Artikel und Aspekt: Die grammatischen Muster von Definitheit [Reprint 2013 ed.] 9783110825961, 9783110167184

Im Mittelpunkt steht die Frage, warum es Sprachen mit Artikel und solche ohne Artikel gibt. Am Fallbeispiel der Artikele

182 17 8MB

German Pages 317 [320] Year 2000

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Artikel und Aspekt: Die grammatischen Muster von Definitheit [Reprint 2013 ed.]
 9783110825961, 9783110167184

Table of contents :
1. Einleitung: Die verschiedenen ‘Gewänder’ einer Kategorie
1.1 Offene und verborgene Kategorien
1.2 Unsichtbare, sichtbare und schwer sichtbare Grammatik
1.3 Der Zusammenbruch des Aspektsystems und seine Folgen
1.4 Das Fundament der Grammatik
1.5 Aufbau und Ziel der Arbeit
2. Die Entstehung des bestimmten Artikels im Altisländischen
2.1 Die Forschungssituation
2.2 Arbitrarität oder Motiviertheit bei der Distribution des bestimmten Artikels im Altnordischen?
2.3 Die Distribution des Artikels
2.4 Artikel und “historisches Präsens”
2.5 Zwischenergebnis: Hypodetermination versus Hyperdetermination
3. Artikel und Aspekt im Altisländischen
3.1 Das “historische Präsens” als Aspekt
3.2 Die Kookkurrenz von Artikel und Aspekt im Altisländischen
3.3 Perfektiver Aspekt, definiter Artikel und Verberststellung
3.4 Spielräume bei der Interaktion von Artikel und Aspekt
3.5 Zusammenfassung der Ergebnisse und Folgerungen
4. Artikel und Aspekt im Gotischen
4.1 Fragestellungen und Forschungssituation
4.2 Rekonstruktion des Aspektsystems
4.3 Die Genese des Artikels
4.4 Zur Interaktion von Artikel und Aspekt
4.5 Ergebnis: Artikel und Aspekt als grammatische Synonyme
5. Artikel und Aspekt im Althochdeutschen
5.1 Zur Problematik des Vergleichs von Althochdeutsch mit Gotisch und Altisländisch
5.2 Die Distribution des Artikels im Althochdeutschen
5.3 Das Zusammenspiel von Artikel und Aspekt
5.4 Genitiv, Artikel und Aspekt im Althochdeutschen
5.5 Ergebnis: der Zusammenhang von Anaphorik und Hyperdetermination
6. Artikel und Aspekt aus sprachtypologischer Perspektive
6.1 Die Faktoren Wortstellung, Artikel, Aspekt und Kasus
6.2 Einmal Artikelsprache – immer Artikelsprache? Die Aufgabe der Artikel in Funktionsverbgefügen
6.3 Parallele Entwicklungen in den germanischen, romanischen und slavischen Sprachen
6.4 Artikelgenesen: Kreolsprachen und Kindspracherwerb
6.5 Eine Sprachtypologie des Artikels
7. Unifikation von Artikel und Aspekt
7.1 Die gemeinsamen Merkmale
7.2 Die gemeinsame Funktion
7.3 Anaphorik und Definitheit
7.4 Was ist Definitheit?
7.5 Zusammenfassung
8. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick
8.1 Thema, Ausgangsthese und Hauptergebnis der Arbeit
8.2 Die Teilergebnisse
8.3 Verbleibende Erkenntnisziele
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sach- und Sprachenregister

Citation preview

Elisabeth Leiss Artikel und Aspekt

W G DE

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Stefan Sonderegger und Oskar Reichmann

55

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2000

Elisabeth Leiss

Artikel und Aspekt Die grammatischen Muster von Definitheit

Walter de Gruyter · Berlin · New York

2000

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Leiss, Elisabeth: Artikel und Aspekt : die grammatischen Muster von Definitheit / Elisabeth Leiss. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 (Studia linguistica Germanica ; 55) ISBN 3-11-016718-2

© Copyright 2000 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Inhalt 1. Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder' einer Kategorie 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Offene und verborgene Kategorien Unsichtbare, sichtbare und schwer sichtbare Grammatik Der Zusammenbruch des Aspektsystems und seine Folgen . . . Das Fundament der Grammatik Aufbau und Ziel der Arbeit

1 4 11 25 29

2. Die Entstehung des bestimmten Artikels im Altisländischen 2.1 Die Forschungssituation 2.2 Arbitrarität oder Motiviertheit bei der Distribution des bestimmten Artikels im Altnordischen? 2.3 Die Distribution des Artikels 2.4 Artikel und "historisches Präsens" 2.5 Zwischenergebnis: Hypodetermination versus Hyperdetermination

33 37 43 64 69

3. Artikel und Aspekt im Altisländischen 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Das "historische Präsens" als Aspekt Die Kookkurrenz von Artikel und Aspekt im Altisländischen . . Perfektiver Aspekt, definiter Artikel und Verberststellung . . . . Spielräume bei der Interaktion von Artikel und Aspekt Zusammenfassung der Ergebnisse und Folgerungen

73 80 85 89 109

4. Artikel und Aspekt im Gotischen 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Fragestellungen und Forschungssituation Rekonstruktion des Aspektsystems Die Genese des Artikels Zur Interaktion von Artikel und Aspekt Ergebnis: Artikel und Aspekt als grammatische Synonyme . . .

114 120 129 140 152

Inhalt

VI

5. Artikel und Aspekt im Althochdeutschen 5.1 Zur Problematik des Vergleichs von Althochdeutsch mit Gotisch und Altisländisch 5.2 Die Distribution des Artikels im Althochdeutschen 5.3 Das Zusammenspiel von Artikel und Aspekt 5.4 Genitiv, Artikel und Aspekt im Althochdeutschen 5.5 Ergebnis: der Zusammenhang von Anaphorik und Hyperdetermination

156 161 170 185 194

6. Artikel und Aspekt aus sprachtypologischer Perspektive 6.1 Die Faktoren Wortstellung, Artikel, Aspekt und Kasus 6.2 Einmal Artikelsprache - immer Artikelsprache? Die Aufgabe der Artikel in Funktionsverbgefugen 6.3 Parallele Entwicklungen in den germanischen, romanischen und slavischen Sprachen 6.4 Artikelgenesen: Kreolsprachen und Kindspracherwerb 6.5 Eine Sprachtypologie des Artikels

198 208 216 228 236

7. Unifikation von Artikel und Aspekt 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5

Die gemeinsamen Merkmale Die gemeinsame Funktion Anaphorik und Definitheit Was ist Definitheit? Zusammenfassung

239 250 257 262 272

8. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick 8.1 Thema, Ausgangsthese und Hauptergebnis der Arbeit 8.2 Die Teilergebnisse 8.3 Verbleibende Erkenntnisziele

275 276 281

Literaturverzeichnis

284

Personenregister

295

Sach- und Sprachenregister

298

Abkürzungen Verzeichnis der in den Transkriptionen verwendeten Abkürzungen ADJ. ADV. AKK. ART. AUX. DAT. DEF. DEF.ART. DEMI DEM II DEM.UNFL. DET. ELAT. F. FN. FV. GEN. IMPF. INDET. INF. INTERROGARON. INTR. KOMP. KONJ. M. N. NEG. ΝΟΜ. OBJKONJ. OPT. PART.ART. PART.PRÄS.

Adjektiv Adverb Akkusativ Artikel Auxiliar Dativ définit / Definitheit definiter Artikel Demonstrativpronomen (nicht verstärkt) Demonstrativpronomen (verstärkt) unflektiertes Demonstrativpronomen determiniert / Determiniertheit Elativ Femininum Nomen in einem Funktionsverbgefuge Funktionsverb Genitiv imperfektiv indeterminiert / Indeterminiertheit Infinitiv Interrogativpronomen intransitiv / Intransitivität Komparativ Konjunktion Maskulinum Neutrum Negation Nominativ objektive Konjugation Optativ partitiver Artikel Partizip Präsens

Vili PART. I PART. II PERS.PRON. PF. PL. POSS.PRON. PRÄF. PRÄP. PRÄS. PRÄT. PRON. PS. REFL.PRON. REL.PRON. SCHW. SG. ST. SUBST. SUPERL. UNFL.

Abkürzungen

Partizip I / Partizip Präsens Partizip II / Partizip Präteritum Personalpronomen perfektiv Plural Possessivpronomen Präfix Präposition Präsens Präteritum Pronomen Person Reflexivpronomen Relativpronomen schwach flektiert Singular stark flektiert Substantiv Superlativ unflektiert

1. Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder' einer Kategorie 1.1 Offene und verborgene Kategorien Zu den ungelösten Aufgaben der historischen Sprachwissenschaft des Deutschen gehört die Entstehung des Artikels, des bestimmten sowie des unbestimmten Artikels. Natürlich fordert die Entstehung einer grammatischen Kategorie scheinbar 'aus dem Nichts' eine Erklärung heraus; dies umsomehr, als sich die Entstehung zunächst des definiten, dann des indefiniten Artikels sozusagen 'vor unseren Augen' abspielt. Die Herausbildung des bestimmten Artikels erfolgte nämlich nicht im durch Texte nicht belegbaren Gemeingermanischen; der Artikel bildete sich vielmehr allmählich in den germanischen Einzelsprachen heraus.1 Die Entwicklung läßt sich also anhand von überlieferten Texten beobachten und nachvollziehen. Erklären ließ sie sich jedoch bis heute nicht. Es gab zwar immer wieder Erklärungsversuche, jedoch konnte keine der Thesen zur Entstehung des Artikels wirklich überzeugen. Was bleibt, ist eine Auflistung von Artikelentstehungstheorien in den Handbüchern; dazu kommt eine gewisse Ratlosigkeit, wenn nicht Resignation. Seit den umfassenden Arbeiten zu dem Thema von HODLER 1954 und HEINRICHS 1954 ließ sich bis zu Beginn der 90er Jahre sogar eine freiwillige Abstinenz beobachten, was die Bearbeitung dieser Thematik betrifft. Eine Ausnahme bildeten hier lediglich die Arbeiten von OUBOUZAR 1989 und KOVARI 1984. KOVARIS Arbeit beschränkt sich auf das

Gotische. Er kommt zu dem Ergebnis, daß sich eine der bereits vorhandenen Thesen zur Entstehung des Artikels bestätigen läßt, nämlich die These vom Zusammenhang zwischen der Entstehung des definiten Artikels und der Abschwächung der grammatischen Funktion der schwachen Adjektivdeklination. OUBOUZAR 1989 kann diese Auffassung aus nachvollziehbaren Gründen2 nicht teilen; sie verzichtet jedoch darauf, einen eigenen Erklärungsansatz vorzulegen.

1 2

Vgl. hierzu die Zusammenfassung des Stands der Forschung in OUBOUZAR (1989: 33). Vgl. dazu Kap. 4 und 5.

2

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder' einer Kategorie

Wir verdanken OUBOUZAR in erster Linie eine detaillierte Erhebung des Systems der Determinative im Althochdeutschen, wobei sie vier synchrone Schnitte ansetzt, um anschließend auf der Basis der ermittelten Differenzen zwischen den rekonstruierten Systemen der Determinative signifikante Entwicklungstendenzen aufzuzeigen. Ein in unserem Zusammenhang wichtiges Ergebnis ihrer Arbeit ist, daß sich der indefinite Artikel nicht in direkter Opposition zum definiten Artikel entwickelt haben kann. Solche Befunde machen deutlich, daß der Erkenntnisbedarf die bis jetzt skizzierten Dimensionen noch übersteigt; denn gerade zur Herausbildung des indefiniten Artikels gibt es nur spärlich Literatur, durfte man doch bislang davon ausgehen, daß er sich als Gegenpol zum definiten Artikel konstituierte. OUBOUZARS Arbeit konfrontiert uns vor allem mit der Einsicht, daß eine detaillierte Dokumentation des 'Wie' der verschiedenen Entwicklungsphasen noch keine Antwort auf ihr 'Warum' garantiert. Die umgangssprachliche Frage nach dem 'Warum' beinhaltet eine kausale und eine finale Lesart zugleich. Zunächst ist die Frage nach dem 'Warum' des Artikels nicht primär kausal zu verstehen, es handelt sich im Sinne COSERIUS um die Frage nach dem 'Wozu' des Artikels. Was ist der Zweck, d. h. die Funktion dieser grammatischen Einheit? Das kausale 'Warum' ist die Frage nach dem 'Woher' des Artikels. Was muß in einem sprachlichen System geschehen, daß die grammatische Erscheinung 'Artikel' plötzlich notwendig wird? Die beiden Fragerichtungen hängen eng zusammen: solange die Funktionen des Artikels, d. h. seine präzisen Aufgabenstellungen nicht bekannt sind, solange wird man Schwierigkeiten haben herauszufinden, welche Faktoren sein Entstehen bewirkt haben könnten. Es müssen Faktoren gewesen sein, die eng mit dieser Funktion zusammenhängen. Jeder Erkenntnisfortschritt in bezug auf die Funktion(en) des Artikels hilft also, unseren Blick zu schärfen fur die Wahrnehmung von Entstehungsbedingungen. Umgekehrt gilt aber auch: jeder Erkenntnisbefund in bezug auf die Entstehung des Artikels hilft, die Basisfunktionen des Artikels transparenter zu machen. Gewöhnlich greifen die beiden Erkenntnisprozeduren wie die Zähne eines Zahnrads ineinander. Die Stagnation auf der einen Seite bedeutet daher nicht nur ein Problem für die historische Sprachwissenschaft. Es zeigt sich vielmehr, daß wir bei der grammatischen Kategorie der Determiniertheit/Indeterminiertheit auch bei der funktionalen Seite nicht völlig klar sehen. Etwas gut sehen, aber nicht verstehen können, ist ein Indiz dafür, daß es nicht vollständig gesehen wurde. Mit anderen Worten: Irgendetwas muß unserer Aufmerksamkeit bis jetzt entgangen sein. Der Aufmerksamkeit entgeht in der Regel all das, was a priori als irrelevant erachtet wird. Als unwichtig werden beim Versuch der Erklärung eines Sachverhalts immer diejenigen Beobach-

Offene und verborgene Kategorien

3

tungen eingeordnet und im Anschluß daran vergessen, welche mit dem interessierenden Sachverhalt traditionell in keinerlei Beziehung stehen. Unsere gegenwärtige Blindheit in bezug auf die Entstehungsprozesse des Artikels im Deutschen und in den anderen germanischen Sprachen macht deutlich, daß die Lösung im Bereich der bisher als irrelevant weggefilterten sprachlichen Daten liegen muß. Der bis jetzt vernachlässigte Bereich bei der Betrachtung der Nominalkategorie des Artikels läßt sich gut eingrenzen: es ist der Bereich der Verbalkategorien, der auf den ersten Blick ökonomisch und sinnvoll ausgegrenzt wurde. Doch dort liegt die Lösung, so die These dieser Arbeit, die zu Beginn dieser Arbeit vorgestellt werden wird. Eine Hypothese hat den Status eines optischen Instruments, das konstruiert wird, um die bereits bekannten Daten schärfer zu sehen oder neue Daten ins Blickfeld zu rücken. Primäres Ziel dieser Arbeit ist es, die bisherigen Beobachtungen zur Herausbildung des Artikels um Daten aus dem Bereich der Verbalkategorien zu ergänzen. Vor allem die Aufdeckung von Interaktionsmustern zwischen Nominal- und Verbalkategorien mit ihren spezifischen grammatischen Konsequenzen soll zu einer Erklärung des Entstehungsprozesses des Artikels beitragen. Die Fragen, die dabei im Zentrum stehen, sind: Warum mußte der Artikel entstehen? Wie kommt es zu einer plötzlichen Sichtbarkeit dieser Kategorie? Durch welche 'grammatische Tarnkappe' war seine Funktion verborgen? Welche grammatischen Muster haben bis zum Erscheinen des Artikels dessen Funktionen gewährleistet? Will man den Artikel nicht, wie das im 19. Jh. vorgeschlagen wurde, als 'Luxus der Sprache' (LA GRASSERIE 1896) betrachten und will man umgekehrt auch nicht behaupten, daß artikellosen Sprachen - wie etwa dem Russischen etwas fehle, so hat man von der Konstanz einer grammatischen Funktion auszugehen. Diese Funktion wird in jeder Sprache realisiert, jedoch in unterschiedlichen 'grammatischen Gewändern'. Kategoriale Funktionen, die in komplexen, noch unbekannten und damit noch nicht dokumentierten Mustern realisiert werden, bleiben dem Betrachter in der Regel zunächst verborgen. Sie sind so gut getarnt und so gut an ihre sprachliche Umwelt - das sind die jeweiligen typologischen Grundmuster einer Sprache - angepaßt, daß der Beobachter das Vorhandensein solcher Regeln nicht einmal vermutet. Auf diese Weise wird die Musterung dieses 'grammatischen Chamäleons', das unbemerkt in seiner sprachtypologischen Umwelt wirkt, leicht übersehen. Die Betonung liegt hier auf den grammatischen Mustern. Es ist wichtig, das besonders hervorzuheben, da häufig angenommen wird, daß das Fehlen einer grammatischen Kategorie durch semantische Strategien, wie z. B. Umschreibungen, kompensiert wird. So plausibel diese Annahme zunächst erscheinen mag, so ist sie doch nicht mehr als eine Hilfskonstruktion, die unsere Lücken beim

4

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder' einer Kategorie

Verständnis grammatischer Funktionen zu überbrücken hilft. Einmal haben lexikalische Einheiten wie ζ. B. gestern einen ganz anderen Status als grammatische Einheiten wie ζ. B. Tempus. Zum anderen kommen in einer artikellosen Sprache lexikalische Einheiten wie Demonstrativpronomen mit Sicherheit nicht häufiger vor als in anderen Sprachen. Der Ausdruck der grammatischen Funktionen Definitheit/Indefmitheit wird also nicht auf den lexikalischen Bereich verschoben. Neben dem Bereich der semantischen Paraphrasierungen und dem der deutlich sichtbaren grammatischen Kategorien gibt es vielmehr einen dritten Bereich, den der unsichtbaren Grammatik. Dieser ist nicht homogen strukturiert: Es gibt unsichtbare Grammatik im engeren Sinn und daneben 'bloß' schwer sichtbare Grammatik. Die Kenntnis dieser Differenzierung ist notwendig sowohl zum Verständnis der in Kap. 1.3 vorgestellten These zur Entstehung des Artikels als auch für die Planung von Beobachtungs- und Wahrnehmungskategorien im empirischen Teil der Arbeit.

1.2 Unsichtbare, sichtbare und schwer sichtbare Grammatik Zunächst sollte man sich verdeutlichen, wann Grammatik überhaupt Chancen hat wahrgenommen zu werden: Grammatische Regeln gehören überwiegend zu unserem impliziten Regelwissen. Wir können diese Regeln, aber wir kennen sie nicht, es sei denn, daß wir sie sekundär durch Unterricht expliziert bekommen. Auf diese Weise wird jedoch nur ein geringer Teil der Regeln vermittelt. Wird eine dieser Regeln im Lehrplan übergangen, wird sie in der Mehrzahl der Fälle auch nicht spontan entdeckt. So wissen die meisten muttersprachlichen Sprecher des Deutschen ζ. B. nicht, daß es im Deutschen zwei Adjektivdeklinationen gibt, also (mindestens) zwei verschiedene Paradigmen, nach denen sich die Adjektive jeweils deklinieren lassen. Sie wissen es nicht, weil die Vermittlung dieser Regeln in den meisten Lehrplänen nicht verankert ist; vermutlich deshalb nicht, weil die muttersprachlichen Sprecher diese Regeln implizit beherrschen, so daß sie keinen Unterricht darin 'brauchen'. Nun sind Flexionsendungen aber noch vergleichsweise leicht wahrnehmbar, da sie durch sprachliche Zeichen materiell realisiert werden. Solche prinzipiell wahrnehmbare Grammatik läßt sich zwar nicht unbedingt spontan, aber doch relativ zuverlässig entdecken und anschließend in grammatischen Kompendien dokumentieren.

Unsichtbare, sichtbare und schwer sichtbare Grammatik

5

Anders verhält es sich mit grammatischen Inhalten, denen nicht unmittelbar ein formales Paradigma entspricht. In solchen Fällen liegen entweder Realisierungsmuster von unsichtbarer, ikonischer Grammatik oder von schwer sichtbarer, komplexer Grammatik vor, die beide zudem noch in arbeitsteiligen Prozessen zusammenwirken. Es wird meist angenommen, daß die 1:1-Zuordnung von Form und Inhalt den Idealfall grammatischer Kodierung darstellt. Im Laufe dieser Arbeit zeigt sich, daß dies nicht der Fall ist. Es gibt weit ökonomischere Verfahren der Kodierung von Grammatik. Vor allem, wenn man das Gesamtsystem von Grammatik betrachtet, wird deutlich, daß das Zusammenspiel der drei erwähnten Kodierungsformen äußerst effizient ist. Es ermöglicht einen konziseren Regelapparat als dies eine konsequente 1:1 -Zuordnung von Form und Inhalt zu gewährleisten imstande wäre. Die drei komplementären Regelqualitäten sind: A. Ikonische oder 'unsichtbare' Kodierung: In diesem Fall liegt unsichtbare Grammatik im engeren Sinn vor. Die Materialisierung von Grammatik kommt ohne Markierungen wie Flexive, Derivative oder Auxiliare aus. Es ist trotzdem gerechtfertigt, von Materialisierung zu sprechen. Genutzt wird bei dieser Form der Kodierung die natürliche und notwendig vorgegebene Linearität der sprachlichen Äußerung. Das 'Nacheinander' von Äußerungen wird nicht mit einem 'Durcheinander' von Inhalten besetzt. Vielmehr liegt eine nichtwillkürliche Besetzung der sprachlichen Linearität mit spezifischen grammatischen Inhalten vor, und zwar bevor der Prozeß der Bildung von grammatischen Markierungen einsetzt. Die nichtarbiträre Nutzung sprachlicher Serialisierung ist dabei ein Abbild der Qualität des Zeichens schlechthin. Sie besteht in einer Progression vom Bekannten zum Unbekannten, vom Thema zum Rhema, vom Defmiten zum Indefiniten, um in einer ersten Annäherung geläufige Termini zu verwenden. Entdeckt wurde die unsichtbare Enkodierung von Definitheit vs. Indefinitheit durch die Vertreter der Funktionalen Satzperspektive. KRÁMSKY (1972: 42) nennt folgende Beispiele aus dem Tschechischen: (1)

Kniha je na stole Buch ist auf Tisch

(2)

Na stole je kniha Auf Tisch ist Buch

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder 1 einer Kategorie

6

In (1) ist Kniha définit, in (2) indefinit. Die entsprechenden deutschen Übersetzungen sind: ad(l) ad (2)

'Das Buch ist auf dem Tisch.' 'Es ist ein Buch auf dem Tisch.'

Es dürfte kein Zufall sein, daß die Vertreter der Funktionalen Satzperspektive Sprecher einer artikellosen slavischen Sprache waren. Was sie mit der ThemaRhema-Gliederung entdeckt haben, ist in erster Linie die unsichtbare Enkodierung von Definitheit/Indefinitheit in artikellosen Sprachen. Es ist dabei besonders interessant, daß sich die Ergebnisse der Funktionalen Satzperspektive auch auf ausgeprägte Artikelsprachen wie das Englische übertragen lassen konnten (vgl. Ζ . B . die Arbeiten von DUSKOVÁ). Die ikonische Repräsentation von Definitheit vs. Indefinitheit ist auch in Artikelsprachen nicht völlig aufgehoben, sondern lediglich überlagert. Ikonisch darf die Besetzung der linearen sprachlichen Kette durch diese Inhalte deshalb genannt werden, weil sich hier die Qualität des sprachlichen Zeichens manifestiert, die sich so darstellen läßt:3

Jedes Zeichen hat etwas mit Zeigen zu tun. Zeigen geht immer von einem bekannten Ort aus; es kann nur funktionieren, wenn der Fokus der Aufmerksamkeit auf diesem Ort liegt. Das ist die unabdingbare Voraussetzung für jeden Zeige- und Zeichenprozeß generell. Die Basisfunktion des Zeichens, welche in der Lenkung der Aufmerksamkeit besteht, könnte anders nicht realisiert werden. Es wird deutlich, welche Bedeutung die Kategorie der Determiniertheit/Indeterminiertheit für den Aufbau von Grammatik hat. Diese Kategorie ist eine konstitutive Eigenschaft des Zeichens selbst. Sie läßt sich nicht von einer

3

Natürlich hätte man dieses Zeichen in einer Sprache, die von rechts nach links verschilftet ist, umgekehrt darzustellen als «- . Dargestellt wird mit einer solchen Zeichnung ja nicht die Progression von rechts nach links bzw. von links nach rechts, sondern vom Vorher zum Nachher. Diese Anmerkung, so trivial sie auch erscheinen mag, ist notwendig. So finden sich beispielsweise in der Arbeit eines arabophonen Sprachwissenschaftlers graphische Darstellungen von gerichteten Verbalereignissen, die wir als darstellen, mit umgekehrter Pfeilrichtung skizziert, obwohl der Text in Französisch verfaßt ist (publiziert in einem von C U L I O L I 1 9 8 6 hg. Sammelband). Umgekehrt ist es sehr wahrscheinlich, daß beispielsweise deutschsprachige Linguisten, die ihren Text ins Arabische übertragen wollten, vergessen würden, die graphischen Darstellungen von Gerichtetheit umzudrehen.

Unsichtbare, sichtbare und schwer sichtbare Grammatik

7

anderen, grundlegenderen Kategorie ableiten, da sie selbst die Ausgangsbasis darstellt, auf der jegliche grammatische Architektonik aufbauen muß. Das Kennzeichen sprachlicher Serialisierung sind Definitheitsgefälle. Die syntagmatische Kette ist also mit Definitheitswerten besetzt; sie sind sozusagen die Kilometersteine der Syntax. Ist das Definitheitsgefälle an seinem Nullpunkt angelangt, so ist das Ende einer syntagmatischen Einheit erreicht. Diese Einheit ist der Satz.4 Die Besetzung der Linearität der Satzeinheit mit semantischen Rollen, die noch häufig erwähnt wird, und vor allem von COMRIE 1981 in seinen Arbeiten in den Vordergrund gestellt wurde, hat einen anderen Stellenwert. Sie ist erst auf der nächsten Ebene angesiedelt, der Ebene der sekundären Besetzung der sprachlichen Linearität mit Inhalten. Die maximal unmarkierte, d. h. ikonisch kodierte semantische Rolle muß primär über die Definitheitsspitze innerhalb des Satzes verfugen. Sie muß also relativ définit sein in bezug auf die kookkurrierenden Nominalphrasen eines Satzes. Ob diese privilegierte Subjektsposition überwiegend mit Patiensrollen oder mit Agensrollen besetzt wird, hängt von den sprachtypologischen Weichenstellungen einer Sprache ab. In Nominativ-/Akkusativsprachen sind definite Agenssubjekte charakteristisch für unmarkierte Basissätze, in Absolutiv-/Ergativsprachen sind es die definiten Patienssubjekte. In Aktivsprachen herrscht dagegen ein relativ ausgewogenes Verhältnis in der Distribution der beiden Subjekttypen vor.5 Läßt man Fragen der Satzmodalität außer acht, was legitim ist, weil zu ihrer Kodierung neben der Nutzung des Informationsgehalts der Linearität, zumindest zusätzliche suprasegmentale Unterstützung notwendig ist, so gibt es keine weiteren grammatischen Inhalte, welche für die Besetzung der ersten, unmarkierten Ebene sprachlicher Linearität in Frage kommen könnten. Der grammatische Inhalt der Kategorie Determiniertheit/Indeterminiertheit ist in dieser Hinsicht privilegiert. Es handelt sich, wie bereits ausgeführt, um den 'natürlichsten' und damit 'unhintergehbaren' Inhalt des sprachlichen Zeichens. Wenn es so ist, daß die syntagmatische Kette mit Definitheitswerten besetzt ist, so daß jeder Ort des Syntagmas mit einer spezifischen Definitheitsumgebung

4

Auf diese Weise läßt sich die angeblich undefinierbare Einheit Satz m. E. gut definieren. Vgl. LEISS (1992: 229-231).

5

Das Subjekt wird hier definiert als das Element, auf das sich die Prädikation eines Satzes bezieht. Die Prädikationsleistung besteht v. a. in der Lokalisation des Subjekts. Die sprachliche Einheit, welche in Subjektsposition ist, wird dabei von der abstrakten Welt der Bedeutung und des Lexikons in die konkrete Welt der Bezeichnungen geholt. Es wird auf der Basis dieser Subjektskonzeption daher mit SHAUMYAN 1985, SASSE 1978 und PRIMUS 1987 davon ausgegangen, daß in Absolutiv-/Ergativsprachen die Patiensrolle in der unmarkierten Form die Basis, das Subjekt bzw. die privilegierte Rolle darstellt. Eine ausfuhrliche Diskussion dazu in LEISS (1992: 88-97).

8

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder1 einer Kategorie

ausgestattet ist, dann ist es nicht verwunderlich, daß gerade diese Kategorie nicht nach konsequenter expliziter Kodierung drängt. Da diese Kategorie auf der primären syntagmatischen Ebene ubiquitär vorhanden ist, geschieht die offene Markierung von Definitheit und Indefinitheit nur unter bestimmten Voraussetzungen. Damit ist die zweite Form der Kodierung von Grammatik angesprochen, welche im übrigen die erste Form der unsichtbaren Grammatik unbedingt voraussetzt: B. Kodierung von Kategorien mittels Markierungen oder: die sichtbare Grammatik Bei der Mehrzahl der grammatischen Oppositionen steht einem unmarkierten Pol ein markierter Pol gegenüber. 'Markiert' bedeutet zunächst, daß ein zusätzliches formales Element vorhanden ist. Seine Funktion besteht darin zu signalisieren, daß eine Abweichung vorliegt in bezug auf den grammatischen Inhalt, den wir a priori erwarten würden. Präsupponierte Inhalte kommen ohne Markierungen aus. So wird beispielsweise das Präsens in der Regel nicht markiert, da wir gegenwärtigen Zeitbezug voraussetzen, solange keine Indikatoren vorhanden sind, die diese Präsupposition negieren. Ein solcher Indikator kann etwa die Aspektualität des Verbs sein. Präsupponierte Inhalte verstehen sich von selbst. Markierungen kommen ins Spiel, wenn gegen dieses Vorverständnis verstoßen werden soll, um einem neuen, unerwarteten grammatischen Inhalt Platz zu machen. Die grammatischen Präsuppositionen sind das Gepäck, das jede Äußerung unauffällig mittransportiert. Berücksichtigt man diese Prämissen, so läßt sich folgern, daß eine Definitheitsmarkierung immer dann notwendig wird, wenn ein solcher Inhalt nicht durch die grammatische Umwelt vorausgesetzt werden kann. Das bedeutet, daß die Signalisierung von Definitheit durch eine grammatische Markierung beispielsweise im rhematischen Bereich, also in natürlicher indefiniter Umgebung zu erwarten ist. Diese Distribution gilt allerdings nur dann, wenn eine Zusammenarbeit mit der primären, ikonischen Signalisierung gewährleistet ist. Es ist bekannt, daß in 'entwickelten' Artikelsprachen gerade die umgekehrte Beobachtung zu machen ist: die definiten und thematischen Subjekte überwiegen hier (ζ. B. mit 90% besonders ausgeprägt im Englischen; vgl. GivÓN 1979: 28). Diese verschiedenen Distributionen müssen unbedingt auseinandergehalten werden; sie werden in dieser Arbeit sorgfältige Beachtung finden. Sogenannte 'entwickelte' Artikelsprachen sind Sprachen mit einer übergeneralisierenden Verwendung des Artikels, die man besser nicht als 'obligatorische' Verwendung bezeichnet, auch wenn dies üblich ist. Der Artikel wird nämlich in diesen Sprachen nicht mehr nur dort gesetzt, wo sein grammatischer Inhalt

Unsichtbare, sichtbare und schwer sichtbare Grammatik

9

notwendig, aber nicht präsupponierbar ist. Vielmehr wird er zusätzlich in 'Definitheitsumgebungen' gesetzt, also gerade dort, wo sein grammatischer Inhalt durch die Umgebung vorausgesetzt wird. Es handelt sich hier ganz offensichtlich um völlig verschiedene systematische Realisierungen der Kategorie Definitheit/Indefinitheit. Diese Differenzierungen sollen später vor allem am Beispiel des Artikelsystems im Altisländischen in Konfrontation mit dem Nynorsk verdeutlicht werden. Eine Übergeneralisierung im Artikelsystem hat dramatische Konsequenzen für die gesamte Architektonik einer Sprache. Wenn die Definitheitswerte des Syntagmas vollständig durch Markierungen realisiert werden, ob dies nun notwendig ist oder nicht, dann wird das Syntagma frei für die Signalisierung anderer grammatischer Inhalte. Das sind im Fall der übergeneralisierenden Artikelsprachen wie Deutsch oder Englisch die semantischen Rollen wie Agens und Patiens. Die feste Wortstellung im Englischen bedeutet nichts anderes, als daß die syntagmatische Kette spezifische Positionen für spezifische semantische Rollen reserviert. Die zu Unrecht sogenannte 'freie' Wortstellung war natürlich vorher genauso 'fest', nur in bezug auf andere grammatische Inhalte, die der Definitheit und Indefinitheit. Die unsichtbare Markierung der semantischen Rollen durch ihre spezifische Serialisierung auf dem Syntagma hat zur Folge, daß die zuvor erfolgte offene Markierung dieser Rollen jetzt redundant ist. Da Redundanz im Bereich der Signalisierung an grammatischen Kategorien grundsätzlich vermieden wird, tendieren diese offenen Markierungen dazu, abgebaut zu werden. Betroffen davon sind in diesem Fall die Kasusmarkierungen. Sollte die hier skizzierte Logik sprachlicher Kodierung stimmig sein, so müßten die bestehenden Unterschiede im Deutschen und Englischen, was das Kasussystem betrifft, eng mit jeweils unterschiedlichen Ausprägungen der Realisierungen von Definitheit und Indefinitheit verwoben sein. Diese ersten Andeutungen sollen die Aufmerksamkeit in folgende Richtungen lenken: • Die Realisierung der kategorialen Funktion Definitheit/Indefinitheit läßt sich nicht losgelöst vom Kasussystem bzw. dem System der Signalisierung der semantischen Rollen in den Griff bekommen. Es ist anzunehmen, daß weitere grammatische Kategorien eine Rolle spielen. Ferner muß in Erwägung gezogen werden, daß über die Nominalkategorien hinaus die Verbalkategorien einen Einfluß auf die Systematik von Definitheit/Indefinitheit ausüben können. Ein konsequent strukturalistischer Ansatz legt eine solche Annahme nahe: die Modifikation einer Komponente affiziert immer das gesamte System, und es kann nicht angenommen werden, daß das Teilsystem der

10

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder' einer Kategorie

Verbalkategorien gegenüber dem der Nominalkategorien hermetisch abgeschlossen ist. • Es gibt zwei Möglichkeiten der Markierung von grammatischen Inhalten: einmal durch die konsequente Zuordnung eines Inhalts zu einer Form. Hierbei handelt es sich um eine übergeneralisierende Markierung von Inhalten. Definitheit wird also auch in einer 'definiten Umwelt' gekennzeichnet. Zum anderen gibt es die kombinatorische Markierung durch die Zusammenarbeit von ikonischer Grammatik und sichtbarer Grammatik. Dabei werden Markierungen äußerst sparsam eingesetzt, d. h. nur in Kontexten, in denen ein Verstoß gegen die natürlichen grammatischen Erwartungen vorliegt. Es dürfte deutlich geworden sein, daß nicht unbedingt die Iii-Kodierung von (sichtbarer) Form und Inhalt das ökonomischste Prinzip zur Signalisierung von grammatischen Funktionen darstellt. Die Kombinatorik von grammatischen Präsuppositionen und offenen Markierungen ist mindestens ebenso effizient. Von diesen Überlegungen aus läßt sich eine Brücke bauen zur dritten, bis jetzt noch nicht ausgesprochenen Möglichkeit der Kodierung von Grammatik. C. Komplexe Kodierung von grammatischen Kategorien oder: die schwer sichtbare Grammatik Es handelt sich hier um einen Bereich der Grammatik, welcher bislang von der Grammatiktheorie ebensowenig wie von der Grammatikschreibung beachtet worden ist. Folgende Gedankengänge führen zu einer Annäherung an diesen Bereich: Nehmen wir an, die kombinatorische Symbolisierung ist tatsächlich ein ökonomisches Verfahren. Warum sollte es dann nicht noch weitere 'grammatische Teams' geben? Das hieße, warum sollte es neben der Zusammenarbeit von unsichtbarer und sichtbarer Grammatik nicht auch die Kooperation von zwei Formen sichtbarer Grammatik geben? In diesem Fall wären die Muster ihres Zusammenspiels dann der Ausdruck für einen dritten grammatischen Inhalt. Es sei hier zugegeben, daß diese Überlegungen erst auf der Basis von sprachlichen Daten entstanden sind, die aber gleichwohl vor einem spezifischen metasprachlichen Hintergrund Konturen bekommen haben. So naheliegend solche Gedanken durch die vorausgegangene Darstellung möglicher Kodierungsformen von Grammatik auch sein mögen, so handelt es sich doch um noch kaum ausgetretene Gedankenwege. Gefühle von Skepsis und Unvertrautheit müssen daher beim sich Vorwärtstasten in diese unbekannten Regionen von Grammatik in Kauf genommen werden. Hilfreich dürfte dabei die Berücksichtigung einer bereits erwähnten Beobachtung sein:

Der Zusammenbrach des Aspektsystems und seine Folgen

11

In Sprachen ohne Artikel wird Definitheit/Indefinitheit über die Definitheitswerte auf dem Syntagma realisiert. Es ist anzunehmen, daß es auch in diesen Sprachen die Möglichkeit geben muß, Definitheit und Indefinitheit in unpassender, d. h. 'unerwarteter' syntagmatischer Umgebung auszudrücken. Solche zusätzlichen Möglichkeiten erhöhen den Informationsgehalt einer Sprache. Solange keine gegenteiligen Indizien vorliegen, müssen wir annehmen, daß keine Sprache 'ärmer' ausgestattet ist als die andere. Da eine sichtbare Markierung wie der Artikel in diesen Sprachen fehlt, müssen andere Mittel Einsatz finden, die jedoch bislang unserer Aufmerksamkeit entgangen sind. Erst wenn wir die 'Kodierungsraffinessen' von artikellosen Sprachen in bezug auf die Opposition Definitheit/Indefinitheit entdeckt haben, können wir eine Antwort auf die Frage erwarten, warum und wozu der Artikel 'plötzlich' auftaucht und sich dann auch noch extrem schnell ausbreitet. Erst wenn wir imstande sind wahrzunehmen, was gleichzeitig verschwunden ist, können wir den kompensatorischen Prozeß - die Entstehung des Artikels - begreifen. Die im folgenden vorgestellte These hat zum Inhalt, daß die kategoriale Funktion der Determiniertheit/Indeterminiertheit im Germanischen ursprünglich durch zwei 'fremde' Kategorien kombinatorisch enkodiert werden konnte. Beteiligt waren bei dieser 'kategorialen Kooperation' der Verbalaspekt und die Kasus Akkusativ und Genitiv. Durch den Abbau einer dieser Kategorien - es kommt in den germanischen Sprachen zum vollständigen Zusammenbruch eines einstigen Aspektsystems (FOURQUET 1969) - wurde die materielle Basis der dritten, kombinatorisch realisierten Kategorie vollständig untergraben. Es kommt zu grammatischen Einbrüchen, welche eine vollständige Reorganisation des grammatischen Systems in den jeweiligen germanischen Einzelsprachen notwendig machen.

1.3 Der Zusammenbruch des Aspektsystems und seine Folgen In das Dickicht der grammatischen Regularitäten von Determiniertheit/Indeterminiertheit in den älteren Stufen der germanischen Sprachen gelangt Licht, wenn man bereit ist, das grammatische Dunkel aus einer ungewohnten Perspektive heraus zu beleuchten. Ungewohnt ist es, sich bei der Frage nach der Entstehung des Artikels zunächst einmal bei modernen, artikellosen Sprachen umzusehen. Dieser 'Umweg' soll hier eingeschlagen werden. Er wird sich bald als eine Abkürzung herausstellen.

12

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder' einer Kategorie

Folgende Beispiele6 aus dem artikellosen Russischen sind imstande, eine umfangreiche Lawine an Gedankengängen auszulösen, welche zur Lösung des 'Artikelrätsels' beitragen können. (3)

On kolol drova. (imperfektives Verb + Akk.) - 'Er hat Holz gespalten.'

(4)

On raskolol drova. (perfektives Verb + Akk.) - 'Er hat das Holz gespalten.'

Die Folgerungen, die sich aus den russischen Beispielen und ihren deutschen Entsprechungen ziehen lassen, werden klarer, wenn man die beteiligten grammatischen Kategorien dazunotiert. (5)

On PERS.PRON.3.PS.SG.NOM. AGENS'er'

kolo Verb.IMPF.HANDLUNG

l PRÄT. 'spalten'

drov-a Subst.-AKK. PATTENS Ήοΐζ1

(6)

On PERS.PRON.3.PS.SG.NOM. AGENS 'er'

ras PF.PRÄFIXHANDLUNG

kolo Verb'spalten'

l PRÄT.

drov-a Subst.-AKK. Ρ ATIENS 'Holz'

(7)

Er PERS.PRON.3.PS.SG.NOM. AGENS 'er'

hat AUX.3.PS.SG.PRÄS. HANDLUNG 'spalten'

Holz-0 Subst.AKK. PATTENS Ήοΐζ'

gespalten Verb:PART.II

6

Die Beispiele sind BIRKENMAIER (1979: 115) entnommen. Auf die im folgenden vorgestellten Zusammenhänge habe ich in 'stenographischer Form' bereits in LEISS 1987/1991 hingewiesen. Inzwischen sind sie von mehreren Seiten aufgenommen worden, ζ. B. von DONHAUSER 1990, A B R A H A M 1 9 9 7 u n d SCHRODT 1 9 9 6 . V g l . a u c h LEISS 1 9 9 4 .

