn man der Auffassung des BGH folgt - in Fällen der notwendigen Verteidigung in aller Regel auf eine Belehrung des Beschuldigten verzichtet werden. Im übrigen könnte der Beschuldigte die vom BGH aufgestellte Vermutung allenfalls dadurch entkräften, daß der Ver935 Wie FN 930; so bereits BGH NJW 66, 1719; BGHSt 25, 332; ebenso Meyer, JR 66, S. 310; ablehnend u. a. Eb. Schmidt, NJW 68, S. 1212; Hegemann, NJW 75, S. 916; See/mann, JUS 76, S. 160; SK-Roga/1, vor§ 133 StPO, RN 176m. w. N. 936 BGHSt 25, 332. 937 Vgl. auch Fezer, JUS 78, S. 107. 938 Vgl. Grünwald, JZ 68, S. 753. 939 Vgl. auch LG Bad Kreuznach StV 94, 295.

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teidiger sich selbst eines Pflichtverstoßes bezichtigt940 - ein Fall, der in der Praxis eher die Ausnahme sein dürfte. Die mit der Vermutung verbundene "Beweislastwnkehr" beruht demnach auf einer mißverstandenen Verteidigerrolle. Der Verteidiger dient dem Schutz des Beschuldigten, seine Aufgabe besteht jedoch nicht darin, originäre Belehrungspflichten des Gerichtes oder der Polizei mitzuerfUllen. Weiter geht die Rechtsprechung davon aus, daß dem Aussageverhalten des Angeklagten in manchen Fällen zuverlässig entnommen werden könne, dieser habe seine Rechte bereits zu Beginn der Vernehmung gekannt. Beispielsweise soll ein teilweises Leugnen zu einzelnen Punkten den eindeutigen Schluß zulassen, daß der Angeklagte wußte, nicht zur Aussage verpflichtet zu sein, wenn er sich später nach Vorhaltung eindeutiger Beweismittel auch bzgl. der übrigen Vorwürfe zu einem Geständnis entschließt941 • Ebenso soll aus der Weigerung, einen bestimmten Namen zu nennen, um den Betroffenen nicht "in diese Angelegenheit hineinzuziehen", deutlich zu erkennen sein, der Angeklagte habe seine Rechte auch ohne Hinweis nach § 243 IV S. I StPO gekannt942 • Aus der Tatsache, daß der Beschuldigte sich zu einzelnen Punkten des Tatvorwurfs nicht geäußert hat, kann jedoch entgegen der Auffassung des BGH nicht mit hinreichender Sicherheit auf eine entsprechende Rechtskenntnis des Beschuldigten geschlossen werden. Es ist sehr wohl denkbar, daß der Beschuldigte zwar eine Aussagepflicht angenommen hat, sich aber wegen der mit einer Aussage verbundenen Nachteile dennoch entschlossen hat, zu einzelnen Punkten des Tatvorwurfs zu schweigen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß ein Verstoß gegen die sich aus den§§ 136 I S. 2, 163a IV S. 2, 243 IV S. I StPO ergebende Belehrungspflicht in seinen Auswirkungen einem absoluten Revisionsgrund gleichkommt. Ein Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensfehler läßt sich weder durch die vom BGH aufgestellten Erfahrungssätze noch auf anderem Wege ausschließen. Die Unmöglichkeit, dem Angeklagten ohne dessen Mitwirkung im Freibeweisverfahren eine Kenntnis seiner Rechte nachzuweisen, fUhrt dazu, daß die ohne Belehrung erlangte Aussage im Urteil nicht verwertet werden kann. III. Heilung durch qualifizierte Belehrung Der an sich schädliche Verstoß gegen die Belehrungspflicht kann durch ausdrückliche Zustimmung oder durch eine erneute, nunmehr ordnungsgemäße Vernehmung des Angeklagten geheilt werden. Die Heilung des VerfahrensverVgl. Bohnert, NStZ 82, S. I 0. BGH StV 95, 232 942 OLG Harnburg JR 67, 308.

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stoßes setzt eine qualifizierte Belehrung des Angeklagten voraus, die ihm in einer auch filr einen juristischen Laien verständlicher Weise deutlich macht, daß seine vorangegangene Aussage unverwertbar ist und er sich deshalb nwunehr unabhängig und unbelastet von seinem früheren Aussageverhalten frei entscheiden kann, ob er aussagen möchte943 • Es ist offensichtlich, daß ein rechtsunerfahrener Beschuldigter ohne diese zusätzliche Belehrung resignierend davon ausgehen muß, daß er die frühere Aussage ohnehin nicht mehr aus der Welt schaffen kann944 • Soweit der Beschuldigteaufgrund dieses Fehlglaubens meint, keine echte Wahlalternative zu besitzen, kann von Entschließungsfreiheit hinsichtlich "ob" und "Umfang" der Aussage keine Rede sein. Da es jedoch Sinn und Zweck der Belehrung ist, diese Entschließungsfreiheit zu ermöglichen, ist nicht nur die erste ohne Belehrung erfolgte Aussage, sondern auch die nach einfacher Belehrung geleistete zweite Aussage unverwertbar. Die Pflicht zur qualifizierten Belehrung folgt filr den Tatrichter aus der Tatsache, daß, sofern ein Verfahrensverstoß bis zur Hauptverhandlung nicht geheilt wird, er nicht nur befugt, sondern verpflichtet ist, den Verfahrensfehler zu heilen94s. Natürlich trifft auch den Polizisten, der den Beschuldigten erneut vernehmen will, die Pflicht zu einer qualifizierten Belehrung. Dabei soll allerdings nicht verkannt werden, daß ein Polizeibeamter diese Pflicht wohl nur in den seltensten Fällen zufriedenstellend erfilllen wird, ist doch filr diesen "die Katze bereits aus dem Sack" und es wird ihm verständlicherweise kaum einleuchten, warum man den Beschuldigten zum Schweigen ermuntern sollte. Für eine Heilung des Verfahrensfehlers reicht es grundsätzlich aus, daß der fehlerhaft durchgefilhrte Verfahrensvorgang in einwandfreier Form durchgefiihrt wird946• Da der Vernehmung jedoch immer eine individuell auf die jeweilige Aussageperson angepaßte Belehrung vorausgehen muß, die dem Betroffenen ermöglichen soll, selbstverantwortlich das "Für und Wider'' seiner Aussage abzuwägen947, genügt in diesen Fällen nicht die einfache Belehrungsformel des § 136 I S. 2 StPO. Dies folgt auch aus der Funktion der Belehrungsvorschriften,

943 Im Schrifttum ist die Forderung nach einer qualifizierten Belehrung weitgehend anerkannt, vgl. u. a. Bauer, Die Aussage, S. 179 ff. m. w. N.; Geppert, GS fUr K. H. Meyer, S. 93 ff.; Grünwald, JZ 68, S. 754; LR-Hanack, § 136 StPO, RN 74; Neuhaus, NStZ 97, S. 315; Rogall, Der Beschuldigte, S. 190 f., 218, und ders., SK, vor§ 133 StPO, RN 178m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24, RN 36; Schünemann, MDR 69, S. 101 ff.; z. T. zustimmend LG Bad Kreuznach StV 94, 293; LG Dortmund NStZ 97, 356; ablehnend vor allem BGHSt 22, 134 ff.; 27, 359, wobei nicht explizit von einer qualifizierten Belehrung gesprochen wird, sich aber aus dem Gesamtzusammenhang ergibt, daß der BGH eine einfache Belehrung tur ausreichend erachtet. 944 So bereits Schünemann, MDR 69, S. 103; Grünwald, wie FN 943. 945 RGSt 41, 218, 405; LR-Hanack, § 337 StPO, RN 261 ff. m. w. N. 946 BGHSt 30, 74, 76, 947 V gl. auch Geppert, GS fUr K. H. Meyer, S. I 00 f.

