Artikel 146 Grundgesetz zwischen offener Staatlichkeit und Identitätsbewahrung: Perspektiven des Schlussartikels des Grundgesetzes für die zukünftige europäische Integration [1 ed.] 9783428541553, 9783428141555

Selbst nach Verkündung der Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bleibt unklar, welches Maß an Hoheitsrech

164 93 2MB

German Pages 319 Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Artikel 146 Grundgesetz zwischen offener Staatlichkeit und Identitätsbewahrung: Perspektiven des Schlussartikels des Grundgesetzes für die zukünftige europäische Integration [1 ed.]
 9783428541553, 9783428141555

Citation preview

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1257

Artikel 146 Grundgesetz zwischen offener Staatlichkeit und Identitätsbewahrung Perspektiven des Schlussartikels des Grundgesetzes für die zukünftige europäische Integration

Von Philipp Cramer

Duncker & Humblot · Berlin

PHILIPP CRAMER

Artikel 146 Grundgesetz zwischen offener Staatlichkeit und Identitätsbewahrung

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1257

Artikel 146 Grundgesetz zwischen offener Staatlichkeit und Identitätsbewahrung Perspektiven des Schlussartikels des Grundgesetzes für die zukünftige europäische Integration

Von Philipp Cramer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Jahre 2012 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Fotosatz Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14155-5 (Print) ISBN 978-3-428-54155-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84155-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Stephanie

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2012 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Der Abschluss des Manuskripts erfolgte im Mai 2012. Neuere Entwicklungen, Rechtsprechung und Literatur konnten im Wesentlichen bis zum Oktober 2012 berücksichtigt werden. Fachlich begleitet wurde die Arbeit von Herrn Prof. Dr. Fabian Wittreck, dem ich nicht nur wegen seiner exzellenten und persönlich angenehmen Betreuung und der zügigen Erstellung des Erstgutachtens zu größtem Dank verpflichtet bin. Er war es, der mich im Themenkomplex der europäischen Integration auf die verfassungsrechtliche Problematik des Artikels 146 GG gestoßen und somit maßgeblich zur Wahl dieses Promotionsthemas beigetragen hat. Es erwies sich im Laufe der Bearbeitung als rechtshistorisch, tagesaktuell und zukunftsorientiert zugleich. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Bodo Pieroth für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Als Mitarbeiter der Professur für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie habe ich zudem von einem kollegialen akademischen Umfeld und gegenseitiger Unterstützung profitieren dürfen. Allen ehemaligen Kollegen möchte ich dafür herzlich danken. Ebenso bin ich dem Verlag Duncker&Humblot für die Aufnahme der Arbeit in die vorliegende Schriftenreihe sowie dem Bundesministerium des Innern für den gewährten Druckkostenzuschuss zu Dank verpflichtet. Meinen Eltern, Gisela und Wilhelm Cramer, die mich und meine Schwester stets vorbehalt- und selbstlos unterstützt haben, gilt mein besonderer Dank. Sowohl ihre beispiellose, uneingeschränkte, nicht nur finanzielle Förderung meines Studiums als auch ihre stetige Unterstützung und Motivation während der Promotionsphase haben das Entstehen der vorliegenden Dissertation erst ermöglicht. Unerlässlich für das Entstehen dieser Arbeit war schließlich Stephanie, die mir mit Liebe, Verständnis und Geduld stets ein Rückhalt war und ist und mich auch in unbequemeren Phasen des Promotionsverfahrens ge- und ertragen hat. Die Arbeit wäre ohne ihre liebevolle Unterstützung und ihren unentwegten Zuspruch nicht entstanden. Nicht zuletzt war sie bei der Korrektur des Manuskripts eine unverzichtbare Hilfe. Für all’ dies bin ich ihr zutiefst dankbar. Düsseldorf, im Juni 2013

Philipp Cramer

Inhaltsverzeichnis Einführung: Anliegen der Arbeit und Gang der Untersuchung

19

Anliegen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

I.

Kapitel 1 Eine Bestandsaufnahme: Die grundgesetzlichen Bedingungen für die europäische Integration seit der „Lissabon-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts

22

Kernaussagen des Richterspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

II. Politisches und wissenschaftliches Echo („post Lissabon“-Debatte) . . . . . . . . . .

27

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit“ des Grundgesetzes . . . . . . . . . 1. Verfassungsrechtliche Öffnungsklauseln in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europafreundliche Ausrichtung von Grundgesetz und verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die relevantesten europabezogenen Bestimmungen des Grundgesetzes . . . . a) Die Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 24 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 23 GG n. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG: Kommunalwahlrecht für Unionsbürger, das Europawahlgesetz und die Europawahlordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Einrichtung einer Europäischen Zentralbank gemäß Art. 88 S. 2 GG f) Die Regelung supranationaler Haftung gemäß Art. 104a Abs. 6 und Art. 109 Abs. 5 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 104a Abs. 6 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 109 Abs. 5 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Die abgabenbezogenen Regelungen der Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 und Art. 108 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 108 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Grundgesetz und europäisches Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Verhältnis von Grundgesetz und europäischem Primärrecht . . . . . . .

35

I.

39 42 45 46 48 53 59 62 67 68 71 73 74 75 76 78 78

10

Inhaltsverzeichnis b) Das Verhältnis von Grundgesetz und europäischem Sekundärrecht . . . . .

82

c) Anwendungsvorrang des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

d) Unterschiedliche Ansichten bezüglich des innerstaatlichen Geltungsgrunds des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

aa) Die Rechtsansicht des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . .

86

bb) Die autonom-unionsrechtliche Herleitung des Gerichtshofs der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

6. Mitgliedstaatliche Haftung für die Verletzung von Unionsrecht . . . . . . . . . . .

91

a) Richterrechtliche Haftungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

b) Staatshaftung für die Nichtumsetzung europäischer Richtlinien und judikatives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

c) Haftung für Gesetzgebung und Exekutivhandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

7. Die Bedeutung des Grundgesetzes im europäischen Verfassungsverbund . .

99 8. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes im Detail . . . . . . . . . 103 1. Inhaltliche Anforderungen der „Struktursicherungsklausel“ . . . . . . . . . . . . . . 103 a) Anforderungen an die Struktur der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . 103 b) Anforderungen struktureller Kongruenz im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . 106 aa) Demokratische Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 bb) Rechtsstaatliche Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 cc) Sozialstaatliche Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 dd) Föderative Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 ee) Ein dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 (1) Entstehungsgeschichte und Gewährleistungsgehalt der Vorgabe 116 (2) Verfassungsauftrag zur Fortentwicklung der Grundrechte auf europäischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 ff) Grundsatz der Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 (1) Inhalt des Verfassungsauftrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 (2) Perspektiven der Subsidiaritätsrüge und -klage . . . . . . . . . . . . . . . 122 2. Art. 79 Abs. 3 GG als Grenze der Hoheitsrechtsübertragung . . . . . . . . . . . . . 125 a) Unterschiedliche Anknüpfungspunkte von Struktursicherungs- und Verfassungsbestandsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 b) Gewährleistungsgehalte der Verfassungsbestandsklausel gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 aa) Die Garantie souveräner Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 (1) Etablierung der Souveränitätsgarantie im Lissabon-Urteil . . . . . 130

Inhaltsverzeichnis

11

(2) Kritik an der Aufladung von Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . (3) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Demokratieprinzip in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . cc) Die Bundesstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . dd) Zur „Identität“ des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Adäquanz des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Identitätsmerkmale des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aufgehen der Bundesrepublik Deutschland in einem Europäischen Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorhergehende Entwicklung der Streitfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beitritt als unzulässige Überschreitung der Integrationsgrenzen aus Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beitritt als im Rahmen der Integrationsgrenzen zulässiger Schritt . . dd) Erklärung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil zum Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131 133 135 140 141 142 143

V. Möglichkeiten der Überwindung der Integrationsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Keine Überwindung: Stillstand der Integration in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anpassung der Verfassungsinterpretation an politische Vorgaben . . . . . . . . . 3. Verfassungneugebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abschließendes Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147 148 149 152 154 157 159 161 161 162 162 163

Kapitel 2 Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte I.

165

Art. 146 GG zwischen Re- und Denationalisierung: der kontroverse Charakter der Schlussbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

II. Rechtstheoretische Einordnung von Art. 146 GG a. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschichtlicher Hintergrund zu Art. 146 GG a. F.: das Grundgesetz als intendierte Übergangsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Scheinbarer Widerspruch zwischen Provisorium und Ewigkeitsbekenntnis des Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verschiedene Ansichten zur Auflösung des Widerspruchs . . . . . . . . . . . . aa) Das Grundgesetz als bedingt vorläufige, „treuhänderisch-vorsorgliche Ordnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ewigkeitsklausel unter dem Vorbehalt von Art. 146 GG a. F. . . . . . . . c) Art. 146 GG a. F. als Ausdruck fehlender freier Selbstbestimmung . . . . . 2. Keine Anwendung des Art. 146 GG a. F. zum Zweck der Wiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171 172 174 175 175 177 178 180

12

Inhaltsverzeichnis a) Politische Gründe für die Wahl des „Beitritts gemäß Art. 23 S. 2 GG a. F.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wiedervereinigung durch völkerrechtlichen Einigungsvertrag . . . . . . . . . aa) Wiedervereinigung zweier kontrastierender Staaten . . . . . . . . . . . . . . bb) Trotz Beitrittserklärung der Volkskammer: kein Beitritt „der DDR“ zum Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Diskussion und Ablehnung der sukzessiven Anwendung von Art. 23 S. 2 GG a. F. und Art. 146 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenfazit: Gebot der Trennung von Ideologie und Recht . . . . . . . . . . . .

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wurzeln der Debatte im Umfeld der Wiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. These der Verfassungswidrigkeit des Art. 146 GG n. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Art. 146 GG n. F. als obsolete Verfassungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) These der Bindung des Art. 146 GG n. F. an Art. 79 GG . . . . . . . . . . . . . . b) These von der Identität des Grundgesetzes und der in Art. 146 GG n. F. genannten „Verfassung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fazit: herrschende Ansicht der Obsoleszenz und Gegenargumente . . . . . 4. Die „dritte Kategorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 146 GG n. F. als Nachfolgevorschrift des Art. 146 GG a. F. . . . . . . . . b) Art. 146 GG n. F. als Verfassungsänderungsvorschrift sui generis . . . . . . 5. Fortbestehende Möglichkeit zur Verfassunggebung durch Art. 146 GG n. F. a) Trennung von Wiedervereinigungs- und Verfassungsfrage . . . . . . . . . . . . b) Fazit: Art. 146 GG a. F. als Antwort auf die Wiedervereinigungs- und auf die Verfassungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Auslegung des Art. 146 GG n. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegungsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grammatikalische Auslegung des Art. 146 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Systematische Auslegung des Art. 146 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Genetische Auslegung des Art. 146 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Teleologische Auslegung des Art. 146 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Fazit: Art. 146 GG als verfassungsrechtlicher Gegenpol zu Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Obiter dictum des Lissabon-Urteils: Art. 146 GG als notwendige Bedingung für künftige Integrationsschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Reichweite der Wahlrechtsgewährleistungen gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG a) Die ursprüngliche Etablierung der abwehrrechtlichen Dimension von Art. 38 Abs. 1 GG durch die Maastricht-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . b) Die Weiterentwicklung durch die Lissabon-Rechtsprechung . . . . . . . . . . c) Kritik an der weitreichenden materiellen Aufladung von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183 185 186 187 189 191 192 193 195 197 201 201 202 204 204 204 206 207 209 210 211 212 215 217 218 220 225 228 229 232 234 235

Inhaltsverzeichnis

13

2. Anspruch auf demokratische Teilhabe aus Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . 3. Teilhabe an der verfassunggebenden Gewalt gemäß Art. 146 GG als kombiniertes Individualrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kritik an der Subjektivierung des Art. 146 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Abschließendes Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

236 238 239 240

V. Zeitliche Perspektiven der Verfassungneugebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 1. Keine Befristung auf einen zeitlichen Zusammenhang mit der Wiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 2. Maßgeblicher Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

Kapitel 3 Szenarium einer Verfassungneugebung durch das Volk

246

Einleitung: Verfassungsvoraussetzungen und -aporie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die außerrechtliche Bedingtheit des Verfassungsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Historische Skizze der Frage nach Verfassungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . 3. Fazit in Bezug auf Art. 146 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

246 246 248 251

II. Prozedurale Ausgestaltung der Verfassunggebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Offener Wortlaut von Art. 146 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fragen im Zusammenhang mit der Aktivierung des pouvoir constituant . . . a) Inhaber des Rechts zur Aktivierung des pouvoir constituant . . . . . . . . . . . b) Ausübung des Aktivierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verfahren der eigentlichen Ablösung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . 4. Anforderungen an die Durchführung der Verfassunggebung . . . . . . . . . . . . . a) Das Erfordernis einer „freien“ Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Erfordernis einer Entscheidung „des deutschen Volks“ . . . . . . . . . . . c) Ausgestaltung der erforderlichen Abstimmungsmehrheiten . . . . . . . . . . . d) Keine zeitliche Befristung des Verfassungneugebungsprozesses . . . . . . . 5. Inhaltliche Ausgestaltung der Neuverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Abschließendes Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

252 253 254 254 255 258 259 259 261 261 262 263 265

I.

Epilog Ausblick auf eine Neuverfassung und „Vereinigte Staaten von Europa“ I.

267

Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

II. Schaffung eines Europäischen Staats als verbindliches Ziel des Grundgesetzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

14

Inhaltsverzeichnis

III. Alternative Szenarien zukünftiger europäischer Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 IV. Das Verhältnis von nationalem und europäischem Bundesstaat: „Multilevel Constitutionalism“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

Abkürzungsverzeichnis a. A. a. E. a. F. Abdr. ABl. Abs. ähnl. ÄndG AEUV AfP allg. anf. Anm. AöR Art. Aufl. ausdr. ausf. Ausg. BayVBl. Bd. BGB BGBl. BGH BGHZ BR-Drs. BT-Drs. BT-Prot. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BWahlG bzgl. bzw. CDU

andere Ansicht am Ende alter Fassung Abdruck Amtsblatt Absatz ähnlich Änderungsgesetz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Archiv für Presserecht allgemein anfänglich Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage ausdrücklich ausführlich Ausgabe Bayerische Verwaltungsblätter Band Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Drucksache des Deutschen Bundesrats Drucksache des Deutschen Bundestags Plenarprotokoll des Deutschen Bundestags Bundesverfassungsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Bundeswahlgesetz bezüglich beziehungsweise Christlich Demokratische Union

16 d. h. DDR ders. dies. DÖV DRiZ dt. DVBl. ebd. EBI EEA EFSF EG EGKS EGV Einl. EL EMRK EntflechtG entspr. ESM ESZB etc. EU EuGH EuGHE EuGRZ europ. EUV EuWG EuWO EUZBBG EUZBLG EuZW EV EWG EWS f. FAZ

Abkürzungsverzeichnis das heißt Deutsche Demokratische Republik derselbe dieselben Die öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung deutsch Deutsches Verwaltungsblatt ebenda Europäische Bürgerinitiative Einheitliche Europäische Akte Europäische Finanzstabilisierungsfazilität Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einleitung Ergänzungslieferung Europäische Menschenrechtskonvention Gesetz zur Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen entsprechend Europäischer Stabilitätsmechanismus Europäisches System der Zentralbanken et cetera Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Union Sammlung der Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union Europäische Grundrechte-Zeitschrift europäisch Vertrag über die Europäische Union Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland Europawahlordnung Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Einigungsvertrag Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung

Abkürzungsverzeichnis FDP ff. Fn. FVG GG GRCh h. M. Herv. Hrsg. Hs i. E. i. Erg. i. S. v. i. Ü. i.V. m. inh. insbes. instr. IntVG ital. JA Jhd. JöR Jura JuS JZ Kap. KPD LastG Lit. lit. LS m.w. N. Mrd. n. F. NJW Nr. NVwZ ödp österr. Orig. Parl. Rat

Freie Demokratische Partei fort folgende Fußnote Gesetz über die Finanzverwaltung Grundgesetz Charta der Grundrechte der Europäischen Union herrschende Meinung Hervorhebung Herausgeber Halbsatz im Einzelnen im Ergebnis im Sinne von im Übrigen in Verbindung mit inhaltlich insbesondere instruktiv Integrationsverantwortungsgesetz italienisch Juristische Arbeitsblätter Jahrhundert Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Kommunistische Partei Deutschlands Lastentragungsgesetz Literatur littera Leitsatz mit weiteren Nachweisen Milliarde neuer Fassung Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Ökologisch-Demokratische Partei österreichisch Original Parlamentarischer Rat

17

18 preuß. rechtl. Rn. RS. S. Slg. sog. Sp. SPD SRP st. Rspr. StabMechG stellv. StWStP SWP SZ SZAG ThürVBl. u. u. a. UAbs. Übers. urspr. Urt. v. Var. VBlBW Verf. vgl. vollst. VR VVDStRL VVE WFStG z. B. ZG ZöR ZRP ZSE

Abkürzungsverzeichnis preußisch rechtlich Randnummer Rechtssache Satz/Seite Sammlung sogenannt Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sozialistische Reichspartei ständige Rechtsprechung Stabilisierungsmechanismusgesetz stellvertretend Staatswissenschaften und Staatspraxis Stiftung Wissenschaft und Politik Süddeutsche Zeitung Sanktionszahlungsaufteilungsgesetz Thüringer Verwaltungsblätter und und andere Unterabsatz Übersetzung ursprünglich Urteil vom/von Variante Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg Verfasser vergleiche vollständig Verwaltungsrundschau Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verfassungsvertrag für Europa Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz zum Beispiel Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Öffentliches Recht Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften

Einführung: Anliegen der Arbeit und Gang der Untersuchung I. Anliegen der Arbeit Fast genau drei Jahre nach Veröffentlichung des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum Vertrag von Lissabon, das wohl ohne Übertreibung – zumindest aus staatsrechtlicher Sicht – als eines der wichtigsten und wegweisendsten Karlsruher Urteile des letzten Jahrzehnts bezeichnet werden kann, bieten dessen Inhalte mehr denn je Anlass zur kontroversen Diskussion unter Staats- und Europarechtlern. Dies indiziert nicht zuletzt die Vielzahl der erschienenen Publikationen zu dem Richterspruch. Obwohl das Urteil scheinbar umfassende Antworten auf viele gestellte (und nicht oder nicht so gestellte1) Fragen geliefert hat, wurden gleichzeitig neue Fragen aufgeworfen und alte, spätestens seit der letzten richtungsweisenden integrationsbezogenen Entscheidung des Zweiten Senats zum Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 19932 in der Staatsrechtswissenschaft schwelende „Diskussionsherde“ neu entfacht. Der Hauptzweig dieser Diskussionsmaterie besteht auch nach Veröffentlichung des Urteils in der Frage, zu deren Klärung das Karlsruher Verdikt hätte führen sollen: jene nach den konkreten rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Weiterführung europäischer Integration der Bundesrepublik Deutschland. Kann diese auf Grundlage des Grundgesetzes unternommen werden oder – und dieser Gedanke führt zwangsläufig in medias res – bedarf es mangels weiterer durch das derzeitige Grundgesetz zugelassener Integrationsmöglichkeiten der Basis einer wie auch immer gearteten und zu schaffenden Nachfolgeverfassung? Letztere 1 Vgl. dazu den lakonischen Sarkasmus der Verfassungsrichterin G. Lübbe-Wolff in der abweichenden Meinung zu BVerfGE 112, 1 (44) – Bodenreform III: „Der Senat antwortet auf Fragen, die der Fall nicht aufwirft, mit Verfassungsgrundsätzen, die das Grundgesetz nicht enthält“. 2 BVerfGE 89, 155 – Maastricht; eine anschauliche Darstellung des „zentralen Einschnitt[s] für das Staatsrecht“, den dieses Urteil damals herbeigeführt hatte, und welcher sich an der kaum überschaubaren Anzahl der Anmerkungen und Besprechungen sowie der sich anschließenden Debatte dazu widerspiegelte, findet sich bei A. K. Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht. Die Europäisierung der deutschen Rechtsordnung in historisch-empirischer Sicht, 2011, S. 241 f.; H. Steinberger, Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, in: Ulrich Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung – Völkerrecht, Europarecht, Staatsrecht. Festschrift für Rudolf Bernhardt, 1995, S. 1313 (1316 ff.) sieht im Maastricht-Urteil sogar den Anlass einer staatsrechtlichen Grundsatzdiskussion über die europäische Integration.

20

Einführung

Entwicklungsalternative verbände die Frage nach dem konkreten Verlauf der Grenzlinie zwischen legitimer und verfassungswidriger Kompetenzabgabe mit der nicht weniger kontrovers diskutierten Frage nach der Zulässigkeit, Ausgestaltung und Notwendigkeit einer Verfassungneugebung durch das deutsche Volk. Die Thematik einer das Grundgesetz ablösenden Verfassung stand seit Vollendung der deutschen Wiedervereinigung eher in zweiter Reihe. Als ein Indiz für die erneute unbedingte Aktualität dieser Frage ist jedoch die Tatsache zu werten, dass jüngst Verfassungsbeschwerden angekündigt wurden, um ein in Deutschland nicht geplantes Referendum über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und den Fiskalpakt notfalls gerichtlich zu erzwingen3. Die mit der EuroRettung einhergehenden weitreichenden und demokratischer Herrschaft entzogenen Befugniszuwächse der Unionsorgane führten nach Ansicht der Beschwerdeführer zu einer währungspolitischen Annäherung der Europäischen Union an einen Bundesstaat, die nicht auf Grundlage des Grundgesetzes erfolgen könne, sondern der Entscheidung des deutschen Volks als Souverän vorbehalten sei4. Die naturgemäß bestehende Politikaffinität dieser staatsrechtlichen Inhalte erklärt zugleich die Vielzahl mitunter durch verfassungsrechtliche Vorverständnisse geprägter oder (partei)politisch gefärbter Beiträge zu diesem Thema. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich vor dem Hintergrund der derzeitigen politischen Diskussionen um die (unsichere) Zukunft der Europäischen Union auf die vom Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil aktualisierten verfassungsrechtlichen Integrationsmöglichkeiten und -grenzen. Sie tut dies primär im Hinblick auf die in der Gerichtsentscheidung eher schemenhaft angedeutete Möglichkeit und Notwendigkeit einer Überwindung der Integrationshürden zugunsten weiterer Intensivierung des europäischen Einigungsprozesses. Angesichts dieser aus der Koexistenz von verbindlichem Integrationsauftrag und unüberwindbaren Integrationsgrenzen resultierenden Zwickmühle aus Demokratiedefizit der Europäischen Union und grundgesetzlichem Verbot der Staatswerdung der Europäischen Union stellt sich die Frage nach einem Ausgang aus diesem Dilemma mehr denn je. Für letzteren Schritt soll das Verfahren einer Ablösung des Bonner Grundgesetzes im Wege einer Volksabstimmung gemäß Art. 146 GG beleuchtet werden. Die Ausgangsfragen der Untersuchung lauten daher: Welche Integrationsgrenzen beinhaltet das Grundgesetz? Ist ein weiterer Fortgang der Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union über die Gestalt hinaus, welche sie nach dem Vertrag von Lissabon erreicht hat, auf Grundlage des 3 So die jüngsten Äußerungen des Leipziger Staatsrechtlers C. Degenhart und der früheren Bundesministerin der Justiz H. Däubler-Gmelin; vgl. auch das zugehörige „Memorandum zur geplanten Verfassungsbeschwerde gegen ESM-Vertrag und Fiskalvertrag“ der Organisation Mehr Demokratie e. V., (abrufbar unter http://www.ver fassungsbeschwerde.eu) sowie die Reaktion des Bundespräsidenten J. Gauck, in: SZ v. 17.4.2012 („Gauck erwartet Ja aus Karlsruhe zum Rettungsschirm“). 4 So das Memorandum (Fn. 3), S. 6.

II. Gang der Untersuchung

21

Grundgesetzes zulässig oder ist dafür eine Verfassungneugebung erforderlich? Falls die zweite Alternative einschlägig ist, bietet der Schlussartikel 146 GG für das Ablöseverfahren eine geeignete und zulässige Möglichkeit?

II. Gang der Untersuchung Zunächst soll eine Bestandsaufnahme des Widerspruchs zwischen grundsätzlicher Integrationsoffenheit und den weitreichenden Integrationsgrenzen des Grundgesetzes erfolgen. Als Ausgangspunkt werden hier die Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und deren vielstimmiges wissenschaftliches Echo gewählt, wobei anhand der maßgeblichen europabezogenen Bestimmungen des Grundgesetzes die Möglichkeiten und Grenzen der Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union näher aufgezeigt werden. Abschließend folgt ein (bewusst) kurzer Ausblick darauf, wie sich der Integrationsprozess angesichts der vom Bundesverfassungsgericht in der Lissabon-Entscheidung festgestellten Grenzen weiter entwickeln könnte, bevor im zweiten Kapitel die vom Bundesverfassungsgericht hergeleitete Argumentation bezüglich der Notwendigkeit einer Verfassungneugebung zur Ermöglichung der Gründung eines europäischen Bundesstaats beleuchtet und die Alternative einer Verfassungneugebung gemäß Art. 146 GG im Rahmen der europäischen Integration aufgezeigt und diskutiert wird. Nach Betrachtung des geschichtlichen Hintergrunds von Art. 146 GG und dessen Vorgängervorschrift des Art. 146 GG a. F. – insbesondere während der Zeit der deutschen Wiedervereinigung – soll neben der Untersuchung des grundsätzlichen „Ob“ der Anwendung dieser Schlussvorschrift des Grundgesetzes auch ein kleiner Ausblick auf das „Wie“ dieses vergleichsweise ungewöhnlichen verfassungsrechtlichen Ablösevorbehalts gewagt werden.

Kapitel 1

Eine Bestandsaufnahme: Die grundgesetzlichen Bedingungen für die europäische Integration seit der „Lissabon-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts5 zum Vertrag von Lissabon6 wurde vor seiner Veröffentlichung mit Spannung erwartet. Nach dem letzten Meilenstein auf dem Gebiet des nationalen Europaverfassungsrechts, dem Urteil zum Vertrag von Maastricht vom 12. Oktober 19937, erhoffte man sich durch den Karlsruher Richterspruch eine Aktualisierung des rechtlichen Verhältnisses von deutschem Grundgesetz zur Europäischen Union8. Diese Erwartungen umfassten unter anderem grundlegende Aussagen zur Vereinbarkeit der durch die bevorstehende erneute Änderung der Europäischen Verträge erreichten Integrationsstufe mit der deutschen Verfassungsstaatlichkeit, welche über den aktuellen Fall hinaus und unabhängig von der personellen Besetzung des Gerichts als verbindliche Leitlinien für die Prüfung europäischer Verträge oder Rechtsakte innerhalb des Integrationsprozesses dienen9.

5

BVerfGE 123, 267, unter anderem abgedruckt in NJW 2009, S. 2267 ff. Der vollständige Titel des Vertrags lautet „Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“, bekanntgemacht im ABl. 2007/C 306/01. 7 BVerfGE 89, 155. 8 Vgl. K. F. Gärditz/C. Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, in: JZ 2009, S. 872 (872): „Ein historisches Urteil“. 9 Bereits vor dem Maastricht-Urteil waren das Solange I-Urteil aus dem Jahre 1974 (BVerfGE 37, 271) sowie das Solange II-Urteil aus dem Jahre 1986 (BVerfGE 73, 339) Leitentscheidungen betreffend die deutsche Beteiligung am europäischen Integrationsprozess. Zudem enthielten sowohl der Vielleicht-Beschluss von 1979 (BVerfGE 52, 187) als auch das Bananenmarkt-Urteil von 2000 (BVerfGE 102, 147) richtungsweisende Aussagen zum Verhältnis der deutschen zur europäischen Rechtsordnung. Zusammenfassend dazu bereits M. Schröder, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates im Prozeß der europäischen Integration, in: DVBl. 1994, S. 316–325; R. Streinz, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 23 Rn. 41 ff.; A. Haratsch/C. Koenig/M. Pechstein, Europarecht, 7. Aufl. 2010, S. 62 ff.; M. Herdegen, Europarecht, 13. Aufl. 2011, § 10 Rn. 19 ff. 6

I. Kernaussagen des Richterspruchs

23

I. Kernaussagen des Richterspruchs Die Kernaussage des einstimmig gefällten Urteils ist für sich betrachtet unspektakulär und wenig überraschend10: Zwar wurde das zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils vom Bundespräsidenten noch gar nicht ausgefertigte11 „Ausweitungsgesetz“ 12, nicht jedoch der Inhalt des Vertrags von Lissabon nach Maßgabe der Gründe für verfassungswidrig erklärt und somit das deutsche Zustimmungsgesetz nicht kassiert. Die unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen des Urteils sind bekannt: Es folgte eine den detaillierten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprechende13 Überarbeitung des nunmehr Integrationsverantwortungsgesetz14 (IntVG) getauften Regelungswerks durch den deutschen Gesetzgeber, welches die geforderten Nachbesserungen hinsichtlich der parlamenta-

10 So M. Ruffert, An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts: Das Urteil des BVerfG zum Vertrag von Lissabon, in: DVBl. 2009, S. 1197–1208 (1197); C. Schönberger, Die Europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot – Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Der Staat 48 (2009), S. 535 (538 f.) geht soweit, von einer „faktischen Impotenz“ des Gerichts „zur Vertragsverwerfung“ zu sprechen und sieht daher das Urteil als eine „Ja-aber“-Entscheidung an, in der versucht werde, das europäische Primärrecht quasi grundgesetzkonform auszulegen. 11 So E. Denninger, Identität versus Integration, in: JZ 2010, S. 969–974 (969); diesen erstaunt zudem die massive Kritik am Urteil angesichts der Tatsache, dass das Gericht „durchgreifende[n] verfassungsrechtliche[n] Bedenken“ bezüglich der zu prüfenden Normen kaum äußere. 12 Der vollständige Titel des Gesetzes lautete „Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union“, BT-Drs. 16/8489. 13 Denninger, Identität (Fn. 11), S. 969; E. R. Zivier, Finalität des Europäischen Einigungsprozesses. Überlegungen nach dem Lissabon-Urteil des BVerfG, in: Recht und Politik 45 (2009), S. 225 (226) bezeichnet die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts als „schnell erfüllbare Bedingungen“ und wertet diese nicht als integrationsskeptisch. 14 „Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union“, BGBl. I, S. 3022 v. 22.9.2010. Im Zuge der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon wurden zudem das „Gesetz zur Umsetzung der Grundgesetzänderungen für die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon“, BGBl. I, S. 3822 v. 3.12.2009, das veränderte „Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union“, BGBl. I, S. 3026 v. 22.9.2009 sowie das veränderte „Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union“, BGBl. I, S. 3031 v. 22.9.2009 erlassen; dazu aus der Lit. J.-U. Hahn, Die Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten nach dem neuen Integrationsverantwortungsgesetz, in: EuZW 2009, S. 758 ff.; S. Hölscheidt/S. Menzenbach/B. Schröder, Das Integrationsverantwortungsgesetz – ein Kurzkommentar, Zeitschrift für Parlamentsfragen 40 (2009), S. 758 ff.; ausf. M. Spörer, in: A. von Arnauld/ U. Hufeld (Hrsg.), Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen – IntVG, EUZBBG, EUZBLG, 2011, S. 162 ff.; M. Nettesheim, Die Integrationsverantwortung – Vorgaben des BVerfG und gesetzgeberische Umsetzung, in: NJW 2010, S. 177 ff.

24

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

rischen Mitwirkungsrechte am Prozess der europäischen Integration enthielt, und der Vertrag von Lissabon konnte am 23. September 2009 ratifiziert werden. Darüber hinaus enthält das Urteil jedoch eine Fülle neuer normativer Vorgaben, die so nicht unbedingt vorherzusehen waren15. So war beispielsweise bisher anerkannt, dass das Europäische Parlament zumindest eine ergänzende demokratische legitimierende Funktion innehat. Dieses wird nun im Lissabon-Urteil nachhaltig bestritten16. Die parlamentarische Kontrolle der Regierung wird durch das Urteil gestärkt, weitere Rechenschaftspflichten der Regierung gegenüber dem Parlament werden etabliert. Letzteres steht im Mittelpunkt der neu geschaffenen verfassungsrechtlichen Integrationsverantwortung17 gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 GG, welche die Beachtung der verfassungsrechtlich vorgegebenen Bahnen europäischer Integration umfasst18 und es unter anderem gebietet, dass Deutschland das „Gespenst eines Europäischen Bundes15 So Ruffert, Lissabon-Urteil (Fn. 36), S. 92, der sich dem in der Diskussion aufgekommenen Vorwurf anschließt, dass die Kernaussagen des Urteils hätten kürzer gefasst werden können und dass die theoretischen Teile das zur Subsumtion der maßgeblichen Vorschriften erforderliche Maß weit überschreiten (ebd., S. 95). 16 BVerfGE 123, 267 (371 f.). 17 BVerfGE 123, 267 (2. Leitsatz, 351, 353 ff.). Das Bundesverfassungsgericht definiert Integrationsverantwortung als „eine der Bundesregierung und den gesetzgebenden Körperschaften obliegende besondere Verantwortung im Rahmen der Mitwirkung [bei ohne mitgliedstaatliche Ratifikation möglichen Änderungen der Europäischen Verträge allein durch die Organe der Europäischen Union und grundsätzlicher Fortgeltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung], die in Deutschland innerstaatlich den Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG genügen muss“, siehe BVerfGE 123, 267 (351); näher zu Herkunft, Funktion und Ausgestaltung dieses Konzepts K. Dingemann, Zwischen Integrationsverantwortung und Identitätskontrolle: Das „Lissabon“-Urteil des BVerfG, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 491 ff.; P. Hector, Zur Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 599 ff.; ausf. U. Hufeld, in: von Arnauld/Hufeld, Systematischer Kommentar (Fn. 14), S. 25 ff.; Nettesheim, Integrationsverantwortung (Fn. 14); A. Voßkuhle, Die Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, in: P. Axer u. a. (Hrsg.), Das Europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, Die Verwaltung, Beiheft 10, 2010, S. 229 ff.; zur Integrationsverantwortung als Konzeption zur Bewältigung des Spannungsverhältnisses zwischen dem Verfassungsauftrag der Mitwirkung am europäischen Integrationsprozess einerseits und dem Schutz der nationalen Verfassungsidentität andererseits ders., Fruchtbares Zusammenspiel, in: FAZ v. 22.04.2010, S. 11; kritisch N. Sonder, Was ist Integrationsverantwortung? – Kritische Überlegungen zu den verfassungstheoretischen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und der Umsetzung im IntVG –, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 94 (2011), S. 214 ff.; S. Schmahl, Integrationsverantwortung, Demokratieprinzip und Gewaltenteilung – Die Mitwirkung der deutschen Verfassungsorgane in Angelegenheiten der Europäischen Union, in: E. Hilgendorf/ F. Eckert (Hrsg.), Subsidiarität – Sicherheit – Solidarität, 2012, S. 765 ff.; zur Integrationsverantwortung der deutschen Parlamente C. Calliess, Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, S. 219 ff.; F. Wittreck, Wächter wider Willen – Probleme der Beteiligung von Parlamenten am europäischen Integrationsprozeß auf Bundes- und Landesebene, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 26 (2011), S. 122 ff. 18 Vgl. die Ausführungen in BVerfGE 123, 267 (433).

I. Kernaussagen des Richterspruchs

25

staats“ 19 meiden soll. Die materiell-rechtlichen Integrationshürden des Grundgesetzes werden zudem angereichert durch die rechtliche Subjektivierung des Art. 146 GG20. Eine weitere Kernaussage des Urteils bildet die Feststellung, dass das Grundgesetz die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraussetzt, sondern diese auch garantiert21. Durch die Klarstellung, dass sich der deutsche Nationalund Verfassungsstaat unter den aktualisierten Bedingungen in der europäischen Staatengemeinschaft als gleichberechtigtes Glied behauptet, wird einem Aufgehen des Nationalstaats in einem vereintem Europa demnach vorerst eine klare Absage erteilt22. Zwar wird eine europäische Föderation nicht vollständig ausgeschlossen, jedoch wird der Beitritt Deutschlands zu einem Bundesstaat unter anderem23 von einer „freien Entscheidung des deutschen Volks jenseits der gegenwärtigen Geltungskraft des Grundgesetzes“ abhängig gemacht24. Der Rahmen der Vereinbarkeit von fortschreitender europäischer Integration und souveräner Staatlichkeit Deutschlands nach dem Grundgesetz scheint „weitgehend ausgeschöpft“ 25. Wenn das Bundesverfassungsgericht in besagtem Urteil die Begriffe 19 Oppermann, Musterknaben (Fn. 34), S. 473; ebenso Denninger, Identität (Fn. 11), S. 971; kritisch, da die Präambel und Art. 23 GG einen Beitritt Deutschlands zu einem europäischen Bundesstaat vorsähen E. Röper, Der Souveränitäts- und Volksbegriff des Bundesverfassungsgerichts, in: DÖV 2010, S. 285 (285). 20 BVerfGE 123, 267, Rn. 179 ff., 239 ff.; kritisch dazu M. Nettesheim, Ein Individualrecht auf Staatlichkeit? Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG, in: NJW 2009, S. 2867 ff.; dazu i. E. unter B. V. 1. 21 BVerfGE 123, 267 (343); kritisch dazu M. Jestaedt, Warum in die Ferne schweifen, wenn der Massstab liegt so nah?, in: Der Staat 48 (2009), S. 497 (505 ff.); P.-C. Müller-Graff, Das Karlsruher Lissabon-Urteil: Bedingungen, Grenzen, Orakel und integrative Optionen, in: integration 32 (2009), S. 331 (338 ff.). 22 So Isensee, Integrationswille (Fn. 34), S. 36; Zivier, Finalität (Fn. 13), S. 227; hingegen zur (schwindenden) Bedeutung des Nationalstaats in der europäischen Integration siehe J. D. Kuhnen, Die Zukunft der Nationen in Europa. Ist das Zeitalter der Nationen und Nationalstaaten in Europa vorüber?, 2009, S. 214 (234), der zwar die Staatlichkeit der Nationalstaaten in der Europäischen Union nicht zur Disposition gestellt sieht, jedoch eine Veränderung der klassischen Elemente des Staatsbegriffs, insbesondere der durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union schwindenen nationalen Staatsgewalt beobachtet. Auch durch die Einführung der Unionsbürgerschaft sei jedoch keine Bewegung hin zu einem die formelle Staatsangehörigkeit ablösenden Unionsvolk erkennbar. 23 Neben dem Votum des deutschen Volks für einen Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat ist laut Bundesverfassungsgericht in diesem föderativen Gebilde jedenfalls ein solches Legitimationsniveau notwendig, „das den Anforderungen an die demokratische Legitimation eines staatlich organisierten Herrschaftsverbandes vollständig entspräche“ und nicht mehr von nationalen Verfassungsordnungen vorgeschrieben werden könne (BVerfGE 123, 267 [364]), Zivier, Finalität (Fn. 13), S. 227. 24 BVerfGE 123, 267 (347 f., 364). 25 So der Präsident des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts A. Voßkuhle „Mehr Europa lässt das Grundgesetz kaum zu“, in: FAZ v. 25.9.2011, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/europas-schuldenkrise/im-gespraech-andreas-voss kuhle-mehr-europa-laesst-das-grundgesetz-kaum-zu-11369184.html, der als Ausweg ei-

26

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

der verfassunggebenden26 Gewalt des Volkes beziehungsweise der Mitgliedstaaten daher fast ein dutzend Mal benutzt27, so kann man dies als Auweitung der eigenen Prüfungskompetenz (sogar) auf den pouvoir constituant interpretieren28 oder in einem Anflug nachträglicher Glorifizierung des Maastricht-Urteils als „verfassungsabgehobene Argumentation“ abtun29. Etwas distanzierter und wertungsfreier kann man dies jedoch auch als wenig subtiles Zeichen dafür werten, dass sich der europäische Einigungsprozess in der „post Lissabon-Gestalt“ mittlerweile die innerhalb des Grundgesetzes ultimativ zulässige Integrationsstufe erreicht zu haben scheint. Das Bundesverfassungsgericht verbindet mit der Kategorie der Staatlichkeit vornehmlich die staatsrechtliche Grundkategorie der Souveränität30. Im Grundgesetz kommen diese Wörter zwar ebenso wenig vor wie die vom Senat im Lissabon-Urteil ebenfalls verwendeten Begriffe Integrationsprogramm, Gewaltenteilung, Übermaßverbot oder Kompetenz-Kompetenz31. Im Gegensatz zu den letztne neue Verfassung sieht („Dafür wäre ein Volksentscheid notwendig“); vgl. dazu auch G. P. Hefty, Eine neue Verfassung?, in: FAZ v. 24.10.2011, S. 10. 26 Eine einheitliche Schreibweise hat sich hier bisher nicht durchgesetzt; neben der hier gewählten Schreibweise wird häufig auch die Form „verfassungsgebend“, mit eingefügtem Fugen-s gewählt. Für die Verwendung der Schreibweise ohne Fugen-s spricht jedoch insbesondere, dass der Parlamentarische Rat selbst (vgl. Stenobericht, S. 238 [Schlussabstimmung] der 10. Sitzung des Plenums am 8. Mai 1949) die korrekte Formulierung „verfassunggebend“ gewählt hat. Erst bei der Verkündung des Grundgesetzes wenige Tage später ist die Schreibweise aus unerfindlichen Gründen geändert worden; vgl. zur Frage, ob das Fugen-s in verfassungsgebende Gewalt, wie die Präambel des Grundgesetzes es enthält, tolerierbar ist, als jahrelanger Gegenstand gegengerichteter Petitionen, A. Neubacher, Schwankendes Fugen-s, in: Der Spiegel 41/2004, S. 80. 27 Vgl. BVerfGE 123, 267 (332, 340, 343 f., 357, 370, 381 sowie 404). 28 Diese Tendenz bei Halberstam/Möllers, Court (Fn. 34), S. 1255 f. 29 In diese Richtung Jestaedt, Ferne (Fn. 21), S. 511 f., welcher kritisiert, dass das Gericht in seinen Ausführungen den pouvoir constituant „wie einen regulären Rechtstitel“ behandle, im Maastricht-Urteil hingegen noch gänzlich ohne Rekurs auf die verfassunggebende Gewalt ausgekommen sei. 30 BVerfGE 123, 267 (310, 324 f., 346 ff., 357, 364 ff., 395 ff., 419). 31 So inter alia H.-G. Pöttering, Wie geht es weiter mit Europa?, in: FAZ v. 17.2. 2012, S. 8. Auch in den dem Grundgesetz vorhergehenden deutschen Verfassungen fand der Begriff der „Souveränität“ – im Gegensatz etwa zu den benachbarten Verfassungsdokumenten in Frankreich – keinen Niederschlag. M. Fromont, Souveränität und Europa: Ein Vergleich der deutschen und französischen Verfassungsrechtsprechung, in: DÖV 2011, S. 457 ff., sieht neben der föderalen Struktur der Bundesrepublik einen Grund für das Fehlen des Begriffs in „der besonderen Situation Deutschlands“ zur Zeit der Schaffung des Grundgesetzes, in dem Souveränität wohl mehr wünschenswerte Zielvorstellung als zufriedenstellender Zustand war; jedoch enthielten sowohl Art. 1 Abs. 2 des Vertrags der Bundesrepublik Deutschland mit den Drei Mächten vom 26. Mai 1952 („Deutschlandvertrag“) als auch Art. 7 Abs. 2 des Zwei-Plus-Vier-Vertrags (BGBl. 1990 II, S. 1318) den Begriff der „Souveränität“. Diese ebneten damit den Weg für ein Umdenken von der traditionell-völkerrechtlichen hin zu einer Souveränitätskategorie in der supranationalen Praxis, so E. Denninger, Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität in Europa, in: JZ 2000, S. 1121 (1123). Lenz, Rechtsakt (Fn. 34), S. 7 und Röper, Souverä-

II. Politisches und wissenschaftliches Echo

27

genannten ist der Souveränitätsbegriff jedoch variabel in seinem Aussagegehalt32. Im Zusammenhang mit dem Lissabon-Urteil wird dieser Begriff nun konturenreicher. Für den Staat bedeutet Souveränität die Unabhängigkeit von fremden Willen gerade in seinen verfassungsrechtlichen Grundlagen, eine dauerhafte Herrschaft über die europäischen Verträge, den Vorbehalt der Kompetenz-Kompetenz33, das Letztentscheidungsrecht, die grundsätzliche Umkehrbarkeit der vertraglichen Selbstbindung sowie ein Recht zum Austritt aus der Europäischen Union. Kurz gesagt bedeutet Souveränität in diesem Kontext die Freiwilligkeit der Zugehörigkeit zu und des Verbleibens in der Europäischen Union. Daraus ergibt sich umgekehrt, dass die Europäische Union ihre Gewalt nicht auf ein eigenes Legitimationsfundament gründen kann, sondern diese demokratische Legitimation ausschließlich von den Mitgliedstaaten ableitet.