Der Zusammenbruch des Aspektsystems und seine Folgen

(8)

Er PERS.PRON.3.PS.SG.NOM. AGENS 'er'

hat AUX.3.PS.SG.PRÄS. HANDLUNG 'spalten'

Holz - 0 Subst.AKK.

gespalten Verb:PART.II

13 das DET.N. PATIENS 'Holz'

Die rassischen Beispiele unterscheiden sich, was die Markierangen betrifft, lediglich in bezug auf den verbalen Aspekt. In Beispiel (4) bzw. (6) zeigt das Perfektivierungspräfix ras- an, daß es sich um einen in seiner Gesamtheit betrachteten Vorgang handelt.7 Die Perfektivität des Verbs hat offenbar Konsequenzen für das darauffolgende Substantiv. Es läßt sich ein Definitheitseffekt8 feststellen, der uns durch die Übersetzung ins Deutsche vermutlich bewußter wird als einem russischen Muttersprachler. Betrachtet man die deutschen Übersetzungsbeispiele, so werden in bezug auf die bewußte bzw. unbewußte Verarbeitung von grammatischen Effekten Parallelen sichtbar, wenn auch in spiegelbildlicher Form: Im Russischen unterscheiden sich die beiden Sätze durch eine aspektuelle Markierung, im Deutschen durch eine Determiniertheitsmarkierung. Während im Russischen der Verbalaspekt Defmitheitseffekte nach sich zieht, löst im Deutschen umgekehrt nominale Determiniertheit eine aspektuelle Einfärbung des Verbs aus. Zum besseren Verständnis vergegenwärtige man sich folgende Aussagen: (9) Ich habe Holz gespalten. ( 10) Ich habe das Holz gespalten. Bei Beispiel (10) verstehen wir implizit, daß das Holz in seiner Gesamtheit gespalten ist. Es handelt sich dabei nicht nur um das Holz, von dem wir wissen, wo es liegt, also nicht allein um das Merkmal der Bekanntheit, das häufig mit dem bestimmten Artikel in Verbindung gebracht wird; darüber hinaus ist vor allem die gesamte Menge des Holzes gemeint, und nicht nur ein Teil davon. Ja, mehr noch: es ist nicht allein von der Gesamtheit des Holzes die Rede, sondern

7

8

Es ist hier nicht der Platz filr eine ausfuhrliche Diskussion der kontroversen Positionen in bezug auf die Kategorie Aspekt (vgl. LEISS 1992: Kap. 2). In der Terminologie folge ich hier GIL 1987. Vgl. auch C. LYONS 1999, der diesen Terminus weiter popularisiert hat.

14

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder' einer Kategorie

im gleichen Maße von der Totalität der Verbalsituation. Die Handlung des Holzspaltens stellt sich uns als abgeschlossen im Sinn von 'zu Ende geführt' dar. Anders verhält es sich mit Beispiel (9). Hier wird im Gegensatz zu Beispiel (10) keine Aussage über die Menge des gespaltenen Holzes gemacht. Die Handlung stellt sich uns als kontinuierlicher Prozeß dar, der zwar vorerst beendet, aber nicht vollständig zu Ende geführt wurde. Die Handlung läßt sich als unterbrochen charakterisieren, nicht als abgeschlossen. Die Paraphrasierungen der russischen und deutschen Beispiele zeigen, wie sehr der Ausdruck der Totalität von Verbalsituationen und deijenige der Totalität von Objekten mit- und ineinander verflochten sein können. Die nominale Kategorie der Definitheit hat ganz offensichtlich deutliche aspektuelle Auswirkungen auf das Verb; und umgekehrt gilt, daß die verbale Kategorie des Aspekts Definitheitseffekte für das in der unmittelbaren syntaktischen Umgebung stehende Substantiv nach sich zieht. Die Definitheitseffekte des verbalen Aspekts wie im Russischen sowie die Aspektualisierungseffekte des Artikels wie im Deutschen scheinen also über das gesamte Prädikat zu streuen. Es wird später noch deutlicher werden, daß sich die Inhalte von Artikel und Aspekt auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen dürften, nämlich auf den Nenner der nominalen und verbalen Determination. Man könnte auch, um terminologisch gerecht zu sein, von nominalem und verbalem Aspekt sprechen. Ganz gleich welche Terminologie man auch wählt, in jedem Fall gilt, daß sich ein und dieselbe Funktion einmal vom Nomen, das andere Mal vom Verb transportieren läßt, wobei Spuren in der unmittelbaren Umgebimg des jeweiligen funktionalen Lasttiers hinterlassen werden. Es liegt daher nahe anzunehmen, daß eine Sprache, die über die verbale Kategorie des Aspekts verfügt, unter bestimmten, noch näher zu benennenden Voraussetzungen auf die nominale Kategorie des Artikels verzichten kann, und umgekehrt. Damit ist die zentrale These dieser Arbeit angesprochen: Aspekt und Artikel sind Realisierungen ein und derselben grammatischen Funktion. Diese Funktion wird im einen Fall vom Nomen, im anderen Fall vom Verb realisiert, wobei die unmittelbare syntaktische Umgebung von den Definitheits- bzw. Aspektualisierungseffekten profitiert. Man könnte diese Funktion wortartenneutral als die grammatische Kategorie der Totalität/Nichttotalität bezeichnen. Ob dieselbe Funktion verbal oder nonverbal realisiert wird, hängt von der unterschiedlichen Setzung der grammatischen Parameter in der jeweiligen Einzelsprache ab. Das Vorhandensein des Artikels oder des Aspekts ist das Ergebnis einer grundlegenden Weichenstellung in einer Sprache, was die Realisierung der Kategorie der Totalität/Nichttotalität betrifft, mit weitreichenden Folgen für den gesamten, darauf basierenden Bau der Grammatik.

Der Zusammenbruch des Aspektsystems und seine Folgen

15

Die Untersuchung des Artikels, d. h. seiner Funktionen ebenso wie seiner Entstehungsbedingungen, ist daher mehr als nur eine Spezialarbeit zu einem grammatischen Detail. Es geht hier um die Untersuchung von Grundbausteinen und Basisentscheidungen, welche den Aufbau der Grammatik menschlicher Sprache steuern. Es geht auch um die Entdeckung des Spektrums oder wenigstens eines Teilspektrums von deren Variationsmöglichkeiten. Untersuchungen zu den Entstehungsbedingungen des Artikels sind deshalb so wichtig, weil wir hier die Bedingungen und Voraussetzungen für einen Wechsel grammatischer Parameter studieren können. Jede noch so kleine Einsicht auf diesem Gebiet bedeutet einen Schritt weiter auf dem schwer zugänglichen Gebiet der Architektonik der menschlichen Kognition. Schon die erste, noch sehr allgemein gehaltene Überlegung, daß die 1:1Zuordnung von Form und Inhalt nicht die ökonomischste Möglichkeit der Symbolisierung ist, hat weitreichende Folgen für das Verständnis der kognitiven Strategien der Semiose, d. h. des Prozesses der Zeichenbildung, im Bereich der Grammatik. Die vorgestellten Beispiele aus dem Russischen machen bis jetzt noch nicht vollständig transparent, daß hier eine Form von komplexer Kodierung einer dritten Kategorie durch zwei andere vorliegt. Es ließe sich auch der Einwand äußern, daß der Verbalaspekt alleine die Enkodierung von Determiniertheit/Indeterminiertheit gewährleiste, und daß der Akkusativ-Kasus bei der Generierung dieser grammatischen Bedeutung nicht beteiligt ist. Zu dieser Auffassung dürften vor allem jene tendieren, welche den verschiedenen Kasusformen keine eigene Semantik zuschreiben wollen. Die Funktion der Kasus besteht danach lediglich darin, die Unterscheidung verschiedener syntaktischer Aktanten zu gewährleisten. Als Vertreter dieser Position sei hier stellvertretend MARTINET 1 9 7 9 genannt. Folgt man dieser Kasuskonzeption, dann kann der Akkusativ in den erwähnten Beispielen nichts zur Erzeugung der grammatischen Bedeutung Definitheit/Indefinitheit beitragen. Er hätte lediglich die Unterscheidung von Subjekts- vs. Objektsaktanten zu gewährleisten, keinesfalls aber einen Baustein zum Aufbau einer zusätzlichen grammatischen Bedeutung zu liefern. Dazu wäre die Akkusativform als rein formales Differenzierungsinstrument nicht imstande. Partisanen dieser Position können aus den Beispielen nur ablesen, daß eine einfache Ersetzungsstrategie vorliegt: Die kategoriale Funktion Determiniertheit/Indeterminiertheit wird - statt durch den Artikel durch den verbalen Aspekt transportiert. Daß sich die Kasusbedeutung beim Aufbau der Opposition von Determiniertheit/Indeterminiertheit über den Umweg einer Verbalkategorie nicht vernachlässigen läßt, verdeutlichen zwei weitere Beispiele aus dem Russischen (BIRKENMAIER 1 9 7 9 : 1 0 8 ) .

16

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder' einer Kategorie

(11) On prinës papirosy Er brachte (PF.) Zigaretten (AKK.) 'Er brachte die Zigaretten' (12) On prinës papiros Er brachte (PF.) Zigaretten (GEN.) 'Er brachte Zigaretten' In Beispiel (11) wird wie in Beispiel (6) durch die Verwendung des perfektiven Verbs der Aktant im Akkusativ als définit qualifiziert. Die Konfrontation mit Beispiel (12) zeigt, daß das perfektive Verb allein nicht für die Definitsetzung des Aktanten sorgt. In Kombination mit dem Genitiv, der offensichtlich in Opposition zum Akkusativ steht, wird dem Aktanten ein entgegengesetzter Definitheitswert zugeordnet. Interessant ist, daß sich die imperfektiven Verben nicht mit Genitiv konstruieren lassen. Es wird also eine Opposition von Definitheit/Indefinitheit auf einer weiteren Ebene erneut aufgebaut: Das System läßt sich grob etwa so skizzieren: Fig. 1:

Die Frage, ob bei der Konstruktion von perfektivem Verb mit einem Aktanten im Genitiv die kategoriale Bedeutung von Indefinitheit im engeren Sinn oder die von Partitivität erzeugt wird, muß aufgrund der Komplexität der Thematik vorerst zurückgestellt werden.

Der Zusammenbruch des Aspektsystems und seine Folgen

17

Es geht zunächst in erster Linie darum, darauf aufmerksam zu machen, daß die grammatischen Kategorien Aspekt und Kasus nicht isoliert voneinander betrachtet werden dürfen. Diese Einsicht läßt sich voraussichtlich generalisieren und auf weitere Kategorien übertragen. Die Kombinatorik der Kategorien würde demnach einen wesentlichen Teil des Regelsystems von Grammatik ausmachen. Unser bislang äußerst begrenztes Wissen über die Möglichkeiten komplexer Kodierung hat zur Folge, daß uns die Wahrnehmung bestimmter sprachlicher Daten in ihrer Zugehörigkeit zum grammatischen Regelsystem nicht gelingt. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, als könnten kategoriale Erscheinungsformen wie der Artikel 'aus dem Nichts' auftauchen. Das Fehlen einer Theorie, welche die Wahrnehmung von kategorialer Kombinatorik fordert, hatte zur Folge, daß monokausale Theorien zur Entstehung des Artikels in den germanischen Sprachen die Regel sind: die Entstehung einer neuen Kategorie wurde dabei unmittelbar mit dem Verschwinden oder der Abschwächung einer anderen Kategorie in Verbindung gebracht. Obwohl die Methode selbst nicht kritisiert wurde, konnten die Ergebnisse solch eindimensionaler Korrelationen bislang dennoch keine große Überzeugungskraft entfalten. Die Sprache folgt offenbar einer anderen Logik. Will man sich den verborgenen Strategien der komplexen Materialisierung grammatischer Funktionen nähern, darf man sich zunächst keinen noch so geringfügigen Hinweis entgehen lassen. In bezug auf die unbeantwortete Frage nach der Entstehung des Artikels stellen die russischen Beispiele einen solchen ersten Anlaß dar; sie machen auf folgende Parallelen aufmerksam: A. Die Alternierung zwischen Genitiv und Akkusativ: Auch in den germanischen Sprachen läßt sich der Wechsel zwischen Genitiv und Akkusativ bei ein und demselben Verb beobachten, ζ. B. im Gotischen, Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen. Nach BALDES (1882: 11) geht diese doppelte Kasuskonstruktion bis auf das Sanskrit zurück. Sie ist der Aufmerksamkeit der Historischen Grammatik keinesfalls entgangen, ihr Stellenwert wurde jedoch bis vor kurzem als relativ marginal eingestuft. Der Kasuswechsel wird als eines von vielen grammatischen Details behandelt.9 ERDMANN (1876: 159) sieht so wenig Bedeutungsunterschied im Vergleich zum Akkusativ (in Otfrid), daß er zögert, überhaupt von einem anderen Kasus zu sprechen. Er formuliert dennoch intuitiv erfaßte Unterschiede, was die grammatischen Bedeutungen des Kasus betrifft: der Genitiv sei der 'mildere, gelindere Vertreter' des Akkusativs (1876: 161). In der Genitiwerbindung liege

'

Die folgenden Ausführungen zu Punkt A finden sich auch in LEISS 1987/1991.

18

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder' einer Kategorie

vor allem Allgemeinheit und Unbestimmtheit. ERDMANN schließt sich damit, wie auch andere nach ihm, J. GRIMM an. In dessen Grammatik (IV, 1837: 610) heißt es: "richtet sich die einwirkung auf den gegenständ überhaupt, so bleibt der acc., wenn aber nur auf einen unbestimmten theil desselben, so nimmt das verbum den gen. an". Es folgt eine Auflistung der mit Genitiv verwendeten Verben, wie später auch bei ERDMANN, BEHAGHEL und in den Dissertationen zu dieser Thematik. Es wird die überwiegend partitive Bedeutung der Genitivkonstruktion betont, wobei aber nicht übersehen wird, daß sich über Partitivität allein nicht sämtliche Vorkommen von Verb + Genitiv angemessen charakterisieren lassen. J. GRIMMS Annäherung an die Bedeutung des Genitivs und des Akkusativs bei einer Reihe von Verben operiert bereits mit Begriffen wie Unbestimmtheit, Ganzes ("der gegenständ überhaupt") und Teil eines Ganzen. Diese Termini spielen eine zentrale Rolle bei der Beschreibung der kategorialen Pole Determiniertheit vs. Indeterminiertheit, ζ. B. in den Arbeiten im Bereich der formalen Linguistik, vor allem wenn dort im Rahmen der Mereologie (der Logik der Teil-Ganzes-Relationen) gearbeitet wird. J. GRIMM befindet sich bereits auf der Spur, die auch in dieser Arbeit weiterverfolgt wird: der Kasuswechsel zwischen Genitiv und Akkusativ hat etwas mit dem Ausdruck der Opposition Determiniertheit vs. Indeterminiertheit zu tun. Was bei J. GRIMM noch fehlt, ist die Wahrnehmung des Zusammenhangs zwischen den von ihm ermittelten Kasusbedeutungen und der aspektuellen Semantik der an der Konstruktion beteiligten Verben. Er beschreibt die Bedeutung von Verb + Genitiv vs. Verb + Akkusativ noch in absoluten Termini. Er vermutet nicht, daß diese erst in Kombination mit der spezifischen Semantik bestimmter Verben zustandekommt. Für die Ermittlung eines solchen Zusammenhangs waren allerdings die Voraussetzungen nicht gegeben. Erst mußte die bedeutende Arbeit von STREITBERG 1891 zum Aspekt im Germanischen geschrieben werden. B. Aspekt im Germanischen: Der Kasuswechsel zwischen Genitiv und Akkusativ in den erwähnten russischen Beispielen setzt ein intaktes Aspektsystem voraus, denn nur bei den Verben perfektiven Aspekts werden mittels Kasuswechsel wechselnde Determiniertheitswerte erzielt. Imperfektive Verben werden dagegen nicht mit Genitiv konstruiert. Der Grund ist, daß diese Verben in Konstruktion mit dem Akkusativ entweder bereits indefinit sind oder neutrale Werte in bezug auf die Opposition Determiniertheit/Indeterminiertheit aufweisen. Erinnert man sich an die Unterscheidung von Thema vs. Rhema, wie sie im Rahmen der Funktionalen Satzperspektive eingeführt worden war, wird deutlich, daß Neutralität in bezug auf die Opposition Determiniertheit vs. Indeterminiert-

Der Zusammenbruch des Aspektsystems und seine Folgen

19

heit im Bereich des Rhemas zunächst immer als eine Tendenz zu Indefinitheit zu deuten ist. Die Affinität zu dieser Lesart wird erst durch markierte Kontexte aufgehoben. Die Verwendung eines perfektiven Verbs stellt einen solchen Fall von Markiertheit dar. Das Vorhandensein perfektiver Verben bzw. eines verbalen Aspektsystems ist neben der bereits erwähnten Genitiv-Akkusativ-Alternierung die zweite beachtenswerte Parallele zwischen den slavischen Sprachen und dem Germanischen. Es war STREITBERG, der die aspektuellen Muster im Gotischen erstmals systematisch erfaßt und ausgeführt hat. STREITBERG sprach noch von Aktionsarten, nicht von Aspekt. Diese Termini waren damals noch Synonyme, wobei der Terminus der Aktionsarten bevorzugt im deutschsprachigen Raum, der des Aspekts überwiegend in der französischsprachigen Literatur ('aspect') verwendet wurde. Heute werden die beiden Termini zur Differenzierung zweier verschiedener grammatischer Erscheinungen eingesetzt. Von Aspekt zu sprechen ist nur dann gerechtfertigt, wenn Verbpaare vorliegen, die sich einzig oder wenigstens primär durch das grammatische Merkmal der Perfektivität bzw. Imperfektivität voneinander unterscheiden. Dominieren dagegen nicht die aspektuellen Charakteristika der Verben, sondern ζ. B. die semantische Eigenbedeutung der 'aspektoiden' Präfixe, kommen keine 'guten' Verbpaare zustande. Solche Verben stehen sich sozusagen lexikalisch nahe, ohne daß es jedoch zu einer grammatischen Polarisierung in Verbpaare kommt. Zur Bezeichnung lexikalischer Verwandtschaften dieser Art eignet sich der Begriff der Aktionsarten. Seit STREITBERGS Arbeit wurde immer wieder kontrovers diskutiert, ob es gerechtfertigt ist, von Aspekt im Gotischen zu sprechen. Jenseits aller terminologischen Gefechte sollte man zunächst festhalten, daß es im Gotischen Verbpaare gegeben hat wie: taujan (impf.) 'tun'

ga-taujan (pf.) 'tun', 'vollenden'

hausjan (impf.) 'hören'

ga-hausjan (pf.) 'hören', 'vernehmen'

helpan (impf.) 'helfen'

ga-helpan (pf.) 'helfen'

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder1 einer Kategorie

20

fraujinon (impf.) 'herrschen'

ga-fraujinon (pf.) 'herrschen', 'beherrschen'

Solche Verbpaare sind im Gotischen häufig, wie sich beispielsweise zuletzt der Arbeit von M. KRAUSE 1987 entnehmen läßt10. Da das Textkorpus des Gotischen begrenzt ist, darf die Zahl der einst vorhandenen aspektuellen Verbpaare außerdem nicht mit der Zahl der überlieferten Verbpaare gleichgesetzt und auf diese reduziert werden. Es ist vielmehr anzunehmen, daß es zu vielen Simplexverben, fur die im Text kein ga-Verb belegt ist, dennoch ein perfektives Äquivalent gegeben hat. Dasselbe ist umgekehrt für die ga-Verben, die ohne Simplexverb im Textkorpus vorkommen, vorauszusetzen, ζ. B. für: ga-andjan ga-hveitjan ga-ïbnan

'enden' 'weißen', 'weiß machen' 'ebnen', 'einebnen'

Die Anzahl der Verbpaare erhöht sich noch, wenn man eine perfektivierende Kraft von weiteren, sehr häufig verwendeten und semantisch leeren oder abstrakten Präfixen nicht ausschließt. Gerade bei den produktivsten Präfigierungen kann das Merkmal der Perfektivität die vom Präfix 'mitgebrachte', ursprünglich räumliche Semantik dominieren. Zwei solcher Paare mit dem Präfix bi- in den Übersetzungen von M. KRAUSE dürften eine erste Vorstellung davon geben: Präfix bi-

auknan bi-auknan

'zunehmen, sich mehren' 'zunehmen, sich mehren'

kukjan bi-kukjan

'küssen' 'küssen'

Berücksichtigt man die vorgebrachten Überlegungen, gewinnt man einen ersten Eindruck davon, daß sich die aspektuellen Verbpaare im Gotischen nicht als bloß vereinzelte Vorkommen einordnen lassen dürften. Vielmehr erscheint es als gerechtfertigt, von einer systematischen Realisierung der Kategorie des Aspekts auszugehen. Ohne diese Annahme ließen sich im übrigen weitere grammatische Regularitäten des gotischen Verbalsystems nicht kohärent beschreiben. So bilden beispielsweise im Gotischen die hier als perfektiv eingeordneten Verben

10

Eine ausführlichere Berücksichtigung der Arbeit findet sich in Kap. 4.

Der Zusammenbrach des Aspektsystems und seine Folgen

21

kein analytisches Futur, während die als imperfektiv klassifizierten Verben Zugang zu dieser Konstruktion haben. Diese asymmetrischen 'grammatischen Verhaltensformen' sind typisch für Aspektverben. Eine vergleichbare Distribution findet sich auch im Russischen. Die Frage nach der Stabilität der Aspektkategorie im Gotischen bleibt dabei noch unbeantwortet. Die ersten Anzeichen der Herausbildung eines definiten Artikels sind ein Hinweis darauf, daß der Aspekt bereits nicht mehr imstande ist, seine 'nominalen Nebenaufgaben' zu leisten. Damit ist, neben den Parallelen zum Russischen, der dritte Punkt angesprochen: C. Der Zusammenhang von Artikel und Aspekt: Die eingangs erwähnten Beispiele aus dem Russischen und Deutschen sollen darauf aufmerksam machen, daß der Aspekt Artikelfunktionen erbringen kann, und der Artikel aspektuelle Leistungen miterbringt. Es ist nun interessant zu beobachten, daß mit dem zunehmenden Verfall des Aspekts in den germanischen Sprachen der kontinuierliche und konsequente Aufbau eines Artikelsystems einhergeht. Da man lange zwischen der Verbalkategorie des Aspekts und der Nominalkategorie des Artikels keine funktionalen Gemeinsamkeiten angenommen hat, blieb diese Korrelation unbeachtet. Die Situation, daß wir bis heute über keine überzeugende Theorie zur Entstehung des Artikels verfugen - und dies gilt nicht nur für das Deutsche und die germanischen Sprachen, sondern für die Artikelsprachen ganz allgemein -, zwingt uns jedoch, jeden noch so geringfügigen Hinweis ernstzunehmen. Es verbietet sich also, die Korrelation von Aspektschwund und dem Erscheinen des Artikels als zufällig abzutun, nur weil es den Denkgewohnheiten widerspricht, die Funktionen von Verbalkategorien mit denen von Nominalkategorien in Verbindung zu bringen. Macht man sich erst einmal mit dem Gedanken vertraut, daß die Parallelität des Verlusts des Aspektsystems mit der Entstehung des Artikels im Germanischen keinen Zufall darstellen muß, und daß beide Kategorien folglich in funktionaler Hinsicht in Verwandtschaftsbeziehungen zueinander stehen könnten, wird man bald einer zunehmenden Anzahl von bislang unbeachteten Daten und Spezialuntersuchungen, die diesen Verdacht bestätigen, Bedeutung beimessen. Wenn solche Untersuchungen bisher nicht rezipiert wurden, dann deshalb, weil sie mit der zu bearbeitenden Problematik nicht in Verbindung gebracht werden konnten. Tatsächlich gibt es aber eine Vielzahl von Arbeiten zu Nicht-Artikelsprachen wie dem Russischen oder dem Finnischen, die auf den Zusammenhang von Aspektualität des Verbs und Determiniertheit/Indeterminiertheit des Nomens längst hingewiesen haben. Neben den schon angesprochenen Beobachtungen zum Russischen gibt es seit Jahrzehnten Untersuchungen zum Zusammenspiel

22

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder' einer Kategorie

der verschiedenen Kasus und der Verbalsemantik im Finnischen. Die Lesarten dieser Kombinatorik reichen von Determiniertheit/Indeterminiertheit der beteiligten Nominalphrase bis zur Perfektivität/Imperfektivität des Verbs (ζ. B. WEXLER 1976, DENISON 1957). Neuere Arbeiten dazu sind LEINONEN 1982, LARSSON 1983 und KORCHMÁROS 1983. Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem CHESTERMAN 1991, der das Artikelsystem des Englischen mit den hier angesprochenen Regularitäten im Finnischen verglichen hat. Auch im Rahmen der formalen Linguistik ist man gegenwärtig den funktionalen Affinitäten von Aspekt und Artikel auf der Spur. Von NEF 1989 wurden interessante Vorschläge gemacht, in welcher Weise eine unifizierende Beschreibung beider Kategorien durchzufuhren wäre. Die Wahrnehmung des gemeinsamen funktionalen Nenners beider Kategorien wird dabei von einem präzisen Instrumentarium, wie es von der Mereologie bereitgestellt wird, gefördert und zum Teil erst möglich gemacht. Innerhalb der formal orientierten Linguistik selbst werden gegenwärtig parallel und unabhängig voneinander - vergleichbare Ansätze zur Unifizierung von Artikel und Aspekt vorgelegt. Eine der wichtigsten Arbeiten dazu stellt VERKUYL 1993 dar. VERKUYL rezipiert die Arbeiten von NEF nicht, was auf die

ursprünglich unterschiedlichen Ausgangspunkte und Zielsetzungen der beiden Arbeiten zurückzufuhren sein dürfte. Umso bemerkenswerter ist auf den ersten Blick die Konvergenz ihrer Ergebnisse. VERKUYL ist seit über 20 Jahren vor allem am Nachweis seiner These der 'Kompositionalität' von Aspekt gelegen, eine These, die der eingangs vorgestellten Idee der Erzeugung einer Kategorie durch die Kombinatorik zweier 'fremder' Kategorien sehr nahe kommt. NEF dagegen ist primär an der unifizierenden Beschreibung von Kategorien interessiert. Wenn ihre Ergebnisse so stark konvergieren, dann deshalb, weil sie zum Teil den gleichen Ausschnitt der zu beschreibenden sprachlichen Realität - in diesem Fall die Kategorie des Aspekts - zu erklären versuchen. Die Realität selbst setzt der Vielfalt der möglichen sinnvollen Theorien Grenzen. Alle Theorien haben in den Worten von PEIRCE - mit 'Widerständen' zu rechnen, die vom Gegenstand selbst ausgehen. Jede Theorie, die nicht bloß originell sein will, sondern den Anspruch hat, sich der sprachlichen Realität annähern zu wollen, wird diese Widerstände, die in Form von Daten auftreten, emstnehmen. Es ist also nicht weiter erstaunlich, daß die Ergebnisse verschiedener Disziplinen, die den gleichen Gegenstandsbereich untersuchen, konvergieren, ohne daß ein Rezeptionszusammenhang vorliegt. Was sich gegenwärtig mit zunehmender Deutlichkeit abzeichnet, ist die wachsende Einsicht in die Vergleichbarkeit der funktionalen Leistungsfähigkeit von Artikel und Aspekt. Viele der Hinweise auf die Verwandtschaft der beiden

Der Zusammenbruch des Aspektsystems und seine Folgen

23

Kategorien finden sich heute noch verstreut, was zu einer Unterschätzung der Bedeutung bereits erhobener Datenbefiinde und damit verbundener Ergebnisse gefuhrt hat. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es unter anderem, einen Rezeptionszusammenhang zwischen stark verstreuten, aber eben auch stark konvergierenden Ergebnissen zur Affinität von Artikel (nominaler Determiniertheit/ Indeterminiertheit) und Aspekt (verbaler Determiniertheit/Indeterminiertheit) herzustellen. Es wird sich zeigen, daß das Problem der Artikelentstehung im Deutschen, das über 100 Jahre als unlösbar schien, so schwierig nicht zu lösen ist. Wir haben nur ein Mosaik an fertigen Teilergebnissen zusammenzusetzen. Auf diese Weise zeichnet sich ein erstes Bild ab, das durch zusätzliche empirische Untersuchungen an Schärfe gewinnen wird. Die hier vorgelegte Hypothese des Zusammenhangs von Aspektschwund und Artikelentstehung in den germanischen Sprachen lenkt die Aufmerksamkeit gezielt auf die Datenbereiche, in denen das funktionale Äquivalent des Artikels in Form von nicht beachteten, verborgenen grammatischen Mustern bereitliegen könnte. Dabei wird jedoch noch keine Aussage über die spezifische Beschaffenheit der zu suchenden Muster gemacht. Die ersten Lokalisierungsversuche der Muster enthalten noch keine Hinweise auf die tatsächliche Realisierung von Definitheit und Indefinitheit im Germanischen. Es wäre daher wenig sinnvoll, mit einem Vorurteil an die Daten herangehen zu wollen, etwa in Form der Erwartung, es ließe sich das 'finnische Modell' oder das 'russische Modell' entdecken. Ein Blick auf die erste Formulierung der Hypothese eines Zusammenhangs von Aspektschwund und Artikelentstehung im Deutschen soll zeigen, daß ein Vergleich mit den Nichtartikelsprachen nur als Gedankenanstoß intendiert war. D. Das 'finnische' oder das 'russische Modell'? Die These, daß sich die Entstehung zunächst des bestimmten und dann des unbestimmten Artikels im Deutschen als die Folge des Zusammenbruchs eines einstigen Aspektsystems im Germanischen betrachten ließe, wurde zum ersten Mal 1 9 8 7 geäußert (LEISS 1 9 8 7 / 1 9 9 1 ) . Vordergründig ging es dabei um die Erklärung des Schwunds des verbalen Genitive im Deutschen. Im Zentrum stand die Überlegung, daß der verbale Genitiv an einem komplexen Prozeß der Kodierung der Opposition von Definitheit und Indefinitheit beteiligt war. Bei der Umstrukturierung dieses Kodierungsprozesses wurde der Genitiv in einem spezifischen Stadium dieses Prozesses 'seiner Funktionen enthoben' und zunehmend zurückgedrängt. Die zentralen Argumentationsschritte lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

24

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder' einer Kategorie

1. Im Germanischen (Gotischen) war ein Aspektsystem vorhanden. 2. Auch die Alternierung zwischen Genitiv- und Akkusativobjekt bei ein und demselben Verb ist in den historischen Grammatiken des Deutschen ausfuhrlich dokumentiert. 3. Es gibt Hinweise darauf, daß diese Alternierung der beiden Kasus vor allem bei Verben perfektiven Aspekts (und nach Auflösung des Aspektsystems bei Verben terminativer Aktionsart) vorhanden war. Dafür spricht: a) daß bei den in den historischen Grammatiken aufgeführten Vorkommen von Genitivobjekten in der Mehrzahl präfigierte, d. h. ursprünglich in der Regel perfektive Verben an der Konstruktion beteiligt sind; b) daß die Mehrzahl der 40 Verben, die noch heute mit dem Genitiv konstruiert werden, präfigierte Verben sind (vgl. KOLVENBACH 1973). Beim Ersetzen des Genitivs durch einen anderen Kasus fällt mehrfach das Präfix weg: Sie gedachten seiner./Sie dachten an ihn. 4. Die Wahrnehmung der Parallelen zwischen dem artikellosen Russischen und den artikelarmen Vorstufen des Deutschen im formalen Bereich legt folgende These in bezug auf den funktionalen Bereich nahe: Solange das Aspektsystem im Germanischen intakt war, war es möglich, die Opposition von Determiniertheit vs. Indeterminiertheit über die Kombination von Verbalaspekt und Genitiv- bzw. Akkusativobjekt zu kodieren. Es ist wichtig zu beachten, daß die Daten aus dem Russischen oder aus einer anderen 'Nichtartikelsprache' die Wahrnehmung von spezifischen, noch unentdeckten grammatischen Mustern lediglich zu sensibilisieren vermögen; sie können jedoch auf keinen Fall den Blick auf die konkreten Daten ersetzen. Der Hinweis auf die anderen, wenn auch vergleichbaren Regularitäten in den ostseefinnischen Sprachen (LEISS 1987/1991: 1409, Anm. 3), sollte von Anfang an auf die Vielfalt der möglichen Muster aufmerksam machen. Welche grammatischen Muster im Germanischen tatsächlich realisiert waren, muß an den Texten, die uns zugänglich sind, überprüft werden. Es läßt sich nicht voraussagen, ob wir das 'russische Modell', das 'finnische Modell' oder eine völlig andere Kombinatorik zur Kodierung von Determiniertheit/Indeterminiertheit entdecken werden. Apriorische Vorentscheidungen für ein spezifisches

Das Fundament der Grammatik

25

Modell sind zu vermeiden, da sie weder der Vielfalt der verschiedenen Sprachstadien noch der Vielzahl der germanischen Sprachen gerecht werden können." Man sollte sich zunächst mit der ersten, noch unvertrauten, aber vielversprechenden Einsicht, die sich aus der Konfrontation mit den Regelsystemen von Sprachen ohne Artikel gewinnen läßt, zufriedengeben. Danach können Aspekt und Kasus 'Artikelaufgaben' übernehmen. Offensichtlich sind Artikel und Aspekt in funktionaler Hinsicht nahe Verwandte, die gleichwohl in entfernten Paradigmen angesiedelt sind. Das Interesse an den detaillierten Mustern ist einer umfassenderen Fragestellung untergeordnet. Im Zentrum steht die Untersuchung des Wandels und der Ablösung von grammatischen Parametersetzungen. Es gibt offensichtlich Sprachwandelprozesse, die von einer solchen Reichweite sind, daß man versucht ist, von 'grammatischen Erdbeben' oder 'grammatischen Revolutionen' zu sprechen. Andere Sprachwandelprozesse dagegen, wie ζ. B. der angesprochene Verlust des Objektgenitivs, hinterlassen den Eindruck von Aufräumarbeiten in einem System, das bereits schwere Erschütterungen durchgemacht hat und nun neu aufgebaut werden muß. Der Verlust des Aspektsystems und die Entstehung des Artikelsystems stellt, so die Arbeitshypothese, einen solchen grammatischen Parameterwechsel dar.

1.4 Das Fundament der Grammatik Die Kategorie des Aspekts scheint so grundlegend zu sein, daß nach ihrem Verlust 'nichts mehr so ist, wie es einmal war'. Es ist, als wären die Stützmauern eines Gebäudes eingebrochen, die in der Folge ursprünglich unbeschädigte Gebäudeteile mit sich reißen und somit einen völligen Neuaufbau des Ganzen erzwingen. Dasselbe scheint fur den Artikel zu gelten. Daß die Anwesenheit bzw. Abwesenheit des Artikels in einer Sprache Parameterqualität haben könnte, was die Organisation des grammatischen Systems betrifft, hat MAUREL 1986 am Beispiel des Lateinischen plausibel zu machen versucht. MAUREL macht sich noch keine Gedanken darüber, welcher Parameter in sprachtypologischer Hinsicht mit dem des Artikels konkurrieren könnte. Er setzt lediglich die Anoder Abwesenheit des Artikels als die beiden möglichen Parametersetzungen an. Eine der Konsequenzen von Artikellosigkeit ist nach MAUREL, daß die Unter-

"

DONHAUSER 1990 hat sich bei der Beschreibung des Objektsgenitivs im Althochdeutschen an diesen ersten Anregungen orientiert; bei ihren Modifikationsvorschlägen orientiert sie sich dabei vor allem am Finnischen.

26

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder1 einer Kategorie

Scheidung von Substantiv vs. Adjektiv weniger ausgeprägt oder sogar völlig aufgehoben ist. Wichtig ist in unserem Zusammenhang vorerst nicht die Überprüfung solcher Korrelationen; festgehalten werden soll zunächst nur die allgemeinere Überlegung, daß mit der Setzung bzw. Nichtsetzung des Artikels elementare Weichenstellungen in bezug auf die gesamte Kodierung des sprachlichen Systems vorgegeben werden könnten. Damit ist auch das zentrale Erkenntnisinteresse dieser Arbeit angesprochen. Es geht um die Untersuchung des Fundaments von Grammatik in den verschiedenen Einzelsprachen. Es geht dabei auch um die Untersuchung der Variationsmöglichkeiten bei der Ausführung dieses Fundaments. Einen elementaren Stellenwert hat dabei der Gedanke, daß es sich bei den einzelsprachlich auftretenden Kategorien wie Artikel und Aspekt um fundamentbildende Bauteile handelt. Erst wenn die Funktion, die sie repräsentieren, realisiert ist, können andere, ebenfalls tragende Teile des Grammatikgebäudes darauf errichtet werden. Der Gedanke, daß spezifische Kategorien andere Kategorien voraussetzen und daß die vorausgesetzten bzw. implizierten Kategorien die notwendigen Bauelemente fur weitere und komplexere Kategorien darstellen, ist nicht neu. Er wurde zum ersten Mal von VON DER GABELENTZ geäußert, wie PLANK 1991 gezeigt hat. Seit JAKOBSONS Arbeiten schließlich sind die kategorialen Implikationsbeziehungen einem großen Kreis von Linguisten vertraut. GREENBERG beispielsweise hat diesen Ansatz von JAKOBSON übernommen und geradezu popularisiert. Die moderne Sprachtypologie wurde dadurch entscheidend geprägt. Gegenwärtig geht man gerade von sprachtypologischer Seite davon aus, daß die Kategorie des Aspekts universell ist, d. h. daß sie in allen Sprachen auf die eine oder andere Weise realisiert ist (vgl. BYBEE 1985). Untersucht man jedoch die etwas komplizierteren Muster der Realisierung von Aspekt, wie das beispielsweise auch VERKUYL 1993 versucht, so sieht man bald, daß die Kategorien des Artikels und des Aspekts in funktionaler Hinsicht so ineinandergreifen und miteinander verschwimmen können, was ihre Wirkung auf die syntaktische Umgebung betrifft, daß eine saubere funktionale Trennung als unmöglich erscheint. Eine solche funktionale Trennung ist jedoch nicht nötig, weil es sich nur um jeweils verschiedene Erscheinungsformen ein und derselben Funktion handelt. Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, die beiden grundlegenden Möglichkeiten

Das Fundament der Grammatik

27

der phänotypischen Realisierungen dieser genotypischen Funktion darzustellen12. In nominaler Umgebung erscheint diese Funktion als Artikel, in verbaler Umgebung als Aspekt. Somit lassen sich weder Artikel noch Aspekt für sich alleine genommen als universale grammatische Kategorien ansetzen. Erst die Kombinatorik von beiden nähert sich einer universalen grammatischen Funktion an. Artikel und Aspekt sind demnach der morphologische Ausdruck der Anpassung einer universalen Kategorie an die jeweils vorliegende sprachtypologische Umgebung. Ein zentrales Ziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, daß die jeweilige grammatische Grundkonstellation dramatische Konsequenzen fur den gesamten Aufbau des Systems einer Sprache hat. Das Vorhandensein des Artikels oder des Aspekts schränkt nämlich die Möglichkeiten des weiteren kategorialen Aufbaus auf jeweils spezifische Art und Weise ein. Wenn es stimmt, daß es sich bei der Setzung des Artikels oder des Aspekts um die Realisierung eines grundlegenden Parameters handelt, dann müßten sich Artikel und Aspekt gegen Sprachwandel als besonders resistent erweisen. Denn der Umbau dieser fundamentalen Kategorien würde ja die Reorganisation der gesamten kategorialen Architektonik erfordern. Die Untersuchung des Wandels einer Aspektsprache zu einer Artikelsprache müßte daher besonders aufschlußreich sein. Sollte es sich bei diesem grammatischen Sprachwandel um 'großen Sprachwandel' handeln, d. h. um die Reorganisation des gesamten grammatischen Fundaments, dann müßten sich jeweils spezifische grammatische Konsequenzen in Form von spezifischen Mustern aufdecken lassen. Solche Muster grammatischer Architektonik treten erst dann deutlich hervor, wenn wir unsere metasprachlichen Wahrnehmungsgewohnheiten, die wir bei der Betrachtung von spezifischen Einzelsprachen angenommen haben, so weit wie möglich in Frage stellen. Die Verbesserung der Wahrnehmung grammatischer Daten soll in dieser Arbeit durch die Kombination von zwei sehr unterschiedlichen Perspektiven erreicht werden: Die intensive Betrachtung von sprachlichen 'Rohdaten' soll durch die sprachtypologische Weitwinkelperspektive ergänzt werden. Was zunächst wie ein immenser Arbeitsaufwand aussieht, der sich im Rahmen einer einzelnen Arbeit nicht leisten läßt, erweist sich bald als ein Synergie-Effekt. Allein die gründliche empirische Untersuchung der Entstehung des Artikels im Germanischen würde nach erster Einschätzung etwa 20 bis 30 Arbeiten des

l!

Die Unterscheidung von Genotyp vs. Phänotyp wurde von SAUMJAN 1973 von der Biologie auf den Bereich der Linguistik übertragen. Sie erscheinen mir als geeigneter als die Termini der Tiefen- und Oberflächenstruktur, die zurecht zunehmend aufgegeben werden.

28

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder1 einer Kategorie

Umfangs des vorliegenden Buchs erfordern. Zu bearbeiten wären das Altisländische, Gotische, Althochdeutsche, Mittelhochdeutsche, Frühneuhochdeutsche, das Dänische in all seinen überlieferten Sprachstufen, etc. - die Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen. Eine ebenso gründliche sprachtypologische Arbeit, welche die Arbeit von KRÁMSKY 1972 ersetzen oder auf den neuesten Stand bringen wollte, würde heute ebenfalls einen immensen Aufwand erfordern. Andererseits sind gerade sprachtypologische Kenntnisse bei empirischen Nahaufnahmen unverzichtbar. Würde man bei der empirischen Untersuchung der germanischen Sprachen auch nur einen relevanten Einzelaspekt vernachlässigen, müßte der gesamte Arbeitsaufwand - nämlich der kontrollierte Blick auf die Daten - nochmals erbracht werden. Wir laufen ständig Gefahr, wesentliche Fragestellungen nicht zu erkennen. Wir riskieren vor allem, spezifische Entstehungsformen des Artikels im Germanischen für allgemeingültig zu halten, während wir gleichzeitig wesentliche, d. h. universale Charakteristika übersehen können. Das sei an einem einfachen Beispiel verdeutlicht: Wer das Passiv nur in einer oder in wenigen Einzelsprachen untersucht, übersieht in der Regel, daß es eine charakteristische Eigenschaft des Passivs ist, einen Intransitivierungsprozeß einzuleiten. Daß Intransitivierung vorliegt, wurde beispielsweise fur das Passiv im Deutschen lange Zeit entweder bloß nebenbei erwähnt und damit als unwesentliche Eigenschaft eingeordnet, oder es wurde behauptet, es liege im Grunde keine Intransitivierung vor. Erst die sprachtypologische Perspektive hat gezeigt, daß sich der Befund der Intransitivierung weder bagatellisieren noch weginterpretieren läßt. Da dieses Merkmal jeden Passivierungsprozeß begleitet, muß man ihm den Status eines dominanten und damit wesentlichen Merkmals zuweisen. Solche auf der Basis von Sprachvergleich gewonnenen Einsichten verbessern unsere Wahrnehmung der Daten. Die vielen quantitativen Arbeiten zur Entstehung des Artikels haben unsere drängendsten Fragen bis jetzt nicht beantworten können. Komplementär zu diesem Vorgehen wird hier eine qualitative stichprobenartige Datenauswertung versucht. Das Ideal wäre natürlich die intensive Betrachtung eines Maximums an Daten. Hierbei kann es sich nur um ein Fernziel handeln, das eine einzelne Untersuchung nicht erreichen kann. Doch schon jetzt steht eine Reihe von neuen Fragestellungen zur Beantwortung an: • Sind die einzelsprachlichen Kategorien des Aspekts und des Artikels Ausdruck einer einzigen grundlegenden grammatischen Funktion? • Welche Konsequenzen hat die Wahl eines grammatischen Parameters fur den Aufbau von Grammatik?