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nicht nur die Kenntnis von bestehenden Rechten zu vermitteln948; sondern gegebenenfalls auch besondere Hemmnisse bezüglich deren Ausübung in der konkreten Situation zu beseitigen. Wenn dem Beschuldigten nicht klar und deutlich vor Augen gefilhrt wird, daß er sich nunmehr völlig unbelastet von früheren Aussagen auch zur Aussageverweigerung entschließen kann, wird er sich auch nach erheblichem Zeitablauf nicht unbeeinflußt von einem früheren, unverwertbaren Geständnis entscheiden können949 • Wird beispielsweise in einer polizeilichen Vernehmung durch Vorhalt auf unverwertbare Aussagen des Beschuldigten Bezug genommen, erscheint es utopisch, beurteilen zu können, inwieweit das eine Woche später nach Belehrung erfolgte Geständnis psychologisch eigenmotiviert ist950 . Andernfalls würde unterstellt, daß der juristisch ungeschulte Laie selbst die Folgen eines Belehrungsverstoßes analysieren und daraus die zutreffenden Schlüsse ziehen könne951 . Deshalb ist eine qualifizierte Belehrung auch unabhängig von einem Übergang vom Vorverfahren zur Hauptverhandlung erforderlich Es spielt zudem keine Rolle, ob beispielsweise in der Hauptverhandlung durch Vorhalt tatsächlich Bezug auf die frühere Vernehmung genommen wird. Der BGH hat bisher gegenüber einer Erweiterung der Belehrungspflicht eine ablehnende Haltung eingenommen. Er hat in einem umstrittenen Beschluß die Behauptung aufgestellt, es könne nicht allgemein anerkannt werden, daß in Fällen eines wiederholten Geständnisses nach ordnungsgemäßer Belehrung noch ein fortwirkender, seelischer Zwang den Beschuldigten daran gehindert habe, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen952 . Ob er an dieser Auffassung weiterhin festhält, erscheint angesichts neuerer Entscheidungen zu den Folgen eines Verstoßes gegen Belehrungspflichten zweifelhaft953 • Insbesondere wird der BGH die fehlende Pflicht zur qualifizierten Belehrung sicherlich nicht mehr mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung begründen können, der es ermögliche, den Wahrheitsgehalt unterschiedlicher Aussagen des Beschuldigten in der jeweiligen psychischen Situation mitzuberücksichtigen954 • Die Pflicht zur So aber BGHSt 22, 134. A. A. BGH StV 88, 369 unter Einbeziehung des unbestimmten und in aller Regel willkürlichen Kriteriums der zeitlichen Nähe. 950 So aber BGH NStZ 88, 143. Der BGH hatte keine Einwände gegen die Begründung des LG Münster, der Angeklagte habe ein erkennbar inneres Bedürfnis gehabt, ,.sich die Taten quasi ,von der Seele zu reden'", da es kaum eines Anstoßes durch den Sachverständigen bedurfte. 951 Vgl. auch BGH StV 84, 405 f. zur Belehrungsformel des§ 52 I StPO. Peters stellt in einer Anmerkung zu diesem Urteil zu Recht fest, daß der Gesetzeswortlaut häufig nicht genügt, sondern an den Zeugen angepaßt in die Laiensphäre übertragen werden muß. 952 V gl. BGHSt 22, 134 f. 953 V gl. dazu FN 866. 954 So BGHSt 22, 135. 948 949

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qualifizierten Belehrung ist nicht deshalb erforderlich, weil ohne diese erlangte Aussagen nicht der Wahrheitsfmdung dienen können. Statt dessen berührt sie die vorgelagerte Frage, ob der Beschuldigte Oberhaupt gewillt ist, durch seine Angaben zur Wahrheitsfindung beizutragen. Allerdings ist zu befilrchten, daß der BGH analog zu den Paralleitalien einer wegen Verstoßes gegen§ l36a StPO unverwertbaren Aussage keine allgerneine Pflicht zur qualifizierten Belehrung statuiert, sondern anstelle davon eine Einzelfallprüfung filr erforderlich hält, ob der durch die erste Vernehmung erzeugte Druck in der zweiten Vernehmung "fortwirkt''955• Der BGH stellt an diese Prüfung sehr hohe Anforderungen und anerkennt eine psychologische Weiterwirkung einer zuvor erfolgten, unzulässigen Beeinflussung der Entschließungsfreiheit nur dann, wenn "besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen", die eine Ausstrahlung des Verfahrensverstoßes auf weitere Vernehmungen plausibel erscheinen lassen956• Als ein gewisses Indiz filr die Übertragung dieser Grundsätze auf das Erfordernis der qualifizierten Belehrung könnte eine Entscheidung des BGH zur Frage der Verwertbarkeit einer Aussage angesehen werden, die teilweise vor und teilweise nach Belehrung in der Hauptverhandlung erfolgte957• Ohne auf die Frage einer möglichen Heilung einzugehen, hielt der BGH auch den zweiten Teil der Aussage filr unverwertbar, denn der Angeklagte habe zunächst sein Schweigerecht nicht gekannt und es sei nicht auszuschließen, daß er später nicht oder anders als geschehen ausgesagt hätte, wenn er sich nicht bereits zuvor festgelegt hätte. Es spricht jedoch vieles dafilr, daß der BGH hier ausnahmsweise nur deshalb eine Fortwirkung des Belehrungsverstoßes angenommen hat, weil beide Teile der Aussage ohne klare Zäsur und in unmittelbarer zeitlicher Nähe erfolgt sind. Die Problematik einer Übertragung dieser Grundsätze auf die Fälle eines Belehrungsverstoßes besteht darin, daß sich eine Fortwirkung der Fehlvorstellung über eine vermeintliche Aussagepflicht in aller Regel nicht nachweisen lassen wird. Bei den vorn BGH zu § 136a StPO entschiedenen Fällen handelte es sich jeweils um massive Beeinträchtigungen der Willensentschließungsfreiheit, 955 So hat der BGH trotzmassiven Verstoßes gegen § 136a StPO und obwohl eine qualifizierte Belehrung nicht erteilt worden ist, daran festgehalten, daß der Revisionsfiihrer darlegen muß, warum sich der Verfahrensverstoß auch auf die Folgevernehmungen ausgewirkt haben soll (BGH NStZ 96, 291). Vgl. auch BGH bei Dal/inger MDR 51, 658; BGHSt 15, 187 ff.; 17, 364 ff.; 22, 129; 27, 355 ff.; 35, 328 ff.; 37, 48 ff.; BGH NStZ 88, 419; StV 94, 62 f. Auch das LG Bad Kreuznach StV 94, S. 294, stellt fiir § 136 StPO auf das Kriterium der "Fortwirkung" ab. Offengelassen von LG Dortmund NStZ 97, 358. Vgl. ergänzend die Nachweise bei Neuhaus, NStZ 97, S. 314. 956 Vgl. BGH bei Dallinger MDR 51, 658; so auch LG Aachen NJW 78, 2256; weniger restriktiv BGHSt 17, 368. 957 Vgl. BGH NStZ 88, 85.

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bei denen unschwer aus den angewandten Methoden und den äußeren Umständen auf eine Fortwirkung des angewendeten Drucks geschlossen werden konnte. Anders als beispielsweise in den Fällen der Vorspiegelung einer in Wirklichkeit nicht vorhandenen, dem Beschuldigten keine Chance lassenden, erdrückenden Beweiskette958 oder der Ausübung seelischen Zwangs durch die Drohung, den aussageverweigernden Täter zur Leiche des Opfers (sein eigenes Kind!) zu fiihren959, fehlen bei unterlassener Belehrung in einer früheren Vernehmung regelmäßig äußere Anknüpfungspunkte, die eine Einschränkung der Entschließungsfreiheit plausibel machen. Das Kriterium der Fortwirkung deutet auch in die falsche Richtung, denn er ist nur eine Umformulierung der Frage, ob der erste Verfahrensverstoß kausal fiir die in zweiter oder weiterer Vernehmung erlangte Aussage geworden ist960. Betrachtet man die Pflicht zur qualifizierten Belehrung allerdings unter dem Gesichtspunkt der Kausalität, so liegt dem eine falsche Sichtweise zugrunde. Anknüpfungspunkt ist nicht der Verfahrensverstoß bei erster Vernehmung, sondern die Verletzung einer originären Belehrungspflicht in der folgenden Vernehmung. 961 . Dieser weitere Verfahrensverstoß wird bei Verwertung der Aussage immer ursächlich fiir das Urteil sein, da ein Beruhen aufgrund der oben genannten Beweisschwierigkeiten nicht ausgeschlossen werden kann. Sollte diese weite Ausdehnung der Belehrungspflicht im Einzelfall tatsächlich dazu fuhren, daß aufgrund der Unverwertbarkeit aller Folgeaussagen "das Verfahren lahmgelegt wird" 962, so entspricht dies einer angemessenen Risikoverteilung. Den vernehmenden Beamten, die auch aus Gründen der Ingerenz963 958 BGHSt 35, 328 ff. Bei vorangegangenem Verstoß gegen § 136a StPO muß eine qualifizierte Belehrung natürlich nicht nur auf die Unverwertbarkeit der so erlangten Aussage hinweisen, sondern zugleich die dadurch beim Beschuldigten hervorgerufenen Fehlvorstellungen berichtigen. Ist der Beschuldigte beispielsweise i. S. v. § 136a StPO getäuscht worden, muß er neben dem Hinweis auf die Unverwertbarkeit dieser Aussage über die wahre Sachlage unterrichtet werden. 959 BGHSt 15, 187 ff. und 17, 364 ff. 960 Das Kriterium der Kausalität ist nach Auffassung etwa von Grünwald, JZ 68, S. 752 ff.; Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 92; Rogall, Der Beschuldigte, S. 218; Schünemann, MDR 69, S. 102, entscheidend. Häufig wird dabei auch nicht ausreichend zwischen Fern- und Fortwirkung eines Verfahrensverstoßes getrennt, so etwa Schoreit, in: Wahrheitsfindung, S. 168 ff. 961 Deshalb ist auch die Verpflichtung zur qualifizierten Belehrung nicht Ausdruck der Fürsorgepflicht des Gerichts; so aber Geppert, GS filr K. H. Meyer, S. 118. 962 So die Befilrchtung von BGHSt 22, 135, die z. T. sicherlich auch auf einer unzureichenden Trennung zwischen Fern- und möglicher Fortwirkung eines Verfahrensverstoßes beruhen. 963 Vgl. Schünemann, MDR 69, S. 103. Dies istjedoch nicht der Hauptgrund fiir das Erfordernis der qualifizierten Belehrung, denn der Staat hat nicht lediglich einen durch seine Organe begangenen Fehler zu korrigieren, er verletzt vielmehr bei erneuter Vernehmung ohne qualifizierte Belehrung abermals den nemo tenetur-Grundsatz.