II. Politisches und wissenschaftliches Echo („post Lissabon“-Debatte) Wenngleich das Ergebnis des Urteils wenig überraschte, so war nach der Urteilsveröffentlichung das Echo in Politik und Literatur sehr groß34. Angesichts nitätsbegriff (Fn. 19), S. 286 kritisieren, dass – obwohl der Text des Grundgesetzes die Begriffe „souverän“ oder „Souveränität“ nicht enthält – das Bundesverfassungsgericht diese Wörter im Urteil zum Vertrag von Lissabon insgesamt 33 mal verwendet; zu Recht kritisch zur ähnlich souveränitätsbetonenden Tendenz im Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgericht bereits J. A. Frowein, Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 54 (1994), S. 1 (5 ff.), der die damalige Verwendung des Begriffs der Souveränität durch das Bundesverfassungsgericht vorrangig als (unnötige) Abwehr gegen einen möglichen Schluss auf eine Staatsqualität der Europäischen Union versteht; dass das Bundesverfassungsgericht mit der Benutzung dieser zum Teil in vorheriger Rechtsprechung als Eigenkreationen entwickelten, abstrakten Termini auf „fruchtbaren Boden für Selbstherausforderungen“ stößt, betont Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 339; monographisch zum Souveränitätsbegriff D. Grimm, Souveränität – Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, 2009. 32 Isensee, Integrationswille (Fn. 34), S. 36; kritisch zur Tauglichkeit des Souveränitätsbegriffs zur Beschreibung des Verhältnisses der Europäischen Union zu den Mitgliedstaaten sind Denninger, Ende (Fn. 31), S. 1124 ff. sowie R. Wahl, Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, in: H. Dreier (Hrsg.), Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit. Symposium für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag, 2005, S. 113 (129 ff.). 33 Dieser Grundsatz findet sich in Art. 5 Abs. 2 EUV wieder, welcher besagt, dass „die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeit tätig [wird], die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben“. 34 Unter den zahlreichen Besprechungen siehe beispielsweise P. Becker/A. Maurer, Deutsche Integrationsbremsen, Folgen und Gefahren des Karlsruher Urteils für Deutschland und die EU, in: SWP-Aktuell, Ausgabe 41/2009, S. 1 ff.; R. Bieber, „An Association of sovereign States“, in: European Constitutional Law Review 5 (2009), S. 391 ff.; J. Bröhmer, „Containment eines Leviathans“ – Anmerkungen zur Entschei-

28

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

dieser Publikationsbreite der weder auf Politik- und Staatsrechtswissenschaft noch auf Deutschland35 beschränkten, umfassend und scharf geführten Debatte dung des BVerfG zum Vertrag von Lissabon, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 543 ff.; C. Calliess, Das Ringen des Zweiten Senats mit der Europäischen Union – Über das Ziel hinausgeschossen . . ., in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 559 ff.; C. D. Classen, Legitime Stärkung des Bundestages oder verfassungsrechtliches Prokrustesbett? – Zum Urteil des BVerfG zum Vertrag von Lissabon, in: JZ 2009, S. 881 ff.; W. Cremer, Lissabon-Vertrag und Grundgesetz, in: Juristische Ausbildung 2010, S. 296 ff.; Dingemann, Integrationsverantwortung (Fn. 17); U. Everling, Europas Zukunft unter der Kontrolle der nationalen Verfassungsgerichte – Anmerkungen zum Urteil des BVerfG vom 30. Juni 2009 über den Vertrag von Lissabon, in: Europarecht 45 (2010), S. 91 ff.; A. Fisahn, Verdünnung der Zustimmung zum Zwangsgesetz – Demokratie und der Ausweg für Helden im Lissabon Urteil, in: Juridikum 4/2009, S. 176 ff.; Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8); H. Grefrath, Exposé eines Verfassungsprozessrechts von den Letztfragen? Das Lissabon-Urteil zwischen actio pro socio und negativer Theologie, in: Archiv des öffentlichen Rechts 135 (2010), S. 221 ff.; D. Grimm, Das Grundgesetz als Riegel vor einer Verstaatlichung der Europäischen Union, in: Der Staat 48 (2009), S. 475 ff.; P. Häberle, Das retrospektive Lissabon-Urteil als versteinernde Maastricht II-Entscheidung, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 58 (2010), S. 317 ff.; M. Hahn, Mehr Demokratie wagen: „Lissabon“-Entscheidung und Volkssouveränität, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 583 ff.; D. Halberstam/C. Möllers, The German Constitutional Court says „Ja zu Deutschland!“, in: German Law Journal 10 (2009), S. 1241 ff.; A. Hatje/J. P. Terhechte (Hrsg.), Grundgesetz und europäische Integration – Die Europäische Union nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, EuroparechtBeiheft 1/2010 (mit umfassender Analyse des Urteils anhand v. insg. zehn Beiträgen); J. Isensee, Integrationswille und Integrationsresistenz des Grundgesetzes – Das BVerfG zum Vertrag von Lissabon, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2010, S. 33 ff.; Jestaedt, Ferne (Fn. 21); M. Kottmann/C. Wohlfahrt, Der gespaltene Wächter? – Demokratie, Verfassungsidentität und Integrationsverantwortung im Lissabon-Urteil, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 69 (2009), S. 443 ff.; L. Kühnhardt, Die zweite Begründung der europäischen Integration, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 60 (2010), S. 3 ff.; H. Lecheler, Die Mitwirkungsgesetzgebung an der europäischen Integration vor und nach dem Urteil des BVerfG zum Lissabon-Vertrag, in: JZ 2009, S. 1156 ff.; C. O. Lenz, Ausbrechender Rechtsakt, in: FAZ v. 8.8.2009, S. 7; F. C. Mayer, Rashomon in Karlsruhe, in: NJW 2010, S. 714 ff.; Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 331 ff.; ders., Das LissabonUrteil – Implikationen für die Europapolitik, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 60 (2010), S. 22 ff.; M. Nettesheim, „Entmündigung der Politik“, Gastbeitrag in: FAZ v. 27.8.2009, S. 8; ders., Individualrecht (Fn. 20); C. Ohler, Herrschaft, Legitimation und Recht in der Europäischen Union – Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des BVerfG, in: Archiv des öffentlichen Rechts 135 (2010), S. 153 ff.; T. Oppermann, Den Musterknaben ins Bremserhäuschen! – Bundesverfassungsgericht und Lissabon-Vertrag, in: EuZW 2009, S. 473 ff.; E. Pache, Das Ende der europäischen Integration?/Das Urteil des BVerfG zum Vertrag von Lissabon, zur Zukunft Europas und der Demokratie, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2009, S. 285 ff.; Röper, Souveränitätsbegriff (Fn. 19); Ruffert, Grenzen (Fn. 10); C. Schönberger, Lisbon in Karlsruhe: Maastricht’s Epigones At Sea, in: German Law Journal 10 (2009), S. 1201 ff.; ders., Die Europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot, in: Der Staat 48 (2009), S. 535 ff.; F. Schorkopf, Die Europäische Union im Lot – Karlsruhes Rechtsspruch zum Vertrag von Lissabon, in: EuZW 2009, S. 718 ff.; ders., The European Union as An Association of Sovereign States: Karlsruhe’s Ruling on the Treaty of Lisbon, in: German Law Journal 10 (2009),

II. Politisches und wissenschaftliches Echo

29

S. 1219 ff.; I. Schübel-Pfister/K. Kaiser, Das Lissabon-Urteil des BVerfG vom 30.6. 2009 – Ein Leitfaden für Ausbildung und Praxis, in: JuS 2009, S. 767 ff.; J. Schwarze, Die verordnete Demokratie – Zum Urteil des 2. Senats des BVerfG zum Lissabon-Vertrag, in: Europarecht 45 (2010), S. 108 ff.; M. Selmayr, Endstation Lissabon? Zehn Thesen zum „Niemals“-Urteil des BVerfG vom 30. Juni 2009, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 637 ff.; J. P. Terhechte, Souveränität, Dynamik und Integration – making up the rules as we go along? Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: EuZW 2009, S. 724 ff.; D. Thym, Europäische Integration im Schatten souveräner Staatlichkeit, in: Der Staat 48 (2009), S. 559 ff.; C. Tomuschat, Lisbon – Terminal of the European Integration Process?, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 70 (2010), S. 251 ff.; J. Ukrow, Deutschland auf dem Weg vom Motor zum Bremser der Integration?, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 717 ff.; A. v. Ungern-Sternberg, L’arrêt Lisbonne de la Cour constitutionnelle fédérale allemande, la fin de l’intégration européenne?, in: Revue du droit public et de la science politique en France et à l’étranger 126 (2010), S. 171 ff.; R. Wahl, Die Schwebelage im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten – Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Der Staat 48 (2009), S. 587 ff.; rechtsvergleichend A. Weber, Die Europäische Union unter Richtervorbehalt? – Rechtsvergleichende Anmerkungen zum Urteil des BVerfG v. 30.6.2009 („Vertrag von Lissabon“), in: JZ 2010, S. 157 ff.; E. Wiederin, Deutschland über alles: Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Österreichische Juristen-Zeitung 2010, S. 398 ff.; E. R. Zivier, Finalität des Europäischen Einigungsprozesses. Überlegungen nach dem „Lissabon-Urteil“ des BVerfG, in: Recht und Politik 45 (2009), S. 225 ff. 35 Aus der ausländischen Lit. siehe etwa G. Beck, The Lisbon judgment of the German Constitutional Court, the primacy of EU law and the problem of Kompetenz-Kompetenz: a conflict between right and right in which there is no praetor, in: European Law Journal 17 (2011), S. 470 ff.; aus österr. Persp. P. Bußjäger, Folgerungen aus dem Lissabonurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Juristische Blätter 132 (2010), S. 273 ff.; aus ital. Persp. S. Cassese, L’Unione europea e il guinzaglio tedesco, in: Giornale di diritto amministrativo 15 (2009), S. 1003 ff.; aus europ. Sicht D. Doukas, The verdict of the German Federal Constitutional Court on the Lisbon Treaty – not guilty, but don’t do it again!, in: European Law Review 34 (2009), S. 866 ff.; Editorial Comments, Karlsruhe has spoken, „Yes“ to the Lisbon Treaty, but . . ., in: Common Market Law Review 46/4 (2009), S. 1023 ff.; W. T. Eijsbouts, Wir sind das Volk – notes about the notion of „the people“ as occasioned by the Lissabon-Urteil, in: European Constitutional Law Review 6 (2010), S. 199 ff.; insbes. zur soziologischen beziehungsweise politikwissenschaftlichen Perspektive des Urteils A. Grosser, The Federal Constitutional Court’s Lisbon Case: Germany’s „Sonderweg“ – An Outsider’s Perspective, in: German Law Journal 10 (2009), S. 1263 ff.; P. Kiiver, The Lisbon judgement of the German Constitutional Court – a court-ordered strengthening of the national legislature in the EU, in: European Law Journal 16 (2010), S. 578 ff.; E. Lanza, Core of State Sovereignty and Boundaries of European Union’s Identity in the Lissabon-Urteil, in: German Law Journal 11 (2010), S. 399 ff.; J. E. K. Murkens, „We want our identity back“. The revival of national sovereignty in the German Federal Constitutional Court’s decision on the Lisbon Treaty, in: Public Law 3/2010, S. 530 ff.; mit europarechtlichem Schwerpunkt M. Niedobitek, The Lisbon Case of 30 June 2009 – A Comment from the European Law Perspective, in: German Law Journal 10 (2009), S. 1267 ff.; G. Rossolillo, The German Constitutional Court and the Future of European Unification, in: The Federalist 2/51 (2009), S. 3 ff.; J. Ziller, Zur Europarechtsfreundlichkeit des deutschen Bundesverfassungsgerichtes. Eine ausländische Bewertung des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zur Ratifikation des Vertrages von Lissabon, in: ZöR 65 (2010),

30

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

um den Richterspruch scheint es fast unmöglich, diese annähernd vollständig zu erfassen und wiederzugeben36. Abseits der zweifellos bestehenden politischen Dimension37 des Lissabon-Urteils soll in diesem Beitrag daher versucht werden, sich der staatsrechtlichen Debatte ausschließlich hinsichtlich der für einen etwaigen Anwendungsfall des Art. 146 GG relevanten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes zu nähern und diese als Ausgangspunkt für die weiteren Erörterungen festzuhalten. Das ist jedenfalls deswegen notwendig, weil das Lissabon-Urteil neben weitreichenden Ausführungen zur bisherigen Rechtsprechung des Karlsruher Gerichts zum Verhältnis der Europäischen Union und deren Vorgängerinnen zu der Bundesrepublik Deutschland als (mehr oder minder) souveränem Mitgliedsstaat auch eine ausführliche Herleitung und Aktualisierung der aus dem Grundgesetz resultierenden Grenzen für die Europäische Integration enthält38. In der angesprochenen „post Lissabon“-Debatte ist zu beobachten, dass zunächst grundlegende staatsrechtliche und staatstheoretische Konzepte (z. B. die Souveränität) herangezogen werden39, bevor das Thema der demokratischen LeS. 157 ff.; rechtsvergleichend zu den höchstrichterlichen Urteilen zum Vertrag von Lissabon in den Ländern Österreich, Tschechien, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Lettland und Polen M. Wendel, Lisbon Before the Courts: Comparative Perspectives, in: European Constitutional Law Review 7 (2011), S. 96 ff.; ebenfalls rechtsvergleichend, jedoch mit Fokus auf Entwicklung, Ausprägung und verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zum Souveränitätsverständnis in Frankreich und Deutschland zuletzt Fromont, Souveränität (Fn. 31), S. 457 ff. 36 So auch M. Ruffert, Nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – zur Anatomie einer Debatte, in: H. Dreier/F. W. Graf/J. J. Hesse (Hrsg.), Staatswissenschaften und Staatspraxis, 2011, S. 84 (85), der die wesentlichen Inhalte der Diskussion strukturiert und darstellt. 37 Ruffert, Lissabon-Urteil (Fn. 36), S. 86 f., schätzt die politische Debatte auch als Ausdruck einer „öffentlichen Suche nach zentralen unionsverfassungsrechtlichen und europapolitschen Grundorientierungen“ ein, da sich die rechtliche Konzeption der Europäischen Union von wirtschaftlichen hin zu sozialpolitischen Zielen entwickelt habe (dort S. 88 f.); J. Habermas, Zur Verfassung Europas – Ein Essay, 2011, S. 124 ff. hingegen sieht das europaskeptische Urteil als Teil eines bereits vollendeten, generellen Mentalitätswandels innerhalb der Europapolitik Deutschlands („Wiederentdeckung des deutschen Nationalstaats“). Sei Deutschland anfänglich noch von diplomatischer Zurückhaltung geprägt gewesen, die nicht zuletzt aus dem „Bewusstsein eines verpflichtenden historisch-moralischen Erbes“ hergerührt habe, so verstehe es sich heutzutage als ein europäisches „Deutschland in einem deutsch geprägten Europa“, selbstbewusst als militärisch gestützte Mittelmacht und ohne den unbedingten „Vorrang nationaler Rücksichten“ zu verschleiern. 38 Zudem wird Art. 146 GG immer wieder als notwendiges Mittel für eine Vermittlung der erforderlichen verfassungsrechtlichen Legitimation für den gegenwärtig erreichten Stand der europäischen Integration auf den Plan gebracht, siehe z. B. S. Broß, Verfassungssystematische und verfassungspolitische Überlegungen zum Erfordernis eines nationalen Referendums über die Verfassung der Europäischen Union, in: M. Wollenschläger u. a. (Hrsg.), Recht – Wirtschaft – Kultur. Herausforderungen an Staat und Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung, 2005, S. 55 (57). 39 M. Herdegen, Zeitgemäße Souveränität, in: FAZ v. 24.7.2009, S. 9.

II. Politisches und wissenschaftliches Echo

31

gitimation anhand der gestärkten Rolle der nationalen Parlamente begrüßt und diskutiert wird40. Ausschlaggebend für das Ausmaß der sich dem Urteil anschließenden Debatte dürfte neben der Bedeutung für die künftige europäische Integration an erster Stelle die stark theoriegeprägte, lehrbuchartige Gestaltung (insbesondere) der Begründung des 147-seitigen Richterspruchs sein, die sehr breit geraten ist und stellenweise geradezu redundant wirkt41. Das Urteil hat zum Teil ungewohnt deutliche, kritische Stellungnahmen hervorgerufen42, die insbesondere die dogmatischen Souveränitäts- und Demokratiekonstruktionen des Gerichts43 in Frage stellten und teilweise darin gipfelten, dass das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und politischen Staatsorganen sowie die Tatsache, dass (auch) politische Entscheidungsgegenstände des Gerichts ungeachtet deren ebenso politischen Auswirkungen in erster Linie nach juristischen Regeln zu behandeln sind44, grundlegend in Frage gestellt wurde45. Die heftigen Reaktionen

40

So beispielweise P. M. Huber, Wer das Sagen hat, in: FAZ v. 10.9.2009, S. 8. Vgl. Schwarze, Demokratie (Fn. 34), der die weitreichenden Ausführungen des Gerichts angesichts des knappen Ergebnisses als erheblichen, nicht notwendigen Aufwand bezeichnet; ähnl. Denninger, Identität (Fn. 11), S. 969; Schübel-Pfister/Kaiser, Lissabon-Urteil (Fn. 34), S. 768 sehen den Grund für den großen Umfang und die Komplexität des Urteils in der großen Zahl der Verfahren, die zu einer gemeinsamen Entscheidung verbunden wurden, sowie in der Anzahl der darin behandelten verfassungsrechtlichen Fragestellungen, mit denen sich der Zweite Senat zudem intensiv befasst hat. Berücksichtigt man dies, so trifft deren Aussage zu, dass das Bundesverfassungsgericht sogar vergleichsweise „zügig“ entschieden hat, erging das Urteil doch lediglich circa viereinhalb Monate nach der mündlichen Verhandlung und etwas mehr als ein Jahr nach dem Eingang der ersten Verfassungsbeschwerde; kritisch insbesondere zu den umfassenden Ausführungen im Urteil zu nicht entscheidungsrelevanten, zukünftigen Inhalten sind unter anderem Calliess, Ringen (Fn. 34), S. 565; Häberle, LissabonUrteil (Fn. 34), S. 321; Grimm, Grundgesetz (Fn. 34), S. 492; Wahl, Schwebelage (Fn. 34), S. 613, der die Stärken des Gerichts in der Beurteilung vergangener Sachverhalte anstelle der Vorhersage zukünftiger Entwicklungen verortet, sowie Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 274 („[. . .] more an academic lecture than a judgment [. . .]“). 42 So etwa die Beiträge von C. Calliess, Unter Karlsruher Totalaufsicht, in: FAZ v. 27.8.2009, S. 8 und Nettesheim, Entmündigung (Fn. 34), S. 8; Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 108 ff.; in summa positiver hingegen das Resüme von Grefrath, Exposé (Fn. 34), S. 247, der dem Lissabon-Urteil bescheinigt, „Wesentliches“ zum Gesamtverständnis des Grundgesetzes geleistet zu haben; ähnl. Schorkopf, Union (Fn. 34), S. 719. 43 v. Ungern-Sternberg, L’ârret (Fn. 34), S. 172 ff. 44 Zur Kontroverse, die sich stellvertretend zwischen dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle und Bundestagspräsident Lammert im Rahmen des Wissenschaftsforums des Deutschen Bundestags am 17. November 2011 in Berlin entsponn, siehe FAZ v. 22.12.2011, S. 30 sowie D. Grimm, Was das Grundgesetz will, ist eine politische Frage, ebenda S. 30. 45 Zivier, Finalität (Fn. 34), S. 225 sieht hier eine Parallele zu der politischen Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR v. 31.7.1973 (BVerfGE 36, 1), welches ebenfalls einen zwischenstaatlichen Vertrag mit Bezug zu einem „größeren Projekt“ zum Gegenstand hatte und welches – obwohl das Bundesverfassungsgericht keine unüberwindlichen rechtlichen Hindernisse aufgestellt hatte – in der Politik ebenso zu erheblichen Irritationen 41

32

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

sind neben der befürchteten rechtlichen Bindung deutscher Staatsorgane im Europäischen Prozess möglicherweise auch durch die plötzlich erzwungene Reflexion der bisher wenig diskutierten Finalität des verbindlichen Europäischen Einigungsprozesses und konkret durch die Frage nach einer europäischen Föderation als Zielvorstellung der Integration zu erklären46. Das Bundesverfassungsgericht behandelt diesen Fragenkomplex unter dem Stichwort des Verzichts auf Identität47 beziehungsweise auf Souveränität48. Jener, so eine Kernaussage des Lissabon-Urteils, wird durch die europäische Integration nicht gefordert49. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass das Grundgesetz nicht zum Eintritt in einen Bundesstaat unter Aufgabe des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volks ermächtigt und eine Verletzung der in Art. 79 Abs. 3 GG fixierten Verfassungsidentität in dessen verfassunggebende Gewalt eingreift50. Dass sich das Gericht zu diesen grundlegenden und nicht weniger „heiklen“ Themen in den Urteilsgründen äußert, rief im literarischen Echo auch deswegen Überraschung hervor, weil zuvor eine Verfassungswidrigkeit des Vertrags von Lissabon kaum thematisiert wurde und eine detaillierte Limitierung der Kompetenzen der Europäischen Union somit nicht für dringend erforderlich gehalten wurde51. Nicht nur in der ausländischen Literatur ist das Gericht für die bislang beispielslose Inanspruchnahme einer grundgesetzlichen Identitätskon-

über die jeweiligen zukünftig anzustrebenden Schritte geführt hat; kritisch wiederum zu den in den Stellungnahmen (siehe etwa Ukrow, Deutschland [Fn. 34], S. 717 ff.) geäußerten „Antagonismen vom ,Motor‘ und ,Bremser‘ der Integration“ Voßkuhle, Integrationsverantwortung (Fn. 17), S. 234 („endgültig überholt!“). 46 Zivier, Finalität (Fn. 34), S. 225; im Gegensatz zum Lissabon-Urteil ist das Echo der daran anknüpfenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Griechenlandhilfe vom 7. September 2011 grundlegend positiver; M. Nettesheim, „Euro-Rettung“ und Grundgesetz – Verfassungsgerichtliche Vorgaben für den Umbau der Währungsunion, in: Europarecht 46 (2011), S. 765 (767 f.) bewertet die Entscheidung beispielsweise aufgrund des sachlich-zurückhaltenden Bezugs auf die Integrationsgrenzen als „überaus klug“ und „eines wahrhaft ,europäischen‘ Verfassungsgerichts würdig“, wobei er das Urteil in Bezug auf die verfassungsrechtlichen Grenzen der Euro-Krisenbewältigung als noch nicht abschließend ansieht; ähnl. Tenor bei M. Ruffert, Die europäische Schuldenkrise vor dem Bundesverfassungsgericht – Anmerkung zum Urteil vom 7. September 2011 –, in: Europarecht 46 (2011), S. 842 ff. 47 BVerfGE 123, 267 (347); ebenso bereits BVerfGE 37, 270 (279); kritisch hingegen zur Identität als Maßstab für zukünftige politische Entwicklungen in Bezug auf die Rolle des Bundesverfassungsgerichts C. Möllers, Staat als Argument, Einleitung S. XLVI. 48 BVerfGE 123, 267 (364, 400, 402). 49 BVerfGE 123, 267 (347 f., 400). 50 BVerfGE 123, 267 (344, 347 f.). 51 Ruffert, Lissabon-Urteil (Fn. 36), S. 94; ähnl. M. Cornils, Mitgliedstaatlichkeit vorbehalten: Europa am Endpunkt der Integration?, in: J. Menzel/R. Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung – Ausgewählte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive, 2. Aufl. 2011, S. 873 (873).

II. Politisches und wissenschaftliches Echo

33

trolle52 heftig kritisiert53 und auf die Gefahr hingewiesen worden, dass dieses Vorgehen in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union „Schule machen“ 52 Die zunächst im Maastricht-Urteil etablierte „Ultra-vires-Kontrolle“ (BVerfGE 89, 155 [188, 209 f.]), also die Kontrolle vom Integrationsprogramm abweichender oder „ausbrechender“ europäischer Rechtsakte, hat das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil um die „Identitätskontrolle“ (BVerfGE 123, 267 [344]) als prozessualem Gegenstück zum Schutz der integrationsfesten Verfassungsidentätit nach Art. 79 Abs. 3 GG angereichert; vgl. dazu statt vieler J. Bergmann/U. Karpenstein, Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht – zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Vorlageverpflichtung, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 529 ff.; kritisch aufgrund des Fehlens einer gesetzl. Grundlage Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 341, der eine Deckung durch § 78 BVerfGG ausdrücklich ablehnt; verfassungsprozessrechtl. Schwerpunkt bei H. Sauer, Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil – ein neues Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2009, S. 195 ff.; Voßkuhle, Integrationsverantwortung (Fn. 17), S. 238 f.; im sog. Mangold-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2010 (Az.: 2 BvR 2661/06; auch Honeywell-Beschluss genannt) behandelten die Karlsruher Richter in ihrer Entscheidung erneut grundlegend ihre Aufgaben bei der Überprüfung von Rechtsakten der Europäischen Union, im konkreten Fall anhand der Überprüfung der Rechtspraxis des Gerichtshofs der Europäischen Union. Diesem war infolge des von ihm zuvor gefällten Mangold-Urteils vorgeworfen worden, „ultra vires“ gehandelt zu haben, indem er seine Kompetenzen dadurch überschritten habe, dass er das Urteil auf eine Richtlinie gestützt hatte, deren Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war und deutsches Recht als „unanwendbar“ bezeichnet hatte. Der Zweite Senat bestätigte hingegen die Entscheidung des Gerichtshofs und stellte fest, dass „eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht [. . .] nur in Betracht [kommt], wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt“ (LS 1); zu dieser terminologischen Anknüpfung an die Rechtsprechung des Gerichtshof der Europäischen Union zum unionsrechtl. Haftungsrecht siehe A. Proelß, Zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Kompetenzmäßigkeit von Maßnahmen der Europäischen Union: Der „ausbrechende Rechtsakt“ in der Praxis des BVerfG – Anmerkungen zum Honeywell-Beschluss des BVerfG vom 6. Juli 2010 –, in: Europarecht 46 (2011), S. 241 (245); teilweise ist diese Entscheidung vor dem Hintergrund der zuvor im Lissabon-Urteil noch erweiterten Kontroll-Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts als Rückschritt beziehungsweise Wende bewertet worden. Das Verfassungsgericht habe damit das Lissabon-Urteil teilweise zurückgenommen und dem Europäischen Gerichtshof faktisch einen Vorrang eingeräumt. Es scheue den Konflikt mit dem Gerichtshof der Europäischen Union und übe sich in Selbstbeschränkung. Allerdings gab es auch relativierende Stimmen, die eine gewisse Kontinuität zum Lissabon-Urteil sahen, vgl. F. C. Mayer/M. Walter, Die Europarechtsfreundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss, in: Jura 2011, S. 532 (539 ff.: „Honeywell belegt, dass das im Lissabon-Urteil angelegte Verfassungsprinzip der Europarechtsfreundlichkeit keine Leerformel ist und konkretisiert diesen Argumentationsstrang des Lissabon-Urteils“); S. Pötters/J. Traut, Die ultra-vires-Kontrolle des BVerfG nach „Honeywell“ – Neues zum Kooperationsverhältnis von BVerfG und EuGH?, in: Europarecht 46 (2011), S. 580 ff. sowie H. Sauer, Europas Richter Hand in Hand? – Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH nach Honeywell, in: EuZW 2011, S. 94 (95 ff.). 53 Siehe für Italien z. B. Cassese, Unione (Fn. 35), S. 1006, der sich ein Szenario ausmalt, in dem alle nationalen Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten eine solche Kontrolle für sich in Anspruch nähmen.

34

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

und damit für den Fortgang der europäischen Integration eine Blockadesituation herbeiführen könnte. Teilweise ist darin ein Widerspruch zu dem in Art. 23 Abs. 1 GG zu einem Integrationsauftrag konkretisierten Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes gesehen worden, welcher auf unionsrechtlicher Ebene dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) entspricht54. Für die Ausführlichkeit, mit der das Gericht die verfassungsrechtliche Herleitung und Begründung dieser Aussagen vornahm, ist es zudem häufig als „überschießend souveränitätsbetonend“ 55 kritisiert worden. Ebenso wurde dem Gericht vorgeworfen, eine provozierende Aufladung von Art. 79 Abs. 3 GG vorgenommen zu haben, indem es beispielsweise detaillierte Vorbehaltsbereiche formulierte, welche für den Vertrag von Lissabon ohnehin folgenlos blieben56. Dadurch, dass die Karlsruher Richter den Gerichtshof der Europäischen Union weniger als mit einzubeziehenden Partner, sondern vielmehr als zu kontrollierende Fremdinstanz einstuften und so umfassende eigene Kontrollkompetenzen etablierten, kam des Weiteren der Vorwurf auf, eine Art „Kriegserklärung“ 57 gegenüber den luxemburgischen Kollegen geleistet zu haben58. Das vorbelastete Verhältnis zum Gerichtshof der Europäischen Union hat durch die im Urteil enthaltenen Aussagen zur Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts in europarechtlichen Fragen weiteren potentiellen Diskussions- und damit Zündstoff erhalten, wenngleich so eine Debatte (entgegen anderslautenden warnenden Appellen59) durch die in jüngster Zeit eher zurückhaltende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union60 an Brisanz verloren zu haben scheint61. 54 So Denninger, Identität (Fn. 11), S. 970 mit Bezug auf Lecheler, Mitwirkungsgesetzgebung (Fn. 34), S. 1158; subtile Kritik auch bei Kottmann/Wohlfahrt, Wächter (Fn. 34), S. 451. Dem Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit wird im Gegenzug von der Europäischen Union durch die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten in deren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV) Rechnung getragen, siehe Zivier, Finalität (Fn. 13), S. 229. 55 So Ruffert, Grenzen (Fn. 10), S. 1198. 56 Ruffert, Grenzen (Fn. 10), S. 1202 ff. 57 Ruffert, Lissabon-Urteil (Fn. 36), S. 94. 58 Oppermann, Musterknaben (Fn. 34), S. 473; ähnlich deutlich Calliess, Totalaufsicht (Fn. 42), S. 8; M. Höpner u. a., Kampf um Souveränität? Eine Kontroverse zur europäischen Integration nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgericht, in: Politische Vierteljahresschrift 51 (2010), S. 323–355 (327). 59 Siehe z. B. R. Herzog/L. Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, in: FAZ v. 8.9.2008, S. 8. 60 Siehe z. B. die zweite Entscheidung in Sachen Doc Morris, EuGH, Urt. v. 19.5.2009, Rs. 171/07 und 172/07 (NJW 2009, S. 2112), welche eine neuere Tendenz des EuGH erkennen lässt, in Abkehr seiner vormaligen Funktion als „Integrationsmotor“ in Rechtsfragen zu den Grundfreiheiten größere Gestaltungsspielräume auf mitgliedstaatlicher Ebene anzuerkennen. 61 Ruffert, Lissabon-Urteil (Fn. 36), S. 97; zum Verhältnis der beiden Gerichte vgl. bereits G. Hirsch, Europäischer Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht – Koopera-

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

35

Schließlich stößt es nicht überall auf Verständnis, dass das Bundesverfassungsgericht aus grundgesetzlicher Perspektive im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung der europäischen Integration – entgegen zuvor in der Literatur thematisierter Lösungsansätze – den Weg der Volksabstimmung gemäß Art. 146 GG auf den Plan bringt62 und ihn als konkrete Option zur Überwindung der vom Gericht erläuterten verfassungsrechtlichen Integrationshürden präsentiert63. Diese im Grundgesetz verankerten Grenzen der Hoheitsrechtsübertragungen auf die Europäische Union sind jedoch nur eine limitierende, „europhobe“ Teilmenge der europarechtsbezogenen Normen des Grundgesetzes, welches prinzipiell „europarechtsfreundlich“ 64 und integrationsoffen ausgestaltet ist. Zunächst (III.) sollen daher die zwar nicht exklusive (1.), jedoch grundsätzlich bestehende europäische Affinität und Ausrichtung des Grundgesetzes (2.) anhand der einschlägigen Artikel überblicksartig dargestellt werden (3.) und nach einem zwischenzeitlichen Fazit (4.) in einer Gesamtbetrachtung ihres Einflusses auf das Verhältnis des Grundgesetzes zum europäischen Recht (5.) untersucht werden. Nach Betrachtung der mitgliedstaatlichen Haftung für die Verletzung von Unionsrecht (6.) folgt schließlich ein Umriss der durch die zuvor dargestellten europarechtsbezogenen Grundgesetzvorschriften entstehenden Bedeutung des Grundgesetzes für den gesamten europäischen Verfassungsverbund (7.), bevor eine abschließende Bewertung der grundgesetzlichen Offenheit für die europäische Integration, wie sie sich nach dem Lissabon-Urteil darstellt (8.), vorgenommen wird. In einem nächsten Schritt (V.) sollen danach die Möglichkeiten einer Überwindung der zuvor erläuterten Integrationsgrenzen (IV.) untersucht werden.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit“ des Grundgesetzes Als vor über 60 Jahren das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in den drei westlichen Besatzungszonen als neue staatliche Ordnung verkündet tion oder Konfrontation?, in: NJW 1996, S. 2457–2466; aktuell R. Arnold, Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof: Kooperation oder Konflikt?, in: H. Roth (Hrsg.), Europäisierung des Rechts, 2010, S. 1 (2 ff.); siehe i. Ü. Fn. 114. 62 Siehe den Rekurs des Bundesverfassungsgerichts auf den „unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes“ in BVerfGE 123, 267 (347 f.). 63 So Ruffert, Lissabon-Urteil (Fn. 36), S. 94 f., der den Widerstand des Schrifttums gegen diese „Schleichweg“-Konzeption der „streitbaren Deutung des Art. 146 GG“ daher als „wenig erstaunlich“ ansieht, werde doch die Zukunft des Integrationsverfassungsrechts auf diesem Wege vom Boden des Grundgesetzes verdrängt; ähnlich Denninger, Identität (Fn. 11), S. 971, der die erstmalige Interpretation des Art. 146 GG i.V. m. Art. 38 Abs. 1 GG als beschwerdefähiges Individual(grund)recht einer Verfassungsbeschwerde als „kühn“ bezeichnet. 64 BVerfGE 123, 267 (354); 126, 286 (303); zur Europarechtsfreundlichkeit des Lissabon-Urteils selbst Kottmann/Wohlfahrt, Wächter (Fn. 34), S. 450 f.

36

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

wurde65, existierten weder eine Europäische Union noch eine Europäische Gemeinschaft66. Vor Beginn der Integration europäischer Staaten gab es nicht einmal konkretisierte Vorstellungen oder Pläne für die künftige politische und rechtliche Gestaltung und Organisation Europas67. Die Gründung eines supranationalen Staatenverbunds, wie ihn die Europäische Union heute darstellt68, und die Übertragung wesentlicher Teile der nationalen Zuständigkeiten und Befugnisse auf einen solchen Verbund wagte man sich zu diesem frühen Zeitpunkt europäischer Einigungsbestrebungen noch nicht ernsthaft vorzustellen69. Trotz dieser eher verhaltenen Anfänge europäischer Einigungstendenzen der Nachkriegszeit hat das Grundgesetz bereits bei seinem Inkrafttreten vor über 60 Jahren – nicht zuletzt der von Abhängigkeit geprägten deutschen Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit geschuldet70 – zukunftsweisend neben der intendierten Wieder65 Das Grundgesetz wurde am 12. Mai 1949 von allen Landtagen (bis auf den Bayerischen) angenommen und am 23. Mai 1949 verkündet (BGBl. 1949, S. 1). 66 R. Zippelius, Deutsche Einheit und Grundgesetz, in: BayVBl. 1992, S. 289 (289). Ein facettenreicher Rückblick auf die bisherige Geltungsdauer des Grundgesetzes ist zu finden in K. Stern (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Verfassungsverbund, 2010. 67 So E. Pache, Grundgesetz und Europa: Verfassungsrechtliche Vorgaben und Grenzen der Mitwirkung Deutschlands an der europäischen Integration, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, Sechs Würzburger Vorträge zu 60 Jahren Grundgesetz, 2009, S. 137 (137 f.); auch der im Jahre 1950 entworfene „Schumann-Plan“ hatte keine politisch so weitreichende Dimension, sah er doch zunächst lediglich eine funktional auf Kohle und Stahl beschränkte Gemeinschaft ausschließlich wirtschaftlicher Integration vor. 68 Das Bundesverfassungsgericht bleibt auch nach dem Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 (BVerfGE 98, 155 [188]) bei seiner auf der Wortschöpfung Paul Kirchhofs beruhenden Konzeption von der als „Staatenverbund“ zur Verwirklichung einer immer engeren Union der – staatlich organisierten – Völker Europas“ gestalteten Europäischen Union; vgl. auch die Charakterisierung im Lissabon-Urteil, in dem das Gericht die Union als „eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten“ ansieht, „die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben“ (BVerfGE 123, 267 [348]); wie hier Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 335; Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 5 Rn. 21 f. sieht hierin einen Versuch, die Charakteristik der Europäischen Union, welche über einen gewöhnlichen Staatenbund hinausgeht, begrifflich zu erfassen; kritisch zur Aussagekraft dieses Begriffs etwa Wahl, Leitbegriffe (Fn. 32), S. 116 f.; zum Ganzen C. Schönberger, Die Europäische Union als Bund, in: Archiv des öffentlichen Rechts 19 (2004), S. 81 ff. 69 Dies betont Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 138. 70 H.-J. Papier, Die Entwicklung des Verfassungsrechts seit der Einigung und seit Maastricht, in: NJW 1997, S. 2841 (2848) betont die damalige „tiefste wirtschaftliche Not“; W. Schäuble, Das Grundgesetz als Rechtsrahmen der deutschen Einheit, in: C. Hillgruber/C. Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2010, S. 87 (96) sieht in den gesellschaftlichen Umständen der Entstehungszeit des Grundgesetzes einen Grund für dessen nachhaltige Erfolgeschichte. Dadurch, dass das Grundgesetz darauf angelegt gewesen sei, Halt zu geben und gleichzeitig historische Entwicklungen, wie die schrittweise Abgabe staatlicher Souveränität an zwi-

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

37

vereinigung auch die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die späteren Einflüsse und Anstöße Deutschlands bei der Schaffung der Europäischen Union gelegt71. Bereits im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee wurden die Grundlagen für die anschließend im Parlamentarischen Rat getroffene Entscheidung gelegt – eine beispiellose Entscheidung für das Konzept offener Staatlichkeit72 Deutschlands. Diese Völker-73 und Europarechtsfreundlichkeit der deutschen schen- und überstaatliche europäische Einrichtungen, vorherzusehen und zu ermöglichen, habe der Verfassungsgesetzgeber eine „unglaublich weise und weit reichende Entscheidung“ getroffen; C. Walter, 60 Jahre offene Staatlichkeit, in: F. Wittreck (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz. Verfassung mit Zukunft!?, 2010, S. 61 (64 ff.) stellt heraus, dass unter anderem das deutsche Bemühen um die Wiederintegration in die Gemeinschaft der Staaten sowie die notwendige Kooperation mit den Siegermächten die Offenheit des Grundgesetzes für völkerrechtliche Bindungen erklärt, welche die der Weimarer Reichsverfassung übertreffen sollte. Zu diesem „konstitutionalisierten Politikprogramm zur Reintegration Deutschlands“ siehe auch F. Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 26 ff. 71 Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 138; frühe Betonung dieser pionierhaften Offenheit des Grundgesetzes bei H. P. Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950, S. 38 f., der unterstreicht, dass das Grundgesetz „seiner eigenen Verfassungslage, vor allem seiner Föderalisierung in ökonomischer Beziehung [. . .] und dem Zustand unserer Welt mit kühnem Griff vorauseilend, sich langsam anbahnende Entscheidungen und Entwicklungen als erreichbar voraus[setze]“ und sich rüste, „zu seinem Teil an ihrer Realisierung mitzuwirken“; zur Bedeutung dieser verfassungsrechtlichen Ausrichtung für die Anfänge der europäischen Integration zwischen Frankreich und Deutschland siehe H. Schambeck, Das Grundgesetz und seine Bedeutung für die neue Ordnung des integrierten Europa, in: K. Stern (Hrsg.), 60 Jahre GG (Fn. 66), S. 21 (23, 30); nicht nur K.-P. Sommermann, Offene Staatlichkeit: Deutschland, in: A. v. Bogdandy/P. Cruz Villalón/P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2, Offene Staatlichkeit – Wissenschaft vom Verfassungsrecht, 2008, § 14 Rn. 2 hält diese stark auf die europäische Einigung bezogenen Arbeiten am Grundgesetz rückblickend für „erstaunlich“. 72 So die von Vogel erstmalig benutzte Begrifflichkeit. Dieser bezog den Begriff der „offenen Staatlichkeit“ auf die Bundesrepublik Deutschland, im Rahmen einer Zusammenschau der Artikel 24, 25, 26 und der Präambel des Grundgesetzes. Der Terminus war ursprünglich entwickelt worden als gegensätzliches Konzept zu der zuvor in der Staatsrechtlehre weit vertretenen Terminologie des „geschlossenen“ Staats. Ein solcher ist wiederum in seiner verfassungsrechtlichen Ausrichtung autark und auf sich selbst gestellt, so K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für die internationale Zusammenarbeit – ein Diskussionsbeitrag zu einer Frage der Staatstheorie sowie des geltenden deutschen Staatsrechts, 1964, S. 10; dazu B. Beutler, Offene Staatlichkeit und europäische Integration, in: Rolf Grawert u. a. (Hrsg.), Offene Staatlichkeit – Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, 1995, S. 109 ff.; zu der in diesem Zusammenhang maßgeblichen und „das Staatsverständnis grundlegend ändernden“ Regelung des Art. 24 GG siehe R. Wahl, Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, in: JuS 2001, S. 1041 (142 f.); instruktiv zur Genese und Entwicklung des Konzepts am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz – eine Studie zur Wandlung des Staatsbegriffs der deutschsprachigen Staatslehre im Kontext internationaler institutionalisierter Kooperation, 1998, S. 137 ff.; Sommermann, Staatlichkeit (Fn. 71), § 14 Rn. 1 ff.; C. Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 172 (S. 483 ff.) sowie Walter, 60 Jahre (Fn. 70), S. 61 ff. 73 BVerfGE 18, 112 (121); 31, 58 (75 f.).

38

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Rechtsordnung74 realisierte sich durch die Einordnung in den auf Zusammenarbeit angelegten Verbund der Völker und Staaten Europas und der gesamten Welt, vorwiegend durch die Integration der Bundesrepublik in die überstaatliche Gemeinschaft der Europäischen Union und in der damit einhergehenden Europäisierung des Verfassungsrechts75. Die Integrationsbereitschaft des neu organisierten deutschen Staats und die damit intendierte Rückkehr in eine friedliche Staatengemeinschaft hatte durchaus Signalwirkung, bildete sie doch einen politischen Kontrapunkt zu dem gerade beendeten Weltkrieg und dem dafür verantwortlichen nationalen Hegemonialstreben76. Angesichts dieser intendierten weiten Öffnung dürfte es damals nur schwer vorstellbar gewesen sein, dass der europäische Einigungsprozess einmal so weit fortschreiten würde, dass dieses europaoffene Grundgesetz (vom Bundesverfassungsgericht) als dessen begrenzender Maßstab in Stellung gebracht werden würde77.

74 So das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil, BVerfGE 123, 267 (346 f.) bei der Übertragung dieses originär völkerrechtlichen Konzepts von Art. 24 GG auf Art. 23 GG, vgl. Kottmann/Wohlfahrt, Wächter (Fn. 34), S. 450 („Bonbon für den Europarechtler“); Voßkuhle, Integrationsverantwortung (Fn. 17), S. 233; grundlegend zur Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes neben Vogel, Verfassungsentscheidung (Fn. 72) wohl A. Bleckmann, Die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, in: DÖV 1979, S. 309 ff.; aus der neueren Lit. Sommermann, Staatlichkeit (Fn. 71), § 14 Rn. 51 ff.; M. Payandeh, Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip, in: JöR 57 (2009), S. 465 ff.; Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 112 wirft dem Gericht hingegen mangelnde Gewichtung der Europarechtsfreundlichkeit gegenüber der staatlichen Souveräntität vor. 75 Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 139; Sommermann, Staatlichkeit (Fn. 71), § 14 Rn. 1; Wahl, Elemente (Fn. 72), S. 1042 f. Auch das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach die grundlegende Verfassungsentscheidung der Präambel für eine internationale Zusammenarbeit hervorgehoben, siehe BVerfGE 18, 112 (121); 31, 58 (75 f.); 73, 339 (386); zusammenfassend S. Uhrig, Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration, 2000, S. 94 ff.; A. Voßkuhle, Einführung, in: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe, 60. Aufl. 2011, S. 11 (12) vermutet den Grund für die Öffnung des Grundgesetzes unter anderem in der „Nüchternheit und Technizität“ von dessen Entstehungsprozess, welcher einseitige Prägungen der verfassungspolitischen Diskussion verhinderte und sich pluralismusfördernd auswirkte. 76 So Sommermann, Staatlichkeit (Fn. 71), § 14 Rn. 2; ähnlich P. M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, S. 3 f.; S. Hobe, in: K. H. Friauf/W. Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, Art. 23 (2008), Rn. 6; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 381 sowie ders., Der Weg zur politischen Union Europas, in: C. D. Classen u. a. (Hrsg.), „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . .“ – Liber amicorum Thomas Oppermann, 2001, S. 143 (143); zu den Ursprüngen der Idee der europäischen Einigung in der Zwischenkriegszeit und der Gründung der Paneuropa-Union siehe wiederum Sommermann, Staatlichkeit (Fn. 71), § 14 Rn. 3 f.; R. Italiaander, Richard N. CoudenhoveKalergi – Begründer der Paneuropa-Bewegung, 1969 sowie W. Loth, Der Weg nach Europa – Geschichte der europäischen Integration 1939–1957, 3. Aufl. 1996, S. 10 f. 77 Dieser kritische Gedanke zur Lissabon-Entscheidung bei Pöttering, Europa (Fn. 31), S. 8; Lenz, Rechtsakt (Fn. 34), S. 7; Schwarze, Demokratie (Fn. 10), S. 110.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

39

Die grundsätzliche Entscheidung des Grundgesetzes für Europa und für die überstaatliche Integration besteht, wenngleich sie mehrfach und aus unterschiedlichen Gründen auf die Probe gestellt worden ist78, bis heute fort und ist im Jahre 1992 im Zuge der innerstaatlichen Ratifikation des Vertrags von Maastricht79 durch eine ausdrückliche Änderung des Grundgesetzes detailliert ausgestaltet worden. Das bisherige „verfassungsrechtliche Anliegen“ deutscher Einigungsbestrebungen in Europa wurde zudem rechtlich verbindlich intensiviert, indem ihm der Rang eines Staatsziels eingeräumt worden (siehe den heutigen Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG)80. 1. Verfassungsrechtliche Öffnungsklauseln in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Als geschichtlicher Ausgangspunkt der „Europäisierung“ der nationalstaatlichen Verfassungen in den europäischen Staaten sind die fortschreitenden Einigungsbestrebungen im wirtschaftlichen und politischen Bereich in der frühen 78 So gab es in den vergangenen 60 Jahren zahlreiche Verfassungsbeschwerden gegen Änderungsverträge des EWG- beziehungsweise EG-Vertrages, etwa gegen den Vertrag von Maastricht (BVerfGE 89, 155) oder zuletzt gegen den Vertrag von Lissabon (BVerfGE 123, 267). Allgemein zeigt die Diskussion in Deutschland, dass das Verhältnis von deutschem Verfassungsrecht und europäischem Unionsrecht längst nicht abschließend geklärt ist und insbesondere die Fragen nach den möglichen verfassungsrechtlichen Perspektiven und Schranken der deutschen Integrationspolitik auch nach der zuletzt ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 noch nicht hinreichend beantwortet sind. 79 Der am 1. November 1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht eröffnete durch die Gründung der Europäischen Union als übergreifender Dachverband der bis dahin nur nebeneinander bestehenden Säulen der Europäischen Gemeinschaften und intergouvernementaler Zusammenarbeit eine neue Dimension europäischer Integration, „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (so Art. 1 Abs. 2 EUV). Zum Vertrag siehe H.-J. Blanke, Der Unionsvertrag von Maastricht – Ein Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat?, in: DÖV 1993, S. 412 ff.; H. Hahn, Der Vertrag von Maastricht als völkerrechtliche Übereinkunft und Verfassung – Anmerkungen anhand Grundgesetz und Gemeinschaftsrecht, 1992; S. Hobe, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht – auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat?, in: Der Staat 32 (1993), S. 245 ff.; P. M. Huber, Maastricht – ein Staatsstreich?, 1993; D. Murswiek, Maastricht – nicht ohne Volksentscheid!, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.10.1992, S. 11; ders., Maastricht und der Pouvoir Constituant – Zur Bedeutung der verfassungsgebenden Gewalt im Prozeß der europäischen Integration, in: Der Staat 32 (1993), S. 161 ff.; F. Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz, eine verfassungsrechtliche Wende?, in: DVBl. 1993, S. 629 ff.; H. H. Rupp, Muß das Volk über den Vertrag von Maastricht entscheiden?, in: NJW 1993, S. 38 ff. sowie zur bereits damals diskutieren Verfassungneugebung im Wege des Art. 146 GG J. Wolf, Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht – ein Anwendungsfall des Art. 146 GG, in: JZ 1993, S. 594 ff. 80 So ausdr. Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 139. Zur europäischen Integration als Staatsziel siehe H. Maurer, Staatsrecht I – Grundlagen, Verfassungsorgane, Staatsfunktionen, 6. Aufl. 2010, S. 108 ff.; allg. zur Natur der Staatszielbestimmung als rechtlichem Maßstab staatlichen Handelns siehe Wahl, Elemente (Fn. 72), S. 1045 f.

40

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Nachkriegszeit zu sehen81. So enthielten bereits einige in der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre des vorigen Jahrhunderts entstandene Verfassungen neben dem Bekenntnis zur internationalen Kooperation im Rechtsrahmen der Vereinten Nationen ausdrückliche Öffnungsklauseln oder zumindest das Bekenntnis zur europäischen Einigung82. Mittlerweile enthalten fast alle geschriebenen83 Verfassungen der Mitgliedstaaten verfassungsrechtliche Öffnungsklauseln zugunsten der europäischen Integration84. Jedoch beziehen sich die jeweiligen Vorschriften nur zum Teil explizit auf die Europäische Union85 oder die Europäische Gemeinschaft86. Größtenteils weisen sie keinen explizit europäischen Bezug87 auf. Generell ist kaum eine Regelung zu finden, die die Ziele, die Bedingungen und das Verfahren der Integration derart detailliert regelt, wie das Grundgesetz dies tut88. Auch die Begrenzung der

81

A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 396. So Weber, Verfassungsvergleichung (Fn. 81), S. 396. Neben den unten behandelten Regelungen des Bonner Grundgesetzes nennt Weber beispielsweise die Präambel der Französischen Verfassung von 1947, welche die Bereitschaft zum Souveränitätsverzicht auf gegenseitiger Basis enthielt, sowie Art. 11 der Italienischen Verfassung von 1947, welcher unter anderem die Einfügung von europabezogenen Bestimmungen zur Hoheitsrechtsübertragung vorsah und zuließ. 83 Bekanntlich hat Großbritannien kein zusammenhängendes geschriebenes Verfassungsrecht; dazu P. J. Birkinshaw, British Report, in: J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung – das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, 2000, S. 205 (236); ders./M. Künnecke, Offene Staatlichkeit – Großbritannien, in: v. Bogdandy/Cruz Villalón/Huber, Handbuch II (Fn. 71), § 17 (S. 107 ff.); zum European Communities Act 1972 als Integrationsermächtigung des Vereinigten Königreichs siehe wiederum Weber, Verfassungsvergleichung (Fn. 81), S. 397. 84 So Huber, Recht (Fn. 76), S. 28; zur unterschiedlichen Terminologie wiederum Weber, Verfassungsvergleichung (Fn. 81), S. 397; trotz des Beitritts zur Europäischen Union finden sich in den Verfassungen von Lettland, Bulgarien, Rumänien und Zypern noch keine verfassungsrechtlichen Regelungen für eine integrative Öffnung, siehe Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 147 ff.; ausf. zu den verschiedenen Konzeptionen der Ermächtigung zur Integration siehe M. Wendel, Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht. Verfassungsrechtliche Integrationsnormen auf Staats- und Unionsebene im Vergleich, 2011, S. 144 ff. 85 So z. B. neben Art. 23 Abs. 1 GG auch Art. 88-1 der Französischen Verfassung, Art. 29 Abs. 4 UAbs. 4 der Irischen Verfassung, Art. 7 Abs. 6 der Portugiesischen Verfassung und Art. 1 des Bundesverfassungsgesetzes über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union. 86 So Kapitel 10 § 5 der Schwedischen Verfassung; dazu U. Bernitz, Swedish report, in: Schwarze, Entstehung (Fn. 83), S. 389 (431); Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 106 f. 87 So z. B. Art. 34 der Belgischen Verfassung, § 20 Abs. 1 der Dänischen Verfassung („zwischenstaatliche[n] Behörden“), § 121 Nr. 3 der Estischen Verfassung, Art. 28 Abs. 2 der Verfassung Griechenlands („Organe internationaler Organisationen“), Art. 11 der Verfassung Italiens („überstaatliche Zusammenschlüsse“), Art. 49a der Luxemburgischen Verfassung („Institutionen des internationalen Rechts“) und Art. 93 der Verfassung Spaniens („internationale[n] oder supranationale[n] Organismen“); zu den Mitgliedstaaten ohne spezifische Integrationsklausel Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 115 ff. 82

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

41

Integrationsgewalt fällt unterschiedlich aus. Teilweise ist die Übertragung von Hoheitsrechten quantitativ89, teils qualitativ90 oder gar nicht bedingt91. Zudem sind die jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorgaben für die überstaatliche Integration, welche die Voraussetzungen und Bedingungen der Mitgliedschaft in der Europäischen Union festlegen, sehr unterschiedlich gefasst92. Während beispielsweise die Verfassungen Frankreichs und Irlands sehr enge Integrationsklauseln aufweisen, die – trotz generell integrationsfreundlicher Tendenz93 – vor jeder wesentlichen Integrationsstufe eine erneute Verfassungsänderung anordnen, sind etwa die Klauseln der portugiesischen94 und der schwedischen95 Verfassung weiter gefasst, jedoch aufgrund einer der Regelung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG vergleichbaren Struktursicherungsklausel inhaltlich bedingt96. Die unterschiedliche Ausgestaltung beziehungsweise das Fehlen solcher Sicherungsklauseln wird aus gesamteuropäischer Sicht jedoch dadurch relativiert, dass jede einzelne verfassungsrechtliche Absicherungsklausel – indem sie die Öffnung des verfassungs88 So I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 8 ff., der diesbezüglich lediglich Art. 23a–f der Österreichischen Bundesverfassung für vergleichbar hält; Überblick über die Regelungsdichte der einzelnen Integrationsklauseln bei J. Dutheil de la Rochère/I. Pernice, European Union Law and National Constitutions, in: M. Andenæs/J. Usher (Hrsg.), The Treaty of Nice and Beyond – Enlargement and Constitutional Reform, 2003, S. 47 ff.; mit spezieller Betrachtung der verschiedenen Struktursicherungen Calliess, Union (Fn. 17), S. 78 f. 89 So z. B. neben Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG („Hoheitsrechte“) auch § 20 Abs. 1 der Dänischen Verfassung („in näher bestimmtem Umfang“), Art. 88-1 der Französischen Verfassung („einige ihrer Kompetenzen“), Art. 29 Abs. 4 UAbs. 2 der Irischen Verfassung („in dem Ausmaß und unter Wahrung der Bedingungen, die durch Gesetz [. . .] bestimmt werden können“); Art. 9 Abs. 2 des Österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes („einzelne Hoheitsrechte“). 90 So Art. 49a der Luxemburgischen Verfassung („vorübergehend“); dazu Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 133 ff. 91 Übersicht so bei Huber, Recht (Fn. 76), S. 28; ausf. Untersuchung der einzelnen Integrationsklausel in Bezug auf den Zweck und Gegenstand der Übertragung, deren inhaltliche Schranken sowie die jeweiligen verfahrensrechtlichen Anforderungen bei Weber, Verfassungsvergleichung (Fn. 81), S. 397 ff. 92 Huber, Recht (Fn. 76), S. 30 f.; Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 87. 93 Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 95; Huber, Recht (Fn. 76), S. 30. 94 Art. 7 Abs. 6 der Portugiesischen Verfassung sieht eine „Integration der Gewalt“ etwa auf der Grundlage der Gegenseitigkeit und unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips vor; dazu Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 102. 95 Kapitel 10, § 5 der Schwedischen Verfassung regelt, dass kein „Beschlussrecht übertragen werden [darf], das die Einführung, Änderung oder Aufhebung von Grundgesetzen, der Reichstagsordnung oder des Gesetzes über die Reichstagswahlen oder die Einschränkung der Grundrechte und Freiheiten [. . .] zum Gegenstand hat“; dazu Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 106 f.; Bernitz, Report (Fn. 86), S. 428 (455 f.) merkt an, dass diese Sicherungsklausel der „Solange-Rechtsprechung“ des Bundesverfassungsgerichts und damit auch der in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG beinhalteten Forderung nach einem dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz nachgebildet ist. 96 Überblick bei Huber, Recht (Fn. 76), S. 31; ausführlich zu den Staaten mit spezifischen Integrationsklauseln Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 89 ff.