Aufbau und Ziel der Arbeit

29

• Wenn aus Aspektsprachen Artikelsprachen werden, können dann aus Artikelsprachen auch Aspektsprachen werden? • Warum ist der Artikel meist eine so 'junge' Erscheinung in den Sprachen, die wir betrachten? • Entsteht immer der bestimmte Artikel zuerst, und dann der unbestimmte? • Warum ist im Germanischen das Aspektsystem zusammengebrochen? • Warum bilden gerade Artikel und Aspekt das Fundament der Grammatik? • Eignen sich auch andere kategoriale Inhalte zur Fundamentbildung? Die vorliegende Arbeit ist Ausdruck der Ungeduld angesichts dieser Fragen. Sie versteht sich als Diagramm, das nur eine Übersicht geben kann über eine Realität, die wir in ihrer Komplexität ohnehin immer nur unterschätzen können.

1.5 Aufbau und Ziel der Arbeit Das zweite Kapitel beginnt mit der 'Suche nach den verlorenen Daten'. Der bislang nicht beachtete Datenbereich bei Arbeiten zur Entstehung des Artikels ist der Bereich der Verbalkategorien bzw. der verbalen Determination. Die Suche beginnt beim Altisländischen bzw. dem Altnordischen. Hier gingen sehr früh die aspektuellen Verbalpräfixe verloren und hier entsteht sehr früh der bestimmte Artikel. Das zweite, wie auch jedes weitere Kapitel wird durch einen Forschungsüberblick eingeleitet. Anschließend werden die Hypothesen und Fragestellungen formuliert, die im Mittelpunkt des Kapitels stehen. Überprüft wird vor allem HEUSLERS These, wonach der Artikel im Altisländischen völlig willkürlich und sporadisch in den Texten verteilt sei. Stattdessen lassen sich auf der Basis der im Eingangskapitel vorgestellten neuen Perspektive klare und eindeutige Regeln des Auftretens des Artikels formulieren. Im Mittelpunkt steht auch die Frage: 'Ab wann ist ein Artikel ein Artikel?' Oder genauer: Wieviele Artikelvorkommen muß eine Sprache aufweisen, um als eine Artikelsprache gelten zu können? Im Anschluß an die kommentierte Transkription einer altisländischen Textsequenz und der dabei ermittelten Artikeldistribution wird der Begriff der Hypodetermination in Opposition zu dem der Hyperdetermination eingeführt. Diese Differenzierung wird in den späteren Kapiteln immer wieder aufgenommen und weiter präzisiert werden. Im dritten Kapitel steht die Suche nach aspektuellen Phänomenen im Altisländischen im Mittelpunkt. Die Distribution des definiten Artikels läßt vermuten, daß von den präfixlosen Verben des Altisländischen immer noch aspektuelle Wirkungen ausgehen können. Primär geht es um die Erklärung einer

30

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder' einer Kategorie

unerwarteten Korrelation, welche in der Literatur zum Altisländischen gelegentlich Erwähnung findet und die durch die Transkription von Sätzen im zweiten Kapitel bestätigt wird: Textpassagen, in denen definite Artikel verwendet werden, weisen gehäufte Vorkommen an "historischem Präsens" auf. Da nominale Definitheit in der Ausgangsthese der Arbeit in einen engen Zusammenhang mit dem verbalen Aspekt gebracht wird, liegt es nahe zu überprüfen, ob die gehäuften Präsensvorkommen tatsächlich als temporale Phänomene oder nicht vielmehr als Realisierungen der Kategorie des Aspekts einzuordnen sind. Zusätzlich zum "historischen Präsens" wird das für das Altisländische charakteristische Phänomen der Verberststellung untersucht, das ebenfalls aspektuelle Effekte aufweist. Vor allem soll geklärt werden, inwieweit "historisches Präsens" und Verbspitzenstellung Einfluß auf die Artikeldistribution in altisländischen Texten nehmen können. Die Suche nach Relikten und Neuanfängen von Aspekt im Altisländischen wird dabei in einen engen Zusammenhang mit der Frage gebracht, warum es im Altisländischen zeitgleich 'artikelarme' und 'artikelreiche' Texte gibt. Das vierte Kapitel wendet sich dem Gotischen zu. Da die Entstehung des Artikels im Altisländischen in einen engen Zusammenhang mit der Auflösung eines ursprünglich vorhandenen und intakten Aspektsystems im Germanischen gebracht wurde, liegt es nahe, sich dieses Aspektsystem genauer anzusehen. Die einzige zur Verfügung stehende Quelle stellt das Gotische dar, die älteste germanische Sprache, die in einem zusammenhängenden Text überliefert ist. Das Gotische weist ein relativ intaktes Aspektsystem auf. Im Vordergrund steht daher die Frage, warum im Gotischen neben dem System des verbalen Aspekts zeitgleich ein nominales Artikelsystem entsteht. Bei einem intakten Aspektsystem dürfte, falls die Ausgangsthese stimmt, daß Artikel und Aspekt funktional äquivalent sind und unterschiedliche Parametersetzungen darstellen, der Artikel erst gar nicht in Erscheinung treten oder nur eine marginale Rolle spielen. Es geht also primär um die Beantwortung der Frage, ob sich im Gotischen bereits Auflösungserscheinungen des Aspektsystems und in der Folge Ansätze zur Grammatikalisierung des Artikels zeigen. Im Mittelpunkt der exemplarischen Textanalyse steht die Ermittlung der Regeln des Zusammenspiels von Artikel und Aspekt. Es geht auch darum, die Parallelen und die Unterschiede zum Altisländischen aufzudecken. In den bisherigen Untersuchungen zur Entstehung des Artikels in den germanischen Sprachen war man immer davon ausgegangen, daß der definite Artikel in allen germanischen Sprachen auf homogene Art und Weise entstanden sein müsse. Diese Homogenitätsthese wird einer kritischen Prüfung unterzogen. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem altisländischen und gotischen Artikelsystem werden heraus-

Aufbau und Ziel der Arbeit

31

gearbeitet, um über eine brauchbare Vergleichsgrundlage für die anschließende Betrachtung des Artikelsystems des Althochdeutschen zu verfügen. Das fünfte Kapitel wendet sich mit der Untersuchung des Althochdeutschen einer Sprache zu, die eine große Herausforderung fur die Aspektthese darstellt. Diese prognostiziert nämlich die Entstehung des Artikels in indefiniter syntaktischer Umgebung und damit in Thematischer Position. Das Altisländische und Gotische weisen eine Artikeldistribution auf, die in Übereinstimmung mit der Aspektthese steht. Doch schon ein kurzer Blick auf einen althochdeutschen Text zeigt, daß der definite Artikel weit häufiger in thematischer als in Thematischer Position erscheint. Besonders ausgeprägt ist die anaphorische Verwendung des Artikels, die im Altisländischen von einem eigenen Pronomen übernommen wird und im Gotischen beim Quellpronomen des definiten Artikels nur einen marginalen Stellenwert aufweist. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage, ob die anaphorische Artikelverwendung Ausdruck einer völlig anderen Qualität von Artikelsprache darstellt. Außerdem werden die Ausnahmen und Irregularitäten der althochdeutschen Artikelverwendung, wie sie in der Literatur dokumentiert sind, auf der Basis der Aspektthese nochmals überprüft. Ziel ist die Umwandlung dieser Irregularitäten in reguläre Muster. Die Entdeckung regulärer grammatischer Muster gerade bei den bekannten Ausnahmen von der anaphorischen Artikelverwendung fuhrt schließlich zur Ermittlung eines relikthaft noch vorhandenen älteren Definitheitssystems. Kommentierte Textbeispiele illustrieren die Aspektualitäts- und Definitheitseffekte des älteren Systems im Zusammenspiel mit dem rezenteren anaphorischen Artikelsystem. Am Schluß wird das Althochdeutsche in Abgrenzung zum Altisländischen und Gotischen einem anderen Typ von Artikelsprache zugewiesen. Das nächste Kapitel wendet sich daher konsequenterweise sprachtypologischen Fragestellungen zu. Das sechste Kapitel geht dabei zunächst der Frage nach, inwieweit der Zusammenhang zwischen nominaler und verbaler Realisierung von Definitheit aus sprachtypologischer Perspektive bereits beschrieben wurde. Dabei werden die Faktoren Wortstellung, Artikel, Aspekt und Kasus besonders berücksichtigt. Neben den übereinzelsprachlichen Bedingungen für das Entstehen des Artikels werden die Faktoren für seinen Verlust herausgearbeitet. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Funktionsverbgefüge mit ihren Artikelerosionen und dem parallel erfolgenden Aspektaufbau von Interesse. Da in nur einem Kapitel keine Sprachtypologie des Artikels entwickelt werden kann, werden vor allem die gut untersuchten germanischen, romanischen und slavischen Sprachen auf mögliche Parallelen in der Herausbildung des Artikels hin miteinander verglichen. Es wird überprüft, inwieweit sich die Differenzierung zwischen hypound hyperdeterminierenden Artikelsprachen als Ausgangspunkt für eine

32

Einleitung: Die verschiedenen 'Gewänder' einer Kategorie

Sprachtypologie von Definitheitssystemen eignen könnte. Auch die Genese des Artikels im Kindspracherwerb und in den Kreolsprachen wird kurz angesprochen. Im Zusammenhang mit dem Kindspracherwerb wird auf die Besonderheit hingewiesen, daß zuerst der unbestimmte und erst dann der bestimmte Artikel erworben wird, was einen auffälligen Kontrast zur Artikelgenese in den hier erwähnten Sprachen darstellt. Die Kreolsprachen sind deshalb besonders interessant, weil sie parallel sowohl ein Artikel- als auch ein Aspektsystem aufbauen. Im siebten Kapitel wird abschließend eine unifizierende Beschreibung von Artikel und Aspekt versucht. Es versteht sich als Beitrag zu einer erst noch zu entwickelnden Definitheitstheorie, die systematisch Aspekt und damit verbale Definitheitsphänomene zu berücksichtigen versucht. Großer Wert wird dabei der Arbeit mit Merkmalen, die sich sowohl für die Beschreibung von Nominal- als auch Verbalkategorien eignen, beigemessen. Im Mittelpunkt stehen daher die Merkmale der Additivität/Nonadditivität und Teilbarkeit/Nichtteilbarkeit, die in der Mereologie zur Beschreibung sowohl von Nominal- als auch Verbalkategorien Verwendung finden. Anschließend rückt die Ermittlung der gemeinsamen Funktion von Artikel und Aspekt in den Vordergrund. Die vorgeschlagene Definition strebt eine saubere Trennung der Definitheitseffekte von Artikel/Aspekt von denen der anderen grammatischen Kategorien an. Dadurch kommt eine Minimaidefinition von Definitheit zustande, die sich erheblich von den gegenwärtig favorisierten Definitionen unterscheidet. Zusätzlich wird streng zwischen den primären (infiniten) und den sekundären (finiten) Funktionen von Artikel und Aspekt unterschieden. Am Schluß werden die gewonnenen Ergebnisse mit den Tendenzen der gegenwärtigen Definitheitsforschung konfrontiert. Die Suche nach Übereinstimmungen und möglichen Konvergenzen, trotz der vorgenommenen Ausweitung des Untersuchungsradius auf den verbalen Bereich, hat dabei erste Priorität. Im zusammenfassenden achten Kapitel wird als Hauptergebnis der Arbeit die grammatische Synonymie von Artikel und Aspekt hervorgehoben. Zurückgewiesen wird die Parameterthese. Um dieses Ergebnis zu erreichen und abzusichern, waren mehrere Teiletappen erforderlich. Eine Rückschau auf die dort erreichten Zwischenergebnisse soll die Wege und Umwege, die zur Erreichung des Ziels eingeschlagen wurden, nochmals in Erinnerung rufen. Mit Hinweisen auf noch verbleibende Erkenntnisziele und neu entstandene Probleme endet die Suche nach den grammatischen Mustern von Definitheit.

2. Die Entstehung des bestimmten Artikels im Altisländischen 2.1 Die Forschungssituation Das Altnordische bzw. das Altisländische ist aus einem Grund als Ausgangspunkt besonders geeignet: das Altnordische ist die germanische Sprache, in der Verbalpräfixe zuerst verloren gehen (vgl. BRINTON 1985); es ist gleichzeitig die Sprache, die sehr früh den bestimmten Artikel systematisch herausbildet. Geht man davon aus, daß die altnordischen Verbalpräfixe wie im Gotischen ursprünglich primär aspektuelle Differenzierungen zum Ausdruck brachten, drängt sich nach den Vorüberlegungen im ersten Kapitel der Verdacht auf, daß der Verlust der Verbalpräfixe und die Entstehung des bestimmten Artikels in einem nichtzufälligen Zusammenhang stehen könnten. Dieser Zusammenhang wurde bislang in keiner der Publikationen zur Entstehung des Artikels im Altnordischen beachtet. Aufgrund der häufig detailgenau dokumentierten Beobachtungen lassen sich der Literatur jedoch aufschlußreiche Hinweise entnehmen. Die wichtigste und ergiebigste Arbeit zur Entstehung des Artikels im Altnordischen hat JOHNSEN 1976 vorgelegt. Die ein Jahr später erschienene, von SPRENGER vorgelegte Monographie zur Verwendung des prä- und postponierten Artikels im Altisländischen berücksichtigt diese Arbeit noch nicht. SPRENGERS Arbeit basiert wie JOHNSENS Untersuchung auf der empirischen Auswertung von Texten. Dennoch könnten zwei Untersuchungen unterschiedlicher nicht sein. SPRENGERS Ergebnisse sind aus sprachwissenschaftlicher Sicht größtenteils nicht verwertbar. Die Terminologie bleibt überaus vage; da ist zu lesen, dem Isländer fehle ein "Artikelgefiihl im Sinne der Logik und Grammatik" (SPRENGER 1977: 248). Die Funktion des postponierten Artikels wird mit "Emphase" wiedergegeben, wobei sie diesen Terminus ganz bewußt nicht als definierten sprachwissenschaftlichen Terminus verwendet. Der Begriff der Emphase sei vielmehr "in einem sehr umfassenden Sinn zu verstehen, nämlich als auf den ganzen Gefühlsbereich bezogen, dessen Äußerungen sehr verschieden sein können, sei es als Nachdruck im Sinne eines Hinweises, sei es als Ausdruck der inneren Beteiligung an einem Geschehen oder einer Sache oder sei es gar als Ausdruck der Leidenschaft" (SPRENGER 1977: 243, Anm. 8).

34

Die Entstehung des bestimmten Artikels im Altisländischen

SPRENGER kann mit ihren umgangssprachlichen Formulierungen subjektiv zutreffende Beobachtungen wiedergegeben haben; ob sie damit die Kernfunktion des altnordischen Artikels erfaßt hat, bleibt mehr als fraglich. Dies umso mehr, als sie bereits zu Beginn ihrer Arbeit eine allgemeine Definition des bestimmten Artikels zugrundelegt, die an dessen Kernfunktion vorbeigeht. SPRENGER reduziert den bestimmten Artikel auf dessen anaphorische Funktion! Da im Altnordischen der postponierte Artikel -inri keine anaphorische Funktion hat fur diese 'Nebenfunktion' des Artikels gibt es im Altnordischen nämlich ein eigenes Pronomen -, muß SPRENGER zwangsläufig zu dem Schluß kommen, -inn sei kein Artikel. Zu diesem Ergebnis kommt auch JOHNSEN. Da in den Sagas der Artikel nicht 'automatisch', d. h. nicht obligatorisch gesetzt wird, so wie in den vertrauten modernen Artikelsprachen, meint sie, dem Altnordischen den bestimmten Artikel absprechen zu müssen. Hier ist eine Frage angesprochen, die bei der Literatur zur Entstehung des Artikels regelmäßig im Vordergrund steht: Wieviel an Artikelvorkommen muß eine Sprache aufweisen, daß ihr das Vorhandensein des Artikels zugesprochen werden kann? Wer die Obligatorik des Artikels fordert, präzisiert in der Regel nicht, welche Art der Obligatorik damit gemeint ist. Das ist jedoch notwendig, denn in allen Artikelsprachen, in denen der Artikel obligatorisch gesetzt wird, wird er auf jeweils unterschiedliche Art und Weise obligatorisch verwendet. Die einzelsprachspezifischen Distributionen des Artikels weisen eine erhebliche Variationsbreite auf. Wer also fordert, der Artikel müsse obligatorisch gesetzt werden, um als solcher zu gelten, müßte auch angeben können, welche Positionen im Altnordischen nicht mit dem Artikel besetzt sind. An welcher Artikelsprache wollte man sich aber bei der Stellung solcher Maximalforderungen orientieren? Es wird deutlich, daß die Fragestellung, ob in einer Sprache genügend Artikelvorkommen vorhanden sind, in dieser Form falsch oder zumindest ungeschickt gestellt ist. Will man sich nicht auf den schwer faßbaren Begriff der Obligatorik verlassen, muß man die Frage vorsichtiger formulieren: Wird der Artikel im Altnordischen regelhaft oder wird er willkürlich verwendet? JOHNSEN ermittelt bei der empirischen Bestandsaufnahme der Artikelvorkommen auffallende Tendenzen der Artikeldistribution, die zwar bisherigen Annahmen widersprechen, die jedoch gleichzeitig die hier geäußerte These vom Zusammenhang der Entstehung des Artikels und dem Verlust des Aspektsystems stark untermauern. Man hatte zuvor postuliert, daß der bestimmte Artikel zuerst primär in Subjektsposition auftritt, also in Definitheitsumgebungen. Nach unserer These einer 'Artikel-Aspekt-Verwandtschaft' müßte der bestimmte Artikel in genau den entgegengesetzten syntaktischen Positionen, d. h. primär in prädikativer oder in Thematischer Position auftauchen, also in 'Indefinitheits-

Die Forschungssituation

35

Umgebungen1. Zu eben diesem Ergebnis kommt JOHNSEN, ohne den hier untersuchten thematischen Zusammenhang von Artikel und Aspekt überhaupt in Erwägung zu ziehen. Ihre Ergebnisse dürften daher auch Skeptikern unverdächtig sein. Neben JOHNSEN kommt auch KOSSUTH 1981 zu dem Ergebnis, daß der Artikel im Altnordischen Definitheit dort realisiert, wo sie nicht durch die syntaktische Umgebung oder morphologische Merkmale (wie ζ. B. Belebtheit) präsupponierbar ist: der bestimmte Artikel erscheint in 'Indefinitheitsumgebungen'. KOSSUTH 1981 hat die Arbeit von JOHNSEN nicht rezipiert. Die konvergierenden Resultate beider Arbeiten überzeugen daher umso mehr. JOHNSENS und KOSSUTHS Arbeiten enthalten indirekte, nichtintendierte Hinweise auf den Zusammenhang von Artikel und Aspekt, die noch näher ausgeführt werden sollen. Anders verhält es sich mit der weiteren Literatur zur Artikelentstehung im Altnordischen, in der die thematischen Schwerpunkte anders gesetzt wurden. Die bevorzugten Fragestellungen waren bislang:

• Wie alt ist der postponierte Artikel und auf welche Weise ist er entstanden (DELBRÜCK 1910 und 1919; NECKEL 1924)? Welche Entwicklungstendenzen lassen sich feststellen? Dabei ist der Vergleich synchroner Schnitte zu verschiedenen Entwicklungsstufen so wenig ergiebig, daß er in der Regel erst gar nicht durchgeführt wird (vgl. SPRENGER 1977, die synchrone Schnitte bei Texten unterschiedlichen Alters anlegt, ohne diese in bezug auf Entwicklungstendenzen vergleichen zu wollen). Der Grund dürfte darin liegen, daß das altisländische Artikelsystem selbst im Vergleich mit dem Neuisländischen ausgeprägte Stabilität aufweist. Größere Variabilität läßt sich vielmehr in bezug auf die Textsorten feststellen, weshalb folgende Frage häufig gestellt wurde: • Wie unterscheidet sich die Artikelfrequenz in den verschiedenen literarischen Gattungen? Der bestimmte Artikel findet sich vor allem in der Prosa, nicht in der Poesie (NECKEL 1924, HODLER 1954). Diese Tendenz hält offensichtlich noch im Neuisländischen an: "Während Jahrhunderten und bis zum heutigen Tag hat in Island das Nebeneinander einer artikelarmen Poesie und einer artikelreichen Prosa bestanden" (HODLER 1954: 106). Es besteht allgemeiner Konsens darüber, daß die Prosa den jeweils jüngeren Sprachzustand widerspiegelt. • Wie häufig ist der bestimmte, postponierte Artikel im Altnordischen? Diese Frage haben BONNER/FIX/MUELLER 1984 auf der Basis der Auswertung eines maschinenlesbaren Wörterbuchs zum Jónsbók zu beantworten versucht. Sie

Die Entstehung des bestimmten Artikels im Altisländischen

36

kommen zu einer m. E. überraschend niedrigen Frequenz des postponierten inn. Nur 2,28% der substantivischen Wortformen sind nach ihrer Auszählung bestimmt. • Auch Fragen zur Grammatikalisierung des bestimmten Artikels werden seit DELBRÜCK 1910 regelmäßig gestellt. Auffällig ist beim postponierten bestimmten Artikel die formale Ähnlichkeit mit dem Personalpronomen der dritten Person. Kontrovers diskutiert wurde, ob -inn aus einem Personalpronomen entstanden ist oder ob es vielmehr auf ein Demonstrativpronomen zurückzufuhren ist (DELBRÜCK 1919, JOHNSEN 1976: 10-22). Aus heutiger Sicht ist diese Fragestellung in dieser Form weniger interessant, da man inzwischen weiß, daß sowohl die Personalpronomen der dritten Person als auch der bestimmte Artikel regelmäßig aus dem Demonstrativpronomen hervorgehen. Man vergleiche das spanische Personalpronomen el mit dem bestimmten Artikel el (eine detaillierte Darstellung dieser Thematik mit Beispielen aus weiteren Sprachen findet sich in HARRIS 1980a). • Worin besteht der funktionale Unterschied zwischen dem postponierten Artikel -inn und dem präponierten Pronomen säl In den nichtnordgermanischen Sprachen grammatikalisiert sich der bestimmte Artikel nämlich aus dem einstigen Demonstrativpronomen sä heraus. Im Altnordischen hat sä überwiegend anaphorische Funktion (DELBRÜCK 1919), so die allgemein akzeptierte Auffassung. Nur SPRENGER 1977 widerspricht dieser These heftig. Sä wird von ihr als sogenanntes ich-deiktisches Pronomen, d. h. als Demonstrativpronomen eingeordnet. • Die Frage, welcher Zusammenhang zwischen schwacher Adjektivflexion und Artikelvorkommen bestehen könnte, stellen HEGER 1936 und HEINRICHS 1954. Präzisiert wurde dieser Zusammenhang bis heute nicht in einer Form, daß er evident würde. • Fragen der Wortstellung im Altnordischen wurden bei älteren Arbeiten zur Entstehung des Artikels nicht berücksichtigt. Geht man davon aus, daß die syntagmatische Kette mit Defmitheitsinformationen besetzt ist, lassen sich Untersuchungen zur Wortstellung im Altnordischen in diesem Kontext nicht weiter ausklammern. Zu berücksichtigen sind hier die Arbeiten von CHRISTOFFERSEN 1 9 8 0 , KOSSUTH 1 9 7 8 , BRAUNMÜLLER 1 9 8 2 u n d ASKEDAL 1993.

Arbitrarität oder Motiviertheit bei der Distribution des bestimmten Artikels?

37

• Im Rahmen der Rektions- und Bindungstheorie wird gegenwärtig gerne diskutiert, ob das Altnordische eine sogenannte nonkonfigurationelle Sprache sei, d. h. eine Sprache mit spezifischen syntaktischen Eigenschaften wie "flache Syntax", die durch das Fehlen eines VP-Rnotens verursacht sein soll. Solche theorieinternen Überlegungen sind in unserem Zusammenhang weniger relevant. Wenn sie jedoch am Rande berücksichtigt werden sollen, dann weil bei den Beispielen, die zur Illustration der These eines nonkonfigurationellen Altnordischen herangezogen werden, gerade Fragen in bezug auf die Artikelvorkommen und deren spezifische Distribution berührt werden (FAARLUND 1990, ASKEDAL 1993). • Die Frage, ob das Altnordische überhaupt einen Artikel hat, wird wegen der vermeintlichen Nichtobligatorik in allen Publikationen berührt. Zum Aspekt im Altnordischen gibt es dagegen nur wenige, indirekte Hinweise in der Literatur. Herangezogen werden können hier die Arbeiten zu den Verbalpräfixen. Daneben soll zur Entdeckung von Aspektualität im Altnordischen eine bislang unbegangene Richtung eingeschlagen werden. In einem Exkurs über das überaus häufige historische Präsens des Altisländischen, wird in Kapitel 3 auf Formen aspektueller Perspektivierung aufmerksam gemacht, die bislang nicht als solche erkannt wurden. Genaugenommen wurden die aspektuellen Effekte durchaus präzise beschrieben; sie wurden nur nicht als Ausdruck von Aspektualität eingeordnet.

2.2 Arbitrarität oder Motiviertheit bei der Distribution des bestimmten Artikels im Altnordischen? Eine Aussage, die sich häufig in bezug auf den bestimmten Artikel im Altnordischen findet, ist, daß er regellos gesetzt wird. In diesem Teilkapitel wird gezeigt, daß ganz im Gegenteil eine geradezu ausnahmslose Regelhaftigkeit bei der Verteilung des Artikels vorliegt. Diese regulären Muster manifestieren sich erst dann, wenn sich die Aufmerksamkeit durch die These der Verwandtschaft von Artikel und Aspekt auf neue Datenbereiche lenken läßt. HEUSLER 1950 illustriert seine Auffassung von der Irregularität der Setzung des Artikels im Altisländischen an einem Beispiel, das auch auf den zweiten Blick als einleuchtend erscheint. Seine Behauptung von dem "großen Schwanken" (1950: 125) bei der Verteilung des Artikels im Altisländischen blieb daher unwidersprochen. HEUSLER nennt einen kurzen Textausschnitt, in

Die Entstehung des bestimmten Artikels im Altisländischen

38

dem das Substantiv gripungr 'Stier' vier Mal in kurzen Abständen aufeinanderfolgt, je zweimal mit dem postponierten Artikel gekennzeichnet vs. nicht gekennzeichnet: "bestimmte und unbestimmte Formen gehn oft gleichbedeutend durcheinander", kommentiert HEUSLER ( 1 9 5 0 : 1 2 5 ) . Gemeint ist damit, daß einmal der postponierte Artikel -enn (entspricht -inn) gesetzt wird, das nächste Mal wieder nicht, obwohl jedesmal Definitheit des Nomens vorliegt. HEUSLERS Beispiel ist (Hervorhebungen von E. L.): (1)

Pa verpr kann varr vip gripungenn ... gripungr snyr ί mòte ... gripungr stakk hornonom ί sipo hestenom ... konungs menn drqpo gripungenn.

HEUSLER

übersetzt das Textbeispiel folgendermaßen:

'da wird er den Stier gewahr ... (der) Stier kehrt sich ihm entgegen ... (der) Stier stach die Hörner dem Pferde in die Seite ... die Königsmannen erschlugen den Stier.' Noch bevor man eine sprachtypologischen Standards genügende Transkription des Beispiels ausführt, läßt sich eine Regelhaftigkeit der Artikelsetzung erkennen - vorausgesetzt, man berücksichtigt die Definitheitseffekte der Syntax, die im ersten Kapitel angesprochen wurden. Es zeigt sich eine deutliche Ordnung, die unseren Erwartungen in bezug auf die Ikonizität und 'unsichtbare Grammatik' des Satzsyntagmas entspricht: • In definiter Umgebung (Thema, Subjektsposition, topikalisierte Position) wird -enn (-inn) nicht gesetzt: der Nominativ Singular gripungr wird schon aufgrund seiner syntaktischen Position als définit präsupponiert. Eine zusätzliche morphologische Markierung durch den postponierten Artikel -enn wäre hier nur redundant. • In indefiniter Umgebung (Rhema, prädikative Position, nichttopikalisierte Position) dagegen muß ein als définit intendiertes Nomen durch eine materiell sichtbare Markierung als solches kenntlich gemacht werden, damit es nicht als indefinit vom Hörer dekodiert wird. Die definite Form gripungenn (Akkusativ Singular) steht in unserem Beispiel zweimal in einer syntaktischen Umgebung, die inhärent indefinit ist: als syntaktischer Aktant ist es ein Objekt, das in Thematischer, nicht topikalisierter Position steht. Definitheit könnte in dieser Position ohne zusätzliche morphologische Markierung nicht erkannt werden.

Arbitrarität oder Motiviertheit bei der Distribution des bestimmten Artikels?

39

Berücksichtigt man also die 'unsichtbaren Definitheitseffekte' der Syntax, erweist sich HEUSLERS schön ausgesuchtes Beispiel zur Illustration der Irregularität der Artikeldistribution als ungeeignet. Wie verhält es sich mit den weiteren Substantiven, die in HEUSLERS Textbeispiel vorkommen? Folgen sie ebenfalls den hier angenommenen Definitheitsvorgaben durch die Syntax? Eine genauere Transkription zeigt, daß noch weitere Definitheitsmarkierungen vorkommen: (2a) pä da

verpr werden:3.PS.SG.PRÄS.

hann er

varr gewahr

vip PRÄP.

gripung - enn Stier-AKK.SG.DEF. 'Da wird er den Stier gewahr.'

(2b) gripungr Stier:NOM.SG.

snyr wenden:3.PS.SG.PRÄS.

ί PRÄP.

mòt - e zusammentreffen-D AT. SG. 'Der Stier wendet [und geht] auf Konfrontation.' '(der) Stier kehrt sich ihm entgegen' (HEUSLER)

(2c) gripungr stakk horn - onom StienNOM.SG. stechen:3.PS.SG.PRÄT. Horn-DAT.PL.DEF. [Ablautende Form zu Inf. stinga]

/ sip - o hest - enom PRÄP. Seite-DAT.SG. Pferd-DAT.SG.DEF. 'Der Stier stach die Hörner dem Pferd in die Seite.'

40

Die Entstehung des bestimmten Artikels im Altisländischen

(2d) konungs menn König:GEN.SG. Mann:NOM.PL. 'Die Königsmannen erschlugen

drqp - o erschlagen-3.PS.PL.PRÄT.

gripung - enn Stier-AKK.SG.DEF. den Stier.' Betrachtet man die weiteren Substantive, die in diesem Text genannt werden, fällt auf, daß auch sie den genannten Regularitäten folgen. Mit Artikelsuffix erscheinen hornonom 'die Hörner' (2c) und hestenom 'dem Pferd' (2c). Bevor die Artikelsetzung hier kommentiert wird, soll eine kurze Erläuterung zu den Formen das Verständnis erleichtern. Der definite Artikel -inn (-enn) ist für diejenigen, die mit dem Altisländischen nicht vertraut sind, nicht sofort erkennbar, weil er mit dem Substantiv mitflektiert. Der Aufbau der Wortform ist: (SUBSTANTIVSTAMM + KASUS) + (BESTIMMTER ARTIKEL + KASUS) Der bestimmte Artikel -inn flektiert dabei nach dem Muster der possessiven Personalpronomen (minn 'mein', pinn 'dein', sinn 'sein'). Beispiel: hestr NOM.SG. 'Pferd' hests GEN.SG. 'Pferdes' hests-ins GEN.SG.DEF. 'des Pferdes' [GEN.SG. von minn ist mins] (=hests-ens) Die Wortform hestenom (hestinum), die in HEUSLERS Textbeispiel vorkommt, setzt sich aus dem Dativ heste (hesti) und der Endung des im Maskulinum Dativ Singular flektierten Possessivpronomens (-enom) -inum zusammen. Der postponierte Artikel verändert sich also nach Genus, Numerus und Kasus. Der Artikel flektiert ganz offensichtlich nicht aus dem Grund, um die Kasusflexion des Substantivs zu verstärken. Diese ist intakt und bedarf solcher 'Hilfeleistungen' durch den Artikel nicht. Diese Tatsache zeigt deutlich, daß der Artikel nicht entstanden sein kann, um die Kasusflexion (oder Genus- und Numerusmarkierung) zu verstärken, wie in der Anfangsphase der Artikelforschung noch häufig angenommen wurde. Die Motivation für die Herausbildung eines Artikels zeigt sich dagegen deutlich, wenn man die syntaktischen Positionen berücksichtigt, in denen der Artikel auftritt: hestenom und hornonom erscheinen beide

Arbitrarität oder Motiviertheit bei der Distribution des bestimmten Artikels?

41

in nichtthematischer Position. In dieser syntaktischen Umgebung werden Substantive, die nicht weiter morphologisch markiert sind, als indefinit eingeordnet. Eine solche Einordnung würde jedoch mit der inhärenten Defmitheit der beiden Substantive kollidieren; bei Verwendung der nichtdefmiten Form heste ist die Referenz auf das durch den Kontext bereits lokalisierbare 'Pferd' nicht mehr gewährleistet. Der Stier könnte auch eines der anderen Pferde verletzt haben. Fassen wir die 'Distributionsregularitäten der insgesamt vier definiten Substantive', die in HEUSLERS Beispiel vorkommen, zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Der postponierte bestimmte Artikel erscheint immer dann, wenn ein Substantiv in einer Indefinitheitsumgebung als définit kenntlich gemacht werden soll. Der bestimmte Artikel signalisiert also Defmitheit dort, wo wir aufgrund der Informationsstruktur des Satzes Defmitheit nicht präsupponieren können. Wenn diese ad hoc an HEUSLERS Beispiel gebildete Regel zutreffen sollte, dann sollten in definiter Umgebung keine bestimmten Artikel als Markierung von Defmitheit vorkommen. Im Textbeispiel findet sich noch ein Nomen, dessen spezifische Verwendimg erklärt werden muß: nämlich konungs menn (2d) 'die Königsmannen' bzw. die 'Gefolgschaft des Königs'. Es ist evident, daß dieses Nomen bestimmt ist, auch wenn die Markierung durch einen bestimmten Artikel fehlt; konungs menn steht vor dem Verb in maximal thematischer Position: die Defmitheit des Nomens ist somit präsupponierbar. Eine zusätzliche Markierung durch den bestimmten Artikel wäre nur redundant. Im Altisländischen wird - so der erste Eindruck - der bestimmte Artikel zwar nicht redundant gesetzt, aber dennoch durchaus regelhaft. Natürlich lassen sich auf der Basis von HEUSLERS Textausschnitt noch keine Regeln formulieren. Die hier exemplarisch durchgeführte Übung sollte nur verdeutlichen, daß in diesem Beispiel keine Willkürlichkeit bei der Setzung des Artikels vorliegt. Doch immerhin geht die Wahl des Ausschnitts auf HEUSLER zurück und nicht auf uns. Und HEUSLER wollte damit demonstrieren, daß der bestimmte Artikel im Altisländischen beliebig gesetzt wird. Blickt man jedoch mit einem spezifischen Vorwissen über die ikonisch realisierten Definitheits- und Indefinitheitswerte der Satzsyntax auf HEUSLERS Beispiel, so verwandeln sich unter dieser Optik die irregulären Schwankungen der Artikelsetzung in eine sehr regulär erscheinende, nicht schwankende Artikeldistribution. Es läßt sich vorerst mit aller Vorsicht immerhin soviel festhalten: Die Behauptung der willkürlichen Artikelsetzung im Altisländischen ist so überzeugend nicht mehr. Im folgenden sollen auf der Basis eines altisländischen Texts die ersten, hier geäußerten Arbeitshypothesen zur Distribution des Artikels überprüft werden. Die Textbeispiele sind nicht ausgewählt. Die Anordnung der folgenden sprachtypologisch transkribierten und kommentierten Sätze entspricht

42

Die Entstehung des bestimmten Artikels im Altisländischen

der Reihenfolge der Sätze in der Saga vom sogenannten "Hühner-Thorir" (Hcensa-i>óris saga). Auf diese Weise ist gewährleistet, daß nicht besonders 'passende' Beispiele in den Vordergrund gerückt werden, um dann anschließend die Ausnahmen weniger wichtig zu nehmen. Das Korpus beginnt mit dem ersten Satz der Hcensa-I>óris saga. Jeder Satz wird kommentiert. Es stellt sich die Frage: Wie umfangreich hat das Korpus zu sein? Die amerikanischen Strukturellsten haben darauf eine überzeugende Antwort gegeben. Ein Korpus ist dann groß genug, wenn sich durch seine Ausweitung keine Veränderung der Ergebnisse mehr ergeben würde. Da wir das nie mit vollständiger Sicherheit annehmen können, wir aber unsere Korpora nicht unbegrenzt erweitern wollen, erscheint folgende Formulierung als angemessen: Ein Korpus ist dann groß genug, wenn wir durch seine Ausweitung keine Veränderung der Ergebnisse mehr erwarten können. Es ist im übrigen anzunehmen, daß hochfrequente sprachliche Einheiten ihr Regelmuster 'auf einer kürzeren Textstrecke1 entfalten als niedrigfrequente. Im obigen Textausschnitt waren von zehn Substantiven vier mit dem bestimmten Artikel markiert. Von einer Artikelhäufigkeit von weniger als 3 Prozent, wie sie von BONNER/FIX/MUELLER 1 9 8 4 für das Jónsbók festgestellt wurde, sind wir bei diesem Beispiel weit entfernt. Von den zehn genannten Substantiven wurden bis jetzt zwei nicht kommentiert: Da ist einmal / mòte (2b), das von HEUSLER mit 'entgegen' übersetzt wurde. Es handelt sich hier offensichtlich um ein inkorporiertes Objekt, d. h. um einen syntaktischen Aktanten, der keine semantische Rolle repräsentiert. Solche Aktanten sind weder définit noch indefinit. Sie stehen außerhalb dieser grammatischen Opposition. Der Gegensatz von Definitheit und Indefinitheit ist hier neutralisiert. Schließlich bleibt noch sipo (í sipo; 2c) zu erklären. Hier liegt eine TeilGanzes-Relation zwischen sipo und hestenom vor: es handelt sich um die Seite des Pferdes. Wiederum sind also nicht zwei semantische Rollen vorhanden; den zwei syntaktischen Aktanten entspricht nur eine semantische Rolle (hier: Patiens). Sowohl sipo als auch hestenom stehen im Dativ Singular, wodurch auch ausdrucksseitig die Einheit beider Nomen signalisiert wird. Da hestenom bereits mit dem postponierten Artikel markiert ist, wäre eine nochmalige Markierung an sipo nur redundant. Die redundante Markierung des Artikels scheint in 'jungen Artikelsystemen' vermieden zu werden. Mit folgenden Arbeitshypothesen beginnt die Artikelexpedition in die SagaLiteratur des Altisländischen: 1. Der postponierte bestimmte Artikel signalisiert Definitheit in syntaktischen Indefinitheitsumgebungen.

Die Distribution des Artikels

43

2. Die redundante Setzung des bestimmten Artikels wird vermieden. 3. Der postponierte Artikel ist keine Ausnahme: er wird regelgeleitet und damit relativ frequent gesetzt.

2.3 Die Distribution des Artikels Die Ausgabe der Saga vom Hühner-Thorir, die hier zugrundegelegt wird, wurde von Alain MAREZ im Rahmen seiner Habilitationsschrift von 1976 bereitgestellt. Wertvoll an dieser Ausgabe ist neben dem Kommentar und der Übersetzung des altisländischen Sagatexts (ins Französische) vor allem der umfangreiche kritische Apparat. Aus diesem Grund wurde MAREZ' Neuedition der Ausgabe der Saga im íslenzk fomrit sowie der Ausgabe von BAETKE vorgezogen. Auf beide geht MAREZ im übrigen ausführlich ein. Bevor die Distribution des bestimmten Artikels in dieser Saga kommentiert wird, sollen noch zwei nahe Verwandte aus der Familie der Determinantien mit vorgestellt werden. Es gibt im Altisländischen, so die Kerninformation in RANKE/HOFMANN 1988:

1. den erwähnten bestimmten Artikel. Er kann postponiert als Suffix oder vor dem Nomen als freies Morphem vorkommen. Der präponierte Artikel kann nicht direkt vor dem Substantiv stehen, sondern nur jeweils vor einem Adjektiv, das das nachfolgende Substantiv näher bestimmt. Das bekannte Beispiel fur diese Verteilung von prä- und postponiertem Artikel ist seit DELBRÜCK 1919: inn godi maôr 'der gute Mann' vs. maôr-inn 'der Mann'. Anstelle des präponierten inn kann auch hinn vorkommen ('jener, der andere'). Auf die auffällige formale Ähnlichkeit dieses fernverweisenden Pronomens mit dem Personalpronomen der dritten Person (Hann) sei nochmals hingewiesen. Neben dem bestimmten Artikel gibt es: 2. das Demonstrativpronomen sä, das auch als schwaches oder abgeschwächtes Demonstrativpronomen bezeichnet wird. Schließlich gibt es: 3. das Demonstrativpronomen siá bzw. pessi, das von RANKE/HOFMANN als deiktisches Pronomen 'dieser' in Abgrenzung zum Demonstrativpronomen 'der' bezeichnet wird.