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gesteigerte Belehrungsptlichten treffen, ist es ein Leichtes, durch eine entsprechende Belehrung diese Folgen zu vermeiden. Bedenken könnten allenfalls unter Praktikabilitätsgesichtspunkten geäußert werden, denn es sind Fallkonstellationen denkbar, in denen der Vernehmungsbeamte den vorausgehenden Verfahrensverstoß nicht erkennt und ihm damit eine Pflicht auferlegt wird, die er faktisch nicht erfiillen kann. Damit sind nicht die Fälle gemeint, in denen dem Vernehmenden im Vorfeld der Vernehmung selbst ein Verstoß gegen Belehrungsptlichten zur Last fiillt, beispielsweise wenn der Angeklagte vor Belehrung und Vernehmung zur Sache durch den Tatrichter veranlaßt wird, zu einzelnen Punkte des Anklagesatzes durch Kopfuicken oder -schütteln Stellung zu nehmen964 oder wenn ein Polizeibeamter vor der eigentlichen Vernehmung ein "informatives Vorgespräch" fiihrt. Hier wäre es widersinnig, wollte man noch in einen ordnungsgemäß durchgefilhrten und einen unverwertbaren Vernehmungsteil aufspalten, denn der Vernehmende wird in aller Regel bewußt seine Belehrungsptlicht mißachtet haben und deshalb kaum bereit sein, diesen Fehler sogleich wieder aus der Welt zu schaffen. Es erscheint zudem fraglich, ob die Vernehmung auch nach qualifizierter Belehrung noch fortgeftlhrt werden kann oder ob man dem Beschuldigten, um ihn nicht völlig zu verwirren, eine zeitliche Zäsur und in polizeilicher Vernehmung auch einen Wechsel des vernehmenden Polizisten zugestehen muß. Gemeint sind vielmehr die Fälle einer Vernehmung nach zulässiger informatorischer Befragung. Hier wird im Schrifttum eine qualifizierte Belehrung in aller Regel nicht filr erforderlich gehalten, da zum einen aufgrund fehlender Belehrungspflicht kein Verfahrensverstoß gegeben sei, der geheilt werden müßte, und zum anderen ein selbständiges Beweisverbot bezogen auf die in informatorischer Befragung erlangten Aussage nicht diskutiert wird965 . Wenn jedoch, wie oben dargestellt, die bei informatorischer Befragung erlangte Aussage unverwertbar sein muß, dann trifft den vernehmenden Beamten auch eine entsprechende Hinweispflicht Es macht fi1r den Vernommenen ersichtlich keinen Unterschied, ob er sich unbelehrt in förmlicher oder in informatorischer Vernehmung geäußert hat. Er wird sich in jedem Fall an das zuvor Gesagte gebunden filhlen und dies wahrscheinlich um so mehr, wenn der gleiche Vernehmungsbeamte ihn zunächst informatorisch befragt und nach Herausbildung eines entsprechenden Verdachtes zur Beschuldigtenvernehmung übergeht. For-

Vgl. BGH StV 88, 45. So vor allem Geppert, FS filr Oehler, S. 338 ff., und ders., GS filr K. H. Meyer, S. 108 ff. m. w. N.; a. A. AG Tiergarten StV 83, 277 f.; ter Veen, StV 83, S. 293 ff. Vgl. auch Ger/ing, Informatorische Befragung; S. 154 f., der eine qualifizierte Belehrung deshalb befiirwortet, weil er § 55 StPO analog auf die Situation der informatorischen Befragung anwenden will. 964 965

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dert man von dem Polizeibeamten in diesen Fällen eine erweiterte Belehrung, so wird von ihnen nichts Unmögliches verlangt. Besondere Relevanz erlangt die qualifizierte Belehrung schließlich auch dann, wenn der später Beschuldigte zunächst als Zeuge vernommen und dabei entweder eine Belehrung nach § 55 II StPO unterlassen wurde oder der Zeuge sich bei oder vor Glaubhaftmachung gern. § 56 StPO ungewollt selbst belastet hat966. Da auch die Rechtsprechung in diesen Fällen von der Unverwertbarkeit entsprechender Angaben ausgeht967, können sie nur dann verwertet werden, wenn der Beschuldigte nach qualifizierter Belehrung ausdrücklich auf die frühere Vernehmung Bezug nimmt. Die erweiterte Belehrung hat dem Beschuldigten dabei vor allem die mit dem Rollenwechsel verbundene Veränderung der Verfahrensstellung vor Augen zu fUhren.

IV. Die Widerspruchslösung Heilung des Verfahrensfehlers durch Rügeverzicht Die praktisch bedeutsamste Einschränkung des Beweisverwertungsverbotes bei unterlassener Belehrung ergibt sich durch den vom BGH angenommenen Rügeverlust bei fehlendem Widerspruch bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt968. Nach Auffassung des BGH ist keine ausdrückliche Zustimmung des Angeklagten erforderlich, vielmehr kann eine in Unkenntnis des Schweigerechts gemachte Aussage auch dann verwertet werden, wenn dieser oder sein Verteidiger nicht im Anschluß an diejenige Beweiserhebung, die sich auf den Inhalt der ohne Belehrung gemachten Aussage bezieht, einer Verwertung widerspricht. Für den unverteidigten Angeklagten gilt dies nur, wenn er durch den Vorsitzenden über sein Widerspruchsrecht belehrt worden ist969• Soweit der Angeklagte nach einer ausfilhrlichen Belehrung über die Folgen einer unterlassenen Rüge der Verwertung ausdrücklich zustimmt oder eine Rüge unterläßt, kann dem BGH ohne Bedenken gefolgt werden, denn es wäre leerer Formalismus, wenn der Angeklagte statt dessen seine vor der Polizei gemachte Aussage wiederholen müßte. Nicht zugestimmt werden kann dem BGH jedoch, wenn er die Person des Verteidigers in die Möglichkeit eines Rügeverzichts Ausfilhrlich dazu oben Teil III, § 12 III 1 b). BayObLG NJW 84, 1246; OLG Stuttgart NStZ 81, 272 f. unter Hinweis auf den unveröffentlichten Beschluß des BGH v. 22. 10. 1980, 2 StR 612 I 80; vgl. auch BGHSt 38, 302 ff. m. w. N. 968 BGHSt 38, 225. Vgl. auch BayObLG NStZ 97, 99 f. ("richterrechtliche Rügepräklusion") m. umfangreichen N.; OLG Oldenburg NStZ-RR 96, 144; OLG Stuttgart NStZ 97, 405. Das BayObLG (a. a. 0., 100) widerspricht zumindest der Auffassung, der Rechtsverlust könne kenntnisunabhängig erfolgen. 969 BGHSt 38, 225 f.; NStZ 96, 202; dem BGH folgend u. a. OLG Celle StV 96, 416. 966

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miteinbezieht Zunächst können die dargestellten Grundsätze sicherlich keine Anwendung fmden auf Altflllle, denn es entspricht nicht dem Verständnis sinnvoller Verteidigung, wenn von einem Verteidiger verlangt würde, angesichts einer langjährig gefestigten Rechtsprechung prozessual unsinnig und rein spekulativ Widerspruch in Hinblick auf künftige Verwertungsverbote zu erheben970. Selbst wenn man jedoch nunmehr bei jedem Verteidiger eine Kenntnis der gewandelten Rechtsprechung voraussetzt, läßt es sich unter dem Blickwinkel des nemo tenetur-Prinzips nicht rechtfertigen, den Verteidiger daftlr verantwortlich zu machen, daß der Angeklagte über seine Rechte ausreichend informiert ist und diese auch tatsächlich ausüben kann. Mag die Aufgabe des Verteidigers auch einen gewissen Wandel erfahren haben, so stimmt die Tendenz der Rechtsprechung, dem Verteidiger Mitwirkungsobliegenheiten aufzuerlegen, deren Verletzung zum Verlust von Verfahrensrügen ftlhren soll, mehr als bedenklich971. Es ist bereits nicht akzeptabel, daß der BGH den Rechtsgedanken des § 257 StPO zur Bestimmung des Zeitpunktes des Rügeverlustes heranzieht. § 257 StPO hat als Vorschrift zum Schutz des Angeklagten die Aufgabe, diesem rechtliches Gehör zu sichem972 . Der BGH verkehrt dessen Normzweck in sein Gegenteil, wenn er ihn filr eine Begrenzung der Verteidigungsmöglichkeiten heranzieht973 . Betrachtet man des weiteren die Begründung des BGH zur Anwendung von § 257 StPO, eine Verwertung könne schließlich im Interesse des Beschuldigten liegen974, muß konsequenterweise gefragt werden, warum der BGH die Vorschrift auch dann heranzieht, wenn der Tatrichter eine selbstbelastende Aussage des Beschuldigten verwerten möchte. Bis auf bestimmte Fälle der Prozeßverschleppung (§ 244 III StPO) sind der Beweisaufnahme zeitliche Zäsuren fremd, die zu einer Beschränkung der Einflußmöglichkeiten des Beschuldigten auf den Verlauf der Beweisaufnahme ftlhren. Sie stehen auch im Widerspruch zur Inquisitionsmaxime, die es gebietet, Verwertungsverbote von Amts wegen zu berücksichtigen, selbst wenn eine diesbezügliche Rüge nicht erhoben worden ist975 • Falls es dem BGH tatsächlich auf einen "sicheren Maßstab" angekommen wäre, hätte es ebenso genügt, auf den Schluß der Beweisaufnahme abzustellen. Statt dessen wird die Anwendung von § 257 StPO auf die Spitze getrieben, indem vom Verteidiger verlangt wird, bei zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Zeugenaussagen über eine Vernehmung des Angeklagten

