Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips: Ein Beitrag zur teleologischen Auslegung des Staatsorganisationsrechts [1 ed.] 9783428492367, 9783428092369

Im Mittelpunkt des vorliegenden Werkes stehen die Funktionen des Demokratieprinzips. Der Autor will keine umfassende Dem

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Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips: Ein Beitrag zur teleologischen Auslegung des Staatsorganisationsrechts [1 ed.]
 9783428492367, 9783428092369

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ALBERT BLECKMANN

Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 101

Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips Ein Beitrag zur teleologischen Auslegung des Staatsorganisationsrechts

Von Albert Bleckmann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Bleckmann, Albert:

Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips : ein Beitrag zur teleologischen Auslegung des Staatsorganisationsrechts I von Albert Bleckmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft; Bd. 101) ISBN 3-428-09236-8

Alle Rechte vorbehalten

© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-09236-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung

9

Erster Teil

Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips in seiner historischen Entwicklung

11

§ 1 Das antike Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 II. Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 § 2 Das Demokratieprinzip im antiken Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 I. Polybios (200 - 120 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 II. Cicero (106 - 43 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 § 3 Das Demokratieprinzip im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I. Thomas von Aquin (1224 - 1274) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 II. Marsilius von Padua (um 1275- 1342) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 § 4 Das Demokratieprinzip in der beginnenden Neuzeit (16. und 17. Jahrhun-

dert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Jean Bodin (1529- 1596) . . . II. Thomas Hobbes (1588 - 1679) III. John Locke (1632 - 1704) . . .

.. .. . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . .. .. .. . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . .. . .. .. . .. . .. . . .... .. ... . . . . .. .. . . . . . . .. .. . . . . . . . .. . ..

29 29 . 30 32

§ 5 Die Entwicklung des Demokratieprinzips in den angelsächsischen Staaten . 34 I. Zur britischen Verfassungstradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 II. Der Beitrag der amerikanischen Staatslehre zum Demokratieprinzip:

The Federalist Papers . . . . ·. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1. Die Unabhängigkeitserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. The Federalist Papers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

§ 6 Das Demokratieprinzip in der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 I. Montesquieu (1689 - 1755) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

II. Jean Jacques Rousseau (1712 - 1778) . . . . . . . . . . . III. EmanuelJoseph Sieyes (1798 - 1836) . . . . . . . . . . . IV. Robespierre (1758 - 1794) . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Verfassungen von 1791 und 1793 ..... .. . . . ..

. . . . . . ..

. . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . .. . ... . . .. .

44 53 56 57

6

Inhaltsverzeichnis VI. Entwicklung der Prinzipien der Französischen Revolution . . . . . . . . . . 58 VII. Staatstheorien der deutschen Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

§ 7 Die Entwicklung des Demokratieprinzips im 19. Jahrhundert

. . . . . I. Die liberale Richtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die konservativen Theoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts . . . 1. Der deutsche Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der französische Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Comte Joseph-Marie de Maistre (1753 - 1821) . . . . . . . . b) Louis Gabriel Ambroise, Vicomte de Bonald (1754- 1840)

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

70 70 74 74 83 83 84

§ 8 Die Entwicklung der Demokratietheorie im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . 84

I. Die deutsche Staatswissenschaft in der Weimarer Republik .... . . . . . . .84 II. Die moderne Demokratiediskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 III. Die Demokratiediskussion in der deutschen Literatur zum Staatsrecht und zur Allgemeinen Staatslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

Zweiter Teil

Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie

96

§ 9 Zur Definition des öffentlichen Interesses (Gemeinwohl und Allgemein-

interesse). . . . . ..... .. . . ..... . ........ . .... .. .. . . . . . .. 96 I. Stand der Lehre und Rechtsprechung . ....... . ..... .. . .. .....96 II. Zur historischen Entwicklung der Staatszwecklehre . . ........ . .. . .. 99 III. Zur Entwicklung des Begriffs der Allgemeininteressen . ..... . . . . . . . 104 IV. Die Identifizierung der Allgemeininteressen mit den durch die klassischen und sozialen Grundrechte geschützten Individualinteressen ...... . .... 106 V. Die Staatszwecklehre des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 VI. Einwände gegen die Staatszwecklehre des Grundgesetzes . ..... . . . . . 112

§ 10 Gründe für die Durchsetzung der Allgemeininteressen in der Demokratie -

Zu den Zielen des Demokratieprinzips . . ... . .. I. Der Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Selbstbestimmungsrecht .. . . ..... . .. III. Die Richtigkeitsgewähr des Demokratieprinzips

. . . .

114 114 116 117

. .. . . . . . . . . . . . .. . I. Unmittelbare und mittelbare Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Parlamentarisches und präsidentielles Regime .. . . . . . . . . . . .. .. III. Honorations- und Parteiendemokratie, Interessenverbände ... .. . . .

122 122 122 123

§ 11 Zu den verschiedenen Formen der Demokratie

. . . .

... . .. . . .. .. .. ..

..... .. . . . ..... . . . . .

. .. . . . ... . . .

. . . .

Inhaltsverzeichnis

Dritter Teil Zu den Zusammenhängen des Demokratieprinzips mit den anderen Staatszielbestimmungen

7

124

§ 12 Demokratieprinzip und Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 I. Problemaufriß ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

II. III. IV. V.

Die geschützten Interessen . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . Zu den Abwägungskriterien......... . .... . ............... Die Verfahrensprinzipien . . ... ..... .. ... . . . . . . . . . . . . . .. Die rechtliche Durchsetzung des Gerechtigkeitsgedankens: Die "rule of law" . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ...

137 138

§ 13 Das Verhältnis zwischen dem Demokratieprinzip und dem Souveränitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Souveränitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zum Begriffund zur Funktion des Souveränitätsprinzips ...... . . . .. III. Die Bedeutung des Souveränitätsprinzips im modernen Verfassungsrecht. IV. Die Verankerung des Souveränitätsprinzips im Grundgesetz ... .. . . .. V. Exkurs: Souveränität des Volkes und Totalrevision der Verfassung .... VI. Die äußere Souveränität der Bundesrepublik Deutschland .... . .... .

140 140 141 153 155 157 159

§ 14 Zur Konstruktion des Bundesstaates- Versuch einerneuen Theorie des

Bundesstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zum Stand der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . II. Die Machttheorien III. Die Interessentheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die rechtlichen Konsequenzen der Interessentheorie . . . . . . . . . . . V. Ergebnisse und Folgerungen . . . . . . . . . . ..... . . . . . . . . . . .

127 134 135

161 161 162 165 172 180

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . .. 181

I. Die theoretischen Grundlagen des Gewaltenteilungsprinzips ..... . ... 181 II. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Gewaltenteilungsprinzip ..... . . . 192 III. Die Stellungnahme der Lehre zur Rechtsprechung des BVerfG ...... . 203 IV. Demokratie und Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . 204 V. Aufteilung der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

§ 16 Nationalstaat und Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . ..... . . . . . . .. 209

I. Zur Geschichte und zum Begriff des Nationalstaats . . . . . . . ..... 211 II. Das Verhältnis zum Demokratieprinzip ... . .. .. . . . . . . . . .. . . 214

§ 17 Zur Legitimation des Staates und der Verfassung .............. . . .. 215

I. Das Naturrecht ..... . ... . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 II. Die Legitimation des Staates und des staatlichen Handeins .... . .. . 218

8

Inhaltsverzeichnis III. Legitimation durch Demokratie .... .. ... . . . ........ . .. .. .. 220

Vierter Teil Staatsorganisationsrecht und Demokratieprinzip

223

§ 18 Zur teleologischen Interpretation des Staatsorganisationsrechts .... . ... 223 I. Der theoretische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

II. Zur Anwendung der teleologischen Methode auf einzelne Sachbereiche 225 1. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Referendums . . . . . . . 225 2. Wahlsystem und Status der Abgeordneten . .. . . . . . . . . . . . .. 225 3. Der Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 226 4. Bindung der Mitglieder des Bundesrats an die Beschlüsse ihrer Landtage . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 5. Zu den Befugnissen des Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . 227 6. Geschäftsordnung . ...... . .. .... ... ... . . . .. . .. ... 228 7. Verfassungswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 8. Die Unabhängigkeit der Zentralbank ... . ... . . . ... . .. . . . 229 9. Fraktionen und Abgeordnete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. 229 10. Demokratie in den Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. ... 230 11. Die Legitimationskette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 12. Begründung der Gesetze und Anhörung der Interessenverbände im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 13. Europapolitik und auswärtige Gewalt ... . . . . . . . . . . . .. . .. 233 Literaturverzeichnis

235

Personen- und Sachregister

250

Vorbemerkung Im Vorwort meines Lehrbuches des Staatsorganisationsrechts habe ich verlangt, auch diese Rechtsmaterie müsse stärker an ihren Zielen ausgerichtet werden. Statt der üblichen Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative habe ich dabei eine neue Dreiteilung vorgeschlagen. Das Staatsorganisationsrecht, so meinte ich, setze sich zum Ziel, daß eine notwendige Entscheidung überhaupt gefallt werde, daß diese Entscheidung die durch sie betroffenen Interessen sachlich-gerecht abwägt und daß diese Entscheidung in der Verfassungswirklichkeit lückenlos durchgesetzt wird.

Der vorliegende Band versucht, die damit verbundene Problematik in bezug auf das Demokratieprinzip zu vertiefen. Das Schwergewicht, auch der historischen Darlegungen, liegt deshalb bei den Zielen des Demokratieprinzips. Die Arbeit will folglich nicht versuchen, eine umfassende Geschichte der Demokratie1 zu schreiben. Sie geht auch auf die heutigen Probleme der Übermacht der Parteien2 und der Staatsverdrossenheit der Bürge2 nur am Rande ein, weil diese Probleme die Ziele des Demokratieprinzips kaum berühren. In einer Zeit, in welcher die sogenannte Parteiendemokratie, insbesondere in Deutschland, aufs heftigste angegriffen wird, erscheint es dringend erforderlich, die besonderen Vorzüge der Demokratie herauszuarbeiten und unter Beweis zu stellen. Sicherlich gewährleisten die Richtigkeitsgarantien des

1

Vgl. neuerdings etwa Willink, Wagnis Demokratie, 1992.

Zur Übermacht der Parteien: Apel, Die deformierte Demokratie, Parteienherrschaft in Deutschland, 1991; Hofmann, Die Kontroverse, Weizsäckers Parteienkritik in der Diskussion, 1992; ders., Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger, 1992; Hamm-Brücher, Der freie Volksvertreter- eine Legende?, 2. Aufl., 1991; Graf von Krockow, Parteien in der Krise. Das Parteiensystem der Bundesrepublik und der Aufstand des Bürgers, 1986; Stolleis/Schäffer/Rhinow, Parteienstaatlichkeil - Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaates?, VVDStRL, Bd. 44, 1986; zur Regierbarkeit der Demokratien: Leca/Papini, Les democraties sont-elles gouvernables?, 1985; von Arnim, Staat ohne Diener: Was schert die Politiker das Wohl des Volkes?, 1993; vgl. ferner zur Gesamtproblematik: Röhrich, Die verspätete Demokratie. Zur politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, 1983. 2

3 Zur Parteien- und Staatsverdrossenheit vgl.: die "Trilogie" von Wehner (Die Katastrophen der Demokratie, 1992; Nationalstaat, Solidarstaat, Effizienzstaat 1992; Der Staat auf Bewährung, 1993); Hamm-Brücher, Die aufgeklärte Republik, 1989; Rüttgers, Dinosaurier der Demokratie, 1993.

10

Vorbemerkung

Demokratieprinzips nicht in jedem Fall, daß der Staat bei seinen Entscheidungen die durch sie betroffenen Interessen der Individuen sachlich-gerecht miteinander abwägt und so das Gemeinwohl verwirklicht. Aber diese Richtigkeitsgarantien sind so stark, daß die Durchsetzung des Gemeinwohls im Durchschnitt aller Fälle gewährleistet ist. Das dürfte auch in der heutigen Parteiendemokratie weitgehend der Fall sein. Sicherlich betrachten die Parteien den Staat als "Beute", schanzen also sich und ihren Ministern und Mitgliedern unberechtigte Vorteile zu. Wir werden aber zunächst beweisen, daß auf diese Weise die Vorteile einer Machtübernahme für jede Partei so stark wachsen, daß die Parteien sich verstärkt um diese Machtübernahme bemühen. Das aber setzt voraus, daß die Parteien bei ihren Entscheidungen verstärkt nach Kompromissen suchen müssen, da die Interessen aller Volksschichten in angemessenem Maße zu berücksichtigen sind und deshalb von allen Wählerschichten akzeptiert werden können. Das aber scheint mir bei den meisten Gesetzen des Bundes und der Länder dann gewährleistet zu sein, wenn es sich um Entscheidungen handelt, welche die Eigeninteressen der Parteien nicht unmittelbar berühren. Gerade diese Entscheidungen sind aber für das Gemeinwohl von Bedeutung. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die Kritiker der Parteiendemokratie sich bei ihrer Behauptung, die Parteien sähen nur ihr Eigeninteresse und bemühten sich um das Gemeinwohl nicht, sich auf die Gesetzgebung, vor allem auf konkrete Gesetze, nicht beziehen.

Erster Teil

Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips in seiner historischen Entwicklung § 1 Das antike Griechenland In zahlreichen Staaten des antiken Griechenland und insbesondere in Athen ist, soweit ersichtlich, zum ersten Mal in der Geschichte die demokratische Staatsform entwickelt und verwirklicht worden. 4 Im Zusammenhang des vorliegenden Werkes interessiert dabei weniger der Aufbau der demokratischen Institutionen, für welche global auf die Spezialliteratur verwiesen werden kann. 5 Für meine Untersuchung der historischen Entwicklung des Demokratieprinzips wesentlich wichtiger sind die Ziele des Demokratieprinzips in der Sicht der antiken Literatur. Die Spezialliteratur zu diesem Thema6 ist sich aufgrund einer eingehenden Untersuchung der historischen Quellen darüber einig, daß nach griechischer Auffassung in der Demokratie, und zwar nur in der Demokratie, das Allgemeininteresse, die Freiheit und Gleichheit optimiert werden und daß das Demokratieprinzip die Richtigkeit (Gerechtigkeit) der staatlichen Entscheidungen garantiert. Die drei Ziele des Demokratieprinzips, die im Vordergrund der folgenden Darlegungen stehen sollen, wurden folglich schon im klassischen Griechenland umfassend erkannt. Auf der einen Seite steht das Selbstbestimmungsrecht der Bürger, nach welchem die Individuen verpflichtet sind, nur den Gesetzen zu gehorchen, denen sie selbst zugestimmt haben. Ob die Verbindung des Begriffs der Freiheit mit der Demokratie im antiken Griechenland schon diese moderne Bedeutung gehabt hat, ist allerdings aufgrund der bisherigen Literatur nicht eindeutig zu beantworten: Denkbar ist auch, daß die Entscheidungen des 4 Zum Folgenden vgl. Mittennaier/Mair, Demokratie. Die Geschichte einer politischen Idee von Platon bis heute, 1995 . .1 Vgl. etwa Davies, Das klassische Griechenland und die Demokratie, 1986; Larson, Representative Govenunent in Greek and Roman History, 1976; M. Pohlenz, Griechische Freiheit, 1955; Zimmern, The Greek Commonwealth, 1911; Pustel de Coulange, La cite antique, 1984. 6 Bleicken, Dieathenische Demokratie, 3. Aufl., 1991, S. 241 ff.; Tarkianinen, Dieathenische Demokratie, 1966, S. 277 f.

12

1. Teil: Historische Entwicklung

Staates in einer Demokratie die Freiheiten der Bürger am wenigsten tangieren. Auch werden in der Spezialliteratur die Gründe für die Richtigkeilsgewähr der staatlichen Entscheidungen in einer Demokratie nicht hinreichend dargelegt. Ein äußerst starkes Gewicht scheint in Griechenland im Gegensatz zur modernen Literatur dagegen der Gleichheitssatz gespielt zu haben, der in einem völlig mathematischen Sinne verstanden wurde. Insbesondere die Tatsache, daß zahlreiche Ämter durch das Los besetzt wurden, legt die Vermutung nahe, daß in der Sicht der antiken Demokratien das Demokratieprinzip die Bildung politischer Eliten verhindem sollte.

I. Platon7 Bei Platon wird die Methode der Beurteilung der Staatsformen vorgezeichnet, die über Aristoteles die Staatstheorie bis in die Neuzeit geprägt hat. Gesucht wird nach der Staatsform, welche die Ziele des Staates am besten verwirklicht. Nach der in Griechenland allgemein akzeptierten, auch von Anstoteies übernommenen Definition ist dabei das Staatsziel auf die Vervollkommnung und Versittlichung des Menschen, auf das vollkommene Leben gerichtet. An einer anderen Stelle wird dieses Ziel der staatlichen Kompetenzen stärker dahin konzentriert, daß der Staat der Gerechtigkeit, dem Gemeinwohl zu dienen hat. Von diesem Ausgangspunkt aus entscheidet Platon, ob diesem Staatsziel die Anwendung von Gesetzen oder die Entscheidung eines einzelnen Monarchen am besten entspricht. In der Antwort auf diese Frage unterscheiden sich die beiden politischen Hauptwerke Platons. In der frühen "Politeia" meint er, daß, da das Gesetz wegen seiner notwendigen Allgemeinheit dem Einzelfall nicht voll gerecht werden kann, die Entscheidung eines weisen Monarchen oder eines Kollegiums am besten sei. In seinem Spätwerk "Nomoi" dagegen sieht Platon ein, daß der König selten weise sein wird, der Rückgriff auf die Gesetze also praktisch gesehen die beste Lösung ist. Im übrigen folgt nach Platon aus dem Grundsatz der Gerechtigkeit, daß beim Aufbau des Staates die einzelnen Klassen die Funktionen übernehmen müssen, für die sie am besten geeignet sind. Auch in der Beurteilung der Staatsformen bahnt sich bei Platon wegen eines Wechsels seiner Methoden ein überraschender Wandel an. In der Politeia greift Platon auf ein spekulatives Vernunftdenken zurück. Kommt es auf die Durchsetzung der Gerechtigkeit an, ist die Monarchie die beste, die Aristokratie die zweitbeste und die Demokratie die schlechteste Regierungsform, weil

7 Die folgende Zusammenfassung der Demokratietheorie Platons greift zurück auf: Annas, "Plato", in: Fetscher/Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. I, Frühe Hochkulturen und europäische Antike, 1988, S. 369 ff.

§ 1 Das antike Griechenland

13

die Mehrheit eben nicht weise ist. In den Nomoi verwendet Platon dagegen empirische Beobachtungen, greift er also auf die verschiedenen historischen Staatsformen zmück. In dieser Sicht erscheint die Demokratie, um ein Wort von Winston Churchill zu benutzen, als "die beste aller schlechten Regierungsformen". Julia Annas8 faßt die Theorie Platons zu diesem Punkt folgendennaßen zusammen: "Nachdem er zu diesem Schluß gelangt ist, zeigt Platon ein neues Interesse an empirisch möglichen Verfassungen. Eine Regierung, so sagt er, kann eine von drei möglichen Formen annehmen: die Herrschaft eines Einzelnen, die Herrschaft einer Minderheit und die Herrschaft der Mehrheit. Wenn die Gesetze angewendet und respektiert werden, ist die Herrschaft eines einzelnen das Königtum, und das ist die beste Herrschaft, denn sie kommt der idealen Situation der Herrschaft durch den wahren Staatsmann am nächsten. Die Herrschaft einer Minderheit ist die Aristokratie; sie ist die zweitbeste Herrschaft. An dritter Stelle steht die Demokratie, die Herrschaft der Mehrheit. Wenn die Gesetze mißachtet werden, ändert sich die Situation bei allen drei Formen. Die Herrschaft der Mehrheit, die auch dann noch Demokratie heißt, ist in diesem Falle die beste Regierung; denn in ihr gibt es die geringste Möglichkeit für einen willkürlichen Mißbrauch der Macht. Die Herrschaft einer Minderheit, die dann Monarchie heißt, ist die zweitbeste Regierung; die schlimmste Form in diesem Fall die Herrschaft eines einzelnen, die Tyrannis, denn die willkürlichen Entscheidungen eines einzelnen, die das Gesetz verhöhnen, sind am weitesten von der Weisheit des wahren Herrschers entfernt. Denn nach wie vor gilt corruptio optimi pessima. Wenn die Macht zum Wohl aller ausgeübt wird, bedarf es keiner Kontroll- und Ausgleichsmechanismen, wenn sie jedoch für Teil- und Einzelinteressen mißbraucht wird, ist es um so schlimmer, je weniger sie kontrolliert wird. Dies ist Platons durchdachtes Urteil über die Demokratie - es ist weit entfernt von der vorbehaltlosen Verdammung der Demokratie, die ihm häufig nachgesagt worden ist. Die Demokratie ist schwach, weil sie am wenigsten zum Guten oder Bösen fähig ist. Ihre Institutionen sind am wenigsten aufnahmebereit für Verbesserungen durch Sachkenntnis, und sie könnte durchaus bürokratische Einmischungen begünstigen, die die Anwendung von Sachkenntnis verhindem könnten. Sie ist jedoch auch weniger empfänglich für willkürliche Ausübung und Mißbrauch der Macht. Angesichts der Welt, wie sie ist, ein zweifaches Hoch für die Demokratie"

Allerdings vermag ich nach einer eingehenden Analyse der "Gesetze" der Auffassung dieser Autorin nicht ganz folgen. Die Konzeption Platons ist nämlich weitaus differenzierter als diese Autorin annimmt; sie nähert sich sehr deutlich schon der Auffassung des Aristoteles und damit einer modernen Demokratietheorie. Zunächst ist festzuhalten, daß Platon im Gegensatz zu seinem Frühwerk, in seinen "Nomoi" dem Gesetz den ersten Rang eimäumt;9 8

Ebd., S. 390.

Die Gesetze, in: Platon, Sämtliche Werke, 6. Aufl 1969, Verlag Jakob Regner, Köln, Bd. III, S. 245 ff., 337 f. 9

14

1. Teil: Historische Entwicklung

"Athener: Wenn man sich um das oberste Regiment streitet, haben von jeher die Sieger alle Angelegenheiten, die den Staat betreffen, so gänzlich zum eigenen Privilegium gemacht, daß sie den Besiegten auch nicht den kleinsten Anteil am Regiment belassen, weder ihnen selbst noch ihren Nachkommen. Da ist das Leben dann eine stets gegenseitige Bewachung, damit ja niemand im Regiment eintreten und sich erheben kann und der Erinnerung an das früher geschehene Böse. Das heißen wird nun wahrscheinlich keine Verfassungen; auch heißen wird das keine richtigen Gesetze, die nicht im allgemeinen Interesse des ganzen Staates gegeben sind. Sind sie es nur im Interesse von einzelnen, so nennen wir dies eine Parteiaufstellung, aber keine Verfassung, und ihre Rechtsbestimmungen, was nach ihren Angaben sein sollen, erklären wir für eitles Geschwätz. Und ich sage dies darum, damit wir deinem Staat Behörden geben - nicht weil einer reich ist, auch nicht weil einer sonst etwas Derartiges besitzt, sei es nun physische Kraft oder Größe oder höhere Geburt. Nein, wer den gegebenen, bestehenden Gesetzen am meisten Gehorsam leistet, wer auf diesem Boden den Sieg erringt im Staat, das ist der Erste - dem sagen wird, muß man auch die höchste Stellung im Dienste der Gesetze geben; der die zweite Stellung dem Zweitgewinnenden; und so hat man nach richtigem Verhalten ordnungsmäßig fortzufahren, um nach den Genanntenjede weitere Position zu besetzen. Und solche Männer, die manjetzt die höchsten Leiter zu nennen pflegt, habe ich als Diener des Gesetzes bezeichnet, nicht, um damit eine neue Phrase aufzubringen, nein, ich bin vielmehr auch aufs vollständige überzeugt, daß Wohl und Wehe eines Staates von diesem Punkte abhängt. Wo das Gesetz einen Herrscher über sich hat und also nichts gilt, bei einem solchen Staate sehe ich den Untergang vor der Türe stehen; dagegen wo er selbst der unumschränkte Herrscher über die Regierungen ist und die Regierenden nur willenlose Knechte der Gesetze, da erblicke ich das Heil und alle Segnungen, die der Himmel jemals über einen Staat auszugießen vermochte."

In dieser Passage kommt gleichzeitig auch zum Ausdruck, daß das Ziel der Gesetze und damit des Staates die Verwirklichung des Allgemeininteresse ist. Durch die folgenden Zitate wird dies noch bestätigt. Dieses Allgemeininteresse deckt sich nun mit der Tugend, die durchaus im Mittelpunkt des gesamten Werkes steht und vor allem eine gewisse Mäßigung, und partiell auch mit der Gerechtigkeit, die ihrerseits mit der Verwirklichung des Gleichheitssatzes übereinstimmt. 10 Der Gleichheitssatz wiederum wird so definiert, daß Ungleiches ungleich zu behandeln ist. An diesen Ausführungen Platons ist zweierlei bemerkenswert: Da Platon die Monarchie als Gegenbild zur Demokratie begreift, wird man zunächst aus seinen Ausführungen entnehmen können, daß nur in der Demokratie die Regierung an den Allgemeininteressen des Volkes ausgerichtet wird. Außerdem sieht es Platon als Vorteil an, daß nur dort das Volk sich für die Allgemeininteressen einsetzt. Damit wird ein Gedanke angesprochen, der sich später beim Freiherrn vom Stein wiederfindet. "Es gibt nämlich zweierlei Arten der Gleichheit, die zwar denselben Namen führen, in Wirklichkeit aber vielfach gegen einander den größten Gegensatz bilden. Die eine Art vermag jede Stadt und jeder Gesetzgeber leicht in die Ehrenstellen einzuführen, die Gleichheit nach Maß, Zahl und Gewicht, die es bei den Verteilungen durch das 10

Ebd., S. 329, 342.

§ 1 Das antike Griechenland

15

Los richtigstellt. Dagegen die eigentlich wahre und beste Gleichheit läßt sich nicht von jedermann so ganz ohne Schwierigkeit erkennen. . . . Sie teilt dem Größeren mehr, den Kleineren Wenigeres zu und gibt einem jedem wie dem anderen seinen angemessenen Teil nach seiner Natur.... "11

Insgesamt gelangt Platon so zu einer allgemeinen Definition der Staatsziele: "Athener: Wir haben behauptet, ein Gesetzgeber müsse bei seiner Gesetzgebung auf drei Ziele hinarbeiten: daß der Staat, der von ihm seine Gesetze erhält, frei sei, einträchtig in sich selbst und richtige Einsichten besitzt. ... "12

Ausgehend von diesem Staatsziel beurteilt Platon die Vor- und Nachteile der Demokratie (Athen) und der Monarchie (Perser). Seiner Auffassung nach hat jede dieser beiden Staatsformen in ihrer reinen Form erhebliche Nachteile. Die Nachteile der Monarchie werden dabei von Platon folgendermaßen umrissen: "Athener: Nun ... um hierüber ausführlicher zu sprechen, dazu hat uns die nähere Betrachtung des persischen Staatswesens veranlaßt. Wir finden aber, daß es mit den Persern von Jahr zu Jahr schlimmer wurde, und als Ursache müssen wir angeben, daß die dortigen Fürsten dem Volke allzusehr seine Freiheit benahmen, dagegen das despotische Element in ungebührlich hohem Grade walten ließen und dadurch den Geist der Ergebenheit und der Gem~insamkeit im Staate vernichteten. Ist einmal dieser Geist zugrunde gerichtet, so sind die Absichten und Ziele der Regierungen nicht mehr auf das Interesse ihrer Untertanen, ihres Volkes gerichtet, sondern nur noch auf ihre eigene Herrschaft, und wenn sie im einzelnen Falle auch nur den geringsten Gewinn für sich selbst erhoffen, verwandeln sie Städte in Ruinen, werfen befreundete Völker über den Haufen, sengen und brennen wie der unbarmherzigste Feind, hassen und werden gehaßt. Kommep. sie nun in den Notfall, daß die Völker für sie kämpfen sollten, so fmden sie dann bei denselben keinen Gemeingeist vor, keine willige Geneigtheit zum kühnen Kampf.... "13

Aber auch die reine Demokratie hat nach Platon erhebliche Nachteile, weil in einem solchen Staat der Freiheitsgedanke Überhand nimmt. Er vernichtet zunächst die traditionellen Formen der Kunst, ein für Platon außerordentlich wichtiger Bereich. Platon fährt fort: "Wenn nur wenigstens auch eine Demokratie von freien Menschen sich darin gebildet hätte, so wäre der Jammer nicht so groß. Jetzt aber machte bei uns die Einbildung aller, alles zu verstehen ... " "Unmittelbar an diese Freiheit schließt sich dann wohl die weitere an, daß man der Obrigkeit nicht mehr gehorchen mag; gleich hinterdrein kommt die Freiheit, daß man dem Gehorsam gegen Vater und Mutter und ältere Personen davon läuft und ihre Gebote verachtet. Ganz nahe am Ende ist man, wenn man sucht, den Gesetzen

11 12 13

Ebd., S. 387 f. Ebd., S. 320. Ebd., S. 314 f.

16

1. Teil: Historische Entwicklung nicht mehr Untertan sein zu müssen; aber am Ende selbst ist man angelangt, wenn man sich um Eidschwur, um gegebene Versprechungen und überhaupt um die Götter nicht mehr kümmert. . .. "14

Aus diesen beiden Gründen spricht sich Platon für eine gemischte Staatsverfassung aus. Diese Konstruktion geht also nicht, wie die herrschende Lehre annimmt, auf Aristoteles, sondern schon auf Platon zurück: "Athener: So höre denn jetzt: Es gibt sozusagen zwei Mutterverfassungen, von denen man mit Fug und Recht alle anderen entstandenen nennen könnte. Die eine kann man füglieh Monarchie nennen, die andere Demokratie. Der Höhepunkt von jener findet sich bei dem persischen Volksstamm, von dieser bei uns. Fast alle anderen Verfassungen, wie gesagt, sind aus diesen beiden in bunter Weise zusammengesetzt. Nun ist es schlechterdings notwendig, daß man Elemente aus beiden besitzt, wenn einem Freiheit stattfmden soll und Eintracht verbunden mit Einsicht. Und eben das ist es, was unsere Erörterung auf das entschiedenste behauptet, daß ein Staat, dem die bezeichneten Stücke fehlen, niemals gut verwaltet sein kann. "15 "Athener: Zur Bestätigung hiervon haben wir zwei Verfassungsarten vorgenommen die, welche am meisten despotisch, und die welche am meisten freiheitlich ist, - um dabei jetzt zu untersuchen, welches von beiden eine richtige Verfassung sei. Hierauf nahmen wir eine Vermittlung von beiden an, wobei sich einerseits der Despotismus, andererseits das Freiheitsmaß mildem, und haben sodann gesehen, daß dann erst hervorragend glückliche Zustände sich in ihnen bilden, während dies den einen wie den anderen nicht glücken will, wenn sie das Prinzip der Knechtschaft oder das gegenteilige auf die Spitze treiben. "16

Damit scheint ein einem gewissen Widerspruch zu stehen, daß Platon etwas weiter dort, wo er die ideale Verfassung entwirft17 , auf Formen der repräsentativen Demokratie zurückgreift. Das "monarchische" Element in der gemischten Verfassung besteht also nicht in der Einrichtung der Monarchie; es bedeutet vielmehr nur, daß die demokratische Verfassung so ausgebaut werden muß, daß die Freiheit nicht in Unmäßigkeit endet: Bindung und Freiheit müssen also in ein angemessenes Verhältnis zueinander gebracht werden.

ß. Aristoteles 18 Schon Aristoteles hat sich bemüht, die Staatsformen danach zu bewerten, ob sie das Ziel des Staates verwirklichen. Den Zweck des Staates hat Aristoteles 14

Ebd., S. 319 f.

15

Ebd., S. 309.

16 17

Ebd., S. 320. Ebd., S. 374 - 387.

18

Aristoteles, Politik. Philosophische Bibliothek, Felix Meiner-Verlag, Harnburg

1951.

§ 1 Das antike Griechenland

17

dabei in einem doppelten Sinne bestimmt. Nach ihm ist der Staat auf der einen Seite "die Gemeinschaft zu einem guten Leben unter Häusern und Gesellschaften zum Zweck eines vollkommenen und sich selbst genügenden Daseins"19. Auf der anderen Seite identifiziert er den Staatszweck mit dem Gemeinwohl:20 "Da nun schon in allen Wissenschaften und Künsten das Gute das Ziel ist, so gilt dieses doch am meisten und ist das höchste Gut das Ziel in der höchsten ihrer aller, der Staatskunst. Nun ist das Staates Gut und das Gerechte das, was dem gemeinen Wesen fommt. Das Gerechte scheint aber allein ein Gleiches zu sein und sie stehen auch tatsächlich mit dieser Ansicht bis zu einem gewissen Grade auf Seiten der in der Ehe entwickelten philosophischen Sätze. Denn sie sagen, daß das Gerechte eine Zuteilung von Sachen und an Personen in sich schließt, und daß gleiche Gleiches haben müssen. Aber man muß dabei nicht vergessen zu untersuchen, was für Personen die Gleichheit und was für Personen die Ungleichheit eignet. Denn darin liegt die Aprorie und der staatsphilosophische Vorwurf."

Deutlicher wird die Auffassung des Aristoteles in diesem Punkt, wenn man auf die Passage zurückgreift, in welcher er für die drei Staatsformen der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie die guten von den schlechten Regierungsformen danach unterscheidet, ob sie das Allgemeininteresse oder nur das Privatinteresse des Herrschers anstreben: 21 "Von den Monarchien pflegt man diejenige, die auf das gemeine Beste sieht, Königtum zu nennen, die Herrschaft weniger, die aber ihrer doch mehr sind als einer, Aristokratie, entweder darum, weil die Besten regieren oder darum, weil diese Herrschaft das Beste für den Staat und seine Glieder verfolgt; wenn endlich das Volk den Staat zu gemeinen Besten verwaltet, so gebraucht man dafür die allen Staatsverfassungen gemeinsame Bezeichnung Politie. Es hat das seinen Grund. Einer oder wenige mögen sich leicht durch Tugend hervortun; daß ihrer mehr den Anforderungen jeder Tugend gerrau entsprechen, ist schon schwer, dagegen ist das sehr wohl in bezug auf die kriegerische Tugend angängig, weil sie eine Tugend der Massen ist ... "

Dieses Zitat wie die eingehende Untersuchung der Vor- und Nachteile aller drei Regierungsformen zeigt, daß nach Aristoteles das Allgemeininteresse in jeder guten Staatsform gleichwertig zu sein scheint. Das Demokratieprinzip stellt also nach Aristoteles im Gegensatz zur Auffassung von Rousseau eine notwendige Garantie für die Verwirklichung des Allgemeinwohls nicht dar.

19

Ebd., S. 91.

20

Ebd., S. 101 f.

21

Ebd., S. 91.

2 Bleckmann

18

1. Teil: Historische Entwicklung

Allerdings gibt Aristoteles letztlich der Demokratie den Vorzug, weil die Menge meist richtiger entscheidet als die Elite: 22 "Aber es müssen doch auch die Herrschenden im Besitze dieses allgemeinen Begriffs sein. Nun ist aber das stärker, dem gar keine Leidenschaften einwohnen, als das, bei dem sie mit zu seiner Natur gehören. Das Gesetz nun ist ohne Leidenschaft, aber jede menschliche Seele ist notwendig damit behaftet. Aber man wird vielleicht sagen, daß der Monarch das Einzelne besser überlegen werde. Es ist also klar, daß der Gesetzgeber sein muß und Gesetze bestehen müssen, die aber, so sehr sie im übrigen gelten, doch da nicht gelten dürfen, wo sie das Richtige verfehlen. Wo aber das Gesetz überhaupt nicht oder nicht gut entscheiden kann, soll da bei Einem, dem Besten, die Entscheidung stehen, oder ist es nicht besser, daß sie in aller Hände gelegt wird. Mann tritt ja tatsächlich zum Gericht zusammen und überlegt und entscheidet. Aber diese Entscheidungen beziehen sich sämtlich auf einzelne Fälle. Hier ist vielleicht jeder für sich allein mit allen verglichen der Schlechtere; nun besteht aber der Staat aus vielen und hat insoweit den Vorzug, wie auch eine Speisung aus vielen Beiträgen besser ist als eine eine und eine einfache. Daher beurteilt auch die Menge vieles besser als einer allein, mag er sein, wer er will. Auch ist ein großes Quantum weniger der Verderbnis ausgesetzt, und gleich wie vieles Wasser ist auch die Menge nicht so leicht zu verderben als wenige. Wird aber der einzelne von Zorn oder einer anderen solchen Leidenschaft überwunden, so muß sein Urteil verdorben werden; dort aber müßte es hoch kommen, wenn alle zornig werden und irrfolge dessen fehlgreifen sollen. Die Menge muß aber aus den Freien bestehen, die nichts gegen das Gesetz tun und da eintreten, wo es naturgemäß versagt."

Letztlich entscheidet sich Aristoteles aber dafür, daß die beste Staatsform eine Mischung zwischen der Demokratie und der Aristokratie darstellt, die er Politie nennt. 23 Der entscheidende Grund hierfür sind die besonderen Qualitäten des Mittelstandes; es ist also darauf zu achten, daß die staatliche Entscheidung durch Organe gefallt wird, in welchen die Mittelklasse überwiegt. 24 Diese Mischung der Staatsformen soll offenbar nicht nur die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung verbürgen, sondern auch die Staatsform stabilisieren, also den sonst notwendigen Kreislauf zwischen den drei Staatsformen aufhalten. 25

22

Ebd., S. 113.

23

Ebd., S . 142 f.

24

Ebd., S. 145 ff. Ebd., S. 150.

25

§ 1 Das antike Griechenland

19

Aristoteles fordert eine Verfassungsmischung zwischen der Oligarchie und der Demokratie. Durch die Beteiligung beider "Stände" soll sichergestellt werden, daß die in einer Demokratie zu befürchtende Enteignung der Reichen und die in einer Oligarchie vorauszusehende Ausbeutung der ärmeren Bevölkerungsschichten vermieden wird. Angesichts ihrer Zahl wird bei einer solchen Verfassungsmischung der gemäßigte Mittelstand bei den staatlichen Entscheidungen den Ausschlag geben. Durch diese Verfassungsmischung wird also der Ethik des Aristoteles entsprechend die Tugend als Mitte zwischen jeweils zwei Extremen verwirklicht. Die Verfassungsmischung dient danach dem Schutz von Freiheit und Eigentum des Bürgers und damit der Richtigkeit der staatlichen Entscheidung. Aristoteles greift dabei aber nicht schon wie später Polybias auf die Machtbalance als Voraussetzung der Mäßigung der Staatsgewalten zurück. In Übereinstimmung mit der sonstigen antiken Literatur sieht Aristoteles das Ziel des Demokratieprinzips primär in der Verwirklichung des Gleichheitssatzes: 26 "Von den Demokratien nun ist die erste die, wo die Gleichheit am vollkommensten verwirklicht ist. Die Gleichheit liegt ausgesprochen in der Satzung einer solchen Demokratie, daß, ob arm oder reich, der eine nicht mehr ist als der andere und keiner von beiden Herr ist, sondern beide sich gleich stehen. Denn wenn, wie einige meinen, Freiheit und Gleichheit am meisten in der Demokratie zu fmden ist, so würde dies am meisten dann zutreffen, wenn alle an der Staatsleitung den möglichst gleichen Anteil haben. Und da das Volk in der Mehrzahl ist, und das gilt, was der Mehrzahl recht scheint, so muß diese Form Volksherrschaft sein."

An einer anderen Stelle27 hebt Aristoteles dagegen die Freiheit als Voraussetzung und Ziel des Demokratieprinzips hervor: "Voraussetzung der demokratischen Verfassung ist die Freiheit. Da ist ja die gewöhnliche Rede, daß die Bürger bloß in dieser Freiheit genießen; denn das, sagt man, setze jede Demokratie sich zum Ziel. Ein Stück der Freiheit ist aber damit gegeben, daß man abwechselnd gehorcht und befiehlt. Denn das demokratische Recht besteht darin, daß alle das Gleiche der Zahl nach haben, nicht dem Verdienste nach, und wenn das Recht darin besteht, so ist notwendig die Menge der entscheidende Faktor, und ist notwendig das, was die Mehrheit beschließt, das Endgültige und dieses das Recht; denn man sagt, daß jeder Bürger das Gleiche haben müsse; und so ist die Folge, daß in den Demokratien die Armen mehr gelten als die Reichen. Denn sie bilden die Mehrheit, und was die Mehrheit beschließt, das gilt. Dies ist denn das Zeichen der Freiheit, das alle als die Begriffsbestimmung der Verfassung aufstellen sollen; ein zweites aber ist, daß jeder in der Republik lebt, wie er will, dies soll der Freiheit eigen sein, wenn anders es den Sklaven charakterisiert, daß er lebt, wie er nicht will. Dieses Moment bedeutet also eine zweite

2*

26

Ebd., S. 133.

27

Ebd., S. 217.

20

1. Teil: Historische Entwicklung Begriffsbestimmung der Demokratie, es treibt aber das Prinzip, wonach man womöglich keinem oder doch nur abwechselnd gehorcht, aus sich hervor und erfüllt insofern das Postulat der gleichen Freiheit für alle."

In dieser Passage wird die enge Verbindung der drei Ziele des Demokratieprinzips, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrecht, der Gleichheit und der Gerechtigkeit der staatlichen Entscheidung, außerordentlich deutlich.

§ 2 Das Demokratieprinzip im antiken Rom I. Polybios (200- 120 v. Chr.) Während das Ziel und der Zweck sowie das Funktionieren des Gewaltenteilungsprinzips bei Plato und Aristoteles noch recht farblos bleiben, finden wir in der "Geschichte" des Polybios - wie auch bei Cicero - Darlegungen, die über die modernen Ansätze von Montesquieu weit hinaus reichen. Polybios geht es um die Erklärung der ungeheuren Macht, mit welcher Rom den damals bekannten Erdkreis erobert und Jahrhunderte lang beherrscht hatte. Aufstieg und Fall der Staaten aber führt Polybios auf den Verfassungszustand zurück. Er folgt der klassischen griechischen Kreislauftheorie, wonach die drei guten Staatsformen der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie notwendig einander ablösen, weil sie in ihrer reinen Form nach einer gewissen Zeit entarten, also ihre Macht mißbrauchen, und dann durch eine der anderen Staatsformen abgelöst werden. Dieser Kreislauf nun werde, so meint Polybios, durchbrochen, wenn die Verfassung wie in Sparta und in Rom Elemente aller drei Staatsformen in der Mischverfassung miteinander verbinden. In diese Richtung weisen vor allem zwei Gründe. Einerseits habe in einer solchen Staatsform jeder Teil des Volkes ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Verfassung. Andererseits aber werde die Macht aller Gewalten durch die Gegenmacht der anderen Staatsgewalten gebremst: "18. Obwohljeder Staat drei Teile solcher Macht hat, einander zu schaden oder zu helfen, so wirken sie doch in allen kritischen Situationen so einträchtig zusammen, daß man unmöglich ein besseres Verfassungssystem finden kann. Denn wenn eine von außen her sie alle gemeinsam bedrohende Gefahr zum Zusammenstehen und zum gegenseitigen Beistand zwingt, dann zeigt dieser Staat eine solche Kraft, daß weder eine notwendige Maßnahme versäumt wird, denn alle wetteifern miteinander, Mittel zu ersinnen, um das Unheil abzuwehren, noch die Ausführung eines Beschlusses zu spät kommt, da alle zusammen und jeder einzelne Hand anlegt, um das Beabsichtigte durchzuführen. Daher ist dieser Staat dank seiner eigentümlichen Verfassung unwiderstehlich, und er erreicht alles, was er sich vorgesetzt hat. Wenn sie dann aber, nachdem die Gefahr abgewandt ist, im Genuß des Reichtums , den ihnen die Siege gebracht haben, in Glück und Überfluß leben und, durch eigenen Leichtsinn oder von Schmeichlern verführt, übermütig werden und außer Rand und Band geraten, wie dies so zu gehen pflegt, da kann man erst richtig erkennen, wie

§ 2 Das Demokratieprinzip im antiken Rom

21

die Verfassung durch sich selbst ein Heilmittel dagegen fmdet. Denn wenn einer der drei Teile die ihm gezogenen Grenzen überschreitet und sich eine größere Macht anmaßt, als ihm zusteht, dann erweist sich der Vorteil dessen, daß keiner selbstherrlich ist, sondern in den anderen ein Gegengewicht hat und von ihnen in seinen Absichten gehindert werden kann: keiner darf zu hoch hinaus, keiner alle Dämme überfluten. Dem ungestümten Machtdrang wird ein Dämpfer aufgesetzt, oder er scheut von vornherein den zu erwartenden Widerstand der anderen und wagt sich nicht erst hervor, und so bleibt der verfassungsmäßige Zustand sicher erhalten. "28 "Wir wollenjetzt eine kurze Schilderung der Gesetzgebung des Lykurgos geben; es gehört dies zum Thema, ja ist dafür wesentlich. Da dieser erkannt, daß sich alle genannten Veränderungen mit Notwendigkeit vollziehen, und erwog, daß jede einfache, auf einem Prinzip beruhende Verfassungsform in Gefahr ist, sehr bald in die verwandte, auf sie nach dem Gesetz der Natur folgende Entartung umzuschlagen - denn wie für das Eisen der Rost, für das Holz der Holzwurm die natürliche Schädigung ist, durch die sie, auch wenn sie jedem zerstörenden Einfluß von außen entgehen, dem sozusagen angestammten Verderben verfallen, ebenso entsteht auch jeder einzelnen Verfassungsform naturgemäß und unabwendbar eine bestimmte Entartung: das Königturn wird zum Despotismus, die Aristokratie zur Oligarchie, die Demokratie zur zügellosen Gewaltherrschaft der Masse; denn wie dargelegt, geht mit allen Verfassungen im Laufe der Zeit diese Veränderung vor-, da Lykurgos dies also voraussah, schuf er nicht eine einfache Verfassung, in der nur ein einziges Prinzip herrscht, sondern vereinigte die eigentümlichen Vorzüge der besten Regierungsformeninder seinen, damit kein Teil über Gebühr Macht gewinnen kann und so der ihr entsprechenden Entartung anheimfällt, sondern die einzelnen Machtfaktoren so gegeneinander ausgewogen sind, daß keiner das Übergewicht erhält und den Ausschlag gibt, daß sie vielmehr im Gleichgewicht bleiben wie an einer Waage, daß die widerstreitenden Kräfte sich gegenseitig aufheben und infolgedessen der Staat auf lange hin erhalten bleibt, indem das Königturn am Übermut durch die Furcht vor dem Volk gehindert wird, dem ebenfalls ein hinreichender Anteil an der Regierung des Staates eingeräumt ist, das Volk wiederum nicht wagen kann, sich über die Könige hinwegzusetzen, aus Furcht vor dem Rat der Alten, die, sorgfältig als die Besten ausgewählt, die Gewähr bieten, daß sie sich immer auf die Seite des Rechts schlagen werden, so daß der Teil, der in Gefahr ist zu unterliegen, weil er an Sitte und Recht festhält, dadurch, daß die Alten sich ihm an die Seite stellen und ihr Gewicht zu seinen Gunsten in die Waagschale werfen, das Übergewicht erhält und sich durchsetzt. Durch diese Ordnung des Staates hat er den Spartanern länger als irgendeinem anderen Volk, von dem wir wissen, die Freiheit bewahrt. "29

In der Sicht von Polybios hat die Verfassungsmischung oder die Gewaltenteilung also drei Ziele: Sie erhöht auf der einen Seite die Kraft und die Macht des Staates. Sie führt zweitens zur Beständigkeit der Verfassung. Und sie verhindert drittens, daß die drei Gewalten sich in die drei schlechten Staats-

28 Polybios, Geschichte, eingel. und übertr. von Drexler, Hans, Gesamtausgabe in zwei Bänden, eingel. und übertr. von Hans Drexler, Artemis Verlag, 2. Aufl. 1978, S. 546 f. ; vgl. auch S. 534 f.

29

Ebd., S . 534 - 536.

22

1. Teil: Historische Entwicklung

formen verwandeln, daß also die verschiedenen Gewalten ihre Macht mißbrauchen: So wird die Freiheit der Bürger geschützt. Hinzuweisen ist darauf, daß diese dreifache Zielsetzung des Gewaltenteilungsprinzips bei Polybios über den eindimensionalen, auf den Schutz der Freiheit gerichteten Ansatz von Montesquieu hinausgeht. Auf der anderen Seite bezieht Polybios wie Montesquieu die Gewaltenteilung auf unterschiedliche soziale Stände und geht er wie Montesquieu davon aus, daß der Grundsatz, nach welchem die eine Macht die anderen Gewalten an ihrer Machtentfaltung hindert, nur bei einer Gewaltenverschränkung greift. Die in einer reinen Demokratie allein mögliche Funktionenteilung ist dagegen eine Erfindung der amerikanischen Verfassung. Der Grundsatz der Gewaltentrennung, also die Verteilung der drei Staatsformationen auf je besondere Organe, die folglich in die Befugnisse der anderen Organe nicht eingreifen dürfen, geht dagegen auf Locke, Montesquieu, Rousseau und Kant zurück: Dieser Grundsatz dient primär der Richtigkeit der staatlichen Entscheidung.

ll. Cicero (106- 43 v. Chr.) In seinem Werk "Der Staat" 30 folgt Cicero der griechischen Tradition. Auch nach seiner Ansicht kann die Freiheit nur in einer Demokratie existieren. "Und so beschaffen ist ein jedes Gemeinwesen, wie das Wesen oder der Wille dessen, der es lenkt. Deshalb hat in keinem anderen Staate als in dem, in welchem die Macht des Volkes die höchste ist, die Freiheit eine W ohnstatt; im Vergleich mit dieser kann sicher nichts angenehmer sein, und wenn sie nicht gleich ist, ist es auch nicht Freiheit. "31

Allerdings folgt Cicero der griechischen Theorie vom Kreislauf der Staatsformen. Deshalb kann auch in der Demokratie die Macht vom Volk mißbraucht werden: "Und Scipio: Ich muß überhaupt, wenn ich über die Form des Gemeinwesens, die ich am meisten gutheiße, meine Ansicht gesagt habe, genauer über die Veränderungen der Gemeinwesen sprechen, wenn sie meiner Meinung nach auch am wenigsten leicht in diesem Gemeinwesen auftreten werden. Aber diese königliche erste und sicherste Veränderung ist jene, wenn der König ungerecht zu sein anfängt, geht jene Art auf der Stelle zugrunde, und derselbe Mann ist Tyrann, die schlechteste und der besten benachbarte Art. Wenn ihn die Optimaten überwältigt haben, was meist eintritt, hat das Gemeinwesen von den dreien den zweiten Zustand erreicht; es besteht nämlich in dem königsähnlichen, das heißt väterlichen Rat der sich um das Volks wohlsorgenden fürstlichen Männer. Wenn aber das Volk von sich

30

31

Sammlung Tusculum, 5. Auf!. 1993, S. 65. Ebd., S. 63.

§ 3 Das Demokratieprinzip im Mittelalter

23

aus den Tyrannen getötet oder vertrieben hat, ist es ziemlich mühevoll, soweit es denkt und vernünftig ist, freut sich über seine Tat und will das von ihm hergestellte Gemeinwesen schützen. Wenn aber das Volk einmal entweder einem gerechten König Gewalt angetan oder ihm seines Königtums beraubt hat, oder auch, was öfter eintritt, der Optimaten Blut geleckt und das Gemeinwesen seiner Laune unterworfen hat, dann glaube ja nicht, daß ein Meer oder eine Feuersbrunst so rasend ist, da es nicht leichter wäre, sie zu bändigen als eine in frecher Willkür entfesselte Masse.•m

Aus diesen Gründen will Cicero in Übereinstimmung mit Polybios Elemente der drei guten Staatsformen miteinander verbinden, wie es in Rom der Fall gewesen ist. 33 Bei Cicero zielt die Verfassungsmischung also wie bei Polybias auf die Aufrechterhaltung der Freiheit, auf die Richtigkeit der staatlichen Entscheidungen und wohl auch auf die Beständigkeit der Verfassungen. Im Gegensatz zu Polybias wird bei Cicero der Zweck der Verfassungsmischung nicht ausdrücklich angesprochen. Verbinden wir die beiden oben abgedruckten Zitate miteinander, hat das Gewaltenteilungsprinzip auch bei Cicero die Funktion, den Mißbrauch der Macht durch die Staatsorgane auszuschließen. Allerdings finden wir weder bei Polybias noch bei Cicero schon den Gedanken, daß die drei Staatsfunktionen der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung getrennten Organe anvertraut werden müssen. Diese Umformung der Theorie der Gewaltenteilung geht letztlich auf Locke zurück und wurde dann durch Montesquieu näher ausformuliert.

§ 3 Das Demokratieprinzip im Mittelalter Im Mittelalter war das Demokratieprinzip - wenn auch unter weitgehender Vernachlässigung des Gleichheitssatzes - sowohl auf der staatlichen Ebene als auch auf der Ebene der Städte sehr weitgehend verwirklicht. Im Reich und in den Territorialstaaten bedurften die Monarchen für wichtige Fragen, insbesondere für die Gesetzgebung und die Bewilligung der Steuern, der Zustimmung der Ständeversammlung, die sich aus den Repräsentanten des Adels, der Kirche und der Städte zusammensetzten.34 In den Städten befand dagegen eine weitgehende Selbstverwaltung, die von den gewählten Repräsentanten, insbesondere

Ebd., S. 87 ff. Ebd., S. 133. 34 V gl. dazu Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, 8. Aufl. 1968; Sprandel, Verfassung und Gerichtschaft im Mittelalter, 2. Aufl. 1978. 32

33

24

1. Teil: Historische Entwicklung

der Gilden und Zünfte, ausgeübt wurde. 35 Es ist deshalb erstaunlich, daß in der Literatur das Problem der Staatsform nur relativ wenig diskutiert worden ist.

I. Thomas von Aquin (1224- 1274) Thomas von Aquin hat zur besten Regierungsform eine uneinheitliche Stellung bezogen. In seinem Werk "Über die Herrschaft der Fürsten" 36 hat er die Monarchie als beste Staatsform bezeichnet, während er in seiner "Summe der Theologie" 37 sich im Anschluß an Aristoteles für eine Mischverfassung entschieden hat. In "De regimine principum" sieht er durchaus, daß alle Staatsformen, also auch die Monarchie, sowohl dem Gemeinwohl als auch dem eigenen Nutzen dienen können und deshalb gut und schlecht verwirklicht werden können. Entscheidend aber ist für Thomas von Aquin, daß der Friede besser erhalten wird, wenn ein einziger regiert. Denn bei der Aristokratie und bei der Demokratie ist der Zwiespalt zu fürchten, der eine einheitliche Entscheidung verhindert und zum Kampf aller gegen alle führt: "Dies vorausgeschickt. Nun müssen wir untersuchen, was für ein Land oder eine Stadt zweckentsprechender ist; von einem oder mehreren regiert zu werden. Man kann dies aus dem innersten Zweck der Herrschaft selbst entscheiden. Denn das Streben, eines jeden, der eine Herrschaft ausübt, muß darauf gerichtet sein, das, was er zu regieren übernommen hat, heil zu erhalten. So ist es die Pflicht des Steuermannes, das Schiff vor den Gefahren des Meeres zu bewahren und unversehrt in den sicheren Hafen zu geleiten. Die Wohlfahrt und das Heil einer zu höherer Gemeinschaft verbundenen Menge ist es aber, jene Einigkeit zu erhalten, die man Friede nennt; ohne sie geht aller Nutzen, der aus dem Leben der Gemeinschaft erwächst, zugrunde, und die entzweite Menge wird sich selbst zu Last. Darauf muß jeder Führer einer Menge vor allem achten, daß er das einigende Band des Friedens behüte . ... Und weiter: Es ist klar, daß mehrere Führer die Gesellschaft in keiner Weise in ihrem Bestande erhalten, wenn sie etwa unter sich selbst völlig entzweit sind. Denn wenn mehrere regieren, so muß eine Übereinstimmung unter ihnen hergestellt werden, damit sie überhaupt irgendwie ihre Herrschaft auszuüben imstande ist; auch ein Schiff würde viele Leute nicht nach einer Richtung ziehen können, wenn sie sich

35 Vgl. dazu: Engel, Die deutsche Stadt des Mittelalters, 1993; Ennen, Die europäische Stadt des Mittelalters, 4. Aufl. 1987; Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter: 1250- 1500, 1988; Boockmann, Die Stadt im späten Mittelalter, 1986. 36 De regimine principum, deutsche Übersetzung von Schreyvogel, Friedrich, hrsg. von Ulrich Matz, 1981 .

37

Summa theologiae, hrsg. und übersetzt von Joseph Bernhart, 3. Auf!. 1985.

§ 3 Das Demokratieprinzip im Mittelalter

25

nicht in irgendeiner Weise darüber geeinigt hatten. Vieles wird aber dadurch geeinigt, daß es sich der Einheit nähert. Es ist also wohl besser, daß gleich einer regiert als viele und nur dadurch, daß sie sich einem angeglichen haben. "38

Letztlich ist aber alles eine Frage der Abwägung: "Weil also die Herrschaft eines einzigen, die doch die beste ist, vorzuziehen ist, es aber doch vorkommt, daß sie sich in eine Tyrannei verkehrt, die wie aus allem Gesagten hervorgeht, das schlimmste Übel ist, muß man mit Sorgsamkeit und allem Eifer darauf bedacht sein, daß sich die Menge in ihrem König vorsehe, um nicht einem Tyrannen in die Hände zu fallen. . .. Wenn man zwischen zwei Dingen, die beide mit einer Gefahr bedrohen, eine Entscheidung treffen muß, so muß man wohl das wählen, das das geringere Übel nach sich zieht. Aus einer Monarchie aber, wenn sie zu einer Tyrannenherrschaft wird, folgt noch immer ein kleineres Übel als aus der Herrschaft etwa mehrerer Optimaten, wenn sie einmal entartet. Denn die Zwietracht, die zumeist aus der Herrschaft mehrerer entsteht, steht dem Frieden entgegen, der das höchste Gut der zu gemeinsamem Leben verbundenen Menge ist. Dieses Gut wird nun durch die Herrschaft eines Tyrannen nicht ganz beseitigt, sondern das Wohl einzelner Personen wird nur in manchen Belangen gehemmt, außer es ist ein Übermaß tyrannischer Bedrückung, das gegen dit? ganze Gemeinschaft wütet. Also ist die Herrschaft eines einzigen der von mehreren vorzuziehen, wenn auch aus beiden Gefahren erwachsen. Ferner: Man muß augenscheinlich das mehr fliehen, woraus in mehrfacher Weise große Gefahren folgen können. Es ergeben sich aber häufiger aus der Herrschaft mehrerer die größten Gefahren als aus der ,Regierung eines Einzigen. Denn es trifft öfter zu, daß unter vielen einer die Rücksicht auf das Gemeinwohl außer acht läßt als einer, dem es allein anvertraut ist. So oft aber auch nur einer von mehreren, die die Regierung führen, von der Verfolgung des Gemeinwohls abweicht, droht die Gefahr der Uneinigkeit unter den Bürgern. Wenn die Führer uneins sind, ist Streit unter der Menge die notwendige Folge. Steht aber einer an der Spitze, so ist er auch meist auf das Gemeinwohl bedacht: Läßt er aber davon ab, folgt noch nicht sofort, daß er nun seinen Sinn nur auf die Bedrückung seiner Untertanen richtet. Denn das ist, wie früher dargestellt, schon eine Ausschweifung der Tyrannei und schließt den höchsten Grad der Böswilligkeit in sich ein. Man muß sich also mehr vor den Gefahren in acht nehmen, die die Herrschaft mehrerer mit sich bringt, als vor denen, die aus der Regierung eines Einzelnen erwachsen. Und noch eins: Es ereignet sich keineswegs seltener, daß eine von mehreren ausgeübte Herrschaft sich in eine Tyrannei verkehrt als die eines Einzigen, ja vielleicht sogar häufig. Denn wenn ein Streit innerhalb einer vielköpfigen Regierung ausbricht, trifft es oft ein, daß einer die Oberhand über die anderen gewinnt und sich allein die Führung anmaßt. Das kann man klar aus dem ersehen, was vor Zeiten wirklich geschehen ist. Denn fast jede von mehreren geübte Herrschaft ist schließlich zu einer Tyrannei geworden.... "

38

Anm. 36, S. 10 f.

26

1. Teil: Historische Entwicklung

In der "Summe der Theologie" heißt es39 : "Sodann liegt im Begriff von menschlichem Gesetz, daß es die Hinordnung auf das Gemeinwohl des Staates hat. Demgemäß kann das menschliche Gesetz nach der Verschiedenheit derer eingeteilt werden, die sich in besanderartiger Weise um das Gemeingut Mühe geben: wie die Priester, indem sie für das Volk zu Gott beten; die Fürsten, indem sie das Volk regieren; und die Soldaten, indem sie für das Wohl des Volkes kämpfen. Und deswegen wird diesen Menschen eine Art besonderes Recht angepaßt. Drittens liegt im Begriff von menschlichem Gesetz, daß seine Einrichtung von dem getroffen wird, der die Staatsgemeinschaft regiert, wie oben (90, 3) gesagt worden ist. Demgemäß werden die menschlichen Gesetze nach den verschiedenartigen Regierungen der Staaten unterschieden. Davon ist eine dem Philosophen nach 3. Politic. (5 n 2, 4; vgl. 6 n 12) das Königtum, dann nämlich, wenn der Staat regiert wird von nur einem: und demgemäß ergeben sich "die Verordnungen der Fürsten". Eine andere Regierung ist die Adelsherrschaft (aristocratia), das ist die Führerschaft der Besten oder Bestgesinnten (optimatum): ihr gemäß redet man von den "Bescheiden der Kundigen" (responsa prudentum) oder auch den "Senatsbeschlüssen". Eine andere Regierung ist die Kleingruppenherrschaft (oligarchia), das ist das Herrscherturn von wenigen Reichen und Mächtigen: und demgemäß nimmt man ein "Anführer-Recht" (jus praetorium) an, das auch das "ehrenamtliche" (honorarium) heißt. Eine andere Regierung ist die des Volkes, welche Volksherrschaft (democratia) genannt wird: ihr gemäß gibt es "Volksbeschlüsse" (plebiscita). Eine andere aber ist die alleinherrliche (tyrannicum), die gänzlich verderbt ist: deswegen spricht man ihretwegen nicht von irgend einem Gesetz. Es gibt aber auch eine Regierung, die aus jenen gemischt ist, sie ist die beste. Und ihr nach spricht man von Gesetz, "das die Älteren zusammen mit dem Volk heilig und unverbrüchlich erließen", wie lsidor (a.a.O. 10 und 2, 10) sagt. ...

Aus der Abhandlung. Ich antworte: Bei der Bestellung einer guten Fürstenordnung in einem Staat oder einer Volksschaft ist auf zweierlei zu achten. Das eine davon ist, daß alle irgend einen Teil in der Führschaft bekommen; dadurch nämlich wird der Friede des Volkes gewahrt und lieben alle eine solche Ordnungseinrichtung und stehen für sie auf der Wacht, wie es 2. Politic. (6 n 15) heißt. Ans andere aber denkt man bei der Art, welche die Regierung oder die Einrichtung der Führschaftenordnung hat. Wenn es davon auch verschiedene Arten gibt, wie sie der Philosoph 3. Politic. (5 n 2 u. 4) anführt, so sind die vorzüglichsten doch folgende: das Königtum, worin Einer der Tugend gemäß die Führschaft hat; und die Adelsherrschaft, d. h. die Gewalt der Besten, worin etliche wenige der Tugend nach in Führschaft treten. Die beste Fürstenordnung in einem Staate oder in einem Reiche ist daher die, worin Einer der Tugend gemäß an die Spitze gestellt wird, der allen vorsteht; und unter ihm stehen etliche, die der Tugend gemäß Führschaft haben; und doch gehört eine solche Führschaft an alle, sowohl weil sie aus allen erwählt werden können, als auch weil sie ja aus allen erwählt werden. Das ist nämlich die beste Staatsbestellung, daß sie ein gutes Miteinander aus Königtum hat, insoweit Einer an

39

Anm. 37, Bd. 2, S. 479 f ., 505 f .

§ 3 Das Demokratieprinzip im Mittelalter

27

der Spitze steht, und aus der Bestherrschaft (aristocratia), insoweit viele der Tugend gemäß in Führschaft stehen; und aus der Volksherrschaft (democratia), insoweit aus dem Volk die Fürsten erwählt werden können und die Wahl der Fürsten ans Volk gehört. Diese Einrichtung wurde dem göttlichen Gesetz nach getroffen. Denn Moses und seine Nachfolger regierten das Volk indem sie gleichsam in Alleinstellung allen als Fürsten vorstanden, was eine gewisse Art von Königtum ist. Erwählt wurden aber 72 Älteste der Tugend gemäß ... : das war aristokratisch. Demokratisch aber war, daß diese aus allem Volke ausgewählt wurden ... und daß sie auch das Volk erwählte."

II. Marsilius von Padua (um 1275 - 1342)

Marsilius von Padua hat sich in seinem Werk "Der Verteidiger des Friedens "40 sich dafür entschieden, daß zumindest die Gesetzgebung in der Hand des Volkes liegen muß. Er hat dabei als erster Philosoph die Legitimation des Demokratieprinzips auf dessen Richtigkeitsgewähr gestützt: "5. Nachdem nun Bürger und Mehrheit der Bürger in dieser Weise bestimmt ist, wollen wir zu unserem Thema zurückkehren, dem Nachweis, daß die menschliche Befugnis zur Gesetzgebung allein der Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit zukommt. Das werden wir zuerst so zu erschließen versuchen: Dem allein steht die primäre menschliche Vollmacht, Gesetze zu geben oder zu schaffen, schlechthin zu, von dem allein die besten Gesetze ausgehen können. Nun ist das die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit, die die Gesamtheit vertritt; denn es ist nicht leicht oder geradezu unmöglich, daß alle Personen sich zu einer Meinung zusammenfmden, weil gewisse Leute mit Blindheit geschlagen sind und aus persönlicher Bosheit oder Unweissheit von der allgemeinen Meinung abweichen; deren unvernünftiger Ratschlag darf die Wahrnehmung der Interessen der Allgemeinheit nicht beeinträchtigen oder unmöglich machen. Also kommt es der Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit ausschließlich zu, Gesetze zu geben oder zu beschließen. Der Obersatz dieses Beweises ist beinahe selbstverständlich, obwohl man aus I 5 seine Geltung beweisen und letzte Gewißheit entnehmen kann. Den Untersatz, daß nur, wenn das ganze Volk den Vorschlag gehört oder gutgeheißen hat, ausschließlich das beste Gesetz gegeben werden kann, beweise ich, indem ich mit Aristoteles Pol. B 3 Kapt. z die Voraussetzung mache, am besten sei das Gesetz, das für das Gemeinwohl gegeben ist. Daher hat er gesagt: Das Richtige in den Gesetzen dient wohl dem V orteil des Staates und dem allgemeinen Nutzen. Daß dies am besten ausschließlich von der Gesamtheit der Bürger erreicht wird oder deren Mehrheit ... zeige ich so: Dessen Wahrheit wird am sichersten beurteilt und dessen Nutzen für die Allgemeinheit am sorgfältigsten beachtet, worauf die Gesamtheit der Bürger mit Verstand und innerer Anteilnahme ihre Aufmerksamkeit richtet. Einen Mangel an

40 Defensor pacis, deutsche Übersetzung von Kunzmann, Walter, hrsg. von Kusch, Horst, 1985.

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1. Teil: Historische Entwicklung der Gesetzesvorlage kann nämlich eine größere Zahl eher bemerken als ein Teil von ihr; dennjedes körperhaftes Ganze ist größer an Masse und Kraft als jeder Teil von ihm für sich. Ferner wird aus dem ganzen Volk heraus der Nutzen des Gesetzes für die Allgemeinheit schärfer beachtet, weil niemand sich wissentlich schadet. Dort aber kann jeder beliebige überblicken, ob der Gesetzesentwurf mehr zum Vorteil eines einzelnen oder gewisser Leute neigt als zu dem der anderen oder der Gemeinschaft, und kann Einspruch erheben. Das wäre nicht möglich, wenn nur einer oder einige wenige, die mehr auf den eigenen Vorteil aus sind als auf den der Allgemeinheit, dieses Gesetz üben. . .. Diese Meinung stützt auch hinlänglich, was wir über die Notwendigkeit von Gesetzen in I 11 festgestellt haben. Weiter zum Hauptschlußsatz: Dem kommt ausschließlich die Gesetzgebung zu, der dadurch bewirkt, daß die gegebenen Gesetze am besten oder ausnahmslos befolgt werden. Das ist ausschließlich die Gesamtheit der Bürger. Also kommt ihr ausschließlich die Gesetzgebung zu. Der Obersatz ist beinahe selbstverständlich: denn zwecklos wäre ein Gesetz, wenn es nicht befolgt würde. Daher sagt Aristoteles Pol LB 4 Kap. 7: Eine gute gesetzliche Ordnung besteht nicht, wenn die Gesetze gut gegeben sind, aber keinen Gehorsam fmden. Dasselbe hat Aristoteles B 6 Kap. 5 desselben Werkes festgestellt: Es hat keinen Wert, wenn Entscheidungen über das, was gerecht sein soll, gefallt werden, diese aber nicht zum Ziele kommen. Den Untersatz beweise ich so: Das Gesetz befolgt jeder Bürger am besten, das er glaubt sich selbst auferlegt zu haben. Dies gilt für das Gesetz, das gegeben ist, nachdem die Gesamtheit der Bürger es angehört und gutgeheißen hat. Der Obersatz dieses Vorschlusses ist fast unmittelbar einsichtig: Weil nämlich der Staat eine Gemeinschaft freier Männer ist ... , muß jeder einzelne Bürger frei sein und nicht eines anderen Tyrannei, d. h. Knechtschaft tragen, das wäre nicht der Fall, wenn ein einzelner oder eine Minderheit ein Gesetz gäben aus eigener V ollmacht für die Gesamtheit der Bürger; wenn sie so Gesetze gäben, wären sie Tyrannen der anderen, und darum würden die übrigen Bürger, die Mehrzahl, ein solches Gesetz, wäre es noch so gut, mit Unwillen oder gar nicht hinnehmen, in dem Gefühl, verachtet zu sein, dagegen Einspruch erheben und da sie nicht zur Beschlußfassung darüber gerufen waren, es in keiner Weise befolgen. Ein Gesetz jedoch, das gegeben ist, nachdem die Gesamtheit es angehört und ihre Zustimmung gegeben hat, wäre es auch weniger nützlich, würde jeder Bürger leicht befolgen, und hinnehmen; denn jeder hat dann das Gefühl, es für sich selbst beschlossen zu haben und hat darum keinen Anlaß, dagegen Einspruch zu erheben, sondern vielmehr, sich in Ruhe damit abzufinden. . .. "

Darüber hinaus ist Marsilius der Ansicht, daß auch die Einsetzung der Regierung dem Gesetzgeber obliegt. 41

41

Ebd., S. 70.

§ 4 Das Demokratieprinzip in der beginnenden Neuzeit

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§ 4 Das Demokratieprinzip in der beginnenden Neuzeit

(16. und 17. Jahrhundert) I. Jean Bodin (1529 - 1596)

Im vierten Kapitel des sechsten Buches seiner "Six livres de Ia Republique" 42 stellt Jean Bodin einen umfassenden "Vergleich der drei auf dem Recht fußenden Staatsformen, also der Volksherrschaft, der Adelsherrschaft und der Königsherrschaft" mit dem Zweck an, nachzuweisen, daß die beste Staatsform die Monarchie sei. Bodin geht davon aus, daß zwar nur in der Demokratie die Billigkeit und die Gleichheit der Bürger verwirklicht werden könne: "Zunächst könnte man sagen, die Volksherrschaft sei die beste Staatsform als diejenige, die in allen Gesetzen nach Gleichheit und Billigkeit ohne Ansehen der Person trachtet und die Verfaßtheit ihrer Bürger mit den Gesetzen der Natur in Einklang bringt. Denn genauso wie auch die Natur niemandem mehr Reichtum, Ämter und Ehren zugeteilt hat als anderen, ist auch die Volksherrschaft darauf ausgerichtet, alle Menschen gleich zu machen. Das ist nur zu erreichen, indem man Eigentum, Ehren und Gerechtigkeit allen gleichermaßen ohne Einräumung irgendwelcher Privilegien und Vorrechte zuteil werden läßt. "43

Allerdings meint Bodin, die Nachteile der Demokratie seien so erheblich, daß diese Staatsform abzulehnen sei: "Alle, die über die Staatsformen Abhandlungen geschrieben haben, sind sich darin einig, daß es das wichtigste Ziel und Ende aller Staaten ist, in Ehre und Tugend zu gedeihen. Wenn wir der Meinung Xenophons folgen, dann besteht nämlich das Lebenselexier der Demokratie darin, die Allerschlechtesten und Unwürdigsten in die Ämter und Pfründen einzusetzen. Wäre das Volk so schlecht beraten, die ehrenvollen Ämter und Würden tugendhaften Menschen zu übertragen, dann verlöre es seine Macht, weil die Redlichen nur ihresgleichen, die immer nur ganz wenige sind, unterstützen würden, damit die Schlechten und Bösen, die die Mehrheit des Volkes ausmachen, von den Ehren ausgeschlossen wären und allmählich von integren unbestechlichen Richtern abgeurteilt und davon gejagt würden. Auf diese Weise würden die Weisen die Herrschaft an sich bringen und sie dem Volk entreißen. Das erklärt, so sagt Xenophon, warum das Volk von Athen auf die größten Schurken hörte, weil es nur zu gut wußte, daß sie Dinge sagen würden, die schlechten Menschen, aus denen sich der Großteil des Volkes zusammensetzt, angenehm in den Ohren klingen und nützlich erscheinen. "44

42

Deutsche Übersetzung von Bemd Wimmer, Bd. li, 1981, S. 394 ff.

43

Ebd., S. 394.

44

Ebd., S. 398 f.

30

1. Teil: Historische Entwicklung

Zwar hat nach Bodin auch die Monarchie erhebliche Nachteile: "Es bleibt nun noch von der Monarchie zu handeln, die noch alle großen Denker den anderen Staatsformen vorgezogen haben. Dennoch beobachten wir, daß auch sie manchen Gefahren ausgesetzt ist, ob sie nun der Monarch zum Guten oder zum Schlechten wandelt oder ob die Veränderung nur im Austausch desjenigen besteht, der die Souveränität innehat. Dies ist, wie oben aufgezeigt, in jedem Staat mit Gefahr verbunden. Mit dem Wechsel des Fürsten sind nämlich in der Regel neue Pläne, Gesetze, Beamte, Freunde, Feinde, Kleider und Lebensgewohnheiten verbunden. Für gewöhnlich gefallen sich ja die Fürsten darin, so gut wie alles zu ändern und umzukrempeln, um von sich reden zu machen. Daraus resultieren häufig ganz erhebliche Unannehmlichkeiten nicht allein für den einzelnen Untertanen, sondern auch für den Staat in seiner Gesamtheit. "4.1

Letztlich entscheidet sich Bodin trotzdem für die Monarchie. Der Grund hierfür ist in seiner Auffassung vom Ziel des Souveränitätsprinzips zu suchen. Soll die Einrichtung einer obersten Gewalt den Frieden sichern, kann dieses Ziel offensichtlich bei einer politischen Spaltung des Volkes etwa in den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts nur erreicht werden, wenn die Souveränität einer einzelnen Person zusteht. Bodin führt insoweit aus: "Es gäbe noch eine Fülle von Beispielen, die beweisen, daß es nicht allein im Krieg, wo die Gefahr am größten ist, notwendig ist, nur einen einzigen Oberbefehlshaber zu haben, sondern daß auch in einem Staat nur einem einzigen souveränen Fürsten gehorcht werden sollte. Denn wie in einem Heer, das, mehreren Generalen unterstellt, schlecht geführt ist und meistens Niederlagen einstecken muß, ergeht es auch einem Staat, in dem mehrere zugleich herrschen. Ursache kann entweder sein, daß das Land in Spaltung verfällt, daß Meinungsverschiedenheiten auftreten, die Macht durch Aufteilung über mehreren geschwächt wird, Schwierigkeiten auftreten, Uneinigkeit zu überwinden und Beschlüsse zu fassen, die Untertanen nicht mehr wissen, wem sie gehorchen sollen, Dinge ausgeplaudert werden, die geheim bleiben sollten, oder all dies zusammentrifft. "46

II. Thomas Hobbes (1588 - 1679)

Nach Auffassung von Thomas Hobbes kann das Volk durch den Gesellschaftsvertrag die Souveränität sowohl auf einen Monarchen als auch auf das Volk übertragen. Demnach erscheint Hobbes sowohl die Monarchie als auch Aristokratie und die Demokratie letztlich als legitim. Dennoch entscheidet er sich beim Vergleich dieser Staatsformen eindeutig für die Monarchie. Der

4 .1

Ebd., S. 412 f.

46

Ebd., S. 417.

§ 4 Das Demokratieprinzip in der beginnenden Neuzeit

31

Grund hierfür dürfte in der Tatsache zu suchen sein, daß er im Anschluß an Jean Bodin als wichtigstes Ziel des Staates die Aufrechterhaltung des inneren Friedens ansieht. Wenn das Volk gespalten ist, kann dieser Friede aber nur gewährleistet werden, wenn die Souveränität in der Hand einer einzigen Person liegt. Erstaunlicherweise stützt sich Hobbes im Gegensatz zu Bodin nicht primär auf dieses wichtige Argument. Durchaus in den Vordergrund schiebt er vielmehr den Gedanken, daß nur in der Monarchie das Privatinteresse des Souveräns mit dem Allgemeinwohl notwendig zusammenfallt. Mit diesem Argument setzt sich Hobbes eindeutig in Widerspruch zu der ganzen bisherigen Literatur, die einmütig davon ausging, daß die Bindung an das Gemeinwohl nur durch den Einschub demokratischer Elemente in die Staatsverfassung gesichert werden kann. Insgesamt stützt sich Thomas Hobbes für die Bevorzugung der Monarchie auf sechs Erwägungen: 47 "The difference between these three kinds of Commonwealth, consist not in the difference of Power; but in the difference of Convenience, or Aptitude to produce the Peace, and Security of the people; for which end they were instituted. And to compare Monarchy with the other two, we may observe. First, that whosever beareth the Person of the people, or is one ofthat assembly that bears it, beareth also his own natural Person. And th~ugh he be carefull in his politique Person to proeure the common interest; yet he is more, or no less carefull to proeure the private good of himself, his family, kind and friends; and for the most part, if the publique interest chance to cause the private, her prefers the private: for the Passions of men, are commonly more potent than their Reason. From when it follows that where the publique and private interest are most closely united, there is the publique most advanced. Now in Monarchy, the private interest is the same with the publique. The riches, power, and honour of a Monarch arise only from the riches, strength and reputation of the Subjects. For no King can be rieb, nor glorious, nor secure; whose Subjects are either poore, or contemptible, or too weak through want, or dissension, to maintain a war against their ennemies. Whereas in a Democracy, or Aristocracy, the publique prosperity conferres not so much to the private fortune of one that is corrupt, or ambitious, as doth many times a perfidious advice, a treacherous action, or a Civil Ware. Secondly, that a Monarch receiveth counsell of whom, when and where he pleaseth; and consequently may heare the opinion of men versed in the matter about which he deliberates, of what rank or quality soever, and as long before the time of action, and with as much secrecy, as he will. But when Soveraigne Assembly has need of Counsell, none are admitted but such as have a Right thereto from the beginning; which for the most part are of those who have been versed more in the acquisition ofWealth than of Knowledge; and are to give their advice in long discourses, which may, and do commonly excite men to action, but not goveme them in it. ...

47

Hobbes, Leviathan, hrsg. von MacPherson, C. B., 1980, S. 241 f.

32

1. Teil: Historische Entwicklung Thirdly, that the Resolutions of a Monarch, are subject to no other Inconstancy, than that of Hurnans Nature; but in Assemblies, besides that of Nature, there ariseth an inconstancy from the Number. For the absence of a few, that would have the Resolution once taken, continue firme ... or the diligent appearance of a few of the contrary opinion undoes to day, all that was concluded yesterday. Fourthly, that a Monarch cannot disagree with himself, out of envy, or interest; but an Assembly may; and that to such a height, as may produce a Civil Ware."

III. John Locke (1632 - 1704)

In seinem "Second Treatise on Government" erweitert John Locke die Ziele des Staates von der Aufrechterhaltung des inneren Friedens (Bodin und Hobbes) auf den Schutz des weit verstandenen Eigentums: "If man in the State of Nature be so free, as has been said, if he be absolute Lord of his own Person and Possessions, equal to the greatest, and subject to no Body, why will he part with his Freedom? Why will he give up this Empire, and subject hirnself to the Dominion and Control of any other Power; to which is obvious to Answer, that though in the state of Naturehe has such a right, yet the Enjoyment of it is very uncertain, and constantly exposed to the Invasion of others. For all being Kings as much as he, every Manhis Equal, and the greater part no strict observers of Equity and Justice, the enjoyment of the property he has in this state is very unsafe, very unsecure. This makes him willing to quit a Condition, which he were free, is full of fears and continual dangers . And its not without reason that he seeks out, and is willing to join in Society with others who are already united, or have a mind to unite for the mutual Preservation of their Lives, Liberties, and Estates, which I call by the general Name, Property. "48

Wenn nun John Locke der Auffassung folgt, daß das Volk in seinem Gesellschaftsvertrag die Herrschaft auch eines Monarchen begründen kann, ist die notwendige Folge dieses Ansatzes, daß das Eigentum im weiten Sinne nur mit Einwilligung des Eigentümers entzogen werden kann: "But Government not whatsoever hands it is put, being as I have shewed, intrusted with this condition. and for this end, that men might have and secure their property, the Prince or Senate, however it may have power to make Laws for the regulating of Property between the Subjects one amongst another, yet can never have the Power to take to themselves the whole or any part of the Subjects Property, without their own consent. "49

48

Locke, Two Treatises on Government, hrsg. von Peter Laslett, 1980, Nr. 123.

49

Ebd., Nr. 139.

§ 4 Das Demokratieprinzip in der beginnenden Neuzeit

33

Darüber hinaus ist Locke der Auffassung, daß die Gesetze nur vom Volk oder seinen Vertretern selbst erlassen werden können: "134. The great end of Mens entering into Society, being the enjoyment of their Properties and Peace and Safety, and the great instrument and means of that being the Law established in that society, the frrst and fundamental positive Law of all Commonwealths, is the establishing of the Legislative Power; as the first and fundamental natural law, which is to govern even the Legislative itself, is the preservation of the Society ... of every person in it. This Legislative is not only the supreme power of the Commonwealth, but sacred and unalienable in the hands where the Community have once paced it; nor can any Edict of anybodyelse, in what Form soever conceived, or by what Power soever backed, have the force and obligation of a Law, which has not its Sanction from that Legislative, which the public has chosen and appointed. For without this the Law could not have had, which is absolutely necessary, to its being a Law, the consent of the Society, over whom no Body can have apower to make laws, but by their own consent, and by Authority received from them."

In der folgenden Passage finden wir die ersten Ansätze einer Funktionentrennung und eine interessante erste Begründung für die Richtigkeitsgewähr des Gewaltenteilungs- und des Demokratieprinzips. Offensichtlich kann nämlich Locke sein Ziel, persönliche Privilegien des Gesetzgebers auszuschließen, nur erreichen, wenn der Gesetzgeber nur generelle Regeln erlassen kann und die Exekutive bei der Regelung des Einzelfalls an das Gesetz gebunden ist. Auf der anderen Seite begründet das Demokratieprinzip dann, wenn der Gesetzgeber an sein eigenes Gesetz gebunden ist und aufgrund des Prinzips der Allgemeinheit die eigene Situation genauso wie die Situation Dritter regeln muß, eine Richtigkeitsgewähr für die staatliche Entscheidung. "And because it may be too great a temptation to humane frailty apt to grasp at Power, for the samePersans who have the Power of making Laws, to have also in their hands the power to execute them, whereby they may exempt themselves form Obedience to the Laws they make, and suit the Law, both in its making and execution, to their own private advantage, and thereby come to have a distinct interest from the rest of the Community, contrary to the end of Society and Government. Therefore in well ordered Commonwealths, where the good of the whole is so considered, as it ought the Legislative Power is put into the hands of divers Persans who duly Assembled, have by themselves, and jointly with others, a Power to make Laws, which when they have done, beeing seperated again, they are themselves subject to the Laws, they have made; which is a new and near tie upon them, to take care, that they make them for the public good."

3 Bleckmann

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1. Teil: Historische Entwicklung

§ 5 Die Entwicklung des Demokratieprinzips

in den angelsächsischen Staaten

I. Zur britischen Verfassungstradition 1. John Locke50 hat in seinem zweiten "Treatise on Govermnent" 51 die von Hobbes und den französischen Monarchomaehen entwickelte Gesellschaftsvertragstheorie wieder aufgegriffen, dabei aber das Staatsziel nicht mehr wie bei Bodin und Hobbes auf die Aufrechterhaltung des inneren Friedens begrenzt, sondern auf den Schutz des Eigentums in einem weiten, auch die Freiheit umfassenden Sinne erstreckt. Vor allem Hobbes hatte dabei schon den Gedanken entwickelt, der Staat sei so aufzubauen, daß er das Staatsziel wie eine Maschine automatisch erreiche. 52 Aus der Ausrichtung am Staatsziel des inneren Friedens hat Hobbes in Anlehnung an Bodin den Grundsatz der Souveränität begründet und gezeigt, daß dieses Ziel grundsätzlich in der Hand eines einzigen Menschen lag, nämlich des Fürsten. Durch die Erweiterung des Staatsziels, oder besser: durch eine Konkretisierung des Begriffs des inneren Friedens auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung kommt Locke dagegen zu dem Ergebnis, die beste Regierungsform sei die Demokratie. Insoweit den Autoren des 18. Jahrhunderts und insbesondere Rousseau vorausgreifend sieht Locke dabei im Demokratieprinzip eine notwendige Garantie für die Einhaltung der Grundrechte, d. h . aber für die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung.