44

Die Entstehung des bestimmten Artikels im Altisländischen

Vorerst soll nicht über die Funktionen von sä vs. siä diskutiert werden. Sä wird in der Regel textverweisende Funktion zugeschrieben, während siá als Demonstrativpronomen im eigentlichen Sinn gilt. Die Wortformen von sä werden in der folgenden Transkription mit DEM I, die von siä mit DEM II abgekürzt, ohne daß damit eine Aussage über deren Funktionen gemacht werden soll. Die Funktionen von Artikel, DEM I und DEM II lassen sich auf der Grundlage ihres Verhaltens im folgenden kurzen Textstück sehr eng einkreisen und bestimmen. MAREZ 1976 gibt zur Hœnsa-Êôris saga folgende Informationen: Die Saga gehört zur Gruppe der sogenannten "Islendigasçgur", d. h. zur Gruppe der "proto-historischen" Sagas. Die Ereignisse, von denen in der Saga berichtet wird, sind sehr genau auf die zweite Hälfte des zehnten Jahrhunderts datierbar. So weiß man, daß sich die Verbrennung von Blund-Ketill, einer Person, die in dieser Saga vorkommt, auf das Jahr 962 datieren läßt (MAREZ 1976: 1). Aufgezeichnet wurden diese mündlich überlieferten Ereignisse erst drei Jahrhunderte später. Hcensa-i>óris saga [Die Numerierung wurde hinzugefügt. Es folgt zunächst der Saga-Text (satzweise), dann eine Übersetzung ins Deutsche (a), die sich an der Übersetzung ins Französische durch MAREZ orientiert. Anschließend erfolgt eine Transkription (b) des jeweiligen Satzes, so wie sie im Rahmen der Sprachtypologie praktiziert wird. Die dort angegebene Übersetzung bleibt weitgehend wörtlich. Unter (c) schließt sich ein Kommentar zum jeweiligen Satz an. Der Abschnitt (d) bietet Zusätze zum Kommentar, beispielsweise Vergleiche mit dem Nynorsk, der Variante des Norwegischen, die sich als Fortsetzer des Altwestnordischen für einen Vergleich geradezu anbietet1. Die hier vorgeführte, empirische Auswertung eines Textes weicht stark von den bislang quantitativ orientierten empirischen Untersuchungen ab. Stattdessen wird eine Betrachtungsweise vorgeführt, die sich als maximale Aufhahmebereitschaft für die vorliegenden Daten charakterisieren ließe. Die intensive empirische Analyse ist sehr aufwendig, so daß sie hier aus Platzgründen nur exemplarisch vorgeführt werden kann. Bei einer intensiven, durch Reflexion gesteuerten Betrachtung der Daten zeigt sich, daß bereits in kurzen Textabschnitten ein immenses Erkenntnispotential in bezug auf die grammatische Musterbildung bereitliegt. Grammatische Regeln sind so

' Erleichtert wird dieser Vergleich durch die parallele Edition der altisländischen HUhnerthorir-Saga mit der Übersetzung ins Nynorsk durch BRAASTEN 1909. Das "Gamalnorsk" kann dem Nynorsk auf diese Weise leicht gegenübergestellt werden, ohne daß eine eigene "Definitheitsinterpretation" in die Texte hineingetragen wird.

Die Distribution des Artikels

45

hochfrequent und ubiquitär präsent, daß sich bereits auf der Basis minimaler Korpora Kerneinsichten herauspräparieren lassen.] (1)

Oddr hét maâr, Qnundarson breidskeggs, Ulf ars sonar, Ulfs sonar à Fitjum, Skeggja sonar, Poris sonar hlammanda;

(la) Ein Mann nannte sich Oddr; er war der Sohn von Qnundr dem Breitbärtigen; der war der Sohn von Ulfarr, Sohn des Ulfr von Fitjar, Sohn von Skeggi, Sohn von Thorir dem Großsprecherischen; (lb) Oddr Oddr:NOM.SG.M. Oddr

maôr hét 2 heißen:3.PS.SG.PRÄT. Mann:NOM.SG.M. ein Mann hieß

+ son Qnund- ar Qnundr-GEN.SG.M +3 Sohn:NOM.SG.M. der Sohn des Onundr

breiöskegg - s breitbärtig-GEN. SG.M. des Breitbärtigen

Ulfars sonar, Ulfarr:GEN.SG.M. Sohn.GEN.SG.M. des Sohns von Ulfarr,

Ulfs Ulfr:GEN.SG.M. (der war wiederum) Ulfrs

sonar Sohn:GEN.SG.M. Sohn

Fitjum, FitjanDAT.PL. Fitjar,

a PRÄP. auf

Bei ablautenden Verben etc., bei denen die lexikalische und die grammatische Information nicht durch jeweils eigene Morpheme transparent kodiert werden, wird das durch Doppelpunkte in der Transkription kenntlich gemacht. Ist die grammatische Information auf ein Morphem (Flexiv) gepackt, so wird das in der Transkription durch einen Bindestrich signalisiert. Das Plus-Zeichen macht kenntlich, daß es sich um ein komplexes Wort (Wortbildung) handelt.

46

Die Entstehung des bestimmten Artikels im Altisländischen

Skeggja sonar, Skeggi:GEN.SG.M. SohnrGEN.SG.M. des Sohns von Skeggi

Poris i>orir:GEN.SG.M.

sonar hlamma -nd- a; Sohn:GEN.SG.M. dröhnen-PART.PRÄS-GEN.SG.M. des Sohns von Thorir dem Dröhnenden; (lc) Es findet sich in diesem Abschnitt weder ein Artikel noch DEM I oder DEM II. Das erste Nomen ist ein Eigenname. Es steht vor dem Verb in topikalisierter Position. Da im Altisländischen die Erstposition vor dem Verb eine X-Position darstellt (d. h. eine Position, die nicht mit dem Subjekt oder einem anderen syntaktischen Aktanten obligatorisch besetzt werden muß), wird diese Position im folgenden als topikalisierte Position bzw. als Topik bezeichnet. Wird das Subjekt vor dem Objekt realisiert, wird es als thematisches Subjekt bezeichnet. Ein thematisches Subjekt kann als Topik erscheinen, muß es aber nicht. Ausschlaggebend ist allein, daß es in der Serialisierung der syntaktischen Aktanten privilegiert wird, d. h., daß es vor den anderen Aktanten realisiert wird. Oddr ist in diesem Fall in topikalisierter Position. Ein Eigenname in solcher Position wird ganz notwendig als définit präsupponiert. Eine zusätzliche Definitheitsmarkierung wäre hier bloß redundant. Das gilt fur Eigennamen grundsätzlich in jeder syntaktischen Umgebung. Das Altisländische vermeidet ganz offensichtlich die redundante Markierung. Oddr steht wie maör im NOM.SG.; es liegt somit ein Gleichsetzungsnominativ vor. Subjekt ist das sich in Thematischer Position befindende maör. Die Saga beginnt mit dem Bericht über einen Menschen, über den wir noch nichts wissen. Da im Altisländischen ein unbestimmter Artikel nicht vorhanden ist, anders als etwa im Französischen oder Deutschen, ist eine Serialisierung wie in der vorgeschlagenen deutschen oder in der französischen Übersetzung durch MAREZ (Ein Mann nannte sich Oddr / Un homme s'appelait Oddr) nicht realisierbar; es würde zu Informationsverlusten bzw. zu einer Verfälschung der Information in bezug auf den intendierten Definitheitswert kommen. Bei der folgenden Aufzählung der Genealogie zeigt sich, daß die nichtobligatorische Setzung eines Artikels auch einen Vorteil bietet: Es muß nicht präzisiert werden, ob es sich um einen oder um den Sohn des jeweiligen Vorfahren handelt; damit vergleichbar ist der pränominale Genitiv wie in Ulfarrs Sohn. MAREZ setzt bei seiner Übersetzung ins

47

Die Distribution des Artikels

Französische den Nullartikel: Il était fils de.... Man kann an diesem Beispiel gut sehen, daß hyperdeterminierende Artikelsprachen mit ihrem 'Zwang' zur Artikelsetzung den Artikel nicht nur redundant setzen, sondern auch dann, wenn eine Information über den Definitheitswert nicht vorliegt (le fils vs. un fils). Dieser Obligatorik kann man sich nur durch die Setzung eines 'bloßen' Substantivs entziehen (fils). (Id) Es gibt eine Übersetzung der altisländischen Hcensa-I>óris saga ins Nynorsk: d. h. man kann die ältere Fassung, die dem Altnorwegischen nahesteht, mit dem Neunorwegischen, das über einen bestimmten und zusätzlich einen unbestimmten Artikel verfugt, vergleichen: Altisländisch Oddr hét maôr wird dabei als Nynorsk Odd heitte ein mann übersetzt. Es steht also der indefinite Artikel. Es wird sich noch zeigen, daß dies fur alle inhärent indefiniten Nomen gilt. Der Vergleich mit dem Altisländischen zwingt zur Frage, warum es überhaupt zur Herausbildung des indefiniten Artikels gekommen ist, wenn er, wie in diesen Fällen, nur redundant ist. Es liegt nahe anzunehmen, daß der unbestimmte Artikel nicht primär in dieser syntaktischen Umgebung, in der er nicht notwendig ist, entstanden sein kann. (2)

hann bjô ά Breiâabôlstaô í Reylg'ardal ί Borgarfirôi.

(2a) Er bewirtschaftete (den Hof) Breiöabolstaör im Reykjartal beim Borgarfjord. (2b) hann PERS.PRON.3.PS.SG.NOM.M. er

Breiâabôlstaô Breiöabolstaör:AKK.SG.M. Breiöabolstaör

ί PRÄP. beim

bjô wohnen:3.PS.SG.PRÄT. wohnte

ί PRÄP. im

Borgarfirôi. Borgarfjórir plötzlich [nú] reich wurde, sich Land kaufte, das "at Vatni" genannt wurde [...]. Geschildert wird also der Beginn einer soziologischen Umwälzung. Ein "Neureicher", der durch den Handel mit den in Island seltenen Hühnern zu Vermögen gekommen ist, taucht plötzlich in der genealogischen Schilderung der isländischen Großbauern auf. Die ersten beiden Präsensformen haben eindeutigen PAST-Bezug. Die dritte Präsensform kann sowohl als PAST als auch als tempusneutral eingeordnet werden. Geschildert werden neu eintretende Ereignisse, die sich vom bekannten Hintergrund abheben. Interessanterweise ist weder ein definiter Artikel noch VI-Stellung in der näheren Textumgebung der Präsenshäufung vorhanden. Auffallend ist nur das Temporaladverb nú, das die Sequenz mit den Präsensformen einleitet und damit die perfektive Lesart des Verbs offensichtlich absichert. Nur die perfektiven Verben können ja die temporale Funktion [+PAST] herstellen. Eine Durchsicht der Vorkommen an Präsensformen in der Funktion eines perfektiven PAST-Tempus in den ersten vier Kapiteln der Hühner-Thorir-Saga zeigt, daß nú:

Spielräume bei der Interaktion von Artikel und Aspekt

95

a) nur dann auftritt, wenn auch Präsensformen gleichzeitig vorkommen (berücksichtigt sind hier selbstverständlich nur die erzählenden Passagen, nicht die direkte Rede); b) bevorzugtes Mittel zur Monosemierung der aspektuellen Qualität der Verben ist. Folgende Mittel werden zur Perfektivierung der Verben verwendet: 1. Nú als regulär zu erwartendes Mittel. Es leitet häufig auch Sequenzen mit zwei und mehr Präsensformen ein, wie das Beispiel (24) gezeigt hat; die nachfolgenden Präsensformen weisen daher häufig zusätzlich noch VIStellung auf (Z. 184-189); s. u. Transkription (25). Nú kann dabei vorangestellt sein, was den Regelfall darstellt; möglich ist aber auch die postverbale Position: Oddr ridr [PRÄS.] nú heim [... ]; 'anschließend kehrte Oddr nachhause zurück' (Z. 111). 2. Fehlt nú, was selten ist, so ist in der Regel ein anderes Temporaladverbiale vorhanden; bevorzugt verwendet wird beispielsweise eins dags, das auch noch beliebig expandiert werden kann: at kveldi eins dags. Es handelt sich jeweils um temporale Lokalisationen und nicht um die Angabe einer zeitlichen Dauer, z. B. Z. 190-192; s. u. Transkription (26). 3. Fehlt ein Temporaladverbiale, so erscheint als nächstes bevorzugt der bestimmte Artikel, z. B. Z. 216, s. u. Transkription (27). Interessanterweise lassen sich Zeitangaben, die eine Zeitdauer zum Ausdruck bringen, durch den postponierten Artikel perfektivieren; z. B. vetr 'der Winter' als um vetr-inn 'im Winter'. Noch interessanter ist, daß ein Lexem wie vetr, das eine temporale Bedeutung transportiert, auch in thematischer Position mit -inn erscheint, z. B. Z. 224, s. u. (28). Die Funktion von -inn kann in dieser Position nicht Definitsetzung sein. Das würde allein durch die Wortstellung geleistet. Was -inn hier leistet, ist eine Art Perfektivierung eines Lexems mit ambiger temporaler Bedeutung. 4. Ist keiner der genannten Perfektivierungsindikatoren vorhanden, rückt das Präsensverb in Verbspitzenstellung, z. B. Z. 209-210, s. u. (29). 5. Ist keines der bisher genannten Perfektivierungsverfahren vorhanden, handelt es sich in der Regel um Verben des Sprechens bzw. um redeeinleitende Verben. Bestimmte redeeinleitende Verben werden fast ausschließlich im "historischen Präsens", andere wiederum ausschließlich im Präteritum

Artikel und Aspekt im Altisländischen

96

verwendet. Die ersteren haben dabei perfektive Bedeutung, die anderen imperfektive. Ein zusätzliches Aspektualitätssignal ist somit nicht erforderlich. So ist svara ein typisches Präsensverb, mœla ein typisches Präteritumsverb. Dabei hat hann svarar (PRÄS.) nicht die Bedeutung von 'er spricht'. Auch die Übersetzung 'er sprach' wäre unzutreffend. Nur ein perfektives Übersetzungsäquivalent trifft jeweils die Bedeutung, etwa 'er antwortete' oder 'er fing an zu sprechen'. Hann mcelti (PRÄT.) kann umgekehrt besser als mit 'er sagte' übersetzt werden; passender ist je nach Kontext jeweils 'er hielt folgende Rede' oder 'er sprach'. Die Tempusvorlieben der redeeinleitenden Verben sind bekannt. Eine Übersicht über die Distributionen findet sich in JEFFREY ( 1 9 3 4 : 9 4 - 9 5 ) . Mœla und kveda erscheinen ausschließlich im PAST, segja und svara fast ausschließlich im "historischen Präsens". Seltsamerweise hat man diese 'Tempusvorlieben' bislang nicht als die Konsequenz einer inhärenten Aspektualität der Verben des Sprechens gesehen. Bereits in den ersten vier Abschnitten der Hœnsa-Pôris saga finden sich zu jedem Punkt jeweils viele Beispiele, von denen jedes gleichermaßen zur Illustration geeignet wäre. Die hier gewählten Beispiele sind somit nicht 'typischer' als es andere wären. Bevorzugt wurden aus Gründen der Ökonomie die kürzeren Sätze und Textsequenzen: ad 1 : Nú als Perfektivierer (Z. 184-189) (25)

Nú lídr sumar, ok kemr vetr ok er snimma naudamikill norôr um Hliôina, en viórbúningr lítill; fellr mçnnum pungí. Ferr svá fram um jól; ok er porri kemr, pà ekr hart at mçnnum, ok eru margirpá upp tefldir.

(25a) Dann ging der Sommer zu Ende, und der Winter brach herein, und er stellte sich schon früh im Norden um das Hliö herum als extrem streng, die Vorkehrungen dagegen als schlecht heraus; die Leute traf es hart. So zog sich das bis nach Weihnachten hin; und als der vierte Wintermonat ausbrach, erwischte es die Leute schlimm und eine große Anzahl von ihnen war am Ende. (25b) Nú Nun Nun

lídr vergehen:3.PS.SG.PRÄS. vergeht/verging

sumar, Sommer:NOM.SG.M. der/ein Sommer,

ok KONJ. und

97

Spielräume bei der Interaktion von Artikel und Aspekt

kemr kommen:3.PS.SG.PRÄS. kommt/kam

vetr Winter:NOM.SG.M. der/ein Winter

er sein:3 .PS.SG.PRÄS. (der Winter) ist/war

snimma früh: ADV. frühzeitig

norör um nördlich:ADV. PRÄP. nördlich um

Hlid - ina, Berghang-AKK.SG.F. den Berghang,

nauôamikill überaus + streng:NOM.SG.M. äußerst streng

viórbúningr litill; VorbereitungrNOM.SG.M. wenig:NOM.SG.M. die Vorbereitung schlecht;

mçnnum Mensch:DAT.PL.M. (den) Menschen

pungt. schwer:NOM.SG.N. schwer.

svä fram um so:ADV. vorwärts:ADV. PRÄP. so weiter bis

ok KONJ. und

en KONJ. aber

fellr fallen:3.PS.SG.PRÄS. (es) fällt/fiel

Ferr fahren:3.PS.SG.PRÄS. (es) geht/ging

jól; Julfest/Weihnachten:AKK.SG.N. Weihnachten;

ok KONJ. und

er KONJ. als

porri JjorriiNOM.SG.M. der vierte Wintermonat

pá da:ADV. da

ekr hart fahren:3.PS.SG.PRÄS. hart:NOM.SG.N. setzt/setzte (es) den Leuten schwer zu,

kemr, kommen:3.PS.SG.PRÄS. kommt/kam,

at PRÄP.

98

Artikel und Aspekt im Altisländischen

ok mçnnum, Mensch:DAT.PL.M. KONJ. und

eru sein:3.PS.PL.PRÄT. waren (hatten)

margir manch:NOM.PL.M. viele

upp PRÄP. am Ende

pä da:ADV. damals

tefldir. spielen:PART. II (ausgespielt).

(25c) Es ist klar, daß eine Übersetzung des formalen Präsens mit Präsens den Inhalt nicht trifft. Vor allem aber muß für die Verben jeweils eine perfektive Lesart gewählt werden. In der Regel sind die altisländischen Verben so polysem, daß sich im Wörterbuch (BAETKE 1965/1993) auch 'perfektive Bedeutungsangebote' finden, die die Übersetzer dann auch entsprechend auswählen. Doch nicht immer wird die perfektive Qualität tatsächlich auch erkannt, vor allem dann nicht, wenn auch die imperfektive Lesart grammatisch akzeptabel wäre. HEUSLER/RANKE (1922: 30) übersetzen beispielsweise: Der Herbst verstrich, und es kam der Winter. Die im Text gewählte aspektuelle Perspektive ist m. E. eine andere: Betont wird das Ende des Sommers und das Einbrechen des Winters (und nicht das Zuendegehen des Sommers und das Herannahen des Winters). Dasselbe gilt für alle weiteren Verben im Präsens. Das Verb er 'ist' hat hier keine Zustandsbedeutung. Die Bedeutung ist also nicht: 'Der Winter ist/war streng', sondern 'Der Winter stellte sich als streng heraus'. Das ständig latente perfektive Bedeutungspotential geht auf die einstigen Präfigierungen der Verben zurück. Da nicht nur das aspektuelle Präfix ga- verlorengegangen ist, sondern auch alle Präfixe, die eine Aktionsart zum Ausdruck brachten, gibt es fur jedes Simplexverb, das im Altisländischen verwendet wird, ein breites Bedeutungsspektrum. Die Polysemie der Verben ist also Ausdruck des Verlusts der formalen Mittel ohne gleichzeitig damit einhergehenden Bedeutungsverlust. Bislang hat man vor allem nach den alten 'syntaktischen Spuren' solcher einst perfektiver Verben gesucht, vor allem um die Existenz von Präfixverben und damit eines Aspektsystems für das Protonordische nachzuweisen (vgl. JÓNSSON 1970). Nicht beachtet wurden die neuen syntaktischen Indikatoren für Perfektivität. Nú + "historisches Präsens" ist ein solcher Indikator, auf den man sich m. E. bei Übersetzungen sicher verlassen kann. Dasselbe gilt für VI-Stellung + "historisches Präsens": fellr mçnnum pungt bedeutet nicht 'es fiel den Menschen schwer', sondern vielmehr 'es traf die Menschen schwer'. Auch Ferr svá fram um

Spielräume bei der Interaktion von Artikel und Aspekt

99

jól bedeutet nicht 'das dauerte bis nach Weihnachten', dasselbe gilt für kemr in ok er porri kemr. Die Übersetzung 'und als der Januar kam' ist zwar grammatisch, stellt aber die Perspektivierung des Sachverhalts nicht adäquat dar. Diese ist 'und als der Januar anbrach'. Die Durchsicht der formalen Präsensformen mit vergangenem Zeitbezug macht transparent, daß regelmäßig die Wahl der perfektiven Bedeutungsvariante eine adäquatere Übersetzung ermöglicht. Die altisländischen Sagas erweisen sich damit als stilistisch weit weniger auffällig als vielfach bislang behauptet wurde, sobald man das "historische Präsens" konsequent mit einem perfektiven PAST gleichsetzt. Die Kommentierung dieser wenigen Zeilen ist damit noch nicht erschöpft. Es fällt auf, daß die rhematisch verwendeten Substantive sumar und vetr mit dem definiten Artikel übersetzt wurden (25a). Auch HEUSLER/RANKE und MAREZ verwenden jeweils den bestimmten Artikel im Deutschen bzw. im Französischen. Ganz offensichtlich wirkt sich hier die Perfektivität des Verbs auf die Lesart der benachbarten Substantive bzw. Nominalphrasen aus. Die kategoriale Verwandtschaft von Perfektivität und Definitheit ist für diesen 'grammatischen Effekt' verantwortlich. Die Wechselwirkung von Aspekt und Artikel ist unübersehbar. Beide Kategorien 'arbeiten einander zu'. Vermutlich ist es nicht einmal zulässig, von zwei verschiedenen Kategorien auszugehen. Es zeichnet sich zunehmend ab, daß nur jeweils die nominale bzw. die verbale Erscheinungsform ein und derselben Kategorie aktualisiert wird. (25d) In der Übersetzung ins Nynorsk wird anstelle der Präsensformen jeweils Präteritum verwendet. Auch die Verberststellung ist aufgegeben (BRAASTEN 1 9 0 9 : 1 2 - 1 3 ) . No leid (PRÄT., V2) sumaren, og vetren kom (PRÄT., V2). Ein weiterer Unterschied zum altisländischen Nú lidr (PRÄS., V2) sumar, ok kemr (PRÄS., VI) vetr ist unübersehbar. Im Nynorsk wird der definite Artikel verwendet, also die nominale Erscheinungsform der Kategorie Artikel/Aspekt. Sie garantiert umgekehrt die perfektive Lesart des Verbs. Deutlicher als durch diesen Vergleich zwischen dem "Gamalnorsk" und dem Nynorsk könnte die funktionale Gleichwertigkeit von Artikel und Aspekt nicht werden. Nynorsk ist natürlich nicht der Fortsetzer des Altisländischen, aber es stellt eine der möglichen Fortsetzungen des Altnordischen dar. Auch im Neuisländischen ist die Verberststellung aufgegeben worden, und auch das "historische Präsens" spielt keine entscheidende Rolle mehr.

100

Artikel und Aspekt im Altisländischen

ad 2: Weitere perfektivierende Temporaladverbiale (Z. 190-192) (26)

Ok at kveldi eins dags kemr landseti Blund-Ketils ok segir sik vera ί heyproti ok krefr órlausna.

(26a) Und eines Tages gegen Abend kam einer der Pächter von Blund-Ketill an und eröffnete (ihm), daß er in den Futternotstand geraten sei, und forderte Hilfeleistungen (von ihm) ein. (26b) Ok KONJ. Und

at PRÄP. am

dags Tag:GEN.SG.M. Tages

kveld-i Abend-DAT.SG.N. Abend

eins ein:GEN.SG.M. eines

kemr kommen:3.PS.SG.PRÄS. kommt/kam (kam an)

landseti Pächter:NOM.SG.M. ein/der Pächter (einer der Pächter)

Blund-Ketils Blund-Ketill:GEN.SG.M. Blund-Ketills

ok KONJ. und

sik vera REFL.PRON.AKK. sein:INF. sich [ACI-Konstruktion] (zu) sein (geraten zu sein)

ok KONJ. und

krefr fordern:3.PS.SG.PRÄS. fordert/forderte (fordert ein)

segir sagen:3.PS.SG.PRÄS. sagt/sagte (eröffnete)

/ PRÄP. in

heyprot - i Heumangel-DAT.SG.N. Heumangel

örlausn - a. Hilfe-GEN.PL.F. [PARTITIV] Hilfeleistungen (von ihm).

(26c) Die perfektiven Lesarten der Verben werden nicht nochmals erläutert, sondern nur in einer vierten Zeile hinzugefugt. Das Temporaladverbiale at kveldi eins dags stellt ein Satzglied dar, das die Position vor dem Verb

Spielräume bei der Interaktion von Artikel und Aspekt

101

ausfüllt. Es handelt sich um eine Expansion von eins dags, das anstelle von nú erscheinen kann: So beginnt beispielsweise das zweite Kapitel (Z. 61) mit: Einn dag gerir (3.PS.SG.PRÄS.) Pörir heiman [... ]. Einn dag evoziert ein "historisches Präsens". Es hat dieselbe perfektivierende Wirkung wie nú. Es ist anzunehmen, daß nú prinzipiell durch jedes eindeutig perfektive Temporaladverbiale ersetzt werden kann. Beachtenswert sind wiederum die Definitheitswerte, die durch das perfektive PAST in Präsensform ausgelöst werden. Zwei interessante Fälle kommen in Sequenz (26) vor: landseti und örlausna. MAREZ übersetzt landseti mit dem indefiniten Artikel: 'un metayer de BlundKetill'. Das widerspricht auf den ersten Blick der bis jetzt entwickelten These, daß das perfektive PAST einen Definitheitseffekt auslöst. Danach sollte das perfektive kemr (PRÄS.) eine definite Lesart von landseti bewirken. Das Problem löst sich von selbst, wenn man erkennt, daß weder 'ein Bauer' noch 'der Bauer von Blund-Ketill' den beschriebenen Sachverhalt wiedergeben kann. Gemeint ist 'einer der Bauern von BlundKetill', also die partitive Lesart. Diese Lesart ist, wie im Einleitungskapitel am Beispiel des Russischen gezeigt wurde, die zweite mögliche Lesart, die durch perfektive Verben ausgelöst werden kann. HEUSLER/ RANKE (1922: 31) übersetzen tatsächlich 'einer der Pächter'. Im Gegensatz zu den russischen Beispielen ist der wechselnde Definitheitseffekt hier nicht mit einem Kasuswechsel verbunden. Beim nächsten Beispiel ist das jedoch der Fall. Das Objekt órlausna in ok krefr örlausna steht im Genitiv Plural. Es handelt sich um einen Objektsgenitiv, wie er sich im Deutschen heute nur noch als Relikt eines älteren Gebrauchs findet, z. B. 'er bedarf der Hilfe'. Wieder liegt hier eine Art partitive Bedeutung vor. Gemeint ist im konkreten Kontext, daß einer der Pächter einen Teil der Heureserven als Hilfeleistung einfordert. Am Schluß bleibt noch die Frage zu beantworten, warum nicht in beiden Fällen eine Kasusalternierung zwischen Akkusativ und Genitiv vorliegt. Die Antwort liegt nahe: landseti stellt das Subjekt des Satzes dar. Kasusalternierung kommt in dieser syntaktischen Position nicht vor. (26d) Die partitive Bedeutung von landseti gibt BRAASTEN (1909: 15) in seiner Übersetzung ins Nynorsk mit dei ein leiglending wieder, also mit einer Kombination aus einem definiten und einem indefiniten Element, was die kompositionelle Bedeutung des Partitive genau trifft. Notwendig ist diese im Vergleich mit dem Altisländischen aufwendigere Kodierung durch die Aufgabe des perfektiven Präsens mit PAST-Funktion, das nun regel-

102

Artikel und Aspekt im Altisländischen

mäßig durch das Präteritum ersetzt wird. Interessant ist, daß mit der Aufgabe der Präsensform auch das perfektivierende Tempusadverbiale eins dags überflüssig wird: So ein kveld kom det ein leiglending. Das Verb braucht diesen Perfektivierungsindikator nicht mehr, so daß ein kveld 'eines Abends' als Temporalangabe ausreicht. Dennoch bleibt die Lesart des Verbs durch das nachfolgende Definitheitssignal als perfektiv erhalten. ad 3: Der bestimmte Artikel als Perfektivierer (Z. 216 u. Z. 224) (27)

Peir ala à málit ok tjâ vesçlô sîna, [... ]

(27a) Sie drängten mit Nachdruck in der Sache und verwiesen auf ihre Notlage, [···] (27b) Peir DEM I.NOM.PL.M. Sie

ala drängen:3.PS.PL.PRÄS. drängen/drängten (PF.) machten Druck

à PRÄP. in

mài - it Angelegenheit:AKK.SG.N.-DEF.ART.AKK.SG.N. der Angelegenheit

ok KONJ. und

tjâ zeigen:3.PS.PL.PRÄS. zeigen/zeigten (PF.) verwiesen auf

vesçlô sína, Notlage:AKK.SG.F. POSS.PRON.AKK.SG.F. ihre Notlage,

(27c) Die beiden Verben sind im Kontext eindeutig perfektiv: Der Anspruch der Bittsteller wurde zuvor abgewiesen. Sie aber tragen ihre Forderung nochmals vor. Die perfektive Qualität des ersten Verbs wird hier nur durch den definiten Artikel gesichert; da Possessivpronomen ebenfalls Definitheitseffekte entfalten (vesçlô sína), ist auch tjâ eindeutig als perfektives Verb erkennbar. (28)

Vetrinn gerisk pvi verri sem meir leid à, ok verör erkola jyrir mçrgum (Ζ. 224-225).

Spielräume bei der Interaktion von Artikel und Aspekt

103

(28a) Der Winter stellte sich als umso schlimmer heraus, je mehr er andauerte, und bei den meisten war der Ofen schon ausgegangen [d. h. sie hatten keine Nahrungsmittel mehr]. (28b) Vetr - inn Winter:NOM.SG.M.-DEF.ART.NOM.SG.M. Der Winter

gerisk wird:3.PS.SG.PRÄS. stellte sich heraus

pvi DEM I.DAT.SG.N. umso

verri schlimm:KOMP. schlimmer

sem KONJ. je

leid gehen:3.PS.SG.PRÄT. andauerte,

ά, PRÄP.

verór werden:3.PS.SG.PRÄS.

ok KONJ. und

meir viel:KOMP. mehr

erkola fyrir mçrgum. ohne-Kohle:ADJ. PRÄP. viehDAT.PL.M. bei den meisten war der Ofen schon ausgegangen. (28c) Ungewöhnlich ist der definite Artikel in thematischer Position. Das bloße Substantiv kann sich sowohl auf die Dauer der Jahreszeit als auch auf den begrenzten Zeitraum beziehen. Die Funktion von -inn besteht hier in der Aktualisierung der zweiten Bedeutung. Natürlich könnte man genausogut darauf insistieren, daß ein bestimmter Winter gemeint sei. Interessant an diesem Beispiel ist vor allem, daß Defmitheit und Perfektivität als kategoriale Inhalte nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Das dürfte daran liegen, daß Substantive, die eine Zeitdauer zum Ausdruck bringen, 'untypische Substantive' sind. Dadurch entfaltet sich die spezifisch nominale Erscheinungsweise der "Artikel/Aspekt-Kategorie" weniger ausgeprägt. Daß -inn hier vor allem die Begrenzung des Zeitraums signalisiert und nicht Defmitheit im engen Sinn, zeigt sich daran, daß es ganz unerwartet in thematischer Position realisiert wird. Das darauffolgende Verb hat wieder eindeutig perfektive Bedeutung. Die Bedeutung ist hier nicht, daß die Lage umso schlimmer wurde, je länger sie dauerte, sondern daß der Winter nochmals an Härte zunahm. Zu beachten ist hier, daß das erste Verb im "historischen Präsens" steht,

Artikel und Aspekt im Altisländischen

104

das zweite dagegen im Präteritum. Da eine willkürliche Verwendung der formalen Mittel im Bereich der Grammatik ausgeschlossen ist, muß die formale Differenzierung ein semantisches Korrelat haben. Mit der Verwendung der perfektiven Präsensform ist zuverlässig ein aspektuelles "Shifting" verbunden. Das Beispiel (28) zeigt auch, daß KIPARSKYS Erklärung des "historischen Präsens" als "conjunction reduction"-Phänomen nicht zutreffen kann. Die präteritale Form ist in zwei Präsensformen eingebettet. Die letzte Präsensform erscheint in VI-Position, womit wiederum die perfektive Lesart gesichert ist. ad 4: Verbspitzenstellung als Perfektivierungsindikator (Z. 209-210) (29)

Lidr stund ok kemr gói; pá koma tveir landsetar Hans ok [... ]

(29a) Ein ganzer Zeitraum war schon vergangen und der vorletzte Wintermonat angebrochen; da trafen zwei seiner Pächter ein und [... ] (29b) Lidr stund gehen:3.PS.SG.PRÄS. Zeitspanne:NOM.SG.F. Ein ganzer Zeitraum war schon vergangen

ok KONJ. und

kemr gói; kommen:3.PS.SG.PRÄS. Gói/vorletzter Wintermonat:NOM.SG.F. der vorletzte Wintermonat (war) angebrochen;

j>ä da:ADV. da

koma kommen:3.PS.PL.PRÄS. kommen

landsetar PächtenNOM.PL.M. seiner Pächter

tveir zwei:NOM.M. zwei

hans PERS.PRON.GEN.SG. = POSS.PRON.NOM.PL.

ok [... ] KONJ. und [... ]

(29c) Die Verben lidr und kemr entfalten offenbar allein durch V1 -Stellung das perfektive PAST-Potential der Präsensformen. Möglicherweise unterstützen hier aber stund und gài die perfektive Lesart. Stund bedeutet 'Zeitspanne'. Das Merkmal der Begrenztheit und damit der Perfektivität

Spielräume bei der Interaktion von Artikel und Aspekt

105

ist in dem Lexem also inhärent vorhanden. Dasselbe dürfte für gài als Eigenname für einen Monat zutreffen. Bis jetzt war die VI-Stellung von "historischem Präsens" immer in solchen syntaktischen Umgebungen anzutreffen, in denen durch andere Mittel bereits zuvor eine Monosemierungsleistung erbracht wurde. Beispiel (29) wurde gewählt, weil ein neuer Abschnitt durch Verbspitzenstellung eingeleitet wird. Doch auch hier kann man nicht sicher davon ausgehen, daß die Perfektivierung des Verbs im "historischen Präsens" allein durch VI-Position geleistet wird. Es ist also eine systematische Durchsicht aller Verben erforderlich, die sowohl "historisches Präsens" als auch Verberststellung aufweisen. Eine solche Durchsicht ergibt, daß "historisches Präsens" in VIStellung zwar häufig mit zusätzlichen Perfektivierungsindikatoren (wie z. B. nú) erscheint, jedoch nicht in der Regelhaftigkeit wie bei "historischem Präsens" in Verbzweitposition. Das heißt, daß die VI-Position allein ausreicht, um Perfektivität zu signalisieren. (30)

kannask hann vid styrimann, ok [... ] (Z. 116-117).

(30a) Er machte sich mit dem Schiffsführer bekannt, und [... ] (30b) kannask kennenlernen:3.PS.SG.PRÄS. macht/machte sich bekannt

vid PRÄP. mit

hann PERS.PRON.3.PS.SG.NOM.M. er

styrimann, Schiffsführer:AKK.SG.M. Schiffsführer,

ok [... ] KONJ. und [... ]

(30c) Das Verb kannask folgt auf drei Verben im Präteritum (und V2-Position). Kannask wird durch kein zusätzliches perfektives Temporaladverb monosemiert. Dennoch ist die formale Präsensform als perfektives PAST erkennbar. Faßt man die bisherigen Beobachtungen zusammen, so zeigt sich deutlich, daß das "historische Präsens" immer in einem Perfektivitätskontext erscheint. Offensichtlich ist es auf zusätzliche Perfektivitätsindikatoren angewiesen. Ein solcher Indikator ist auch die Verbspitzenstellung. Nun reicht aber Verbspitzenstellung allein aus, um Verben zu perfektivieren. Die VI-Position erweist sich somit als stärkeres bzw. effektiveres Perfektivierungsmittel. Es läge also

Artikel und Aspekt im Altisländischen

106

nahe, allein dieses Verfahren zur Perfektivierung der Verben zu verwenden. Das "historische Präsens" könnte prinzipiell vollständig durch Verberststellung ersetzt werden. Eine solche Situation liegt in Sagas wie der Egils saga Skalla-Grimssonar vor. Die perfektivierende Kraft der VI-Position wird hier konsequent genutzt: Einige transkribierte Beispielsätze sollen zum Abschluß das Perfektivitätspotential der Verbspitzenstellung illustrieren:" (31)

hennarfekk Ulfr; for hann pá ok til búa sinna (S. 4, Ζ. 2-3).

(31a) Ulfr heiratete sie und holte sie auch auf seinen Hof. (31b) hennar PERS.PRON.3.PS.SG.GEN.F. sie (zur Ehe)

fekk bekommen:3.PS.SG.PRÄT. bekam

Ulfr; UlfnNOM.SG.M. Ulfr;

for fahren:3.PS.SG.PRÄT. brachte

hann PERS.PRON.3.PS.SG.NOM.M. er

pä DEM I.AKK.SG.F. sie

til PRÄP. auf

ok KONJ. auch

búa sinna. Hof:GEN.SG.N. POSS.PRON.GEN.SG.N. seinen Hof.

(32c) Das Verb fara (mitfor als Präteritum) weist sowohl imperfektive als auch perfektive Realisierungen auf: imperfektiv sind beispielsweise die Bedeutungen 'gehen, fahren, reisen, ziehen'. Keine dieser Lesarten kommt hier fur for in VI-Position in Frage. For bringt eine in der Vergangenheit bereits abgeschlossene Handlung zum Ausdruck: 'er

11

Verwendet wurde die Ausgabe von Siguröur NORDAL (= íslenzk fornrit; 2), Reykjavik 1955. Die Beispiele sind dem ersten Kapitel entnommen.

107

Spielräume bei der Interaktion von Artikel und Aspekt

brachte sie auf seinen Hof/er holte sie an seinen Hof/er führte sie heim'. Auch bei folgendem Beispiel ist allein die perfektive Lesart adäquat: (33)

HafdiPórólfr

heim marga dyrgripi ok [... ] (S. 6, Z. 5).

(33a) I>órólfr brachte große Mengen an Kostbarkeiten nachhause und [... ] (33b) Hafdi Pórólfr haben:3.PS.SG.PRÄT. í>órólfr:NOM.SG.M. brachte í>órólfr

marga Menge:AKK.PL.M. große Mengen

heim nachhause:ADV. nachhause

dyrgripi wertvoller Gegenstand:GEN.SG.M. der Kostbarkeiten

ok [... ] KONJ. und [... ]

(33c) Die syntaktische Konstruktion schließt hier eine imperfektive Lesart 'er hatte/er besaß' aus. Man muß sich jedoch klarmachen, daß es nicht den Regelfall darstellt, daß aufgrund syntaktischer Restriktionen eine der beiden aspektuellen Bedeutungen von vornherein ausgeschlossen ist. Die Kategorie des Aspekts stellt ja prinzipiell zwei Perspektiven zur Auswahl. Aus diesem Grund sind vor allem bei isolierten Satzbeispielen, aber auch im Kontext, sowohl die imperfektive als auch die perfektive Lesart zumindest akzeptabel. Der Erzähler hat ja die Freiheit, zwischen den Perspektiven zu wählen. Die von ihm präferierte aspektuelle Perspektive wird schließlich vor allem deshalb formal kenntlich gemacht, weil sie nicht zuverlässig präsupponierbar ist. Diese Wahlfreiheit macht es schwierig 'zu beweisen', daß mit der VI-Position tatsächlich immer die perfektive Lesart korreliert. Folgendes Beispiel soll das verdeutlichen: (34)

Var Pórólfr manna vœnstr ok gerviligastr (S. 5, Ζ. 4);

(34a) Pórólfr stellte sich als einer der stattlichsten und tüchtigsten Männer heraus; (34b) Var sein:3.PS.SG.PRÄT. war/war geworden

Pórólfr I>órólfr:NOM.SG.M. í>órólfr

manna Mann:GEN.PL.M.

108

Artikel und Aspekt im Altisländischen

vœnstr schön:SUPERL./ELAT.NOM.SG.M. einer der stattlichsten

ok KONJ. und

gorviligastr; tüchtig:SUPERL./ELAT.NOM.SG.M. tüchtigsten Männer; (34c) Grammatisch akzeptabel wäre hier auch die imperfektive Lesart von var. 'Èórólfr war einer der stattlichsten und tüchtigsten Männer'. Tatsächlich wählt Kurt SCHIER in seiner Übersetzung der Egils saga ein imperfektives Äquivalent fur var. 'Thorolf war ein überaus stattlicher und tüchtiger Mann'. Betrachtet man den Kontext, so ergibt m. E. die perfektive Lesart mehr Sinn. Das heißt konkret, daß ein höheres Maß an Textkohärenz erreicht wird. Im Satz zuvor wurde nämlich die Entwicklung und das Erwachsenwerden von Èórólfr und seinem Bruder geschildert. Bei der Wahl eines imperfektiven Äquivalents für var ('war') kommt es zu einer Verminderung der Textkohärenz und damit zu einer Art stilistischem Bruch, der aber aufgrund der grammatischen Akzeptabilität der Satzkonstruktion vom Leser toleriert wird. Eigene Probeübersetzungen ergeben, daß sich bei der Berücksichtigung der hier vorgetragenen Aspektualitätsthese ein höheres Maß an Kohäsion und Kohärenz und damit eine Verbesserung der Textqualität ergibt.12 Wenn die Verbspitzenstellung die Perfektivität der Verben sichert, dann dürfte in Sagas mit ausgeprägter Nutzung dieser Technik der definite Artikel keine oder nur eine geringfügige Rolle spielen. Es wurde ja behauptet, daß der postponierte Artikel die Funktion hatte, die perfektive Lesart von "historischem Präsens" zu sichern, die ihrerseits wiederum Definitheitseffekte in bezug auf benachbarte Substantive entfaltet. Tatsächlich finden sich nur marginale Artikelvorkommen in der Egils saga mit relativ peripheren Funktionen:

12

Dieser Effekt müßte zusätzlich von einem in sprachtheoretischer Hinsicht 'neutralen' Übersetzer repliziert werden. Sollten sich dabei 'bessere' Übersetzungen ergeben, d. h. weniger 'exotisch' wirkende Texte, die in ihrer Popularität den isländischen Sagas gleichkämen, dann wäre nicht nur die Plausibilität der hier vorgetragenen Thesen erhöht, sondern auch deren praktische Anwendbarkeit demonstriert.

Zusammenfassung der Ergebnisse und Folgerungen

109

a) Der präponierte Artikel inn erscheint mit Superlativen (sowie Elativen) und Komparativen, ζ. B. inn mesti smiôr 'der beste Handwerker; einer der besten Handwerker'. b) Der postponierte Artikel erscheint in Zeitangaben wie um sumarit 'im Sommer'. Es handelt sich um feste Wendungen, die sich auf einen spezifischen, begrenzten Zeitraum beziehen. Definitheit und Perfektivität sind hier als Merkmale ununterscheidbar. Eine 'bestimmte Zeit' ist immer auch ein begrenzter Zeitraum. Die Neutralisation von Artikel- und Aspektqualität legt den Gedanken nahe, daß hier möglicherweise die Quellkonstruktion für den postponierten Artikel vorliegt. Damit wäre gleichzeitig die Affinität zwischen postponiertem Artikel und "historischem Präsens" in anderen Sagas erklärt. Das "historische Präsens" wird bevorzugt mit perfektiven Zeitangaben als perfektives PAST monosemiert.