42

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

rechtlichen Souveränitätssystems zugunsten der Europäischen Union an inhaltliche Vorgaben knüpft – auch zugunsten aller anderen Mitgliedstaaten wirkt97. In Großbritannien fehlt es mangels einer zusammenhängenden geschriebenen Verfassung auch an einer speziellen Integrationsklausel98. Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass die Existenz dieses „nationalen Europaverfassungsrechts“ 99, welches die Öffnung der eigenen Rechtsordnung für zwischen- und überstaatlichen Institutionen und die Akzeptanz einer Relativierung der eigenen Regelungen vorsieht, zu den gemeinsamen Rechtsgrundsätzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gehört100. 2. Europafreundliche Ausrichtung von Grundgesetz und verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung Das Grundgesetz verfolgt das Ziel eines organisierten Miteinanders in Europa durch die Mitwirkung Deutschlands an internationalen Organisationen und eine zwischen den Staaten hergestellte Ordnung des wechselseitigen friedlichen Interessenausgleichs101. 97 So Huber, Recht (Fn. 76), S. 31 mit Verweis auf das Fehlen einer Struktursicherungsklausel im Österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz über den Beitritt zur Europäischen Union, welches aufgrund der Partizipation Österreichs an den Wirkungen der ausdrücklichen Integrationsschranken etwa Deutschlands relativiert wird; dazu H. Schäffer, Österreichischer Landesbericht, in: Schwarze, Entstehung (Fn. 83), S. 339 (361). 98 Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 87; Birkinshaw, Report (Fn. 83), S. 236, sieht darin einen Vorteil bezüglich der Flexibilität im Umgang mit der Europäisierung des Verfassungsrechts: „Der Vorrang des Unionsrechts wird bereits durch die nationalen Regelungen berücksichtigt, da ein Richter bei Fragen der rechtlichen Geltung auf das Gesetz schauen wird, nicht auf die Europäischen Verträge. Dieser Mechanismus ist wesentlich, weil somit der Vorrang des Unionsrechts durch ein einfaches Parlamentsgesetz und nicht durch verfassungsrechtliche Grundprinzipien angeordnet wird. Vor dem Hintergrund dieser Tatsache und in Abwesenheit einer geschriebenen Verfassung gibt es daher keinerlei verfassungsrechtliche Grundprinzipien, die mit der Anerkennung des Unionsrechts kollidieren, wie z. B. [. . .] Fälle der Unvereinbarkeit von nationalem Verfassungsund europäischem Primärrecht bezüglich föderaler Regierungsstrukturen oder demokratischer Repräsentation [freie Übers. d. Verf.]“; dazu auch ders./Künnecke, Staatlichkeit (Fn. 83), § 17 Rn. 36 ff.; hingegen langfristig kritisch zu diesem pragmatischem Begriff des Unionsrechts als Ausfluss britischer Parlamentsentscheidungen P. M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: v. Bogdandy/Cruz Villalón/Huber, Handbuch II (Fn. 71), § 26 Rn. 36. 99 Huber, Recht (Fn. 76), S. 28 mit Verweis auf P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht und „Verfassung“ der EG, in: J. Schwarze (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, 1998, S. 11 (18 f.). 100 Dies betont Huber, Recht (Fn. 76), S. 28; Weber, Verfassungsvergleichung (Fn. 81), S. 397 sieht in den Europaartikeln eine Antwort auf die im Europarat verankerte Zielsetzung der Festigung des Friedens zwischen den europäischen Staaten und der Sicherung der Herrschaft des Rechts. 101 So die Interpretation des Bundesverfassungsgerichts im Lissabon-Urteil, BVerfGE 123, 267 (345 f.).

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

43

Die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes kommt neben ihrer Erwähnung in der Präambel in der grundsätzlich verpflichtenden Offenheit für die Europäische Integration zum Tragen, welche vormals durch Art. 24 GG, jetzt über den „Europaartikel“ 23 GG garantiert wird102. Als „unionsrechtliches Korrelat“ 103 gewährleistet Art. 4 Abs. 2 EUV zudem ausdrücklich die Wahrung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten. Parallel hat das Bundesverfassungsgericht seine europarechtsfreundliche Ausrichtung in einer Reihe von Urteilen gezeigt, in denen es unter anderem den Anwendungsvorrang des Unionsrechts anerkannt hat104. Das Gericht interpretierte die europäischen Vorgaben so weitreichend, dass seit dem Inkrafttreten des Gemeinsamen Markts die deutschen Gerichte auch solche Rechtsvorschriften anwenden, die zwar einer eigenständigen außerstaatlichen Hoheitsgewalt (sprich: der Europäischen Union) zuzurechnen sind, aber aufgrund ihrer Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union im innerstaatlichen Raum unmittelbare Wirkung entfalten105 und entgegenstehendes nationales Recht überlagern und verdrängen106. Nur durch diese 102 Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 54; Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 334; mit Betonung der Präambel Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 110; R. Streinz, Die Völker- und Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, in: T. Giegerich (Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren, S. 327 (330); zur Europarechtsfreundlichkeit nach Art. 23 GG als Konkretisierung der Integrationsverantwortung für den Bereich der Auslegung siehe Voßkuhle, Integrationsverantwortung (Fn. 17), S. 233 f. 103 Voßkuhle, Integrationsverantwortung (Fn. 17), S. 239. 104 So Streinz, Europarechtsfreundlichkeit (Fn. 102), S. 330, mit Verweis auf das insoweit maßgebliche sog. Milchpulver-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 31, 145, [172 ff.]) vom 9. Juni 1971; gleichsinnig Voßkuhle, Integrationsverantwortung (Fn. 17), S. 240: „Schließlich hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von Anfang an den Geist der Europarechtsfreundlichkeit geatmet [. . .]“; zur langjährigen integrationsfreundlichen Auslegung des Unions- beziehungsweise Gemeinschaftsrechts schon A. Bleckmann, Teleologie und dynamische Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Europarecht 14 (1979), S. 239 (255 f.); aktueller M. Gerhardt, Europa als Rechtsgemeinschaft: Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2010, S. 161 ff. sowie T. Giegerich, The Federal Constitutional Court’s non-sustainable role as Europe’s ultimate arbiter: from age discrimination to the saving of the Euro, in: German Yearbook of International Law/Jahrbuch für internationales Recht 53 (2010), S. 867 ff. 105 EuGH Slg. 1963, 1 – Van Gend en Loos; allg. zur Rolle des Gerichtshofs der Europäischen Union als „Motor“ im bisherigen und zukünftigen europäischen Integrationsprozess siehe Herdegen, Europarecht (Fn. 8), § 8 Rn. 73 ff.; Mangold, Gemeinschaftsrecht (Fn. 2), S. 86 ff.; T. Oppermann, Die Dritte Gewalt in der Europäischen Union, in: DVBl. 1994, S. 901 ff.; R. Schulze/C. Walter, Einleitung, in: dies. (Hrsg.): 50 Jahre Römische Verträge, 2008, S. 1 (6, 14 ff.) sowie monographisch K. Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH – Eine rechtsmethodische Untersuchung ausgehend von der deutschen und französischen Methodenlehre, 2009. 106 R. Streinz, Zur Europäisierung des Grundgesetzes, in: P. M. Huber (Hrsg.), Das Grundgesetz zwischen Stabilität und Veränderung, 2007, S. 33 (34) betont, dass seit Inkrafttreten des Grundgesetzes bis zur Föderalismusreform im Jahre 2006 nicht weniger als vier europarechtlich bedingte Änderungen des Grundgesetzes erfolgt sind, wobei er die Änderung des Art. 23 GG für die bedeutendste hält.

44

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

vorbehaltlose Anerkennung des Unionsrechts können laut Bundesverfassungsgericht die den Bürgern des Gemeinsamen Marktes eingeräumten subjektiven Rechte verwirklicht werden107. Auf den ersten Blick weniger europarechtsfreundlich zeigte sich das Gericht in späteren Urteilen, welche weitreichende Prüfungsvorbehalte etablierten, etwa in Bezug auf durch europäische Rechtsakte drohende Grundrechtsverstöße108, auf aus dem Rahmen der übertragenen Hoheitsgewalt „ausbrechende Rechtsakte“109 und auf einen durch die weitreichende Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union verursachten Verlust der Staatlichkeit Deutschlands110. Einige dieser in Karlsruhe errichteten Vorbehalte für die europäische Integration wurden in der Folgezeit jedoch vom Gericht selbst im Sinne eines judicial selfrestraint111 wieder eingeschränkt und relativiert112. Zudem bleibt abzuwarten, ob die verbliebenen Kontrollkompetenzen jemals überhaupt aktiviert werden113 und inwieweit eine Anwendung des vom Bundesverfassungsgericht selbst entwickelten und stets betonten Kooperationsverhältnisses zum Gerichtshof der Europäischen Union114 in solch einem Fall zu einer Korrektur der „defensiven“ Recht107

BVerfGE 31, 145 (173 f.). BVerfGE 37, 271 – Solange I. 109 BVerfGE 89, 155 – Maastricht. 110 BVerfGE 123, 267 – Lissabon. 111 Streinz, Europarechtsfreundlichkeit (Fn. 102), S. 330 in Anspielung auf diese Definition der Selbstbeschränkung durch das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 36, 1 (LS 2) – Grundlagenvertrag: „Der Grundsatz des judicial self-restraint zielt darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten“; a. A. Wahl, Elemente (Fn. 72), S. 1046 mit Hinweis darauf, dass die dem amerikanischen Rechtskreis entstammende Lehre (Stichwort: political question doctrine des US-Supreme Courts) in Deutschland nicht anerkannt sei und sich das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung gerade keine Beschränkungen in der verfassungskonformen Auslegung auferlegt habe; ebenso K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht – Stellung, Verfahren, Entscheidungen. Ein Studienbuch, 8. Aufl. 2010, Rn. 505: „Das Gebot [der Selbstbeschränkung] ist ohne alle Konturen und ohne Inhalt, es taugt also nicht zur Begründung und Verteidigung einer Entscheidung, um so besser aber zu deren Kritik“. 112 Zu nennen sind hier etwa BVerfGE 73, 339 – Solange II oder BVerfGE 102, 147 – Bananenmarktordnung. 113 Dies kann man ernsthaft bezweifeln, da die in der Maastricht-Entscheidung etablierte ulta vires Kontrolle von europäischen Rechtsakten praktisch – z. B. in der Entscheidung zur Bananenmarktordnung (BVerfGE 102, 147) – niemals in Anspruch genommen wurde und sich daher rückblickend eher als leere Drohung herausgestellt hat. De facto wurde vom Bundesverfassungsgericht seit der Solange I-Enscheidung (BVerfGE 37, 271) in keinem einzigen Fall ein europäischer Rechtsakt geprüft und als rechtswidrig erklärt, siehe Halberstam/Möllers, Court (Fn. 33), S. 1256 f. 114 Siehe zur Entwicklung dieses europäischen Verfassungsgerichtsverbunds bereits M. Heintzen, Die „Herrschaft“ über die Europäischen Gemeinschaftsverträge – Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof auf Konfliktkurs?, in: Archiv des öffentlichen Rechts 119 (2004), S. 564 ff.; Hirsch, Gerichtshof (Fn. 61), S. 2457 ff.; C. Mayer, Europäische Union – Verfassungsgerichtsbarkeit, in: A. v. Bogdandy/J. Bast 108

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

45

sprechung des Bundesverfassungsgerichts im Sinne einer Art Rechtsprechungskompromiss zwischen beiden Foren führt. Letztlich kann auch die auf Grundlage des Wahlrechts aus Art. 38 GG faktisch bestehende Möglichkeit der Individualverfassungsbeschwerde gegen Integrationsgesetze, welche zur verfassungsgerichtlichen (Er-)Klärung der Integrationsermächtigung des Grundgesetzes und ihrer Grenzen führt und damit jeweils eine politische Debatte über das Verhältnis der Bundesrepublik zur Europäischen Union auszulösen vermag, als eine „europarechtsfreundliche“ Gegebenheit angesehen werden. Denn nicht selten führt ein auf politischer Ebene geführter Diskurs zu einer staatsbürgerbezogenen Vermittlung des Europarechts und dessen Einwirkungen auf die politische Gestaltungsfreiheit der deutschen Staatsorgane. Diese Folge kann für sich genommen, ungeachtet eines aus dem Vermittlungsprozess bisweilen entstehenden Europaverdrusses, durchaus als „europarechtsfreundlich“ in einem weiteren Sinne bezeichnet werden115. Im Folgenden werden die relevantesten europarechtsbezogenen Vorschriften des Grundgesetzes dargestellt (3.) und als solche bewertet (4.), bevor das Verhältnis des Grundgesetzes zum Europäischen Primär- und Sekundärrecht (5.) beleuchtet wird und nach Darstellung der hieraus folgenden, mitgliedstaatlichen Haftung für die Verletzung von Unionsrecht (6.) die unionsverfassungsrechtliche Bedeutung der ranghöchsten deutschen Rechtsordnung (7.) als letzte Facette einer abschließenden Gesamtbewertung (8.) zu behandeln ist. 3. Die relevantesten europabezogenen Bestimmungen des Grundgesetzes Die bisher umfangreichsten Hoheitsrechtsübertragungen in der Geschichte des Grundgesetzes fanden bereits vor Bestehen der Europäischen Union statt. Im Zuge der Gründung der Europäischen Gemeinschaft wurden die drei bis dahin unabhängig voneinander bestehenden Europäischen Gemeinschaften EGKS116, Euratom117 und EWG118 mit vereinheitlichten Organen119, und durch Gründung (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht – theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl. 2009, S. 559 ff. sowie A. Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, in: NVwZ 2010, S. 1 ff. 115 Dies tut Streinz, Europarechtsfreundlichkeit (Fn. 102), S. 331. 116 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, gegründet durch Vertrag vom 18.4.1951, BGBl. 1952 II, S. 445. 117 Europäische Atomgemeinschaft, gegründet durch Vertrag vom 25.3.1957. 118 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, ebenfalls gegründet durch Vertrag vom 25.3.1957. 119 Maßgeblich waren hier das Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften vom 25.3.1957, BGBl. 1957 II, S. 1156 ff. und der Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission vom 8.4.1965, BGBl. 1965 II, S. 1454 ff.

46

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

des Gerichtshofs der Europäischen Union samt des diesem beigeordneten Gerichts erster Instanz mit einer eigenen Gerichtsbarkeit ausgestattet120. Auch im Bereich der Rechtsetzung wurden der Europäischen Gemeinschaft Hoheitsrechte übertragen und die Kompetenz eingeräumt, eigene Rechtsakte zu erlassen, welche in der Bundesrepublik Deutschland vorrangig vor dem innerstaatlichen Recht unmittelbar Bindungswirkung entfalten121. Grundlage dieser und nachfolgender Hoheitsrechtsübertragungen waren und sind mehrere Verfassungsbestimmungen des Grundgesetzes, welche unter bestimmten Voraussetzungen eine solche Verlagerung der Staatsgewalt vorsehen122: Das grundlegende Prinzip der „offenen Staatlichkeit“ wird bereits durch die dem Grundgesetz vorangestellte Präambel (a) aktiviert. Sie betont laut Bundesverfassungsgericht „nach den Erfahrungen verheerender Kriege, gerade auch unter den europäischen Völkern, nicht nur die sittliche Grundlage verantworteter Selbstbestimmung, sondern auch den Willen, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ 123. Konkretisiert wurde dieses bis zum Jahre 1992 durch Artikel 24 Abs. 1 GG (b), welcher die grundlegende Ermächtigung für die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen darstellte. Nunmehr enthält Artikel 23 GG (c) als nachträglich geschaffener „Integrationshebel“ 124 die speziellen und detailliert ausgestalteten Regelungen für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Weitere europarechtliche Anknüpfungspunkte im Grundgesetz sind durch Änderungen der europäischen Verträge (d) oder die Föderalismusreform (f) geschaffen worden oder durch die das Primärrecht dynamisch auslegende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union entstanden (siehe dazu e). Schließlich haben sich einige ursprünglich durch europäische Vorgaben geschaffene Normen des Grundgesetzes nachträglich als wenig relevant bis bedeutungslos erwiesen (g). a) Die Präambel Der Vorspruch des Grundgesetzes drückte bereits in seiner ursprünglichen Fassung – neben der angestrebten Vollendung der Wiedervereinigung Deutschlands125 – den mit Inkrafttreten des Grundgesetzes bekannten Willen des deut120

So Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 36 f. Siehe dazu das Van Gend en Loos-Urteil des EuGH, Slg. 1963, 3 (24 f.); umfassend zu den einzelnen Wirkungen der damaligen Hoheitsrechtsübertragungen Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 36 ff. 122 Als Grundlage der nachfolgenden Erläuterung der relevantesten europabezogenen Bestimmungen des Grundgesetzes diente die Übersicht von Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 140 ff., der sowohl die Präambel als auch Artikel 24 und 23 GG anführt. 123 So das BVerfG im Lissabon-Urteil, E 123, 267 (345 f.). 124 Vgl. die Bezeichnung von H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht 1972, S. 58, dazu Fn. 139 sowie Stern, Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 76), S. 382. 125 Zippelius, Einheit (Fn. 66), S. 289; trotz der Streichung des Wiedervereinigungsauftrags aus der Präambel besteht jedoch nach Ansicht von Streinz, Europäisierung 121

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

47

schen Volks aus, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ 126. Die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts127 für die deutschen Verfassungsorgane unmittelbar bindende Präambel128 spiegelte damit die grundlegende, nach außen geöffnete Verfassungsentscheidung des deutschen Staats wieder129. Bei ihrer Neufassung im Zuge der deutschen Wiedervereinigung wurde diese Grundentscheidung für eine europäische Integration und offene Staatlichkeit erneut bekräftigt130. Die programmatische Ausrichtung auf ein vereintes Europa, an dem Deutschland als gleichberechtigter Mitgliedstaat teilnimmt, um das Ziel einer dauerhaften Sicherung des Friedens in Europa über Zusammenarbeit der Staaten zu erreichen, bindet die deutsche Staatsgewalt per verpflichtendem Verfassungsauftrag131 an (Fn. 106), S. 35 das Gebot fort, die (vollendete) Einheit Deutschlands für die Zukunft zu wahren („Wahrungsgebot“); ebenso P. M. Huber, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 9), Präambel Rn. 41, der den aktuellen Wortlaut der Präambel, der die vollendete Wiedervereinigung verkündet, als „Vollzugsmeldung an die Geschichte“ deutet und nunmehr aus dem letzten Satz der Präambel, nach dem das Grundgesetz „für das gesamte Deutsche Volk“ gilt, eine (ungeschickt formulierte) Verpflichtung der deutschen Staatsorgane herleitet, die nationale Einheit zu wahren. 126 So Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 140 f.; Satz 1 der ursprüngliche Fassung lautete: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk [. . .] dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen“ (Abdruck bei H. Dreier/F. Wittreck [Hrsg.], Grundgesetz. Textausgabe mit sämtlichen Änderungen und andere Texte zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht, 6. Aufl. 2011, S. 16, Fn. 1). 127 So das Urteil zum Grundlagenvertrag (BVerfGE 36, 1 [17 f.]), nachdem das Bundesverfassungsgericht der Präambel zuvor im Rahmen des KPD-Urteils (BVerfGE 5, 28 [127]) im Jahre 1956 erstmalig (auch) rechtlich verbindlichen Gehalt zugesprochen, und damit Teilen der bis dahin veröffentlichten Literatur widersprochen hatte, welche dem Vorspruch des Grundgesetzes lediglich deklamatorischen rechtlichen Charakter zugesagt hatten, siehe H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Präambel Rn. 16 f.; ebenso A. Hopfauf, in: B. Schmidt-Bleibtreu/H. Hofmann/A. Hopfauf (Hrsg.), GG. Kommentar zum Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Präambel Rn. 5; 7 ff.; instruktiv zur historischen Entwicklung des Meinungsbildes bzgl. der Rechtsqualität der Präambel siehe D. Zais, Rechtsnatur und Rechtsgehalt der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, 1973, S. 35 ff. 128 Zur Tradition der Präambeln in Verfassungen siehe G. Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt als Ideologie, in: JZ 1992, S. 929 (929 f.). 129 Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 140 f.; ebenso bereits Bleckmann, Völkerrechtsfreundlichkeit (Fn. 74), S. 309. 130 Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 48; Streinz, Europäisierung (Fn. 106), S. 35 f.; die Neufassung der Präambel trat am 29.9.1990 durch das 36. Änderungsgesetz v. 23.9. 1990 (BGBl. 1990 II, S. 885 [890]) in Kraft. 131 Stern, Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 76), S. 509; J. Schwarze, Das Grundgesetz und das europäische Recht, in: K. Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz, 1990, S. 209 (210); Huber (Fn. 125), Präambel Rn. 43; eine solche Verpflichtung hingegen verneinend: W. Geiger, Der Grundlagenvertrag und die Einheit Deutschlands, in: D. Blumenwitz (Hrsg.),

48

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

eben diese Ziele der Zusammenarbeit und Einbringung in die Europäische Union132. Der Vorspruch des Grundgesetzes bringt (unabhängig von allen ihm nachfolgenden verfassungsrechtlichen Ausrichtungen) zum Ausdruck, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht die rückwärtsgewandte Zielvorstellung uneingeschränkter staatlicher Souveränität und hoheitsrechtlicher Abschottung, sondern zwischenstaatliche Öffnung und europäische Zusammenarbeit anstrebt133. Die Entscheidung für eine offene Verfassungsstaatlichkeit ist dem Grundgesetz damit bildlich gesprochen „auf die Stirn“ geschrieben. Auch das Bundesverfassungsgericht hat diese Bedeutung der Präambel mehrmals betont und ihren rechtlichen Gehalt herausgestellt134. Die Funktion der Präambel – die Festlegung des dem Grundgesetz zugrundeliegenden Prinzips offener Staatlichkeit – ist jedoch gleichsam damit erschöpft. Der Mechanismus der rechtlichen Umsetzung und Konkretisierung ist durch weitere Vorschriften zu besorgen135. b) Art. 24 Abs. 1 GG Bis zur Maastricht-Novelle diente der allgemeine Integrationsartikel 24 Abs. 1 GG als Instrument zur rechtlichen Realisierung der in der Präambel angelegten „europäischen Option“ des Grundgesetzes136. Ebenso wie die in Art. 9 Abs. 2 GG enthaltene Möglichkeit des Verbots der Bildung von Vereinigungen, die sich gegen den Grundsatz der Völkerverständigung richten und das in Art. 26 Abs. 1 GG enthaltene Verbot friedensstörender Handlungen bildet die Vorschrift eine konkrete Umsetzung der Integrationsbereitschaft des Grundgesetzes137. Sie sieht vor, dass der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Ein-

40 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 53 (60 f.); instruktiv zu diesem Verfassungsauftrag Schorkopf, Grundgesetz (Fn. 70), S. 247 f. 132 So Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 141 mit Verweis auf die grundgesetzliche Entscheidung für eine offene Staatlichkeit, siehe schon Fn. 72. 133 So BVerfGE 123, 267 (346 f.); ebenso Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 141, m.w. N. sowie zuletzt M. Mirschberger, Europäische Einigung: Das Lissabon-Urteil und die Abwahl des Grundgesetzes, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 94 (2011), S. 239 (242). 134 Siehe z. B. BVerfGE 89, 155 (174), wo das Gericht die Offenheit des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, insb. für die europäische Integration, unterstreicht. 135 E. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 50 (1991), S. 56 (59); als „erfolgreiche[s] Werkzeug“ zur Umsetzung des Staatsziels der Präambel bezeichnet eine solche Regelung P. Badura, Willensbildung und Beschlußverfahren in der Europäischen Union, in: U. Everling (Hrsg.), Europarecht Beiheft 1/1994, S. 9 (13). 136 Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 334; Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 142; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 49. 137 I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 24 Rn. 1.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

49

richtungen übertragen kann138. Dieser ursprüngliche „Integrationshebel“ 139 des Grundgesetzes hat seit der Schaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahre 1951 bis zur Ablösung der Vorschrift durch Art. 23 GG n. F. die grundgesetzliche Basis für Hoheitsrechtsübertragungen auf die Europäischen Gemeinschaften dargestellt140. Die Entstehung der Vorschrift folgte aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und der daraus resultierenden Einsicht, dass die Einbindung Deutschlands in eine europaweite Nachkriegsordnung, die aus mit Hoheitsrechten ausgestatteten gemeinsamen Institutionen bestand, der richtige Weg war. Der durch den Verzicht auf unbeschränkte Souveränität resultierende Gewinn an Gestaltungsmöglichkeiten wurde einer grenzenlosen Entfaltung nationalstaatlicher Macht in bis dato bestehender europäischer Tradition also bewusst vorgezogen141. Als Teil eines so motivierten Regelungskomplexes steht Art. 24 Abs. 1 GG in einem inneren Sinnzusammenhang mit der Inkorporation der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in das Bundesrecht (Art. 25 GG) und mit dem Verbot und der Pönalisierung der Vorbereitung eines Angriffskrieges (Art. 26 GG), welche zusammen genommen zum Zeitpunkt ihrer Schaffung richtungsweisend für eine neuorientierte politische Praxis waren142. 138 H. D. Jarass, in: ders./B. Pieroth, Grundgesetz-Kommentar, 11. Aufl. 2011, Art. 24 Rn. 2; zu Art. 24 Abs. 1 als verfassungsrechtliches Novum und „Vorleistung“ siehe Sommermann, Staatlichkeit (Fn. 71), § 14 Rn. 6, 11 ff. 139 Art. 24 GG schafft die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, gewährleistet dadurch die Möglichkeit zur Umsetzung der integrationsfreundlichen Ausrichtung des Grundgesetzes und macht diese zur Staatszielbestimmung. Daher stellt Art. 24 Abs. 1 GG einen „Integrationshebel“ dar, mittels dessen die Umsetzung der Grundentscheidung zur internationalen Zusammenarbeit gelingen konnte, so Ipsen, Gemeinschaftsrecht (Fn. 124), S. 58; S. U. Pieper, Quo vadis Grundgesetz? – Gedanken zur Lage der Verfassung im europäischen Integrationsprozeß, in: M. Coen/S. Hölscheidt/S. U. Pieper (Hrsg.), Festschrift für Albert Bleckmann zum 60. Geburtstag, 1993, S. 197 (207) bezeichnet Art. 24 Abs. 1 GG in Bezug auf das Bild des „Souveränitätspanzers“ (so A. Bleckmann, Zur Funktion des Art. 24 Abs. 1 Grundgesetz, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 35 [1975], S. 79 [81 f.]) des Grundgesetzes gleichsam als „Panzerknacker“; ähnl. BVerfGE 73, 271 (280), wonach Art. 24 die nationale Rechtsordnung „öffnet“. 140 R. Geiger, Zur Beteiligung des Gesetzgebers gemäß Art. 23 Abs. 1 GG bei Änderung und Erweiterung der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 18 (2003), S. 193 (195); Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 142; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 49 ff. 141 So Pernice (Fn. 137), Art. 24 Rn. 1 a. E. mit Verweis auf S. 23 des Herrenchiemseer Verfassungsentwurfs; ebenso Denninger, Ende (Fn. 30), S. 1122 f.; siehe auch Fn. 76; Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 335 betont in diesem Zusammenhang die von zuletzt von Link wiederbelebte „integrationspolitische Paradoxie“, dass nur durch die freiwillige und gleichberechtige Bindung eines Staats mit anderen „Staaten desselben Wertefundaments“ eine erforderliches Maß an Gestaltungsmacht auf europäischer Ebene gewinnt (vgl. zur Konzeption W. Link, Auf dem Weg zu einem neuen Europa – Herausforderungen und Antworten, 2006, S. 21 ff.). 142 Dies betont Denninger, Ende (Fn. 30), S. 1123 mit dem Schluss auf eine bereits dadurch erwirkte, zukunftsweisende Veränderung des Souveränitätsbegriffs als zentrale

50

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Treffend formulierte Carlo Schmid während der Sitzungen des Parlamentarischen Rates die Zielvorstellung einer solchen Vorschrift im Grundgesetz wie folgt: „Man sollte eine Bestimmung vorsehen, die es erlaubt, im Wege der Gesetzgebung Hoheitsrechte auf internationale Organisationen zu übertragen, da das deutsche Volk zum mindesten entschlossen ist, aus der nationalstaatlichen Phase seiner Geschichte in die überstaatliche Phase einzutreten. Wir sollten uns selber die Tore in eine neugegliederte überstaatliche politische Welt weit öffnen. [. . .] in dieser Zeit gibt es kein Problem mehr, das ausschließlich mit nationalen Mitteln gelöst werden könnte“ 143.

Die Schaffung des Art. 24 GG gewährleistete damit die rechtliche Umsetzung der „internationalen Option“ in Form einer Staatszielbestimmung144 respektive der „Verfassungsentscheidung für eine internationale Zusammenarbeit“ 145. Die Zusammenschau der Präambel und dem unzweideutig gefassten Wortlaut von Art. 24 GG zwingt zu dem Schluss, dass als Adressaten der Hoheitsrechtsübertragungen nur solche zwischenstaatliche Einrichtungen in Betracht kommen dürfen, die ihrer Zielsetzung nach weder Aggression noch die Planung eines Angriffs- oder Eroberungskrieges anstreben146. Als eine solche zwischenstaatliche Einrichtung ist jede durch Verträge zwischen Völkerrechtssubjekten geschaffene Organisation anzusehen147, welche Aufgaben erfüllt, die traditionell im Rahmen nationaler öffentlicher Gewalt ausgeübt wurden148. Die Grenzen einer zwischenstaatlichen Einrichtung sind jedenfalls überschritten, wenn der Institution die Kompetenz-Kompetenz übertragen wurde. Auch ein anderer Staat149 oder eine

Kategorie des modernen Staats durch „die Väter und Mütter des Grundgesetzes“; Grimm, Souveränität (Fn. 31), S. 82 ff. verortet den internationalen Wendepunkt im Umgang mit staatlicher Souveränität in der Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945, betont jedoch, dass dieser Wandel ein Vorbild in dem durch den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt begründeten Regelungsbedarf des 19. Jahrhunderts hatte, der sich insbesondere durch wachsende vertragliche Beziehungen zwischen den Staaten – etwa dem Abkommen zur friedlichen Beilegung internationaler Streitfälle von 1899 oder der Haager Landkriegsordnung von 1907 – auswirkte. 143 Zitat im Zusammenhang mit Art. 24 GG bei Uhrig, Die Schranken (Fn. 75), S. 50 mit Verweis auf die Stenographischen Berichte der 2. Sitzung des Parlamentarischen Rats vom 8. September 1948, S. 15. 144 Stern, Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 76), S. 518; Vogel, Verfassungsentscheidung (Fn. 72), S. 42 f.; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 50 f. 145 BVerfGE 58, 1 (41). 146 So Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 143 m.w. N. 147 BVerfGE 2, 347 (377 f.); Jarass (Fn. 138), Art. 24 Rn. 7. 148 H. Mosler, Die Übertragung von Hoheitsgewalt, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 175 Rn. 28; Jarass (Fn. 138), Art. 24 Rn. 7. 149 Siehe BVerfGE 68, 1 (91 f.); Mosler, Übertragung (Fn. 148), § 175 Rn. 38; Jarass (Fn. 138), Art. 24 Rn. 7; Pernice (Fn. 137), Art. 24 Rn. 24.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

51

öffentlich-rechtliche Körperschaft, die einem solchen untersteht150, dürfen nach Art. 24 Abs. 1 GG nicht Adressat der übertragenen Hoheitsgewalt sein. Der Transfer von Hoheitsrechten muss zudem – unabhängig von der innerstaatlichen Kompetenzverteilung – stets durch ein Bundesgesetz erfolgen, das ungeachtet seines materiellen Charakters als Verfassungsänderung nicht den qualifizierten Anforderungen der Art. 79 Abs. 1 und 2 GG unterfällt, also nicht den Wortlaut des Grundgesetzes zu ändern braucht und keiner verfassungsändernden Mehrheit bedarf 151. Art. 24 Abs. 1 GG erlaubt also (ebenso wie Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG n. F.) eine „stille Verfassungsänderung“ 152. Der ursprünglich im Entwurfstext des Grundgesetzes vorgesehenen Forderung nach einer Zwei-DrittelMehrheit zumindest im Bundesrat, um bei dieser besonders wichtigen Frage die Interessen der Länder zu wahren153, wurde in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates entgegengehalten, dass damit der Integrationsklausel die „Pointe“ genommen würde, da integrative Schritte durch Verfassungsänderung immer möglich seien154. So wie der Parlamentarische Rat insgesamt bewusst die Schaffung von positiv verbindlichem Recht im Grundgesetz der dortigen Aufnahme bloßer Programmsätze, Ankündigungen und Versprechen oder (unverbindlicher) Leitbilder einer verfolgten Politik vorzog155, sollte auch die Entscheidung über 150 BVerfGE 2, 347 (377 f.); Jarass (Fn. 138), Art. 24 Rn. 7; Pernice (Fn. 137), Art. 24 Rn. 24. 151 So explizit BVerfGE 58, 1 (36); 68, 1 (96 f.). Zu dieser vom Parlamentarischen Rat intendierten „Generalausnahme vom geltenden Verfassungsrecht“ zur Erleichterung der Europäischen Integration siehe auch Pernice (Fn. 137), Art. 24 Rn. 4, 28; H. Dreier, in: ders., Grundgesetz (Fn. 137), Art. 79 Abs. 1 Rn. 16, 26 sowie Sommermann, Staatlichkeit (Fn. 71), § 14 Rn. 10; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 55 ff. verweist zudem auf den im Jahr 1992 ins GG eingefügte Art. 24 Abs. 1a GG, welcher sogar den Ländern die Möglichkeit eröffnet, mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen zu übertragen und damit eine Abkehr vom bis dahin geltenden Grundsatz darstellt, dass allein der Bund Hoheitsrechte übertragen durfte. 152 So H. Bethge, Das Staatsgebiet des wiedervereinigten Deutschlands, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 8, 1995, § 199 Rn. 26; ders., Deutsche Bundesstaatlichkeit und Europäische Union, in: R. Wendt (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Steuern, 1996, S. 55 (61 f.). 153 So der Vorsitzende der Deutschen Partei-Fraktion Hans-Christoph Seebohm in der 29. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rats am 5.1.1949, in: Parlamentarischer Rat (Hrsg.), Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1948/49, 1950, S. 345 f.; dazu Sommermann, Staatlichkeit (Fn. 71), § 14 Rn. 9 f. sowie dort Fn. 32. 154 So Rudolf Katz der SPD-Fraktion in der 6. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rats am 19.11.1948, in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen (Fn. 153), S. 70. 155 Diese durchgängige Normativität des Grundgesetzes stellt Wahl, Elemente (Fn. 72), S. 1043 als „bemerkenswertes und die Eigenart des Grundgesetzes bestimmendes Kennzeichen“ dar; dass diese Entscheidung die Gestalt und den Stil des Grundgesetzes nachhaltig geprägt hat, sieht auch A. Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion – ein Beitrag zum Verfassungshandwerk, in: Archiv des öffentlichen Rechts 119 (1994), S. 35 (53 ff.).

52

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

die Integrationsbereitschaft im Grundgesetz selbst eindeutig formuliert werden156. Angesichts der Weiterentwicklung und Vertiefung von Organisation und Kooperation der europäischen Staaten157 waren jedoch diese mit wenig Regelungsdichte gestalteten Integrationsvorschriften des Grundgesetzes zur Realisierung einer europäischen Einigung nach einhelliger Meinung nicht mehr ausreichend, um weitere Integrationsschritte in der Form eines weiteren Kompetenzausbaus zugunsten der Europäischen Union verfassungsrechtlich ausreichend bestimmt zu legitimieren und zu implementieren 158. Daneben bestand angesichts des wachsenden Kompetenzabflusses auf nationaler Ebene dringender Bedarf an der verfassungsrechtlichen Festlegung struktureller und materiell-rechtlicher Anforderungen an die Europäische Union sowie an der ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Sicherung von Mitwirkungsrechten von Bundestag und Bundesrat bei grundsätzlichen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Europäischen Union159. Im Rahmen der Verfassungsrevision vor dem Zustimmungsgesetz zum 156 So der SPD-Abgeordnete Eberhard in der 29. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rats am 5.1.1949, in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen (Fn. 153), S. 345 f. 157 Zu Recht erwähnt Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 143 Fn. 22, dass hier an erster Stelle der am 1. November 1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht zu nennen ist, da durch diesen ein Gros neuer Politikfelder auf die zeitgleich neu geschaffene Europäischen Union übergingen und so (nicht nur laut Selbstverständnis) eine „neue Stufe“ bei der Verwirklichung der europäischen Integration erklommen wurde. Ferner stellt Pache heraus, dass durch diese Vertragsrevision neben der originär ökonomischen auch die extensive politische Dimension der europäischen Einigung erstmals verdeutlicht wurde; dazu auch R. Bieber/A. Epiney/M. Haag, Die Europäische Union, Europarecht und Politik, 9. Aufl. 2011, § 1 Rn. 23 f. 158 Geiger, Beteiligung (Fn. 140), S. 197; Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 1; Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 143; R. Scholz, Grundgesetz und Europäische Einigung, in: NJW 1992, S. 2593–2601 (2593 f.); Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 2; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 3 („etwas mager“); ders., Europäisierung (Fn. 106), S. 36; a. A.: U. Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, in: DVBl. 1993, S. 936 (942); H.-J. Papier, Die Bedeutung des Grundgesetz im Europäischen Staatenverbund, in: K. Stern (Hrsg.), 60 Jahre GG (Fn. 66), S. 107 (110). Problematisch erschien insbesondere, inwieweit Art. 24 Abs. 1 GG noch als verfassungsrechtliche Grundlage für den Vertrag von Maastricht tauglich war, da es sich nach dem Wortlaut des Art. 24 GG bei der durch Maastricht neu geschaffenen Europäischen Union noch um eine zwischenstaatliche Einrichtung hätte handeln müssen. Ausführlich dazu: K. Schmalenbach, Der neue Europaartikel 23 des Grundgesetzes im Lichte der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission, 1996; zusammenfassend C. Schede, Bundesrat und Europäische Union – die Beteiligung des Bundesrates nach dem neuen Artikel 23 des Grundgesetzes, 1994, S. 51 ff.; Pieper, Grundgesetz (Fn. 139), S. 206 ff.; zur zeitgleichen, ähnlich motivierten Änderung des Kapitel 10, § 5 der schwedischen Verfassung siehe Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 88, 107; zu ähnlichen Diskussionen, jedoch ohne darauf folgende Verfassungsänderung in Dänemark und Italien ders. (Fn. 76), Art. 23 Rn. 119 ff., 128 ff. 159 So Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 144; Streinz, Europäisierung (Fn. 106), S. 41 f.; bereits im 1976 verfassten Schlussbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestags (BT-Drs. 7/5924, S. 228, 230 f.) wurde Kritik an der Tatsa-

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

53

Vertrag von Maastricht160 wurde daher neben der Einfügung des Art. 24 Abs. 1a GG161 mit Art. 23 GG n. F. eine neue Rechtsgrundlage für die Gründung und Entwicklung der Europäischen Union in das Grundgesetz aufgenommen162. c) Art. 23 GG n. F. Am Ende der beschriebenen Entwicklungen und in Erwartung der bevorstehenden Ratifikationen des Vertrags von Maastricht und der mit diesem Vertrag intendierten Gründung der Europäischen Union wie der Wirtschafts- und Währungsunion ist also im Jahre 1992 der Art. 23 GG n. F. als moderner und spezieller „Europa-Artikel“ 163 zum Zwecke der europäischen Integration „und deren Fortgang“ 164 in das Grundgesetz aufgenommen worden165. Er sollte zu Beginn der durch den Vertrag von Maastricht markierten neuen Etappe der europäischen Integration sowohl innerstaatlich als auch gegenüber den Partnerstaaten verfassungsrechtlich dokumentieren, welche Strukturen die Bundesrepublik Deutschland für das vereinte Europa anstrebt, nach welchen innerstaatlichen Regeln sich die weitere Integration vollziehen sollte und wie insbesondere die Bundesländer daran teilzunehmen haben166. Die Tatsache, dass die Vorschrift – wenn auch nach che geäußert, dass Art. 24 Abs. 1 GG es erlaubte, durch einfaches, nicht zustimmungsbedürftiges Gesetz Länderkompetenzen auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen und damit den effektiven Schutz der förderativen Struktur der Bundesrepublik zu unterlaufen. Die im Jahre 1991 eingesetzte Bundesratskommission „Verfassungsreform“ griff den zuvor in einem Gesetzenwurf des Bundesrats (BR-Drs. 920/90) enthaltenen Vorschlag auf, die Mitwirkungsrechte der deutschen Länder im Prozess der europäischen Integration durch eine Neufassung von Art. 24 GG zu stärken und damit einen „notwendigen Ausgleich“ für den Kompetenzverlust zu schaffen (BR-Drs. 360/92, S. 2 ff.), siehe dazu O. Olah, Artikel 23 GG – Verfassungsrechtliche Grundlage der europäischen Integration, in: Zeitschrift für die sozialrechtliche Praxis 39 (2000), S. 131 (131); zuvor K. Schmitt, Regionen, Regionalisierung und Föderalismus in Europa, in: P. M. Huber (Hrsg.), Das Ziel der europäischen Integration, 1996, S. 55 (59 ff.). 160 Gesetz zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union, BGBl. 1992 II, S. 1251. 161 Die Einfügung erfolgte durch das 38. ÄndG v. 21. Dezember 1992, BGBl. 1992 I, S. 2086 und diente primär der verfassungsrechtlichen Absicherung der grenzüberschreitenden, interregionalen Zusammenarbeit, z. B. auf Basis der „Euregios“, Pernice (Fn. 137), Art. 24 Rn. 7. 162 Pernice (Fn. 137), Art. 24 Rn. 7; A. Randelzhofer in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 24 Abs. 1 (1992), Rn. 200; O. Rojahn, in: I. v. Münch/ P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 24 Rn. 37, 49 ff.; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 3, Art. 24 Rn. 5. 163 Badura, Willensbildung (Fn. 135), S. 13; R. Scholz, Europäische Union und deutscher Bundesstaat, in: NVwZ 1993, S. 817 (817). 164 BVerfGE 89, 155 (172); Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 9. 165 Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 334; Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 141. 166 So die Begründung der Bundesregierung, BT-Drs. 12/3338, S. 4; kritisch damals unter anderem R. Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), in:

54

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

einer Übergangszeit – den Platz des Art. 23 GG a. F. einnahm, der zuvor im Zuge der Wiedervereinigung durch das Einigungsvertragsgesetz167 mit Wirkung zum 29. September 1990 aufgehoben worden war, kann dabei durchaus als symbolischer Akt gewertet werden168: Nach Vollendung des ursprünglich durch Art. 23 GG a. F. angestrebten Ziels der Wiedervereinigung Deutschlands durch eine einmalige gewaltlose Revolution169 galt es von nun an, der angestrebten Integration dieses wiedervereinigten Deutschlands in die ebenso „frisch geborene“ Europäische Union einen adäquaten rechtlichen Rahmen zu geben170. Seither bildet die Vorschrift als neuer „Integrationshebel“ die spezielle verfassungsrechtliche Grundlage für die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der Europäischen Union171. NVwZ 1994, S. 417 (428): „Der staatsrechtliche Rahmen für die Normgebung der Europäischen Gemeinschaften [Union] ist mit dieser Regelung nicht besser, sondern verworrener geworden.“ 167 BGBl. 1990 II, S. 889. 168 Die Stellung des neuen Art. 23 GG betont neben dem Zusammenhang zwischen der Wiedervereinigung Deutschlands und der europäischen Einigung ferner die Verschiebung der verfassungsrechtlichen Prioritäten unter den bis dahin nebeneinander existierenden Staatszielen: Nach Vollendung der innerstaatlichen Einigung soll die nächste (Ver)einigung, an deren Realisierung die Bundesrepublik Deutschland mitwirkt, auf europäischer Ebene erfolgen; ähnlich P. Häberle, Aussprache, in: VVDStRL 53 (1994), S. 147; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 95 mit Verweis auf die dahin gehenden Ausführungen von T. Oppermann/C. D. Classen, Europäische Union. Erfüllung des Grundgesetzes, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 43 (1993), 28, S. 11 (14). 169 So unter anderem die rückblickende Bewertung von Schambeck, Grundgesetz (Fn. 71), S. 27; ebenso Streinz, Europäisierung (Fn. 106), S. 35; ausf. zum „auffälligen Legalismus“ in den verschiedenen Phasen der Revolution C. Hillgruber, Deutsche Revolutionen – „Legale Revolutionen“?, in: Der Staat 49 (2010), S. 167 (195 ff.). 170 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 1 sieht in der „Auffüllung der Artikel-Lücke“ zudem eine Bekräftigung der Endgültigkeit der nach der Wiedervereinigung bestehenden Grenzen Deutschlands; dass diese im Hinblick auf Art. 1 des „Zwei-Plus-Vier-Vertrags“ (BGBl. 1990 II, S. 1318) auch völkerrechtlich geboten war, betont Streinz, Europäisierung (Fn. 106), S. 35: Art. 1 Abs. 1 dieses Vertrags über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland legte die Grenzen des Territoriums Deutschlands mit den Gebieten der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins fest. Zudem bestätigte das vereinte Deutschland, dass es keine Gebietsansprüche gegen andere Staaten hat und solche auch nicht in Zukunft erheben wird (Art. 1 Abs. 3). Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR verpflichteten sich zudem, sicherzustellen, dass die Verfassung des vereinten Deutschlands keinerlei Bestimmungen enthalten wird, die mit diesen Prinzipien unvereinbar sind, wobei ausdrücklich Art. 23 S. 2 GG a. F. genannt wurde. 171 Am 26. Juni 1992 wurde in der 8. Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission beschlossen, mit Art. 23 GG n. F. als spezieller Europavorschrift den Prozess der europäischen Integration verfassungsrechtlich abzusichern und voranzutreiben. Mit der Einfügung dieser Norm konnte dann letztlich auch die Frage unbeantwortet bleiben, ob auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 GG noch die Ratifizierung des Maastrichter Vertrags hätte erfolgen können, nachdem hierzu in rechtlicher Hinsicht unterschiedlichste Auffassungen vertreten wurden, siehe Schmalenbach, Europaartikel (Fn. 158), S. 54; kritisch zur „verfassungsästhetisch sicher nicht befriedigende[n]“ Regelung Streinz, Eu-

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

55

Art. 23 GG n. F. sollte sowohl den bereits erreichten Stand der Integration als auch die Möglichkeit ihrer Fortentwicklung verfassungsrechtlich absichern172. Seit ihrer Einführung verdrängt die Vorschrift als lex specialis173 für die Hoheitsrechtsübertragung des deutschen Gesetzgebers auf die Europäische Union abschließend den Art. 24 Abs. 1 GG174 im Großteil dessen bisherigen Anwendungsbereiches als Grundlage der europäischen Integration175. Im Einzelnen sieht Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG vor, dass die Bundesrepublik Deutschland zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der Europäischen Union mitwirkt176. Die Vorschrift konkretisiert damit die in der Präambel angelegte europafreundliche Ausrichtung des Grundgesetzes zu einer an die deutschen Staatsorgane gerichteten Pflicht, (weiterhin) an den europäischen Einigungsbestrebungen aktiv teilzunehmen, begründet also ein entsprechendes Staatsziel177. ropäisierung (Fn. 106), S. 41 f.; ausf. zu Art. 23 GG als „gelobte[r] und geschmähte[r]“ Vorschrift Olah, Artikel 23 (Fn. 159), S. 131 ff. 172 BT-Drs. 12/6000, S. 20. Amtliche Begründung der Endfassung in BR-Drs. 501/ 92; dazu kritisch Badura, Willensbildung (Fn. 135), S. 14, der in der Schaffung des Art. 23 GG n. F. eine „gravierend[e]“ Veränderung der ursprünglichen Entscheidung des Parlamentarischen Gesetzgebers über die Gestalt des deutschen Bundesstaats durch den verfassungsändernden Gesetzgeber sieht. 173 Statt aller Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 152; R. Streinz, Europarecht, 9. Aufl. 2012, § 3 Rn. 95. 174 C. Starck, Das Grundgesetz heute. Deutsche und europäische Perspektiven, in: K. Stern (Hrsg.), 60 Jahre GG (Fn. 66), S. 55 (64) beschreibt Art. 23 GG gleichsinnig als eine der Entwicklung der Europäischen Union entsprechende Verfeinerung und Detaillierung der grundsätzlichen Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten des Art. 24 Abs. 1 GG. 175 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 2; Art. 24 Rn. 7, 69; Jarass (Fn. 138), Art. 24 Rn. 3; siehe auch bereits U. Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes. Positivierung vollzogenen Verfassungswandels oder Verfassungsneuschöpfung?, in: Der Staat 32 (1993), S. 191 (195); R. Geiger, Die Mitwirkung des deutschen Gesetzgebers an der Entwicklung der Europäischen Union – Zur Auslegung des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG, in: JZ 1996, S. 1093 (1098); C. Kirchner/J. Haas, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Gemeinschaft, in: JZ 1993, S. 760 (762); I. Winkelmann, Innerstaatliche Kompetenzverteilung bei Vertragsabschlüssen in Angelegenheiten der Europäischen Union: zur Nichtbeachtlichkeit der Lindauer Absprache im Anwendungsbereich von Art. 23 n. F. GG, in: DVBl. 1993, S. 1128 (1128). 176 P. Badura, Der Bundesstaat Deutschland im Prozeß der europäischen Integration, 1993, S. 7 f.; anders als zuvor Art. 24 Abs. 1 GG statuiert Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG eine klare Verpflichtung, die sich an alle staatlichen Organe der Bundesrepublik Deutschland richtet. Damit wird die aktive Teilnahme Deutschlands am Prozess der europäischen Integration verfassungsrechtlich angeordnet, so Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 39. 177 H. Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, S. 122; die Verwirklichung des vereinten Europas erhält damit den „Rang eines Staatsziels, auf das hinzuwirken der Bundesstaat in seiner Gesamtheit – also Bund und Länder – verpflichtet ist“, vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.), Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Zur Sache 5/93, 1993, S. 40; Schede, Bundesrat (Fn. 158), S. 51; S. Magiera, die Grundgesetzänderung von 1992 und die Europäische Union, in: Jura 1994, S. 1 (8); Müller-Graff, Lissabon-Urteil

56

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Diese verfassungsrechtliche Mitwirkungspflicht wird in Art. 23 Abs. 1 GG durch spezifische strukturelle und materielle Anforderungen an die Europäische Union als Adressatin der Hoheitsrechtsübertragungen bedingt, welche der bisherige Art. 24 Abs. 1 GG gerade nicht enthielt178. Die in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG enthaltene, auf Verfassungshomogenität zwischen der Europäischen Union und dem Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland gerichtete Struktursicherungsklausel179 erinnert an die für Länder und Kommunen geltende Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG180. Sie beansprucht, dass die Europäische Union als Adressatin des Kompetenztransfers demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet181. Die Vorschrift stellt damit die „europarechtliche Kehr(Fn. 21), S. 334; Kottmann/Wohlfahrt, Wächter (Fn. 34), S. 450 betonen die Entwicklung der im Maastricht-Urteil noch „ausdrücklichen zugelassenen“ Verwirklichung eines vereinten Europas (BVerfGE 89, 155 [182]), hin zu einem für die deutschen Verfassungsorgane indisponiblen Verfassungsauftrag, wie das Lissabon-Urteil (BVerfGE 123, 267 [346 f.]) ihn definiert. 178 Siehe dazu näher IV. 1. b); umfassend ferner Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 17; Streinz, Europäisierung (Fn. 106), S. 45 ff. 179 Durch die sog. Struktursicherungsklausel wird den deutschen Verfassungsorganen aufgegeben, nur an einer solchen Europäischen Union mitzuwirken, die den strukturellen Forderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG gerecht wird. Damit stellt der Artikel eine Integrationsgrenze dar, denn die deutsche Mitwirkung muss sich auf integrative Schritte beschränken, die die Verwirklichung dieser Strukturprinzipien fördern, so Geiger, Mitwirkung (Fn. 175), S. 1094; R. Scholz, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Art. 23 (2009), Rn. 70; Sonderausschuss „Europäische Union“ des Bundestages, BT-Drs. 12/3896, S. 17; zur „Appellfunktion“ der Struktursicherungsklausel gegenüber den Staatsbürgern und -organen siehe Papier, Bedeutung (Fn. 158), S. 118 f.; zu Begriff und Zweck siehe ferner den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, S. 20 f. 180 So Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 17; ähnl. Starck, GG heute (Fn. 174), S. 64; das Bundesverfassungsgericht hat indes im Lissabon-Urteil eindeutig festgestellt, dass das Grundgesetz Abweichungen dieser Vorgaben für die Struktur der Europäischen Union zulässt, die aufgrund deren spezieller Eigenart einer auf dem Prinzip der Staatengleichheit gründenden und völkervertraglich ausgehandelten Gemeinschaft basieren (vgl. auch die diesem Gedanken Rechnung tragenden Regelung der degressiv proportionalen Zusammensetzung des Europäischen Parlaments in Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3 EUV sowie dazu A. Voßkuhle, Über die Demokratie in Europa, in: FAZ v. 9.2.2012, S. 7, Sp. 6). Damit schließt Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG gerade „nicht die Verpflichtung ein, demokratische Selbstbestimmung auf der supranationalen Ebene uneingeschränkt in den Formen zu verwirklichen, die das Grundgesetz innerstaatlich für den Bund und über Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG auch für die Länder vorschreibt“ (BVerfGE 123, 267 [347]). 181 Diese Prinzipien sollen keinesfalls eine inhaltliche Identität mit dem nationalen Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland schaffen, sondern sie sollen in einer Weise verwirklicht werden, die der spezifischen Struktur und Rechtsnatur der EU angemessen ist und die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten ermöglicht, so Scholz, Grundgesetz (Fn. 158), S. 2598. Von einer „strukturangepassten Grundsatzkongruenz“ spricht daher in diesem Zusammenhang Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 21 f.; ähnl. S. Schmahl, in: H. Sodan (Hrsg.), Grundgesetz, 2009, Art. 23 Rn. 3 sowie Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 334 f.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

57

seite“ der durch die sogenannte Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG abgesicherten „Identitätsmedaille“ dar, indem sie festlegt, dass die Gegenstände, über die der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht auf legale Art und Weise disponieren kann, auch durch den nationalen Gesetzgeber bei der Fortentwicklung der europäischen Integration nicht angetastet werden dürfen182. Die rechtliche Technik der deutschen Mitwirkung an der europäischen Integration blieb wenig überraschend unverändert: Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ermöglicht wiederum die Übertragung von Hoheitsrechten, nunmehr jedoch auch auf die überstaatliche Institution Europäische Union. Die Vorschrift verlangt wie ihre Vorgängerin zur Übertragung (jedoch jetzt auch ausdrücklich) ein formelles Bundesgesetz, welches stets mit Zustimmung des Bundesrats erlassen werden muss183. Abs. 1 S. 3 des Art. 23 GG erklärt die Anforderungen des Art. 79 Abs. 2 und 3 GG ausdrücklich für solche Regelungen anwendbar, welche mit dem einmaligen Fall der Begründung der Europäischen Union vergleichbar sind. Grundlegende Entscheidungen184 zur europäischen Integration bedürfen folglich einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Zudem erstreckt sich der Anwendungsbereich der „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG ausdrücklich auf die europäische Integration185. Alle wesentlichen Erweiterungen von Befugnissen der 182 C. Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, 27. Aufl. 2011, Rn. 12; Denninger, Identität (Fn. 11), S. 971. 183 Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 122 („keine Blankovollmacht“); Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 145 f.; damit wird der Übertragung von Hoheitsrechten unmittelbar demokratische Legitimation verliehen und der Akt der Übertragung wird unter Berücksichtigung von Bundes- und Länderebene zugleich doppelt legitimiert, so Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 84. 184 Welche Entscheidungen „grundlegender Natur“ sind und damit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gemäß Art. 79 Abs. 2 GG bedürfen, ist insbesondere im Hinblick auf den Gedanken des Bundesverfassungsgerichts fraglich, der besagt, dass letztlich jede Hoheitsrechtsübertragung eine materielle Verfassungsänderung bedeutet, weil jedenfalls zugunsten der Organe der Europäischen Union in die verfassungsrechtlich festgeschriebene Zuständigkeitsordnung eingegriffen wird (BVerfGE 58, 1 [36] = JZ 1982, 145 [147] – Eurocontrol I). Nach überwiegender Ansicht ist hier jedoch – insbesondere unter Hinweis auf die sonst überflüssige Regelung des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG – auf den materiellen Gehalt der Hoheitsrechtsübertragung zu schauen. Mangels einer Verfassungsänderung im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG reicht eine in Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG geforderte einfache Mehrheit i. S. v. Art. 42 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG dann aus, wenn Änderungen des EU-Vertrages zu ratifizieren sind, die von ihrem Gewicht her der Gründung der Europäischen Union nicht vergleichbar sind und daher mangels einer „Verfassungsänderungsqualität“ nicht die „Geschäftsgrundlage“ des EUVertrages betreffen, so unter anderem die Begründung der Bundesregierung in BT-Drs. 12/3338, S. 7 lit. f.; ebenso Scholz, Union (Fn. 163), S. 822; wohl auch Geiger, Mitwirkung (Fn. 175), S. 1096 zu dem Fall der Vertragsänderung im intergouvernementalen Bereich; zur weiteren Streitfrage, wann eine „vergleichbare Regelung“ im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG vorliegt und damit eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist, siehe ausführlich Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 101 ff. sowie Geiger, Mitwirkung (Fn. 175), S. 1096 ff. samt einer seiner Auslegung entsprechend vorgeschlagenen Neufassung von Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG (S. 1098 Fn. 37). 185 Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 146.