So zutreffend OLG Celle, NJW 93, 545 f.; vgl. auch Kiehl, NJW 93, S. 502. Vgl. dazu aus Sicht der Strafverteidiger, Hamm, NJW 96, S. 2187 m. w. N. 972 KK-Mayr, § 257 StPO, RN 1; KMR-Paulus, § 257 StPO, RN I; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 257 StPO, RN 1 m. jeweils w. N. 973 Ablehnend auch Fezer, JZ 94, S. 687. 974 BGHSt 39, 352 f. 975 Bohlander, NStZ 92, S. 505; Fezer, JR 92, S. 386; Lesch, JA 95, S. 162. 970 971

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bereits nach Abschluß der ersten Aussage einer Verwertung· zu widersprechen976, obwohl zu diesem Zeitpunkt nicht zu beurteilen ist, ob sich die Zeugenaussage im Zusammenspiel mit der restlichen Beweisaufuahme möglicherweise zugunsten des Angeklagten auswirken könnte. Noch bedenklicher wird der Ansatz des BGH dadurch, daß keine Differenzierung dahingehend erfolgt, ob dem Verteidiger der Verfahrensverstoß überhaupt bekannt war. Dem Verweis auf die "Fähigkeit (des Verteidigers), Belehrungsmängel aufzudecken", läßt sich vielmehr entnehmen, daß ein Rügeverzicht auch bei Unkenntnis des Verteidigers eintreten soll, obwohl hier dem Schweigen keinesfalls ein irgendwie gearteter prozessualer Erklärungswert zukommen kann977 . Der letztlich entscheidende Gesichtspunkt, ob in Fällen, in denen es um grundlegende Verfahrensrechte des Beschuldigten geht, eine Vertretung des Beschuldigten ohne dessen ausdrückliche Ermächtigung überhaupt möglich ist978, wird weder vom BGH erkannt, noch in den Stellungnahmen der Literatur ausreichend berücksichtigt979. Dabei hatte der BGH bereits früher entschieden, daß in allen Fällen, "in denen es um die verfahrensrechtlichen Befugnisse oder die verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten selbst geht, ( ... ) der Verteidiger(...) nicht an die Stelle des Beschuldigten treten" kann, soweit keine gesetzlichen Ausnahmen von diesem Grundsatz bestehen980. Dem BGH muß in diesem Zusammenhang vorgeworfen werden, daß er zwar auf eine (vermeintlich) vergleichbare Rechtsprechung zu Fällen des Rügeverzichts verweist981 , dabei jedoch gerade die Urteile nicht zitiert, denen sich eine eindeutig gegensätzliche Tendenz entnehmen läßt. So hatte das RG zu § 256 StPO a. F. festgestellt, die Stellungnahme des Angeklagten zu einer abgeschlossenen Zeugenvernehmung sei sachlich wie eine Vernehmung zu werten, so daß der Angeklagte bei dieser Erklärung nicht durch den Verteidiger vertreten werden könne982 . Wenn die Erklärung nach § 257 I StPO aber von dem Angeklagten persönlich abzugeben ist, kann das Schweigen des Verteidigers nach Abschluß einer Zeugenvernehmung nicht als stillschweigender Rügeverzicht behandelt werden. Auch wenn dem Verteidiger in § 257 II StPO ein eigenes Erklärungsrecht zu976 So BGH wie FN 972. 977 Fezer, JR 92, S. 386; Kiehl, NJW 94, S. 1268. 978 Auf die Streitfrage, ob der Verteidiger als Beistand des Beschuldigten aus eige-

nem Recht und in eigenem Namen handelt (so die h. M., vgl. auch BGHSt 12, 369) oder immer als dessen Vertreter, muß hier nicht eingegangen werden, da nach beiden Auffassungen der Vertretungsbefugnis ohne besondere Vertretungsvollmacht Grenzen gesetzt sind. Vgl. LR-Schäfer, Einl., Kap. 9, RN 7 m. w. N. 979 Zum Parallelproblem bei der Belehrung über das Recht zur Verteidigerkonstellation, vgl. aber Hamm, NJW 96, S. 2187. 980 BGHSt 12, 370. 981 Vgl. den Verweis in BGHSt 38, 226. 982 RGSt 44, 285.

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gestanden wird, kann dieses keine eigene Erklärung des Angeklagten über ihm originär zustehende, seine verfahrensrechtliche Stellung berührende Rechte ersetzen. RG und BGH halten es zwar ftlr zulässig, daß der Angeklagte auch bei Vorschriften, die ihn ausdrücklich neben dem Verteidiger ansprechen, durch den Verteidiger vertreten werden kann983 • Der Verteidiger bedarf dabei aber immer einer besonderen Vertretungsvollmacht, die nach Auffassung der Rechtsprechung auch konkludent erteilt werden kann. Dies jedoch nur dann, wenn der Angeklagte einer ausdrücklichen Erklärung seines Verteidigers zuhört und nicht widerspricht. Die Konstruktion, der Verteidiger stimme durch Schweigen schlüssig zu und der Angeklagte genehmige dies durch Schweigen, ist in der Rechtsprechung zu Recht noch nie vertreten worden. Daraus muß gefolgert werden, daß es allein der Angeklagte in der Hand hat, durch eine entsprechende ausdrückliche Erklärung der Verwertbarkeit einer unter Verstoß gegen Belehrungspflichten erlangten Aussage zuzustimmen. Ein Vergleich mit Urteilen zur Zulässigkeil einer Vertretung des Angeklagten bei seiner Einlassung zur Sache untermauert die hier vertretene Auffassung984 • Daß dieser Vergleich durchaus passend ist, läßt sich an einem einfachen Beispiel verdeutlichen: Hat der Angeklagte sich lediglich vor der Polizei eingelassen, ohne jedoch vorher belehrt worden zu sein, und verweigert er nach Belehrung in der Hauptverhandlung jegliche Einlassung zur Sache, so würde, wenn man der Rechtsprechung des BGH folgt, das Aussageverhalten des Angeklagten ohne dessen ausdrückliche oder den Umständen zu entnehmende Erklärung von einem Willensakt des Verteidigers abhängig gemacht. Das widerspricht der Zielsetzung der oben angefilhrten Rechtsprechung, die Äußerungen des Verteidigers nur dann als Einlassung eines Angaben verweigernden Angeklagten ansehen will, wenn eine Erklärung des Angeklagten oder seines Verteidigers vorliegt, daß dieser die Äußerung als eigene Einlassung verstanden wissen will98 ~. Von diesem grundsätzlich höchstpersönlichen Charakter der Entscheidung, zur Sache auszusagen, können Ausnahmen lediglich ftlr die Fälle zugelassen werden, in denen der Angeklagte infolge schwerer körperlicher oder seelischer Mängel oder Krankheiten nicht in der Lage ist, die Bedeutung seines Prozeßverhaltens selbst zu erkennen und sich sachgemäß zu verteidigen. Will man dem Angeklagten in diesen Fällen die Möglichkeit einer Einlassung und damit der

RGSt I, 198; 10, 138; 18, 141; 66, 211; BGHSt 12,369 f. Vgl. BGH StV 90, 394; StV 93; StV 94, 467; BayObLG VRS 60, 120. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung des OLG Hamm JR 80, 82, nach der eine Verwertung von Angaben des Angeklagten nach prozessualer Erklärung des Verteidigers voraussetzt, daß dieser in Anwesenheit des Angeklagten befragt wird, ob seine Erklärung als Einlassung des Angeklagten anzusehen ist. 985 Vgl. BGH StV 90, 394; OLG Zweibrücken StV 86, 290. 983

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Gewährung rechtlichen Gehörs nicht völlig versagen, so wird man die Zustimmung zur Verwertung an sich unverwertbarer Angaben von einer eigenverantwortlichen Entscheidung des Verteidigers abhängig machen müssen986. Letztlich wird dann aber eine Verwertung von Angaben eines Angeklagten, der aufgrund der genannten Mängel nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen, nur zu dessen Gunsten möglich sein.