3.5 Zusammenfassung der Ergebnisse und Folgerungen Nach der Charakterisierung des Altisländischen als hypodeterminierende Artikelsprache waren zwei neue, scheinbar unlösbare Fragen entstanden: Warum gibt es im Altisländischen neben den beschriebenen regulären Artikeldistributionen zusätzlich und zeitgleich auch Texte, die sozusagen hypohypodeterminierend bzw. weitgehend artikellos sind? Und warum konnte das altisländische Artikelsystem auf der Basis der Aspektthese korrekt prognostiziert werden, obwohl doch Aspektualitätsphänomene bei der Beschreibung der Regularitäten der Artikelverwendung bislang nicht in das Blickfeld gerückt sind? Beide Fragestellungen stehen in einem engeren Zusammenhang als man zunächst vermuten würde. Das dritte Kapitel beschreibt Aspektvorkommen im Altisländischen, die bislang übersehen wurden. Es handelt sich dabei um Aspektualisierungstechniken, die sich nach dem Verlust der einstigen Verbalpräfixe und damit des protogermanischen Aspektsystems verstärkt etabliert hatten. Zeitgleich bildet sich ein Definitheitssystem heraus. Das dritte Kapitel beschreibt gleichsam das Versuchslabor der Sprache. Im Mittelpunkt stehen die strukturellen Lösungsversuche und Umbaumaßnahmen, die nach der Aufgabe der Verbalpräfixe und vor der Etablierung eines Definitheitssystems wirksam wurden. Gerade bei der Beschreibung dieser Restrukturierungsphase ließen sich das Zusammenwirken und das funktionale Jobsharing von Artikel und Aspekt besonders deutlich herausarbeiten.

110

Artikel und Aspekt im Altisländischen

Zunächst wurde in Kapitel 3.1 das bislang unverstandene Phänomen des "historischen Präsens" im Altisländischen als Aspektphänomen eingeordnet. Es handelt sich um ein perfektives PAST-Tempus, das in Opposition zum imperfektiven Präteritum steht. In sprachtypologischer Hinsicht weist das Altisländische somit ein retrospektives Tempussystem auf. Retrospektive Tempussysteme sind dadurch charakterisiert, daß perfektive Präsensformen vergangenen Zeitbezug aufweisen. In Kapitel 3.2 wurde herausgearbeitet, daß sich auffällig viele 'Artikelhäufungen' in der Umgebung von 'Präsenshäufungen' finden. Der definite Artikel verstärkt dabei die aspektuelle Lesart des Verbs. Parallel dazu wurde eine weitere Aspektualisierungstechnik sichtbar gemacht. Die Verberststellung, die in der Literatur bislang unerkannt mit demselben Beschreibungsvokabular charakterisiert wurde wie das "historische Präsens", weist einen deutlichen Aspektualisierungseffekt auf. Aspektuell polyseme, d. h. präfixlose Verben werden in der VI-Position als perfektiv monosemiert. Erklären läßt sich diese Wirkung damit, daß sich VI-Verben in einer Definitheitsumgebung befinden. 'Definite Verben' verhalten sich abweisend gegenüber imperfektiven Lesarten. So werden sie als perfektive Verben erkennbar. Im Mittelpunkt von Kapitel 3.3 stand konsequenterweise die Frage, ob die verschiedenen Perfektivierungstechniken von Artikel und VI-Position im Zusammenspiel mit Aspekt ("historischem Präsens") konkurrierende oder kooperierende Verfahren darstellten. Durch die Gegenüberstellung von früheren quantitativen Untersuchungen zu den Vorkommen von Verberststellung und "historischem Präsens" in verschiedenen Sagatexten konnte eine etwa umgekehrt proportionale Verteilung von Verberststellung und "historischem Präsens" ermittelt werden. Es standen somit im Altisländischen zur gleichen Zeit zwei äquivalente Mittel zur Perfektivierung des Verbs zur Verfügung. Die privilegierte Nutzung einer der beiden Techniken hatte dabei notwendigerweise jeweils die Zurückdrängung der anderen zur Folge. Dieser Effekt läßt sich sowohl innerhalb ein und desselben Textes beobachten als auch im Textvergleich. In Kapitel 3.4 wurde dieses Zusammenspiel äquivalenter funktionaler Mittel an konkreten Beispielen veranschaulicht und ausfuhrlich kommentiert. Dabei wurde sichtbar, daß der postponierte definite Artikel ursprünglich nur ein 'Aspektualisierungshilfsmittel' zur Monosemierung der Präsensformen als perfektives PAST darstellte, und zwar nur eines von vielen weiteren vergleichbaren Mitteln. Es handelte sich dabei primär um perfektive Temporaladverbien (z. B. nú), um 'definite Zeitangaben' (um sumarit) und schließlich um definite Substantive ganz allgemein. In Texten, die vor allem die VI-Positionierung als Aspektualisierungstechnik favorisieren, sind Artikelvorkommen daher selten oder fehlen ganz. Lediglich definite Zeitbestimmungen wie um sumarit weisen

Zusammenfassung der Ergebnisse und Folgerungen

111

in diesen Texten den postponierten Artikel auf. Da man bei solchen begrenzten Zeitadverbialen nicht angeben kann, ob Definitheit oder Perfektivität zum Ausdruck kommt, ist nicht auszuschließen, daß die definiten/perfektiven Zeitadverbiale die Quellkonstruktion fur den postponierten definiten Artikel darstellen. Es lassen sich insgesamt drei Phasen der Artikel/Aspekt-Geschichte im Altisländischen erkennen: Phase I:

Der Verbalaspekt wird morphologisch sichtbar durch Verbalpräfixe symbolisiert. Die Definitheit des Nomens wird dagegen ikonisch über Wortstellungsregularitäten zum Ausdruck gebracht. Durch die Alternierungsmöglichkeit zwischen SVO und SOV konnte auch im Rhema Definitheit ikonisch realisiert werden.

Phase II: Die aspektuellen Verbalpräfixe gehen verloren. Erhalten bleibt jedoch das aspektuelle Bedeutungspotential der Verben, die nun in aspektueller Hinsicht polysem werden. Zur Monosemierung der Verben werden im konkreten Kontext verschiedene Perfektivierungstechniken eingesetzt: a) ein ikonisches Verfahren, das darin besteht, daß das Verb in eine Definitheitsumgebung transportiert wird: Das Mittel der Verberststellung wird (in Alternierung zu V2) zu diesem Zweck konsequent genutzt. Andere Verbserialisierungen, die in Phase I noch möglich waren (SOV), stehen außerhalb dieser Opposition und sind daher in Phase II nicht mehr möglich. b) ein sichtbares morphologisches Verfahren: Die Verben erscheinen im "historischen Präsens" bzw. im perfektiven PAST, das immer schon fur die perfektiven Verben reserviert war. Um Verwechslungen mit dem imperfektiven Präsens auszuschließen, wurden zusätzlich offen sichtbare Perfektivierungsverstärker eingesetzt: perfektive Adverbiale und definite Zeitangaben sowie schließlich der definite Artikel bei Substantiven ganz allgemein. Phase III: Verberststellung und "historisches Präsens" werden aufgegeben. Aufgegeben wird damit die Perfektivierung des Verbs. Durchgesetzt hat sich der definite Artikel, der ursprünglich nur eines von vielen Perfektivierungsmitteln darstellte. So kommt es zur offen sichtbaren Kodierung von nominaler Definitheit, während die Perfektivität der Verben so unsichtbar wird wie es in Phase I ursprünglich die Definitheit des Nomens war.

112

Artikel und Aspekt im Altisländischen

Damit wurde das Zusammenspiel, die Konkurrenz und die Kookkurrenz von Artikel und Aspekt fur das Isländische relativ detailgenau aufgezeigt. Dabei wurde deutlich, daß ein Aspektsystem nicht einfach aufgegeben wird. Es wird vielmehr durch funktional äquivalente Mittel weiterhin kodiert und damit aufrechterhalten. Ein solches funktionales Äquivalent stellt - neben ikonischem Wortstellungsverfahren - der bestimmte Artikel dar. Der Artikel läßt sich daher zurecht als nominaler Aspekt bezeichnen, ebenso wie der Verbalaspekt als verbale Definitheitskategorie einzuordnen ist. Es handelt sich dabei nicht um eine metaphorische Redeweise, sondern vielmehr um die Einsicht, daß wir es bei Artikel und Aspekt mit unterschiedlichen Phänotypen ein und derselben Funktion zu tun haben. Sie realisieren eine Basisfunktion, die als die Funktion der Mereologisierung von Welt durch Sprache bezeichnet wurde. Diese Funktion ist so grundlegend, daß sie noch vor den Wortarten die erste Schicht von Grammatik darstellt. Aus diesem Grund kann sie auch bei den beiden Basiswortarten Substantiv und Verb gleichermaßen erscheinen. Am Schluß soll durch ein Beispiel verdeutlicht werden, daß die hier vorgetragenen sprachhistorischen und sprachtheoretischen Überlegungen keine bloß kunstvollen Spielereien darstellen, sondern sich vielmehr als optische Instrumente ausweisen, die unseren Blick für die Wahrnehmung sprachlicher Strukturen zu schärfen imstande sind. Im Deutschen ist nach dem Verlust des einstigen Aspektsystems das prototypische Aspektualisierungspräfix ga- erhalten geblieben, allerdings in einer Art grammatischem Biotop: ga- (> ge-) charakterisiert heute das Partizip II, das die Abgeschlossenheit der Verbalhandlung zum Ausdruck bringt, ζ. B. in gekommen. Im Englischen ist dieses Verbalpräfix auch im Partizip II13 verschwunden: come. Im Altisländischen und entsprechend im Neuisländischen lautet das Partizip II: kom-inn (M.), kom-in (F.) und kom-it (N.). Es wird zusätzlich das Genus mit zum Ausdruck gebracht. Seltsamerweise hat bislang niemand die Endungen -inn, -in und -it mit dem postponierten Artikel -inn, -in und -it in einen Zusammenhang gebracht. Vermutlich wurde von einer bloß zufälligen Homonymie der Formen ausgegangen. Erkennt man jedoch die Verwandtschaft von Artikel und Aspekt, so läßt sich die Parallelität der Bildungen von ge-kommen und kom-inn nicht mehr so einfach übersehen. Die bisherigen Überlegungen lassen auch Zweifel daran aufkommen, ob es gerechtfertigt ist, in bezug auf Artikel und Aspekt von jeweils unterschiedlichen Parametersetzungen zu sprechen. Es handelt sich hier ja nicht um ein Entweder-

13

Das Partizip II mit ge- oder einem anderen Perfektivierungspräfix war ursprünglich nur mit den perfektiven Verben möglich. Nachdem auch imperfektive Verben ein Partizip II bilden konnten, wurde ge- zum Erkennungszeichen des Partizips. Dort blieb es auch nach dem Verlust des Verbalpräfixes erhalten (allerdings nicht im Englischen).

Zusammenfassung der Ergebnisse und Folgerungen

113

Oder-Phänomen, wie das bei allen Parametersetzungen grundsätzlich der Fall ist. Artikel und Aspekt lassen sich besser als ein und dieselbe Kategorie beschreiben, die sich wie ein grammatisches Chamäleon an ihre jeweilige syntaktische Umgebung anpaßt. Wir haben es also nicht mit zwei verschiedenen 'grammatischen Entitäten' zu tun. Vielmehr liegt Funktionskonstanz vor. Die 'Kategorien' Artikel und Aspekt wären dann nur verschiedene Standbilder ein und derselben grammatischen Entität in Bewegung. Man sollte also die metagrammatischen 'Schnappschüsse' nicht mit der sprachlichen Realität selbst verwechseln. Die Zurückweisung der Parametertheorie bzw. der Rede von unterschiedlichen grammatischen Weichenstellungen (wie noch in der Einleitung formuliert) würde bedeuten, daß die mögliche Varianz bei Sprachwandelprozessen erheblich höher sein müßte als von der Parametertheorie prognostiziert. Nicht wenige, genau determinierte Weichenstellungen bei der Herausbildung bzw. Setzung von Kategorien wären dann zu erwarten, sondern eine Vielzahl von Anpassungen an die jeweils vorliegende sprachliche Realität. Die Behauptung, daß eine Kategorie wie der Artikel plötzlich aus dem Nichts heraus entsteht, die ja sehr gut zur Parametertheorie paßt, würde sich dann lediglich als die Unfähigkeit zur Dingkonstanz bei der Wahrnehmung von Sprache herausstellen. Um in dieser Frage weiterzukommen, soll in einem nächsten Schritt die behauptete "Entstehung des Artikels aus dem Nichts" am Beispiel des Gotischen, der ältesten überlieferten germanischen Sprache, überprüft werden.

4. Artikel und Aspekt im Gotischen 4.1 Fragestellungen und Forschungssituation Der definite Artikel hat sich in allen germanischen Sprachen herausgebildet. Da seine Entstehung im Altisländischen mit dem Zusammenbruch eines ursprünglich intakten Aspektsystems in einen Zusammenhang gebracht wurde (Kapitel 3) und diese Entstehungsursache hier auch für die anderen germanischen Sprachen hypostasiert wird, liegt es nahe, sich dieses Aspektsystem genauer anzusehen. Die einzige uns zur Verfugung stehende Informationsquelle stellt hierzu das Gotische, die älteste überlieferte germanische Sprache, dar. Das Gotische, das uns zum größten Teil nur durch die gotische Bibelübersetzung von Bischof Ulfila (4. Jahrhundert n. Chr.) überliefert ist, weist ein noch weitgehend intaktes Aspektsystem auf, das über Verbalpräfixe ausdrucksseitig realisiert wird. Folgende Fragen sind in unserem Zusammenhang von Bedeutung: 1. Gibt es bereits Auflösungserscheinungen im Aspektsystem des Gotischen? 2. Gibt es Ansätze zu einer Grammatikalisierung des Artikels? 3. In welchem Zusammenhang steht das Gotische mit den anderen germanischen Sprachen? Alle drei Fragen wurden immer wieder kontrovers diskutiert, zwischendurch aber auch wieder aus den Augen verloren, so daß sie bis heute nicht geklärt sind. Die neuesten Publikationen zu diesen Fragestellungen erweisen sich nicht unbedingt als die informiertesten. Es gibt sowohl Arbeiten, die bestreiten, daß das Gotische über ein Aspektsystem verfugt (zuletzt FEUILLET 1995) und solche, die von einer intakten grammatischen Kategorie des Aspekts im Gotischen ausgehen (zusammengefaßt in LEISS 1992: 54-71). Ebenso gibt es Arbeiten, die im Gotischen einen bereits grammatikalisierten Artikel wahrnehmen (SAUVAGEOT 1929); andere stellen kurz und bündig fest: "Gothic had no articles" (W.P. LEHMANN 1994: 28). Doch es gibt keine Arbeit zum Gotischen, die beide Kategorien in einem Zusammenhang betrachtet hätten. So sind tatsächlich alle folgenden Annahmen denkbar, je nachdem wie man die isolierten Ergebnisse der Sekundärliteratur jeweils miteinander rekombiniert. In der Handbuchliteratur findet sich tatsächlich folgende Kombinatorik:

Fragestellungen und Forschungssituation

115

1. Vorhandensein von Artikel und Aspekt (W. KRAUSE 1953/1968) Fehlen sowohl des Artikels als auch des Aspekts ( W . P . LEHMANN 1 9 9 4 ) 3. Vorhandensein von Aspekt, aber nicht des Artikels (STREITBERG 1910)

2.

Die vierte Möglichkeit - Fehlen des Aspekts, aber Vorhandensein des Artikels wird vermutlich niemals formuliert werden. Denn ganz gleich, welche Maßstäbe man für das Vorhandensein einer grammatischen Kategorie in einer Sprache anlegt, eines wird schon bei einer kurzen Konfrontation mit den gotischen Texten wahrnehmbar: der Verbalaspekt ist auf jeden Fall ausgeprägter realisiert als der definite Artikel. Dennoch wurde interessanterweise der Verbalaspekt im Gotischen später beschrieben als der Artikel. Erst seit der Pionierarbeit von STREITBERG 1891 konnten die aspektuellen Verbpaare systematisch und bewußt wahrgenommen werden. Der weniger ausgeprägte Artikel wurde dagegen nicht übersehen, weil es sich um ein aus der eigenen Sprache vertrautes Phänomen handelt. Selbst im Russischen wurde ja der Verbalaspekt lange nicht erkannt! Stattdessen wurde in Anlehnung an die lateinische und deutsche Grammatikschreibung ein kompliziertes Tempussystem mit mehr als 10 Tempora angenommen und gelehrt (vgl. LEISS 1 9 9 2 : 2 8 - 2 9 ) . Die erste Arbeit zum Artikel im Gotischen stammt von BERNHARDT 1874. Sie wurde also noch in Unkenntnis des Vorhandenseins von aspektuellen Verbpaaren im Gotischen verfaßt.1 BERNHARDTS Ergebnisse finden sich später in STREITBERGS Gotischem Elementarbuch, in BEHAGHELS Deutscher Syntax und in SAUVAGEOTS Arbeit zum Artikel im Gotischen zum Teil wörtlich wiederholt, wobei nicht selten der Anschein eigener empirischer Recherche vermittelt wird. Doch SAUVAGEOT wiederholt nur BEHAGHEL, dieser STREITBERG und dieser wiederum die eigentlich empirische Arbeit von BERNHARDT. Und da seit BEHAGHELS Werk kein Handbuch zur Historischen Syntax des Deutschen mehr erschienen ist, werden die sekundären Daten von BEHAGHEL bis heute referiert. Trotz der identischen Übernahmen von BERNHARDTS Daten differieren die jeweiligen Schlußfolgerungen in bezug auf das Vorhandensein eines Artikels im Gotischen erheblich. STREITBERG sieht vorwiegend griechischen Einfluß, obwohl einer von BERNHARDTS ersten Sätzen ist: "Schon eine oberflächliche vergleichung des gotischen textes der Evangelien und Episteln mit dem zu gründe liegenden griechischen ergibt, dass zwischen beiden im gebrauch des

1

BERNHARDT 1870 beschreibt zwar bereits wichtige morphologische und syntaktische Eigenschaften von ga-; der Vergleich mit dem slavischen Verbalaspekt findet sich erst bei STREITBERG 1891.

116

Artikel und Aspekt im Gotischen

artikels ein auffallender unterschied obwaltet" (BERNHARDT 1874: 1). STREITBERG betont vor allem einen anderen Befund von BERNHARDT, nämlich daß dem gotischen Artikel fast immer ein Artikeläquivalent im Griechischen entspricht, während das Umgekehrte nur in 9 oder 10 Fällen der Fall sei. STREITBERG (1910: 186) interpretiert das als Einfluß des Griechischen auf das Gotische und spielt die Ausnahmen herunter; solche seien nicht mit Sicherheit nachzuweisen. Eine solche Schlußfolgerung ergibt sich nicht notwendigerweise. Wenn das Griechische eine hyperdeterminierende Artikelsprache ist, dann kann eine Sprache, die den Artikel gerade erst entwickelt, bei einer Übersetzung tatsächlich jeweils eine Teilmenge der Artikelvorkommen der Quellsprache transponieren, ohne daß von einem Einfluß der Vorlage ausgegangen werden muß. Wesentlich ist ein anderes Kriterium: Ist die Abweichung von der Übersetzungsvorlage zufällig oder regelgeleitet? Im letzteren Fall muß von einem eigenständigen Artikelsystem in der Zielsprache ausgegangen werden. Ein Übersetzer kann sich nicht vornehmen, daß er den generischen Artikel nicht übersetzt, den anaphorischen dagegen schon etc.; er kann es deshalb nicht, weil ein grammatisches Element wie der Artikel automatisiert gesetzt wird. Seine Regularitäten sind Spezialisten auf dem Gebiet bewußt, aber nicht den Sprechern. Tatsächlich sind die Abweichungen vom griechischen Artikelsystem völlig systematischer Natur. Ähnlich heterogen sind die Interpretationen der Aspektdaten, die seit STREITBERGS Pionierarbeit von 1891 erstmalig vollständig erhoben wurden. Die Interpretation der Daten weicht immer wieder von STREITBERGS Aspektthese ab. Obwohl mit Sicherheit STREITBERGS Kenntnis des Gotischen seither nicht wieder erreicht wurde, wird ihm bei der Deutung der Daten regelmäßig widersprochen (zuletzt von FEUILLET 1995).

Vor allem heterogene Terminologien, unterschiedliche Vorstellungen davon, was eine grammatische Kategorie, was Aspekt und was Definitheit ist, sowie die Streuung von wenigen Arbeiten über ein ganzes Jahrhundert mit seinen variablen methodischen und theoretischen Ansätzen sind die Ursache für die Unstimmigkeiten in den Beschreibungen des Gotischen. Man sieht sich also mit fast unüberwindbaren Schwierigkeiten konfrontiert, sobald man die älteste germanische Sprache als Erkenntnisquelle zur Klärung des Verhältnisses von Aspekt und Artikel nutzen will. Dazu kommt die Frage, ob sich der Versuch einer Klärung dieser schwierigen Fragen überhaupt lohnt. Ungeklärt ist nämlich auch die Einordnung des Gotischen innerhalb der germanischen Sprachen. Stellt das Gotische eine Art Vorläufersystem dar, von dem aus ein Protogermanisch rekonstruiert werden kann (so W.P. LEHMANN 1994), oder stellt es vielmehr einen isolierten Zweig innerhalb der germanischen Sprachen dar, der dem Protogermanischen nicht näher steht als ältere Stufen eines nicht mehr überlieferten Nord- oder

Fragestellungen und Forschungssituation

117

Nordwestgermanischen, wie GR0NVIK 1 9 9 8 das annimmt? Mit anderen Worten: Läßt sich in bezug auf Artikel und Aspekt überhaupt eine Entwicklungslogik zwischen dem Gotischen und einer anderen germanischen Sprache herstellen? Zusätzlich muß man sich darüber im klaren sein, daß die vorhandenen gotischen Texte nur eine Momentaufnahme einer Sprache darstellen. Man stelle sich vor, von den altisländischen Sagas wäre nur ein Text überliefert! Wäre es beispielsweise ein Text mit hohen Vorkommen an "historischem Präsens" und wenig ausgeprägter Verberststellung, würde man bei einer Übergeneralisierung der Befunde zu einer unzutreffenden Beschreibung des Altisländischen gelangen. Denn es gab zeitgleich auch Texte mit genau entgegengesetzter Distribution dieser Charakteristika. Im Fall des Gotischen handelt es sich fast ausschließlich um einen solch isolierten Text nur eines Verfassers. Doch die Lage ist noch viel dramatischer. Es handelt sich um eine Interlinearübersetzung eines griechischen Texts. Das heißt, daß sich über die in unserem Zusammenhang so wichtigen Wortstellungsregularitäten nichts oder fast nichts in Erfahrung bringen läßt. Auch in bezug auf die hier untersuchten morphologisch sichtbaren Phänomene des Artikels und des Aspekts wurde, wie bereits erwähnt, ein Einfluß der griechischen Vorlage auf die gotische Übersetzung angenommen, allerdings meist in pauschalisierender Weise und ohne Überprüfung an den Texten. Ein möglicher griechischer Einfluß auf das gotische Aspektsystem wurde schon von RICE 1 9 3 2 vollständig widerlegt. Trotz all der genannten Schwierigkeiten lohnt sich die Berücksichtigung des Gotischen. Auffallend ist nämlich, daß das Gotische fur die Symbolisierung des defmiten Artikels völlig andere Mittel wählt als das Altisländische bzw. das Altnordische. Man kann dieses andere System auch nicht als ephemeres Übergangssystem betrachten, das sich später aufgelöst hätte. Dieses System findet nämlich in vielen anderen germanischen Sprachen seine Fortsetzung: im Altenglischen beispielsweise ebenso wie im Althochdeutschen. Worin besteht nun das grundsätzlich andere am gerade entstehenden Artikelsystem des Gotischen? Betrachtet man die Grammatikalisierungsquelle, erkennt man sofort einen wesentlichen Unterschied. Der definite Artikel entsteht aus dem Element, das in etymologischer und in funktionaler Hinsicht dem altisländischen schwachen Demonstrativum (DEM I) entspricht. Das heißt, es entsteht aus einem Pronomen mit überwiegend anaphorischer Funktion. Solche Pronomen überwiegen in thematischer Umgebung, da sie auf vorerwähnte Information verweisen, die in artikellosen Sprachen rhematisch eingeführt wird. Alles deutet also darauf hin, daß im Gotischen der Artikel sozusagen spiegelverkehrt zum Altisländischen verwendet wurde. Während im Altisländischen nämlich die Indefinitheitsumgebung (das Rhema) gewählt wurde, um dort Definitheit zu signalisieren, wird im Gotischen mit der Nutzung des anaphorischen Pronomens

118

Artikel und Aspekt im Gotischen

bei der Herausbildung des Artikels ganz offensichtlich die Definitheitsregion präferiert. Doch welchen Nutzen hätte der Artikel in einer solchen syntaktischen Region? In thematischer Position ist der definite Artikel redundant. Doch gerade dort erscheint das anaphorische Pronomen am häufigsten. Warum aber entstehen bei der Herausbildung des Artikels solche spiegelverkehrten Lösungen? Bei der Auswertung der Literatur zum Artikel, aber auch zum Aspekt im Gotischen sieht man sich in der Regel mit kontroversen Diskussionen konfrontiert. Doch in einem Punkt herrscht Einigkeit. Das jeweils rekonstruierte Artikelsystem wird fur alle germanischen Sprachen postuliert: Das Artikelsystem sei dasselbe im Altnordischen wie auch im Gotischen, Althochdeutschen, Altenglischen etc., so beispielsweise SAUVAGEOT 1929 und BEHAGHEL 1923. Dabei sieht BEHAGHEL 1923 den Ursprung des Artikels in allen germanischen Sprachen in einem anaphorischen Pronomen. Diese Beschreibung kann auf keinen Fall fur das Altisländische bzw. für das Altnordische ganz allgemein zutreffen, wie in den Kapiteln 2 und 3 herausgearbeitet wurde. SAUVAGEOT wendet sich vehement gegen BEHAGHELS These vom anaphorischen Ursprung des Artikels. Er bezieht das Altnordische mit ein, geht nun aber umgekehrt so weit zu behaupten, in allen germanischen Sprachen entstehe der Artikel grundsätzlich nicht aus dem anaphorischen Gebrauch eines Pronomens. Die unübersehbar deutlichen Beispiele aus dem Althochdeutschen, die BEHAGHEL 1923 im einzelnen anführt, versucht er zu widerlegen, allerdings mit fragwürdiger Argumentation, wie in Kapitel 4.3 nachgezeichnet werden wird. Nun hatte BEHAGHEL 1923 einen Vorteil auf seiner Seite. Er bezog seine Daten zum anaphorischen Gebrauch des Artikels aus den empirischen Arbeiten von JÄGER (einer Dissertation sowie einer weiteren Arbeit). SAUVAGEOT übergeht diese Arbeiten mit dem Hinweis, ihm seien JÄGERS Arbeiten unzugänglich gewesen, wegen BEHAGHELS unzureichender Literaturangaben. Tatsächlich aber sind die Literaturangaben bei BEHAGHEL 1923 vollständig! Ein Zeitschriftentitel ist zwar abgekürzt zitiert; er findet sich aber vollständig aufgelöst im Abkürzungsverzeichnis von BEHAGHELS Buch. Der Grund für diese selbstgewählte Blindheit für die Daten ist, daß SAUVAGEOT 1929 unbedingt ein und dasselbe Artikelsystem für alle germanischen Sprachen nachweisen will. Da er das Gotische als eine Art Vorstufe des Altnordischen betrachtet, im Gotischen aber ein anaphorisches Pronomen die Quelle für den definiten Artikel darstellt, versucht er zu beweisen, daß dieses Pronomen in derselben Funktion wie der altnordische Artikel verwendet wird. Er spricht ihm also die anaphorische Qualität ab. Das muß er auch für das Althochdeutsche tun, das ein Artikelsystem aufweist, das dem des Gotischen in formaler Hinsicht sehr ähnlich ist. Sowohl BEHAGHEL als auch SAUVAGEOT zielten auf eine unifizierende Beschreibung der Entstehung des Artikels für alle germanischen Sprachen. Ein

Fragestellungen und Forschungssituation

119

solches Vorhaben ist nur allzu verständlich. Der Artikel entsteht in allen germanischen Sprachen. Also wird er aus den gleichen Gründen entstehen und sich auf vergleichbare Weise herausgrammatikalisieren. Die Einsicht, daß der definite Artikel im Altisländischen zuerst in Thematischer Position erscheint, und eine bloß rudimentäre Vertrautheit mit den Verhältnissen im Althochdeutschen zwingen einen jedoch dazu, diese so plausible Vermutung zu relativieren. Möglicherweise ist das Motiv für die Entstehung des Artikels dasselbe. Die gewählten Mittel und die damit verbundenen Funktionen könnten aber gegensätzlicher nicht sein! Schon die Wahl des anaphorischen Pronomens im Gotischen und Althochdeutschen ist eine unübersehbare Tatsache. Dieses Pronomen ist auch im Altnordischen vorhanden, wird jedoch nicht zur Grammatikalisierung des Artikels genutzt. Man könnte nun die griechische Vorlage für die Wahl des anaphorischen Pronomens verantwortlich machen, doch dieses Kalkül geht nicht auf. Auch im althochdeutschen Tatian grammatikalisiert sich der definite Artikel aus dem anaphorischen Pronomen heraus, obwohl die Vorlage im artikellosen Latein verfaßt ist. Der Vorläufer des definiten Artikels im Deutschen steht dabei von Anfang an bevorzugt in einer Definitheitsregion, wie noch ausführlich dokumentiert werden wird. Trotz der unterschiedlichen Grammatikalisierungskanäle für den definiten Artikel in den germanischen Sprachen liegt es dennoch nahe, von einer gemeinsamen Ursache für die Entstehung des Artikels auszugehen. Nach KOVARI 1984 entstand der Artikel im Gotischen zur Verstärkung der schwachen Flexion. Diese konnte ursprünglich allein Definitheit zum Ausdruck bringen: "Die schwache Flexion verblaßte allmählich in Bezug auf ihre Ausdruckskraft, und der Artikel wurde als Verstärkung hinzugefügt" (KOVARI 1984: 55). Sollte KOVARI Recht behalten, dann ließe sich für das Entstehen des Artikels nicht einmal eine vergleichbare Ursache ausmachen, da sich für das Altisländische ein solcher Zusammenhang nicht nachweisen läßt. Da das äußerst unwahrscheinlich ist, ist im folgenden ein erneuter Blick auf die Daten unerläßlich. In Kapitel 4.2 wird zunächst das Aspektsystem des Gotischen beschrieben. Dabei werden terminologische Gefechte sowie die Festlegung auf spezifische Aspektschulen vermieden. In erster Linie wird das System beschrieben. Ebenso wird in Kapitel 4.3 verfahren, diesmal in bezug auf die Verwendung des Quellpronomens für den definiten Artikel. Kapitel 4.4 wird auf das Zusammenspiel von Artikel und Aspekt eingehen. In diesem Zusammenhang wird auch der Ursprung des definiten Artikels im Gotischen in Auseinandersetzung mit den Thesen von KOVARI ausführlicher diskutiert. Abschließend werden in Kapitel 4.5 die Ergebnisse zusammengefaßt sowie die offen gebliebenen und neu entstandenen Fragestellungen skizziert.

120

Artikel und Aspekt im Gotischen

4.2 Rekonstruktion des Aspektsystems Seit man im Gotischen das Verbalpräfix ga- als Mittel zur Perfektivierung von Verben entdeckt hat, erscheinen regelmäßig alternierend zwei Sorten von Arbeiten: Die einen betrachten ga- als morphologisches Mittel zur Bildung des Verbalaspekts, die anderen dagegen sprechen dem Gotischen die Kategorie des Aspekts ab. Die perfektivierende Funktion von ga- wird heute nicht mehr bestritten. Diskutiert wird lediglich, ob das Gotische über "genügend" Aspektpaare verfugt, um eine Kategorie des Aspekts anzusetzen. Dabei wird allerdings ein wichtiges Argument regelmäßig vergessen: Es ist nur ein stark begrenztes Textkorpus des Gotischen überliefert! Es ist somit äußerst unwahrscheinlich, daß von jedem Verb im Gotischen beide Aspektpartner belegt sind. Quantitative Untersuchungen sind somit methodisch verfehlt. Man stelle sich vor, man würde bei einem ähnlich begrenzten Textkorpus des Deutschen auszählen, wie oft ein Verb im Plusquamperfekt verwendet wird, um anschließend festzustellen, daß es dieses Tempus im Deutschen nicht geben könne, weil nur eine geringe Anzahl von Verben dieses Tempus zu bilden imstande sei. Niemand würde eine solche Schlußfolgerung ernstnehmen, weil allein die grammatische Kompetenz ausreicht, um zu wissen, daß prinzipiell jedes Verb ein Plusquamperfekt, ein Präteritum etc. bilden kann. Natürlich verfugt niemand über eine automatisierte grammatische Kompetenz des Gotischen. Doch gibt es einige Grundregeln der Textauswertung eines begrenzten Textkorpus wie dem Gotischen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Unterscheidung zwischen dem markierten und dem unmarkierten Pol einer Kategorie. Unmarkierte sprachliche Einheiten sind hochfrequent, markierte Kategorien sind niedrigfrequent. Es ist nicht erforderlich, die Details der Markiertheitstheorie zu kennen, um folgende Maximen zu beachten: 1. Ist der markierte Pol einer Kategorie bei einer sprachlichen Einheit belegt, so ist mit hoher Sicherheit davon auszugehen, daß auch ein unmarkierter kategorialer Partner vorhanden ist. Wäre beispielsweise bei einem begrenzten Textkorpus des Deutschen ein Verb im Plusquamperfekt belegt, das unmarkierte Präsensverb dagegen nicht, so sprechen dennoch systeminterne Gründe dafür anzunehmen, daß das Verb auch im Präsens verwendet werden kann. Dieselbe Überlegung läßt sich auf das Gotische übertragen. Von zwei Verben wie taujan und ga-taujan 'tun', 'machen' stellt jeweils das ga-Verb den markierten Pol der Aspektopposition dar. Ist nun im Gotischen nur das gaVerb überliefert, gibt es keinen Grund anzunehmen, daß das Simplexverb nicht existiert hätte. Ein solches Verb ist beispielsweise ga-hailnan 'gesund

Rekonstruktion des Aspektsystems

121

werden', 'genesen'. Das Simplexverb ist in anderen germanischen Sprachen überliefert (engl, to heal, dt. heilen). Es hat mit Sicherheit auch im Gotischen existiert. 2. Ist nur der unmarkierte Kategorienpol belegt, was den häufigsten Fall darstellt, so ist ebenfalls nicht auszuschließen, daß der markierte Partner in der Sprache ebenfalls existiert. Wäre beispielsweise ein Verb in einem begrenzten Textkorpus nur im Präsens belegt, so spräche dennoch viel dafür, daß es auch in einem der nichtbelegten markierten Tempora erscheinen kann, etwa im Präteritum, Plusquamperfekt oder Futur. Doch ist in diesem Fall grundsätzlich Vorsicht vor Übergeneralisierungen geboten. Bei der Bildung von markierten kategorialen Partnern gibt es in vielen Sprachen Selektionsrestriktionen. Es ist beispielsweise durchaus möglich, daß nicht alle Verben ein periphrastisches Futur bilden können. So können etwa im Russischen nur die imperfektiven Verben in eine solche Futurkonstruktion eintreten. Solche Selektionsrestriktionen lassen sich jedoch schon bei einem relativ kleinen Korpus erkennen, weil sie sich im grammatischen Verhalten aller belegten Verben beobachten lassen. Sehr bald wird dann beispielsweise auch im Gotischen erkennbar, daß nur bei imperfektiven Simplexverben durch gaPräfigierung eine perfektive Aspektbedeutung entsteht. Die wenigen perfektiven Simplexverben, die es im Gotischen gibt, können zwar ebenfalls mit gapräfigiert werden, doch ohne daß sich eine aspektuelle Lesart einstellen würde. So entsteht beispielsweise durch die Präfigierung des perfektiven Simplexverbs qiman 'kommen' mit ga- die Bedeutung 'zusammenkommen'. Das Präfix bringt also die ursprüngliche, konkrete Bedeutung von ga- zum Ausdruck. Bei bereits perfektiven Verben wird der Grammatikalisierungsprozeß von ga- von 'zusammen' zu [+PERFEKTIV] konsequenterweise blockiert. Es wäre sinnlos, ein bereits perfektives Verb nochmals zu perfektivieren. Das Textkorpus des Gotischen ist groß genug, um Selektionsrestriktionen wie ζ. B. die eben genannte Perfektivierungsrestriktion erkennen zu können. Es ist nicht groß genug, um ein Verblexikon des Gotischen aufzustellen. Das wird schon daran drastisch deutlich, daß eine relativ große Anzahl von ga-Verben (knapp 100) ohne Simplexverb belegt ist. Ganz offensichtlich ist das gotische Textkorpus schon zu begrenzt, um genügend semantische Kontexte fur die entsprechenden Simplexverben bereitzustellen. Nur hochfrequent benötigte lexikalische Inhalte wie 'schreiben', 'tun' etc. sind daher als Verbpaar Simplex + ga-Verb belegt: ζ. B. meljan - gameljan 'schreiben', und taujan - gataujan 'tun'.

122

Artikel und Aspekt im Gotischen

Das Präfix ga- ist das einzige der Verbalpräfixe des Gotischen, das nicht zusätzlich als Präposition realisiert ist. Der Grund dafür dürfte der hohe Grammatikalisierungsgrad sein. Die ehemals konkrete Bedeutung 'zusammen' (vgl. das Präfix con- im Lateinischen, das auch als Präposition vorkommt) kommt nur noch bei einer 'Grammatikalisierungsblockade' durch perfektive Simplexverben zum Vorschein. Das Präfix ga- ist somit semantisch weit mehr entleert und in weit höherem Maße als Perfektivierungsmittel grammatikalisiert als es heute irgendeines der russischen Verbalpräfixe ist. Das ausgeprägte perfektive Potential von ga- erklärt auch, warum es im Gotischen kein System der sekundären Imperfektivierung gibt wie im Russischen. Im Russischen sowie in anderen slavischen Sprachen wurden Verbpaare, die sich semantisch zu weit differenziert und auseinanderentwickelt haben, erneut mit einem Aspektpartner versehen, indem sekundär zu dem Präfixverb ein imperfektiver Partner gebildet wurde (und regelmäßig noch wird, da es sich um ein heute produktives Verfahren handelt). Leider wurde beim Vergleich des Gotischen mit den slavischen Sprachen meist das moderne Russische herangezogen. Viel sinnvoller wäre ein Vergleich mit dem Altkirchenslavischen, das dem Gotischen weit näher kommt. Die sekundäre Imperfektivierung ist die Antwort der slavischen Sprachen auf ein sich auflösendes Aspektsystem. In den germanischen Sprachen löst sich dieses System ebenfalls auf. Die Antwort darauf ist die Entstehung des Artikels. Zumindest ließ sich das für das Altisländische plausibel machen. Für das Gotische soll in Kapitel 4.4 dafür der Nachweis geführt werden. Zunächst läßt sich festhalten: • Es gibt im Gotischen Verbpaare: Simplex + ga-Verb, die als Aspektpaare fungieren. • ga- ist in hohem Maß grammatikalisiert. • Jedes Verb kann mit ga- präfigiert werden; das gilt selbst für die geringe Anzahl perfektiver Simplexverben (ca. 4), was für die Ausnahmslosigkeit dieses Prozesses spricht. Die Bildung von perfektiven ga-Verben läßt sich aufgrund des geringen Maßes an Selektionsrestriktionen und der damit einhergehenden hohen Produktivität mit der 'progressive form' des Englischen vergleichen. Auch im Englischen ist eine geringe Anzahl von Verben nicht imstande, einen 'progressive aspect' zu bilden. Doch in einem Punkt besteht keine Vergleichbarkeit: Ga- stellt im Gegensatz zu -ing nur einen von mehreren möglichen Aspektualisierungsmarkern dar. Allerdings ist ga- das prototypische Perfektivierungsmittel. Die anderen Präfixe (z. B. us- und bi-) bringen zusätzlich Aktionsartdifferenzierungen zum Ausdruck. Sehr häufig fungieren sie aber auch als Aspektpartner.

Rekonstruktion des Aspektsystems

123

Im Sinne von V. LEHMANN 1988 werden sie als "periphere Aspektpartner" genutzt. V. LEHMANN hat darauf aufmerksam gemacht, daß man selbst im Russischen nicht von einer starren Zuordnung zwischen imperfektivem Simplexverb und perfektivem Präfixverb als Aspektpartner ausgehen kann. Aufgrund der jeweils unterschiedlichen kontextuellen Bedingungen, unter denen ein perfektiver Aspektpartner erscheint, kann ein semantisch zusätzlich spezifiziertes Aktionsartverb anstelle des neutraleren perfektiven Präfixverbs als Aspektpartner selegiert werden. Der neutrale perfektive Aspektpartner des imperfektiven Simplexverbs Stroit' ist postroit' 'bauen'. In spezifischen semantischen Kontexten kann es jedoch vorkommen, daß die Aktionsartverben sostroit' oder vystroit', die ebenfalls perfektiv sind, aufgrund ihrer zusätzlichen semantischen Spezifizierung 'genau passen' und daher bevorzugt selegiert werden. Dieses Teilsystem des russischen Aspektsystems kommt dem gotischen System sehr nahe. Am besten läßt sich dies am Beispiel eines hochfrequenten Verbs illustrieren, da hier erwartbar die Aspekt- und Aktionsartpartner am besten belegt sind. Das Verb saihvan stellt ein solches häufig belegtes Verb dar. Die folgende Abbildung zeigt, daß dem Simplexverb im Gotischen sowohl ein ga-Verb als auch mehrere Präfixverben gegenüberstehen: 2 Tab. 1 : Zentrale und periphere Aspektpartner eines imperfektiven Simplexverbs im Gotischen

saihvan 'sehen'

2

and-saihvan

'auf etwas sehen, es berücksichtigen'

at-saihvan

'auf etwas sehen'; 'acht geben'

bi-saihvan

'ansehen1; 'umsehen'

ga-saihvan

'erblicken'; 'wahrnehmen'

us-saihvan

'aufblicken'; 'ansehen'

in-saihvan

'hinsehen'; 'ansehen'; 'auf etwas sehen'; 'nach etwas sehen'; 'aufblicken'

pairh-saihvan

'durchschauen'; 'im Spiegel erblicken'

Die präzisen Bedeutungen der einzelnen Präfixe wurden von M. KRAUSE 1987 herausgearbeitet. Sie ermittelt zu jedem der Präfixe jeweils eine Art 'Gesamtbedeutung', d. h. einen gemeinsamen semantischen Nenner. Mit aufgeführt sind die entsprechenden Kontexte, in denen die Präfixverben erscheinen.