2. Der zweite, für die Entwicklung der Staatstheorie im 18. Jahrhundert äußerst wichtige Traditionsstrang führt über Mandeville zu Adam Smith. Bernard Mandeville hatte in seiner 1729 erschienenen "Bienenfabel "53 das Paradox entwickelt, daß nur, wenn die Individuen strikt ihrem egoistischen Eigeninteresse folgen, das Allgemeininteresse realisiert werden kann. Es ist anzunehmen, daß dieses Werk Rousseau zu der Auffassung geführt hat, im Staat werde der Gemeinwille (volonte generale) nur dann richtig definiert, wenn der Bürger nur seinem Eigeninteresse folge. Adam Smith hat bekanntlich diese Prinzipien in seinem 1766 erschienenen Werk "Inquiry into the Nature

50 Franklin, John Locke and the Theory of Sovereignty, 1979; Kendall, John Locke and the Doctrine of Majority Rule, 1965; Dunn, The Political Thought of John Locke, 1969; Euchner, Naturrecht und Politik bei John Locke, 1979; Gough, John Locke's Political Philosophy. 1950. 51

s. Anm. 48.

Tönnies, Thomas Hobbes, 2. Autl. o. J.; Strauss, Hobbes politische Wissenschaft, 1965; Warrender, The Political Philosophy of Hobbes, 1957. 52

53

Deutsch 1980.

§ 5 Das Demokratieprinzip in den angelsächsischen Staaten

35

and Causes of the Wealth of Nations" 54 auf die Volkswirtschaftslehre übertragen: Er hat gezeigt, daß, wenn der homo oeconomicus nur seinem Eigeninteresse folgt, er gleichzeitig immer auch die Interessen der anderen befriedigt. Auf diesen Prinzipien beruht der liberale Grundsatz, daß die Optimierung der Staatstätigkeit nicht eine Verbesserung des Menschen voraussetzt, daß vielmehr die egoistischen Motive des Individualhandeins durch geeignete staatliche Institutionen so kanalisiert werden müssen, daß das Gemeinwohl automatisch erreicht wird. 3. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die spätere Entwicklung der demokratischen Staatstheorie ist auch das Werk der britischen Utilitaristen. Auf Jeremy Bentham geht dabei die liberale Formel zurück, das Allgemeininteresse sei nichts anderes als die Summe der Individualinteressen. 55 John Stuart Mil156 entwickelt dagegen theoretisch die Bedeutung der öffentlichen Meinung für den demokratischen Staat, eine Theorie, auf die auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mehrfach zurückgegriffen hat. 57 Auszugehen ist dabei von der Tatsache, daß sich seit dem 18. Jahrhundert die Bindung an die Religion zu lockern begann. Der Glaube ging verloren, daß der Mensch - wenn auch nur angeleitet durch die Bibel und die kirchliche Tradition - die absolute Wahrheit erkennen könne. In einer solchen Lage, so führte Mill aus, könne eine relativ optimale Annäherung an die Wahrheit in jedem Zeitpunkt nur erreicht werden, wenn die Argumente für und gegen eine bestimmte Auffassung im öffentlichen Meinungsbildungsprozeß abgewogen werden: Diejenige Meinung, die sich in der öffentlichen Diskussion durchsetze, komme der relativen Wahrheit zu dem jeweiligen Zeitpunkt am nächsten. 4. Auch Edmund Burkes Werk über die Französische Revolution58 ist in diesem Rahmen beachtenswert. Gestützt auf die allmähliche Entwicklung in der britischen Verfassung griff Burke die Auffassung der französischen Politiker heftig an, der Staat und seine Institutionen könnten nach Art einer Maschine so

54 In der Übersetzung von Recktenwald, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, 1978. 55 Bentham, Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung, in: Otfried Höffe, Einführung in die utilitaristische Ehtik, 1975, S. 35 ff., 36. 56

Mill, On liberty, hrsg. von Grabowsky, Adolf, Zürich 1859; deutsch: 1945.

57

BVerfGE 5, 85 KPD-Urteil; E 69, 315 Brockdorf-Urteil.

58 Considerations on the French Revolution, 1790, hrsg. von Selby, 1890; deutsch: Bemerkungen über die französische Revolution, aus dem Englischen übersetzt von Grenz, Friedrich, hrsg. von Frank-Planitz, Ulrich.

3*

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1. Teil: Historische Entwicklung

konstruiert werden, daß das Staatsziel automatisch erreicht werde. Die Institutionen änderten ihren Zweck und damit ihre Funktionen im Laufe der Geschichte. Die Erkenntnis der Staatsziele und der für ihre Erreichung eingesetzten Institutionen setze die Erfahrung zahlreicher Generationen voraus. Dies schließe eine Totalrevolution der Verfassung grundsätzlich aus; nur punktuelle Reformen lägen im Bereich der menschlichen Erkenntnis. 5. Sieht man einmal von der Auffassung Robbespierres ab, galt in Buropa seit dem "Esprit des lois" von Montesquieu die britische Demokratie als leuchtendes Vorbild. Bekanntlich hat sich in Großbritannien die Funktion des Parlaments in einer langen historischen Entwicklung von einer Ständeversammlung in ein modernes Parlament verwandelt. Es entspricht dem britischen Pragmatismus, daß diese Änderungen ohne Rückgriff auf ein theoretisches Modell erfolgten, daß die Demokratietheorie in Großbritannien also nicht so umfassend entwickelt wurde, wie dies auf dem Kontinent der Fall war. 59

II. Der· Beitrag der amerikanischen Staatslehre zum Demokratieprinzip: The Federalist Papers Es ist hier nicht der Ort, die Diskussion über die Demokratietheorie in den Vereinigten Staaten von Amerika umfassend darzustellen. Insoweit muß auf die Literatur zum amerikanischen Verfassungsrecht60 und zur Verfassungspolitik61 verwiesen werden. Auch erscheint es im Rahmen einer Arbeit über 59 Zur britischen Verfassungsentwicklung vgl. Gneist, Englische Verfassungsgeschichte, 1882; Gooch, English Democratic ideas in the 17th Century, 1967; Hobbes, The Constitutional History of England, 3. Auf!. 1880. Zur englischen Verfassung vgl. die klassischen Werke von Bagehot, The English Constitution, 1867 (deutsch: Die Englische Verfassung, Politica, Luchterhand (1971); Dicey, Introduction to the Study of the law of the Constitution, 10. Aufl. 1982. Neuere Werke: Birch, The BriHsh System of Government, 5. Aufl. 1964; De Smith, Constitutional and Administrative Law, 1971; Russe!, Leading Constitutional Decisions, 3. Aufl. 1982. Zur Bildung der Verfassungskonventionen: Marshall, Constitutional Conventions, 1993.

60 Corwin, The Supreme Court of the United States, 1964; Mc Laughlin, A Constitutional History of the United States, 1963; Swisher, American Constitutional Development, 1978; Fraenkel, Das amerikaDisehe Regierungssystem, 1960; Thorpe, The Constitutional History of the United States, 1901; Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959; Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 1993; ders., Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, 1987; Tribe, American Constitutional Law, 1978.

61 Parrington, Main Currents in American Thought, 1967; Adams, Political ldeas of the American Revolution, 3. Aufl. 1955; Carpenter, The Development of American Political Thought, 1930; Curti, The Growth of American Thought, 3. Aufl. 1964; Eidelberg, The Philosophy of the American Constitution, 1948; Laski, The American Democracy, 1948; vgl. auch: Raethel, Geschichte der amerikanischen Kultur, 1987; Adams/Czempiel, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 1990; Shell, Das politische System der USA, 1975.

§ 5 Das Demokratieprinzip in den angelsächsischen Staaten

37

die Ziele des Demokratieprinzips nicht möglich, die Rechtsprechung und Literatur zur Interpretation des Demokratieprinzips der US-Verfassung umfassend heranzuziehen. 62 Schon wegen des außerordentlichen Einflusses auf die Interpretation auch der amerikanischen Verfassung bis zur Gegenwart63 müssen aber zunächst einige Grundlinien der Staatstheorie der Verfassungsväter dargelegt werden. In diesem Rahmen sind dann von Hamilton, Madison und Jay 1887/88 verfaßten Federalist Papers besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Es können hier nur wenige Leitlinien des Demokratieprinzips hervorgehoben werden. 1. Die Unabhängigkeitserklärung

Der Verfassungskonsens im Amerika des 18. Jahrhunderts ging mit der klassischen Naturrechtsdoktrin davon aus, daß der Staat so aufgebaut werden müsse, daß die Staatsziele automatisch erreicht werden. Diese Staatsziele waren dabei die Freiheit, die Gleichheit und die Gerechtigkeit. Dieses Demokratiemodell kommt vor allem in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 deutlich zum Ausdruck: "We hold these thruths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain inalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. That to secure these rights, Governments are instituted among men, deriving their just powers from the consens of the governed, that whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it, and to institute new Government, laying its fondation on such principles and organizing its powers in such form, as to them shall seem more li.kely to effect their Safety and Happiness ... "

Diese Ziele sollten nach der Auffassung der amerikanischen Verfassungsväter vor allem dadurch erreicht werden, daß die Unionsverfassung das Repräsentationsprinzip mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz, dem Bundesstaatsprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip (Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit) verkoppelte. 62 Vgl. zur Verfassungsdiskussion ab 1780: Brant, James Madison, Father ofthe Constitution, 1950; Diamond, Democracy and the Federalist, 1959; Dietze, Das Problem der Demokratie bei den amerikanischen Verfassungsvätern, 2 ges Stw III (1957), 301;Dietze, The Federalist, 1960; Donovan, Madinson's Constitution, 1965; Ford (Hrsg.), The Writings ofThomas Jefferson, 1893; Wiltse, The Jefferson Tradition in American Democracy, 1935; Gabriel, Die Entwicklung des demokratischen Gedankens in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1946. Eine umfassende Darstellung des amerikanischen Demokratieprinzips findet sich bei Steinherger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, 1974.

63 Wellington, The Supreme Court and the Process of Adjudication. lnterpreting the Constitution, 1990, S. 23 ff.

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1. Teil: Historische Entwicklung

2. The Federalist Papers64

Die Federalist Papers sind im Gegensatz zu den Theorien der Französischen Revolution von der Demokratietheorie meist kaum beachtet worden. Zurückgehend auf die von Platon und Aristoteles begründete Methode, unter Rückgriff aber vor allem auch auf John Locke ist Madison65 der Auffassung, der Staat müsse so aufgebaut werden, daß das öffentliche Interesse möglichst automatisch erreicht werden kann: "The Constitution proposed by the convention may be considered under two general points of view. The frrst relates to the sum or quantity of power which it verts in the government, including the restraints imposed on the States. The second; to the particular structure of the government and the distribution of this power among its several branches. Under the first view of the subject, two important questions arise: 1. Whether any part of the powers transferred to the general government be unnecessary or improper?; 2. Whether the entire mass of the power be dangerous to the portion of jurisdiction left in the several States? lt cannot have escaped those who have attended with candor to the arguments employed against the extensive powers of the government that the authors of them have very little considered how for these powers were necessary means of attaing a necessary end. They have chosenrather to dwell on the inconveniences which must be unavoidibly blendet with all political advantages ; and on the possible abuses which must be incident to every power or trust of which a beneficial use can be made. This method of handling the subject cannot impose on the good sense of the people of America. It may display the subtelty of the writer; it may open a boundles field for rhetoric and declamation: it may inflame the passions of the unthinking and may conflfffi the prejucies of the misthinking; but cool and candid people will at one reflect that the purest of human belessings must have a portion of alley in them; that the choice must always be made, if not of the lesser evil, at last of the GREATER, not the PERFECT good; and that in every public happiness involves a discretion which may be misapplied and abused. They will see, therefore, that in all cases ~here power is to be conferred, the point first to be decided is whether such a power be necessary to the public good; as the next, will be, in case of an affirmative decision, to guard as effectually as possible detirement."

Das ist die Leitlinie, an welcher sich die auf das Demokratieprinzip ausgerichtete Diskussion in den Federalist Papers ausrichtet. Diese äußerst subtile Argumentation zu den Einzelnormen der Verfassung kann hier natürlich nicht im Detail dargestellt werden. Grundsätzlich aber ist festzuhalten, daß die

64 Hamilton/Madison/Jay, The Federalist Papers, hrsg. von Rossiter, c. . . New York 1691; deutsch: hrsg. von Ermacora, Felix, Wien 1958; Zehnpfennig (Ubers.), Die Federalist Papers, 1993. 65

s. Anm. 64, S. 255 f.

§ 5 Das Demokratieprinzip in den angelsächsischen Staaten

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Federalist Papers zwar der Auffassung folgen, nur die Demokratie garantiere die richtige Definition und eine hinreichende Durchsetzung des Gemeinwohls, daß aber in eklatantem Gegensatz zu Rousseau die Autoren durchaus erkennen, daß die Demokratie diese Funktion wegen der aller Macht inhärenten Gefahr eines Mißbrauchs nur erreichen kann, wenn aufgrund der historischen Erfahrung die Institutionen minutiös entsprechend geregelt werden. Als Beispiel für diese Methode wollen wir zunächst auf die Erwägungen Hamiltons zur Anzahl der Abgeordneten des House of Representatives eingehen. Hamitton führt aus:66 "In this review of the Constitution of the House of Representatives, I have passed over the circumstances of economy which, in the present states of affaires, might have had some effect in lessening the temporary number of representatives, and disregard of which would probably have been a rich a theme of declamation against the Constitution as has been furnished by the smallness of the number proposed. I admit also any remarks in the difficulty which might be found, under present circumstances, in engaging the federal service a !arge number of such characters as the people will probably elect. One Observation, however, I must be permitted to add on the subjects as claiming, in my judgement, a very serious attention. It is that in all legislative assernblies the greater the number composing them may be, the fewer will be the men who will in fact direct their proceedings. In the first place, the more numerous any assembly may be, of whatever characters composed, the greater is known to the ascendancy of passion over reason. In the next place, the !arger the number, the greater will be the proportion of members of limited information and of week capacaties. Now, it is precisely on characters of the description that the eloquence and adress of the few are known to act will all their force ...

Als zweites Kapitel für diese Methode soll auf die Ausführungen von Madison zur Ernennung, Funktion und Zusammensetzung des Senats eingegangen werden. Madison schreibt: 67 "In answer to all these arguments, suggested by reason, illustrated by examples, and enforced by our own experience, the jealous adversary of the Constitution will probably content hirnself with repeating that a senate appointed not irnrnediately by the people, and for the term of six years, must gradually acquire a dangerous preeminence in the government and finally transform it into a tyrannical aristrocracy. In this general answer the general reply ought to be sufficent, that liberty may be endangered by the abuses of liberty as weil as by the abuses of power; that there are numerous instances of the former as well as of the latter; and that the former rather than the latter, is apparently most to be feared by the United States. But a more particular reply may be given.

66

s. Anm. 64, S. 360.

67

s. Anm. 64, S. 387 f .

40

1. Teil: Historische Entwicklung Before such a revolution can be effected, the Senate, is it us to be observed, must in the first place corrupt itself; must next corrupt the State legislateures, must then corrupt the House ofRepresentatives, and must finally corrupt the people at ]arge ...

Die oben zitierten Beispiele zeigen die Methoden der amerikanischen Demokratietheorie auf: Vor- und Nachteile jeder Verfassungsinstitution werden anhand historischer Beispiele vor allem aus der Antike eingehend untersucht; dabei wird die Regel so ausgestaltet, daß die Nachteile möglichst vermieden und die Vorteile optimiert werden. Grundsätzlich aber wird man festhalten müssen, daß die Federalist Papers in Übereinstimmung mit Montesquieu die sicherste Gewähr für die Vermeidung eines Mißbrauchs der Macht im Grundsatz der Gewaltenteilung (Checks and Balances) suchen, die durch eine Teilung der Gewalten zwischen der Union und den Staaten, aber auch zwischen den Organen des Bundes gesucht wird. Madison sieht in der Tat im Gewaltenteilungsgrundsatz die Gewährleistung gegen die Tyrannei: 68 "No political truth is certainly of greater intrinsic value, or is stamped with the authority or more enlightened patrons of liberty than that on which the objection is founded. The accumulation of powers, legislative, executive, and juridiciary, in the same hands, whether of one, a few, of many, and whether heriditary, self-appointed, or elective, may justly be pronounced the very definition of tyranny."

Allerdings deutet Madison das Gewaltenteilungsprinzip im Sinne einer Gewaltenverschränkung69 an. Die erstaunliche Tatsache, daß die amerikaDisehe Verfassung ursprünglich einen Grundrechtsteil nicht enthält, wird von Hatnilton dabei damit verteidigt, eine solche verfassungsrechtliche Verankerung der Grundrechte sei nicht erforderlich, weil die institutionellen Sicherungen eine hinreichende Freiheitsgarantie darstellten. 70 Angesichts des allgemein vertretenen Mißtrauens auch gegenüber dem Gesetzgeber erscheint es allerdings nicht verwunderlich, daß der Verfassung nach seiner Verabschiedung recht früh in mehreren Amendments ein Grundrechtsteil hinzugefügt worden ist und daß wegen dieses Mißtrauens der Supreme Court den Grundrechten im Gegensatz zur Französischen Revolution von vornherein die wichtige rechtliche Funktion zugeordnet hat, die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu fordern.

s. 301.

68

s. Anm. 64,

69

s. Anm. 64, S. 202, 312, 321.

70

s. Anm. 64, S. 513 f.

§ 6 Das Demokratieprinzip in der Aufklärung

41

§ 6 Das Demokratieprinzip in der Aufklärung

I. Montesquieu (1689 - 1755) Montesquieu ist zwar, wie wir gesehen haben, nicht der Erfinder der Gewaltenteilungslehre, er hat ihr aber den heutigen, modernen Inhalt gegeben. In der Tat hat Montesquieu die Dreiteilung der Staatsfunktion zwar von Locke übernommen, aber als erster gefordert, daß jede dieser drei Funktionen einer eigenen- noch soziologisch verstandenen- Gewalt anvertraut sein muß. In der Tat beginnt das berühmte sechste Kapitel des elften Buches "De Ia Constitution d'Angleterre" im Esprit des lois mit den folgenden Worten: 71 "11 y a dans chaque Etat trois sortes de pouvoirs: la puissance legislative, la puissance executrice des choses qui dependent du droit des gens, et la puissance executrice de celles qui dependent du droit civil. Par la premiere, le prince ou le magistrat fait des lois pour un temps ou pour toujours, et corrige ou abroge celles qui sont faites .Par la seconde, il fait la paix ou la guerre, envoie ou re~oit des ambassades, etablit la surete, previent les invasions. Par la troisieme, il punit les crimes, ou juge les differends des pariculiers . ... La liberte politique dans un citoyen est cette tranquillite d'esprit qui provient de l'opinion que chacun a de sa surete; et pour qu'on ait cette liberte, il faut que le gouvernement soit tel qu'un citoyen ne puisse pas craindre un autre citoyen. Lorsque dans la meme personne ou dans le meme corps de magistrature, la puissance legislative est n!unie a la puissance executrice, il n'y a point de liberte; parce qu' on peut craindre que le meme monarque ou le meme senat ne fasse des lois tyranniques pour les executer tyranniquement. 11 n'y a point encore de liberte si la puissance de juger n'est par separee de la puissance legislative et de l'executrice. Si elle etoit jointe ala puissance legislative, le pouvoir sur la vie et la liberte des citoyens seroit arbitraire; car le juge seroit legislateur. Sie elle etoit jointe a la puissance executrice, le juge pourroit avoir la force d'un oppresseur. Tout seroit perdu si le meme horrune, ou le meme corps des principaux, ou des nobles, ou du peuple, exen;aient ces trois pouvoirs: celui de faire des lois, celui d'executer les resulutions publiques, et celui de juges les crimes ou les differends des particuliers. . .. "

Dabei ist allerdings darauf hinzuweisen, daß nach Montesquieu der Grundsatz der Gewaltenteilung auch verlangt, daß der Staat dem Bürger nie

71

Montesquieu, Oeuvres completes, Bibliotheque de la Pleiade, 1951, S. 396 f.

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1. Teil: Historische Entwicklung

mit seiner ganzen Machtfülle als Einheit, sondern stets in der Form besonderer Behörden mit beschränkten Befugnissen gegenübertritt. 72 Auf Montesquieu geht auch der Grundsatz zurück, daß der Gesetzgeber nur allgemeine Akte, nie aber Einzelmaßnahmen erlassen darf und daß die Verwaltung auf den Erlaß von Individualakten beschränkt ist. 73 Schon nach Montesquieu muß ferner die gesetzgebende Gewalt beim Volke liegen. Für dieses Prinzip stützt sich Montesquieu auf das Selbstbestimmungsrecht. Er bevorzugt dabei die repräsentative Demokratie und lehnt das imperative Mandat ab. "Comme, dansunEtat libre, tout homme qui est cense avoir une äme libre doit etre gouverne par lui-meme, il faudroit que le peuple en corps eut Ia puissance legislative. Mais comme cela est impossible dans !es grands Etats, il est sujet a beaucoup d'inconvenient dans !es petits, il faut que le peuple fasse par ses representants tout ce qu'il ne peut par lui-meme."

Dabei schlägt Montesquieu vor, neben der Volkskammer eine Adelskammer zu errichten, die zwar Gesetze aktiv nicht erlassen kann, aber ein Vetarecht besitzen sollte, um zu verhindern, daß die Mehrheit die Rechte der Minderheiten beschränkt. Die Exekutivgewalt müsse dagegen in der Hand eines Monarchen liegen, weil die Geschäfte meistens schnell erledigt werden müssen und eine bessere Garantie der Durchführung der Gesetze besteht, wenn die Exekutive in der Hand einer einzigen Person liege. 74 Montesquieu ist schließlich der Auffassung, daß die Richter durch das Volk gewählt werden müssen. 75 Montesquieu geht zwar von der Aufteilung der Befugnisse auf die drei Gewalten aus, meint aber wohl, der Grundsatz, daß die eine Gewalt in ihrem Machtstreben durch das gleiche Machtstreben der anderen Gewalten gehindert wird, könne ordnungsgemäß nur bei einer Gewaltenverschränkung funktionieren. Deshalb will er der Exekutive das Recht geben, ein Veto gegen die Akte des Gesetzgebers einzulegen. Wie die oben abgedruckten Zitate zeigen, soll die Gewaltenteilung nach Montesquieu die Freiheit der Individuen sichern. Warum und wann die Gewal-

72

s. Anm . 71, S. 398.

73

s. Anm. 71, S. 399.

74

s. Anm. 71, S. 401 f.

75

s. Anm. 71,

s. 398.

§ 6 Das Demokratieprinzip in der Aufklärung

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tenteilung diesen Effekt hat, wird von Montesquieu dagegen im Detail nicht ausgeführt. In dieser Situation kann man auf zwei Erklärungsgründe zurückgreifen. Zunächst lassen die obigen Zitate den Rückgriff auf Polybias deutlich werden: Da alle Staatsorgane die absolute Macht anstreben, wird bei einer Gewaltenverschränkung das Machtstreben durch das gleiche Machtstreben der anderen Organe gehemmt. Wir werden später sehen, daß mit diesen Grundsätzen zwar die Beständigkeit der Verfassung, nicht aber die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung gewährleistet wird. Auf dieses zweite Ziel des Gewaltenteilungsprinzips stellt Montesquieu aber entscheidend ab. Seine Ausführungen lassen deutlich werden, daß die Freiheit nur dann gewährleistet ist, wenn der Gesetzgeber auf den Erlaß allgemeiner Gesetze beschränkt ist, weil dann die besonderen Beziehungen zu einzelnen Personen keine Rolle spielen. Sie zeigen auch, daß diese persönlichen Motive auch bei der Einzelfallentscheidung ausgeschaltet werden, wenn die Exekutive an das Gesetz gebunden wird. Daß die Gewaltenteilung die unbeschränkte Gewalt des Gesetzgebers mäßigt, kommt bei Montesquieu in den folgenden Zitaten deutlich zum Ausdruck: "Voici donc la constitution fondamentale du gouvemement dont nous parlons. Le corps legislatif y etant compose de deux parties, l'une enchainera l'autre par la faculte muteile d'empecher. Toutes les deux seront liees par la puissance executrice, que le sera eile meme par la legislative." "Des trois puissances dont nous avons parle, celle de juger est en quelque fa~on nulle. II n'en reste que deux; et comme elles ont besoin d'une puissance reglante pour les temperer, la partie du corps legislatif qui est composee de nobles est tres propre a produire cet effet. "76 "Si la puissance executrice n'a pas le droit d'arreter les entreprises du corps legislatif, celui-ci sera despotique; car, comme il pourra se donner tout le pouvoir, qu'il peut imaginer, il aneantira toutes les autres puissances. "77

Wir haben gesehen, daß nach Montesquieu das Gewaltenteilungsprinzip nur funktionieren kann, wenn die Gewalten zwar voneinander getrennt sind, aber die einen Organe ein Kontroll- und Interventionsrecht gegenüber den anderen Organen besitzen. Dieser Gedanke der Gewaltenverschränkung wurde in den Federalist Papers näher ausgebaut. Madison78 und Hamilton79 weisen nach, daß die gegenseitigen Zustimmungs-, Veto- und Kontrollrechte des Senats und des Präsidenten gegen den Grundsatz der Gewaltentrennung nicht verstoßen.

76 77 78 79

s. Anm. 71, S. 401.

s. Anm. 71, S. 403. s. Anm. 64, No. 47, 51. s. Anm. 64, No. 66.

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1. Teil: Historische Entwicklung

U. Jean Jacques Rousseau (1712- 1778)80 Wie wir gesehen haben, fehlte dem Demokratieprinzip in Griechenland und Rom noch sehr weitgehend eine theoretische Begründung. Auf der anderen Seite wurde im Mittelalter das Demokratieprinzip etwa von Marsillius von Padua nur bemüht, um die Legitimation der weltlichen gegenüber der kirchlichen Macht zu stärken. In diesen beiden Beziehungen stellt der Contrat social von Jean-Jacques Rousseau einen völlig neuen Ansatz dar. Das Demokratieprinzip fand zwar auch nach Rousseau seinen ersten Ausdruck im Gesellschaftsvertrag. Gegenüber den Vorgängern, insbesondere Thomas Hobbes, war dabei aber neu, daß das Volk durch diesen Vertrag auf die Souveränität nicht dadurch verzichten konnte, daß es die Souveränität auf den Fürsten übertrug. Das Demokratieprinzip war damit nicht nur die Grundlage für die Legitimation der staatlichen Gewalt; es bestimmte vielmehr wie im antiken Griechenland wieder den Aufbau des Staates selbst. Gleichzeitig bot der Contrat social aber auch eine umfassende neue Theorie des Demokratieprinzips. In diesem Zusammenhang ist für Rousseau die Bestimmung des Ziels des Demokratieprinzips von entscheidender Bedeutung. Allerdings hat die äußerst umfangreiche Literatur zu diesem Thema bisher wohl übersehen, daß dieses Telos des Demokratieprinzips im Werk von Rousseau nicht einheitlich bestimmt wird, sondern im Fortschritt des Werks seine Richtung ändert. Ganz am Anfang des Contrat social wird der Sinn und Zweck des Demokratieprinzips in der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts gesehen. Di.eses Ziel kommt vor allem in der Definition des Gegenstands des Sozialkontrakts zum Ausdruck. Rousseau schreibt hier: 81 "Trouver uneforme d'association qui defende et protege de toute la force commune la personne et les biens de chaque associe, et par laquelle chacun s'unissant a tous n'obeisse pourtant qu'a lui-meme et reste aussi libre qu'auparavant?"

In den folgenden Kapiteln entwickelt Rousseau seine Lehre von der volonte generale. Aus dem Zusammenhang dieser Ausführungen zu diesem Problem wird deutlich, daß Rousseau hier im Demokratieprinzip die Garantie für die 80 Zu Rousseau: Rousseau, Du contrat social ou principes du droit politique. Benutzt wurde die Ausgabe: JJR, Oeuvres completes, Bibliotheque de la Pleiade, NRF Bd. III, 1964; Derathe, Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps, 1974; ders., Le rationalisme de Jean-Jacques Rousseau, Genf 1979; Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, 1973; Gildin, Rousseau's Social Contract, 1983; Forschner, Rousseau, 1977; Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft, 1973; Goldschmidt, Anthropologie et politique. Les principes du systeme de Rousseau, 1983; Groethuysen, Jean-Jacques Rousseau, 1983; Masters, The Political Philosophy of Rousseau, 1968.

81

s. Anm. 80, S. 306.

§ 6 Das Demokratieprinzip in der Aufklärung

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Richtigkeit der staatlichen Entscheidung, für die Übereinstimmung dieser Entscheidung mit dem Gemeinwohl, dem Allgemeininteresse, sieht. Der Literatur ist der Grund für diesen Wandel des Ziels des Demokratieprinzips wohl deshalb verborgen geblieben, weil der Contrat social nicht logisch stringent aufgebaut ist, die entsprechenden Fundstellen sich vielmehr nach den Darlegungen zur volonte generate erst am Schluß des Werkes finden. In der Tat geht Rousseau dort wohl aus praktischen Gründen davon aus, nimmt man die Einigung über den Gesellschaftsvertrag selbst einmal aus, die Entscheidungen des souveränen Gesetzgebers mit einfacher Mehrheit gefallt werden. 82 Diese Regel aber stellte Rousseau offensichtlich vor die Schwierigkeit, daß auch in der Demokratie das Selbstbestimmungsrecht nicht voll verwirklicht werden kann, wenn die Entscheidung der Mehrheit die Minderheit bindet. Rousseau löst dieses Problem durch die Unterstellung, die Mehrheitsentscheidung entspreche dem objektiven, wahren Interesse der Minderheit. Vom Selbstbestimmungsrecht verschiebt sich das Ziel des Demokratieprinzips also zu einer Garantie der Richtigkeit der staatlichen Entscheidung. Diese Gewichtsverlagerung ist dabei so stark, daß sie in den späteren Kapiteln des Contrat social die volonte generate vollkommen in den Vordergrund rückt. Rousseau war also faktisch gezwungen, nachzuweisen, aus welchen Gründen die Mehrheitsentscheidung des souveränen Gesetzgebers stets der volonte generale entspricht. Das setzte aber voraus, daß auf der einen Seite das Allgemeininteresse (Gemeinwohl) als Maßstab der richtigen Regierungsform näher konkretisiert wurde, auf der anderen Seite aber nachgewiesen wurde, daß in der Demokratie dieses Allgemeininteresse stets erreicht wird. Es bleibt hervorzuheben, daß in beiden Punkten die tragende Argumentation Rousseaus nicht völlig eindeutig ist. In der Rezeption Rousseaus vor allem in Deutschland stand eine Passage des dritten Teils des Contrat social im Vordergrund der Argumente, die dafür zu sprechen schienen, daß das Allgemeininteresse im Gegensatz zur im 18. Jahrhundert generell vertretenen liberalen Auffassung bei Rousseau mit der Summe der Privatinteressen nicht übereinstimmt, sondern eine ganz andere Qualität als die Privatinteressen besitzt. In dieser Passage heißt es: 83 "11 s'ensuit de ce qui precede que la volonte generale est toujours droite et tend toujours a l'unit a publique; mais il ne s'ensuit pas que les deliberations du peuple aient toujours la meme rectitude. On veut toujours son bien, mais on ne le voit pas toujours: jamais on ne corrompt le peuple, mais souvent on le trampe, et c'est alors seulement qu'il paroit vouloir ce qui est mal. 82

s. Anm. 80, S. 440.

83

s. Anm. 80, S. 371.

46

1. Teil: Historische Entwicklung 11 y a souvent bien de la difference entre la volonte de tous et la volonte generale; celle-ci ne regarde qu'a l'interet cornrnun, l'autre regarde a l'interet prive, et n'est qu'une sornrne de volontes particulieres; mais ötez de ces memes volontes les plus et !es moins qui s'entredetruisent, reste pour sornrne des differences Ia volonte generale."

Oberflächlich betrachtet, hebt Rousseau in dieser Passage das Gemeinwohl als volonte generalvon der Summe der Privatinteressen der volonte de tous ab. Man könnte also diese Passage dahin deuten, daß das Demokratieprinzip zwar eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für die Erkenntnis und Durchsetzung des Allgemeininteresses bietet. Rousseau würde dann als hinreichende Bedingung etwa fordern, daß die Bürger durch die Erziehung und die Staatsreligion- beide Aspekte spielen bekanntlich im Werk von Rousseau eine wichtige Rolle - dahin gebracht werden, sich tugendhaft mit dem Allgemeininteresse zu identifizieren und ihr jeweiliges Individualinteresse zurückzustellen. In dieser Richtung wurde Rousseau wohl von Hegel und von den Marxisten verstanden, welche die Notwendigkeit der Erziehung auch der Proletarier zum sozialistischen Menschen forderten. Bei einer näheren Analyse macht schon die oben zitierte Passage deutlich, daß diese Auffassung von Rousseau nicht geteilt wird. Gleich am Anfang betont Rousseau nämlich: "volonte generale est toujours droite" . Der souveräne Gesetzgeber erkenne und definiere also notwendig das Allgemeininteresse. Wenn dies einmal nicht der Fall sei, läge das daran, daß das Volk von Demagogen über sein wahres Eigeninteresse getäuscht werde. Außerdem zeigt schon in dieser Passage der Hinweis, das Allgemeininteresse werde in der Demokratie deshalb richtig erkannt, weil der Grundsatz "on veut toujours son bien" gelte, woraus folgt, daß das Allgemeininteresse auch nach Ansatz von Rousseau der Summe der Privatinteressen dienlich ist. Dieser Ansatz wird durch eine weitere Passage bestätigt, die sich wenig weiter findet: 84 "Les engagements qui nous lientau corps social ne sont obligatoires que parce qu'ils sont mutuels, et leur nature est telle qu'en les remplissant on ne peut travailler pour autrui sans travailler aussi pour soit." "Pourquoi la volonte generale est-elle toujours droite, et pourquoi tous veulent-ils constarnrnent le bonheur de chacun d'eux, si ce n'est parce qu'il n'y apersonne qui ne s'approprie ce mot chacun, et qui ne songe a lui-meme en votant pour tous . Ce qui oeuvre que l'egalite de droit et la notion de justice qu'elle produit derive de la

84

s. Anm. 80,

s. 375.

§ 6 Das Demokratieprinzip in der Aufklärung

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preference que chacun se donne et par consequence de la nature de l'Homme que la volonte generale pour etre vraiment telle doit l'etre dans son objet ainsi que dans son essence, qu'elle doit partir de tous pour s'appliquer tend a quelque objet individuel et detennine, parcequ'alors jugeant de ce qui nous est entrager nous n'avons aucun vrai principe d'equite qui nous guide" 85

In diesem Zitat wird nicht nur deutlich, daß Rousseau der liberalen Auffassung folgt, das Gemeinwohl stelle nur die Summe der Privatinteressen des ganzen Volkes dar. Vielmehr wird in dieser Passage auch deutlich, warum in der Demokratie das Gemeinwohl verwirklicht wird. Stellt sich das Gemeinwohl nämlich als Summe der Privatinteressen dar, ist, wenn der Bürger an der staatlichen Entscheidung beteiligt ist, die Richtigkeit dieser Entscheidung deshalb gewährleistet, weil es der Natur des Menschen entspricht, daß er nur seine eigenen Interessen egoistisch durchsetzen will. Dieses Argument geht, wie wir gesehen haben, letztlich auf J ohn Locke zurück. Bei der Frage, unter welchen Voraussetzungen dieses Argument zutrifft, greift Rousseau mit der klassischen Konzeption auf die notwendige Allgemeinheit des Gesetzes zurück: Nur wenn das Gesetz den Bürgern dieselben Belastungen auferlegt und dieselben Begünstigungen gewährt, das Gesetz also in dem Sinne generell ist, sei sichergestellt, daß die Summe der Privatinteressen mit dem Allgemeininteresse übereinstimme. 86 Einem alten ethischen Prinzip entsprechend ist nämlich unter dieser Voraussetzung sichergestellt, daß jeder Bürger die Interessen der anderen Bürger wie seine eigenen Interessen behandelt wissen will. Entscheide der Gesetzgeber dagegen über einen Einzelfall, stünden sich stets nur verschiedene Partikularinteressen gegenüber, so daß die volonte generate nicht gefunden werden kann. Aus diesen Ansätzen entwickelt Rousseau die Kompetenzgrenze des souveränen Gesetzgebers und damit gleichzeitig auch, was die Literatur wiederum übersehen hat, wichtige neue Ansätze für eine strikte Form der Gewaltenteilung heraus. Das Volk dürfe, so nimmt Rousseau an, im Gesetz nur allgemeine Regeln festlegen. 87 Entscheide das Volk im Einzelfall, handle es nicht mehr als souveräner Gesetzgeber, sondern als Exekutive (Magistrat), die an das allgemeine Gesetz gebunden sei. Ganz abgesehen davon, daß mit diesem Postulat, wie wir später sehen werden, ein Totalvorbehalt des Gesetzes festgelegt wird, kommt in dieser Passage deutlich zum Ausdruck, daß Rousseau im Gegensatz

85

s. Anm. 80, S. 373.

86

s. Anm. 80, S. 374.

87

s. Anm. 80, S. 378.

48

1. Teil: Historische Entwicklung

zur damals herrschenden Lehre die Auffassung vertritt, die Souveränität, d. h. aber die Gesetzgebungsgewalt, liege aufgrund des Gesellschaftsvertrages stets beim Volk; er bezieht deshalb die klassische Unterscheidung der Staatsformen (Monarchie, Aristokratie, Demokratie) nicht auf die Trägerschaft der Souveränität, sondern auf den Träger der Exekutivgewalt. 88 Zwar meint Rousseau in diesen Passagen, der souveräne Gesetzgeber könne theoretisch gesehen neben der Gesetzgebungsgewalt auch die Exekutivbefugnisse übernehmen. Letztlich lehnt er aber diese Gewaltenkumulation vor allem aus drei Gründen ab: Zunächst könne die volonte generat auch im Rahmen der Gesetzgebung verfehlt werden, wenn der Gesetzgeber sich auch mit der Regelung von Einzelfällen zu befassen habe. Zweitens sei die notwendige sachliche Erledigung der Verwaltungsgeschäfte bei einer solchen Gewaltenakkumulation nicht sichergestellt. Und drittens sei für die Erledigung der Verwaltungsgeschäfte ein Sachverstand erforderlich, den die breite Masse nicht besitze. 89 Angesichts dieser strikten Gewaltenteilung muß Rousseau das Verhältnis zwischen dem Gesetzgeber und der Exekutive näher bestimmen. Obwohl er auch in der Ernennung der Exekutive einen Akt der Gesetzesausführung sieht, verlangt dabei nach Rousseau das Demokratieprinzip, daß der Gesetzgeber diese Funktion übernehme. Rousseau spricht sich also deutlich für ein parlamentarisches Regierungssystem aus. Es liegt in der Logik des Demokratieprinzips, daß dann der Gesetzgeber auch die Kontrolle über die Exekutive ausübt. Diesen Schluß hat Rousseau allerdings nicht ausdrücklich gezogen, obwohl er deutlich darauf hinweist, daß der Gesetzgeber sein Gesetz besser kennt und deshalb auch in der Lage ist, das Gesetz auf den Einzelfall anzuwenden. Aus zahlreichen Passagen des Contrat social wird deutlich, daß die Exekutive nur die Befugnis hat, die Gesetze und damit die volonte generale im Einzelfall durchzusetzen. 90 Dieser Gedanke eines Totalvorbehalt des Gesetzes wird unter zahlreichen Aspekten abgehandelt. Der Totalvorbehalt ergibt sich dabei vor allem aus der Tatsache, daß der Staat in seiner gesamten Tätigkeit nur das Allgemeininteresse durchsetzen könne, das Allgemeininteresse aber nur richtig durch das Gesetz definiert werden kann. Allerdings wird dieser Totalvorbehalt nicht voll durchgehalten. Aus einer Anzahl von Zitaten ergibt sich deutlich, daß Rousseau den Gesetzesvorbehalt nur auf den Teil der staatlichen Tätigkeit bezieht, in welchem der Staat seine Hoheitsgewalt (autorite) gegenüber dem Bürger durchsetzt. Statt des Totalvorbehalts spricht dies eher für eine Annäherung an den deutschen Eingriffsvorbehalt Diese Passagen des Contrat

88

s. Anm. 80, S. 394 ff.

89

s. Anm. 80, S. 404 ff.

90

s. Anm. 80, S. 294, 250.

§ 6 Das Demokratieprinzip in der Aufklärung

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social steht aber schließlich auch ein Zitat aus der Economie Politique91 gegenüber, die den Gedanken des Gesetzvorbehalts ganz aufgibt. Aus dem Gesamtzusammenhang des Contrat social ergibt sich, daß nach Auffassung von Rousseau die souveräne Gesetzgebungsgewalt nicht in der Hand eines Parlaments liegen kann, sondern einer Volksversammlung vorbehalten ist. In der Tat ist der Contrat social der Auffassung, daß die volonte generale nur in einer solchen Volksversammlung verwirklicht wird. Im Contrat social findet sich folglich eine Passage92 , in welcher Rousseau die Wahl von Volksvertretungen ausdrücklich ablehnt. Nach dieser Passage wird die volonte generale in Großbritannien verfehlt, weil das britische Volk zwischen den Wahlen der Volksvertreter Sklave des Parlaments ist. Diese Passage stellt deutlich darauf ab, daß in der mittelbaren Demokratie das Selbstbestimmungsrecht des Volkes nicht verwirklicht wird. Dabei verkennt Rousseau, daß es nach seiner eigenen Auffassung nur darauf ankommen kann, ob auch in der mittelbaren Demokratie und die Richtigkeit der staatlichen Demokratie die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung gewährleistet ist. Durch eine solche Umstellung der Argumentation kommt Rousseau deshalb in seinen Betrachtungen über die Verfassung Korsikas zu dem Ergebnis, daß eine mittelbare Demokratie, die allein in Großstaaten zu verwirklichen ist, sogar die bessere Regierungsform darstellt, weil man Repräsentanten mit hinreichendem Sachverstand wählen werde. 93 Wir werden sehen, daß bei der Rezeption Rousseaus in Deutschland die Literatur die theoretischen Schwächen der Argumente deutlich erkannt hat, mit denen Rousseau begründen will, daß bei einer alleinigen Ausrichtung am egoistischen Individualinteresse die volonte generale, das Allgemeininteresse, stets erkannt und durchgesetzt werde. Diese theoretische Schwäche des Contrat social bezieht sich vor allem auf zwei Punkte. Einmal kann die Auffassung, das Demokratieprinzip verbürge durchwegs die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung, jedenfalls mit den Argumenten nicht gehalten werden, die Rousseau hierfür vorträgt. Fällt diese Voraussetzung fort, wird es notwendig, im Gegensatz zu Rousseau weitere Garantien für die volonte generale in der Verfassung festzulegen. Zunächst zum ersten Punkt: Wir haben gesehen, daß die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung in einer Demokratie nur dann verbürgt ist, wenn die

91

s. Anm. 80, S. 250.

92

s. Anm. 80, S. 428 ff.

93

s. Anm. 80, S. 907.

4 Bleckmann

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1. Teil: Historische Entwicklung

Bürger völlig gleichlaufende Interessen verfolgen. Diese Voraussetzung aber ist nur bei den Regeln gegeben, welche die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung sicherstellen sollen, also im Polizei- und im Strafrecht. Auch hier können zwar im Einzelfall die Auffassungen darüber schwanken, welche Mittel für die Aufrechterhaltung der von allen angestrebten öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich sind, in welchem Maße also die Grundrechte eingeschränkt werden müssen, an deren Aufrechterhaltung alle Bürger interessiert sind. In diesem Bereich trifft aber wohl die Auffassung Rousseaus zu, die Extrem-Meinungen würden sich gegeneinander ausgleichen, die Mehrzahl aber werde einer einheitlichen Regelung zustimmen; in jedem Fall ist diese Mehrheit sicherlich kompromißbereit. Ähnlich ist die Lage im Privatrecht, wenn man das Familien- und Erbrecht einmal ausnimmt, weil dort die Rolle etwa des Familienvaters durchwegs gleich liegt. Etwa im Kaufrecht aber stehen sich die Interessen der Käufer und der Verkäufer gegenüber. Solange die Möglichkeit gegeben ist, daß man beide Rollen übernehmen kann, wird eine sachliche Abwägung möglich. Wenn sich aber etwa ein Kaufmann mit der Rolle des Verkäufers, die Verbraucher mit der Rolle des Käufers identifizieren, stehen hier zwei Globalinteressen strikt gegeneinander. Bilden die Käufer die Mehrheit, werden sie die Interessen des Verkäufers nicht ebenso sehen wie die Kaufleute und die Kaufleute überstimmen. Das "wahre" Interesse der Verkäufer wird verfehlt. Noch strikter wird das Auseinanderfallen der Rollen, wenn es um die Umverteilung des Bruttosozialprodukts etwa in der Sozialhilfe und in der Steuergesetzgebung geht. Hier stehen sich die Interessen der ärmeren und der reichen Bevölkerungsschicht unversöhnlich gegenüber. Sicherlich kann man das Problem dahin lösen, daß man die Staatsaufgaben entsprechend beschränkt, den Gesetzgeber also nur dann zum Erlaß von Gesetzen ermächtigt, wenn die Interessen aller Bürger gleichlaufen. Das ist die Lösung, die in der Debatte um die Staatszwecke von den Vertretern der Aufklärung gewählt wird, welche die Staatszwecke auf die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung beschränken wollen. Aber auch in der modernen Staatslehre wird diese Auffassung etwa von Lester Thurow vertreten. Außerdem hat Rousseau diese Lösung strikt abgelehnt. In seinen Ausführungen in der "Economie politique" umreißt er die Staatszwecke nämlich dahin, daß der Staat auf der einen Seite die Individuen schützen müsse (Schutzpflicht: Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung), daß er zweitens für die sittliche Vervollkommnung der Bürger sorgen und daß er drittens dafür zu sorgen habe, daß die Bürger über die notwendigen Subsistenzmittel verfügen.94

94

s. Anm. 80, S. 250 ff.

§ 6 Das Demokratieprinzip in der Aufklärung

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Eine weitere Lösung des Problems, die von der Literatur weitgehend akzeptiert wird, wäre, den Begriff der volonte generale so zu deuten, daß das Privatinteresse und das öffentliche Interesse grundsätzlich verschieden sind. Wie wir oben gezeigt haben, erscheint dieser Weg schon deshalb nicht gangbar, weil Rousseau nur oberflächlich gesehen das öffentliche Interesse vom Individualinteresse abhebt, bei einer vertieften Textanalyse aber auch bei Rousseau beide Interessen zusammenfallen. Entscheidend dürfte aber sein, daß, wenn beide Interessen auseinanderfallen, entgegen der Ansicht von Rousseau das Allgemeininteresse auch dann nicht gefunden wird, wenn, wie vorausgesetzt, die Individuen ihre Privatinteressen verfolgen, diese Privatinteressen aber mit dem Allgemeininteresse nicht identisch sind. Umgekehrt vermag ich auch nicht der Auffassung von Rousseau zu folgen, die volonte generalkönne nur von einer "atomisierten" Versammlung gefunden werden, so daß, wenn sich Fraktionen bilden, die jeweils nur ein Partikularinteresse verfolgen, das Allgemeininteresse notwendig verfehlt wird. Diese Passage, die in der Zeit der Französischen Revolution zum Verbot der Gewerkschaften führen sollte (loi Chapelier), ist nur dann richtig, wenn eine Fraktion etwa aufgrundihrer demagogischen Fähigkeiten innerhalb der Fraktion oder im Verhältnis zu den anderen Fraktionen ein Übergewicht erlangt. Fehlt diese Einflußmöglichkeit, richten sich die Mitglieder der Fraktionen und die Fraktionen selbst nach dem Konzept von Rousseau an ihrem Eigeninteresse aus, daß das Allgemeininteresse notwendigerweise verwirklicht wird. Natürlich konnte Rousseau die Entwicklung der modernen Volksparteien nicht voraussehen; wir werden im folgenden zeigen, daß gerade diese Fraktionsbildung zu einer besseren Verwirklichung des Allgemeininteresses führen kann. Obwohl ferner Rousseau die Notwendigkeit eines Schutzes der Grundrechte und vor allem der Freiheit durchaus in den Vordergrund seiner Analysen stellt, kommt er zu dem Ergebnis, daß ein Grundrechtskatalog in der Verfassung nicht erforderlich ist. Er folgt vielmehr der Auffassung, daß der Bürger durch den Abschluß des Gesellschaftsvertrages auf alle vorangehenden natürlichen Rechte verzichtet habe und dafür positive Rechte eingeräumt erhält. Offensichtlich spielt die Grundrechtsproblematik bei Rousseau deshalb keine Rolle, weil er der Auffassung folgt, durch das Demokratieprinzip werde sichergestellt, daß die Grundrechte der Bürger automatisch optimiert werden. Im Bereich der Verfassungsgebung konnte die Französische Revolution auf eindeutige Vorgaben des Contrat social nicht zurückgreifen. Bei Rousseau durchkreuzen sich insoweit zwei verschiedene Gedankengänge. Auf der einen Seite greift Rousseau auf die Tradition des Gesellschaftsvertrages des 17. Jahrhunderts zurück. Dieser Gesellschaftsvertrag ist nicht, wie die klassischen Vertragstheoretiker wohl angenommen haben, in ferner Vergangenheit ge4*

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1. Teil: Historische Entwicklung

schlossen worden. Diese Auffassung lehnt Rousseau ab, weil die Väter ihre Kinder für die Zeit ihrer Mündigkeit nicht binden können. Der Gesellschaftsvertrag wird aber auch nicht durch Verabschiedung einer geschriebenen Verfassung geschlossen. Vielmehr handelt es sich hierbei um einen stillschweigenden Konsens, der zu dem Zeitpunkt notwendig deshalb besteht, weil er am Allgemeininteresse ausgerichtet ist und deshalb dem wahren Interesse jedes Bürgers entspricht. Allerdings ist nach Rousseau im Gegensatz zum Gesetz Einstimmigkeit erforderlich. Stimmt ein Teil der Gesellschaft dem Vertrag nicht zu, hat dies zwar nicht zur Folge, daß der Gesellschaftsvertrag nichtig ist: Er wirkt aber nur gegenüber den Bürgern, die ihn akzeptiert haben. Das Problem, wie auf diese Weise eine Bindung der "Ausländer" an das Gesetz zu begründen ist, hat Rousseau nicht gelöst. Trotz dieser Konzeption des Gesellschaftsvertrages hält Rousseau, wie das Kapitel über den "lt~gislateur" zeigt, an der Notwendigkeit einer geschriebenen Verfassung fest. Er ist dabei wohl der Meinung, daß diese Verfassung an den Gesellschaftsvertrag gebunden ist. Allerdings regelt dieser Vertrag nur die Grundprinzipien des natürlichen Staatsrechts; etwa hinsichtlich der Zusammensetzung der Exekutive bleibt ein beliebter Spielraum übrig, der durch eine geschriebene Verfassungaufgrund der Vorgaben des unabhängigen Legislateur zu füllen ist. Auch wird man aus dem Contrat social herauslesen können, daß die geschriebene Verfassung logisch den Vorrang vor dem einfachen Gesetz hat. Das folgt aber nicht aus der für die geschriebene Verfassung notwendig höheren Mehrheit, sondern aus der Tatsache, daß die Verfassung nur den Cantrat social näher konkretisiert, der Staat aber bei seinem gesamten Handeln nur die volonte generale zum Ausdruck bringen darf. Auf Jean-Jacques Rousseau geht wohl auch die starke Verknüpfung des Souveränitätsprinzips mit dem Gedanken des Einheitsstaates (La Republique est une et indivisible) zurück. Zwar läßt sich die Ansicht wohl nicht vertreten, RoÜsseau sei der Auffassung gefolgt, die volonte generate könne nur auf der nationalen Ebene gefunden werden, weil alle regionalen Interessen nur Partikularinteressen darstellten, welche die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung nicht verbürgten. Vielmehr hat sich Rosseau grundsätzlich für einen dezentralisierten Staatsaufbau eingesetzt oder zumindest die Möglichkeit einer solchen Dezentralisierung eingeräumt. Nach seiner Auffassung stellt das Interesse der Gemeinden und Provinzen auf der Ebene dieser dem Staat untergeordneten Körperschaften ein Allgemeininteresse dar, das im Verhältnis zum Gesamtstaat aber nur ein Partikularinteresse ist. Rousseau ist sogar der Auffassung, auch durch den Zusammenschluß zu einer Konföderation könne eine gemeinsame volonte generale gefunden werden. Damit greift Rousseau der modernen Völkerrechtstheorie vor, daß es ein echtes Allgemeininteresse auch auf der universellen oder regionalen Völkerrechtsebene geben könne. 95

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In der Tat bemüht sich Rousseau, die Theorie des Ewigen Friedens des Abbe de Saint-Pierre dahin weiterzuentwickeln, daß die europäischen Staaten sich zu einer "confederation" zusammenschließen sollen. Da Rousseau die im 19. Jahrhundert durch den Rückgriff auf einen Vergleich des amerikanischen und schweizerischen Bundesstaates mit dem Deutschen Bund entwickelte Unterscheidung zwischen dem (völkerrechtlichen) Staatenbund und dem (innerstaatlichen) Bundesstaat natürlich noch nicht geläufig war, kann der von Rousseau verwendete Begriff der "confederation" auch auf einen Bundesstaat bezogen werden. Das ergibt sich deutlich auch aus der Tatsache, daß Rousseau zur Verdeutlichung seiner Gedanken auf Vorbilder der griechischen Antike zurückgreift, die in der heutigen Theorie eindeutig schon Bundesstaaten waren. Auf der anderen Seite aber wird aus dem Gesamtzusammenhang der Arbeit deutlich, daß Rousseau versucht, wenn auch sehr vorsichtig, seine im Cantrat social entwickelten Theorien auf eine solche confederation zu übertragen. Allerdings vertritt Rousseau durchwegs die Auffassung, das Partikularinteresse sei dem Gesamtinteresse untergeordnet. Wenn deshalb auf der staatlichen Ebene ein Gesamtinteresse gebildet werde, sei dieses Gesamtinteresse dem Partikularinteresse der Gemeinden und Provinzen übergeordnet. Daraus folgt der Vorrang des nationalen Gesetzes, schließlich aber auch der Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten. Allerdings fließt dieser Vorrang nicht aus der Konstruktion der volonte generale. Insoweit folgt Rousseau vielmehr der klassischen Definition der Trägerschaft der Souveränität: Da nur der Staat souverän ist, muß sein Recht dem der Gemeinden und Provinzen vorgehen.

m. Emanuel Joseph Sieyes (1798- 1836)96 Der Abbe Sieyes hat den Verlauf und den Inhalt der Verfassungsdiskussion während der Französischen Revolution entscheidend geprägt. Er hat die Umwandlung der Generalstände als Ständeversammlung in die französische Nationalversammlung durch seine Schrift über den Dritten Stand vorbereitet und den entscheidenden Beschluß der Nationalversammlung vom 17. Juni 1789 selbst abgefaßt. Er hat in einer Reihe von Schriften den Inhalt der Verfassung

95 Vgl. bereits de Saint-Pierre, Projet pour rendre la paix perpetuelle en Europe, 1713, ND 1986, Bd. III, S. 561 ff. % Sieyes, Politische Schriften 1788- 1790, Politika Bd. 43, hrsg. von Wilhelm Hennis und Hans Maier, 1975.

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von 1791 umrissen, entscheidende Weichen für die Geschäftsordnung der Nationalversammlung gestellt und die französische Menschenrechtserklärung von 1798 entworfen. Insbesondere seine Theorie über das Mandat und den Status der Abgeordneten der Nationalversammlung hat über die belgisehe Verfassung 1831 die gesamte konstitutionelle Regierung des 19. Jahrhunderts entscheidend bestimmt; seine Konzeption finde sich auch heute noch etwa in Art. 38 GG wieder. Sieyes war ein großer, wenn auch kein spekulativer Theoretiker. Es ging ihm nicht um die Entwicklung einer umfassenden Demokratietheorie, sondern im wesentlichen um die Lösung punktueller, wenn auch praktisch bedeutsamer Fragen. Seine Leistung in diesem Bereich ist vor allem eine Ergänzung der Demokratietheorie Rousseaus für den Bereich der mittelbaren Demokratie, die Rousseau nur kursorisch dargelegt hatte. Seine umfangreichen Darlegungen zu den Aufgaben und Befugnissen, zur Zusammensetzung und zum Verfahren der Generalstände und der Nationalversammlung sind für die allgemeine Theorie der mittelbaren Demokratie heute noch von wichtigem Interesse. Die Bedeutung des AbM Sieyes für eine allgemeine Demokratietheorie ist dagegen relativ begrenzt. Wenn er in diesem Zusammenhang zwar nicht von der volonte generale, sondern von der volonte commune, dem vrecux communs spricht, greift er letztlich auf den Begriff der volonte generaledes Jean-Jacques Rousseau zurück. Im übrigen herrscht bei Sieyes bei der Deutung des Sinns und Zwecks des Demokratieprinzips eine ähnliche Doppeldeutigkeit wie bei Rousseau. Zu Beginn seiner Schrift "Überblick über die Ausführungsmittel, die den Repräsentanten Frankreichs 1789 zur Verfügung stehen", betont er, daß der Zweck der Gesetzgebung in einer Demokratie die Freiheit der Bürger sei. Dementsprechend unterstreicht er mit den Ausführungen im Contrat social das Selbstbestimmungrecht der Bürger: Der Citoyen soll nur an die Gesetze gebunden sein, denen er selbst zugestimmt hat. Sieyes sieht dabei nicht, daß diese Zweckrichtung des Demokratieprinzips in Widerspruch zum Mehrheitsprinzip und zur mittelbaren Demokratie steht. Diese Problematik löst er völlig formalistisch dahin, daß der Bürger sie aufgrund des Gesellschaftsvertrags dem Willen der Mehrheit unterworfen. Im Kapitel über die Staatstheorie Rousseaus haben wir nun gezeigt, daß auf der einen Seite das Mehrheitsprinzip, auf der anderen Seite die mittelbare Demokratie nur legitimiert werden können, wenn man als Zweck des Demokratieprinzips nicht das Selbstbestimmungrecht, sondern das Demokratieprinzip primär als Garantie der Richtigkeit der staatlichen Entscheidungen sieht. Dieser Auffassung, die implizit ja auch von Rousseau vertreten wird, schließt sich Sieyes in seinen anderen Schriften an. Insbesondere ist er allerdings ohne nähere Begründung der Auffassung, auch in der mittelbaren Demokratie werde

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das Gemeininteresse vom Parlament automatisch verwirklicht, wenn die Abgeordneten nicht an ein imperatives Mandat gebunden, sondern nur auf das Gesamtinteresse verpflichtet werden. Im übrigen hält Sieyes es wohl wegen der Darlegungen Rousseaus zur mittelbaren Demokratie in der "Verfassung von Korsika" nicht für erforderlich, seine Ausführungen näher zu begründen. Wie wir schon dargelegt haben, sind für das System der mittelbaren Demokratie insbesondere die Ausführungen Sieyes zum Mandat und zu den Befugnissen des Abgeordneten von Bedeutung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang sein Hinweis, daß die Abgeordneten nicht Vertreter ihres Wahlbezirks, sonder Repräsentanten des ganzen Volkes sind. Allerdings scheint Sieyes das imperative Mandat dabei nicht aus dem Demokratieprinzip selbst abzulehnen, sondern aus praktischen Gründen. Müßten die Abgeordneten vor ihrem Votum im Parlament jeweils ihre Wähler unterrichten und eine Entscheidung ihres Bezirks einholen, würde der Willensbildungsprozeß im Parlament blockiert. Für die allgemeine Demokratietheorie ist von wesentlich größerer Bedeutung, daß Sieyes die von Rousseau verwendeten Begriffe des "peuple" durch den der "nation" ersetzt hat. Liest man seine Schrift in ihrem Zusammenhang, wird deutlich, daß er damit letztlich nicht auf die Gesamtheit der jeweiligen Generation französischer Staatsangehörigen, sondern auf einen Symbolbegriff zurückgreift, der in der Folge die Übertragung der Souveränität auf die Nationalversammlung gestattet. Das wird bei Sieyes durch die Tatsache deutlich, daß er die souveräne Gesetzgebung nicht dem Volk, sondern dem Parlament zuspricht und jegliche Form einer unmittelbaren Demokratie ablehnt. Wie wir später sehen werden, hat diese Konzeption den Verfassungswandel in der Französischen Revolution entscheidend geprägt. Ebenfalls im Widerspruch zur Staatstheorie Rousseaus steht die Tatsache, daß Sieyes der Nationalversammlung den Erlaß eines Grundrechtskatalogs vorschlägt. Welche Funktionen die Menschenrechtsdeklaration haben sollte, blieb in den verschiedenen Verfassungen völlig unklar. Angesichts der Tatsache, daß der Nationalversammlung der Gedanke einer gerichtlichen Überprüfung der Gesetze bis 1958 völlig fremd war, muß wohl davon ausgegangen sein, daß die Menschenrechtsdeklaration als politischer Akt nicht die Funktion eines rechtlichen Schutzes der in der Nationalversammlung überstimmten Minderheit übernehmen sollte. Dem stand nicht nur die auf die Nationalversammlung als Repräsentant der Nation übergegangene Parlamentssouveränität entgegen. Vielmehr ist wohl davon auszugehen, daß die französischen Politiker und Juristen wie übrigens auch die deutschen Theoretiker im 19. Jahrhundert - davon ausgingen, die im Parlament repräsentierte volonte generale könne den Vorgaben Rousseaus entsprechend die Grundrechte auch der Minderheit nicht

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verletzen. Wohl ausgehend von der Auffassung Rousseaus, die volonte generale könne nur aufgrund eines Irrtums verfehlt werden, umriß deshalb die Präambel der Menschenrechtsdeklaration von 1789 die Funktion der Grundrechte dahingehend, daß sie den Repräsentanten der Nation im Parlament diese Grundrechte ausdrücklich vor Augen führen sollte, um so Irrtümer zu vermeiden. IV. Robespierre (1758- 1794)97 Die Tatsache, daß, wie gezeigt, Rousseau einen überaus starken Einfluß auf Sieyes ausgeübt hat, Sieyes aber die revolutionäre Verfassungstradition prägte, ist der eigentliche Grund für die Tatsache, daß die Französische Revolution in der Folgezeit kaum neue Ansätze für die Demokratietheorie entwickelt hat. Der Einfluß Rousseaus war dabei vor allem auf das Diskurenpaar Robespierre und St. Just erheblich. Das ergibt sich vor allem aus den Anfangssätzen der berühmten Rede Robespierres über die Verfassung vom 10. Mai 1793: 98 "L'homme est ne pour le bonheur et la liberte, et partout il est esclave et malheureux. La societe a pour but la conservation de ses droits et la perfection de son etre; et pourtant la societe le degrade et l'opprime. Le temps est arrive de la rappeler a sesveritables destines: le progres de la raison humaine ont prepare cene grande revolution, et c'est a vous qu'est specialement impose le devoir de l'accelerer."

Sieht man davon ab, daß Robespierre einen herrlichen Beitrag auch zu den Menschenrechten, insbesondere zur Beschränkung des Eigentumsrechts, geleistet hat, bestand die Bedeutung von Robespierre und St. Just zum Demokratieprinzip vornehmlich in einer erheblichen Stärkung der Nationalversammlung gegenüber der Exekutive. Da sich Robespierre für seine Ansicht, die Volksvertretung könne die Menschenrechte nicht verletzen, auf Rousseau berufen konnte, war und ist die Unterdrückung des Volkes allein auf die Tätigkeit der Regierung und ihrer Beamten zurückzuführen. Robespierre führte deshalb aus: "Posez d'abord cette maxime incontestable: que le peuple est bon, et que ses delegues sont corruptibles que c'est dans la vertu et dans la souverainete du peuple

97 Zu den politischen Ideen der Französichen Revolution und vor allem zu Robespierre und Just vgl. die umfangreiche Darstellung bei Dippel, in: Fetscher/Münkler, Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 4, Neuzeit: Von der Französischen Revolution bis zum europäischen Nationalismus, 1981, S. 21 f. und die Literaturverzeichnisse aufS. 63 ff. 98 Robespierre, Discours et rapports a la convention, Collection 10/18, 1965, S. 129 ff., 131; vgl. auch Robespierre, Textes choisis, 3 Bde., Les classiques du Peuple, Editions sociales, 1974, Bd. II, S. 141 ff.

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qu'il faut ehereher un preservatif eontre !es viees et Je despotisme du gouvernement."

Nach dem Zusanunenhang ergibt sich, daß Robespierre hier mit dem "gouvernement" die Regierung und ihre Beamten meint. Robespierre schlägt deshalb sehr umfassende und sehr weitgehende Beschränkungen der Befugnisse der Minister und Beamten vor, die vor allem in einer erheblichen Verkleinerung der Ministerien und in der persönlichen Haftung der Beamten und Minister bestehen. Aus den vorangehenden Gründen wendet sich Robespierre vehement gegen das Gewaltenteilungsprinzip, das nicht nur von Montesquieu, sondern auch noch von Rousseau vertreten worden ist: Nur so konnten die Befugnisse des Parlaments entscheidend erweitert werden. V. Die Verfassungen von 1791 und 1793 Die Verfassungen von 1791 und 1793 unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt, den wir oben schon angesprochen haben. Während die Verfassung von 1791 die Souveränität der Nation zuspricht, geht die Verfassung von 1793 von der Souveränität des peuple aus. Die Folge ist, daß nach Art. 1 der Verfassung von 1791 alle Befugnisse der souveränen Nation nur durch die staatlichen Organe, nicht aber durch das Volk ausgeübt werden können, ein Referendum also notwendig ausgeschlossen ist. Dagegen spricht Art. 2 der Verfassung von 1793 von der Souveränität des peuple. Die Folge ist, daß in dieser Verfassung wesentliche Elemente einer unmittelbaren Demokratie vorgesehen wurden. Wie stark diese Unterscheidung zwischen der Souveränität der Nation und des Volkes die französische Tradition bis in die Dritte Republik geprägt hat, zeigt sich vor allem in der einflußreichen "Contribution a la theorie generate de l'Etat" von Carre de Malberg, nach welchem Träger der Souveränität in der Dritten Republik letztlich die Nationalversammlung ist. 99 Es entspricht der durch den Wegfall des Gewaltenteilungsprinzips begründeten Allmacht des Parlaments, daß unter dem Einfluß Robespierres nach der Hinrichtung des Königs und der Abschaffung des Königtums das parlamentarische System eingeführt wurde, in welchem die Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängig ist, und daß die Nationalversanunlung in breitem Umfang durch aus ihrer Mitte gebildete Ausschüsse die Befugnisse der Verwaltung weitgehend selbst übernahm. Hinzuweisen ist allerdings in diesem 99

Bd. III, S. 14- 15; Bd. II, S. 365, 267.

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Rahmen darauf, daß schon die Verfassung von 1791 nicht einfach mit der konstitutionellen Monarchie in Deutschland verglichen werden kann, weil schon nach dieser Verfassung die Souveränität allein bei der Nation und nicht beim König lag und der König als Organ des Staates nur beschränkte Kompetenzen besaß. Diese Allmacht des Parlaments drückt sich in den Verfassungen von 1791 - 1764 auch in der Tatsache aus, daß die Nationalversammlung ausdrücklich Träger nicht nur der Gesetzgebungsgewalt, sondern zahlreicher Exekutivbefugnisse war. Der Tradition von Rousseau entsprach es nur, daß nur das allgemeine Gesetz als "Gesetz" , die Verwaltungsakte des Parlaments dagegen als "Dekret" bezeichnet wurden.

VI. Entwicklung der Prinzipien der Französischen Revolution Es bleibt darauf hinzuweisen, daß die durch die Verfassungen von 1791 und 1793 festgelegten "republikanischen Prinzipien" in der zweiten, dritten und vierten Republik fortgalten, obwohl etwa die "Verfassung der dritten Republik" nur aus wenigen Organisationsakten bestand und diese Prinzipien nicht ausdrücklich verankerte. Die in der Revolution von 1789 entwickelten Grundsätze gelten zum überwiegenden Teil auch als "principes republicains" in der Fünften Republik weiter, obwohl hier die Gewaltenteilung wieder strikt durchgeführt wurde. Insbesondere an der potentiellen Allmacht des "souveränen" Parlaments wurde in der dritten und vierten Republik festgehalten. Die Folge dieser historischen Entwicklung war, daß etwa Carre de Malberg die Frage stellen konnte, ob der Grundsatz der Gewaltenteilung (separation de pouvoir) in der Verfassung der dritten Republik überhaupt verankert war. Auch wurde in Rückgriff auf die Begriffe Rousseaus bis in die Gegenwart das Gesetz als "expression de la volonte generate" definiert. Mit diesen Grundsätzen hat allerdings die Verfassung von 1958 in wesentlichen Punkten gebrochen. Vor allem wurde die Gesetzgebungsbefugnis nun zwischen der Nationalversammlung und der Exekutive verteilt und können zumindest Gesetzentwürfe der Nationalversammlung vom Conseil Constitutionnel auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. 100 Der Grundsatz der Parlamentssouveränität besteht also insofern weiter, als das Gesetz nach seiner Verabschiedung von den Gerichten grundsätzlich nicht mehr überprüft werden darf.

100 Zur Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich vgl. Luchaire, Le Conseil constitutionnel, 1980; Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, 1962; Favoreu (Hrsg.), Cours constitutionnelles europeennes et droits fondarnentaux, 1986; StareleiWeber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Bd. I: Landesberichte, 1986.

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Diese Beschränkung der vorherigen Allmacht des Parlaments, die Überführung der parlamentarischen in die Präsidentialdemokratie, beruhte vordergründig auf der Tatsache, daß infolge der politischen Spaltung der Nationalversammlung im parlamentarischen Regime stabile Regierungen nicht gebildet werden konnten. Dahinter stand aber auf einer tieferen Ebene eine radikale Wandlung der Demokratie selbst, die vor allem auf de GauBe zurückging. Die Demokratietheorie geht in der Tat seit Rousseau, wie wir oben schon festgestellt haben, davon aus, daß die politischen Spaltungen nur ein oberflächliches Phänomen darstellen, das auf dem Hintergrund der grundsätzlichen Interessen- und Willenseinheit der Nation zu sehen ist. Wie wir dies für die Weimarer Republik zeigen werden, hat bei einer extremen politischen Spaltung des Parlaments diese "Repräsentationstheorie" zur Folge, daß der Gemeinwille, also die Einheit der Nation, nicht mehr vom Parlament, sondern von den Organen getragen wird, in welcher die Einheit der Nation zum Ausdruck gelangt. Das aber gilt für den Staatspräsidenten vor allem dann, wenn er unmittelbar gewählt wird. Dabei greift auch die "Zahlenmystik" des Demokratieprinzips ein: Während jeder einzelne Abgeordnete und damit letztlich auch die Gesamtheit der Abgeordneten im Parlament jeweils nur von einem Bruchteil der Wähler gewählt wird, wird der Staatspräsident von der Mehrheit der Wähler eingesetzt. In dieser Entwicklung der politischen Tradition der Französischen Revolution hat sich auch ein tiefgreifender Wandel der Funktion der Grundrechte angebahnt. Wir haben schon dargelegt, daß die Menschenrechtsdeklaration von 1789 und die in den späteren Verfassungen enthaltenen Grundrechte ursprünglich nur eine politische und keine rechtliche Funktion besaßen. Diese Interpretation der Freiheiten wurde aufrechterhalten, obwohl schon Benjamin Constant eindeutig nachgewiesen hat, daß im Gegensatz zur Auffassung von Rousseau die Grundrechte der Minderheit auch durch das Parlament verletzt werden können. 101 Ob dieses Festhalten an der Tradition darauf zurückzuführen ist, daß die Theorie Rousseaus weiterhin allgemein akzeptiert wurde, das Demokratieprinzip führe dazu, daß die Grundrechte stets voll verwirklicht würden, läßt sich dabei nicht eindeutig feststellen. Jedenfalls wird man daran festhalten können, daß der Conseil d'Etat sich wohl aus diesen theoretischen Gründen, und, um sich in seiner Rechtsprechung die notwendige Flexibilität zu wahren, auch die Tätigkeit der Exekutive nicht an den im Verfassungsrecht

101 Constant principes de politique, in: Benjamin Constant, Oeuvres, Bibliotheque de la Pleiade, 1977, S. 1063 ff., 1070 ff.): Da die Mehrheit die Interessen der Minderheit verfehlen könne, fordert Constant einen letzten Bereich des Privaten, in den der Staat nicht eindringen dürfe. Constant könnte sich insoweit auf Ideen stützen, die schon in der französischen Revolution von den "ideologues ", vor allem von de Tracy verboten worden sind (vgl. dazu Braud/Burdeau, Histoire des idees politiques depuis de la Revolution, 2. Aufl. 1992, S. 68 ff.).

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verankerten Grundrechten, sondern an den von ihm selbst entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätzen mißt, die allerdings inhaltlich weitgehend Grundrechtscharakter besitzen. 102 Wie die Tatsache deutlich zeigt, daß das Klagerecht ursprünglich nur bei der Exekutive lag, sollte anfangs auch die Verfassungsgerichtsbarkeit in der V. Republik nicht die Freiheiten, die Grundrechte des Bürgers gegen den Gesetzgeber schützen: Der Sinn und Zweck dieser Gerichtskontrolle bestand vielmehr ausschließlich darin, Übergriffe des Parlaments in die Gesetzgebungsbefugnisse der Exekutive abzuwehren. Nur durch eine gewagte Interpretation der Verfassung hat der Conseil Constitutionnel diese Funktion dadurch erheblich erweitert, daß er heute die Gesetzentwürfe auch an den in der Präambel der Verfassung verankerten Grundrechten mißt. Obwohl der Contrat social, wie wjr gezeigt haben, hierfür die theoretischen Grundlagen gelegt hat, ist dem französischen im Gegensatz zum deutschen Recht und zum Recht der EMRK der Gesetzesvorbehalt nicht bekannt. 103 Selbst die ausschließliche Zuständigkeit des Gesetzgebers in Grundrechtsfragen nach der Verfassung von 1958 kann in diesem Sinne nicht gedeutet werden, weil damit eine Änderung der "republikanischen Gesetze" etwa über die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit gemeint ist. Der Grund für die unterschiedliche Entwicklung in Frankreich und in Deutschland ist die oben schonhervorgehobene Tatsache, daß die französische Nationalversammlung die Fülle der Gesetzgebungsgewalt besaß, während in der deutschen konstitutionellen Monarchie der Gesetzgeber auf die Regelung der Eingriffe in Freiheit und Eigentum beschränkt war. Der Gesetzesvorbehalt sollte in Deutschland also nicht primär den Grundrechtsschutz verwirklichen, sondern die Eingriffe des Gesetzgebers in die Befugnisse des Monarchen verhindern. Die Tatsache, daß dem französischen Verfassungsrecht der Gesetzesvorbehalt unbekannt ist, bedeutet natürlich nicht, daß ein entsprechender Gesetzesvorbehalt implizit nicht auch der französischen Verfassung zugrunde liegt. Angesichts der Tatsache, daß alle grundrechtsrelevanten Fragen in der Vergangenheit und in der Gegenwart vom Gesetzgeber geregelt worden sind, bestand wohl für die 102 Zu den "principes generaux du droit" vgl. de LaubadereNenezia/Gaudemet, Traite de droit administratif, Bd. I, 12. Aufl 1992, S. 557 ff. 103 Die Lehrbücher des heutigen Staats- und Verwaltungsrechts enthalten durchwegs keine Ausführungen zum Gesetzesvorbehalt Allerdings wird ein solcher Gesetzesvorbehalt in Art. 4 der Menschenrechtsdeklaration von 1789 deutlich angesprochen: "Art. 4. - La liberte consiste a pouvoir faire taut ce qui ne nuit pas a autrui: ainsi, l'exercice des droits naturels de chaque homme n'a de bornes que celles qui assurent aux autres membres de la societe la joussance de ces memes droits. Les bomes ne peuvent etre dherminees que par Ia loi." Vgl. auch Art. 1.

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ausdrückliche Entwicklung des Gesetzesvorbehaltes keine praktische Notwendigkeit. Allerdings ist hervorzuheben, daß die Menschenrechtsdeklaration von 1789 in Übereinstimmung mit Montesquieu den Grundsatz der Gewaltenteilung als wesentliches Element einer demokratischen Verfassung bezeichnet hat, und daß insbesondere in der Rechtsprechung des Conseil d'Etat der Grundsatz der Gewaltenteilung als ein wesentliches Element des Rechtsstaates entwickelt worden ist. Allerdings richtet sich dieser Grundsatz in Frankreich nicht gegen die Legislative, sondern soll vor allem Übergriffe der ordentlichen Gerichtsbarkeit in den Bereich der Verwaltung abwehren. 104 Auch diese Eigenart des französischen Verwaltungsrechts läßt sich nur durch den Rückgriff auf die Tradition der französischen Revolution erklären. Im Ancien Regime bedurften die Gesetze des Königs vor ihrem Inkrafttreten der Registrierung durch die Parlamente, also durch die obersten Gerichtshöfe. In diesem Rahmen übten die Parlamente eine beschränkte Verfassungsgerichtsbarkeit aus: Sie überprüften die Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit den Grundprinzipien der Monarchie. 105 Dieser Eingriff der Gerichtsbarkeit in die Souveränität stieß auf heftigen Widerstand der Französischen Revolution. Das ist einer der Gründe des noch heute starken Mißtrauens gegen das "gouvernement des juges", das selbst in der Gegenwart zu einer Beschränkung der Verfassungsgerichtsbarkeit und dazu geführt hat, daß der Conseil Constitutionnel sich bei seinen Entscheidungen an einen strikten self-restraint hält. In der Französischen Revolution sollte dieses Mißtrauen dazu führen, daß der oberste Gerichtshof als ein vom Parlament völlig abhängiger "Ausschuß" konstitutiert wurde: Die Richter des Kassationshofes sollten nach der Verfassung von 1793 für nur ein Jahr vom Corps legislatif ernannt werden. Natürlich war damit die Unabhängigkeit der Richter bewußt aufgehoben worden. In der Folgezeit sollte aus Gründen der Gewaltenteilung der Conseil d'Etat nicht als echtes Gericht, sondern nur als ein - wenn auch faktisch unabhängiger - Ausschuß der Verwaltung begründet werden. Er hatte nach der übereinstimmenden französischen Literatur im Gegensatz zu den deutschen Verwaltungsgerichten eben nicht die Aufgabe, die subjektiven öffentlichen Rechte und vor allem die verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte der Bürger gegen die Verwaltung zu sichern, sondern die Einhaltung der Gesetze der souveränen Nationalversammlung zu garantieren. 106

104 Vgl. Auby, Traite de contentieux administratif, Bd. li, 1975, Nr. 126 ff.; Duhamel/Meny, Droit constitutionnel et politique, 1994, S. 972; Luchaire, La Constitution de la republique fram;:aise, 1980, S. 103, 108, 118, 186, 469, 636. 105 Vgl. Holzmann, Französische Verfassungsgeschichte vonder Mitte des 9. Jh. bis zur Revolution, 1965, S. 218 ff., 349 ff. , 373 f. 106

Vgl. Chapus, Droit administratif general, Bd.1, 4.Aufl. 1988, S. 490 ff., 503 f.

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Vll. Staatstheorien der deutschen Aufldärung107 In der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts wurde das öffentliche Interesse wie im britischen Utilitarismus dieser Zeit (Bentham; James Mill sowie John Stuart Mill) 108 als Summe der Privatinteressen verstanden. 109 Grundsätzlich wurde dabei schon die moderne Meinung vertreten, dieses Allgemeininteresse richte sich auch auf den Schutz eines durch ein Grundrecht geschütztes konkretes Privatinteresse. Vereinzelt wurde dagegen vom bonum commune nur dann ausgegangen, wenn die Interessen aller Untertanen gleichzeitig betroffen waren. 110 Schließlich vertraten einige Autoren die Auffassung, der Zweck des Staates sei zwar beschränkt, es handle sich beim öffentlichen Interesse aber um einen so unbestimmten Rechtsbegriff, daß der Fürst über einen breiten Beurteilungsspielraum verfüge. 111 Auch diese Auffassung entspricht der modernen Theorie, welche das öffentliche Interesse weitgehend als unbestimmten Rechtsbegriff begreift. Dem ist entgegenzuhalten, daß durch Rückgriff auf durch die Grundrechte geschütz-te Privatinteressen das öffentliche Interesse dann definiert werden kann, wenn man das öffentliche Interesse mit der Theorie des 18. Jahrhunderts als Summe von Privatinteressen begreift: Denn der Staatszweck ist der Schutz der individuellen Grundrechte. Das Demokratieprinzip hatte im Laufe der Geschichte eine unterschiedliche Zielrichtung. Im antiken Griechenland sollte es den Gleichheitssatz durchsetzen, also die Bildung einer politischen Elite verhindern. 112 Bei JeanJacques Rousseau dient das Demokratieprinzip primär dem Selbstbestimmungsrecht der Individuen: Die Bürger sollten nur an die Gesetze gebunden sein, denen sie selbst zugestimmt hatten. Damit wurde letztlich die Tradition der mittelalter-lichen Landstände erneuert. In der Tat hat Rousseau in seinem "Contrat social" das von ihm zu lösende Problem folgendermaßen umschrieben: 113

107 Allgemeines zu den Staatstheorien der deutschen Aufklärung vgl. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979. 108

Sommer, Grundlage zu einem vollkommenen Staat, 1802, ND 1979, S. 37.

109

Jung-Stilling, Die Grundlehre der Staatswirtschaft, 1792, ND 1978, S. 20, 41.

110 111

Sommer (Anm. 108), S. 36. von Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, 1754, ND 1980, S. 710.

112

Ehrenberg, Der Staat der Griechen, 1965; Tarkianinen, (Anm. 6).

113

s. Anm. 80, S. 360.

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"Trouver une forme d'association qui defende et protege de toute la force commune la personne et les biens de chaque associe, et par laquelle chacun s'unissant a tous n'obeisse pourtant qu'a lui-meme et reste aussi libre qu'auparavant? Tel est le problerne fondamemal dont le contract social donne la solution."

Man sollte eigentlich erwarten, daß wegen der überaus starken Betonung der Freiheit in der Literatur der Aufklärung die deutschen Autoren des 18. Jahrhunderts diesem Gedanken gefolgt wären. Nach den bisherigen Forschungen ist dies nicht der Fall. Selbst Kant114 , der seine Rechtsphilosophie doch auf die Menschenwürde, die Autonomie des Menschen, aufgebaut hat, vertrat die dem Demokratieprinzip strikt widersprechende Meinung, die passive Unterwerfung unter das Gesetz begründe ein Recht auf aktive Mitwirkung bei der Gesetzgebung nicht. Damit wollte Kant seine besondere Form des Zensuswahlrechts begründen. Die Sekundärliteratur weist übereinstimmend darauf hin, daß die Rechte der Behörden im 18. Jahrhundert schon als Kompetenzen verstanden wurden, diegebündelt in einem Amt - zur Durchsetzung des Gemeinwohls durchgesetzt werden durften. 115 Zu erforschen ist in diesem Zusammenhang, ob diese Prinzipien damals auch schon auf den Souverän selbst bezogen worden sind und wie sich die damalige Literatur die Verwirklichung dieser Prinzipien dachte. Offensichtlich wurde in diesem Rahmen die Bedeutung des Demokratieprinzips noch nicht gesehen. In der mittelbaren Demokratie soll durch die Rückbindung der Abgeordneten an die Wähler sichergestellt werden, daß die staatliche Entscheidung alle durch sie betroffenen Interessen berücksichtigt und im Lichte der subjektiven Wertordnung der Grundrechtsträger sachlich-gerecht miteinander abwägt. Die Literatur stellte weitgehend nur auf die Macht der sich damals bildenden öffentlichen Meinung ab: der Fürst werde dieser folgen, wenn in der Öffentlichkeit die Vor- und Nachteile eines bestimmten Gesetzes rational dargelegt werden. 116 Dabei wurde aber wohl übersehen, daß die Interessen selbst des 'aufgeklärten' Fürsten und die Interessen des Bürgertums sich nur teilweise deckten und die öffentliche Meinung damals noch kein entscheidender Machtfaktor war. Diese Diskrepanz der Interessen und die Tatsache, daß der Fürst deshalb die Reformentwürfe der Bürger nie umfassend durchsetzte, wird in der Sekundär-

114

Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 9, Berlin 1968.

115

Vgl. etwa Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983.