V. Die Fernwirkung von Verwertungsverboten bei Verletzung des nemo tenetur-Grundsatzes Die in dieser Arbeit vorgeschlagene Ausdehnung des Schutzes vor ungewollter Selbstbelastung auf die Fälle verdeckter Vernehmungen des Beschuldigten und die des weiteren erhobene Forderung nach Anerkennung eines selbständigen Beweisverwertungsverbotes filr die Phase der "Verdachtsermittlung" werfen unmittelbar die Frage auf, inwieweit die entsprechenden Verwertungsverbote Fernwirkung besitzen können. Schließlich darf eine Ausdehnung des Schutzes vor Selbstbelastung nicht zu einer unverhältnismäßigen Einschränkung verdeckter Ermittlungen und polizeilicher Aufklärungstätigkeit führen. Die Frage der Reichweite von Verwertungsverboten und damit die Problematik, inwieweit die Verbotswirkung des primären Verwertungsverbot auch weitere, durch die Ausnutzung des Verfahrensverstoßes "mittelbar" gewonnene Beweismittel erfaßt, ist bis heute stark umstritten und weit von einer allgemein filr verbindlich erachteten Lösung entfernt. Da sich ein allgemeiner, nicht auf die konkret verletzte Norm abstellender Grundsatz, der filr alle Probleme der Fernwirkung gleichermaßen Geltung beansprucht, kaum fmden lassen wird, sollen im folgenden nur einige Einzelfragen angesprochen werden, die sich unmittelbar aus der aufgezeigten, veränderten Sichtweise des nemo tenetur-Grundsatzes ergeben987. Zugrunde gelegt wird dabei die vermittelnde Ansicht der normativ ausgerichteten Abwägungslehre, die, ebenso wie bei der Bestimmung, ob aus einer konkreten Normverletzung ein Beweisverwertungsverbot abzuleiten ist, eine wertende Einzelfallabwägung vornimmt. Die erforderliche Abwägung hat sich dabei vorrangig am Normzweck und am verfassungsrechtlichen Schutzgut der betroffenen Norm zu orientieren. Es sind deshalb durchaus Normen und Prinzipien denkbar, die im Rahmen der erforderlichen Abwägung nicht überwunden werden können, da sich der Zweck der Regelung nur bei "absoluter" Fernwirkung des entsprechenden Verbots verwirklichen läßt. Führt die Abwägung im übrigen Vgl. auch Fezer, JZ 94, S. 687. Vgl. die Nachweise bei Fahl, JUS 96, S. 1016. Speziell zur Fernwirkung bei einem Verstoß gegen die Belehrungsvorschrift des § 136 I StPO, vgl. OLG Stuttgart NJW 73, S. 1941; filr eine Fernwirkung OLG 01denburg, StV 95, 179. Vgl. auch dieN. bei Seebade, JR 88, S. 430 f. und Fezer, JZ 87, S. 938 f. 986 987

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zu dem Ergebnis, daß das Strafverfolgungsinteresse das Individualinteresse des Betroffenen überwiegt, so wird eine Fernwirkung abgelehnt988 . Die Gegenauffassung989, die eine Fernwirkung vorwiegend aus kriminalpolitischen Erwägungen grundsätzlich ablehnt, läßt sich nicht mit der Intention der Verwertungsverbote, materiellen Rechtsschutz zu gewährleisten, in Einklang bringen. So wird insbesondere das durch den nemo tenetur-Grundsatz geschützte Interesse des Beschuldigten an effektiver Verteidigung funktionell entwertet, sofern es den Strafverfolgungsbehörden gestattet wird, die unter Beeinträchtigung der Aussagefreiheit des Beschuldigten gewonnenen Informationen mittelbar zu verwerten. Die Verwendung dieser Erkenntnisse beinhaltet immer zugleich eine Verwertung der Aussage selbst, so daß die Strafverfolgungsbehörden dadurch zu erkennen geben, daß sie nicht willens sind, das Aussageverweigerungsrecht des Betroffenen zu respektieren. Bei Verletzung des nemo teneturGrundsatzes muß deshalb auch in Fällen schwerer Kriminalität grundsätzlich eine Fernwirkung des Verstoßes angenommen werden990. Für den Fall des § 136a StPO dürfte dies aufgrund seines hohen Menschenwürdegehalts eine Selbstverständlichkeit sein. Aber auch sonst ist eine zumindest eingeschränkte Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten, die sich aus dem nemo teneturPrinzip ableiten lassen, angesichtsder besonderen Bedeutung dieses Grundsatzes filr die Verteidigungsstellung des Beschuldigten unumgänglich. Andererseits soll nicht verkannt werden, daß bei Anerkennung von Verwertungsverboten filr die Vernehmungstätigkeit Verdeckter Ermittler, deren Ernsatzzweck weitgehend nicht erreicht werden kann, wenn sämtliche dadurch erlangte Informationen von der Fernwirkung des Verbots erfaßt sein sollen. Die gleiche Problematik stellt sich auch, sofern die unter Berührung des nemo ten988 Vgl. dazu Grünwa/d, JZ 66, S. 500 f.; Maiwa/d, JUS 78, S. 384; Roga/1, ZStW 91 (1979), S. 39 f. und die Nachweise bei Störmer, Dogmatische Grundlagen, S. 238 in FN 10. Ob die weitergehende Auffassung, die sich in Anlehnung an die fiir den amerikanischen Strafprozeß herausgebildeten "fruit of the poisonous tree doctrin" für eine generelle Fernwirkung der Verwertungsverbote ausspricht (vgl. die umfangreichen Nachweise bei Störmer, Dogmatische Grundlagen, S. 237 in FN 5 und 6), sich sehr von der erstgenannten Auffassung unterscheidet, muß bezweifelt werden, da auch die Abwägungslehre fiir den Regelfall von einer Verbotsfernwirkung ausgeht (vgl. Roga/1, Zur Theorie und Systematik, S. I 58). Auf der anderen Seite lassen selbst die Befürworter einer generellen Fernwirkung Ausnahmen für die Fälle zu, in denen das Beweismittel auch auf legalem Wege erlangt werden hätte können. Zur Frage des normativen Zusammenhangs, vgl. Schlüchter, FS für Krause, S. 488 ff. 989 Gössel, GA 91, S. 510; Kleinknecht I Meyer-Gößner, Eint., RN 57; LR-Schäfer, Einl. Kap. 14, RN 43 m. w. N. Auch die Rechtsprechung tendiert mit Ausnahme des Falls von § 7 III G 10 (vgl. BGHSt 29, S. 251) dazu, eine Fernwirkung abzulehnen, denn diese dürfe nicht das weitere Verfahren "lahmlegen"; vgl. u. a. BGHSt 32, 70 ff.; 34, 364; 35, 34; offengelassen in 27, 357m. w. N. 990 Vgl. auch Bauer, Die Aussage, S. 196 f. m. umfangreichen N.; Grünwald, JZ 66, S. 500; Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, S. 90; Roga/1, ZStW 91 (1979), S. 40.

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etur-Grundsatzes bei informatorischer Befragung erlangten Erkenntnisse einem selbständigen Verwertungsverbot unterworfen werden. Beide Konstellationen sind dadurch gekennzeichnet, daß die dabei gewonnenen Erkenntnisse zumindest eingeschränkt weiterverwendet werden müssen, um eine ordnungsgemäße Beweiserhebung überhaupt erst zu ermöglichen. Hier ist tatsächlich die "kriminalpolitische Gretchenfrage" aufzuwerfen, ob es hingenommen werden kann, daß durch das Postulat eines mit Fernwirkung ausgestatteten Verwertungsverbots das gesamte Strafverfahren lahmgelegt wird991 • Selbst wenn den in der Literatur geforderten Einschränkungen gefolgt wird und in Fällen, in denen kein Zusammenhang zwischen Verfahrensfehler und mittelbarer Beweisgewinnung besteht, auch eine Fernwirkung des Verfahrensverstoßes verneint wird992, werden dennoch die aufgrund der Ermittlungstätigkeit des Verdeckten ErmittJers erlangten Informationen weitgehend unverwertbar sein. So ist es gerade Kennzeichen und Teil der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Einsatzes von Verdeckten Ermittlern, daß eine Aufklärung mit anderen Mitteln der Verbrechensaufklärung nur schwer oder überhaupt nicht möglich ist993 . Da hilft es wenig, in Anlehnung an das amerikanische Recht eine Verwertung der mittelbaren Beweisergebnisse zumindest dann zuzulassen, sofern diese ohnehin mit größter Wahrscheinlichkeit von den Strafverfolgungsbehörden entdeckt worden wären oder wenn sie neben dem verbotswidrigen Weg auch noch aus einer selbständigen Quelle abgeleitet werden können994. Die bei der unzulässigen, verdeckten Vernehmungstätigkeit des Ermittlers erlangten Informationen werden dennoch die anderen Beweismittel "vergiften", denn gerade diese Erkenntnisse fUhren in aller Regel erst zur Entdeckung weiterer Beweismöglichkeiten. Eine praktikable Handhabung der Fernwirkungsproblematik läßt sich jedoch dadurch erreichen, daß eine Verwertung dann zulässig ist, wenn der Verfahrensfehler seine "normative Relevanz" verloren hat. Nach dieser an die "purged taint exception" angelehnten Ausnahme darf ein mittelbares Beweismittel dann verwertet werden, wenn es zwar nur durch das rechtswidrige Verhalten der Polizei erlangt werden konnte, jedoch kein direkter Zusammenhang zwischen

991 SK-Rogal/, § 136a StPO, RN 96, mit Nachweisen zu dieser Beftlrchtung der Rechtsprechung. 992 Vgl. dazu die umfangreichen Nachweise bei SK-Rogal/, § 136a StPO, RN 96 ff. 993 Vgl. auch§ l!Oa I S. 3 und S. 4 StPO. 994 Eine eingehende Erörterung der unbestreitbar notwendigen Berücksichtigung hypothetischer Ermittlungsverläufe und insbesondere des daftlr notwendigen Wahrscheinlichkeitsgrades kann im Rahmen dieser Arbeit nicht erfolgen. Zu den Einschränkungen der "independent source exception" und "inevitable discovery exception" auch aus deutscher Sicht, vgl. u. a. Grünwa/d, JZ 66, S. 500; Herrmann, JZ 85, S. 608 f. ; Roga/1, NStZ 88, S. 385 ff. und ders., Theorie und Systematik, S. 132 ff.; SK-Roga/1, § 136a StPO, m. umfangreichen N. in FN 100; Sa/ditt, GA 92, S. 72 ff.; Schlüchter, IR 84, S. 518 ff. und dies., Strafprozeßrecht, S. 185m. w. N.