124

Artikel und Aspekt im Gotischen

Das Verb ga-saihvan stellt den semantisch neutralsten Aspektpartner dar. Es bedeutet: 'etwas vollständig sehen', d. h. 'ganz sehen', 'mit einem Blick übersehen'; dem entsprechen die Bedeutungen 'erblicken' oder 'wahrnehmen'. Da das Simplexverb saihvan als unmarkiertes Verb semantisch stark polysem ist, kann prinzipiell jedes Aktionsartverb als perfektiver Aspektpol selegiert werden. Je spezifizierter jedoch die Aktionsartverbbedeutung ist, desto seltener fungiert es als perfektives Aspektäquivalent. Relativ zentrale Partner stellen noch die Verben dar, die mit us- und mit bi- präfigiert sind. Fast die Hälfte der belegten Präfixverben (gemeint ist die Anzahl der Wortformen, d. h. der 'token') ist mitga- präfigiert (2516 von 5948 Wortformen). Das zweithäufigste Präfix ist us- mit 905 Belegen (diese und weitere Zahlen finden sich in RICE 1 9 3 2 ) . Die etwas selteneren όζ'-Präfigierungen bilden immer noch eine große Anzahl von Quasi-Synonymen wie ζ. B. domjan/bi-domjan 'beurteilen' und auknan/bi-auknan 'zunehmen, sich mehren'. Die ga-Perfektivierung läßt sich somit als die prototypische Form der Aspektpaarbildung einordnen. Sie ließe sich als das reinste 'grammatische Antonym' zu den imperfektiven Simplexverben bezeichnen. Vor allem für dessen Kernbedeutungen, die ja auch die hochfrequent aktualisierten Bedeutungen sind, stehen die ga-Verben als Aspektpartner zur Verfügung. Die peripheren Bedeutungen eines Simplexverbs, die in spezifischen Kontexten aktualisierbar sind, finden ihre Ergänzung durch die semantisch spezifischeren Aktionsartverben. Man kann also nicht von einer Konkurrenz zwischen ga-Verben und den konkreteren anderen Präfixverben sprechen. Die ga-Präfigierung stellt vor allem ein Mittel zur Neutralisierung von Aktionsartbedeutungen dar. Will man das Aspektsystem des Gotischen adäquat beschreiben, kann man auf keinen Fall so verfahren wie FEUILLET 1 9 9 5 das vorschlägt. FEUILLET würde bei dem eben genannten Beispiel saihvan insgesamt acht Verben zählen: ein Simplexverb, zwei perfektive Verben (ga-saihvan und vermutlich noch ussaihvan). Er würde zu dem Ergebnis kommen müssen, daß nur 25% der Verben reine Aspektpaare bilden können und daß von acht Verben nur zwei tatsächlich perfektiv sind. Zu ebensolchen Durchschnittswerten kommt FEUILLET ( 1 9 9 5 : 1 2 4 - 1 2 5 ) . FEUILLET begründet dieses Verfahren damit, daß er nur diese Verben als perfektiv zähle, die STREITBERG selbst in seinem Wörterbuch seiner Ausgabe der gotischen Bibel als solche gekennzeichnet habe. Da STREITBERG einer der wichtigsten Vertreter der Aspektthese sei, halte er dieses Vorgehen für angemessen (FEUILLET 1 9 9 5 : 1 2 4 , Fußnote 1). Dem ist entgegenzuhalten, daß STREITBERG mit seinen Perfektivitätsangaben im Wörterbuch äußerst zurückhaltend war. STREITBERG ( 1 8 9 1 : 1 0 2 ) war jedoch aufgrund seiner umfassenden Textkenntnis des Gotischen durchaus der Überzeugung, "dass im gotischen kein

Rekonstruktion des Aspektsystems

125

einziges zusammengesetztes verb [Präfixverb] existiert, dem man mit Sicherheit die perfektive actionsart [Aspekt3] abzusprechen berechtigt wäre." Die Zahlenwerte, die sich in FEUILLET 1995 finden, sind zudem aufgrund der Begrenztheit des Korpus nicht aussagekräftig. Ein ähnlich elaboriertes System wie bei saihvan ist nämlich auch bei den niedrigfrequenten und damit weniger gut mit Wortformen belegten Verben anzunehmen. Das soll kurz ausgeführt werden: Bei nahezu allen ga-Verben, die ohne imperfektives Simplexverb überliefert sind, ist ein entsprechendes Simplex in den anderen germanischen Sprachen vorhanden. Die meisten dieser Simplexverben sind in mehreren germanischen Sprachen gleichzeitig vorhanden. So läßt sich zu ga-aggwjan 'bedrängen, einengen' das altisländische engva bzw ongja 'bedrängen, einengen, in Bedrängnis bringen' hinzunotieren. Wer an dieser Stelle einwenden möchte, daß man einem altisländischen Simplexverb nicht 'ansehen' könne, ob ihm ein Simplexverb oder ein Präfixverb zugrundeliegt, sollte bedenken, daß bei den altisländischen Verben in der Regel sowohl die perfektive als auch die imperfektive Aspektbedeutung klar erkennbar erhalten ist, was auf ein ursprünglich vorhandenes Simplexverb hinweist. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, daß entsprechende Simplexverben auch in den germanischen Sprachen vorhanden sind, in denen parallel zu diesen noch lange eine große Anzahl von ga-Verben erhalten blieben. Ganz allgemein läßt sich beim Verlust der ga-Verben ein Nord-Süd-Gefálle feststellen. So gibt es beispielsweise im Mittelhochdeutschen und selbst noch im Frühneuhochdeutschen, je nach Region sogar bis einschließlich des 17. Jahrhunderts, einen ausgeprägten, meist syntaktisch motivierten Gebrauch von gaVerben

(vgl.

BLUMENTHAL

1968

und

HUMMEL

1973),

während

diese

im

Nordgermanischen schon im 7. Jahrhundert geschwunden sind. Zu dem eben genannten Verb ga-aggwjan gibt es im Althochdeutschen noch das etymologisch ihm entsprechende Verbpaar engen 'jemanden beengen, bedrängen' - gi-engen '(jemanden) bedrängen, ängstigen'. Die Simplexverben lassen sich vielfach ohne etymologische Kenntnisse dazunotieren. Leicht ergänzen lassen sich die Daten durch das gotische etymologische Wörterbuch von HOLTHAUSEN 1934 bzw. W. P. LEHMANN 1986. Zur Illustration werden hier einige leicht erkennbare Verbpaare aufgeführt:

ga-andjan

'enden'

nhd. enden

ga-blindjan

'blenden' (blind machen)

nhd. blenden

J

Bei STREITBERG ist "Aktionsart" der Terminus für die Kategorie, die heute als Aspekt bezeichnet wird. Er verwendet diesen Terminus für die Opposition: imperfektiv vs. perfektiv.

126

Artikel und Aspekt im Gotischen

ga-hardjan

'verhärten'

ga-haunjan

'erniedrigen' [ wird als |o : I ausgesprochen]

ahd. herten 'härten, festigen' / gi-herten (mit Refl.pron.) 'standhaft, mutig werden'; nhd. härten ahd. honen 'verhöhnen, beschmutzen, zuschanden machen' / gi-h önen 'verhöhnen, beflecken'; nhd. höhnen

Entsprechende Verbpartner lassen sich u. a. auch im Englischen oder einer anderen germanischen Sprache finden: ga-aiginon

'übervorteilen'; 'in Besitz nehmen'

engl, to own 'besitzen'

Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, um ein gotisches Simplex zu rekonstruieren und plausibel zu machen. Man muß nur die Transparenz der gotischen Wortbildungsregeln nutzen, um zu Simplexverben zu gelangen. Es gibt im Gotischen nämlich viele Verben, die sowohl mit -jan als auch mit -nan von Adjektiven, Substantiven oder starken Verben abgeleitet wurden. Sowohl -janVerben als auch -«an-Verben können zusätzlich mit ga- präfigiert werden. Ist nun nur von einem -jan- (oder nur einem -nan-) Verb mit ga-Präfix ein Simplexverb belegt, so ist mit Sicherheit davon auszugehen, daß es auch vom jeweils anderen Verb ein Simplexverb gibt. Ein Beispiel, das für viele andere steht, soll das verdeutlichen: Das Verb ga-hailnan ist folgendermaßen aufgebaut: gaPRÄFIX PF.

hail(s) gesund:ADJ. gesund

-nan ERGATIV4 werden

'vollständig gesund werden'; 'heilen' (intransitiv; vgl. nhd.: die Wunde heilt) Völlig parallel dazu läßt sich ein -y'aw-Verb bilden:

4

In den Handbüchern steht meist INCHOATIV. Genaugenommen handelt es sich jedoch um ein Intransitivierungssuffix, das - wie das intransitivierende Passiv - eine Geschehenslesart auslöst. Mit Inchoativ oder Futur hat diese werden-Semantik nichts zu tun.

Rekonstruktion des Aspektsystems

127

gahail(s) -jan PRÄFIX gesund:ADJ. KAUSATIV PF. gesund machen 'vollständig gesund machen'; 'heilen' (transitiv; vgl. nhd.: der Arzt heilt jemanden) Belegt sind im Gotischen nun: gahailnan, gahailjan und hailjan, nicht aber *hailnan. hail-jan *

ga-hail-jati ga-hail-nan

Es gibt keinen Grund von einer Lücke im System auszugehen und anzunehmen, daß ga-hail-nan eine Wortbildungsstufe übersprungen hat und direkt zu ga-hailjan gebildet worden wäre. Leider berücksichtigt FEUILLET 1995 solche Überlegungen nicht einmal im Ansatz. Grundsätzlich kann man außerdem aufgrund der hohen Produktivität der ga-Präfigierung bei jedem Simplexverb, für das eines der Präfixverben, aber kein ga-Verb überliefert ist, die Existenz eines gaVerbs annehmen. So gibt es beispielsweise das Verbpaar auknan (impf.) biaubian (pf.), beide in der Bedeutung 'sich mehren, zunehmen'; mit Sicherheit war auch das Verb ga-auknan aktualisierbar. Das zeigt sich sehr deutlich an dem bedeutungsverwandten starken Verb aukan 'sich mehren', zu dem ebenfalls biaukan belegt ist (mit der Bedeutung) 'hinzufugen', außerdem aber auch ga-aukan 'sich mehren, zunehmen'; zusätzlich belegt ist noch das Aktionsartverb anaaukan 'hinzufugen zu'. Man kann natürlich nicht soweit gehen und zu jedem Simplexverb alle denkbaren Aktionsartverben hinzukonstruieren. Aufgrund der Spezifität der Aktionsartbedeutungen ist aufjeden Fall mit Selektionsrestriktionen zu rechnen. Die lexikalische Bedeutung eines Simplexverbs kann durchaus inkompatibel mit einer spezifischen Aktionsartmodifizierung sein. Die ga-Präfigierung ist dagegen semantisch so neutral, daß sie keine Unverträglichkeitsreaktionen auslöst. Jedes Verb, das im Gotischen präfigierbar ist, ist prinzipiell auch perfektivierbar. Die einzige Ausnahme stellen die vier perfektiven Simplexverben des Gotischen dar. Sie sind zwar durch ga- präfigierbar, aber nicht perfektivierbar. Die Redundanz der Markierung fuhrt zur Reaktualisierung der ursprünglichen Verbbedeutung von ga-. Auch dieser Prozeß ist vollständig regelgeleitet, wie folgendes Beispiel zeigt: haftjan 'halten'

ga-haftjan 'heften'

ga-ga-haftjan 'zusammenheften'

128

Artikel und Aspekt im Gotischen

Wird ein bereits perfektives ga-Verb (oder ein anderes perfektives Präfixverb) zusätzlich mit ga- präfigiert, wird aufgrund der Redundanz der Markierung zuverlässig die ursprüngliche, konkrete Lesart von ga- ausgelöst. Solche Reinterpretationsprozesse kommen immer erst dann in Gang, wenn die Ausgangsbedeutung, auf der dieser Prozeß operiert, bereits weitgehend grammatikalisiert ist. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die grammatische Kategorie des Aspekts im Gotischen systematisch realisiert ist, und zwar sowohl in formaler als auch in inhaltlicher und schließlich auch in quantitativer Hinsicht: ga- ist ein stark grammatikalisiertes Präfix, das die kategoriale Bedeutung [+PERFEKTIVITÄT] zum Ausdruck bringt. Dieses Präfix ist hochproduktiv und keinen Selektionsrestriktionen unterworfen. Es ist in so hohem Maß grammatikalisiert, daß bei Konstruktionsverstößen (Perfektivierung von bereits perfektiven Verben) nicht Ungrammatikalität entsteht, sondern ein zuverlässig prognostizierbarer Reinterpretationsprozeß, bei dem die konkrete Bedeutung von gaemeut aktualisiert wird. Daß die gotischen perfektiven Verben im Präteritum in der Regel den griechischen Aorist übersetzen, also ein perfektives Vergangenheitstempus, paßt vollkommen in dieses Bild. Abschließend möchte ich noch auf ein für unseren Zusammenhang interessantes Detail hinweisen. Im griechischen Text des Markus-Evangeliums kommt relativ häufig das "historische Präsens" als Erzähltempus mit vergangenem Zeitbezug vor. In der gotischen Übersetzung erscheint diese formale Präsensform als Präteritum (vgl. SCHARBAU 1957: 83). Betrachtet man die von SCHARBAU genannten Belege genauer, so sieht man, daß es sich ausschließlich um perfektive Verben im Präteritum handelt. Nichts könnte besser die in Kapitel 3 vorgetragene These, daß das altisländische, lateinische und griechische "historische Präsens" ein perfektives PAST-Tempus darstellt, besser bestätigen. 5 Im Gotischen wird der Ausdruck der Perfektivität vollständig durch gaVerben und andere Präfixverben geleistet. Der systematische Ausbau des "historischen Präsens" als Aspektualisierungsmittel wie im Altisländischen findet im Gotischen nicht statt. Das Aspektsystem ist intakt. Doch warum entsteht dann der bestimmte Artikel im Gotischen? Handelt es sich tatsächlich bereits um einen definiten Artikel oder vielmehr um ein anaphorisches

5

Dazu paßt auch, daß dieselben griechischen historischen Präsensformen in der altkirchenslavischen Übersetzung durch den Aorist wiedergegeben wurden, der zudem noch fast ausschließlich von perfektiven Verben gebildet wurde (SCHARBAU 1957: 83).

Die Genese des Artikels

129

Pronomen? Diese Fragen müssen beantwortet sein, bevor die komplexe Interaktion zwischen Aspekt- und Artikel- bzw. Pronominalsystem untersucht werden kann.

4.3 Die Genese des Artikels Ausgangspunkt jeder Untersuchung zur Entstehung des Artikels sollte die Beantwortung der Frage sein, in welcher syntaktischen Umgebung der Artikel zuerst erscheint: Tritt der definite Artikel zunächst in einer Indefinitheitsumgebung auf (wie im Altisländischen) oder in einer Defmitheitsumgebung? Die Untersuchung der Genese des Artikels hat also die Wortstellungsregularitäten der entsprechenden Sprache zu ermitteln. Eben dies ist für das Gotische ausgeschlossen! Man wird auf der Grundlage der überlieferten Texte niemals ermitteln können, ob SOV oder SVO die dominierende Wortstellung war. Noch weniger wird man feststellen können, ob eine Alternierung zwischen beiden Serialisierungen möglich war. Schon die Transkription von wenigen Sätzen vermittelt den Eindruck einer Art gotischen 'Kopie' der Serialisierung des griechischen Texts. Deutlich wird aber auch sofort, daß diese 'Kopie' sich nur auf die Serialisierung der Lexeme, nicht aber auf die grammatischen Kategorien bezieht:6 (1)

[... ] ak ana lukarnastapin, jah liuieip allaim paim in pamma garda. (Mt. 5,15)

(la) [Man zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber,] sondern [man stellt es] auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus.

6

Um nicht den Eindruck zu vermitteln, es handle sich hier um besonders ausgewählte Beispiele, beginnt die Transkription mit dem ersten Satz der gotischen Bibel (in der Edition von STREITBERG). Der Text setzt mitten in einem Satz ein. Vor der Transkription wird zunächst der gotische Text genannt, anschließend zur Orientierung die Obersetzung, die der Jerusalemer Bibel entnommen ist. Bei der Transkription wird in der ersten Zeile der griechische Text aufgeführt. Auf welches griechische Manuskript der Übersetzer Ulfila sich genau bezieht, ist nicht bekannt. Daher stellen einige geringfügige Abweichungen der Serialisierung möglicherweise durchaus eine Wiedergabe des Quelltextes dar.

Artikel und Aspekt im Gotischen

130

(lb) άΑΛ ' ak KONJ. sondern

επί ana PRÄP. auf

τήν

(den)

λυχνίαν, lukarnastapin, LeuchtenDAT.SG.M. Leuchter,

και jah KONJ. und

Λάμπει liuteip leuchten:3.PS.SG.PRÄS. (es) leuchtet

πάςι τοις allaim paim alle:DAT.PL. DEM LDAT.PL. ihnen allen

έν in PRÄP. in

*77 J)amma DEM LDAT.SG.M. dem

OÏKÎÇC. garda. Haus:DAT.SG.M. Haus.

(lc) Allein diesem ersten Nebensatz läßt sich eine Vielzahl von Informationen entnehmen. Die Wortfolge des griechischen Texts wird vollständig eingehalten, mit einer Ausnahme: Sie betrifft den griechischen definiten Artikel τή ν (AKK.SG.F.), der ausgelassen wird. Das fallt umso mehr auf, als sonst eine vollständige Kopie angestrebt wird. Diese Kopie betrifft ganz offensichtlich nur das Lexikon, nicht jedoch die Grammatik. Die griechische Konjunktion επί wird mit einem Substantiv im Akkusativ konstruiert, die entsprechende gotische Präposition ana dagegen mit Dativ. Das griechische Lexem für Leuchter weist feminines Genus auf, die gotische Entsprechung lukarnastapin dagegen maskulines Genus. Man mag nun einwenden, daß doch niemand erwarte, daß bei einer Übersetzung das Genus der Vorlage übernommen werde. Das ist richtig. Interessanter ist aber die Frage, warum wir diese Erwartung nicht haben. Offensichtlich gestehen wir den grammatischen Kategorien wie Genus und Kasus jeweils eine einzelsprachspezifische Autonomie zu, die bei Übersetzungen nicht tangiert wird. Die stark automatisierte und damit unbewußte grammatische Komponente von Sprache läßt sich nicht transponieren. Man könnte hier einwenden, daß doch beispielsweise die Kategorien Numerus und Person entsprechend der Vorlage wiedergegeben werden. Dabei handelt es sich jedoch nur um Übereinstimmungen sprachtypologischer Natur. Die Kategorie Numerus wird sowohl im Griechischen als auch im Gotischen

Die Genese des Artikels

131

auf vergleichbare Weise zum Ausdruck gebracht. Eine Übersetzung des Textes in eine Sprache, die über kein vergleichbares Numerussystem verfügt, sondern über ein System von Numeralklassifikatoren (wie beispielsweise das Chinesische) würde selbst bei einer streng interlinearen Übersetzung auch den Numerus der Quellsprache nicht übernehmen. Übereinstimmungen in bezug auf die verwendeten grammatischen Kategorien können somit auch bei Interlinearübersetzungen nicht als Einfluß der Vorlage gewertet werden. Der Artikel als Symbolisierung der grammatischen Kategorie Definitheit/Indefinitheit muß als solche autonome, durch die Quellsprache nicht beeinflußbare Einheit gewertet werden. Schon dem ersten Satz läßt sich entnehmen, daß der griechische Artikel in der gotischen Übersetzung zum einen entfallen kann, zum anderen aber durchaus eine gotische Entsprechung haben kann: So wird die zweite typische Verwendung des definiten Artikels in diesem Satz έ ν τη o ÏKÎÇC mit in pamma garda übersetzt. Nichts spricht dafür, von einer bloß zufälligen Distribution des gotischen Artikels auszugehen. Man wird also zu bestimmen haben, in welchen Funktionen der Artikel im Gotischen regelhaft ausdrucksseitig realisiert wird. Handelt es sich überhaupt um einen definiten Artikel? Wie bereits erwähnt, spricht W. P. LEHMANN dem Gotischen einen Artikel ab, vermutlich aufgrund der niedrigen Frequenz. Inzwischen wurde jedoch herausgearbeitet, daß nicht die Frequenz, sondern die Regularität der Verwendung das Kriterium fur das Vorhandensein einer grammatischen Kategorie darstellt. Um jedoch das Ergebnis nicht in die Transkriptionen einfließen zu lassen, wurde das entsprechende Pronomen mit DEM I und nicht mit DEF.ART. gekennzeichnet. Auf diese Weise läßt sich außerdem kenntlich machen, daß es sich bei dieser Einheit um das gotische Korrelat zum sogenannten schwachen Demonstrativum (DEM I) im Altnordischen handelt. Die gotischen Entsprechungen zu den altisländischen Formen sä (M.), sú (F.) und pat (N.) sind sa, so und pata. Im Altisländischen haben diese Pronomen anaphorische Funktion. Eine anaphorische Verwendung dieses Pronomens findet sich in Satz (1): allaim paim 'all(en) denen' (Dativ Plural). Das gotische DEM I ist jedoch im Vergleich zum altisländischen DEM I fur weitere Funktionen zuständig. In der vorhin genannten Nominalphrase in pamma garda 'in dem Haus/im Haus' liegt beispielsweise keine anaphorische Verweisung auf ein vorerwähntes Korrelat vor. Dennoch wird DEM I verwendet. Im Gegensatz zum Altisländischen gibt es im Gotischen nämlich keinen postponierten (suffigierten) Artikel. Übereinstimmung herrscht dagegen wieder beim Vergleich der verstärkten

Artikel und Aspekt im Gotischen

Demonstrativpronomen (DEM II), das jeweils durch den formalen Ausbau von DEM I entstanden ist (im Gotischen durch die Hinzufugung der Partikel -(u)h an DEM I. Der Vergleich des Altisländischen mit dem Gotischen macht deutlich, daß wir es im ersten Fall mit einem dreigeteilten, beim Gotischen dagegen mit einem zweigeteilten System zu tun haben: Tab. 2: Altisländisch: postponierter Artikel {-inn, -in, -it) Definitheit

DEMI sâ, su, pat Anaphorik

DEM II siä, siä, petta Demonstrativität

DEMI sa, so, pata Anaphorik Definitheit

DEM II sah, soh,patuh Demonstrativität

Gotisch:

Komplexer gestaltet sich das Bild, wenn man das Personalpronomen der dritten Person mitberücksichtigt. Im Altisländischen ist das Paradigma der dritten Person Neutrum sowie das Pluralparadigma der dritten Person aller Genera defektiv. An seine Stelle tritt das anaphorische Pronomen (DEM I). Diese Ökonomie der Formen überrascht nicht, besteht doch die primäre Funktion der dritten Person in der Herstellung anaphorischer Relationen. Diese Doppelnutzung der Formen von DEM I liegt im Gotischen jedoch nicht vor. Das Paradigma der Personalpronomen besteht aus einem vollständig von DEM I unterschiedenen Formeninventar. Die dritte Person Singular Neutrum lautet beispielsweise nicht pata, sondern ita. Im Gotischen wird DEM I somit weit weniger häufig zur Herstellung anaphorischer Relationen verwendet als im Altisländischen. Man könnte es daher als schwach anaphorisch einordnen; zusätzlich auch als schwach demonstrativ; es wird nämlich durchaus auch zur Übersetzung griechischer Demonstrativpronomen verwendet, außerdem fungiert es als definiter Artikel, wie das Beispiel in pamma garda zeigt.

Die Genese des Artikels

133

Dieser erste Beleg ist noch in anderer Hinsicht aussagekräftig. DEM I erscheint hier nicht vor einem schwach flektierten Substantiv, sondern vor einem stark flektierten Substantiv (i-Stamm). Der Beleg steht in auffalligem Kontrast zu KoVARis Artikelentstehungsthese: "Die genannten Zahlen lassen eindeutig erkennen, daß der Artikel die stärkste Affinität zur schwachen Flexion besitzt. Es ist wohl anzunehmen, daß dieser Umstand mit der Entstehung des Artikels zu tun hat" (KOVARI 1984: 55). Es wird noch zu überprüfen sein, was KOVARI mit den "genannten Zahlen" konkret meint. Auf der kurzen Textstrecke des Gotischen, die bis jetzt betrachtet wurde, sieht die 'grammatische Welt' ganz anders aus: Zwei Substantive wurden verwendet: lukarnastapin (NOM.SG.: lukarnastapa) und garda (NOM.SG.: gards). Das erste Substantiv gehört der schwachen Flexion (η-Stamm) an und sollte somit nach KOVARI eine Affinität zum Artikel aufweisen. Doch gerade hier fehlt der Artikel; gards dagegen wird mit Artikel realisiert, obwohl es stark flektiert wird. Es gibt im Gotischen interessanterweise auch einen Beleg für die schwach flektierte Entsprechung zu gards 'Haus, Hof, nämlich garda 'Viehhof, Hürde'. Gerade das schwach flektierte garda wird jedoch in dem einzigen Beleg, der überliefert ist, ohne Artikel verwendet, obwohl im griechischen Text der definite Artikel durchaus vorhanden ist. Zur Illustration wird der entsprechende Beleg mit Kontext transkribiert, bevor der Weg auf der ursprünglichen Textstrecke fortgesetzt wird: (2)

Amen amen qipa izwis, saei inn ni atgaggip pairh daur in gardan lambe, aksteigip aljapro, sah hliftus istjah waidedja. (J. 10,1)

(2a) Amen, amen, das sage ich euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. (2b)

7

'Αμήν Amen Amen Amen

άμήν amen amen amen

λέγω ύμίν, qipa7 izwis. sprechen (PF.):1.PS.SG.PRÄS. PERS.PRON.DAT.PL. sage ich euch,

qipan ist eines der wenigen perfektiven Simplexverben, die im Gotischen vorkommen.

Artikel und Aspekt im Gotischen

134

O saei REL.PRON.NOM.SG.M. wer

inn ADV. hinein

θύρας daur Tor:AKK.SG.N. Tor

ôià pairh PRÄP. durch

ειςερχομενος at - gaggip PF.-gehen:3 .PS.SG.PRÄS. tritt

εις in PRÄP. in

προβάτων, lambe, Lamm:GEN.PL.N. Lämmer,

a ύλη ν gardan StalhAKK.SG.M. Stall

άναβαίνων steigip steigt:3.PS.SG.PRÄS. steigt (ein)

κλέπτης hliftus DiebrNOM.SG.M. (ein) Dieb

μη ni NEG. nicht

άλλαχόθεν, aljapro, ADV. anderswo,

άλλα ak KONJ. sondern

εκείνος sah DEM.UNFL. der

έςτίν και ληςτήςist jah waidedja. sein:3.PS.SG.PRÄS. KONJ. Räuber:NOM.SG.M. ist und (ein) Räuber.

(2c) Keiner der drei griechischen Artikel wird übersetzt. Die beiden stark flektierten Substantive (daur und lamb) werden ebenso ohne Artikel realisiert wie das schwach flektierte garda. Man kann also K o v A R l s These auch nicht umdrehen und hypostasieren, daß die stark flektierten Substantive den Artikel fordern. Diese Umkehrung der These wäre nicht einmal absurd. KOVARI nimmt an, daß die schwachen Substantive, die ursprünglich inhärent définit waren, als solche nicht mehr erkannt wurden, so daß sie ein zusätzliches Definitheitssignal benötigten. Man könnte umgekehrt ebensogut postulieren, daß die inhärent indefiniten starken Substantive ein solches Definitheitssignal benötigten, während die schwachen (definiten) Substantive als solche noch erkennbar waren.

Die Genese des Artikels

135

Doch ganz gleich, wie man die Thesen dreht und wendet: die Belege sprechen gegen die Relevanz des Kriteriums der schwachen vs. starken Flexion für die Setzung und damit Entstehung des Artikels.8 Auch die These, daß der definite Artikel im Gotischen vor allem vor schwach flektierten Adjektiven erscheint, läßt sich mit unserem ersten Artikelbeleg nicht bestätigen: die Nominalphrase in pamma garda enthält kein Adjektiv. Berücksichtigt man nun, daß der definite Artikel im Gotischen äußerst 'sparsam' gesetzt wird, dann läßt sich ein solcher Beleg mit Artikel nicht als Ausnahme werten. Das Gotische stellt im Gegensatz zum Griechischen eine hypodeterminierende Sprache dar. Das Pronomen DEM I wird in der Funktion des defmiten Artikels nur dann verwendet, wenn er notwendig zur Signalisierung von Definitheit ist. Dagegen wird im hyperdeterminierenden Griechischen der Artikel auch dort gesetzt, wo die Definitheit einer Nominalphrase auch ohne den definiten Artikel erkennbar ist. Der definite Artikel erscheint selbst bei den bereits maximal definiten Eigennamen. (2d) Im Satz kommen im griechischen Text zwei Substantive ohne definiten Artikel vor. Da das Griechische über keinen indefiniten Artikel verfugt, läßt sich diese Nichtsetzung eines Artikels als Indefinitheitssignal deuten. Doch wie läßt sich die Indefinitheit von hliftus (stark flektiert) 'ein Dieb' und waidedja (schwach flektiert) 'ein Räuber' im Gotischen erkennen? Sowohl die drei im Satz vorkommenden definiten als auch die zwei indefiniten Substantive werden ja ohne Artikel verwendet! Die Definitheits-/Indefinitheitsinformation muß also durch andere Kodierungsverfahren als die Artikelsetzung signalisiert werden. Wie gut das Gotische ohne definiten (und indefiniten) Artikel die vom griechischen Text vorgegebenen Definitheitsinformationen transportieren kann, zeigen bereits die ersten (vollständigen) Sätze in der gotischen Bibel: (3)

swa liuhtjai liuhap izwar in andwairpja manne, ei gasaihvaina izwara goda waurstwa jah hauhjaina attan izwarana pana in himinam. (Mt. 5,16)

(3a) So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.

8

KOVARI (1984: 203, Anm. 25) kündigt zwar eine Untersuchung an, welche die Relevanz des Kriteriums schwache/starke Substantivflexion für die Setzung des Artikels plausibel machen soll; es ist jedoch zu vermuten, daß dieses Projekt zwischenzeitlich aufgegeben wurde.

Artikel und Aspekt im Gotischen

οϋτως swa so:ADV. so

φως liuhap Licht:NOM.SG.N. Licht

Ααμ ψά τω liuhtj - ai leuchten-3 .PS. SG.OPT. soll leuchten

εμ npoçdev υμων andwairpja izwar in POSS.PRON.2.PS.PL.NOM.SG.N.ST. PRÄP. Gegenwart:DAT.SG.N. euer in Gegenwart

άνθρώπων, manne, Mensch:GEN.PL.M. Menschen,

υμων izwara POSS.PRON.2.PS.PL.AKK.N.ST. eure

οπως ei KONJ. damit

ΐδωςιν ga - saihvaina PF.-sehen:3.PS.PL.OPT. sie wahrnehmen mögen

καλά goda gut:AKK.PL.N.ST. guten

εργα και waurstwa jah WerkrAKK.PL.N. KONJ. Werke und

δοξάςωςιν hauhjaina hoch machen:3.PS.PL.0PT. sie sollen preisen

πατέρα attan Vater:AKK.SG.M. Vater

υμων izwarana POSS.PRON.2.PS.PL.AKK.SG.M.ST. euren

Die Genese des Artikels

έν in PRÄP. in

τοις

(den)

137

ούρανοΐς. himinam. Himmel:DAT.PL.M. Himmeln.

(3c) Sechs griechischen Artikeln entspricht hier im gotischen Text nur ein Artikel, der außerdem in unüblicher Serialisierung auftritt, nämlich postponiert als Entsprechung des wiederholten griechischen Artikels: τον

πατέρα altan

ύμών izwarana

τον pana

Das Possessivpronomen (2.PS.PL.) kommt in vergleichbarer Konstruktion in diesem Satz ein weiteres Mal vor, wieder ohne Artikel im Gotischen: το

φώς liuha¡}

ύμών izwar

In beiden Fällen sind die Possessivpronomen stark flektiert.9 Die These K O V A R I S , wonach der definite Artikel vor allem dazu verwendet wurde, um schwach flektierte Lexeme in ihrer Bestimmtheitssemantik zu verstärken, kann die hier vorliegende Artikeldistribution nicht erklären. Schwer zu erklären dürfte auch die Verwendung des starken Adjektivs im Nominalsyntagma izwara goda waurstwa zu erklären sein. Stark flektierte Adjektive werden im Gotischen in der Regel ohne definiten Artikel verwendet; schwach flektierte Adjektive, die allgemein als bestimmte (definite) Adjektive charakterisiert werden (vgl. W . K R A U S E 1 9 6 8 : 1 7 3 ) , dagegen mit dem definiten Artikel. Wenn nun KOVARI u. a. mit ihrer These Recht behalten wollen, daß der definite Artikel verwendet wurde, um die inzwischen verblaßte Definitheitsinformation des schwachen Adjektivs zu sichern, müßten sie für das Adjektiv 'gut' in der eben genannten Nominalphrase schwache Flexion (+ definiten Artikel) prognostizieren, da in der entsprechenden griechischen Nominalphrase ebendiese

9

Possessivpronomen werden im Gotischen grundsätzlich nur stark flektiert; dasselbe gilt übrigens auch fiir alls 'all', das in Satz (1) ebenfalls mit DEM I auftritt. Adjektive und das Partizip II können dagegen sowohl stark als auch schwach flektiert werden.

Artikel und Aspekt im Gotischen

138

Definitheitsinformation zum Ausdruck gebracht wird. Stattdessen wird aber die starke Form goda verwendet: ύμών izwara

τά —

καλά goda

εργα waurstwa

Es läßt sich auch nicht einwenden, daß durch das Pronomen izwara die Nominalphrase définit wird; denn wäre das Possessivpronomen tatsächlich inhärent définit, dann ließe sich wiederum nicht erklären, warum es einmal mit, dann wieder ohne definiten Artikel kombiniert werden kann. Vor allem aber bliebe ungeklärt, warum goda dennoch stark flektiert wird. Es ist zwar eine Tatsache, daß Adjektive, sobald sie schwach flektiert auftreten, in der Regel mit dem definiten Artikel erscheinen (vgl. W. KRAUSE 1968: 173), doch ist damit die Kausalität noch nicht erklärt. Die schwache Adjektivdeklination stellt in den germanischen Sprachen ebenfalls eine Neuerung dar. Nach ZALUSKA-STRÖMBERG (1982: 72) entstand die schwache Adjektivflexion in den germanischen Sprachen als Folge der Setzung des bestimmten Artikels. Mit anderen Worten: Die Verwendung des definiten Artikels löst die schwache Flexion des Adjektivs aus, und nicht umgekehrt. KOVARI (1984: 56) meint einen anderen Entwicklungsgang erkennen zu können (die Serialisierung wird im folgenden nicht berücksichtigt, sondern nur die Kombinatorik): 1. schwaches Adjektiv + Substantiv 2. definiter Artikel + schwaches Adjektiv + Substantiv Erst anschließend sei dann der Artikel mit dem Substantiv verbunden worden, und zwar zuerst mit dem schwach flektierten, dann mit dem stark flektierten. 3. definiter Artikel + schwaches Substantiv 4. definiter Artikel + starkes Substantiv Geht man KOVARIS Arbeit systematisch durch, erkennt man bald, daß er die in seiner Einleitung der Arbeit versprochenen Zahlen nicht liefert. Er stellt lediglich fest, daß die Wortarten (!), die schwach und stark flektiert auftreten, bevorzugt mit Artikel auftreten. Bei seiner Auswertung der Syntagmen berücksichtigt er die starke und schwache Flexion nicht einmal. Schließlich gibt er sogar zu, daß starke und schwache Substantive gleichermaßen häufig mit definitem Artikel erscheinen können (KOVARI 1984: 58). Hierbei handelt es sich vermutlich um einen verspäteten Nachtrag, denn die gesamte Argumentation KOVARIS (ein-

Die Genese des Artikels

139

schließlich der bereits erwähnten Fußnote zur vermeintlichen Relevanz dieser Unterscheidung) paßt nicht mit dieser Einsicht zusammen. Die postulierte Entwicklung von (3) > (4) läßt sich somit nicht belegen. Eine Übergeneralisierung auf ein anderes Syntagma findet ja nur statt, wenn das ursprünglichere (das wäre nach KOVARI DEF.ART. + schwaches SUBST.) bereits etabliert ist. Das ist jedoch offensichtlich nicht der Fall. Auch fur den von ihm postulierten Entwicklungsgang von (1) > (2) kann Ko VARI kein empirisch ermitteltes Beweismaterial vorlegen. Es gibt nämlich keine dokumentierte Vorphase (1), in der das schwach flektierte Adjektiv ohne Artikel erscheinen würde. So bleibt von KovARls Entstehungsszenario des Artikels nur noch die Entwicklung von (2) > (3) übrig. Danach entstand zunächst das Syntagma DEF.ART. + ADJ. (SCHW.) + SUBST., erst danach DEF.ART. + SUBST.; KOVARI stützt sich dabei auf seine Auswertung der gotischen Übersetzungen griechischer Syntagmen (KOVARI 1984: 35 und 41): Griechisch ART. + SUBST. wird bei 26,18% der gotischen Entsprechungen ebenfalls mit Artikel verwendet. Griechisch ART. + ADJ. + SUBST. wird im Gotischen zu 63,83% mit Artikel realisiert. Diese Frequenzzahlen lassen jedoch auch eine alternative Deutung zu: Substantive, die durch ein Adjektiv determiniert werden, sind in einem höheren Maß in einem Definitheitskontext verankert als nicht solchermaßen determinierte Substantive. KovARls Deutung ist daher auf keinen Fall zwingend. Es läßt sich festhalten, daß eine definite 'adjektivhaltige' Nominalphrase des Griechischen nicht notwendigerweise mit einem gotischen schwach flektierten (sog. bestimmten) Adjektiv übersetzt wird; etwa ein Drittel wird mit einem stark flektierten Adjektiv und ohne Artikel wiedergegeben. Dennoch handelt es sich bei diesen letzteren Syntagmen um definite Nominalsyntagmen. Alles deutet also darauf hin, daß man einer isolierten Nominalphrase im Gotischen nicht ansehen kann, ob sie inhärent définit oder indefinit ist. Es ist offensichtlich ein erweiterter Kontext erforderlich, um die Definitheitsinformation des Nominalsyntagmas erkennen zu können. Der nächste strukturelle Nachbar jeder Nominalphrase erster Ordnung10 ist das Verb. Offensichtlich müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf den verbalen Bereich ausdehnen, um erkennen zu können,

10

Gemeint sind damit die Ergänzungen (Komplemente) und Angaben (Adjunkte).

140

Artikel und Aspekt im Gotischen

auf welche Weise die Definitheitswerte der Nominalphrasen entstehen und erkennbar werden. Die Neugier muß die Grenzen des Nominalsyntagmas überschreiten, da keiner der bisherigen Erklärungsansätze die Entstehung des Artikels erklären konnte." Bis jetzt wurde bei der Transkription die Verbsemantik nicht beachtet. Bei der Transkription der nächsten Sätze soll die aspektuelle Qualität des Verbs hinsichtlich ihres potentiellen Einflusses auf die Definitheitssemantik der Nominalphrasen besonders berücksichtigt werden. Dabei wird auch deutlich werden, daß die bis jetzt transkribierten Sätze ebenfalls ein hohes Maß an Aspektualität und an aspektuell bewirkten Definitheitseffekten enthalten, die jedoch aufgrund einer auf das Nominalsyntagma beschränkten Optik, so wie sie durch die Forschungstradition zum gotischen Artikel vorgegeben wurde, nicht wahrgenommen werden konnten. Der Blick über den Rand des Nominalsyntagmas soll im nächsten Teilkapitel nachgeholt werden.

4.4 Zur Interaktion von Artikel und Aspekt Die Verwandtschaft der kategorialen Inhalte von Artikel und Aspekt wird in grammatiktheoretischen Arbeiten zunehmend beachtet. Dabei werden immer häufiger auch Beispiele aus dem Gotischen genannt (zuletzt ABRAHAM 1997 und PHILIPPI 1997). Was bislang jedoch fehlt, ist eine umfassende empirische Untersuchung, welche die Interaktion von Artikel und Aspekt systematisch beschreibt. Es gibt allerdings eine Arbeit, bei der die Interaktion zwischen diesen beiden Kategorien gleichsam zwischen den Zeilen thematisiert wird. Gemeint ist die detailgenaue Untersuchung der gotischen Präfixverben durch M. KRAUSE 1987. Obwohl sie die Thematik der Entstehung des Artikels im Gotischen nicht einmal ansatzweise berührt, gibt sie hochrelevante Detailinformation zur Definitheitssemantik des Gotischen. Das ist möglich, weil sich M. KRAUSE bei der Ermittlung der Semantik der gotischen Verben nicht auf die isolierte Beschreibung der Opposition von Simplexverb vs. Präfixverb beschränkt, sondern ausdrücklich die Verbergänzungen (Komplemente) mitberücksichtigt. Damit erweitert sie ihren Untersuchungsradius genau auf den Bereich, der hier als der vielversprechendste eingeschätzt wurde: die Interaktion von Nominalphrasen erster Ordnung mit dem Verb. Bei der präzisen Beschreibung der

11

Daß der Artikel aufgrund des Verlusts von Kasusflexiven entstanden sei, kann nicht emsthaft erwogen werden: Das Griechische verfugt über ein intaktes Kasussystem und zusätzlich über einen definiten Artikel, der außerdem noch hyperdeterminierend verwendet wird.