Brandes, Über den Einfluß und die Wir.kungen des Zeitgeistes auf die höheren Stände Deutschland~, 1810, ND 1977; Ew~'d, UberVolksaufklärung, ihre Grenzen und Vorteile, 1790, ND 1979; von Hendrich, Uber den Geist des Zeitalters und die Gewalt der öffentlichen Meinung, 1979. 116

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Iiteratur häufig übersehen. Das gilt insbesondere für das preußische Allgemeine Landrecht und die Stein-Hardenbergsehen Reformen, die weithin als Sieg des Rechtsstaatsprinzips gefeiert werden. Dabei ging es den Fürsten primär eben nicht um den Schutz der Grundrechte der Bürger, sondern um die Aufrechterhaltung und Stärkung ihrer Macht. Die in der Sekundärliteratur vertretene Auffassung, das Schrifttum des 18. Jahrhunderts habe sich in Deutschland mit dem Absolutismus identifiziert, muß zurückgewiesen werden. Manchmal sehr radikale Forderungen nach einer Demokratisierung des Staates finden sich nicht nur in der 'schöngeistigen', sondern auch in der staatstheoretischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Diese Tendenzen verstärkten sich nach Ausbruch der französischen Revolution. 117 Insbesondere in Süddeutschland war die jakobinische Bewegung sehr stark. 118 Außerdem ist nicht zu übersehen, daß die aus dem Gesellschaftsvertrag abgeleiteten, vor allem rechtsstaatliehen Forderungen zu einer radikalen Umgestaltung des absoluten Staates geführt hätten. Nur wenige Autoren begnügen sich damit, die Demokratie als eine der möglichen Regierungsformen einfach neben die Monarchie und die Aristrokatie zu stellen. 119 In den meisten Werken kommt vielmehr zum Ausdruck, das Volk habe durch den Gesellschaftsvertrag auf die Souveränität nicht verzichtet, sie dem Souverän vielmehr nur zur Ausübung übertragen, wobei er unter der Kontrolle des Volkes stehe. Zwar sei, weil Versammlungen in der Regel nur sehr langsam arbeiteten, im Interesse eines schnellen Vollzugs die Exekutive auf den Monarchen zu übertragen. 120 Aber auf die gesetzgebende Gewalt habe das Volk nicht verzichtet. 12 1 In der Literatur des 18. Jahrhunderts finden sich schon sehr umfangreiche Aussagen zu den jeweiligen Vor- und Nachteilen der Monarchie und der Demokratie, die auch für die heutige Interpretation des Demokratieprinzips von größtem Interesse sind. Hinzuweisen ist darauf, daß die Literatur, soweit sie

117

1965.

Scheel, Jakobinische Flugschriften aus dem Süden Ende des 18. Jahrhunderts,

118 Scheel, Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, 1980. 119 V gl. Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht überhaupt und nach der Regierungsform, 1775, ND 1979, S. 48 ff., 87; von Martini, Lehrbegriff des Natur-, Staats- und Völkerrechts, 1783- 84, ND 1969, S. 400.

120

Vgl. etwa Kant, (Anm. 114), § 49.

Kant, (Anm. 114), § 46; Eberhard, Über Staatsverfassungen und ihre Verbesserung, 1793, ND 1977, S. 67, 378; Bahrdt, Rechte und Obliegenheiten der Regenten und Unterthanen in Beziehung auf Staat und Religion, 1792, ND 1975, S. 35 f ., 64, 67. 121

§ 6 Das Demokratieprinzip in der Aufklärung

65

das Demokratieprinzip vertrat, die vollziehende Gewalt dem Fürsten vorbehielt. Schon im 18. Jahrhundert ist also die konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts vorgezeichnet. Wenn die damaligen Autoren auch die Gesetzgebung dem Parlament vorbehalten wollten, wurde doch in aller Regel der Monarch als Inhaber der vollziehenden Gewalt angesehen und in den höchsten Tönen gefeiert. So heißt es etwa bei Ancillon122 "Das Schöne und Erhabene der monarchischen Form besteht in der allgemeinen Überzeugung, daß nicht allein für die Dauer und die Sicherheit des Staats gesorgt wird, indem die erste Stelle, unwiderruflich besetzt, den Leidenschaften der Einzelnen einen unübersteiglichen Damm entgegen setzt, sondern, daß es im Staate einen Willen gibt, den man immer als rein annehmen kann, weil er mit dem Wohl des Staats notwendig identisch ist, und sein muß. Der König besitzt Alles, was die Menschen von äußern Umständen begehren. Durch das Erbfolgegesetz und seine Familiengesetze ist er sogar für die Zukunft mit dem Staate identifiziert. Folglich müssen beide Interessen immer zusammentreffen."

Vor allem wird schon in der damaligen Literatur bemerkt, daß das Staatsoberhaupt die Einheit des Staates oder der Nation repräsentiert und damit die Unteilbarkeit des Staates gewährleistet. 123 Allerdings werden auch die Nachteile der Monarchie durchaus in Übereinstimmung mit der modernen Theorie gesehen. Ancillon schreibt dazu: 124 "Da man, in der Regel, annehmen kann, und annehmen muß, daß die Könige nie das Böse, sondern wirklich das wahre Wohl des Staates wollen, weil sie zu erhaben stehen, und zu reich an Macht und an Mitteln dotirt sind, um durch das Unrechtmäßige etwas gewinnen zu können, so haben sie eigentlich nur zweierlei zu befürchten, nehmlich die Einseitigkeit der Unsichten und Beschüsse, und den Egoismus oder die Leidenschaften der Beamten. Gegen Beide sichern die repräsentativen Formen. Denn berathschlagende Repräsentanten führen allemal Vielseitigkeit herbei, und der Egoismus der Beamten wird bei solchen Formen zu leicht entlarvt und entdeckt, um sich nicht selbst zuletzt verläugnen zu müssen. Allein, damit die Repräsentanten wirklich mit der gehörigen Muße, Nüchternheit und Besonnenheit die wichtigen Staats-Fragen erörtern, muß einerseits ihre Versammlung nicht zu zahlreich sein, andererseits dieselbe aus den wohlhabendsten und gebildetesten Klassen genommen werden, und in der Versammlung muß eine Geschäftsführung statt finden, welche denruhigen Gang der Verhandlungen sichere. Es ist ausgemacht, daß das Volk sich nicht dazu eignet, über wichtige Fragen zu

Ancillon, Über den Geist der Staatsverfassung, 1825, S. 131. Vgl. etwa Ancillon, Über die Staatswissenschaft, 1820, S. 87; Eberhard (Anm. 121), S. 67. 122

123

124

Ancillon, (Anm. 123), S. 127 f.

5 Bleckmann

66

1. Teil: Historische Entwicklung discutiren. Daher auch in den alten Republiken das Volk immer ein blindes Werkzeug in der Hand seiner Anführer war, sei es nun der Gewalthaber, oder Derer, die nach der Gewalt streben. Auch die repräsentativen Versammlungen sind sehr oft in Volksversammlungen ausgeartet, wenn man nicht alle möglichen Vorsichtsmaßregeln anwendete, dieses Uebel zu verhindern.

Die Deputirten in den repräsentativen Verfassungen sind Stellvertreter der NationalInteressen, und nicht der einzelnen Oerter oder Provinzen, noch weniger der einzelnen Individuen. Sie müssen die einzelnen Interessen derselben kennen und wahrnehmen, aber sie sind berufen, das allgemeine National-Interesse zu vertreten. Sie bedürfen auch keiner andern lnstruction. Wären sie durch besondere positive Instructionen gebunden, so wäre die Berathschlagung unnöthig, ja unmöglich. Dann wäre es einfach und besser, aus den lnstructionen die Meinung der Majorität zusammenzusetzen. Und doch ist die Berathschlagung eigentlich der wichtigste Vortheil der repräsentativen Verfassungen. Diese Berathschlagungen führen zur Wahrheit; Erörterungen befördern Einsicht und Umsicht."

Sieht man einmal von wenigen Autoren ab, bestanden im 18. Jahrhundert kaum präzise Vorstellungen über die Wahl und Zusammensetzung des zu schaffenden Parlaments. Teilweise wurde auf die alte Idee der Reichs- und Landstände zurückgegriffen, teilweise wurde auch schon die Vorstellung eines modernen Parlamentarismus vertreten. Dieses Problem ist noch wenig erforscht. 125 Das Demokratieprinzip hat im Laufe der Zeit sehr unterschiedliche Funktionen gehabt. Bei Marsilius von Padua (Defensor pacis) diente dieser Grundsatz der Legitimation der weltlichen Gewalt gegenüber dem Papsttum: Durch den Rückgriff auf die demokratische Legitimation der Fürsten sollte die Auffassung der Kirche widerlegt werden, die weltliche Gewalt sei den Fürsten durch Gott und damit vom Papst übertragen werden und so der kirchlichen Gewalt untergeordnet. Bei Thomas Hobbes, John Locke und den Monarchomaehen in Frankreich, also zu Beginn der Entwicklung der modernen Gesellschaftsvertragstheorien, sollte das Demokratieprinzip das Widerstandsrecht des Volkes begründen. Eigentlich erst Jean-Jacques Rousseau hat nach antikem Vorbild das Demokratieprinzip wieder so verstanden, daß es den Aufbau des Staatsapparats selbst bestimmt. In der deutschen Aufklärung sollte dieses Modell eine wichtige Rolle spielen. Während in der heutigen Lehre und Rechtsprechung das Staatsorganisationsrecht weitgehend nur als Endzweck begriffen wird, 126 hat die Literatur des 18. Jahrhunderts durchaus nach den letzten Zwecken der Staatszielbestimmun-

125

Vgl. etwa Ancillon, (Anm. 123), S. 94 ff.

Vgl. aber von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteresse, 1977, der sich bemüht, die Ziele etwa des Demokratieprinzips klar herauszuarbeiten. 126

§ 6 Das Demokratieprinzip in der Aufklärung

67

gen, insbesondere des Demokratieprinzips gefragt. Bekannt ist, daß nach der Auffassung von John Locke die gesetzgebende Gewalt in der Hand eines vom Volke gewählten Parlaments liegen muß, weil er annahm, die Abgeordneten würden sich um eine den öffentlichen Interessen entsprechende Regelung bemühen, wenn sie selbst an das von ihnen erlassene Gesetz gebunden wären. Locke führte aus: 127 "Therefore in well-ordered Commonwealths, where the good of the whole is so considered, as ist ought, the Legislative power is put into the hand of diverse persons who duly assembled, have by themselves or jointly with others a Power to make Laws which when they have done, being seperated again, they are themselves subject to the Laws, they have made, which is a new and near tie upon them, to take care, that they make them for the public good."

Auch bei Jean-Jacques Rousseau wird deutlich, daß das Demokratieprinzip die Gewähr für die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung bieten soll. Denn wenn die volonte generale, d. h. aber das Allgemeininteresse, selbst in der unmittelbaren Demokratie verfehlt werden könne, sei das Demokratieprinzip doch die notwendige Voraussetzung für eine richtige Definition dieser Allgemeininteressen. Und lmmanuel Kant führte in seiner "Metaphysik der Sitten" aus:1zs "Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht thun können. Nun ist es, wennjemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht thue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti nun fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, so fern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden eben dasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein. "

Ähnlich klar äußert sich von JustP29 : "Sich selbst regieren besteht darinnen, daß man sich selbst Gesetze giebt; und wenn die Menschen in den bürgerlichen Verfassungen die Gesetzgebung sich selbst vorbehalten und blos zur Vollziehung der Gesetze eine Regierung über sich setzen; so thun sie dasjenige, was verständigen und freyen Wesen, die in bürgerlichen Gesellschaften mit einander leben wollen, gemäß ist .. . Die Bürger eines Staates sind auch allemal zur Gesetzgebung besser geschickt als die weiste Regierung jemals seyn kann. Niemand kann ihren Zustand, ihre Bedürfnisse,

127 Locke, (Anm. 48), Ch. XII, Nr. 143 a.E. 128 s. Anm. 114, § 46 a.E. 129 von Justi, Gesammelte und politische Finanzschriften, 1764, ND 1970, Bd. 2,

s. 1820, s•

1823.

68

1. Teil: Historische Entwicklung ihre Noth, ihre Kräfte besser kennen, als sie selbst; und die Einfalt der Bürger ist in dieser Gesetzgebung niemals ein Hindernis".

Der eigentliche Kern der Richtigkeitsgewähr ist allerdings klar erst ganz zum Ende der Aufklärung von Friedrich Ancillon herausgearbeitet worden. In der Tat gewährleistet das Demokratieprinzip, daß alle durch die staatliche Entscheidung betroffenen Privatinteressen im Lichte der Wertordnung der Grundrechtsträger hinreichend berücksichtigt und sachlich-gerecht miteinander abgewogen werden. Ancillon schreibt in seinem Werk "Über die Staatswissenschaft": 130 "Sobald alle National-Interessen gehörig vertreten sind, und ihnen eine gesetzliche Stimme verliehen wird, kann man auch annehmen, daß keines unbeachtet, vernachläßigt und verwahrlost sein wird, sondern daß sie alle, gepflegt und gegen einander abgewogen, ihre Ausgleichung fmden werden."

An anderer Stelle (S. 45 - 46) heißt es: "Im Allgemeinen lassen sich aus dem gemeinsamen Zweck aller bürgerlichen Gesellschaften nur folgende Sätze mit der größtmöglichen Sicherheit und Allgemeinheit ableiten. Die Gesetze eines Staats sind nur dann zweckmäßig, wenn sie eine möglichst strenge Ausgleichung der Interessen aller Stände und Klassen der Gesellschaft aufstellen. Aus einer solchen Ausgleichung gehet das allgemeine Interesse, oder das Interesse des Gemeinwesens hervor. Ein Jeder bringt demselben Opfer, aber ein Jeder erhält auch Opfer von den anderen, und so wird keiner aufgeopfert, sondern vermittelst dieses wechselseitigen Ernpfarrgens und Gebens werden die Rechte Aller nicht allein beschützt, sondern auch noch erweitert, und aus dieser wechselseitigen Beschränkung und Ausdehnung geht die bürgerliche Freiheit hervor. Die Gesetze tragen nur dann den Charakter der höchsten Zweckmäßigkeit, wenn die Formen der Gesetzgebung Vielseitigkeit der Einsichten und Berücksichtigung aller Interessen mit sich bringen. Alle Interessen werden nur gehörig erkannt und erwägt, wenn sie gehörig zur Sprache gebracht und vertreten werden. Eine auf diese Verschiedenheit der Interessen sich gründende Organisation der gesetzgebenden Gewalt giebt das sicherste Mittel ab, um zu diesem Zweck zu gelangen. Der Antheil, den die verschiedenen Stände an der Gesetzgebung haben, es sei mittelbar oder unmittelbar, bestimmt den Grad der politischen Freiheit eines Volks."

Die Richtigkeitsgewähr des Demokratieprinzips wird noch einmal (S. 54) betont: 130

s. Anm. 123, S. 89.

§ 6 Das Demokratieprinzip in der Aufklärung

69

"So wie bei dem einzelnen Menschen das unterscheidende, karakteristische, höchste, die Vernunft ist, so im Staat die gesetzgebende Gewalt. Sie ist in ihm das Princip des Lebens, sie bildet das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft, von ihr geht alles aus, was zur Sicherstellung und Erhaltung der Freiheit als notwendig erkannt wird."

Ähnliche Erwägungen finden sich im Buch von Ancillon über den "Geist der Staatsverfassung": 131 "Dazu sind repräsentative Formen ganz besonders geeignet, nicht allein, um die allgemeinen und besondern Bedürfnisse dem Throne zu bezeichnen, sondern auch sowohl die verschiedenen Zwecke der Regierung, als auch die Hindernisse, die ihnen entgegenstehen, und die Mittel, zu ihnen zu gelangen, gehörig abzuwägen und zu beleuchten. Aber die Repräsentanten des Volks können ebenfalls irre gehen oder irre geführt werden, sei es durch Meinungen oder durch Leidenschaften. Sie müssen also dermaßen organisirt oder constituirt sein, daß die Gesetzvorschläge inuner durch mehrere Instanzen gehen, und daß hier immer eine vielfache Läuterung und Sichtung statt finde. Auch müssen ihnen, wenn sie gesetzwidrig verfahren und alles an sich ziehen wollten, heilsame Schranken gesetzt werden können. Daher, bei vielen Völkern, die Eintheilung der Stände in der Repräsentation, und zurnal die verschiedene Zusammsetzung der integrirenden Theile derselben. "

WennHegelauch nicht mehr der Aufklärung im engeren Sinne zugerechnet werden kann, soll doch hervorgehoben werden, daß er sich der Richtigkeitsgewähr des Demokratieprinzips durchaus bewußt war: Im Vorgriff auf die Theorie der öffentlichen Meinung von John Stuart Mill (On liberty) sah er in der Diskussion im Parlament die notwendige Voraussetzung für eine Annäherung an die Wahrheit. Shlomo Avineri132 schreibt dazu: "Die Beratungen im Parlament haben auch eine andere Funktion: Die Wahrheit ergibt sich im Verlaufe eines dialektischen Prozesses und ist niemals etwas apriori Gegebenes. Parlamentsdebatten mit ihrem Für und Wider sind deshalb ein geeignetes Mittel, um die Wahrheit und das, was für den Staat am besten ist, ans Licht zu bringen. In einer an später von John Stuart Mill vorgetragenen Überlegungen erinnernden Passage meint Hegel: 'Es herrscht in der Regel die Vorstellung, das alle schon wissen, was dem Staat gut sei, und daß es in der Ständeversammlung nur zur Sprache komme; aber in der Tat findet gerade das Gegenteil statt: Erst entwickeln sich Tugenden, Talente, Geschicklichkeiten, die zu Mustern zu dienen haben. ' Darin sieht Hegel zugleich auch ein Argument gegen die Nichtöffentlichkeit von Parlamentsdebatten."

In der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts bestand eine starke Tendenz, die Gesetzgebung einem gewählten Parlament vorzubehalten. Dabei ging die 131

s. Anm. 122, S. 132.

132

Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates, 1976, S. 197.

70

1. Teil: Historische Entwicklung

Literatur einstimmig davon aus, daß der Monarch und seine Beamten an die Gesetze gebunden sind. Allgemein wird man aber feststellen dürfen, daß nicht erst im 19. Jahrhundert, sondern schon im 18. Jahrhundert in der Lehre eine Tendenz bestand, das Demokratiedefizit durch Rückgriff auf das Rechtsstaatsprinzip auszugleichen: Eine Tendenz, die in neuerer Zeit auch auf der supranationalen Ebene der EG zu beobachten ist, die historisch indes wiederum einen deutschen Sonderweg umschreibt. Frühzeitig hat sich das Rechtsstaatsprinzip nur in Deutschland durchgesetzt. Erst in neuerer Zeit wird es in anderen Mitgliedstaaten der EG, vor allem in Frankreich133 , auf der Ebene der EG134 und für die EMRK vertreten. 135

§ 7 Die Entwicklung des Demokratieprinzips

im 19. Jahrhundert

I. Die liberale Richtung Die überaus vielfältigen Ansätze zur Rechtfertigung des Demokratieprinzips aus seinem dreifachen Zweck, die im 18. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland entwickelt worden waren, gerieten in der Literatur des 19. Jahrhunderts vor allem in Deutschland weitgehend wieder in Vergessenheit. Insoweit die Autoren der Geschichte der Staatswissenschaft, etwa Bluntschli136 und von Mohl137 , die Literatur des 18. Jahrhunderts überhaupt erwähnen, handelt es sich fast durchwegs nur um die auch heute noch bekannten großen Namen Wolff, Kant, Fichte und Hege!; die für die Aufklärung in Deutschland typische Phalanx der mittleren Autoren, die in ihrer Gesamtheit die Größe der deutschen Tradition ausmachte, wurde durchweg nicht einmal mit ihrem Namen zitiert. Soweit die Autoren in Deutschland nach dem Vorbild des Anstoteies die Problematik der besten Staatsform überhaupt behandelt

133 Redor, De l'Etat legal a l'Etat de droit, 1992; Duhamel/Meny, Dictionnaire constitutionnel, 1992, Stichwort "Etat de droit", S. 415.

134 Vgl. Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rdnr. 764 ff.

135 Vgl. Bleckmann, Der Rechtsstaat in vergleichender Sicht, Jahrbuch für internationales Recht, Bd. 20, 1977, S. 406 ff. 136 Bluntschli, Geschichte der neuen Staatswissenschaft, 1881, 2. Neudruck der 3. Aufl. 1964. 137

Mahl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, 1855, ND 1960.

§ 7 Die Entwicklung des Demokratieprinzips im 19. Jahrhundert

71

haben und nicht etwa wie Georg Jellinek138 durch die einfache Aufzählung der Staatsformen deren Gleichwertigkeit zu betonen scheinen, bleibt die wissenschaftliche Behandlung rein formal; sie geht also auf die Ziele des Demokratieprinzips und auf die Vor- und Nachteile der verschiedenen Staatsformen grundsätzlich nicht mehr ein. Das gilt nicht nur für das Staatsrecht, welches sich vor allem unter dem Einfluß Gerbers 139 und Laband140 soweit positiviert hat, daß es folglich nur noch Rechtsbegriffe behandelt, so daß die politikwissenschaftlichen Aspekte der Staatswissenschaft der Allgemeinen Staatslehre vorbehalten werden mußten. Vielmehr findet sich auch in den Werken der Allgemeinen Staatslehre um 1900, also etwa bei Georg Jellinek und Walter Schmitt, eine Beurteilung der aus diesem Zweck resultierenden Probleme nicht. Auf der einen Seite behandelt etwa Paul Laband unter der Überschrift "Gesetzgebung des Reichs" 141 im einzelnen nur die Definition des formellen und materiellen Gesetzes und die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen dem Bund und den Ländern und zwischen der Exekutive und dem Reichstag. Walter Schmitt stellt in seiner 1901 erschienen Allgemeinen Staatslehre der klassischen Tradition folgend die verschiedenen Staatsformen nur gegenüber (vgl. S. 259 ff.). Etwas ähnliches gilt für die 1900 in erster Auflage erschienene Allgemeine Staatslehre von Georg Jellinek. 142 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war dagegen die Diskussion um die Zwecke des Demokratieprinzips noch äußerst lebendig. Carl von Rotteck etwa schließt sich in seinem 1840 in erster Auflage erschienen zweiten Band des "Lehrbuchs des Vernunftsrechts und der Staatswissenschaften"143 zunächst den von Rousseau begründeten Ansätzen an. Nach seiner Auffassung darf der Staat nur handeln, wenn diese Tätigkeit auf die Durchsetzung des Staatszwecks gerichtet ist, weil die Bürger sich nur insoweit dem Staat unterworfen haben:144 "Die Bürger haben sich durch den Vereinigungsvertrag nur dem allgemeinen Willen unterworfen, und nur zu der Erstrebung der Staatszwecke, sie bilden eine Gesellschaft, und diese ist nach ihrem Begriff ein Gemeinwesen, eine Republik.

138

Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudruck 1960.

139

von Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1869.

140

Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 3 Bde., 1876- 1882.

141

s. Anm. 140, Bd. li, S. 121 - 124.

142

s. Anm. 138, S. 287 ff.

143

ND 1964, S. 179 ff.

144 von Rotteck, (Anm. 143), Bd. 2, S. 181.

72

1. Teil: Historische Entwicklung Die Idee einer guten Verfassung besteht also darin, daß - wer immer Regent oder stellvertretendes Souverän sei - doch nur der allgemeine Wille regiere, niemals aber ein Privatwille weder der Regenten noch der Bürger. Es ist daher Gerechtigkeitspflicht aller gegen jeden Einzelnen, den Staat nach ihrem besten Wissen so einzurichten, daß die Herrschaft des allgemeinen Willens verbürgt und dergestalt die Rechte aller Einzelnen wahrhaft gesichert werden. Welche Verfassung die Idee einer guten Constitution verleugnet, oder offenbar vorwirft, namentlich das Prinzip der Herrschaft des Privatwillens des Gebietenden aufstellt, dieselbe ist ungerecht, oder für den Staat rechtlich ganz unmöglich. Welche Verfassung jener Idee- gleichwohl eine derselben so wenig entsprechende Einsetzung enthält, daß durch dieselbe notwendig der allgemeine Wille vernichtet und bloß der Privatwille herrschend gemacht wird, d. h. welche Verfassung gar keine natürliche oder positive Garantie dafür darbietet, daß die Regentenwillkür durch den wahren allgemeinen Willen beschränkt oder bestimmt werde; dieselbe ist ungerecht, wenigstens in sofern man die Notwendigkeit jener Wirkung einsieht. ... "

In dieser Passage wird gleichzeitig deutlich, daß Rotteck unter Rückgriff auf Rousseau verfassungsrechtliche Sicherungen verlangt, welche die Durchsetzung des Allgemeinwillens automatisch gewährleisten. Unter diesem Aspekt untersucht Rotteck anschließend die bekannten historischen Staatsformen. Als beste Verfassung sieht Rotteck in Übereinstimmung mit der damaligen Verfassungslage in fast allen europäischen Staaten die konstitutionelle Monarchie, also dem Ansatz von Aristoteles folgend, eine Mischung von Demokratie und Monarchie an. Nur die Einschaltung des Demokratieprinzips gewährleiste zwar grundsätzlich die richtige Definition und die Durchsetzung der volonte generale. Die reine Demokratie aber neige wie jede andere Machtzusammenballung zur Zerrissenheit und verfehle deshalb den Allgemeinwillen. Sie müsse den Prinzipien der Gewaltenteilung, der gemischten Staatsform des Aristoteles entsprechend durch die Einfügung eines monarchischen Elements beschränkt und so gebändigt werden. 145 Ganz ähnlich äußerst sich Johann Kaspar Bluntschli schon in der ersten Auflage seines 1852 erschienenen Allgemeinen Staatsrechts; diese Ausführungen finden sich noch in der 6. Auflage des 1886 erschienenen Werkes zur "Allgemeinen Staatslehre" . 146 Auch er schließt sich aus denselben Gründen wie Rotteck der Auffassung an, die beste Staatsform stelle die gemischte Verfassung der konstitutionellen Monarchie dar, in welcher die Demokratie durch das monarchische Prinzip gebändigt werde. Denn die reine Demokratie sei maßlos; der Bürger könne ferner die Komplexität der Sachverhalte nicht erkennen. 145

von Rotteck, (Anm. 143), S. 202.

146

ND 1965, S. 570 ff.

§ 7 Die Entwicklung des Demokratieprinzips im 19. Jahrhundert

73

Eine nicht so eingehende Beurteilung des Demokratieprinzips findet sich in dem 1849 in zweiter Auflage erschienen Staatslexikon von Rotteck!Welcker. Unter dem Stichwort "Demokratieprinzip" 147 wird zwar festgehalten, daß dieser Grundsatz aus den Zielen des Staates folge. Warum dies der Fall ist, wird aber nicht mehr näher ausgeführt. Die wesentlichen Teile dieses Stichworts sind an der Klärung des Gleichheitssatzes ausgerichtet, der als wesentlicher Bestandteil des Demokratieprinzips hervorgehoben wird. Allerdings finden sich auf den Seiten 707 und 710 die Vor- und Nachteile des Demokratieprinzips aufgelistet. In seinem 1835/40 erschienenen Werk "De la democratie en Amerique" 148 hat Alexis de Tocqueville die Entwicklung der Demokratie in Amerika auf den Nenner gebracht. Hinzuweisen ist insoweit vor allem auf zwei Aspekte. Wenn de Tocqueville entgegen der Auffassung der Konservativen auch die Demokratie mit den Klassikern als eine notwendige Voraussetzung von Gleichheit und Freiheit ansieht, warnt er doch die Liberalen, durch die wachsende Zentralisierung der Allmacht des Parlaments werde die Freiheit zunehmend gefahrdet. Die Demokratie führe zwar durch eine Angleichung der Lebensverhältnisse zur Verwirklichung des Gleichheitssatzes, habe aber zur notwendigen Folge eine wachsende Beschränkung der Freiheit. Gleichheit ohne Freiheit aber verletzte die Menschenwürde ebenso wie Freiheit ohne Gleichheit. Als Gegenmittel gegen eine solche Entwicklung empfiehlt Tocqueville die Stärkung der Gemeinden. Letztlich entscheidend für die Freiheit aber sei eine freie, funktionellere Presse. Mayer149 zeigt auf, daß Tocqueville den klassischen Philosophien entsprechend als Ziel des Staates die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit sieht: "Tocqueville hegte den tiefen Glauben, daß der Mensch seinem Wesen nach frei und gleich ist. Nur wenn es einer staatlichen Ordnung gelingt, diese beiden wesentlichen Eigenschaften institutionell zu garantieren, schien ihm die Würde des Menschen unverletzlich sicher zu sein. Nur von diesen Voraussetzungen her sind die Lehren von Staat und Gesellschaft, die der abendländische Geist Tocqueville zu danken hat, überhaupt zu verstehen."

147

Bd. III, S. 765 ff.

Deutschsprachige Ausgabe "Über die Demokratie in Amerika", dtv-Bibliothek, 176, Manesse Bibliothek der Weltgeschichte; vgl. auch die zusammenfassende Würdigung bei Mayer, Alexis de Tocqueville, Analytiker des Massenzeitalters, 3. Aufl. 1972; Jardin, Alexis de Tocqueville, 1991; Pisa, Alexis de Tocqueville, Prophet des Massenzeitalters, 1984; Hereth, Alexis de Tocqueville, 1991. 148

149

s. Anm. 148, S. 22.

1. Teil: Historische Entwicklung

74

Mayer umreißt die Darstellung der zunehmenden Machtfülle des Staates bei Tocqueville folgendermaßen: 1 ~ "Mit der zunehmenden Zentralisation der Staatsmacht wird diese auch inquisitiver und detaillierter (plus inquisitative et plus detaillee): Überall dringt sie mehr als je in Privatangelegenheiten ein; sie regelt in ihrer Weise mehr Handlungen und vor allem unwichtigere, und sie stellt sich tagtäglich dem Individuum zur Seite, umgibt es, ist über ihm, um ihm beizustehen, es zu beraten, und es in Schach zu halten."

II. Die konservativen Theoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts

In den vorangehenden Abschnitten haben wir vor allem auf die progressiven, d. h. auf die liberalen Theoretiker der Staatswissenschaft zurückgegriffen. Die Darstellung bliebe aber unvollständig, wenn wir nicht kurz auf die konservativen Staatswissenschaftler einen Blick werfen würden. Diesen Theoretikern ist durchwegs eine überaus starke emotionale Bindung an das Monarchieprinzip eigen; überwiegend stützen sie sich auf die christliche Religion. Sie übernehmen zumindest teilweise die wesentlichen Prinzipien der französischen Revolution und der Aufklärung; einerseits weil die historische Entwicklung nicht mehr rückgängig zu machen ist, teils aber auch, weil sie erkannt haben, daß diese Prinzipien in der Lage sind, die Monarchie erheblich zu stärken. Durch dieses "Umfunktionieren" aber werden die Prinzipien der Aufklärung teilweise erheblich modifiziert.

1. Der deutsche Sprachraum Für den deutschen Sprachraum wird man insoweit auf die Stein-Hadenbergschen Reformen und auf die Schriften von Haller und Stahl zurückgreifen müssen. a) In der Literatur werden die Stein-Hadenbergschen Reformen als "Revolution von oben" und damit als Durchbruch der demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien gefeiert. 151 Wenn dies historisch angesichts der Übereinstimmung des Inhalts der Prinzipien auch richtig ist, übersieht diese Auffas-

150

s. Anm. 148, S. 42.

Zur Stein-Radenbergsehen Reform vgl. vor allem: Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 1987; Ritter, Stein, 3. Auf!. 1958; Nolte, Staatsbildung als Gesellschaftsform, 1990; von Unruh, Die Veränderungen der Preußischen Staatsverfassung durch Sozial- und Verwaltungsreformen, in: Kurt Jeserich/Hans Rohe/v. Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte Bd. I, 1983, S. 399 ff. 151

§ 7 Die Entwicklung des Demokratieprinzips im 19. Jahrhundert

75

sung auch, daß diese Grundsätze nicht im Interesse des Volkes übernommen worden sind, im Hintergrund vielmehr die Interessen des mit dem Staat identifizierten Fürsten an der Aufrechterhaltung und Stärkung seiner Macht stehen. In den verschiedenen Denkschriften des Freiherrn vom Stein ging es allerdings primär nicht um das Interesse des Fürsten, sondern um das Gemeinwohl. Dieser Ansatz wird zunächst in einem Schreiben Steins an Hardenberg vom 6. Dezember 1807 deutlich: 152 "Ich halte es für wichtig, die Fesseln zu zerbrechen, durch welche die Bürokratie den Aufschwung der menschlichen Tätigkeit hemmt, jenen Geist der Habsucht, der schmutzigen Vorteile, jene Anhänglichkeit ans Mechanische zu zerstören, die diese Regierungsform beherrschen. Man muß die Nation daran gewöhnen, ihre eigenen Geschäfte zu verwalten und aus jenem Zustand der Kindheit herauszutreten, in dem eine immer unrichtige, immer dienstfertige Regierung die Menschen vertraut ... "

Hinzuweisen ist in diesem Rahmen auch auf den Bericht der Minister Schroetter und Stein vom 9. April 1808, in dem es heißt: 153 "Nach Eurer Königlichen Majestät landesväterliehen Absicht soll die Verfassung so gebildet werden, daß durch solche die städtische Gemeinde und ihre Vorsteher nur von den Fesseln unnützer schwerfälliger Formen befreit werden, sondern auch ihr Bürgersinn und Gemeingeist, der durch die Entfernung von aller Teilnahme an der Verwaltung der städtischen Angelegenheiten vernichtet wurden, wie er neues Leben empfängt."

Etwas weiter heißt es: 154 "Der Bürger hatte weder Kenntnis vom Gemeinwesen noch Veranlassung, dafür zu wirken, selbst nicht einmal einen Vereinigungspunkt. Eifer und Liebe für die öffentlichen Angelegenheiten, aller Gemeingeist, jedes Gefühl, dem Ganzen ein Opfer zu bringen, mußten verloren gehen. Selbst Bürger zu sein, ward längst nicht einmal mehr für Ehre gehalten. Man erwarte dagegen alles vom Staate, ohne Vertrauen zu seinen Maßregeln und ohne wahren Enthusiasmus für die Verfassung. Das Gemeinwesen der Stadt ist daher auch seit geraumer Zeit nicht fortgeschritten, sondern mehr oder minder zurückgekommen ... "

b) Ludwig von Haller hat in seinem sechsbändigen, in zweiter Auflage 1820 erschienenen Werk über die "Restauration der Staatswissenschaft" 155 die Grundzüge des konservativen Denkens der Restauration gelegt, die zusammen 152 vom Stein, Ausgewählte politische Briefe und Denkschriften, hrsg. i.A. der Freiherr von Stein-Gesellschaft von Botzenhart und lpsen, 2. Aufl 1986, S. 171. 153

vom Stein (Anm. 152), S. 174.

154

vom Stein (Anm. 152), S. 176.

155

Haller, Restauration der Staatswissenschaft, Bd. 6, 2. Autl 1820, ND 1964.

76

1. Teil: Historische Entwicklung

mit den Werken von Burke, Hegel und Herder auch die deutsche Romantik stark beeinflussen sollte. Im ersten Band dieses Werkes legt Haller die methodischen Grundlagen für seine weitere Arbeit fest. Haller greift vehement die Gesellschaftsvertragstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts an, weil sie auf der einen Seite den Staat entgegen der historischen Erfahrung als eine künstlich konstruierte Maschine begreifen, die bestimmten Zwecken zu dienen bestimmt ist; auf der anderen Seite aber habe der Verlauf der Französischen Revolution eindrücklich gezeigt, daß diese metaphysischen Verfassungsprinzipien jede Nation ins Unglück stürzen müßten. Statt auf die philosophischen Spekulation will Haller deshalb seine Theorie empirisch auf die Erfahrung der Geschichte stützen. Er führt aus: 156 "Ist aber jene ganz bisher vorgetragene und widerlegte Theorie falsch, naturwidrig, unmöglich, mit allem was je bestanden hat, ja sogar mit sich selbst in offenbarem Widerspruch; lassen sich die Staaten nicht aus der Distinction zwischen einem sogenannten Stand der Natur und dem Stand der Gesellschaft, nicht aus einem bürgerlichen Contrat und der vom Volke delegierten Gewalt ableiten: So muß ein anderes rechtliches Fundament aufgefunden werden, um sowohl die Existenz der Staaten als alle aus diesem Verhältnis fließenden Rechte und Verbindlichkeiten befriedigend erklären zu können; denn durch einen bloßen Zufall, ohne alles (natürliche) Gesetz, mit lauter Unrecht, können sie auch nicht entstanden sein, sonst wären sie nicht so allgemein. Aus der historischen Erfahrungen aber ergeben sich, daß die gesellschaftlichen Pflichten und damit auch die Befugnis der Herrscher aus der Natur der Sache, letztlich aus den Plan Gottes fließen (S. 251). Daß es also durch die bloße Natur gesellige Verhältnisse gebe und geben müsse, ist nicht nur durch die Vernunft und allgemeiner Erfahrung bewiesen, sondern auch heutzutage ziemlich angenommen. Gleichwie aber die Natur diese Bande des Menschen durch Verschiedenheit der Kräfte und wechselseitige Bedürfnisse knüpft, so schaffet sie auch notwendigerweise in jedem derselben Herrschaft und Abhängigkeit, Freyheit und Dienstbarkeit, ohne welche jene Verbindungen gar nicht bestehen können. Sie macht die einen Menschen abhängig, die anderen unabhängig, die einen dienstbar, die anderen frey. . . "

Durch eine umfangreiche Untersuchung der bestehenden Verhältnisse in zahlreichen Staaten gelangt Haller also zu dem Ergebnis, daß der Fürst eigene, ihm vom Volk nicht übertragene Herrschaftsrechte besitze. Nach seiner Auffassung kann die beste Verfassung nicht durch die Abwägung aller Vor- und Nachteile der verschiedenen Staatsformen gefunden werden, weil diese Vorund Nachteile sich gleichmäßig auf alle Staatsformen verteilen.

156

Ebd., S. 337 ff.

§ 7 Die Entwicklung des Demokratieprinzips im 19. Jahrhundert

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Haller sieht entscheidende Unterschiede zwischen den monarchischen und den demokratischen Staaten (Republiken): Der Fürst wird weitgehend einer Privatperson gleichgestellt. Er kann deshalb nur die Befugnisse ausüben, die ihm von den Untertanen eingeräumt worden sind oder die der Natur des jeweiligen Unterordnungsverhältnisses entsprechen. Deshalb ist in der Monarchie die Konskription ausgeschlossen und dürfen dort Steuern nur aufgrund einer Bewilligung durch die Landstände erhoben werden. Damit ähnelt das System von Haller weitgehend der Rechtslage im Mittelalter. In der Tat verwirft dieser Autor nicht nur die Gesellschaftsvertragstheorien, sondern auch das Souveränitätsprinzip des modernen Staates. Damit kaum in Übereinstimmung ist allerdings, daß auch der Monarch das Gesetzgebungsrecht besitzt. Im Gegensatz zu der Monarchie besitzen die Republiken eine umfassende Hoheitsgewalt, die der Souveräntiät angenähert ist. Das beruht nach Haller auf der Tatsache, daß die Demokratien auf dem Willen des Volkes beruhen. Hier greift Haller schließlich doch wieder, wenn auch nur verschleiert, auf eine Art Gesellschaftsvertragstheorie zurück. Haller prüft die Vor- und Nachteile der einzelnen Staatsformen nicht. Doch kommt er zu dem Ergebnis, daß die Monarchie nicht nur die häufigste, sondern auch die dauerhafteste Staatsform sei.

c) Das Werk von Louis de Bonald und Joseph de Maistre zielt für Frankreich in eine ähnliche Richtung und beruht auf derselben pseudohistorischen und religiösen Methode wie die Staatstheorie Hallers. Gemeinsam ist all diesen Autoren die Ablösung der spekulativen Vernunft durch den Rückgriff auf die Geschichtswissenschaft. Der grundlegende Irrtum Hallers besteht offensichtlich darin, daß aus der Tatsache, daß in den verschiedenen Stadien der historischen Entwicklung immer eine bestimmte Person die Macht ausgeübt hat, auf die "Rechtmäßigkeit'' dieser Macht nicht geschlossen werden kann, wenn man grundsätzlich der Auffassung folgt, daß das Recht nicht allein eine Funktion der Macht darstellt. Der Gedanke Hallers, die Tatsache, daß solche Machtbefugnisse allgemein anzutreffen sind und folglich alle Regierungsformen ohne seinen Ansatz rechtswidrig seien, trägt schon deshalb nicht, weil sonst eine solche Theorie jede Staatsform legitimiert, auf der anderen Seite aber - historisch gesehen - alle Machthaber es für erforderlich gehalten haben, ihre Macht auf eine bestimmte Legitimationsgrundlage zu stellen. Die Organismustheorie nahm dabei bisweilen irrationale Züge an. So leugnete etwa Adam Müller die klassische, insbesondere während der Aufklärung vertretene Auffassung, der Staat müsse künstlich wie eine Maschine auf einen bestimmen Zweck hin konstruiert werden. Seiner Auffassung nach ist der Staat vielmehr ein lebendiges Wesen, das begrifflich überhaupt nicht erfaßt werden könne:

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1. Teil: Historische Entwicklung "Für diese (für die Aufklärer) gibt es eine Kunst des Staatenbaus, wie des Orgelbauens oder des Uhrmachers; und darin besteht nun die ganze Weisheit der Buchholze und der verschiedenen Staatsratgeber in Deutschland. Einen Mechanismus angeben und das Gewicht nachweisen, welche die Maschine in Bewegung setzen soll; ein Räderwerk von Institutionen und sozialen Körperschaften und dann die Bedürfnisse erster Notwendigkeit oder der Magen als Gewicht daran angehängt, und die Intelligenz dem Ganzen als Pendule oder Korreskonsinstrument beigegeben: das heißt bei ihnen ein Staat. Alles dies erkennen, heißt den Staat als große, aus mehreren kleinen Sachen zusammengesetzte Sache begriffen haben; das Grobe, Körperliche am Staat, die sichtbare Masse ist nun gesehen, das handgreiflich alles ergriffen. Aber das Wichtigste ist dennoch übersehen und verfehlt

Alle nur gedankbaren Elemente des Staates, alle Gesetze, Institutionen usw. sind nur von einer Seite sichtbar und zu berechnen: jedes für sich hat wieder sein eigenes persönliches, geheimnisvolles Leben und seine eigentümliche Bewegung. Die erschöpfendste Erkenntnis des selben in toter Ruhe bedeutet nichts. Der Lehrling der Staatskunst muß erst wieder in die gemeine Wirklichkeit, zu der Erfahrung zurück; er muß das Gesetz, die Institution eine Zeitlang im freien Leben und in freier Bewegung betrachten; es muß sich in ihm ein Gefühl von dem Wert und der Bedeutung wie von der wahren Anwendung des Gesetzes bilden, was mehr sagen will als der gründlichste Uhrmacherverband von der Sache. Wie alle höheren Wissenschaften, so auch die Staatswissenschaften: sie wollen erlebt, nicht bloß erkannt und erlernt werden. Das heißt nun, wie Burkees verlangt, "die Jahrhunderte fragen" und hineinkonstruieren in die Wissenschaft, während die Systeme der gelehrten Handwerker in unseren Zeiten, sie mögen an die Geschichte appellieren wie sie wollen, doch nur aus einem Momente geschöpft, wie für einen Moment berechnet sind. "157

Und an einer anderen Stelle heißt es etwas weiter: "Der Staat und alle großen menschlichen Angelegenheiten haben das an sich, daß ihr Wesen sich durchaus nicht in Worte oder Definitionen einwickeln oder einpressen läßt. Jedes neue Geschlecht, jeder neue große Mensch gibt ihnen eine andere Form, auf welche die alte Erklärung nicht paßt. Solche steife, ein für allemal abgefaßte Form wie die gemeinen Wissenschaften vom Staate, vom Leben, vom Menschen umherzuschleppen und feilzubieten, nennen wir: Begriffe. Vom Staate aber gibt es keinen Begriff ... "158

Ich habe diese Passage zitiert, weil in ihr sehr deutlich die Abkehr von einer ideologischen Konstruktion des Staatsrechts deutlich wird. Adam Müller verkennt, daß in Begriffen kein Teil der Wirklichkeit voll wiedergegeben werden kann. Begriffe haben vielmehr nur die Funktion, zu bestimmten Zwecken bestimmte Aspekte der Wirklichkeit hervorzuheben. Warum dies in der Naturwissenschaft, nicht aber in der Rechtswissenschaft möglich sein soll, zeigt Adam Müller nicht auf.

157

Müller, Die Elemente der Staatskunst 1808/9, ND 1936, S. 14.

158

Ebd., S. 16.

§ 7 Die Entwicklung des Demokratieprinzips im 19. Jahrhundert

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Wieder andere Autoren greifen auf die von Herder begründete Lehre vom Volksgeist zurück. Herder hatte im Widerstreit mit dem französischen Universalismus diesen Begriff geprägt, um die Eigentümlichkeit der Entwicklung der einzelnen Nationen in den Griff zu bekommen: Die gesamte Kultur einschließlich des Rechts werde von einem einheitlichen Grundmodell geprüft und bestimme den Stil der Zivilisation. 159 Konsequent auf das Recht angewendet wurde diese neue Theorie von Friedrich Karl von Savigny. Savigny schreibt: 160 "Fragen wir ferner nach dem Subjekt, in welchem und für welches das positive Recht sein Daseyn hat, so fmden wir als solches das Volle In dem gemeinsamen Bewußtseyn des Volkes lebt das positive Recht, und wir haben es daher auch Volksrecht zu nennen. Es ist dieses aber keineswegs so zu denken, als ob es die einzelnen Glieder des Volkes wären, durch deren Willkühr das Recht hervorgebracht würde; denn diese Willkühr der Einzelnen können vielleicht zufallig dasselbe Recht, vielleicht aber, und wahrscheinlicher, ein sehr mannichfaltiges erwählen. Vielmehr ist es der in allen Einzelnen gemeinschaftlich lebende und wirkende Volksgeist, der das positive Recht erzeugt, das also für das Bewußtseynjedes Einzelnen, wenn nicht zufallig, sondern notwendig, ein und dasselbe Recht ist. Indem wir also eine unsichtbare Entstehung des positiven Rechts annehmen, müssen wir schon deshalb auf jeden urkundlichen Beweis derselben verzichten. . .. Ein solcher Beweis liegt (aber) in der allgemeinen, gleichförmigen Anerkennung des positiven Rechts, und in dem Gefühl innerer Notwendigkeit, wovon die Vorstellung desselben begleitet ist. Dieses Gefühl spricht sich am bestimmtesten aus in der uralten Behauptung eines göttlichen Ursprungs des Rechts oder der Gesetze; denn ein entscheideuer Gegensatz gegen die Entstehung durch Zufall oder menschliche Willkühr läßt sich nicht denken. Ein zweyter Beweis liegt in der Analogie anderer Eigenthümlichkeiten der Völker, die eine ebenso unsichtbare, über die urkundliche Geschichte hinaufreichende Entstehung haben, wie z. B. die Sitte des geselligen Lebens, vor allem aber die Sprache .... Die Gestalt aber, in welcher das Recht in dem gemeinsamen Bewußtsein des Volkes lebt, ist nicht in der abstracten Regel, sondern die lebendige Anschauung der Rechtsinstitute in ihrem organischen Zusammenhang; so daß, wie das Bedürfnis entsteht, sich der Regel in ihrer logischen Form bewußt zu werden, diese erst durch einen künstlichen Prozeß aus jener Totalanschauung gebildet werden muß .... "

Die sich stark auf Burke, Herder und Hegel stützende historische Schule sieht zwar richtig, daß die Wirkungsweise der staatlichen Institutionen nur aus der Erfahrung abgeleitet werden kann. Angesichts der zahlreichen Brüche im Leben jedes Staates erscheint der Gedanke einer allmählichen, gradlinigen

159 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784 - 91, ND 1899- 1913 .

Iro von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 1840, ND 1981, Bd. 1, ff.

s. 11

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1. Teil: Historische Entwicklung

Entwicklung der Institutionen aber als überzogen. Der Rationalität ist ein wesentlich breiterer Bereich zuzuordnen, als die historische Schule annimmt: Die heutigen Probleme können durch den Rückgriff auf die historische Erfahrung kaum gelöst werden. Andere, weniger stark durch die Romantik beeinflußte Rechtsdenker wie etwa Friedrich Julius Stahl lehnen die sicherlich überzogenen universaHsehen französischen Staatskonstruktionen mit der Behauptung ab, es bliebe die absolut beste Verfassung nicht, weil jede Verfassung sich den individuellen Gesellschaftsverhältnissen anpassen müsse: Man könne deshalb nur von einer relativ besten Verfassung sprechen. In seiner "Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung" 161 schrieb Stahl: "Die Verfassung ist nur eine Seite im Daseyn eines Volkes und muß sich im Einklange mit den übrigen befinden. Es muß deswegen jeder Staat nach seinen eigentbfunliehen Beziehungen verfaßt seyn, die Verfassung muß den Bedürfnissen, den hergebrachten Verhältnissen, der Sitte und Sinnesart der Nation entsprechen, und daß dieses geschehe, ist die nächste unverläßliche Anforderung an dieselbe, sie darf nicht einem Ideal von an sich vollkommener Verfassung aufgeopfert werden. Es muß ferner die eigenthümliche Staatenbildung, welche jedes Zeitalter je nach seiner Bildungsstufe und seiner geistigen Richtung hervorgebracht hat, z. B. das Mittelalter, als etwa an sich Notwendiges und Vollkommenes anerkannt werden, wenn gleich das folgende Geschlecht auch seinerseits von ihr abgehen und die ihm selbst wie für das gesamte Leben so auch für die Verfassung gesetzte Aufgabe zu erfüllen hat."

Allerdings meint auch Stahl, daß neben dieser je individuellen Verfassung sich allgemein geltende Rechtssätze der Verfassung finden lassen. Stahl führte aus: 162 "Aus den beiden hier gewonnenen Wahrheiten, daß die Vollkommenheit der Verfassung nicht in einem absoluten Verfassung, sondern nur in gewissen Charakteren und Grundverhältnissen besteht, und daß jede Verfassung eine Seite der Individualität, die nicht vergleichbar und meßbar ist, haben muß, zumindestens von ebenso großem Umfange als die principiell nothwendige Seite, ergibt sich, daß der Fortgang der Verfassung zu einer höheren und vollkommeneren Gestaltung nicht anders als auf dem Wege der kontinuierlichen geschichtlichen Entwicklung geschehen soll, nicht nur auf dem Wege des Abbrechens von dem Bestehenden und des Neubeginns. Als absolute Anforderung an die (jede) Verfassung ergeben sich aus dem Wesen des Staates: die feste Autorität und Herrschaft, d. h. eine gesichert und starke Regierung, ihr Gegensatz ist die völlige oder annähernde Anarchie - eine bestimmte gesetzliche Ordnung, sey sie in einem größeren oder geringeren Grade durchge-

161

2. Abteilung, 3. Auf!. 1854, S. 221 - 223.

162

Ebd., S. 226.

§ 7 Die Entwicklung des Demokratieprinzips im 19. Jahrhundert

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bildet, habe sie ihre Macht in einer organisierten Vertretung des Landes oder bloß in der öffentlichen Gesinnung und Meinung - und die bürgerliche Freiheit, d. h. der Schutz und die Unabhängigkeit der Staatsbürger in der Sphäre des individuellen Lebens, also der Schutz der Rechte, der allgemeinen Menschenrechte sowohl als der erworbenen Rechte. Diese und ähnliche Anforderungen können an jede Verfassung gestellt werden, es gibt keinen Zustand, der ihren Mangel entschuldigte."

In dieser Passage vereinigt Stahl die Prinzipien der absoluten Monarchie mit denen der Französischen Revolution; das Ergebnis ist die gemischte Verfassung der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts. 163 Allerdings kommt dem Monarchen dabei eine überragende Stellung zu: 164 "Es liegt im Wesen des Staates, als sittlichen Reiches, daß eine sittliche Macht in ihm aufgerichtet sey über dem Volke mit innewohnendem Ansehen, und daß diese Macht eine ihrer selbst bewußte und ihrer selbst mächtige, daß sie eine persönliche sey. Das ist die Bestimmung des erblichen Königtums. Es ist eingesetzt, damit eine Herrschaft über den Menschen besteht, persönlich, in sich einig, in sich gegründet, diese sich nicht gegeben, dadurch erhaben und majestätisch über ihnen, mächtig, sie in Ordnung zu halten und zu lenken, heilig, sie ist mit Ehrfurcht zu erfüllen. Die Herrschaft des Staates, sohin der Staat selbst, wird persönlich im König. Die Monarchie hat darum vor allem den Vorzug der Einheit und Persönlichkeit der Herrschaft, daß sie sich in einem Mann koncentrirt, der beständig zu handeln im Stande ist, und nicht in sich selbst zerfallen kann, dadurch die Übereinstimmung und Aufeinanderberechnung in der Anordnung, die Energie und in der Ausführung. Sie hat aber den noch viel bedeutenderen Vorzug der Ursprünglichkeit und Erhabenheit der Herrschaft, daß der Herrschende in keiner Hinsicht Unterthan oder von den Unterthanen abhängig, sondern immer und überall über ihnen ist, daß seine Gewalt nicht von den Unterthanen kommt, sondern von sich selbst besteht, durch die Unbedingtheit des Ansehens und der Ehrfurcht und die Freiheit von den Interessen, welche die Unterthanen zertheilen und befangen."

Andererseits setzt sich Stahl für die moderne Volksvertretung ein, weil nur so verhindert wird, daß der Staat Privatinteressen dient: Nur so könne gewährleistet werden, daß die Allgemeininteressen durchgesetzt werden. Stahl führt insofern aus: 165 "Die Rechte aber, welche den Reichsständen nach dem englischen staatlichen Charakter zukommen, sind von der Art, daß durch sie die ganze Beherrschung des Staates eine gesetzliche Ordnung und öffentliche Nothwendigkeit erhält. Die Reichsstände sind nämlich hier nicht Wächter ihrer Sonderrechte, sondern ein

163

Ebd., S. 232 f.

164

Ebd., S. 236.

165

Ebd., S. 353.

6 Bleckmann

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1. Teil: Historische Entwicklung

integrierendes Element der Staatsgewalt selbst, sie haben deshalb überall eine regelmäßige und nothwendige Konkurrenz mit dem König und dafür nirgend Rechte und Wirksamkeit für sich allein gleich Kommunen oder Korporationen. Damit ist der Staat in keiner Sphäre dem Fürsten oder den Ständen für ihren Privatzweck und Willen überlassen, sondern durch beide untrennbar nach seinen ihm als Staat innewohnenden Zwecken versorgt, er steht, ungeachtet die Stände eine berechtigte Macht neben dem Fürsten sind, dennoch unter einer ungetheilten Herrschaft."

d) Die bisherigen Zitate zeigen deutlich, daß mit Ausnahme der Denkschriften des Freiherrn vom Stein die Werke der konservativen Autoren des 18. Jahrhunderts zur Entwicklung der Demokratietheorie nur wenig beigetragen haben. Ähnlich steht es wohl mit der Staatsauffassung der deutschen Romantik. Ausgehend von der organischen Entwicklung der Staaten bei Herder und der Konzeption des Volksgeistes bei Hegetlehnt auch die Romantik die "spekulative" Vernunftsphilosophie der Aufklärung ab: Sie versteht den Staat nicht als eine Maschine, die bestimmten Zwecken dienen muß, 166 sondern als einen lebendigen Organismus, dessen Gesetzlichkeiten nicht rational-vernünftig, sondern nur durch das Studium der Geschichte gefunden werden kann. 167 Auch der Einfluß von Edmund Burke, dessen Werk über die Französische Revolution in Deutschland in der Übersetzung von Friedrich Genz früh bekannt geworden ist, dürfte bei dieser Denkrichtung eine wichtige Rolle gespielt haben, die im Bereich der Rechtswissenschaft vor allem durch die historische Schule (Savigny) geprägt worden ist. 168 "Dieses System ist das Resultat eines tiefen Nachdenkens, oder besser, es ist der gleiche Lohn derer, die im Wege der Natur wandeln, auf welchem Weisheit ohne tiefes Nachdenken und höher als alles Nachdenken liegt. Der Geist der Neuerungen ist gewöhnlich das Attribut kleiner Charaktere und eingeschränkter Köpfe. Leute, die nie hinter sich auf ihre Vorfahren blicken, werden auch nie vor sich auf ihre Nachkommen sehen. Die englische Nation weiß sehr gut, daß die Idee der Erblichkeit die Erhaltung sowie die Fortpflanzung sichert, ohne im geringsten die Verbesserung auszuschließen. Zu erwerben bleibt immer frei: aber was erworben ist, soll gesichert werden. Alle Vorteile, die ein Staat, der nach solchen Maßnahmen verfährt, einmal erlangt hat, sind gleichsam in ein großes Familienetablissement fest eingeschlossen und ein eisernes Besitzstück auf ewige Zeiten geworden."

Diese Schule lehnte es in Anlehnung an Burke ab, die Institute des Verfassungsrechts mit rationalen Methoden zu deuten. Unter Rückgriff nur auf die historische Entwicklung aber läßt sich eine rationale Verfassungsentwicklung und vor allem auch eine Reform der Verfassung nicht denken.

166

Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine, 1986.

Baxa, Einführung in die romantische Staatswissenschaft, 1923; Schmitt, Politische Romantik, 1925; Hertwig, Der Staat als Organismus, Gedanken zur Entwicklung der Menschheit, 1922; Broz, Le Romantisme allemand et !'Etat, 1966. 167

168

Burke, (Anm. 58), S. 85.

§ 7 Die Entwicklung des Demokratieprinzips im 19. Jahrhundert

83

2. Der französische Sprachraum a) Comte Joseph-Marie de Maistre (1753 - 1821) Joseph-Marie de Maistre hat seine Staatstheorie im wesentlichen im "Essai sur le principe generateur des constitutions politques" und in seiner "Etude sur la souverainite" veröffentlicht. 169 Da de Maistre als Konservativer die Prinzipien der Französischen Revolution angegriffen hat, wandte er sich vor allem gegen die Theorie von Jean-Jacques Rousseau. Nach Auffassung von de Maistre zeigt die historische Erfahrung, daß es das isolierte Individuum nicht gibt: Die Menschen würden in eine konkrete Gesellschaft hineingeboren. Daraus folge, daß die Gesellschaft und - so ist zu ergänzen - der Staat nicht durch einen Gesellschaftsvertrag begründet worden ist. Da die in der Gesellschaft zusammengefaßten Individuen einen gemeinsamen Beschluß nicht fassen können, werde der Staat, die Souveränität und die Verfassung über die Herzen der Menschen unmittelbar von Gott begründet. Da jede gesetzte Verfassung auch wieder zurückgenommen werden könne, könne nur so die Unveränderlichkeit der Verfassung begründet werden. Darüber hinaus ließen sich, ohne daß man einen genauen Zeitpunkt ihrer Gründung feststellen könne, alle Gesellschaften weit in die Vergangenheit zurückverfolgen. Diese Institutionen wechseln im Laufe der Geschichte und übten deshalb eine bestimmte Funktion nicht aus. Nach de Maistre sind die Nachteile der Demokratie schon von Rousseau aufgezeigt worden. Diese Staatsform könne nur in kleinen Staaten funktionieren. Da die Demokratie die Tugend voraussetze, handle es sich überdies um eine Staatsform für "Götter". Darüber hinaus gebe es eine Demokratie in ihrer reinen Form nie; stets handle es sich um die Herrschaft einer Elite und damit um eine Aristokratie. Offentsichtlich unter Rückgriff auf die Erfahrungen der Französischen Revolution stellte de Maistre fest, die Justiz richte sich in einer Demokratie nach der Stimmung des Volkes und verfehle deshalb notwendig die Gerechtigkeit. Demgegenüber handle es sich bei der Monarchie um die häufigste, stabilste und beständigste Staatsform der Herrschaft. Da die Macht von einem einzigen Fürsten ausgeübt werde, reiche sie weniger weit als die Macht einer Ver-

169 Die zitierten Werke finden sich nachgedruckt in Oeuvres complets de de Maistre, ND 1984, Bd. 1. ; Literatur: Triomphe: Joseph-Marie de Maistre, Etude sur la vie et sur la doctrine d'un materialiste mystique, 1968; Brunello, J.-M. de Maistre, Politico e filosofico, 1967; Hackenbroch, Zeitliche Herrschaft der göttlichen Vorsehung, 1914, ND 1964; Huber, Die Staatsphilosophie des J. de Maistre, 1958.

6*

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1. Teil: Historische Entwicklung

sammlung. Die Macht des Fürsten werde überdies durch die stets vorhandene Aristokratie gemildert. Freiheit und Gleichheit seien deshalb in einer Monarchie besser gesichert als in einer Demokratie. Überdies handle es sich um die einzige Staatsform, in der die Unfähigkeit des Herrschers unschädlich sei, weil die Macht faktisch von der fähigen Aristokratie ausgeübt werde. b) Louis Gabriet Ambroise, Vicomte de Bonald (1754- 1840) 170 Wie de Maistre leugnet auch Bonald die Existenz eines Gesellschaftsvertrages: Nicht die Gesellschaft begründe die höchste Gewalt, sondern umgekehrt, die höchste Gewalt begründe die Gesellschaft. Die Souveränität gehe also der Staatsgründung voraus und müsse deshalb von Gott selbst stammen. Die Souveränität aber könne nur in der Hand einer einzigen Person liegen. Das sei für die Monarchie evident, zeigte sich aber auch in der Demokratie, in welcher die letzte Stimme der Mehrheit die Entscheidung trage. Dieser notwendig hierarchische Aufbau der Gesellschaft, der mangels Gleichheit den Abschluß eines Gesellschaftsvertrages ausschließt, beruht auf der unmittelbaren Einwirkung Gottes auf den Geist der Individuen. Dasselbe gelte für die Gesetze, die notwendig der Natur und damit den vorgegebenen Beziehungen zwischen den Gliedern der Gesellschaft folgen. Die Demokratie leide an der Tatsache, daß die Gewalt dort von vielen ausgeübt werde. Das führe zu einem ständigen Kampf zwischen den Fraktionen. Da jede Fraktion darauf abziele, ihre Herrschaft über die gesamte Gesellschaft zu erstrecken, könne die Freiheit und Gleichheit in einer Demokratie nicht gewährleistet werden. Außerdem zeige die Erfahrung, daß die Demokratie häufiger Krieg führe als die Monarchien.

§ 8 Die Entwicklung der Demokratietheorie

im 20. Jahrhundert

I. Die deutsche Staatswissenschaft in der Weimarer Republik I. Da die der Labandschen Begriffsjurisprudenz zugrundeliegende einheitliche Weltanschauung verloren gegangen war und zahlreiche neue Probleme wie die Frage nach der Einheit, Identität und Kontinuität des 170 Essaie analytique sur !es lois naturelles de !'ordre social; Legislation primitive consideree dans les derniers temps par !es seules lumieres de Ia raison; Demonstration philosophique du principe constitutif de Ia societe. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration, München, 1959.

§ 8 Die Entwicklung der Demokratietheorie im 20. Jahrhundert

85

Deutschen Reiches und die Legitimität der "revolutionären" Weimarer Verfassung durch Rückgriff auf die klassischen Methoden nicht mehr gelöst werden konnten, versuchte die "geisteswissenschaftliche Schule", zu der vor allem Brich Kaufmann, Rudolf Smend und Günther Holstein zu rechnen sind, unter Rückgriff auf die Philosophie vor allem Hegels, Diltheys und Husserls und auf eine Reihe von soziologischen Ansätzen eine neue Methode der Verfassungsdeutung zu entwickeln. Eine detaillierte Darstellung dieser Schule finden wir bei Klaus Rennerts Arbeit über die "Die geisteswissenschaftliche Richtung in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik. Untersuchungen zu Brich Kaufmann, Günther Holstein und Rudolf Smend" (1987). Auf diese Denkrichtung hier im einzelnen näher einzugehen, erübrigt sich nicht nur, weil diese Denkansätze in der Gegenwart wieder aufgegeben sind; sie haben vielmehr zumindest im Bereich der Demokratietheorit; zu neuen Ansätzen, soweit ersichtlich, nicht geführt. 2. Von größerer Bedeutung für unser Thema wird dagegen die Arbeit von Carl Schmitt. Die 1978 in erster Auflage erschienene "Verfassungslehre" dieses Autors atmet noch voll den Geist der liberalen Aufklärung. Allerdings hat Carl Schmitt die klassische Demokratietheorie zumindest in zwei Punkten entscheidend modifiziert. Auf der einen Seite sieht er - wohl in Übereinstimmung mit der klassischen griechischen Demokratie - das wesentliche Ziel der Demokratie in der Gleichheit. Hieraus entwickelt er wesentliche neue Konsequenzen. Auf Seite 235 führt er so aus: "Diese Definition ergibt sich aus der substantiellen Gleichheit, welche die wesentliche Voraussetzung der Demokratie ist. Sie schließt es aus, daß innerhalb des demokratischen Staates die Unterscheidung von Herrschern und Beherrschten, Regieren und Regiertwerden eine qualitative Verschiedenheit ausdrückt oder bewirkt. Herrschaft oder Regierung darf in der Demokratie nicht auf einer Ungleichheit beruhen, also nicht auf einer Überlegenheit der Herrschenden oder Regierungen, nicht darauf, daß die Regierungen etwas qualitativ Besseres sind als die Regierten. Sie müssen ihrer Substanz nach in der demokratischen Gleichheit und Homogenität verbleiben. Dadurch, daß einer herrscht oder regiert, darf er nicht aus der allgemeinen Identität und Homogenität des Volkes heraustreten. lnfolge dessen darf die Macht oder Autorität, derer, die herrschen oder regieren, nicht auf irgendwelchen höheren, dem Volke unzugänglichen Qualitäten beruhen, sondern nur auf dem Willen, dem Auftrag und dem Vertrauen derer, die beherrscht oder regiert werden, die die sich auf diese Weise in Wahrheit selbst regieren."

Und auf Seite 237 meint Schmitt: "Für eine Demokratie kommt es darauf an, die unvermeidliche sachliche Verschiedenheit zwischen Regierungen und Regiertwerden nicht in eine qualitative Unter-

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1. Teil: Historische Entwicklung scheidungund Absonderung der regierenden Personen übergehen zu lassen. Wer in einer Demokratie regiert, tut das nicht, weil er die Eigenschaften einer qualitativ besseren Oberschicht gegenüber einer minderwertigen Unterschicht besitzt. Das würde natürlich die demokratische Homogenität und Identität aufheben. Größere Tüchtigkeit und Sachkunde können vernünftigerweise das Volk veranlassen, den tüchtigen und sachkundigen Volksgenossen mit der Leitung und Führung zu beauftragen. Aber er regiert dann nur, weil er das Vertrauen des Volkes hat. Er hat keine Autorität aus besonderem Sein."

Auf der anderen Seite ist Carl Schmitt der Auffassung, daß das Demokratieprinzip in einer eigenen Wesensverbindung zur öffentlichen Meinung steht. Schmitt führt deshalb aus (S. 235 f.) "Es ließe sich ausmalen, daß eines Tages durch sinnreiche Erfindungen jeder einzelne Mensch, ohne seine Wohnung zu verlassen, fortwährend seine Meinungen über politische Fragen durch einen Apparat zum Ausdruck bringen könnte und daß alle diese Meinungen automatisch von einer Zentrale registriert würden, wo man sie dann nur abzulesen brauchte. Das wäre keineswegs eine besonders intensive Demokratie, sondern ein Beweis dafür, daß der Staat und Öffentlichkeit restlos privatisiert wären. Es wäre keine öffentliche Meinung, denn die noch so übereinstimmende Meinung von Millionen von privaten Leuten ergibt keine öffentliche Meinung, das Ergebnis ist nur eine Summe von Privatmeinungen. Auf diese Weise entsteht kein Gemeinwille, keine volonte generale, sondern nur eine Summe aller Einzelwillen, eine volonte de tous .... Nach diesen Ausführungen über den Zusammenhang von Volk und Öffentlichkeit erscheint es berechtigt, daß die Demokratie als Herrschaft der öffentlichen Meinung "Government by public opinion" bezeichnet wird. Im Wege geheimer Einzelabstimmungen und durch Addition der Meinungen von isolierten Privatleuten kann keine öffentliche Meinung entstehen. Die öffentliche Meinung ist die moderne Art der Akklamation. Es ist vielleicht eine diffuse Art und ihr Problem ist weder soziologisch noch staatsrechtlich gelöst. Aber darin, daß sie als Akklamation gedeutet werden kann, liegt ihr Wesen und ihre politische Bedeutung. Es gibt keine Demokratie und keinen Staat ohne öffentliche Meinung, wie es keinen Staat ohne Akklamation gibt. "

Als dann Ende der 30er Jahre der Reichstag zunehmend unfähig wurde, mehrheitlich Regierungen zu bilden und die Regierungen deshalb vom Reichspräsidenten ernannt werden mußten, hat Schmitt versucht, dieses neue Phänomen zu legitimieren; er hat dabei Denkansätze entwickelt, die auch den Übergang zum "Führerstaat" legitimieren konnten. Der erste Ansatz in dieser Richtung zielte auf die Vernichtung der demokratischen Legitimation des gewählten Reichstages. Da schon nach der "Staatslehre" das Demokratieprinzip mit der öffentlichen Meinung identifiziert wurde, der demokratische Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung aber nach John Stuart Mill wesentliche Voraussetzung für eine richtige staatliche Entscheidung ist, entfällt die demokratische Legitimation des Parlaments dann,

§ 8 Die Entwicklung der Demokratietheorie im 20. Jahrhundert

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wenn es auf eine sachliche Argumentation verzichtet. Aber lassen wir noch einmal Carl Schmitt zu Worte kommen. In seinem Werk über die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus führt Schmitt auf S. 10 f. aus: "Die Lage des Parlamentarismus ist heute so kritisch, weil die Entwicklung der modernen Massendemokratie die argumentierende öffentliche Diskussion zu einer leeren Formalität gemacht hat. Manche Normen des heutigen Parlamentsrechts, vor allem die Vorschriften über die Unabhängigkeit der Abgeordneten und über die Öffentlichkeit der Sitzungen, wirken infolgedessen wie eine überflüssige Demonstration, unnütz und sogar peinlich, als hätte jemand die Heizkörper einer modernen Zentralheizung mit roten Flammen angemalt, um die Illusion eines lodernden Feuers hervorzurufen. Die Parteien (die es nach dem Text der geschriebenen Verfassung offiziell gar nicht gibt) treten heute nicht mehr als diskutierende Meinungen, sondern als soziale oder wirtschaftliche Machtgruppen einander gegenüber, berechnen die beiderseitigen Interessen und Machtmöglichkeiten und schließen auf dieser faktischen Grundlage Kompromisse und Koalitionen. Die Massen werden durch einen Propaganda-Apparat gewonnen, dessen größte Wirkungen auf einem Appell an nächstliegende Interessen und Leidenschaften beruhen. Das Argument im eigentlichen Sinne, das für die echte Diskussion charakteristisch ist, verschwindet. An seine Stelle tritt in den Verhandlungen der Parteien die zielbewußte Berechnung der Interessen und Machtchancen; in der Behandlung der Massen die plakatmäßig eindringliche Suggestion oder- wie Walter Lippemann in seinem sehr klugen, aber zu sehr im Psychologischen verhafteten amerikanischen Buche Public Opinion, London 1992, sagt- das "Symbol".

Den zweiten Schritt, die Verlagerung der Souveränität vom gewählten Reichstag auf den Reichspräsidenten, vollzog Carl Schmitt in seiner 1928 veröffentlichten Schrift über "Die Diktatur". Da Schmitt die Souveränität als die Entscheidung über den Ausnahmezustand definiert, Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung dem Reichspräsidenten aber im Ausnahmezustand überaus weitgehende, selbst eine Verfassungsdurchbrechung gestattende Befugnisse einräumte, lag nach Carl Schmitt die "Organsouveränität" im Deutschen Reich beim Reichspräsidenten. Schließlich hat Schmitt in einer 1931 erschienen Schrift über "Der Hüter der Verfassung" die entsprechende Funktion nicht der Justiz, sondern dem Reichspräsidenten zugesprochen. 3. Die politische Zerrissenheit des Reichstages hatte in der damaligen Staatswissenschaft und vor allem bei Rudolf Smend eine überaus starke wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Grundsatz der Einheit des Staates zur Folge. Diesem Zweck diente seine in zwei Fassungen existierende "Integrationslehre", 171 die zunächst darauf hinwies, daß eine Reihe von Verfassungsnormen wie etwa die über die Flagge, die Waffen und die Nationalhymne die Funktion besaß, im Volke die notwendige Einheit zu schaffen. Es sollte

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1. Teil: Historische Entwicklung

versucht werden, die Methoden und Ergebnisse dieser Theorie in die heutige Debatte um die europäische Integration einzubeziehen. Von größerer Tragweite war in der Weimarer Republik aber die Repräsentationstheorie, nach welcher das Volk oder die Nation durch das Parlament in der Weise repräsentiert wird, daß das "Unsichtbare symbolisch sichtbar" gemacht wird. 172 Stellt man in diesem Rahmen mit Jean-Jacques Rousseau darauf ab, daß der Wille und das Interesse des Volkes oder der Nation notwendig eins sind, erscheint die Spaltung im Parlament als ein nur oberflächliches Phänomen. Als Träger der tieferen Einheit der Nation kann der Staatspräsident oder der "Führer" verstanden werden. 4. Diese Einheit des Staates wurde auch von Hermann Heller in seiner Staatslehre stark betont. Nach ihm ist der Staat die "organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit" . 173 Heller lehnt die liberale Staatstheorie entschieden ab: 174 "Es ist nicht möglich, den Staat als Einheit dadurch wirklichkeitswissenschaftlich zu erkennen, daß man ihn als die wirkliche Funktion eines einheitlichen, in allen Gebietsbewohnern lebendigen Volkswillens, als Einheit des Bewußtseins, des Gefühls der Interessen oder des Willens behauptet. Indem unsere Staatstheoretiker nicht davon lassen können, die volonte generale als eine Transsubstantion der volonte de tous auszugeben, lassen sie sich nur allzu leicht davon überzeugen, daß die Einheit eines solchen "Willensverbandes" nichts als eine Fiktion sei. Den Staat als die Einheit eines wirklichen Organismus mit Recht leugnend, glaubt man- mit Unrecht - ihn auch als wirkliche Organisationseinheit leugnen zu müssen. Mit der nötigen Klarheit gestellt, lautet also das Problem: Wie ist der Staat als Einheit in der Vielheit zu begreifen, ohne ihn als ein selbständiges, von den ihn bewirkenden Menschen losgelöstes Wesen zu behaupten oder ohne ihn als bloße Fiktion zu erklären; mit anderen Worten: Wie ist der Staat als vielheitlieh bewirkt und doch einheitlich wirkend zu verstehen. Es wäre schon viel damit gewonnen, wollte man zugeben, daß das Problem der wirklichen Einheit in der Vielheit der bewirkenden Menschen sich nicht nur beim Staat, sondern bei ausnahmslos allen Organisationen einstellt. Gewiß ist es richtig, daß der Staat mehr ist als die "Summe" der ihn bildenden Menschen. In der Tat ist uns die staatliche Einheit als organisierte menschliche Wirkungseinheit von bestimmter Art gegeben. Das Gesetz der Organisation ist das grundlegendste

171

Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 475 ff., 482 ff.

H. Rausch (Hrsg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung, 1968. 172

173

Heller, Staatslehre, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, 1971, S. 339 ff.

174

Ebd., S. 340 f.

§ 8 Die Entwicklung der Demokratietheorie im 20. Jahrhundert

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Bildungsgesetz des Staates. Seine Einheit ist die wirkliche Einheit eines Handlungsgefüges, dessen Existenz als menschliches Zusammenwirken durch das bewußt auf die wirksame Einheitsbildung gerichteten Handeln von besonderen "Organen" ermöglicht wird .... "

Die notwendige Folge einer solchen Staatstheorie ist, daß die Verfassung primär nicht etwa die Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit anzustreben hat, die staatliche Einheit also nur als ein notwendiges Mittel für diesen Zweck besteht, und sich zum Primärziel diese Einheit selbst setzt. U. Die moderne Demokratiediskussion175 1. Die umfangreiche politikwissenschaftliche Literatur der Gegenwart scheint zum überwiegenden Teil im Anschluß an Joseph Schumpeter den Zweck des Demokratieprinzips nur in der Auswahl der Regierungspartei im Konkurrenzkampf des Mehrparteiensystems zu sehen. Ich will die Bedeutung dieser neueren Konzeption, die jeden Rückgriff auf Werte wie Gerechtigkeit und Gemeinwohl vor allem wohl aus methodischen Gründen aufgegeben hat, nicht bestreiten: Soweit das Demokratieprinzip im Bewußtsein der Bevölkerung so fest verankert ist, daß einer demokratisch nicht legitimierten Regierung automatisch der Gehorsam verweigert wird, verhindert das Demokratieprinzip blutige Auseinandersetzungen im Kampf um die Macht. Es hat dann - unter diesem speziellen Blickwinkel - aber nur denselben Stellenwert wie die Erbmonarchie, in welcher solche Machtkämpfe durch die Anerkennung der Nachfolgeregelung ebenfalls vermieden werden. Eine bevorzugte Legitimation des Demokratieprinzips ist folglich auf diese Weise nicht möglich.

175 Zur Demokratiediskussion in der Politikwissenschaft und in der Soziologie des 20. Jahrhunderts vgl. die Literaturverzeichnisse bei Sartori, Demokratietheorie, 1992, und Steinherger (Anm. 62), insbesondere aber: Barents, Democracy 1958; Benn/ Peters, Social Principles and the Dernocratic State, 1959; Berg, Dernocracy and the Majority Principle, 1965; Birch, Representation, 1972; Bryce, Modern Dernocracies, 1964; Cook/Morgan, Participatory Democracy, 1971 ; Dahl, APreface to Dernocratic Theory, 1956; Friedrich, Constitutional Government and Democracy, 1946; Hermans, The Representative Republic, 1958; Holden, The Nature of Democracy, 1974; Key, Public Opinion and American Democracy, 1961; Laski, Liberty in the Modern State, 1930; Lindbloom, The Independence of Democracy, 1965; Lindsay, The Modern Dernocratic State, 1943; Lucas, Democracy and Participation, 1976; Mays, An Introduction to Dernocratic Theory, 1960; Milbrath, Political Participation, 1965; Pitkin, The Concept of Representation, 1967; Russell, What is Democracy?, 1946; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Auf!. 1929; MacPherson, Democratic Theory, 1973. Zur Diskussion in Deutschland vgl. Guggenberger, Demokratietheorie, in: Nohlen/Schultze (Hrsg.), Pipers Wörterbuch zur Politik, Politikwissenschaft, Bd. I, 1985, S. 130 ff. und das dortige Literaturverzeichnis.

90

1. Teil: Historische Entwicklung

2. Soweit ersichtlich, ragen aus der Menge der Literatur zum Demokratieprinzip vor allem drei Werke heraus. Es handelt sich auf der einen Seite um die "Demokratietheorie" von Giovanni Sartori (1992), zweitens um die sich um die Übertragung volkswirtschaftlicher Interessenkalküle auf die Politikwissenschaft bemühenden, also auf die durch John Rawls neu begründete moderne Gesellschaftstheorie zurückgreifenden Werke von Anthony Down über die "Ökonomische Theorie der Demokratie" (1986) und die Arbeit von Karl Hobmann über "Rationalität und Demokratie" ( 1988). 176 3. Aus dem Bereich der Politikwissenschaft ist dagegen auf die aus der Weimarer Zeit in die Gegenwart hineinragende Arbeit von Gerhard Leibholz über die "Strukturprobleme der modernen Demokratie" 177 hinzuweisen, die zum ersten Mal versucht hat, die moderne Parteiendemokratie umfassend in den Griff zu bekommen. 178 Schon hier sei darauf hingewiesen, daß vor allem die ökonomische Staatstheorie wichtige Neuansätze für die Übertragung der Interessenjurisprudenz aus dem Privatrecht in das öffentliche Recht bietet. 4. Die neuere Entwicklung der Demokratietheorie ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß die früheren naturrechtlichen, also normativen Ansätze weitgehend aufgegeben und durch empirische Modelle ersetzt worden sind. Diese Entwicklung, die vor allem Giovanni Sartori und Helmut Steinherger nachgezeichnet haben, ist vor allem durch vier Faktoren bedingt: Zunächst durch die Entwicklung der modernen Sprachphilosophie und des amerikanischen Pragmatismus (Peirce, Dewey), welche die Existenz von Werten generell leugnen. Zweitens durch das von Max Weber begründete Ideal der Wertfreiheit von Soziologie und Politikwissenschaft Drittens wohl auch anscheinend durch die tiefe Skepsis, ob die Demokratie wirklich, wie die Klassiker dies vorausgesetzt haben, ein Garant für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit ist. Viertens dürfte auch eine gewisse Rolle gespielt haben, daß Joseph Schumpeter in seinem 1942 erschienen Werk "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" scheinbar nachgewiesen hat, daß die Lehre von Rousseau nicht haltbar ist. Und fünftens spielt sicherlich auch eine Rolle, daß es so vielfältige Formen der Demokratie gibt, daß ein einheitlicher Demokratiebegriff und damit auch einheitliche Aussagen über das Demokratieprinzip scheinbar nicht möglich sind.

176

Vgl. auch Stein, Demokratisierung der Marktwirtschaft, 1995.

177

3. Auf!. 1967.

178

Vgl. auch Gusy, Die Lehre vom Parteienstaat in der Weimarer Republik, 1993.

§ 8 Die Entwicklung der Demokratietheorie im 20. Jahrhundert

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Es ist hier natürlich nicht der Ort, die überaus große Zahl vor allem empirischer Demokratiemodelle einzeln zu schildern; insoweit kann hier auf das Werk von Giovanni Sartori verwiesen werden. Diese empirischen Modelle, die von Sartori selbst um die Komponente erweitert worden sind, die Demokratie sei eine Regierungsform, in der in immer größeren Kreisen immer mehr diskutiert wird, können das Thema unserer Arbeit vor allem deshalb nicht fördern, weil sie zur Auslegung der Verfassung, wie Steinherger richtig formuliert, nur unbedeutende Ansätze geben können. Eine wichtige Frage bleibt indes, auf die an dieser Stelle zumindest kurz eingegangen werden muß. Die Frage nämlich, ob der normative Ansatz heute überhaupt noch gehalten werden kann. Ganz abgesehen davon, daß der sprachphilosophische und der pragmatische Ansatz einen der modernen Irrwege darstellt, den ich meine, hier nicht ausdrücklich widerlegen zu müssen, ist auf der einen Seite die freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie westlichen Typs trotz aller Unterschiede im Detail ein Typus, der durchaus noch auf den Begriff gebracht werden kann und zu dem deshalb auch einheitliche Aussagen möglich sind. Der Einwand, dieses Demokratiemodell gewährleiste die Freiheit, die Gleichheit und die Gerechtigkeit nicht, stellt sich als eine Aussage dar, die sich vor allem auf die empirischen Modelle bezieht. Ein Einwand gegen die normativen Theorien ist dies offensichtlich dann nicht, wenn dieser Ansatz bemüht wird, um die entsprechenden Funktionen der Demokratie durch eine Interpretation und durch eine Reform der Verfassung auf die betreffenden Ziele hin zu verbessern. Und die Widerlegung des Interessenkalküls von Rousseau durch Schumpeter übersieht einerseits, daß die Richtigkeitsgewähr des Demokratieprinzips, wie wir sehen werden, auch dahin verstanden werden kann, daß sie eine sachlich gerechte Abwägung gegenläufiger Summen von Privatinteressen gewährleisten könnte. Außerdem übersieht Schumpeter, daß das klassische Demokratieprinzip nicht nur das Ziel der Richtigkeit gewährleisten soll, sondern auch als Garantie des Selbstbestimmungsrechts und der Gleichheit verstanden wird. Im Bereich der normativen Demokratietheorien finden sich, sieht man einmal von den Modellen ab, die das volkswirtschaftliche Interessenkalkül in die Politikwissehaft übertragen (Downs und Homann), neue Ansätze nur sehr selten. Anthony Downs entwirft ein rationales neues Gerechtigkeitsmodell der mittelbaren Parteiendemokratie, das in seinen wesentlichen Punkten auch den von uns im zweiten Teil dieser Arbeit entwickelten Hypothesen zugrunde liegt. Downs geht vom Konkurrenzmodell aus, das Josef Schumpeter entworfen hat: In der Konkurrenz des Mehrheitsparteiensystems bestimmt die Entscheidung der Wähler die jeweils regierende Partei. Der Autor zeigt dann auf, daß die

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1. Teil: Historische Entwicklung

Wähler in einem Mehrparteiensystem sich für die Partei entscheiden werden, deren Tätigkeit in den Staatsämtern den Nutzen für die Wähler optimieren wird. Da die Parteien dies wissen, werden sie, um die Macht im Staat zu erringen, ein Programm durchsetzen, das den Nutzen für die Wähler optimiert. Die Parteimitglieder folgen dabei zwar grundsätzlich nur ihren egoistischen Interessen an der Übernahme lukrativer öffentlicher Ämter. In einer Demokratie ist dies aber nur möglich, wenn ihre Partei die Mehrheit erringt. Diese Mehrheit zu erringen ist den Parteien aber nur möglich, wenn ihr Programm die Interessen der Wähler optimiert. Man sieht deutlich, daß Downs auf die von Mandeville und Adam Smith begründete liberale Theorie zurückgreift, nach welcher das Individualinteresse irrfolge der Einschaltung entsprechender Institutionen am Allgemeininteresse ausgerichtet wird. Soweit die moderne Demokratietheorie überhaupt noch auf normative Ansätze zurückgreift, also überprüft, ob und in welchem Umfang das Demokratieprinzip die Erreichung der Staatsziele notwendig gewährleistet, haben sich diese Ziele selbst im Laufe der modernen Diskussion kaum verschoben. Nach wie vor handelt es sich um die klassischen Ziele der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Geändert haben sich im wesentlichen also nur die Auffassungen über die Gründe, warum nur das Demokratieprinzip die Erreichung dieser Ziele garantiert. Das liegt zum Teil an der Tatsache, daß die von den Klassikern, insbesondere von Rousseau entwickelten rationalen Gründe sich als letztlich nicht haltbar erwiesen haben. Teilweise aber hat sich auch die Verfassungswirklichkeit in der Neuzeit so stark gewandelt, daß es fraglich erscheint, ob die überkommenen Gründe für eine solche Gewährleistung heute noch die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung gewährleisten. So überprüft etwa Bobbio 179 , wie die Richtigkeitsgewähr des Demokratieprinzips in einer Situation einer polyzentralischen Gesellschaft großer Organisationen gewährleistet werden kann, in der Einfluß und politische Macht auf kollektive Akteure übergehen und immer weniger von assoziierten Einzelnen erworben und ausgeübt werden können; sodann die Vervielfältigung konkurriender Gruppeninteressen, die eine unparteiliche Willensbildung erschweren; ferner das Wachstum staatlicher Bürokratien und öffentlicher Aufgaben, das eine Herrschaft der Experten fordert; schließlich die Entfremdung apathischer Massen von Eliten, die sich gegenüber entmündigten Bürgern obligatorisch verselbständigen. Soweit sie heute noch einem normativen Ansatz folgen, legen die Soziologen und Politikwissenschaftler das Gewicht der Argumentation auf die Tatsache, daß auch in der modernen Demokratie die Entscheidungen aufgrund einer 179

The Future of Democracy, 1987, S. 56.