58

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Unionsorgane und damit einhergehende Änderungen von Aussagen des Grundgesetzes außerhalb der Verfassungsurkunde selbst sind also dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten186, wobei die äußerste materielle Grenze durch Art. 79 Abs. 3 GG gezogen wird. In diesem Zusammenhang hat sich die Frage, ob die Identität des Grundgesetzes und die damit verbundene Gewährleistung der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland der europäischen Integration aus der Perspektive des Grundgesetzes absolute Schranken setzen, als besonders kontroverses Diskussionsobjekt herausgestellt, welches im Laufe der Untersuchung noch eingehend erörtert wird187. Die diesem Bezug auf die sogenannte Ewigkeitsklausel folgenden, detailliert gefassten Absätze 2 bis 7 des Art. 23 GG n. F. regeln die Mitwirkung des Bundestags und des Bundesrats in Angelegenheiten der Europäischen Union, indem sie unter anderem die allgemeine Beteiligungsverpflichtung des Bundesrats aus Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG konkretisieren. Das Ziel dieser komplexen Vorschriften ist es, die Mechanismen zur Sicherung der parlamentarischen Kontrolle des Integrationsprozesses zu verbessern188. Der Grund für die Mitwirkungsregelungen ist die weitreichende Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union, durch die sowohl die Hoheitsrechte des Bundes als auch die der Länder betroffen sind. Somit wird auch das Verhältnis zwischen Bund und Ländern und das Verhältnis der Verfassungsorgane Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat beeinflusst189. Durch ein komplexes Gefüge an Mitwirkungsrechten für Parlament und Ländervertretung sollen sowohl vertikale als auch horizontale Kompetenzverluste ausgeglichen werden. Zudem sollen innerstaatlich Demokratie, 186 Badura, Willensbildung (Fn. 135), S. 14; Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 38 f. 187 Siehe zu den Integrationsgrenzen des Grundgesetzes und den Möglichkeiten zu deren Überwindung ausführlich IV. und V. sowie zur Frage nach der Zulässigkeit der Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in einen europäischen (Bundes)staat IV. 2. d). 188 Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 152; Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 56; dazu Huber, Maastricht (Fn. 79), S. 16 ff.; kritisch zur „kompliziert[en]“ Regelung Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 106; ebenso kritisch zur Rechtstechnik P. Kunig, Mitwirkung der Länder bei der europäischen Integration. Art. 23 des Grundgesetzes im Zwielicht, in: J. Ipsen (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, S. 591 (591 ff.); C. D. Classen, Maastricht und die Verfassung – kritische Bemerkungen zum neuen „Europa-Artikel“ 23 GG, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1993, S. 57 (59); vor einer zu engmaschigen, mitunter überzogenen verfassungsrechtlichen Regelung warnt in diesem Zusammenhang W. Schäuble, Grundordnung auf dem Weg durch die Zeit, in: Huber, Grundgesetz (Fn. 159), S. 65 (67 f.); pointierter P. Häberle, Aussprache, in: VVDStRL 53 (1994), S. 147, der die Absätze 2 bis 7 im Hinblick auf deren „Unverständlichkeit und Länge“ als die wohl schlechtesten Artikel bezeichnet, die auf Grundgesetzebene je zustande gekommen seien. 189 Begründung der Bundesregierung, BT-Drs. 12/3338, S. 1; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 136.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

59

Föderalismus und Gewaltenteilung gegen die Gefahren zunehmender Europäisierung nationaler Kompetenzfelder geschützt werden190. Die in Art. 23 Abs. 2 GG allgemein und in Art. 23 Abs. 3 beziehungsweise Abs. 4–6 GG konkret geregelte Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union wurde zudem durch die begleitende Einrichtung des Ausschusses des Bundestags für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Art. 45 GG n. F.) und die Ermächtigung des Bundesrats zu Bildung einer Europakammer (Art. 52 Abs. 3a GG) ergänzt, damit die Mitwirkungstätigkeiten auch praktisch realisiert werden konnten191. d) Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG: Kommunalwahlrecht für Unionsbürger, das Europawahlgesetz und die Europawahlordnung Der Grundsatz, dass nur Deutsche im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG Träger der Staatsgewalt sein können, galt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch für die Wahlen zur Volksvertretung auf Kreis- und Gemeindeebene192. Zur Schaffung eines nicht für alle Ausländer gültigen, sondern allein auf Unionsbürger beschränkten Kommunalwahlrechts durch Zustimmung zu ei190

BT-Drs. 12/3338, S. 4 f. Beide Regelungen wurden mit Wirkung zum 25. Dezember 1995 durch das 38. Änderungsgesetz (BGBl. 1992 I, S. 2086) eingefügt; dazu Streinz, Europäisierung (Fn. 106), S. 39, zu Reformbedarf bei der Beteiligung von Bundestag und Bundesrat S. 58 ff.; ferner Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 141, 143; ausf. zu den Informations- und Mitwirkungsrechten von Bundesrat und Bundestag D. König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses – Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes, 2000, S. 330 ff. sowie R. Halfmann, Entwicklungen des deutschen Staatsorganisationsrechts im Kraftfeld der europäischen Integration – die Zusammenarbeit von Bund und Ländern nach Art. 23 GG im Lichte der Staatsstrukturprinzipien des Grundgesetzes, 2000. 192 BVerfGE 83, 37 (LS 3–5); 83, 60 (70 ff.); das Bundesverfassungsgericht hatte 1990 das Wahlrecht für Ausländer bei Kommunal- und Kreiswahlen als verfassungswidrig erklärt, weil das Staatsvolk, von dem die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, nach dem Grundgesetz von Deutschen i. S. v. Art. 116 Abs. 1 GG und diesen gleichgestellten Personen gebildet werde. Für das Wahlrecht wurde daher die Eigenschaft als „Deutscher“ vorausgesetzt, was durch die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG auch in den Ländern und Gemeinden gelten sollte. Gleichzeitig deutete das Gericht jedoch in Anbetracht der geplanten Einführung eines unionsweiten Kommunalwahlrechts an, dass dies auch im Grundgesetz durch eine nach Art. 79 Abs. 3 GG zulässige Verfassungsänderung herbeigeführt werden könne (BVerfGE 83, 37 [59]), so Streinz, Europäisierung (Fn. 106), S. 27 f. („verfassungsrechtliche Freigabeerklärung“); H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz (Fn. 127), Art. 20 Rn. 53; H.-G. Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz (Fn. 127), Art. 28 Rn. 23; B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GrundgesetzKommentar (Fn. 138), Art. 28 Rn. 8; weitere Nachweise bei S. Kadelbach, Unionsbürgerrechte, in: D. Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 19 Rn. 56. 191

60

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

ner dahingehenden Änderung der Europäischen Verträge bot Art. 24 Abs. 1 GG (i.V. m. Art. 79 Abs. 2 GG193) zwar eine vage verfassungsrechtliche Basis194. Inzwischen regelt jedoch Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG eindeutig, dass „bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden [. . .] auch Personen, die die Staatshörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft [Union] besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaften [Union] wahlberechtigt und wählbar [sind]“ 195 und erstreckt damit das Wahlrecht gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG in Kommunen und Kreisen ausdrücklich auf Unionsbürger196. Die Einfügung des Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG kann als Europäisierung des Demokratieprinzips angesehen werden197. Es trägt dem von Staatsangehörigkeit unabhängigen Kommunalwahlrecht Rechnung, welches durch Art. G Nr. 10 des Vertrags von Maastricht über die Europäische Union in den EG-Vertrag eingefügt wurde und in den heutigen Art. 20 bis 25 AEUV über die Unionsbürgerschaft, insbesondere in Art. 22 AEUV Niederschlag gefunden hat198. Die auf Art. 8b EGV (jetzt Art. 22 AEUV) gestützte europäische „Kommunalwahlrichtline“ (94/ 80/EG vom 19.12.1994199) verpflichtete die deutschen Länder, bis zum 1.1.1996 in den Kommunalwahlgesetzen Unionsbürgern mit Wohnsitz in Deutschland das 193 So W. von Simson/J. Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz – Maastricht und die Folgen für das deutsche Verfassungsrecht, 1992, S. 55. 194 Vgl. BVerfGE 83, 37 (59); H.-U. Erichsen, Kommunales Ausländerwahlrecht, in: Jura 1988, S. 549 (550 f.); P. J. Tettinger/K.-A. Schwarz, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/ C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 28 Rn. 118. 195 Tettinger/Schwarz (Fn. 194), Art. 28 Rn. 118 („unmissverständlich“); Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG wurde eingefügt durch das 38. ÄnderungsG v. 21.12.1992 (BGBl. 1992 I, S. 2086); dazu monographisch K. Barley, Das Kommunalwahlrecht für Ausländer nach der Neuordnung des Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG, 1999. 196 Tettinger/Schwarz (Fn. 194), Art. 28 Rn. 119; T. Maunz/R. Scholz, in: T. Maunz/ G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 28 (1996), Rn. 41a ff.; Pieroth (Fn. 192), Art. 28 Rn. 8; M. Nierhaus, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 9), Art. 28 Rn. 24; zum Ganzen R. Röger, Der neue Artikel 28 Absatz 1 Satz 3 GG – vorläufiger Abschluß der langjährigen Diskussion um ein Kommunalwahlrecht für Ausländer, in: Verwaltungsrundschau 1993, S. 137 ff. 197 BVerfGE 83, 37 (59) beurteilte die Einräumung des Rechts noch als verfassungsrechtlich unzulässig; Thym, Integration (Fn. 34), S. 575 f., sieht in der Einräumung des Rechts eine „rechtfertigungsbedürftige Absenkung des [gemäß Art. 20 Abs. 1 und 2 GG erforderlichen demokratischen] Legitimationsniveaus“. 198 Henneke (Fn. 192), Art. 28 Rn. 23; Tettinger/Schwarz (Fn. 194), Art. 28 Rn. 118. 199 ABl. L 368 v. 31.12.1994, S. 38; vollst. Titel: „Richtlinie 94/80/EG des Rates über die Einzelheiten der Ausübung des passiven und aktiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen“. Das Recht zur Teilnahme an Kommunalwahlen regelt Art. 3 der Richtlinie; vgl. zu deren näherem Inhalt K. Vogelgesang, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar (Fn. 76), Art. 28 (2002), Rn. 70 ff.; zur großen praktischen Relevanz der Richtlinie angesichts der enormen Migrationszahlen bei ihrer Schaffung Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts sowie zu hierdurch veranlassten europaweiten Verfassungsänderungen siehe Kadelbach, Unionsbürgerrechte (Fn. 192), § 19 Rn. 54 ff.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

61

aktive und passive Wahlrecht für Kommunalwahlen einzuräumen, unter den selben Bedingungen, wie dies bis dahin für Deutsche bestanden hatte200. Da Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG das Kommunalwahlrecht „nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft [Union]“ verleiht, besitzt er keinen über Art. 22 AEUV hinausgehenden konstitutiven Regelungsgehalt201. Der Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG ist also rein deklaratorischer Natur202. Eine solche Verfassungsänderung war jedoch notwendig. Allein die Zustimmung zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Union durch Bundesrat und Bundestag hätte eine dahingehende modifizierende Auslegung des Volksbegriffes in Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG nicht zugelassen203. Die Ergänzung des Satzes 3 stellt eine punktuelle „Öffnungsklausel“ 204 dar, durch welche die unionsrechtliche Vorschrift des Art. 22 AEUV sowie die darauf gestützte Richtlinie in Deutschland zur Geltung kommen, und eine Kollision von Verfassungs- und Unionsrecht vermieden wird205. Umstritten ist, ob der Begriff der „Wahlen“ in Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG auch andere kommunale Sachentscheidungen wie Bürgerbegehren und Bürgerentscheide umfasst und die Teilnahmeberechtigung von Unionsbürgern dahingehend ausdehnbar ist206. Obgleich der Wortlaut des Artikels eher gegen eine solche

200 Die Einräumung eines Kommunalwahlrechts für Angehörige nicht europäischer Staaten mit Wohnsitz in Deutschland wäre nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch nach wie vor verfassungswidrig, weil lediglich Deutsche i. S. v. Art. 116 GG das „Volk“ i. S. v. Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG bilden, siehe Pieroth (Fn. 192), Art. 28 Rn. 8; Nierhaus (Fn. 196), Art. 28 Rn. 26; dazu kritisch vor dem Hintergrund des Völker- und Europarechts F. Hanschmann, „Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende“ – eine rechtliche (Neu-)Bewertung des kommunalen Wahlrechts für Drittstaatsangehörige, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40 (2009), S. 74 ff. 201 Vogelgelsang (Fn. 199), Art. 28 Rn. 60; K.-G. Meyer-Teschendorf/H. Hofmann, Teilnahme von Unionsbürgern nicht nur an Kommunalwahlen, sondern auch an kommunalen Plebisziten?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1995, S. 290 (291). 202 Thym, Integration (Fn. 34), S. 577; C. Enders, Offene Staatlichkeit unter Souveränitätsvorbehalt – oder: Vom Kampf der Rechtsordnungen nach Maastricht, in: R. Grawert u. a. (Hrsg.), Offene Staatlichkeit, Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, 1995, S. 29 (38). 203 Vogelgesang (Fn. 199), Art. 28 Rn. 60; a. A. K. Engelken, Nochmals: Teilnahme von Unionsbürgern an kommunalen Bürgerentscheiden?, in: DÖV 1996, S. 737 (739). 204 Vogelgesang (Fn. 199), Art. 28 Rn. 60. 205 B. Burkholz, Teilnahme von Unionsbürgern an kommunalen Bürgerentscheiden?, in: DÖV 1995, S. 816 (818); Meyer-Teschendorf/Hofmann, Teilnahme (Fn. 201), S. 291; K. Engelken, Einbeziehung der Unionsbürger in kommunale Abstimmungen (Bürgerentscheide, Bürgerbegehren)?, in: NVwZ 1995, S. 432 (433). 206 So Nierhaus (Fn. 196), Art. 28 Rn. 27, der diese Frage offen lässt; hingegen bejahend Engelken, Einbeziehung (Fn. 205), S. 433; Barley, Kommunalwahlrecht (Fn. 195), S. 86 ff.; Pieroth (Fn. 192), Art. 28 Rn. 8; Dreier (Fn. 151), Art. 28 Rn. 81; Henneke (Fn. 192), Art. 28 Rn. 25; verneinend Maunz/Scholz (Fn. 196), Art. 28 (1996) Rn. 41 f.; Vogelgesang (Fn. 199), Art. 28 Rn. 74 f.; Burkholz, Teilnahme (Fn. 205), S. 817.

62

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Auslegung spricht207, sehen einige landesrechtliche Regelungen ein solches Teilnahmerecht vor208. Dem Bereich des europäischen Wahlrechts in einem weiteren Sinne zuzuordnen ist ferner das Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland209 (EuWG), welches auf nationaler Ebene Regeln für die Wahl des Europäischen Parlaments enthält. Es dient somit der Gewährleistung der demokratischen Legitimation der Unions-Parlamentarier und bildet eine Grundlage der innerstaatlichen Geltung der durch sie getroffenen Entscheidungen210. Ergänzt wird das Europawahlgesetz durch einzelne Regelungen des Bundeswahlgesetzes (BWahlG)211 sowie durch die Europawahlordnung (EuWO)212, welche die Durchführung der Wahlen vor Ort im Detail regelt. e) Die Einrichtung einer Europäischen Zentralbank gemäß Art. 88 S. 2 GG Ferner zählt Art. 88 S. 2 GG, welcher die Übertragung der Bundesbankkompetenzen im Rahmen der Europäischen Union auf eine unabhängige213 Europäi207 Zum einen benennt Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG ausdrücklich und ausschließlich „Wahlen“ und bildet damit einen Kontrast zu den in Art. 20 Abs. 2 GG den Wahlen gegenüber gestellten „Abstimmungen“. Ferner regelt auch das Unionsrecht in Art. 22 AEUV ausdrücklich das „Wahlrecht bei Kommunalwahlen“. Art. 2 Abs. 1 lit. b der Kommunalwahlrichtlinie (siehe Fn. 199) definiert schließlich Kommunalwahlen als „die allgemeinen, unmittelbaren Wahlen, die darauf abzielen, die Mitglieder der Vertretungskörperschaft und gegebenenfalls gemäß den Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaats den Leiter und die Mitglieder des Exekutivorgans einer lokalen Gebietskörperschaft der Grundstufe zu bestimmen“ und spricht damit ebenfalls gegen eine Einbeziehung von plebiszitären Vorgängen, siehe Vogelgesang (Fn. 199), Art. 28 Rn. 75. 208 Zu nennen sind hier beispielsweise Art. 72 Abs. 1 der Baden-Württembergischen Verfassung („[. . .] sowie bei Abstimmung stimmberechtigt“), § 30 i.V. m. § 8b der Hessischen Gemeindeordnung („[. . .] die Wahlberechtigung der Unterzeichner muss im Zeitpunkt der Unterzeichnung gegeben sein“) sowie Art. 18a i.V. m. Art. 15 Abs. 2 der Bayerischen Gemeindeordnung („Das Bürgerbegehren kann nur von Personen unterzeichnet werden, die am Tag der Einreichung des Bürgerbegehrens Gemeindebürger sind“; „Gemeindebürger sind die Gemeindeangehörigen, die in ihrer Gemeinde das Recht, an den Gemeindewahlen teilzunehmen, besitzen“); Aufzählung bei Vogelgesang (Fn. 199), Art. 28 Rn. 75, dort Fn. 236. 209 Bekanntmachung am 8.3.1994 (BGBl. 1994 I, S. 423, 555, 852). 210 Zur Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel in Art. 2 Abs. 7 EuWG, aufgrund eines nicht gerechtfertigten, schwerwiegenden Eingriffs in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien (Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 21 Abs. 1 GG), siehe zuletzt BVerfG, 2 BvC 4/10 v. 9.11.2011. 211 Bekanntmachung am 23.7.1993 (BGBl. 1993 I, S. 1288, 1594). 212 Bekanntmachung am 2.5.1994 (BGBl. 1994 I, S. 957). 213 Diese Unabhängigkeit ist auch in integrationsverfassungsrechtlicher Richtung zu verstehen. So resultiert aus dieser Unabhängigkeit konkret, dass das Grundgesetz (genauer Art. 38 Abs. 1 S. 1) nicht vor solchen Gefahren schützt, die sich für die Bundesrepublik Deutschland aus der Trägerschaft der unabhängig agierenden Europäischen

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

63

sche Zentralbank vorsieht, zu den relevanten europabezogenen Regelungen des Grundgesetzes214. Die Vorschrift des Art. 88 GG ist lex specialis für die Bundesbank gegenüber Art. 83 GG – der Generalklausel zur Verteilung von Verwaltungskompetenzen – sowie auch gegenüber dem „allgemeinen Europaartikel“ 23 GG215. Sie ist seit der Schaffung des Grundgesetzes und seit der Ablösung des zweistufigen Zentralbanksystems in der unmittelbaren Nachkriegszeit in unveränderter Form geblieben und bildet seitdem die Rechtsgrundlage für die Deutsche Bundesbank216. Deren primäre Aufgabe ist es, anhand ihrer währungspolitischen Befugnisse den monetären Umlauf und die Kreditversorgung der Wirtschaft zu steuern, um die nationale deutsche Währung zu sichern217. Art. 88 S. 2 GG enthält unter der Voraussetzung, dass die Europäische Zentralbank unabhängig und dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist, die (mittlerweile in Anspruch genommene218) verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an der Begründung der Wirtschafts- und Währungsunion und zugleich deren Rückversicherung219. Zentralbank ergeben, siehe Nettesheim, Euro-Rettung (Fn. 46), S. 766 f.; zum Maßstab der Unabhängigkeit siehe C. Waigel, Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank – gemessen am Kriterium demokratischer Legitimation, 1999. 214 Zur sprachlich unzulänglichen Formulierung der Vorschrift trotz intensiver Beratungen vor seiner Schaffung siehe H. Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 9), Art. 88 Rn. 25 a. E. 215 So H. J. Hahn/U. Häde, in: R. Dolzer/K. Vogel/K. Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 88 (1999) Rn. 340; Scholz, Union (Fn. 163), S. 820; I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 88 Rn. 39; anders Pieroth (Fn. 192), Art. 88 Rn. 5, der die formellen und materiellen Voraussetzungen von Art. 23 GG auch bei Übertragungsakten gemäß Art. 88 S. 2 GG als vorrangig und maßgeblich ansieht; so wohl i. E. auch J. A. Kämmerer, in: I. v. Münch/ P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 6. Aufl. 2012, Art. 88 Rn. 32, der zwar Art. 88 S. 2 GG als lex specialis, jedoch die materiellen Voraussetzungen in Art. 23 GG als von Art. 88 S. 2 GG unberührt ansieht. 216 Pernice (Fn. 215), Art. 88 Rn. 41; zum vorherigen System der Landeszentralbanken und der Bank deutscher Länder K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1980, S. 467 ff.; instruktiv zur deutschen Notenbankentwicklung seit dem Kaiserreich Hahn/Häde (Fn. 215), Art. 88 (1999) Rn. 47 ff. 217 So T. Weikart, Die Änderung des Bundesbank-Artikels im Grundgesetz im Hinblick auf den Vertrag von Maastricht, in: NVwZ 1993, S. 834 (834). 218 Siehe das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht, BGBl. 1992 II, S. 1251. 219 BVerfGE 97, 350 (372) – Euro; Kämmerer (Fn. 215), Art. 88 Rn. 19, 39; die durch den Vertrag von Maastricht geschaffene Wirtschafts- und Währungsunion bestand in einer spezifischen, „asymmetrischen Konstruktion“, die zwar durch eine Union der Währungen, jedoch gleichzeitig durch die wirtschaftspolitische Eigenständigkeit der Eurostaaten geprägt war. Insbesondere war die Unterstützung eines überschuldeten Mitgliedstaats durch die Europäische Union oder einen anderen Mitgliedstaat ausgeschlossen, um die mitgliedstaatliche Haushaltsdisziplin zu sichern (No-Bail-Out, vgl. Art. 125 Abs. 1 AEUV; zu dieser Klausel als „echtem“ Beistandsverbot und nicht bloßem „Haftungsausschluss“ M. Seidel, die „No-Bail-Out“-Klausel des Art. 125 AEUV als Bei-

64

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Bereits vor Abschluss des Vertrags von Maastricht war die Notwendigkeit einer Ergänzung des Grundgesetzes zur Ermöglichung der Übertragung der Währungshoheit auf europäische Institutionen diskutiert worden220. Im Verlauf der konstitutionellen Absicherung des Vertrags von Maastricht mit den darin enthaltenen Vorgaben für eine Europäische Währungsunion wurde auch Art. 88 S. 2 GG durch das verfassungsändernde Gesetz vom 21. Dezember 1992221 in das Grundgesetz aufgenommen222. Zusammen mit Art. 23 GG bildet Art. 88 S. 2 GG die verfassungsrechtliche Grundlage der Einführung des Euros in der Bundesrepublik Deutschland223. Als Flankierung der Hauptnovellierung des Grundgesetzes bei Gründung der Europäischen Union um Art. 23 GG n. F. sollte die Anfügung des Satzes 2 in Art. 88 GG den bevorstehenden unwiderruflichen224 Transfer der nationalen Währungshoheit auf ein Europäisches System der Zenstandsverbot, Gastkommentar, in: EuZW 2011, S. 529 f.). War man zur Zeit der Schaffung der Währungsunion von dieser Konstruktion überzeugt, so wurde spätestens durch die in der „Euro-Krise“ ausdrücklich ergriffenen Unterstützungsmaßnahmen die Notwendigkeit der Stabilisierung und des Umbaus dieser Konstruktion allzu deutlich, siehe Nettesheim, Euro-Rettung (Fn. 46), S. 766 f.; Ruffert, Schuldenkrise (Fn. 46), S. 844; aus politischer Perspektive zum Konstruktionsfehler der Währungsunion Habermas, Verfassung (Fn. 37), S. 121 ff., der als Ursache für das plötzlich erkennbaren Fehlen gemeinsamer wirtschaftspolitischer Instrumentarien die schnelle Frequenz von Finanz-, Schulden- und Eurokrise ausmacht. 220 Siehe die entsprechenden Ausführungen im Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 3338/12, S. 5) unter Bezugnahme auf die Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission: „Die Bestimmungen des Unions-Vertrages über die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion mit Übertragung geldpolitischer Befugnisse auf ein System Europäischer Zentralbanken wären zwar nach dem neuen Artikel 23 Abs. 1 Satz 3 GG bereits auf der Grundlage eines mit den Mehrheiten des Artikels 79 Abs. 2 GG beschlossenen Vertragsgesetzes ratifikationsfähig. Indessen soll auch hier aus verfassungspolitischen Gründen wegen der besonderen Bedeutung der damit verbundenen materiellen Verfassungsänderung eine ausdrückliche Änderung des Grundgesetzes vorgenommen werden“. Ob bereits Art. 24 Abs. 1 GG die Übertragung der Währungshoheit auf die Europäische Union legitimiert hätte, war zuvor umstritten gewesen, vgl. Kämmerer (Fn. 215), Art. 88 Rn. 17. 221 BGBl. 1992 I, S. 2086. 222 Hahn/Häde (Fn. 215), Art. 88 (1999) Rn. 18; Kämmerer (Fn. 215), Art. 88 Rn. 1; Pieroth (Fn. 192), Art. 88 Rn. 5; Siekmann (Fn. 214), Art. 88 Rn. 25. 223 Vgl. BVerfGE 97, 350 (372): Der Währungsumtausch „findet jedenfalls in Art. 88 Satz 2 GG sowie in der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat zum Maastricht-Vertrag gemäß Art. 23 Abs. 1 Sätze 2 und 3 GG und deren Mitwirkung an Rechtsetzungsakten zu seinem Vollzug gemäß Art. 23 Abs. 2 ff. GG eine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage“. 224 So die Betrachtung der „Vergemeinschaftung“ der Wirtschafts- und Währungspolitik in Absatz 1 des Protokolls über den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion, abrufbar unter http://www.eu-info.de/static/common/files/view/ 162/Protokollueberden-Uebergang.pdf; vgl. dazu U. Wölker, Der Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, 1999; zuvor I. Pernice, Das Ende der währungspolitischen Souveränität Deutschlands und das Maastricht-Urteil des BVerfG, in: O. Due/M. Lutter/J. Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. 2, 1995, S. 1057 ff.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

65

tralbanken (ESZB, vgl. Art. 282 Abs. 1 S. 1 AEUV)225 mit einer Europäischen Zentralbank und damit den zum 1. Januar 1999 erfolgten Eintritt in die dritte Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion verfassungsrechtlich ermöglichen226. Die Vorschrift dient ihrer Bestimmung nach der weiteren Sicherstellung des vorrangigen Ziels eines stabilen Geldwertes für die künftige Geldpolitik auf der Ebene der maßgeblichen Institutionen der Europäischen Union227 und findet ihre unionsrechtlichen Korrespondenzvorschriften in Art. 13 EUV sowie in Art. 282 ff. AEUV228. Laut Bundesverfassungsgericht bringt Art. 88 S. 2 GG als Ergänzung der allgemeinen Integrationsoption in Art. 23 GG n. F. „[. . .] den Willen des Verfassunggebers zum Ausdruck, eine Übertragung der Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Bundesbank auf eine Europäische Zentralbank unter der Voraussetzung zuzulassen, dass die Europäische Zentralbank unabhängig ist und dem vorrangigen Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet. Die so verfassungsrechtlich legitimierte Fortbildung der Europäischen Union ist auf eine Entscheidung über den Eintritt in die Währungsunion unter bestimmten Teilnehmerstaaten angelegt“ 229. Sie bewirkt, dass alle in Art. 88 S. 1 GG der Deutschen 225 Siehe dazu aus der Lit. J. Geerlings, Die neue Rolle der Bundesbank im Europäischen System der Zentralbanken – von der Reichsbank zur Europäischen Zentralbank, in: DÖV 2003, S. 322 ff.; L. B. Weber, Die Umsetzung der Bestimmungen über die Europäische Währungsunion in das deutsche Verfassungsrecht – eine Untersuchung nach dem Vertrag von Maastricht unter besonderer Berücksichtigung der Deutschen Bundesbank (Artikel 88 des Grundgesetzes), 2000 sowie das Rechtsgutachten von K. Stern, Die Verfassungsmäßigkeit der Übertragung der Bankenaufsicht auf die Deutsche Bundesbank, 2001. 226 Weikart, Änderung (Fn. 217), S. 834; ebenso Pernice (Fn. 215), Art. 88 Rn. 8, 14 f.; hier wird Art. 88 S. 2 GG wegen der in ihm enthaltenen Anforderungen der vorrangigen Bindung an die Preisstabilität und Unabhängigkeit in Art. 88 S. 2 GG als „spezielle Struktursicherungsklausel“ für die Währungsunion bezeichnet, die über die in Art. 23 Abs. 1 enthaltenen Vorgaben hinausgeht; ähnl. Kämmerer (Fn. 215), Art. 88 Rn. 1 („qualifizierte Integrationsklausel“) sowie Rn. 15, 17; zur Entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion wiederum Hahn/Häde (Fn. 215), Art. 88 (1999) Rn. 351 ff. 227 So Siekmann (Fn. 214), Art. 88 Rn. 25; D. Janzen, Der neue Art. 88 Satz 2 des Grundgesetzes – verfassungsrechtliche Anforderungen an die Übertragung der Währungshoheit auf die Europäische Zentralbank, 1996, S. 16 f. Der vorherige Regierungsentwurf (BT-Drs. 12/3338, S. 3) sah lediglich die Ermächtigung zur Übertragung von Aufgaben und Befugnissen der Bundesbank auf eine europäische Zentralbank vor und war nach Ansicht des Sonderausschusses „Europäische Union“ gerade im Hinblick auf die im EUV enthaltenen strengen Kriterien für die Einführung einer Europäischen Einheitswährung und die vorrangige Verpflichtung der Europäischen Zentralbank zur Sicherung der Preisstabilität nicht weitreichend genug (vgl. BT-Drs. 12/3896, S. 21 f.). 228 Pernice (Fn. 215), Art. 88 Rn. 9; insbesondere regelt Art. 282 Abs. 2 AEUV, dass „das ESZB [. . .] von den Beschlussorganen der Europäischen Zentralbank geleitet“ wird und es dessen „vorrangiges Ziel ist [. . .], die Preisstabilität zu gewährleisten“. 229 BVerfGE 97, 350 (372); ausf. zum vorrangigen Ziel der Sicherung der Preisstabilität Hahn/Häde (Fn. 215), Art. 88 (1999) Rn. 330 ff., 374 ff.

66

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Bundesbank zugewiesenen und gewährleisteten Kompetenzen durch Satz 2 des Artikels unter dem relativierenden Vorbehalt der Übertragung dieser Befugnisse auf die Europäische Zentralbank stehen230. Bereits im Maastricht-Urteil hatte das Bundesverfassungsgericht eine Grundrechtsverletzung durch die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung mit Verweis auf Art. 88 S. 2 GG abgewiesen und ausgeführt, dass durch diese Regelung „[. . .] die Entwicklung einer Europäischen Währungsunion verfassungsrechtlich anerkannt [ist]“ und die dahingehende Inanspruchnahme der Ermächtigung nicht den Grundrechten widerspricht231. Ob Art. 88 S. 2 GG als „Staatszielbestimmung“ beziehungsweise „materielle Verfassungsdirektive“ anzusehen ist232, ist umstritten. Zum Teil wird dies im Hinblick auf die ausdrücklicke verfassungsrechtliche Festlegung der beiden währungs- und geldpolitischen Anforderungen so beurteilt233. Dagegen spricht je-

230 Siekmann (Fn. 214), Art. 88 Rn. 13; Janzen, Art. 88 (Fn. 227), S. 35 ff.; Pernice (Fn. 215), Art. 88 Rn. 14, 17 schließt daraus, dass der verbleibende Normgehalt von Art. 88 GG sich in der Gewährleistung des weiteren Bestands der Bundesbank als Teil des ESZB, in der grundgesetzlichen Forderung nach Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank sowie in deren Verpflichtung zur Sicherung der Preisstabilität erschöpft; a. A. Kämmerer (Fn. 215), Art. 88 Rn. 3, 39, der Art. 88 S. 1 GG – zumindest was die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Institution Deutsche Bundesbank betrifft – als „praktisch obsolet“ ansieht. 231 BVerfGE 89, 155 (174). 232 Eine Staatszielbestimmung ist eine rechtlich bindende Verfassungsnorm, die den Staatsorganen die Beachtung beziehungsweise Erfüllung der umschriebenen Ziele auferlegt, wobei ihnen sowohl die Konkretisierung unbestimmt formulierter Ziele als auch die Wahl der Mittel zu deren Erreichung freistehen, siehe D. Mursiek, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 9), Art. 20a Rn. 13, 17. Nach ganz herrschender Ansicht und ständiger Rechtsprechung (vgl. nur BVerwG NJW 1995, 2648 (2649); BVerwG NVwZ 1998, 399 [399]; 1080 [1081]) begründet ein grundgesetzlich festgelegtes Staatsziel im Unterschied zu einem Grundrecht nicht ein subjektives Recht des Einzelnen auf den Zielinhalt, sondern lediglich eine objektive Verpflichtung des Staats, dieses Ziel zu verwirklichen, so z. B. bereits U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: R. Schnur (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, 2. Aufl. 1974, S. 325 (335 ff.); Scholz (Fn. 179), Art. 20a (2002), Rn. 32 ff.; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz (Fn. 138), Art. 20a Rn. 24, 82; Jarass (Fn. 138), Art. 20a Rn. 2; A. Schink, Umweltschutz als Staatsziel, in: DÖV 1997, S. 221 (222 f.); siehe i. Ü. den ausdrücklichen Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission zu Art. 20a GG, BT-Drs. 12/6000, S. 67 („objektiv rechtliches Staatsziel“); a. A. wohl M. Kloepfer, Verfassungsänderung statt Verfassungsreform, 2. Aufl. 1996, S. 45. 233 Vgl. zur Kontroverse Siekmann (Fn. 214), Art. 88 Rn. 93; bejahend zitiert dieser beispielsweise P. Badura, Das Staatsziel „Europäische Integration“ im Grundgesetz, in: J. Hengstschläger u. a. (Hrsg.), Für Staat und Recht – Festschrift für Herbert Schambeck, 1994, S. 887 (904); G. Galahn, Die Deutsche Bundesbank im Prozess der europäischen Währungsintegration – rechtliche und währungspolitische Fragen aus deutscher Sicht, 1996, S. 193 f.; differenzierter F. Brosius-Gersdorf, Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip – eine verfassungsrechtliche Studie zur Bundesbankautonomie vor und nach der dritten Stufe der europäischen Währungsunion, 1997, S. 387 f.; zur Theorie des Art. 88 S. 2 GG als Staatsziel im Rahmen der „Euro-Klage“ vor dem Bun-

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

67

doch in erster Linie, dass die in Art. 88 S. 2 GG verfassungsrechtlich legitimierte Europäische Zentralbank institutionell mit den nationalen Währungs- und Notenbanken innerhalb des Europäischen Systems der Zentralbanken stark verklammert ist und die Vervielfältigung der Staatszielbestimmungen zudem der Grundstruktur des Grundgesetzes als einem bindenden Rechtsgesetz in seinem normativen Gehalt widerspräche234. Nach den eindeutigen Intentionen des Verfassunggebers sollte es diese auf kulturelle, wirschaftliche und soziale Sachverhalte bezogenen Direktiven – wegen der Erfahrungen mit der Weimarer Reichsverfassung – nicht mehr geben235. f) Die Regelung supranationaler Haftung gemäß Art. 104a Abs. 6 und Art. 109 Abs. 5 GG Zu den wichtigsten europabezogenen Bestimmungen des Grundgesetzes gehören schließlich die im Jahre 2006 im Zuge der Föderalismusreform I236 ins Grundgesetz eingefügten Haftungsregelungen der Art. 104a Abs. 6 GG und Art. 109 Abs. 5 GG237, welche die bedeutende, vormals streitige Frage der Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern klären und zu einer Steigerung der Europarechtstauglichkeit der deutschen (Finanz-)Verfassung beitragen sollen238. Der Sache nach behandelt Art. 104a Abs. 6 GG die Haftungsverteilung im Falle

desverfassungsgericht siehe W. Hankel/W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 202 ff. 234 So Siekmann (Fn. 214), Art. 88 Rn. 93, der anfügt, dass Staatszielbestimmungen daher im Grundgesetz jedenfalls die seltene Ausnahme bleiben müssten. 235 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 877 („Insoweit weicht es [das Grundgesetz, Anm. durch d. Verf.] erkennbar vom Zweiten Hauptteil der Weimarer Reichsverfassung ab. Es entspricht damit der Tendenz nach eher dem Grundkonzept der geschiedenen Sphären von Staat und Gesellschaft und der Rücksichtnahme auf eine pluralistische Gesellschaft“); ähnl. Tendenz im Zusammenhang mit Art. 20a GG bei Papier, Entwicklung (Fn. 70), S. 2842 f. 236 BGBl. 2006 I, S. 2034, 2036; dazu Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 57. 237 Beide Regelungen wurden mit Wirkung zum 1.9.2006 durch das 52. ÄndG in das Grundgesetz eingefügt. Art. 109 Abs. 5 GG erhielt mit Wirkung zum 1.8.2009 durch das 57. ÄndG seine gegenwärtige Fassung. Abdr. der urspr. Fassung bei Dreier/Wittreck, Grundgesetz (Fn. 126), S. 110. 238 M. Heintzen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar (Fn. 215), Art. 104a Rn. 60; I. Kemmler, Nationaler Stabilitätspakt und Aufteilung der EU-Haftung zwischen Bund und Ländern nach der Föderalismusreform, in: LKV 2006, S. 529 (529); Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 57; C. Waldhoff, Mischfinanzierungen in der Bundesstaatsreform, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 91 (2008), S. 213 (214); zur vorherigen Rechtslage ausf. U. Häde, Die innerstaatliche Verteilung gemeinschaftsrechtlicher Zahlungspflichten – Anlastungen und Haushaltsdisziplin, 2006; zur Steigerung der Europatauglichkeit des Grundgesetzes durch die Föderalismusreform I siehe H.-J. Papier, Bundesstaatlichkeit und Europäische Integration – Die Rolle der Deutschen Bundesländer, in: Thüringer Verwaltungsblätter 2011, S. 49 (51 f.).

68

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

von Sanktionszahlungspflichten des Bundes wegen der Verletzung supranationaler Vorschriften (aa). Spezieller ist die Regelung in Art. 109 Abs. 5 GG, welche die horizontale und vertikale Haftungsverteilung zwischen Bund und Ländern im Falle von Sanktionen der Europäischen Union wegen der Verletzung des Europäischen Stabilitätspakts (bb) behandelt. aa) Art. 104a Abs. 6 GG Die Vorschrift des Art. 104a Abs. 6 GG regelt erstmalig im Innenverhältnis von Bund und Ländern verschuldensunabhängig die finanzielle Lastentragung für Verstöße gegen völker- und europarechtliche Pflichten durch jedes staatliche Verhalten, das im Außenverhältnis der Bundesrepublik Deutschland als ganzer zuzurechnen ist239. Vom Anwendungsbereich der Vorschrift umfasst sind also durch jedes hoheitliche Handeln verursachte Verletzungen völker- oder supranationaler Pflichten der Bundesrepublik Deutschland, die dieser nach den völker- oder europarechtlichen Kriterien zurechenbar sind240. Art. 104a Abs. 6 GG regelt innerstaatlich die Verteilung der Haftung für den Fall, dass eine solche nach den interund supranationalen Regelungen begründet ist und bietet damit die Grundlage für einen Ersatz- oder Erstattungsanspruch des Bundes gegen die Länder241. Ausweislich der bei der Schaffung der Vorschrift entstandenen Materialien unterfallen der Vorschrift die Fälle der nicht oder nicht mangelfreien Umsetzung europäischer Richtlinien, der Sanktion gemäß Art. 260 Abs. 2 AEUV bei Nichtbefolgung eines gegen Deutschland ergangenen Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union, der Finanzkorrekturen durch die Europäische Union aufgrund fehlerhafter Verausgabung von Mitteln (Anlastungen), der Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sowie des Verstoßes gegen die Stabilitätskriterien der Wirtschafts- und Währungsunion242. Die Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Vorgabe erfolgt durch das gemäß Art. 104a Abs. 6 S. 4 GG entstandene Lastentragungsgesetz (LastG)243. 239 Heintzen (Fn. 238), Art. 104a Rn. 60; Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 57; zur Rechtmäßigkeit der Behandlung von Altfällen nach der Vorschrift BVerwGE 128, 342 (344); zur den vormals bestehenden, langjährigen Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern in dieser Frage J. Hellermann, Finanzverfassung, in: C. Starck (Hrsg.), Föderalismusreform – Einführung, 2007, Rn. 333. 240 Heintzen (Fn. 238), Art. 104a Rn. 61. 241 Hellermann, Finanzverfassung (Fn. 239), Rn. 334. 242 BT-Drs. 16/813, S. 19; BVerwGE 128, 342 (345); Heintzen (Fn. 238), Art. 104a Rn. 60; Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 55. 243 Gesetz zur Lastentragung im Bund-Länder-Verhältnis bei Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen v. 5.9.2006 (LastG, BGBl. 2006 I, S. 2105), beschlossen als Art. 15 des Föderalismusreform-Begleitgesetzes (Gesetz zur Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen – EntflechtG, BGBl. 2006 I, S. 2098); näher zur Entstehung Hellermann, Finanzverfassung (Fn. 239), Rn. 342 f.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

69

Durch Einfügung der Vorschrift wird im Grundgesetz selbst erstmalig der Begriff der Supranationalität erwähnt, wobei durch die gleichzeitige Erstreckung des Anwendungsbereichs auf internationales Recht auch die intergouvernementalen Bereiche des Europarechts, in denen haftungsrelevante Konstellationen auftreten können, erfasst sind244. Im Unterschied zu Art. 104a Abs. 5 GG, der auf nationaler Ebene nur die Verwaltungsaufgaben regelt, umfasst Abs. 6 neben der gesamten Exekutive auch der Legislative und Judikative zugerechnetes Fehlverhalten245. Die Grundregel des Art. 104a Abs. 6 S. 1 GG besagt, dass die Lastentragung zwischen Bund und Ländern sowie der Länder untereinander der innerstaatlichen Zuständigkeits- und Aufgabenverteilung hinsichtlich des beanstandeten Verhaltens folgt246. Maßgeblich ist also sowohl „vertikal“ als auch „horizontal“ die bundesstaatliche Kompetenzverteilung, die sich für die innerstaatliche Umsetzung des unmittelbar geltenden supranationalen Rechts respektive des Völkerrechts insbesondere nach den Artikeln 30, 70 ff., 83 ff. GG bestimmt247. Der Art. 104a Abs. 6 S. 2 GG regelt als spezielle Ausnahme vom Verursacherprinzip die Fälle länderübergreifender Finanzkorrekturen durch die Europäische Union248 bei einem Fehlverhalten der Exekutive249. Für diesen Fall sehen 244 Heintzen (Fn. 238), Art. 104a Rn. 61; J. Hellermann, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/ C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 104a Rn. 205; ders., Finanzverfassung (Fn. 239), Rn. 336; Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 57. 245 Hellermann, Finanzverfassung (Fn. 239), Rn. 335; ebenso Heintzen (Fn. 238), Art. 104a Rn. 61 mit Verweis auf § 4 Abs. 2 des Lastentragungsgesetzes, der als Beispiel der Judikativhaftung den Fall einer überlangen Verfahrensdauer nennt. Der § 1 LastG, welcher nur die Verletzung völker- oder supranationaler Pflichten durch die Verwaltung nennt, solle zudem nach verfassungskonformer Auslegung auch auf sonstige Exekutivbereiche wie etwa die Regierung ausgeweitet werden. 246 Heintzen (Fn. 238), Art. 104a Rn. 60; Hellermann, Finanzverfassung (Fn. 239), Rn. 337; vgl. auch die Parallelregelung in Art. 1 Abs. 1 LastG; kritisch zu dieser Regelung aufgrund der partiellen Einführung des Verursacherprinzips und der Ausweitung der Haftung auf alle Exekutivakte Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 60 („Systembruch“); ebenso U. Häde, Zur Föderalismusreform in Deutschland, in: JZ 2006, S. 930 (937); W. Kluth, in: ders. (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz – Einführung und Kommentierung, 2007, Art. 104a Rn. 26; ausdr. als „gerechtfertigt“ sieht dies an W. Heun, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 104a Rn. 41. 247 BT-Drs. 16/813, S. 19; Heintzen (Fn. 238), Art. 104a Rn. 62; Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 57; Pieroth (Fn. 192), Art. 104a Rn. 12. 248 Gemäß Art. 2 Abs. 1 LastG liegt eine Finanzkorrektur dann vor, wenn die Europäische Kommission entscheidet, dass fehlerhafte Ausgaben getätigt worden sind. Dies ist der Fall, wenn Ausgaben der Europäischen Union von der gemeinschaftlichen Finanzierung auszuschließen sind, weil diese nicht in Übereinstimmung mit den Unionsvorschriften durch den Mitgliedstaat getätigt worden sind. Länderübergreifend ist eine solche jedoch erst dann, wenn die Europäischen Kommission festgestellt hat, dass die in einem Land oder in mehreren Ländern festgestellte fehlerhafte Verausgabung von Unionsmitteln auch in den übrigen Ländern aufgetreten ist (§ 2 Abs. 2 LastG). Damit

70

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Art. 104a Abs. 6 S. 2 und 3 GG eine solidarische Haftung vor250, indem der Bund 15 %, die Länder 85 % des Korrekturbetrags tragen. Von letzterem Länderanteil werden wiederum 35 % solidarisch von der Ländergesamtheit entsprechend dem sogenannten Königsteiner Schlüssel251 getragen252. Die verbleibenden 50 % des Korrekturbetrags werden im Verhältnis der Höhe der erhaltenen Mittel von den jeweiligen Ländern getragen, die im Verfahren zur Festsetzung der Finanzkorrektur gegenüber den Organen der Europäischen Union nicht den Nachweis der ordnungsgemäßen Verausgabung der Unionsmittel erbringen konnten (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 LastG). Es besteht neben der Möglichkeit der Quotelung nach Verursachungsbeiträgen253 auch die der gesetzlichen Weiterübertragung innerhalb des jeweiligen föderalen Verbands, etwa auf Träger der mittelbaren Staatsverwaltung254. Sachlich verwandt mit der in Art. 104a Abs. 6 getroffenen Regelung ist grundsätzlich auch die Frage nach der innerstaatlichen Lastenverteilung für Sanktionen, die aufgrund von Verletzungen der in Art. 126 AEUV enthaltenen Haushaltsvorgaben der Europäischen Union im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion ergehen. Da jedoch der Verantwortungsbeitrag einzelner Glieder des Bundesstaats schwerlich bestimmbar wäre, fiele eine Zuordnung der Verpflichtungen nach Maßgabe der innerstaatlichen Zuständigkeits- und Aufgabenvertei-

ist zugleich klargestellt, dass die Regelung ausschließlich Fälle betrifft, in denen das Fehlverhalten auf der Länderebene liegt, siehe Hellermann, Finanzverfassung (Fn. 239), Rn. 339. 249 Hellermann, Finanzverfassung (Fn. 239), Rn. 339; Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 65. 250 BT-Drs. 16/813 S. 19; Hellermann, Finanzverfassung (Fn. 239), Rn. 340 sieht hierin einen Ausdruck des Gedankens der Bundestreue; Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 65. 251 Königsteiner Schlüssel für das Jahr 2012 v. 14.11.2011 (BAnZ. Nr. 178 v. 25.11. 2011, S. 4197); vgl. dazu die Information sowie Abdruck des aktuellen Schlüssels auf der Webseite der GWK (abrufbar unter http://www.gwk-bonn.de/fileadmin/Papers/koe nigsteiner-schluessel-2012.pdf): „Der Königsteiner Schlüssel regelt die Aufteilung des Länderanteils bei gemeinsamen Finanzierungen. [. . .] Die Bezeichnung geht zurück auf das Königsteiner Staatsabkommen der Länder von 1949, mit dem dieser Schlüssel zur Finanzierung wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen eingeführt worden ist. Heute geht der Anwendungsbereich des Königsteiner Schlüssels weit über den Forschungsbereich hinaus. Zahlreiche Abkommen bzw. Vereinbarungen greifen inzwischen auf diesen Schlüssel zurück. Er setzt sich zu zwei Dritteln aus dem Steueraufkommen und zu einem Drittel aus der Bevölkerungszahl der Länder zusammen. Dem Königsteiner Schlüssel für das Haushaltsjahr 2012 liegen das Steueraufkommen im Jahr 2010 und die Bevölkerungszahl von 2010 zugrunde“. 252 Art. 2 Abs. 2 S. 2 LastG; Hellermann, Finanzverfassung (Fn. 239), Rn. 340; Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 65. 253 Vgl. § 1 Abs. 2 LastG sowie BT-Drs. 16/813, S. 19; Heintzen (Fn. 238), Art. 104a Rn. 62. 254 Heintzen (Fn. 238), Art. 104a Rn. 61; zur Weiterübertragung D. Ehlers, Vertragsverletzungsklage des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Jura 2007, S. 684 (689).