Zur Interaktion von Artikel und Aspekt

141

kontextuell sich entfaltenden Bedeutungen der gotischen Präfixverben kommt sie zu dem Ergebnis, daß nicht immer die perfektive Semantik die dominante Bedeutung darstellt; vielmehr werde das Verbalereignis (V + NP) als "fait unique, précis" dargestellt, also als lokalisierbares und genau spezifiziertes Faktum. M. KRAUSE (1987: 137-138) ermittelt folgende sich im Kontext entfaltenden Bedeutungen des Verbalpräfixes ga-\ • ga- als Aspektmorphem bringt die Perfektivität des Verbs zum Ausdruck:12 ga- fungiert als Aspektualisierer; • ga- bringt die Abgeschlossenheit ("une nuance d'accompli") zum Ausdruck. Gemeint sind hiermit die temporalen Nebeneffekte von ga-, die vor allem beim Partizip II und bei der Verwendung eines Verbs im PAST wirksam werden; • ga- als Markierung fur ein spezifisches, genau umrissenes Verbalereignis: "GA- marque le fait unique, précis par opposition au fait général (règle, habitude ...)". Diese Opposition ließe sich auch als Bestimmtheit (d. h. Konturiertheit und Lokalisierbarkeit) vs. Unbestimmtheit eines Verbalereignisses bezeichnen. Mit anderen Worten: ga- fungiert als Auslöser von Definitheitseffekten. Die zusätzliche Nutzung von Aspekt für temporale Aufgaben ist bekannt. Seine Nutzung als Definitheitssignal wurde dagegen lange nicht beachtet. M. KRAUSE beschreibt dieses semantische Potential der perfektiven Verben im Gotischen zum ersten Mal sehr genau. Interessant ist eine weitere Beobachtung von M. KRAUSE. Die Markierung ga- kann durchaus auch in Sätzen mit generischer Bedeutung verwendet werden. In diesem Fall wird allein die aspektuelle Grundbedeutung der ga-Verben aktualisiert. In unserem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie häufig im Gotischen mit Definitheitseffekten durch ga-Präfigierung zu rechnen ist. Die Dokumentation von M. KRAUSE gibt in bezug auf diesen Punkt Auskunft. Bei jedem untersuchten Verb wird angegeben, in welchem Maß die oben genannten Bedeutungen jeweils aktualisiert wurden. Vielfach dominiert dabei der Definitheitseffekt (bzw. der Ausdruck eines "fait unique, précis") über die aspektuelle Basis-

12

M. KRAUSE verwendet anstelle des Terminus der Perfektivität den der Punktualität, vermutlich um keine temporalen Konnotationen zu evozieren. Aus ihrer Beschreibung des Präfixes ga- geht klar hervor, daß sie den Terminus Punktualität nicht als Terminus für eine Aktionsartbedeutung verwendet. M. KRAUSE (1987: 134) spricht in diesem Zusammenhang explizit von Aspekt.

Artikel und Aspekt im Gotischen

142

bedeutung. Als Beispiel sei das relativ häufig vorkommende Verb gataujan angeführt: Der Ausdruck der Bestimmtheit des Verbalereignisses wird als die Hauptfunktion von ga- bezeichnet; dabei kann die aspektuelle Bedeutung fast vollständig zurückgedrängt werden. Auch bei der Charakterisierung des Simplexverbs taujan überwiegen Merkmale, wie man sie sonst bei der Beschreibung des indefiniten Artikels gewohnt ist. Es handelt sich um ein nicht näher bestimmtes, d. h. nicht individualisiertes Verbalereignis. Der Definitheitseffekt ist bei perfektiven Präfixverben im Gotischen im Grunde nicht weiter erstaunlich. Der Ausdruck der Totalität einer Verbalsituation erfaßt auch die beteiligten nominalen Ergänzungen. Da die Präfixverben im Gotischen in der Regel transitive Verben sind, tritt dieser Effekt häufig auf und kann so zur Hauptfunktion werden. Das nominale Korrelat zu den Präfixen der Verben dürften bei den Komplementen die 'Postfixe', d. h. Kasusendungen sein. Sowohl die aspektuellen Präfixe als auch die Kasuspostfixe bringen grammatische Relationen zum Ausdruck. Diese müssen deshalb bei der Betrachtung der Definitheitseffekte beim Zusammenspiel von Aspektverb und Komplement später noch miteinbezogen werden. Wir könnten auf der Grundlage von M. KRAUSES Beobachtungen folgendes vorläufiges Zwischenresümee ziehen: Perfektive Verben

+

Imperfektive Verben

+

Komplement: Definitheitseffekt (bei nichtgenerischen Sätzen) Komplement: Indefinitheitseffekt

An dieser Stelle soll eine zusätzliche Beobachtung von M. KRAUSE nicht unterschlagen werden, welche diese klare Zuordnung auf den ersten Blick völlig relativiert, bei näherer Betrachtung jedoch einen wertvollen Hinweis enthält, der die Reflexion über den Zusammenhang von Artikel und Aspekt einen Schritt weiterbringt. M. KRAUSE beobachtet, daß das Simplexverb anstelle eines Präfixverbs treten und ebenfalls ein "fait unique, précis" zum Ausdruck bringen kann, vorausgesetzt der Kontext ist eindeutig genug. Unter bestimmten Bedingungen sind Simplex- und Präfixverben somit grammatisch synonym, was die Auslösung eines Definitheitseffekts betrifft. Betrachtet man die Belege, die M. KRAUSE für Simplexverben mit Definitheitseffekt aufführt, mit einem entsprechend grammatisch geschulten Blick, fällt sofort ein Detail auf, das die etwas vage Aussage über die Kontextbedingungen, die eindeutig sein müssen, näher präzisiert: solche Simplexverben erscheinen bevorzugt zusammen mit einem Definitpronomen, ζ. B. mit DEM I (mit oder ohne Nomen) oder mit einem Pronomen wie saei (Neutrum: patei), das eine Zusammensetzung aus DEM I (sa) und der Partikel ei ist. Das ergibt folgende, modifizierte Zuordnung:

Zur Interaktion von Artikel und Aspekt

Perfektive Verben Imperfektive Verben Imperfektive Verben

+ ± +

143

Komplement (ohne DEM I): Definitheitseffekt Komplement (ohne DEM I): Indefinitheitseffekt Komplement (mit DEM I etc.): Definitheitseffekt

Warum gibt es nun aber gleich zwei Möglichkeiten für die Evozierung von Definitheitseffekten? Auch hier gibt eine nähere Betrachtung der Belege Aufschluß. Es fällt auf, daß vielfach zwischen dem Simplexverb und dem entsprechenden ga-Verb eine leichte semantische Differenzierung im lexikalischen Bereich festzustellen ist: hausjan 'hören' vs. ga-hausjan 'hören', 'vernehmen'. Die entsprechende Opposition entspricht in etwa dem französischen Verbpaar écouter vs. entendre, das M. KRAUSE zur Verdeutlichung der semantischen Differenz zur Verfügung steht. Die Verwendung des Simplexverbs hausjan + DEM I könnte möglicherweise dadurch motiviert sein, daß ein perfektiver Aspektpartner zur Verbbedeutung 'hören' erzeugt werden soll. Die Transkription eines Belegs, den M. KRAUSE (1987: 139) für hausjan, das einem perfektiven ga-hausjan entspricht, anführt, soll den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen bilden: (4) jah fullai waurpun allai modis in pizai swnagogein hausjandans pata. (L. 4,28) (4a) Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut. (4b) κai jah KONJ. und

έπλήςθηςαν fullai waurpun voll:NOM.PL.M.ST. werden:3.PS.SG.PRÄT. voll wurden

πάντες allai all:NOM.PL.M.ST. alle

ςνναγωγη swnagogein Synagoge:DAT.SG.F Synagoge

θυμού έν modis in Zorn:GEN.SG.M. PRÄP. (des) Zorns in

άκοvoντες hausjandans hören:PART.PRÄS. hörend (vernehmend)

ταύτα, pata. DEM I:AKK.SG.N. das.

144

Artikel und Aspekt im Gotischen

(4c) Betrachtet werden soll hier zunächst nur die zweite Verwendung von DEM I. Das Pronomen pata übersetzt ein griechisches Demonstrativpronomen und wird hier anaphorisch verwendet. In der Kombination mit pata entfaltet das Simplexverb hausjan die Semantik von ga-hausjan. Mit anderen Worten: pata ist funktional äquivalent mit ga-. Nun stellt pata in diesem Kontext zwar keinen definiten Artikel dar, sondern ein anaphorisches Pronomen. Doch dieses Pronomen ist völlig formengleich mit dem definiten Artikel. Vieles spricht dafür, daß wir hier einen prototypischen Quellkontext für die Herausgrammatikalisierung des Artikels vor uns haben. In einer Definitheitsumgebung kann ein imperfektives Verb eine perfektive Semantik entfalten; in diesem Beispiel ist das die Bedeutung 'vernehmen' anstelle von 'hören'. Dieser Nebeneffekt ließe sich systematisch nutzen. Folgende Schritte der Grammatikalisierung des Artikels wären dann anzusetzen: A. Ein imperfektives Verb erhält in einer Definitheitsumgebung eine perfektive Lesart (Nebeneffekt). B. Dieser Nebeneffekt wird als Haupteffekt genutzt: Ein imperfektives Verb wird mit einer Definitheitsumgebung versehen, um ihm einen perfektiven Aspektpartner zu verschaffen. Durch die Verwendung des anaphorischen Pronomens sa, so, pata läßt sich ein Definitheitseffekt erzeugen, ohne daß zusätzlich ein lexikalisches Element realisiert werden muß. Da sonst nur perfektive Verben einen Definitheitseffekt auslösen können, erhalten imperfektive Verben mit dem Definitheitssignal sa, so, pata oder einem vergleichbaren Signal Zugang zur perfektiven Lesart. C. Das anaphorische Pronomen wird gegenüber anderen Definitheitssignalen privilegiert und systematisch für die Perfektivierung von imperfektiven Verben eingesetzt. Ein solches zusätzliches Perfektivierungsmittel (neben der ga-Präfigierung) ist allerdings nur dann notwendig, wenn sich das Simplexverb und sein perfektiver Aspektpartner semantisch auseinander entwickelt haben. Sollte die bis hierher skizzierte Entwicklungslogik zutreffen, dann müßten gerade bei semantisch nicht mehr äquivalenten Verbpaaren vermehrt Simplexverben mit einer Definitheitssemantik vorkommen. Genau das hat M . KRAUSE ( 1 9 8 7 : 1 9 8 ) festgestellt. Je größer die Bedeutungsdifferenz zwischen Simplexverb und ga-Verb ist, desto häufiger sind Vorkommen von Simplexverben in einem Definitheitskontext belegt, die ein bestimmtes Ereignis zum Ausdruck bringen. Besonders

Zur Interaktion von Artikel und Aspekt

145

deutlich zeigt sich dieser Effekt bei einem Verbpaar wie bairan 'tragen' und ga-bairan 'gebären' ('vollständig austragen'). D. Die darauf folgende übergeneralisierende Verwendung von DEM I auch mit Simplexverben, die über einen passenden Aspektpartner verfugen, führt dazu, daß nicht mehr die Perfektivitätssemantik, sondern die Definitheitssemantik im Vordergrund steht. Das ist bei Verbpaaren wie taujan 'tun' gataujan 'tun, vollenden' der Fall. Wird das Simplexverb taujan in einem Definitheitskontext verwendet, bringt es primär zum Ausdruck, daß es sich um ein bestimmtes, genau spezifiziertes Verbalereignis handelt. Die Perfektivitätssemantik entfaltet sich dagegen nicht; das Simplexverb behält weiterhin seine Imperfektivitätssemantik bei (Belege bei M. KRAUSE 1987: 156-160). Bei dem hochfrequenten Verbpaar taujan - ga-taujan läßt sich dieser Effekt besonders gut herausarbeiten (M. KRAUSE 1987: 160): ga-taujan: perfektiv, bringt zusätzlich ein bestimmtes Verbalereignis zum Ausdruck (57 Belege). ga-taujan: perfektiv, ohne zusätzlichen Definitheitseffekt: in generischen Aussagen (12 Belege). taujan·. ohne Definitheitssemantik, d. h. es bezieht sich nicht auf ein genau spezifiziertes Verbalereignis (117 Belege). taujan: mit Definitheitskontext und entsprechender Semantik (44 Belege). Von diesen 44 Belegen weisen 42 imperfektive Lesart auf. E. Da im Gotischen die Mehrzahl der Verben noch reguläre Aspektpaare bilden, kommt es bei einer übergeneralisierenden Verwendung dazu, daß DEM I sich systematisch als Definitheitssignal etabliert. Als solches kann es schließlich auch unabhängig von einer strukturellen Anbindung zum Verb fungieren. Ein Beispiel fur diese Verwendung von DEM I findet sich oben in (4b): in pizai swnagogein. Diese Nominalphrase stellt kein Komplement dar. Es steht somit nicht in struktureller Nachbarschaft des Verbs. Dennoch wird pizai hier als bestimmter Artikel und nicht als Demonstrativpronomen genutzt, wie der Vergleich mit dem griechischen Text deutlich macht. Der Grammatikalisierungsprozeß von DEM I ist im Gotischen also schon relativ weit fortgeschritten; das Aspektsystem ist andererseits immer noch weitgehend intakt. Die Fortsetzung der Transkription des Beginns der gotischen Bibel soll die Interaktion von Artikel und Aspekt an einigen konkreten Beispielen illustrieren.

146

(5)

Artikel und Aspekt im Gotischen

ni hugjaip ei qemjau gatairan witop aippau praufetuns; ni qam gatairan, ak usfulljan. (Mt. 5,17)

(5a) Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. (5b) μ ή ni NEG. nicht

νομίςητε hugjaip denken:2.PS.PL.OPT. denkt

καταλΰςαι ga - tairan PF.-zerstören:INF. (zu) zerstören

τούς

(die)

τον

(das)

προφήτας· praufetuns; Prophet:AKK.PL.M. Propheten;

καναλνςαι ga - tairan, PF.-zerstören:INF. (zu) zerstören

άλλα ak KONJ. sondern

ότι ei KONJ. aber

ήλθον qemjau kommen (PF.):l.PS.SG.OPT. ich würde kommen

νομον witop Gesetz:AKK.SG.N. Gesetz

ούκ ni NEG. nicht

η aippau KONJ. oder

ήλθον qam kommen (PF.): 1 .PS.SG.PRÄT. kam (ich)

πληρώςαι. us - fulljan. PF.-voll machen:INF. (zu) erfüllen.

(5c) Das perfektive Verb ga-tairan bewirkt die definite Lesart der Akkusativobjekte witop und praufetuns; ein zusätzliches Definitheitssignal ist nicht erforderlich. (6)

amen auk qipa izwis: undpatei usleipip himins jah airpa,jota ains aippau ains striks ni usleipip af witoda, unte aliata wairpip. (Mt. 5,18)

(6a) Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.

147

Zur Interaktion von Artikel und Aspekt

(6b) άμήν γάρ amen auk Amen KONJ. Amen aber

εως und PRÄP. bis

λέγω ύμίν· qipa izwis: sagen (PF.):l.PS.SG.PRÄS. PERS.PRON.2.PS.PL.DAT. sage (ich) euch:

av patei REL.PRON. daß

παρέλθη us - leipip PF.-vergehen:3.PS.SG.PRÄS. vergeht

ουρανος himins Himmel:NOM.SG.M. Himmel

ιωτα jota Jota:NOM.SG.M. Jota

κεραία striks Strich:NOM.SG.M. Strich

γη. airpa, Erde:NOM.SG.F. Erde,

εν ains ein:NOM.SG.M.ST. ein

οι)

μή ni NEG. nicht

η aippau KONJ. oder

παρέλθη us - leipip PF.-vergehen:3.PS.SG.PRÄS. vergeht

νομού, witoda, Gesetz:DAT.SG.N. Gesetz,

παντα aliata all :NOM. SG.N. ST. alles

μια ains ein:NOM.SG.M.ST. ein

εως αν unte PRÄP. bis

yε νη τα ι. wairpip. werden:3.PS.SG.PRÄS. geschieht.

148

Artikel und Aspekt im Gotischen

(6c) Wieder kommt ein perfektives Verb (usleipip) in Verbindung mit zwei artikellosen definiten Nomen vor. In diesem Fall muß die definite Lesart aber nicht notwendigerweise von der Perfektivität des Verbs ausgelöst werden. Die beiden Substantive stehen im Nominativ und bilden das Subjekt im Satz. Außerdem handelt es sich um Unika, die ohnehin inhärent définit sind. Auf jeden Fall ist die definite Lesart ohne ein zusätzliches grammatisches Signal erkennbar. Das Präfixverb usleipip ist hier als perfektives Verb erkennbar, weil es in der Präsensform zukünftigen Zeitbezug herstellt. Die Perfektivität des Verbs wird hier temporal genutzt. Dasselbe Verb wird nochmals verwendet, diesmal mit einer Präpositionalergänzung im Dativ. In diesem Fall wird zusätzlich zur temporalen Nebenfunktion auch das Definitheitspotential von usleipip aktualisiert: witoda ist auch ohne DEM I als définit erkennbar. Außerdem handelt es sich um ein wiederaufgenommenes, im vorausgehenden Satz (5) vorerwähntes definites Substantiv. Der Hinweis auf vorerwähnte, bekannte Information wird also im Gotischen nicht durch DEM I signalisiert. Das anaphorische Pronomen DEM I wird paradoxerweise nicht in anaphorischer Funktion verwendet. In diesem seltsamen Widerspruch steckt auch die Auflösung der Kontroverse zwischen SAUVAGEOT und BEHAGHEL. SAUVAGEOT lehnte vehement BEHAGHELS Aussage, der definite Artikel habe sich in den germanischen Sprachen aus dem anaphorischen Pronomen entwickelt, ab. Er lehnte dies ab, weil er DEM I im Gotischen gerade nicht anaphorisch verwendet findet. Beide haben Recht: DEM I ist ein anaphorisches Pronomen (BEHAGHEL), aus dem sich im Gotischen ein nichtanaphorischer Artikel herausgrammatikalisiert (SAUVAGEOT). Bei der Durchsicht der zurückliegenden Transkriptionen (Kap. 4.3) kann man jetzt wahrnehmen, daß die hier ermittelten Distributionen bei der Setzung von DEM I als Artikel befolgt werden: • Nach den perfektiven Verben atgaggan (Satz 2) und gasaihvan (3) erscheinen die definiten Objekte (Komplemente) ohne Artikel. Das Adjektiv, das in der Akkusativergänzung zu gasaihvan das Substantiv determiniert, wird außerdem erwartungsgemäß stark dekliniert. Mit KovARls Thesen zur Entstehung des Artikels im Gotischen läßt sich die starke Flexion des Adjektivs in einem Definitheitskontext dagegen nicht erklären. • Nach dem imperfektiven Verb hauhjan (Satz 3) erscheint das definite Komplement mit dem DEM I als definitem Artikel (attan ... pana). Auf den ersten Blick wirkt das imperfektive Verb liuhtjan, auf das eine artikellose

Zur Interaktion von Artikel und Aspekt

149

definite Nominalphrase folgt, wie eine Ausnahme: liuhap 'Licht' wird ohne Artikel verwendet. Doch hier ist zu berücksichtigen, daß das Verbkomplement das Subjekt des Satzes darstellt und damit ohnehin a) inhärent définit und b) dem Einflußbereich der Verbalphrase weitgehend entzogen ist. Die Aspektualitätssemantik ist Teil des infiniten Verbs. Infinite Verben sind bekanntermaßen nicht imstande, Subjekte an sich zu binden. Zusätzlich ist zu erwarten, daß bei einer hypodeterminierenden Sprache wie dem Gotischen Abstrakta wie liuhap ohne Artikel verwendet werden (ebenso wie Eigennamen etc.). • Neben dem Subjekt befinden sich auch die Adjunkte außerhalb des Definitheits-/Indefinitheitsradius der Verbalphrase. 13 Definite Adjunkte erscheinen mit einem eigenen Definitheitssignal, da sie, anders als die Subjekte, nicht inhärent définit sind: vgl. in pamma garda (1). Die hier ermittelten Distributionen beziehen sich alle auf die Nominalphrasen erster Ordnung (Komplemente und Adjunkte). Sie treffen nicht für Nominalphrasen zweiter und weiterer Ordnung (Attribute) zu, wo der definite Artikel noch fehlt.14 Abschließend bleibt zu erwähnen, daß es im Gotischen die im Einleitungskapitel erwähnte Kasusalternierung zwischen Genitiv und Akkusativ gibt: Perfektive Verben können sowohl mit Akkusativ- als auch mit Genitivobjekten realisiert werden. Bei Simplexverben spielt diese Alternierung keine oder eine geringere Rolle. So wird beispielsweise saihvan nur mit Akkusativ, nicht mit dem Genitiv konstruiert. Dagegen erscheinen die perfektiven Präfixverben, die in Opposition zu saihvan stehen (atsaihvan, bisaihvan etc.) mit Kasusalternierung (zu weiteren Beispielen vgl. SCHRÄDER 1874: 43). Der Genitiv hat dabei primär partitive Funktion (vgl. STREITBERG 1910: 175-177). Die Kombination von perfektivem Verb und Genitiv stellt somit ein Äquivalent fur den partitiven Artikel dar. Der adverbale Genitiv kann zwar auch in der Kombination mit einem imperfektiven Verb erscheinen. In diesem Fall ist dann in völliger Übereinstimmung mit den hier ermittelten Distributionen - ein zusätzliches Definitheitssignal vorhanden:

13

Daß sich die Distribution des Artikels in Adjunkten erheblich von denen in Komplementen unterscheiden kann, hat im übereinzelsprachlichen Maßstab HIMMELMANN 1998 herausgearbeitet.

14

Eine Erklärung dafür könnte sein, daß Attribute selbst determinierende Funktion haben. Die Artikelverwendung diirfìe so aufgrund der Hypodetermination des Gotischen blockiert sein.

J50

Artikel und Aspekt im Gotischen

(7) jabai hvas matjip pis hlaibis, libaip in ajukdup; (J. 6,51) (7a) Wer von diesem Brot ißt, wird in Ewigkeit leben; (7b) έάν jabai KONJ. Wenn

έκ

eiç in PRÄP. in

τις hvas INTERROG.PRON.NOM.SG.M. wer

τούτου τοϋ pis DEM I:GEN.SG.M. des

τον

άρτου, hlaibis, Brot:GEN.SG.M. Brotes,

φάγη matjip essen:3.PS.SG.PRÄS. ißt

ζήςεται libaip leben:3.PS.SG.PRÄS. lebt

αιώναajukdup; Ewigkeit:AKK.SG.F. Ewigkeit;

(7c) Durch DEM I wird das imperfektive Verb matjan gleichsam perfektiviert. Zu erwarten wäre eigentlich gamatjip hlaibis anstelle von matjip pis hlaibis. Durch die Übersetzung des griechischen Demonstrativpronomens mit DEM I erhält das imperfektive Verb jedoch die Definitheitssemantik eines perfektiven Verbs. Da ein perfektives Verb aufgrund seines ihm inhärenten Definitheitspotentials nicht mit DEM I kombinierbar ist, wird durch die Setzung von DEM I die Realisierung des Präfixes ga- blockiert. Irrelevant ist in diesem Zusammenhang übrigens die Frage, ob DEM I in diesem Fall den griechischen Artikel oder das Demonstrativpronomen übersetzt. Ausschlaggebend ist einzig, daß das imperfektive Verb in einen Definitheitskontext eingebettet ist. Dieses abschließende Beispiel hat deutlich gemacht, daß im Gotischen DEM I und ga- funktionale Äquivalente darstellen. Dabei ist völlig unwichtig, ob man DEM I nun als Demonstrativpronomen, als definiten Artikel oder als ana-

Zur Interaktion von Artikel und Aspekt

151

phorisches Pronomen einordnet. DEM I ist im Gotischen polyfunktional.15 Es läßt sich als das semantisch leerste Korrelat fiir einen Definitheitskontext bezeichnen, so wie umgekehrt das Präfix ga- das semantisch leerste Korrelat fur perfektive Aspektualität bzw. verbale Definitheit darstellt. DEM I und gastellen im Gotischen somit synonyme grammatische Morpheme dar. Diese grammatische Synonymie bleibt selbst in einer komplexen und stark markierten Konstruktion, wie sie die Signalisierung von Partitivität darstellt, erhalten. Ob man den grammatischen Inhalt dieser funktionalen Äquivalente als nominale oder verbale Definitheit oder als nominalen oder verbalen Aspekt bezeichnet, ist gleichgültig. Wichtig ist, das hat die Untersuchung der Interaktion von Artikel und Aspekt im Gotischen deutlich gemacht, daß man diese Perspektivierungsmittel nicht isoliert voneinander betrachtet, sondern systematisch aufeinander bezieht. Die verschiedenen paraphrasierenden Beschreibungen der grammatischen Effekte von DEM I und ga- mit Termini wie Individualisierbarkeit, Konturiertheit, Einmaligkeit, Lokalisierbarkeit etc., die sich mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen auch in der Artikel- und Aspektforschung finden, lassen sich mit einem terminologischen Oppositionspaar, das von PEIRCE eingeführt wurde, auf den Punkt bringen: Es geht um die Differenzierung von TYPE vs. TOKEN. Der definite Artikel und der perfektive Aspekt beziehen sich auf ein TOKEN eines nominal oder verbal kodierten Ausschnitts der Welt. Der imperfektive Aspekt mit seiner Affinität der Kodierung von sich wiederholenden und wiederkehrenden Ereignissen sowie der indefinite Artikel kodieren dagegen den TYPE, d. h. die Klassenzugehörigkeit des Ausschnitts.16 Mit der Opposition von TYPE vs. TOKEN läßt sich eine unifizierende Beschreibung der phänomenologisch in so vielfältigen und bunten Mustern erscheinenden Nominal- und Verbalkategorien einleiten.

"

16

Ebenso wie der Artikel im Deutschen, der ebenfalls zusätzlich als anaphorisches und als Demonstrativpronomen genutzt wird und im übrigen etymologisch dem gotischen DEM I entspricht. Die Opposition TYPE vs. TOKEN entspricht m. E. GUILLAUMES Unterscheidung von "nom en puissance" vs. "nom en effet". GUILLAUME 1919/1975 sieht die Funktion des Artikels also ebenfalls in einem Zusammenhang mit der Transformation von Bedeutungen in Bezeichnungen.

152

Artikel und Aspekt im Gotischen

4.5 Ergebnis: Artikel und Aspekt als grammatische Synonyme Das System der Determination im nominalen und verbalen Bereich läßt sich für das Gotische folgendermaßen zusammenfassen: Perfektives Verb

+ Komplement (Akkusativ):

Definitheitseffekt (Referenz auf ein TOKEN, das (V + NP) umfaßt)

Perfektives Verb

+ Komplement (Genitiv):

Partitivitätseffekt (Referenz auf einen indefiniten Teilausschnitt eines TOKENs)

Imperfektives Verb + Komplement (Akkusativ):

Indefinitheitseffekt (Referenz auf ein Verbalereignis als TYPE)

Imperfektives Verb + determiniertes Komplement: Definitheitseffekt (Akkusativ)17 (Referenz auf ein TOKEN, das nicht das Verb, aber die NP umfaßt) Imperfektives Verb + determiniertes Komplement: Partitivitätseffekt (Genitiv) (Referenz auf einen indefiniten Teilausschnitt eines TOKENs) Die Verwendung eines imperfektiven Verbs mit dem definiten Artikel oder einem vergleichbaren Definitheitssignal bewirkt, daß dieses Verb sich semantisch und syntaktisch wie ein perfektives Verb mit seinem gesamten Defmitheitspotential verhält. In Verbindung mit einem imperfektiven Verb wird das Pronomen DEM I, auf das jeder Definitheitskontext reduziert werden kann, zu

"

Der Dativ wurde hier nicht berücksichtigt. So viel sei angedeutet: Er bewirkt eine semantische Modifikation des Simplexverbs und ordnet ihm so ein spezifisches Präfixverb, das diese Modifikation zum Ausdruck bringt, als perfektiven Aspektpartner zu. Diese Regularitäten finden sich in der Literatur angedeutet, müßten aber noch genauer untersucht werden.

Ergebnis: Artikel und Aspekt als grammatische Synonyme

153

einem grammatischen Synonym und - auf lange Sicht - zu einem grammatischen Konkurrenten von ga-, In vielen Kontexten, ζ. B. in der Partitivitätskonstruktion, erweisen sich DEM I (sa, sodata) und ga- somit als gegenseitig substituierbar. M. KRAUSE (1987: 209) bringt das auf den Punkt: Was zu erklären ist, ist die Abwesenheit und nicht das Vorhandensein von ga- im Gotischen! Ga-Verben sind im Gotischen eindeutig als perfektive Aspektverben zu klassifizieren. Das zeigt sich beispielsweise besonders deutlich, wenn sie intransitiv verwendet werden. In diesem Fall umfaßt das TOKEN, auf das das Verb referiert, nur (V) und nicht (V + NP). Auf diese Weise entfaltet sich die Perfektivitätssemantik ohne nominalen Einflußbereich: Die Mereologisierung der Welt erfaßt in diesem Fall kein referenzfähiges Objekt, sondern allein den durch das Verb erfaßten Ausschnitt der Welt. Diese Perfektivitätssemantik in Reinform kann sich auch in genetischen Aussagen entfalten, wo ebenfalls nicht referiert wird. Sobald nun aber ein perfektives ga-Verb im Gotischen mit einem Komplement verbunden wird und keine generische Aussage vorliegt, wird dieses als Teil des TOKENs, d. h. als Teil des konkreten Ausschnitts der Welt, auf den referiert wird, dargestellt: der beschriebene Definitheitseffekt entsteht; die Nominalphrase, die als Komplement fungiert, wird définit. Dieser Definitheitseffekt kann in der Partitivitätskonstruktion weiter ausdifferenziert werden. Auch die Indefinitheitssemantik der imperfektiven Simplexverben folgt einem entsprechenden Markiertheitsaufbau. In intransitiver Verwendung bezieht es sich auf ein Verbalereignis, das lediglich "präsent" ist. Es handelt sich um ein noch unklassifiziertes Verbalereignis, das sich weder auf einen TYPE noch auf ein TOKEN bezieht. In Kombination mit einem Komplement entfaltet ein imperfektives Verb seine Indefinitheitssemantik. Die Nominalphrase, die in seinen Einflußbereich gerät, ist nur noch eingeschränkt referenzfähig: es referiert nicht mehr auf ein TOKEN, sondern auf einen TYPE. Nicht DIESER Ausschnitt aus der Realität wird dargestellt, sondern ein SOLCHER. So entsteht zum einen die Indefinitheitssemantik für die Nominalphrase und zum anderen die Verwendung von (V + NP) fur habituelle etc. Verbalereignisse. Erst wenn das Komplement eines imperfektiven Verbs seinen eigenen Definitheitsmarker mitbringt bzw. eine eigene Definitheitsumgebung aufweist, kann es sein referentielles Wirkungspotential entfalten. In diesem Fall lassen sich im Gotischen zwei alternative grammatische Effekte beobachten (Fig. 2). Welche dieser alternierenden Lesarten ausgelöst wird, hängt von der Qualität der aspektuellen Verbpaare ab. Lesart I tritt bei 'guten', d. h. intakten Aspektpaaren wie taujan gataujan 'tun' auf, Lesart II (ausgelöst durch syntaktische Reanalyse) dagegen bei Aspektpaaren, die sich zum Teil semantisch auseinanderentwickelt haben: beran 'tragen' - gaberan 'gebären'. Dieser Reanalyseprozeß wird im Gotischen systematisch genutzt, um fur Verben wie beran neue perfektive Aspektpartner

154

Artikel und Aspekt im Gotischen

zu erzeugen. Beran + DEM I wird so zu einem perfektiven heran, ohne die semantische Sonderentwicklung zur Bedeutung 'gebären'. Fig. 2: IMPF.VERB + DEM I + NP

II IMPF.VERB + (DEM I + NP)

(IMPF.VERB + DEM I) + NP Δ PF.VERB + NP

In diesem Fall behält das Verb seine imperfektive Semantik bei: die NP wird définit. Dargestellt wird ein konkretes, sich im Verlauf befindliches Verbalereignis (V + NP).

Der Definitheitseffekt von DEM I greift auf das Verb über. Auf diese Weise entsteht sekundär ein perfektives Verb (ohne ga-). Was hier vorliegt, ist ein syntaktischer Reanalyseprozeß.

Das Pronomen sa, so, pata fungiert somit zunächst als Perfektivierungsmittel, ebenso wie der definite postponierte Artikel im Altisländischen. In dieser Verwendung (Lesart II) tritt es zunächst auch am häufigsten auf. Es ist quasi ein "Kürzel" für eine Definitheitsumgebung, das als Perfektivitätssignal systematisch genutzt wird. Auf diese Weise wird DEM I zunehmend zum Synonym und damit zum Konkurrenten für ga-, Da grammatische Synonyme zu einem inhomogenen grammatischen System fuhren, liegt es nahe, daß Ausgleichsprozesse eintreten: Das Perfektivitätssignal ga- kann jederzeit durch DEM I ersetzt werden, ohne daß semantische Verluste stattfinden, und zwar - das ist die Ironie der Sprachgeschichte - gerade bei den semantisch intakten Aspektpaaren. Das semantisch leerste, prototypische Aspektpräfix ga- wird als erstes abgebaut, während die anderen aspektuellen Präfixe mit ihren zusätzlich semantischen Modifikationen erhalten bleiben, und zwar im Neuhochdeutschen bis heute. Anders verhält es sich mit den nord- und nordwestgermanischen Sprachen. Im Altisländischen wurden alle aspektuellen Verbalpräfixe systematisch abgebaut, ob nun mit zusätzlicher semantischer Modifikation oder ohne. Im Althochdeutschen bis hin zum Neuhochdeutschen wurden dagegen nur die reinen Aspektpaare abgebaut. Damit verschwanden alle ga-Verben. Erhalten blieb aber konsequenterweise ein kleiner Rest von ga-Verben, die zusätzliche semantische Modifikation aufwiesen (gebären, genießen, glauben etc.) sowie

Ergebnis: Artikel und Aspekt als grammatische Synonyme

155

alle anderen perfektiven Präfixverben. Das Althochdeutsche fuhrt auch im Gegensatz zum Altisländischen das Pronomen DEM I als Artikel fort. Im "präfixlosen" Altisländischen wurde dagegen zusätzlich zu DEM I ein postponierter Artikel grammatikalisiert. Die große Differenz zwischen den postponierenden Artikelsprachen und den "präponierenden" Artikelsprachen hängt offensichtlich mit dem jeweils unterschiedlichen verbliebenen Bestand an Präfixverben zusammen. Daraus ergibt sich ein jeweils anderes Zusammenspiel von Artikel und Aspekt. Was läge jetzt näher als die Untersuchung des Althochdeutschen als Vorstufe für eine Sprache, die sich in bezug auf die Verbalpräfixe weitgehend konservativ verhält, die gleichzeitig aber systematisch aus dem DEM I einen Artikel herausgrammatikalisiert?

5. Artikel und Aspekt im Althochdeutschen 5.1 Zur Problematik des Vergleichs von Althochdeutsch mit Gotisch und Altisländisch 9 7 7 ) sieht keine "Nutzanwendung" des Gotischen für das Althochdeutsche: "Das Gotische leistet als Vergleichsbasis oder Folie für die Sprachgeschichtsschreibung des Dt. überaus wenig - man könnte auch sagen nichts". Auch für einen Vergleich mit dem Altisländischen gebe das Gotische wenig her: "Das Got. ist als Vergleichsmaßstab nicht nur furs Ahd. wenig geeignet, mit den anderen germ. Sprachen verhält es sich nicht besser, selbst dem Altnordischen gegenüber wirkt es - trotz mancher Parallelen - fremd." Der Grund für BINNIGS Zweifel am Erkenntniswert des Gotischen ist, daß das Gotische keine direkte Vorstufe des Deutschen darstellt. Er fugt jedoch hinzu: "lediglich der Zeitrahmen wäre passend" (BINNIG 1998: 978). Vergleicht man den bisher betrachteten grammatischen Ausschnitt des Gotischen mit dem Altisländischen und dem Althochdeutschen, so läßt sich feststellen, daß das System des Althochdeutschen dem des Gotischen näher steht als dem des Altisländischen: BINNIG ( 1 9 9 8 :

• Das Althochdeutsche verfügt über ein reduziertes Inventar an ga-Verben sowie über den vollen Bestand an Präfixverben. • Das Althochdeutsche nimmt ebenfalls das Pronomen DEM I als Ausgang für die Grammatikalisierung des Artikels. • Im Gegensatz dazu entwickelt das Altisländische zusätzlich zu DEM I einen postponierten Artikel; außerdem verliert es nicht nur alle ga- Verben, sondern auch alle anderen Verbalpräfixe. Diese unterschiedlichen Systeme lassen sich nicht als unterschiedliche Entwicklungsphasen einander zuordnen, auch wenn es in chronologischer Hinsicht zunächst stimmig aussehen würde. Das Gotische des 4. bis 6. Jahrhunderts würde dann ein voll entwickeltes Aspektsystem aufweisen, das Althochdeutsche des 7. bis 11. Jahrhunderts ein sich auflösendes Aspektsystem mit erhaltenen Präfixverben; und das Altisländische des 12. bis 13. Jahrhunderts ein vollständig präfixloses System.

Zur Problematik des Vergleichs von Althochdeutsch mit Gotisch und Altisländisch

157

Leider lassen sich solche Zuordnungen nicht vornehmen, wie eine einfache Überlegung deutlich macht: Das Neuhochdeutsche weist bis heute Präfixverben auf, welche Aktionsartdifferenzierungen zum Ausdruck bringen. Lediglich das System der ga-Verben wurde vollständig aufgelöst. Es gibt also erhebliche sprachgeographische Unterschiede, die zusätzlich zu berücksichtigen sind. In diesem Fall ist es das bereits erwähnte Nord-Südgefälle, was den Erhalt der Verbalpräfixe betrifft. An dieser Stelle müßte man sich konsequenterweise die Frage stellen, ob sich denn überhaupt das Althochdeutsche mit dem Neuhochdeutschen in Beziehung setzen läßt. Würde man so strenge Kriterien anlegen wie BINNIG das für das Gotische vorschlägt, so müßte die Antwort lauten: Nein! Das Althochdeutsche ist keine Vorstufe des Neuhochdeutschen. Die beiden "Sprachstufen" lassen sich in sprachgeographischer Hinsicht nicht einander zuordnen.1 "Lediglich der Zeitrahmen wäre passend", könnte man in Anlehnung an BINNIG hinzufugen. Seltsamerweise stört sich aber niemand daran, daß kontinuierlich Vergleiche zwischen dem Althochdeutschen (sowie dem Mittelhochdeutschen) und dem Neuhochdeutschen vorgenommen werden. Die "Nutzanwendung" des Althochdeutschen wird nicht in Zweifel gezogen. Konsequenterweise müßte man aber eine solche skeptische Haltung ebenso einfordern wie beim Gotischen. Das Althochdeutsche ließe sich mit dem heutigen Rheinfränkischen oder Alemannischen vergleichen, nicht aber mit dem Neuhochdeutschen, das keine der uns bekannten "älteren Sprachstufen des Deutschen" fortsetzt. Wir können also streng genommen keine diachronen Schnitte jeweils fur das Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsche ansetzen, um diese dann als unterschiedliche Phasen ein und desselben Sprachwandelprozesses zu begreifen. Es ist also Vorsicht geboten. Jede der hier behandelten germanischen Sprachen ist in einem zeitlichen und räumlichen Koordinatensystem verortet. Es handelt sich um isolierte Sprachsysteme, sozusagen um germanische "Sprachinseln", die zueinander in keiner direkten Beziehung und deswegen auch nicht in einer "kausalen Sprachwandelbeziehung" stehen können. Worin besteht dann die "Nutzanwendung" der Untersuchung dieser räumlich und zeitlich voneinander getrennten sprachlichen Systeme? Worin besteht der Erkenntniswert eines Vergleichs von Systemen, die weder in sprachgeographischer noch in chronologischer Beziehung eine Form von Kontinuität aufweisen, von Systemen, die weder miteinander 'verwandt noch bekannt' sind?

'

Ich selbst verdanke diese Einsicht einem Gespräch mit Peter VON POLENZ in Trier im Sommer 1993.