§ 8 Die Entwicklung der Demokratietheorie im 20. Jahrhundert

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breiten öffentlichen Diskussion gefällt werden. Letztlich greift dieser moderne Ansatz nur auf die schon von John Stuart Mill entwickelte Theorie der öffentlichen Meinung zuiiick: Der öffentliche Meinungsbildungsprozeß garantiert die Vernünftigkeit, wenn nicht sogar die Richtigkeit und die Gerechtigkeit der staatlichen Entscheidung. In diesem Rahmen konzentriert sich die Diskussion der Soziologen und der Politikwissenschaftler, die neuerdings brillant von Habermas 180 zusammengefaßt und weiterentwickelt worden ist, darauf, die Voraussetzungen umfassend zu entwickeln, daß die öffentliche Diskussion eine hirneichende Garantie für die Vernünftigkeit der Entscheidung bietet. Diese Voraussetzungen werden etwa von Bobbio 181 dahingehend zusammengefaßt, Demokratien erfüllten das notwendige "prozessuale Minimum" in dem Maße, wie sie (a) die politische Beteiligung einer möglichst großen Zahl interessierter Bürger, (b) die Mehrheitsregel für politische Entscheidungen, (d) die üblichen Kommunikationsrechte und damit die Auswahl zwischen verschiedenen Programmen und Führungsgruppen und (d) den Schutz der Privatssphäre gewährleisten. Dahl 182 nennt die folgenden fünf Bedingungen eines vernünftigen Kommunikationsprozesses: Er soll gewährleisten, (a) die Inklusion aller Betroffenen, (b) gleich verteilte und wirksame Chancen der Teilnahme am politischen Prozeß, (c) gleiches Stimmrecht bei Entscheidungen, (d) das gleiche Recht zur Wahl der Themen, überhaupt zur Kontrolle der Tagesordnung und schließlich (e) eine Situation von der Art, daß alle Beteiligten im Licht hirneichender Informationen und guter Grunde ein artikuliertes Verständnis der regelungsbedürftigen Materien und der strittigen Interessen ausbilden können. Diese wissenschaftliche Diskussion bleibt allerdings insoweit unbefriedigend, als die verschiedenen Funktionen der öffentlichen Meinung (Feststellung des Sachverhalts, Durchsetzung der Interessen, Konsenssuche) nicht gesehen werden und so der eigentliche Grund für die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung nicht gefunden werden kann. Außerdem bleibt der Begriff der Vernünftigkeit, Richtigkeit (Wahrheit) und Gerechtigkeit in der Diskussion viel zu unbestimmt. Teilweise wird - wohl im Interesse der wissenschaftlichen Wertfreiheit und der Skepsis gegenüber der Möglichkeit, die Gerechtigkeit überhaupt zu definieren - nur darauf abgehoben, daß in den Augen der Bürger das demokratische Verfahrensminimum die staatliche Entscheidung als vernünftig, und damit legitim erscheinen läßt.

°

18 Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, 1992, S. 367 ff.; vgl. dazu die Einwände von Rescher, Pluralism against the Demand for Consensus, 1993. 181

s. Anm. 179, S. 56.

Dahl, A Preface to Economic Democracy, 1985, S. 59 f.; vgl. auch ders., Democracy and its Critics, 1989. 182

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1. Teil: Historische Entwicklung

Eine weiterer Akzent wurde in der modernen politikwissenschaftlichen Demokratiediskussion durch die Theorie des Pluralismus 183 gesetzt, die in Deutschland letztlich bis auf Otto von Gierkes Werk über die Genossenschaften zurückgeführt werden kann. Die Hauptvertreter dieser Denkrichtung sind Laski, Fraenkel, Kelro und Dahl. Diese Theorie versucht, das Konzept des souveränen, insbesondere totalitären Machtstaats mit einem unabhängigen Entscheidungszentrum durch die Verlagerung der Entscheidungen auf die gesellschaftlichen Gruppen aufzubrechen. Für die allgemeine Demokratietheorie wichtig ist dabei, daß vor allem Ernst Fraenkel das Gemeinwohl als Resultante des politischen Machtkampfes der Interessenverbände begreift. Diesem Ansatz vermag ich nur bedingt zu folgen. Sicherlich ist der Einfluß der Interessenverbände im politischen Willensbildunsprozeß recht groß. Die politischen Parteien richten sich aber insbesondere in Deutschland wohl stärker unmittelbar am Wählerwillen aus.

111. Die Demokratiediskussion in der deutschen Literatur zum Staatsrecht und zur Allgemeinen Staatslehre Die gegenwärtige deutsche Staatsrechtslehre hält weiterhin an der überholten strikten Trennung zwischen dem positiven Staatsrecht und der Allgemeinen Staatslehre fest, obwohl, wie wir sehen werden, das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe von Entscheidungen für die Interpretation des Grundgesetzes auf Prinzipien der Allgemeinen Staatslehre zurückgegriffen hat und eine umfassende Lösung zahlreicher Probleme des Verfassungsrechts nur durch einen solchen Rückgriff auf die politische Ideengeschichte überhaupt möglich ist. Das sieht die heutige Staatsrechtslehre durchaus; sie versucht aber, diese Probleme nicht durch Rückbesinnung auf die Geschichte der politischen Ideen, sondern durch eine ad hoc entwickelte Staatslehre anzugehen. Natürlich gibt es von dieser generellen Tendenz eine ganze Reihe von wichtigen Ausnahmen; insoweit ist vor allem auf die Arbeiten von Herbert von Arnim, insbesondere auf die "Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland" (1984) hinzuweisen, die das positive Staatsrecht wieder mit der allgemeinen Staatslehre verbindet. Neben den politikwissenschaftlichen Arbeiten zur Geschichte der politischen Theorien gibt es in Deutschland weiterhin Werke der allgemeinen Staatslehre, welche sich bemühen, die Geschichte der Staatsphilosophie unter normativen Aspekten darzulegen. Neue Ansätze zur Demokratietheorie finden sich in diesen Arbeiten aber kaum. Insbesondere werden die Ziele des Demokratieprinzips nicht mehr, wie von der klassischen Tradition vorgezeichnet, näher untersucht. Eine Ausnahme bildet insoweit die "Allgemeine Staatslehre" (1964) von Herbert 183 Vgl. Eisfeld, "Pluralismus", in: Dieter Nohlen, Pipers Wörterbuch zur Politik, Politikwissenschaft, Bd. 1, 1985, S. 691 ff. und die dortige Literatur.

§ 8 Die Entwicklung der Demokratietheorie im 20. Jahrhundert

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Krüger, die sich insbesondere bemüht, die Repräsentationstheorie der Weimarer Zeit und die Theorie der Staatseinheit weiterzuentwickeln und die wichtigen Kapitel über die Parteiendemokratie, die Interessenverbände und die öffentliche Meinung enthält. Auf diese Literatur werden wir im zweiten Teil eingehend eingehen. Auch nach der Verabschiedung des Grundgesetzes werden in der deutschen staatsrechtlichen Literatur nur die durch das Demokratieprinzip geforderten formalen Strukturen, nicht aber der Sinn und Zweck des Demokratieprinzips untersucht. Zum Beweis für diese Behauptung kann auf die sicherlich repräsentativen Vorträge von Wemer von Simson und Martin Kriele vor der Deutschen Staatsrechtslehrervereinigung184 und auf die Beiträge von Böckenförde in dem von Isensee/Kirchhoff herausgegebenen Handbuch des Staatsrechts 185 sowie auf das Lehrbuch des Staatsrechts von Klaus Stem186 verwiesen werden.

184

Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, VVDStRL, Bd. 29, 1971.

185

Bd. I, 1987, § 22.

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 18, S. 587 ff. 186

Zweiter Teil

Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie § 9 Zur Definition des öffentlichen Interesses

(Gemeinwohl und Allgemeininteressen) I. Stand der Lehre und Rechtsprechung

1. Die Lehre von den durch den Staat oder durch das Volk in seiner Gesamtheit repräsentierten Allgemeininteressen wird im Gegensatz zur lebhaften Diskussion noch des 19. Jh. um die Staatszwecke heute kaum noch gepflegt. Sieht man einmal vom monumentalen Werk Peter Häberles 187 über die öffentlichen Interessen ab, sind zu diesem Thema seit dem zweiten Weltkrieg längere Abhandlungen kaum erschienen. Es nimmt deshalb nicht wunder, wenn die neueren Arbeiten über die Staatszwecke sich meist ohne dogmatische Vertiefung darauf beschränken, die Ziele aufzuführen, welche der moderne Staat mit seiner umfassenden Tätigkeit heute faktisch auszuüben pflegt. 188 Versucht man, die Auffassung der herrschenden Lehre über die Allgemeininteressen zu umschreiben, läßt sich grob umrissen feststellen, daß, obwohl der Staat nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts nur öffentliche Interessen verfolgen darf189 und das öffentliche Interesse als Ziel des staatlichen Handeins in zahlreichen Gesetzen verankert ist, das Allgemeininteresse als nicht faßbarer Blankettbegriff verstanden wird, der nicht eigentlich wissen-

187 Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970; vgl. auch: von Zezschwitz, Das Gemeinwohl als Rechtsbegriff, 1967; Kerber/Schwan!Hollerbach, "Gemeinwohl", in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 2, 7 . Aufl. 1986, Spalten 857 ff. ; Stolleis, "Gemeinwohl", in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 1, 3. Aufl. 1987, S. 1062 ff. 188 Vgl. etwa Hesse, Staatsaufgaben, 1979; vgl. aber neuerdings Link/Ress , Staatszwecke im Verfassungsstaat, VVDStRL, Bd. 48, 1990und die Begleitaufsätze zur Staatsrechtslehrertagung sowie lsensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: lsensee/Kirchhof, (Anm. 185), Bd. III, 1988, § 57. 189

BVerfGE 42, 312 (332).

§ 9 Zur Definition des öffentlichen Interesses

97

schaftlieh a priori, sondern nur als Ergebnis des politischen Willensbildungsprozesses festzustellen ist. Bei der Bestimmung der öffentlichen Interessen, welche etwa zu Eingriffen in die Grundrechte legitimieren, ist deshalb insbesondere der Gesetzgeber, wenn die betreffenden öffentlichen Interessen nicht in den Schranken des jeweiligen Grundrechts ausdrücklich aufgezählt werden, relativ frei. Verfassungsrechtliche Schranken werden dem Gesetzgeber nur durch die Tatsache gezogen, daß in gewissen Lebensbereichen ein bestimmtes öffentliches Interesse kraft Konsenses nicht als vertretbares öffentliches Interesse angesehen wird. Allerdings haben die neuere Lehre und Rechtsprechung erkannt, daß das öffentliche Interesse sich jedenfalls partiell mit den durch die Grundrechte geschützten Individualinteressen deckt, daß der Inhalt des Allgemeininteresses zumindest punktuell durch die Grundrechte auch positiv und nicht nur wie bisher nur negativ bestimmt werden kann190 • Auch hierbei handelt es sich aber nur um eine Konzession an den Liberalismus, welche an der strikten Trennung des Allgemeininteresses von den Individualinteressen nichts ändern will. Das Allgemeininteresse wird nämlich von der herrschenden Lehre grundsätzlich als ein Interesse des Staates verstanden, welches von dem Individualinteresse streng zu scheiden ist. 191 Nur in den Randbereichen deckt sich dieses Allgemeininteresse also mit den durch die Grundrechte geschützten Individualinteressen. Soweit ersichtlich, hat nur von Amim in seiner "Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland" 192 diese Ansätze einer Rückkehr zur liberalen Staatszwecklehre konsequent dahin weiterentwickelt, daß der Staat nur die Werte verfolgen darf, welche in den Grundrechten verankert sind. In der folgenden Abhandlung wollen wir es deshalb unternehmen zu zeigen, daß das Allgemeininteresse nichts anderes als die Summe der durch die klassischen und sozialen Grundrechte geschützten Individualinteressen darstellt. 2. Die von der Lehre niemals ausdrücklich behandelten Gründe für eine Verabsolutierung der Allgemeininteressen, für die völlige Trennung des Allgemeininteresses von den Individualinteressen, sind bei näherer Analyse offensichtlich sehr vielschichtig. Eine entscheidende Rolle scheint dabei wohl die Tatsache zu spielen, daß auch die neuere Staatsrechtslehre trotzder Entscheidung des Grundgesetzes für eine Weiterführung der liberalen Tradition noch sehr stark durch die Staatslehren Hegels und der Romantik geprägt ist, nach

190

Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl 1983, S.

191

Vgl. etwa Häberle, (Anm. 187), S. 60 ff. ; ders. (Anm. 190), S. 21.

192

1984, S. 32 ff., 124 ff., insb. 180 ff. ; umfassend ders., (Anm. 126).

21 ff.

7 Bleckmann

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2. Teil: Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie

welcher die organisch gewachsene Staatsgesamtheit mehr als die Summe seiner Teile, das Allgemeininteresse also mehr als die Summe der Individualinteressen ausmacht. Eine entscheidende Rolle scheint in diesem Zusammenhang auch der Gedanke zu spielen, daß das Demokratieprinzip verbietet, mit der Ableitung der Allgemeininteressen aus den Grundrechten dem Parlament im politischen Willensbildungsprozeß zu enge rechtliche Schranken zu ziehen, wie ja überhaupt die erforderliche Flexibilität des staatlichen Handeins in der heutigen bewegten Zeit ein entscheidender Grund für die Ablehnung jeder Staatszwecklehre darstellt. Ein weiterer Grund, der bei der Diskussion um die Allgemeininteressen im Hintergrund mitzuschwingen scheint, ist die Notwendigkeit, die Allgemeininteressen von den Individualinteressen deshalb strikt zu trennen, weil sonst die Individuen im Gerichtsverfahren im Rahmen einer actio popularis auch Allgemeininteressen des Volkes durchsetzen könnten. Und nicht zuletzt spielt es bei der Entscheidung gegen eine Beschränkung des staatlichen Handeins auf die Durchsetzung der Grundrechte i. w. S. eine entscheidende Rolle, daß nach der Auffassung der herrschenden Lehre die Sozialstaatsklausel eine umfassende Ermächtigung zur Gestaltung der Gesellschaft und der Wirtschaft enthält, die eine Beschränkung auf die Durchsetzung vereinzelter Grundrechte nicht zuläßt. 193 3. Die Ergebnisse einer solchen Konzeption der Allgemeininteressen liegen auf der Hand. Auf der einen Seite müssen die zahlreichen Versuche der Verfassung und des Gesetzgebers, den Staat auf die Durchsetzung von öffentlichen Interessen zu beschränken, an der Tatsache notwendig scheitern, daß es sich hier um einen die Staatszwecke nur am Rande beschränkenden Blankettbegriff handelt. Das hat vor allem zur Folge, daß trotz der Beschränkung des Eingriffsrechts auf die Durchsetzung öffentlicher Interessen die Grundrechte gegen die staatlichen Eingriffe nicht hinreichend geschützt werden können. Auf der anderen Seite erscheint es auch nicht möglich, dem objektiven Rechtsstaatsprinzip entsprechend194 sicherzustellen, daß zumindest wesentliche Allgemeininteressen sich im politischen Willensbildungsprozeß und im Gerichtsverfalrren durchsetzen lassen, obwohl dies wegen des Drucks der Interessenverbände und der Wahlversprechen der Regierungen zunehmend von Bedeu-tung wird. Natürlich ist bei einer solchen Konzeption der Allgemeininteressen auch die Entwicklung einer neuen Staatszwecklehre nicht möglich. Das hat vor allem

193 Vgl. schon Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, VVDStRL, Bd. 10, 1952, S. 74; daran anknüpfend Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL, Bd. 12, 1954, S. 37 ff., insbesondere S. 39 f.; vgl. weiterhin die Aufsätze in Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968. 194 Bleckmann, Vom subjektiven zum objektiven Rechtsstaatsprinzip, JÖR n.F. Bd. 36 (1987), 1 ff.

§ 9 Zur Definition des öffentlichen Interesses

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zur Folge, daß dem vom Bundesverfassungsgericht postulierten Prinzip der Einheit der Verfassung195 widersprechend die Beziehungen des Staatsorganisationsrechts und insbesondere des Demokratieprinzips zum Grundrechtsteil des Grundgesetzes verloren gegangen sind und nicht mehr erkannt wird, daß die organisatorischen Prinzipien nur 4er Durchsetzung der Grundrechte im politischen Willensbildungsprozeß und im Gerichtsverfahren dienen, daß also etwa das Demokratieprinzip nur der Durchsetzung des Rechts- und des Sozialstaatsprinzips dient und deshalb in diesen Prinzipien auch seine Grenzen findet.

ß. Zur historischen Entwicklung der Staatszwecklehre196 1. Die Diskussion um das "bonum commune" spielte zwar schon im Mittelalter, etwa bei Thomas von Aquin eine entscheidende Rolle. Bei der Grundlegung der Legitimation des Staates in der Religion war dieses öffentliche Interesse damals aber noch vor allem auf die Durchsetzung "jenseitiger" Ziele ausgerichtet. In der Neuzeit, auf die wir uns hier beschränken müssen, wurde die Legitimationsgrundlage des Staates dagegen von vornherein auf die durch die Grundrechte geschützten Individualinteressen bezogen. Eigentlich war diese Umstellung der Legitimationsgrundlage schon bei Jean Bodin sehr deutlich, welcher das Souveränitätsprinzip aus dem Bedürfnis nach Frieden als Voraussetzung einer sinnvollen Ausübung aller Grundrechte entwickelte. 197 Diese Ansätze wurden dann von Thomas Hobbes weitergeführt. 198 Dieser für die moderne Staatsentwicklung so wichtige Philosoph wandte auf die Sozialwissenschaften die naturwissenschaftlichen Methoden an, die vor allem von Galilei, Newton, Kepler und Descartes entwickelt worden sind. Danach ist ebenso wie das Universum auch der Staat in einem mechanisch verstandenen Sinne als eine Maschine oder als ein Uhrwerk zu betrachten, dessen Funktionieren sich aus der Bewegung seiner Einzelteile erklären läßt. Damit ist jede Gesamtheit in einem ersten Schritt der Analyse in ihre Einzelteile zu zerlegen; in einem zweiten Schritt der Synthese ist das Funktionieren dieser Gesamtheit aus der Bewegung dieser Einzelteile zu erklären. Kennt man also die Einzelteile und ihr Verhalten, läßt sich die jeweilige Gesamtheit eindeutig bestimmen. 195 V gl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rdnr. 20 m.w.N. 196 Zur historischen Entwicklung vgl. Herzog, "Gemeinwohl", in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974, S. 247 ff.

197 Bermbach, Widerstandsrecht, Souveränität, Kirche und Staat. Frankreich und Spanien im 16. Jahrhundert, in: Fetscher/Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, Neuzeit: Von der Französischen Revolution bis zum europäischen Nationalismus, 1985, S. 101 ff., 134 ff. 198 Euchner, Hobbes , in: Fetscher/Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, S. 353 ff.

7•

100

2. Teil: Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie

Im Staat sind diese Einzelteile nun die Individuen; die Bewegungsgesetze sind dagegen in den Individualinteressen zu suchen. Die entscheidende Entdeckung von Hobbes war nun, daß wegen des Krieges aller gegen alle im Naturzustand die wesentlichsten Interessen der Individuen nicht befriedigt werden können. Die notwendige Folge ist der Abschluß eines Gesellschaftsvertrages, welcher durch die Übertragung der Macht auf den staatlichen Souverän sicherstellt, daß der Staat die Interessen der Individuen gegen die Eingriffe der anderen Individuen schützt.

Diese zutiefst individualistische Konzeption des Staates sollte zum Leitbild aller folgenden Generationen von Liberalen werden, obwohl Hobbes selbst diese liberale Konzeption letztlich durch eine besondere Konstruktion des Gesellschaftsvertrages zum Absolutismus hin verbog: In der Tat wurde der Gesellschaftsvertrag nur zwischen den Individuen geschlossen. Obwohl durch diesen Vertrag die Souveränität auf den Fürsten übertragen wurde, war der Fürst, da er selbst nicht Partner des Gesellschaftsvertrages war, an diesen Vertrag nicht gebunden. Die notwendige Folge war, daß nach Hobbes - obwohl auch nach dessen Konzeption das Allgemeininteresse sich mit der Summe der Individualinteressen deckte - nicht an einen bestimmten Staatszweck gebunden war. Diese Verzerrung der liberalen Grundkonzeption wurde Ende des 17. Jh. dann von John Locke199 richtiggestellt Sein persönlicher Beitrag war dabei zunächst, daß das Individualinteresse, welches zum Abschluß des Gesellschaftsvertrages führt, im Gegensatz zu Bodin und Hobbes nicht primär der Wunsch nach Frieden, sondern die Durchsetzung des Eigentums war, dessen Begriff Locke so weit ausdehnte, daß er alle modernen Handlungsfreiheiten umfaßte. Da nach Locke zur Erreichung dieser Ziele die Individuen nicht nur untereinander, sondern auch mit dem Fürsten einen Gesellschaftsvertrag schlossen, war auch die Macht des Fürsten auf die Durchsetzung der Grundrechte beschränkt. Di~se Konzeption wurde dann vom Liberalismus des 18. und 19. Jh. näher präzisiert. Sie führte unmittelbar zum liberalen "Nachtwächterstaat", in welchem der Staat nur noch die Aufgabe besaß, mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit nach innen (Polizei- und Strafrecht) und außen (Verteidigungspolitik) dafür zu sorgen, daß die Grundrechte gegen die Eingriffe Dritter geschützt wurden. Dieser Staatszwecklehre lag also gerade nicht die Abwehrfunktion der Grundrechte gegen den Staat, sondern der Gedanke der Drittwirkung der Grundrechte zugrunde sowie ihre Funktion als Grundlage einer umfassenden Schutzpflicht des Staates. Sie wurde implizit von der Lehre des klassischen Gesetzesvorbehalts übernommen. Nach der sich seit Rousseau, 199 Seliger, Locke, in: Fetscher/Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, S. 381 ff.

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der ja ebenfalls als Grundrecht nur die aktiven Demokratierechte kannte, verbreitenden liberalen Ideologie war nämlich eine Abwehrfunktion der Grundrechte gegen den Staat deshalb nicht erforderlich, weil das Parlament als "Ausschuß des Bürgertums" automatisch die durch die Grundrechte geschützten Individualinteressen des Bürgertums durchsetzen würde und infolge des Gesetzesvorbehalts und der parlamentarischen und richterlichen Kontrolle der Verwaltung sichergestellt war, daß auch die Verwaltung sich an diese Grundrechte hielt. Die Grundrechte hatten also in einer solchen Sicht keine unmittelbare, vom Richter zu beachtende Wirkung, sondern dienten nur der Konkretisierung des ihre Durchsetzung sicherstellenden, die Kompetenz des Parlaments umreißenden Vorbehalts des Gesetzes für Eingriffe in "Eigentum und Freiheit". Da gerade dieser Gesetzesvorbehalt sich auf das Straf-, Polizei- und das bürgerliche Recht (unerlaubte Handlungen) bezog, wurden auch in dieser Funktion die Grundrechte nur als Schutz-pflichten relevant. Dabei konnten die Staatsaufgaben des "Nachwächterstaates"200 deshalb auf die Durchsetzung der klassischen Freiheiten beschränkt bleiben, weil das wegen des Zensuswahlrechts damals tonangebende Bürgertum seine heute durch die sozialen Grundrechte geschützten wirtschaftlichen und sozialen Interessen im Rahmen der Ausübung nur der Handlungsfreiheiten hinreichend durchsetzen konnte; ja nach der klassischen Wirtschaftslehre des laissez-faire wurden durch den Selbstregulierungsprozeß der Wirtschaft diese sozialen und wirtschaftlichen Interessen sogar optimaler befriedigt als durch die im vorangehenden Merkantilismus übliche Lenkung der Wirtschaft durch den Staat. Diese Situation begann sich nun in der zweiten Hälfte des 19. Jh. grundlegend zu wandeln. Infolge der allmählichen Erweiterung des Wahlrechts mußte der Staat nun auch die Interessen der Arbeiter berücksichtigen, die ihre sozialen und wirtschaftlichen Interessen nicht alleine im Rahmen der Ausübung ihrer Freiheiten durchsetzen konnten, sondern stets auf staatliche Förderung angewiesen waren. Auf der anderen Seite hatten sich durch die technische Entwicklung die Möglichkeiten der Interessenbefriedigung und damit auch der Umfang dieser Bedürfnisse auch der Bürgerklasse vervielfältigt; auch die Bürgerklasse besaß aber nicht mehr die für eine solche Bedürfnisbefriedigung erforderlichen personellen, sachlichen und vor allem finanziellen Mittel. Wenn also diese Interessen, denen von Anfang an die klassischen Freiheiten als Mittel dienen sollten, heute nur noch durch Leistungen und Vorkehrungen des Staates befriedigt werden können, müssen - wenn diese Ziele sich in der heutigen Zeit noch durchsetzen sollen - aus den klassischen Freiheiten soziale Grundrechte entwickelt werden.

200 von Humboldt, Ideen zu einem Versuche, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1. Gesamtveröffentlichung, 1851

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2. Teil: Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie

Diese Darlegungen zeigen, daß entgegen der moderneren Auffassung, die in der Entwicklung vom "Nachtwächter"- zum modernen Sozialstaat einen deutlichen Bruch sieht, mit den Kategorien des Liberalismus auch die moderne Entwicklung des Wohlfahrtsstaats erklärt werden kann, daß sogar dieser Wohlfahrtsstaat sich eigentlich aus dem "Nachtwächterstaat" konsequent weiterentwickelt hat. Diese Entwicklung des Liberalismus fand in der ersten Hälfte des 19. Jh. einen gewissen Abschluß in den Lehren der britischen Utilitaristen. Denn Jeremy Benthams Formel vom "größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl "201 , die von John Stuart Mill202 aufgegriffen und verfeinert worden ist, zeigte deutlich, daß das Allgemeininteresse aus einer gerechten Abwägung der Individualinteressen hervorgeht; Bentham und Mill wurden damit die Vorläufer der modernen Interessenjurisprudenz. 2. HegeF03 und die folgende romantische und historische SchuleW" haben dann zu Beginn des 19. Jh. infolge einer historisch notwendigen Reaktion auf die Übertreibungen des Rationalismus in der Aufklärung und vor allem in der Französischen Revolution ein Gegenbild zur mechanischen Wissenschaftskonzeption der Neuzeit entworfen, die heute in der Staatszwecklehre noch weiterwirkt, vor allem aber in der modernen Wissenschaftskonzeption der Naturwissenschaften eine bedeutende Renaissance erlebt hat. Die mechanische sollte dabei durchgehend durch eine organische Konzeption des Staates abgelöst werden. Nach der Auffassung Hegels und der Romantik sind der Mensch und der Staat keine Maschinen, sondern lebende Organismen, deren Funktionieren, da diese Organismen mehr als die Summe ihrer Teile sind, nicht aus dem Zusammenspiel der Einzelteile erklärt werden kann. Das ist sicherlich insoweit richtig, als nach der neueren, seit Herder und Regel entwickelten Konzeption der Gesellschaftswissenschaften das Individuum nicht nur isoliert nicht leben kann, sondern der ständigen Hilfe durch die Gemeinschaft bedarf, vor allem aber sein Bewußtsein fast völlig durch die historischen Geistesströmungen bestimmt wird, die sich von den Individuen verselbständigt auf einer kollektiven Ebene nach "makrowissenschaftlichen" Gesetzen entwickeln. Ihren Ausgangspunkt fand diese moderne Auffassung dabei in den Philosophien Herdersund Hegels, nach denen die Geistesentwicklung nichts anderes als den

201 Bentham, Principles of Morals and Legislation, 1798, ND 1961, Chapter I: The Principle of Utility. 202

Mill, Utilitarism, 1861, ND 1964.

203

Vgl. Avineri, (Anm. 132).

204

Baxa, (Anm. 167).

§ 9 Zur Deftnition des öffentlichen Interesses

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Gang des objektiven Geistes durch die Weltgeschichte darstellt, der sich nacheinander in dem Geist der einzelnen Völker manifestiert. Ist der Staat aber mehr als die Summe der zum Volk zusammengefaßten Individuen, ist auch das Allgemeininteresse offensichtlich mehr als die Summe der Individualinteressen. Insbesondere Hegel hat dabei entscheidend dazu beigetragen, dieses durch den Staat repräsentierte Allgemeininteresse von den Individualinteressen abzuheben. In seiner Sicht ist der Staat die vollendete Sittlichkeit und hat er deshalb einen sehr viel höheren Wert als die Gesellschaft als Summe der Individuen, in welcher das egoistische Individualinteresse herrscht205 • Obwohl Hegel den von ihm entwickelten Gedanken einer Trennung von Staat und Gesellschaft von Adam Smith übernommen hat, hat er in dieser Konzeption die bei Adam Smith sehr hohe Bewertung der Gesellschaft in ihr Gegenteil verkehrt. Denn nach Adam Smith, der insoweit auf die Bienenfabel von Mandeville zurückgreift, wird das Allgemeininteresse des Volkes gerade dann optimiert, wenn die Individuen im Selbstregulierungsprozeß der Gesellschaft eben nur ihren egoistischen Individualinteressen rational folgen. 206 Wie stark dabei der Einfluß von Smith auf Hegel war, zeigt sich sehr deutlich in der Tatsache, daß auch Hegel die Mandevillsche Formel mit seinem Rückgriff auf die "List der Geschichte" in sein Entwicklungssystem des objektiven Geistes eingebaut hat. 3. Der "Kollektivismus" Hegels, der deutschen Romantik und der historischen Schule haben uns bewußt werden lassen, daß - wie schon Edmund Burke207 dies gezeigt hat - das Funktionieren von Staat und Gesellschaft nicht nur aus dem Zusammenwirken der Individuen erklärt werden kann, sondern daß man insofern auch auf "makroverfassungsrechtliche" Methoden zurückgreifen muß. Auch hat diese Schule uns gezeigt, daß der Staat nicht nur einen Mechanismus, sondern auch einen Organismus duldet, der historisch gewachsen und deshalb weitgehend nur aus der Tradition erklärt werden kann; dabei wird insbesondere auch deutlich, daß der Rückgriff auf die Tradition durchaus auch dem Aufklärungsgeist entspricht, weil die ratio der Institutionen eben häufig nicht allein durch die spekulative Vernunft festgestellt werden kann. Entsprechend der No-twendigkeit, die These der Aufklärung und die Antithese der romantischen Schule in einer dialektischen Synthese miteinander 205 Vgl. grundsätzlich zum Verhältnis Staat und Gesellschaft Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Isensee/Kirchhof (Anm. 185), Bd. I, 1987, § 28 . 206

Smith, (Anm. 54).

207

Burke, (Anm. 58).

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2. Teil: Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie

zu verbinden, neigen wir deshalb heute dazu, "individualistisches" und "kollektivistisches" Denken nicht als Gegensätze, sondern als notwendige Ergänzungen zu begreifen. In der Gesellschaftswissenschaft führt das etwa dazu, daß die Wechselwirkungen zwischen dem individuellen und dem kollektiven Denken untersucht werden. All dies kann aber nicht bedeuten, daß der Individualismus heute überhaupt keine Rolle mehr spielen kann. Wenn auch selbst die großen Philosophen durch die Geistesströmungen ihrer Zeit "konditioniert" werden, entwickelt sich der objektive Geist letztlich nur durch die philosophischen und wissenschaftlichen Beiträge einzelner Forscher und Künstler: Der objektive Geist kann in der Terminologie Hegels nur im subjektiven Geist der Individuen sich selbst bewußt werden. Insbesondere wird sich aber zeigen, daß - wenn auch der Staat nicht nur mit einem Uhrwerk verglichen werden kann, sondern nach dem Organismusprinzip mehr als die Summe seiner Teile darstellt, grundsätzlich der liberale Leitgedanke nicht aufgegeben werden darf, daß die Allgemeininteressen nur die Summe der Individualinteressen darstellen.

111. Zur Entwicklung des Begriffs der Allgemeininteressen Um diese Behauptung zu rechtfertigen, müssen wir zunächst untersuchen, ob sich die Allgemeininteressen überhaupt erklären lassen, wenn man sie mit der Summe der Individualinteressen gleichsetzt. 1. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die primäre Kategorie der öffentlichen Interessen, die ich deshalb das "quantitative Allgemeininteresse" nenne, sich nur als Summe von Individualinteressen verstehen läßt: a) Das gilt etwa für die baurechtliehen Interessen an der Feuer- und Standsicherheit, an hinreichendem Zutritt von Licht und Luft, die sich nur als die Gesundheitsinteressen der Bauherren und ihrer Nachbarn repräsentieren. Ähnliches gilt für das Bauordnungsrecht, in welchem neben dem Gesundheitsinteresse der Individuen vor allem deren ästhetisches Interesse geschützt wird. Aber auch das moderne Umwelt- und Wasserrecht, das Sozialversicherungsrecht, das Bildungsrecht - um nur einzelne Beispiele zu nennen, die beliebig vermehrt werden könnten - schützen nur die Individualinteressen entweder des gesamten Volkes oder einzelner Bevölkerungsschichten. b) Dabei übersehe ich nicht, daß es sich dabei häufig nicht um das jeweilige Interesse aller Individuen des gesamten Volkes, sondern insbesondere bei den konkreten Einzelakten des Staates immer nur um das Interesse eines einzelnen Bevölkerungsteils, ja eines einzelnen Individuums handelt: Setzt man das Allgemeininteresse, wie dies wohl notwendig ist, mit der Summe der Indivi-

§ 9 Zur Definition des öffentlichen Interesses

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dualinteressen des ganzen Volkes gleich, handelt es sich bei diesen Individualinteressen einzelner Bevölkerungsteile und einzelner Individuen um Allgemeininteressen in diesem Sinne auf den ersten Blick nicht. Dieses Problem kann aber gelöst werden, wenn man berücksichtigt, daß infolge der Rückwirkung der Beeinträchtigung des Individualinteresses nur eines Teils des Volkes die Interessen aller anderen Bürger beeinträchtigt werden und auf der anderen Seite gerade unter der Einwirkung der modernen Menschenrechtskonzeption und insbesondere des Gleichheitssatzes die Individuen sich aus Solidaritätsgründen mit den Interessen der jeweils anderen Individuen weitgehend identifizieren. Die zur Interessenbefriedigung notwendige, stets wachsende Arbeitsteilung führt also nicht nur zu einer steigenden Aufspaltung der Individualrollen und damit zu einem "Splitting" der Individualinteressen, die häufig gegeneinander verlaufen, sondern gleichzeitig auch zu einer wegen der wachsenden Interdependenz steigenden Solidarität des gesamten Volkes. Dieser Rückwirkungsmechanismus insbesondere wird deutlich, wenn man bedenkt, daß alle Bürger ein erhebliches wirtschaftliches Interesse einerseits an steigenden Unternehmergewinnen, andererseits an hohen Löhnen der Arbeiter haben, weil die Investitionen für das Wirtschaftswachstum und die Vollbeschäftigung, die hohen Löhne aber für die Kaufkraft des Volkes notwendig sind, weil nur so Depressionen vermieden werden können. c) Ich verkenne dabei auch nicht, daß infolge der wachsenden Notwendigkeit staatlicher Verteilungsleistungen infolge der knapper werdenden Mittel durch die Tatsache, daß der Staat mit der Begünstigung eines Teils der Bevölkerung stets die Interessen anderer Bevölkerungsteile benachteiligen muß, die Individualinteressen der Bürger heute im Gegensatz zur Lage im 19. Jh. , wo es nur um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ging, heute nicht mehr parallel, sondern weitgehend gegeneinander verlaufen. Um zu verstehen, daß auch in einer solchen Situation die Allgemeininteressen mit der Summe der Individualinteressen der gesamten Bevölkerung identisch sind, muß man sich allerdings von dem die Lehre beherrschenden Bild freimachen, es gebe immer nur ein einziges, eben das Allgemeininteresse des Staates. Etwa in der Umweltschutz- und in der Verteidigungspolitik sehen wir, daß das öffentliche Interesse am Umweltschutz mit dem öffentlichen Interesse an einem optimalen Wirtschaftswachstum, das Interesse an einer optimalen Verteidigung etwa mit dem Interesse an einer Erweiterung der Bildungschancen konkurriert. Trotz dieser Gegenläufigkeit der betreffenden öffentlichen Interessen handelt es sich sicherlich in diesen Fällen jeweils um öffentliche Interessen, zwischen denen durch eine Abwägung ein Komprorniß gefunden werden muß, den man das Allgemeininteresse nennen kann. Dasselbe gilt nun, wenn und so weit sich den Interessen der Bevölkerungsgruppe A die Interessen des Bevölkerungsteils B entgegenstellt. Wegen der oben aufgezeigten Identifikation der Bürger mit den Fremdinteressen handelt es sich sowohl bei den Interessen von A als auch

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2. Teil: Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie

bei den Interessen von B grundsätzlich um Privatinteressen des gesamten deutschen Volkes, deren Gegenläufigkeit wie bei den kategorisch (?) unterschiedlichen Umweltschutz- und Wirtschaftsinteressen durch eine Interessenabwägung, d.h. aber durch einen Kompromiß, zu überwinden ist. 2. Ich übersehe ferner nicht, daß neben den bisher behandelten quantitativen Allgemeininteressen, die - wie wir gesehen haben - nichts anderes als die Summe von Individualinteressen verstanden werden können, spezielle "qualitative" Allgemeininteressen treten, die auf den ersten Blick mit Individualinteressen nichts zu schaffen haben. Es handelt sich dabei etwa um die Interessen am Staatsautbau, am Funktionieren des Staates, an den Kompetenzen und dem Zusammenspiel der einzelnen Staatsorgane sowie um die hierfür erforderlichen sachlichen, personellen und vor allem finanziellen Mittel. So besteht etwa ein erhebliches öffentliches Interesse an einem ordnungsgemäßen Funktionieren von Verwaltung und Rechtspflege, aber auch etwa an einer optimalen Außen- und Verteidigungspolitik. Das damit angesprochene Problem der Identifizierung der Individual- mit den qualitativen Allgemeininteressen wird deutlicher, wenn man wiederum die historische Entwicklung berücksichtigt. Bis ungefähr zur Mitte des 19. Jh. waren diese Staatsinteressen, vor allem die Ausweitung und Erhaltung der staatlichen Kompetenzen und damit der Macht, das eigentliche Ziel der Innenund Außenpolitik. Unter dem Einfluß des Sozialstaatsprinzips hat sich dieses Verständnis gründlich gewandelt. Primäres Ziel der Innen- und Außenpolitik und damit der staatlichen und der internationalen Rechtsordnung ist nicht mehr die Sicherung der Kompetenzen, sondern die Durchsetzung der durch die klassischen und sozialen Grundrechte geschützten Wohlfahrtsinteressen der Völker. In dieser Sicht stellen sich der Staat und seine Macht und Kompetenzen nur als Mittel zur Durchsetzung dieserneuen Endziele dar. Man kann dies auch dahin ausdrücken, daß - da die Individuen ihre Interessen allein nicht mehr befriedigen können - aus den quantitativen Primärinteressen sekundäre Allgemeininteressen als Mittel zur Befriedigung der Individualinteressen sich entwickeln: Die Individualinteressen sind nunmehr auch auf die Einsetzung und das Funktionieren des Staatsapparats, der Kompetenzen, der Finanzen usw. gerichtet. IV. Die IdentifiZierung der Allgemeininteressen mit den durch die klassischen und sozialen Grundrechte geschützten Individualinteressen Haben wir so nachgewiesen, daß die Allgemeininteressen als Summe der Individualinteressen verstanden werden müssen, bleibt nun zu zeigen, daß es

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sich bei diesen Individualinteressen nur um die durch die Grundrechte geschützten Interessen handelt. Denn nur so läßt sich beweisen, daß das Staatsorganisationsrecht und insbesondere das Demokratieprinzip nur der Durchsetzung der klassischen und sozialen Grundrechte und damit des Rechtsstaats- und des Sozialstaatsprinzips dienen. Dem könnte vor allem die Tatsache widersprechen, daß der moderne Staat zahlreiche Allgemeininteressen durchsetzen muß, die selbst wenn sie mit der Summe der Individualinteressen des gesamten Volkes übereinstimmen, doch von den Grundrechten deshalb nicht erfaßt werden, weil die Grundrechte eben nur auf den Schutz ganz bestimmter, heute besonders wichtiger Individualinteressen ausgerichtet sind. Dem steht nun entgegen, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts208 schon Art. 2 I GG Schutz gegen alle "Belastungen" und "Nachteile" gewährt und damit alle schützenswerten Interessen der Bürger umfassen muß. Auf der anderen Seite haben die neuere Lehre und Rechtsprechung deutlich erkannt, daß über diese Rechte noch weit hinaus die klassischen Freiheiten, aber auch das Sozialstaatsprinzip und insbesondere der Gleichheitssatz umfangreiche wirtschaftliche und soziale Privatinteressen schützen. Ebenso wurde das Rechtsstaatsprinzip vom Bundesverfassungsgericht so weit ausgedehnt, daß es etwa mit dem Rückwirkungsverbot sich auf alle schützenswerten Interessen des Bürgers erstreckt. Ähnliches gilt vom Gleichheitssatz, der eine "Benachteiligung" durch die Differenzierung oder Nichtdifferenzierung voraussetzt und damit alle schützenswerten Individualinteressen umfaßt. Um welche Interessen es sich dabei im einzelnen handelt, kann insbesondere durch Rückgriff auf die unterverfassungsrechtliche Rechtsordnung, etwa das BGB und das Strafrecht insbesondere dann näher gezeigt werden, wenn man berücksichtigt daß alle diese Gesetze nur eine Konkretisierung der liberalen Grundrechtskonzeption darstellen. Damit gelangen wir aber zu dem Ergebnis, daß das Grundgesetz letztlich alle schützenswerten Interessen schützt, die Gegenstand der Politik des modernen Wohlfahrtsstaates sind. Das bedeutet aber, daß die Identifikation des Allgemeininteresses mit den Individualinteressen nur bedeuten kann, daß das Allgemeininteresse mit der Summe der von den klassischen und sozialen Grundrechten im weiteren Sinne geschützten Individualinteressen identisch ist. Dem steht die Tatsache nicht entgegen, daß - wie weiter unten darzulegen ist die Grundrechte in diesem weiten, oben entwickelten Umfang nicht sämtlich justitiabei sind, weil sie auch als politische, aber rechtlich bindende Leitlinie für das Parlament verstanden werden können, die das Parlament zwar nicht

208 Vgl. hierzu Bleckmann, Darlegungen zu Art. 2, in: ders. , Staatsrecht II- Die Grundrechte, 4.Aufl. 1997, S. 591 ff. mit umfangreichen Nachweisen zur Rechtsprechung.

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2. Teil: Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie

unter der richterlichen, aber unter einer entsprechenden Selbstkontrolle durchzusetzen hat. V. Die Staatszwecklehre des Grundgesetzes Selbst wenn wir so nachgewiesen haben, daß die Allgemeininteressen sich mit der Summe der durch die klassischen und sozialen Grundrechte geschützten Individualinteressen decken, ist damit die Behauptung noch nicht bewiesen, daß letztlich das Grundgesetz eine solche Identifizierung der Allgemeininteressen mit den Individualinteressen tatsächlich auch verlangt. 1. Insofern läßt sich zunächst darauf hinweisen, daß - wie wir oben gezeigt haben - die quantitativen im Gegensatz zu den nur qualitativen Allgemeininteressen immer nur als Summe von Individualinteressen verstanden werden können; das Grundgesetz muß also notwendig von einer solchen Identifizierung ausgehen. 2. Zweitens kann darauf hingewiesen werden, daß die herrschende Lehre selbst zumindest ansatzweise das Grundgesetz in einem solchen Sinne interpretiert: a) Zunächst wird aus der Würde des Menschen nämlich auch der Rechtssatz abgeleitet, daß nicht das Individuum dem Staat, sondern der Staat dem Individuum zu dienen habe. 209 Wird dieser Grundsatz aber konsequent weiterentwickelt, führt er notwendig zur Identifikation der Allgemeininteressen mit der Summe der Individualinteressen. Damit eng verbunden ist die Tatsache, daß letztlich nur Individuen Interessen besitzen, das Allgemeininteresse mit den Interessen der Machteliten identifiziert werden müßte, wenn es sich dabei eben nicht dem Demokratieprinzip entsprechend um die Individualinteressen des ganzen deutschen Volkes handeln muß. b) Ferner versteht zumindest ein Teil der Lehre die Grundrechte auch als Direktive, aus der sich der Inhalt oder zumindest das Ziel der Gesetze ableiten läßt. 210 Eng damit verbunden ist die Tatsache, daß das Rechts- und das Sozialstaatsprinzip, das Bundesstaats- und das Demokratieprinzip als "Staatszielbestimmungen" bezeichnet werden; 211 eine solche Definition aber ist nur

209 Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, S. 8 ff.; von Arnim, (Anm. 193), S. 218 ff. 210

Vgl. dazu Bleckmann, (Anm. 208), S. 330.

211

Vgl. dazu Stern, (Anm. 186), Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 121 f. m.w.N.

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richtig, wenn die Grundrechte den Inhalt oder zumindest das Ziel des staatlichen Handeins bestimmen und nicht dem staatlichen Handeln nur Schranken ziehen. 212 c) Die herrschende Lehre erkennt schließlich auch, daß die Allgemeininteressen sich zumindest partiell mit den Individualinteressen decken, welche durch die Grundrechte geschützt werden. Wenn und soweit sich nun aus diesen Grundrechten entsprechende Individualinteressen ableiten lassen, deren Summe mit den Allgemeininteressen zusammen fällt, bleibt für ein danebenstehendes, von den Individualinteressen abgehobenes Allgemeininteresse eigentlich kein Raum mehr. d) Das Sozialstaatsprinzip wird von der herrschenden Lehre schließlich zu Recht als eine umfassende Ermächtigung zur Gestaltung und Umgestaltung der Gesellschaft und der Wirtschaft verstanden. 213 Damit geht die herrschende Lehre aber davon aus, daß eine solche Ermächtigung nach Ansicht des Grundgesetzes erforderlich war. In der Tat verlöre die Sozialstaatsklausel dem effet utile-Prinzip214 widersprechend ihren eigentlichen Sinn, wenn der Staat öffentliche Interessen jeder Art verfolgen dürfte, deren Inhalt er völlig frei bestimmt. Gerade wenn also das Sozialstaatsprinzip eine solche umfassende Ermächtigung enthält, erscheint es notwendig, ein Staatszweckmodell zu entwerfen, welches das Handeln des Staates so beschränkt, daß eine entsprechende Erweiterung durch die Sozialstaatsklausel erforderlich wird. 3. Ferner erhält das Demokratieprinzip und damit der Kernbereich des Staatsorganisationsrechts über die rein formelle Seite hinaus nur dann einen materiellen Sinn, wenn es der Durchsetzung der durch die klassischen und sozialen Grundrechte geschützten Individualinteressen, also der Verwirklichung des Rechts- und des Sozialstaatsprinzips zu dienen bestimmt ist. In der Tat kann man in einer Massendemokratie, in welcher das Individuum sich kaum noch mit der Volksgesamtheit identifiziert, angesichts der Ohnmacht des isolierten Individuums nicht mehr davon ausgehen, daß das Demokratieprinzip primär nur der Ersetzung der Fremd- durch die Selbstherrschaft dient. Soll dann das Demokratieprinzip überhaupt noch einen materiellen Zweck besitzen, muß es die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung, d.h. aber einer sachlich gerechten Abwägung aller durch die Grundrechte geschützten Individualinteressen gewährleisten. Daß dies tatsächlich die Auffassung des Grundge-

212

Vgl. dazu ausführlich Häberle (Arun. 190), S. 116 ff. m.w.N.

Vgl. die in Arun. 194 angegebenen Aufsätze sowie Stern (Arun. 186), S. 886 ff. m.w.N. 213

214 Leisner, Effizienz als Rechtsprinzip, 1971; vgl. dem Sinn nach auch BVerfGE 6 , 55, 71.

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2. Teil: Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie

setzes ist, zeigt sich dabei in der Tatsache, daß auch in einer Erweiterung auf alle grundrechtsrelevanten Fragen durch die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Gesetzesvorbehalt, der eng mit dem demokratischen Selbstverständnis des Grundgesetzes verbunden ist, primär dem Schutz der Grundrechte dient. Denn nur wenn das Ziel des Demokratieprinzips die Durchsetzung der Grundrechte ist, wird die Funktion des Demokratieprinzips deutlich und vor allem der Bruch vermieden, welchen die klassische Lehre nicht überwinden kann: In der Tat soll das Demokratieprinzip nach der herrschenden Lehre dem Individualschutz insoweit dienen, als das Parlament im Rahmen des Gesetzesvorbehalts tätig wird. Im Gegensatz zur konstitutionellen Monarchie ist die Tätigkeit des Parlaments aber heute nicht mehr auf diesen klassischen Gesetzesvorbehalt beschränkt; das Parlament kann vielmehr, soweit die Zuständigkeit des Bundes oder Landes reicht, alle Materien selbst dann regeln, wenn in der klassischen Grundrechtskonzeption Individualinteressen nicht betroffen werden. Da die herrschende Lehre nicht sieht, daß es sich auch in dem umfassenderen Bereich der Parlamentskompetenz außerhalb des Gesetzesvorbehalts nur um die Durchsetzung von Individualinteressen handelt, muß sie davon ausgehen, daß das Parlament hier als "Hüter der Allgemeininteressen" tätig wird, die von den Individualinteressen strikt zu trennen sind. Damit aber greift in der Mitte der Zuständigkeit des Parlaments eine Grenzlinie ein, kann also wegen dieses Bruchs die umfassende Parlamentskompetenz nicht mehr einheitlich erklärt werden. Darüber hinaus bleibt zu zeigen, daß das Funktionieren des Demokratieprinzips nur dann richtig erklärt werden kann, wenn es ohne einen solchen Bruch sich in vollem Umfang nur um die Durchsetzung von Individualinteressen handelt. Das haben übrigens die Interessenverbände viel deutlicher erkannt als die herrschende Staatsrechtslehre: In der Sicht der konstitutionellen Monarchie wie des Grundgesetzes setzt dabei der Grundrechtsteil der Verfassung eine Optimierung oder sogar Maximierung der durch die Grundrechte geschützten Interessen der Bürger voraus. Eine solche Maximierung seiner durch die Grundrechte geschützten Interessen ist grundsätzlich aber nur möglich, wenn der Inhalt und das gegenseitige Gewicht der durch die Grundrechte geschützten sozialen Interessen letztlich vom Grundrechtsträger im Lichte seiner subjektiven Wertordnung selbst festgelegt wird. Nur soweit das Grundgesetz in den Grundrechten präzise und damit justitiable Schlüsse gestattet, kann davon ausgegangen werden, daß wegen des Konsenses des deutschen Volkes in den Werten des Grundgesetzes über den Inhalt und das gegenseitige Gewicht dieser Interessen ein hinreichender Konsens der Grundrechtsträger besteht. Soweit dies nicht der Fall

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ist, müssen der Inhalt und das gegenseitige Gewicht der "nichtjustitiablen" Grundrechte durch die Rückbindung des Parlaments an den Wählerwillen im Lichte der Wertordnung der Grundrechtsträger näher konkretisiert werden. Da der Richter nicht gewählt wird und die öffentliche Meinung auf das Gerichtsverfahren keinen Einfluß haben kann und darf, können die Grundrechte als "politische Leitlinien des Gesetzgebers" nur im politischen Willensbildungsprozeß und nicht durch den Richter näher konkretisiert werden. Aus diesen Grundsätzen des Demokratie- und des Rechtsstaatsprinzips fließt also die Beschränkung des Richters durch das Gewaltenteilungsprinzip auf die Durchsetzung der Rechtsordnung, nach welcher der Richter für seine Entscheidung stets eines hinreichend präzisen rechtlichen Maßstabes bedarf. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, daß nur eine solche neue Staatszwecklehre dem vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Postulat der Einheit der Verfassung215 gestattet, die organisationsrechtlichen Grundsätze der Verfassung mit den Grundrechten, also das Demokratie- mit dem Rechtsstaatsund dem Sozialstaatsprinzip in einer systematischen Einheit zu verbinden. 4. Das Demokratieprinzip soll durch eine ständige Anpassung der staatlichen Rechtsordnung an den Volkswillen eine Revolution überflüssig machen und so die Stabilität der demokratischen Regierungsform gewährleisten, die insbesondere den griechischen Theoretikern des Staates ein primäres Anliegen war. Das bedeutet aber, daß das Grundgesetz prinzipiell auf dem Hintergrund der Legitimationsvorstellungen des breiten Volkes auszulegen ist. Die neuere Legitimationsvorstellung ist aber grundsätzlich darauf ausgerichtet, daß der Staat nur dann legitim handelt, wenn er die klassischen und sozialen Grundrechte und damit die Interessen des Volkes maximiert. Das aber bedeutet, daß das Demokratieprinzip allein als Legitimationsgrundlage des modernen Staates zu eng ist. Es muß vielmehr durch das Rechts- und durch das Sozialstaatsprinzip angereichert werden, die ihrerseits wiederum nicht so ausgelegt werden dürfen, daß sie dem Staat nur Schranken ziehen. Vielmehr müssen das Rechtsstaatsund das Sozialstaatsprinzip, um den Legitimationsvorstellungen des Volkes voll zu entsprechen, den Inhalt oder zumindest das Ziel des staatlichen Handeins bestimmen. Insbesondere ist dabei zu berücksichtigen, daß entgegen der heutigen Lage in Frankreich der Nations- und Volksbegriff durch die Übertreibungen des NS-Regimes an Glaubwürdigkeit verloren hat. Der Staat stellt sich vielmehr den deutschen Bürgern nur noch als eine Lebensgemeinschaft dar, der der Gesellschaftstheorie entsprechend nur deshalb erforderlich ist, weil er die Interessen der Privatpersonen durchsetzt, welche diese allein nicht verwirklichen könnten.

215

Vgl. Hesse (Anm. 195), Rdnr. 20 m.w.N.

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2. Teil: Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie

VI. Einwände gegen die Staatszwecklehre des Grundgesetzes Damit haben wir aber grundsätzlich schon nachgewiesen, daß entgegen der herrschenden Lehre das Grundgesetz von einer Staatszwecklehre ausgeht, welche das Handeln des Staates auf die Durchsetzung der durch die klassischen und sozialen Grundrechte geschützten Individualinteressen beschränkt. Es bleibt nun nur noch auf die Einwände näher einzugehen, welche die herrschende Lehre nach den Darlegungen zu Beginn dieser Abhandlung zumindest implizit gegen eine solche Staatszwecklehre erhebt. 1. Nicht entscheidend scheint mir dabei zunächst einmal die Tatsache zu sein, daß der klassische Liberalismus und die seit Hege! und der romantischen Schule "widerlegt" worden ist. Wenn wir sicherlich auch nicht mehr davon ausgehen können, daß der Staat nur aus dem Zusammenwirken der Individuen als letzte Einheit erklärt werden kann, der Staat vielmehr gerade auch einen Organismus darstellt, spricht dieses Argument jedoch letztlich nicht gegen die obige Identifikation des Allgemeininteresses als Summe der Individualinteressen durch.

Ebenso oberflächlich scheint mir das Argument zu sein, eine solche Beschränkung der Staatszwecke werde durch die Sozialstaatsklausel verboten, welche mit der Flexibilität des staatlichen Handeins eine ständige Anpassungsmöglichkeit an neue Lagen erfordert. Denn die obigen Darlegungen haben gezeigt, daß jedenfalls aus der Sicht des Richters die Grundrechte, weil sie insofern nicht hirneichend präzisiert werden können, als Direktive des Gesetzgebers den Inhalt oder zumindest das Ziel des Gesetzes nur ganz punktuell festlegen können. Daß aber wegen der tiefempfundenen Interessenspaltung der Gesetzgeber, um sich vor dem Volk zu legitimieren, eines allgemein anerkannten Maßstabes für die Abwägung der verschiedenen Interessen bedarf und deshalb die Grundrechte in eigener Verantwortlichkeit zum Maßstab seines Handeins weiterentwickelt, schließt einen entsprechenden Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und damit die Flexibilität des staatlichen Handeins nicht aus. 2. Dann bleibt nur noch das Argument, daß zumindest im Gerichtsverfahren die Rechtsordnung von einer strikten Trennung der Allgemeininteressen von den Individualinteressen ausgehen muß, um so zu verhindern, daß die Individuen mit den Allgemeininteressen eine actio popularis216 einlegen können. In der Tat scheinen insofern sowohl die Ansicht der herrschenden Lehre als auch meine Auffassung auf einem Paradox zu beruhen. Denn wenn auf der 216 Instruktiv zu einem möglichen Ausbau der Popularklage zur Durchsetzung von Allgemeininteressen von Arnim (Anm. 126), S. 303 ff. , insbesondere S. 306 ff.

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einen Seite die Allgemeininteressen sich mit der Summe der Individualinteressen indentifizieren, muß das Individuwn auch im Gerichtsverfahren Allgemeininteressen durchsetzen können, die ja mit seinem Individualinteresse identisch sind. Auf der anderen Seite sieht die herrschende Lehre durchaus, daß trotz dieser strikten Trennung im politischen Willensbildungsprozeß das Demokratieprinzip gerade voraussetzt, daß die Aktivbürger Allgemeininteressen des Staates verwirklichen. Eine Lösung dieses scheinbaren Paradoxes läßt sich offensichtlich nur finden, wenn man zwar von der allgemeinen Identifizierung der Allgemeininteressen mit den Individualinteressen ausgeht, aber nachweist, daß im Gerichtsverfahren im Gegensatz zwn politischen Willensbildungsprozeß die Individuen bestimmte mit den Allgemeininteressen identische Individualinteressen nicht durchsetzen dürfen. Auch dafür ist auf die Entscheidung des Grundgesetzes über eine solche Interessenträgerschaft selbst abzustellen. Wie ich nun an anderer Stelle näher gezeigt habe, greifen in der Tat insoweit vor allem zwei Argwnente ein. Einmal ist festzustellen, daß wegen des in der Menschenwürde verankerten Selbstbestimmungsrechts217 trotz der Identifikation der Allgemeininteressen mit den Individualinteressen der Staat die durch die Grundrechte geschützten Individualinteressen nur dann wahrnehmen darf, wenn das Individuwn zu seiner Durchsetzung nicht in der Lage ist. Erst in diesem Augenblick verwandelt sich das stets nur potentielle Allgemeininteresse an der Durchsetzung der Individualinteressen in ein aktuelles Allgemeininteresse. Dieses Allgemeininteresse aber kann, wenn das Individuwn zu seiner Durchsetzung nicht die erforderlichen sachlichen, personellen, rechtlichen und finanziellen Mittel besitzt, nur durch den Staat durchgesetzt werden. Dabei ist insbesondere zu bedenken, daß der Staat für die Befriedigung dieser Individualinteressen auf personelle, sachliche und finanzielle Mittel zurückgreifen muß, die nach der allgemeinen Entscheidung der Rechtsordnung nur der Verfassungsgewalt der Allgemeinheit und nicht der Individuen unterstehen. Aus diesen beiden Gründen ist dem Individuwn die Durchsetzung der aktuellen Allgemeininteressen im Gerichtsverfahren selbst dann verboten, wenn es sich dabei nur um die Summe der Individualinteressen handelt: Die Verfügungsgewalt und damit die Klagemöglichkeit liegt dann allein in der Hand des ganzen Volkes. Diese beiden Gründe kommen dagegen dann nicht zwn Tragen, wenn die Bürger als Aktivbürger am politischen Willensbildungsprozeß des Volkes mitwirken, weil hier mit der Gesamtheit des Volkes nicht mehr das Individuwn allein, sondern die Volksgesamtheit handelt, die nach den Prinzipien der Demokratie über diese Rechte natürlich auch kollektiv verfügen kann. 217

Vgl. Bleckmann (Anm. 208), S. 539.

8 Bleckmann

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§ 10 Gründe für die Durchsetzung der Allgemeininteressen in der Demokratie Zu den Zielen des Demokratieprinzips Wie wir gezeigt haben, besteht in der Literatur seit der griechischen Antike bis zur Neuzeit ein weitgehender Konsens darüber, daß das Demokratieprinzip die Gleichheit und Freiheit der Bürger sowie die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung verbürgt. Dennoch ist darauf hinzuweisen, daß das Demokratieprinzip eine Reihe weiterer, für den Rechtsstaat wichtige Effekte gewährleistet. Auf der einen Seite haben wir so etwa gesehen, daß, wenn das Demokratieprinzip im Bewußtsein des Volkes so stark verankert ist, daß die Anordnung einer demokratisch nicht legitimierten Regierung automatisch nicht befolgt werden, wegen des "Zahlenmythos" der Demokratie die Regierung eindeutig bestimmt und damit blutige Auseinandersetzungen um die Machtnachfolge vennieden werden. Zweitens ist etwa auf die Tatsache hinzuweisen, daß die Marktwirtschaft als einzig effizientes Wirtschaftssystem nur im Rahmen eines demokratischen Regierungssystems einwandfrei funktionieren kann. Und drittens - darauf hat Freiherr vom Stein in seinen zahlreichen Denkschriften mehrfach hingewiesen - werden der Gemeinsinn, die Opferbereitschaft und der Einsatz für die Interessen auch anderer in einer Demokratie maximiert. Es muß das Anliegen einer umfassenden Demokratietheorie sein, diese "Nebenwirkungen" der Demokratie für die anderen Staatszielbestimmungen in vollem Umfang aufzudecken und in ein System zu bringen.

I. Der Gleichheitssatz Der Gleichheitssatz spielt im Rahmen der Demokratie eine wichtige Rolle. Zunächst wird er bei der Festlegung des aktiven und passiven Wabirechts in der Moderne in seiner mathematischen Fonn (grundsätzlich gleicher Zähl- und Erfolgswert) durchgesetzt. Seit Aristoteles gilt überdies der Gleichheitssat:r. als primärer Maßstab des Gerechtigkeitsprinzips, an welchem das Demokratieprinzip ausgerichtet ist. In diesem Rahmen spielt wiederum die Tatsache eine entscheidende Rolle, daß seit der Antike die Akte der Legislative in der Form eines generellen Gesetzes ergehen müssen, die Verwaltung bei ihren Einzelakten aber an das Gesetz gebunden ist. Bei diesem Zusammenspiel von Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip hat die Allgemeinheit des Gesetzes nicht nur zur Funktion, den Einfluß besonderer Beziehungen des Entscheidungsträgers zu einzelnen der betroffenen Bürger auszuschalten; der Gesetzgeber ist vielmehr gehalten, für jede Materie ein umfassendes Ordnungskonzept zu entwickeln, das unter Beachtung aller denkbaren Einzelfälle und aller Interessen und Sachgesichtspunkte eine umfassende Regelung der Gesamtmaterie enthält. Der Gesetzgeber wird in diesem Rahmen gezwungen, die Ziele seiner

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Regelung abstrakt zu bestimmen und die zur Erreichung dieser Ziele erforderlichen Mittel rational festzulegen. Dabei muß er die durch die Entscheidung betroffenen Interessen sachgerecht miteinander abwägen. Diese Sachzwänge gewährleisten eine gewisse Annäherung der Entscheidung an die Gerechtigkeit, wenngleich natürlich eine Verletzung der Rechte der Minderheiten niemals ausgeschlossen werden kann. Dieser Zwang, umfassende Ordnungsvorstellungen auf einer abstrakten Ebene zu entwickeln, ist ein weiterer, von der bisherigen Literatur übersehener Garantiegrund für die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung; dabei ist insbesondere zu beachten, daß dieses Ordnungskonzept nach politischen Vorgaben der Minister, der Regierung oder der Fraktionen von der Ministerialbürokratie weitgehend selbständig ausgearbeitet wird, also vom Sachverstand der Beamten profitiert und anschließend in den Ausschüssen des Parlaments ebenfalls von Experten wiederum sachlich diskutiert wird. Wenn drittens die Allgemeinheit des Gesetzes, wie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überaus deutlich macht, auch einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht völlig ausschließt, wird doch durch die Notwendigkeit, die Begünstigten und Belasteten durch Rückgriff auf bestimmte Rollen abstrakt zu umreißen, eine größtmögliche Annäherung an den Gleichheitssatz gewährleistet. In Art. 19 I GG wird dieser Zwang zur Allgemeinheit des Gesetzes auf Eingriffe in Grundrechte begrenzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Lehre verbietet außerhalb solcher Grundrechtseingriffe auch das Gewaltenteilungsprinzip Einzelfallgesetze (Maßnahmegesetze) nicht. 218 Insbesondere da, wie wir gezeigt haben, das Demokratieprinzip die Gerechtigkeit der staatlichen Entscheidung intendiert, eine solche Annäherung an die Gerechtigkeit aber nur zu erreichen ist, wenn das Gesetz allgemein gehalten ist, dürfte das fehlende Verbot von Einzelfallgesetzen aus dem Demokratieprinzip abzuleiten sein. Und weiter hat das Demokratieprinzip in Verbindung mit dem Gleichheitssatz zur Folge, daß die Bildung gesellschaftlicher Eliten, wenn nicht völlig ausgeschlossen, so doch stark reduziert wird. Das gleiche aktive und passive Wahlrecht stärkt mit der Verankerung der Menschenrechte, insbesondere der Menschenwürde und des Gleichheitssatzes im Grundgesetz, im Bewußtsein des Volkes die in der Gesellschaft heute vorherrschende Auffassung, trotz der Unterschiede in den gesellschaftlichen Rollen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft und in Reichtum und Bildung seien letztlich alle Menschen dem Grunde nach gleich. Das kommt deutlich in den gesellschaftlichen Umgangsformen zum Ausdruck. Das Elitebewußtsein ist beschränkt auf den Zusammen-

2 18

8*

Bleckmann, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 1993, S. 435.

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2. Teil: Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie

schluß der einzelnen voneinander getrennten Eliten in den verschiedenen Verbänden und auf Konferenzen. Dabei ist festzuhalten, daß der moderne Demokratiebegriff im Gegensatz zu dem der Antike der Bildung von Eliten grundsätzlich nicht mehr eindeutig entgegensteht. Daß bestimmte Personengruppen infolge der Übernahme bestimmter Rollen in Politik, Gesellschaft, Religion, Kunst und Wissenschaft ein besonderes Ansehen genießen, auch ein höheres Einkommen beziehen als der Durchschnittsbürger, wird nicht nur widerspruchslos hingenommen: Eine solche Elitebildung in einem weiteren Sinne wird vielmehr im Interesse der notwendigen Arbeitsteilung und damit im Allgemeininteresse als unbedingt notwendig angesehen. Vom Gleichheitssatz und vom Demokratieprinzip her gesehen wird nur der gleiche Zugang aller Bürger zu diesen herausgehobenen Rollen gefordert (Chancengleichheit). Dennoch scheint - und insoweit wird man Carl Schmitt recht geben müssen das Demokratieprinzip und der Gleichheitssatz einer zu scharfen Aussonderung von Eliten aus dem Kreis der übrigen Bürger entgegenzustehen. Nicht nur der Gleichheitssatz, sondern auch das Demokratieprinzip werden angesprochen, wenn den Politikern aufgrund ihrer Stellung unverdiente Privilegien zugestanden werden, die sie vom "gemeinem Volk" soweit herausheben, daß, wie in der ehemaligen DDR, der Kontakt zur Masse verloren zu gehen droht. Dann ist nämlich die in einer Demokratie notwendige Rückbindung der Abgeordneten an die Wählerschaft nicht mehr gewährleistet.

II. Das Selbstbestimmungsrecht Wie wir gesehen haben, spielte das Selbstbestimmungsrecht als zweites Ziel des Demokratieprinzips in der klassischen Literatur, wenn man einmal von Rousseau und Kant absieht, gegenüber der Richtigkeitsgewähr selbst nur eine untergeordnete Rolle. lnfolge der Verstärkung des Gefühls für Gleichheit und Menschenwürde scheint die Bedeutung dieses Grundsatzes insbesondere seit der "Revolution" von 1968 gewachsen zu sein. Die Bürger wollen, das wird vor allem in den Bürgerrechtsbewegungen und Demonstrationen überaus deutlich, selbst über Fragen entscheiden, die sie existentiell berühren. Wir haben dabei schon gesehen, daß dieses Selbstbestimmungsrecht selbst in der unmittelbaren Demokratie einen hirneichenden Legitimationsgrund deshalb nicht darstellen kann, weil infolge der Notwendigkeit des Mehrheitsprinzips die Entscheidung der Mehrheit stets auch die Minderheit binden muß. Wenn mit wachsender Größe und Kompliziertheit von Staat und Gesellschaft der Übergang von der unmittelbaren zur mittelbaren Demokratie unvermeidlich

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wird, muß das Selbstbestimmungsrecht als Ziel des Demokratieprinzips zurückstehen, da in einem solchen System die staatliche Entscheidung nur gefunden werden kann, wenn alle Bürger an die Entscheidung professioneller Politiker gebunden werden. In einer Massendemokratie von mehr als 80 Millionen Bürgern schließlich kann das Selbstbestimmungsrecht selbst dann keine Rolle spielen, wenn man an Formen der unmittelbaren Demokratie festhält: Der Einfluß von einer unter 80 Millionen Stimmen ist selbst bei einem Referendum gleich Null. In der Literatur wird aus diesen Gründen häufig statt auf das individuelle Selbstbestimmungsrecht auf das "kollektive" Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes abgestellt. Wenn in der Tat auch in der mittelbaren Demokratie die "Stimme des Volkes" entscheidendes Gewicht besitzt und die Beteiligung des Volkes an den Wahlen deshalb dem im Demokratieprinzip ebenfalls enthaltenen Verbot der Fremdherrschaft entspricht, wird dieses Selbstbestimmungsrecht für den einzelnen Wähler nur dann von Bedeutung, wenn er sich mit der Nation, mit dem Volk identifiziert und deshalb die Entscheidung des Volkes als eigene Entscheidung akzeptiert. Eine solche Identifizierung mit der Nation ist aber in der neueren Entwicklung in Deutschland nicht mehr ohne weiteres zu vermuten. Das Demokratieprinzip kann durch den Rückgriff nur auf das Selbstbestimmungsrecht also nicht volllegitimiert werden. Dennoch spielt der Gedanke, daß an der staatlichen Entscheidung alle Bürger beteiligt werden, die durch diese Entscheidung betroffen werden, weiterhin eine wichtige Rolle für die Durchsetzung der Menschenwürde: Das Demokratieprinzip fordert in einer solchen Sicht, daß die mittelbare Demokratie durch Rückgriff auf Elemente der unmittelbaren Demokratie soweit durchbrachen wird, daß ein Minimum an Selbstbestimmung noch gewährleistet wird. 111. Die Richtigkeitsgewähr des Demokratieprinzips Das Hauptgewicht des Demokratieprinzips liegt seit der Antike bei der Richtigkeitsgewähr dieses Grundsatzes. Wir haben dabei etwa im Rahmen des Abschnittes über Rousseau deutlich gemacht, daß selbst die Vertreter des Selbstbestimmungsrechts letztlich gezwungen sind, auf diese primäre Legitimationsgrundlage vor allem deshalb zurückzugreifen, weil das Mehrheitsprinzip das Selbstbestimmungsrecht der Minderheit aufhebt. Allerdings möchte ich dabei nicht der seit dem Mittelalter häufig vertretenen Auffassung folgen, auch das Mehrheitsprinzip gründe auf der Richtigkeitsgewähr, weil die Mehrheit der "senior pars" der Bevölkerung sei. Die Mehrheit, das zeigt die Erfahrung sehr deutlich, kann sich ebenso irren wie die Minderheit. Nach einer im Vordringen

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2. Teil: Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie

befindlichen Auffassung kann die "Wahrheit" sogar stets nur von einer Minderheit erkannt werden. Das Mehrheitsprinzip stellt damit keinen unmittelbaren Ausfluß der Ziele des Demokratieprinzips dar; es folgt nicht automatisch aus dem Demokratieprinzip. Seine Rechtfertigung findet es in dem praktischen Grund, daß sonst eine staatliche Entscheidung niemals erreicht werden kann; in einer Zeit, in welcher das Allgemeininteresse gerade verlangt, daß überhaupt eine Entscheidung gefunden wird, kann das Mehrheitsprinzip nur durch den Rückgriff auf das Allgemeininteresse gerechtfertigt werden. Wir haben nun gesehen, daß die Richtigkeitsgewähr des Demokratieprinzips im Laufe der historischen Entwicklung auf unterschiedliche Gründe gestützt worden ist. Insbesondere Rousseau hat auf die angebliche Gemeinsamkeit der Interessen aller Bürger abgestellt. Schumpeter hat gezeigt, daß diese Auffassung irrig ist. Ich selbst habe oben dargelegt, daß die Rollen der Bürger in der Gesellschaft ungleich verteilt sind und deshalb die mit diesen Rollen verbundenen Interessen einander entgegengesetzt sind. Im Abschnitt über die Entwicklung der Allgemeininteressen habe ich oben zu zeigen versucht, daß das Gemeinwohl die Resultante einer sachlichgerechten Abwägung von einander entgegenstehenden öffentlichen Interessen darstellt, die ihrerseits nur Summen von Privatinteressen sind. Wollen wir also die Gründe für die Richtigkeit (Gerechtigkeit) der staatlichen Entscheidung in einer Demokratie aufdecken, müssen wir darlegen, aus welchen Gründen das Demokratieprinzip die Sachlichkeit und Gerechtigkeit der staatlichen Abwägung zwischen den betroffenen Interessen gewährleistet. Dabei ist insbesondere auch zu berücksichtigen, daß die Literatur seit Rousseau die Gründe für die Richtigkeitsgewähr des Demokratieprinzips nur im Rahmen der unmittelbaren Demokratie entwickelt hat. Wir müssen also nach einer allgemeinen Theorie für die mittelbare Demokratie suchen. Wenden wir uns zunächst den "internen" Gründen für die Richtigkeit zu, die sich auf das Parlament selbst beziehen. Insoweit kann ich schon der These von Carl Schmitt nicht folgen, das Parlament gewährleiste in der mittelbaren Demokratie die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung nicht mehr, weil dort an die Stelle einer sachlichen Diskussion eine Machtkalkül und die Propaganda getreten seien. Sicherlich gibt dieses Argument die politische Auseinandersetzung im Plenum über politisch brisante Themen zum Teil richtig wieder, wenn auch dort sachliche Argumente durchaus noch eine wichtige Rolle spielen. Das Argument übersieht vor allem, daß selbst im Parlament, vor allem aber in den Ausschüssen in überaus breitem Umfang durchaus noch sachliche Diskussionsarbeit stattfindet.

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Carl Schmitt hat ferner übersehen, daß die Zusammensetzung aus gewählten Volksvertretern aus einer ganzen Kette von anderen Gründen eine sachlichgerechte Abwägung aller durch die Entscheidung betroffenen Interessen garantiert. Vorweg ist insoweit zunächst das Argument von Downs zu berücksichtigen, die großen politischen Parteien müßten sich, um im Konkurrenzmodell des Mehrparteiensystems mit der Wahl die Macht im Staat erringen zu können, bemühen, durch eine sachlich-gerechte Abwägung aller durch die Entscheidung betroffenen Interessen einen Kompromiß zu finden, der von allen Schichten der Bevölkerung akzeptiert wird, weil sonst ihre Wahl in Frage gestellt wird. Dabei ist anzumerken, daß zwar nicht alle Entscheidungen der Parteien und des Parlaments dem breiten Volk bekannt werden und daß es bei einer Legislaturperiode von vier oder fünf Jahren für die Wiederwahl eher auf die letzten als auf die frühen Entscheidungen ankommt. Da den Parteien aber nicht bekannt ist, welche ihrer Entscheidungen der Wähler bei seiner Wahl berücksichtigen wird, sind sie grundsätzlich gezwungen, die Interessen bei allen Entscheidungen sachlich abzuwägen. Die Chance für eine solche Annäherung an eine gerechte Entscheidung wächst in dem Maße, wie sich auf der einen Seite die Parteien von Interessen- und Weltanschauungsparteien zu großen Volksparteien entwickeln und soweit auf der anderen Seite bei ihren Entscheidungen der Machtgesichtspunkt eine entscheidende Rolle spielt. Die obigen Darlegungen haben schon gezeigt, daß die Ausrichtung am Wählerwillen um so stärker ist, je stärker sich die Parteien und ihre Abgeordneten und Mitglieder an der Macht orientieren. Den liberalen Prinzipien entsprechend wird auch in der Demokratie der egoistische Trieb institutionell so umgeformt, daß er dem Allgemeininteresse dient. Der Vorwurf, die Parteien und ihre Abgeordneten verfolgen letztlich nur egoistische Ziele, ist also irrig. In der Tat verstehen die Parteien die Wahlen auch als Referendum: Durch eine eingehende Analyse der Ergebnisse versuchen sie, die Gründe für das Wahlverhalten aufzudecken und ihre Programme und Entscheidungen entsprechend auszurichten. Weitere Grunde für die Richtigkeitsgewähr des parlamentarischen Regierungssystems sind von der Literatur einfach übersehen worden. Zunächst einmal stellt die Tatsache; daß fast alle Abgeordneten infolge ihrer beruflichen Vorkarriere sich mit bestimmten Interessengruppen identifizieren, keine Abschwächung, sondern im Gegenteil eine Verstärkung der obigen Richtigkeilsgewähr dar, wenn im Parlament auf diese Weise alle Interessen effektiv ungefähr gleich stark vertreten werden. Auf diese Weise wird nicht nur stärker als durch den Druck der öffentlichen Meinung gewährleistet, daß wirklich alle durch die Entscheidung betroffenen Interessen mit hinreichendem Gewicht beachtet werden. Vielmehr ist mit der liberalen Vertragstheorie auch davon

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2. Teil: Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie

auszugehen, daß, wenn sich im Parlament zwei gleich starke Interessengruppen gegenüberstehen, der notwendige Kamprarniß die Interessen beider Parteien sachlich-gerecht miteinander abwägt. Darüber hinaus wird man annehmen müssen, daß bei einer großen Zahl von Entscheidungen nur zwei oder drei Interessengruppierungen unmittelbar betroffen werden; die Mehrzahl der nicht in diesen Streit einbezogenen Abgeordneten wird die Interessen der Streitparteien wie ein neutraler Richter sachlich-gerecht miteinander abwägen. Und schließlich ist zu berücksichtigen, daß die wachsende Arbeitsteilung nicht nur zu einer Multiplizierung der gesellschaftlichen Rollen und damit zu Interessengegensätzen geführt hat, sondern auch zu einer gewissen Solidarität der verschiedenen Interessengruppen. Auf der einen Seite hat die Beeinträchtigung der Interessen der einen Bevölkerungsschicht negative Auswirkungen auf die Interessen anderer Bevölkerungsgruppen. Auf der anderen Seite führten das Rechts- und Sozialstaatsprinzip, die Menschenrechtserklärungen und vor allem der Gleichheitssatz zu einer Identifizierung mit fremden Interessen auch ohne Rückwirkung auf die eigenen Interessen. Die durchaus herrschende moderne Lehre stellt dagegen, einem Ansatz von John Stuart Mill folgend, für die Richtigkeitsgewähr des Demokratieprinzips auf die dort notwendig stattfindende öffentliche Diskussion - also auf die öffentliche Meinung - ab, ohne allerdings die Funktionen der öffentlichen Meinung und die Wirkungszusammenhänge voll deutlich zu machen. Wenden wir uns also zunächst den Funktionen des öffentlichen Meinungsbildungsprozesses in einer Demokratie zu. Entgegen der Auffassung von John Stuart Mill handelt es sich hierbei nicht primär um die bestmögliche Annäherung an die immer nur relative Wahrheit, d. h. um die richtige Feststellung von Tatsachen, sondern um die Herausarbeitung der möglichen Zwecke einer Maßnahme und der hierfür einzusetzenden Mittel. Der Ansatz von Millleidet vor allem daran, daß er den Wissenschaftsprozeß unbesehen auf den öffentlichen Meinungsbildungsprozeß übertragen hat. Presse, Rundfunk und Fernsehen bieten vor allem Informationen über Tatsachen im engeren Sinne, ohne die Zusammenhänge des Geschehens, die Ziele und Mittel einer staatlichen Reaktion deutlich zu machen. Soweit dies - wie in der "seriösen" überparteilichen Presse - tatsächlich geschieht, werden die Zusammenhänge in den Kommentaren ebenso wie die Ziele und Mittel des staatlichen Handeins ohne Gegenüberstellung mit anderen Meinungen einseitig entwickelt. Selbst der Politiker, der all diese Zeitschriften liest, ist schon aus Zeitgründen nicht in der Lage, sich ein umfassendes Bild über die Probleme des staatlichen Handeins durch die Zusammensetzung eines "Mosaiks" einzelner Äußerungen zu verschaffen.

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Kann der öffentliche Meinungsbildungsprozeß der Annäherung der Tatsachen an die Wahrheit nur bedingt genügen, muß er eine oder mehrere andere Zwecke verfolgen. Das ist in der Tat der Fall. Der öffentliche Meinungsbildungsprozeß deckt die verschiedenen Interessenstandpunkte der Bevölkerungsschichten auf. Für die Richtigkeitsgewähr des Demokratieprinzips ist dabei nicht nur der Sachverstand der Interessengruppen sowie die Aufdeckung der wahren Interessenlage der einzelnen Bevölkerungsschichten wichtig; da die RichtigkeilSgewähr in der sachlich-gerechten Abwägung aller durch die Entscheidung betroffenen Interessen besteht, müssen diese Interessen im Meinungbildungsprozeß offen aufgedeckt und ihre Gewichte ausgelotet werden. Außerdem dient - und das ist ein weiterer Ansatz, der in der Literatur kaum beachtet wird - der Meinungsbildungsprozeß der Suche und der Findung eines breiten Konsenses. Meist wird ein bestimmter Entscheidungsvorschlag von einzelnen Politikern oder Gruppen von Politikern oder Verbänden in der öffentlichen Meinung lanciert, um festzustellen, wie breit der Konsens für diesen Vorschlag innerhalb und außerhalb der einzelnen Parteien ist, und ob und unter welchen Voraussetzungen der Konsens verbreitert werden kann. Die Klasse der Berufspolitiker hat nämlich im Gegensatz zu einer verbreiteten Meinung nicht ihr Fachwissen zu einem bestimmten Spezialgebiet, sondern ihre Kenntnis und ihre Fähigkeit einzubringen, einen hinreichenden Konsens für staatliche Maßnahmen zu finden. Nur wenn aufgrund dieser Diskussion eine hinreichende Konsensfähigkeit festgestellt werden kann, bezieht die Partei und vor allem der Bundeskanzler selbst Stellung und wird der Prozeß der staatlichen Entscheidungstindung eingeleitet. Halten sich die Parteien an diese politischen Spielregeln nicht, droht ihnen ein so erbitteter Widerstand der gesamten öffentlichen Meinung, daß das betreffende Projekt politisch nicht durchgesetzt werden kann. Da die sachlich-gerechte Abwägung aller durch die staatliche Entscheidung betroffenen Interessen nur in einem Kompromiß gefunden werden kann, der auf einem möglichst breiten Konsens aller Interessenträger beruht, ist diese Funktion der Konsenstindung für das Demokratieprinzip entscheidend. Die Lehre übersieht dabei vor allem auch, daß das primäre Ziel der meisten Abgeordneten eben nicht der Erwerb einer lukrativen Position ist, daß sie sich vielmehr im Bewußtsein ihrer Rolle mit dem Allgemeininteresse durchaus identifizieren.

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2. Teil: Neue Ansätze zu einer umfassenden Demokratietheorie

§ 11 Zu den verschiedenen Formen der Demokratie I. Unmittelbare und mittelbare Demokratie Wir haben oben schon mehrfach festgestellt, daß vom Ziel des Selbstbestimmungsrechtes her gesehen die unmittelbare Demokratie die bessere Regierungsform ist; stellt man dagegen auf die Richtigkeitsgewähr ab, ist die mittelbare Demokratie wegen ihrer "Vergütungsfunktion" (Herberg Krüger) vorzuziehen. Das liegt nicht nur, wie in der Lehre hervorgehoben wird, an der Tatsache, daß die Abgeordneten eine bessere Sachkenntnis als die Bürger besitzen: Vielmehr haben wir schon festgestellt, daß zahlreiche mit der Parlamentsfunktion verbundene Garantien etwa beim Referendum nicht greifen, da bei einer starken Ausrichtung an den egoistischen Eigeninteressen in der unmittelbaren Demokratie die Mehrheit die Interessen der Minderheiten kaum berücksichtigen wird. Da in der modernen Demokratie das Schwergewicht des Demokratieprinzips sich aber auf die Richtigkeitsgarantie verschiebt, verbietet eine Verfassung, die wie das Grundgesetz das parlamentarische System verankert, grundsätzlich die Abhaltung von Referenden. Allerdings ist in Ausnahmefällen der Rückgriff auf Elemente der unmittelbaren Demokratie auch im parlamentarischen Regierungssystem notwendig und gestattet, wenn sonst das Selbstbestimmungsrecht der Bürger nicht mehr hinreichend zum Tragen kommt oder wenn das Parlament in einer bestimmten Entwicklungsphase der Institutionen an den Wählerwillen nichts, mehr hinreichend zurückgebunden wird.

ll. Parlamentarisches und präsidentielles Regime219 Die bisherigen Ansätze gestatten auch die Entscheidung zwischen dem präsidentiellen und dem parlamentarischen Regime. Da es sich in beiden Fällen um Formen der nur mittelbaren Demokratie handelt, können das Selbstbestimmungsrecht und der Gleichheitssatz für die Wahl zwischen diesen Regierungsformen keine Ergebnisse zeitigen. Unter dem Aspekt der Richtigkeitsgewähr ist dagegen dem parlamentarischen System eindeutig der Vorzug zu geben, da der Staatspräsident meist dazu neigen wird, "einsame Beschlüsse" zu fällen, während die für die Richtigkeit der Entscheidung notwendige, breite Diskussion nur in der parlamentarischen Demokratie automatisch erforderlich wird. Von diesen Grundsätzen greift eine Ausnahme nur dann, wenn das Parlament politisch so zerstritten ist, daß die in der heutigen Zeit durch das Allgemeininteresse dringend geforderten staatlichen Entscheidungen nicht mehr gefällt 219

Lipphart, Parliamentary versus Presidential Government, 1993.