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

71

lung im Sinne von Art. 104a Abs. 6 S. 1 GG für diesen Bereich schwer255. Diesem Umstand wurde vom verfassungsändernden Gesetzgeber der Föderalismusreform dadurch Rechnung getragen, dass in Art. 109 Abs. 5 GG eine Spezialregelung geschaffen wurde256. bb) Art. 109 Abs. 5 GG Die Regelung des Art. 109 Abs. 5 GG soll, als lex specialis zu Art. 104a Abs. 5 GG, ebenso wie dieser neben der Steigerung der Europatauglichkeit des Grundgesetzes einen nationalen Stabilitätspakt begründen257. Sie ist als Reaktion auf die Tatsache zu sehen, dass die Bundesrepublik Deutschland die Maastrichter Konvergenzkriterien für Haushaltsdefizite vom 1.1.1999258, welche insbesondere in Art. 109 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich Niederschlag gefunden haben, regelmäßig nicht eingehalten hat259 und dass die Frage, wer im Innenverhältnis die Sanktionen zu tragen hat, seit langem umstritten war260.

255 So Hellermann, Finanzverfassung (Fn. 239), Rn. 346, der zudem auf die Schwierigkeit hinweist, dass Bund und Länder voneinander unabhängige Haushalte bewirtschaften (Art. 109 Abs. 1 GG) und beiden jeweils die Pflicht zur Wahrung der Haushaltsdisziplin auferliegt. 256 Hellermann, Finanzverfassung (Fn. 239), Rn. 346; Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 64. 257 BT-Drs. 16/813, S. 10; Heintzen (Fn. 238), Art. 109 Rn. 49; Siekmann (Fn. 214), Art. 109 Rn. 61; diese Bezeichnung mangels präventiver innerstaatlicher Verteilungsregel ablehnend C. D. Classen, Hauptstadtfrage und Verbesserung der Europatauglichkeit, in: Starck, Föderalismusreform (Fn. 239), Rn. 246; ebenso Kemmler, Stabilitätspakt (Fn. 238), S. 532 sowie Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 64, Art. 109 Rn. 52 ff.; Häde, Föderalismusreform (Fn. 246), S. 937 („mühsamer Kompromiss zu Lasten insbesondere der Länder“); kritisch zur Effektivität C. Gaitanides, Der Nationale Stabilitätspakt nach der Föderalismusreform – eine Fiktion?, in: NJW 2007, S. 3112 (3115). 258 Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich durch den Vertrag von Maastricht gegenseitig zu Konvergenzkriterien verpflichtet. Diese „Maastricht-Kriterien“ sehen fiskalische und monetäre Vorgaben vor, um eine Angleichung der Leistungsfähigkeiten der einzelnen nationalen Wirtschaftsräume in der Europäischen Union zu fördern und damit zur wirtschaftliche Stabilität und Solidität zwischen den Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Heute regeln Art. 126 und Art. 140 AEUV die Mehrzahl dieser Konvergenzkriterien. So darf unter anderem – auch nach dem Beitritt eines Mitgliedstaats zur Wirtschafts- und Währungsunion – dessen geplantes oder tatsächliches öffentlichen Haushaltsdefizit jährlich nicht mehr als 3 % des Bruttoinlandsprodukts betragen (vgl. Art. 126 AEUV sowie Art. 1 lit. a des Protokolls über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, v. 16.12.2004, [ABl. 2004/C 310/337]). 259 Heintzen (Fn. 238), Art. 109 Rn. 49; Siekmann (Fn. 214), Art. 109 Rn. 112; zur Forderung nach konsequenter Verschuldensreduzierung J. Wieland, Staatsverschuldung als Herausforderung für die Finanzverfassung, in: JZ 2006, S. 751 ff.; zuletzt ders., Staatsverschuldung – sind Stabilitätspakt und Schuldenbremse nur noch Makulatur?, in: H. H. v. Arnim (Hrsg.), Systemmängel in Demokratie und Marktwirtschaft, 2011, S. 9 ff. 260 Classen, Hauptstadtfrage (Fn. 257), Rn. 257.

72

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Inhaltlich enthält die Vorschrift mehrere Innovationen. Zum einen regelt der Grundsatz des Art. 109 Abs. 5 S. 1 GG im Bereich der präventiven Vorsorge gegen Verschuldung (nunmehr ausdrücklich), dass neben dem Bund auch die Länder für die Einhaltung des europäischen Stabilitätsrechts einzustehen haben261. Zum anderen regeln Art. 109 Abs. 5 S. 1 und 2 GG in einem zweistufigen Verfahren die innerstaatliche Verteilung der Haftung für den Fall, dass Deutschland nach Unionsrecht zu Sanktionsmaßnahmen262 verpflichtet wird. Satz 1 regelt zunächst das vertikale Verhältnis zwischen Bund und Ländergesamtheit und sieht eine starre Quotelung von 65 % zu 35 % vor263. Satz 2 regelt daran anschließend, ausgehend vom von Anteil der Ländergesamtheit gemäß Satz 1, die horizontale Haftungsverteilung zwischen den Ländern. Von der Ländergesamtquote von 35 % werden wiederum 35 % von der Ländergesamtheit solidarisch, nach Einwohnerzahl verteilt getragen. Die restlichen 65 % der Ländergesamtquote werden nach dem jeweiligen Verursachungsbeitrag der einzelnen Länder, die den Schaden verursacht haben, getragen. Dem in Satz 3 enthaltenen Auftrag zum Erlass eines Ausführungsgesetzes ist der Gesetzgeber bei Schaffung der Vorschrift sogleich mit der Verabschiedung des Sanktionszahlungsaufteilungsgesetzes (SZAG)264 nachgekommen. Darin ist als Konkretisierung der im Grundgesetz verwendeten Begriffe beispielsweise festgelegt, wie sich der Finanzierungssaldo defizitärer Bundesländer errechnet265, oder dass Länder, die sich in einer vom Bundesverfassungsgericht festgestellten, extremen Haushaltsnotlage befinden, für deren Dauer im Rahmen eines abge261 Classen, Hauptstadtfrage (Fn. 257), Rn. 259; Gaitanides, Stabilitätspakt (Fn. 257), S. 3115; die Beteiligungspflicht der Länder begrüßend Kemmler, Stabilitätspakt (Fn. 238), S. 530. 262 Als konkrete Sanktionsmaßnahmen sehen Art. 126 Abs. 11, 3. und 4. Spiegelstrich AEUV neben der Verhängung von Geldbußen in angemessener Höhe die Verpflichtung zur unverzinslichen Einlage in angemessener Höhe bei der Europäischen Union vor, bis das übermäßige Defizit nach Ansicht des Rats der Europäischen Union korrigiert worden ist. 263 Gaitanides, Stabilitätspakt (Fn. 257), S. 3115; Heintzen (Fn. 238), Art. 109 Rn. 50; kritisch zu dieser starren Quote, die eine „verursachungsgerechte“ Haftungsverteilung ausschließe Siekmann (Fn. 214), Art. 109 Rn. 113; ebenso Häde, Föderalismusreform (Fn. 246), S. 937 sowie Kemmler, Stabilitätspakt (Fn. 238), S. 530; a. A. M. Nierhaus/S. Rademacher, Die große Staatsreform als Ausweg aus der Föderalismusfalle?, in: LKV 2006, S. 385 (394), die das enorme Streitpotential in dieser Vorschrift erkennen, die Regelung jedoch „im Hinblick auf die bundesstaatliche Solidargemeinschaft“ als gerechtfertigt ansehen, da sie „den europarechtlichen Verpflichtungen im Bereich der Haushaltsdisziplin auf allen staatlichen Ebenen Rechnung“ trage. 264 Gesetz zur innerstaatlichen Aufteilung von unverzinslichen Einlagen und Geldbußen gemäß Artikel 104 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft v. 5.9.2006 (SZAG, BGBl. 2006 I, S. 2104), beschlossen als Artikel 14 des Föderalismusreform-Begleitgesetzes (Gesetz zur Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen – EntflechtG, BGBl. 2006 I, S. 2098). 265 Gaitanides, Stabilitätspakt (Fn. 257), S. 3115; Heintzen (Fn. 238), Art. 109 Rn. 50; Siekmann (Fn. 214), Art. 109 Rn. 113.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

73

stimmten Sanierungskonzepts von der Zahlungsverpflichtung befreit sind266. Schließlich regelt Art. 4 Abs. 1 SZAG, dass der Bund und die Länder ihre jeweils geleisteten Anteile an der unverzinslichen Einlage zurückerhalten, sofern ein unionaler Sanktionsbeschluss aufgehoben worden ist267. Wenngleich diese Regelung in der Sache zweifellos ihre Berechtigung hat, wird zu Recht kritisiert, dass es regelungstechnisch eleganter gewesen wäre, anstelle der bloßen Wiederholung der jeweiligen bereits verfassungsrechtlich festgelegten Haftungsaufteilung im SZAG, Art. 109 Abs. 5 GG von dieser Quotenregelung frei zu halten und diese einfachgesetzlich festzulegen268. g) Die abgabenbezogenen Regelungen der Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 und Art. 108 Abs. 1 GG Die finanzverfassungsrechtlichen Regelungen des Grundgesetzes in dessen ursprünglichen Fassung von 1949 trugen gerade bei der sogenannten Ertragshoheit269, der Aufteilung der Steuererträge zwischen Bund, Ländern und Kommunen den Charakter der Vorläufigkeit270. So dauerte es bis zur Mitte der Fünfzigerjahre, bis eine dauerhafte Regelung getroffen wurde, die zudem auch die Gemeinden bei der Verteilung der Einnahmen berücksichtigte271, bevor 1969 der Art. 106 GG im Zuge der „Großen Finanzverfassungsreform“ seine heutige Struktur erhielt272. Art. 106 Abs. 1 GG weist einerseits dem Bund die Erträge der Finanzmonopole zu und enthält eine enumerative Aufzählung der ausschließlich 266 So Art. 2 Abs. 3 SZAG; lobend Kemmler, Stabilitätspakt (Fn. 238), S. 531 f.; Siekmann (Fn. 214), Art. 109a Rn. 119 betont, dass diese Regelung dem ausdrücklichen Wunsch der Ländervertreter des Bundesrats entspringt, vgl. den dahingehenden Entschließungsantrag des Bundesrats v. 7.3.2006 (BR-Drs. 180/06, S. 11); zur Berechung der Finanzierungssalden Classen, Hauptstadtfrage (Fn. 257), Rn. 267 f. 267 Zur Rückerstattung und zu Gewinnen aus Sanktionen, die gegenüber anderen Mitgliedstaaten verhängt werden siehe Classen, Hauptstadtfrage (Fn. 257), Rn. 270. 268 So Kemmler, Stabilitätspakt (Fn. 238), S. 531, die zudem kritisiert, dass mit der ausdrücklichen Bezugnahme auf Art. 104 des EG-Vertrags in Art. 109 Abs. 5 GG eine spätere Grundgesetzänderung durch die Änderung des Primärrechts quasi vorgezeichnet worden sei. 269 Jarass (Fn. 138), Art. 106 Rn. 1; K.-A. Schwarz, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/ C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 106 Rn. 39. 270 Henneke (Fn. 192), Art. 106 Rn. 2; Schwarz (Fn. 269), Art. 106 Rn. 36 („verfassungsrechtliches Provisorium“); zur Aufteilung der Finanzen als Grunderfordernis der bundesstaatlichen Ordnung siehe Wahl, Elemente (Fn. 72), S. 1043. 271 Das Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Artikels 106 des Grundgesetzes (BGBl. 1956 I, S. 1077; „Weihnachtsgesetz“) vom 24.12.1956 führte zur Regelung des Art. 106 Abs. 6 GG, welche den Gemeinden das Aufkommen der Realsteuern zuspricht. 272 So Henneke (Fn. 192), Art. 106 Rn. 2; Schwarz (Fn. 269), Art. 106 Rn. 36 f.; ausf. zur Entwicklung des Finanzausgleichs J. W. Hidien, Der bundesstaatliche Finanzausgleich in Deutschland – geschichtliche und staatsrechtliche Grundlagen, 1999, S. 236 ff., 380 f., 414 ff.

74

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

dem Bund zustehenden Steuereinnahmen273. Den in Art. 106 Abs. 1 GG im Rahmen der vertikalen Aufteilung dem Bund zugewiesenen Steuern ist gemeinsam, dass sie eine enge Verbindung zu den Aufgaben des Bundes aufweisen oder aufgrund ihres Umfangs nicht auf Teilräume des Bundesgebiets bezogen werden können274. Die Normen der Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 und Art. 108 Abs. 1 GG weisen hingegen europarechtlichen Bezug auf. Sie regeln die Verteilung beziehungsweise Verwaltung der Steuern, welche im Rahmen der Europäischen Union erhoben werden. aa) Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG Für den Bereich der Ordnung des Binnenmarkts beansprucht die Europäische Union das Recht zur Einführung innerstaatlicher Abgaben in den Mitgliedstaaten275. Dabei kann sich die Notwendigkeit ergeben, die Abgabe durch mitgliedstaatliche Rechtssätze zu normieren. Die Regelung des Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG spricht dem Bund seit 1969 als Teil des ertragszuweisenden, primären vertikalen Finanzausgleichs276 auf Grundlage des Trennsystems277 sowohl den Ertrag der Finanzmonopole als auch das Aufkommen der Abgaben im Rahmen der Europäischen Union zu (vollständige Ertragshoheit des Bundes278). Von dieser formalen Zuweisung erfasst sind neben Steuern auch sonstige Abgaben der Europäischen Union, welche seit der Abschaffung von Agrarabschöpfungen279 im Jahre 1995 hauptsächlich aus Marktordnungsabgaben bestehen280. 273

Schwarz (Fn. 269), Art. 106 Rn. 42; J.-P. Schneider, in: E. Denninger u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2001, Art. 106 Rn. 5; Heintzen (Fn. 238), Art. 106 Rn. 15. 274 Henneke (Fn. 192), Art. 106 Rn. 4; Jarass (Fn. 138), Art. 106 Rn. 2; Schwarz (Fn. 269), Art. 106 Rn. 9, 42. 275 Henneke (Fn. 192), Art. 106 Rn. 16. 276 Schwarz (Fn. 269), Art. 106 Rn. 4; zum System des vierstufigen Finanzausgleichs siehe wiederum Henneke (Fn. 192), Art. 106 Rn. 10 f.; allg. zum Finanzausgleich H. P. Bull/V. Mehde, Der rationale Finanzausgleich – ein Gesetzgebungsauftrag ohnegleichen, in: DÖV 2000, S. 305 ff.; U. Häde, Finanzausgleich – die Verteilung der Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen im Recht der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, 1996; R. Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 6, 3. Aufl. 2008, § 139 (S. 875 ff.); ferner bereits P. Kirchhof, Der Finanzausgleich als Grundlage kommunaler Selbstverwaltung, in: DVBl. 1980, S. 711 ff. 277 Das Trennsystem weist die Erträge bestimmter Steuern und Steuerarten entweder allein dem Bund oder allein den Ländern zu. Seit der Änderung des Grundgesetzes 1956 gibt es auch in der Finanzverfassung geregelte unmittelbare Ertragszuständigkeiten der Kommunen, ohne dass dies den zweistufigen Staatsaufbau modifiziert (vgl. Art. 106 Abs. 9 GG), so Henneke (Fn. 192), Art. 106 Rn. 15; zur grundgesetzlichen Kombination von Trenn- und Verbundsystem siehe Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 710 ff. 278 Jarass (Fn. 138), Art. 106 Rn. 4 ff. 279 Agrarabschöpfungen wurden 1962 im Zuge der Gemeinsamen Agrarpolitik innerhalb der Europäischen Gemeinschaft eingeführt und auf den Handel mit landwirtschaft-

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

75

Die Regelung des Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG, welche im Vorgriff auf weitere Integrationsschritte geschaffen wurde und die Abgaben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften (Union) betrifft, hat sich im Rückblick als praktisch gegenstandslos erwiesen281. Einerseits werden Steuern im Rahmen der Europäischen Union mangels derzeitiger Rechtsetzungskompetenz nicht erhoben. Andererseits stehen die nichtsteuerlichen Abgaben im Rahmen der Europäischen Union (welche der Bund auch einfachgesetzlich hätte regeln können282) nach derzeitigem europäischem Recht ebenso wie die Zölle nicht mehr dem Bund, sondern der Europäischen Union als Teil der Eigenmittelfinanzierung selbst zu283. Zwar fließt das Aufkommen der von der Europäischen Union in den Mitgliedstaaten erhobenen Abgaben formal zunächst dem Bund zu. Es handelt sich aber lediglich um „Durchlaufposten“ 284 in dessen Haushalt ohne Einnahmewert. Denn gemäß Art. 108 Abs. 1 S. 1 GG werden diese Erträge von den Bundesfinanzbehörden nur verwaltet und an die Europäische Union als Inhaberin der Ertragshoheit weitergeleitet285. bb) Art. 108 Abs. 1 GG Art. 108 GG regelt die Zuständigkeiten von Bund und Ländern auf dem Gebiet der Steuerverwaltung als leges speciales zu den Regelungen der Verwaltungskompetenzverteilung der Art. 83 ff. GG286. Gemäß Art. 108 Abs. 1 S. 1 GG werden die Abgaben im Rahmen der Europäischen Union (neben Zöllen, Finanzmonopolen, den bundesgesetzlich geregelten Verbrauchsteuern einschließlich der Einfuhrumsatzsteuer, der Kraftfahrzeugsteuer und sonstigen auf motorisierte Verkehrsmittel bezogenen Verkehrssteuern ab dem 1. Juli 2009) durch Bundesfinanzbehörden verwaltet. Die Vorschrift basiert auf dem Gedanken, dass eine lichen Erzeugnissen mit Drittstaaten erhoben. Sie variierten nach Maßgabe der Preisunterschiede auf den europäischen und den Weltmärkten; vgl. zur Geschichte der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften A. Lamassoure, Geschichte der Eigenmittel der Gemeinschaften – Arbeitsdokument Nr. 1 des Haushaltsausschusses des Europäischen Parlaments v. 27.1.2005 (PE 350.215v01-00), S. 2 f. 280 Henneke (Fn. 192), Art. 106 Rn. 16; Jarass (Fn. 138), Art. 106 Rn. 4b; Häde, Finanzausgleich (Fn. 276), S. 186 f. 281 Heintzen (Fn. 238), Art. 106 Rn. 22 („überflüssig“); Henneke (Fn. 192), Heun (Fn. 246), Art. 106 Rn. 6, 15 („praktisch nur noch ein leeres Recht“); Schwarz (Fn. 269), Art. 106 Rn. 50. 282 Heintzen (Fn. 238), Art. 106 Rn. 22. 283 Henneke (Fn. 192), Art. 106 Rn. 16; Schwarz (Fn. 269), Art. 106 Rn. 50; Heun (Fn. 246), Art. 106 Rn. 15; Heintzen (Fn. 238), Art. 106 Rn. 22. 284 Schwarz (Fn. 269), Art. 106 Rn. 50; Heintzen (Fn. 238), Art. 106 Rn. 22; Heun (Fn. 246), Art. 106 Rn. 15; Häde, Finanzausgleich (Fn. 280), S. 187. 285 Heintzen (Fn. 238), Art. 106 Rn. 22. 286 H. B. Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz (Fn. 127), Art. 108 Rn. 1; Pieroth (Fn. 192), Art. 108 Rn. 1.

76

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

gleichmäßige Erhebung der wichtigsten öffentlichen Abgaben im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gesichert werden muss, ein Handeln der Steuerverwaltung nach gleichen Weisungen vorausgesetzt287. Der in Art. 108 Abs. 1 S. 1 GG enthaltene Begriff der „Bundesfinanzbehörde“ ist nicht in einem umfassenden Sinne zu verstehen. Bundesfinanzbehörden sind also nicht nur die Behörden, die der Verwaltung der Abgaben im Rahmen der Europäischen Union dienen, sondern nach dem Finanzverwaltungsgesetz288 aus dem Jahre 2006 auch das Bundesausgleichsamt und das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen als Bundesoberbehörden289. Anders gewendet gibt es auch Bundesfinanzbehörden im Sinne der Norm, die andere als die in Art. 108 GG genannten Aufgaben der Steuerverwaltung wahrnehmen. 4. Zwischenfazit Die grundsätzliche Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes wird an mehreren Stellen offenbar. Die Entscheidung für eine offene Verfassungsstaatlichkeit ist dem Grundgesetz durch die Festlegung auf die Europäische Option in der Präambel quasi auf die Stirn geschrieben. So wegweisend diese Entscheidung sein mag, so wenig konkret ist zunächst ihre Ausgestaltung. Denn in der Festlegung erschöpft sich – zumindest im Hinblick auf den europarechtlichen Bezug – zugleich die Funktion der Anfangserklärung. Die konkreten Mechanismen zur rechtlichen Umsetzung der europäischen Integration sind spezielleren Grundgesetzartikeln zugewiesen. Neben den Vorschriften der Art. 9 Abs. 2 GG und Art. 26 GG, welche in allgemeiner Form den Gedanken der Völkerverständigung respektive das friedliche Zusammenleben der Völker als Schutzobjekt des Grundgesetzes implizieren, übernahm bis zur Maastricht-Novelle vorrangig Art. 24 Abs. 1 GG als konkretisierendes Instrument zur Übertragung von Hoheitsrechten auf eine zwischenstaatliche Einrichtung diese Aufgabe. Seitdem die neu gegründete Europäische Union nicht mehr inter- sondern auch (und größtenteils) supranationale Züge aufwies, löste Art. 23 GG n. F. als reiner „Europa-Artikel“ die für diese Schritte ungeeignetere (da nie dafür vorgesehene) Vorschrift des Art. 24 Abs. 1 GG ab. Als europarechtliches Gravitationszentrum des Grundgesetzes regelt Art. 23 GG abschließend in Form eines speziellen Integrationshebels die Strukturen, die Deutschland für das vereinte Europa anstrebt, nach welchen innerstaatlichen Regeln sich die weitere Integration vollziehen sollte und wie insbesondere die Bundesländer daran teilnehmen. Art. 23 GG wird wiederum durch den noch spezielleren, zeitgleich ins Grundgesetz eingefügten Art. 88 S. 2 GG 287

Brockmeyer (Fn. 286), Art. 108 Rn. 1. Gesetz über die Finanzverwaltung (FVG), BGBl. 2006 I, S. 846, 1202, zuletzt geändert durch G. v. 5.9.2010 (BGBl. 2010 I, S. 1288). 289 Brockmeyer (Fn. 286), Art. 108 Rn. 8. 288

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

77

ergänzt, welcher zusammen mit Art. 23 Abs. 1 GG die verfassungsrechtliche Grundlage der Euro-Einführung in der Bundesrepublik Deutschland bildet und den Willen des Verfassunggebers zum Ausdruck bringt, unter den genannten Voraussetzungen eine Übertragung der Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Bundesbank auf eine Europäische Zentralbank zuzulassen. Als eher flankierende Regelung kann Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG angesehen werden, der das Wahlrecht gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG in Kommunen und Kreisen ausdrücklich auf Unionsbürger erstreckt. Im Zuge der Föderalismusreform I290 im Jahre 2006 entstanden die Haftungsregelungen der Art. 104a Abs. 6 und Art. 109 Abs. 5 GG291, welche die vormals streitige Frage der innerstaatlichen Verteilung von Sanktionszahlungen der Europäischen Union zwischen Bund und Ländern regeln und zu einer Steigerung der Europarechtstauglichkeit der deutschen (Finanz-)Verfassung beitragen sollen292. Abgerundet wird der europaaffine Charakter des Grundgesetzes durch die wenig relevanten beziehungsweise sogar rückblickend praktisch gegenstandslosen finanzverfassungsrechtlichen Regelungen der Art. 108 Abs. 1 GG und Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG, welche die Verteilung beziehungsweise Verwaltung der Steuern normieren, die im Rahmen der Europäischen Union erhoben werden. Nach einer genaueren Untersuchung der einzelnen dargestellten europarechtsbezogenen Vorschriften des Grundgesetzes sollen diese im Folgenden als Ganzes betrachtet werden, um ihre rechtliche Wirkung und ihren Einfluss auf das Verhältnis des Grundgesetzes zum europäischen Recht (5.) nachweisen zu können. Eng verbunden mit dem Verhältnis der beiden Rechtsordnungen ist die Haftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von Unionsrecht (6.). Schließlich soll auch die sich daran anschließende Skizze der durch die europarechtsbezogenen Grundgesetzvorschriften entstehenden Bedeutung des Grundgesetzes für den gesamten europäischen Verfassungsverbund (7.) als letzte Facette in eine Gesamtbewertung der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (8.) einfließen.

290

BGBl. 2006 I, S. 2034, 2036; dazu Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 57. Beide Regelungen wurden mit Wirkung zum 1.9.2006 durch das 52. ÄndG in das Grundgesetz eingefügt. Art. 109 Abs. 5 GG erhielt mit Wirkung zum 1.8.2009 durch das 57. ÄndG seine gegenwärtige Fassung. Abdr. der urspr. Fassung bei Dreier/Wittreck, Grundgesetz (Fn. 126), S. 110. 292 M. Heintzen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Fn. 215), Art. 104a Rn. 60; Siekmann (Fn. 214), Art. 104a Rn. 57; zur vorherigen Rechtslage Kemmler, Stabilitätspakt (Fn. 238), S. 529 f.; ausf. U. Häde, Die innerstaatliche Verteilung gemeinschaftsrechtlicher Zahlungspflichten – Anlastungen und Haushaltsdisziplin, 2006. 291

78

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

5. Grundgesetz und europäisches Unionsrecht Im Folgenden soll das Verhältnis des Grundgesetzes zum europäischen Unionsrecht in einem ersten Zugriff dargestellt und damit skizziert werden, ob und wie sich die Europarechtsfreundlichkeit des deutschen Verfassungsrechts aus europäischer Perspektive auswirkt293. Die Betrachtung erfolgt unter Berücksichtigung der Rechtsprechung sowohl des Gerichtshofs der Europäischen Union als auch des Bundesverfassungsgerichts. Nach Behandlung dieses rechtlichen Verhältnisses, folgt eine Untersuchung der detaillierten Inhalte der Integrationsgrenzen des Grundgesetzes unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon (IV.). a) Das Verhältnis von Grundgesetz und europäischem Primärrecht Das europäische Primärrecht besteht aus den Gründungsverträgen der Europäischen Union (samt Protokollen und Anhängen), den ungeschriebenen Regeln des Völkerrechts sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und nimmt in der Rechtsordnung der Union den obersten Rang ein294. Wie bereits angedeutet, richtet sich das Verhältnis zwischen Grundgesetz und europäischem Primärrecht vorrangig nach Art. 23 GG als spezieller Integrationsvorschrift. Dieser Artikel fungiert in seiner Doppelrolle zum einen als Staatszielbestimmung zugunsten der europäischen Integration. Zum anderen beinhaltet er zugleich deren wichtigste verfassungsrechtliche Limitierung. Der Europaartikel 23 GG beinhaltet also maßgebliche Kriterien für ein deutsches Zustimmungsgesetz zu einer möglichen integrationsbedingten Änderung der primärrechtlichen Grundlagen der Europäischen Union295. Denn ungeachtet der Euro293 Vgl. hierzu den Überblick über das Verhältnis von Grundgesetz einerseits und europäischem Primär- und Sekundärrecht andererseits und über die unionsverfassungsrechtliche Bedeutung des Grundgesetzes bei Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 147 ff., an dem sich die nachfolgende Untersuchung orientierte. 294 Dem acquis communautaire des Unionsrechts zugehörig sind neben Primär- und Sekundärrecht auch die von der Europäischen Union kraft ihrer Qualität als Völkerrechtssubjekt (diese ergab sich vormals für die Europäische Gemeinschaft aus Art. 281 EGV a. F., für die Europäische Union als deren Rechtsnachfolgerin ist sie jetzt gemäß Art. 47 EUV ausdrücklich festgelegt) abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge mit anderen Staaten und internationalen Organisationen, nach Rechtsprechung des Gerichtshofs auch Verpflichtungen aus der UN-Charta sowie die Regeln des allgemeinen Völkerrechts, etwa Gewohnheitsrecht oder allgemeine Rechtsgrundsätze. Diese Rechtsquellen sind rangmäßig nach vorherrschender Ansicht zwischen Primär- und Sekundärrecht einzuordnen, Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 8 Rn. 1 ff.; Streinz, Europarecht (Fn. 173), § 3 Rn. 86 ff., § 5 Rn. 446 f. 295 Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 147; ebenso W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, Wirkungen und Rechtsschutz, 2010, § 1 Rn. 1 f.; eine solche integrationsbedingte Änderung der rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union erfolgte bisher durch die

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

79

paoffenheit des Grundgesetzes und der in Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG zum Ausdruck kommenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung zur Öffnung des staatlichen Rechtsraums und zur Anerkennung des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs, ist die deutsche Verfassungsrechtsordnung einer grenzenlosen Substanzentleerung nicht zugänglich296. Die Europäische Union in ihrer durch die jeweiligen Vertragsrevisionen ausgeformten Gestalt muss den speziellen, vom Grundgesetz vorgegebenen Strukturen entsprechen. Es müssen sowohl die materiellen Vorgaben des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG beachtet als auch die verfahrensrechtlichen Anforderungen aus Art. 23 GG eingehalten werden. Wenig überraschend war Art. 23 GG daher auch im Überprüfungsverfahren des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes zum Vertrag von Lissabon297 die maßgebliche Bestimmung des Grundgesetzes298. Das Karlsruher Gericht hatte damit zu prüfen, ob die Integrationsgrenzen des Grundgesetzes beachtet wurden, ob also die nächste Entwicklungsstufe der Europäische Union, die durch den Vertrag von Lissabon erklommen werden sollte, demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und auch die Gewährleistung eines dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes eingehalten wurde299. Das Grundgesetz zieht die Grenzen der Integrationsgewalt jedoch nicht unnötig eng. Dafür, bei den in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG genannten Anforderungen eine nur „strukturelle Grundsatzkongruenz“ und keine vollkommene Nachgestaltung der Strukturen auf europäischer Ebene zu fordern, spricht aus Sicht des Grundgesetzes bereits die Grundentscheidung für internationale Zusammenarbeit, welche es denklogisch ausschließt, dass alle 27 Mitgliedstaaten ihre jeweiligen Ver-

Änderungsverträge zur Einheitlichen Europäischen Akte (1986), durch die Verträge von Maastricht (1992), von Amsterdam (1997), von Nizza (2001), zur (gescheiterten) Verfassung für Europa (2004) sowie durch den Abschluss des Vertrags von Lissabon (2009). Anschaulich ist die Andeutung der Doppelrolle des Art. 23 GG bei Kirchhof. Dieser bezeichnet ihn als „Stein im Gesamtmosaik der Verfassung, der zwar hell leuchtet, aber nicht die Gesamtkomposition in ihrer farblichen und materiellen Ausgewogenheit sprengen könnte“ (siehe P. Kirchhof, Der wechselseitige Einfluß von Staatsverfassung und Europarecht, in: P. Clever/H. Gester [Hrsg.], Der Vertrag über die Europäische Union und seine Auswirkungen auf die deutsche Wirtschafts- und Arbeitsverfassung, 1996, S. 9 [17]). 296 Kirchhof, Einfluß (Fn. 295), S. 17; Geiger, Mitwirkung (Fn. 175), S. 1098. 297 BVerfGE 123, 267. 298 Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 147. 299 Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 148; vgl. auch den Wortlaut von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG sowie den Bezug zu Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG als „Grenze der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der europäischen Integration“ im Lissabon-Urteil, BVerfGE 123, 267 (332).

80

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

fassungsstrukturen als maßstäbliches Kriterium für die Enwicklung der Europäischen Union ansähen und damit überstaatliche Kooperation und integrative Fortentwicklung erheblich behindern, wenn nicht praktisch ausschlössen300. Einen solch anmaßend strengen Geltungsanspruch an die rechtliche Ausgestaltung der Europäischen Union kann das Grundgesetz bei genauer Betrachtung daher nicht haben. Insbesondere bei der Anforderung eines „dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes“ ist für das europäische Unionsrecht und die darauf basierende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kein exakt „deckungsgleicher Schutz“ erforderlich301. Entscheidend ist die funktionale Übereinstimmung des Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene, die das Bundesverfassungsgericht nach vorheriger Skepsis302 inzwischen erkennt, ohne hier jedoch die eigene Prüfungskompetenz gänzlich aufzugeben303. Aus Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 und 3 GG ergibt sich zudem für die verfassten Staatsorgane – insbesondere für den Integrationsgesetzgeber – die Verpflichtung, auch bei Änderungen der Grundlagen der Europäischen Union nach Art. 23 Abs. 1 GG die Verfassungsidentität des Grundgesetzes zu wahren. Diese Gewährleistungen bewahren die von Art. 79 Abs. 3 GG ge300 Everling, Überlegungen (Fn. 158), S. 944; Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 148, Fn. 39) m.w. N.; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 72. 301 So Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 149 mit Bezug auf den entsprechenden Wortlaut des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 102, 147 [164] – Bananenmarktordnung. 302 So noch BVerfGE 37, 271 (285) – Solange I, wo sich das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich vorbehielt, die Vereinbarkeit von europäischem und deutschem Recht in jedem Einzelfall selbst zu überprüfen: „Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist [. . .] die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die [. . .] entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts [. . .] für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert“. 303 So Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 149 mit Verweis auf den späteren Tenor in BVerfGE 73, 339 (387) – Solange II, wo das Gericht konstatierte, dass „solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, [. . .] das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen [wird]; entsprechende Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG sind somit unzulässig“; zum Ganzen M. Nettesheim, Art. 23 GG, nationale Grundrechte und EU-Recht, in: NJW 1995, S. 2083 ff.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

81

schützte Identität des deutschen Verfassungsstaats304 und dürfen auch durch den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht verändert werden. Es handelt sich laut Bundesverfassungsgericht um den verfassungsrechtlichen „Kernbestand“ der Bundesrepublik Deutschland, der trotz der vom Grundgesetz intendieren verfassungsrechtlichen Öffnung für europarechtliche Vorgaben für nationales Recht in seinen elementaren Gehalten der Staatlichkeit, der Republik, der Demokratie und der sozialen Rechts- und Bundesstaatlichkeit nicht angetastet werden darf 305. Insbesondere in den Entscheidungen bezüglich des Grundrechtsschutzes auf europäische Ebene hat das Gericht diese Kernelemente als Grenze für Hoheitsrechtsübertragungen auf die Europäische Union geprüft306. In der Maastricht-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht auf Grundlage der elementaren demokratischen Facette des Identitätsvorbehalts das konkrete Verbot formuliert, die Befugnisse des Bundestags durch Kompetenzverlagerung auf die Europäische Union so weit auszuhöhlen, dass das demokratische Wahlrecht gemäß Art. 38 GG entwertet und damit das Demokratieprinzip in seinem Kerngehalt berührt wird307. Dieses Verbot zu formulieren heißt zugleich die Frage zu stellen, wann genau dieser Punkt gekommen ist, an dem das Wahlrecht zum Bundestag entwertet und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes im Kern verletzt ist, und ob dafür quantitative oder qualitative Kriterien maßgeblich sein sollen308. Die Unschärfe dieser Formulierung erinnert an das Phänomen des Haufenparadoxons309 und erschwert eine eindeutige Antwort beziehungsweise macht diese gar unmöglich. 304 Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 38 ff.; näher zu Begriff und Inhalt IV. 2. b) dd). 305 BVerfGE 73, 339 (375 f.); 123, 267 (219, 235 ff.); P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der Europäischen Integration, in: J. Isensee/ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 183 Rn. 59; ders., Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 48, 52; Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 150; zu Entwicklung und inhaltlicher Ausgestaltung der Identitätsgarantie durch das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit Art. 24 Abs. 1 GG siehe Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 77 ff. m.w. N. 306 Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 150; das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass es nicht zulässig sei, „die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben“, BVerfGE 37, 271 (279); 73, 339 (375). 307 BVerfGE 89, 155 (181 ff.), auf gleicher Linie auch die Lissabon-Entscheidung, BVerfGE 123, 267 (210); näher dazu Kap. 2 V 1. 308 Diese Frage stellt zu Recht Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 150 f. Er fragt darüber hinaus, ob mangelnde autonome Entscheidungsmöglichkeiten von Bundestag oder -rat durch den Ausbau von Mitwirkungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene gemäß Art. 23 GG kompensiert werden können und ob für den Gesetzgeber durch die Identitätselemente des Grundgesetzes konkrete Anforderungen entstehen, wie dieser seine eigene Mitwirkung an der Willensbildung auf europäischer Ebene wahrnehmen muss, um die Identität des Grundgesetzes zu wahren. 309 Die Paradoxie des Haufens, auch Sorites-Paradox (griechisch sorós: Haufen) genannt, ist ein Merkmal des gleichnamigen Phänomens, das bei unscharfen, vagen Be-

82

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Wie eingangs bereits erläutert310, wurde das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts nach Prüfung an den hier dargestellten verfassungsrechtlichen Vorgaben im Ergebnis als mit dem Grundgesetz vereinbar eingestuft. Lediglich das Begleitgesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union311 in seiner ursprünglichen Form verstieß nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts insoweit gegen Art. 38 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG, als Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestags und des Bundesrats nicht in erforderlichem Umfang ausgestaltet worden seien312. Angesichts der detaillierten Vorgaben an den Gesetzgeber, welche das Bundesverfassungsgericht in den abschließenden Passagen des Lissabon-Urteils gemacht hat, um die nationalen parlamentarischen Gremien stärker in die auf europäischer Ebene getroffenen Entscheidungen einzubinden, ist teilweise der Vorwurf einer „verordneten Demokratie“ erhoben worden313. b) Das Verhältnis von Grundgesetz und europäischem Sekundärrecht Nach Schilderung des Verhältnisses zwischen Grundgesetz und europäischem Primärrecht soll im Folgenden kurz ein Blick auf die Bedeutung des deutschen Verfassungsrechts für das europäische Sekundärrecht und dessen innerstaatliche Geltung geworfen werden314. griffen auftritt. Ein paradigmatisches Beispiel ist der Versuch, den Punkt zu bestimmen, an dem aus mehreren Sandkörnern ein Haufen wird oder wann ein solcher Haufen durch Wegnahme von Sandkörnern nicht mehr vorliegt: Es lässt sich nicht sagen, mit welchem hinzugefügten Sandkorn der kleinste denkbare Haufen entstanden ist beziehungsweise mit welchem weggenommenen Korn der Haufen seine Eigenschaft als solcher verliert. Das ist paradox – einerseits kann durch das Hinzufügen eines einzelnen Korns nie ein Haufen geschaffen werden, andererseits entsteht beim Aufschütten von Sandkörnern irgendwann ganz sicher ein Haufen (instruktiv zum Phänomen T. Schöne, Was Vagheit ist, 2011, S. 66 ff. mit weiteren Beispielen). Bezieht man diesen Gedanken auf die Hoheitsrechtsübertragung im Rahmen der europäischen Integration, so scheint es unmöglich zu sagen, wo genau der Punkt überschritten wird, an dem die Kompetenzverlagerung auf die Europäische Union so weit fortgeschritten ist, dass das demokratische Wahlrecht gemäß Art. 38 GG entwertet und damit das Demokratieprinzip in seinem Kerngehalt berührt wird. 310 Siehe hierzu bereits unter I. 311 BT-Drs. 16/8489. 312 BVerfGE 123, 267 (339, 369 f.). 313 Diese Bezeichnung bei Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 112 f., der zudem skeptisch ist, ob die reformierten Begleitgesetze durch die deutschen Vertreter nur widerwillig, pflichtgemäß eingehalten oder tatsächlich zu einer höheren demokratischen Legitimation führen werden. 314 Siehe zu diesem Verhältnis auch die instruktiven Ausführungen von Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 151 ff., die der nachfolgenden Skizze als Ausgangspunkt dienten.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

83

Unter europäischem Sekundärrecht ist das durch die im Unionsvertrag konstituierten und mit Hoheitsrechten ausgestatteten europäischen Organe geschaffene Recht zu verstehen, welches unvermittelt Durchgriffswirkung nicht nur gegenüber, sondern in den Mitgliedstaaten für sich beansprucht und sich dadurch maßgeblich von den Beschlüssen bloß zwischenstaatlicher Einrichtungen und sonstiger auf intergouvernementale Zusammenarbeit angelegter Organisationen unterscheidet315. Es wird seit dem Vertrag von Lissabon in Gesetzgebungsakte und andere Rechtsakte i. S. v. Art. 289 Abs. 3 AEUV316 unterteilt. Der wesentliche Anteil dieser Rechtsakte besteht aus Verordnungen und Richtlinien, welche gesetzesähnlichen Charakter haben und sich lediglich im Umfang der gegenüber den Mitgliedstaaten beanspruchten Verbindlichkeit voneinander unterscheiden317. Daneben zu nennen sind Beschlüsse, welche verbindliche Regelungen eines Einzelfalls treffen, sowie Empfehlungen und Stellungnahmen, die wiederum keine rechtliche Verbindlichkeit für sich beanspruchen318. Letztlich zu nennen sind sogenannte Durchführungsvorschriften, die wiederum die Kommission beziehungsweise in Sonderfällen den Rat zum Erlass von verbindlichen Rechtsakten ermächtigen (Art. 291 Abs. 2 AEUV). Gerade im Bereich des Sekundärrechts tritt der Charakter der Europäischen Union als unmittelbar wirkendes und in der Anwendung vorrangiges Recht setzende supranationale Organisation zutage. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist es dieser Tatsache geschuldet, dass hier eines der seit Gründung der Europäischen Gemeinschaften am intensivsten diskutierten Felder des Rechtsverhältnisses zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten liegt319. Das Konfliktpotential in315

Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 56; Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 5 Rn. 11 f. Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 5 Rn. 12, § 8 Rn. 34. 317 Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 5 Rn. 11 f., § 8 Rn. 35; während Verordnungen durch unmittelbare Geltung in (nicht bloß gegenüber) den Mitgliedstaaten und Verbindlichkeit in allen ihren Teilen gekennzeichnet sind, wirken Richtlinien in einem zweistufigen Legislativverfahren, indem sie die Mitgliedstaaten auf erster Stufe lediglich dazu verpflichten, innerhalb einer bestimmten Frist die inhaltliche Zielvorstellung auf zweiter Stufe in nationales Recht umzusetzen, wobei die Wahl der zu ergreifenden Form und Mittel den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, vgl. Art. 288 UAbs. 2 und 3 AEUV. Aus dieser Zweistufigkeit folgt, dass eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien zunächst der mitgliedstaatlichen Umsetzung bedarf. Nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und herrschender Ansicht können jedoch auch Richtlinien eine unmittelbare Wirkung entfalten, wenn sie trotz Fristablaufs nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt worden und ihrem Inhalt nach unbedingt und hinreichend bestimmt sind, um eine unmittelbare Anwendung im Einzelfall zuzulassen (vgl. dazu EuGH, Rs. 26/2, Slg. 1963, 5 [5 ff.] – van Gend en Loos; Rs. 9/70, Slg. 1970, 825 [837 ff.] – Leberpfennig; Rs. 8/81, Slg. 1982, 53 [71 ff.] – Becker sowie auf nationaler Ebene BVerfGE 75, 223 [235 ff.] – Kloppenburg-Beschluß [zur Rechtsfortbildung des Gerichtshofs der Europäischen Union, mit ausdr. Bezug auf EuGH, Rs. 26/2]). 318 Vgl. Art. 288 UAbs. 4 und 5 AEUV. 319 Vgl. zur Supranationalität des Unionsrechts BVerfGE 37, 271 (280); 73, 339 (374); Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 56; letztere Feststellung trifft ebenso Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 151. 316

84

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

dizieren in erster Linie die noch immer offensichtlich bestehenden unterschiedlichen Denkmuster in den Rechtsansichten des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverfassungsgerichts320, insbesondere in Bezug auf den Geltungsgrund des Unionsrechts. Dass letzteres innerhalb des deutschen Hoheitsraums Anwendungsvorrang genießt (a), ist – spätestens seit der den Vorrang ausdrücklich bestätigenden Erklärung Nr. 17 zum Vertrag von Lissabon321 – allgemein akzeptiert322. Wie dieser Vorrang rechtlich herzuleiten ist und ob er relativ oder absolut gilt (b), wird jedoch noch immer uneinheitlich gesehen323. c) Anwendungsvorrang des Unionsrechts Eine eindeutige Vorrangregelung zwischen der europäischen und den nationalen Rechtsordnungen ist (gerade aus überstaatlicher Perspektive) einleuchtend, da die – praktisch nur durch die Einräumung eines Vorrangs des Unionsrechts realisierbare – Einheitlichkeit von Geltung und Anwendung des Unionsrechts in den 27 Mitgliedstaaten entscheidend für das effektive Funktionieren der Rechtsgemeinschaft ist324. Denn es wäre für die angestrebte, größtmögliche Wirksamkeit

320

Frenz (Fn. 295), § 1 Rn. 1 f.; Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 151 f. Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat (ABl. 2008/C 115/335, v. 9.5.2008; ABl. 2010/C 83/344); in der darin enthaltenen maßgeblichen Erklärung Nr. 17 zum Vorrang heißt es: „Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben [Hervorh. durch d. Verf.]“. Zuvor war weder im Unionsrecht noch in den meisten Verfassungen der Mitgliedstaaten eine ausdrückliche Kollisionsregel enthalten (Ausnahmen sind Art. 94 der Niederländischen sowie Art. 29 Abs. 4 UAbs. 3 S. 2 der Irischen Verfassung, vgl. Streinz, Europarecht [Fn. 294], § 3 Rn. 197). 322 R. Geiger, in: ders./D.-E. Khan/M. Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Kommentar, 5. Aufl. 2010, Art. 4 EUV Rn. 28. 323 Geiger, EUV (Fn. 322), Art. 4 EUV Rn. 28; instr. Überblick bei G. Hirsch, Der EuGH im Spannungsverhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, in: NJW 2000, S. 1817 ff.; Huber, Staatlichkeit (Fn. 98), § 26 Rn. 35, spricht in diesem Zusammenhang von einer „erbitterten Beanspruchung nationaler Vorbehalte“; weniger drastisch Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 152, der „deutliche Meinungsunterschiede“ erkennt. 324 So Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 116 mit exemplarischem Verweis auf die frühe Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union, EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 (3744) – Hauer, in der die Straßburger Richter feststellten, dass die Aufstellung besonderer rechtlicher Beurteilungskriterien durch die Verfassung(sorgane) eines Mitgliedstaats die materielle Einheit und dadurch die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt würde und damit zwangsläufig auch die Einheit des Gemeinsamen Markts zerstören und den Zusammenhalt der Union gefährden würde; ebenfalls zur Gefahr der mangelnden Einheitlichkeit des Rechts T. Oppermann/C. D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, S. 159 ff. 321

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

85

des vereinheitlichten Rechts (effet utile) hinderlich, wenn einzelne Mitgliedstaaten auf der Grundlage von nationalem (Verfassungs-)Recht von den primärrechtlichen Vorgaben abweichen könnten und würden325. Maßgebliche grundgesetzliche Vorschrift für das verzahnte Verhältnis der beiden Rechtsordnungen ist wiederum Art. 23 GG, der sowohl die unmittelbare Wirkung326 als auch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber nationalem Recht327 aus Sicht des Grundgesetzes als zulässig voraussetzt328. Durch den Anwendungsvorrang sind mitgliedstaatliche Behörden und Gerichte verpflichtet, den unmittelbar geltenden Teil des Unionsrechts anzuwenden und entgegenstehendes Recht des Mitgliedstaats unberücksichtigt zu lassen329. Problematisch ist in diesem Zusammenhang jedoch, ob der gewährte Anwendungsvorrang lediglich gegenüber „einfachgesetzlichem“ nationalen Recht gilt oder als absoluter Vorrang auch gegenüber mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht und den darin enthaltenen nationalen Grundrechten uneingeschränkt besteht330. Hinter dieser Rangfrage verbirgt sich ein Grundproblem des Europarechts, betreffend den Geltungsgrund des Unionsrechts331.

325 Streinz, Europarecht (Fn. 173), § 3 Rn. 198 ff.; Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 2. 326 Zur unmittelbaren Wirkung siehe Fn. 317. 327 Sowohl der Gerichtshof der Europäischen Union (vgl. die hierzu grundlegende Rechtssache Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251 [1269]) als auch das Bundesverfassungsgericht (so BVerfGE 73, 339 [375] zu Art. 24 Abs. 1 GG) interpretieren diesen Vorrang des Unionsrechts seit jeher als einen Anwendungs- und nicht als einen Geltungsvorrang, der bewirken würde, dass dem Unionsrecht entgegenstehende nationale Rechtsakte nichtig wären, vgl. Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 152 Fn. 50; aus der Lit. siehe J. Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte – offener Dissens, in: J. Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit, 1997, S. 1241 ff.; S. Kadelbach, Vorrang und Verfassung. Das Recht der Europäischen Union im innerstaatlichen Bereich, in: C. Gaitanides (Hrsg.), Europa und seine Verfassung, 2007, S. 219 ff.; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 59; Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 1 ff. 328 Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 2; ders., Das Grundgesetz und die Europäische Union, in: C. Hillgruber/C. Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, S. 139 (141); Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 152; M. Schweitzer, Staatsrecht III. Staatsrecht – Völkerrecht – Europarecht, 10. Aufl. 2010, Rn. 68. 329 Prononciert EuGH, Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839 (1844) – Fratelli Constanzo; dazu Streinz, Europarecht (Fn. 173), § 3 Rn. 220, 259; Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 1; Schweitzer, Staatsrecht (Fn. 328), Rn. 68a ff. 330 Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 152. 331 Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 153.