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Grundrechtsverletzung und Beweiserlangung besteht995 • Die dafilr im Schrifttum angefiihrten Beispiele - Wiederholung einer unverwertbaren Aussage nach entsprechender Belehrung oder nach Beratung mit einem Verteidiger, Unbeachtlichkeit eines Verstoßes gegen § 136a StPO bei Aussage des Beschuldigten nach bloßem Zeitablauf etc. - deuten darauf hin, daß es sich hierbei in aller Regel nicht um ein Problem der Fern-, sondern der Fortwirkung handelt, d. h. der Frage danach, ob der Verfahrensfehler zwischenzeitlich geheilt worden ist996 • In diesen Fällen geht es nicht um die Frage der Sperrwirkung eines Verfahrensfehlers fiir mittelbar erlangte Beweismittel, sondern darum, ob ein und dasselbe Beweismittel erneut verwendet werden darf, weil der das Verwertungsverbot auslösende Verstoß sich zwischenzeitlich nicht mehr auswirkt997 • Diese Ausnahme soll aber auch bei der Vernehmung von Zeugen eingreifen können, die bei strenger Kausalitätsbetrachtung eigentlich nicht zur VerfUgung stehen würden, deren Verbindung mit dem Makel der Beweiserhebung jedoch nur sehr schwach ausgeprägt ist998 . Entscheidendes Kriterium filr die Unterbrechung des normativen Zusammenhangs ist in diesen Fällen die Freiwilligkeit der Zeugenaussage, d. h. der freie, selbstbestimmte Entschluß des Zeugen, sich als Beweismittel zur VerfUgung zu stellen. Deshalb kann diese Beschränkung auch nicht auf mittelbare sachliche Beweismittel übertragen werden, deren Verwertung damit allenfalls durch hypothetische Kausalitätserwägungen gerechtfertigt sein kann. Bei genauer Betrachtung ist auch die Beschränkung der Fernwirkung bei "Abschwächung der Kausalverbindung" das Ergebnis einer Abwägung. Bei einem weitgehend selbstbestimmten Entschluß des Zeugen auszusagen kann es auch angesichts der Tatsache, daß seine Identität nur durch Verletzung der Aussagefreiheit des Beschuldigten erlangt worden ist, kaum noch gerechtfertigt werden, auf seine Einvernahme völlig zu verzichten. Schwierigkeiten bereitet in diesem Zusammenhang lediglich die Lösung der Frage, wann von einer selbstbestimmten Aussage des Zeugen ausgegangen werden kann. Eine Einzelfallbetrachtung scheint hier unumgänglich999, wobei sich jedoch zumindest einige Faktoren anfUhren lassen, die nicht vorliegen dürfen, falls die Aussage des Zeugen verwertbar sein soll. So ist eine Aussage unfreiwillig, sofern der Zeuge le995 Vgl. dazu Harris, StV 91, S. 315, und die Nachweise bei Roga/1, Theorie und Systematik, S. 133m. w. N. 996 Vgl. dazu bereits oben Teil 111, § 14 111. Einer kritiklosen Übernahme dieser Ausnahmen in das deutsche Recht muß widersprochen werden, denn anders als im amerikanischen Recht (dort wird an die Tatsache der Festnahme angeknüpft) ist das Geständnis des Beschuldigten in diesen Fällen keine mittelbare, sondern unmittelbare Folge des ursprünglichen Verfahrensfehlers, vgl. Harris, StV 91, S. 315. 997 Vgl. dazu treffend auch Fezer, JZ 87, S. 938 f. 998 Vgl. SK-Roga/1, § 136a StPO, RN 97. 999 Die damit verbundene Rechtsunsicherheit ist angesichts der Tatsache, daß starre Regeln bei der Vielzahl möglicher Beeinflussungsfaktoren zwangsläufig versagen müssen, unumgänglich. Vgl. auch Eisenberg, Beweisrecht der StPO, RN 407.

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diglich unter Androhung oder Vollstreckung von Zwangsmitteln bereit ist, zur Sache auszusagen 1000. Beruft man sich filr die Bestimmung der Freiwilligkeit auf normative Kriterien, so wird man über die bereits in der Literatur vorgebrachten Einschränkungen hinaus zudem fordern müssen, daß der Vernehmende dem Zeugen keinerlei Vorhalte machen darf, die sich inhaltlich auf die unverwertbare Beschuldigtenaussage beziehen. Die auf einen Vorhalt erlangten Angaben des Zeugen stehen in einem so engen Kausalzusammenhang mit dem Verfahrensverstoß bei Vernehmung des Beschuldigten, daß sich dieser gewissermaßen in der Zeugenaussage wiederfmdet 1001 • Bei Beachtung der hier vorgeschlagenen, wenn auch nicht in allen Einzelheiten umrissenen Grundsätze verbleibt den Strafverfolgungsbehörden auch unter Wahrung der Aussagefreiheit des Beschuldigten ein ausreichender Handlungsspielraum, der den Einsatz Verdeckter Ermittler nicht völlig ineffizient werden läßt.

Zu dieser Ausnahme vgl. auch Harris, StV 91, S. 316. Daß der Vernehmende in seiner Vernehmungstätigkeit durch das bereits erlangte Wissen beeinflußt wird, soll nicht verkannt werden. Wo hier im Einzelfall die Grenze zu ziehen sein wird, muß auch einer konkreten Abwägung überlassen bleiben. 1000 1001

Schlußbemerkung Im ersten Teil der Untersuchung wurde aufgezeigt, daß verfassungsrechtliche Überlegungen zur Rechtsnatur des nemo tenetur-Grundsatzes keine abschließende Bestimmung von dessen Zweck und Inhalt ermöglichen können. Der Wertordnung des Grundgesetzes können allenfalls Leitlinien fiir die Auslegung dieses strafprozessualen Grundsatzes entnommen werden. Dabei sind die so gewonnenen Vorgaben wiederum selbst in hohem Maße davon abhängig, welche Aufgabe der Auslegende dem Grundsatz zuvor zugewiesen hat. Um den mit einer Berufung auf ein scheinbar Allgemeingültigkeit beanspruchendes, übergeordnetes Wertesystem verbundenen Z~kelschluß zu vermeiden, wurde in der vorliegenden Arbeit zur Konkretisierung des "Anspruchsinhalts" des nemo tenetur-Grundsatzes eine funktionsorientierte Betrachtung gewählt. Der Schutzgegenstand eines ungeschriebenen Prinzips des Strafverfahrens läßt sich nur dann weitgehend wertungsfrei bestimmen, wenn unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Verfahrensbedingungen nach dessen Aufgabe im Gesamtsystem des Strafverfahrens gefragt wird und das dabei gefundene Ergebnis am Ziel des Strafverfahrens gemessen wird. Eb. Schmidt hat in einem Aufsatz zu "Aktuellem und Zeitlosem" des Strafprozesses gefordert, die StPO solle als eine "verfassungsadäquate, ... eigenständige Ordnung der Strafverfolgung ... streng angewendet und aus sich heraus verstanden werden" 1. Er warnt vor den Gefahren die mit dem Versuch verbunden sind, den Grundrechten ein System entnehmen zu wollen, in dem ,jedes Lebensinteresse des Einzelnen wie des Staates einen festen Rang und Ort zugewiesen erhalten haben soll"2• Sicherlich verfolgte Eb. Schmidt mit dieser Aussage nicht die Absicht, fiir eine Stärkung der Rechtsstellung des Beschuldigten im Strafverfahren einzutreten, sondern er wollte eine deutliche Absage an ein - wie er meint - pervertiertes Verständnis der Freiheitsrechte durch "individualistisch-solipistisches Denken" erteilen3 . Zudem gerät sein positivistischer, den überragenden Wert der schützenden Form durch bindende Prozeßregeln betonender Standpunkt zwangsläufig ins Wanken, wenn ein in der gesetzlichen Regelung der StPO nur unzureichend zum Ausdruck gebrachter, unge-