§ 11 Zu den verschiedenen Formen der Demokratie

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werden können. Allerdings sollte man in einem solchen Fall auf die Regeln der Weimarer Verfassung oder der Verfassung der V. Französischen Republik zurückgreifen, die je nach der politischen Lage einen Wechsel vom einen zum anderen System automatisch ermöglichen.

ill. Honorations- und Parteiendemokratie, Interessenverbände Im Gegensatz zur Auffassung von Rousseau stellt, wie wir gezeigt haben, die Parteiendemokratie gegenüber dem Honoratiorenparlament für die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung eine wichtige Garantie dar. Im Rahmen des Abschnittes über die öffentliche Meinung haben wir überdies gezeigt, daß die Interessenverbände im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung auch in der Demokratie eine wichtige Funktion haben. Sie bündeln die meist divergenten Interessen ihrer Mitglieder auf einen gemeinsamen Nenner, führen diese Interessen in den politischen Willensbildungsprozeß ein und vereinfachen damit die komplexen Sachverhalte auf ein Modell, das die Wahl zwischen nur zwei oder drei Alternativen gestattet. Diese Reduzierung der Wahlfreiheit auf nur wenige Modelle, also eine größtmögliche Vereinfachung und Generalisierung der Probleme, ist für die staatliche Politik in der Demokratie aber von entscheidender Bedeutung, weil nur auf diese Weise ein Konsens und damit eine Entscheidung gefunden werden kann. Soweit die Interessenverbände öffentlich agieren, sind sie überdies gezwungen, die egoistischen Interessen ihrer Mitglieder in einen Zusammenhang mit dem Gemeinwohl zu bringen, also auch die Interessen anderer Bevölkerungsschichten zu berücksichtigen, weil nur so der in der Demokratie erforderliche Konsens erreicht wird. Für die Demokratie, d.h. für die sachlichgerechte Abwägung aller Interessen, ist das Wirken der Interessenverbände also nur dann gefährlich, wenn es heimlich erfolgt. Um die Interessenverbände, wie erforderlich, in das Rampenlicht der Öffentlichkeit zu bringen, sollte stärker als bisher das Anhörungsverfahren vor den Parlamentsausschüssen verallgemeinert werden.

Dritter Teil

Zu den Zusammenhängen des Demokratieprinzips mit den anderen Staatszielbestimmungen § 12 Demokratieprinzip und Rechtsstaatsprinzip220

I. Problemaufriß Der Lehre ist es trotz detaillierter Arbeiten zu diesem Thema bisher nicht gelungen, die Strukturen des Rechtsstaatsprinzips aufzudecken. Vor allem in der Rechtsprechung des BVerfG, aber auch in der Literatur wird so nicht recht deutlich, wie die verschiedenen in diesem Grundsatz zusammengefaSten Unterprinzipien - etwa der Gewaltenteilungsgrundsatz, der Gesetzesvorbehalt, das Vertrauensschutzprinzip, die Grundrechte, die Verfassungsgerichtsbarkeit- aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet werden können und wie diese Unterprinzipien unter sich in innerer Verbindung stehen. Nur wenn dieses Problem gelöst ist, wird aber der Inhalt des Rechtsstaatsprinzips und wird vor allem deutlich, welche weiteren Grundsätze aus diesem Grundsatz abgeleitet werden können; nur dann kann dem Einwand begegnet werden, beim Rechtsstaatsprinzip handle es sich um eine "Zauberkiste", aus welcher das BVerfG bei Bedarf beliebige Rechtssätze hervorholt. Auch wird erst dann verständlich, in welcher inneren Beziehung das Rechtsstaatsprinzip zum Sozialstaatsprinzip, zum Bundesstaatsprinzip und zum Demokratieprinzip steht. Im Gegensatz zu einer in der Lehre recht verbreiteten Meinung bin ich der Auffassung, daß das BVerfG aus dem Rechtsstaatsprinzip unverzichtbare Sicherungen der Individualrechte entwickelt und die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen im Rechtsstaatsprinzip zusammengefaSten Unterprinzipien durchaus richtig erahnt hat. In einer solchen Situation ist es die Aufgabe der Lehre, die inneren Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Entscheidungen des BVerfG herauszuarbeiten. Die Lehre hat noch nicht hinreichend

220 Die folgenden Ausführungen sind eine leicht modifizierte Version der Seiten 305-320 meines Lehrbuches Staatsrecht I- Staatsorganisationsrecht, 1993. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Carl Heymanns Verlages.

§ 12 Demokratieprinzip und Rechtsstaatsprinzip

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erkannt, daß, da das BVerfG immer nur über den Einzelfall entscheiden kann, ihr die Funktion zufallt, die durch das Grundgesetz und durch die Verfassung konkretisierenden Entscheidungen des BVerfG aufgegebenen Fragen nach der "Einheit der Verfassung" nachzugehen, also die Zusammenhänge aufzudecken, die zwischen dem organisatorischen und dem grundrechtliehen Teil der Verfassung, zwischen den Staatszielbestimmungen und den aus ihnen entwickelten Unterprinzipien bestehen. Jedenfalls sollte eine umfassende Strukturanalyse zumindest versucht werden, bevor man der Rechtsprechung des BVerfG in diesem wie in anderen Bereichen jede innere Kohärenz abspricht. Zu den Strukturen des Rechtsstaatsprinzips stößt man sicherlich nicht vor, wenn man im Wege der Rechtsanalogie durch generalisierende Induktion aus den im Rechtsstaatsprinzip zusammengefaßten Unterprinzipien einen allgemeinen Rechtssatz bildet und diese Norm dem Rechtsstaatsprinzip unterschiebt. So hilft etwa die geschichtlich begründete Definition, das Rechtsstaatsprinzip diene dem Schutz der Freiheiten des Bürgers,221 insoweit nicht viel weiter, als dieser Formel nicht ohne weiteres entnommen werden kann, wie die einzelnen Strukturprinzipien des Rechtsstaatsprinzips diesen Schutzzweck durchsetzen können. Ebensowenig läßt sich die Struktur des Rechtsstaatsprinzips erkennen, wenn man in Überbetonung der Abwehrfunktion der Grundrechte den Sinn des Rechtsstaatsprinzips in der Begründung staatsfreier Rechtsräume sieht oder auch nur den Zweck des Rechtsstaatsprinzips in den Vordergrund schiebt, die Freiheiten der Bürger in ihren verschiedenen Funktionen zu schützen. Hat man die Strukturprinzipien des Rechtsstaatsprinzips nicht a priori erkannt, ist es angesichtsder unterschiedlichen Bedeutungsinhalte des Begriffs im Wandel des historischen Kontextes auch wenig erfolgversprechend, den Begriff des Rechtsstaats historisch zu bestimmen. Die Lehre hat vielmehr durchaus richtig gesehen, daß der letzte Zweck des Rechtsstaatsprinzips in der Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit besteht. In der Sicht des Grundgesetzes besteht die materielle Gerechtigkeit zwar auch in der Gewährung staatsfreier Räume; dabei handelt es sich aber nur um einen wenn auch wichtigen Unteraspekt des Gesamtproblems. Denn die materielle Gerechtigkeit bezieht sich primär auf die staatliche Entscheidung, soweit sie Grundrechte der Individuen berührt. In der Übergangsphase vom Koexistenz- zum Kooperationsrecht hat sich insoweit ein bedeutsamer Wandel vollzogen. Ursprünglich wurde die materielle Gerechtigkeit nur auf die Freiheit, auf die Gewährung eines staatsfreien Raumes bezogen. Schon Immanuel Kant aber hatte gesehen, daß selbst im Zeitalter der gesellschaftlichen Neutralität des Staates die Gerechtigkeitsfunktion der Rechtsordnung darin bestand, die gegenseitigen Rechtsräume

I 1.

221

Vgl. zum Beispiel Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Aufl. 1994, § 13

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

der Individuen unter sich abzugrenzen. Auch im Koexistenzrecht bezog sich die materielle Gerechtigkeit deshalb primär auf eine bestimmte Qualität der staatlichen Entscheidung, welche die Rechtsräume der Individuen voneinander abgrenzte. Dieser Aspekt hat sich im Zeitalter des Kooperationsrechts verstärkt: Infolge der wachsenden Interdependenz in Staat und Gesellschaft wurden die Grundrechte wachsend durch die Privatinteressen Dritter und vor allem durch die öffentlichen Interessen beschränkt. Der Schutzbereich der Grundrechte verlor damit weitgehend seine selbständige Funktion als Ausgrenzung bestimmter Rechtssphären. Heute hat dieser Schutzbereich deshalb nur noch die Funktion, bei einem Eingriff in diese Sphäre die Rechtswidrigkeit des Handeins zu indizieren. Die Funktion der Grundrechte gleitet in einer solchen Lage vom Schutzbereich auf die rechtsstaatliehen Prinzipien über, die wie der Gesetzesvorbehalt, das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Wesensgehaltsgarantie bei einem Eingriff in diesen Schutzbereich anwendbar werden. Alle diese Garantien aber stellen gewisse Anforderungen an die Qualität des Eingriffs, d.h. aber vor allem der staatlichen Entscheidung. Die Freiheit verwandelt sich in einem solchen System von einem absoluten Wert in einen der Aspekte einer sachlich-gerechten Entscheidung. Ausgangspunkt einer solchen Strukturanalyse muß also die Tatsache sein, daß nach der Ansicht der Rechtsprechung und Lehre das Grundgesetz unter Anknüpfung an die Entwicklung des Vormärz den Ende des 19. Jh. entwickelten "formalen" Rechtsstaatsbegriff überwunden hat und zu einer materiellen Konzeption zurückgekehrt ist. Alle aus dem Rechtsstaatsprinzip entwickelten Grundsätze dienen in einer solchen Sicht nur der Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit. Die materielle Gerechtigkeit aber wird seit Aristoteles mit dem Gleichheitssatz identifiziert, nach welchem bei der Verteilung knapper Güter der Staat nach einer modernen Formel alle betroffenen Interessen sachlichgerecht miteinander abzuwägen hat. Dieses Prinzip findet seinen Ausdruck im Bild der Justitia, welche mit verbundenen Augen eine Waage hält, in der die gegenseitigen Interessen miteinander abgewogen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß mit der Justitia eben nicht nur die Gerichtsbarkeit, sondern vor allem auch die materielle Gerechtigkeit selbst angesprochen wird. Damit haben wir das Strukturmodell des Rechtsstaatsprinzips aber schon abstrakt umrissen: Soll die materielle Gerechtigkeit verwirklicht werden, müssen die miteinander abzuwägenden Interessen in der Verfassung festgelegt werden; die Verfassung muß ferner das gegenseitige materielle Gewicht dieser Interessen oder zumindest ein Verfahren festlegen, welches eine sachlichgerechte Abwägung aller betroffenen Interessen gewährleistet. Das Rechtsstaatsprinzip begnügt sich aber nicht damit, die Kriterien für die materielle Gerechtkeit abstrakt festzulegen: Es verlangt, daß die materielle Gerechtigkeit sich in der Verfassungswirklichkeit tatsächlich durchsetzt. Damit verlangt das

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Rechtsstaatsprinzip eine Verankerung dieser Interessen und Abwägungsprinzipien in der Verfassung selbst und Rechtssätze, die sicherstellen, daß die Verfassung von den staatlichen Organen und den Individuen faktisch auch eingehalten wird. Die Verfassung muß damit einen höheren Rang als alles andere Recht beanspruchen; die gesamte staatliche Tätigkeit muß der Kontrolle der Gerichte und insbesondere der Verfassungsgerichte unterliegen; die Verletzung der Verfassung muß für den Beamten und Richter mehr Nachteile als Vorteile bringen; die Verfassung muß gegen den Umsturz von "unten" oder "oben" abgesichert werden. Die Gesamtheit dieser Regeln kann man als Prinzipien umreißen, welche die "Herrschaft der Verfassung" ("rule of law") begründen. Dieses die Prinzipien der materiellen Gerechtigkeit konkretisierende Strukturmodell entfaltet somit aus einem einheitlichen Ansatz alle Unterprinzipien des Rechtsstaatsprinzips und gestattet damit immer dann eine Rechtsfortbildung durch den Verfassungsrichter, wenn infolge der wachsenden Erkenntnis etwa durch die Rechtsvergleichung Verfahren bekannt werden, die eine weitergehende Gewährleistung der Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit in der Verfassungswirklichkeit sicherstellen. Da die Bestimmung der Schutzwürdigkeit der Interessen einer Wertung bedarf, diese Wertung aber in der Gesamtheit der positiven Rechtsordnung schon vorliegt, lassen sich so etwa aus einem Vergleich der unterverfassungsrechtlichen Rechtsquellen im Rahmen des Rechtsstaatsprinzips weitere Grundrechte entwickeln. Zeigen sich im Laufe des Erkenntnisfortschritts neue Verfahren, welche die Gerechtigkeit der Abwägung oder die faktische Durchsetzbarkeit der Verfassung verstärken, erstreckt sich das Rechtsstaatsprinzip automatisch auf diese neuen Regeln. II. Die geschützten Interessen Die materielle Gerechtigkeit verlangt zunächst einmal, daß die bei der sachlich-gerechten Abwägung zu berücksichtigenden Interessen zumindest in ihrem Kernbereich durch die Verfassung selbst festgelegt werden. Die materielle Gerechtigkeit begnügt sich nämlich nicht mit der Formel, daß bei der durch die staatliche Entscheidung erfolgenden Abwägung alle tatsächlich betroffenen Interessen zu berücksichtigen sind. Denn nicht alle faktischen Interessen sind in vollem Umfang des staatlichen Schutzes wert. Das gilt selbst dann, wenn man auf die Interessen abstellt, die allen betroffenen Individuen in der jeweiligen Rolle gemeinsam sind. Die Verfassung muß also in einem ersten Schritt die Interessen festlegen, die wegen ihrer Schutzwürdigkeit bei der staatlichen Interessenahwägung besonders zu berücksichtigen sind. Diesem Ziel dienen die im Grundgesetz verankerten Grundrechte.

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

Die Rechtsprechung des BVerfCJ222 und die wohl herrschende Lehre gehen allerdings davon aus, daß die Grundrechte nicht eigentlich Interessen schützen, sondern Werte verankern: Die Grundrechte stellen in einer solchen Sicht nicht den Gegenstand der Abwägung dar, sondern sollen Maßstäbe bei der Abwägung der Interessen zur Verfügung stellen. Diese Konzeption kann schon deshalb nicht richtig sein, weil das Grundgesetz mit den einzelnen Grundrechten sehr verschiedene Werte verankert, die im konkreten Einzelfall in Gegensatz zueinander treten können, dann aber eines über ihnen stehenden Abwägungsmaßstabs bedürfen, den das Grundgesetz durch seine Bewertung der verschiedenen Interessen zumindest partiell liefert. Das Problem ist insoweit allerdings, daß die Verfassung nur den Schutzbereich der Grundrechte und die Grenzen staatlicher Eingriffe, weitgehend aber nicht die öffentlichen Interessen bestimmt, die einen Eingriff in den Schutzbereich dieser Grundrechte gestatten und die im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips im engeren Sinne mit den durch die Grundrechte geschützten Privatinteressen abgewogen werden müssen. Nach der durchaus herrschenden Lehre sind nämlich im Gegensatz zur liberalen Tradition die öffentlichen Interessen nicht mit der Summe der Privatinteressen identisch und werden sie - wenn man einzelne in den Kompetenzvorschriften geschützte Allgemeininteressen einmal ausnimmt - durch das Grundgesetz faktisch nicht festgelegt. Diese letztlich auf Hegel und die ihm folgende romantisch-historische Schule zurückgehende Konzeption, nach welcher der Staat als organisches Gebilde mehr ist als die Summe der Individuen und die öffentlichen Interessen deshalb etwas anderes darstellen müssen als die Summe der Privatinteressen, kommt zu dem Ergebnis, daß das "Allgemeininteresse" einen Blankettbegriff darstellt, der nur im demokratischen Willensbildungsprozeß ausgefüllt werden kann, im übrigen nur am Rande mit den durch die Grundrechte geschützten Individualinteressen übereinstimmt und deshalb vom Richter höchstens auf seine verfassungsrechtliche Vertretbarkeit hin überprüft werden kann. Eine gewisse Rolle bei dieser Konzeption spielt sicherlich auch die Tatsache, daß unsere Rechtsordnung die Popularklage verbietet und deshalb die öffentlichen, nur vom Staat zu repräsentierenden Interessen von den durch die Individuen vertretenen Privatinteressen strikt geschieden werden müssen. Dem steht die Tatsache entgegen, daß das gesamte Grundgesetz an der an seinem Anfang stehenden Menschenwürde ausgerichtet ist und deshalb der Staat nur berufen sein kann, die Menschenwürde und die Gesamtheit der übrigen aus der Menschenwürde fließenden Grundrechte zu verwirklichen. Die Grundrechte stellen damit aber nicht nur Freiheitssphären verankernde negative Abwehrrechte gegen den Staat dar; es handelt sich vielmehr um Werte, an welchen die staatliche Tätigkeit positiv ausgerichtet werden muß und die deshalb - in wenn auch sehr flexibler Form - die Ziele des staatlichen Handeins umreißen. Nur durch eine solche Konzeption wird 222

BVerfGE 2, 1 (12 f.); 5, 85 (140); 6 , 32 (40 ff.); 27, 1 (6 f.); 52, 131 (168).

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dem Grundsatz der Einheit der Verfassung entsprechend der Organisationsteil der Verfassung mit den Grundrechten verbunden. In der auf Thomas von Aquin zurückgehenden katholischen Lehre, aber auch von einigen Autoren des Staatsrechts, wird deshalb richtig gesehen, daß das Gesamtinteresse mit der Summe der Individualinteressen oder besser: mit der Resultante der Abwägung zwischen den Interessen verschiedener Personengruppen identisch ist. Dieses Ergebnis wird auch durch eine Realanalyse der vom Staat verfolgten Gesamtinteressen bestätigt. In der Tat handelt es sich etwa beim Gesundheitsschutz, bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und beim Umweltschutz stets nur um eine Gesamtheit von bestimmten Kategorien von Privatpersonen zuzuordnenden Interessen. Aus diesen "quantitativen" oder "primären" Privatinteressen entwickeln sich, da den Individuen häufig die erforderlichen Mittel für ihre Durchsetzung fehlen, "qualitative" Sekundärinteressen, die etwa auf die Organisation, das Funktionieren der Rechtsprechung und der Verwaltung oder auf die sachlichen, personellen und finanziellen Mittel gerichtet sind. Diese "qualitativen" Allgemeininteressen sind auf die Mittel der Durchsetzung von quantitativen Allgemeininteressen ausgerichtet und werden deshalb letztlich ebenfalls nur durch die im Grundgesetz geschützten Individualinteressen legitimiert. Das zweite Problem ist, daß das Grundgesetz auch die zu schützenden Privatinteressen nur partiell ausdrücklich bestimmt. Auch diese Lücke kann durch eine entsprechende Interpretation der Verfassung geschlossen werden. Denn etwa die Wirtschaftsfreiheiten dienen der Durchsetzung ganz bestimmter sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Interessen, die als Ziele der Grundrechte durch die Grundrechte selbst mitgeschützt werden. Auf der anderen Seite ist Voraussetzung der durch die Menschenwürde geforderten faktischen Ausübungsmöglichkeit der Freiheitsrechte, daß die Individuen über die hierfür erforderlichen materiellen Mittel verfügen. Aus beiden Gründen haben die Rechtsprechung und die Lehre aus den Freiheitsrechten soziale Grundrechte entwickelt, die wegen der vorrangigen Kompetenz des Parlaments in diesem Bereich zwar weitgehend injustitiabel bleiben, in dem oben entwickelten Modell aber mit den Freiheitsrechten abzuwägen sind. Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht in einer ganzen Reihe von Entscheidungen den in Art. 2 I GG enthaltenen Grundsatz der freien Entfaltung der Persönlichkeit weit über die allgemeine Handlungsfreiheit auf alle schützenswerten Privatinteressen erstreckt und so dem Richter die Befugnis zugesprochen, in Weiterentwicklung der im Grundgesetz enthaltenen Prinzipien die Schutzwürdigkeit von im Grundgesetz nicht ausdrücklich geschützten Privatinteressen festzustellen.

9 Bleckmann

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

Diese Darlegungen gestatten gleichzeitig auch einen ersten Schluß zum Verhältnis zwischen dem Rechtsstaats- und dem Sozialstaatsprinzip. In der Tat wird in der Lehre häufig die Ansicht vertreten, daß das Sozialstaatsprinzip zwar in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Rechtsstaatsprinzip stehe, aber in der Form des Rechtsstaatsprinzips durchzusetzen sei. Das obige Strukturmodell der Abwägung der jeweils betroffenen Privatinteressen bezieht sich aber eindeutig eben nicht nur auf die Freiheitsrechte, sondern vielleicht sogar primär auf die durch die sozialen Grundrechte geschützten Interessen. Denn im Gegensatz zum Karrtsehen Staat der Aufklärung, 223 der nur die beiderseitigen, einander widersprechenden Grundrechtssphären der Individuen zueinander so abgrenzen sollte, daß die "Willkür des einen mit der Willkür des anderen" zusammenfindet, hat der moderne Wohlfahrtsstaat bei der Verteilung des Bruttosozialprodukts die miteinander in Widerstreit liegenden sozialen Interessen bzw. die Freiheit und das Eigentum der besitzenden Klasse mit den sozialen Interessen der Arbeitnehmer abzuwägen. Auch diese sozialen Interessen und ihr gegenseitiges Gewicht werden dabei teilweise durch die Verfassung festgelegt; der als Willkürverbot verstandene allgemeine Gleichheitssatz gebietet auch insofern die einheitliche Durchsetzung des einmal gewählten Maßstabes; der Gesetzesvorbehalt, das Gewaltenteilungsprinzip und die Verfahrensgrundsätze sowie die allgemeine Ermessensfehlerlehre bieten auch in diesem Bereich Verfahren, welche die Sachlichkeit und Gerechtigkeit der Abwägung gewährleisten. Auch der Vertrauensschutzgrundsatz bezieht sich eindeutig nicht nur auf die Freiheiten, sondern gerade auch auf die sozialen Grundrechte der Individuen. Das aber bedeutet, daß das Rechtsstaatsprinzip sich in das Sozialstaatsprinzip hinein erstreckt hat. Dieses Ergebnis wird durch die oben dargelegte Tatsache bestätigt, daß die sozialen Grundrechte aus den Voraussetzungen und den Zielen gerade der Freiheitsrechte entwickelt werden. Nur wenn man das Rechtsstaatsprinzip modellwidrig auf die Funktion beschränkt, nur die Freiheiten abzusichern, tritt das Rechtsstaatsprinzip also angesichts der heutigen Vermögensverteilung in einen Gegensatz zum Sozialstaatsprinzip. Da das Ziel der Freiheits- und vor allem der Wirtschaftsrechte die Durchsetzung der heute durch die sozialen Grundrechte geschützten sozialen und kulturellen Interessen ist, hat auch das Rechtsstaatsprinzip letztlich die Durchsetzung des Sozialstaatsprinzips zum Ziel. Man wird diese Entwicklung dahin umschreiben können, daß, solange das Bürgertum seine heute durch die sozialen Grundrechte geschützten Interessen im Rahmen einer autonomen Ausübung der Grundrechte voll verwirklichen konnte, das Rechtsstaatsprinzip auf den Schutz der Freiheiten beschränkt war; in dem Augenblick, in welchem diese materiellen Interessen nur noch durch Leistungen des Staates befriedigt werden können, entwickeln sich aus den Zielen und Voraussetzungen der 223 Vgl. Gurwitsch, Immanuel Kant und die Aufklärung, in: Batscha (Hrsg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, 1976, S. 331.

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Freiheiten soziale Grundrechte, für deren Durchsetzung der Staat zu sorgen hat: Der Rechtsstaat erweiterte sich damit um die sozialstaatliche Komponente. Auf der anderen Seite soll nach der Konstruktion der Lehre das Sozialstaatsprinzip nur die Voraussetzungen dafür schaffen, daß die Freiheitsrechte effektiv ausgeübt werden können. Auch das Sozialstaatsprinzip findet also sein letztes Ziel im Rechtsstaatsprinzip. Damit stehen das Rechtsstaats- und das Sozialstaatsprinzip im Verhältnis einer gegenseitigen Zielzuordnung: Beide Prinzipien finden deshalb im jeweiligen Gegenprinzip auch ihre letzte Grenze. Der damit aufgedeckte Strukturwandel erklärt ferner auch die Erweiterung des "subjektiven" auf das "objektive" Rechtsstaatsprinzip. Wir haben in der Tat gezeigt, daß nach den Prinzipien der materiellen Gerechtigkeit die durch die Grundrechte geschützten Privatinteressen im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips mit den entgegenstehenden öffentlichen Interessen abgewogen werden müssen. Nach der klassischen Konzeption erstreckt sich dabei der rechtsstaatliehe Schutz durch die Verfassung nur auf die durch die Grundrechte geschützten Privatinteressen, nicht aber auf die diese Privatinteressen beschränkenden öffentlichen Interessen. Diese Position geht damit davon aus, daß die öffentlichen Interessen durch das Staatsorganisationsrecht hinreichend gesichert werden und so aus der richterlichen Kompetenz herausfallen. In dem Augenblick, in welchem insbesondere irrfolge der Wahlversprechen und des Drucks der Interessenverbände die automatische Durchsetzung der öffentlichen Interessen durch den Staat nicht mehr gewährleistet ist, muß die Verfassung sicherstellen, daß gerade auch die öffentlichen Interessen als Summe von Privatinteressen sich in der Verfassungswirklichkeit voll durchsetzen. Folgt man der wohl herrschenden, aber nirgends ausdrücklich begründeten Lehre, nach welcher die öffentlichen Interessen von den Privatinteressen strikt unterschieden werden müssen, wird ferner ein wesentlicher Aspekt der Umwandlung des "Nachtwächterstaates" (Lassalle) in den Wohlfahrtsstaat verkannt. Ging es im Nachtwächterstaat nur um den Schutz der Freiheiten nach innen und außen, beschränkte sich die für die gegenseitige Abgrenzung der Freiheiten erforderliche staatliche Entscheidung auf die Abwägung im Einzelfall. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß etwa auch das BGB generelle Regeln enthält. Denn diese Normetl betreffen jeweils immer nur Bündel bilateraler Rechtsbeziehungen. Im Wohlfahrtsstaat dagegen wird diese "mikrojuristische" durch eine "makrojuristische" Ebene überlagert: Das Bruttosozialprodukt ist zwischen großen Gruppen der Gesamtbevölkerung zu verteilen. Soweit man nun das Rechtsstaatsprinzip und die in ihm verankerten Grundrechte nur auf die bilateralen Beziehungen bezieht, liefert das Grundgesetz dem Sozialstaatsprinzip widersprechend für die Abwägung der Gruppeninteressen im Wohlfahrtsstaat Lösungsansätze nicht.

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

Auch das Bundesstaatsprinzip findet in diesem Strukturmodell des Rechtsstaates seine Erklärung. In der Tat scheint mir der von der Lehre zur Legitimation des Bundesstaats bemühte Grundsatz der vertikalen Gewaltenteilung22" die schwerfällige Organisationsform des Bundesstaats allein nicht zu rechtfertigen. Vielleicht sogar im Vordergrund des Bundesstaatsprinzips steht vielmehr der Gedanke, daß durch die Zuständigkeit der Länder und der Beteiligung der Länder am Willensbildungsprozeß des Bundes gerade die Interessen der Bewohner der einzelnen Länder besonders berücksichtigt werden sollen. 225 Damit soll die dem Demokratieprinzip widersprechende Situation vermieden werden, daß eine Mehrheit in bestimmten Bundesländern alle anderen Bundesländer faktisch beherrscht. Ferner soll durch die Dezentralisierung der staatlichen Entscheidungen vermieden werden, daß dem "negativen" Demokratieprinzip widersprechend an der staatlichen Entscheidung auch Personen beteiligt werden, die durch diese Entscheidung nicht betroffen werden. Daneben greift das Bundesstaatsprinzip auf den vielfach bewährten Grundsatz zurück, daß durch die Beteiligung unterschiedlich zusammengesetzter Gremien (Bundestag und Bundesrat) unterschiedliche Interessen berücksichtigt werden und so die Entscheidung "vergütet" wird. Auch dient das Bundesstaatsprinzip der Durchsetzung des Gleichheitssatzes: Es verhindert das überproportionale Wachstum der Hauptstadt und sorgt durch die gleichmäßige Verteilung der Finanzkraft auf die einzelnen Länder für die Einheit der Lebensverhältnisse in den einzelnen Regionen. Auf den ersten Blick scheint sich das Vertrauensschutzprinzip in das oben entwickelte Struktunnodell der materiellen Gerechtigkeit nicht einzufügen. In der Tat wird in der Lehre und Rechtsprechung immer wieder behauptet, daß das Vertrauensschutzprinzip als Ausdruck der formellen Gerechtigkeit in einem gewissen Gegensatz zur materiellen Gerechtigkeit stehe. Bei einer näheren Analyse läßt sich aber auch dieser Gegensatz auflösen. Auch der Grundsatz der formellen Gerechtigkeit dient nämlich nur der Durchsetzung der Grundrechte und damit der materiellen Gerechtigkeit. Nur wenn die sich aus den Freiheiten entwickelnden Handlungssphären von A und B dem Prinzip der formellen Gerechtigkeit entsprechend strikt festliegen, können A und B ihre Grundrechte bis zu ihren letzten Grenzen voll ausüben: Liegen diese Grenzen nicht eindeutig fest, werden vernünftig kalkulierende Unternehmer diese Grundrechte nur in dem Maße in Anspruch nehmen, als das Risiko berechenbar bleibt. Das Vertrauensschutzprinzip hat dabei eine in die Vergangenheit und eine in die Zukunft wirkende Komponente. Auf die Vergangenheit bezogen verbietet

224 225

Vgl. Stern (Anm. 186), Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 19, S. 657 ff. Bleckmann (Anm. 218), S . 637.

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das Vertrauensschutzprinzip eine Änderung des Datenkranzes, welcher der privaten Entscheidung in der Vergangenheit zugrundegelegt worden ist. Da diese Entscheidung faktisch schon gefallen ist und nicht mehr geändert werden kann, hat der auf die Vergangenheit bezogene Aspekt des V ertrauensschutzgrundsatzes nicht die Durchsetzung der allgemeinen Handlungsfreiheit, sondern den Schutz des Vermögens zum Ziel. Unter diesem Aspekt erscheint auf der einen Seite ein "Inkraftsetzen", d.h. eine Vermögensdisposition, erforderlich. Da das Schutzobjekt des Vertrauensschutzprinzips insoweit das Eigentum im weiteren Sinne ist, braucht dem Staat die Rückwirkung der Rechtsregeln nicht verboten zu werden; eine Geldentschädigung für den Eigentumsverlust reicht insoweit vielmehr völlig aus. Auf die Zukunft bezogen fordert das Vertrauensschutzprinzip dagegen, daß die Rechtssphären der Individuen unter sich und der Individuen in ihrem Verhältnis zum Staat strikt abgegrenzt werden. Dieser Aspekt des Vertrauensschutzprinzips, der durch die Lehre und Rechtsprechung insoweit zu wenig beachtet wird, als er sich nur auf staatliche Grundrechtseingriffe beziehen soll, dient nicht dem Eigentumsschutz, sondern der allgemeinen Handlungsfreiheit. Wie in der Literatur richtig gesehen worden ist, hat der Grundsatz des Vertrauensschutzes neben dieser subjektiven aber auch eine objektive Komponente: Insbesondere der kapitalistische Wirtschaftsprozeß, aber auch die Kooperation etwa zwischen den Gemeinden und zwischen den Ländern können die verfassungsrechtlich vorgesehenen öffentlichen Aufgaben nur dann optimal-effektiv erfüllen, wenn wie bei einem Uhrwerk ein Rädchen ins andere greift, wenn also jedes Glied in diesem System sich darauf verlassen kann, daß alle anderen Glieder sich in einer bestimmten, vor allem durch die Vergangenheit festgelegten Weise verhalten. Das bedeutet, daß entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade auch das Vertrauensschutzprinzip nicht nur die privaten Interessen der Individuen, sondern auch die öffentlichen Interessen etwa der Gemeinden und Länder schützt. Dieses Erfordernis wird in der Tatsache besonders deutlich, daß im Völkerrecht und im Europäischen Gemeinschaftsrecht zum Schutz vor allem der Staaten das Vertrauensschutzprinzip allgemein anerkannt wird. Auch der Grundsatz der formellen Gerechtigkeit dient also der Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit und damit dem materiellen Rechtsstaatsprinzip. In ein Spannungsverhältnis treten die Grundsätze der materiellen und der formellen Gerechtigkeit nur insoweit, als infolge der durch die Rechtssicherheit geforderten Rechtskraft der unterverfassungsrechtlichen Staatsakte die volle Durchsetzung der materiellen Verfassungsregeln verhindert werden kann. Dabei sollte dieses Spannungsverhältnis allerdings nicht übertrieben werden. Insbesondere, wenn der Sachverhalt in mehreren gerichtlichen Instanzen eingehend überprüft und rechtlich gewürdigt worden ist, ist davon auszugehen,

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

daß die Entscheidung sich der materiellen Gerechtigkeit soweit nähert, wie dies menschlich möglich ist. Immerhin müssen die Grundrechte zu jedem Zeitpunkt, also auch vor und nach der endgültigen Entscheidung des Staates voll ausgeübt werden können. Das aber bedeutet, daß die Prinzipien der Rechtskraft der Urteile und der Bestandskraft der Verwaltungsakte ebenso wie die die einstweiligen Anordnungen der Gerichte beherrschenden Prinzipien anhand der materiellen Gerechtigkeit einer erneuten Prüfung unterzogen werden müssen.

m. Zu den Abwägungskriterien Liegenaufgrund der Verfassung die Interessen fest, die bei der durch den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit geforderten Abwägung berücksichtigt werden müssen, stellt sich als zweites Problem die Festlegung der Kriterien einer sachlich-gerechten Abwägung selbst. Dieses Problem kann durch die Verfassung nur beschränkt gelöst werden, weil die durch das Grundgesetz geschützten privaten und öffentlichen Interessen unzählig viele Kombinationen unter sich eingehen können. Dennoch lassen sich der Verfassung insoweit gewisse Prinzipien entnehmen: Zunächst einmal bestimmt die Verfassung das gegenseitige Gewicht der durch die Grundrechte geschützten Interessen zumindest partiell. Denn auf der einen Seite sind nach Art. 1 III GG die Grundrechte in ihrem Kern nur Ausstrahlungen der durch Art. 1 I GG geschützten Menschenwürde. Das aber bedeutet, daß mit der "räumlichen" Nähe der Grundrechte zu Art. l GG auch das Gewicht der Grundrechte steigt. Auf der anderen Seite zeigt das Grundgesetz mit dem Grad der Einschränkbarkeit der einzelnen Grundrechte das jeweilige Gewicht der geschützten Interessen deutlich an. Das Problem ist dabei nur, daß, wie schon Jeremy Bentham klar erkannt hat, auf den die Interessenjurisprudenz letztlich zurückgeht, daß es bei der Einzelabwägung nicht auf das "abstrakte", durch die Verfassung festgelegte Gewicht der Interessen, sondern darauf ankommt, in welchem Maße die jeweiligen Interessen durch die jeweilige Maßnahme konkret betroffen werden. Da das Grundgesetz die Kriterien für eine sachlich-gerechte Abwägung im Detail nicht liefern kann, greift es auf den Gleichheitssatz im Sinne des Willkürverbots zurück. Dieser Grundsatz bindet den Gesetzgeber bei der Abwägung im Rahmen neuer Sachverhalte an die von ihm selbst gesetzten Maßstäbe: Immer dann, wenn insbesondere der Gesetzgeber sich im Falle A für einen bestimmten Maßstab entschieden hat, muß er, wenn keine sachlichen Gründe entgegenstehen, diesen Maßstab auch in anderen, vergleichbaren Fällen einhalten.

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Unser Strukturmodell des Rechtsstaatsprinzips zeigt also wiederum in einem gewissen Gegensatz zur herrschenden Lehre deutlich auf, daß die Freiheiten und der Gleichheitssatz jeweils auf einer völlig verschiedenen Ebene angesiedelt sind: Während die Freiheiten die vom Grundgesetz geschützten, bei der Abwägung zu berücksichtigenden Privatinteressen umreißen, versucht der Gleichheitssatz den bei der Abwägung dieser Interessen erforderlichen Maßstab jedenfalls partiell zu liefern. Diese unterschiedlichen Funktionen der Freiheiten und des Gleichheitssatzes machen deutlich, daß die für die Freiheiten entwickelten allgemeinen Grundrechtslehren auf den Gleichheitssatz nicht ohne weiteres übertragen werden können. Diese Grundsätze der Ermessenfehlerlehre werden, um die Gerechtigkeit und Sachlichkeit der staatlichen Entscheidung zu gewährleisten, durch zahlreiche Verfahrensvorschriften des Verfassungsrechts ergänzt, die heute in den Verwaltungsverfahrensgesetzen des Bundes und der Länder festgelegt sind. Auch diese Grundsätze lassen sich bis zu einem bestimmten Grad aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten. Zu beachten ist allerdings, daß die Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder bisher zu einseitig an der Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat ausgerichtet sind. Sollen die Postulate der materiellen Gerechtigkeit voll verwirklicht werden, müssen die Verwaltungsverfahrensgesetze so interpretiert werden, daß sie auch den anderen Funktionen der Grundrechte zum Durchbruch verhelfen.

IV. Die Verfahrensprinzipien Wir haben schon angedeutet, daß, da es keine objektiven Maßstäbe für die sachlich-gerechte Abwägung der Interessen gibt und die materielle Gerechtigkeit deshalb weitgehend irrjustitiabei bleibt, die Verfassung Verfahren einführen muß, die garantieren, daß die staatlichen Instanzen die Interessen sachlichgerecht miteinander abwägen. Die Verfassung greift insoweit auf drei Grundsätze zurück: I . Der weitaus wichtigste Grundsatz ist in diesem Bereich das Demokratieprinzip und der damit verbundene Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Lehre hat nämlich das Demokratieprinzip primär nicht zur Aufgabe, die Selbstbestimmung der Individuen dadurch zu gewährleisten, daß jedermann nur an die von ihm selbst gesetzten Regeln gebunden ist. Diese letzlieh auf Immanuel Kant226 zurückgehende Autonomievorstellung wird in der modernen Massengesellschaft, in welcher der Einfluß 226 Kant (Anm. 114), § 46 f.; vgl. dazu auch Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, § 17 III 3; Goyard-Pabre, Kantet le problerne du Droit, 1975.

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

der Individuen auf die staatlichen Entscheidungen sich dem Nullpunkt nähert, durch den schon im 19. Jh. entwickelten Gedanken überlagert, daß das Demokratieprinzip der Richtigkeit der staatlichen Entscheidung dient: Dadurch, daß das Parlament in der Wahl an die subjektiven Wertvorstellungen der Grundrechtsträger zurückgebunden ist, wird gewährleistet, daß bei dem staatlichen Abwägungsprozeß alle Interessen hinreichend und vor allem im Lichte der subjektiven Wertvorstellungen der Grundrechtsträger berücksichtigt werden. Das Demokratieprinzip gewährleistet also, daß den Grundsätzen der materiellen Gerechtigkeit entsprechend auf der einen Seite die Interessen aller Bevölkerungsgruppen bei der der staatlichen Entscheidung vorangehenden Abwägung berücksichtigt werden und auf der anderen Seite diese Interessen und ihr gegenseitiges Gewicht von den Grundrechtsträgem selbst festgelegt und so maximiert werden. Unser Strukturmodell zeigt damit deutlich auf, daß das Demokratieprinzip die Durchsetzung des Rechts- und Sozialstaatsprinzips zum Ziel hat und deshalb in diesen Prinzipien auch seine Grenze findet. Es ist deshalb letztlich gleichgültig, ob man den Gesetzesvorbehalt mit der älteren Literatur und Rechtsprechung227 auf das Rechtsstaatsprinzip oder nach der neueren Auffassung228 auf das Demokratieprinzip stützt. 2. Die durch die Grundrechte geschützten Interessen werden dem Anliegen des Grundgesetzes entsprechend nur dann maximiert, wenn und soweit die Grundrechtsträger über den Inhalt und das gegenseitige Gewicht ihrer Interessen selbst entscheiden. Aus diesem Prinzip folgt zunächst, daß, obwohl die Durchsetzung der durch die Grundrechte geschützten Individualinteressen auch im öffentlichen Allgemeininteresse liegt, dieses öffentliche Interesse grundsätzlich nur potentiell bleibt und sich nur dann aktualisiert, wenn und soweit die Individuen ihre Interessen allein nicht durchsetzen können. Aus diesem Grundsatz wiederum fließt die auch bei der Auslegung der Verfassung zu beachtende Grundentscheidung der Rechtsordnung, daß die Individuen ihre Interessen grundsätzlich durch Verträge mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft durchsetzen können müssen. Denn wenn die Verhandlungsmacht der Individuen gleich ist, werden beim Vertragsschluß dem Gleichheitssatz entsprechend die Vor- und die Nachteile der Entscheidung gleichmäßig auf beide Vertragspartner verteilt.

227

BVerfGE 8, 71 (76).

BVerfGE 40, 237 (249); so auch Stern (Anm. 186), Bd. 1, 2 . Aufl. 1984, § 20, S. 811 : "Der vorwiegend rechtsstaatlich-grundrechtlich motivierte Eingriffsvorbehalt wandelt sich zu einem demokratisch und rechtsstaatlich geprägten Parlamentsvorbehalt, der nicht nur den ersteren in sich aufnimmt(... ), sondern vor allem auf weitere Sachbereiche als dieser erstreckt wird. " 228

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Sofern die Verhandlungsmacht der Individuen dagegen ungleich ist, kann ein gerechtes Ergebnis immer noch dadurch gefunden werden, daß sich zwei die jeweiligen Interessen vertretenden Verbände mit gleicher Verhandlungsmacht gegenübertreten. Auf diesem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit beruht die Tarifautonomie der Koalitionspartner, welche die grundsätzliche Allzuständigkeit des Parlaments zurückdrängt. 3. Im Einzelfall schließlich läßt sich die materielle Gerechtigkeit dadurch verwirklichen, daß die Rechtsordnung im Gerichtsverfahren die Waffengleichheit garantiert: Das bedeutet, daß soweit nicht Interessen Dritter oder der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, die durch die beiden Parteien nicht repräsentiert werden, die Parteien grundsätzlich über den Streitgegenstand weitgehend frei verfügen können müssen.

V. Die rechtliche Durchsetzung des Gerechtigkeitsgedankens: Die "rule of law" Die oben dargelegten Prinzipien der materiellen Gerechtigkeit können nun nur dann in der Verfassungswirklichkeit voll durchgesetzt werden, wenn und soweit sie in einer höherrangigen und damit das übrige Recht beherrschenden Verfassung verankert sind und durch die Verfassungsgerichtsbarkeit verwirklicht werden. 1. Ohne weiteres einleuchten dürfte aufgrund der einleitenden Bemerkungen in diesem Abschnitt die auf das Rechtsstaatsprinzip zurückgehende liberale Forderung, daß das Rechtsstaatsprinzip selbst und alle seine Konkretisierungen in einer Verfassung, d.h. in einem Gesetz verankert werden, das einen höheren Rang als alles sonstige Recht besitzt. Denn nur ein solcher rechtlicher Vorrang gewährleistet, daß das Rechtsstaatsprinzip sich im Einzelfall in der Rechtsordnung durchzusetzen vermag. Diesem Ziel dient vor allem auch die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit 2. Die rechtliche Verankerung des Rechtsstaatsprinzips allein reicht dagegen nicht aus, das Verfassungssystem vor einem Umsturz zu sichern. Es wird deshalb durch den ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip entwickelten Grundsatz der Gewaltenteilung ergänzt. Dieser Grundsatz nun hat sich in der neueren Verfassungsentwicklung in dreifacher Hinsicht konkretisiert. In einer ersten Funktion dient er in einem doppelten Sinn der Richtigkeit der staatlichen Entscheidung, stellt er also eine weitere Garantie für die sachlich-gerechte Abwägung der durch das Grundgesetz geschützten Interessen durch den Staat dar: Auf der einen Seite leitet sich aus dem Gewaltenteilungsprinzip der Grundsatz ab, daß die staatliche Entscheidung von den staatlichen Organen zu

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

fällen ist, die nach ihrer Zusammensetzung und ihren Befugnissen hierfür am besten geeignet sind. Auf der anderen Seite soll die Einzelfallentscheidung durch vom Gesetzgeber unabhängige Organe aufgrund allgemeiner Rechtssätze gefällt werden, die vom Parlament festgelegt werden: Diese Konstruktion verhindert, daß die staatliche Entscheidung dadurch beeinflußt wird, daß das Entscheidungsorgan eine der beiden am Streit im Einzelfall beteiligten Parteien aufgrund persönlicher Beziehungen bevorzugt oder benachteiligt und sichert so dem Gleichheitssatz entsprechend die sachlich-gerechte Abwägung der Interessen. In seiner dritten Funktion verhindert das Gewaltenteilungsprinzip im Interesse der Menschenrechte, daß der Staat dem Bürger en bloc mit seinen gesamten Machtbefugnissen und Kenntnissen (Datenschutz) entgegentritt: Die Entscheidung ist vielmehr stets von einer einzelnen, nur über beschränkte Machtmittel verfügende Behörde zu treffen. Durch diesen Grundsatz wird die staatliche Zuständigkeitsverteilung verankert. Nur in seiner dritten Funktion als System von "checks and balances" dient das Gewaltenteilungsprinzip der faktischen Aufrechterhaltung der Verfassung und damit dem Grundsatz der "rule of law" : Da die die verschiedenen Staatsorgane repräsentierenden Personen in der Regel versuchen werden, die absolute Macht zu erringen, trifft bei der horizontalen und vertikalen (Bundesstaat) Gewaltenteilung der Machtanspruch des einen Organs auf den gleichen Machtanspruch aller anderen Organe und wird so im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Befugnisse gehalten. Von der Literatur nicht hinreichend beachtet wird schließlich die Tatsache, daß die Aufrechterhaltung der Verfassung nur dann voll gewährleistet ist, wenn dem Grundsatz "Macht nur durch das Recht" entsprechend die Verfassungswirklichkeit durch Rechtsnormen so geordnet wird, daß jeder Machtträger nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch nur die Befugnisse wahrnehmen kann, die ihm durch die Rechtsordnung ausdrücklich zugeordnet werden. Diesen Grundsatz, der sich aus dem Prinzip der inneren Souveränität entwickelt hat, bezieht sich auf unzählige Regeln der Gesamtrechtsordnung, die hier im einzelnen nicht untersucht werden können. VI. Zusammenfassung Dem Postulat der Lehre und Rechtsprechung folgend dient das Rechtsstaatsprinzip der Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit. Das aber bedeutet, daß das Rechtsstaatsprinzip sicherstellen muß, daß die staatlichen Entscheidungen alle schützenswerten Interessen sachlich-gerecht miteinander abwägen. Deshalb muß die rechtsstaatliche Verfassung in einem ersten Schritt die bei der staatlichen Entscheidung zu berücksichtigenden Interessen und ihr gegenseitiges

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Gewicht festlegen. Da insbesondere die Kriterien einer sachlich-gerechten Abwägung nicht hinreichend objektiviert werden können, greift die Verfassung in einem zweiten Schritt auf eine Reihe von Verfahren zurück, die der Erfahrung nach gewährleisten, daß die staatliche Entscheidung, soweit dies menschlich überhaupt möglich ist, den Prinzipien der materiellen Gerechtigkeit entspricht. Um sicherzustellen, daß diese Prinzipien sich in der Verfassungswirklichkeit tatsächlich durchsetzen, müssen sie in Rechtsnormen verankert werden, die einen höheren Rang als die gesamte übrige Rechtsordnung beanspruchen; muß die gesamte staatliche Tätigkeit von den Gerichten kontrolliert und durch eine Machtbalance gesichert werden, daß die Verfassung auch durch einen Umsturz von oben oder unten nicht außer Kraft gesetzt wird. Es kann nicht die Aufgabe eines knappen Bandes über das Demokratieprinzip sein, das Rechts- und das Sozialstaatsprinzip umfassend darzustellen, um die Beziehungen dieser Institutionen Demokratieprinzip voll aufdecken zu können. Insbesondere in den vorangehenden Abschnitten über den Beitrag der USA und der deutschen Autoren des 18. Jahrhunderts zum Demokratieprinzip haben wir gezeigt, daß, da jede absolute Macht die Gefahr absoluten Mißbrauchs nach sich zieht, die durch das Demokratieprinzip begründete Allmacht des Parlaments durch Rückgriff auf den Gewaltenteilungsgrundsatz, die Menschenrechte und die Verfassungsgerichtsbarkeit zu beschränken ist. Dazu gehört auch die vertikale Gewaltenteilung in einem Bundesstaat. Im Rahmen des vorliegenden Werkes von vordringlicher Dringlichkeit sind zwei Gesichtspunkte, die zeigen, daß zwischen dem Demokratieprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip starke wechselseitige Zusammenhänge bestehen:

An anderer Stelle haben wir gezeigt, daß, da nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und nach der herrschenden Lehre in Deutschland letztes Ziel des Rechtsstaatsprinzip die Definition und Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit ist, sich die letzten Ziele des Demokratie- und des Rechtsstaatsprinzip decken. 229 Diese Tatsache mag erklären, warum das Bundesverfassungsgericht zur Begründung ein- und demselben Rechtsinstituts wie etwa des Gesetzesvorbehalts und des Gewaltenteilungsprinzips teilweise auf das Rechtsstaatsprinzip, teilweise auf das Demokratieprinzip zurückgreift. Bei einer näheren Analyse stehen das Rechtstaats- und das Demokratieprinzip aber nicht nur hinsichtlich dieses letzten Ziels in enger Verbindung zueinander. Die materielle Gerechtigkeit kann nur dann gefunden werden, wenn eine sachlich-gerechte Abwägung zwischen den durch die Entscheidung

229

Bleckmann (Anm. 218), S. 121 ff.

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

betroffenen Interessen durch die Verfassung garantiert wird. Die Verfassung muß sich deshalb bemühen, die öffentlichen und privaten Interessen durch Grundrechte und in den Kompetenzbestimmungen festzulegen und Maßstäbe wie den Gleichheitssatz sowie Verfahren festlegen, die die sachlich-gerechte Abwägung zwischen diesen Interessen gewährleisten. Wie wir gesehen haben, stellt das Demokratieprinzip in dieser Sicht aber einen äußerst wichtigen Verfahrensgrundsatz dar, der die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung sicherstellt. Das Demokratieprinzip ist in dieser Sicht ein wichtiges Mittel zur Durchsetzung des Rechtsstaatsprinzips. Auf der anderen Seite ist das Rechtsstaatsprinzip auch ein wichtiges Mittel für die Durchsetzung des Demokratieprinzips. In der Tat kann eine Demokratie nicht ordnungsgemäß funktionieren, wenn die Regierung die Bürger ohne sachlichen Grund beliebig verhaften oder töten kann. Der Kampf um die Regierungsmacht wird dann nicht durch Wahlen, sondern durch Terror und Gewalt entschieden.

§ 13 Das Verhältnis zwischen dem Demokratieprinzip

und dem Souveränitätsprinzip I. Das Souveränitätsprinzip230

Das Souveränitätsprinzip und damit in der Definition der herrschenden Lehre die zentrale Frage nach dem höchsten Organ im Staate war das bevorzugte Thema der Staatsrechtswissenschaft des 19. Jh. - wohl weil in der konstitutionellen Monarchie der damaligen Zeit die Entscheidung der Verfassung zwischen der Souveränität des Fürsten und der des Volkes und damit des Parlaments in der Schwebe geblieben war, die Entscheidung über dieses Problem aber weitgehende Folgen für die politische Machtverteilung hatte. Noch in der Weimarer Republik- sozusagen als Nachhall der vorangehenden Epoche - besonders gepflegt und umstritten, wird das Souveränitätsproblem heute in der Staatsrechtlichen Literatur, aber auch in der Allgemeinen Staatslehre bis auf knappe Hinweise kaum mehr beachtet. Der Grund hierfür mag die Auffassung sein, das Grundgesetz behandle das Souveränitätsproblem nicht und beziehe folglich zu ihm auch keine Stellung, oder auch die Meinung, das Souveränitätsproblem könne nur mit Hilfe der heute überwundenen Begriffsjurisprudenz gelöst werden. Auch mag die Auffassung mitschwingen, aus dem Souveränitätsproblem ergäben sich angesichts der detaillierten

230 Die folgenden Ausführungen sind eine leicht modifizierte Version der Seiten 103-115 meines Lehrbuches Staatsrecht I - Staatsorganisationsrecht, 1993. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Carl Heymanns Verlages.

§ 13 Verhältnis zwischen Demokratieprinzip und Souveränitätsprinzip

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Regelungen des Grundgesetzes Lösungen für relevante verfassungsrechtliche Fragen nicht mehr. All diese nicht ausdrücklich formulierten Meinungen haben, so wird sich zeigen, recht, wenn und soweit mit dem Souveränitätsprinzip nur die Frage nach dem höchsten Organ im Staate oder nach der Souveränität des Staates selbst gestellt wird. Mit dieser viel zu engen Definition hat aber schon die Lehre des 19. Jahrhunderts übersehen, daß das Souveränitätsprinzip eine ganze Kette von Rechtssätzen an sich zieht, von deren Existenz wir auch heute noch ausgehen, die aber im Grundgesetz nicht verortet werden können, wenn man die Auffassung ablehnt, das Grundgesetze verankere die Souveränität des Staates oder des Volkes nicht. Typisch für die begriffliche Argumentation in diesem Bereich - wie im ganzen Staatsorganisationsrecht - ist dabei die allgemeine Verkennung der Tatsache, daß auch die Lehre vom Souveränitätsprinzip bestimmten Zielen dienen soll, die eigentlich die Funktion des Souveränitätsprinzips erst richtig verdeutlichen:

II. Zum Begriff und zur Funktion des Souveränitätsprinzips 1. Das Staatsorganisationsrecht muß die Verfassungsregeln so ausgestalten,

daß der Staat die ihm jeweils zugewiesenen Aufgaben ordnungsgemäß und rechtzeitig erfüllen kann. Solange die Bürger dabei ihre durch die sozialen

Grundrechte geschützten sozialen Interessen im Rahmen ihrer klassischen Freiheitsrechte durch ihr eigenes Handeln voll durchsetzen konnten, bestanden die Aufgaben des Staates nur in der Aufrechterhaltung der äußeren und inneren Sicherheit und Ordnung, d. h . aber in der Sicherung der Freiheitsrechte der Individuen (Rechtsstaat; Nachtwächterstaat). In dem Augenblick, in welchem die Individuen für die Durchsetzung ihrer sozialen Interessen immer stärker auf die Leistungen (Daseinsvorsorge, Sozialversicherung) des Staates angewiesen sind, entwickeln sich aus den klassischen Freiheiten die sozialen Grundrechte als Ziel und Mittel der klassischen Freiheiten und erstrecken sich folglich die Aufgaben des Staates von der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach innen und außen auf die Erfüllung der sozialen Grundrechte der Individuen (Sozialstaat). Das Organisationsrecht sowohl des Rechts- als auch des Sozialstaates muß dabei sicherstellen, daß insbesondere in einer Zeit, in welcher die sozialen Interessen nur noch durch Leistungen des Staates erfüllt werden können, überhaupt eine staatliche Entscheidung ergeht, daß diese Entscheidung die durch die klassischen und sozialen Grundrechte geschützten Interessen der Bürger sachlich-gerecht miteinander abwägt und daß der lückenlose und automatische Vollzug dieser Entscheidung gesichert ist.

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

Alle diese Funktionen des Staatsorganisationsrechts sollten in klassischer Sicht vor allem das Souveränitätsprinzip erfüllen. Das wird in den "Sechs Büchern über die Republik", in welchem Jean Bodin den Begriff der Souveränität zum ersten Mal in den Griff bekam, aber auch in der nachfolgenden Literatur zum Souveränitätsprinzip nicht ganz deutlich, weil alle diese Werke nicht nach den Zielen des Souveränitätsprinzip fragten, sondern nur eine Definition der Souveränität bieten wollten. So wird die Souveränität dem höchsten Staatsorgan beigelegt, welches dem Willen keines anderen Staatsorgans unterworfen und - weil das Recht mit dem Willen eines bestimmten Individuums identifiziert wird, folglich auch an das zumindest staatliche Recht einschließlich des Verfassungsrechts nicht gebunden ist. Das Ziel der Souveränität wird dabei nur dann deutlich, wenn man die Zielumstände berücksichtigt, in welche Bodin hineingeboren wurde und die sein Souveränitätsprinzip überwinden sollte: Dabei kam es in der Tat darauf an, angesichts der Religionskriege im damaligen Frankreich den Bürgerkrieg zu überwinden und durch eine bestimmte staatliche Organisation die öffentliche Sicherheit und Ordnung nach innen zu gewährleisten. Das aber war nur möglich, wenn die gesamte Macht im Staate beim Fürsten, also beim französischen König monopolisiert war; der König mußte dabei eine größere Macht als jede Bürger- oder Adelskoalition besitzen. Nur so konnte auch sichergestellt werden, daß- da der König nicht wie das Volk in sich selbst "gespalten" wardie für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Entscheidungen des Staates rechtzeitig ergingen. Darüber hinaus mußte, um diese Staatsaufgaben erfüllen zu können, der Souverän im Gegensatz zum vorherigen Feudalsystem in welchem jeder Herrscher nur bestimmte, gewohnheitsrechtlich oder vertraglich begründete einzelne "Regalien" besaß, die Fülle der Staatsgewalt innehaben. Diese Konzeption, welche die enge "Staatszwecklehre des Mittelalters" überwand, wurde insbesondere deshalb erforderlich, weil die absoluten Herrscher, um ihre Finanzmittel und damit ihre Macht zu stärken, mit dem Merkantilismus zu einer detaillierten Regelung des gesamten Wirtschafts- und Sozialsystems übergehen mußten. Wenn wir in einem gewissen Sinne im Interesse der Durchsetzung des Rechtsstaats- und des Demokratieprinzips heute wieder zur Konzeption des Mittelalters zurückgekehrt sind und deshalb den staatlichen Organen vor allem auf Grund des Gewaltenteilungsgrundsatzes und um den staatlichen Willensbildungsprozeß zu kanalisierenjeweils nur bestimmte Einzelzuständigkeiten durch die Verfassung zugeordnet werden, kommt dieser Grundsatz doch auch heute noch in der Tatsache zum Ausdruck, daß trotz der bundesstaatliehen Korn-

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petenzverteilung etwa die Legislative des Bundes eine umfassende Gesetzgebungskompetenz besitzt. Daß die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und später die Erfüllung auch der anderen Staatsaufgaben einen durch das Souveränitätsprinzip geprägten Aufbau des modernen Staates verlangte, ging in der nachfolgenden Literatur, insbesondere bei den Gesellschaftsvertragstheoretikern teilweise wieder verloren. Diese Autoren und insbesondere Thomas Hobbes und John Locke, sahen zwar, daß die auf die Überwindung des "Kriegs aller gegen alle" und auf die Aufrechterhaltung der klassischen Freiheiten und insbesondere des Eigentums ausgerichteten Interessen der Bürger die Existenz eines starken Staates, und so ist zu ergänzen, einer umfassenden, bindenden Rechtsordnung voraussetzen. Sie haben dabei aber die Lehre von Bodin übersehen, daß damit nicht nur der Staat als solcher, sondern eine bestimmte Organisation dieses Staates verlangt wurde - wohl weil sich im 17. und 18 Jh. im Gefolge des Absolutismus das Souveränitätsprinzip voll durchgesetzt hatte und deshalb keine Veranlassung mehr bestand, es noch einmal besonders zu erwähnen, und weil es Hobbes nur um die Legitimation der Staatsgewalt, Locke dagegen um die Rechtfertigung der britischen Revolution ging. Typisch auch für die spätere Entwicklung ist dabei, daß das Souveränitätsprinzip auch in der neueren Literatur weitgehend in Vergessenheit geriet und eigentlich erst in der Mitte des 19. Jh. eine Auferstehung feierte, die allerdings die ursprünglichen Ziele dieses Prinzips und die Entwicklung der späteren Staatenpraxis verkannte, das Souveränitätsprinzip deshalb weitgehend nur auf die äußere Souveränität bezog und dabei so überspitzte, daß selbst - etwa bei John Austin231 - die Bindung an das Naturrecht und an das Völkerrecht fraglich wurden. Dabei spielte auch die positivistische, die Bindung an das Recht auf den Willen einer übergeordneten Instanz zurückführende und an der Naturwissenschaft ausgerichtete Wissenschaftstheorie eine entscheidende Rolle, die jede Bindung an Werte und damit an das Naturrecht verwarf und den Rechtsbegriff auf die Regeln beschränkte, die durch organisierten Zwang (Zwangsvollstreckung) durchgesetzt werden. In der Praxis schon des absoluten Staates wurden dagegen aus dem Souveränitätsprinzip und seinen Zielen logisch konsequent die letzten Konsequenzen so entwickelt, als ob ein einziger Autor dieses System aus dem Souveränitätsprinzip rational deduziert hätte. Um die Konzeption und die Ziele des Souveränitätsprinzips zu begreifen, müssen wir also stärker auf die tatsächliche 231 Austin, Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of positive law, 5. Aufl., 1873, ND 1972.

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Entwicklung des modernen Staates als auf ihre Darstellung in der Literatur rekurrieren. Diese Entwicklung des Souveränitätsprinzips hatte dabei ganz bestimmte Ursachen: Das Souveränitätsprinzip konnte sich vor allem in Frankreich· durchsetzen, weil einerseits der König natürlich selbst an einem entsprechenden Ausbau seiner absoluten Machtposition höchst interessiert war, auf der anderen Seite aber infolge einer Kette von Umständen seine faktische Macht im Vergleich zu der des Adels und der Bürgerkriegsparteien gewachsen war und weiter ausgebaut werden konnte. In allen Staaten, in welchen die Lage ähnlich war wie in Frankreich, und das war in Deutschland wie bekannt nicht auf der Ebene des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, sondern nur auf der Territorialebene der Fall - wurde das Souveränitätsprinzip auf Grund des Machtstrebens der Fürsten logisch konsequent bis ins letzte Detail so weiterentwickelt. Typisch für die enge Verbindung des Souveränitätsprinzips mit dem Wissenschaftsverständnis des Positivismus ist dabei die nach Bodin einsetzende Reduzierung der rechtlichen Bindungswirkung auf den Willen des Souveräns, die automatisch das Problem der rechtlichen Wirkung einer Selbstbindung des Souveräns nach sich zog: Naturrechtliche Ansätze und der Rückgriff aufWerte wurden damit aus dem Rechtsdenken verbannt, und auch die Bindungswirkung des Gewohnheitsrechts und der privatrechtliehen Verträge mußten auf den Willen des Fürsten zurückgeführt werden. Typisch für diese Konzeption ist dabei auch, daß die Bindungswirkung der Rechtsquellen sich nicht mehr nach dem Rang der angesprochenen Werte, sondern nach der Nähe der Rechtsquellen zum fürstlichen Willen bestimmte. Weiterer Ausfluß des Souveränitätsprinzips war ferner die Überlagerung der Personalhoheit über die Stammesangehörigen, dann über die Staatsangehörigkeit durch die Gebietshoheit und die Entwicklung des Gedankens der Hoheitsrechte als eines Rechts, den Bürger durch den Willen des Souveräns einseitig-rechtlich zu binden. Die Begründung der Bindungswirkung des Rechts durch den Willen des Souveräns beeinhaltete auch, daß im Gegensatz zum Mittelalter der spätere Wille des Fürsten dem früheren Recht, insbesondere dem Gewohnheitsrecht vorging. Mit dieser Entwicklung des Grundsatzes "Iex posterior derogat legi priori", die sicherlich auch auf eine Umkehrung der Gesellschaftsutopien zurückzuführen ist, nach welcher nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft die besseren Zeiten zu suchen sind, wurde die Grundlage für den modernen Gesetzgebungsstaat geschaffen, in welchem das Recht grundsätzlich künstlich "machbar" ist.

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Die spätere Lehre hat diese Ziele und Ergebnisse des Souveränitätsprinzips völlig verkannt. Nur wenn das Souveränitätsprinzip rein formell verstanden wird, kann in der Tat eine Personemnehrheit wie etwa das Parlament und das Volk die Souveränität besitzen; den Zielen des Souveränitätsprinzips, sicherzustellen, daß die staatliche Entscheidung unbedingt gefunden wird, entspricht diese formelle Konzeption insbesondere dann nicht, wenn etwa Parlament und Volk innerlich stark zerrissen sind. Nun kam es, sobald durch das Entscheidungsmonopol des Fürsten sichergestellt war, daß überhaupt eine Entscheidung gefunden wurde, darauf an, sicherzustellen, daß diese Entscheidung bis in der letzten Provinz strikt und lückenlos durchgesetzt wurde. Der tragende Grundsatz, welcher sich aus dieser Funktion des Souveränitätsprinzips in der Folge entwickelte, aber in der Literatur soweit ersichtlich niemals erwähnt wird, ist das Prinzip "Macht nur durch das Recht". Es entspricht in der Tat nicht nur dem Souveränitätsprinzip, sondern auch dem Ideal des Rechtsstaates, daß etwa die Individuen gegeneinander grundsätzlich Macht nur durch die Vermittlung des Staates (Gerichtsverfahren und Zwangsvollstreckung) ausüben können, ihnen der Staat diese Macht aber nur verleiht, wenn und soweit sie gegen andere Individuen subjektive Rechte ausüben dürfen, welche die Rechtsordnung ihnen zugewiesen hat. Das bedeutet aber, daß der Theorie nach die Individuen Macht nur soweit besitzen, als die Rechtsordnung sie ihnen ausdrücklich gewährt. Das wiederum aber heißt, daß die Rechtsordnung die Individuen nicht nur rechtlich bindet, sondern daß die Individuen auch soziologisch gesehen gar nicht anders handeln können, als das Recht dies ausdrücklich vorsieht. Daß es sich dabei auch um ein allgemeines Rechtsprinzip handelt, das auch für die Staatsorgane gelten muß, wird bewußt, wenn wir etwa beobachten, daß auch ein mächtiger Bundeskanzler grundsätzlich Macht nur insoweit ausüben kann, als das Recht ihm diese Macht ausdrücklich zuweist. Wenn es sich dabei im modernen Staat scheinbar nur um eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips handelt, wird bei näherer Analyse deutlich, daß das Prinzip "Macht nur durch das Recht" ursprünglich im Souveränitätsprinzip angelegt war. Es handelte sich, wie wir oben schon angedeutet haben, darum, den gesamten Staatsapparat so aufzubauen, daß der Wille des Souveräns lückenlos und automatisch vollzogen wurde und Widerstand umnöglich erschien. Dieses Prinzip hatte vier wesentliche Folgen. Auf der einen Seite wurde zwecks Durchsetzung der Souveränität des Fürsten ein effektiver, moderner Verwaltungs- und Polizeiapparat aufgebaut, der - weil durch Rechtsregeln die völlige Abhängigkeit der Beamten und Soldaten von der Person des Königs gesichert war, die Befehle des Fürsten automatisch vollzog. Zweitens mußte der Fürst ein Monopol der Ausübung faktischer Gewalt und damit für Polizei 10 Bleckmann

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und Armee besitzen; Privatarmeen, eine private Polizei, ja sogar der Waffenbesitz und das Duell wurden verboten. Drittens galt der Grundsatz, daß der Fürst ein Monopol für die gesamte staatliche Hoheitsgewalt besaß; soweit untergeordnete Behörden oder juristische Personen des öffentlichen Rechts, ja Privatpersonen und Verbände Hoheitsgewalt ausüben, werden sie wie etwa bei den Rechtsfiguren des "beliehenen Unternehmers" und der "mittelbaren Staatsverwaltung" deutlich wird, aus der Machtfülle des Souveräns abgeleitet. Darüber hinaus mußte die Existenz und die Kompetenzen aller dem Staat eingeordneter Personen des öffentlichen Rechts vom Willen des Souveräns ebenso abgeleitet werden wie die gesamte Rechtsordnung einschließlich der Verbindlichkeit privatrechtlicher Verträge. Nur so konnte nämlich sichergestellt werden, daß dem König niemals originäre Rechte entgegengehalten wurden und der Fürst damit die Rechtsordnung ändern und durchbrechen konnte, um seinen Willen durchzusetzen. Eigentlich entfaltete sich auch erst unter dem Einfluß des Souveränitätsprinzips im 18. Jh. der Gedanke einer objektiven, logisch-systematischen aus letzten Zielen entwickelten, aus letzten Axiomen abgeleiteten Rechtsordnung, weil auf der einen Seite der Fürst nicht alle Einzelbestimmungen selbst fällen konnte, diese also dem objektiven Recht entfließen mußten, die vom Willen von ihm angestrebte absolute Machtentfaltung aber nur möglich war, wenn er eine Politik verfolgte, die völlig rational die Mittel für letzte Ziele bestimmte. Damit aber konnte das Souveränitätsprinzip auf die sich wohl nicht zufällig im gleichen Jahrhundert entfalteten Prinzipien der Aufklärung zurückzugreifen, die eine völlig rationale, an letzten Zielen ausgerichtete und aus letzten Axiomen abgeleitete Rechtsordnung an die Stelle des historisch gewachsenen Rechts der vorherigen Jahrhunderte setzte: Die Rechtsordnung wurde damit, um mit Hans Kelsen232 als letztem Vertreter einer solchen, damals eigentlich schon wieder überwundenen Wissenschaftskonzeption zu sprechen, "in Stufen" aufgebaut und von einer letzten Grundnorm oder von letzten Axiomen abgeleitet. Der wissenschaftstheoretische Gedanke eines lückenlosen, geschlossenen Systems wurde damit sowohl auf die Rechtsordnung als auch auf den nach dem Muster einer Uhr aufgebauten Mechanismus des Staates übertragen. Der hierin liegende Gedanke, daß Gesellschaft und Staat wie eine Maschine künstlich aufgebaut werden können und damit "machbar" seien - ein Gedanke, dem die der Aufklärung folgende Romantik heftig widersprach und vor allem mit Edmund Burke und Carl Friedrich von Savigny wieder die Konzeption des gewachsenen Rechts entgegensetzte - beeinflußten auch die Konzeption des Rechts selbst, welches nicht als Ausfluß der Geschichte, sondern des Willens 232

Kelsen (Anm. 175).

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des Fürsten begriffen wurde. Die Folge war, daß nicht mehr das alte, sondern das neue Recht das bessere Recht war und daß deshalb infolge der neuen lex posterior-Regel der Fürst durch einen Gesetzesbefehl auch das historische Recht ändern konnte. Dabei sehen wir aber, daß etwa der Gedanke der Lückenlosigkeit und Widerspruchslosigkeit des Rechts sowie das im systematischen Aufbau der Rechtsordnung enthaltene Gleichheitsprinzip zunächst keineswegs, wie wir heute meinen, Ausfluß des Rechtsstaatsprinzips war, sondern zunächst unter der Einwirkung des Souveränitätsprinzips entstand. Dieses Souveränitätsprinzip, das den Aufbau des absoluten Staatsrechts bis in alle Details prägte, wurde, wie schon Alexis de Tocqueville gesehen hat, der nachwies, daß die französische Revolution keine absolute Zäsur darstellte, beim Übergang der Souveränität vom Fürsten auf das Volk in den Revolutionen des europäischen Kontinents nicht etwa abgeschafft, sondern im Gegenteil noch verstärkt: Niemand ist so eifersüchtig auf die Wahrung seiner Macht bedacht wie das Volk. In Frankreich führte es so zum Verbot der Parteien und Verbände, zum Ausschluß jeder verfassungsgerichtlichen Kontrolle des souveränen Parlaments und zur verfassungsrechtlichen Verankerung eines konsequent aufgebauten Einheitsstaats, der jede Anlehnung an bundesstaatliche Fonnen der Staatsorganisation ausschließt und im Volk ideologisch so stark verankert ist, daß sogar noch Charles de Gaulle mit seinem Verfassungsentwurf einer Regionalisierung Frankreichs in einem Referendum scheiterte. In den Ostblockstaaten wurde das Souveränitätsprinzip, dem Gedanken entsprechend, daß alle Macht bei der Partei liegen müsse, weil nur sie die wahren Interessen der Arbeiterklasse erkennen könne, von der Staatsorganisation auch auf die Gesellschaft erstreckt, die bis in den letzten Winkel durch von der Partei gelenkte Verbände organisiert worden ist. Dabei hat das NS-Regime diese kommunistische Organisation der Gesellschaft übernommen, ihr dabei aber ein durchaus eigenes Gesicht verliehen. In der westlichen Demokratie stößt eine solche Übersteigerung der Souveränitätsidee, obwohl auch dort der Grundsatz der Volkssouveränität strikt eingehalten wird, auf die Grundrechte und die Schranken des Demokratieprinzips, die im Aufbau des Willensbildungsprozesses von "unten nach oben" und deshalb mit der Neutralität des Staates eine gewisse Trennung von Staat und Gesellschaft verlangen. Darüber hinaus kann in diesen Demokratien das Souveränitätsprinzip auch deshalb nicht strikt durchgesetzt werden, weil der individualistischen liberalen Konzeption dieser Staaten entsprechend ihre Verfassungen die Existenz des Naturrechts und damit originärer subjektiver Rechte nicht nur der Individuen, sondern auch bestimmter Körperschaften, nämlich der Länder und der Gemeinden verlangen. In diesem Bereich wirkt 10*

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aber die enge Verknüpfung des Souveränitätsprinzips mit einer bestinunten Wissenschaftskonzeption nach: Einerseits verlangt, wie wir gesehen haben, das Souveränitätsprinzip, andererseits aber auch die insbesondere bei Hans Kelsen sehr stark zum Ausdruck gelangende Wissenschaftstheorie, die Ableitung allen Rechts aus einer letzten Quelle, sei es die Grundnorm oder der Wille des Souveräns: Unter dem Nachhall des naturwissenschaftlichen Vorbilds wird dabei weiterhin das Recht als Ausfluß eines menschlichen Willens und nicht von Werten verstanden und so die gesamte Rechtsordnung auf den Willen des Souveräns zurückgeführt. In diesem System beruhen auch die Bindungswirkung der Verträge und der Grundrechte auf einer Ordnung der positiven Rechtsordnung und nicht auf einer im Naturrecht begründeten originären Privatautonomie der Individuen. Diese Konzeption kann auch als Nachhall einer ebenfalls naturrechtlich begründeten kollektivistischen Konzeption verstanden werden, die der auf die Grundrechte der Individuen aufbauenden naturrechtliehen Sicht des Liberalismus entgegengesetzt ist. 2. Das Souveränitätsprinzip sicherte damit im absoluten Staat die Durchsetzung von zwei wesentlichen Zielen auch des modernen Staatsorganisationsrechts. Es garantierte nämlich auf der einen Seite durch die Einheit der Person des Fürsten, daß überhaupt eine staatliche Entscheidung gefällt und damit die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten und der Bürgerkrieg vermieden wurde. Es sicherte gleichzeitig, daß diesen Aufgaben des Staates entsprechend der Wille des Fürsten sich automatisch und lückenlos bis in die letzte Provinz durchsetzte. Sobald nun der innere und äußere Frieden hinreichend gesichert erscheinen, rückt in den Vordergrund der sozialen Bedürfnisse die Frage auch nach der Richtigkeit der staatlichen Entscheidung. Diese Tendenz ist dabei meisten so stark, daß die Sicherung des Friedens völlig vernachlässigt, ja als "Friedhofsruhe" diskreditiert wird. Diese in der historischen Entwicklung begründete Ziel des modernen Staatsorganisationsrechts konnte das Souveränitätsprinzip aber solange nicht voll erfüllen, als es mit Bodin die Souveränität des Fürsten verankerte. Denn der Fürst war natürlich bestrebt, durch die staatliche Gewalt seine Eigeninteressen an der Maximierung von Macht, Ansehen und Reichtum durchzusetzen. Wenn es auch im Eigeninteresse eines aufgeklärten Fürsten lag, die Interessen auch seines Volkes zu optimieren, weil mit dem Wohlstand des Volkes sein eigener Wohlstand und damit seine Macht und sein Ansehen wuchsen, war die Identifizierung des Fürsten mit dem Allgemeininteresse des Volkes doch institutionell nicht festgelegt, so daß insbesondere dann, wenn der Fürst unter dem Einfluß seiner Berater seine wahren Eigeninteressen verkannte, die Allgemeininteressen Schaden leiden konnten. Diese Tendenz muß natürlich in dem Maße wachsen, als die Bindung an Religion und Naturrecht nachließ und der Fürst deshalb seine Machtposition nicht mehr als ihm von

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Gott anvertrautes Amt und damit als eine dem Volk dienende Treuhandschaft oder als Kompetenz, sondern als subjektives Recht verstand, das er im Eigeninteresse nach Belieben ausüben konnte: Der Ludwig XIV. zugeschriebene Ausspruch "Der Staat bin ich" ist dafür ein treffendes Beispiel, während Friedrich II. von Preußen sich als "Erster Diener des Staates" verstand und deshalb noch am Amtsgedanken festhielt Der sich über die ganze Epoche der Monarchie erstreckende Versuch, dem Fürsten die Bindung an die Allgemeininteressen durch Erziehung und Fürstenspiegel, dann in der Aufklärung durch eine Neubegründung des Naturrechtsgedankens vor Augen zu führen oder die eigentliche Regierungsmacht vom König auf Minister zu verlagern, welche die Interessen zumindest einer bestimmten Elite vertraten, schlug weitgehend fehl. Das war der eigentliche Grund für die Revolution in Frankreich, in den Vereinigten Staaten von Amerika und auf dem übrigen europäischen Kontinent: Wie ich schon dargelegt habe, sollte deshalb das Demokratieprinzip die Definition und Durchsetzung der Allgemeininteressen des Volkes sicherstellen. Das Demokratieprinzip mußte dabei mit dem Souveränitätsprinzip in der Form der Volkssouveränität so gekoppelt werden, daß die Souveränität vom Fürsten auf das Volk übertragen wurde. Diese auch in Art. 20 III GG verankerte Verkoppelung des Demokratieprinzips mit dem Souveränitätsprinzip ist dabei zwar der westlichen Staatlichkeit immanent, aber durchaus nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Nicht nur in der konstitutionellen Monarchie war das Demokratieprinzip nur ein Grundsatz neben anderen und schloß es jedenfalls nach der Auffassung der Herrscher deren Souveränität nicht aus. Auch in den internationalen und vor allem in den supranationalen Organisationen, die ein - in der EG sogar vom Volke gewähltes - Parlament besitzen, ist das Demokratieprinzip mit dem Souveränitätsprinzip nicht verknüpft. 233 Die europäischen Verträge und die hierauf beruhenden Organe und insbesondere der Ministerrat, der die Gesetzgebungsgewalt ausübt, sind vielmehr nicht dem demokratischen Prinzip entsprechend organisiert und das Parlament besitzt damit nur eine beschränkte Beratungs- und Kontrollkompetenz. Aber auch in diesem völkerrechtlichen Bereich ist die ideologische Verknüpfung des Demokratieprinzips mit dem Souveränitätsprinzip so eng, daß die Lage in der EG als eine Anomalie begriffen und eine echte Demokratisierung der Organisation gefordert wird. Die Lehre hat dabei die größte Mühe, die demokratische Legitimation auch der EG darauf zurückzuführen, daß neben der Existenz des Europäischen Parlaments auch die Gründungs-

233 Beschluß und Akt zur Einführung allgerneiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung; vgl. Bleckrnann, Chancen und Gefahren der europäischen Integration, JZ 1990. 301.

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verträge und die Vertreter der Regierungen im Parlament zumindest indirekt demokratisch legitimiert sind und im übrigen die Organe der EG durch den Europäischen Gerichtshof so strikt kontrolliert werden, daß den obigen Ausführungen entsprechend das Demokratieprinzip sozusagen durch das Rechtsstaatsprinzip ergänzt oder gar ersetzt wird. Dabei wird nicht gesehen, daß in der EG die Grundsätze der inneren und der äußeren Souveränität aufeinander stoßen: in der Tat verlangt der Grundsatz der äußeren Souveränität, daß die Staaten nach außen im Interesse einer einheitlichen Meinungsbildung und damit der Durchsetzung der Allgemeininteressen des Volkes von der Spitze der Exekutive vertreten werden, während nach dem Prinzip der inneren Souveränität die eigentliche Gewalt beim Parlament liegt. Das Nebeneinander von Parlament und Ministerrat in der EG zeigt damit deutlich auf, daß die EG sich in einem Übergangszustand vom Prinzip der äußeren zum Prinzip der inneren Souveränität befindet. In der französischen Revolution nahm dabei das Prinzip der Volkssouveränität unter dem Einfluß von Sieyes234 eine bestimmte Form an, welche auch den übrigen Kontinent sehr stark beeinflussen sollte. In der Tat wird hier dadurch, daß die Ständeversammlung sich in die verfassungsgebende, dann in die gesetzgebende Versammlung verwandelte, die Souveränität vom König, der als Staatsorgan nur noch die ihm von der Verfassung zugewiesenen, politisch kaum ins Gewicht fallenden Befugnisse ausüben konnte, nicht eigentlich auf das Volk als die Gesamtheit der heute lebenden Franzosen, sondern auf die "Nation" übertragen, die mit dem Volk nicht identisch ist, sondern auch alle vergangeneu und zukünftigen Generationen umfaßt und deshalb nur durch das Parlament repräsentiert werden kann. Diese Repräsentationstheorie hatte dabei die Funktion, die Bindung des Parlaments an die Wähler zu lockern und die Souveränität auf das Parlament als Repräsentant der Nation zu übertragen. Etwas anders verlief die Entwicklung in Großbritannien. Wie bekannt, wurde hier die demokratische Revolution dadurch vermieden, daß durch eine Erweiterung des Wahlrechts sich die Ständeversammlung des Mittelalters allmählich in ein echtes Parlament verwandelte. Auf diese Weise konnte auch der für den europäischen Kontinent typische Gegensatz zwischen der Fürstenund der Volkssouveränität vermieden werden. In der Tat wurde die Volkssouveränität in Großbritannien in der Weise durchgesetzt, daß die ursprünglich bei der Krone liegende Souveränität seit John Austin235 der Krone, und den beiden Kammern des Parlaments gemeinsam zugeschrieben wird. Auch in Großbritannien gelangte man - wenn auch auf einem anderen Wege als in 234

Sieyes, Politische Schriften 1788 - 1790, hrsg. von Schmitt, Eberhard 2. Aufl.

235

Austin (Anm. 231).

1981.