86

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

d) Unterschiedliche Ansichten bezüglich des innerstaatlichen Geltungsgrunds des Unionsrechts Dieser Fragenkomplex des Geltungsgrunds und der Autonomie des Unionsrechts332 bietet ein anschauliches Beispiel für die unterschiedliche Bewertung des Verhältnisses von Unions- und mitgliedstaatlichem Recht durch die jeweils maßgeblichen Gerichte. Betrachtet man das Verhältnis der beiden Rechtsordnungen nicht nur aus unionsrechtlicher, sondern auch aus verfassungsrechtlicher und -gerichtlicher Perspektive, so führt das zu der Frage, auf welchem Wege und mit welchen Konsequenzen das deutsche Grundgesetz die Geltung und Anwendung von Unionsrecht im deutschen Hoheitsraum ermöglicht und welche Auswirkungen dies für den Grundrechtsschutz durch die Gerichte mit sich bringt. aa) Die Rechtsansicht des Bundesverfassungsgerichts Auf nationalstaatlicher Ebene kann das Unionsrecht nach Rechtsansicht des Bundesverfassungsgerichts nur über das nationale Verfassungsrecht in das deutsche Recht einwirken333. Das Gericht verweist unter Rückgriff auf die zwischenstaatlichen, völkerrechtlichen Wurzeln und Grundlagen der Unionsrechtsordnung im Wesentlichen noch immer auf die nationalen Zustimmungsgesetze zu den Gründungsverträgen334 und stellt die Verbindung des nationalen Rechts zum Unionsrecht stets über Art. 23 GG und das entsprechende Zustimmungsgesetz her335. Es geht daher davon aus, dass die Mitgliedstaaten bis heute „Herren der 332 Gegen die Dichotomie von Autonomie und Heteronomie und für einen relativen Autonomiebegriff in diesem Zusammenhang C. Möllers, Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: A. v. Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl. 2009, S. 227 (243). 333 Siehe zuletzt BVerfGE 123, 267 (402), wonach „der Grund und die Grenze für die Geltung des Rechts der Europäischen Union in der Bundesrepublik Deutschland [. . .] der im Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl, der nur im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung erteilt werden kann“, ist (ebenso zuvor BVerfGE 73, 339 [374 ff.]); dazu Frenz (Fn. 295), § 1 Rn. 2. 334 BVerfGE 89, 155 (184); Kirchhof, Einfluß (Fn. 295), S. 17 führt demgemäß bildlich aus, dass der Geltungsgrund des Unionsrechts in Deutschland allein das Zustimmungsgesetz des deutschen Gesetzgebers zu den europäischen Verträgen sei, das den „innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl“ samt unmittelbarer Anwendbarkeit und Geltungsvorrang erteile. Das Zustimmungsgesetz sei daher die einzige „Brücke“, über die das Unionsrecht rechtsverbindlich „nach Deutschland“ einfließe. Bei Errichtung dieser „Brücke“ sei der deutsche Gesetzgeber jedoch an die deutsche Verfassung gebunden und soweit diese Brücke „nicht trage“, gewinne das Unionsrecht in Deutschland auch keine Rechtsverbindlichkeit; kritisch zu diesem Bild J. A. Frowein, Die Europäisierung des Verfassungsrechts, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2001, S. 209 (220). 335 F. C. Mayer, Europäische Union: Verfassungsgerichtsbarkeit, in: v. Bogdandy/ Bast, Verfassungsrecht (Fn. 332), S. 559 (577); Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 20.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

87

Verträge“ sind336, und dass im Kollisionsfall eine grundsätzliche Vorrangigkeit der deutschen Verfassungsordnung gegenüber den hiervon abgeleiteten Unionsverträgen und sekundärem Unionsrecht besteht, dessen Einwirkung in das deutsche Verfassungsrecht durch die in Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsätze begrenzt ist337. Nach diesem Verständnis gilt das Unionsrecht innerstaatlich ausschließlich aufgrund des im deutschen Zustimmungsgesetz erteilten Rechtsanwendungsbefehls338, und der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist ein relativer339. Im Ergebnis behält sich das Bundesverfassungsgericht damit auch eine grundsätzlich weitreichende, mittelbare Prüfung des Unionsrechts vor, da dieses gemäß Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG im Wege einer Normenkontrolle bezogen auf das jeweilige Zustimmungsgesetz am Maßstab des deutschen Verfassungsrechts überprüft werden kann340, etwa in Bezug auf den Grundrechtsschutz. Hier gibt das Bundesverfassungsgericht die Überwachung der Einhaltung des deutschen Grundrechtsstandards durch sekundäres Unionsrecht keinesfalls auf 341, sondern

336

BVerfGE 75, 223 (235); Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 335), S. 577. Frenz (Fn. 295), § 1 Rn. 2; siehe BVerfGE 123, 267 (348 f.): „Die ,Verfassung Europas‘, das Völkervertrags- oder Primärrecht, bleibt eine abgeleitete Grundordnung“; Frenz (Fn. 295), § 1 Rn. 2. 338 Vgl. bereits die Anmerkungen in BVerfGE 73, 339 (375) – Solange II: „Innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit sowie ein möglicher innerstaatlicher Geltungsoder Anwendungsvorrang völkerrechtlicher Verträge [. . .] folgen nicht schon aus dem allgemeinen Völkerrecht. Das gegenwärtige Völkerrecht enthält keine aus übereinstimmender Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung entspringende allgemeine Regel dahin, daß Staaten verpflichtet wären, ihre Verträge in ihr innerstaatliches Recht zu inkorporieren und ihnen dort Geltungs- oder Anwendungsvorrang vor innerstaatlichem Recht beizumessen. Ein innerstaatlicher Geltungs- oder Anwendungsvorrang ergibt sich allein aus einem dahingehenden innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl, und zwar auch bei Verträgen, die ihrem Inhalt zufolge die Parteien dazu verpflichten, den innerstaatlichen Geltungs- oder Anwendungsvorrang herbeizuführen“. 339 Geiger, EUV (Fn. 322), Art. 4 EUV Rn. 28; Grimm, Souveränität (Fn. 31), S. 90; Huber, Staatlichkeit (Fn. 98), § 26 Rn. 34 ff.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Kommentar, 2. Aufl. 2012, Art. 4 EUV Rn. 36. 340 Vgl. BVerfGE 52, 187 (LS 1) – „Vielleicht“-Beschluss; 73, 339 (379) – Solange II; 75, 223 (240 f.) – Kloppenburg-Beschluss sowie zuletzt 123, 267 (400) – Lissabon („Der europarechtliche Anwendungsvorrang bleibt auch bei Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ein völkervertraglich übertragenes, demnach abgeleitetes Institut, das erst mit dem Rechtsanwendungsbefehl durch das Zustimmungsgesetz in Deutschland Rechtswirkung entfaltet“); dazu Streinz, Europarecht (Fn. 173), § 3 Rn. 225 f.; zur (mangelnden) Objektivität des Bundesverfassungsgerichts in dieser Frage sowie zur auch das Bundesverfassungsgericht treffenden Vorlagepflicht zum Gerichtshof der Europäischen Union siehe Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 350, 356, der zudem den geäußerten Einwand, es werde nur das jeweilige Zustimmungsgesetz, nicht jedoch Unionsrecht selbst ausgelegt, für haarspalterisch hält. 341 Anders die dahingehende Tendenz im Minderheitsvotum der Richter Rupp, Hirsch und Wand in der Solange I-Entscheidung (BVerfGE 37, 271 [299]: „Das Bundesverfassungsgericht besitzt keine Kompetenz, Vorschriften des Gemeinschaftsrechts am Maßstab des Grundgesetzes, insbesondere seines Grundrechtsteiles, zu prüfen, um da337

88

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

hält sie nur solange zurück, wie auf Unionsebene ein im Wesentlichen vergleichbares Schutzniveau gewährleistet ist342. bb) Die autonom-unionsrechtliche Herleitung des Gerichtshofs der Europäischen Union Im Gegensatz dazu geht der Gerichtshof der Europäischen Union seit der grundlegenden Entscheidung in der Sache Costa/E.N.E.L343 von einem Vorrang des Unionsrechts kraft Eigenständigkeit aus344. Darin betont der Gerichtshof, nach die Frage ihrer Gültigkeit zu beantworten“); Hinweis bei Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 335), S. 578. 342 Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 152 f.; maßgeblich ist hier zunächst das sog. Solange I-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in welchem es sich das Gericht vorbehielt, auch Unionsrechtsakte am grundrechtlichen Maßstab des Grundgesetzes als „unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes“ Merkmal zu messen, solange das Recht der Europäischen Union nicht einen diesem angemessenen Grundrechtsstandard beinhalte (BVerfGE 37, 231 [280]). In der darauffolgenden sog. Solange II-Entscheidung von 1986 kehrte das Bundesverfassungsgericht dieses RegelAusnahmeverhältnis um, indem es nach einer Bewertung der bis dato ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union feststellte, dass nunmehr im Hoheitsbereich der Europäischen Union ein „nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Standard des Grundgesetzes im Wesentlichen gleich zu achten[des]“ Schutzniveau erreicht sei. Das Gericht gab jedoch seine Kompetenz, europäische Rechtsakte auf ihre Grundrechtskonformität hin zu überprüfen, nicht gänzlich auf, sondern suspendierte sie lediglich bis auf weiteres, solange dieser Rechtszustand so anhalte. Entsprechende Vorlagen konkreter Normenkontrollen nach Art. 100 Abs. 1 GG sowie Verfassungsbeschwerden sind daher „von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solange II-Entscheidung unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei“ (so BVerfGE 73, 339 [378]; bekräftigt in E 102, 147 [164] – Bananenmarkt sowie zuletzt verschärft im Beschluss des Ersten Senats v. 4.10.2011, Az. 1 BvL 3/08). Eine Veränderung dieses Zustands, welche eine Wiederaufnahme der Prüfungskompetenz durch das Bundesverfassungsgericht zur Folge haben könnte, würde also ein generelles Absinken des Schutzniveaus voraussetzen. Dieses dürfte jedoch allenfalls durch eine Reihe von Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Union indiziert sein, die den deutschen Grundrechtsstandard in erkennbarem Maße unterschreiten würden, oder aber einzelne Entscheidungen des Gerichtshofs voraussetzen, welche eine offensichtliche, krasse Diskrepanz zwischen europäischem und deutschem Grundrechtsstandard erkennen ließe. Auch in der Maastricht-Entscheidung wurde die passive Linie des Gerichts aufrechterhalten, indem der Senat gewährleistete, dass „ein wirksamer Schutz der Grundrechte für die Einwohner Deutschlands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell sichergestellt und dieser dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist“ (BVerfGE 89, 155 [174 f.]). Schließlich hat das Gericht diesen seit der Solange II-Entscheidung geltenden Status im Lissabon-Urteil unabhängig von der Reichweite des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta nach Art. 51 GRCh zuletzt erneut bekräftigt (BVerfGE 123, 267 [335]); dazu aus der Lit. J. Limbach, Das Bundesverfassungsgericht und der Grundrechtsschutz in Europa, in: NJW 2001, S. 2913 ff. sowie Nettesheim, Grundrechte (Fn. 303), S. 2085 ff. 343 EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251. 344 R. Geiger, in: ders./D.-E. Khan/M. Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Kom-

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

89

dass die Mitgliedstaaten mit Abschluss der Europäischen Verträge die eigenen Souveränitätsrechte zugunsten einer eigenständigen Rechtsordnung beschränkt haben, die in die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist: „Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist“ 345.

Nach dieser Ansicht sind die Unionsgrundrechte allein maßgeblicher Prüfstein für die Gültigkeit von europäischem Sekundärrecht346. In diesem Sinne führt der Gerichtshof weiter aus: „Aus alledem folgt, daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll“ 347.

Neben den angeführten rechtlichen Gesichtspunkten begründete der Gerichtshof den Vorrang des Unionsrechts mit dem Grundsatz der Vertragstreue gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV, dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV sowie mit der gemäß Art. 288 UAbs. 2 AEUV bestehenden unmittelbaren Gel-

mentar, 5. Aufl. 2010, Art. 4 EUV Rn. 27; Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 152 f.; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 20; Streinz, Europarecht (Fn. 173), § 3 Rn. 214 ff.; instruktive Darstellung der beiden Grundkonzeptionen von Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Union bei H. Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen – Die Entwicklung eines Modells zur Lösung von Konflikten zwischen Gerichten unterschiedlicher Ebenen in vernetzten Rechtsordnungen, 2008, S. 159 ff. 345 EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269). 346 So prägnant Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 153; ungeachtet der Tatsache, dass die Unionsverträge vor der Änderung durch den Vertrag von Lissabon und der damit einhergehenden Aufnahme der Grundrechtecharta in den Vertragstext keinen ausformulierten Grundrechtskatalog enthielten, stellten die Gemeinschaftsgrundrechte seit jeher einen zentralen Bestandteil der europäischen Rechtsordnung dar. Seit dem Vertrag von Maastricht enthielt der EU-Vertrag einen Artikel, in dem sich die Europäische Union verpflichtet, diejenigen Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts zu achten, die sich aus der EMRK und aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergaben (Art. 6 II EUV a. F.). 347 EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1270).

90

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

tung von Verordnungen in den Mitgliedstaaten348. Nicht zuletzt folgt der unionsrechtliche Vorrang nach Ansicht des Gerichtshofs aus einem Umkehrschluss aus in den Verträgen nur punktuell vorgesehenen, speziellen Ermächtigungen der Mitgliedstaaten zu von den Verträgen abweichenden, einseitigen Maßnahmen: „Wo der Vertrag den Staaten das Recht zu einseitigem Vorgehen zugestehen will, tut er das durch klare Bestimmungen [. . .]. Für Anträge der Staaten aus Ausnahmegenehmigungen sind andererseits Genehmigungsverfahren vorgesehen [. . .], die gegenstandslos wären, wenn die Staaten die Möglichkeit hätten, sich ihren Verpflichtungen durch den bloßen Erlaß von Gesetzen zu entziehen“ 349.

Der Gerichtshof der Europäischen Union geht aus überstaatlicher Sicht mittlerweile von der Unionsrechtsordnung als einer eigenständigen Rechtsordnung sui generis aus, die nicht mehr ohne weiteres nach den allgemeinen völkerrechtlichen Regeln zu bewerten sei. Der Grund der vorrangigen Geltung in den Mitgliedstaaten liege vielmehr im Unionsrecht selbst350, welches folglich nicht an etwaig bestehenden nationalen Grundrechtsstandards in den Mitgliedstaaten zu messen sei. Die dargestellten konträren Ansichten der Gerichte resultieren folglich maßgeblich aus zwei sich im Grundsatz unterscheidenden Annahmen bezüglich des Geltungsgrunds des Unionsrechts. cc) Fazit Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum absoluten Vorrang des Unionsrechts ist nicht nur in Deutschland in der Staatsrechtslehre und in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht auf Akzeptanz gestoßen351. Andererseits sind Bedenken gegen die massive Untergrabung der Grund348 349

EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269 ff.). EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1270); dazu Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 1

Rn. 1. 350 Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 154; wie gesehen ist für die rein unionsrechtliche Herleitung des Vorrangs des Unionsrechts durch den Gerichtshof der Europäischen Union das Urteil in der Sache Costa/E.N.E.L. grundlegend; Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269 f.); diese (durch die entspr. Erklärung zum Vertrag von Lissabon mittlerweile bestätigte) These vom Vorrang des Unionsrechts wurde vom Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung bekräftigt und in späteren Entscheidungen auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht ausgebaut (EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 – Internationale Handelsgesellschaften; Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 [643] – Simmenthal II), vgl. Huber, Staatlichkeit (Fn. 98), § 26 Rn. 35; zur Art des Vorrangs im Einzelnen EuGH, Slg. 1998, I-6307 (6332) – IN.CO.GE; Kadelbach, Vorrang (Fn. 327); T. Schilling, Zu den Grenzen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, in: Der Staat 33 (1994), S. 555 ff.; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 59; ders., Europarecht, 8. Aufl. 2008, S. 75 ff.; Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 3 ff. 351 Zur europaweiten Situation, insbes. der jeweiligen Verfassungsgerichte siehe Huber, Staatlichkeit (Fn. 98), § 26 Rn. 35 m.w. N. sowie Sommermann, Staatlichkeit (Fn. 71), § 14 Rn. 61.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

91

prinzipien eines überstaatlichen Rechtssystems durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und die dadurch drohenden Konsequenzen für die internationale Rechtsgemeinschaft geäußert worden – insbesondere im Hinblick auf die prinzipiell stark europafreundliche, integrative Ausrichtung, die das Grundgesetz in Präambel und Art. 23 GG bekennt352. So offensichtlich die inhaltliche Unvereinbarkeit zwischen den skizzierten Auffassungen der beiden Gerichte ist, so klein ist jedoch ihre bisherige praktische Relevanz353, da das Bundesverfassungsgericht bislang den Grundrechtsschutz auf Unionsebene als dem des Grundgesetzes im Wesentlichen vergleichbar und deshalb als ausreichend angesehen hat. Weder hat es daher bislang sekundäres Unionsrecht an den deutschen Grundrechten gemessen, noch ist angesichts der hohen Anforderungen für eine Verfassungsbeschwerde gegen europäische Rechtsakte eine Tendenz dahingehend erkennbar354. Hinweise an den Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts, die beanspruchte Funktion als „Hüter der Grundrechte“ in der Bundesrepublik Deutschland in einem etwaig zukünftig auftretenden Fall in dem vom Gericht selbst im Maastricht-Urteil so bezeichneten „Kooperationsverhältnis“ 355 mit dem Gerichtshof der Europäischen Union und dies unter gegenseitigem Respekt wahrzunehmen356, erscheinen damit nicht zwingend notwendig. 6. Mitgliedstaatliche Haftung für die Verletzung von Unionsrecht Aus dem Vorrang des Unions- vor nationalem Recht und der anerkannten unmittelbaren Wirkung folgt letztlich auch die Haftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von Unionsrecht. Und so stellt neben den bisher genannten Anknüpfungspunkten an die Europäische Union im Grundgesetz auch Art. 34 Abs. 1 S. 1 GG eine Regelung mit europarechtlichem Einschlag dar. Dies mag auf den ersten Blick nicht unmittelbar einleuchten, regelt die Vorschrift doch ihrem Wortlaut 352

Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 354 f. Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 154. 354 Huber, Staatlichkeit (Fn. 98), § 26 Rn. 36; a. A. wohl Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 356. Dieser sieht nicht unerhebliches zukünftiges Konfliktpotential in der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht dadurch, dass es umfassende Kontrollkompetenzen für sich beansprucht, bei Fragen zur Auslegung der Europäischen Verträge sowie zur Auslegung und Gültigkeit von Sekundärrechtsakten zu einem gemäß Art. 267 Abs. 1, 3 AEUV gegenüber dem Gerichtshof der Europäischen Union vorlagepflichtigen mitgliedstaatlichen Gericht wird. 355 In welchem sich das Bundesverfassungsgericht auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränken kann, da der Gerichtshof der Europäischen Union den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Union garantiert (BVerfGE 89, 155 [175]); siehe dazu Fn. 114. 356 Diese Tendenz bei Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 155; ebenso Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 116. 353

92

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

nach die Haftung des Staats bei Amtspflichtverletzungen und damit Konstellationen ohne direkten Bezug zur Europäischen Union. Vom Regelungsbereich des Artikels umfasst sind jedoch auch Ansprüche gegen staatliche Stellen aus unionsrechtlich begründeter Haftung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei Verstößen gegen das Unionsrecht357. Diese „haftungsrelevanten Konstellationen“ 358 ergeben sich aus der Tatsache, dass das Unionsrecht, wie gesehen, Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht genießt und der Vollzug des Unionsrechts größtenteils durch die Mitgliedstaaten erfolgt. Denn die primärrechtlichen Vorgaben aus den Verträgen der Europäischen Union sind unmittelbar anzuwenden und berechtigen und verpflichten die Bürger in den Mitgliedstaaten (Paradebeispiel sind hier die Grundfreiheiten). Auch Sekundärrechtsakte wie Verordnungen oder Richtlinien können durch mitgliedstaatliche Hoheitsträger falsch angewandt beziehungsweise umgesetzt werden und dadurch schadenstiftende Ereignisse fördern359. Welche Körperschaft für einen durch die Verletzung von Unionsrecht entstandenen Schaden haftet, richtet sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union mangels einer unionsrechtlichen Regelung des Haftungsanspruchs nach innerstaatlichem Recht360. Falls keine speziell genannte Körperschaft in die Haftung genommen werden kann, so haftet die Bundesrepublik Deutschland als Gesamtstaat jedenfalls subsidiär361.

357 J. Wieland, in: Dreier, Grundgesetz (Fn. 137), Art. 34 Rn. 22; S. U. Pieper, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz (Fn. 127), Art. 34 Rn. 54; H. J. Bonk, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 9), Art. 34 Rn. 52a („Außenhaftung“); zum Ganzen monographisch S. Beljin, Staatshaftung im Europarecht – Konturen des Haftungsinstituts, Mitgliedstaatliche Pflichten und subjektive Gemeinschaftsrechte, Innerstaatliche Durchführung –, 2000. 358 Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 52; Bonk (Fn. 357), Art. 34 Rn. 52a. 359 Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 52; Bonk (Fn. 357), Art. 34 Rn. 52a. 360 EuGH, Rs. C-302/97, Slg. 1999, I-3099 – Konle; Bonk (Fn. 357), Art. 34 Rn. 52a; Wieland (Fn. 357), Art. 34 Rn. 23; Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 58, 61; T. v. Danwitz, Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung der Mitgliedstaaten, in: DVBl. 1997, S. 1 (5) sieht die vom Gerichtshof der Europäischen Union in der Francovich-Entscheidung formulierten Haftungsvoraussetzungen gleichsam lediglich als „Tatbestandstorso“ an. 361 Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 17; die Frage einer finanziellen Regresshaftung der deutschen Länder gegenüber dem Bund für durch sie z. B. durch Nichtumsetzung von Richtlinien verursachte Verstöße gegen Unionsrecht, für die der Bund gegenüber der Europäischen Union haftet, war bis zur „Föderalismus-Reform I“ vom 28. August 2006 (BGBl. 2006 I, S. 2034) nicht ausdrücklich geregelt, daher nur lückenhaft auf der Basis geltenden Rechts konstruiert, so Streinz, Europäisierung (Fn. 106), S. 62 f.; für eine ausdrückliche und klare Regelung damals unter anderem C. Koenig/ J.-D. Braun, Rückgriffsansprüche des Bundes bei einer Haftung für Verstöße der Bundesländer gegen Gemeinschaftsrecht, in: Neue Justiz 58 (2004), S. 97 (103). Seit der Einfügung des Art. 104a Abs. 6 GG besteht nunmehr eine ausdrückliche Regelung, welche im Satz 1 den Grundsatz aufstellt, dass diejenige Gebietskörperschaft haftet, in de-

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

93

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat nationale Freiräume bei der Umsetzung der Haftung zusätzlich insofern eingeschränkt, als ein Mitgliedstaat die Staatshaftung nicht an strengere Voraussetzungen binden darf als bei der Verletzung von innerstaatlichem Recht und als die Erlangung der Entschädigung nicht praktisch unmöglich oder unnötig erschwert werden darf362. Mangels Bestehens einer unionsrechtlichen Regelung gebiete das Effektivitätsprinzip (effet utile) diese Gleichstellung mit rein nationalen Staatshaftungsansprüchen363. a) Richterrechtliche Haftungsgrundsätze Die rechtsfortbildende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zwang deren Mitgliedstaaten zu einer weitgehenden Umgestaltung des bisherigen nationalen Staatshaftungsrechts, um den Vorgaben der Straßburger Richter zu entsprechen364. Unklar ist dabei weiterhin, ob es sich um einen eigenen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch neben dem System des Art. 34 GG i.V. m. § 839 BGB365 oder um einen nationalen Staatshaftungsanspruch nach Maßgabe des Unionsrechts handelt366. Der Ausgangspunkt dieses Instituts ist jedenfalls in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Haftung eines Mitgliedstaats für die Verletzung von Unionsrecht durch den nationalen Gesetzgeber für den Fall der Nichtumsetzung einer Richtlinie zu se-

ren Kompetenzbereich die Pflichtverletzung begangen worden ist. Auf Grundlage des Regelungsauftrages gemäß Satz 4 wurde zudem das „Gesetz zur Lastentragung im Bund-Länder-Verhältnis bei Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen“ (Lastentragungsgesetz, BGBl. 2006 I, S. 2098, 2105) erlassen, so Pieroth (Fn. 192), Art. 104a Rn. 12 f.; ausf. zum Ganzen siehe oben [3. f)]. 362 So Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 18 mit Hinweis auf EuGH, Rs. C118/08, Slg. 2010, I-0000 Rn. 33 ff. – Transportes Urbanos y Servitios Generales; ebenso Bonk (Fn. 357), Art. 34 Rn. 52c; T. v. Danwitz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz (Fn. 194), Art. 34 Rn. 138, 141; Wieland (Fn. 357), Art. 34 Rn. 23; Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 61. 363 EuGH, Rs. C-6/90 sowie 9/60, Slg. 1991, I-5357 Rn. 43 – Francovich; siehe auch Wieland (Fn. 357), Art. 34 Rn. 22 sowie Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 59, 61. 364 Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 18; instruktiv dazu J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 273 ff.; Bonk (Fn. 357), Art. 34 Rn. 52b. 365 So EuGH, Slg. 1991, I-5357 Rn. 41 – Francovich; Slg. 1996, I-1029 Rn. 66 – Brasserie du Pêcheur und Factortame III; dem folgend der Bundesgerichtshof, BGHZ 134, 30 (36); 146, 158 (163); v. Danwitz (Fn. 362), Art. 34 Rn. 142; Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 66; Jarass (Fn. 138), Art. 34 Rn. 4. 366 Bonk (Fn. 357), Art. 34 Rn. 52a; B. Grzeszick, in: V. Epping/C. Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 2009, Art. 34 Rn. 11.1; Wieland (Fn. 357), Art. 34 Rn. 22, 30 („eher begrifflich und praktisch kaum weiterführend“); Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 8 („eher akademische Frage“); zum Meinungsstand siehe B.-P. Säuberlich, Staatliche Haftung unter europäischem Einfluss – die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des Amtshaftungsanspruchs bei legislativem Unrecht, in: Europarecht 39 (2004), S. 954 (970).

94

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

hen367. Diese punktuelle Haftung der Mitgliedstaaten wurde durch rechtsfortbildende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union später um die Haftung für die Verletzung von Unionsrecht durch Legislativ- und Judikativakte zu einem umfassenden Haftungssystem erweitert368. b) Staatshaftung für die Nichtumsetzung europäischer Richtlinien und judikatives Unrecht Der Schutz subjektiver Rechte aus Richtlinien, welche individualbegünstigend sind, wurde vom Gerichtshof der Europäischen Union erstmals in der FrancovichEntscheidung369 hervorgehoben und als „Vehikel zur Durchsetzung des Unionsrechts“ 370 eingesetzt371. Gleichzeitig kann diese Entscheidung als grundlegend für die Anerkennung einer Staatshaftung wegen legislativen Unrechts durch die Nichtumsetzung von Richtlinien innerhalb der vorgeschriebenen Frist angesehen werden372. Ist eine solche nicht umgesetzte Direktive nicht hinreichend bestimmt, weil etwa den Mitgliedstaaten ein Ausgestaltungsspielraum verbleibt, so scheidet eine unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie zugunsten des Begünstigten aus. In diesem Fall bleibt die Möglichkeit des Rückgriffs auf die Staatshaftung373. Der Gerichtshof der Europäischen Union sieht die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt, „wenn die Einzelnen nicht die Möglichkeit hätten, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, dass ihre Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht [beziehungsweise Unionsrecht] verletzt werden, der einem 367 Wieland (Fn. 357), Art. 34 Rn. 22. Diese Haftung entnimmt der Gerichtshof dem effektiven Schutz der nach Unionsrecht gewährleisteten Rechte des Einzelnen sowie dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit des Art. 4 Abs. 3 EUV, siehe EuGH, Rs. C-6/90 sowie 9/60, Slg. 1991, I-5357 Rn. 43 – Francovich; Rs. C-173/03, Slg. 2006, I5177 – Traghetti del Mediterraneo; Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 9 f.; kritisch zur Kompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, diese Haftung zu begründen Frowein, Maastricht-Urteil (Fn. 30), S. 9. 368 Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 9. 369 EuGH, Rs. C-6/90 sowie 9/60, Slg. 1991, I-5357 Rn. 43 – Francovich. Diese Entscheidung erging im Zusammenhang mit einer Richtlinie zum Mindestschutz von Arbeitnehmern bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers mit speziellen Regelungen zur Befriedigung nicht erfüllter Ansprüche der Arbeitnehmer, welche die Republik Italien nicht innerhalb der vorgegebenen Frist umgesetzt hatte. In den Ausgangsfällen hatten mehrere frühere Arbeitnehmer von in Konkurs gegangenen Unternehmen die italienische Republik auf Zahlung des rückständigen Arbeitslohnes verklagt. Hilfsweise erhoben sie Klage auf Schadensersatz wegen Nichtumsetzung besagter Richtlinie. Zwar war eine unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie im Hinblick auf die Ansprüche der Arbeitnehmer wegen mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielräume nicht gegeben. Allerdings hat der Gerichtshof der Europäischen Union eine Staatshaftung wegen Verletzung der Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie begründet (EuGH, Rs. C-6/90 Rn. 33). 370 Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 10. 371 Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 58 f.; v. Danwitz (Fn. 362), Art. 34 Rn. 141. 372 Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 10 f.; Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 58. 373 Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 59.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

95

Mitgliedstaat zuzurechnen ist“ 374. Ein Entschädigungsanspruch stellt nach Ansicht des Gerichtshofs „die notwendige Ergänzung der unmittelbaren Wirkung“ von Unionsrecht dar375. Die Haftung wurde zudem auf den Grundsatz des unionstreuen Verhaltens gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV gestützt, welcher alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen zu treffen376. Im Einzelnen hat der Gerichtshof der Europäischen Union für den Fall einer Verletzung der Verpflichtung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV zur Umsetzung des Ziels einer Richtlinie für die Haftung eines Mitgliedstaats drei Voraussetzungen aufgestellt377. Erstens muss die nicht umgesetzte Richtlinie dem Ziel dienen, Einzelnen bestimmte Rechte zu verleihen. Zweitens muss der Inhalt dieser Rechte soweit bestimmt sein, dass sich das gebotene Mindestmaß der Begünstigung konkret abzeichnet und der Verstoß somit „hinreichend qualifiziert“ 378 ist. Drittens muss schließlich zwischen dem Verstoß der Nichtumsetzung und dem entstandenen Schaden für den Einzelnen ein kausaler Zusammenhang bestehen379. Zu beachten ist ferner, dass es bei einem Eingriff in eine der Grundfreiheiten380 (vgl. Art. 26 Abs. 2 AEUV), der zugleich gegen eine Richtlinie verstößt, 374 EuGH, Rs. C-6/90 Rn. 33. Die Entschädigung eines Einzelnen sei vor allem dann notwendig, wenn nur eine Tätigkeit des Staats die volle Wirkung des Unionsrechts herbeiführen könne, dem Einzelnen jedoch aufgrund der Untätigkeit des Staats eine Berufung auf ihm unionsrechtich zustehende Rechte versagt sei. Der Grundsatz des unionstreuen Verhaltens (Art. 4 Abs. 3 EUV) verpflichte den Mitgliedstaat ferner dazu, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen. Zu letzteren zähle auch die Pflicht zur Behebung eines Schadens, der durch einen Verstoß gegen Unionsrecht entstanden sei; ausf. dazu Pieper (Fn. 134), Art. 34 Rn. 59 f. 375 EuGHE 1996, I-1029, Rn. 22; Wieland (Fn. 357), Art. 34 Rn. 24. 376 Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 59; Bonk (Fn. 357), Art. 34 Rn. 52c; Wieland (Fn. 357), Art. 34 Rn. 22. 377 EuGH, Rs. C-6/90 Rn. 39; Bonk (Fn. 357), Art. 34 Rn. 52d; Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 60; v. Danwitz (Fn. 371), Art. 34 Rn. 142; Wieland (Fn. 357), Art. 34 Rn. 25. 378 Bonk (Fn. 134), Art. 34 Rn. 52d; Pieper (Fn. 134), Art. 34 Rn. 63; vgl. zu den Anwendungsschwierigkeiten dieses Erfordernisses BGHZ 134, 30 (37). 379 EuGH, Rs. C-6/90 Rn. 40; EuGHE 1996, I-1039; EuGHE 1996, I-4845 – Dillenkofer; EuGHE 1996, I-1631 – British Telecommunications; EuGHE 1996, I-2533 – Hedley Lomas; näher zu den Anspruchsvoraussetzungen auch M. Breuer, Staatshaftung für Judikativunrecht vor dem EuGH, in: BayVBl. 2003, S. 586 ff. sowie S. Detterbeck, Haftung der Europäischen Gemeinschaft und gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch, in: Archiv des öffentlichen Rechts 125 (2000), S. 202 (223 ff.). 380 Diese Gewährleistungen des freien Warenverkehrs (Art. 28 AEUV), der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV), der Niederlassungsfreiheit (Art. 49) sowie der Dienstleistungs- (Art. 56 AEUV) und Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) im Gebiet der Europäischen Union dienen der Realisierung des Binnenmarkts im Sinne einer optimalen Platzierung wirtschaftlicher Mittel (so z. B. Herdegen, Europarecht [Fn. 9], § 14 Rn. 2).

96

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

nicht darauf ankommt, ob diese Richtlinie Individualrechte vermittelt, da jedenfalls die Grundfreiheiten dies stets tun381. Durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union wurden die genannten Haftungsvoraussetzungen nachträglich auch in solchen Fällen für anwendbar erklärt, in denen der schadensverursachende Verstoß der Legislative oder Exekutive zuzurechnen ist (dazu cc) oder sich in Entscheidungen letztinstanzlicher Gerichte manifestiert382. Dies wird vom Gerichtshof der Europäischen Union aus dem völkerrechtlichen Grundsatz einer einheitlichen Betrachtung des Staats hergeleitet, welcher für die Staatshaftung – abgesehen von der Berücksichtigung der Funktion der jeweiligen Staatsgewalt bei dem Kriterium des qualifizierten Rechtsverstoßes383 – prinzipiell keine unterschiedliche Behandlung der drei Gewalten rechtfertige384. Ein hinreichend qualifizierter Verstoß durch judikatives Unrecht liegt (erst dann) vor, wenn evident gegen die Vorlagepflicht gemäß Art. 267 UAbs. 3 AEUV verstoßen oder die bestehende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union offenkundig verkannt wurde385. Neben der 381

Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 11. EuGH, Slg. 2003, I-10239, 10311, Rn. 30 ff. – Köbler; aus der vielzähligen Lit. dazu v. Danwitz, Staatshaftung (Fn. 360), S. 1 ff.; W. Frenz, Dienstalterbezüge und Freizügigkeit; Staatshaftung für letztinstanzliche Gerichtsentscheidungen, in: DVBl. 2003, S. 1522 ff.; J. Grune, Staatshaftung bei Verstößen nationaler Gerichte gegen Europäisches Gemeinschaftsrecht, in: BayVBl. 2004, S. 673 (674 ff.); J. Gundel, Gemeinschaftsrechtliche Haftungsvorgaben für judikatives Unrecht – Konsequenzen für die Rechtskraft und das deutsche „Richterprivileg“ (§ 839 Abs. 2 BGB), in: EWS 2004, S. 8 ff.; W. Hakenberg, Zur Staatshaftung von Gerichten bei Verletzung von europäischem Gemeinschaftsrecht, in: DRiZ 2004, S. 113 ff.; W. Kluth, Die Haftung der Mitgliedstaaten für gemeinschaftsrechtswidrige höchstrichterliche Entscheidungen, in: DVBl. 2004, S. 393 ff.; C. Kremer, Staatshaftung für Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht durch letztinstanzliche Gerichte, in: NJW 2004, S. 480 ff.; W. Obwexer, Staatshaftung für offenkundig gegen Gemeinschaftsrecht verstoßendes Gerichtsurteil, in: EuZW 2003, S. 726 ff.; L. Radermacher, Gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für höchstrichterliche Entscheidungen, in: NVwZ 2004, S. 1415 ff.; P. E. Sensburg, Staatshaftung für judikatives Unrecht, in: NVwZ 2004, S. 179 f.; W.-R. Schenke, Verfassungsrechtliche Garantie eines Rechtsschutzes gegen Rechtsprechungsakte?, in: JZ 2005, S. 116 ff.; P. J. Wattel, Köbler, CILFIT and Welthgrove – We can’t go on meeting like this, in: Common Market Law Review 41 (2004), S. 177 ff.; monographisch zum Ganzen M. Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht – Eine Untersuchung zum deutschen Recht, zum Europa- und Völkerrecht, 2011, S. 398 ff.; insbes. zur Haftung als mittelbare Auswirkung der Europäisierung der Judikative auf ihre Verwaltung F. Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 24, 150 ff., 254. 383 v. Danwitz (Fn. 362), Art. 34 Rn. 143; Jarass (Fn. 138), Art. 34 Rn. 4; siehe zur Berücksichtigung der funktionellen Unterschiede A. Gromitsaris, Rechtsgrund und Haftungsauslösung im Staatshaftungsrecht – eine Untersuchung auf europarechtlicher und rechtsvergleichender Grundlage, 2006, S. 48 f. 384 EuGHE 1996, I-1029, Rn. 34; ebenso schon der Generalanwalt G. Tesauro in seinen Schlussanträgen, EuGHE 1996, I-1029, Nr. 38; v. Danwitz (Fn. 362), Art. 34 Rn. 143; Wieland (Fn. 357), Art. 34 Rn. 24. 385 EuGH, Rs. 224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 53 ff.: „Zu diesen Gesichtspunkten gehören unter anderem das Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, die 382

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

97

Auslegung von Rechtsvorschriften können auch die Sachverhalts- und Beweiswürdigung eine Staatshaftung für die Verletzung von Unionsrecht durch judikatives Unrecht auslösen386. Der offensichtliche Verzicht auf ein sogenanntes Spruchrichterprivileg im Sinne von § 839 Abs. 2 S. 1 BGB im vom Gerichtshof der Europäischen Union entwickelten Haftungssystem387 hat zu einer Diskussion über die Reform des deutschen Staatshaftungsrechts geführt388. Nach derzeitiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum italienischen Staatshaftungsrecht389 ist anzunehmen, dass dieses Privileg europarechtswidrig und eine Reform damit notwendig ist. So stellt der Gerichtshof in seiner Entscheidung fest, dass die italienischen Rechtsvorschriften mit dem allgemeinen Grundsatz der Haftung der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Unionsrecht unvereinbar sind. Dies gilt soweit das italienische Recht jegliche Haftung des Staats für Unionsrechtsverstöße eines letztinstanzlichen Gerichts ausschließt, wenn sich ein solcher Verstoß aus der Auslegung von Rechtsvorschriften oder einer Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch dieses Gericht ergibt, und soweit die Vorschriften die Haftung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränken390.

Vorsätzlichkeit des Verstoßes, die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums, gegebenenfalls die Stellungnahme eines Gemeinschaftsorgans sowie die Verletzung der Vorlagepflicht (. . .) durch das in Rede stehende Gericht. Ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ist jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die fragliche Entscheidung die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig verkennt“; wie hier: Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 17; zur restriktiven Handhabung des Erfordernisses der offenkundigen Rechtsverletzung durch den EuGH siehe v. Danwitz (Fn. 362), Art. 34 Rn. 144 sowie Gundel, Haftungsvorgaben (Fn. 382), S. 11. 386 EuGH, Rs. C-173/03, Slg. 2006, I-5177, 5216, Rn. 31 ff. – Traghetti del Mediterraneo; siehe dazu auch W. Frenz/V. Götzkes, Staatshaftung für Gerichtsentscheidungen bei auslegungsbedürftigem Recht, in: Europarecht 44 (2009), S. 622 ff.; C. Koenig, Staatshaftung für „hinreichend qualifizierte“ Gemeinschaftsrechtsverstöße im nicht oder nur teilharmonisierten Bereich und die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG, in: EWS 2009, S. 249 ff. 387 EuGH, Slg. 2003, I-10239, 10311, Rn. 52; EuGH, Rs. C-173/03, Slg. 2006, I5177, 5216, Rn. 30. 388 Statt aller v. Danwitz (Fn. 362), Art. 34 Rn. 144; ders., Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 30.09.2003 – Rs. C-224/01, in: JZ 2004, S. 301 (302); Stelkens, Amtshaftung und Regress bei Schädigungen durch Verwaltungshelfer, in: DVBl. 2004, S. 393 (402 f.); S. Storr, Abschied vom Spruchrichterprivileg?, in: DÖV 2004, S. 545 ff. 389 Entscheidung vom 24.11.2011, EuGH, Rs. C-379/10 – juris. 390 So ausdrücklich der Tenor in EuGH, Rs. C-379/10 – juris, in welchen die Straßburger Richter entsprechend den vorherigen Vorwürfen der Europäischen Kommission entschieden, dass das italienische Gesetz über die zivilrechtliche Haftung der Richter für Schäden, die Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, mit dem Unionsrecht unvereinbar ist. Der Ausschluss der Haftung des Staats oder die Beschränkung dieser Haftung auf Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit verstoße gegen den allgemeinen Grundsatz, wonach die Mitgliedstaaten für Verstöße eines letztinstanzlichen Gerichts gegen das Unionsrecht haften; vgl. auch die Meldung der beck-aktuell-online Redaktion, v. 25.11.2011.

98

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

c) Haftung für Gesetzgebung und Exekutivhandeln Der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur mitgliedstaatlichen Haftung für die Nichtumsetzung von Richtlinien folgte auch die Entwicklung von Haftungsgrundsätzen bezüglich der Verletzung von europäischem Primärrecht durch die nationale Legislative391. Haftungsauslösend sind die Fälle der zwar erfolgten, jedoch fehlerhaften Umsetzung einer Richtlinie392 sowie Fälle des Erlasses unionsrechtswidriger Rechtsnormen oder des Unterlassens ihrer Aufhebung393. Für einen Entschädigungsanspruch gegen den nationalen Gesetzgeber gelten – wie bei Verletzung von Unionsrecht durch andere nationale Organe auch – die (drei) in der Francovich-Entscheidung etablierten Voraussetzungen394. Ein besonderes Verschulden des jeweiligen Staatsorgans ist für die Haftung ausdrücklich nicht erforderlich395. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Rechtsprechung zuvor eine Amtshaftung für legislatives Unrecht mangels Bestehens einer drittgerichteten Amtspflicht des parlamentarischen Gesetzgebers stets verneinte396, stellte die Anerkennung einer Staatshaftung für unionsrechtswidrige Legislativakte einen Einschnitt in das deutsche Staatshaftungsrecht dar397. Ähnliche Grundsätze wie für die Haftung wegen unionsrechtswidriger Legislativakte gelten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union auch für mitgliedstaatliche Verwaltungstätigkeit, die gegen Unionsrecht verstößt398. Auch hier verlangt die Judikatur die Verletzung einer Norm des Unionsrechts, die dem Einzelnen Rechte verleiht, einen hinreichend qualifizierten Rechtsverstoß sowie einen Kausalitätszusammenhang zwischen Rechtsverletzung 391 EuGH, Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029 – Brasserie du Pêcheur u. Factortame; Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 14. 392 EuGH, Rs. C-392/93, Slg. 1996, I-1631 – British Telecommunications. 393 EuGH, Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 37 ff.; v. Danwitz (Fn. 362), Art. 34 Rn. 143; dazu C. Dörr, Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: DVBl. 2006, S. 598 (599 f.). 394 EuGH, Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 51. 395 EuGH, Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 79 f.; Jarass (Fn. 138), Art. 34 Rn. 4. 396 So die vormals st. Rspr. des Bundesgerichtshofs, siehe BGHZ 56, 40 (46) = NJW 1971, Seite 1172, 1657 L; BGHZ 84, 292 (300) = NJW 1983, 215; BGHZ 87, 321 (335); BGH, Urt. v. 7.7.1988 – III ZR 198/87 = NJW 1989, 101 ff. sowie letztmalig BGH, Urt. v. 8.7.1992 – III ZR 127/91. 397 Siehe dazu den Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofs, BGH EuZW 1993, S. 226 ff. m.w. N. Der Bundesgerichtshof steht einer Anpassung des Amtshaftungssystems an das Recht der Europäischen Union distanziert bis ablehnend gegenüber. Die Einordnung des Haftungstatbestands als „im Unionsrecht wurzelnd“ scheint daher folgerichtig (siehe Herdegen, Europarecht [Fn. 9], § 10 Rn. 14). 398 EuGH, Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Rn. 28 – Hedley Lomas; Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 65.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

99

und Schaden. Für einen hinreichend qualifizierten Verstoß reicht eine bloße Verletzung dann aus, wenn der Mitgliedstaat „zum Zeitpunkt dieser Rechtsverletzung keine gesetzgeberischen Maßnahmen zu treffen hatte und über einen erheblich verringerten oder gar auf Null reduzierten Gestaltungsspielraum verfügte“ 399. Regelmäßig gilt dies auch bei einem Eingriff in die Grundfreiheiten, welche dem nationalen Gesetzgeber keinen Gestaltungsspielraum für Beschränkungen belassen400. 7. Die Bedeutung des Grundgesetzes im europäischen Verfassungsverbund Als Verfassung der Bundesrepublik Deutschland bildet das Grundgesetz einen Teil des sogenannten europäischen Verfassungsverbunds401 und besitzt damit auch europaweite verfassungsrechtliche Relevanz402. So wirkt das Grundgesetz gegenüber der Europäischen Union gleich in mehrfacher Weise. Zum einen ist das Grundgesetz im Rahmen der Verpflichtung der Europäischen Union zur Achtung der „nationalen Identität“ ihrer Mitgliedstaaten bedeutsam, welche gemäß Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV in den grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Diese Pflicht umfasst neben der 399

EuGH, Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Rn. 28; Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 65. EuGH, Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Rn. 28 – Hedley Lomas; Pieper (Fn. 357), Art. 34 Rn. 65; Herdegen, Europarecht (Fn. 9), § 10 Rn. 16. 401 Charakteristisch für dieses auf Pernice zurückgehende, zunehmend Anhänger findende Gegenmodell zum Staatenverbund ist das Ineinandergreifen von europäischem Primärrecht (also der europäischen „Verfassung“) und den nationalen Verfassungen, siehe C. Calliess, Verfassungsverbund oder „Superstaat Europa“? – Perspektiven der EU-Erweiterung, in: Universitätsbund Göttingen (Hrsg.), Georgia Augusta: Wissenschaftsmagazin der Georg-August-Universität Göttingen, Bd. 3, 2004, S. 18 (19 f.); ders., Union (Fn. 88), S. 65 ff., 74 sowie A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 205 ff. Entscheidend für die Realisierung einer solchen Verzahnung europäischer und nationaler Verfassungsprinzipien ist laut Calliess ein latentes und loyales Kooperationsverhältnis zwischen den nationalen und europäischen Verfassungsorganen, welches den Impulsaustausch zwischen beiden Verfassungsebenen ermöglicht (vgl. etwa die gemeinsamen Werte gemäß Art. 2 sowie Art. 7 EUV) und seinerseits erst durch die „Schleusen“ der in den geschriebenen Verfassungen der Mitgliedstaaten enthaltenen Öffnungsklauseln ermöglicht wird, die die Integration begünstigen (vgl. zu den europäischen Pendants zu Art. 23 GG oben 1.). Europäische Grundlage für diese Entwicklung ist die Konstitutionalisierungsphase innerhalb des Integrationsprozesses, welche durch die Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza und zuletzt Lissabon maßgeblich begonnen und vorangetrieben wurde und in der Verabschiedung der (mittlerweile verbindlichen) Grundrechtecharta im Jahre 2000 durch den von R. Herzog geleiteten Grundrechtskonvent gipfelte (so Calliess a. a. O.); dazu P. Häberle, Die Europäische Verfassungsstaatlichkeit, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 78 (1995), S. 298 ff.; Scholz (Fn. 179), Art. 23 (2009) Rn. 49. 402 So Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 155. 400

100

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Berücksichtigung politischer, sozialer und kultureller Besonderheiten der Mitgliedstaaten403 für die Europäische Union, ungeachtet des unionsrechtlichen Vorrangs auch die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die jeweiligen grundlegenden Verfassungsentscheidungen und deren Konkretisierung durch die Auslegung der nationalen Verfassungsgerichte404 (vgl. etwa Art. 31 GG). Basale Grundwerte und staatsorganisationsrechtliche Grundprinzipien des Grundgesetzes, welche das Eigenverständnis und den Aufbau des deutschen Staats ausmachen, sind daher über die unionsverfassungsrechtliche Pflicht zur Unionstreue auch für die Organe der Europäischen Union bindend405. Darüber hinaus fungiert das Grundgesetz, ungeachtet der Anerkennung der Grundrechtecharta und des Beitritts der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention, gemäß Art. 6 Abs. 1 und 2 EUV weiterhin als eine der Rechtserkenntnisquellen für die richterlich entwickelten Unionsgrundrechte406, die sich gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV neben ihrer Herleitung aus den Grundrechten der Europäischen Menschenrechtskonvention maßgeblich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ergeben407. Als Teil der gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten kann das Grundgesetz ferner dadurch zur weiteren inhaltlichen Ausprägung und Entwicklung der Uniongrundrechte beitragen408, dass der Gerichtshof der Europäischen Union den deutschen Grundrechtskatalog unter Berücksichtigung spezifischer Unions-

403 Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Kommentar, 2. Aufl, 2012, Art. 4 EUV Rn. 15; R. Geiger, in: ders./D.-E. Khan/M. Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Kommentar, 5. Aufl. 2010, Art. 4 EUV Rn. 3. 404 Geiger (Fn. 403), Art. 4 EUV Rn. 3; A. Puttler, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta. Kommentar, 2011, Art. 4 EUV Rn. 15; Streinz, EUV (Fn. 403), Art. 4 EUV Rn. 14. 405 Geiger (Fn. 403), Art. 4 EUV Rn. 3 f.; Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 156; Puttler, EUV (Fn. 404), Art. 4 EUV Rn. 15. 406 Streinz, Europarecht (Fn. 173), § 11 Rn. 737; zur Entwicklung der einzelnen Unions- (beziehungsweise Gemeinschafts-)Grundrechte, beginnend mit EuGH, Rs. 29/ 69, Slg. 1969, 419 (425) – Stauder, siehe ders., EUV (Fn. 403), Art. 6 EUV Rn. 29; Geiger (Fn. 403), Art. 6 EUV Rn. 33; Nettesheim, Art. 23 (Fn. 303), S. 2083 f. sowie ausführlich C. Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: D. Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 1 Rn. 25 ff. 407 So Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 156; Geiger (Fn. 403), Art. 6 EUV Rn. 23; T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV (Fn. 404), Art. 6 Rn. 6 ff.; R. Streinz/ W. Michl, in: Streinz, EUV/AEUV (Fn. 403), Art. 6 EUV Rn. 24 f. 408 Dass die deutschen Grundrechte schon in der Vergangenheit erheblichen Einfluss auf die materielle Ausgestaltung der Unionsgrundrechte – etwa auf die Art und Weise der konkreten Grundrechtsprüfung durch den Gerichtshof – hatten, betonen Streinz, Europarecht (Fn. 173), § 11 Rn. 744 sowie Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 156 f.