1 Eb.

Schmidt, NJW 69, S. 1142. Eb Schmidt, NJW 69, S. 1141. 3 Wie FN 1. 2

352

Schlußbemerkung

schriebener Prozeßgrundsatz konkretisiert werden soll4• Dennoch zeigt die Untersuchung möglicher Rechtsgrundlagen des nemo tenetur-Grundsatzes, daß sich das gerade bei diesem Prozeßgrundsatz besonders deutlich hervortretende Spannungsverhältnis zwischen den Freiheitsinteressen des am Prozeß beteiligten einzelnen und den Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung nicht unter Zuhilfenahme letztlich inkomparabler Verfassungsrechtsgüter und interessen auflösen läßt; es sei denn, man möchte sich dem Vorwurf Eb. Schmidts aussetzen, einem "subjektiv gefiihlmäßigen, völlig unkontrollierbaren, irrationalen Dezisionismus"5 erlegen zu sein. Will man einen rational begründbaren Ausgleich der konfligierenden Interessen fmden, so muß statt dessen unter Loslösung von einem vermeintlich rechtshistorisch gewachsenen Verständnis des nemo tenetur-Prinzips nach dessen Gegenwartsfunktion in den seit den Zeiten der RStPO völlig gewandelten Rahmenbedingungen des modernen Strafverfahrens gefragt werden. Eine funktionale Analyse des nemo tenetur-Prinzips hat dabei ergeben, daß dessen Anwendungsbereich nicht von der Zwangsintensität einer strafprozessualen Maßnahme abhängig ist. Zweck des Grundsatzes ist vielmehr der Schutz der personalen Freiheit der Willensentschließung und die Wahrung der Selbstbestimmtheit einer Entscheidung zur Mitwirkung im Strafverfahren. Damit mag auf den ersten Blick ein Verlust an Rechtssicherheit verbunden sein. Der im Vergleich mit klassischen Umschreibungen des nemo tenetur-Prinzips erheblich erweiterte Schutzbereich bedarf der bereichsspezifischen Abgrenzung, um zu verhindern, daß dieses den Charakter eines umfassenden, aber letztlich nicht mehr praktikablen Infonnationsverfilgungs6- oder Kommunikationsgrundrechts7 gewinnt. Ansätze, die diesen Schwierigkeiten auszuweichen versuchen, indem sie im Wege einer "induktiven Analyse" zunächst aus der einfachgesetzlichen Regelung den Schutzgegenstand des nemo tenetur-Grundsatzes bestimmen und diesen anschließend einer verfassungsrechtlichen Bewertung unterziehen8, haben mit der Wahl ihres Vorgehens bereits eine Vorentscheidung über die Gewährleistung effektiven Beschuldigtenschutzes getroffen. Sie überantworten diesen einer jeweils fiir maßgeblich gehalten Interpretation einfachgesetzlicher Vorgaben ohne tatsächlich einer fortschreitenden Entwertung des nemo tenetur4 So beklagt Eb. Schmidt zwar, daß "Naturrecht, wenn es auch keiner zu fassen vermag," der geistige Vorrang vor Gesetzesrecht eingeräumt wird (NJW 69, S. 1140), beruft sich dann aber zur Begründung der Aussagefreiheit des Beschuldigten selbst auf den letztlich naturrechtlichem Denken entsprechenden "Selbsterhaltungstrieb" des einzelnen (NJW 69, S. 1139). 5 Wie FN l. 6 Vgl dazu oben Teil I,§ 2 II 2 a). 7 V gl dazu oben Teil II, § 4 II. 8 So eine bedenkliche Tendenz im neueren Schrifttum, vgl. etwa Verrel, NStZ 97, S. 364 m.w.N.

Schlußbemerkung

353

Grundsatzes durch heimliche und operative Informationserhebungsmethoden entgegentreten zu können. Wer sichangesichtseiner kontinuierlichen Vorverlagerung des Verfahrensschwerpunktes in ein immer konturen- und formloser werdendes Vorfeld des eigentlichen Ermittlungsverfahrens auf ein überkommenes, auf Unzumutbarkeitserwägungen basierendes Verständnis des nemo tenetur-Prinzips zurückzieht, muß sich vorhalten lassen, einseitig lediglich im Bereich beschuldigtenschützender Rechte fiir eine Rückbesinnung auf dessen historisch überholte Inhaltsbestimmung einzutreten9 . Im Bereich der Vorermittlungen, die dazu dienen sollen, einen vagen Verdacht der Begehung von Straftaten zu konkretisieren, ist eine klare Grenzziehung zwischen klassischen, repressiven Eingriffen der Polizei und "präventiver", gefahrenabwehrender Datenerhebung kaum noch möglich. Die Polizei als faktische Herrin des Ermittlungsverfahrens 10 bedient sich in diesem Frühstadium des Verfahrens überwiegend heimlicher und häufig operativ durchgefuhrter Ermittlungsmaßnahrnen, die sowohl verbrechensvorbeugenden als auch straftataufklärenden Charakter besitzen. Eine interessengerechte Interpretation des nemo tenetur-Grundsatzes darf sich dieser normativ wohl kaum in den Griff zu bekommenden Verfahrenswirklichkeit nicht verschließen. Wenn die Polizei zunehmend Umgehungsstrategien einsetzt, um den bei offen durchgefuhrten Zwangsmaßnahmen bestehenden Beschuldigtenschutz mißachten zu können, und in dieser Vorgehensweise zudem durch eine unklare Regelung des Verbrechensbekämpfungsgesetzes unterstützt wird ll, dann darf nicht zugleich die Bedeutung des nemo tenetur-Grundsatzes im Bereich der heimlichen Polizeiarbeit völlig geleugnet werden. Verschärft wird die bestehende Situation durch die wohl nicht mehr ernsthaft bestrittene Tatsache, daß die Hauptverhandlung überwiegend der Bestätigung einer im Ermittlungsverfahren gewonnen Hypothese dient. Damit dem Beschuldigte aber angesichts dieser Verfahrenswirklichkeit die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Selbstdarstellung im Strafverfahren nicht völlig genommen wird, muß einer frühzeitigen Festlegung des Aussageverhaltens des Beschuldigten durch Ermittlungsmaßnahmen entgegengewirkt werden, deren Ergebnis er mangels Kenntnis ihres strafprozessualen Charakters nicht beeinflussen kann. Im letzten Abschnitt der Untersuchung wurde aufgezeigt, wie dies bewerkstelligt werden kann, ohne daß es zu einer 9 So etwa Verrel, NStZ 97, S. 415. ff. m.w.N, der in seinen Ausführungen sogar so weit geht zu behaupten, eine Ausdehnung des nemo tenetur-Prinzips auf abgelistete Äußerungen lasse sich nur schwerlich mit dessen Wortlaut vereinbaren. Abgesehen davon, daß eine grammatische Auslegung zur Konkretisierung eines ungeschriebenen Prozellgrundsatzes wohl kaum der richtige Weg ist, fragt man sich, an welchem Wortlaut das nemo tenetur-Prinzip gemessen werden soll, da nicht einmal über die tradierte lateinische Umschreibung dieses Grundsatzes Einigkeit besteht. 10 Vgl. dazu oben Teil I,§ 3. 11 Vgl. dazu oben Teil I,§ 2 IV 2 bb).

23 Bosch

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Schlußbemerkung

unangemessenen Prinzipienausdehnung und damit zu einer nicht mehr praktikablen Einschränkung heimlicher Ermittlungstätigkeit der Polizei kommt. Dieser dritte Teil beschränkte sich aber nicht auf die Erörterung "neuer Gefahren" fur das nemo tenetur-Prinzip, sondern widmete sich ebenso der Prüfung, welche vielfaltigen Anforderungen im Bereich des "klassischen" Strafverfahrensrechts noch zu erfullen sind, damit tatsächlich festgestellt werden kann, daß "das Strafprozeßrecht dem Grundsatz des ,Nemo tenetur seipsum prodere' im wesentlichen Rechnung trägt" 12•

12

So Roga/l, nemo tenetur, S. 257.

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- Verfassungsrecht im Strafprozeß- und Strafrechtssystem, in: NStZ 1993, S. 1 ff. - Datenschutz und Strafprozeß, in: ZStW 107 ( 1995), S. 793 ff. Wulf, Peter: Strafprozessuale und kriminalpraktische Fragen der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung auf der Grundlage empirischer Untersuchungen, Heidelberg 1984, zit. : Strafprozessuale und kriminalpraktische Fragen. Zachariä, Heinrich: Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, Göttingen 1846, zit.: Gebrechen. -Handbuch des deutschen Strafprozesses, Band I, 1861 .

Sachregister Abschlußvermerk 132

- Fürsorgecharakter der 130 ff.

Absolute Schranken 29, 31 ff., 37 ff., 59 ff., 85, 122

- Qualifizierte 262 ff., 336 ff.

Absprachen 137

- Zeitpunkt 241 ff.

Abwägung 53, 55, 57 ff., 60 ff., 268 ff., 301,318 ff. Akkussationsprinzip 17, 80 f., 97 ff. Akteneinsicht -des Beschuldigten 144 f. - des Richters 184 f.

- und Sachverständiger 31 0 ff. -Zweck 79 ff., 91 f., 130 ff., 140 ff., 152 Beobachtung des Beschuldigten 278, 285 f., 312 f. Bericht Beschuldigtenbegriff 153 ff.

Allgemeine Handlungsfreiheit 46 ff.

- Beurteilungsspielraum bei Bestimmung 156 f.

Asylverfahren 55 ff.

- eingriffslimitierende Funktion 158

Augenscheinsbeweis 278, 285 ff., 302 ff.

- formeller 15 5 ff.

Auskunftsverweigerungsrecht 20, 180, 251 ff.

- materieller 155

- Ausübung 253

- und Analogie zum Steuerstrafverfahren 158 ff.

- Belehrung über 255 ff. - Glaubhaftmachung 254 ff. - Umfang 252 ff.

- und Aktenvermerk 159

Beweismittelfunktion des Beschuldigten 188 f. Beweiswürdigung

- und selbständiges Beweisverwertungsverhot 259 ff.

- freie 98 f., 109, 338 f.

- Verdachtsabhängigkeit 255 ff.

- und Beschuldigtenlüge 186 ff., 195 ff.

Aussagesurrogate 294, 302 f.

- und Geständnis 176 f.