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Frankreich- so zur Souveränität des Parlaments, die dort sogar den Erlaß einer Verfassung und den Rückgriff auf Referenden verbietet, weil das Parlament an den Willen der vorangehenden Parlamente und an den Willen des Volkes nicht gebunden werden kann. Diese Souveränität des britischen Parlaments kommt in dem Spruch zum Ausdruck, das Parlament könne alles, nur nicht "einen Mann in eine Frau verwandeln. " Wenn dabei durch die Übernahme auch der aus dem Souveränitätsprinzip fließenden obengenannten Grundsätze der Forderung "Macht nur durch das Recht" bei der Übertragung der Souveränität vom König auf das Volk die Durchsetzung des Willens auch des neuen Souveräns voll gesichert wurde, konnte das Souveränitätsprinzip in dieser neuen Form wegen der Vielzahl der im Volk vereinigten Individuen das erste, für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung besonders wichtige Ziel nicht mehr gewährleistet, daß überhaupt eine Entscheidung durch den Staat gefällt wurde. Dasselbe gilt, wenn mit der neueren Lehre die Souveränität beim Parlament oder beim Verfassungskonvent, im Bundesstaat bei der Gesamtheit von Bund und Ländern liegen soll: Dieses erste Ziel des Souveränitätsprinzips mußte deshalb durch andere Normen des Staatsorganisationsrechts sichergestellt werden. Die deutsche Staatsrechtslehre und vor allem Konrad Hesse, der insoweit an die Staatslehre der Weimarer Republik und insbesondere an Hermann Holler36 und an die Integrationslehre um Rudolf Smend anknüpft hat dabei richtig gesehen, daß es sich darum handelt, die früher durch die Person des Fürsten automatisch gesicherte Einheit des Entscheidungsorgans durch einen bestimmten Aufbau des demokratischen Willensbildungsprinzips künstlich herzustellen. Im Gegensatz etwa zu Hesse meine ich dabei nun, gezeigt zu haben, daß die Einheit des Volkes zwar für die Durchsetzung der Staatsaufgaben besonders wichtig ist, aber nicht den Endzweck, sondern letztlich nur ein Mittel für die Durchsetzung des Rechtsund des Sozialstaatsprinzips darstellt. Diese Einheit des Volkes wurde im 19. Jh. im wesentlichen durch den Nationalbegriff gewährleistet. Dabei griff man mit der deutschen Konzeption der Nation auf die historische Einheit von Kultur und Geschichte, im französischen Nationalbegriff auf den Willen zur staatlichen Einheit zurück. Auch in der deutschen Konzeption des Nationalstaatsprinzips war dabei die Einheit der Kultur und Geschichte weitgehend nur der Grund für den Willen zur staat-

236 Holler, Politische Demokratie und soziale Homogenität in: Matz (Hrsg.), Grundprobleme der Demokratie, 1973, S. 7.

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liehen Einheit, prägte deshalb den Inhalt des Staatsautbaus und der konkreten Politik nicht. Immerhin war der Wille zur staatlichen Einheit insbesondere in den bürgerlichen Schichten, aber auch etwa bei der Sozialdemokratie so groß, und wurde die staatliche Einheit so stark durch Kaiser und Kanzler repräsentiert, daß sogar die Sozialdemokratie kaisertreu blieb und die parlamentarische Demokratie sich selbst noch in Weimar kaum durchsetzen konnte. Wie in dem Leitsatz "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" deutlich wird, wurde dieser Gedanke des Nationalstaats im NS-Regime auf die Spitze getrieben. Dieser Mißbrauch, aber auch der allgemeine Abbau der Ideologie in der Politik führten dazu, daß nach 1945 der Nationsbegriff, obwohl etwa die Bundesrepublik Deutschland zur Begründung ihrer DDR-Politik sich auf diese Prinzipien stets gestützt hat, jedenfalls bis zur deutschen Vereinigung kaum noch eine Rolle spielte. An die Stelle des Nationsbegriffs trat vielmehr die Konzeption, daß die Allgemeininteressen des Volkes und damit die Interessen der Individuen nur dann voll durchgesetzt werden können, wenn das deutsche Volk sich als eine einheitliche Lebensgemeinschaft versteht, die zu ihrem Überleben auf die staatliche Einheit angewiesen ist. Damit aber wurde wieder an die liberale Konzeption angeknüpft, welche die Notwendigkeit von Staat und Recht auf die wohlverstandenen Individualinteressen zurückführt. Nach dem Verblassen des Nationalstaatsgedankens insbesondere seit dem zweiten Weltkrieg muß heute auf andere Mittel der Einheitsbildung des Volkes zurückgegriffen werden: Mit Konrad Hesse wird man im Anschluß an die Gedanken von Hermann Heller237 zunächst einmal davon ausgehen können, daß das Staatsorganisationsrecht und insbesondere das Demokratieprinzip ein wichtiges Mittel zur Herstellung der staatlichen Einheit in einem doppelten Sinne sind. Denn auf der einen Seite wird durch diese Regeln der politische Kampf in kanalisierte Bahnen gelenkt. Insbesondere wenn aufgrund des Demokratie- und des Rechtsund Sozialstaatsprinzips die durch die klassischen und sozialen Grundrechte geschützten Individualinteressen letztlich durch jede demokratische Regierung verwirklicht werden, besteht, da es heute nicht mehr um die Durchsetzung von Ideologien, sondern um die Befriedigung der Allgemeininteressen geht, keine Veranlassung mehr, die Regierungsgewalt durch Macht zu erringen. Der Bürgerkrieg wird so nicht mehr durch das Souveränitätsprinzip, sondern durch das Demokratie- und Rechts- und Sozialstaatsprinzip überwunden. Auf der anderen Seite stellt das Staatsorganisationsrecht mit der Existenz und den Kompetenzen von Parlament und Regierung ständige Einrichtungen für "Verhandlungen"

237

Heller, Staatslehre, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, 1971.

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zwischen allen beteiligten Interessenten zur Verfügung, welche einen Kompromiß und damit die Bildung der staatlichen Einheit gestatten. Das Staatsorganisationsrecht sichert aber, wie die deutsche Lehre erkannt hat, nicht hinreichend, daß im politischen Willensbildungsprozeß dieser Kompromiß tatsächlich auch gefunden und damit die Entscheidungs- und Funktionsfähigkeit des Staates erhalten wird. Insoweit ist auf die Integrationslehre von Smend zurückzugreifen, der gezeigt hat, daß im modernen Staat insbesondere die Grundrechte gemeinsame Werte des Volkes verkörpern. Dabei hat er allerdings die damit verbundene, für das Funktionieren der Demokratie wesentliche Homogenität der Werte im Volk zu stark in den Vordergrund gerückt und damit die etwas mystische Konzeption des Volkes aufrechterhalten und nicht gesehen, daß die Grundrechte auch im politischen Willensbildungsprozeß selbst eine Integrationswirkung in einem zweiten Sinne entfalten: In der Tat haben wir gesehen, daß infolge der allgemeinen Anerkennung der Grundrechte die breite Bevölkerung sich mit den Grundrechten und damit auch mit den Interessen der anderen Individuen identifizieren und allgemein akzeptiert wird, daß eine an den Grundrechten als Werten ausgerichtete Abwägung der Interessen sachlich-gerecht ist. Auf diese Weise aber wird der Kompromiß als notwendige Überbrückung der Interessenkonflikte erst möglich.

Iß. Die Bedeutung des Souveränitätsprinzips im modernen Verfassungsrecht Wir haben gesehen, daß die Souveränität durch die Lehre auch heute noch nur durch die Tatsache definiert wird, daß das souveräne Organ im Staat die höchste Stelle einnimmt und folglich an die Verfassung nicht gebunden sein kann. Dabei wird diese "Organsouveränität" sehr unterschiedlichen Organen, nämlich entweder dem Volk oder den für eine Verfassungsrevision oder den für den Ausnahmezustand kompetenten Verfassungsorganen zugewiesen. Das Problem wird dadurch noch komplizierter, daß die Souveränität häufig statt einem Organ im Staat dem Staat selbst und dabei im Bundesstaat die Souveränität entweder dem Bund, der Gesamtheit der Länder oder der Gesamtheit von Bund und Ländern zugeschrieben wird. Dieses Problem kann nicht durch begriffsjuristische Konstruktionen, sondern nur durch Rückgriff auf die oben entwickelten drei Ziele des Souveränitätsprinzips gelöst werden: 1. Beginnen wir also mit der im Vordergrund auch der heutigen Souveränitätslehre stehenden Frage nach der Bindung des Souveräns an die Verfassung. Da das Demokratieprinzip nur ein wenn auch notwendiges Mittel zur Durchsetzung der im Rechts- und Sozialstaatsprinzip geschützten Individualinteressen

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darstellt, findet es im Rechts- und Sozialstaatsprinzip auch seine notwendigen Schranken. Das bedeutet aber, daß selbst das Volk an das Rechts- und an das Sozialstaatsprinzip als Endziel auch des Demokratieprinzips gebunden ist. Auch das Volk ist also heute nicht mehr in der Weise souverän, wie noch die herrsehende Lehre das Souveränitätsprinzip versteht. Wenn aber schon das Volk nicht souverän ist, kann die Souveränität in diesem Sinne noch weniger bei dem Träger der Verfassungs- und Ausnahmegewalt liegen, welche ihre Befugnisse nur von der Verfassung ableiten können und deshalb an die Verfassung gebunden sein müssen. Die Auffassung, daß der Verfassungsgeber des-Art. 79 I GG die Bindung an die in Art. 79 III festgelegten Schranken der Verfassungsänderung dadurch umgehen könnte, daß er in einem ersten Schritt diese Bestimmung aufhebt oder ändert, erscheint in dieser Sicht eindeutig als verfehlt. Diese Bindung aller Staatsorgane an die Verfassung wurde in der konstitutionellen Monarchie des 19. Jh. dahin umschreiben, daß die Souveränität nicht bei einem bestimmten Staatsorgan, sondern beim Staat selbst liegt. In der Tat waren in der konstitutionellen Monarchie drei Lösungen des Souveränitätsproblems möglich. Entweder lag die Souveränität jeweils beim Fürsten oder beim Parlament allein: Dann war einerseits der Fürst, andererseits das Parlament an die Verfassung letztlich nicht gebunden. Oder aber, es bestand eine Doppelsouveränität von Parlament und Fürst: Beide Souveräne waren danndurch die Verfassung gebunden, weil es sich hierbei um einen Vertrag zwischen zwei Souveränen handelte. Oder aber, die Souveränität stand weder dem Fürsten noch dem Parlament, sondern nur dem Staat selbst zu. Da der Staat aber nur durch seine Organe handeln kann, die Organe ihrerseits aber an die Verfassung voll gebunden sind, stand die Souveränität damit letztlich niemandem zu. 2. Wie wir gesehen haben, sind auf Grund des Prinzips "Macht nur durch das Recht" mit dem Souveränitätsprinzip weitere, auch heute noch gültige Grundsätze des Staatsrechts verknüpft, welche sicherstellen wollen, daß der Wille des Souveräns sich automatisch durchsetzt: Insbesondere sind die Existenz und die Hoheitsbefugnisse aller juristischen Personen des öffentlichen Rechts, ja sind sämtliche Rechtssätze der Rechtsordnung aus dem Willen des Souveräns abzuleiten. Diese Funktion des Souveränitätsprinzips wird nun nicht mehr berücksichtigt, wenn die Souveränität den Organen zugeschrieben wird, welche für die Verfassungsänderung und den Ausnahmezustand zuständig sind. Denn in beiden Fällen fehlt angesichts eines subjektiven Willens in normalen Zeiten ein Wille des Souveräns, der in der Rechtsordnung durchgeführt werden muß. Anders ist es dagegen mit der Souveränität des Volkes. Nach Art. 20 III GG

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muß sich die gesamte Staatsgewalt vom Volke ableiten lassen. Damit werden aber deutlich - ebenso wie mit dem Begriff der Legitimationskette - die Rechtssätze angesprochen, die mit dem aus dem Souveränitätsprinzip fließenden Grundsatz "Macht nur durch das Recht" verbunden sind. Die Lehre bezieht diese Rechtssätze dagegen meist nicht auf die Souveränität des Volkes, sondern auf die des Staates. So gibt es in dieser Konzeption nur staatliches Recht und eine "mittelbare Staatsverwaltung". Diese Lösung widerspricht eindeutig dem Art. 20 III, wenn dabei die objektiven Rechtssätze, die Hoheitsgewalt und die Existenz der juristischen Personen des öffentlichen Rechts letztlich vom Willen aller Staatsorgane abgeleitet werden können. Es erscheint auch nicht sehr glücklich, wenn in einem ersten Schritt die Souveränität des Staates postuliert wird und in einem zweiten Schritt dann der von Art. 20 III GG geforderte Ableitungszusammenhang aus dem Begriff der Souveränität herausgenommen und mit der Organkompetenz verbunden wird. Dagegen hat der Begriff der Staatssouveränität wie wir gesehen haben den Vorteil, daß alle Staatsorgane an die Verfassung gebunden werden und auch das Volk in diesem Sinne nicht souverän ist.

IV. Die Verankerung des Souveränitätsprinzips im Grundgesetz Entscheidet man sich mit den obigen Argumenten für die Volkssouveränität, wird das Problem der Souveränität des Volkes durch Art. 20 III GG gelöst, der aber nach den obigen Ausführungen in Verbindung mit dem Rechts- und dem Sozialstaatsprinzip zu lesen ist. Das bedeutet, daß auf der einen Seite auch das Volk an die Verfassung gebunden ist, auf der anderen Seite aus Art. 20 III die Notwendigkeit fließt, die ganze Rechtsordnung, die Existenz und die Kompetenzen und vor allem die Hoheitsgewalt aller juristischen Personen des öffentlichen Rechts vom Willen des Volkes abzuleiten. Damit aber wird erneut deutlich, daß im Gegensatz zu der an den Eingriffsvorbehalt der konstitutionellen Monarchie anknüpfenden herrschenden Lehre und auch nach der Erweiterung des Gesetzesvorbehalts durch das BVerfG auf alle "grundrechtsrelevanten Fragen" der Gesetzesvorbehalt als Ausdruck auch des "objektiven" Rechtsstaatsprinzips verstanden werden muß und - wie das Bundesverfassungsgericht im Anschluß an Dieter Jesch richtig gesehen hat dieser Grundsatz seine Grundlage nicht nur im Rechtsstaats- sondern auch im Demokratieprinzip oder besser in dem mit dem Demokratieprinzip verkoppelten Souveränitätsprinzip findet. Das aber bedeutet, daß der Gesetzesvorbehalt über die "grundrechtsrelevanten Fragen" weit hinausgreift und ein Gesetz auch etwa für die Begründung der Existenz und der Kompetenzen juristischer Personen des öffentlichen Rechts erforderlich wird.

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

Entscheidet man sich dagegen für die Staatssouveränität, ist die Souveränität des Staates in allen Bestimmungen des Grundgesetzes verankert, die für Bund und Länder die Staatsqualität festlegen, denn auf der einen Seite ist damit wohl der souveräne Staat gemeint, auf der anderen Seite prägen die oben entwickelten Prinzipien der Souveränität die ganze moderne Staatlichkeit so stark, so daß das gesamte Organisationsrecht zur Definition der Souveränität des Staates herangezogen werden kann. Wir werden bei der Darstellung des Bundesstaatsprinzips zeigen, daß im Bundesstaat die Frage nach dem Souverän erhebliche Sonderprobleme aufwirft. Dabei muß hier schon darauf hingewiesen werden, daß, da das Souveränitätsprinzip mit seinen Ausstrahlungen die gesamten Strukturen des modernen Staates prägt, ohne Rücksicht auf die Frage, wem im Bundesstaat die Souveränität zufällt, das Souveränitätsprinzip auch für die Länder und Gemeinden eine wichtige Rolle spielt, weil nämlich auch diese Gemeinschaften dem Souveränitätsprinzip und damit dem Prinzip "Macht nur durch das Recht" entsprechend so aufgebaut sein müssen, daß der Wille des jeweils höchsten Organs dieser Gemeinschaften sich konsequent durchsetzt. Das Problem der Souveränität im Bundesstaat wird dabei durchweg unter dem Aspekt der Staatssouveränität in der Weise abgehandelt, daß man fragt, ob die Souveränität im Bundesstaat dem Bund, der Gesamtheit der Länder oder Bund und Ländern zusammen zusteht. Auch aus dem Aspekt der Völkersouveränität heraus gesehen stellt sich aber natürlich dasselbe Problem, ob die Souveränität im engeren Sinne der obersten Gewalt im Staat dem Gesamtvolk oder den Völkern der Länder oder sogar der Gemeinden zusteht. Dabei ist offensichtlich zu beachten, daß wie der Grundsatz "Bundesrecht bricht Landesrecht" deutlich zeigt, die Souveränität in diesem engeren Sinne letztlich nur dem Bundesvolk zusteht, daß aber weil die Länder38 originäre Staatsgewalt besitzen, der aus dem Souveränitätsprinzip generell abzuleitende Satz nicht greift, daß alle Hoheitsgewalt vom Bundesvolk als dem Souverän im Bundesstaat abgeleitet werden muß. Auf der anderen Seite muß natürlich auch die Rechtsordnung der Länder dem Souveränitätsprinzip entsprechend so aufgebaut sein, daß sich der Wille des Volkes dieser Länder als Souverän automatisch durchsetzt.

238 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Kommentar zum Grundgesetz, Art.20 IV, Rdnr. 13; Stern (Anm. 186), Bd. 1, 2. Aufl. § 19 I 1, S. 644 ff.; Wernicke, in: Bonner Kommentar, Art. 20, II 2 b.

§ 13 Verhältnis zwischen Demokratieprinzip und Souveränitätsprinzip

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V. Exkurs: Souveränität des Volkes und Totalrevision der Verfassung Wenn nach den obigen Ausführungen auch das Volk an die Verfassung gebunden ist, stellt sich das Problem, wie man die Bindung im Wege der Totalrevision oder einer Revolution erlassenen Verfassung begründen soll, deren Bindungswirkung ex definitione nicht durch Rekurs auf die alte Verfassung begründet werden kann. Im Anschluß an die Revolution von 1918/1919 hat zur Erklärung der Billdungswirkung einer solchen neuen, revolutionären Verfassung Georg Jellinek den Begriff der "normativen Kraft des Faktischen" geprägt, der anschließend von Rechtsprechung und Literatur übernommen worden ist. Damit wollte Jellinek sagen, daß eine Verfassung dann auch rechtliche Bindungswirkung erzeugt, wenn sie sich faktisch durchgesetzt hat. Ähnlich will Hans Kelsen, der mit seiner "Reinen Rechtslehre" den Rekurs auf alle Werte ausschließen will, die Bindungswirkung der Verfassung auf die Effektivität als Grundnorm der Rechtsordnung zurückführen. In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg wurde so von den deutschen Gerichten der Grundsatz der Effektivität bemüht, um die grundsätzliche Bindungswirkung auch der Rechtsordnung des Nationalsozialismus zu begründen. Hier kann dabei dahingestellt bleiben, ob Verfassungen, die das Demokratie-, das Rechtsstaats- und das Sozialstaatsprinzip nicht oder nur sehr formell verankern, auf Grund des Effektivitätsprinzips volle Bindungswirkung entfalten oder ob es nicht ausreicht, wenn man auch insoweit die Bindungswirkung auf rechtsstaatliche Prinzipien, etwa auf die Rechtssicherheit, den Vertrauensschutz und auf die Tatsache zurückführt, daß die Allgemeininteressen durch einen solchen Staat vielleicht immer noch besser realisiert werden, als wenn die Existenz eines solchen Staates geleugnet würde. Denn jedenfalls eine demokratisch-rechtsstaatliche Verfassung kann und muß ihre Bindungswirkung auf materielle Werte zurückführen: Vor allem in der neueren deutschen Literatur wird in Reaktion auf die Erfahrungen mit dem NS-Regime die Bindungswirkung des Naturrechts allgemein anerkannt. Im abendländischen Rechtsraum wird das Naturrecht dabei grundsätzlich individualistisch verstanden und aus den Grundrechten der Individuen entwickelt. Wie wir gesehen haben, ist das Demokratieprinzip ein notwendiges Mittel zur Durchsetzung der Grundrechte und deshalb ebenfalls im Naturrecht verankert. Die Verfassung entwickelt in einer solchen Sicht Bindungswirkung nur, weil und soweit sie eine naturrechtliche Grundlage hat. Daß das Naturrecht von den verschiedenen Autoren und in den verschiedenen Geschichtsepochen unterschiedlich entwickelt worden ist, verbietet es aus unserer Sicht dabei nicht, die Bindungswirkung der Verfassung auf das

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

Naturrecht zu stützen. Denn für dieses Problem konuut es nicht auf die unterschiedlichen Auffassungen der Autoren, sondern darauf an, wie diese naturrechtliehen Prinzipien in der gesamten europäischen und vor allem in der deutschen Verfassungstradition entwickelt und konkretisiert worden sind und deshalb heute allgemein anerkannt werden: Auch der Europäische Gerichtshof greift auf ein so konkretisiertes Naturrecht zurück, wenn er aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten der EG allgemeine Rechtsgrundsätze und insbesondere Grundrechte des Europäischen Gemeinschaftsrechts entwickelt. Soweit diese Verfassungstradition einer noch stärkeren Konkretisierung in der jeweiligen Verfassung bedarf, beruht die Bindung an diese Verfassung wiederum auf dem Demokratieprinzip und auf dem die Bindungswirkung des positiven Rechts allgemein begründenden Prinzip der Rechtssicherheit Im Gegensatz zur herrschenden Lehre ist dabei davon auszugehen, daß die verfassungsgebende Gewalt des Volkes bei einer Teilrevision der Verfassung oder bei einer Revolution im Naturrecht nicht nur seine Schranken findet. Vielmehr bedarf diese verfassungsgebende Gewalt des Volkes umgekehrt einer naturrechtliehen Ermächtigung. Das wird in der Tatsache deutlich, daß die Bindungswirkung der Mehrheitsbeschlüsse von Volk und verfassungsgebender Versammlung nur auf das Demokratieprinzip zurückgeführt werden kann. Das entspricht auch der Praxis aller demokratischer Staaten. In der Tat wird der Erlaß der Verfassung nach bestinuuten, auf das Demokratieprinzip zurückgehenden Grundsätzen erlassen: Zunächst wird eine verfassungsgebende Versammlung nach allgemeinen demokratischen Regeln gewählt, die anschließend mit Mehrheit über den Verfassungsentwurf entscheidet; häufig wird dabei als letzter Schritt auf ein Referendum zurückgegriffen. Diese relativ stehenden Regeln sollen dabei nicht nur eine nur politisch wirkende Legitimation der Verfassung begründen. Die jeweilige Machtelite geht vielmehr dabei ganz offensichtlich von einer auch rechtlichen Bindungswirkung dieser demokratischen Grundsätze aus, die auf der anderen Seite allein die Bindungswirkung der so erlassenen Verfassung begründen kann. Dann muß aber das Demokratieprinzip selbst schon vor dem Erlaß der Verfassung verbindliche, das heißt aber rechtliche Wirkung entfalten. Diese Bindungswirkung kann man nun nicht auf das Effektivitätsprinzip zurückführen. Denn einerseits entfaltet eine Verfassung, die nicht auf dem Demokratie-, dem Rechtsstaats- und dem Sozialstaatsprinzip beruht, eben nur faktische und keine rechtliche Bindungswirkung. Auf der anderen Seite wird aber auch bei der Totalrevision der Verfassung zumindest angenonuuen, daß das Demokratieprinzip auch rechtlich bindet. Diese Bindungswirkung läßt sich dabei auch nicht durch Rückgriff auf gemeindeutsches Verfassungsrecht erklären, das etwa mit dem Staatsbegriff selbst verbunden ist und deshalb der II

II

§ 13 Verhältnis zwischen Demokratieprinzip und Souveränitätsprinzip

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konkreten Verfassung vorangeht. Solches gemeindeutsches Verfassungsrecht existiert zwar mit Sicherheit. So wird etwatrotzdes völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts den Ländern der Austritt (Sezession) aus dem deutschen Staatsverband verboten, obwohl dieser Rechtssatz ausdrücklich im Grundgesetz nirgends zu finden ist. Auf der anderen Seite kann auch die Tatsache, daß nur die deutsche Bevölkerung berechtigt ist, nach dem Demokratieprinzip eine Verfassung zu erlassen, und diese Verfassung nur für den deutschen Staat gelten soll und gilt, nicht auf das Demokratieprinzip selbst, sondern nur auf die vorangehende Existenz des deutschen Staates zurückgeführt werden. Die Bindung an diesen Staat muß dabei ebenfalls naturrechtlich - individualistisch dadurch begründet werden, daß die Existenz des Staates zur Durchsetzung der durch die Grundrechte geschützten Individualinteressen ein unbedingt notwendiges Mittel darstellt. Der Staatsbegriff enthält aber meines Erachtens auch heute das Demokratieprinzip jedenfalls nicht.

VI. Die äußere Souveränität der Bundesrepublik Deutschland 1. Wie wir gesehen haben, reduziert die herrschende Lehre den nach unserer Konzeption den gesamten Staatsaufbau prägenden Begriff der inneren Souveränität auf die Frage nach dem höchsten Organ im Staate. Ebenso wird in der Lehre die äußere Souveränität, welche den Inhalt des Koexistenzvölkerrechts als dem Recht der nebeneinander bestehenden souveränen Staaten prägt, meist mit der Tatsache identifiziert, daß der souveräne Staat nicht der Staatsgewalt eines anderen Staates unterworfen ist. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, verkennt auch diese Beschränkung den umfassenden Inhalt des Prinzips der äußeren Souveränität. Diese Frage braucht hier aber nicht näher vertieft zu werden. 2. Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland im völkerrechtlichen Raum wird grundsätzlich durch das Völkerrecht hinreichend abgesichert. Das Völkerrecht gestattet aber den Staaten auf diese Souveränität vor allem durch Verträge zu verzichten. Durch die Verankerung des Prinzips auch der äußeren Souveränität in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland könnte es deshalb den deutschen Staatsorganen verboten werden, die Souveränität im äußeren Raum zu beschränken. Es fragt sich deshalb, ob das Grundgesetz die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland auch nach außen verankert. Auf den im Grundgesetz an mehreren Stellen enthaltenen Staatsbegriff kann man insoweit nicht rekurrieren, weil es im Völkerrecht wie im Bundesstaat auch nichtsouveräne Staaten gibt. Auf der anderen Seite ist die von der Lehre hervorgehobene Tatsache, daß die Bundesrepublik wegen der Existenz von Resten des Besatzungsrechts keinen

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

souveränen Staat darstellte, kein entscheidendes Argument dagegen, daß das Grundgesetz nicht zumindest die dann noch bestehende "Restsouveränität" der Bundesrepublik Deutschland gegen eine Verfügung durch die deutschen Staatsorgane schützte. Daß auch dem Grundgesetz der Begriff der äußeren Souveränität zugrunde liegt, ergibt sich vielmehr aus Art. 59 II, 25 und insbesondere 24 GG. Denn diese Vorschriften setzen nach der herrschenden Lehre voraus, daß in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich nur das von deutschen Organen gesetzte Recht gilt, die Geltung des Völkerrechts und des fremden Rechts im deutschen Rechtsraum deshalb grundsätzlich nur dadurch begründet werden kann, daß der Inhalt dieses fremden Rechts durch ein Gesetz der Bundesrepublik Deutschland in deutsches Recht transformiert wird. Auch die Rechtssätze der Art. 59 II, 25 und 24 GG beruhen dabei auf dem in Art. 20 III GG verankerten Grundsatz der Volkssouveränität, nach welchem in der Bundesrepublik Deutschland nur das vom deutschen Volk abgeleitete Recht Bindungswirkung erzeugen kann. Das Souveränitätsprinzip und damit in der Definition der herrschenden Lehre die zentrale Frage nach dem höchsten Organ im Staate war das bevorzugte Thema der Staatsrechtswissenschaft des 19. Jh. - wohl weil in der konstitutionellen Monarchie der damaligen Zeit die Entscheidung der Verfassung zwischen der Souveränität des Fürsten und der des Volkes und damit des Parlaments in der Schwebe geblieben war, die Entscheidung über dieses Problem aber weitgehende Folgen für die politische Machtverteilung hatte. Noch in der Weimarer Republik sozusagen als Nachhall der vorangehenden Epoche - besonders gepflegt und umstritten - wird das Souveränitätsproblem heute in der Staatsrechtlichen Literatur, aber auch in der Allgemeinen Staatslehre bis auf knappe Hinweise kaum mehr beachtet. Der Grund hierfür mag die Auffassung sein, das Grundgesetz behandle das Souveränitätsproblem nicht und beziehe folglich zu ihm auch keine Stellung, oder auch die Meinung, das Souveränitätsproblem könne nur mit Hilfe der heute überwundenen Begriffsjurisprudenz gelöst werden. Auch mag die Auffassung mitschwingen, aus dem Souveränitätsproblem ergäben sich angesichts der detaillierten Regelungen des Grundgesetzes Lösungen für relevante verfassungsrechtliche Fragen nicht mehr. All diese nicht ausdrücklich formulierten Meinungen haben, so wird sich zeigen, recht, wenn und soweit mit dem Souveränitätsprinzip nur die Frage nach dem höchsten Organ im Staate oder nach der Souveränität des Staates selbst gestellt wird. Mit dieser viel zu engen Definition hat aber schon die Lehre des 19. Jh. übersehen, daß das Souveränitätsprinzip eine ganze Kette

§ 14 Zur Konstruktion des Bundesstaates

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von Rechtssätzen an sich zieht, von deren Existenz wir auch heute noch ausgehen, die aber im Grundgesetz nicht verortet werden können, wenn man die Auffassung ablehnt, das Grundgesetz verankere die Souveränität des Staates oder des Volkes nicht. Typisch für die begriffliche Argumentation in diesem Bereich - wie im ganzen Staatsorganisationsrecht - ist dabei die allgemeine Verkennung der Tatsache, daß auch die Lehre vom Souveränitätsprinzip bestimmten Zielen dienen soll, die eigentlich die Funktion des Souveränitätsprinzips erst richtig verdeutlichen.

§ 14 Zur Konstruktion des Bundesstaates Versuch einer neuen Theorie des Bundesstaates I. Zum Stand der Diskussion Der Bundesstaat ist ein Gesamtstaat, der sich aus einzelnen Gliedstaaten zusammensetzt, in welchem die Zuständigkeiten zwischen dem Bund und den Gliedern aufgeteilt sind, die Gliedstaaten bei der Ausübung der Kompetenzen durch den Oberstaat beteiligt sind und der Oberstaat sein Recht durch Einwirken auf die Glieder durchsetzen kann. 239 So oder ähnlich lauten die Definitionen des Bundesstaates, die in ihrer Breite variieren, je nachdem, ob man nur auf einen bestimmten Bundesstaat abhebt oder die Gemeinsamkeit aller Bundesstaaten herausstreichen will. Auf diese Weise werden Gattungsbegriffe gebildet, die es nur gestatten, den Bundesstaat vom Einheitsstaat zu unterscheiden, nicht aber Wesensbegriffe, die entweder das faktische Funktionieren eines Bundesstaates erklären oder eine Bundesstaatstheorie verankern. Unter einer Theorie des Bundesstaates verstehe ich dabei ein Grundprinzip, das nicht nur diese besonders komplizierte Regierungsform rechtfertigt, sondern darüberhinaus alle Rechtsinstitute des Bundesstaates aus einem einheitlichen Ansatz heraus erklärt und deshalb auch zur Interpretation und zur Lückenfüllung herangezogen werden kann. Eine solche Bundesstaatstheorie besitzen wir heute nicht; 240 es hat sie überdies auch im 19. Jahrhundert nicht gegeben. Damals wurden nämlich im Rahmen des Bundesstaatsprinzips grundsätzlich immer nur drei Probleme abgehandelt: Die Frage, ob die Länder oder der Bund oder beide die Staatsqualität besitzen, wie die Souveränität im Bundesstaat verteilt ist und ob die Beziehungen im Bundesstaat sich nach dem Völker239 Vgl. z.B. Stern (Anm. 186), Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 19, S. 644 ff. m. w. N. i. Anm. 4; Bothe, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), hrsg. von WassermaiUl, Rudolf, 2. Aufl. 1989, Art. 20 Abs . 1-3 I, Rdnr. 17; Hesse (Anm. 195), Rdnr. 217; z.B. auch Maunz/Zippelius (Anm. 221), s. 100. 240 Auch Stern (Anm. 186), Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 19, stellt fest, daß eine Theorie des Bundesstaats noch fehlt; vgl. auch Kimminich "Der Bundesstaat", in: Isensee/Kirchhof (Anm. 185), Bd. I, 1987, § 26 Rdnr. 8 f.

II Bleckmann

162

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

recht oder nach dem Staatsrecht richten. 241 Über diese Ansätze sind wir auch heute nicht viel vorangeschritten. Sicherlich versucht man, das Bundesstaatsmodell heute durch Rückgriff auf den Gedanken der vertikalen Gewaltenteilung zu legitimieren. 242 Eine Theorie, welche alle Rechtsinstitutionen des Bundesstaates aus einem einheitlichen Ansatz heraus erklärt, liefert dieses Konzept aber ebensowenig wie die Hessesehe Theorie des "unitarischen Bundesstaates "243 . Im Übrigen sind wir bei der Frage stehengeblieben, ob man von einem Zwei-, Drei- oder Einstaatenmodell ausgehen muß244 und ob auf die Rechtsbeziehungen zwischen den Ländern auch das Völkerrecht anzuwenden isf"5 • Die wenigen darüber hinaus gehenden Ansätze, die das Bundesstaatsprinzip im Lichte des Demokratie-, des Rechtsstaats- und des Sozialstaatsprinzips246 und des Kulturstaats247 interpretieren, führen ebenfalls nicht weiter. Die mit der Vereinigung Deutschlands belebte Föderalismusdiskussion248 macht es notwendig, sich mit der Theorie des Bundesstaats auseinanderzusetzen.

II. Die Machttheorien Die Verteilung der staatlichen Macht hat im Bundesstaat vier Aspekte. Nicht näher eingehen können wir hier auf die Tatsache, daß die Alliierten 1945249 241 Vgl. die Darstellung der Diskussion zum Bundesstaat bei Jellinek (Anm.138), S.768 ff. 242 Vgl. statt vieler Stern (Anm. 186), Bd. 1, 2. Aufl., § 19, S. 657 ff.; K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 27, ist dagegen der Auffassung, angesichts der politischen Einheit der Bundesrepublik könne das vertikale Gewaltenteilungsprinzip nicht funktionieren; nach ihm steht auf der horit.ontalen Ebene der Macht des Bundestags die gemeinsame Macht der Länder im Bundesrat gegenüber. 243

Hesse (Anm. 242).

Vgl. die Darstellung bei Kimminich, in: Isensee/Kirchhoff (Anm. 185), Bd. I, 1987, § 26 Rdnr. 15 ff., 36 ff. sowie AK-GG-Bothe (Anm. 239), Art. 20 Abs. 1-3 I, Rdnr. 22 mit der Anmerkung, der dogmatische Streit um die theoretische Konstruktion sei unfruchtbar. 244

245 Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, ND 1958; Schaumann, Verträge zwischen Gliedstaaten im Bundesstaat, VVDStRL, Bd. 19, 1961, 86; z.h.L. vgl. Rudolf, in: Isensee/Kirchhoff (Anm. 185), Bd. IV, 1990, § 105 Rdnr.74 m.w.N.

246 Hierzu m.w.N. Isensee, in: Isensee/Kirchhoff (Anm. 185), Bd. IV, 1990, § 98 Rdnr. 245 ff.; AK-GG-Bothe (Anm. 239), Art. 20 Abs . 1-3 I, Rdnr. 25-28. 247

Isensee, in: Jsensee/Kirchhof (Anm. 185), Bd. IV, 1990, § 98 Rdnr. 214 ff.

248 Vgl. z.B. nur Benz, Perspektiven des Föderalismus in Deutschland, 1991,

S.586; Ossenbühl, Föderalismus nach 40 Jahren Grundgesetz, DVBl. 1989, 1230; Millgramm, Föderalismus und Individuum, DVBl. 1990, 740; Herzog, Mängel des deutschen Föderalismus, BayVBI. 1991 , 513.

249 Vgl. Mampel, Föderalismus in Deutschland, Deutschland Archiv 1991, 804 (809 ff.) .

§ 14 Zur Konstruktion des Bundesstaates

163

den deutschen Staat möglichst weitgehend dezentralisieren wollten, um auf diese Weise den Gesamtstaat zu schwächen. Schon die Stein-Hardenbergsehen Reformen in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben die Erkenntnis als Grundlage, daß durch eine dezentralisierte Demokratisierung die Energien des Gesamtstaates eher wachsen, 2.lO so daß wahrscheinlich Bundesstaaten letzlieh stärker als Einheitsstaaten sind. Auch das in der Literatur der Bismarck- und der Weimarer Republik wegen der Übermacht Preußens oft behandelte Problem der Machtbalance2~ 1 zwischen den Ländern im Bundesstaat können wir hier übergehen, obwohl es bei den Plänen für die Reform des Bundesgebiets vielleicht allzu leichtfertig übersehen worden ist. Bei der Gründung des Bismarck-Reiches spielte der Machtfaktor ferner insoweit eine Rolle, als Preußen das dynastische Legitimitätsprinzip, auf dem es selbst beruhte, nicht aufheben wollte und deshalb nicht alle deutschen Einzelstaaten annektieren konnte; die Fürsten aber waren natürlich nicht bereit, ihre Macht ganz zugunsten des Reiches aufzugeben. Gestützt auf die Verbindung des Demokratieprinzips mit dem Souveränitäts- und dem Nationalstaatsprinzip sah damals ein Teil der deutschen Liberalen den Einheitsstaat als Ideal an; der Bundesstaat war in dieser Sicht nur ein zweitbester Kompromiß, der kein selbständiges Prinzip verkörperte und sich deshalb nicht auf eine besondere Legitimation berufen konnte. 2~2 Schon in der Weimarer Reichsverfassung hätte der Verfassungsgeber,2~3 wie sich dann 1935 - wenn auch im Rahmen eines diktatorischen Systems - sehr deutlich zeigte, auch den Einheitsstaat durchsetzen können; 254 daß dies nicht geschah, lag wohl in erster Linie daran, daß schon damals der Bundesstaat selbst als die bessere Staatsform angesehen wurde. Nur der vierte Aspekt der Macht, nämlich der Grundsatz der vertikalen Gewaltenteilung, spielt also bei der Rechtfertigung des Bundesstaates letztlich eine Rolle. Dieses Konzept wird in mehrfacher Konkretisierung vertreten. Die wohl herrschende Lehre stellt auf die "vertikale" Gewaltenteilung, also auf die Verteilung der Macht zwischen Bund und Ländern ab. 255

250 So wohl auch Rupp, in: Isensee/Kirchhoff (Anm. 185), Bd. I, 1987, § 28 Rdnr. 6, 8; vgl. auch Millgramm (Anm. 248), 742; Hendler, in: Isensee/Kirchhoff (Anm. 185), Bd. IV, 1990, § 106 Rdnr. 4. 251 Vgl. z.B. Anschütz, Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, VVDStRL, Bd. 1, 1924, 13 ff. sowie Bilfinger, Hegemonialer Föderalismus, VVDStRL, Bd. 1, 1924, 38 ff. 2~2

Vgl. etwa Anschütz (Arun. 251), 14 f.

Was wohl viele Mitglieder der Nationalversammlung eigentlich auch wollten, vgl. Anschütz (Anm. 251), 17. 254 Zur Gleichschaltung der Länder durch die Nationalsozialisten vgl. Grawert, in: Isensee/Kirchhof (Arun. 185), Bd. I, 1987, § 4 Rdnr. 11 ff. 255 Vgl. nur Stern (Arun. 186), § 19, S. 666 ff. m.w.N.; AK-GG-Bothe (Anm. 240), Art. 20 Abs. 1-3 I, Rdnr. 12. 2~3

II*

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

Hesse vertritt dagegen den Standpunkt, der Bundesstaat stütze heute durch das Gegenüber der Länder im Bundesrat und des Bundestages eher die horizontale Gewaltenteilung. 256 Man wird letztlich beide Aspekte miteinander verbinden müssen und darüberhinaus auch die Gewaltenteilung zwischen Regierungsparteien und Opposition in das Bundesstaatsmodell einbeziehen müssen. Auch der Zweck der Gewaltenteilung wird unterschiedlich gesehen. Die wohl herrschende Lehre meint, durch die Teilung der Gewalten werde die Freiheitssphäre und damit das Selbstbestimmungsrecht des Bürgers vergrößert. Dieser Aspekt greift auf zwei nebeneinanderstehende Erwägungen zurück. Auf der einen Seite ist die Folge der Gewaltenteilung, daß der Staat dem Bürger niemals als ein geschlossener Block mit der gesamten Fülle der staatlichen Macht und des staatlichen Wissens, sondern immer nur in der Form einzelner Behörden gegenübertritt, die nur beschränkte Kompetenzen und ein beschränktes Wissen besitzen. Der Grundsatz der "checks and balances" stellt dagegen darauf ab, daß jedes Organ bestrebt ist, seine Macht zu vergrößern; der Machtanspruch des einen Organs stößt so auf dasselbe Machtstreben der anderen Organe, so daß sich beide Organe gegenseitig bremsen. Dieses Modell ist die Voraussetzung für die freiwillige Einhaltung der Verfassung und sichert damit die Einhaltung der Zuständigkeiten im Bundesstaat und der Grundrechte der Individuen. Nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG257 soll dagegen die Gewaltenteilung gerade auch die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung gewährleisten. Bezogen auf den Bundesstaat, wird so etwa herausgestellt, daß infolge der Nähe der Verwaltung der Länder zu den Sachverhalten der Sachverstand wächst; auf der anderen Seite aber wächst wegen dieser Nähe und der Transparenz des staatlichen Lebens auf der Lokalebene das politische Engagement der Bürger und damit die Kontrolldichte der demokratischen Instanzen. Sicherlich rechtfertigen alle diese verschiedenen Aspekte der Gewaltenteilung den Bundesstaat zumindest partiell. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß auf der einen Seite die 1934 abgeschlossene Gleichschaltung258 gezeigt hat, daß diese Gewaltenbalance letztlich die Machtübernahme durch eine Diktator nicht verhindem kann: dies gilt verstärkt, wenn man auf der anderen Seite bedenkt, daß wie Hesse gezeigt hat, der Bundesstaat in der Bundesrepublik Deutschland faktisch weitgehend schon den Charakter eines Einheitsstaates angenommen hat.

256

Vgl. Hesse (Amn. 195), Rdnr. 232.

257

BVerfGE 68, 1 (86).

258

Vgl. hierzu Grawert, in: lsensee/Kirchhoff (Anm. 185), Bd. I, 1987, § 4 Rdnr.

11 ff.

§ 14 Zur Konstruktion des Bundesstaates

165

m. Die Interessentheorien 1. Stellt man mit der letzlieh auf Rudolf von Ihering259 zuiiickgehenden, durch Philipp Hecic260 weiterentwickelten Interessenjurisprudenz261 darauf ab, welche Interessen das Bundesstaatsprinzip durchsetzen soll, läßt sich, wie im folgenden noch zu zeigen bleibt, eine Theorie des Bundesstaates entwickeln, die sowohl diese Staatsform legitimiert, als auch einen einheitlichen Ansatz zur Erklärung aller Rechtsinstitute des Bundesstaates liefert. Auszugehen ist dabei von der heute wohl einmütig anerkannten Tatsache, daß der Staat, seine Souve~ ränität und seine Kompetenzen keinen Selbstzweck, sondern nur Mittel zur Durchsetzung der Interessen des Volkes darstellen. 262 Der Bundesstaat stellt dabei den Versuch dar, den Staatsapparat so aufzubauen und die Zuständigkeiten so zu verteilen, daß die an der Durchsetzung dieser Interessen ausgerichte~ ten Staatsaufgaben optimal-effektiv erfüllt werden. 2. Dieser Grundsatz bietet zunächst eine bessere Erklärung als das Sub~ sidiaritätsprinzip dafür63 , daß die gesamte Staatsgewalt der Entscheidung unseres Grundgesetzes entsprechend prinzipiell in der Hand der Länder liegt. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die herrschende Lehre heute von einem zu engen Verständnis des Demokratieprinzips ausgeht: 264 Denn das Demokratieprinzip verlangt eben nicht nur, daß die durch die staatliche Ent~ scheidung betroffenen Bürger im Interesse ihrer Selbstbestimmung an dieser Entscheidung beteiligt werden. Dies hat der Dekolonisierungsprozeß265 deut~ lieh gezeigt, der in dem Maße an Brisanz gewann, in welchem die Überseebevölkerung im Parlament des Mutterlandes beteiligt wurde, 266 da an Ent~ scheidungen im Staat eben nur die durch diese Entscheidung betroffenen Bürger und nicht auch Dritte beteiligt werden. Wenn also z. B. bergrechtliche Sachverhalte zu regeln sind, die nur in wenigen Bundesländern auftreten, sollten Probleme nur von der Bevölkerung der betroffenen Bundesländer und

259

Der Zweck im Recht, Bd. 1, 4. Aufl. 1904.

UD Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 1; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932. 261 Vgl. dazu Zippelius, Grundbegriffe der Rechts- und Staatssoziologie, 2. Aufl. 1991, S. 82 ff.

262

Zu den Staatszwecken vgl. Link/Ress (Anm. 188).

Vgl. lsensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968; Zuck, Subsidiaritätsprinzip und Grundgesetz, 1968. 263

264

265

Vgl. Hesse (Anm. 195), Rdnr. 142. Vgl. hierzu Bleckmann, Decolonization, EPIL 10, (1987), 75.

266 Vgl. z.B. Bleckmann, Das Französische Kolonialreich und die Gründung neuer Staaten, 1969, S. 261 ff.

166

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

nicht vom Gesamtvolk im Bund geregelt werden dürfen. 267 Soweit dagegen die Sachverhalte in allen Bundesländern gleich liegen, verbietet das Demokratieprinzip, daß die Mehrheit aus einer bestimmten Ländergruppe die Minderheit anderer Ländergruppen beherrscht. Das Demokratieprinzip fordert dann, daß der Staat in Regionen aufgeteilt wird, so daß die staatlichen Entscheidungen von den Mehrheiten dieser Region gefällt werden. Dazu kommt, wie wir oben schon angedeutet haben, daß die Nähe der Entscheidungsträger zu den Sachverhalten und die damit verbundene größere Transparenz des Staatsapparates den Sachverstand der Verwaltung verstärkt und die demokratischen Kontrollen effektiver macht. Die Interessen der Bürger werden so durch die Dezentralisierung optimiert. 268 3. Das Demokratieprinzip und der Grundsatz der optimal-effektiven Erfüllung aller Staatsaufgaben verlangen also eine weitgehende Dezentralisierung der staatlichen Entscheidungen. Sobald aber die Länder durch die autarke Ausübung ihrer Kompetenzen diese Staatsaufgaben allein nicht mehr optimaleffektiv erfüllen können, fordern diese Prinzipien umgekehrt zunächst die Kooperation zwischen den Ländern, letzlieh aber den Übergang der Kompetenzen auf den Bund. Diese Kooperationszwänge, die sowohl auf der nationalen Ebene (Gemeinden und Länder) als auch in der EG, ja in der gesamten Völkerrechtsgemeinschaft wirken, werden nun in Art. 72 II GG umfassend und abschließend umschrieben. Das BVerfG hat, als es diese Bestimmung für weithin injustitiabel erklärte, 269 die Schlüsselfunktion dieser Vorschrift für die Erklärung des gesamten Bundesstaatsprinzips gründlich verkannt. Ein Übergang der Kompetenzen wird nach dieser Vorschrift dann verlangt, wenn die autark handelnden Länder die Staatsaufgaben nicht mehr effektiv erfüllen können, wenn die Ausübung der Kompetenzen die Interessen der Gesamtheit und der anderen Länder gefährden kann und wenn die Rechtsund die Wirtschaftseinheit sowie die Einheit der Lebensverhältnisse (also der Gleichheitssatz, das Rechtsstaats- und das Sozialstaatsprinzip) einheitliche Regeln für das gesamte Bundesgebiet verlangen. Wenn das BVerfG den Art. 72 II GG in diesem Zusammenhang auch niemals ausdrücklich anführt, hat es doch aus den in den drei Ziffern dieser Bestimmung verankerten Grundgedanken wichtige Konsequenzen für das Bundesstaatsprinzip gezogen, die deutlich zeigen, daß die materiellrechtliche Bedeutung dieser Vorschrift über

267 Kritisch in diesem Sinn zur Tendenz bundesrechtlicher Regelungen auch Herzog (Anrn. 248), 515. 268

Vgl. auch Benz (Anm. 248), S. 588.

Z.B. BVerfGE 2, 213 (224 f.); 4, 115 (127); 10, 234 (245);13, 230 (233); 26, 338 (382 f .); 33, 224 (229); 34, 9 (39); kritisch zu diesem judical self-restraint z. B. Herzog (Anrn. 248), 515 oder lpsen, Staatsorganisationsrecht 8. Aufl. 1996, S. 152 f. 269

§ 14 Zur Konstruktion des Bundesstaates

167

den in ihr ausdrücklich festgelegten Sachverhalt weit hinausreicht270 und es sich hier um Grundprinzipien des Bundesstaates handelt: In der Tat sind die drei Ziffern des Art. 72 II GG bei der Interpretation der Regeln des Grundgesetzes herangezogen worden, welche die Zuständigkeiten des Bundes begründen.271 Auf der anderen Seite greift das BVerfG für die Entwicklung ungeschriebener Kompetenzen des Bundes aus der Natur der Sache insbesondere auf den Grundgedanken der ersten Ziffer des Art. 72 II GG zurück. m Darüberhinaus liegt der Grundgedanke des Art. 72 II Ziff. 2 GG dem Kerngehalt des Rechtsinstituts der Bundestreue zugrunde, nach welchem Bund und Länder bei der Ausübung ihrer Kompetenzen auch die Interessen der Gesamtheit und der anderen Länder zu beachten haben; die Bundestreue stellt also im Gegensatz zur herrschenden Lehre keinen Grundsatz des Verfassungsgewohnheitsrechts273 dar, der sich seit dem berühmten Aufsatz von Rudolf Smend274 in der Rechtsprechung der Weimarer Republik, 275 dann in der des BVerfG entwickelt hat; dieses Rechtsinstitut ist vielmehr in Art. 72 li GG ausdrücklich verankert. 276 Wenn aber einzelne Ziffern des Art. 72 II GG bei der Interpretation der Zuständigkeiten des Bundes, bei der Begründung ungeschriebener Bundeszuständigkeiten und bei der Entwicklung der Regeln der Bundestreue herangezogen werden, liegt es nahe, im Rahmen dieser Rechtsinstitute auch auf die übrigen Ziffern des Art. 72 II GG zurückzugreifen. Da der durch Art. 72 II GG angesprochene Übergang der Kompetenzen von den Ländern auf den Bund einen starken Eingriff in die Rechtssphäre der Länder darstellt, der grundsätzlich durch Art. 79 III GG verboten wird, wird man dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechend davon ausgehen müssen, daß die Grundgedanken des Art. 72 II GG zunächst im Rahmen der Bundestreue materielle Rechtspflichten begründen, die Bund und Länder bei der Ausübung ihrer Kompetenzen zu beachten haben; reichen diese materiellen Pflichten nicht aus, um die optimale Aufgabenerfüllung sicherzu-

270 Zum materiellrechtlichen Gehalt von Kompetenzbestimmungen Kunig, in: I. v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 3. Aufl. 1996, Art. 73, Rdnr. 3; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, S. 97 f.; Bleckmann, ~um materiellrechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DOV 1983, 129. 271 So z.B. Vogel, in: Isensee/Kirchhoff (Anm.185), Bd.IV, 1990, § 87 Rdnr.35 f.

BVerfGE 11, 1 (7 f.); 22, 207; 41 , 312 ff.; vgl. hierzu und zum Folgenden Bleckmann, Zum Rechtsinstitut der Bundestreue - Zur Theorie der subjektiven Rechte im Bundesstaat, JZ 1991, 900. 272

273 BVerfGE 6, 309 (361), 12, 205 (254). 274 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, 1916,

in: Smend (Anm. 171). 275 V gl. dazu Vetter, Die Bundesstaatlichkeil in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs der Weimarer Republik, 1979, S. 154 ff.

276 Bleckmann (Anm. 272), 901 f.

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

stellen, entwickeln sich aus den Grundgedanken des Art. 72 II GG zunächst Kooperationspflichten; wenn auch dies nicht ausreicht, geht schließlich die Kompetenz auf den Bund über. 277 Art. 72 II GG macht dabei sehr deutlich, daß der Bund - wie letztlich jeder Staat- ein Zweckverband ist, der sich von den internationalen und supranationalen Zweckverbänden nur dadurch unterscheidet, daß er auf der einen Seite die Staatsqualität besitzt und auf der anderen Seite umfassendere Hoheitsgewalten als die supranationalen Gemeinschaften besitzt. Daß der Staat ein Zweckverband ist, mag die auch heute noch sehr stark von Hegel278 und der romantischen Schule279 beeinflußte Staatsrechtslehre schockieren; dieses Konzept aber ist dem liberalen Denken seit den Gesellschaftsvertragstheoretikern des 17. und 18. Jahrhunderts280 und den Staatszwecklehren des 19. Jahrhunderts281 immanent. 4. Auch die Beteiligung der Länder bei der Ausübung der Bundeskompetenzen im Bundesrat soll schließlich nur sicherstellen, daß die Regionalinteressen bei der Willensbildung im Bund hinreichend berücksichtigt werden282 • Eine solche "Verdoppelung" des Parlaments durch einen "Senat" finden wir selbst in denmeisten Einheitsstaaten. Der Sinn dieser Verdoppelung ist dabei allerdings nicht ganz einheitlich. Zum Teil soll durch die Heraufsetzung des Wahlalters im Senat die "Weisheit" Ausdruck finden und so die staatliche Entscheidung vergütet werden. Diesen Gedanken finden wir auch beim Bundesrat, in welchem die Landesregierungen vertreten sind, die, weil der Vollzug auch der Bundesgesetze in der Hand der Länder liegt, die größere Verwaltungserfahrung als die Ministerialbürokratie des Bundes besitzen. Auf der anderen Seite finden wir Senate, die aus Vertretern der Gemeinden bestehen und Kreise oder Sozial- und Wirtschaftsräte, die aus verschiedenen Berufsgruppen zusammengesetzt sind. Durch diese Verdoppelung der Repräsentation283 der Interessen soll sichergestellt werden, daß im politischen Willensbildungsprozeß bestimmte Interessen ganz besonders stark berücksichtigt werden.

277 Insgesamt zu diesem Fragenkreis Bleckmann (Anm. 273), 901 ff. 278 Vgl. dazu Avineri (Anm. 132). 279 Z.B. Schrnitt (Anm. 167); Baxa (Anm. 167); Müller (Anm. 157). 280 Z.B. Hobbes (Anm. 47); Rousseau (Anm. 80). 281 Vgl. die Übersicht bei Jellinek (Anm. 138), S . 184 ff. 282

So wohl inzidenter auch Herzog, in: Isensee/Kirchhoff (Anm. 185) Bd. II, 1987,

§ 44 Rdnr. 3, 9 ff., 17- 20.

283 Zur Repräsentation allgemein Böckenförde, in: lsensee/Kirchhoff (Anm. 185), Bd. li, 1987, § 30.

§ 14 Zur Konstruktion des Bundesstaates

169

Der ursprüngliche im Wortsinn noch zum Ausdruck gelangende Gedanke, im Senat als erster oder zweiter Kammer des Parlaments durch besondere Anforderungen etwa an das Wahlalter die Erfahrung und die Reife zu institutionalisieren, wird in der neueren Entwicklung des Senatsprinzips dabei durch die Repräsentation vor allem der Provinzen, Kreise und Gemeinden bzw. der Berufsverbände (Volkswirtschaftsrat?84 ersetzt. Selbst wenn man am recht oberflächlichen Sinn der Repräsentation in der deutschen Verfassungsentwicklung festhält, wonach das Parlament als sichtbares Gremium die unsichtbare Einheit der deutschen Nation vergegenwärtigt, kann man, wenn man sich entgegen einer verbreiteten Tendenz bewußt wird, daß die Einheit immer nur aus einem Kamprarniß einander gegenläufiger und damit pluralistischer Interessen entsteht, mit Joseph H. Kaiser bei einer solchen Mitwirkung insbesondere der Interessenverbände von der "Repräsentation der organisierten Interessen" 285 sprechen. 5. Stellt man mit den bisherigen Ausführungen auf die Interessen der in den Ländern lebenden Bevölkerung ab, muß man im Rahmen einer umfassenden Theorie des Bundesstaates versuchen, diese Interessen von denen des gesamten Bundesvolkes näher abzugrenzen. a) Mit der liberalen Konzeption gehen wir dabei davon aus, daß die Allgemeininteressen mit der Summe der Individualinteressen identisch sind. Dabei sind die Primär- von den Sekundärinteressen zu unterscheiden. Die Primärinteressen der Individuen decken sich mit den entsprechenden Allgemeininteressen, wenn es sich etwa um das öffentliche Interesse an der Gesundheit, an der Stabilität und der Feuerfestigkeit der Gebäude, um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit handelt. Hier ist das Allgemeininteresse mit der Summe der Privatinteressen völlig identisch. Diese Privatinteressen können aber meist nur verwirklicht werden, wenn der Staat die hierfür notwendigen institutionellen, personellen, sachlichen und finanziellen Voraussetzungen schafft, wenn er etwa Gerichte und Behörden errichtet, die Polizei und Armee organisiert usw. Aus den Primärinteressen der Individuen entwickeln sich so entsprechende Sekundärinteressen. Um ein Beispiel zu nennen: Potentiell besteht etwa bei der Umweltschutzproblematik ein Interesse aller Bürger der Bundesrepublik Deutschland und damit ein Allgemeininteresse einerseits an einem möglichst weitgehenden Schutz der Umwelt, andererseits an einer Maximierung der Wirtschaftstätigkeit insbesondere im Interesse des Abbaus der Arbeitslosigkeit. Abgesehen von

284

Vgl. z.B. Art. 193 EGV.

285

2. Auf!. 1978.

170

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

gewissen ideologischen Richtungen werden diese beiden Interessen aber je nach der wirtschaftlichen Lage und dem Grad der Umweltverschmutzung in den einzelnen Regionen der Bundesrepublik Deutschland unterschiedlich empfunden und damit aktualisiert. Auch die für den Umweltschutz eingesetzten Mittel werden dabei je nach ihrer Tauglichkeit und ihren Rückwirkungen auf andere Allgemeininteressen unterschiedlich bestimmt. Allerdings wird diese Auffassung meist nicht ausdrücklich vertreten, sondern nur darauf hingewiesen, daß auf der einen Seite das Sozialstaatsprinzip letztlich die Vereinheitlichung der deutschen Rechtsordnung bewirke, auf der anderen Seite das Volk im Industriezeitalter aber nicht mehr bereit sei, unterschiedliche Regelungen durch verschiedene Länder hinzunehmen. Man wird aber davon ausgehen können, daß einmal die im Sozialstaatsprinzip angesprochenen Staatsaufgaben zum Teil effektiv nur durch Regelungen auf der Bundesebene durchgesetzt werden können, auf der anderen Seite entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der in Art. 72 li Ziffer 3 GG angesprochene Gleichheitssatz diese Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse durch einen Übergang der Kompetenzen auf den Bund oder die Zusammenarbeit der Länder verlangt. Diese Entwicklung ist vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, daß infolge der einheitlichen Schulausbildung, des starken Einflusses der Massenproduktion die subjektive Wertordnung des deutschen Volkes immer homogener wird, auf der anderen Seite aber infolge dieser Informationen die Vergleichbarkeit der Lebenslagen in den verschiedenen Ländern wächst. Die Interessen der Länder decken sich nun mit diesen Primär- und Sekundärinteressen ihrer Bevölkerung: Einerseits sollen die Länder die privaten Wohlfahrtsinteressen der Bürger optimieren, auf der anderen Seite haben sie die institutionellen Voraussetzungen für die Durchsetzung dieser Primärinteressen zu schaffen. Das Interesse der Länder erstreckt sich damit auch auf ihre Existenz, auf ihre Kompetenzen, auf ihre Organisation und auf ihre finanziellen, personellen und sachlichen Mittel. b) Entscheidend ist nun, daß diese Länderinteressen durch das Grundgesetz in doppelter Stufung geschützt werden. Auf der einen Seite werden die Primärund Sekundärinteressen der Individuen durch die klassischen und die sozialen Grundrechte geschützt; da die Allgemeininteressen nichts anderes als die Swnme der Privatinteressen darstellen, werden auch die öffentlichen Interessen der Länder durch diese Konstruktion zumindest partiell bestimmbar. Auf der anderen Seite erstarken aber auch die oben umrissenen Länderinteressen zu "Grundrechten" der Länder: In der Tat haben sie nach Art. 93 GG das Recht, bei einer Verletzung ihrer subjektiven Rechte vor dem BVerfG gegen den Bund und gegen andere Bundesländer zu klagen. Art. 93 GG geht also davon aus, daß das Grundgesetz die oben umrissenen Interessen in echte subjektive Rechte verwandelt.

§ 14 Zur Konstruktion des Bundesstaates

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c) Daß das Bundesstaatsprinzip letztlich nur der Durchsetzung der Interessen der in den verschiedenen Ländern wohnenden Bevölkerung dient, wird in der Literatur wohl deshalb verkannt, weil man annimmt, daß die unterschiedliche Wertordnung, die ursprünglich einer der Gründe für die Annahme des Bundesstaatsprinzip im 19. Jahrhundert war, sich unter der Einwirkung des "Zeit- und Weltgeistes" heute weitgehend vereinheitlicht hat. Schon diesem Ansatz vermag ich nicht zu folgen. In der Tat geht das Grundgesetz selbst von der "landsmannschaftlichen Verbundenheit" der Bevölkerung in den Ländern aus, 286 die doch sicherlich vor allem darin besteht, daß infolge der unterschiedlichen Tradition, Kultur und Geschichte in den Ländern unterschiedliche Wertordnungen bestehen; das kommt denn auch in den unterschiedlichen religiösen und vor allem parteipolitischen Mehrheiten in den Ländern deutlich zum Ausdruck. Auf der anderen Seite können natürlich auch bei einer völlig einheitlichen Wertordnung in allen Ländern die Interessen der einzelnen Landesmehrheiten sehr unterschiedlich sein. d) Die Interessentheorie gestattet dabei auch eine glatte und befriedigende Lösung von zwei in der Literatur stark umstrittenen Fragen: Zunächst einmal ist umstritten, ob die Landesvertretungen im Bundesrat nur "Bundes-" oder nur "Landesinteressen" wahrnehmen dürfen?n Für die erste Lösung scheint die Tatsache zu sprechen, daß auch der Bundesrat ein Organ des Bundes ist, für die zweite Lösung kann man auf den Landescharakter der Regierungsvertretungen im Bundesrat verweisen. Ist aber nach den vorangehenden Ausführungen der Zweck des Bundesstaats und damit auch der Beteiligung der Länder bei der Ausübung der Bundeskompetenzen im Bundesrat die Durchsetzung gerade der Landesinteressen, sind die Länder im Bundesrat grundsätzlich auf die Repräsentation von Landesinteressen beschränkt. In den Fällen, in welchen die Sachverhalte in den einzelnen Bundesländern gleich liegen, sind die Landesinteressen aber mit den Interessen des Bundes identisch: Sie unterscheiden sich in den verschiedenen Ländern nur dadurch, daß sie jeweils anders bewertet werden als im Bundestag. Auf der anderen Seite ist umstritten, ob die Landtage die Landesvertretungen im Bundesrat durch Beschlüsse und Weisungen binden können. 288 Der Rückgriff der herrschenden Lehre auf rein formale Aspekte des Wortlauts und der Systematik der Verfassung bleibt unbefriedigend. Richtigerweise wird man davon ausgehen müssen, daß der Zweck des Demo286 Zum Landesbewußtsein auch in den sog. "Bindestrichländem" Herzog (Anm.248), 516 f. 287 Frowein, Gemeinschaftsaufgaben im Bundesstaat, in: VVDStRL, Bd. 31, 1973, 13 ff. 288 Stern (Anm. 186), Bd. 2, 1980, § 27, S. 217 ff. m.w. N.

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

kratieprinzips weniger die Selbstbestimmung der Individuen als die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung ist. 289 Die vor allem durch die klassischen und sozialen Grundrechte geschützten Individualinteressen werden nur dann dem Anliegen des Grundgesetzes entsprechend optimiert, wenn die Grundrechtsträger über ihren Inhalt und ihr gegenseitiges Gewicht selbst bestimmen. Der Zweck der Wahl der Abgeordneten ist in einer solchen Sicht, das Parlament an die subjektive Wertordnung der Grundrechtsträger zurückzubinden. Sollen nun die Landesregierungen im Bundesrat die betreffenden Regionalinteressen repräsentieren, verlangt das Demokratieprinzip also, daß diese Interessen und ihr gegenseitiges Gewicht letztlich durch den Landtag definiert werden.

IV. Die rechtlichen Konsequenzen der Interessentheorie Wir sind zu dem Ergebnis gelangt, daß die Verteilung der Kompetenzen im Bundesstaat und die Beteiligung der Länder im Bundesrat die Regionalinteressen im politischen Willensbildungsprozeß stärken sollen: Der Staat ist nach diesem Konzept so aufzubauen und seine Kompetenzen sind so zu verteilen, daß alle Staatsaufgaben optimal- effektiv durchgesetzt und so die Privatinteressen maximiert werden. Nunmehr bleiben die Konsequenzen dieser Theorie für die anderen Rechtsinstitutionen des Bundesstaates aufzuweisen. In diesem Rahmen müssen wir nun noch einmal in die bekannte Kontroverse um die Konstruktion des Bundesstaates einsteigen. Bekanntlich hat das BVerfG zunächst die Dreistaatentheorie von Kelsen290 und Nawiasky291 vertreten292 und sich nur unter dem Druck der herrschenden Lehre293 der Zweistaatentheorie angeschlossen294 • Demgegenüber hat Konrad Hesse295 wohl im An-

289 Schon Rousseau hat dieses zweite Ziel des Demokratieprinzips deutlich hervorgehoben. In der Tat geht er zwar davon aus, daß die unmittelbare Demokratie die Freiheit verwirklichen soll. Er erkennt aber an, daß das Mehrheitsprinzip erforderlich wird, um die Funktionsfähigkeit des Staates zu garantieren. Das bedeutet aber, daß die Minderheit sich der Fremdherrschaft unterwerfen muß. Das wiederum kann nur legitimiert werden, wenn die Entscheidung der Mehrheit als volonte generale die Richtigkeit der Entscheidung, also die Durchsetzung des Allgemeininteresses garantiert. Diese Ansätze sind auch heute noch richtig, wenn auch die Konstruktion, mit welcher Rousseau zu beweisen sucht, daß die Mehrheitsentscheidung in der Regel richtig sei, nicht mehr akzeptiert werden kann; vgl. auch Stein, Staatsrecht, 15 Aufl. 1995, § 8 I u. II; Hesse (Anm. 195), Rdnr. 142. 290

Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, ND 1966, S. 169.

291

Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, 3. Teil, 1956, S. 151 ff.

292

BVerfGE 6, 309, 340, 364.

293

Vgl. etwa Stern (Anm. 186), Bd. 1, 2. Auf11984, § 19, S. 650 ff. m.w.N.

294

BVerfGE 13, 54, 77 f.

§ 14 Zur Konstruktion des Bundesstaates

173

schluß an Hermann Heller96 die Ansicht vertreten, die Länder stellten keine Staaten mehr dar, weil im unitarischen Bundesstaat die Länder ihren Charakter als politische Wirkungseinheiten verloren hätten. Alle diese verschieden Theorien gehen nun davon aus, daß man vernünftigerweise sich nur für die eine oder andere dieser drei Alternativen entscheiden könne. Im folzu zeigengenden werden wir versuchen zu zeigen, daß das Bundesstaatsproblem nur durch eine Kumulierung aller drei Theorien gelöst werden kann. 1. Konrad Hesse297 vertritt die Theorie des faktischen Einheitsstaates, weil sich in der Verfassungswirklichkeit besondere Wirkungseinheiten der Länder nicht mehr feststellen ließen. Es kann dabei hier dahingestellt bleiben, ob und inwieweit man für die Auslegung der Verfassung auf die Verfassungswirklichkeit zurückgreifen darf und muß. Denn auf jeden Fall stellt das Konzept von Hesse eine juristische Theorie in einem engeren Sinne eben nicht dar. Versuchen wir, das Problem juristisch anzugehen, läßt sich feststellen, daß zumindest seit der Weimarer Republik Deutschland "dem Grunde nach" ein Einheitsstaat ist. Dafür spricht in der Tat, daß die verfassungsgebende Gewalt des einheitlichen deutschen Volkes in der Vergangenheit und in der Zukunft sich dafür entscheiden könnte, den Bundesstaat durch einen Einheitsstaat zu ersetzen. Von der verfassungsgebenden Gewalt her gesehen, leiten sich also letztlich die Existenz und die Kompetenzen der Länder aus der alleinigen Souveränität des Bundes ab, sind die Hoheitsgewalten der Länder also dem Grunde nach eben nicht originär. 298 Daß im Bundesstaat die innere Souveränität umfassend nur dem Bunde zusteht und damit letztlich einen Einheitsstaat begründet, hat seinen Niederschlag in zahlreichen Bestimmungen des Grundgesetzes gefunden. So beruht auf der alleinigen Souveränität des Bundes der Vorrang des Bundesrechts vor allem Landesrecht (Art. 31 GG) und der Monismus der deutschen Rechtsordnung. Aber auch die Eingriffsbefugnisse (Art. 37 GG) des Bundes in den Landesbereich, die sicherstellen, daß das Bundesrecht durchgesetzt und damit die Allgemeininteressen des deutschen Volkes erfüllt werden, beruht auf diesem Konzept.

295 Vgl. oben Anm. 5; ferner Hesse (Anm. 195), Rdnr. 220 ff. unter Hinweis auf Smend und die Lage in der Weimarer Republik. 296

V gl. Heller (Anm. 173), S. 92 ff., 339 ff.

2~

s. Anm. 242.

Wobei interessanterweise in der Verfassungswirklichkeit für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten die Wiederbelebung der Länder in der DDR notwendig erachtet wurde, vgl. nur Mampel (Anm. 249), 926 ff. 298

174

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

Da seit Jean Bodin der Grundsatz der inneren Souveränität299 mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung begründet wird und da überhaupt die heute für die Befriedigung der Allgemeininteressen300 so wichtige staatliche Entscheidung ergeht und diese Entscheidung effektiv und lückenlos durchgesetzt wird, obliegt dem Bund auf Grund seiner alleinigen inneren Souveränität auch die letzte Verantwortung für das ordnungsgemäße Funktionieren des Gesamtstaates; das ergibt sich deutlich aus dem Zwangsmonopol des Bundes, der auch die Durchsetzung von Ansprüchen der Länder unter sich umfaßt. Einerseits hat er auch bei der Abstimmung zwischen den Ländern eine wichtige Koordinierungsfunktion, wenn auch nur als primus inter pares. 301 Auf der anderen Seite kann er wie in der Weimarer Verfassung im Rahmen des Rechtsinstituts der Bundestreue Verstöße der Länder gegen die Allgemeininteressen und die Interessen anderer Länder vor dem Bundesverfassungsgericht rügen und anschließend durch Zwangsmittel durchsetzen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 3 GG). Die alleinige Souveränität nur des Bundes beruht dabei auf einem doppelten Ansatz. Vordergründig greift hier das Nationalstaatsprinzip ein, daß nach der obigen Analyse mit dem Demokratie- und dem Souveränitätsprinzip eng verkoppelt ist. Nach diesem Konzept kommt die Qualität der Nation und damit die Gesamtheit aller Staatsgewalt nur dem deutschen Volk in seiner Gesamtheit und nicht auch den Bevölkerungen in den Ländern zu. Das Grundgesetz drückt das dahin aus, daß es bei den Ländern nur von einer "landsmännischen" und nicht einer "nationalen" Verbundenheit, auf der anderen Seite aber in der Präambel und in Art. 28 I GG von dem (einheitlichen Gesamt-) Volk spricht. Von der Interessentheorie her gesehen, beruhen der Vorrang des Bundesrechtes und die Kontrollrechte des Bundes wie der Monismus im Europäischen Gemeinschaftsrecht302 dagegen auf der Tatsache, daß nur auf diese Weise die Allgemeininteressen des gesamten Volkes sich gegen die Partikularinteressen der Länder durchsetzen können. Bei einer tieferen Sicht decken sich diese Allgemein- und Partikularinteressen allerdings: richtigerweise wird man deshalb formulieren müssen, daß nur auf diese Weise die optimale Erfüllung der Staatsaufgaben sichergestellt werden kann, die von den autark handelnden Ländern nicht durchgesetzt werden können.

299 Vgl. dazu Bleckmann, Das Souveränitätsprinzip im Völkerrecht, ArchVR 1985, 450 (453 f.). 300

Hierzu m.w.N. Bleckmann (Anm. 194), 16 ff.

Zu den verschiedenen möglichen Kooperationsformen vgl. Rudolf, in: lsensee/Kirchhof (Anm. 185), Bd. IV, 1990, § 105 Rdnr. 26 ff. 301

302 Vgl. Bleckmann, Zur Funktion des Art. 24 GG, in PS f. Doehring, 1989, 63 (64 ff.).

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2. Obwohl also im "Grundverhältnis" die Souveränität allein beim Bunde liegt, hat sich der Bund bei der Ausübung seiner verfassungsgebenden Gewalt dafür entschieden, in dem auf dem Grundverhältnis aufliegenden Organisationsverhältnis303 dem "Zweistaatenmodell" des Bundesstaates zu folgen, nach welchem die Staatsqualität sowohl dem Bund als den Ländern zukommt und Bund und Länder originäre Hoheitsbefugnisse ausüben. 304 Der Grund für diese Entscheidung, die der Text des Grundgesetzes überaus deutlich macht, ist dabei in der Tatsache zu suchen, daß nur auf diese Weise die politische Macht der Länder so gestärkt werden kann, daß ihre Interessen mit dem im poli-tischen Willensbildungsprozeß hinreichenden Gewicht durchgesetzt werden können. Die Allgemeininteressen sind also von dem Gesamtinteresse als Resultante der staatlichen Entscheidung zu unterscheiden. Jede staatliche Entscheidung stellt so eine Abwägung zwischen meist sehr zahlreichen Allgemeininteressen dar, wobei nicht nur die einzelnen Allgemeininteressen sich widersprechen können, sondern auch die Erfüllung der staatlichen Aufgaben nur mit knappen finanziellen Mitteln möglich ist, die zwischen den einzelnen Staatsaufgaben zu verteilen sind. Für die folgende Darstellung erscheint es dabei hilfreich, wenn wir auf das "Zweistaatenmodell" des Völkerrechts zurückgreifen. 305 Nach diesem Modell findet die aus der Souveränität fließende Handlungsfreiheit des Staates A an den ebenfalls aus der Souveränität der Staaten fließenden Interessen der anderen Staaten ihre rechtliche Schranke. Das bedeutet, daß alle Staaten bei der Ausübung ihrer Kompetenzen auch die Interessen der anderen Staaten berücksichtigen müssen. Dieses Zweistaatenmodell ist zunächst im völkerrechtlichen Nachbarrecht (Wasserrecht, Umweltschutzrecht) und im Wirtschaftsrecht entwickelt worden und hat dann zu seiner Generalisierung im völkerrechtlichen V erbot des Rechtsmißbauchs306 geführt. Dieses Modell findet nun eine deutliche Parallele im Rechtsinstitut der Bundestreue307 und der Gemeinschaftstreue308 im Europarecht Unter Rückgriff

303 Zur Unterscheidung zwischen dem Grund- und dem Organisationsverhältnis vgl. Bleckmann, Fr.emdherrschaft und Dekolonisation in rechtlicher Sicht, in: Verfassung und Recht in Ubersee 1971, 237. 304 Stern (Anrn. 186), Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 19, S. 644 ff.; Maunz/Zippelius (Anrn. 221), § 15 I 1; Herzog, in: MDHS (Anrn. 238), Art. 20 IV Rdnr. 13; Wernicke, in: BK (Anrn. 238), Art. 20, II 2 b.

30.l

Bleckmann (Anrn. 299), 466 f., 470.

306 Vgl. dazu Kiss, Abuse of Rights, in: EPIL, Bd. 7, 1984, S. 1 ff. 307

Vgl. Bleckmann (Anrn. 218), S. 567 ff.

176

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

auf das Zweistaatenmodell des Völkerrechts wird man das Rechtsinstitut der Bundestreue deshalb so konkretisieren müssen, daß sich hier zwei durch das Grundgesetz geschützte Interessen verschiedener Körperschaften und damit zwei Grundrechte gegenüberstehen, die dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechend untereinander abgewogen werden müssen. Daß dieser Grundsatz auch bei Eingriffen des Bundes oder eines Landes in die Rechtsspähre eines anderen Landes anzuwenden ist, ergibt sich dabei schon aus der Natur der Sache. Da sowohl die Handlungsfreiheit des Staates Aals auch die Interessen des Staates B rechtlich geschützt sind, kann eine Lösung dieser Kollision nur durch eine Abwägung der beiden Interessen erfolgen. In diese Abwägung einzubeziehen sind dabei nur die rechtlich geschützten Interessen. Rechtlich geschützt kann ein Interesse aber dann nicht sein, wenn die betreffende Maßnahme für die Durchsetzung relevanter öffentlicher Interessen überhaupt nicht geeignet oder erforderlich ist. Die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Rahmen des Instituts der Bundestreue ergibt sich gleichzeitig aber auch aus der Tatsache, daß dieser Grundsatz bei Eingriffen des Staates in die Selbstverwaltung der Gemeinden Anwendung findet, 309 die Interessen der Bundesländer durch die Verfassung aber stärker geschützt werden als die der Gemeinden. Sie beruht vor allem aber auf der fälschlicherweise verallgemeinerten, an sich richtigen Theorie, das Ganze sei immer mehr als die Summe seiner Teile. Das Zweistaatenmodell macht auch deutlich, warum sich wegen der Strukturgleichheit auch die analoge Anwendung des Völkerrechts auf die bundesstaatlichen Beziehungen aufdrängt. 310 Dabei begründet der entsprechende Grundgedanke auch die den entsprechenden Rechtsinstituten des Völkerrechts parallel laufenden Rechtssätze der Staatenimmunität und des Interventionsverbots: Nur dieses Strukturmodell erklärt nämlich, warum das aus der inneren Souveränität des Bundes fließende Recht des Bundes zur Intervention in den Landesbereich an der "äußeren" Souveränität der Länder seine Grenzen findet und deshalb auf die im Grundgesetz ausdrücklich geregelten Fälle beschränkt ist (Verfassungsvorbehalt). Das Zweistaatenmodell bietet mit seinem Abwägungsgebot ferner auch eine Lösung für die Eingriffe der Länder in die Hoheitsgewalt des Bundes (Immunität).

308 Bleckmann, Kommentierung des Art. 5 des EWG-Vertrages, in: Groeben!Boeckh/Thiesing (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 3. Aufl. 1983 und Zuleeg, Konunentierung des Art. 5 des EWG-Vertrages, in: Groe-ben!Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Konunentar zum EWG-Vertrag, 4. Aufl. 1991. 309 Z.B. VerfGH NRW, NJW 1979, 1201 ; VerfGH NRW DÖV 1980, 691 ff. , vgl. hierzu Püttner, in: Isensee/Kirchof (Anm. 185), Bd. IV, 1990, § 107 Rdnr. 24. 310

1983,

Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971, S. 65 ff.; Bothe, in: PS f. Mosler,

s. 111 (117 ff.).

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177

Auch die in der Literatur im Gegensatz zur Verteilung der Kompetenzen zwischen dem Bund und den Ländern kaum behandelte Abgrenzung der Kompetenzen der Länder untereinander ist durch Rückgriff auf die Interessentheorie zu lösen. Da die Staatsangehörigkeit auf die Personalhoheit verweist, zeigt die grundsätzliche Anerkennung der Staatsangehörigkeit auch der Länder im Grundgesetz, daß unsere Verfassung den Ländern neben der Gebiets- auch die Personalhoheit, das heißt aber die Befugnis zuweist, die Rechtsverhältnisse ihrer Staatsangehörigen außerhalb des jeweiligen Landesgebiets zu regeln; da die Länder Staaten sind, alle Staaten aber über eine Staatsangehörigkeit selbst dann verfügen, wenn sie diese gesetzlich nicht abgegrenzt haben, spielt dabei das Problem keine Rolle, daß weder der Bund noch die Länder von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich Gebrauch gemacht haben (Art. 73 Ziff. 2, 74 Ziff. 8 GG). 311 Das Völkerrecht zeigt nun deutlich, daß sehr häufig die Personalhoheit des Staats A mit der Gebietshoheit des Staates B in Widerspruch tritt. Solche Widersprüche können aus rechtstaatlichen Gründen im Bundesstaat noch weniger als im Völkerrecht geduldet werden. Kollisionsnormen für diesen Bereich hat aber weder das Völkerrecht noch das interlokale Bundeskollisionsrecht entwickelt. Das Problem könnte am besten dadurch gelöst werden, daß die Personalhoheit der Länder selbst negiert. Das ist aber wohl deshalb nicht möglich, weil die Personalhoheit die Voraussetzung dafür ist, daß die Rechtsbeziehungen im staatsfreien Raum (Hohe See, Weltraum) rechtlich überhaupt geordnet werden, auf der anderen Seite aber der Bundangesichts der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern nicht für die Gesamtheit der Materien kompetent ist, die für diese Gebiete einer Regelung bedürfen. Da aber die öffentlichen Interessen optimal-effektiv nur durchgesetzt werden können, wenn die Staaten auf Grund ihrer Gebietshoheit die Rechtsverhältnisse auf ihrem Staatsgebiet einheitlich regeln können, im Bereich des öffentlichen Rechts aber alle öffentlichen Interessen durch die Gebietshoheit des Aufenthaltsstaates durchgesetzt werden können, besteht im Innenbereich kein Bedürfnis für die Personalhoheit der Länder. Man wird deshalb davon ausgehen müssen, daß die Personalhoheit der Länder ihnen die Personalhoheit zwar umfassend zusteht, Auswirkungen grundsätzlich aber nur im außerdeutschen Rechtsraum hat, während sie im innerdeutschen Rechtsraum durch die Gebietshoheit völlig zurückgedrängt wird. Das Zweistaatenmodell beinhaltet darüberhinaus, daß wie der Bund auch die Länder den Prinzipien der inneren Souveränität entsprechend aufgebaut sind, sich also die Existenz und die Kompetenzen der juristischen Personen des

311

8 ff.

Vgl. Herdegen, in: lsensee/Kirchhoff (Anm. 185), Bd. IV, 1990, § 97 Rdnr.

12 Bleckmann

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

öffentlichen Rechts wie die gesamte Landesrechtsordnung vom Landessouverän, also vom Landesvolk ableiten lassen muß. 3. Der Grundsatz der äußeren Souveränität hat über den bisherigen dargestellten Inhalt auch zur Folge, daß die Rechtssphäre der Staaten nach außen, also dem Völkerrechtsraum gegenüber abgeschirmt wird. Diese Impermeabilität der Staaten begründet auf der einen Seite den vorbehaltenen Zuständigkeitsbereich der Staaten (domaine reserve). Auf der anderen Seite kommt diese Abgeschlossenheit darin zum Ausdruck, daß das Verhältnis zwischen Landesund Völkerrecht durchweg so gedeutet wird, daß das Völkerrecht also ohne Vermittlung des nationalen Rechts im innerstaatlichen Rechtsraum nicht wirken kann. 312 Und drittens hat der Grundsatz der Impermeabilität zur Folge, daß die nach außen abgeschlossene Einheit des Staates durch die Regierung bzw. den Außenminister vertreten wird, direkte Kontakte zwischen den Drittstaaten und den untergeordneten Behörden also ausgeschlossen werden. Fast alle diese Grundsätze finden sich auch im Bundesstaatsrecht wieder. Zwar wird für das Verhältnis zwischen der Völkerrechtsordnung und der Landesrechtsordnung der dualistische Ansatz unter dem Einfluß der alleinigen inneren Souveränität des Bundes in ein monistisches System umgewandelt. Im übrigen greifen aber die obigen Regeln ein, die insbesondere dazu führen, daß der Bund Kontakt zu den untergeordneten Behörden und zu den Gemeinden nur über die Landesregierung aufnehmen kann313 und daß der Bund die Ermächtigung zu Landesverordnungen der Landesregierung en bloc erteilen muß, also in Durchbrechung der Landesverfassung nicht einen einzelnen Minister ermächtigen darf. 314 Auch die Dreistaatentheorie findet schließlich im Bundesstaat einen breiten Anwendungsbereich, wenn auch nicht in der Form, wie sie von Hans Kelsen entwickelt worden ist. Nach Kelsen beruht die Einheit der Weltrechtsordnung auf dem durchgehenden Beziehungs-zusammenhang zwischen dem Völkerrecht und dem nationalen Recht. 315 Die Bindungswirkung des Völkerrechts beruht auf einer entsprechenden Grund-norm. Das Völkergewohnheitsrecht begründet die Existenz und die Kompe-tenzen der Staaten. Aus diesen staatlichen Kompetenzen leitet sich die Verbindlichkeit der Verfassung und damit letztlich des gesamten nationalen Rechts ab. Beim Bundesstaat stand Kelsen nun vor dem Problem, daß logischerweise nur die Kompetenzen und die Existenz des Bundes aus dem Völkerrecht

312

Vgl. nur Gloria, in: Ipsen, Völkerrecht, 3. Autl. 1990, § 72 Rdnr. 15 ff.

313

Isensee, in: lsensee/Kirchhof (Anm. 185), Bd. IV, 1990, § 98 Rdnr. 173.

314

Stern (Anm. 186), Bd. II, 1980, § 38, S. 668 .

315

Kelsen (Anm. 175), S. 328 ff.