III. Die grundsätzliche „Europarechtsfreundlichkeit‘‘ des Grundgesetzes

101

interessen zur Herleitung der Unionsgrundrechte rechtsvergleichend betrachtet409. Schließlich hat das Grundgesetz bereits in der Vergangenheit zur Entwicklung zentraler Verfassungsprinzipien und -grundsätze zur Ordnung der Europäischen Union beigetragen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der seit Jahren die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union als (anfangs ungeschriebener) Bestandteil des Unionsrechts prägt410 und derzeit in Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 UAbs. 1 EUV ausdrücklich enthalten ist, ist hier als ein Beispiel zu nennen411. Auch die detaillierte Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, welche die Solange II-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts implementierte, hat im horizontalen Verhältnis der mitgliedstaatlichen Verfassungen untereinander mittlerweile einen Vordbildimpuls ausgelöst412. Zu Recht wird angenommen, dass mit zunehmender Verzahnung von nationaler und europäischer Verfassungsebene innerhalb des angesprochenen europäischen Verfassungsverbunds diese europäische Dimension des Grundgesetzes zukünftig weiter an Bedeutung gewinnen wird413. 8. Fazit Die Summe der europarechtsbezogenen Bestimmungen des Grundgesetzes hat gezeigt, dass das Grundgesetz (vom Bundesverfassungsgericht) nicht zu Unrecht mit dem Prädikat der Europarechtsfreundlichkeit versehen wird.

409 Kingreen, EUV (Fn. 407), Art. 6 EUV Rn. 6 f.; Streinz, EUV (Fn. 403), Art. 6 EUV Rn. 25; ders., Europarecht (Fn. 294), § 11 Rn. 761. 410 Vgl. beispielsweise EuGH, C-112/00, Slg. 2004, I-5659 – Schmidberger oder C24/00, Slg. 2004, I-1277 – Kommission/Frankreich; dazu aus der Lit. A. v. Arnauld, Theorie und Methode des Grundrechtsschutzes in Europa – am Beispiel des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit –, in: Europarecht 43 (2008), Beiheft 1, S. 41 (42); U. Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, in: Europarecht 35 (2000), S. 380 ff.; E. Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, in: NVwZ 1999, S. 1033 ff. sowie umfassend monographisch A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung – mit Beiträgen zu einer gemeineuropäischen Grundrechtslehre sowie zum Lebensmittelrecht, 2000; O. Koch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003. 411 Dieses Beispiel nennt Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 157 m.w. N.; zum Grundsatz C. Calliess, in: ders./Ruffert, EUV/AEUV (Fn. 404), Art. 5 EUV Rn. 45 f.; Streinz, EUV (Fn. 403), Art. 5 EUV Rn. 3, 41 ff. 412 So zu Kapitel 10 § 5 der Schwedischen Verfassung, wonach die Kompetenzübertragung die Wahrung der Menschenrechte nach einem der EMRK entsprechenden Schutzniveau voraussetzt, Bernitz, Report (Fn. 86), S. 455 f. sowie Calliess, Union (Fn. 17), S. 78; vgl. auch bereits Fn. 95. 413 Dieses Resümee inter alia bei Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 157.

102

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Geht man die einzelnen Grundgesetzartikel durch, so tritt die prinzipielle Affinität des deutschen Verfassungsrechts zum europäischen Einigungsprozess regelmäßig zutage. Nicht nur der Zählung nach stellt die dem Grundgesetz in der Präambel vorangestellte Entscheidung für eine offene Verfassungsstaatlichkeit den ersten Anhaltspunkt für die europaaffine Grundentscheidung dar. Sie setzt sich fort in den konkreten Mechanismen zur rechtlichen Umsetzung der europäischen Integration, die – insbesondere seit Begründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht – spezielleren Grundgesetzartikeln zugewiesen sind. Schließlich äußert sich diese Affinität auch im finanzverfassungsrechtlichen Teil des Grundgesetzes in mehreren Bestimmungen, die die Einführung des Euro in der Bundesrepublik Deutschland und die Schaffung der Europäischen Zentralbank als Teil der Wirtschafts- und Währungsunion im Geltungsbereich des deutschen Grundgesetzes ermöglichten. Trotz der eindeutig europarechtsfreundlichen Ausrichtung des Grundgesetzes ist die Frage nach der Reichweite des europarechtlichen Vorrangs vor dem nationalen Recht zwischen in der Rechtsprechung von nationalem Verfassungsgericht und dem Gerichtshof der Europäischen Union nach wie vor ungeklärt, beziehungsweise unterschiedlich beantwortet worden. So offensichtlich die inhaltliche Unvereinbarkeit zwischen den skizzierten Auffassungen der beiden Gerichte ist, so klein ist jedoch ihre bisherige praktische Relevanz. Bezieht man das europäische Primärrecht in die Betrachtung mit ein, so ist erwähnenswert, dass das Grundgesetz als Verfassung der Bundesrepublik Deutschland einen Teil des sogenannten europäischen Verfassungsverbunds bildet und damit auch europaweite verfassungsrechtliche Relevanz erhält. Dies folgt, wie gesehen, inbesondere daraus, dass das Grundgesetz einerseits im Rahmen der Verpflichtung der Europäischen Union zur Achtung der „nationalen Identität“ ihrer Mitgliedstaaten maßstäblich wird und andererseits als eine der Rechtserkenntnisquellen für die richterlich entwickelten Unionsgrundrechte dient. Sowohl Ausgangspunkt als auch Maßstab der wichtigsten europarechtlichen Fragestellungen des nationalen Verfassungsrechts ist der spezielle Europa-Artikel 23 GG. Als Gravitationszentrum der grundgesetzlichen Europarechtsfreundlichkeit regelt diese Vorschrift, nach welchen innerstaatlichen Regeln sich die weitere Integration vollziehen sollte und wie insbesondere die Bundesländer daran teilnehmen. Darüber hinaus regelt Art. 23 GG jedoch die Grenzen der Integrationsmöglichkeiten des Grundgesetzes in die Europäische Union und damit auch der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Bevor also eine abschließende Gesamtbewertung der grundgesetzlichen Bedingungen für die europäische Integration seit der Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfolgen kann, müssen die in diesem Urteilsspruch herangezogenen und erneut aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes Berücksichtigung finden.

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

103

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes im Detail Sowohl Art. 24 Abs. 1 GG als auch Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG räumen, wie gesehen, die grundsätzliche Möglichkeit der Hoheitsrechtsübertragung ein. Fraglich ist jedoch, inwieweit bezüglich des Umfangs und der Art der übertragenen Rechte in der Bundesrepublik Deutschland414 verfassungsrechtliche Grenzen bestehen. Die Darstellung soll sich hierbei auf die dem Integrationsgesetzgeber gezogenen Grenzen durch die für die Übertragung von Rechten auf die Europäische Union maßgebliche Vorschrift des Art. 23 Abs. 1 GG415 beschränken. Dieser bietet seit dem 22. Dezember 1992 die Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten416. Thematisch hat Art. 23 GG eine Art Doppelrolle417: Zum einen wird in Abs. 1 die verpflichtende Ermächtigung zur Mitwirkung an der Europäischen Union anhand konkreter Vorgaben behandelt, zum anderen werden in den Abs. 2 bis 7 detailliert die Kompetenzen und Beteiligungsrechte der Verfassungsorgane innerhalb des innerstaatlichen Verfahrens der Hoheitsrechtsübertragung zugunsten der Europäischen Union thematisiert. 1. Inhaltliche Anforderungen der „Struktursicherungsklausel“ a) Anforderungen an die Struktur der Europäischen Union Neben der Integrationsermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union werden durch Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG (im Gegensatz zu Art. 24 Abs. 1 GG) gleichzeitig nach innen gerichtete418 strukturelle Anforderun414 Verfassungsrechtliche Integrationsgrenzen sind innerhalb der Europäischen Union kein rein „deutsches Phänomen“. Die Vorbehalte von Staats- und Parlamentssouveränität, der republikanischen Staatsform und der Beibehaltung des „verfassungsrechtlichen Grundbaus“ existieren auch in anderen Mitgliedstaaten (etwa Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien und Österreich); dies betont Huber, Recht (Fn. 76), S. 48. 415 Die in Art. 23 Abs. 1 GG ausdrücklich enthaltenen Schranken der Integrationsermächtigung hatte das Bundesverfassungsgericht vor der Einfügung des Art. 23 GG n. F. teilweise bereits in Art. 24 GG im Rahmen einer „sachgerechten Auslegung“ hineininterpretiert; vgl. BVerfGE 58, 1 (40) – Eurocontrol I: „Allerdings läßt diese Verfassungsbestimmung die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen nicht schrankenlos zu. Art. 24 Abs. 1 GG muß wie jede Verfassungsbestimmung ähnlich grundsätzlicher Art im Zusammenhang der Gesamtverfassung verstanden und ausgelegt werden“; dazu Streinz, Europäisierung (Fn. 106), S. 45 ff. 416 An diesem Tag trat ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (BGBl. 1992 I, S. 2086) in Kraft, welches unter anderem Art. 23 GG n. F. als neuen „Europa-Artikel“ in das Grundgesetz eingefügt hat. 417 Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 95. 418 C. D. Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz (Fn. 371), Art. 23 Rn. 8, 18; Schmalenbach, Europaartikel (Fn. 171), S. 60 f.; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 107; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 15, 17 führt aus, dass – obgleich sich die Forderungen des Grundgesetzes zwar zwangsläufig nur auf europäischer Ebene entfalten kön-

104

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

gen an die Ausgestaltung der Europäischen Union als Adressatin der Hoheitsrechtsübertragung gestellt. So ist gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die Europäische Union, bei deren Entwicklung die Bundesrepublik Deutschland mitwirkt, demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet, und muss einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten. Die deutschen Verfassungsorgane sind an die Vorgabe gebunden, nur an der Entwicklung einer solchen Europäischen Union mitzuwirken, die den genannten Anforderungen entspricht419. Diese Struktursicherungsklausel420 hat eine doppelte Bedeutung421: Sie bildet zum einen die Begrenzung der Integrationsmöglichkeit auf das vorgegebene Modell einer Europäischen Union und wirkt durch ihre Anfoderungen mittelbar auch auf die Unionsorgane und andere Mitgliedstaaten422. Gleichzeitig wird dadurch, dass dokumentiert wird, welche Strukturen die Bundesrepublik Deutschland im vereinten Europa anstrebt, eine Art Appell- und Orientierungsfunktion erfüllt423.

nen – Adressaten des nationalen Verfassungsrechts nur die nationalen Verfassungsorgane sein können. 419 Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 16; A. Weber, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, in: JZ 1993, S. 325 (329); Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 421; R. Rubel, Das neue Grundgesetz: zum Stand der Reformbemühungen, in: JA 1992, S. 265 (270); Schede, Bundesrat (Fn. 158), S. 66; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 107; zur alternativen Ausgestaltung der Europäischen Union, etwa durch die Mobilisierung subnationaler Ebenen als „Europa der Regionen“, siehe Kuhnen, Zukunft (Fn. 22), S. 235, 239 ff. 420 So die gängige Bezeichnung des Art. 23 Abs. 1 S. 1, 2. Hs GG, siehe z. B. Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 17; ebenso Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 106 et passim; Badura, Bundesstaat (Fn. 176), S. 9; Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 17; C. Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz (Fn. 127), Art. 23 Rn. 7; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 48; anders Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 14 („Strukturvorgaben“). 421 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 50; Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 18; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 16 f.; Hillgruber (Fn. 420), Art. 23 Rn. 7; dass Art. 23 GG dieser Doppelrolle dadurch gerecht wird, dass er auf der einen Seite eine Integrationsöffnungsklausel ohne „Grundgesetzimperialismus“ oder „Blockadepotential“ darstellt, andererseits jedoch die genannten Prinzipien „analog der deutschen Staatsstruktur auch für die supranationale Ebene der Europäischen Union“ gewährleistet, sieht Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 421 f.; vgl. dazu Streinz, Europäisierung (Fn. 106), S. 42; M. Kirn, in: Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar (Fn. 220), Art. 146 Rn. 11 hingegen sieht in Art. 23 Abs. 1 GG einen „prinzipiellen Widerspruch ohne Überbrückungsmöglichkeit“ zwischen Gebot der Entwicklung der Europäischen Union und Verbot der Gründung eines europäischen Bundesstaats. 422 Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 17. 423 So die Bundesregierung in BT-Drs. 12/3338, S. 4; gleichsinnig interpretiert Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 53 die Struktursicherungsklausel als das „Grundanliegen des Art. 23 GG, die durch das Grundgesetz geschützte verfassungsrechtliche Grundsubstanz im Integrationsprozess nicht in unerträglichem Maße zu verwässern, sondern sie im Zusammenwirken mit den anderen europäischen Staaten auch auf europäischer Ebene in ihrem wesentlichen Bestand zu erhalten“.

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

105

Mit der Struktur(sicherungs-)klausel verbunden ist jedoch nicht die Forderung nach einer exakten Anwendung der deutschen Verfassungsprinzipien auf die Struktur der Europäischen Union424. Erforderlich ist vielmehr eine eigenständige Ausgestaltung von Organisation, Verfahren und Rechtsordnung der Europäischen Union. Diese supranationale Struktur sollte jedoch sowohl die gemeinsamen europäischen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten als auch die strukturellen und funktionalen Besonderheiten der supranationalen Europäischen Union berücksichtigen und im Zusammenwirken dieser Belange ein angemessenes Maß der geforderten Prinzipien auf europäischer Ebene gewährleisten425. Insofern kann im Wettbewerb der Rechtssysteme nicht einseitig auf das grundgesetzlich geprägte deutsche Verständnis dieser Prinzipien abgestellt werden426. Für diese nur „strukturangepasste Grundsatzkongruenz“ 427 auf europäischer Ebene spricht aus Sicht des Grundgesetzes bereits die Grundentscheidung für internationale Zusammenarbeit. Zu diesem Konzept des Grundgesetzes stünde es im Widerspruch, wenn jeder Mitgliedstaat seine eigenen Verfassungsstrukturen als alleinigen Maßstab für die Errichtung und Erweiterung einer Europäischen Union zugrunde legte und damit die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene und ein Vorantreiben der Europäischen Integration erheblich behinderte beziehungsweise praktisch unmöglich machte428. Die Strukturprinzipien des Art. 23 Abs. 1 S. 1, 2. Hs GG sind also, da sie auf eine supranationale Organisation mit einer Vielzahl von Mitgliedstaaten bezogen sind, die – trotz aller schon durch das Unionsrecht geforderten grundsätzlichen strukturellen Homogenität – im Einzelnen unterschiedlich verfasst sind, nicht „introvertiert deutsch-national“, sondern in einem gemeineuropäischen Sinn zu verstehen429.

424 So ausdrücklich bereits Badura, Bundesstaat (Fn. 176), S. 9 mit Hinweis auf das Fehlen eines konstitutiven europäischen Staatsvolks; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 107 m.w. N. 425 Pache, Grundgesetz (Fn. 67), S. 148. 426 Hillgruber (Fn. 420), Art. 23 Rn. 8; die Gefahr einer solch „wiederholenden Übertragung“ auf die europäische Eben sieht jedoch Wahl, Leitbegriffe (Fn. 32), S. 118 ff., 137. 427 BVerfGE 123, 267 (363 f.); R. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht – die Überprüfung grundrechtsbeschränkender deutscher Begründungs- und Vollzugsakte von Europäischem Gemeinschaftsrecht durch das Bundesverfassungsgericht, 1989, S. 254 ff. sowie ders. (Fn. 9), Art. 23 Rn. 20; Hillgruber (Fn. 420), Art. 23 Rn. 8. 428 Hahn, Vertrag (Fn. 79), S. 122; Everling, Überlegungen (Fn. 158), S. 944; G. Eibach, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften als Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts, 1986, S. 87; J. Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, S. 585 (592); Kirchner/Haas, Grenzen (Fn. 175), S. 763; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 107; Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 421. 429 Hillgruber (Fn. 420), Art. 23 Rn. 8.

106

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

b) Anforderungen struktureller Kongruenz im Einzelnen Im Folgenden werden die einzelnen inhaltlichen Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG an die Europäische Union als Adressatin der Hoheitsrechtsübertragungen kurz dargestellt. aa) Demokratische Grundsätze Die Europäische Union muss gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zunächst demokratischen Grundsätzen verpflichtet sein. Dieses Strukturmerkmal erfordert die Rückführbarkeit der Errichtung und Ausübung von Hoheitsgewalt durch die Europäische Union auf die Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten430 und ist als Reaktion auf den vielfach erhobenen Vorwurf des Demokratiedefizits der Europäischen Union zu sehen431. Der organisatorische Aufbau der Europäischen Union als Verbund der einzelnen Mitgliedstaaten wirkt sich insofern unmittelbar auf die demokratische Forderung aus, als demokratische Grundsätze auf Unionsebene nicht in gleicher Weise realisiert werden können wie innerhalb der durch das Grundgesetz abschließend geregelten staatlichen Ordnung432. Aufgrund der 430 So Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 23 mit Verweis auf den „Grundsatz der Volkssouveränität“ nach E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 2 ff. 431 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 52; aus der Diskussion P. Häberle, Verfassungsrechtliche Fragen im Prozeß der europäischen Einigung, in: EuGRZ 1992, S. 429 (432); G. Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (2001), S. 246 ff.; A. von Bogdandy, Zur Übertragbarkeit staatsrechtlicher Figuren auf die Europäische Union – vom Nutzen der Gestaltidee supranationaler Föderalismus anhand des Demokratieprinzips, in: M. Brenner/P. M. Huber (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel. Festschrift für Peter Badura zum siebzigsten Geburtstag, 2004, S. 1033 ff.; monographisch W. Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union – Eine Analyse der These vom Demokratiedefizit der Europäischen Union aus gemeineuropäischer Verfassungsperspektive, 1995; Überblick über die Debatte bei P. Craig, Integration, Democracy, and Legitimacy, in: ders./G. de Búrca (Hrsg.), The Evolution of EU Law, 2011, S. 13 (28 ff.); monographisch zur Diskussion des Demokratiedefizits auf europäischer Ebene A. von Komorowski, Demokratieprinzip und Europäische Union – staatsverfassungsrechtliche Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung, 2010, S. 155 ff. 432 BVerfGE 89, 155 (182), vgl. auch BVerfG NJW 1995, S. 2261 zur Sitzverteilung im Europäischen Parlament; Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 24; Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 425; Eibach, Recht (Fn. 428), S. 89; Oppermann/Classen, Union (Fn. 168), S. 15; A. Randelzhofer, Zum behaupteten Demokratiedefizit der Europäischen Gemeinschaft, in: P. Hommelhoff/P. Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 39 (51 ff.); ähnlich V. Skouris, Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit aus Sicht des Europäischen Gerichtshofes, in: M. Holoubek u. a. (Hrsg.), Dimensionen des modernen Verfassungsstaates, 2002, S. 151 (161 ff.); ebenso Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 113, 115, die „unionsspezifische Demokratiestrukturen“ für erforderlich hält; a. A. Lübbe-Wolff, Verfassungsrecht (Fn. 431), S. 246 f., die eine der

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

107

Struktur als Verbund demokratisch organisierter Staaten ist in der Europäischen Union eine – auf nationalstaatlicher Ebene in einem langen historischen Prozess gewachsene433 – parlamentarische Demokratie im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG, in der alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und das hoheitliche Handeln durch Wahlen und Abstimmungen legitimiert ist, nicht möglich434. Denn wenngleich der Deutsche Bundestag das deutsche Volk repräsentiert, repräsentiert das Europäische Parlament nicht ein Europäisches Staatsvolk im klassischen demokratischen Sinne einer Volkssouveränität435, sondern die Völker der in der Union zusammengeschlossenen Mitgliedstaaten436. Eine vollwertige parlamentarische nationalen Demokratie entsprechende Form auf europäischer Ebene für erforderlich hält; zu den unterschiedlichen Konzeptionen des unionalen und des nationalstaatlichen Demokratieprinzips siehe P. M. Huber, Demokratische Legitimation in der Europäischen Union, in: H. Dreier/F. W. Graf/J. J. Hesse (Hrsg.), Staatswissenschaften und Staatspraxis, 2011, S. 68 (71 ff.). 433 So Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 424, der diese demokratischen Prämissen innerhalb der Europäischen Union unmittelbar nach deren Gründung „gegenwärtig und in absehbarer Zukunft“ als nicht erfüllt ansah. 434 Pronounciert zuletzt Pöttering, Europa (Fn. 31), S. 8 („[. . .] ein dynamischer Prozess wie der der europäischen Einigung, in den unterschiedliche Demokratieformen und -vorstellungen einfließen, kann nicht nach den gleichen demokratischen Regeln funktionieren wie das deutsche Staatsgefüge“), der das Bundesverfassungsgericht in die Pflicht nimmt, seine Funktion als Wächter der deutschen Demokratie zugunsten konstruktiver Anstöße für den Demokratisierungsprozess zurückzunehmen. 435 Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach das Volk in seiner Gesamtheit als alleiniges Legitimationsobjekt deklariert (BVerfGE 83, 37 [50]; 107, 59 [87]), siehe dazu Degenhart, Staatsrecht I (Fn. 182), Rn. 17; Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 23; kritisch zum Legitimationsdefizit mangels „europäischen Volks“ Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 52, 55; B.-O. Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: StWStP 5 (1994), S. 305 (306 ff.); gleiche Stoßrichtung bei Huber, Legitimation (Fn. 432), S. 75 f., der das „Gravitationszentrum“ für politische Entscheidungen in der Europäischen Union noch immer beim Rat verortet; ähnl. M. Zuleeg, Demokratie durch Rechtsprechung, in: L. Krämer/H.-W. Micklitz/K. Tonner (Hrsg.), Recht und diffuse Interessen in der Europäischen Rechtsordnung/Law and diffuse Interests in the European Legal Order, 1997, S. 1 (2 ff.). 436 Das gilt ungeachtet der Tatsache, dass das Europäische Parlament gemäß Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV nunmehr nicht mehr aus Vertretern „der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ (so noch Art. 189 Abs. 1 EGV), sondern aus Vertretern der „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ besteht. Vgl. dazu das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil (BVerfGE 123, 267 [404]): „Die Bundesrepublik Deutschland wird nach der Ratifikation des Vertrags von Lissabon weiterhin auch über ein Staatsvolk verfügen. Der inzwischen im Unionsrecht stärker ausgebildete Begriff des Unionsbürgers gründet ausschließlich im Vertragsrecht. Die Unionsbürgerschaft ist allein von dem Willen der Mitgliedstaaten abgeleitet und konstituiert kein Unionsvolk, das als sich selbst verfassendes Rechtssubjekt zur eigenen Selbstbestimmung berufen wäre“. Ähnl. schon zum Vertrag von Maastricht Ossenbühl, Maastricht (Fn. 79), S. 634 sowie Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 424; dass die einzelnen Nationalstaaten auch auf absehbare Zeit die Basis der Europäischen Union sind und es weder ein europäisches Staatsvolk noch eine durch ein Mindestmaß an europäischer Indentität bestehende Demokratisierung der Europäischen Union hin zu einem europäischen Volk erkennbar ist, sieht Kuhnen, Zukunft (Fn. 22), S. 248; ähnl. Wahl, Leitbegriffe (Fn. 32), S. 120 f., der vor dem Hintergrund nationaler Einigungsprozesse (insbes. im Deutsch-

108

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Demokratie im klassischen Sinne würde jedoch gerade ein europäisches Staatsvolk voraussetzen, dessen Wille sich im Europäischen Parlament abbildet und demgegenüber sich das Parlament zu verantworten hat437. Konkret hat die Forderung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nach „demokratischen Grundsätzen“ eine zweifache Zielrichtung: Zum einen strebt sie einen demokratischen Prozess auf Unionsebene an, in dem die Bundesrepublik Deutschland sich als Mitgliedstaat der Europäischen Union effektiv und gleichberechtigt einbringen kann und so den Verlust an staatlicher Hoheitsgewalt durch Mitentscheidungsbefugnisse auf Unionsebene kompensiert438. Auf der anderen Seite soll sie ein hinreichendes demokratisches Legitimationsniveau der Europäischen Union selbst sicherstellen439. Während das erst genannte Ziel durch ein demokratisch besetztes, die Mitgliedstaaten repräsentierendes Unionsorgan erreicht werden kann440, bringt die demokratische Legitimation der Europäischen Union in der Theorie wiederum ein doppelseitiges Erfordernis441 mit sich: erstens und vorrangig die Bindung der Europäischen Union an den Willen der Staatsvölker der Mitgliedstaaten, welcher sich unmittelbar im Europäischen Parlament abbildet442; land des 19. Jahrhunderts) den Unterschied zwischen einem Staat und einer Integrationsgemeinschaft in der fehlenden Identifikation der Menschen mit der höheren Ebene (der Europäischen Union) sieht und bezweifelt, dass auf die bisherige Integration auch eine politische Einheit folgt. 437 Oppermann/Classen, Union (Fn. 168), S. 15; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 115. 438 BVerfGE 89, 155 (182 f.); Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 52. 439 BVerfGE 89, 155 (184); Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 22; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 113. 440 Zu der in diesem Zusammenhang diskutierten Konstellation der „antizipierenden Ermächtigung“ zu demokratischen Mehrheitsentscheidungen im Falle der Überstimmung Deutschlands im Europäischen Rat siehe BVerfGE 89, 155 (184 ff.) sowie Hillgruber (Fn. 420), Art. 23 Rn. 9. 441 Vgl. Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 24 („doppelgleisige demokratische Legitimation“); ebenso Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 53; sinngemäß auch Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 28; Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 18; Schmahl (Fn. 181), Art. 23 Rn. 4 sowie S. Kadelbach, Autonomie und Bindungen der Rechtsetzung in gestuften Rechtsordnungen, in: VVDStRL 66 (2007), LS 16 („duale Legitimationsstruktur“). 442 Vgl. Art. 1 Abs. 2 EUV, der von der Europäischen Union als einer „Union der Völker Europas“ spricht; wie hier Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 25; anders A. Voßkuhle, Über die Demokratie in Europa, in: FAZ v. 9.2.2012, S. 7, der zwar auch eine duale demokratische Legitimation der Unionsgewalt beschreibt, die Legitimationsstränge jedoch anders zu priorisieren scheint. Nach seinem Verständnis entsteht Legitimation primär über einen „repräsentativ-demokratischen“ Legitimationszusammenhang, der von den Bürgern der Mitgliedsstaaten ausgeht und letztlich der Quell aller Unionsgewalt ist. Dies setze voraus, dass den Mitgliedstaaten Aufgabenbereiche verbleiben, die der Kontrolle des nationalen Parlaments unterliegen. Zweitens ist nach seiner Sicht das Europäische Parlament als ein unmittelbar gewähltes Repräsentationsorgan der Völker eine eigenständige, ergänzende Quelle für demokratische Legitimation. Diese setzt wiederum eine Mitwirkung des Parlaments an der Rechtsetzung und Kontrolle der Unionsorgane voraus. Auffällig ist die (wohl kaum zufällige,) fast wörtliche Übereinstimmung mit der entsprechenden Passage der Lissabon-Entscheidung (vgl. BVerfGE 123, 267 [368] sowie zuvor E 89, 155 [184 f.]).

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

109

zweitens und ergänzend jedoch die Rückführbarkeit auf die Gesamtheit aller Unionsbürger durch die nationalen Parlamente443. Entsprechend normiert Art. 10 EUV nun ausdrücklich, dass die Europäische Union und deren Entscheidungen sowohl durch das Europäische als auch durch die nationalen Parlamente demokratisch legitimiert sind. Eine ausreichende Legitimation der europäischen Hoheitsgewalt kann also erst im Zusammenwirken beider Institutionen erreicht werden444. De facto ist dieses Gewährleistungspotential zwischen den Repräsentationsorganen jedoch ungleich verteilt. Zwar kann das Europäische Parlament durch den Vertrag von Lissabon einen (weiteren) Kompetenzzuwachs verzeichnen445. Demokratische Legitimation erfolgt jedoch in erster Linie noch immer mittelbar über die Zustimmung der von den Staatsvölkern der Mitgliedstaaten gewählten nationalen Parlamente zu den Gründungsverträgen der Europäischen Union sowie über die laufende Rückbindung des aus den Staatsvertretern bestehenden Rats an die nationalen Parlamente446. Die Vermittlung demokratischer Legitimation basiert dabei idealiter auf einer ununterbrochenen Legitimationskette vom Volk des Mitgliedstaats als Legitimationssubjekt zur politischen Herrschaftsgewalt der Unionsorgane als Legitimationsobjekt. Diese erfolgt durch periodisch abgehaltene Wahlen447. 443

Statt vieler Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 110. Huber, Legitimation (Fn. 432), S. 79; ders., Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, S. 70. 445 So Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 110; z. B. sieht das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 289 Abs. 1, 294 AEUV mittlerweile vor, dass das Europäische Parlament und der Rat im Regelfall der Normsetzung eine gleichberechtigte Position innehaben. Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 25 sieht zudem in der mangelnden Möglichkeit einer Auflösung des Europäischen Parlaments auf Initiative eines anderen Organs eine weitere Stärkung; anders Huber, Legitimation (Fn. 432), S. 75 f., der dem Europäischen Parlament mangels Initiativrecht grundsätzlich nur eine „negative demokratische Legitimation“ zuspricht und weiterhin den Rat als „politisches und rechtliches Gravitationszentrum“ der Europäischen Union ansieht, auch wegen des „Fehlens politischer Parteien im Europäischen Parlament“, die den Prozess der Willensbildung vor der Europawahl strukturieren und zur Herausbildung alternativer Politikkonzepte führen könnten (ebenda, S. 80). 446 Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 22; Hillgruber (Fn. 420), Art. 23 Rn. 9; Schmahl (Fn. 181), Art. 23 Rn. 4; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 53; in diesem Sinne wohl auch Voßkuhle, Demokratie (Fn. 442), S. 7; zu den Grenzen des Rats als Basis der demokratischen Legitimation durch die nationalen Parlamente aufgrund zunehmender Mehrheitsentscheidungen im Rat siehe H. Hofmann, Zur Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, in: StWStP 6 (1995), S. 155 (166) sowie Lübbe-Wolff, Verfassungsrecht (Fn. 431), S. 257 f. 447 So werden beispielsweise die Mitglieder des Europäischen Parlaments gem. Art. 14 Abs. 3 EUV in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Auf nationaler Ebene beinhaltet das Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (EuWG) Regeln für die Wahl des Europäischen Parlaments. Neben der Gewährleistung demokratischer Legitimation der Mitglieder des Parlaments bezwecken diese 444

110

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Kerngehalte, die Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG jedenfalls erfordert, sind neben der Volkssouveränität und der wenigstens mittelbaren demokratischen Legitimation das Mehrheitsprinzip sowie die mittelbar-repräsentative Ausgestaltung der Demokratie448. Ein parlamentarisches Regierungssystem, wie es das Grundgesetz selbst für die Bundesrepublik Deutschland etabliert, ist nicht erforderlich. Soll europäische Hoheitsgewalt auf der von den mitgliedstaatlichen Völkern demokratisch vermittelten Willensbildung basieren, ist das am besten dadurch zu erreichen, dass sie von einem Organ ausgeübt wird, das von den mitgliedstaatlichen Regierungen beschickt wird, die ihrerseits demokratischer Kontrolle unterstehen449. Deshalb ist die zentrale Rolle, die dem Europäischen Rat bei der Ausübung der Unionsgewalt zukommt, aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht nur demokratisch geboten, sondern geradezu unverzichtbar. Die demokratische Legitimation des Europäischen Rats erfolgt durch die Rückbindung der Ratsvertreter an die nationalen Parlamente (vgl. Art. 189 Abs. 1 AEUV). Das aus Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zusammengesetzte Europäische Parlament (vgl. Art. 14 Abs. 2 S. 1 EUV) wird nach einem bis heute uneinheitlichen Wahlrecht des jeweiligen Mitgliedstaats gewählt. Gleichzeitig gilt ein die Bevölkerungszahl der 27 Mitgliedstaaten nur sehr ungenau widerspiegelnder nationaler Proporz. Von diesem Parlament kann daher bestenfalls eine von den Staatsvölkern der Mitgliedstaaten abgeleitete demokratische Legitimation erfolgen, welche eine die nationalen Parlamente ergänzende, keinesfalls eine sie ersetzende demokratische Abstützung der Unionspolitik bietet450. Seit dem Vertrag von Lissabon besteht zudem die vom Bundesverfassungsgericht in der zugehörigen Entscheidung nicht (ausreichend) gewürdigte451 Möglichkeit der Europäischen Bürgerinitiative nach Art. 11 Abs. 4 EUV452. Hiernach Regelungen die Herstellung einer innerstaatlichen Geltungsgrundlage der im Parlament getroffenen Entscheidungen. Ergänzt wird das Europawahlgesetz durch einzelne Regelungen des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) sowie durch die Europawahlordnung (EuWO), welche die Durchführung der Wahlen vor Ort im Detail regelt. 448 BVerfGE 89, 155 (184 ff.); Hillgruber (Fn. 420), Art. 23 Rn. 9. 449 BVerfGE 89, 155 (186 f.). 450 BVerfGE 89, 155 (184 ff.); 97, 350 (368 f.); Hillgruber (Fn. 420), Art. 23 Rn. 9. 451 H. Goerlich/B. Assenbrunner, Das Europäische „Bürgerbegehren“ als Element eines supranationalen Demokratieverständnisses nach dem Vertrag von Lissabon, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 26 (2011), S. 268 (287); so beschränkt sich das Gericht darauf, das neuartige Instrumentarium als Element assoziativer und direkter Demokratie aufzuzählen um anschließend nüchtern festzustellen, dass „weder die zusätzlichen und in den Wirkungen der vielen Handlungsebenen und angesichts der Vielzahl von mitgliedstaatlichen Parlamenten stark verschachtelten Beteiligungsrechte noch assoziativ und direkt wirkende Petitionsrechte gegenüber der Kommission [. . .] geeignet [sind], die durch Wahl begründete Herrschaft der Mehrheit zu ersetzen“ (BVerfGE 123, 267 [377 ff.]). 452 Dazu A. Gross, „Europäische Bürgerinitiative“ als erster Schritt auf dem Weg zur transnationalen Demokratie und zur Demokratisierung der EU, in: J. W. Pichler (Hrsg.), Direkte Demokratie in der Europäischen Union, 2009, S. 79 ff.; vorl. Würdigung des

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

111

können mindestens eine Million Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, bei denen es sich um Staatsangehörige einer „erheblichen Zahl“ der Mitgliedstaaten handelt, Initiative ergreifen. Konkret können die Initiatoren die Europäische Kommission auffordern, zu bestimmten Themen, zu denen es nach Ansicht jener Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf um die Europäischen Verträge umzusetzen, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu machen. Das Verfahren zur notwendigen Konkretisierung dieses neuartigen Instruments direkter Demokratie ist in Art. 24 Abs. 1 AEUV geregelt453. Wenngleich die Aufforderungen an die Kommission keine Rechtsbindung auslösen, ist die politische Signalwirkung eines solchen Bürgerbegehrens als Ergänzung des Petitionsrechts und des Beschwerderechts beim Europäischen Bürgerbeauftragten, gerade im Hinblick auf das Potential als öffentliches Gegengewicht zu verstecktem Lobbyismus, nicht zu unterschätzen454. vorherigen Entwurfs bei A. Balthasar/A. Posser, Die Europäische Bürgerinitiative – Gefährdung der Glaubwürdigkeit eines direktdemokratischen Instruments?, in: Journal für Rechtspolitik 18 (2010), S. 122 ff.; W. Obwexer/J. Villotti, Die Europäische Bürgerinitiative. Grundlagen, Bedingungen und Verfahren, in: Journal für Rechtspolitik 18 (2010), S. 108 ff.; A. Guckelberger, Die Europäische Bürgerinitiative (EBI), in: DÖV 2010, S. 745 ff.; zuletzt F. Carstenholz, Die EU-Bürgerinitiative: Entwicklung und Konturen eines Europäischen Bürgerrechts, in: P.-C. Müller Graff/S. Schmahl/V. Skouris (Hrsg.), Europäisches Recht zwischen Bewährung und Wandel. Festschrift für Dieter H. Scheuing, 2011, S. 39 ff.; Abgrenzung zum Petitionsrecht an das Europäische Parlament (gem. Art. 227 EUV/Art. 44 GRCh) wiederum bei Goerlich/Assenbrunner, Bürgerbegehren (Fn. 451), S. 268 ff. 453 Art. 24 Abs. 1 AEUV sieht wiederum vor, dass die Regelung des Verfahrens und der Bedingungen, die für eine Bürgerinitiative gem. Art. 11 EUV gelten, vom Europäischen Parlament und vom Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnungen festgelegt werden. Diesem Auftrag sind Parlament und Rat mittlerweile durch Erlass der Verordnung 211/2011 über die Bürgerinitiative v. 16.2.2011 (ABl. L 65/1 v. 11.3.2011) nachgekommen, die die Initiative seit dem 1.4.2012 zulässt (Art. 23 Abs. 2), dazu U. Hornung, Die Verordnung über die Europäische Bürgerinitiative – mit Vollgas und angezogener Handbremse zu mehr Demokratie in Europa?, in: Recht und Politik 47 (2011), S. 94 ff.; zudem konkretisieren Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie, dass die Unterzeichner einer Bürgerinitiative aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten stammen müssen und dass diese Mindestzahlen der mit 750 multiplizierten Anzahl der im jeweiligen Mitgliedstaat gewählten Mitglieder des Europäischen Parlaments entsprechen müssen. Im Hinblick auf Art. 14 Abs. 2 S. 4 EUV, der festlegt, dass ab der nächsten Europawahl kein Mitgliedstaat mehr als 96 Sitze im Europäischen Parlament erhält, beträgt die Mindestanzahl der Unterzeichner in Deutschland damit 72.000. Zur innerstaatlichen Umsetzung der Vorgaben hat der deutsche Gesetzgeber das Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative (BGBl. 2012 I, S. 446, v. 7.3.2012) erlassen, das unter anderem die zuständigen Behörden sowie die Organisation der Unterstützungsbekundungen regelt. 454 So die zuversichtliche Einschätzung v. Goerlich/Assenbrunner, Bürgerbegehren (Fn. 452), S. 285 f., die zudem resümieren, dass dieses „Instrument bürgerschaftlicher Beteiligung sui generis“ – richtig genutzt – als Ergänzung der demokratischen Willensbildungsprozessen in den Organen der Europäischen Union sich zu einem „einflussreichen Element lebendiger repräsentativer Demokratie“ auf supranationaler Ebene entwickeln könne; ähnl. optimistischer Tenor bei J. P. Terhechte, Der Vertrag von Lissabon:

112

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Unter demokratischen Gesichtspunkten ist es schließlich erwähnenswert, dass einige mitgliedstaatliche Verfassungen der Europäischen Union ausdrücklich ein Mitspracherecht der jeweiligen Staatsbürger bei europarechtlich bedingten (durch weitere Kompetenzübertragungen auf die Europäische Union ausgelösten) Verfassungsänderungen vorsehen. Die Möglichkeit respektive Notwendigkeit eines solchen Referendums besteht beispielsweise nach den Verfassungen Irlands455, Dänemarks456, Spaniens457 sowie vormals in der Verfassung Frankreichs458. bb) Rechtsstaatliche Grundsätze Die Europäische Union muss gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ferner rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet sein. Diese Bindung hat durch die Regelung des Art. 6 Abs. 2 EUV ihren Niederschlag auch in einem der Gründungsverträge gefunden, wurde vom Gerichtshof der Europäischen Union seit langem gefordert und in ständiger Rechtsprechung insbesondere auf die Gehalte Rechtssicherheit, Verhältnismäßigkeit und das Gebot effektiven Rechtsschutzes konkretisiert459. Ähnlich wie bei der Forderung nach einer strukturangepassten Grundsatzkongruenz in Bezug auf das Demokratieprinzip können auch rechtsstaatliche Grundsätze für die Ebene der Europäischen Union „systemadäquat modifiziert“ 460 werden. Im Gegensatz zur FordeGrundlegende Verfassungsurkunde der europäischen Rechtsgemeinschaft oder technischer Änderungsvertrag?, in: Europarecht 43 (2008), S. 143 (185), der durch die Initiativmöglichkeit zudem eine erhebliche Ausweitung der Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen konstatiert; vgl. auch M. Nettesheim, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 11 EUV (2010) Rn. 23 ff. 455 Vgl. Art. 46, 47 der Irischen Verfassung; dazu W. J. Schünemann, Wieder ein Sieg der Angst? Das zweite irische Referendum über den Lissabon-Vertrag in der Analyse, in: integration 33 (2010), S. 224 ff. 456 Vgl. § 88 der Dänischen Verfassung, der vorsieht, dass der Entwurf einer Grundgesetzänderung vor Ablauf eines halben Jahres nach seiner Verabschiedung den Wählern des dänischen Parlaments zur Billigung oder Ablehnung durch direkte Abstimmung vorgelegt werden muss. Das erforderliche Quorum für eine Annahme der Grundgesetzänderung besteht in der Mehrheit der an der Abstimmung Teilnehmenden, die zudem mindestens 40 % sämtlicher Stimmberechtigten ausmachen müssen. 457 Art. 168 Abs. 3 der Spanischen Verfassung sieht vor, dass sowohl eine Totalrevision als auch bestimmte Verfassungsänderungen nach Annahme durch beide Kammern des Parlaments der Ratifizierung durch eine Volksabstimmung bedürfen. 458 Bis zur Verfassungsänderung am 30.1.2008 sah auch die Verfassung Frankreichs eine Volksabstimmung bei der Ratifikation von Änderungen der Europäischen Verträge vor; dazu F. V. Lange, „Direkter Ausdruck nationaler Souveränität“? – Das Referendum in Frankreich, in: L. P. Feld u. a. (Hrsg.), Jahrbuch für direkte Demokratie 1 (2009), S. 259 ff.; dass diese Referenden in Frankreich, Dänemark und Irland die restliche Mitgliedstaaten der Europäischen Union „immer wieder in Atem gehalten“ haben, konstatiert F. C. Mayer, Ein Referendum über die Europäische Verfassung?, in: EuZW 2003, S. 321. 459 Schmahl (Fn. 181), Art. 23 Rn. 5. 460 Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 27.

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

113

rung nach demokratischen Grundsätzen bestehen bei der Verpflichtung der Europäischen Union zu rechtsstaatlichen Grundsätzen aufgrund der Unabhängigkeit von rechtsstaatlichen Elementen und dem Konzept der Staatlichkeit keinerlei grundsätzliche Probleme461. Teilweise wird in diesem Zusammenhang im Hinblick auf den rechtsstaatlich gebotenen Vorrang des Gesetzes die Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Union, welche mitunter das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV) weitgehend strapaziert, als problematisch angesehen462. Auf der anderen Seite wird zurecht darauf hingewiesen, dass diese Entwicklung durch die Besonderheiten der Europäischen Union als dynamische Integrationsgemeinschaft zu erklären und von den Mitgliedstaaten bewusst akzeptiert worden ist463. cc) Sozialstaatliche Grundsätze Die durch Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ebenfalls geforderten sozialstaatlichen Grundsätze sind auf der Ebene der Europäischen Union in Art. 3 Abs. 3 EUV allgemein festgelegt und bilden daher eine praktisch vergleichsweise wenig problematische Integrationsgrenze464. Konkretisiert wurden sie in mehreren auf Art. 141 EGV a. F. (gleiches Entgelt; Gleichbehandlung) und Art. 94 und 141

461

Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 32; D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995, S. 581 (585). 462 Schmahl (Fn. 181), Art. 23 Rn. 5; zur Trennlinie zwischen einer zulässigen Rechtsfortbildung innerhalb der Verträge und einer deren Grenzen sprengenden, vom geltenden Vertragsrecht nicht gedeckten Rechtsetzung sowie der Konstellation eines „ausbrechenden Rechtsakts“ siehe BVerfGE 75, 223 (240 ff.); 89, 115 (209 f.). Allgemein zur Problematik der flexiblen Rechtsfortbildung und Auslegung von Kompetenzbestimmungen im Unionsrecht durch den Gerichtshof der Europäischen Union siehe Di Fabio, Art. 23 (Fn. 175), S. 197; Huber, Maastricht (Fn. 79), S. 37; Murswiek, Pouvoir (Fn. 79), S. 182; H. D. Jarass, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1996), S. 173 (178); K. Heckel, Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, 1998, S. 162 sowie zuletzt Schorkopf, Union (Fn. 34), S. 720. 463 So Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 10, 32 mit Hinweis auf die durch das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil gewürdigte, verfassungsrechtlich anerkannte Tendenz der politischen Selbstverstärkung der Integrationsgemeinschaft: „Ein zur Integration ermächtigendes Gesetz – wie das Zustimmungsgesetz – kann daher trotz des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung immer nur ein Programm umreißen, in dessen Grenzen dann eine politische Entwicklung stattfindet, die nicht in jedem Punkt vorherbestimmt sein kann. [. . .] Hinzunehmen ist daher eine Tendenz zur Besitzstandswahrung (acquis communautaire) und zur wirksamen Kompetenzauslegung im Sinne der US-amerikanischen implied powers-Doktrin oder der effet utile-Regel des Völkervertragsrechts. Dies ist Teil des vom Grundgesetz gewollten Integrationsauftrags“ (BVerfGE 123, 267 [351]). 464 Einstimmiges Fazit bei Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 35; Schmahl (Fn. 181), Art. 23 Rn. 6 sowie Hillgruber (Fn. 420), Art. 23 Rn. 11.

114

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Abs. 3 EGV a. F. (jetzt Art. 157 Abs. 3 AEUV) gestützten Richtlinien für den Bereich der Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben465. Generell ist jedoch bisher keine Sozialunion oder Ähnliches geschaffen worden466. Die Realisierung sozialstaatlicher Grundsätze auf Unionsebene läuft vielmehr in den Bahnen einer den Binnenmarkt flankierenden Maßnahme467. Eine umfassende soziale Verantwortung der Europäischen Union widerspräche dem ebenfalls in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG enthaltenen Subsidiaritätsprinzip und ist daher auch nicht gefordert468. Ebenso wenig wird durch die Strukturklausel eine obligatorische Anhebung des europäischen Sozialstandards im Sinne eines umfassenden Sozialstaats – etwa auf den Level des deutschen Sozialstaats – festgeschrieben469. Systematisch spricht jedoch einiges für die namentlich von Classen vertretene Ansicht, die in der Differenzierung zwischen Art. 23 Abs. 1 S. 1 und S. 3 GG, der unter anderem die deutsche Sozialstaatlichkeit schützt, ein Argument für die zwingende Verpflichtung der Europäischen Union sieht, zumindest unmittelbare soziale Konsequenzen von Europapolitik durch unionseigene Tätigkeit anzugehen470. Innerstaatlich begründet Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG lediglich eine verbindliche Verpflichtung der deutschen Staatsorgane, die „soziale Dimension“ 471 der Europäischen Union zu fördern472. 465

Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 30. Schmahl (Fn. 181), Art. 23 Rn. 6; zum Bestand und zu möglichen Entwicklungen des europäischen Sozialrechts siehe ferner E. Eichenhofer, Das Europäische Sozialrecht – Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektiven, in: JZ 1992, S. 269 ff.; C. Koenig, Die europäische Sozialunion als Bewährungsprobe der supranationalen Gerichtsbarkeit, in: Europarecht 29 (1994), S. 175 ff.; umfassend: H. Kuhn, Die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaft, 1995; K.-D. Borchardt, Der sozialrechtliche Gehalt der Unionsbürgerschaft, in: NJW 2000, S. 2057 ff. 467 Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 26 f.; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 64; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 30. 468 Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 27; Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 35, der jedoch die Zusicherung eines allgemeinen Existenzminimums für erforderlich hält. 469 Dieser deutsche Sozialstaats ist laut Bundesverfassungsgericht im Wesentlichen durch die rechtliche Verpflichtung des Staats zur Schaffung gerechter sozialer Sicherungssysteme gekennzeichnet, siehe BVerfGE 28, 324 (348 ff.); 45, 367 (387); 68, 193 (209); dazu auch Pieper, Grundgesetz (Fn. 139), S. 214 f.; zum Sozialstaatsprinzip als Rechtsgebot ferner Wahl, Elemente (Fn. 72), S. 1043; zum Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips als Fernwirkung des Demokratieprinzips siehe BVerfGE 59, 231 (263). 470 Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 35 sieht nur dann einen eigenständigen Sinn in der Forderung aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG und begründet deren Erfüllung mit den sozialpolitischen Bestimmungen zum Arbeitsrecht (Art. 151 ff. AEUV), zum Sozialfonds (Art. 162 ff. AEUV) sowie zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt (Art. 174 ff. AEUV). 471 Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 31. 472 Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 27; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 64; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 31. 466

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

115

dd) Föderative Grundsätze Die Europäische Union muss gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zudem föderativen Grundsätzen verpflichtet sein. Diese Anforderung mag auf den ersten Blick einen Schutz der deutschen Bundesländer in ihrem Bestand und vor der Aushöhlung ihrer Kompetenzen darstellen. Dieser ist jedoch bereits über Art. 79 Abs. 3 GG gesichert, welcher gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG eine weitere Integrationsschranke bildet473. Der Forderung nach föderativen (nicht: bundesstaatlichen!) Grundsätzen auf europäischer Ebene muss daher eine weitergehende Bedeutung zukommen474. Die Bundesorgane sind durch die Struktursicherungsklausel verpflichtet, auf Unionsebene das Prinzip des Föderalismus dahingehend zu fördern, dass in der Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten eine Zentralisierung der Organstrukturen hin zu einem Zentralstaat zu verhindern ist475. Diese Anforderung ist eng verknüpft mit dem Grundsatz der Subsidiarität (ff), wirkt sie doch ebenso auf die Kompetenzverteilung zwischen Union und Gliedstaaten ein, um einer zentripedalen Verschiebung der Kompetenzen an die Europäische Union vorzubeugen476. Welche konkrete Ausgestaltung des Föderalismus auf europäischer Ebene gewählt wird, bleibt jedoch offen. Eine Europäische Union in Form eines Europäischen Bundesstaats ist nur eine Option, die weder gefordert noch (durch Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG) ausgeschlossen ist477. Ebenso wenig lassen sich aus der Forderung weitere konkretisierende Vorgaben entnehmen, wie etwa eine Erweiterung der Kompetenzen des Ausschusses der Regionen (Art. 305–307 AEUV)478. 473 Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 425 sieht in dem Bezug auf die „föderativen Grundsätze“ daher eine „verwirrende“ Regelung. Zu Art. 79 Abs. 3 GG als Integrationsgrenze sogleich (2). 474 Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 32; Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 29, Art. 24 Rn. 53. 475 Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 28; Hobe (Fn. 76), Art. 23, Rn. 31; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 65; Everling, Überlegungen (Fn. 158), S. 945. 476 Vgl. zum Begriff der „zentripedalen Kompetenzverschiebung“ in Bezug auf die Fortgeltung des Bundesstaatsprinzips bereits Pieper, Grundgesetz (Fn. 139), S. 211 f. 477 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 65; Scholz (Fn. 179), Art. 23 (2009) Rn. 63; anders Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 425, der eine gliedstaatliche Rechtsstellung des Bundes innerhalb der Europäischen Union als nicht ausreichend ansieht, um die garantierte Gliedstaatlichkeit der deutschen Länder auf europäischer Ebene adäquat zu ersetzen. Wenngleich die Bedenken in der Sache berechtigt erscheinen, lässt sich das Verbot eines europäischen Bundesstaats aus der Forderung nach föderativen Grundsätzen wohl nicht ableiten; zur hier relevanteren Schranke aus Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG siehe 2. d). 478 Dieser Ausschuss besteht aus „Vertretern der regionalen und lokalen Gebietskörperschaft“. Für eine Erweiterung der Kompetenzen des Ausschusses argumentiert C. Calliess, Das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip (Art. 3b EGV) als „Grundsatz der größtmöglichen Berücksichtigung der Regionen“, in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1996), S. 509 (535); kritisch hingegen P. Badura, Die „Kunst der

116

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Die Verpflichtung der Europäischen Union auf föderative Grundsätze beruht auf der Erkenntnis, dass der Gestaltungsreichtum des Föderalismus nicht auf einen Bundesstaat oder gar einen Bundesstaat bestimmten Zuschnitts beschränkt bleibt. Er kann auch auf supranationaler Ebene verwirklicht werden. Auf Ebene der Europäischen Union zeigt er sich allgemein wiederum in der Verpflichtung des Art. 6 Abs. 3 EUV, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten, zu der deren Staatlichkeit und deren verfassungsrechtliche Autonomie und damit auch die Rücksichtnahme auf deren bundesstaatliche oder regional geprägte Binnengliederung zu zählen sind479. Zudem sind der in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der Unionstreue480, der dezentrale Vollzug des Gemeinschaftsrechts sowie die Organe des Europäischen Rats (Art. 15 EUV; Art. 235– 236 EUV) und des Rats (Art. 237–243 AEUV) konkrete Ausprägungen des Föderalismus481. Umgekehrt lässt es aus Unionssicht die Achtung der inneren Verfassungsstruktur der Mitgliedstaaten nicht zu, diesen selbst eine föderative Binnenstruktur zu oktroyieren482. ee) Ein dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG erfordert für die Europäische Union, an deren Entwicklung die Bundesrepublik Deutschland mitzuwirken verpflichtet ist, zudem einen „dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren“ Grundrechtsschutz. (1) Entstehungsgeschichte und Gewährleistungsgehalt der Vorgabe Der Wortlaut dieser Vorgabe verrät ihre Herkunft aus der Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 24 Abs. 1 GG483, welches die föderalen Form“ – der Bundesstaat in Europa und die europäische Föderation, in: ders./ Rupert Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens, 1993, S. 369 (383); Breuer (Fn. 419), S. 425; Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 29; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 33. 479 Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 28; Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 44; M. Hilf, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, in: VVDStRL 53 (1994), S. 7 (17); Randelzhofer (Fn. 162), Art. 24 Abs. 1 (1992), Rn. 202; dazu ausführlich A. Epiney, Gemeinschaftsrecht und Föderalismus: „Landes-Blindheit“ und Pflicht zur Berücksichtigung innerstaatlicher Verfassungsstrukturen, in: Europarecht 29 (1994), S. 301 (301); siehe auch die Begründung der Bundesregierung in BT-Drs. 12/3338, S. 6. 480 Siehe noch zur Vorgängernorm des Art. 10 EGV BVerfGE 189, 155 (202). 481 Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 35. 482 Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 29; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 66; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 36. 483 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 72; Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 42; so auch der Abschlussbericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, S. 21:

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

117

grundsätzliche Existenz eines solchen Grundrechtsniveaus für die Europäische Union nach anfänglichen Bedenken484 bis auf weiteres bestätigte485. Die Aufnahme des Grundrechtsschutzes in die Strukturklausel zeigt, dass die im Grundgesetz garantierten Grundrechte zu den konstituierenden Strukturelementen der deutschen Verfassungsrechtsordnung zählen (Art. 1 Abs. 3 GG), welche auch im Rahmen der europäischen Integration nicht aufgegeben werden dürfen486. Sie ist ferner eine Reaktion auf den gesteigerten Bedarf an Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene, welcher gegenüber einer mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten supranationalen Organisation wie der Europäischen Union nicht allein durch die einzelnen Mitgliedstaaten gewährleistet werden kann487. Wenngleich sich die Forderung am Grundrechtsschutz des Grundgesetzes orientiert, zielt sie nicht auf einen identischen, deckungsgleichen Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene ab488. Ein solcher Anspruch würde im Hinblick auf die unterschiedlichen Grundrechtstraditionen in den Mitgliedstaaten einer praktischen Verhinderung der Integrationsfähigkeit Deutschlands gleichkommen489. Entscheidend ist vielmehr eine funktionale Adäquanz490 des Grundrechtsschutzes, welcher etwa nationalen Grundrechten entsprechende Kriterien für die Einzelfallabwägung zwischen Individual- und Allgemeininteressen aufweist491. Modifikationen sind – in den Grenzen der Vergleichbarkeit gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG – sowohl für die Reichweite des Schutzbereichs als auch für die Schutzinhalte der einzelnen Grundrechte zulässig492. Den verfassungsrechtlichen Erfordernissen genügt es, „wenn die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemein„[. . .] knüpft er [Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG] an die sogenannte ,Solange-Rechtsprechung‘ [sic] des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 37, 271 ff.; 73, 339 ff.) an“. Diese hatte einen dem Grundgesetz „im wesentlichen gleich zu achtenden Grundrechtsschutz“ gefordert; ähnl. Arnold, Bundesverfassungsgericht (Fn. 61), S. 3 („Fernwirkung“). 484 BVerfGE 37, 271 – Solange I. 485 BVerfGE 73, 339 – Solange II. Bisweilen geäußerten Mutmaßungen über den Grund der Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts zu der in der Solange II-Entscheidung eingeschlagenen Richtung im späteren Maastricht-Urteil (BVerfGE 89, 155 [174 f.]) wurde schließlich im Bananenmarkt-Urteil durch Einräumung eines „Missverständnisses“ die Grundlage entzogen (BVerfGE 102, 147 [164]); zur Entwicklung der Rechtsprechung siehe bereits Fn. 342. 486 BVerfGE 37, 271 (280). 487 Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 34. 488 BVerfGE 102, 147 (164); Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 34; Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 43; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 121 f. 489 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 72. 490 BVerfGE 37, 271 (280); 73, 339 (376 f.); Arnold, Bundesverfassungsgericht (Fn. 61), S. 3. 491 So wiederum Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 72, der diesen Maßstab zugleich mit Hinweis auf die Unterschiede zwischen nationalem und europäischem Gemeinwohl als „approximativ“ relativiert. 492 Näher dazu Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 43.