Aussagezwang 36, 38 f., 41 f., 44, 57, 73, 95 f., 99 f., 108 ff., 112 f., 119 f., 142 f., 205 f.

Bewertungsirrtum 72 Columbo-Effekt 243 ff.

Beichtvatertaktik 140 f. Belehrung 18 f., 37, 65 ff., 72 f., 81 ff., 125, 128 ff., 149, 154, 223, 274, 295 ff. - Formel77 ff., 132 f., 181 f., 193, 195, 314

Doppelte Indizkonstruktion 198 f. Duldungspflichten 49 f., 280 ff., 302 Editionspflicht 40, 282

Sachregister Ehrschutz 48 f., 120 Eigenverantwortlichkeit 21, 39, 47, 79, 90,106, 119ff., 124ff., 135f., 142, 145, 255, 270, 295 ff., 297, 314, 346 Einwilligungslösung 234 ff. Erfordernisse der Strafrechtspflege 44, 59, 63 ff., 238 f., 323 Erkenntnistheorie 11 0 ff. Eröffnungspflicht 85, 127 ff., 143 ff., 331 f. - und Vernehmungsgegenstand 147 f.

377

Informatorische Befragung 103, 205, 241 ff., 246 ff., 255 ff., 266 ff., 341 f., 348 Internation. Pakt über bürgerl. und polit. R. 24 ff. Intimsphäre 37 f., 47, 53 f., 60 ff., 85 f., 266 Inquisitionsverfahren 17, 97,99 f., 101, 144, 162, 166, 172, 177 Kernbereichskonzeptionen 38, 42, 48, 53 f., 60 ff., 71 Kontradiktorisches Verfahren 103 f.

Fairneßgebot 26 f., 74 ff., 130

Korrespondenztheorie 111 ff.

Fürsorgepflicht 77, 130 ff., 231 Funktionale Auslegung 31, 63 ff., 98, 106, 350 ff. Gegenüberstellung 40 f. Gemeinschuldnerbeschluß 20, 42, 46, 56 ff., 70, 255, 266, 101, 104, 114, 117f., 129,131,134,163 f. Geständnis 101,104,114, 117f., 129, 131, 134, 163 f., 181, 184 - und Beweiswürdigung 176 ff. - und Versprechen der Haftentlassung 230 ff. -strafmildernde Wirkung 137 ff., 197 ff. Gewisssensfreiheit 43 ff. - und forum internum 44 f. Herrschaftsfreier Diskurs 118 Hörfallen 215 f., 233 ff. Induktive Methode 29 f., 150, 279 Informationsverfügungsrecht 50 ff., 284 - und informationeHe Selbstbestimmung 49 ff. - und Komplementärfunktion 52 ff.

Leugnen 189 ff., 202 ff. List 90, 167 f., 170 f. Lockspitzel 222, 225 ff. Menschenrechtskonvention 26 f., 94 f., !II Menschenwürde 28, 32, 37 ff., 70, 169, 213 f. - und Drittinteressen 42 f., 60 ff. Mitwirkungsfreiheit 277 ff. - Belehrung über 295 ff., 303 f., 313 ff. -Gegenüberstellung 289 ff., 308 f. - körperliche Untersuchung 286 ff., 295 ff. - Vollstreckungsrechtliche Betrachtung 90 f., 280 ff., 290 ff. Nachtatverhalten 187, 198 ff. Naturrecht 32 ff., 57, 60, 98 Nemo tenetur-Grundsatz -Entwicklungsgeschichte 96 ff., 166 ff. -Funktion des 29, 32, 47, 50 ff. , 55, 73 ff., 98 ff., I 05 f., I 06 ff. - und Kommunikationstheorie 113 ff., 262

378

Sachregister

-und Ordnungswidrigkeiten 19, 33 f., 92, 149 f. -und strafprozessuale Fonn 65, 114 f., 241 ff., 302 f., 331 ff. - und Völkerrecht 24 ff.

Selbstbegünstigung 191 f. Selbstbestimmungsrecht4l, 43, 46 f., 63, 76, 83, 134, 171,239 Spezialprävention 117 ff. Sphärentheorie 55, 61

Objektstheorie 37 ff.

Spontanäußerung 205, 209, 243, 250, 269 ff., 316

- und Z weckrnäßigkeitserwägungen 41 ff.

Strafzumessung 145 ff.

Offenheilsgrundsatz 82 ff., 298 ff., 314

- und Beschuldigtenlüge 186 ff., 202 ff.

Opferbezogene Strafrechtspflege 199 ff.

- und Geständnis 13 7, 197 ff. - und Schadenswiedergutmachung 199 ff.

Persönliche Verhältnisse 148 ff.

Strukturwandel l 0 l ff.

Persönlichkeitsrecht 28, 47 ff., 60 ff., 73, 300,305 f.

Subsidiaritätsklausel237

Prinzipien 63 ff.

Täuschungverbot 33, 84, 88 ff. , 112, 122 f., 126 f., 166 ff., 210 ff., 226 ff., 231 ff., 275, 303 f., 306 ff., 320

- und Vorrangrelation 53 - und Optimierungsgebote 64, 75 Prozeßziele 36, 75, l 07 ff. - Gerechtigkeit 115 ff. - Rechtsfrieden lll, 115 ff. - und Justizf()nnigkeit 116 f. - und Resozialisierung 117 ff. -Wahrheitstindung l 08

-und Menschenwürde 169 Tagebuchaufzeichnungen 51, 53 f., 61 f., 120 f., 204, 268 Telefonüberwachung 84 f., 88 ff., 209, 234 f., 305 Tonbandaufnahmen 109 f. - heimliche 299 ff. Überrumpelungstaktik 194 f.

Rechtliches Gehör 144, 146, 162 ff., l75f.

U-Haft 225 ff.

Rechtsstaatsprinzip 67 f., 28 f., 69 ff., 165

Unfallflucht 39, 279 Unschuldsvennutung 49, 71 , 93 ff., 120

Sachverständiger 287, 309 ff. - und Anknüpfungstatsachen 311 f. - und Zusatztatsachen 315 ff. Schuld 34 f., 62, 148 Schuldinterlokut 153 Schweigen - außerstrafprozessuales 56 f. - teilweises 88, 192 ff. - zeitweises 77, 109, 123, 187

Unverfilgbarkeit 29 f., 32 ff., 65 f. Unzumutbarkeitsgedanke 32 ff., 278, 284 - ein regulatives Prinzip 39 V-Leute 216 ff. Verbrechensprävention l 02, 220 ff. Verdeckte Ennittlungen 21, 226 ff., 299 ff., 347 ff. Verdeckte Ennittler 86 ff., 89 ff., 213 ff. , 347 ff.

Sachregister Verfassungsrechliehe Begründungsmodelle 27 ff. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 35 ff., 282, 296 ff. Verhandlungsfilhrung 94 f., 100, 111 f., 131 ff., 152 f., 172 f., 178, 194 Verhandlungsflihigkeit 148, 151 Vernehmung - Abbruchspflicht 133, 135 ff., 141,276 f. - bei präventivem Handeln 221 ff. -der Verhörperson 103, 170 ff. -durch Privatleute 212 ff., 234 ff. - formelle Begriffsbestimmung 204 ff. - Kontrolle 81 f. - materielle Begriffsbestimmung 208 ff., 232 ff. - Protokolle der 103, 178 ff., 243 f., 245 ff., 322 f., 328 ff. - und Anwesenheitsrechte 173 ff. - und Dokumentationspflicht 81 f. - und Systematik des Gesetzes 210 ff. -Verdeckte 83 ff., 87 ff., 142, 207 ff. -von Zeugen 34, 122, 168, 206, 248 f., 250 ff., 344 f. -Zweck 161 ff. - zur Person 148 ff. vernehmungsähnliche Situation 205, 213, 224 f., 273 Vernehmungssflihigkeit 297 f. Verstrickungsstrategie 194 f. Verteidiger 75, 135 f., 171, 173 ff., 257, 335 f. - Belehrung über Recht auf 174 f.

379

Verwertungverbote 25 f., 57 f., 91, 129 f., 137, 221, 223 ff., 245, 275, 308, 318 ff., 320 ff. -Beruhen des Urteils 321, 330 ff. - Abwägungslehre 318 ff., 346 f. -Fernwirkung 346 ff. - Fortwirkung 339 ff. - Heilung 336 ff. - Rügelast 325 ff. - Schutzzwecklehre 319 f., 322 -selbständige 213, 253, 259 ff. - und Disziplinierungsgedanke 264 -und in dubio pro reo 327 f., 333 - Widerspruchslösung 342 ff. Vorfeldermittlungen 102 f., 249 ff., 264 f. Vorgespräch 205, 243 ff. Vorhalt 178 ff., 261 - zulässiger Zeitpunkt 183 ff. vorläufige Festnahme 228, 271 ff. Waffengleichheit 80 ff., 105, 136 Wahrheitspflicht 185 ff. - und Ermahnung durch Vernehmenden 188 ff., 190 f. Wiedergutmachung 199 ff. Willensentschließungsfreiheit 37, 47, 90 f., 106, 121, 123 ff., 138 f., 142, 168, 199 f., 227 ff., 230 ff., 278, 337 f. Zeugnisverweigerungsrecht 120 f., 154, 182, 206 f., 324 Zurechnungsgedanke 214 ff., 236 ff. - und Verwaltungshelfer 216 f.