§ 14 Zur Konstruktion des Bundesstaates

179

abzuleiten waren; die Existenz und die Kompetenz der Länder hätte dagegen aus dem Recht des Bundes fließen müssen. Das hätte dem Anliegen des Bundesstaatsprinzips widersprechend die politische Macht der Länder sehr stark geschwächt. Deshalb greift er auf die Konstruktion zurück, daß die Kompetenzen durch das Völkerrecht zunächst einem fiktiven und damit machtlosen Gesamtverband delegiert werden, von dem sie einerseits an den Bund, auf der anderen Seite an die Länder weitergeleitet werden. Bund und Länder erscheinen nach dieser Konstruktion also in einem Koordinations- und nicht in einem Subordinationsverhältnis. Allerdings ist der Kelsensche Monismus aus einer ganzen Reihe von Gründen abzulehnen. Für unser Pro-blem im Vordergrund steht dabei die Tatsache, daß die Hoheitsgewalt der Staaten originär und nicht vom Völkerrecht abgeleitet ist; das Völkerrecht begründet mit anderen Worten nicht die Hoheitsgewalt der Staaten, sondern zieht dieser Hoheitsgewalt nur "von außen" Schranken. Das folgt aus der Tatsache, daß die Völkerrechtsgemeinschaft keine hinreichend starke Zentralgewalt besitzt, um die Staaten im Rahmen der vom Völkerrecht anerkannten Kompetenzen zu halten. Die Souveränität ist nämlich ein eminent politischer Begriff, der durch rein "metaphysische" Spekulationen aus der Rechtswirklichkeit nicht hinauskatapultiert werden kann. Wenn die Kelsensche Begründung der Dreistaatentheorie nun auch nicht zu halten ist, bedeutet dies nicht notwendig, daß die Staatentheorie im Bundesstaat überhaupt keinen Anwendungsbereich zu finden vermag. In der Literatur wird zu Recht hervorgehoben, daß irrfolge der Kooperation im Bundesstaat zwischen den Ländern und zwischen Bund und Ländern als verbindlich angesehene Verträge abgeschlossen werden. 316 Die Bindungswirkung dieser Verträge kann dabei nicht auf der Rechtsordnung der Länder oder des Bundes beruhen, weil der Bund dann letztlich an die Verträge nicht gebunden wäre. Auf der anderen Seite kann wegen der gemeinsamen Unterordnung von Bund und Ländern unter die Gesamtverfassung auch nicht davon ausgegangen werden, daß diese Rechtsbeziehungen dem allgemeinenVölkerrechtunmittelbar unterliegen. Man muß also von einer innerstaatlichen dritten Rechtsordnung ausgehen, die über dem Bund und den Ländern steht und deren Träger nur ein aus Bund und Ländern gebildeter Gesamtstaat sein kann. Die vorangehenden Ausführungen können auch dahin zusammengefaßt werden, daß im Bundesstaat sich Elemente der inneren mit denen der äußeren Souveränität verbinden. Nach den Prinzipien der inneren Souveränität ist die gesamte Staatsgewalt und die Gesamtheit der Rechtsordnung vom Souverän - und das ist im Bundesstaat der Bund - abgeleitet. Der Grundsatz der inneren Souve316

12*

Rudolf, in: Isensee/Kirchhof (Amn. 185), Bd. IV, 1990, § 105 Rdnr. 49.

180

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

ränität führt deshalb, wie das französiche Beispiel deutlich zeigt, in seiner konsequenten Form letztlich zum Einheitsstaat. Nach den Grundsätzen der äußeren Souveränität stehen die nach außen abgeschlossenen Staaten sich dagegen in einem reinen Koordinationsverhältnis gegenüber: Die Staatsgewalt des Staates A findet an den Hoheitsrechten des Staates B seine Grenze. Nun wird auch deutlich, warum im Bundesstaat unitarische, aus dem Prinzip der inneren Souveränität abgeleitete Organe wie der Bundestag neben föderalen Organen wie dem Bundesrat stehen, welcher weitgehend einer völkerrechtlichen Regierungskonferenz ähnelt. Daß auch in solchen Fällen grundsätzlich von der Landeszuständigkeit ausgegangen werden muß, ergibt sich insoweit aus dem Demokratieprinzip selbst, da, wenn die Entscheidung vom Bund ausgeht, die Interessen des gesamten Bundesvolkes betroffen werden. Die in Artikel 30, 32 und 28 II GG enthaltenen Regeln wird man deshalb dahin verallgemeinem müssen, daß das Grundgesetz im Verhältnis Bund-Länder-Kreise-Gemeinden vom Subsidiaritätsprinzip ausgeht, welches seinerseits wiederum durch das Demokratieprinzip begrenzt wird: Die größere Nähe der staatlichen Entscheidung begründet wegen der wachsenden Transparenz ein größeres politisches Engagement der Bürger und damit eine stärkere Kontrolle, welche die Übereinstimmung der Entscheidung mit der subjektiven Wertordnung der Grundrechtsträger sichert. V. Ergebnisse und Folgerungen Die obigen Ausführungen haben schon erkennen lassen, daß, wenn man auf die Interessentheorie abstellt, auch das Bundesstaatsprinzip nur als besondere Ausdrucksform des Demokratieprinzips erscheint; zumindest aber hat das Bundesstaatsprinzip dieselben Ziele wie das Demokratieprinzip. 1. Im Bundesstaat wird im Gegensatz zum Einheitsstaat das Volk des Zentralstaates nicht nur in seiner Einheit begriffen, sondern auch in der Vielheit der Landesvölker verstanden. Besonders deutlich wird dies in Art. 28 I GG, der von "dem" Volk in den Ländern und in den Gemeinden, also gleichzeitig von der Einheit und Vielheit des Volkes und der Völker ausgeht. Auch im Europäischen Gemeinschaftsrecht wird diese doppelte Sicht des Volkes deutlich: Nach Art. 147 EG-Vertrag besteht das Parlament aus den Vertretern der "europäischen Völker", die nach der Präambel im Laufe des Integrationsprozesses sich zu einer neuen, übergeordneten Einheit verbinden sollen. Diese Verdoppelung des Volksbegriffs bestätigt, daß es in einem Bundesstaat sowohl nationale als auch Regionalinteressen gibt. Angesichts dieser Einheit des Volkes und der Mehrheit der Landesvölker verlangt das Demokratieprinzip

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

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einen Aufbau des Staates, welcher dieser doppelten Ausrichtung des Volksbegriffs gerecht wird. 2. Das hinter dem Demokratiebegriff stehende Selbstbestimmungsrecht des Volkes verlangt der Kautsehen Formel der Menschenwürde entsprechend, daß an der staatlichen Entscheidung die Individuen mitwirken, die durch diese Entscheidungen betroffen werden. Die Formel muß zugespitzt dahin verstanden werden, daß an einer solchen Entscheidung jeweils nur die Individuen mitwirken, die durch die jeweilige Entscheidung betroffen werden. Wie wir gesehen haben, gibt es in jedem Staat aber wohl allen Bewohnern gemeinsame Interessen als auch regionale Interessen, die nur der Bevölkerung eines Landes gemeinsam sind. Das Demokratieprinzip verlangt in dieser Sicht, daß die Bevölkerung des Gesamtstaates nur an den Entscheidungen beteiligt wird, welche die nationalen Interessen der Gesamtbevölkerung betreffen. Entscheidungen, die sich nur auf bestimmte Regionalinteressen beziehen, bedürfen nur der Zustimmung der Bevölkerung des betreffenden Landes, weil sonst dem Demokratieprinzip widersprechend eine Fremdherrschaft vorliegt. 3. Die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung als primäres Ziel des Demokratieprinzips wird nur gewährleistet, wenn beim Aufbau des Staates berücksichtigt wird, daß es wohl nationale als auch regionale Interessen gibt. Auf der einen Seite soll bei den Entscheidungen über nationale Interessen die regionalen Interessen der Landesbevölkerungen berücksichtigt werden: Dem dient die Beteiligung des Bundesrats an der Ausübung der Kompetenzen durch den Bund. Auf der anderen Seite haben wir gesehen, daß eine richtige Entscheidung voraussetzt, daß der Gesetzgeber die Interessen der Individuen im Lichte der Werteordnung dieser Individuen miteinander abwägt. Dieses Prinzip aber wird verletzt, wenn an der Entscheidung auch Individuen beteiligt werden, deren Interessen durch die staatliche Entscheidung überhaupt nicht betroffen werden. Hierauf beruht die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern.

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip317 I. Die theoretischen Grundlagen des Gewaltenteilungsprinzips Das Gewaltenteilungsprinzip findet seine letzten Ursprünge in der Theorie der gemischten Verfassung, die auf Aristoteles zurückgeht und von Platon,

317 Die folgenden Ausführungen sind eine leicht modifizierte Version der Seiten 244-265 meines Lehrbuches Staatsrecht I- Staatsorganisationsrecht, 1993. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Carl Heymanns Verlages .

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

Po1ybios, Cicero, Thomas von Aquin und zahlreichen englischen Autoren vom 16. bis 18. Jahrhundert weiterentwickelt wurde. Handelte es sich bei Aristoteles noch darum, durch die Beteiligung aller Klassen am Staat deren Interesse an der Aufrechterhaltung der Verfassung zu wecken und so die Stabilität der Regierung zu sichern, wurde die Theorie der gemischten Verfassung spätestens seit Thomas von Aquin zur Bändigung der Staatsgewalt im Interesse des Individualschutzes bemüht. Auf dieser Grundlage baute die in Anlehnung an die idealisierte britische Verfassung der damaligen Zeit entwickelte Gewaltenteilungslehre von Montesquieu auf. 318 1. Nach Montesquieu sind die verschiedenen staatlichen Funktionen der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung auf unterschiedliche, strikt voneinander getrennte Staatsorgane zu verteilen. Diese Gewaltenteilung führt auf einem zweifachen Wege zur Mäßigung der Staatsgewalt: Einerseits wird die absolute Gewalt und damit die Möglichkeit eines absoluten Machtmißbrauchs vereitelt. Allerdings befürwortete schon Montesquieu nicht die damit angedeutete strikte Gewaltenteilung, sondern gleichzeitig eine Gewaltenverschränkung. Denn die Mäßigung der Staatsgewalt durch den Rückgriff auf den Gedanken, daß jedes Staatsorgan die absolute Macht erringen und sein egoistisches Machtstreben deshalb nur durch den ebenfalls durch das Streben nach Macht der anderen Organe in Zaume gehalten wird ("le pouvoir arrete le pouvoir") läßt sich nicht verwirklichen, wenn die verschiedenen Staatsgewalten völlig getrennt voneinander ihrenjeweils eigenen Funktionen völlig unabhängig und selbständig nachgehen: Dann könnten sie im Rahmen ihrer Funktionen ihre Macht unbegrenzt ausüben und auch einer Überschreitung dieses Funktionskreises steht dann nichts mehr im Wege. Die Macht der Staatsorgane sollte vielmehr nach Montesquieu dadurch beschränkt werden, daß auf der einen Seite für das Gesetz das Zusammenwirken des demokratisch gewählten Unterhauses mit dem aristokratisch besetzten Oberhaus erforderlich ist, auf der anderen Seite der Monarch als Spitze der Exekutive gegen die Gesetze ein Veto einlegen kann. Andererseits sollte die Macht der Exekutive durch die Kontrolle des Parlaments gebremst werden. Da die Gerichte nur das Gesetz ausführen und deshalb nach Montesquieu keine politische Bedeutung haben (sie sind nur der "Mund des Gesetzes" und deshalb "en quelque facon nulle"), war eine Beschränkung der Gerichtsbarkeit durch die anderen Gewalten im System Montesquieu nicht erforderlich. Mit diesem System läßt sich also durchaus auch die Kontrolle des Gesetzgebers und der Exekutive durch die Gerichtsbarkeit und die umgekehrte Kontrolle der Gerichtsbarkeit durch Parlament und Exekutive sowie die Verbindung von Exekutive und Parlamentsmehrheit in der modernen Parteiendemokratie vereinbaren.

318

1972.

Vgl. Granpre Mutiere, La theorie de la Constitution anglaise chez Montesquieu,

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

183

In der Tat kann, wenn die Verwaltung und Rechtsprechung den Gesetzgeber nicht kontrollieren können, zumindest der Gesetzgeber alle Staatsgewalt an sich ziehen. Umgekehrt besteht, wenn die Gesetzgebung durch die Verwaltung und die Richter kontrolliert werden darf, die Gefahr einer unbeschränkten Ausdehnung dieser beiden Organe. Nur durch gegenseitige Kontrollen können also die eine wie die andere Gewalt in ihrem Funktionsbereich gehalten werden. Dabei hat die Machtbalance zunächst einmal zur Folge, daß wegen des Widerstands der anderen Staatsgewalten etwa der Gesetzgeber nicht alle Macht im Staate an sich reißen und damit eine Diktatur errichten kann, die nach aller Erfahrung zum Mißbrauch führt. Das Staatsorgan A wird, wie schon Montesquieu für die Begründung des V etarechts des Königs dargelegt hat, in erster Linie seine verfassungsrechtlichen Mitwirkungsrechte verteidigen. Da nun bei einer Mitwirkung von A das Organ B gezwungen wird, auch die von A repräsentierten und nicht nur die eigenen Interessen bei der Entscheidung zu berücksichtigen, weil sonst diese Entscheidung nicht zustandekommt, hat auch schon die Machtbalance zur Folge, daß die Entscheidung breitere Interessen berücksichtigt und damit "richtiger" wird. Wie Komad Hesse richtig gesehen hat, haben solche Mitwirkungsrechte aber auch zur Folge, daß sich durch das Zusammenwirken der verschiedenen Organe eine größere staatliche Einheit ergibt. Soweit nämlich beide Organe von der Notwendigkeit ausgehen, daß überhaupt eine Entscheidung gefunden wird, sind sie gezwungen, sich an der Entscheidungstindung zu beteiligen und einen Kompromiß einzugehen, der auch die von den anderen Organen vertretenen Interessen berücksichtigt. Das aber bedeutet, daß die Entscheidung letztlich nicht nur durch ein Organ gefunden wird, sondern im Zusammenwirken mehrerer Organe und daß so schließlich die Rechtsordnung auf einer Entscheidung des ganzen Volkes beruht. Dabei haben wir aber schon gesehen, daß wenn diese Kooperation nicht funktioniert, die Einheit des Staates auch verloren gehen kann. Da jedes Staatsorgan in dieser Sicht die absolute Macht im Staate zu erringen sucht, wird es auf der einen Seite die eigenen Mitwirkungsrechte an der staatlichen Entscheidung verteidigen, sich auf der anderen Seite gegen alle Versuche der anderen Organe stemmen, die absolute Macht zu erringen. Es bestehen damit starke Chancen auch dafür, daß alle Staatsorgane versuchen werden, die anderen Staatsorgane generell im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Befugnisse zu halten. Eine absolute Garantie für die Einhaltung etwa der Grundrechte besteht allerdings auch dann nicht, da im Gegensatz zu den Individuen, die in den Staatsorganen repräsentierte Machtelite in der Regel kein eigenes Interesse an der Durchsetzung auch dieser Grundrechte haben wird. Die Grundrechte werden auch durch das Gewaltenteilungsprinzip deshalb nur geschützt, wenn und soweit das Handeln der anderen Staatsorgane der Kontrolle durch die Gerichte unterliegt und die Gerichte ihrerseits an den Maßstab der Grundrechte gebunden sind.

184

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

Diese Gedanken Montesquieus wurden von Madison in den zur Verteidigung der neuen amerikanischen Bundesverfassung 1787 veröffentlichen Federalist Papers näher entwickelt. 319 Madison griff auf das marktwirtschaftliche Konkurrenzmodell zurück, daß auch dem Mehrparteiensystem zugrunde liegt: Grundsätzlich verfolgt jedes Staatsorgan nur seine eigenen egoistischen Interessen an der Machterweiterung. Diese Machterweiterung und damit der Machtmißbrauch können nur verhindert werden, wenn dasOrganAauf die Konkurrenz des Staatsorgan B stößt, das ebenfalls seine Macht ausdehen will und sich deshalb der Machterweiterung durch das Organ A entgegenstemmt. Diesen Prinzipien liegt offensichtlich der von Großbritannien zur damaligen Zeit verfolgte Gedanke des politischen Machtgleichgewichts in den internationalen Beziehungen zugrunde. Damit haben wir schon angedeutet, daß die Gewaltenteilung bei ihrer extremsten Interpretation eine Lähmung des staatlichen Handeins zur Folge haben kann. Denn dieser Grundsatz verlangt dem Souveränitätsprinzip widersprechend, daß die Gesamtheit der Staatsaufgaben auf voneinander unabhängige Organe verteilt wird. In einem dualistischen System, in welchem jede Staatsgewalt den ihr zugewiesenen Teil der staatlichen Aufgaben ohne Mitwirkung der anderen Staatsgewalten autark erfüllen kann, begründet das Gewaltenteilungsprinzip dabei die Gefahr einer Lähmung des Staates offensichtlich nicht. Führt aber das Gewaltenteilungsprinzip zu einer Verschränkung der Gewalten oder wird eine solche Gewaltenverschränkung durch die auf die in Art. 72 II GG umrissenen sozialen Zwänge bewirkte Kooperation von Bund und Ländern, zwischen den Ländern und den Organen des Bundes herbeigeführt, etwa weil eine optimale Durchsetzung der Staatsaufgaben nur noch durch eine Zusammenarbeit möglich ist, entsteht insbesondere bei mangelndem Konsens über die zu verwirklichenden Werte in einer Situation, in welcher es infolge des Gewaltenteilungsprinzips zu einer Letztentscheidung berufene, hierarchisch übergeordnete Zentralbehörden nicht gibt, die Gefahr einer "Blockierung" des Staates. Die verschiedenen liberalen Richtungen des 18. und 19. Jh. haben diese Gefahr durchaus gesehen. Wenn sie sich dennoch für eine strikte Durchsetzung des Gewaltenteilungsprinzips eingesetzt haben, beruhte dies nicht auf einem überzogenen Optimismus. Ganz im Gegenteil war dieser Nebeneffekt des Gewaltenteilungsprinzips sogar eines der wesentlichsten Ziele des Liberalismus, weil diese Lähmung zu dem für wünschenswert geachteten Ergebnis führte, den Umfang der Staatstätigkeit auf ein Minimum zu begrenzen und so die Eingriffe des Staates in die Grundrechte und damit in den Selbstregulierungsprozeß der Gesellschaft zu beschränken. Auch die amerikanische Verfassung hat aus ähnlichen Gründen die Gewaltenteilung auf der Bundesebene vor allem durch die Errichtung des Präsidentlairegimes bewußt über319

Hamilton/Madison/Jay (Anm. 64).

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

185

zogen, um die Handlungsfähigkeit des Bundes und damit Eingriffe des Bundes in den Länderbereich auf ein Minimum zurückzuführen. Hat dieser Aspekt des Gewaltenteilungsprinzips auch die dem Rechtsstaatsprinzip günstige Auswirkung, Grundrechtseingriffe des Staates zu beschränken, ist doch angesichts des übrigen Inhalts des Grundgesetzes heute nicht mehr davon auszugehen, daß unsere Verfassung auch diesen Nebenzweck bewußt anstrebt. Der im Sozialstaatsprinzip, in den Grundrechten und in Art. 72 II Ziff. 1 GG verankerte Grundsatz der optimal-effektiven Erfüllung der Staatsaufgaben und damit der maximalen Befriedigung der durch die klassischen und vor allem die sozialen Grundrechte geschützten Privatinteressen verlangt vielmehr einen Staatsaufbau, vor allem aber eine Verteilung der Zuständigkeiten und die Entwicklung von Verfahrensregeln, die sicherstellen, daß überhaupt die für die Durchsetzung der Interessen notwendigen staatlichen Entscheidungen gefällt und diese Entscheidungen strikt durchgesetzt werden. Die Verfassungslehre des Ostblocks hat aus diesen Gründen das Gewaltenteilungsprinzip strikt abgelehnt. Die westliche Verfassungstradition und die Tatsache, daß auf das Gewaltenteilungsprinzip aus Gründen des Grundrechtsschutzes nicht verzichtet werden kann, verbieten es nun anzunehmen, daß das Souveränitäts- und das Sozialstaatsprinzip es ausschließen, die insoweit ja keine ausdrückliche Regelung enthaltende Verfassung so zu interpretieren, daß sie die Gewaltenteilung nicht verankert. Im Einzelfall ist das Gewaltenteilungsprinzip aber stets mit dem Souveränitäts- und dem Sozialstaatsprinzip abzuwägen. Insbesondere verlangen diese Grundsätze auch, wie wir dies im Abschnitt über den kooperativen Föderalismus gezeigt haben, daß bei der Zusammenarbeit von Bund und Ländern auf der Ebene der Koordination dem Bund eine entsprechende letzte Lenkungs- und Koordinationsbefugnis zufällt. Im Gegensatz zu der weiter unten entwickelten Auffassung des BVerfG stellen die strikte Gewaltenteilung und die Machtverschränkung letztlich nicht zwei verschiedene Prinzipien dar. Soweit sich das Gewaltenteilungsprinzip auf den Grundsatz der Machtbalance stützt, fordert vielmehr der Gedanke der Gewaltenteilung die Machtverschränkungen selbst. 320 Allerdings funtioniert das Gewaltenteilungsprinzip in diesem Sinne nicht mehr, wenn intolge der Gewaltenverschränkung ein Gewaltmonopol oder auch nur ein Machtübergewicht eines der Staatsorgane sich entwickeln könnte. Deshalb hat das BVerfG Recht, wenn es betont, das Gewaltenteilungsprinzip sei dann verletzt, wenn eines der drei Staatsorgane ein politisches Übergewicht erziele. Grundsätzlich wird man also auch an einer gewissen Aufgabenverteilung schon aus dem Gesichtspunkt der Machtbalance festhalten müssen: "Im Kern" dürfen, wie das BVerfG mehr-

320

Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 230 ff.

186

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

fach entschieden hat, die Aufgaben eines Staatsorgans nicht von den anderen Organen übernommen werden. 2. Das Gewaltenteilungsprinzip beruht aber auch auf einem zweiten Grundgedanken, der nicht nur wie die Machtbalance die Staatsgewalt generell mäßigen, sondern die Grundrechte der Individuen ganz konkret vor Eingriffen schützen will und deshalb dem subjektiven Rechtsstaatsprinzip näher verwandt ist als der allgemeine Gedanke der Machtbalance: Nach dem Gewaltenteilungsgrundsatz werden die Gesetze vom Parlament erlassen und sind Verwaltung und Rechtsprechung grundsätzlich auf die Ausführung dieser Gesetze beschränkt. Wie wir beim Gesetzesvorbehalt gezeigt haben, stellt die insbesondere von Jean-Jacques Rousseau so stark unterstrichene Allgemeinheit des Gesetzes, die Öffentlichkeit des parlamentarischen Verfahrens und vor allem die Rückbindung des Parlaments an den Willen der Grundrechtsträger eine gewisse Garantie für eine sachlich-gerechte Abwägung der durch die sozialen und klassischen Grundrechte geschützten Interessen der Bürger und insbesondere für die Ausschaltung persönlicher Motive dar, die bei der gesetzlich nicht gebundenen Regelung von Einzelfallen so gefährlich werden können. Wenn nun die Verwaltung und die Gerichte grundsätzlich auf die Ausführung der Gesetze beschränkt sind, besteht auch bei diesen Organen die Gefahr des Eingreifens persönlicher Erwägungen kaum noch. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen selbst wieder der Kontrolle der Gerichte, der Obergerichte und letztlich des BVerfG unterworfen werden. Die sachliche Richtigkeit der Entscheidungen wird dabei durch die auf die Funktion des Parlaments (Geschäftsordnung) und der Verwaltung bzw. der Gerichte ausgerichteten besonderen Verfahrensordnungen verstärkt. Damit besteht, wie das BVerfG in zahlreichen Entscheidungen ausdrücklich dargelegt hat, zwischen dem Gesetzesvorbehalt und dem Gewaltenteilungsprinzip in dieser Ausformulierung eine enge Beziehung. Während das auf den Gedanken der Machtbalance beruhende Gewaltenteilungsprinzip mit der Machtverschränkung ein Abweichen von der strikten Gewaltenteilung verlangt, wird durch die auf den Grundrechtsschutz und die Richtigkeit der Entscheidung gerichtete Funktion des Gewaltenteilungsprinzips eine möglichst strikte Aufgabentrennung gefordert. Damit stehen diese verschiedenen Ausformungen des allgemeinen Gewaltenteilungsprinzips in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Dabei hat schon Montesquieu zumindest implizit gesehen, daß die Beschränkung einerseits des Gesetzgebers auf allgemeine Gesetze, andererseits der Verwaltung und Gerichtsbarkeit auf die Durchführung dieser Gesetze die Einhaltung der Grundrechte sichert. Ohne Rückgriff auf diese vom Prinzip des Gesetzesvorbehalts geforderte Aufspaltung der Funktionen zwis-

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

187

chen den drei Gewalten hat nun Konrad Hesse321 zur Ausfüllung des Gewaltenteilungsprinzips auf den Gedanken der Funktionenteilung zurückgegriffen. Nach Hesse verlangt jede der drei Staatsfunktionen ein bestimmtes Verfahren, einen bestimmten Typ und Status des jeweiligen Amtsträgers. Diese von der Verfassung errichtete institutionelle Garantie für die Richtigkeit der Entscheidung würde unterlaufen, wenn etwa die Rechtsprechung vom Parlament oder von der Exekutive wahrgenommen wird. Nun gibt es wie die Ausübung der Verordnungsermächtigung durch die Verwaltung und der freiwilligen Gerichtsbarkeit durch die Rechtsprechung zeigt, breite Bereiche der Staatstätigkeit, die im Sinne dieser Funktionenteilung ordnungsgemäß nicht nur von einer, sondern von mehreren Gewalten wahrgenommen werden können. Die Theorie Hesses führt damit also zu einer gewissen Auflockerung der strikten Gewaltenteilung. Darüber hinaus dienen nach Hesse die Grundsätze der Trennung und der Verschränkung der Gewalten nicht oder sogar nicht einmal in erster Linie dem Schutz der Individualgrundrechte; sie sollen vielmehr vor allem die Einheit des Staates begründen. Darüber hinaus hat das Gewaltenteilungsprinzip zahlreiche weitere Effekte und damit wohl auch Ziele: 322 "Wird der Gewaltenteilungsgrundsatz in dieser Weise als ein die ganze Verfassung durchziehendes Prinzip der Konstituierung der staatlichen Gewalten, der Zuordnung, die sie zur Einheit verbindet, der Begrenzung und Kontrolle der realen Machtfaktoren im Verfassungsleben verstanden, so erweist er sich in der Tat als das "tragende Organisationsprinzip" der Verfassung, und zwar nicht, weil er Ausdruck eines überzeitlichen, in seiner Bedeutung allerdings durch die Brechungen des positiven Verfassungsrechts abgeschwächten Dogmas ist, sondern wegen seiner konkreten Wirkungen in der Wirklichkeit verfassungsmäßig geordneten staatlichen Lebens. In dieser umfassenden Funktion kann Gewaltenteilung nicht allein der rechtsstaatlichen Ordnung zugeordnet werden, wie dies der überkommenen und heute vorherrschenden Auffassung entspricht, nicht nur, weil sie mehr ist als ein Mittel der Sicherung individueller Freiheit, sondern auch, weil der Schutz individueller Freiheit durch Balancierung der Gewalten nicht allein im Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes bewirkt wird. Alle ihre Elemente sind vielmehr, wenn auch in unterschiedlicher Akzentuierung, wesentliche Bestandteile der demokratischen, der rechtsstaatliehen und der bundesstaatliehen Gesamtordnung des Grundgesetzes, deren Zusammenhang und Wechselbedingtheit auch in diesem Tatbestand sichtbar werden. "

3. Wir haben gezeigt, daß nach der Ansicht des BVerfG der Gesetzesvorbehalt der Richtigkeit der Entscheidung und damit auch der Suche nach dem alle öffentlichen Interessen miteinander abwägenden öffentlichen Gesamtin321

Hesse (Anm. 195), Rdnr. 475 ff.

322

Hesse (Anrn. 195), Rdnr. 497 und 499.

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

teresse des Volkes dient. Dasselbe gilt für das Gewaltenteilungsprinzip. Einerseits führt die Allgemeinheit des Gesetzes, die Öffentlichkeit des Verfahrens und die Rückbindung des Parlaments an den Wählerwillen zu einer sachlich-gerechten Abwägung auch der Allgemeininteressen untereinander. Auf der anderen Seite wird gerade durch die Aufteilung der Funktionen zwischen den Staatsgewalten die Richtigkeit der Entscheidung im Einzelfall gewährleistet. Und drittens führt die Aufteilung der Vertretung der öffentlichen Interessen auf verschiedene Repräsentanten (Körperschaften, Minister, Behörden, Gerichte usw.) und deren Beteiligung im politischen Willensbildungsprozeß dazu, daß in diesem Prozeß all diese Interessen ihrem rechtlichen Gewicht entsprechend hinreichend berücksichtigt werden. Von diesem Gesichtspunkt aus fordert das Gewaltenteilungsprinzip auch, daß die Verwaltung nicht mehr als ein einheitlicher Block begriffen wird, sondern daß insbesondere die von der Verfassung besonders geschützten Interessen verschiedenen Ministern, Behörden, Körperschaften usw. zugeordnet werden. Die im GG verankerten Vorrechte bestimmter Minister, Ausschüsse der Länder und Gemeinden usw. stellen in dieser Sicht eine Konsequenz auch des Gewaltenteilungsprinzips dar. 4. Daß das GG auch diese Sicht des Gewaltenteilungsprinzips zugrunde legt, ergibt sich aus der Verankerung des Organ- und des Zwischenländerstreits in Art. 93 GG. Damit wird aber gleichzeitig festgelegt, daß das Gewaltenteilungsprinzip nicht nur dem Schutz der Individual- und der Allgemeininteressen des Volkes, sondern auch dem Schutz der Interessen dieser Organe und der Allgemeininteressen des Volkes selbst dient. Besonders deutlich wird dies im französischen Verfassungsrecht, wo als Reaktion auf die Gesetzeskontrolle der Gerichte im Ancien Regime das Parlament die Souveränität des Volkes und damit als Repräsentant der Nation des Parlaments verstärken wollte und das Gewaltenteilungsprinzip deshalb einseitig dahin verstanden wird, daß es Eingriffe der Gerichte in Tätigkeit und Aufgaben von Parlament und Verwaltung verbietet. Deshalb wird die Rechtskontrolle der Verwaltung vom Conseil d'Etat übernommen, der jedenfalls formell kein Gericht, sondern Organ der Verwaltung ist; deshalb beschränkt sich auch die Kontrolle des französischen Verfassungsrechts auf die Gesetzesentwürfe und erstreckt sich nicht auf die Gesetze, sobald diese verabschiedet sind. Im deutschen Recht führt der Gedanke, daß das Gewaltenteilungsprinzip auch den Vorrang des Gesetzgebers vor den Gerichten und der Verwaltung und damit das Demokratie- und Souveränitätsprinzip schützen soll, zu dem in Art. 100 I GG verankerten Gedanken, nach dem die Gesetzeskontrolle dem politisch gewählten BVerfG vorbehalten ist. 5. Wir haben schon gesehen, daß der auf die Richtigkeit und damit die Durchsetzung des Allgemeininteresses bezogene Gewaltenteilungsgrundsatz verlangt, daß das Parlament und die Verwaltung in ihre "Einzelelemente" zerlegt werden: durch die Zusammenarbeit der Minister und Behörden wird

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

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das öffentliche Gesamtinteresse gefunden. Dieser Gedanke beruht auf der neueren Erkenntnis der Po1itikwissenschaft, daß zumindest in gewissen Bereichen die Kooperation zu besseren, richtigeren Entscheidungen führt als die Subordination, weil der "Fürst" grundsätzlich seinen egoistischen Eigeninteressen und nicht den Allgemeininteressen folgt und natürlich nicht eine alle Probleme umfassende Sachkenntnis besitzt. Auf diesen Grundsätzen beruht auch der kooperative Föderalismus, wie der Bundesstaatsgedanke sich heute auch auf die anderen oben entwickelten Funktionen des Gewaltenteilungsprinzips stützt. In neuerer Zeit hat sich darüberhinaus der Gedanke durchgesetzt, daß auch aus einem zweiten Grunde die einheitlichen Staatsorgane in ihre Teilelemente zerlegt werden müssen: In der Tat verlangt der Schutz der Grundrechte auch, daß dem Bürger niemals der Staat in seiner Omnipotenz und Allwissenheit, sondern immer nur in ihrer Zuständigkeit und in ihrem Wissen beschränkte einzelne Behörden und Gerichte entgegentreten. 323 So dürfte es gegen das Gewaltenteilungsprinzip verstoßen, wenn eine bestimmte Behörde gegenüber dem Bürger alle staatlichen Zuständigkeiten in sich vereinte oder der Staat auch hinsichtlich des Datenschutzes als Einheit behandelt wird, innerhalb der der Austausch von Daten unbeschränkt zulässig ist. Eine solche Aufsplitterung der staatlichen Einheit ist auch deshalb erforderlich, weil sonst die Bindung des Staates an das Recht nicht erklärt werden kann; sie wird deshalb auch vom Rechtsstaatsprinzip generell verlangt. In der Tat kann entgegen einer weit verbreiteten, insbesondere von Georg Jellinel224 vertretenen Auffassung des 19. Jh. diese Bindung nicht auf eine Selbsttindung des souveränen Staates zurückgeführt werden, weil dann der Staat seine Souveränität verlöre, die nach Jean Bodin325 gerade die Bindungslosigkeit des Souveräns voraussetzt. Deshalb ist der Lösung von Richard Thoma326 der Vorzug zu geben, nach dem das Individuum sich der Behörde gegenüber auf die Bindung dieser Behörden gegenüber dem Staat berufen kann, das Individuum damit letztlich immer einer dem Souverän untergeordneten und damit gebundenen Behörde und nie dem Staat als Einheit und damit als ungebundenen Souverän gegenübertritt. Das Gewaltenteilungsprinzip verbietet in dieser Sicht eine zu starke Machtund Zuständigkeitskonzentration bei einer einzelnen Behörde. Ob damit auch,

323

Schlink, Die Amtshilfe, 1982.

324

Jellinek (Anm. 138).

325

Bodin (Anm. 42).

Thoma, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte und Pflichten, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 607 ff. 326

190

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

wie in der Lehre manchmal angenommen wird, 327 die Verfassung dem Bürger in Analogie für die in Art. 101 verankerte Lage bei den Gerichten ein Recht auf den "gesetzlichen Beamten" verleiht, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls verbietet neben dem Rechtstaatsprinzip auch das Gewaltenteilungsprinzip, daß Zuständigkeiten in der Materie A ausgeübt werden, um Pflichten in der Materie B zu sanktionieren und durchzusetzen. 6. Die klassische Theorie der gemischten Staatsverfassung und der Gewaltenteilungsgrundsatz bei Montesquieu beruhten noch auf dem Gedanken der Beteiligung der verschiedenen Bevölkerungsklassen an den verschiedenen Staatsorganen. Der Monarch bildete die Spitze der Exekutive, die Aristokratie besetzte das Oberhaus, das Volk war im Unterhaus vertreten. Die rechtliche Trennung beruhte also auf der strikten soziologischen Trennung der Klassen. Da diese verschiedenen Klassen die Macht im Staate erringen wollten, führte das Konkurrenzmodell notwendig zur gegenseitigen Beschränkung der Macht. Eine solche Konstruktion widerspricht heute dem Gleichheitssatz und dem Prinzip des republikanischen Staates, der eine Monarchie ausschließt. Deshalb muß im heutigen Staat diese soziologische Trennung künstlich dadurch hergestellt werden, daß die Staatsorgane jeweils in anderen Verfahren bestellt werden und so das Volk in einer je unterschiedlichen Zusammensetzung repräsentieren. Die Erfahrung hat gezeigt, daß auch so künstlich geschaffene Staatsorgane wie etwa der Bundestag und der Bundesrat danach streben, ihre Macht auszuweiten und damit die Prämisse des als Machtbalance verstandenen Gewaltenteilungsprinzips, die Konkurrenz der nach Macht strebeneo Staatsorgane, gewahrt ist. Die Machtbalance im Sinne des Gewaltenteilungsprinzips funktioniert in der Tat nur, wenn die Staatsorgane nicht nur rechtlich, sondern auch soziologisch hinreichend vomeinander getrennt sind. Sie funktioniert deshalb nur noch beschränkt im modernen Parteiensystem, in welchen dieselben Regierungsparteien starken Einfluß auf alle drei Gewalten besitzen, wenn auch die Mitglieder des Bundesrates die Interessen ihrer Länder auch gegen den Willen ihrer im Bundestag vertretenen Parteikollegen durchzusezten bemüht sind. Die Mäßigung der Staatsgewalt wird deshalb heute weniger durch die Konkurrenz zwischen den Parteien erzielt. Ebenso wird die Macht der Interessenverbände und die wirtschaftliche Übermacht durch das Konkurrenzsystem in Wirtschaft und Gesellschaft zurückgedrängt. Es liegt deshalb nahe, auch diese für den Grundrechtsschutz heute besonders wichtigen Konkurrenzverhältnisse in Gesellschaft und Wirtschaft durch das Gewaltenteilungsprinzip rechtlich abzudecken. 327 V gl.

dazu Muß gnug, Das Recht auf den gesetzlichen Verwaltungsbearnten, 1970.

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

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7. Das Gewaltenteilungsprinzip steht, wie wir das oben schon kurz angedeutet haben, in einer gewissen Spannung zum Souveränitätsprinzip und zum Demokratieprinzip. Nur formell werden diese Prinzipien gewahrt, wenn sich alle Staatsorgane letztlich auf den Willen des Volkes zurückführen lassen. Denn nach Bodin soll das Souveränitätsprinzip vor allem die Funktionsfähigkeit des Staates insbesondere bei einer Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gewährleisten (Bürgerkrieg). Sicherlich ist- insoweit wird man Bodin Recht geben müssen - die Funktionsfähigkeit des Staates am besten gewahrt, wenn die Gesamtheit der Staatsgewalt in den Händen eines möglichst einheitlichen Organs- beim Fürsten und zur Not beim Parlament- liegt. Wieweit sich eine Verfassung das Abrücken vom Souveränitätsprinzip gestatten kann, um im Interesse der Richtigkeit der Entscheidung das Demokratieprinzip und die Gewaltenteilung zu verwirklichen ist eine Frage der politischen Situation. In der Bundesrepublik Deutschland bestehen insoweit wegen der Entwicklung zum unitarischen Bundesstaae28 und der Tatsache, daß die Staatsgewalt weit-gehend in der Hand nur weniger großer Volksparteien liegt, recht günstige Voraussetzungen, die eine Ausweitung des Gewaltenteilungsprinzips gestatten. Ganz anders ist die Lage etwa in den afrikanischen Staaten die trotz des starken Bemühens der Regierungen um eine soziologische Verankerung des Gedankens der einheitlichen Nation (nation-building) auch heute noch irrfolge der Stammesgegensätze soziologisch so stark gespalten sind, daß die für die Entscheidungstindung notwendige Einheit nur durch Rückgriff auf einen Diktator und auf die Einheitspartei aufrecht erhalten werden kann: In solchen Gemeinwesen kann das Gewaltenteilungsprinzip jedenfalls voll nicht durchgesetzt werden. Grundsätzlich wird man aber bei der Auslegung des Gewaltenteilungsprinzips deshalb immer auch das Problem der Funktionsfähigkeit des Staates im Auge haben müssen. 8. Wir haben schon gezeigt, daß die verschiedenen Grundlagen des Gewaltenteilungsprinzips eine unterschiedliche Bestimmung seines Inhalts fordern können, daß zwischen diesen verschiedenen Ausprägungen des einheitlichen Prinzips also eine Spannungslage besteht. Darüber hinaus kann man sich denken, daß das Gewaltenteilungsprinzip in einer Situation, in welcher die Regierungspartei bestimmenden Einfluß auf alle drei Gewalten erhält, dadurch verstärkt werden muß, daß man es heute auch auf neue soziologische Aspekte bezieht. So wird heute die Staatsgewalt vor allem dadurch gebändigt, daß die Parteien, die jeweils die volle Macht im Staat anstreben, im Konkurrenzsystem des Mehrheitsparteiensystems durch das Machtstreben der anderen Parteien beschränkt wird. Das Mehrparteiensystem beruht in dieser Sicht nicht nur auf Art. 9 und 21 GG, sondern auch auf dem rechtsstaatliehen Gewaltenteilungsprinzip. 328

Hesse (Arun. 242).

192

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

9. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß durch die Machtbalance zwischen den Staatsorganen nicht nur allgemein eine Mäßigung der Staatsgewalt, sondern auch erreicht wird, daß ohne Anwendung von Zwang die Staatsorgane grundsätzlich die Verfassung einhalten. Dafür sind, wie die Gleichschaltung der Staatsorgane zu Beginn des Dritten Reiches und heute die Tatsache zeigt, daß die Regierungspartei einen starken Einfluß in allen Staatsorganen besitzt, aber die Prinzipien der Gewaltenteilung nicht ausreichend. Erforderlich ist auf der einen Seite, daß infolge der Entscheidungen des BVerfG die Verfassungslage eindeutig wird. Die Einhaltung der Entscheidungen des BVerfG kann aber letztlich nur durch das Prinzip "Macht nur durch das Recht" gesichert werden. Dieses Prinzip beinhaltet, daß die Staatsorgane nicht nur an das Recht gebunden sein dürfen, sondern daß die gesamte Staats- und Sozialordnung so aufgebaut wird, daß die Verfassungsorgane auch soziologisch nur die ihnen durch die Verfassung eingeräumten Befugnisse ausüben können. Dafür entscheidend ist aber die Verfassungstreue des breiten Volkes, der Beamten und Richter: Eine Regierung, welche die Verfassung verletzt, muß schließlich die Gefolgschaft verlieren.

II. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Gewaltenteilungsprinzip 1. Nach Ansicht des BVerfG ist der Grundsatz der Gewaltenteilung in Art. 20 II GG verankert329 , nach dem die Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Dabei handele es sich als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips um ein fundamentales Ordnungsprinzip des modernen Verfassungsrechts330 , der als Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dem Verbot der Verfassungsänderung nach Art. 79 III GG unterliege. 331 Wie Carl Schmitt in seiner "Verfassungslehre" (1928) für die insoweit mit dem Grundgesetz übereinstimmende Weimarer Reichsverfassung gezeigt hat, ist das Gewaltenteilungsprinzip auch im Bundesstaatsprinzip enthalten, und zwar in dem doppelten Sinne einerseits der "vertikalen Gewaltenteilung", andererseits der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern hinsichtlich der drei Gewalten: Da dem Bund nach Art. 72 ff. GG für die Gesetzgebung weitere Befugnisse zustehen als für die in den Art. 83 ff. geregelte Verwaltung, muß der Bereich der Gesetzgebung dem Gewaltenteilungsprinzip entsprechend von dem der Verwaltung abgegrenzt werden, weil wenn der Bund im formellen Rahmen der Gesetzgebung materiell Verwaltungsbefugnisse ausüben könnte, die Verteilung

329

BVerfGE 27, 312 (321); 18, 241 (254); 7, 183 (188).

330

BVerfGE 2, 307 (329); 3, 225 (247 f.).

331

BVerfGE 30, 1 (27 f.).

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

193

der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern umgangen werden könnte. Ebenso muß der Bereich der weitgehend den Ländern vorbehaltenen Gesetzgebung abgegrenzt werden, um Übergriffe der Länder in die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes zu verhindern. Während das BVerfG nun im ersten Band seiner Entscheidungen332 noch davon ausging, das Grundgesetz habe sich für eine strikte Trennung der Gewalten entschieden, hat es in zahlreichen späteren Entscheidungen ausgeführt, das Grundgesetz führe - wie fast alle anderen Verfassungen der Welt - den Grundsatz der Gewaltenteilung nicht strikt durch, sondern habe sich für ein System der Gewaltenverschränkung entscheiden. So hat das BVerfG ausgeführt: 333 "2. Auch der Grundsatz der Gewaltenteilung steht der Wirksamkeit des Art. 117 Abs. 1 zweiter Halbsatz GG nicht entgegen. Freilich ist Gewaltenteilung ein tragendes Organisationsprinzip des Grundgesetzes. Seine Bedeutung liegt in der politischen Machtverteilung, dem Ineinandergreifen der drei Gewalten und der daraus resultierenden Mäßigung der Staatsherrschaft. Dieses Prinzip ist jedoch nirgends rein verwirklicht. Auch in den Staatsordnungen, die das Prinzip anerkennen, sind gewisse Überschneidungen der Funktionen und Einflußnahmen der einen Gewalt auf die andere gebräuchlich. Ob Durchbrechungen des Prinzips durch den originären Verfassungsgeber hiernach überhaupt geeignet sein können, jene letzten Grenzen zu überschreiten, deren Nichtbeachtung zur Rechtsungültigkeit auch einer ursprünglichen Verfassungsnorm führen könnte, ist zumindest zweifelhaft."

Diese Aussagen hat es noch einmal bestätigt: 334 "2. Nach dem Prinzip der Teilung der Gewalten, wie es in Art. 20 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommt, wird die Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Dieser Grundsatz ist allerdings nicht streng durchgeführt. Das Grundgesetz enthält zahlreiche Gewaltenverschränkungen und -balancierungen. Dem Verfassungsaufbau der Bundesrepublik Deutschland entspricht nicht eine absolute Trennung der Gewalten, sondern ihre gegenseitige Kontrolle und Mäßigung (BVerfGE 3, 225 (247)). Die rechtsprechende Gewalt ist nach Art. 92 GG gegen Einwirkungen allerdings stärker abgeschirmt als die anderen Gewalten. Dies zeigt sich u. a. darin, daß Akte der Rechtsprechung von den Trägern der anderen Gewalten nicht abgeändert werden können, während Akte der Gesetzgebung von den Verfassungsgerichten für nichtig erklärt und Maßnahmen der vollziehenden Gewalt auch von anderen Gerichten aufgehoben oder geändert werden können."

2. Den Zweck der Gewaltenteilung sieht das BVerfG dabei in der Bändigung und Mäßigung der Staatsmacht zum Schutze des Bürgers. So hat das BVerfG etwa ausgeführt: 335

332

BVerfGE 1, 14 (60).

333

BVerfGE 3, 225 (247 f.).

334

BVerfGE 7, 183 (188).

335

BVerfGE 22, 106 (111).

13 Bleckmann

194

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

"Wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt ausgeführt hat, besteht der Sinn der Gewaltenteilung darin, daß die Organe der Legislative, Exekutive und Justiz sich gegenseitig kontrollieren und begrenzen, damit die Staatsmacht gemäßigt und die Freiheit des Einzelnen geschützt wird. Die in der Verfassung vorgenommene Verteilung der Gewichte zwischen den drei Gewalten muß aufrechterhalten bleiben; keine Gewalt darf ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht über die andere Gewalt erhalten, und keine Gewalt darf der für die Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben erforderlichen Zuständigkeiten beraubt werden (BVerfGE 9, 268 [279 f.] mit weiteren Nachweisen)."

3. Da das Grundgesetz neben das Prinzip der Gewaltenteilung das der wechselseitigen Kontrolle der Gewalten - Gewaltenverschränkung - gestellt hae36 und dabei diese widerspruchliehen Prinzipien voneinander nicht abgegrenzt hat, besteht keine Vermutung dafür, daß das GG dem einen oder anderen Prinzip den Vorrang eingeräumt hat. Die Folge ist, daß, wie wir später sehen werden, die Gesetze und die Verfassung zwar anband des Grundsatzes der Gewaltenteilung auszulegen sind, der verfassungsgebenden Gewalt337 und dem Gesetzgeber aber gewisse Modifikationen erlaubt sind. Wenn es sich ferner hierbei auch um ein fundamentales Ordnungsprinzip des Grundgesetzes handelt, erscheint es aus diesem Grunde auch fraglich, ob eine durch die Verfassung nicht vorgesehene Modifikation eine verfassungswidrige Verfassungsnorm darstellen kann. Deshalb hat es das BVerfG in der Abhörentscheidung338 auch als verfassungsmäßig angesehen, an die Stelle der gerichtlichen eine parlamentarische Kontrolle der Überwachung von Telefongesprächen zu setzen. 339 "3. Die Ersetzung des Rechtswegs durch eine andersartige Rechtskontrolle, wie sie Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG vorsieht, verletzt auch nicht das in Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärte Prinzip der Gewaltenteilung, das Art. 20 Abs. 2 GG mit den Worten garantiert, daß die Staatsgewalt "durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtssprechung ausgeübt" wird. Denn dieses Prinzip verlangt nicht eine strikte Trennung der Gewalten, sondern läßt zu, daß ausnahmsweise Rechtsetzung durch Organe der Regierung und Verwaltung oder Regierung und Verwaltung durch Organe der Gesetzgebung ausgeübt werden können. Das Prinzip der Gewaltenteilung erlaubt auch, daß Rechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Exekutive ausnahmsweise nicht durch Gerichte, sondern durch vom Parlament bestellte oder gebildete, unabhängige Institutionen innerhalb des Funktionsbereichs der Exekutive gewährt wird. Wesentlich ist, daß in diesem Fall noch die ratio der Gewaltenteilung, nämlich die wechselseitige Begrenzung und Kontrolle staatlicher Macht, erfüllt ist. Die Ersetzung der gerichtlichen Kontrolle durch eine unabhängige Institution im Felde der Exekutive darf zwar nicht einfach nach Gutdünken und Willkür vorgesehen werden, aber jedenfalls für einen Fall, in

336

BVerfGE 12, 180 (186).

337

BVerfGE 30, 1 (27 f.) .

338

BVerfGE 30, 1 (23 f.).

339

BVerfGE 30, 1 (27 f.).

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

195

dem ein zwingender, sachlich einleuchtender Grund es erfordert, und dadurch nicht der der rechtsprechenden Gewalt vorbehaltene Kernbereich berührt wird."

4. Die Grenzen einer gesetzlichen Modifikation der Gewaltenteilung werden dann erreicht, wenn einerseits eine Gewalt ein Übergewicht über die anderen Gewalten erhält oder einem Organ wesentliche, für die Erfüllung seiner Aufgaben notwendige Zuständigkeiten entzogen werden, 340 andererseits, wenn eine Gewalt in den Kernbereich der Tätigkeit und Aufgaben der anderen Ge-walten eingreift. 341 So hat das BVerfG in ausgeführt: 342 "a) Die Teilung der Gewalten ist für das Grundgesetz ein tragenden Organisationsund Funktionsprinzip. Das Grundgesetz will die politische Machtverteilung, das Ineinandergreifen der drei Gewalten und die daraus sich ergebende Mäßigung der Staatsherrschaft (vgl. BVerfGE 3, 225 (247); 7, 183 (188); 9, 268 (279 f.)). Das Prinzip der Gewaltenteilung ist für den Bereich des Bundes jedoch nicht rein verwirklicht. Es bestehen zahlreiche Gewaltenverschränkungen und -balancierungen. Nicht absolute Trennung, sondern gegenseitige Kontrolle, Hemmung und Mäßigung der Gewalten ist dem Verfassungsaufbau des Grundgesetzes zu entnehmen (vgl. BVerfGE 7, 183 (188); 9, 268 (279 f.); 12, 180 (186); 22, 106 (111)). Kann somit der Sinn der Gewaltenteilung zwar nicht in einer scharfen Trennung der Funktionen der Staatsgewalt gesehen werden, so muß doch andererseits die in der Verfassung vorgenommene Verteilung der Gewichte zwischen den drei Gewalten bestehenbleiben. Keine Gewalt darf ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht über eine andere Gewalt erhalten. Keine Gewalt darf der für die Erfüllung ihrerverfassungsmäßigen AufgabenerforderlichenZuständigkeiten beraubt werden (BVerfGE 9, 268 (279 f.); 22, 106 (111)). Der Kernbereich der verschiedenen Gewalten ist unveränderbar. Damit ist ausgeschlossen, daß eine der Gewalten die ihr von der Verfassung zugeschriebenen typischen Aufgaben preisgibt. Für das Verhältnis von Legislative und Exekutive bedeutet dies: Im freiheitlichdemokratischen System des Grundgesetzes fallt dem Parlament als Legislative die verfassungsrechtliche Aufgabe der Normsetzung zu. Nur das Parlament besitzt die demokratische Legitimation zur politischen Leitentscheidung. Zwar billigt das Grundgesetz- wie Art. 80 GG verdeutlicht - auch eine "abgeleitete" Normsetzung der Exekutive. Die Rechtsetzung der Exekutive kann sich aber nur in einem beschränkten vom Gesetzgeber vorgezeichneten Rahmen vollziehen (vgl. Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, S. 221). Das Parlament darf sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft nicht dadurch entziehen, daß es einen Teil seiner Gesetzgebungsmacht der Exekutive überträgt, ohne dabei genau die Grenzen dieser übertragenen Kompetenzen bedacht und bestimmt zu haben (BVerfGE 1, 14 (60)). Genügt die Legislative dem nicht, so wird die vom Grundgesetz vorausgesetzte Gewaltenbalancierung im Bereich der Normsetzung einseitig verschoben. Eine pauschale Übertragung normsetzender Gewalt auf die Exekutive ist mit dem Prinzip der Gewaltenteilung unvereinbar."

340

BVerfGE 9, 268 (279 f.) .

341

BVerfGE 30, 1 (27 f.) . BVerfGE 34, 52 (59 f.).

342

13*

196

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

5. Das Gewaltenteilungsprinzip fordert nach Ansicht des BVerfG zunächst eine strikte organisatorische und personelle Trennung der Gewalten. Der Trennung von Legislative und Exekutive dient dabei Art. 137 I GG, nach dem die Wählbarkeit von Beamten durch das Gesetz beschränkt werden kann. 343 Der Gewaltenteilungsgrundsatz und Art. 92 GG verlangen insbesondere eine organisatorische und personelle Trennung von Verwaltung und Gerichtsbarkeit. 344 So hat das BVerfG ausgeführt: 345 "3. Art. 20 Abs. 2 GG verlangt, daß die Rechtsprechung durch "besondere", von den Organen der Gesetzgebung und der vollziehenden Gewalt verschiedene Organe des Staates ausgeübt wird. Daraus folgt einmal, daß die Gerichte organisatorisch hinreichend von den Verwaltungsbehörden getrennt sein müssen, und zum anderen, daß die richterliche Neutralität nicht durch eine mit diesem Grundsatz unvereinbare persönliche Verbindung zwischen Ämtern der Rechtspflege und der Verwaltung oder der Legislative in Frage gestellt werden darf (BVerfGE 14, 56 (67 f.); 18, 241 (254)). Die unter diesem Blickpunkt von den Beschwerdeführern geäußerten Bedenken greifen nicht durch. "

6. Besonders strikt wird durch das Gewaltenteilungsprinzip auch der Übergriff der einen Staatsgewalt in die Tätigkeit der anderen nur dann gestattet, wenn das Grundgesetz ihn ausdrücklich vorsieht. So können etwa Akte der Rechtsprechung durch die anderen Gewalten grundsätzlich nicht aufgehoben werden. Deshalb hat das BVerfG346 eingehend überprüft, ob, wenn die Exekutive nach Entzug der Fahrerlaubnis durch ein Strafgericht über die Neuerteilung der Fahrerlaubnis entscheidet, die Exekutive in Funktionen der Strafrechtspflege eingreift: Das hat das BVerfG nur deshalb abgelehnt, weil die Gerichte und die Verwaltung ihre Entscheidung jeweils nach anderen rechtlichen Gesichtspunkten auszurichten haben. Das BVerfG hat ausgeführt, 347 es verstoße nicht gegen das Grundgesetz, daß die Verwaltung die Gerichte um eine eidliche Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen ersuchen können; es handle sich nicht um einen Eingriff der Verwaltung in die Gerichtstätigkeit, wenn die Vernehmung für die Erledigung von Verwaltungsaufgaben notwendig werde und andererseits das Gericht durch das Ersuchen rechtlich nicht gebunden werde. Auch das Amnestierecht des Parlaments348 und das Gnadenrecht des Bundespräsidenten349 greife nicht in die Rechtskraft

343

BVerfGE 12, 73 (77); 18 , 172 (183); 38, 326 (338); 48, 64 (82); 57, 43 (66).

344

BVerfGE 4, 331 (346); 14, 56 (67); 18, 241 (254).

345

BVerfGE 27, 321.

346

BVerfGE 20, 365 (370).

347

BVerfGE 7, 183.

348

BVerfGE 2, 213 (222).

349

BVerfGE 25, 352 (361 ff.); 30, 110.

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

197

der Urteile und damit in die Rechtspflege ein. Den Art. 129 III GG interpretiert das VerfG als eine Vorschrift, welche die Legislative vor Übergriffen der Exekutive schützen solle. 350 7. Die wichtigste Rolle spielt das Gewaltenteilungsprinzip allerdings beim Verbot des Eingriffs einer Staatsgewalt in die Aufgaben der anderen Staatsgewalten. Dafür ist es natürlich erforderlich, den jeweiligen Aufgabenkreis der drei Staatsgewalten genau zu umreißen. Das hat das BVerfG für die Rechtsprechung versucht: 351 "Diese und andere Thesen klären zwar wesentliche Elemente des Begriffs der Rechtsprechung im materiellen Sinn. Sie umfassen indessen entweder nicht den ganzen Inhalt dieses Begriffs oder sie ziehen keine klaren Grenzen gegenüber der nicht rechtsprechenden Staatstätigkeit, nach denen hinreichend sicher bestimmt werden könnte, was den Gerichten als Rechtsprechung im materiellen Sinne übertragen und belassen werden muß. Daher kann aus ihnen allein die hier zu entscheidende Frage, was den Richtern durch Art. 92 GG als "rechtsprechende Gewalt" anvertraut ist, nicht beantwortet werden. Entscheidend kommt es darauf an, was das Grundgesetz unter "rechtsprechender Gewalt" versteht. Diese Frage kann nur unter Beachtung des Sinnzusammenhangs derVorschriftdes Art. 92 im Verfassungsgefüge beantwortet werden. Art. 92 steht zu Beginn des IX. Abschnitts des Grundgesetzes über die Rechtsprechung, der Vorschriften organisatorischen und materiellen Charakters enthält und das Prinzip der Gewaltenteilung für die Dritte Gewalt konkretisiert. Dementsprechend ist Art. 92 zwar auch Organisationsnorm, hat aber vor allem materielle Bedeutung in dem Sinn, daß damit bereits eine Zuweisung bestimmter Aufgaben an die rechtsprechende Gewalt vollzogen ist. Ihr sind durch Art. 92 alle diejenigen Aufgaben zugewiesen, die die Verfassung selbst an anderer Stelle den Gerichten überträgt: die fast vollzählige Aufzählung der Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts in den Art. 93, 99 und 100 sowie 18, 21 Abs. 2, 41 Satz 2, 61, 84 Abs. 4, 98, 126, die ausnahmslose repressive Rechtskontrolle bei Eingriffen der öffentlichen Gewalt nach Art. 19 Abs. 4; die alleinige gerichtliche Zuständigkeit zur Anordnung von Freiheitsentziehungen nach Art. 104 Abs . 2 und 3, ferner eine Reihe von einzelnen Zuweisungen in Art. 13 Abs. 2 (Durchsuchungen), 14 Abs . 3 Satz 4 (Enteignungsentschädigung), 15 Satz 2 (Entschädigung für Sozialisierung), 34 Satz 3 (Amtshaftung), 95 (Oberstes Bundesgericht) und 132 Abs. 3 (vorläufige Aufhebung von Beamtenrechten). Damit ist nahezu der ganze Katalog der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, fast die gesamte Tätigkeit der allgemeinen und besonderen Verwaltungsgerichte (repressive Rechtskontrolle nach Art. 19 Abs . 4), die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte zur Nachprüfung von Bußgeldbescheiden der Verwaltung (ebenfalls Art. 19 Abs. 4), der bedeutsamere, zu Freiheitsstrafen oder Ersatzfreiheitsstrafen führende Teil der Strafgewalt (Art. 104), jede sonstige Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2) und ein Teil der den ordentlichen Gerichten zugewiesenen Rechtsstreitigkeiten, nämlich Enteignungs- und Amtshaftungssachen,

350

BVerfGE 2, 307 (329).

351

BVerfGE 22, 49 (76 ff.).

198

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

als ausschließlich den Gerichten vorbehalten und als Rechtsprechung im materiellen Sinn charakterisiert. Die herkömmlicherweise wichtigsten Aufgaben der Gerichte, die Aufgaben, die wegen der Schwere des Eingriffs und ihrer Bedeutung für die Rechtsstellung des Staatsbürgers am ehesten der Sicherungen eines gerichtlichen Verfahrens bedürfen, sind also bereits an anderer Stellte von Verfassungswegen der rechtsprechenden Gewalt zugeordnet. Über den Kreis der in der Verfassung ausdrücklich genannten Aufgaben hinaus gehören nach Art. 92 GG noch weitere Aufgaben zur Rechtsprechung. Mag auch die exakte Grenzziehung in Einzelfällen schwierig sein, so kann doch nicht bezweifelt werden, daß der Verfassunggeber die traditionellen Kernbereiche der Rechtsprechung- bürgerliche Rechtspflege und Strafgerichtsbarkeit- der rechtsprechenden Gewalt zugerechnet hat, auch wenn sie im Grundgesetz nicht besonders aufgeführt sind. Bekräftigt wird diese Auffassung durch die Aufzählung der einzelnen Gerichtsbarkeiten in den Art. 96 und 96 a GG. Diese Vorschriften enthalten nicht nur Bestimmungen über die obligatorische (Art. 96) und fakultative (Art. 96 a) Errichtung von Bundesgerichten. Sie knüpfen an die herkömmlichen Aufgabenbereiche der einzelnen Gerichtsbarkeiten an. Das ist aber nur sinnvoll, wenn zumindest der Kernbereich der herkömmlicherweise den einzelnen Gerichtsbarkeiten übertragenen Aufgaben als Rechtsprechung im materiellen Sinn angesehen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat dementsprechend die Entscheidung bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten vermögensrechtlicher Art (BVerfGE 14, 56 (66)) und die "Ausübung der Strafgerichtsbarkeit" (BVerfGE 8, 197 (207) und 12, 264 (274)) als typische Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt bezeichnet. 3. Jedoch nicht alles, was zur Zeit zu den Aufgaben der Gerichte gehört, ist materielle Rechtsprechung, die nach Art. 92 GG den Richtern vorzubehalten ist. Abgesehen von den gerichtlichen Zuständigkeiten, die von vornherein nicht materielle Rechtsprechung zum Gegenstand haben, kann der Gesetzgeber in gewissem Umfang den Bereich der materiellen Rechtsprechung dadurch verändern, daß er beispielsweise die Materie Strafrecht reduziert oder in einer rechtspolitisch anderen Wertung des Unrechtsgehalts bisherige Straftatbestände ersetzt durch die Qualifizierung einer Verhaltensweise als bloße Ordnungswidrigkeit. Hat sich der Gesetzgeber jedoch entschlossen, eine gerichtliche Zuständigkeit zu begründen, so muß das Verfahren mit allen verfassungsrechtlichen Garantien des gerichtlichen Verfahrens ausgestattet sein. Art. 92 garantiert deshalb in jedem vom Gesetzgeber als Rechtsprechung eingeführten Verfahren, auch wenn der Gesetzgeber zur Zuweisung gerade dieser Materie zur rechtsprechenden Gewalt verfassungsrechtlich nicht verpflichtet gewesen wäre, den gesetzlichen und unabhängigen Richter und das rechtsstaatliche Gerichtsverfahren des IX. Abschnitts des Grundgesetzes. "

8. Die Aufgabe der Gesetzgebung ist dagegen nach der allgemeinen Rechtsprechung des BVerfG der Erlaß genereller Rechtssätze. Die Verwaltung ist dann dahin zu definieren, daß sie Einzelakte erläßt, die keine Rechtsprechung darstellen. In dieser Sicht erscheinen zunächst alle Regeln über den Gesetzesvorbehalt als Ausprägung auch des Gewaltenteilungsprinzips: Erläßt die Verwaltung über Art. 80 GG hinaus Rechtsregeln, greift sie also gleichzeitig in die Funktionen

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

199

der Gesetzgebung ein. 352 Der im Grundsatz der Gesetzmäßigkeit neben dem Prinzip des Gesetzesvorbehalts enthaltene Vorrang des Gesetzes verbietet nun zwar nicht, daß der Gesetzgeber seine Regelung hinter einer später zu erlassenden Verwaltungsverordnung rangiert: Dabei wird der Gewaltenteilungsgrundsatz aber dann verletzt, wenn es sich um wesentliche Fragen handelt. 353 9. Besonders eingehend hat sich das BVerfG in zahlreichen Entscheidungen mit dem Eingriff der Gerichte in die Gesetzgebung befaßt und dabei auch die Grenzen der Gesetzesauslegung und der Rechsschöpfung bestimmt. 354 Das BVerfG hat den Gerichten dabei zwar die objektive, vom subjektiven Willen der Gesetzgebung getrennte Gesetzesauslegung gestattet. Zur verfassungskonformen Auslegung sind die Gerichte nicht nur ermächtigt, sondern sogar verpflichtet. Diese Auslegungsmöglichkeiten finden aber am Ziel des Gesetzgebers ihre Grenzen. 355 Grundsätzlich sei der Richter in begrenztem Umfang im modernen Verfassungsstaat auch zu einer Rechtsschöpfung berechtigt. 356 Die Grenzen der Rechtsfortbildung durch den Richter werden etwa dann erreicht, wenn einerseits der Richter neue, im Gesetz noch nicht enthaltene Steuerstrafbestände schafft357 oder die unbestimmten Rechtsbegriffe so unpräzise sind, daß die Ordnungsgedanken des Gesetzes eigentlich erst vom Richter entwickelt werden. 358 Zur Rechtsschöpfungsbefugnis führte das BVerfG aus:359 "Art. 3 Abs. 2 GG unterscheidet sich von anderen Generalklauseln auch nicht dadurch, daß nur er den Richter nötige, eine Gesetzeslücke in schöpferischer Rechtsfindung zu schließen. Auch solche schöpferische Füllung weiter Lücken auf der Grundlage einer richtungweisenden Klausel ist eine herkömmliche und stets bewältigte richterliche Aufgabe. So ist etwa aus der Generalklausel von Treu und Glauben in Verbindung mit anderen allgemeinen Rechtserwägungen eine Fülle einzelner Rechtssätze, ja ganzer Rechtsinstitute von der Rechtsprechung entwickelt worden (z. B. Aufwertung, Verwirkung, Wegfall der Geschäftsgrundlage, Verschulden bei Vertragsschluß u. a.). Das weite Gebiet des internationalen Schuldrechts - mit Ausnahme des Deliktsstatuts, Art. 12 EGBGB -ist vom Gesetzgeber (sogar ohne jede Generalklausel) bewußt der allmählichen Entwicklung durch die Rechtsprechung überlassen worden, weil der Erkenntnisstand bei Erlaß des Bürger-

352

BVerfGE 1, 14 (60); 2, 307 (332).

353

BVerfGE 8, 155 (170 f.).

354

BVerfGE 3, 225 (237, 248); 13, 225 (328 f.); 19, 38 (49); 21, 1 (4).

355

BVerfGE 8, 28 (34, 71, 78 ff.); 9, 83 (87).

356 BVerfGE 34, 269 (286 ff.). 357

BVerfGE 13, 318 (328); 21, 1 (4).

358 BVerfGE 9, 83 (87). 359 BVerfGE 3, 225 (243 f.) .

200

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

liehen Gesetzbuches noch zu ungewiß war, als daß nicht gesetzliche Normierungen voreilig gewesen wären. Alle diese Aufgaben hat die Rechtsprechung gemeistert, ohne daß eine irgend nennenswerte Rechtsunsicherheit spürbar geworden wäre."

Diese Rechtsprechung wurde noch einmal bestätigt: 360 "1. Die traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz, ein tragender Bestandteil des Gewaltentrennungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit, ist im Grundgesetz jedenfalls der Formulierung nach dahin abgewandelt, daß die Rechtsprechung an "Gesetz und Recht" gebunden ist (Art. 20 Abs . 3). Damit wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt. Die Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag; es zu fmden und in Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung. Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgebensehe Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, ein Zustand, der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muß sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen. Es muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Gestz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den "fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" (BVerfGE 9, 338 (349)). Diese Aufgabe und Befugnis zu "schöpferischer Rechtsfindung" ist dem Richter jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes - im Grundsatz nie bestritten w0rden (vgl. etwa R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechsprechung, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 100 (1971), und dazu Redeker, NJW 1972, S. 409 ff. , jeweils mit weiteren Nachweisen). Die obersten Gerichtshöfe haben sie von Anfang an in Anspruch genommen (vgl.etwa BGHZ 3, 308 (315); 4 , 153 (158); BAG 1, 279 (280 f.)) . Das Bundesverfassungsgerichthat sie stets anerkannt (vgl. etwa BVerfGE 3, 225 (243 f.); 13, 153 (164); 18, 224 (237 ff.) ; 25, 167 (183)). Den Großen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat der Gesetzgeber selbst die Aufgabe der "Fortbildung des Rechts" ausdrücklich zugewiesen (s. z.B. § 137 GVG). In manchen Rechtsgebieten, so im Arbeitsrecht, hat sie infolge des Zurückbleibens der Gesetzgebung hinter dem Fluß der sozialen Entwicklung besonderes Gewicht erlangt.

360

BVerfGE 34, 269 (286 ff.).

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

201

Fraglich können nur die Grenzen sein, die einer solchen schöpferischen Rechtsfindung mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung gezogen werden müssen. Sie lassen sich nicht in einer Formel erfassen, die für alle Rechtsgebiete und für alle von ihnen geschaffenen oder beherrschten Rechtsverhälnisse gleichermaßen gälte."

10. Neuerdings hat das BVerfG dagegen unter Rückgriff auf Art. 20 III GG die Rechtsprechung des BAG zum Konkursvorrang der§ 18a Sozialpläne aufgehoben, weil insoweit weder das Gesetz noch das Verfassungsrecht und insbesondere das Sozialstaatsprinzip eine hirneichende Entscheidungsgrundlage böten. Der Gewaltenteilungsgrundsatz verbiete es zwar, daß die Gerichte Verwaltungsakte nicht nur aufheben, sondern auch ändern. Wenn das Gesetz dies für die Feststellung der Enteignungsentscheidung anders geregelt habe, sei das noch hinzunehmen, weil es sich nur um eine geringfügige Durchbrechung der Gewaltenteilung handele. 361 Dagegen widerspreche es dem Gewaltenteilungsgrundsatz, wenn die Gerichte ein Enteignungsgesetz, daß entgegen Art. 14 III GG eine Entschädigung nicht vorsehe, dahin ergänzten, daß es eine Entschädigung vorsieht. 362 Wenn auch der Verfassungsrichter durch die Kontrolle der Gesetze in die Gesetzesfunktion eingreift, handelt es sich selbst doch, soweit nur das Recht angewendet wird um eine echte richterliche Funktion. Unter diesem Aspekt hat das BVerfG unter Heranziehung des Gewaltenteilungsprinzips seine Aufgaben in vielfacher Hinsicht beschränkt: So hat es etwa ausgeführt, die vorbeugende Normenkontrolle sei unzulässig, da dem BVerfG dann ein Übergewicht über das Parlament zufalle. 363 Die einstweilige Anordnung stelle einen Eingriff in die Gesetzgebung dar; bei ihrem Erlaß sei deshalb äußerste Zurückhaltung geboten.364 Insbesondere wenn das Grundgesetz dem Gesetzgeber bei einer Verletzung des Art. 3 I die Freiheit belasse, ob er die Begünstigung auf die neue Personengruppe erstrecke oder die Begünstigung ganz streichen wolle, verbiete das Gewaltenteilungsprinzip die Feststellung der Nichtigkeit durch das BVerfG. 365 Dagegen handelt es sich bei der Auflösung einer Partei nicht um einen Eingriff des BVerfG in die Aufgaben der Verwaltung, weil diese Auflösung die notwendige Folge der Verfassungswidrigkeit der Partei, also

361

BVerfGE 4, 387 (399 f.) .

362

BVerfGE 4, 219 (233).

363

BVerfGE 1, 396 (409).

364

BVerfGE 3, 52; 3, 267, (285); 11, 102 (104).

365

BVerfGE 8, 28 (36); 9, 250 (255).

202

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

einer Rechtslage sei. 366 Das BVerfG hat sich auf das Gewaltenteilungsprinzip vor allem auch gestützt, um mit dem Inhalt der allgemeinen Grundrechtslehren die Zuständigkeit des seine Zuständigkeit zur Überprüfung der Gesetze zu beschränken. So führt es etwa aus: 367 "Diese Prüfung läßt sich auch durchführen. Dabei kann sich das Gericht freilich nicht damit zufrieden geben, daß Ziel und Zweck der gesetzlichen Regelung nur allgemein und schlagwortartig bezeichnet werden und der freiheitsbeschränkende Eingriff als Mittel zur Erreichung dieser Ziele nicht völlig ungeeignet erscheint. Der Inhalt des zur Prüfung stehenden Gesetzes und die für seine Gestaltung maßgebend gewesenen Erwägungen des Gesetzgebers müssen vielmehr im einzelnen analysiert werden. Das setzt naturgemäß voraus, daß das Gericht -notfalls mit Hilfe von Sachverständigen -sich einen möglichst umfassenden Einblick in die durch das Gesetz zu ordnenden Lebensverhältnisse verschafft. Gerade dadurch wird sich oft ergeben, daß es möglich ist, größere Lebenszusammenhänge, die bisher in begrifflich undeutlicher Zusammenfassung als "Gegenstand" einer gesetzgebefischen Regelung angegeben waren, in einzelne klarer erfaßbare Sachverhalte aufzulösen und sie so unter Ausschaltung subjektiver Wertungen auch für ein Gericht beurteilbar zu machen. Die Beurteilung hypothetischer Kausalverläufe, die den Normierungen des Gesetzgebers zugrunde liegen, auf ihre größere oder geringere Wahrscheinlichkeit hin ist eine Aufgabe, die ihrer Art nach auch vom Richter erfüllbar ist. Selbstverständlich werden bei dieser Prüfung die Erfahrungsgrundlagen, Erwägungen und Wertungen des Gesetzgebers für das Bundesverfassungsgericht stets von größter Bedeutung sein; wo sie nicht entkräftet werden, dürfen sie die Vermutung der Richtigkeit für sich in Anspruch nehmen. Andererseits aber muß die Pflicht zum Schutz des Grundrechts das Gericht daran hindern, die Auffassung des Gesetzgebers, der legitimerweise auch andere Ziele als die des Grundrechtsschutzes verfolgt, ohne weiteres zu akzeptieren und seine Maßnahmen als unvermeidliche Beschränkungen des Grundrechts hinzunehmen. "

Und in einer weiteren Entscheidung heißt es: 368 "In der Entscheidung zur Fristenlösung (BVerfGE 39, 1 (44)) und erneut im Schleyer-Urteil (BVerfGE 46, 160 (164)) hat das Bundesverfassungsgericht betont, über die Art und Weise, wie die aus Art. 2 Abs 2 GG hergeleitete Schutzpflicht zu erfüllen sei, hätten in erster Linie die staatlichen Organe in eigener Verantwortung zu entscheiden; sie befänden darüber, welche Maßnahmen zweckdienlich und geboten seien, um einen wirksamen Schutz zu gewährleisten. Schon vorher hatte das Bundesverfassungsgericht in anderen Entscheidungen als maßgeblich darauf abgestellt, ob den staatlichen Organen eine evidente Verletzung der in den Grundrechten verkörperten Grundentscheidungen zur Last zu legen sei (BVerfGE 33, 303 (333)Numerus clausus; vgl. ferner BVerfGE 4, 7 (18); 27, 253 (283); 36, 321 (330 f.)). Diese Begrenzung der verfassungsrechtlichen Nachprüfung erscheint deshalb geboten, weil es regelmäßig eine höchst komplexe Frage ist, wie eine positive

366

BVerfGE 5, 85 (391).

367

BVerfGE 7, 377 (411 f.).

368

BVerfGE 56, 54 (80 f.).

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

203

staatliche Schutz- und Handlungspflicht, die erst im Wege der Verfassungsinterpretation aus den in den Grundrechten verkörperten Grundentscheidungen hergeleitet wird, durch aktive gesetzgebensehe Maßnalunen zu verwirklichen ist. Je nach der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse, der konkreten Zielsetzung und ihrer Priorität sowie der Eignung der denkbaren Mittel und Wege sind verschiedene Lösungen möglich. Die Entscheidung, die häufig Kompromisse erfordert, gehört nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem demokratischen Prinzip in die Verantwortung des vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgebers und kann vom Bundesverfassungsgericht in der Regel nur begrenzt nachgeprüft werden, sofern nicht Rechtsgüter von höchster Bedeutung auf dem Spiele stehen. Diese Erwägungen fallen verstärkt ins Gewicht, wenn es nicht allein um die Frage geht, ob der Gesetzgeber eine aus den Grundrechten herleitbare Schutzpflicht verletzt hat, wenn viehnehr darüber hinaus die weitere Frage strittig ist, ob er diese Verletzung durch unterlassene Nachbesserung begangen hat. Einen Verfassungsverstoß dieser Artkann das Bundesverfassungsgericht erst dann feststellen, wenn evident ist, daß eine ursprünglich rechtmäßige Regelung wegen zwischenzeitlicher Änderung der Verhältnisse verfassungsrechtlich untragbar geworden ist, und wenn der Gesetzgeber gleichwohl weiterhin untätig geblieben ist oder offensichtlich fehlsame Nachbesserungsmaßnahmen getroffen hat. Im Bereich der Fluglärmbekämpfung kann dabei nicht außer acht bleiben, daß verläßliche wissenschaftliche Erkenntnisse über die Grenzen zurnutbarer Fluglärmbelastungen noch nicht vorliegen und daß es sich schon wegen der internationalen Verflechtung des Flugverkehrs um eine komplexe Materie handelt, zu deren Regelung dem Gesetzgeber angemessene Erfahrungs- und Anpassungsspielräume gebühren (vgl. auch BVerfGE 54, 11 (37) m.w.N.- Rentenbesteuerung)."

ID. Die Stellungnahme der Lehre zur Rechtsprechung des BVerfG 1. Konrad Hesse meint entgegen der herrschenden Lehre und der Rechtsprechung des BVerfG, einerseits handele es sich bei der Entwicklung des Gewaltenteilungsprinzips in der politikwissenschaftlichen Lehre seit Aristoteles nicht um ein festes Dogma, sondern um eine historische Antwort auf eine sich jeweils wieder anders stellende historische Frage, andererseits habe Art. 20 II GG dieses Dogma nicht unbesehen übernommen, wenn auch das Grundgesetz auf dem Boden des traditionellen Gewaltenteilungsprinzips stehe. In welcher Form das Grundgesetz die Gewaltenteilungslehre übernommen habe, könne nur durch eine Zusammenschau all derjenigen Vorschriften des Grundgesetzes bestimmt werden, die sich auf die Gewaltenteilungslehre beziehen. So widersprüchlich diese Auffassung ist - das Grundgesetz habe, so meint Hesse, zwar nicht das klassische Gewaltenteilungsprinzip übernommen, stehe aber auf dem Boden dieses Grundsatzes - so richtig ist diese Auffassung allerdings aus dem von Hesse vernachlässigten, vom BVerfG mehrfach hervorgehobenen Aspekt, beim Gewaltenteilungsprinzip handele es sich nicht um ein Dogma mit festen Konturen, sondern um ein Prinzip, das in jeder Verfassung anders konkretisiert werde. Das Bild rundet sich ab, wenn wir darüberhinaus

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

bedenken, daß das Gewaltenteilungsprinzip einerseits eine Trennung, andererseits aber gerade auch eine Verschränkung der Gewalten verlangt, ohne den Grad näher zu bestimmen, in denen das eine oder das andere Element in der konkreten Verfassung verwirklicht werden muß. Aus diesen Ansätzen ergeben sich zwei allgemeine Folgerungen: Einmal kann, weil das Gewaltenteilungsprinzip sowohl auf die strikte Trennung als auch auf die Verbindung der Gewalten gerichtet ist, keine dieser beiden Seiten strikt verwirklicht werden. Das Grundgesetz ist also so auszulegen und durch das Gewaltenteilungsprinzip zu ergänzen, daß man sowohl die eine als auch die andere Seite und dabei die verschiedenen Funktionen des Prinzips berücksichtigt. Im Endergebnis verbietet das BVerfG das Gewaltenteilungsprinzip, wie das Bundesverfasssungsgericht richtig hervorhebt, damit nur eine Verlagerung der Gewalten, die der einen Gewalt ein Übergewicht über die andere Gewalt verleiht. 2. Die Mehrheit der neueren Abhandlungen zum Gewaltenteilungsprinzip leugnet angesichts der Koppelung von Exekutive und Parlament im parlamentarischen System, daß das Gewaltenteilungsprinzip heute noch eine Bedeutung hat, wenn man einmal von der auch heute noch erforderlichen strikten Trennung der Gerichtsbarkeit von Exekutive und Legislative absieht. Dabei werden aber eine Reihe von Faktoren übersehen: Einmal bleibt das vom Gewaltenteilungsprinzip vorausgesetzte Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Exekutive insoweit erhalten, als die Exekutive der Kontrolle der im Parlament gegenwärtigen Opposition unterworfen ist. Auf der anderen Seite bestehen auch innerhalb derselben Regierungsparteien, die Parlament und Exekutive beherrschen, politischer Streit und die Abgrenzung der jeweiligen Kompetenzen. Und drittens ist es wegen der unterschiedlichen Besetzung und der unterschiedlichen Verfahren von Parlament und Verwaltung durchaus sinnvoll, im Interesse der Richtigkeit der Entscheidungen trotz der engen Verzahnung zwischen Exekutive und Legislative beiden Organen unterschiedliche Zuständigkeiten zuzuordnen: Das Gewaltenteilungsprinzip strebt in der Tat, was häufig übersehen wird, nicht nur die Machtbalance, sondern auch die Richtigkeit der Entscheidungen an.

IV. Demokratie und Gewaltenteilung Der kursorische Überblick über die historische Entwicklung des Demokratieprinzips hat deutlich gemacht, daß, wie das Demokratieprinzip, auch der Grundsatz der Gewaltenteilung zwei unterschiedliche Ziele hat:

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

205

Durchaus im Vordergrund der philosophischen Literatur steht dabei der Gedanke der Mäßigung des Staates und die Sicherung der Beständigkeit der Verfassung: dieses Ziel läßt sich von Polybias über Thomas von Aquin und Montesquieu bis zu den Theoretikern der konstitutionellen Monarchie im 18. und 19. Jahrhundert verfolgen. In der Sicht dieser Autoren stellt die "Verfassungsmischung", also die Gewaltenteilung, ein notwendiges Gegengewicht insbesondere zum Demokratieprinzip dar, weil auch das Volk oder eine vom Volk gewählte Versammlung dazu neigt, absolute Macht absolut zu mißbrauchen. Diese Mäßigung soll schon nach Montesquieu dadurch erreicht werden, daß das absolute Machtstreben des einen Staatsorgans durch das ebenso absolute Machtstreben der anderen Organe gebremst wird. Montesquieu formuliert diesen Grundsatz "Le pouvoir arn~te le pouvoir", das amerikanische Verfassungsrecht griff zu diesem Zweck auf die "checks and balances" zurück. In diesem Rahmen sind die Voraussetzungen des Funktionierens dieser Prinzipien aber näher zu prüfen: 1. Für die Wirksamkeit der "checks and balances" braucht grundsätzlich nicht vorausgesetzt zu werden, daß die drei Staatsfunktionen auf verschiedene Organe verteilt sind. Eine entsprechende Ausformulierung des Gewaltenteilungsprinzips finden wir in der Tat erst bei Montesquieu; dabei ist darauf hinzuweisen, daß selbst Montesquieu primär an die Bändigung der Macht der Volksversammlung durch das Veto eines Oberhauses und des Königs denkt: Die entscheidende Teilung der Gewalten findet also im Rahmen ein- und derselben Gesetzgebungsfunktion statt. Den früheren Autoren, insbesondere Aristoteles, Polybias und Thomas von Aquin kommt es dagegen nur darauf an, daß irgendwelche Hoheitsfunktionen auf verschiedene Organe verteilt werden. Es muß sich dabei offensichtlich nur um politisch so wichtige Staatsfunktionen handeln, daß den Organen im Verhältnis zueinander ein entscheidendes politisches Gewicht zufallt.

2. Bis zum 19. Jahrhundert gingen die Philosophen davon aus, daß die verschiedenen Staatsfunktionen auf unterschiedliche "Sozialsubstrate", also auf Personen verteilt werden, die wie der König, der Adel und das Volk jeweils eine ihnen eigene Machtposition besitzen. Die amerikanischen Verfassungsväter standen dagegen vor dem Problem, daß, wenn man die Volkssouveränität einführt, alle Organe ihre Macht letztlich aus ein- und derselben Quelle ableiten. Soweit das Volk seine souveräne Rolle - wie etwa in einem Referendum -nicht selbst ausübt, sondern seine Befugnisse auf gewählte Staatsorgane überträgt, funktioniert die Gewaltenteilung vor allem dann, wenn alle drei Staatsorgane vom Volk unmittelbar gewählt werden und sich nicht gegenseitig ernennen.

206

3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

Wird das Volk dagegen die souveräne Gewalt selbst und unmittelbar, hat dieser Ausdruck des Volkswillens ein so starkes politisches und rechtliches Gewicht, daß die Gewaltenteilung illusorisch wird. Ebenso kann das Gewaltenteilungs-prinzip in dem hier besprochenen Sinne nicht voll funktionieren, wenn in einer parlamentarischen Demokratie die Regierung und die Richter durch das gewählte Parlament bestimmt werden. Das ist insbesondere in der modernen Parteiendemokratie gefährlich. 3. Montesquieu und die Federalist Papers gingen davon aus, daß die "checks and balances" nur bei einer Gewaltenverschränkung, d. h. dann funktionieren, wenn die Staatsorgane gegenseitige Einflußrechte hinsichtlich derselben Staatsfunktion besitzen. Damit ist eine vollkommene Gewaltentrennung, wie sie seit Kant in Deutschland vertreten wird, nicht vereinbar. Bei der Beurteilung dieser Voraussetzungen haben wir mehrere Ebenen zu unterscheiden. Auch bei einer strikten Gewaltentrennung, bei der jedes Organ nur eine Staatsfunktion ausschließlich ausübt, funktionieren die "checks and balances" in dem Sinne, daß es einzelnen Organen erschwert wird, alle Macht an sich zu reißen und so etwa eine Diktatur zu errichten. Auch bei einer solchen Definition des Gewaltenteilungsprinzips funktioniert also deren Funktion, die Beständigkeit der Verfassung zu gewährleisten. Soweit es sich dagegen darum handelt, zwecks Richtigkeit der staatlichen Entscheidung und der Sicherung der bürgerlichen Freiheit die Machtausübung zu mäßigen, funktioniert die Gewaltenteilung nur bei einer Gewaltenverschränkung. Soweit den anderen Organen nicht die Möglichkeit des Ganges nach Karlsruhe eröffnet wird, kann das Organ A bei einer solchen Gewaltentrennung in der Tat das Organ B an der Verabschiedung eines Rechtsaktes nicht hindern. Unter diesem Aspekt wird man das parlamentarische Regime neu bewerten müssen. Hier bestehen gegenseitige Einflußrechte zwischen Parlament und Regierung selbst dann, wenn beide Personengruppen derselben Partei oder Koalition angehören. Insbesondere wenn die Verfassung der Regierung selbständige Rechte mit entscheidendem politischen Gewicht eimäumt, wird die auch faktische Position der Regierung im Verhältnis zum Parlament verstärkt. Diese Verlagerung der politischen Macht ist dabei heute so stark, daß im Interesse des Funktionierens des Gewaltenteilungsprinzips das politische Gewicht des Parlaments, der Fraktionen und der Abgeordneten gegenüber der Regierung verstärkt werden muß. Es muß durch eine entsprechende Interpretation der Verfassung sichergestellt werden, daß die gegenseitigen Einflußrechte von Regierung und Parlament so gestärkt werden, daß das Gewaltenteilungsprinzip funktioniert, ohne die Staatsleitung zu blockieren.