158

Artikel und Aspekt im Althochdeutschen

OUBOUZAR 1989 versucht diesen Problemen, die bei der Frage nach der Entstehung des Artikels in den germanischen Sprachen auftreten, aus dem Weg zu gehen, indem sie sich auf nur eine Sprache stützt - das Althochdeutsche. Hier legt sie vier diachrone Schnitte an, um diese dann miteinander in Beziehung zu setzen und in "philologischer Kleinarbeit" (OUBOUZAR 1989: 10) Entwicklungstendenzen im System der althochdeutschen Determinative aufzuzeigen. Doch OUBOUZARs Strategie weist dieselben Probleme auf, die soeben angesprochen wurden, nur eben in kleinerem Maßstab. Die vier diachronen Schnitte basieren auf vier Texten: Isidor, Tatian, Otfrid und Notker, die keinesfalls unterschiedliche Stadien ein und desselben Sprachwandelprozesses darstellen können. Sie lassen sich mindestens drei Dialekten zuordnen: dem Ostfränkischen (Isidor und Tatian), dem Rheinfränkischen (Otfrid) und dem Alemannischen (Notker). OUBOUZAR (1989: 42) spricht diese Problematik zwar an, um sie dann aber sogleich auszublenden. Ihre Untersuchung zielt auf eine Beschreibung der "évolution" des Systems der althochdeutschen Determinative ab. Genaugenommen handelt es sich aber um ein Konstrukt eines kausalen Entwicklungsgangs zwischen den vier "Stadien", die nichts anderes darstellen als vier räumlich und zeitlich, d. h. geographisch und diachron voneinander isolierte Sprachsysteme. Man muß sich klarmachen, daß viele der uns heute geläufigen, kausalistisch dargestellten Sprachwandelprozesse auf ähnlich fragwürdigen methodischen Prämissen beruhen. Dieser methodischen Sackgasse kann man entrinnen, wenn man sich verdeutlicht, auf welche Weise man hineingeraten ist. Es ist das Interesse an kausalen Erklärungsschemata, welches methodisch riskante Verfahren in Kauf nimmt. Erst wenn der methodische Übermut zu groß wird, wie etwa bei einem Vergleich zwischen dem Gotischen, Altisländischen und dem Althochdeutschen, wird die "Nutzanwendung" solcher Verfahren bezweifelt. Diese verspätete Form der Skepsis fuhrt uns jedoch nicht weiter. Soll man die verschiedenen überlieferten germanischen Sprachen ignorieren, nur weil sie sich in keine kausale Relation zueinander bringen lassen? Und soll man, damit man überhaupt noch etwas zu untersuchen hat, die Augen schließen und das Althochdeutsche als Vorstufe des Neuhochdeutschen gelten lassen? Ein Ausweg zeigt sich, sobald man sich klarmacht, daß das "Erkennen" kausaler Relationen nicht die einzige Form des Vergleichs von Sprachen darstellt, den man durchführen kann. Aus sprachtypologischer Sicht ist gerade der Vergleich zwischen miteinander räumlich oder zeitlich nicht unmittelbar in Beziehung stehender Sprachen der methodisch sinnvollere und ergiebigere. Auf diese Weise lassen sich Konstanten und Variablen bei der Ausdifferenzierung von sprachlichen Systemen weit besser erkennen als das bei den Sprachen der Fall wäre, die sich gegenseitig areal oder diachron berühren und damit beeinflussen. Und genau darum geht es hier: um die Konstanten und Variablen

Zur Problematik des Vergleichs von Althochdeutsch mit Gotisch und Altisländisch

159

bei der Ausbildung morphologisch sichtbarer Definitheitssysteme, d. h. von Artikelsystemen. Es geht also um die Entdeckung eines Programms, das die Ausbildung von Definitheitssystemen, seien sie nun sichtbar oder unsichtbar kodiert, steuert. Dieses Programm ist mit Sicherheit nicht auf die germanischen Sprachen bzw. auf miteinander verwandte Sprachen beschränkt. Die germanischen Sprachen bilden zwar alle einen definiten Artikel heraus; dasselbe läßt sich jedoch auch bei den romanischen Sprachen beobachten, ohne daß Sprachverwandtschaft oder Sprachkontakt dafür verantwortlich gemacht werden könnten. Die Entfaltung eines nominalen Definitheitsprogramms in Form des Artikels wird ganz offensichtlich von anderen Faktoren gesteuert. Was bei der Untersuchung des Altisländischen und des Gotischen bis jetzt herausgearbeitet werden konnte, war die komplexe Interaktion von verbalen und nominalen Definitheitsindikatoren, d. h. von Aspekt und Artikel, in zusätzlicher Interaktion mit syntaktischen Definitheits- und Indefinitheitsumgebungen. Sowohl der postponierte altisländische Artikel als auch der gotische Artikel wurden zunächst als Aspektualisierer eingesetzt. Sie fungierten in unmittelbarer verbaler Umgebung als Auxiliare zur Monosemierung der Aspektualität der Verben. Sie fungierten ursprünglich nicht primär als Indikatoren einer Nominalphrase, die als définit aufzufassen ist. Maximal definite Nominalphrasen wie Eigennamen, Subjekte oder Objekte in syntaktischen Definitheitsumgebungen wurden weder im Gotischen noch im Altisländischen zusätzlich mit dem Artikel gekennzeichnet. Der Artikel wurde hypodeterminierend verwendet und in syntaktischen Definitheitsumgebungen vermieden. Die nächste Frage, die sich stellt, ist, ob diese beiden charakteristischen Merkmale der Artikelverwendung sich auch im Althochdeutschen finden. Den bisherigen Untersuchungen zum Artikel im Althochdeutschen läßt sich viel zur Frage der Hypo- vs. Hyperdetermination entnehmen. Sie enthalten jedoch kaum verwertbare Hinweise auf die syntaktischen Umgebungen, in denen sie vorkommen. Auch die umfassendste Untersuchung zum Artikel im Althochdeutschen, die es gegenwärtig gibt (OUBOUZAR 1989), hat der Frage nach den thematischen oder rhematischen Vorlieben der Artikeldistribution keine Aufmerksamkeit geschenkt. Wie bereits in den älteren Arbeiten von GRÄF 1905, BELL 1907, WITZIG 1910 und JÄGER 1917 wird vor allem das Ausmaß der Hypodetermination im Vergleich zum hyperdeterminierenden Neuhochdeutschen dokumentiert. Der Grund für diesen Schwerpunkt ist das verbreitete Vorurteil, nur hyperdeterminierende Artikelsprachen seien 'echte' ArtikelSprachen. Hypodeterminierende Systeme wurden (und werden) dagegen als bloße Vorstufen von hyperdeterminierenden Systemen behandelt, die außerdem ein hohes Maß an Irregularität auf ihrem Grammatikalisierungspfad durch den Dschungel der Sprachgeschichte mitzuschleppen hatten. Der Blick auf das

160

Artikel und Aspekt im Althochdeutschen

Altisländische mit seinen parallel existierenden, stark unterschiedlichen Determiniertheitssystemen hat jedoch gezeigt, daß diese Systeme keinesfalls irregulär waren. Es handelt sich um Systeme, die lediglich nach einem uns unvertrauten und daher nicht leicht erkennbaren Muster strukturiert waren. Im folgenden geht es um die Entdeckung des Musters, das im Althochdeutschen wirksam war. Die Fragestellungen, die dabei im Vordergrund stehen, sind: • Vermeidet der Artikel syntaktische Definitheitsumgebungen, so wie das beim Gotischen und Altisländischen der Fall ist, oder handelt es sich vielmehr um eine spiegelverkehrte Distribution wie das JÄGER 1917 und in seiner Nachfolge BEHAGHEL mit der These der anaphorischen Verwendung des Artikels nahelegen? • Wie sehen die Muster der Hypodetermination im Althochdeutschen aus? • Ist Hypodetermination das Kennzeichen von rhematisch verwendeten Artikeln, während Hyperdetermination das Kennzeichen thematischer Artikelverwendung darstellt? • Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem noch rudimentär vorhandenen Aspektsystem und der Verwendung des Artikels? Ausgangspunkt ist die interlineare Übersetzung des lateinischen Tatiantexts einer Evangelienharmonie - ins Althochdeutsche. Obwohl im Lateinischen keine Artikel vorhanden sind, weist die althochdeutsche Übersetzung auf den ersten Blick weit mehr Artikelvorkommen auf als das Gotische, das einem artikelreichen griechischen Text gegenübersteht. Das zeigt nochmals deutlich, daß ein möglicher Einfluß der Vorlage auf die Verwendung des Artikels nicht a priori postuliert werden kann. Sinnvoll ist es, vergleichbare Textstellen der gotischen Bibel und des Tatiantexts miteinander zu konfrontieren. Die entsprechende Vorarbeit der Textzuordnungen hat WITZIG 1910 geleistet. Die von ihr angeführten Belege sind jedoch als Nominalphrasen außerhalb des satzsyntaktischen Kontexte aufgelistet, so daß man ihnen in bezug auf die hier relevanten Definitheitsumgebungen leider nicht die erforderlichen Informationen entnehmen kann. Die Transkription und Analyse von Beispielsätzen soll die Aufmerksamkeit auf die syntaktische Einbettung des definiten Artikels in Definitheits- und Indefinitheitsumgebungen lenken.

Die Distribution des Artikels im Althochdeutschen

161

5.2 Die Distribution des Artikels im Althochdeutschen Das Artikelsystem des Althochdeutschen stellt eine Herausforderung dar. Der Artikel erscheint nämlich bevorzugt in anaphorischer Verwendung und damit in prototypischen syntaktischen Definitheitsumgebungen. Er erscheint also gerade dort, wo der Artikel im Altisländischen und Gotischen gemieden wird. Diese Distribution des Artikels zeigt sich besonders deutlich bei der wiederholten Verwendung ein und desselben Lexems; solche anaphorischen Wiederaufnahmen finden sich bereits auf der ersten Seite der Tatian-Ausgabe2: Tatian 65, 16-18 [= S 1,1] [= J. 1,1: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort] Latein In principio erat uerbum & uerbum erat apud deum. ' & deus erat uerbum,

Althochdeutsch In anaginne uuas uuort Inti thaz uuort uuas mit gote. Inti got seibo uuaz thaz uuort,

Der Artikel wird hier eindeutig in anaphorischer Funktion verwendet. Er signalisiert die Wiederaufnahme bereits eingeführter Information. Da die rhematisch eingeführte neue Information bei der Textprogression bevorzugt in die thematische Position rückt, erscheint der definite Artikel dort, wo er als Definitheitssignal redundant wäre. Der Artikel kann also im Althochdeutschen nicht primär die Funktion haben, Definitheit zu signalisieren. Das wird auch deutlich, wenn man sich die erste Erwähnung von uuort genauer betrachtet, das definite Bedeutung aufweist, aber dennoch ohne defmiten Artikel erscheint, obwohl es sich in Thematischer Position befindet. Statt dessen wird der Artikel bzw. DEM I genutzt, um die Thema-Rhema-Progression zu signalisieren. Das ist erstaunlich, da diese ebensogut durch die Wortstellung zum Ausdruck gebracht werden kann, wie der parallele Text der artikellosen Sprache Latein deutlich zeigt. Betrachtet man diese ersten Zeilen des Althochdeutschen genauer, sieht man sofort, daß die anaphorische Wiederaufnahme eines vorerwähnten Begriffs auch

2

Verwendet wird hier die Tatian-Ausgabe von MASSER. Der Tatiantext beginnt dort auf S. 65. Die weiteren Ziffern beziehen sich auf die Zeilen. Zusätzlich wird die entsprechende Textstelle in der Ausgabe von SIEVERS (S) dazunotiert. Darauf folgt dann die Angabe der Bibelstelle. Wie in den vorausgegangenen Kapiteln wird ein 'beliebiges' Textstück analysiert. Es wird also Wert darauf gelegt, daß es sich nicht um 'ausgesuchte' Beispielsätze handelt.

162

Artikel und Aspekt im Althochdeutschen

blockiert werden kann: Das rhematisch erscheinende 'Gott' (gote, DAT.SG.) wird thematisch wiederaufgenommen (got, NOM.SG.), ohne daß der Artikel hier erscheinen würde. Diese Blockierung gilt fìir alle Appellativa, die eindeutig die Eigenschaft eines Eigennamens aufweisen, und zwar in dem Sinn, daß die Differenzierung zwischen Bedeutung und Bezeichnung neutralisiert ist. Aufgrund der monotheistischen Gottesvorstellung enthält die Klasse des Appellativums got nur ein Exemplar. Der TYPE bzw. Klassenbegriff got wird also nur durch ein einziges TOKEN bzw. 'Exemplar' repräsentiert. Eine Einschränkung der Extension des Appellativums durch den Artikel ist somit nicht erforderlich. Wie die Eigennamen stehen solche Unika außerhalb der Artikelopposition. Ein weiteres Beispiel aus der ersten Textseite des Tatian soll verdeutlichen, wie regulär der Artikel bzw. DEM I bei der anaphorischen Wiederaufnahme gesetzt wurde: Tatian 65, 24-28 [= S 1,3-4] [= J. 1,4-5: In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfaßt.] Latein In ipso uita erat; & uita erat lux hominum. & lux In tenebris luc&. ' & tenebrae earn non comprehenderunt.,

Althochdeutsch thaz uuas In imo lib; Inti thaz lib uuas lioht manno. Inti thaz lioht In finstarnessin liuhta. ' intißnstarnessi thaz nibigriffun,

Wieder steht dem rhematischen artikellosen lib ein thematisches thaz lib gegenüber. Der Artikel hat eindeutig anaphorische Funktion. Dasselbe gilt für das rhematisch erscheinende lioht, das anaphorisch mit thaz lioht - wiederum in thematischer Position - realisiert wird. In der oben genannten neuhochdeutschen Übersetzung wird in allen Fällen der definite Artikel verwendet. Das zeigt deutlich, daß auch die rhematisch verwendeten Appellativa als définit zu verstehen sind. Im Neuhochdeutschen wird der definite Artikel also sowohl zur Realisierung von Definitheit als auch zur Signalisierung von anaphorischen Relationen verwendet. Man könnte nun einwenden, daß sich im oben genannten Textausschnitt ein rhematisch verwendetes finstarnessin (DAT.PL.) findet, das in der thematischen Wiederaufnahme dennoch ohne den Artikel bzw. DEM I als finstarnessi (NOM.SG.) erscheint. SAUVAGEOT (1929: 11) nimmt im übrigen eben diese Textstelle zum Anlaß, um BEHAGHELS These von der anaphorischen Verwendung des Artikels zu widersprechen. BEHAGHEL hatte sich auf dieselbe

Die Distribution des Artikels im Althochdeutschen

163

Textstelle bezogen und selbstverständlich die artikellose Verwendung von finstarnessi bei der thematischen Wiederaufnahme nicht als Gegenbeispiel gewertet. Das Lexem finstarnessi ist ein Abstraktum, und Abstrakta blockieren im Althochdeutschen die Setzung des anaphorischen Artikels. Nach OUBOUZAR (1989: 216) sind es im Tatian vor allem diejenigen Abstrakta, die nicht pluralisierbar sind, welche grundsätzlich ohne Artikel erscheinen. Das Lexem finstarnessi kann im Tatian allerdings sowohl im Singular als auch im Plural vorkommen. Dabei übersetzt es jedoch immer lateinisches tenebre [=tenebrae], also eine Pluralform. Folgender Beleg zeigt, daß Singular und Plural nebeneinander vorkommen können: Tatian 153, 26-28 [= S 37,4] [= Mt. 6,23: Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß muß dann die Finsternis sein!] Latein Si ergo lumen quod in te est tenebre sunt. ' ipse tenebre quantœ erunt.

Tatian oba thaz lioht thaz thar in thir ist finstarnessi ist. thiu finstarnessiu uuvo mihhilu sint

Das Pronomen (DEM I) thiu wird hier nicht als anaphorischer Artikel verwendet, sondern in seiner ursprünglichen demonstrativen Funktion: Es übersetzt das lateinische Demonstrativum ipse. Von den achtzehn Vorkommen an Wortformen von finstarnessi werden insgesamt nur drei Vorkommen mit DEM I verwendet. DEM I hat in keinem Fall anaphorische Funktion. Die zwei anderen Belege übersetzen beide lat. in tenebras exteriores mit in thiu uzarun finstarnessi (183,3 = S 47,7) bzw. In thiu uzzarun finstarnessiu (537,17 = S 149,8). DEM I wird hier jedesmal in einer Konstruktion mit superlativischer Bedeutung verwendet: 'in die äußerste Finsternis'. Festhalten läßt sich also, daß Abstrakta zwar mit DEM I erscheinen können. DEM I wird dabei jedoch nicht in der Funktion eines anaphorischen Artikels verwendet. Es hat vielmehr individualisierende Funktion (vgl. auch OUBOUZAR 1989: 218). Es ist überraschend, daß OUBOUZAR für die Distribution des Artikels im Althochdeutschen nicht die Anaphorik als ausschlaggebend betrachtet. Sie wendet sich mit SAUVAGEOT gegen die These von der anaphorischen Verwendung des Artikels im Althochdeutschen. Glücklicherweise demonstriert sie ihre These am selben Textbeispiel, das auch bei SAUVAGEOT im Mittelpunkt steht und hier bereits genannt wurde. Auf diese Weise lassen sich die verschiedenen Argumente besser aufeinander beziehen und miteinander vergleichen (uuort - thaz uuorf, mit gote - got4, lib - thaz lib\ lioht - thaz lioht\ in finstarnessin - finstarnessi). Die Regularität, die OUBOUZAR zu erkennen meint,

Artikel und Aspekt im Althochdeutschen

164

ist: "Nur diejenigen anaphorischen NG [Nominalgruppen], die kommunikativ wichtig sind, bei denen Deixis angenommen werden kann, treten mit dem Det. [Determinativum bzw. DEM I/Artikel] auf' ( O U B O U Z A R 1989: 219). Es fällt schwer, diese Aussage nachzuvollziehen. Denn warum sollten jeweils thematisch realisiertes got und finstarnessi kommunikativ weniger wichtig sein als die anderen, ebenfalls thematisch realisierten Nominalphrasen? Weit sinnvoller ist es, Unika und Abstrakta als nichtprototypische Substantive auszugliedern und gesondert zu betrachten. Unika, prototypische Appellativa und Abstrakta lassen sich hinsichtlich ihrer Extension auf einer Skala anordnen: Fig. 3: nicht restringierte Extension >

stark restringierte Extension Appellativa

Unika Eigennamen

Abstrakta

Die beiden extremen Pole stehen dabei außerhalb der anaphorischen Artikelopposition. Appellativa mit anaphorischem Artikel signalisieren, daß eine Einschränkung der Extension durch den Kontext erfolgt ist. Werden Abstrakta mit Artikel verwendet, so ist damit ebenfalls eine Restringierung der Extension verbunden. Auf unserer Skala lassen sich beide Verwendungen des Artikels als Verschiebung nach links veranschaulichen: Fig. 4: stark restringierte Extension < Unika Eigennamen

nicht restringierte Extension >

(zählbare) Appellativa (nicht-zählbare) + Artikel 1


óris saga, 4 2 , 4 4 - 6 8 , 7 3 , 9 0 , 94, 96 Homogenität, 2 4 8 , 2 5 1 Homogenitätsthese, 30 Homonymie, 50, 57, 112 Hyperdetermination, 29, 31, 47, 48, 56, 58, 59, 62, 63, 69-72, 116, 135, 159, 160, 189, 194-197, 200, 210, 211, 215, 220, 224-227, 237, 242, 255, 258, 260, 262, 266, 2 6 8 , 2 7 7 , 2 7 9 , 2 8 0 , 283 Hypodetermination, 29, 31, 63, 69-72, 109, 135, 149, 159, 160, 197, 200, 224, 226, 227, 237, 257-259, 261, 262, 266, 268, 277, 280,283 Hyponymie, 251

ich-deiktisches Pronomen, 36 Identifizierbarkeit, 2 6 3 - 2 6 5 , 2 7 1 , 2 7 3 Ideolekt, 202 Ikon, 247 Ikonizität s. grammatische Ikonizität imparfait, 6 7 , 6 8 , 7 3 , 2 4 0 Imperfekt, 2 1 8 , 2 2 9 imperfektiver Aspekt, 1 6 , 1 8 , 2 1 , 7 4 , 79, 80, 92,98,106-108,110,112,121-125, 142145, 148-154, 180, 181, 184, 185, 187, 188, 190, 191, 202-204, 213-215, 218, 223,227,229, 240,245,259,278 imperfektives Präsens, 82,111 imperfektives Vergangenheitstempus, 67, 73,78,110,245,262 Imperfektivierung s. sekundäre Imperfektivierung

Sach- und Sprachenregister Imperfektivität, 19, 22, 67, 96, 145, 200, 2 0 1 , 2 0 7 , 2 1 3 , 2 2 3 , 2 4 0 , 2 4 5 , 250 Implikationsrelation s. Inklusionsrelation Impositio, 247 Inchoativität, 79, 126 indefiniter Artikel, 1, 2, 23, 29, 32, 46, 47, 50, 101, 135, 142, 151, 191-194, 199, 208, 234-236, 238, 245, 250, 255, 257, 262,280 indefiniter Genitiv, 186,206 indefiniter Plural, 192, 240 indefiniter Superlativ, 60, 61 indefinites Nomen, 6,47, 51,55, 59, 135 indefinites Objekt, 56, 185 indefinites Subjekt, 58,93 Indefinitheit, 4 - 6 , 8 , 9 , 1 1 , 1 5 , 1 6 , 1 9 , 2 3 , 3 8 , 41,42,50-52, 55-57,67,71, 89,93,131, 134, 135, 139, 141, 152, 153, 186, 187, 198-202, 204, 207-209, 213, 215, 220, 225, 234,235,240, 255,256,270 Indefmitheitseffekt, 142, 143, 152, 186-188, 216 Indefinitheitsumgebung, 34, 35, 38, 41, 42, 62, 65, 69, 70, 117, 129, 159, 160, 224, 225,277 Indefinitheitswert, 226 Indefinitpronomen, 52 Indeterminiertheit, 2,6, 7,11,15, 16,18,21, 23,24, 198-200 Index, 246,247 Individualisierung, 53, 151, 163, 167-171, 174, 178, 180-183, 185, 196, 257 infinite Artikelfunktion, 32 infinite Aspektfunktion, 32,261 infinites Verb, 149, 172,174 Infinitiv, 214, 227, 253 Inklusionsrelation, 235, 243,244 Inklusivität, 264 Inkorporation, 42,49, 199,208 Innenperspektivik, 67, 214, 234, 244, 250, 251,272 inneres Objekt, 49,63, 199,208 Intransitivierung, 28, 126,208 Intransitivität, 82, 153, 199 Inuit, 199 Irregularität s. Regularität Irresultativität, 203

303

Isidor, 158, 189 Isländisch, 3 5 , 7 1 , 7 2 , 7 6 , 8 1 , 85, 87, 88, 99, 112,197 Italienisch, 266 Iterativität, 7 9 , 2 1 1 , 2 2 3 , 2 2 9 , 2 4 0 , 2 4 5 , 251 Iterativsuffix, 223,229 yan-Verb, 126, 127 Jónsbók, 35 Karamzin, 222 Kasus, 11, 15, 17, 22, 25, 31, 40, 56, 130, 140, 142, 198-207, 210, 217, 219, 234, 253,263, 273, 282, 283 Kasusabbau s. Kasussynkretismus Kasusaltemierung, 17,18,72,101,149,185, 190, 193,201,203-205,270 Kasusbedeutung, 15, 17, 18 Kasusfunktion, 15 Kasusmarkierung, 9,210,211,216,217,219 Kasusselektion, 82, 202-204,270 Kasussynkretismus, 56, 197, 210, 211, 216, 217,219,221,225,226 Kasussystem, 9, 140, 197,203,221, 282 Kataphorik, 63, 165 kategoriale Interaktion, 3, 11, 89-109, 129, 140-151, 159, 170-185, 200, 207, 236, 242,270,271,276,281,282 kategoriale Kombinatorik, 1 7 , 2 2 , 2 7 , 2 5 1 kategoriale Merkmale, 71,73,200,201,211, 223,238-251, 263-265, 272, 280-282 kategorialer Aufbau, 2 7 , 2 4 8 , 2 4 9 , 2 5 6 , 2 5 7 , 271,275,282 kategoriale Unifizierung, 22, 32, 151, 239274,283 kausalistische Erklärungen, 2, 17, 83, 84, 157, 158, 194,210, 217, 225,229,237 Kausativierung, 127 Keltisch, 232 Kindspracherwerb, 32, 227, 228, 233-236, 2 3 8 , 2 4 3 , 2 4 8 , 2 5 2 , 2 5 6 , 2 7 3 , 2 8 0 , 281 Kirgisisch, 198 Kognition, 15,231,253,254,279, 282 Kollektivabstraktion, 168 Kollektivum, 169, 239, 245 Kombination, 247 kombinatorische Markierung, 10, 11, 192, 270

304

Sach- und Sprachenregister

Komparativ, 109 Komplement s. Ergänzung komplexe grammatische Kategorie, 3, 10, 11, 15, 17,277 Kompositionalität, 22, 101,243 Konjunktion, 68,130, 184 Konkretum, 164, 168,202 Konsonant, 248, 249 Kontinuativum s. Massennomen Konzept-Perzept-Transformation, 254, 255, 257-260, 263,265, 273 Koordination, 68, 184 Korpus, 42, 120, 121, 125, 192 Kreolsprachen, 32,228,230-233, 2 3 8 , 2 8 0 Kroatisch, 2 0 4 , 2 0 5 Latein, 25, 78-80, 82, 115, 119, 128, 160163,171-181,198, 211,217-221, 232 s. a. Spätlatein Laxdcela saga, 89 Lettisch, 204 lexikalische Diagrammatizität, 251 lexikalische Einheiten, 4 , 2 3 1 , 246 lexikalische Ikonizität, 251 lexikalische Indexikalität, 249 Lexikon, 7, 1 3 0 , 2 0 1 , 2 0 3 , 2 4 6 , 247, 249 Lezgisch, 78 Linearität, 5-7 Litauisch, 204 Lokalisation, 7, 92, 95, 141, 151, 244, 250, 252-256,260, 2 7 1 , 2 7 3 , 2 8 1 Lokalisationstheorie, 252, 253 Makedonisch, 221 Makrokonsonant, 249 Makro vokal, 249 Makrowortart, 248-250 Markiertheit, 7 , 8 , 19, 56, 59, 79, 84, 86,91, 120, 121, 124, 151, 153, 165, 168, 224, 269,273 Markierungen s. grammatische Markierungen s. kombinatorische Markierung s. offene Markierung s. unsichtbare Kodierung Maskulinum, 166-169, 196

Massennomen, 1 6 5 , 1 6 9 , 1 9 2 , 1 9 6 , 1 9 7 , 2 0 2 , 204-206, 239-242, 244-246, 248, 250, 256,257, 264, 269 Maurizisches Kreol, 233 Mehrfachgenus, 168, 169 Mengentheorie, 2 4 2 , 2 4 3 Mereologie, 18, 2 2 , 3 2 , 2 4 3 - 2 4 6 , 2 7 2 , 2 8 0 Mereologisierung, 89, 112, 153 Metaphorisierung, 78 Mittelenglisch, 2 1 0 , 2 1 1 Mittelhochdeutsch, 17, 28, 125, 157, 165, 188, 1 9 1 , 1 9 3 , 2 1 5 , 2 3 5 , 2 5 8 , 2 5 9 Modisten, 246, 247 Modus, 211, 227, 2 3 2 , 2 3 3 , 2 4 3 , 2 5 3 , 2 7 3 modus significandi, 2 4 6 , 2 4 7 Monosemierung, 62, 66, 82, 91, 95, 105, 109,111, 159, 183, 193,277 Morantund Galie, 165, 166 Motiviertheit s. Nonarbitrarität Mündlichkeit, 87 munu + Infinitiv, 78 Musterhaftigkeit s. grammatische Musterbildung nan-Verb, 126, 127 natürliche Serialisierung, 5, 211, 224, 267, 269,276 Natürlichkeit, 7 , 2 6 9 Nebensilbenabschwächung, 210 Negation, 184 Nennen, 247 Neuhochdeutsch s. Deutsch Neuisländisch s. Isländisch Neunorwegisch s. Nynorsk Neutrum, 166, 169, 197 Nichtabgeschlossenheit s. Abgeschlossenheit Nichtbegrenztheit s. Begrenztheit Nichtteilbarkeit s. Teilbarkeit Nichttotalität s. Totalität Nichtzählbarkeit s. Zählbarkeit

Sach- und Sprachenregister Njáls saga, 86 nominale Determination, 14,23,31,88,151, 152, 159, 174, 190, 191, 202, 204, 207, 227, 231, 235, 240, 268, 270-273, 276, 278 nominaler Aspekt, 14, 88, 112, 151, 168, 169, 178, 179, 181, 183, 185, 202, 204, 211,213, 269,271 nominaler Iterativ, 240,251 Nominalinkorporation s. FunktionsverbgefÜge s. Nominalisierungsverbgefuge Nominalisierungsverbgefüge, 209, 212, 213 Nominalismus, 243-246 Nominalkategorie, 3, 9, 10, 14,21, 32, 151, 200, 204, 207, 234, 245, 256, 271, 272, 280-282 Nominativ, 148,201,203,210 Nominativsprachen s. Akkusativsprachen Nonadditivität s. Additivität Nonarbitrarität, 5, 37-43, 62, 69, 77, 104, 183,209, 228, 276, 277 nonkonfigurationelle Sprache, 37 Nordgermanisch, 116, 125, 154 Nordwestrheinisch, 166 Nordwestgermanisch, 117, 154 Norwegisch, 44,47 Notker, 158, 189, 195 Nullartikel, 47,57,165, 170,187, 188, 191, 196,240,245 Nullmarkierung, 199,200 Numerale, 208, 209 Numeralklassifikator, 131 Numerus, 40, 130, 131, 239, 240, 242, 248, 273 Nynorsk, 9,44,47,49-51,54,56-59,61,71, 99, 101,277 Objekt, 14, 15, 38, 46, 49, 159, 175, 176, 181, 191, 197-199, 202-204, 210, 224, 279 s. a. inneres Objekt Objektiv, 199 objektive Konjugation, 198,205 Objektkasus, 218 Objektsposition, 165

305

Obligatorik, 8, 34, 37, 46, 47, 59, 62, 70, 181, 182,242,259 offene Markierung, 9, 10 Óláfs saga Tryggvasonar, 90 Origo, 249,253,272 Ormulum, 211 Ostfränkisch, 158, 166 ostrussische Dialekte, 222 ostseefinnische Sprachen, 24,203 Otfrid, 17, 158, 189, 195 paradigmatische Ebene, 247 Parametersetzung, 14, 15, 25, 27, 28, 30, 112, 113,212,228,230,238 Parameterthese, 32,113,207,212,228,230, 231,275,276,280 Parameterwechsel, 25 Partitiv, 16, 153,201,203 partitiver Artikel, 149, 193,258 partitiver Genitiv, 186, 187,206 Partitivität, 16, 18, 101, 149, 151, 186,191, 192,235,258 Partitivitätseffekt, 152,185,187,188, 191 Partizip 1,214,253 Partizip II, 112, 137,141, 172, 227,253 passé défini, 240 s.a. passé simple passé simple, 66-68, 73,240 Passiv, 28, 126,212 Patiens, 9 Patienssubjekt, 7 Perfekt, 77, 79, 218 perfektiver Aspekt, 16, 18, 19,10, 24, 7476, 78, 79, 81-89, 92, 94, 98-108, 110, 112, 121-125, 128, 141-143, 145, 148, 151-155, 168-170, 172-175, 177, 180, 181, 185-191, 194, 202-204, 211-214, 218, 220, 223, 227 229, 230, 240, 241, 245, 252, 253, 255, 256, 259, 261, 262, 273,278, 279 perfektives Präsens, 76-78,92,98,101, 104, 110 perfektives Vergangenheitstempus, 66-68, 73,75,77,80-82,85,86,93,94,99,101, 105,109-111,128,240,245,262,277 perfektive Temporalangabe, 109-111 Perfektivierung, 13, 79, 85, 86, 88, 90, 92, 93, 95, 96, 99-102, 104-106, 110-112,

306

Sach- und Sprachenregister

120-122, 124, 128, 144, 150, 154, 211, 213,214,223,224, 277,278 Perfektivierungsrestriktion, 121 Perfektivität, 13, 19, 20, 22, 73, 75, 76, 8084, 87, 88, 92, 96,98,99, 103-105, 108, 109, 111, 128, 141, 144, 145, 148, 153, 170, 173, 175, 181, 200, 201, 207, 220, 223, 224,230,245,250 Perfektstamm, 218 Persisch, 198, 199,216,270 Person s. dritte Person s. erste Person s. zweite Person Personalpronomen, 36, 43, 48, 50-52, 55, 57, 58, 62, 63, 83, 132, 177, 262, 267, 270 Perpektivierung, 78,98, 107,151,169, 178, 193,244,246-252, 259,272, 281,282 Phänotyp, 27, 89, 112,239,244,250 Phonemsystem, 248,280 phonologischer Wandel, 83, 88,225 Phorik, 165, 168,242 Platzhalter, 63 Plural, 163, 171, 233, 234, 240, 245, 246, 257,264 Pluralisierbarkeit, 163, 164, 168, 257 Plusquamperfekt, 93, 120, 121, 189 Polnisch, 204-206 Polysemie, 98, 110, 111,124, 193,277,278 Possessivpronomen, 40, 52, 58, 102, 137, 138, 177,234,266 postnukleares Genitivattribut, 185,186 postponierter Artikel, 33-35, 38, 40-43, 48, 51-54, 56, 57, 61, 62, 66, 91, 92, 95, 108-112, 131, 132, 137, 154-156, 159, 198, 230 Postposition, 198, 199,222 Prädikation, 7,255 Präfigierung, 20, 121, 122, 124, 127, 128, 140, 141, 157,205,211 Präfix s. aspektuelle Verbalpräfixe pränukleares Genitivattribut, 46, 185, 186 präponierter Artikel, 33,43, 60-62, 109 Präposition, 122, 214 Präsens, 8, 30, 66- 69, 72-80, 86, 87, 89-92, 95, 96, 98, 99, 101, 102, 105, 110, 120, 121, 128,148,218, 229,261

s.a. historisches Präsens Präsensstamm, 218 Präsupponierbarkeit, 8-10, 35, 38, 41, 46, 70,84, 107,249,272 Präteritum, 68,73-77, 86,90, 91,94-96,99, 102, 104-106, 110,120,121, 128,180 pragmatische Kodierung, 267,271 pragmatische Wortstellung, 226 s.a. natürliche Serialisierung progressive aspect, 122, 214,215,259 Propensität, 228,237 s.a. Drift prospektives Tempussystem, 77,78 Protogermanisch, 116 Protonordisch, 87,98 Protosubstantiv, 248 Pseudoartikel, 208 Pseudoobjekt s. inneres Objekt s. Inkorporation Pseudotransitivität, 49 Punktualität, 141 Quantifikation, 242 Reanalyse s. Reinterpretation Reaspektualisierung s. Aspektaufbau redeeinleitende Verben, 95, 96 Redundanz, 9, 41-43, 46, 47, 59, 70, 83, 118, 127, 128, 161, 197, 220, 258, 266, 270,274, 277-279 Referenz, 152,153,196,234,235,240,246250, 252, 253, 256, 259, 260, 264, 271, 273,280,281 Regularität, 11, 20, 31, 37-41, 69, 71, 72, 109, 116, 131, 159, 160, 163, 168-171, 178, 181, 182, 184, 188, 192, 193, 195, 242,276,277,279 Reinterpretation, 78, 128, 153, 154, 208, 209,220,233,257 Rektions- und Bindungstheorie, 37 Relativpartikel, 63 Relativpronomen, 49 Relativsatz, 49,63,165 Relexifizierung, 231-233 Resultativität, 203 retrospektives Tempussystem, 77,78,110

Sach- und Sprachenregister Rheinfränkisch, 157,158 rheinische Verlaufsform s. Verlaufsform Rhema s. rhematische Position rhematische Position, 8, 18, 19, 31, 34, 38, 46, 50-52, 55-59, 61, 62, 64-66, 70, 71, 84, 87, 93, 99, 111, 117, 119, 159-162, 181, 195, 196, 207, 210, 212, 217-219, 226, 237,261,262,278,279 romanische Sprachen, 31,83,159,184,216219,221,226,232,234,237,238 Russisch, 3, 12-15, 17, 18, 21, 23, 24, 76, 78,93,101,115, 121-123,198,201-204, 206, 210, 216, 222, 223, 226, 230, 236, 238,253,261,262,280,282 Sanskrit, 17 Satzdefinition, 7 Satzglied, 68,100,186 Satzmodalität, 7 schwache Adjektivflexion, 36, 53, 54, 62, 135, 137-139 schwache Flexion, 119, 133-135, 137-139, 167 schwaches Demonstrativpronomen, 43, 46, 48,50-52,55,62,63,117,131-133,135, 137, 142-145, 148, 150-156, 162-164, 178,181 sein + Partizip Präsens, 259 sekundäre Imperfektivierung, 122,223,226, 229,230 Selektion, 247 Selektionsrestriktionen, 54, 121, 122, 127, 128, 163, 168, 170, 175, 177, 178, 180, 181, 186, 187,194, 195 semantische Differenzierung, 83, 122-124, 143, 144, 152-154, 181, 187-189, 193, 223,228 semantische Merkmale, 247,251,252,254, 255 semantische Rolle, 7,9,42, 76, 89,165 semantische Strategie, 3 Semifmitheit, 227,253,256,261,281 Semiose, 15,246,247 Serialisierung s. Wortstellung

307

Simplexverb, 20, 81-83, 88, 98, 120-127, 140, 142-145, 149, 152, 153, 172, 173, 177,180, 182,190 Singular, 163,245 Skopus, 184 slavische Sprachen, 6, 19, 31, 77, 122, 201, 204, 216, 217, 221-223, 225, 226, 228, 229,230-232,234, 237, 238 Sortenplural, 257 SOV-Serialisierung, 56, 87, 88, 111, 129, 225 Soziolekt, 222 Spätlatein, 219,220,225 Spanisch, 36, 83,219 Sprachkontakt, 228 Sprachperzeption, 228 Sprachtypologie, 3,7,25,27,28,31, 32,38, 44, 71, 77, 110, 130, 158, 197-239, 265, 268,274,279,280,283 Sprachwandelprozesse, 25, 27, 70, 72, 157, 158,221,232,260,275,278 Sprachwandelresistenz, 27, 281 Sprachwandeltheorie, 212 starke Adjektivflexion, 137-139,148 starke Flexion, 133-135, 137, 138, 167 statives Verb, 79 Subjekt, 7, 8, 15, 46, 64, 65, 93, 101, 148, 149, 159, 175, 197, 210, 224, 252, 255, 279 Subjektsposition, 7,34,38,165,175 Subordination, 243 Substantiv, 26, 89, 103, 112, 164, 177, 181, 211, 213, 217, 240, 244, 248, 257, 272, 280 s.a. finîtes Substantiv Substantivierung, 53, 54, 167, 174, 177, 211,213,214 Substrat, 231,232 süddeutsche Dialekte, 196 südrussische Dialekte, 222 Superlativ, 60-62,109,163 Superstrat, 230,231 SVO-Serialisierung, 56, 87, 88, 111, 129, 197,225,226 symbolische Zeichen, 247 Synkopiening, 83, 88 Synonymie s. grammatische Synonymie Syntagma, 7-9,11, 36, 58,64,67,139

308

Sach- und Sprachenregister

syntagmatische Ebene, 247 syntaktischer Aktant, 15, 38, 42, 46, 197, 210, 219,224-226,237,270,279 synthetischer Satz, 255 synthetischer Sprachbau, 221,226,237 Tatian, 119, 158, 160-163, 165-180, 182, 188, 189, 195 Teilbarkeit, 32,92,213,214,244, 245,248, 251,272 Teil-Ganzes-Relation, 13, 18, 42, 186, 235, 238,243,244,251,272 Temporaladverb nú, 91,92,95-99,101, 105, 110 Temporaladverbial, 95,100-102 Temporalität, 78,241, 242,256,261,262 Tempus, 64,67,68,73,75,78, 87,115,120, 121, 141, 189,211,227, 232, 233,240, 243,249, 253,261,273,281 Tempusalternierung, 68, 73,79, 82 Terminativität, 24, 79, 239 Textkohärenz, 108, 195 Textphorik, 62,63, 195 Textrelief, 220, 242 Textsorte, 35, 72 Thema s. thematische Position Thema-Rhema-Progression, 5, 6, 161, 163, 165,175, 176, 179-183,219,221,261 thematische Position, 18,31,38,41,58,62, 64, 66, 70, 71, 95, 103, 117, 118, 159, 160-162, 164, 195, 218-220, 225, 237, 262, 278,279 thematisches Subjekt, 8,46,70 Token, 152, 153, 162, 196, 254-256, 280 Topik, 38,46,52 Totalität, 14, 88, 202, 203, 211, 241, 248, 257, 258, 264, 272 Transdefinitheit, 204 Transfinitheit, 260 Transitivierung, 49, 127, 199, 283 Transitivität, 82, 199, 282 Tschechisch, 5, 56 Türkisch, 78, 198 Type, 152,153,162,196,250,254,255,280 Type-Token-Differenzierung, 151,162, 196, 200, 254-259, 262,266,273,278, 279

Übergeneralisierung, 8-10, 88, 117, 121, 139, 145, 166, 190, 196, 197, 220, 255, 256, 258, 259, 261, 265-268, 271, 277, 279,280 Ulfila, 114, 129 unbestimmter Artikel s. infiniter Artikel Ungarisch, 205,236 Unifizierung s. kategoriale Unifizierung Unika, 148,162, 164, 189, 195 Unikalität, 264 Universalis 26-28, 198,200,236, 239, 242, 250, 263, 267, 269-271, 274, 275, 281, 283 Unmarkiertheit s. Markiertheit unpersönliche Konstruktion, 63 unsichtbare Kodierung, 9, 267-269, 276, 277,279 Verb, 112,240, 244,248,257, 272,280 Verbalaspekt s. Aspekt verbale Determination, 14, 23, 29, 31, 32, 112, 151, 159, 174, 175, 185, 187, 190, 195, 202, 221, 227, 231, 263, 267, 268, 270-274, 276,278 verbale Indeterminiertheit, 23 verbaler Genitiv s. Genitiv verbaler Plural, 240 Verbalkategorie, 3,9, 10,14, 15,21, 29,32, 151, 200, 204, 207, 232, 245, 256, 271, 272,280,281 Verbalpräfixe s. aspektuelle Verbalpräfixe Verben des Sprechens s. redeeinleitende Verben Verberststellung, 30, 57, 65, 68, 84-91, 9395, 98,99, 104-108, 110, 111, 117,278, 283 Verbpaare s. Aspektpaare Verbspitzenstellung s. Verberststellung Verbzweitstellung, 56, 71, 84, 88, 91, 93, 94,99, 105, 111,225,229,237

Sach- und Sprachenregister Vergangenheitsbezug, 73, 75-80,82,91-94, 99, 101,104,110, 128, 180, 189 Vergangenheitstempus, 75-77, 79,91, 96 Verlaufsform, 213-215, 259 Vertikalisierung, 222 Vokal, 248,249 Vordergrundierung, 68, 74-76, 80-82, 84, 202,248,254,255,261,262 Vorvergangenheit, 93 Westgrönländisch, 199 Wortarten, 89, 112,138,244,246-248,251, 252,256,272,281,282 Wortartkonversion, 174,177, 213,256,257 Wortbildung, 126, 127 Wortstellung, 9, 31, 36, 46, 54-56, 58, 71, 85-89, 93, 95, 111, 112, 117, 129, 137, 161, 185, 197-207, 219, 225, 258, 267, 282 s.a. feste Wortstellung s.a. freie Wortstellung s.a. grammatische Wortstellung s.a. pragmatische Wortstellung Wortstellungsalternierung, 56, 71, 84, 87, 88, 111, 129,225

309

zählbares Nomen s. Zählbarkeit Zählbarkeit, 89, 164, 165, 167-169, 171, 174, 181, 186, 192, 196, 202, 204, 206, 214, 239-242, 244, 245, 248, 250, 256, 257,269 Zeichenbildung s. Semiose Zeichenqualität, 5 , 6 Zeichenverschriftung, 6 Zeigen, 6,247 Zukunftsbezug, 74,77, 148,261 zweite Person, 51

STUDIA LINGUISTICA GERMANICA

ANJA LOBENSTEIN-REICHMANN

Freiheit bei Martin Luther Lexikographische Textanalyse als Methode historischer Semantik 1998. XIII, 598 Seiten. Mit zahlreichen Tabellen. Leinen. ISBN 3-11-016076-5 (Band 46)

RAJA TAZI

Arabismen im Deutschen Lexikalische Transferenzen vom Arabischen ins Deutsche 1998. XXI, 416 Seiten. Leinen. ISBN 3-11-014739-4 (Band 47)

TILMANN WALTER

Unkeuschheit und Werk der Liebe Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland 1998. VIII, 597 Seiten. Leinen ISBN 3-11-016085-4 (Band 48)

KLAAS WILLEMS/JEROEN VAN POTTELBERGE

Geschichte und Systematik des adverbalen Dativs im Deutschen Eine funktional-linguistische Analyse des morphologischen Kasus 1998. XIV, 671 Seiten. Leinen. ISBN 3-11-016265-2 (Band 49)

Walter de Gruyter

W DE G

Berlin · New York

STUDIA L I N G U I S T I C A G E R M A N I C A JOCHEN A. BÄR

Sprachreflexion der deutschen Frühromantik

Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus Mit lexikographischem Anhang 1999. IX, 582 Seiten. Leinen. I S B N 3-11-016372-1 (Band 50)

SIBYLLE ORGELDINGER

Standardisierung und Purismus bei Joachim Heinrich Campe 1999. IX, 481 Seiten. Leinen. I S B N 3-11-016312-8 (Band 51)

INGO WARNKE

Wege zur Kultursprache

Die Polyfunktionalisierung des Deutschen im juridischen Diskurs 1200-1800 1999. XV, 467 Seiten. Leinen. I S B N 3-11-016429-9 (Band 52)

CHRISTA DÜRSCHEID

Die verbalen Kasus des Deutschen

Untersuchungen zur Syntax, Semantik und Perspektive 1999. XII, 305 Seiten. Leinen. I S B N 3-11-016492-2 (Band 53)

Sprachgeschichte als Kulturgeschichte

Herausgegeben von Andreas Gardt, Ulrike Haß-Zumkehr, Thorsten Roelcke 1999. VIII, 418 Seiten. Leinen. I S B N 3-11-016373-X (Band 54)

Walter de Gruyter

W DE G

Berlin · New York