§ 15 Das Gewaltenteilungsprinzip

207

4. Wir haben gesehen, daß das Gewaltenteilungsprinzip von den zitierten Autoren seit Aristoteles jeweils auf die konkreten damaligen Machtverhältnisse angewendet worden ist. Der Konsul, der Senat und das Volk in Rom können mit dem König, dem Adel und dem Volk zur Zeit von Thomas von Aquin und mit dem König und Adel zur Zeit Montesquieus kaum verglichen werden. Das bedeutet, daß wir bei der Anwendung des Gewaltenteilungsprinzips auf die heutigen sozialen Machtverhältnisse zurückgreifen müssen. 5. Das Gewaltenteilungsprinzip steht in striktem Gegensatz zum Souveränitätsprinzip, das eine hierarchische Unterordnung aller Organe und Behörden unter den Souverän verlangt. Dabei ist zu beachten, daß gerade auch das Souveränitätsprinzip eine wichtige Funktion besitzt. Es soll insbesondere durch die Verlagerung der Macht auf eine einzige Person sicherstellen, daß der innere Friede gewährt wird, die heute so wichtige staatliche Entscheidung überhaupt ergehen kann und daß diese Entscheidung lückenlos in der Verfassungswirklichkeitdurchgesetzt wird. Diese grundsätzliche Spannungslage hat politische Konsequenzen: Bei einer Übersteigerung des Gewaltenteilungsprinzips wird bei einer politischen Spaltung von Volk und Parlament der Staatsapparat blockiert. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß Robbespierre in der Französischen Revolution, obwohl er sonst dem Cantrat social von Rousseau folgte, das "bürgerliche" Gewaltenteilungsprinzip strikt abgelehnt hat. Die Ablehnung des "bürgerlichen" Gewaltenteilungsprinzips durch den Marxismus-Leninismus beruhte dagegen auf einem anderen Grund: Kann die Wahrheit wissenschaftlich ermittelt werden, muß der Staat- wie übrigens auch die Kirche - so aufgebaut werden, daß diese Wahrheit sich durchsetzen kann. Kann die Wahrheit nur von der Partei als Vorhut der Arbeiterklasse interpretiert werden, muß der Staatsapparat der Zentrale der Partei untergeordnet werden. Die Spannungslage zwischen dem mit dem Gewaltenteilunsprinzip gekoppelten Demokratieprinzip und dem Souveränitätsprinzip hat zur Folge, daß die Demokratie nicht mehr funktioniert, wenn das Volk und damit das Parlament politisch so gespalten ist, daß der Staat Entscheidungen nicht mehr fällen kann. Dieses Spannungsverhältnis führte zur Verlagerung auf das Präsidentialregime in der Weimarer Republik und ist der eigentliche Grund für die Entwicklung von Militärdiktaturen in den Entwicklungsländern. 6. Auch wenn wir uns fragen, ob und wie das Gewaltenteilungsprinzip mit diesem Ziel im Grundgesetz verankert ist, haben wir unterschiedliche Ebenen zu unterscheiden: Wir haben gesehen, daß das Gewaltenteilungsprinzip nicht erst seit Montesquieu an die Dreiteilung der Staatsfunktionen anknüpft, sondern auf das

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

jeweilige Zeitalter zur vorliegenden Machtverteilung zurückgreift. Die durch Art. 20 II angesprochene Verteilung der Staatsfunktionen auf selbständige Organe der Legislative, Exekutive und Judikative stellt in dieser Sicht also nur einen beschränkten Ausschnitt aus der Gesamtproblematik dar. Diesen Aspekt sollte man nicht überbetonen, weil in der parlamentarischen Demokratie die Gewaltenteilung in diesem Sinne nur sehr beschränkt funktioniert. Die Lehre hat deshalb zurecht gesehen, daß die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern vor allem auch der "vertikalen" Gewaltenteilung dient. Der Grundsatz der Gewaltenteilung ist insoweit im Bundesstaatsprinzip und nicht in Art. 20 II GG verankert. In der heutigen Zeit wichtig ist vor allem die Teilung der faktischen Gewalten zwischen den Staatsorganen und den Medien einerseits und die Gegenüberstellung von Regierungsparteien und Oppositionen andererseits. Diese Formen der Gewaltenteilung werden durch Art. 5 I und 21 GG, also ebenfalls nicht durch Art. 20 II begründet. Wir sehen also, daß das Gewaltenteilungsprinzip heute unterschiedliche Ansätze findet. Diese Tatsache darf den Blick dafür nicht verstellen, daß das Gewaltenteilungsprinzip einen einheitlichen Grundsatz darstellt. Alle Bestimmungen des Grundgesetzes, vor allem die Art. 20 II, 5, 9 und 21 sind also im Lichte des gemeinsamen Prinzips zu sehen, das als Generalklausel wohl im Rechtsstaatsprinzip und - als von der Geschichte als notwendiges Pendant begriffen - im Demokratieprinzip verankert ist. Die einzelnen Verfassungsbestimmungen sind in diesem Zusammenhang zu deuten. Dabei muß versucht werden, das Grundgesetz so zu interpretieren, daß den Zielen des Gewaltenteilungsprinzips entsprechend die Freiheit der Bürger und die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung gewährleistet werden. Durch die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung als Ziel des Rechtsstaatsund Demokratieprinzips wird auch noch gewährleistet, daß die drei Staatsfunktionen auf voneinander unabhängige Organe verteilt werden. Dieser von Montesquieu begründete, von Rousseau und den Federalists weiter entwickelte Gedanke ist heute nicht nur in Art. 20 Il, sondern auch in den Bestimmungen des Grundgesetzes über die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit verankert. Dadurch, daß das Parlament nur allgemeine Akte erlassen darf, die Verwaltung aber an das Gesetz gebunden ist, wird sichergestellt, daß die persönlichen Beziehungen der Staatsorgane zu bestimmten Personen oder Personengruppen keine Rolle spielen. V. Aufteilung der Macht Ein dritter Aspekt der Gewaltenteilung ist die Forderung, daß die staatliche Macht auf zahlreiche Organe, Behörden und Gerichte so aufgeteilt wird, daß

§ 16 Nationalstaat und Demokratieprinzip

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der Staat dem Bürger niemals mit der Fülle seiner gesamten Macht und seines gesamten Wissens als Block gegenübertritt. Diese Ausformulierung des Gewaltenteilungsprinzips dient auf der einen Seite der Richtigkeit der staatlichen Entscheidung, weil infolge der damit verbundenen Arbeitsteilung die Behörden sich jeweils mit einem bestimmten öffentlichen Interesse identifizieren, das Gesetz intensiv studiert haben, die Sachverhalte kennen und es Folge von Routine schneller und effektiver arbeiten können. Dieser Aspekt des Gewaltenteilungsprinzips dürfte im Rechtsstaatsprinzip verankert sein, das auf die materielle Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Dieser Aspekt des Gewaltenteilungsprinzips dient zugleich den Freiheiten des Bürgers; insoweit ist auf den Gesamtzusammenhang der Menschenrechte abzustellen. Auch dieser Aspekt des Gewaltenteilungsprinzips hat eine ganze Kette von Rechtsfolgen. Auf der einen Seite kann mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Rechtsstaatsprinzip nicht nur das behördliche Verfahren abgeleitet werden: Eine Verletzung der Zuständigkeitsordnung stellt vielmehr auch eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips dar, die mit der Verfassungsbeschwerde verfolgt werden kann.

§ 16 Nationalstaat und Demokratieprinzip369 Das Grundgesetz läßt in zahlreichen Bestimmungen erkennen, daß es neben den anderen Staatszielbestimmungen auch das Nationalstaatsprinzip rechtlich verankern will. Typisch für die moderne Verfassungsentwicklung ist dabei, daß auch das Grundgesetz das Nationalstaatsprinzip mit dem Souveränitätsprinzip und dem Demokratieprinzip koppelt. Das Nationalstaatsprinzip wurde zunächst umfassend in der Präambel des Grundgesetzes festgelegt, welcher nach der Rechtsprechung des BVerfG die gleiche rechtliche Verbindlichkeit wie den anderen Bestimmungen des Grundgesetzes zukommt. In der Tat hieß es an dieser Stelle des Grundgesetzes, das Deutsche Volk habe das Grundgesetz beschlossen von dem Willen beseelt, "seine nationale und staatliche Einheit zu wahren". Der Begriff der nationalen Einheit wurde also deutlich von dem der staatlichen Einheit getrennt. Das aber bedeutet, daß das Grundgesetz mit der Nation nicht nur das Staatsvolk, sondern die durch die gemeinsamen Werte konstituierte Staatsnation meint. Daß das Grundgesetz neben der Staatsnation auf die Kulturnation abstellt, wird auch in Art. 116 I GG deutlich, nach welchem Deutsche im Sinne des Grundgesetzes

369 Die folgenden Ausführungen sind eine leicht modifizierte Version der Seiten 677-681 meines Lehrbuches Staatsrecht I - Staatsorganisationsrecht, 1993. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Carl Beymanns Verlages.

14 Bleckmann

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

nicht nur die deutschen Staatsangehörigen, sondern auch Flüchtlinge und Vertriebene "deutscher Volkszugehörigkeit" sind. In den Bestimmungen über das Staatsorganisationsrecht wird die Nation dagegen primär im Sinne der Staatsnation verstanden. Typisch hierfür ist, daß das aktive und das passive Wahlrecht auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene den Deutschen vorbehalten wird. Der Grund für diese Beschränkung, die im Demokratieprinzip an sich nicht notwendig angelegt ist, stellt die besondere wechselseitige Treuebeziehung zwischen den Staatsangehörigen und ihrer Nation dar, die sicherstellt, daß die Wähler bei ihren Entscheidungen die Interessen des Deutschen Volkes beachten. Dieser Gedanke liegt auch der Beschränkung des Zugangs zu den Beamtenstellen auf Deutsche zugrunde. Da nur die Deutschen das Wahlrecht besitzen, werden auch die politischen Grundrechte (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) grundsätzlich den Deutschen vorbehalten. Die Staatsangehörigkeit begründet aber nicht nur Pflichten der Individuen gegenüber der Nation, sondern auch Pflichten der Nation gegenüber ihren Angehörigen. Besonders deutlich wird diese Schutzrichtung bei Art. 12 GG, der die Arbeitsplätze grundsätzlich Deutschen reservieren will. Aus diesem Gedanken wird neben den Grundrechten auch der Anspruch der Staatsangehörigen auf diplomatischen Schutz des Bundes gegenüber dem Ausland abgeleitet. Besonderen Ausdruck findet diese Verpflichtung ferner in dem Eid, den der Bundespräsident und die Mitglieder der Bundesregierung bei ihrem Amtsantritt zu leisten haben. Nach Art. 56, 64 II GG haben diese Amtsträger zu schwören, daß sie "ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden" werden. In seiner extremen Übersteigerung zu Ende des 19. Jh. und insbesondere zur Zeit des Nationalsozialismus ist vor allem auch das Nationalstaatsprinzip für die Überheblichkeit und Arroganz des deutschen Reiches, für seine weit überzogene Großmachtpolitik und damit letztlich für zwei Weltkriege verantwortlich. Geht man davon aus, daß das Grundgesetz die Lehren aus der Vergangenheit ziehen und sich insbesondere von der NS-Politik distanzieren wollte, spricht vieles dafür, daß unsere Verfassung das Nationalstaatsprinzip rechtlich nicht verankert hat; dazu kommt, daß es in Verstärkung des Souveränitätsprinzips den Staat von der Völkerrechtsgemeinschaft abzukaspeln tendiert und damit gewisse Tendenzen entwickelt, die eindeutig gegen die vom Grundgesetz gewollte Zusammenarbeit mit den Völkern, vor allem im Rahmen der europäischen Integration gerichtet sind. Das ist wohl der eigentliche Grund, warum Lehre und Rechtsprechung das Nationalstaatsprinzip, wenn überhaupt, so doch nur am Rande behandeln. Diese Auffassung übersieht aber, daß, wie wir im folgenden zeigen werden, das Nationalstaatsprinzip eine ganze Reihe

§ 16 Nationalstaat und Demokratieprinzip

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von positiven Voraussetzungen für das Funktionieren der Demokratie liefert und das Grundgesetz deshalb in der Präambel, in der Verankerung der deutschen Grundrechte (Art. 8, 9, 11 und 12) und der deutschen Staatsangehörigkeit wohl auch auf das Nationalstaatsprinzip Bezug nimmt. Bei einer umfassenden Behandlung der Staatszielbestimmungen dürfen wir das Nationalstaatsprinzip daher nicht einfach übergehen. I. Zur Geschichte und zum Begriff des Nationalstaats 1. Der Nationalbegriff läßt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Damals bezog er sich auf den Zusammenschluß der Studenten und Lehrer eines bestimmten Volkes an den damals noch internationalen Hochschulen. Seine heutige Bedeutung hat der Begriff allerdings erst in der französischen Revolution von 1789 erhalten. Damals wurde die Souveränität vom Fürsten auf das Volk übertragen. Als eigentlicher Handlungsträger der staatlichen Politik erschien so nunmehr das Volk. Das erforderte eine Abgrenzung des Staatsvolkes vor allem auch deshalb, weil der Kreis der Personen näher umrissen werden mußte, dem das aktive und passive Wahlrecht zugestanden werden sollte. Da das Demokratieprinzip an sich verlangt, daß das Parlament an den Willen der durch die staatliche Entscheidung betroffenen Grundrechtsträger zurückgebunden wird, hätte es nahegelegen, unter dem Volk die Gesamtheit der damaligen Bewohner des französischen Staatsgebiets zu verstehen. Seit der Entwicklung des modernen Staates, also ungefähr seit dem 16. Jh. hatte sich aber in Frankreich, wie übrigens auch in Großbritannien und Spanien, ein starkes Nationalbewußtsein entwickelt, das sich auf die gemeinsame Sprache, Tradition und Geschichte stützte. Das war der eine Grund, warum der Volksbegriff durch den Begriff der Nation überlagert wurde. Der zweite Grund für diese Entwicklung war das Machtstreben der französischen Nationalversammlung. Wie vor allem Carre de Malberg am Anfang unseres Jahrhunderts gezeigt hat, wurde der Nationalbegriff in Frankreich durch dieses Machtstreben der Nationalversammlung stark beeinflußt. In der Tat versteht man unter der Nation nicht die Gesamtheit der heute auf dem Staatsgebiet lebenden Staatsangehörigen. Die Nation ist vielmehr ein mystischer Körper (corpus mysticum), der die Gesamtheit der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen umfaßt. Die Einheit der Nation kann folglich nur repräsentiert werden. Unter der Repräsentation versteht man damit nicht eine Vertretung im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches, sondern das "Sichtbarmachen einer unsichtbaren Einheit". Die Nation sollte so deshalb mit der Folge durch die Nationalversammlung repräsentiert werden, daß die Souveränität letztlich nicht beim Volk, sondern bei der Nation, d.h. aber bei der Nationalversammlung als Repräsentation der Nation lag.

14*

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

In Deutschland gab es bis zwn Beginn des 19. Jh. im Gegensatz zu den alten Nationalstaaten Frankreich, Großbritannien und Spanien ein Nationalgefühl im eigentlichen engeren Sinne kaum. Dieses Gefühl der Einheit bezog sich damals vielmehr auf die enge persönliche Bindung an das jeweilige Fürstenhaus. Allerdings entwickelte sich vor allem seit Mitte des 18. Jh. das Gefühl einer engeren kulturellen Einheit aller Deutschen. Dieses Gefühl der kulturellen Einheit hatte aber dem Nationalbegriff widersprechend damals noch nicht die Tendenz, diese Einheit auch in einer gemeinsamen Staatlichkeit zu suchen. Erst die Ohnmacht der deutschen Staaten gegenüber Napoleon, insbesondere in den Befreiungskriegen von 1813 entwickelte dieses Nationalbewußtsein in einem engeren Sinne. Drei weitere Faktoren sollten im Laufe des 19. Jh. dieses anfangs noch sehr schwach entwickelte Nationalgefühl stärken. Auf der einen Seite ist hier auf die Philosophie Hegels370 und der Romantiker hinzuweisen, die sich auch in der historischen Rechtsschule äußerte: Nach dieser Konzeption beruht die historische Entwicklung auf der Tatsache, daß der Weltgeist im Volksgeist der einzelnen Nationenzum Ausdruck kommt, welcher den Inhalt der gesamten Kulturordnung einschließlich des Rechts bestimmt. Auf der anderen Seite war Voraussetzung der wirtschaftlichen Entwicklung des Kapitalismus, der durch die seit der Mitte des 19. Jh. einbrechende industrielle Revolution gewaltig vorangetrieben wurde, die wirtschaftliche Integration in einer größeren staatlichen Einheit. Und drittens konnten die deutschen Interessen in dem sich seit 1850 anbahnenden Kooperationsvölkerrecht nur durchgesetzt werden, wenn sie durch einen Staat repräsentiert wurden, der über eine hinreichende militärische und Verhandlungsmacht verfügte. Seit der französischen Revolution war der Gedanke des Nationalstaates, wie wir gesehen haben, mit dem demokratischen Prinzip und dem Souveränitätsprinzip eng verbunden. Träger der Souveränität war nun nicht mehr der Fürst, sondern das Volk in seiner Formierung als Nation. Die Nation hatte dabei ein Selbstbestimmungsrecht, das sich zunächst nur auf die Gestaltung der innerstaatlichen Verfassungsordnung, dann aber auf die Staatenbildung (Deutschland und Italien) erstreckte. Im 19. Jh. geraten somit das alte Legitimitätsprinzip der Fürstensouveränität mit der neuen Legitimation der Volkssouveränität in einen so starken Widerspruch zueinander, daß der Kampf um diese Ideologie fast den gesamten Inhalt der Außen- und Innenpolitk des 19. Jh. bestimmte: Auch die 1888 einsetzende Kolonisierung der gesamten Dritten Welt und die überzogene Großmachtpolitik zu Ende des 19. Jh. waren in dieser Sicht nur eine Folge des Nationalstaatsprinzips. Da auch in Deutschland das Nationalstaatsprinzip, das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip eng miteinander verbunden waren, wurden alle diese drei Grundsätze durch die damals noch herrschenden Regierungen bekämpft. Die Tragik der Deutschen Nationallibera370

Hege!, Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Moldenhauer , Eva, 1986.

§ 16 Nationalstaat und Demokratieprinzip

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len Partei war dabei, daß diese drei Ziele nicht alle gleichzeitig zu verwirklichen waren, sie deshalb die bismarcksche Einigungspolitik auch akzeptieren mußte, obwohl diese Politik primär nur das Nationalstaatsprinzip durchsetzte. 2. Der Begriff der Nation hat im französischen und im deutschen Rechtskreis eine unterschiedliche Definition erhalten. In Deutschland handelte es sich im 19. Jh. noch um die Begründung des deutschen Nationalstaates. Der Nationsbegriff konnte also nicht auf ein schon bestehendes Staatsvolk bezogen werden; er mußte auf eine materielle Definition zurückgreifen. Insbesondere konnte auch nur ein solcher materieller Begriff die für die Durchsetzung des Nationalstaatsgedankens notwendige politische Sprengkraft entfalten. Deshalb wurde - den Vorgaben der Philosophie Hegels und der Romantiker entsprechend - die Nation durch die Gemeinsamkeit von Sprache, Kultur und Geschichte umrissen. In Frankreich deckte sich dagegen seit dem 16. Jh. die Nation im materiellen Sinne weitgehend mit dem schon bestehenden Staatsvolk. Hätte man auf den materiellen Begriff zurückgegriffen, dann hätte insbesondere die deutschsprachige Bevölkerung von Elsaß-Lothringen zum Kreis der Nation nicht gehört. Wohl vor allem aus diesen Gründen definiert die französische Lehre den Staatsbegriff durch Rückgriff auf den gemeinsamen Willen, einen Staat zu bilden. Wie wir noch sehen werden, hat der materielle Nationsbegriff insbesondere auch die Tendenz, die Einheit der Vielvölkerstaaten (das alte Österreich, die Osmanische Türkei, die Schweiz) zu zerreißen. Wenn in diesen Staaten der Nationsbegriff verwendet werden soll, muß er also ebenfalls durch Rückgriff auf den gemeinsamen Staatswillen definiert werden. Der vor allem materielle Nationsbegriff verlangt auf der einen Seite, daß die Gemeinsamkeit der Nation überbetont, die Unterschiede vernachlässigt werden; es ist nur eine notwendige Folge einer solchen Überspitzung, daß die Unterschiede zu den anderen Nationen überbetont werden müssen. Im 19. Jahrhundert - aber auch im 20. Jahrhundert etwa für das Verhältnis zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland und für das "nation-building" der afrikanischen Staaten - hatte diese Konzeption des Nationsbegriffes insbesondere für die Geisteswissenschaften wichtige Konsequenzen. So wurden als Voraussetzung des Anspruchs für eine eigene Staatlichkeit etwa sprachliche Dialekte durch die Entwicklung einer eigenen Grammatik und Nationalliteratur zu Nationalsprachen hochstilisiert, um den Anspruch auf eine eigene "Kulturnation" zu tragen. Auf der anderen Seite wurde die geschichtliche Entwicklung so verzerrt dargestellt, als ob ihr innerer Sinn von Anfang an die Entwicklung des betreffenden Nationalstaates gewesen sei. Und drittens wurden die doch zweifellos vorhandenen Gemeinsamkeiten der europäischen Völker (griechische, römische und christliche Tradition) etwa dadurch hinweg diskutiert, daß die konstitutionelle deutsche Monarchie als typische Form des deutschen

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

Staatsdenkens verstanden und vor allem auch angenommen wurde, nur das deutsche Volk sei zu einem vollen Verständnis der griechischen Dichter befähigt. Die materiellen Gemeinsamkeiten sind nur notwendige Voraussetzungen des Begriffs der Nation, erschöpfen diesen Begriff aber nicht. Erforderlich für die Existenz einer Nation ist darüber hinaus, daß diese Gemeinsamkeit dem gesamten Volk in dem Sinne bewußt wird, daß es zu einem gemeinsamen Handeln- eben der Bildung eines Staates - oder zur Umsetzung der gemeinsamen Werte in die gesamte Rechtsordnung aufgerufen ist.

II. Das Verhältnis zum Demokratieprinzip Die obigen Darlegungen lassen die Beziehungen des Nationalstaatsprinzips zum Demokratieprinzip deutlich werden. Das Nationalstaatsprinzip bewirkt die Einheit des Volkes, die für die Handlungsfähigkeit eines auf das Demokratieprinzip gestützten Staates erforderlich ist und gleichzeitig wegen der Identifizierung mit der Nation in den Augen der Wähler als Kollektiv erscheint, dem in einer Situation, in welcher das politische Gewicht des einzelnen Wählers gegen Null tendiert, allein das hinter dem Demokratieprinzip stehende Selbstbestimmungsrecht verwirklicht. Das Nationalstaatsprinzip muß dabei im Lichte der Wertordnung des Grundgesetzes definiert werden. Der Verfassungspatriotismus (Dolf Sternberger) setzt darauf, daß neben den kulturellen gerade auch die rechtlichen Werte des Grundgesetzes wesentlicher Bestandteil des Nationalgefühls werden. Das Grundgesetz aber geht davon aus, daß dem Völkerrecht und dem Europäischen Gemeinschaftsrecht entsprechend die Bundesrepublik sich auf Buropa und die Völkerrechtsgemeinschaft hin öffnen muß. Es muß deshalb versucht werden, ein Nationalgefühl zu entwickeln, das die Einbettung des Nationalstaats in die Gemeinschaft und in die Völkerrechtsordnung verankert. Ebenso wie das Individuum nicht nur Angehöriger einer Familie, einer Gemeinde, einer Kirche und einer Berufsgruppe ist, muß das Individuum sich gleichzeitig als Angehöriger seines Landes, der Bundesrepublik, der Europäischen Union und als Weltbürger fühlen. Daß eine solche Vervielfaltigung der identifizierten Loyalität durchaus möglich ist, hat die Erfahrung deutlich gemacht. Der Irrtum, eine Loyalitätsbeziehung sei nur zu einer einzigen übergeordneten Gemeinschaft notwendig, beruht auf dem Ziel, Interessenkollisionen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften dadurch zu lösen, daß die Interessen der Nation stets einen eindeutigen Vorrang vor den Interessen der anderen Gemeinschaften eingeräumt werden soll. Auf dieser impliziten "Kollisionsnorm" beruht gleichzeitig auch die Vorstellung, eine doppelte Staatsangehörigkeit

§ 17 Zur Legitimation des Staates und der Verfassung

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verbiete sich, weil eine doppelte Loyalität nicht möglich sei. Aus der Sicht des Völkerrechts und des Gemeinschaftsrechts darf dieser Interessenkonflikt nicht durch eine einseitige Bevorzugung des Nationalinteresses, sondern muß durch eine sachliche Abwägung aller Interessen gelöst werden. Nur wenn sich die Bürger und damit der Staat mit allen übergeordneten Gemeinschaften identifizieren, kann aber die vom Völkerrecht und vom Europarecht geforderte sachlich-gerechte Abwägung aller Interessen erfolgen, wodurch ein vernünftiger Interessenkompromiß möglicht wird. Die vorangehenden Ausführungen machen deutlich, daß die heutige Leitlinie in Politik und Rechtswissenschaft, das Nationalstaatsprinzip zu tabuisieren, den damit aufgeworfenen Problemen nicht gerecht wird. Nicht nur im Bereich der internationalen und der europäischen Politik sowie bei der Bewältigung des Problems der multikulturellen Gesellschaft wird eine eindeutige Analyse der Frage nach dem Inhalt des Nationalstaatsprinzips erforderlich. Vielmehr dient eine solche Analyse auch der Ausarbeitung der Identität der Völker und der Individuen. Wird das Problem des Nationalgefühls nicht im Lichte der Werte der Rechtsordnungen definiert, ist Fremdenhaß die notwendige Folge. Werden der Wert, die Funktion und der Inhalt des Nationalstaatsprinzips nicht öffentlich rational durchdacht und diskutiert, wird das Nationalgefühl, das durch Verschweigen nicht zu unterdrücken ist, außer Kontrolle geraten und unterschwellig seine eigenen Wege gehen und dem lebendigen Begriff folgen, der in ihm angelegt ist.

§ 17 Zur Legitimation des Staates und der Verfassung I. Das Naturreche71 Nicht abschließend behandelt werden kann hier das Problem des Verhältnisses des Naturrechts zum positiven Recht und die damit angesprochene Frage nach der Legitimation und der Verbindlichkeit des Staates und des Rechts. Nach der durchaus herrschenden Lehre und Rechtsprechung begründet das Naturrecht die Legitimation und damit die Verbindlichkeit der Verfassung und der übrigen Rechtsordnung nicht positiv, sondern es zieht der Staatsgewalt und damit dem positiven Recht durch die Grundrechte nur von außen äußerste Schranken. Darüber hinaus meinen Lehre und Rechtsprechung, eine Verletzung

371 Die folgenden Ausführungen sind eine leicht modifizierte Version der Seiten 7984 meines Lehrbuches Staatsrecht I - Staatsorganisationsrecht, 1993. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Carl Heymanns Verlages.

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

des Naturrechts könne nur in Extremfällen festgestellt werden, weil jede Geistesströmung dem Naturrecht einen anderen Inhalt gegeben habe und dieser Inhalt bei den meisten Philosophen darüber hinaus äußerst unbestimmt bleibe. Diesem Konzept, welches dem Naturrecht trotz der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus nur eine sehr beschränkte positive Funktion zuschreibt, ist aus mehreren Gründen heftigst zu widersprechen:

1. Es ist zwar richtig, daß der Inhalt des Naturrechts in den einzelnen Geistesströmungen relativ unbestimmt bleibt und einen jeweils anderen Irlhalt gewinnt. Die damit verbundene Auffassung, das Naturrecht habe einen für die richterliche Anwendung zu unbestimmten Inhalt, übersieht aber, daß in der gesamteuropäischen Verfassungstradition, in welche sich auch das deutsche Geisteserbe einordnen läßt, die Grundrechte einen recht klaren und präzisen Inhalt erhalten haben. Der EuGH ist deshalb zu Recht der Auffassung, daß auch diese durch einen Vergleich des Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten und durch Rückgriff auf die EMRK zu entwickelnde gesamteuropäische Verfassungstradition als allgemeiner Rechtsgrundsatz eine gesamteuropäische Rechtsquelle bildet, welche auch die Mitgliedstaaten bindet. Das bedeutet aber, daß der Inhalt des auch die Bundesrepublik bindenden "konkreten" Naturrechts im Einzelfall etwa durch Rückgriff auf die EMRK durchaus festgestellt werden kann. 2. Im Gegensatz zur herrschenden Lehre stellt dabei dieses "konkrete" Naturrecht nicht nur eine von außen dem positiven Recht gezogene Schranke dar. Diese Konzeption übersieht nämlich einmal, daß als primärer Ausfluß des Naturrechts schon die Grundrechte nicht nur eine Abwehrfunktion besitzen, sondern auch Leistungsansprüche und institutionelle Garantien begründen und darüber hinaus - wenn auch recht unpräzise - die Ziele des staatlichen Handeins und damit des positiven Rechts festlegen. Entscheidender ist, daß auch das Demokratieprinzip aus einem dreifachen Grunde eine naturrechtliche Wurzel besitzt. Einmal gehört es nämlich, wie in der EMRK und in der Rechtsprechung des EuGH372 deutlich wird, ebenso zur gemeinsamen europäischen Verfassungstradition und damit zum "konkreten" Naturrecht wie die Grundrechte selbst. Zweitens stellt das Demokratieprinzip nur das notwendige Mittel zur Durchsetzung der naturrechtlich verankerten klassischen und sozialen Grundrechte und damit des Rechts- und des Sozialstaatsprinzips dar und partizipiert damit indirekt am Naturrechtscharakter der Grundrechte. Und drittens muß die Staatenpraxis bei jeder

372 Vgl. EuGH, 29.10.1980- Roquette Freres I Rat, 138179- Slg. 1980, 3333 (3360); EuGH, 29.10.1980- Maizena I Rat, 139179- Slg. 1980, 3393 (3424); dazu: Bleckmann (Amn. 134), Rdnr. 278 ff., 325 f.

§ 17 Zur Legitimation des Staates und der Verfassung

217

Totalrevision der Verfassung, die sich per definitionem nicht auf die Vorschriften der vorangehenden Verfassung stützen kann, von der Geltung des Demokratieprinzips ausgehen, weil nur auf diese Weise die Mehrheitsentscheidungen in Abstimmungen und Wahlen für die Individuen verbindlich werden. 3. Schließlich können weit über die obigen Grundsätze hinaus sogar die Verbindlichkeit des positiven Rechts und die Legitimität des Staates nur auf das "konkrete" Naturrecht gestützt werden. In der Tat läßt sich zunächst einmal die "innere" Verbindlichkeit des Rechts nur auf das Naturrecht stützen. Wenn man mit Kelsen373 die Verbindlichkeit des positiven Rechts nur auf dessen Effektivität, d.h. auf die Tatsache stützt, daß es sich in der Verfassungswirklichkeit durchsetzt, vermittelt die Rechtsordnung nämlich nicht die für ihren freiwilligen Vollzug notwendige innere Zustimmung der Individuen, sondern beruht nur auf dem staatlichen Zwangsmechanismus. Man kann die Verbindlichkeit des Rechts und die Legitimation des Staates auch nicht mit den Autoren des 17. und 18. Jh. 374 auf einen stillschweigenden Gesellschaftsvertrag zwischen allen Individuen stützen, weil dieser Vertrag mangels ausdrücklicher Zustimmung der Bevölkerung rein fiktiv bleibt. So bleibt nur die Möglichkeit, die Legitimität des Staates und damit die innere Verbindlichkeit der positiven Rechtsordnung darauf zu stützen, daß die Individuen bei einer rationalen Verfolgung ihrer Eigeninteressen die staatliche Rechtsordnung und den Staat anerkennen müssen, weil nur die staatliche Rechtsordnung in der Lage ist, die klassischen Freiheiten und die sozialen Grundrechte der Individuen zu schützen und durchzusetzen. In dieser Sicht beruht die Legitimation des Staates nicht, wie weithin angenommen wird, primär auf dem Demokratieprinzip. Zwar ist das Demokratieprinzip heute im Volke so stark ideologisch verankert, daß selbst eine Verletzung des Rechts- und des Sozialstaatsprinzips durch Mehrheitsentscheidungen gefordert wird. Die Tatsache, daß in Krisenzeiten, insbesondere bei der Funktionsunfähigkeit des Demokratieprinzips, sich andere Verfassungsformen durchsetzen, zeigt aber, daß letzte Legitimation des Staates und der Rechtsordnung der Schutz und die Durchsetzung der klassischen und sozialen Grundrechte darstellen. Die Legitimation und Verbindlichkeit des Staates und seiner Rechtsordnung können auch nicht allein durch die Grundrechte nur in ihrer Funktion als Abwehrrechte begründet werden, weil dann für die Akzeptanz des Inhalts des Rechts noch kein hinreichender Grund besteht. Vielmehr

373

Kelsen (Anm. 175), S. 212 ff.

Vgl. Locke (Anm. 48); Rousseau (Anm. 80); de Montesquieu, De l'esprit des lois, 1748, ND 1956. 374

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

müssen sich die Struktur der konkreten Verfassung und der Inhalt der einzelnen Rechtssätze durch das Naturrecht begründen lassen. Nur wenn die Struktur des Staates dem westlichen Demokratie-, Rechts- und Sozialstaatsprinzip entspricht, ist nicht nur garantiert, daß im Regelfall überhaupt eine für die Allgemeininteressen notwendige Entscheidung ergeht und diese Entscheidung voll durchgesetzt wird; nur dann besteht vielmehr eine hirneichende Garantie, daß der Staat im Durchschnitt aller Fälle mit seinen Rechtssätzen des positiven Rechts die durch die klassischen und sozialen Grundrechte geschützten Individualinteressen sachlich-gerecht im Lichte der Wertordnung der Individuen miteinander abwägt. Natürlich können diese Staatszielbestimmungen allein nicht garantieren, daß vor allem in Krisenzeiten eine solche Entscheidung immer und stets rechtzeitig gefallt wird. Wenn also langfristig und im Durchschnitt aller Fälle gesehen nur die Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes richtige Entscheidungen garantieren können, mag kurzfristig insbesondere bei der Handlungsfahigkeit des Parlamentes das Allgemeininteresse durch einen "Diktator" besser durchgesetzt werden. Da die Bevölkerung aber ihre langfristigen hinter ihre kurzfristigen Interessen zurückstellt, erklärt diese Legitimation des Staates insbesondere aus dem Sozialstaatsprinzip den manchmal häufigen Wechsel der Verfassungsformen.

II. Die Legitimation des Staates und des staatlichen Handeins Seit der berühmten Abhandlung von Max Weberl75 zu den verschiedenen Legitimationsgrundlagen des Staates und des staatlichen Handeins reißt die Kette der Veröffentlichungen zu diesem Thema nicht mehr ab. Da es sich zum allergrößten Teil um Beiträge von Soziologen handelt, welche diese Frage zur Verfassung nicht in Bezug setzen, können wir darauf verzichten, den Inhalt dieser Beiträge hier zusammenfassend darzustellen. 1.

Die Problematik der Legitimation des Staates und des staatlichen Handeins beruht auf der Tatsache, daß aller Erfahrung nach die Macht auf Bajonette allein nicht gestützt werden kann und die Durchsetzung der Rechtsordnung des freiwilligen Vollzugs durch die Individuen bedarf, Staat und Recht also vom breiten Volk akzeptiert werden müssen, um funktionsfahig zu bleiben. Natürlich sind dabei die Gründe, aus denen heraus die einzelnen Individuen die jeweilige Staatsordnung akzeptieren, sehr unterschiedlich: Sie reichen von der Gewöhnung, dem Wunsch, den Weg des geringsten Widerstands einzuschlagen, über die Tatsache, daß die bestehende Rechtsordnung die individuellen, 375

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1922.

§ 17 Zur Legitimation des Staates und der Verfassung

219

vor allem materiellen Interessen der Individuen fördert, bis zur Akzeptanz einer bestimmten politischen Ideologie: Diese ideologische Begründung der Staatsmacht, die aus den verschiedensten Gründen für die Zustimmung zur Verfassung meistens den Ausschlag gibt, muß dabei einer näheren Analyse unterzogen werden. Dabei sind zwei Seiten zu unterscheiden: Einmal kann man sich darauf konzentrieren, die Elemente herauszuarbeiten, auf welche die jeweils geltende Verfassung ihre Legitimation selbst stützen will. Die Frage nach der Legitimität fällt dann weitgehend mit der nach der Legalität zusammen. Das eigentliche Problem ist aber, festzustellen, aus welchen, vor allem ideologischen Gründen das breite Volks selbst die Verfassung akzeptiert. In der Verfassungswirklichkeit müssen nun - da nur so das von der Verfassung angestrebte ordnungsgemäße Funktionieren des Staates gewährleistet wird - beide Seiten möglichst zusammenfallen. Das bedeutet einerseits, daß der Staat durch seine Öffentlichkeitsarbeit, vor allem auch durch seine Erziehung, sich bemühen muß, die Werte der Verfassung im Bewußtsein des breiten Volkes zu verankern. Das bedeutet auf der anderen Seite aber auch, daß die Verfassung so interpretiert werden muß, daß sie den sich ändernden Verfassungsvorstellungen des breiten Volkes weitgehend entspricht. Hier finden wir also ein weiteres Einfalltor für die Einbeziehung etwa gerade auch der Literatur in die Interpretation des Grundgesetzes. ~- Das vorliegende Lehrbuch kann natürlich die Entwicklung der Legitimationsvorstellungen seit dem Mittelalter nicht in allen Details darlegen. Wir müssen uns aber bemühen, durch die notwendigen historischen Hinweise das Legitimationsproblem für die heutige Zeit deutlich zu machen. Grundsätzlich ist dabei davon auszugehen, daß auf der einen Seite für die Begründung der Legitimation des Staates stets auf die Werte zurückgegriffen wird, die in der jeweiligen Geistesepoche den höchsten Stellenwert beanspruchen, und daß auf der anderen Seite diese die so begründete Legitimationsgrundlage, den Aufbau von Staat und Gesellschaft und das letzte Ziel des gesamten staatlichen Handeins bis ins Detail zu bestimmen suchen.

Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß infolge der tiefen Religiösität im Mittelalter die Legitimationsgrundlage nicht nur der Kirche, sondern auch des Staates der Auffassung der katholischen Kirche entsprechend durch die in der Bibel zum Ausdruck gelangende göttliche Offenbarung im lebendigen Verständnis von Tradition und Gesamtkirche festzulegen war. Das aber bedeutet, daß nicht nur die religiösen Dogmen, sondern auch der Aufbau von Kirche, Staat und Gesellschaft das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft und der Inhalt des staatlichen Handeins weitgehend durch die Glaubensinhalte bestimmt wurden. Da letztes Ziel des Menschen die ewige Seeligkeit war, waren auch

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

die Aufgaben von Kirche und Staat an diesem letzten Ziel ausgerichtet. Der Staat wurde in einer solchen Sicht als Diener, als weltlicher Arm der Kirche verstanden. Das aber bedeutet, daß, weil auch die Staatsverfassung und vor allem das gegenseitige Verhältnis von Staat und Kirche durch den Glauben bestimmt wurden, die Frage danach, wem in einem solchen System die Befugnis zur Interpretation und verbindlichen Festlegung der Weltanschauung zustand, von entscheidender Bedeutung war. Diese Frage konnte im Machtkampf zwischen Kaiser und Papst nie endgültig entschieden werden. Während im frühen Mittelalter die Vormacht beim Kaiser lag, drohte sie sich im Laufe des 11. Jh. umzukehren. Insbesondere Bernhard von Clairvaux (1090 - 1153)376 wollte so das Verhältnis zwischen Staat und Kirche danach bestimmen, daß nach der Offenbarung Gott die beiden Schwerter der kirchlichen und weltlichen Gewalt Petrus verliehen hat. 377 Dieses Argument wurde verstärkt durch das Gleichnis, der Staat empfange wie der Mond von der Sonne sein Licht durch den Glauben, also letztlich nur durch die kirchliche Gewalt. Auch wurde darauf abgestellt, daß auf der einen Seite das gesamte staatliche Handeln der Fürsten der katholischen Ethik und damit der kirchlichen Jurisdiktionsgewalt unterliege und andererseits in gewissen, bei der Kaiserwahl verwendeten Symbolen, etwa der Salbung und der Aufsetzung der Kaiserkrone durch den Papst, die Obergwalt des Papstes über den Kaiser zum Ausdruck gelangte. 111. Legitimation durch Demokratie Wird der Aufbau des Staates und sein Verhältnis zur Kirche durch den Glauben festgelegt, muß außerdem die Interpretationsgewalt über diese Normen der Kirche zufallen. Der Kaiser und die Könige haben stets versucht, sich von dieser Interpretationsgrundlage zu lösen. Einerseits wurden vor allem im frühen Mittelalter der Kaiser und die Könige als "Traumaturg", d. h. als eine Art Oberpriester verstanden, der einen Vorrang vor dem Papst auch in der Kirche beanspruchen kmmte. Gleichzeitig wurde versucht, die Macht der Kirche durch eine Verlagerung der kirchlichen Souveränität vom Papst auf die Konzile zu schwächen. Die Fürsten griffen darüber hinaus aber auch auf säkulare Legitimationsgrundlagen zurück: Im Anschluß an Aristoteles wurde der Staat so als autarker von der Kirche unabhängiger Organismus mit eigenen, weltlichen Zielen verstanden. Und Marsilius von Padua hat schon im 13.Jahrhundert das Demokratieprinzip bemüht, um nachzuweisen, daß die Macht der Fürsten nicht von Gott oder der Kirche, sondern vom Volk abgeleitet ist. 376

Vgl. Friedlein, Geschichte der Philosophie, 13. Aufl. 1980, S. 110.

Levison, Die mittelalterliche Lehre von den beiden Schwertern, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, Bd. 9, 1951, 14 ff., 28 ff. 377

§ 17 Zur Legitimation des Staates und der Verfassung

221

Zu Beginn der Neuzeit verschoben sich die mittelalterlichen Legitimationsgrundlagen des Staates. Einerseits stiftete die Reformation die Möglichkeit oder sogar die Notwendigkeit, trotz Beibehaltung einer theologischen Grundlage die Legitimation der Staatsgewalt aufbeiden Religionsparteien gemeinsame, allgemein christliche Grundlagen zu stellen, und damit von der Interpretationsgewalt der katholischen Kirche unabhängig zu werden. Insbesondere in den protestantischen Territorien konnte der Fürst als summus episcopus ferner auch die Gewalt über die Kirche und damit die Interpretationsgewalt über seine Legitimationsgrundlagen an sich ziehen. Darüber hinaus wurden im Anschluß an Thomas von Aquin die Ziele des Staates nunmehr verweltlicht. In den Bürgerkriegswirren trat die Aufrechterhaltung des inneren Friedens in den Vordergrund, und diese Staatsaufgabe konnte offensichtlich nur bewältigt werden, wenn die Souveränität im Staat nur einer Person, also dem Monarchen zufiel (Bodin). Bei allen Legitimationsformen, insbesondere in der germanischen (aber auch etwa in der chinesischen) Tradition spielte eine wichtige Rolle, daß der Fürst das "Heil" des Volkes zu gewährleisten hatte, in der modernen Terminologie also die öffentlichen Interessen verwirklichen mußte. Dieses Ziel bestand bei den Germanen im Sieg auf dem Schlachtfeld, das die Möglichkeit zur Beute eröffnete. In der christlichen Theologie bestand das Heil im Seelenheil der Individuen, also im Anschluß an Aristoteles in der Gewährleistung eines tugendhaften Lebens. Nach der Reformation sollte sich dieser Heilgedanke im Zuge der allgemeinen Säkularisierung auf die Sicherung von Freiheit und in der Befriedigung der materiellen Interessen bestehen. Diese Entwicklung sollte in der amerikanischen und in der französischen Revolution in den Vordergrund treten. Insbesondere in Frankreich wurden die "republikanischen Prinzipien" zur Legitimationsgrundlage des Staates. Dieser Begriffverbindet das Demokratie- mit dem Rechtsstaatsprinzip. Bekanntlich wurde das ganze 19. Jahrhundert durch den Kampf zwischen dem demokratisch-republikanischen und dem monarchischen Prinzip geprüft. Dabei gingen diese beiden Legitimationsgrundlagen unterschiedliche Verbindungen ein. In der deutschen konstitutionellen Monarchie wurde das demokratische mit dem monarchischen Prinzip verbunden. Napoleon dagegen versuchte, die römische republikanische und kaiserliche Tradition mit den Prinzipien der Französischen Revolution und mit dem monarchischen Prinzip des 19. Jahrhunderts zu verbinden. Natürlich haben auch diese "künstlichen" Verbindungen die Spannungslage zwischen den verschiedenen, entgegengesetzten Prinzipien nicht auflösen können. Es mußte deshalb zu ständigen Auseinandersetzungen über die Verfassungslage kommen.

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3. Teil: Zusammenhänge mit anderen Staatszielbestimmungen

Im 20. Jahrhundert hat weitgehend das Demokratieprinzip gesiegt. Allerdings wurde es im Osten im Sinne des Marxismus-Leninismus, im Westen im traditionellen liberalen Sinne verstanden. Seit dem Zusammenbruch des Sovietimperiums hat sich das liberale Demokratieprinzip weltweit durchgesetzt. Allerdings ist damit zu rechnen, daß im Nord-Süd-Konflikt eine neue Spaltung auftritt: Die Entwicklungsstaaten verstehen die Menschenrechte nicht im extrem individualistischen Sinne der industrialisierten westlichen Staaten; sie neigen dazu, bei der Ausgestaltung der Menschenwürde die sozialen Grundrechte über die Freiheiten zu stellen. Dieser kurze Überblick über die Entwicklung der Legitimationsgrundlagen dürfte deutlich gemacht haben, daß die Legitimation des Staates heute nicht auf einem nur formal definierten Demokratieprinzip beruhen kann. Vielmehr sind auch bei diesem Problem die gegenseitigen Beziehungen zwischen dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip zu beachten. Außerdem beruht die Legitimation des Demokratieprinzips in diesem wnfassenden Sinne vor allem auch auf dem Erfolg des mit den diesen Prinzipien gekoppelten liberalen Wirtschaftssystems.

Vierter Teil

Staatsorganisationsrecht und Demokratieprinzip § 18 Zur teleologischen Interpretation

des Staatsorganisationsrechts I. Der theoretische Ansatz

Obwohl die Teleologie als Auslegungsmethode allgemein und für das Staatsrecht insbesondere generell anerkannt wird, hat die Literatur für die Interpretation des Staatsorganisationsrechts auf diese Methode bisher nur selten zurückgegriffen: Das Staatsorganisationsrecht wird weithin nur durch Rückgriff auf die Methoden der historischen, grammatikalischen und systematischen Auslegung interpretiert. Der Grund hierfür scheint vor allem die Tatsache zu sein, daß die teleologische Methode im Staatsorganisationsrecht die für die Praxis der Staatsorgane erforderliche Rechtssicherheit nicht zu gewährleisten scheint. Diesem nur "formellen" Ansatz in Rechtsprechung und Lehre stehen·vor allem vier Bedenken gegenüber. Einerseits hat das Bundesverfassungsgericht etwa in seinen Entscheidungen über die Parteienfinanzierung378 , über die Verfassungsmäßigkeit der 5 %-Klausel im Wahlgesetz379 und über den Aufbau der öffentlichen Rundfunk-und Fernsehanstalten380 eindeutig auf die teleologische Methode, auf Argumente zurückgegriffen, welche der Allgemeinen Staatslehre zuzuordnen sind. Außerdem findet sich dieser Ansatz teilweise auch in der Literatur. Zweitens verlangt, wie wir im Vorwort dieser Arbeit dargelegt haben, der Grundsatz der Einheit der Verfassung die Überwindung des Hiatus zwischen dem Grundrechtsteil und dem organisationsrechtlichen Teil des Grundgesetzes. Drittens zeigt die historische Entwicklung gerade des Demokratieprinzips, daß nach der liberalen Auffassung, die auch dem Grund-

378

Vgl. Bleckmann (Anm. 218), S. 170 ff.

Vgl. v. Münch, in: I. v. Münch (Anm. 270), Bd. 2, 3. Aufl. 1995, Art. 38, Rdnr. 45. 379

380

Vgl. Bleckmann (Anm. 208), S. 829.

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4. Teil: Staatsorganisationsrecht und Demokratieprinzip

gesetz zugrunde liegen dürfte, der Staat so aufgebaut werden muß, daß die Staatsziele automatisch erreicht werden. Das Staatsorganisationsrecht muß also so interpretiert werden, daß die Staatsziele durchgesetzt werden. Schließlich überzeugend dürfte vor allem das vierte Argument sein: Daß nämlich zahlreiche verfassungsrechtliche Probleme ohne Rückgriff auf die teleologische Auslegung überhaupt nicht zu lösen sind. Das gilt nicht nur für die Probleme der Parteienfinanzierung, sondern etwa auch für die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Referendums, die Definition des Gesetzesvorbehalts und die genaue Inhaltsbestimmung des Gewaltenteilungsgrundsatzes. Bei der Anwendung der teleologischen Methode auf das Staatsorganisationsrecht müssen wir aber die Prinzipien der Allgemeinen Staatslehre auf das Verfassungsrecht übertragen. Wir müssen also fragen, inwieweit die einzelne Norm der Durchsetzung der verfassungsrechtlich verankerten Ziele dienstbar gemacht werden kann; dabei ist zu fragen, welche dieser Ziele jeweils in den Vordergrund gerückt werden müssen. Zudem ist die von den Federalist Papers entwickelte Methode zu beachten: Die Rechtssätze der Verfassung sind also so zu interpretieren, daß ihr Effekt für die einzelnen Staatsziele maximiert und eventuelle Nachteile möglichst reduziert werden. Fraglich kann also nur sein, ob das Grundgesetz mit der Verankerung des Demokratieprinzips in Art. 20 III und 28 I das Demokratieprinzip letztlich an den Zielen der Freiheit, der Gleichheit und der Richtigkeit der staatlichen Entscheidungen ausgerichtet hat. Grundsätzlich wird man davon ausgehen müssen, daß unsere Verfassung das Demokratieprinzip nicht nur rein formal versteht. Soll dieses Prinzip aber einen Sinn und Zweck besitzen, kann nur auf die philosophische Tradition zurückgegriffen werden. Das liegt vor allem auch deshalb nahe, weil sich das Grundgesetz allein der liberalen Tradition verpflichtet fühlt. Berücksichtigt man ferner den Zusammenhang zwischen den einzelnen Normen der Verfassung, wird diese Auffassung deutlich: Da die Menschenwürde gleich am Anfang der Verfassung in Art. 1 II GG geschützt wird, muß davon ausgegangen werden, daß die Durchsetzung der Menschenwürde das letzte Ziel aller Bestimmungen der Verfassung, also auch des Staatsorganisationsrechts ist. Die Menschenwürde aber verlangt auf der einen Seite, wie Art. 1 II GG deutlich macht, die Durchsetzung des Gleichheitssatzes und der Freiheiten. Nach der Kantschen Formel, von welcher auch das Bundesverfassungsgericht mehrfach ausgegangen ist, 381 beinhaltet die Menschenwürde ferner, daß der Bürger niemals nur das Objekt des staatlichen Handeins sein darf. Diese Auffassung kommt als pars pro toto auch in Art. 19 IV GG deutlich zum Ausdruck. Diese Gedankenkette macht aber deutlich, daß auch das Demokratieprinzip so interpretiert werden muß, daß es auch dem Selbst381

Vgl. Bleckmann (Anm. 208), S. 546 ff.

§ 18 Teleologische Interpretation des Staatsorganisationsrechts

225

bestimmungsrecht der Bürger dient. Die Richtigkeit der staatlichen Entscheidungen ist dagegen das letzte Ziel des Rechtsstaatsprinzips. Das aber setzt voraus, daß alle Nonnen der Verfassung so interpretiert werden müssen, daß die vom Rechtsstaatsprinzip intendierte materielle Gerechtigkeit tatsächlich auch erreicht wird. II. Zur Anwendung der teleologischen Methode auf einzelne Sachbereiche

1. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Referendums Ob und wann das Grundgesetz den Rückgriff auf Referenden gestattet, wird wegen des vagen Wortlauts des Art. 20 III 2 (Ausübung der Volksgewalt durch besondere Organe und durch Wahlen und Abstimmungen) in der Literatur äußerst kontrovers diskutiert. 382 Die "formellen" Auslegungsmethoden können insoweit keine Lösung bringen. Wir haben nun oben schon gezeigt, daß der Rückgriff auf die teleologische Interpretation zu dem Ergebnis führt, daß wegen der Richtigkeitsgarantie des Grundgesetzes die Verankerung des parlamentarischen Systems in der Verfassung den Rückgriff auf Referenden grundsätzlich ausschließt. Eine Ausnahme greift nur dann, wenn angesichts der konkreten Situation die Rückbindung der Abgeordneten an den Wählerwillen nicht mehr hirneichend gewährleistet ist und das Selbstbestimmungsrecht eine stärkere Beteiligung der Bürger im politischen Willensbildungsprozeß fordert. 2. Wahlsystem und Status der Abgeordneten Das Bundesverfassungsgericht beurteilt die Zulässigkeit des Verhältnis- und des Mehrheitswahlrechts sowie einer Kombination zwischen beiden Systemen allein unter dem Blickwinkel des in Art. 38 I GG verankerten Gleichheitssatzes. 383 Die Ziele des Demokratieprinzips machen nun deutlich, daß die Zulässigkeit dieser Systeme auch unter dem Blickpunkt des Demokratieprinzips bewertet werden muß. Es gilt, auf der einen Seite die Rückbindung der Abgeordneten an die Wählerschaft zu vergrößern, auf der anderen Seite sicherzustellen, daß die politischen Parteien bei ihren Entscheidungen alle durch diese Entscheidungen betroffenen Interessen sachlich-gerecht miteinander abwägen. Das Mehrheitswahlrecht hat nun eine Stärkung der Stellung des einzelnen Abgeordneten, aber auch eine stärkere Bindung dieses Abgeordneten an die 382

Vgl. Krause, in: Isensee/Kirchhof (Anm. 185), Bd. II, 1987, § 39 Rdnr. 1 ff.

Vgl. von Münch, in: I. v. Münch (Anm. 270), Bd. 2, 3. Aufl 1995, Art. 38, Rdnr. 51. 383

15 Bleckmann

226

4.Teil: Staatsorganisationsrecht und Demokratieprinzip

regionalen Interessen seines Wahlkreises zur Folge. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip stärkt dagegen die politischen Parteien und schwächt die Stellung der Abgeordneten. Das Mehrheitssystem beeinträchtigt also den Zwang der Parteien, sich am Allgemeininteresse auszurichten; es führt dazu, daß die Partikularinteressen im politischen Willensbildungsprozeß stärker berücksichtigt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidung für das Mehrheits- und das Verhältniswahlsystem bisher ausschließlich aus dem Blickwinkel des Gleichheitssatzes (gleicher Zählungs- und Erfolgswert der Stimmen) gesehen. Bezieht man die Ziele des Demokratieprinzips ein, muß diese Beurteilung wesentlich differenzierter ausfallen. Wenn beim Mehrheitswahlsystem nicht mehr die Parteizugehörigkeit, sondern die Persönlichkeit der Kandidaten den Ausschlag gibt, werden die Abgeordneten primär die Interessen ihres Wahlkreises verfolgen und ihre persönliche Karriere den Interessen der Gesamtpartei voranstellen. Darunter leidet einerseits der Einsatz für die Gesamtinteressen des Volkes; auf der anderen Seite nimmt der Druck auf die Parteien ab, einen Kompromiß zu finden, der von allen Bevölkerungsschichten akzeptiert wird. Gibt dagegen beim Verhältniswahlrecht die Parteizugehörigkeit den Ausschlag, setzen sich die Abgeordneten nur für die Gesamtinteressen ihrer Partei ein. Damit nimmt der Druck auf die Parteien, eine allgemein akzeptable Lösung zu finden, zu, die Richtigkeit der Entscheidungen leidet dann aber, weil die Regionalinteressen nicht mehr das notwendige politische Gewicht besitzen. Unter diesem Aspekt erscheint die in Deutschland praktizierte Mischung beider Wahlsysteme als beste Lösung. Sowohl das Mehrparteien- als auch das Verhältniswahlsystem haben also wichtige Auswirkungen auf die Richtigkeilsgarantie des Demokratieprinzips. Diese Effekte sind deshalb bei einer Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Wahlsystems miteinander abzuwägen. Dabei gelten die obigen Ausführungen auch für die Bestimmung des Verhältnisses der einzelnen Abgeordneten zu ihren Parteien und Fraktionen, also für den Status des Abgeordneten.

3. Der Gesetzesvorbehalt Die bisherigen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Ausweitung des Eingriffsvorbehalts auf alle wesentlichen, d. h. grundrechtsrelevanten Fragen, 384 hat trotz zahlreicher Interpretationsansätze in der Literatur die für die Praxis notwendige Rechtssicherheit deshalb nicht gebracht, weil die teleologische Interpretationsmethode weitgehend vernachlässigt worden ist.

384

Vgl. Bleckmann (Anm. 218), 423 ff.

§ 18 Teleologische Interpretation des Staatsorganisationsrechts

227

Greift man auf die Methoden der Allgemeinen Staatslehre, also auf die liberale Tradition zurück, kommt es deutlich darauf an, ob angesichts der Überlastung des Parlaments, die eine richtige Sachentscheidung generell in Frage stellen kann, die auch bei der Verwaltung greifenden Garantien für die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung385 in einer bestimmten Materie ausreichen oder ob angesichts der involvierten existentiellen Interessen die zusätzlichen Garantien des Demokratieprinzips eingesetzt werden müssen.

4. Bindung der Mitglieder des Bundesrats an die Beschlüsse ihrer Landtage Auch die in der Literatur äußerst umstrittene Frage, ob und in welchem Umfang die Mitglieder des Bundesrates an die Beschlüsse ihrer Landtage gebunden sind, 386 kann durch Rückgriff auf den Wortlaut und die Geschichte der Art. 50 ff. GG allein nicht entschieden werden. Offensichtlich hat die Literatur insoweit die Parallele zum imperativen Mandat übersehen. Eine zu enge Bindung der Mitglieder an die Beschlüsse ihrer Landtage kann die Kompromißfahigkeit im Bundesrat lähmen und damit das vom Staatsorganisationsrecht geschützte Allgemeininteresse verletzen. Ähnlich liegt die Situation im Europäischen Gemeinschaftsrecht Der Versuch des neuen Art. 23 GG, die Mitglieder des Ministerrats der EG an die Beschlüsse des Bundestags und des Bundesrats zu binden, dürfte dem Europäischen Gemeinschaftsrecht widersprechen, weil er zur Beschlußunfähigkeit des Ministerrats oder dazu führen muß, daß die deutsche Auffassung und damit auch die deutschen Allgemeininteressen im Ministerrat nicht mehr berücksichtigt, sondern von der Mehrheit überstimmt werden. Damit dürfte Art. 23 GG auch dem Demokratieprinzip widersprechen und nach Art. 79 III GG verfassungswidrig sein.

5. Zu den Befugnissen des Bundespräsidenten In der Literatur ist umstritten, ob der Bundespräsident nach Art. 56 GG der Gegenzeichnung nur für rechtliche Anordnungen oder auch für politische Reden bedarf. 387 Zwar scheint die Tatsache, daß in der Hand des Bundespräsidenten alle Befugnisse des Bundes formell gebündelt sind, dafür zu sprechen, daß der Bundespräsident nicht nur als "Notar des Volkes", sondern auch als

385 Vgl. Bleckmann, Ordnungsralunen für das Recht der Subventionen, Gutachten, 55. DJT 1984, S. 57 ff.

15*

386

Vgl. Bleckmann (Anm. 218), S. 815 ff.

387

Vgl. Bleckmann (Anm. 218), S. 847 ff.

228

4. Teil: Staatsorganisationsrecht und Demokratieprinzip

"Repräsentant der Einheit des Volkes" oder gar der Nation auftritt. Diese Funktion könnte er dann aber nur ausüben, wenn er durch die Gegenzeichnung nicht an die Politik nur der Mehrheit des Bundestags gebunden ist. Wir haben nun schon mehrfach darauf hingewiesen, daß eine solche Repräsentationstheorie für das Demokratieprinzip insbesondere dann sehr gefährlich ist, wenn das Parlament politisch so gespalten ist, daß es die Einheit des deutschen Volkes nicht mehr repräsentieren kann. Zwar läßt sich die Auffassung vertreten, daß diese Gefahr durch das Grundgesetz deshalb ausgeschlossen wird, weil dem Bundespräsidenten nur formelle und nicht auch materielle Entstehungsbefugnisse übertragen worden sind und er nicht unmittelbar vom Volke gewählt ist. Die Folge einer solchen Repräsentationstheorie könnte aber sein, daß, wenn die politische Einheit des deutschen Volkes verloren geht, unter Rückgriff auf diese Repräsentationstheorie die Verfassung dahin geändert wird, daß die Position des Bundespräsidenten aufgewertet wird.

6. Geschäftsordnung Die Literatur ist der Auffassung, ein Gesetz sei grundsätzlich auch dann nicht verfassungswidrig, wenn es in Verletzung der Geschäftsordnung des Bundestages zustande gekommen ist. 388 Unter dem Aspekt der teleologischen Auslegung des Demokratieprinzips und der Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht aus dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten auch Verfassungsregeln für die Verwaltung entwickelt hat, kann diese Auffassung nicht gehalten werden. Sowohl das Rechtsstaatsprinzip als auch das auf die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung ausgerichtete Demokratieprinzip verlangen vielmehr die Einhaltung eines Verfahrens, das ein Minimum von Richtigkeit und Gerechtigkeit gewährleisten soll: Vielleicht lassen sich aus diesem Ansatz sogar ganz konkrete Regeln der Geschäftsordnung selbst dann ableiten, wenn die bisherige Geschäftsordnung eine solche Regel noch nicht enthält.

7. Verfassungswandel Auch der Verfassungswandel, dessen Möglichkeit von Rechtsprechung und Lehre einstimmig zugegeben wird, 389 läßt sich nur durch den Rückgriff auf d"ie Ziele des Staatsorganisationsrechts bewältigen. Sicherlich gibt es Fälle, in 388 Vgl. Versteyl, in: I. v. Münch (Anm. 270), Bd. 2, 3. Aufl. 1995, Art. 40, Rdnr.l7. 389

Vgl. Bleckmann (Anm. 218), S. 30 ff.

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229

denen dieser Verfassungswandet auf einer Änderung der Ziele einer Institution und der ihnen zugrundeliegenden Werte beruht. Dann ist die Verfassung so zu korrigieren, daß diese neuen Ziele automatisch erreicht werden. Der Normalfall des Verfassungswandels aber wird angesprochen, wenn etwa die bisherigen Ziele des Demokratieprinzips und vor allem die Garantien für dessen Richtigkeitsgewähr wegen tiefer soziologischer Wandlungen in Staat und Gesellschaft nicht mehr greifen. Dann ist die Verfassung neu so zu interpretieren, daß auch unter den geänderten Verhältnissen diese Ziele erreicht werden können.

8. Die Unabhängigkeit der Zentralbank Die von Art. 88 GG nach Ansicht der herrschenden Lehre390 vorausgesetzte, durch das Bundesbankgesetz näher konkretisierte Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank (ebenso wie die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank) stellt eine Durchbrechung des Demokratieprinzips insoweit dar, als dieser Grundsatz prinzipiell verlangt, daß das Parlament über die zuständigen Minister sämtliche Behörden kontrollieren können muß (Problem des ministerialfreien Raums). 391 Das damit aufgeworfene Problem, das der herrschenden Lehre zu lösen nicht gelungen ist, läßt sich offensichtlich nur dann rational angehen, wenn man berücksichtigt, daß die vom Demokratieprinzip angestrebte Richtigkeit der staatlichen Entscheidungen nicht erreicht werden kann, wenn die Geldpolitik in der Hand der Regierung liegt, die gerade wegen ihrer Rückbindung an den Wählerwillen die Vollbeschäftigung höher einschätzen muß als die Stabilität der Währung. Nicht nur der Inhalt des Demokratieprinzips, sondern auch dessen Durchbrechung kann also nur durch Rückgriff auf die Ziele des Demokratieprinzips begründet werden. Dasselbe gilt für die Einführung der Demokratie in Wirtschaft und Hochschulen. Stellt sich heraus, daß die in diesen Institutionen die durch die Verfassung selbst geforderte Effizienz durch die volle Anwendung der Spielregeln der Demokratie verhindert wird, muß auch hier der Grundsatz der Demokratie durchbrochen werden.

9. Fraktionen und Abgeordnete Das Ziel des Demokratieprinzips, die Richtigkeit der staatlichen Entscheidungen zu gewährleisten, muß auch das Verhältnis der Fraktionen im 3SIJ

Bauer, in: I. v. Münch (Anm. 270), Bd. 3, 3. Aufl. 1996, Art. 88, Rdnr. 1 f.

391

Klein, Die verfassungsrechtliche Problematik des ministerialfreien Raumes,

1974.

230

4.Teil: Staatsorganisationsrecht und Demokratieprinzip

Parlament zu den Abgeordneten bestimmen. 392 Wenn, wie wir angenommen haben, die sachlich-gerechte Abwägung aller Interessen nur durch die Konkurrenz zwischen den Volksparteien gewährleistet wird, weil dieses Verhältnis die Parteien zwingt, nach einer Entscheidung zu suchen, die allen Interessen gerecht wird, wird die Tatsache verständlich, daß die Geschäftsordnungen des Bundestages und der Landtage die Mitwirkungsrechte im Parlament primär den Fraktionen vorbehalten; ebenso wird ein gewisser Fraktionszwang verständlich: Nicht Art. 21 GG, sondern Art. 20 II GG stellt damit die Grundlage für die Parteiendemokratie dar. Das Verhältnis zwischen den Abgeordneten und den Fraktionen wird nicht durch eine Abwägung zwischen Art. 21 und 38 GG, sondern durch eine detaillierte Interpretation des Demokratieprinzips bestimmt. Auch im übrigen beruht das Parteienrecht weitgehend nicht auf Art. 21 GG, sondern auf dem Demokratieprinzip. Ist, wie wir gezeigt haben, heute die wesentliche Garantie für die Richtigkeit der staatlichen Entscheidungen das Konkurrenzverhältnis zwischen den großen Volksparteien, muß die Forderung nach dem Mehrparteiensystem und nach der Chancengleichheit der Parteien aus dem Demokratieprinzip selbst abgeleitet werden. Auch die Rechte der Opposition müssen aus den Zielen des Demokratieprinzips entwickelt werden. Das Konkurrenzsystem zwischen den Parteien besteht nicht nur bei der Wahl, sondern auch bei den parlamentarischen Verhandlungen. Wie das Bundesverfassungsgericht richtig dargelegt hat, 393 wird im parlamentarischen Regierungssystem die Exekutive nicht mehr vom Parlament, sondern aufgrund des Konkurrenzsystems von der Opposition kontrolliert. Schon die Tatsache, daß solche Kontrollmechanismen bestehen, zwingt die Exekutive und die Parlamentsmehrheit zu einer sachlich-gerechten Entscheidung. Damit müssen aus dem Demokratieprinzip alle Institutionen abgeleitet werden, welche die Rechte der Opposition und damit die Kontrollmechanismen verstärken. Darüber hinaus ist wohl anzunehmen, daß das Demokratieprinzip auch eine Allparteienkoalition verbietet.

I 0. Demokratie in den Parteien Art. 21 S. 3 GG fordert einen demokratischen Aufbau der Parteien. Wie das Bundesverfassungsgericht dies in seinen Entscheidungen zur Parteienfinanzierung dargelegt hat, muß damit die Willensbildung in den Parteien "von

392 393

Vgl. dazu Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994. Bleckmann (Anm. 218), S. 152 ff.

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unten nach oben" verlaufen, wenn auch im Interesse einer einheitlichen Willensbildung der Einfluß von "oben nach unten" nicht vernachlässigt werden darf. Auch diese Prinzipien beruhen auf sachlichen Garantien der Richtigkeit durch das Demokratieprinzip. Wenn in der Tat die staatliche Entscheidung alle Interessen berücksichtigen muß, die durch diese Entscheidung betroffen werden, dann muß sichergestellt werden, daß auch bei den Entscheidungen der Parteien, die ja im Parlament die Gesetzgebung in der Hand haben, alle Schichten des Volkes berücksichtigt werden. Aus diesem Ansatz ergibt sich auch, was unter einem "demokratischen Aufbau" der Parteien zu verstehen ist. In der Regel wird es ausreichen, daß die Parteimitglieder Repräsentanten wählen, die ihrerseits die Mitglieder der Führungsgruppen bestimmen. Wenn - wie dies heute weitgehend der Fall zu sein scheint - ein solches Verfahren aber eine hinreichende Berücksichtigung aller Interessen nicht mehr gewährleistet, müssen die Parteien auf Elemente der unmittelbaren Demokratie zurückgreifen. Aus den oben entwickelten Prinzipien können auch Kriterien entwickelt werden, welche eine Beurteilung der Ausbreitung der Parteien auf alle drei Staatsgewalten gestatten, die in der Literatur heute so heftig angegriffen wird. Grundsätzlich wird man insofern feststellen müssen, daß, wenn auf diese Weise die Machtfülle der Regierungsparteien wächst, auch die Motive der Parteien zunehmen, sich nach dem Willen aller Valksschichten zu richten. Ist diese Prämisse aber richtig, wird durch die unmittelbare Einwirkung der Parteien auf alle drei Gewalten die Ausrichtung auch dieser Organe am Volkswillen besser gewährleistet als durch die parlamentarische Kontrolle, die heute nur noch wenig effektiv ist. Voraussetzung ist nur, daß die Parteien auch in diesem Bereich von der jeweiligen Opposition kontrolliert werden: Insoweit wird eine öffentliche Tätigkeit der Parteien gefordert. Gegen das Gewaltenteilungsprinzip verstößt eine solche Entwicklung nicht, wenn man berücksichtigt, daß dieser Grundsatz heute nicht mehr durch das Verhältnis zwischen den drei Gewalten, sondern durch das Verhältnis zwischen den Regierungsparteien und der Opposition bestimmt wird. 11. Die Legitimationskette

Auch der vom Bundesverfassungsgericht so stark betonte Gedanke der "Legitimationskette" 394 wird durch den Rückgriff auf die Ziele des Demokratieprinzips stärker determiniert: Dieser Gedanke beruht auf dem mit dem Demokratieprinzip verkoppelten Souveränitätsprinzip. Er soll gewährleisten, daß der Wille des Souveräns sich in allen Lebensbereichen effektiv durchsetzt. 394

Bleckmann (Anm. 218), S. 149 ff.

232

4.Teil: Staatsorganisationsrecht und Demokratieprinzip

Das wiederum erscheint erforderlich, weil letztlich nur im Parlament eine sachlich-gerechte Abwägung aller Interessen gewährleistet ist. Wenn dies aber der Fall ist, reicht die in der Lehre allein betonte "formelle" Ableitung der Hoheitsgewalten vom Willen des Parlaments als Repräsentant des Volkes nicht aus. Es muß sichergestellt werden, daß der Wille des Parlaments durch die untergeordneten juristischen Personen des öffentlichen Rechts, durch die Organe, Behörden und Gerichte ordnungsgemäß vollzogen wird: Nur dann ist gewährleistet, daß die Entscheidungen dieser Institutionen die betroffenen Interessen sachlich-gerecht miteinander abwägen. Aus diesem Ansatz fließen zahlreiche Prinzipien der Verfassung, die bisher dem Demokratieprinzip nicht ausdrücklich zugeordnet worden sind. So reicht es nicht aus, daß die Existenz und die Hoheitsgewalt der dem Staat untergeordnetenjuristischen Personen des öffentlichen Rechts durch ein Gesetz begründet werden und die Entscheidungen dieser Institutionen durch das Parlament kontrolliert werden. Auch der Grundsatz des Gesetzesvorrangs dient vielmehr diesem Ziel. Außerdem muß mit Abnahme der Effektivität der parlamentarischen Kontrolle die Richtigkeitsgewähr des Demokratieprinzips durch Rückgriff auf umfassende Regeln bezüglich Ermessensfehlern ersetzt werden. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, darf im Gegensatz zur heutigen Rechtslage dabei auch das Verfahrensrecht der Gerichte und Behörden nicht allein am Ziel des Schutzes subjektiver Individualrechte ausgerichtet werden. Das Demokratieprinzip verlangt vielmehr, daß die Gesetze des Parlaments ordnungsgemäß vollzogen werden. Deshalb muß das Verfahrensrecht auch an der Durchsetzung des objektiven Rechts ausgerichtet werden.

12. Begründung der Gesetze und Anhörung der Interessenverbände im Gesetzgebungsverfahren Nach der durchaus herrschenden Lehre395 bedürfen die Gesetze im Gegensatz zu den (belastenden) Verwaltungsakten einer Begründung nicht. Die Praxis ist einen anderen Weg gegangen: Insbesondere die Gesetzesentwürfe der Regierung werden mit einer umfassenden Begründung versehen. Auch ist das Bundesverfassungsgericht der Auffassung, bei der Konkretisierung unbestimmter Verfassungsbegriffe lege das Grundgesetz dem Parlament eine "Darlegungslast" (Rückgriff auf Sachverständigengutachten usw.) auf. 396 Bei einer näheren Analyse kann die Auffassung der herrschenden Lehre wohl kaum

395

Vgl. Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987.

Vgl. Bleckmann, Zur verfassungsrechtlichen Sanierungspflicht der Treuhandanstalt, 1992, S. 42 ff. 396

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gehalten werden. Nach der Meinung der Literatur397 hat die Begründungspflicht drei Ziele: Sie soll auf der einen Seite dem Bürger die Entscheidung ermöglichen, ob er den Rechtsakt gerichtlich anfechten will. Er soll zweitens den Gerichten eine effektive Kontrolle über die Rechtsakte ermöglichen. Und er soll drittens das entscheidende Organ zu einer effektiven Selbstkontrolle veranlassen. Alle diese durch das Rechtsstaatsprinzip festgelegten Ziele des Begründungszwangs greifen auch bei den Gesetzen, seitdem diese Rechtsakte vor dem Bundesverfassungsgericht angefochten werden können. Wenn der Begründungszwang eine effektive Garantie für die Richtigkeit der staatlichen Entscheidung darstellt, verlangt nicht nur das Rechtsstaats-, sondern auch das Demokratieprinzip die Begründung der Gesetze und - so ist zu ergänzen - der Rechts- und Verwaltungsverordnungen. Darüber hinaus sind die Ausschüsse der Parlamente in neuerer Zeit dazu übergegangen, zu den Gesetzesentwürfen Sachverständige und die betroffenen Interessenverbände anzuhören. Diese Anhörung hat sich als außerordentlich effektiv erwiesen, weil solche Gesetzesentwürfe entweder zurückgezogen oder wesentlich geändert worden sind. Das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip verlangen aber, daß die staatliche Entscheidung sachlich gerechtfertigt ist und alle durch sie betroffenen Interessen berücksichtigt. Wir haben aber schon gezeigt, daß insbesondere aus dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip alle Institute des Verfassungsrechts entwickelt werden müssen, wenn sich zeigt, daß sich durch den Rückgriff auf solche Institutionen weitere Richtigkeitsgarantien entwickeln. 13. Europapolitik und auswärtige Gewalt Wie für die Gründung der durch das Demokratieprinzip geforderten" Legitimationskette" greifen die herrschende Lehre und das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil398 weitgehend nur auf formelle Ableitungen zurück. Wir haben aber gesehen, daß dem Ziel des Demokratieprinzips entsprechend es primär darauf ankommt, Richtigkeitsgarantien für die staatliche Entscheidung zu finden. So übersieht die herrschende Lehre, daß auf der europäischen Ebene die Gewährleistung der Richtigkeit der Entscheidung der EG teilweise auf andere Methoden als das nationale Verfassungsrecht zurückgreift: Etwa auf die Unabhängigkeit und dem alleinigen Vorschlagsrecht der Kommission, die vor 3'11 Vgl. dazu Bleckmann, Zur Verfassungsbeschwerde gegen Untersuchungshaftbeschlüsse, NJW 1995, 2192. 398

BVerfGE 89, 155.

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der Vorlage ihrer Entwürfe die Repräsentanten der betroffenen Interessenverbände und Sachverständige anhört. Damit aber bestehen wichtige Garantien dafür, daß der spätere Beschluß des Ministerrats alle durch die Entscheidung betroffenen Interessen berücksichtigt. Dies wird wohl auch deutlich, wenn man beachtet, daß im Ministerrat vor ihrem Parlament verantwortliche Minister die Entscheidung fällen, daß auch die - letztlich durch die nationalen Parlamente definierten - nationalen Allgemeininteressen der Mitgliedstaaten somit umfassend berücksichtigt werden. Darüber hinaus greift eine strikte Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Akte der EG durch den EuGH, welche die Entscheidungen der politischen Organe im Rahmen der Verträge hält, denen die natio-nalen Parlamente zugestimmt haben. Insbesondere durch die Einschaltung des Bundestages vor der Entscheidung im Ministerrat wird die demokratische Legitimation der EG-Organe hinreichend gewährleistet. Anders ist die Rechtslage bei den völkerrechtlichen Verträgen. Diese werden grundsätzlich ohne Mitwirkung durch das Parlament ausgehandelt. Wenn der Gesetzesvorbehalt und der Gesetzesvorrang dies verlangen, muß aber nach Art. 59 II GG das Parlament den Verträgen zustimmen. Diese Regel ist zwar nur in den Geschäftsordnungen festgelegt, dürfte aber Bestandteil auch des Verfassungsrechts sein. Das Parlament hat also nur die Wahl, den Vertrag anzunehmen oder abzulehnen. In der Regel werden dabei erhebliche soziale Zwänge das Parlament veranlassen, dem Vertrag zuzustimmen. Sofern diese Abkommen existentielle Interessen der Bürger berühren, widerspricht ein solches Verfahren den Richtigkeitsgarantien des Demokratieprinzips. Daß die Verträge von den Repräsentanten der Regierungsparteien ausgehandelt werden, die Parteien aber grundsätzlich gezwungen sind, die Interessen aller Valksschichten zu berücksichtigen, dürfte allein nicht ausreichen, weil der Oppositionjede Mitwirkung an der Aushandlung der Verträge versagt ist. Das Demokratieprinzip verlangt deshalb, daß zumindest die zuständigen Ausschüsse des Bundesstaates und des Bundesrates bei der Aushandlung der Verträge mitwirken. Insoweit ist eine Analogie zu Art. 23 GG geboten.

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- Definition 67, 96 ff.

Cicero 22 f. Clairvaux, Bernhard von 221

- Durchsetzung 48, 63, 72, 106,

Conseil d'Etat 189

Allgemeininteressen

113 f .• 114 jJ.. 129, 170 - Entstehung 104 ff.

Dezentralisierung 166 ff.

- quantitative 104 ff., 129 - und Grundgesetz 108 ff. , 136

Eigentum 32, 100

- und Individualinteressen 34 f.,

Einzelfallgesetz 115

45 ff., 50 f .• 53, 62, 97 jJ.. 129,

Elitenbildung 62, 84, 93, 116

170

Europäische Gemeinschaft 149 f.,

- Ziel staatlichen Handeins 14, 96

234 f.

Ancillon 65, 68 f. Aristoteles 16 ff.

Federalist Papers 38 ff.

Aufklärung 41 ff.

Fraktionen 231

Auswärtige Gewalt 234 f.

Französische Revolution 53 ff.

Bentham, Jeremey 35

Gegenzeichnung 228 f.

Bodin, Jean 29 f., 99 ff., 142 ff.

Gerechtigkeit

Bonald, Louis Gabriel Ambroise,

- formelle 132 f.

Vicomte de 84 f.

- materielle 125 ff.

Burke, Edmund 35 f., 82 f.

Geschäftsordnung 229

Bundesstaatsprinzip 132 f., 156,

Gesellschaftsvertrag 30, 32, 44 ff., 54,

162 jJ.

- Interessenverteilung 166 ff.

64, 76 f. , 83 f., 100 Gewaltenteilung 20 ff., 33, 40, 41 ff.,

- Kompetenzverteilung 167 ff.

47, 57 f., 61, 137 f., 163 ff., 183

Bundestreue 168, 175 ff.

jJ.

Personen und Sachregister Gleichheitssatz 11 ff., 62, 73, 85 ff. 114 ff.

251

Machttheorien 163 ff. Maistre, Comte Joseph-Marie de 83 f.

Griechische Demokratie 11 ff.

Mandeville, Bernard 34

Grundrechte 127 ff., 217 ff.

Marsilius von Padua, 27 ff.

- Drittwirkung 100

Mehrheitsprinip 54, 118 ff.,

- Eingriff 97 ff.

Meinung, öffentliche

- französische Revolution 59 ff.

- siehe Öffentlichkeit

- soziale 101 f., 129 f., 141 f. , 223

Meinungsbildung 35, 119 ff.

Haller, Ludwig von 76 f.

- siehe Grundrechte

Regel, Georg Wilhelm Friedrich 69 f.

Menschenwürde 108, 116 f., 128,

Menschenrechte

Heller, Hermann 88 f.

182, 225

Herder, Johann Gottfried 79

Mill, John Stuart 35

Historische Schule 80, 213 f.

Mischverfassung 16, 18, 20 ff. 23 f.,

Hobbes, Thomas 30 ff., 99 ff. Honorationsdemokratie 123

81, 191, 206 Mittelbare Demokratie 49, 54, 63, 117 ff., 122

imperatives Mandat 42, 55

Montesquieu 41 ff.

Integrationslehre 88, 228

Müller, Adam 78 ff.

Interessenahwägung 112, 118, 123, 126 ff. 134 f, 153, 170 f., 189,

Nachtwächterstaat 100 ff., 131

216

nation-building 192, 215

Interessentheorie 166 ff.

Nationalstaat 151 f., 164, 211 ff. - und Grundgesetz 211 f.

Kant, lmmanuel 63, 67

- und Staatsvolk 212 f.

Kollektivismus 103 f.

Naturrecht 157 f., 217ff.

Kompetenzen 63 Konkurrenz der Parteien 92 f. , 119, 185, 192 f. Kreislauf der Staatsformen 20, 22

Öffentlichkeit 86 f., 119 ff. ökonomische Staatstheorie 90 Organismustheorie 7 Organsouveränität 88

Legitimation, demokratische 87, 111 , 232 f. Locke, John 32 f., 100

Parlament 61, 66 f., 69 f., 87 f., 110f., 119ff., 122f.

252

Personen- und Sachregister

Parlamentssouveränität 57 ff., 150 f.

Staatsqualität der Länder 173 ff.

Parteien 92, 119 f., 123, 231 f.

Stabilität 111

Personalhoheit 178

Stahl, Friedrich Julius 80 ff.

Platon 12 ff.

Stein-Hardenbergsche Reformen 64

Polybios 20 ff.

Subsidiarität 166

Rechtsstaatsprinzip 64, 70, 107, 124ff.

Referendum 226 Repräsentationstheorie 88 Richtigkeit staatlicher Entscheidungen 12, 22, 27 f.. 33 f .. 43, 47. 49, 68 f., 118ff., 136, 148, 189, 192, 226 Robespierre 56 f. Rousseau, Jean Jaques 44 ff. rule oflaw 137 f.

Thornas von Aquin 24 ff. Tocqueville, Alexis de 73 f. unmittelbare Demokratie 122 Verfahrensprinzip 135 ff. Verfassung 80 ff. - Einheit der 111, 125, 129 - und Gesellschaftsvertrag 52 - Totalrevision 157 ff. - Vorrang der 127 Verfassungswandel 229 f. Vertrauensschutz 132 ff.

Savigny, Friedrich Kar! von 79 f.

Völkerrecht 159 ff., 177 ff.

Schmitt, Carl 85 ff.

Volkssouveränität 147 f. , 153 ff.,

Selbstbestimmungsrecht 11, 42, 44 f., 54, 116 f. 135, 225 f . Selbstverwaltung 23 Senat 169 f.

157 ff., 212 volonte generale 44 f., 54, 72 Vorbehalt des Gesetzes 101, 110, 135 f., 155 f .• 226 f.

Sezession 159

- und Grundrechte 60 f.

Sieyes, Emanuel Joseph 53 ff.

- Totalvorbehalt 48

Smith, Adam 34 f.

Vorrang des Gesetzes 135 f.

Souveränität 30, 48, 57, 64, 83 f. , 87 f .

Wahlsystem 226 f.

- äußere 159 ff.

Weimarer Republik 85 ff.

Souveränitätsprinzip 30, 52, 99,

Wohlfahrtsstaat 102, 130 f.

140 ff.. 192, 214

Sozialstaatsprinzip 109, 130 f.

Zentralbank 230

Staatsorganisationsrecht 224 ff.

Zwei-Schwerter-Lehre 221 f.