118

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

schaften generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt“ 493. Diesem Anspruch werden die aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickelten Unionsgrundrechte gerecht, die auch durch die nunmehr erlangte Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh)494 und unabhängig von einem Beitritt der Europäischen Union495 zu der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)496 als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts weitergelten (Art. 6 Abs. 3 EUV)497. Ob der Grundrechtsschutz im Einzelfall durch den Gerichtshof der Europäischen Union immer vollständig gewährleistet wird, mag zweifelhaft sein498. Entscheidend ist jedoch allein die generelle Wahrung eines Grundrechtsstandards, der dem des Grundgesetzes nach den genannten Kriterien vergleichbar ist499. (2) Verfassungsauftrag zur Fortentwicklung der Grundrechte auf europäischer Ebene Die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG begründet für die deutschen Staatsorgane desweiteren den Verfassungsauftrag, in der künftigen Europäischen Union den Schutz der Grundrechte in materieller sowie prozessualer Hinsicht fortzuentwickeln500. Dieser Auftrag scheint vorerst, zumindest im Hin493

BVerfGE 102, 147 (164). So ausdrücklich Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 EUV. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. 2000/C 364/01) wurde ursprünglich vom ersten europäischen Konvent erarbeitet, vom Europäischen Parlament sowie vom Rat der Europäischen Union gebilligt und zur Eröffnung des Regierungskonferenz von Nizza am 7. Dezember 2000 erstmals feierlich proklamiert. Rechtskraft erlangte sie nach Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrags jedoch erst am 1. Dezember 2009, gemeinsam mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon. Die Charta wurde damit von einer Rechtserkenntnisquelle zu einer „echten“ Rechtsquelle der Unionsgrundrechte, vgl. dazu ausführlich H. D. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Kommentar, 2010, Einl. Rn. 2 ff., 8. 495 Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV sieht den Beitritt der Europäischen Union ausdrücklich vor und bildet damit rechtlich sowohl die Verpflichtung als auch die Grundlage für diesen Schritt. Vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon konnte die Union – selbst in dem Falle, dass alle 27 Mitgliedstaaten zu den Unterzeichnern gehören – die Konvention mangels eigener Rechtspersönlichkeit nicht unterzeichnen. 496 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, BGBl. 1952 II S. 685, für die Bundesrepublik Deutschland am 3.9.1953 in Kraft getreten (aktuelle Fassung: BGBl. 2010 II, S. 1198). 497 Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 20. 498 So z. B. Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 20; Caspar, Nationale Grundrechtsgarantien und sekundäres Gemeinschaftsrecht, in: DÖV 2000, S. 349 (357 ff.); Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 44; a. A. Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 77. 499 So ausdrücklich Jarass (Fn. 138), Art. 1 Rn. 46; Art. 23 Rn. 20. 500 So Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 74. Zum Teil wird der Anforderung an einen dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsschutz auch ein institutionell-verfahrensrechtlicher Aspekt zugeschrieben, welcher eine zunächst abschließende Klärung des 494

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

119

blick auf eine ausreichende Grundrechtsjudikatur erfüllt zu sein: Das Bundesverfassungsgericht übt bis auf weiteres den Grundrechtsschutz in dem vielzitierten „Kooperationsverhältnis“ 501 zum Gerichtshof der Europäischen Union aus. Letzterer prüft im Einzelfall die Akte der Unionsorgane auf ihre Vereinbarkeit mit den Unionsgrundrechten und den Grundsätzen des Unionsrechts. Das Bundesverfassungsgericht behält eine allgemeine „Hüterrolle“ 502 im Hinblick auf einen adäquaten Grundrechtsschutz nach europäischem Standard. Der Prüfungsmaßstab ist das Grundgesetz, welches gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG den Strukturunterschieden zwischen Bundesrepublik und Union geschuldete Relativierungen zugunsten der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union zulässt, was damit auch zugunsten europäischer Vollzugsakte gilt503. Geht man also davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht nur Maßnahmen der deutschen öffentlichen Gewalt überprüft504, so sind Gegenstand der Prüfung lediglich die Begründungs- und Vollzugsakte von Unionsrecht durch ein deutsches Staatsorgan. Soll hingegen die verfassungsrechtliche Vereinbarkeit von Akten der Unionsorgane geprüft werden, kann dies nur inzident über das Zustimmungsgesetz zu dem Gründungsvertrag erfolgen, das diese Akte ermöglicht505. ff) Grundsatz der Subsidiarität Die Europäische Union muss gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG auch dem Grundsatz der Subsidiarität506 verpflichtet sein.

Verhältnisses von Gerichtshof der Europäischen Union und Bundesverfassungsgericht erfordere, so z. B. Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 42 ff. 501 Wortschöpfung in BVerfGE 89, 155 (175); siehe dazu Fn. 114, 355. 502 Arnold, Bundesverfassungsgericht (Fn. 61), S. 3. 503 So unter anderem Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 49, der dies als zwingende Konsequenz des Konzepts eines einheitlichen Prüfungsmaßstabs gegenüber Begründungs- und Vollzugsakten sieht. 504 BVerfGE 118, 79 (95): „Das Bundesverfassungsgericht ist grundsätzlich gehindert, über die Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht zu entscheiden, da es sich hierbei nicht um einen Akt deutscher Staatsgewalt handelt“. 505 Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 50. 506 Der Begriff bezieht sich inhaltlich auf das unionsrechtliche Subsidiaritätsprinzip in Art. 3b Abs. 2 EGV in der Form des Vertrags von Maastricht, welches die Ausübung der konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnisse im Verhältnis zwischen (damaliger) Europäischer Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten betraf, so Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 30; zur Subsidiarität als Strukturprinzip der Europäischen Union statt vieler P. Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: Archiv des öffentlichen Rechts 119 (1994), S. 169 ff.; H. D. Jarass, EG-Kompetenzen und das Prinzip der Subsidiarität nach Schaffung der Europäischen Union, in: EuGRZ 1994, S. 209 ff.; H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip – Strukturprinzip einer europäischen Union, 1993 sowie zuletzt C. Ladenburger, Anmerkungen zu Kompetenzordnung und Subsidiarität nach dem Vertrag von Lissabon, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 14 (2011), S. 389 ff.

120

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Dieses „Bauprinzip“ 507 der Europäischen Union war – im Gegensatz zu den anderen in der Struktursicherungsklausel enthaltenen Grundsätzen – kein vor der Neufassung des Art. 23 GG im Grundgesetz vorhandenes Verfassungsprinzip508. Die Aufnahme in den Text des Grundgesetzes bekräftigt die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips als strukturelles Element der Europäischen Union zum Schutz der Identität der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Befugnisse509. Es ordnet im mehrstufigen System des Staatenverbunds für den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnisse zwischen Europäischer Union und deren Mitgliedstaaten eine grundsätzliche Nachrangigkeit der (bürgerferneren) europäischen Regelungszuständigkeit an510. (1) Inhalt des Verfassungsauftrags Durch die Platzierung der Subsidiaritätsverpflichtung in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG besteht für die deutschen Staatsorgane der Verfassungsauftrag zur Präventivkontrolle511 der supranationalen Kompetenzausübung. Es soll sichergestellt werden, dass die Europäische Union „in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen“ (vgl. Art. 2 Abs. 2, Art. 4 AEUV), „nur tätig wird, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind“ 512. Im Maastricht-Urteil wurde Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG mangels dem Grundgesetz zu entnehmender Kriterien vom Bundesverfassungsgericht dahingehend konkreti507

Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 68. Scholz (Fn. 179), Art. 23 (2009) Rn. 99; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 122 (dort Fn. 588) weist jedoch (mit Verweis auf R. Herzog, Subsidiaritätsprinzip und Staatsverfassung, in: Der Staat 2 (1963), S. 399 [415 ff.]) darauf hin, dass vor der Aufnahme der Subsidiarität in Art. 23 GG in diesem Grundsatz nach h. M. zwar kein verfassungsrechtliches, jedoch ein „wertvolles Prinzip der Sozialordnung und ein Gebot politischer Klugheit“ gesehen wurde. 509 Das Bundesverfassungsgericht macht die effektive Umsetzung dieses Prinzips zur Verhinderung „einer Erosion mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten und damit einer Entleerung der Aufgaben und Befugnisse des Bundestages“ neben der hierfür bedeutsamen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union „maßgeblich von der Praxis des Rates als dem eigentlichen Gesetzgebungsorgan der Gemeinschaft“ abhängig (BVerfGE 89, 155 [211]). 510 Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 30. 511 BVerfGE 89, 155 (211); Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 38; Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 30 ff.; Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 45; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 71; Hilf, Union (Fn. 479), S. 13; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 130; S. U. Pieper, Subsidiaritätsprinzip – Strukturprinzip der Europäischen Union, in: DVBl. 1993, S. 705 (710); I. E. Schwartz, Subsidiarität und EG-Kompetenzen. Der neue Titel „Kultur“, Medienvielfalt und Binnenmarkt, in: AfP 1993, S. 409 (416). 512 So der Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 EUV, welcher den Subsidiaritätsgrundsatz auf Unionsebene enthält. 508

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

121

siert, dass die Bundesregierung die Pflicht treffe, ihren Einfluss im Europäischen Rat zugunsten einer strikten Handhabung des Subsidiaritätsgedankens gemäß Art. 3b Abs. 1 EGV (entspricht dem heutigen Art. 5 Abs. 3 EUV) geltend zu machen513. Der Kontrollauftrag richtet sich primär an den jeweiligen deutschen Vertreter im Europäischen Rat, welcher an der Verhandlung und Beschlussfassung über die Gesetzgebung der Union beteiligt ist. Ferner sind jedoch Bundestag und Bundesrat, deren Stellungnahmen gemäß Art. 23 Abs. 2–7 GG in den legislativen Prozess miteinfließen, an ihn gebunden514. Die Aufnahme des Grundsatzes in die Struktursicherungsklausel kommt dem Anliegen der deutschen Bundesländer nach, ihre Eigenständigkeit bei fortschreitender europäischer Integration abzusichern, und dient mittelbar dem Schutz der Kommunen in ihrem Recht auf Selbstverwaltung in der Bundesrepublik515. Der unionsrechtliche Bezugspunkt der grundgesetzlichen Subsidiaritätsanforderung an die Europäische Union findet sich in dem unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzip gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV beziehungsweise in dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit516 wieder517. Für die Tätigkeit der Unionsorgane begründet das Subsidiaritätsprinzip als Argumentations- und Beweislastregel518 die rechtliche Verpflichtung, im Rahmen der Begründungspflicht (vgl. Art. 296 Abs. 2 EUV) in jedem einzelnen Fall eine objektiv nachvollziehbare, dem sachlichen Rege513 BVerfGE 89, 155 (211); dazu K. M. Meessen, Maastricht nach Karlsruhe, in: NJW 1994, S. 549 ff. 514 BVerfGE 89, 155 (211 f.); Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 38; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 71. 515 Siehe BT-Drs. 12/3338, S. 6; BT-Drs. 12/3896, S. 17 („[. . .] daß der Begriff der Subsidiarität in der Bundesrepublik Deutschland auch die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung einschließt“); BT-Drs. 12/6000, S. 21; wie hier Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 33; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 37; H.-J. Papier, Kommunale Daseinsvorsorge im Spannungsfeld zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht, in: DVBl. 2003, S. 686 (691 f.); kritisch zum unmittelbaren Schutz der kommunalen Selbstverwaltung durch die Aufnahme des Subsidiaritätsgrundsatzes (zur Vorgängervorschrift des Art. 5 Abs. 2 EGV) unter anderem Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 69 sowie A. Schink, Kommunale Daseinsvorsorge in Europa, in: DVBl. 2005, S. 861 (864 f.). 516 Bekanntgemacht im ABl. 2004/C 310/207 am 16.12.2004. Das Subsidiaritätsprinzip wurde durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) vom 1.7.1987 (ABl. 1987/L 169 = BGBl. 1986 II, S. 1102) für die Umweltpolitik der damaligen Europäischen Gemeinschaft eingeführt. Seit dem Vertrag von Maastricht ist das Subsidiaritätsprinzip in den Gründungsverträgen der Europäischen Union verankert. Seit 2004 sind nunmehr die Details der Anwendung und die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union für Klagen wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips in genanntem Protokoll geregelt. 517 Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 37, 39; Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 31; S. Broß, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand des Europäischen Einigungsprozesses: Probleme, Risiken und Chancen in: EuGRZ 2002, S. 574 (575 ff.). 518 E. Klein/A. Haratsch, Neuere Entwicklungen des Rechts der Europäischen Gemeinschaften, in: DÖV 1993, S. 785 (791); Jarass, EG-Kompetenzen (Fn. 506), S. 213.

122

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

lungsbereich angemessene Darlegung der Erforderlichkeit der Ausübung ihrer Befugnisse auf Unionsebene zu liefern519. Aus dieser muss sich ergeben, dass das Handeln auf nationaler Ebene nicht ausreichend und die Regelung auf supranationaler Ebene besser geeignet ist, um den Regelungszweck zu erreichen520. Als Regelung zur Kompetenzauslegung521 und Beurteilungsmaßstab für den Europäischen Gerichtshof kann das Subsidiaritätsprinzip also zur Wahrung der nationalen Identität der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union sowie zur Erhaltung nationaler Kompetenzen beitragen522. Der Bezug auf den Grundsatz der Subsidiarität in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG bildet, über seine Bedeutung als verfassungsrechtliches Pendant des Art. 5 Abs. 3 EUV hinaus, den Maßstab für die konkrete Kompetenzverteilung zwischen supranationaler und nationaler Regelungsebene. Als Schranke für die Übertragung weiterer Hoheitsrechte auf die Europäische Union im Falle einer Begründung neuer Unionskompetenzen begründet der Grundsatz eine Darlegungslast auch für die Bundesregierung gegenüber Bundestag und Bundesrat. Erforderlich ist eine objektiv nachvollziehbare Begründung dafür, dass der übertragene Gegenstand die Leistungsfähigkeit auf nationaler Ebene – durch den Bund, die Länder oder die Kommunen – nicht sinnvoll und wirksam erledigt werden kann523. Selbst unter Berücksichtigung eines politischen Beurteilungsspielraums verstößt eine Hoheitsrechtsübertragung somit jedenfalls gegen Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, wenn eine solche Prüfung und Begründung nicht (ausreichend) erfolgen524. (2) Perspektiven der Subsidiaritätsrüge und -klage Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon bietet sich den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten durch die in Art. 5 Abs. 3 UAbs. 2 S. 2 EUV und im Subsidiaritätsprotokoll525 vorgesehenen Rechtsbehelfe der Subsidiaritätsrüge und 519 Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 39; Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 46; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 128 f. 520 Jarass, EG-Kompetenzen (Fn. 506), S. 212; Oppermann/Classen, Union (Fn. 168), S. 8; Pieper, Subsidiaritätsprinzip (Fn. 511), S. 711 f. 521 Jarass, EG-Kompetenzen (Fn. 506), S. 211; Klein/Haratsch, Entwicklungen (Fn. 518), S. 791; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 128. 522 So bereits U. Everling, Reflections on the Structure of the European Union, in: Common Market Law Review 29 (1992), S. 1053 (1070 ff.); kritisch zur effektiven gerichtlichen Durchsetzung des Prinzips aufgrund seiner allgemeinen Formulierung unter anderem Oppermann/Classen, Union (Fn. 168), S. 8; Jarass, EG-Kompetenzen (Fn. 506), S. 212; Schede, Bundesrat (Fn. 158), S. 31. 523 Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 33; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 73. 524 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 71. 525 Vgl. Art. 6 Abs. 1 S. 1 und Art. 8 des Protokolls (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (ABl. 2010/C-83/206 v. 30.3. 2010).

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

123

-klage nunmehr die Möglichkeit, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips durch die Organe der Europäischen Union zu kontrollieren526. Ziel der Regelungen ist es, die Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips als Kompetenzschranke der Europäischen Union zu verbessern und die Stellung der nationalen Parlamente im europäischen Rechtsetzungsverfahren angesichts des viel beklagten demokratischen Defizits zu stärken527. Gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 des Subsidiaritätsprotokolls können die nationalen Parlamente oder deren Kammern bereits im Entwurfsstadium eines europäischen Gesetzgebungsakts tätig werden. Konkret können sie binnen sechs Wochen nach Übermittlung dieses Entwurfs anhand einer begründeten Stellungnahme an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission eine ihres Erachtens drohende Verletzung des Subsidiariätsprinzips rügen528. Zudem stellt die Subsidiaritätsklage als spezielle Form der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 Abs. 2 AEUV für die nationalen Parlamente (die im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten nicht gemäß Art. 263 Abs. 2 AEUV privilegiert klageberechtigt sind) eine Möglichkeit dar, ihre Begleit- und Kontrollfunktion im Rahmen der ex ante ansetzenden Subsidiaritätsrüge auch ex post gerichtlich abszusichern529. Auf nationaler Ebene regeln der im Jahre 2009 geschaffene530 Art. 23 Abs. 1a GG sowie § 12 IntVG ausdrücklich das Recht von Bundestag und Bundesrat, wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts der Europäischen Union gegen das Subsidiaritätsprinzip Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu erheben531. Gemäß Art. 23 Abs. 1a S. 2 GG ist der Bun526 Calliess, Union (Fn. 17), S. 194 ff.; Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 50; M. Kötter, in: von Arnauld/Hufeld, Systematischer Kommentar (Fn. 14), S. 284; F. Shirvani, Die europäische Subsidiaritätsklage und ihre Umsetzung ins deutsche Recht, in: JZ 2010, S. 753 (753). 527 Shirvani, Subsidiaritätsklage (Fn. 526), S. 753; zu den vorherigen Beratungen im Europäischen Konvent und der Aufnahme in den Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrags C. Mellein, Subsidiaritätskontrolle durch nationale Parlamente – eine Untersuchung zur Rolle der mitgliedstaatlichen Parlamente in der Architektur Europas 2007, S. 112 ff. sowie H.-J. Papier, Das Subsidiaritätsprinzip – Bremse des europäischen Zentralismus?, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort – Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 691 (698 ff.). 528 Zur Umsetzung und Ausgestaltung dieser Rügemöglichkeit in § 11 IntVG siehe W. Frenz, Subsidiaritätsprinzip und -klage nach dem Vertrag von Lissabon, in: Jura 2010, S. 641 (644 f.); Kötter (Fn. 526), S. 284 ff.; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 136 f.; R. Uerpmann-Wittzack, Frühwarnsystem und Subsidiaritätsklage im deutschen Verfassungssystem, in: EuGRZ 2009, S. 461 (462) sowie Wittreck, Wächter (Fn. 17), S. 125. 529 Calliess, Union (Fn. 17), S. 202; Mellein, Subsidiaritätsklage (Fn. 527), S. 254; Shirvani, Subsidiaritätsklage (Fn. 526), S. 754; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 136; Uerpmann-Wittzack, Frühwarnsystem (Fn. 528), S. 462. 530 Art. 23 Abs. 1a GG wurde mit Wirkung zum 1.12.2009 durch das 53. Änderungsgesetz v. 8.10.2008 (BGBl. 2008 I, S. 1926) ins Grundgesetz eingefügt. 531 Die § 12 Abs. 3, 4 IntVG regeln, dass die Bundesregierung die Klage „im Namen des Organs“, das über ihre Erhebung gemäß Absatz 1 oder gemäß Absatz 2 beschlossen hat, unverzüglich an den Gerichtshof der Europäischen Union übermittelt und dass das Organ, welches die Erhebung der Klage beschlossen hat, die Prozessführung übernimmt. Aus dieser Konstellation folgt Uneinigkeit bezüglich der Rolle der Bundesregie-

124

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

destag hierzu auf Antrag bereits eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet532. Sinn und Zweck der hier vorgesehenen Klagepflicht des Deutschen Bundestags liegen laut Bundesverfassungsgericht darin, „der Parlamentsminderheit die Befugnis zur Geltendmachung der Rechte des Deutschen Bundestags auch dann zu erhalten, wenn dieser seine Rechte, insbesondere im Verhältnis zu der von ihm getragenen Bundesregierung, nicht wahrnehmen will“ 533. Entgegen zuvor geäußerter Zweifel hält das Gericht diese Regelung auch im Hinblick auf das Quorum von einem Viertel der Mitglieder des Bundestags für verfassungsrechtlich unbedenklich534. Zwar weiche die Verpflichtung des Bundestags, die Klage bereits auf Verlangen eines Viertels seiner Mitglieder zu erheben, vom Mehrheitsprinzip des Art. 42 Abs. 2 GG ab. Dies sei jedoch schon deshalb unproblematisch, weil hier nicht Entscheidungen mit regelnder Wirkung in Frage stünden, sondern lediglich die Befugnis zur Anrufung eines Gerichts535. rung (als Klägerin oder Prozessstandschafterin), vgl. C. Ohler, in: R. Streinz/C. Ohler/ C. Hermann (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 3. Aufl. 2010, S. 275; Kötter (Fn. 528), S. 292, unterscheidet zwischen antragsberechtigtem Parlament und klageberechtigtem Mitgliedstaat, welcher wiederum vertreten durch die Regierung als Prozessführer auftritt, und konstatiert angesichts dieser Trennung „besonderen Abstimmungsbedarf“; ebenso Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 136. 532 Dazu R. Uerpmann-Wittzack/A. Edenharter, Subsidiaritätsklage als parlamentarisches Minderheitsrecht?, in: Europarecht 44 (2009), S. 313 ff. 533 So BVerfGE 123, 267 (431) mit Betonung darauf, dass den Oppositionsfraktionen als dem Gegenspieler der Regierungsmehrheit der Rechtsweg zum Gerichtshof der Europäischen Union eröffnet werden soll, um „die tatsächliche Geltendmachung der dem Parlament im europäischen Integrationsgefüge vorbehaltenen Rechte zu ermöglichen“, und dass die Subsidiaritätsklage auch in der französischen Verfassung unter anderem als parlamentarisches Minderheitenrecht ausgestaltet ist; dazu Frenz, Subsidiaritätsprinzip (Fn. 528), S. 645. 534 BVerfGE 123, 267 (431 f.); Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 50; P. Melin, Die Rolle der deutschen Bundesländer im Europäischen Rechtsetzungsverfahren nach Lissabon, in: Europarecht 46 (2011), S. 655 (674) weist zu Recht darauf hin, dass das Gericht die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Einführung eines Minderheitsrechts im Bundesrat nicht thematisiert hat. Melin bezweifelt, dass die für den Bundestag genannten Argumente für die Verfassungsmäßigkeit eines Minderheitsrechts, (insbes. die Gefahr eines kollusiven Zusammenwirkens von Bundestag und Bundesregierung) bei einem Minderheitsrecht innerhalb des Bundesrats in gleichem Maße zutreffen; ebenso schon T. Gas, Macht das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Option der De-facto-Subsidiaritätsklage durch ein Bundesland unmöglich?, in: DÖV 2010, S. 313 (318). 535 BVerfGE 123, 267 (431) mit Verweis auf die ebenfalls (seit dem 53. ÄndG) bestehende Antragsberechtigung eines Viertels der Mitglieder des Bundestags im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG; laut Entwurfsbegründung sollen beide genannten Quoren an das bereits für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gemäß Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG maßgebende Quorum angelehnt werden und die Verhinderung missbräuchlicher Ausübung des Minderheitenrechts bezwecken, siehe BT-Drs. 16/8488, S. 4 sowie Shirvani, Subsidiaritätsklage (Fn. 526), S. 754; kritisch zur Europarechtskonformität der Vorschrift Uerpmann-Wittzack/Edenharter, Subsidiaritätsklage (Fn. 532), S. 328, die resümieren, dass das Europarecht keinen Raum für eine Ausgestaltung der Subsidiaritätsklage als Minderheitsrecht lasse: „Eine Konstruktion, bei der sich ein Kollegialorgan in seinem Verhältnis zu anderen

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

125

Ob sich die mit Art. 23 Abs. 1a GG eingefügten Änderungen in der Praxis als effektive Kontrollmittel bewähren, dürfte maßgeblich davon abhängen, wie die nationalen Parlamente die genannten Befugnisse in der Praxis wahrnehmen, insbesondere welchen Stellenwert sie ihnen beimessen536. Einflussreich dürfte auch die zukünftige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sein und die Frage, inwiefern dieser zur Kriterienpräzisierung des Subsidiaritätsgrundsatzes beiträgt537. Jedenfalls lässt sich die Aufnahme des Rüge- und Klagemechanismus in die supranationale und die nationale Rechtsordnung als Zeichen dafür interpretieren, dass die Bedenken der nationalen Parlamente hinsichtlich der hinreichenden Beachtung des Subsidiaritätsprinzips durch die Unionsorgane durchaus ernst genommen werden. 2. Art. 79 Abs. 3 GG als Grenze der Hoheitsrechtsübertragung Die sogenannte Verfassungsbestandsklausel538 in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG regelt, dass für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbarer Regelungen, durch die das Grundgesetz „seinem Inhalt nach ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden“, die in Art. 79 Abs. 2 und 3 GG formulierten Anforderungen Geltung finden539. Solche Integrationsakte mit verfassungsändernEinrichtungen den Willen einer Minderheit zu Eigen machen müsste, ist dem Europarecht fremd und auch in Art. 8 Abs. 1 Subsidiaritätsprotokoll nicht angelegt“; a. A. Frenz, Subsidiaritätsprinzip (Fn. 528), S. 645, der mit Betonung auf den Verweis auf die innerstaatliche Rechtsordnung in Art. 8 Abs. 1 des Subsidiaritätsprotokolls feststellt, dass die konkrete Entscheidung über über die Wahrnehmung des parlamentarischen Klagerechts im mitgliedsstaatlichen Recht relativ frei ausgestaltet werden könne. 536 Kötter (Fn. 528), S. 284; A. Thiele, Das Rechtsschutzsystem nach dem Vertrag von Lissabon – (K)ein Schritt nach vorn?, in: Europarecht 45 (2010), S. 30 (48) betont in diesem Zusammenhang, dass die nationalen Parlamente das notwendige „europäische Selbstbewusstsein“ entwickeln müssten und warnt vor einer Wiederholung des „deutsche[n] Desaster[s] um das Gesetz zum Europäischen Haftbefehl“. 537 Dieser Gedanke bei Frenz, Subsidiaritätsprinzip (Fn. 528), S. 645 sowie Shirvani, Subsidiaritätsklage (Fn. 526), S. 759, der dem Gerichtshof zur Wahrung der Kompetenzordnung im Mehrebenensystem anrät, die bisherige Rechtsprechung auf diesem Gebiet zu überdenken und dafür unter anderem das „institutionelle[n] Eigeninteresse“ des Gerichtshofs und die Vermeidung von Konflikten mit nationalen Verfassungsgerichten als Gründe anführt. 538 Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 422 et passim; Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 52; ähnl. Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 91 f. sowie Geiger, Mitwirkung (Fn. 175), S. 1094 („Bestandsicherungsklausel“). 539 Badura, Bundesstaat (Fn. 176), S. 8; in diesem Erfordernis liegt eine wichtige Änderung des Art. 23 GG zu der Vorgängervorschrift des Art. 24 Abs. 1 GG, da seither auch „Verfassungsdurchbrechungen“, die durch die Übertragung von Hoheitsrechten vollzogen werden und den Inhalt des Grundgesetzes ändern, nicht mehr mit einfacher Mehrheit beschlossen werden können; dies betonend Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 422; Scholz, Grundgesetz (Fn. 158), S. 2597, 2599; Klein/Haratsch, Entwicklungen

126

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

der Qualität, welche sich also auf den Inhalt des Grundgesetzes auswirken, bedürfen zunächst einer für Änderungen des Grundgesetzes vorgeschriebenen Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat (Art. 79 Abs. 2 GG). Eine ausdrückliche Änderung oder Ergänzung des Wortlauts muss hingegen nicht erfolgen: Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG nimmt auf die Vorschrift des Art. 79 Abs. 1 GG keinen Bezug540. Jedoch unterliegt die integrative Gewalt in materieller Hinsicht der „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG als „absoluter Verfassungsschranke“ 541. Neben der Struktursicherungsklausel hat der Verfassungsgesetzgeber also weitere materielle Anforderungen an die Übertragung von Hoheitsrechten formuliert, welche den äußersten Rahmen des auf dem „Boden des Grundgesetzes“ möglichen, durch den verfassungsändernden Gesetzgeber betriebenen Integrationspotentials darstellen542. a) Unterschiedliche Anknüpfungspunkte von Struktursicherungs- und Verfassungsbestandsklausel In Anbetracht dieser Dopplung materieller Integrationsgrenzen stellt sich die Frage, welcher Anwendungsbereich für die Integrationsgrenze des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG verbleibt, wenn bereits über die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG gefordert wird, dass für eine Hoheitsrechtsübertragung die in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Grundsätze – jedenfalls in strukturangepasster Grundsatzkongruenz543 – auch auf der Ebene der Europäischen Union vorliegen müssen544. (Fn. 518), S. 789; zum Zweck des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG als Schutz der staatlichen Souveränität und der Beteiligung des verfassungsändernden Gesetzgebers siehe Geiger, Beteiligung (Fn. 140), S. 200 f.; als „fragwürdige Renationalisierung“ hingegen stuft dies ein J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union – Beiträge zur aktuellen Entwicklung des Gemeinschaftsrechts, 1993, S. 23; zur umstrittenen Auslegung des Begriffs der „vergleichbaren Regelungen“ in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG siehe statt aller Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 48 ff.; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 99 ff.; zum historischen Kontext des Staatsbegriffs als Verlustbegriff in Verbindung mit der Internationalisierung und Europäisierung des Grundgesetzes siehe Möllers, Staat (Fn. 48), S. 141 (146). 540 Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 48; Klein/Haratsch, Entwicklungen (Fn. 518), S. 789; Scholz, Grundgesetz (Fn. 158), S. 2597; Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 422 bezeichnet dies als „im Hinblick auf verfassungsrechtliche Normenklarheit bedauerlich“. 541 Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 51; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 83; ders., Europäisierung (Fn. 106), S. 47; zu dieser Grenze Kirchner/Haas, Grenzen (Fn. 175), S. 760 ff.; U. Penski, Bestand nationaler Staatlichkeit als Bestandteil der Änderungsgrenzen in Art. 79 Abs. 3 GG – zugleich eine auf das Thema bezogene Stellungnahme zur Maastricht-Entscheidung des BVerfG, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1994, S. 192 (195). 542 Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 51; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 131; Huber, Maastricht (Fn. 79), S. 15; ausf. zur Schranke des Art. 79 Abs. 3 GG ders., Maastricht (Fn. 462), S. 15 ff. sowie E. Wohland, Bundestag, Bundesrat und Landesparlamente im europäischen Integrationsprozess. Zur Auslegung von Art. 23 Grundgesetz unter Berücksichtigung des Verfassungsvertrags von Europa und des Vertrags von Lissabon, 2008, S. 44 ff. („ultima ratio“).

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

127

Richtigerweise hat jedoch Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG einen eigenständigen, den Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG ergänzenden Regelungsgehalt545. Anders als die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG betrifft der Verweis auf Art. 79 Abs. 3 GG in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG nicht die Struktur und die Tätigkeit der Europäischen Union selbst als Adressatin der Hoheitsrechtsübertragung, sondern allein den Gegenstand der Übertragung und die innerstaatlichen Auswirkungen des jeweiligen Integrationsgesetzes nach Art. 23 Abs. 3 S. 1 GG546. Bildlich gesprochen setzt Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG im Gegensatz zu Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht bei der „Offensive der Europäisierung“ sondern bei der „Defensive des Grundgesetzes“ an, indem er normiert, dass die Bundesrepublik Deutschland bei und auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten einem Staat entsprechen muss, der die in Art. 79 Abs. 3 GG garantierten verfassungsrechtlichen Grundprinzipien aufweist547. Zudem berücksichtigt die getrennte Formulierung in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG, dass es durchaus zu Divergenzen zwischen den durch Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG für die Europäische Union in einer dem Integrationsprozess angemessenen Form geforderten Strukturprinzipien und den im Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland konkretisierten und in Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich erklärten Verfassungsprinzipien kommen kann548.

543

Siehe IV. 1. a) sowie Fn. 181, 427. Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 52 sieht hier sogar ein „gewisses Spannungsverhältnis“ zwischen den beiden Regelungen; ähnl. Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 83; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 131. 545 Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 33; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 131; dies verkennen in letzter Konsequenz wohl Autoren, die fragen, ob zur Sicherung des grundgesetzlichen Demokratieprinzips im Prozess der Europäischen Union eine „zusätzliche“ verfassungsrechtliche Kontrolle über Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG überhaupt möglich (vgl. Pache, Ende [Fn. 34], S. 291) beziehungsweise notwendig (vgl. Tomuschat, Lisbon [Fn. 34], S. 278 sowie Mirschberger, Einigung [Fn. 133], S. 246) sei, wenn doch schon Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ein demokratisches Mindestmaß bei der Kompetenzabgabe garantiere. 546 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 91; Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 51; Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 31. 547 Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 52; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 91; Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 422; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 131; sinngemäß K.-P. Sommermann, Staatsziel „Europäische Union“ – zur normativen Reichweite des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG n. F., in: DÖV 1994, S. 596 (600); eine Schwierigkeit im Umgang mit Art. 79 Abs. 3 GG besteht zudem darin, dass diese Vorschrift nicht die Grundgesetzartikel 1 und 20 als solche unter den Schutz der Unabänderbarkeit stellt, sondern lediglich die dort „niedergelegten Grundsätze“ (BVerfGE 30, 1 [24]). Andererseits sind diese Grundsätze wiederum uneingeschränkt geschützt, wie sich aus der Formulierung, die jede durch Verfassungsänderung verursachte „Berührung“ als unzulässig deklariert, entnehmen lässt, vgl. den Wortlaut von Art. 79 Abs. 3 GG; wie hier Huber, Recht (Fn. 76), S. 34; ders., Maastricht (Fn. 462), S. 16; zum Begriff der Unberührbarkeit Sachs, in: ders., Grundgesetz (Fn. 9), Art. 79 Rn. 32 ff. 548 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 91; Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 52; Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 52. 544

128

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

b) Gewährleistungsgehalte der Verfassungsbestandsklausel gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG Der in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG enthaltene Verweis auf die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG gewährleistet, dass neben rein nationalen Verfassungsänderungen auch Rechtsakte zur Verwirklichung des Staatsziels „Europäische Union“ die absolute „Tabuzone“ 549 der in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Verfassungsprinzipien der Gliederung des Bunds in Länder, deren grundsätzliche Mitwirkung bei der Gesetzgebung sowie die Grundsätze der Artikel 1 und 20 GG wahren müssen550. Die in Art. 79 Abs. 3 GG geregelte Bestandsgarantie schützt diese verfassungsrechtlichen Kernbereiche551 beziehungsweise Grundelemente552, ohne jedoch deren Fortentwicklung unter Wahrung der Prinzipien zu verhindern553. Im Einklang mit der zuvor zu Art. 24 Abs. 1 GG ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts554 wird damit die äußerste materielle Grenze des im Rahmen der europäischen Integration Möglichen definiert555. Berücksichtigt man zudem – wie bereits gesehen – die Qualität des Integrationsauftrags in der Präambel und in Art. 23 GG als Staatszielbestimmung, so wird deutlich, dass dieser Auftrag in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zu der Erhaltung der in Art. 79 Abs. 3 GG festgeschriebenen Verfassungsprinzipien steht556. 549

Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 422. So der Sonderausschuss „Europäische Union“ des Bundestags in der Beschlussempfehlung zum Gesetzentwurf des Art. 23 GG in BT-Drs. 12/3896, S. 18; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 132. 551 So beispielsweise der Bezug auf die Gehalte von Art. 79 Abs. 3 GG in BVerfGE 84, 90 (126) – Bodenreform I; 95, 48 (60) – Restitution und Vertragsanfechtung. 552 BVerfGE 84, 90 (127); 94, 12 (34) – Bodenreform II; 95, 48 (62). 553 BVerfGE 30, 1 (24); 84, 90 (120); Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 79; ebenso wohl Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 19. 554 BVerfGE 37, 271 (279 f.) – Solange I. Mangels ausdrücklicher Normierung der in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Strukturprinzipien als Grenze der Integrationsgewalt in Art. 24 Abs. 1 GG hatte das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung festgestellt, dass Art. 24 Abs. 1 GG „. . . nicht den Weg [eröffnet], die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung, nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtung zu ändern. [. . .] Art. 24 GG begrenzt diese Möglichkeit [der Rechtsetzung durch Unionsorgane], indem an ihm eine Änderung des Vertrags scheitert, die die Identität der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in die sie konstituierenden Strukturen aufheben würde“. 555 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 92; Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 51; zu der noch zu Art. 24 Abs. 1 GG teilweise vertretenen Ansicht, dieser enthalte die Möglichkeit zur „Durchbrechung der Verfassung“ durch einfaches Bundesgesetz, da Art. 79 Abs. 3 GG nicht anwendbar sei, vgl. Huber, Maastricht (Fn. 79), S. 15 m.w. N. 556 Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 52; kritisch insgesamt zur Legitimation der Festlegung unabänderlicher Bestandteile in Art. 79 Abs. 3 GG durch den Parlamentarischen Rat und dadurch entstehender „Fremdbestimmung“ nachgeborener Deutscher ist Möllers, Staat (Fn. 48), Einleitung S. XLV; es liegt daher nahe, den Bedeutungsgehalt des Verweises in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG im Wesentlichen auf den Kernbereich der deutschen 550

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

129

Sieht man die Integrationsermächtigung in Art. 23 Abs. 1 S. 1 und S. 2 GG als die maßgebliche Konkretisierung der „Europarechtsfreundlichkeit“ des Grundgesetzes an, so fällt auf, dass durch den Verweis in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG auf die Sperrklausel des Art. 79 Abs. 3 GG deren Schutzgüter von dieser europaaffinen Offenheit exkludiert sind. Zugespitzt könnte man Art. 79 Abs. 3 GG nach dieser Lesart daher als „europafeindlichsten“ Punkt des Grundgesetzes definieren; ein Haus, an dessen Tür ein Schild angebracht ist, welches den Integrationgsgesetzgeber adressiert und die Aufschrift „Bis hierhin und nicht weiter!“ 557 beziehungsweise „Kein Zutritt!“ trägt. Im Folgenden sollen die einzelnen Gewährleistungsgehalte dieser ultimativen Integrationsbegrenzung anhand der umfassenden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Urteil zum Vertrag von Lissabon558 dargestellt und einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Über allem steht hierbei die Garantie der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland im Prozess der europäischen Integration. In der Literatur wie in der (Lissabon-)Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts werden die Prinzipien der Staatlichkeit und der Demokratie quasi untrennbar verknüpft. Dies gilt neben der rein prozessualen Verknüpfung von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG (siehe unten V. 1.) auch in einem materiellrechtlichen Sinne559. Aus Gründen der Klarheit soll hier jedoch versucht werden, die einzelnen Gewährleistungsgehalte der souveränen Staatlichkeit (aa), des Demokratieprinzips (bb) sowie der Bundesstaatlichkeit (cc) möglichst getrennt zu behandeln, bevor Bundesstaatlichkeit und auf den Erhalt der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland zu reduzieren. Das Bundesverfassungsgericht spricht hier von einem nicht zu unterschreitenden „Mindeststandard“, siehe BVerfGE 89, 155 (172); 123, 267 (348); ebenso Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 84; Randelzhofer (Fn. 162), Art. 24 Abs. 1 (1992), Rn. 204; Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 51; Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 52 f.; P. Lerche, Europäische Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes, in: B. Bender/R. Breuer/ F. Ossenbühl/H. Sendler (Hrsg.), Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz. Festschrift für Konrad Redeker, 1993, S. 131 ff.; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 131 f. 557 Gleiche Formulierung bei Schönberger, Union (Fn. 34), S. 536; ebenso Lenz, Rechtsakt (Fn. 34), S. 7. 558 Das vielstimmige literarische Echo des Lissabon-Urteils enthält nicht wenige Stimmen, die dem Zweiten Senat vorwerfen, die in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ausdrücklich enthaltenen, detaillierten Integrationsgrenzen zugunsten der aus Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG abgeleiteten Integrationsgrenzen stark vernachlässigt zu haben, vgl. Halberstam/Möllers, Court (Fn. 34), S. 1253; Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 246; Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 336, 340; Schönberger, Union (Fn. 34), S. 536; Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 278 f. sowie zuletzt T. v. Danwitz, Unabhängig – und dann?, in: FAZ v. 22.3.2012, S. 8; ähnl. auch Pöttering, Europa (Fn. 31), S. 8, der nicht nachvollziehen kann, wieso das Grundgesetz als „Bremsklotz“ der europäischen Integration wirken solle, wenn Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG den Integrationsauftrag als „imperatives Mandat“ eindeutiger nicht formulieren könne. 559 Zu den einzelnen Arten normativer Verknüpfung zwischen Demokratieprinzip und Staatlichkeit siehe Möllers, Staat (Fn. 48), S. 406 ff.

130

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

untersucht wird, in welcher Beziehung der vielzitierte Begriff der „Identität“ des Grundgesetzes (dd) zu diesen Gewährleistungen steht. aa) Die Garantie souveräner Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland Im Zusammenhang mit der voranschreitenden Europäisierung des Verfassungsrechts in den achtziger und neunziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts wurde die in Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland als vorausgesetzte Integrationsgrenze zunächst durch eine auf Staat und Souveränität zugeschnittene einschränkende Auslegung von Art. 24 Abs. 1 GG gestützt560. Seit der Neuregelung des Art. 23 GG steht die Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union durch den Verweis in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auf die Integrationsschranke des Art. 79 Abs. 3 GG ausdrücklich unter der Bedingung, dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und unter Achtung der verfassungsrechtlichen Identität als Mitgliedstaat gewahrt bleibt561. (1) Etablierung der Souveränitätsgarantie im Lissabon-Urteil Im Lissabon-Urteil brachte das Bundesverfassungsgericht diese Entwicklung mit der (mittlerweile vielzitierten) Aussage auf den Punkt, das Grundgesetz setze die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht nur voraus, sondern garantiere diese auch562. Da das Demokratieprinzip, welches das Recht des Einzelnen auf Teilhabe impliziere, einer Abwägung ausnahmslos entzogen sei und die Gewährleistungen der Art. 1 und 20 GG aufgrund der in Art. 79 Abs. 3 GG enthaltenen Ewigkeitsklausel unabänderlich gewährleistet seien, sei auch dem pouvoir constitué, also dem verfassungsändernden Gesetzgeber, die Abänderung dieser Grundprinzipien durch eine Verfassungsänderung mit der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestags und zwei Dritteln der Stimmen des

560 Möllers, Staat (Fn. 48), S. 146; ders., An der Grenze, in: FAZ v. 20.10.2011, S. 6 sowie Halberstam/Möllers, Court (Fn. 34), S. 1255; T. Schilling, Die deutsche Verfassung und die europäische Einigung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 116 (1991), S. 32 (38 ff.). 561 BVerfGE 123, 267 (347); Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 134; Magiera, Grundgesetzänderung (Fn. 177), S. 8; Huber, Maastricht (Fn. 79), S. 22; Möllers, Staat (Fn. 48), S. 146. 562 BVerfGE 123, 267 (343); anders zuvor Möllers, Staat (Fn. 48), S. 383; Enders, Staatlichkeit (Fn. 202), S. 40 sowie S. Jeckel, Die Staatlichkeit Deutschlands in der Europäischen Union aus verfassungsrechtlicher und gemeinschaftsrechtlicher Sicht, 1997, S. 136 ff., die fragen, ob das Grundgesetz wirklich die Staatlichkeit als solche garantiert oder nur dessen konkrete Form als Bundesstaatlichkeit festlegt.

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

131

Bundesrats (vgl. Art. 79 Abs. 2 GG) verwehrt563. Eine solche setzt das Gericht „aus Sicht des Demokratieprinzips“ mit einem „Übergriff in die verfassunggebende Gewalt des Volks“ gleich, welche unter dem geltenden Grundgesetz weder den Gesetzgeber noch ein anderes Verfassungsorgan zu einem solchen Schritt ermächtigt habe, und begründet in demselben Atemzug – ebenso lakonisch wie unmissverständlich – die eigene Kompetenz zur Überwachung der Einhaltung dieses veränderungsfesten Identitätskerns564. (2) Kritik an der Aufladung von Art. 79 Abs. 3 GG Die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil die Integrationsgrenze der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf Art. 79 Abs. 3 GG statuierte, ist nicht ohne Kritik geblieben565. Wenngleich diese zum Teil unter Berufung auf das schon in der Präambel des Grundgesetzes festgelegte fundamentale Prinzip der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland als zutreffend angesehen wird566, wird sie dennoch überwiegend skeptisch bis ablehnend beurteilt567. Ablehnende Beobachter „er563 BVerfGE 123, 267 (343); die bereits in der Vergangenheit, insbesondere in Verbindung mit Art. 146 GG n. F. vieldiskutierte Frage, ob auch der pouvoir constiuant, die verfassunggebende Gewalt also, an die Sperrwirkung des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden ist, ließ das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich offen, nachdem es im MaastrichtUrteil noch festgestellt hatte, dass „Art. 79 Abs. 3 GG [. . .] die staatliche Entwicklung in Deutschland an den in ihm bezeichneten Kerngehalt der grundgesetzlichen Ordnung [bindet] und [. . .] so die geltende Verfassung gegenüber einer auf eine neue Verfassung gerichteten Entwicklung zu festigen [sucht], ohne selbst die verfassungsgebende Gewalt normativ binden zu können“ (BVerfGE 89, 155 [180; Herv. nicht im Original]); auf gleicher Linie wohl Murswiek, Pouvoir (Fn. 79), S. 162, der aus der Gewährleistung souveräner Staatlichkeit gemäß Art. 79 Abs. 3 schließt, dass die Vorschrift die Grenznorm zwischen Verfassungsänderung und Verfassunggebung darstellt. 564 BVerfGE 123, 267 (344); ferner führt das Gericht an dieser Stelle aus, dass die sog. Ewigkeitsgarantie eine Reaktion des Grundgesetzes auf historische Erfahrungen mit der Aushöhlung einer an sich freiheitlich-demokratischen Grundordnung sei und darüber hinaus deutlich mache, „dass die Verfassung der Deutschen in Übereinstimmung mit der internationalen Entwicklung gerade auch seit Bestehen der Vereinten Nationen einen universellen Grund besitzt, der durch positives Recht nicht veränderbar sein soll“. 565 Kritisch insbesondere Halberstam/Möllers, Court (Fn. 34), S. 1253 f.; Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 278 f. fragt nach einem „excessive use“ von Art. 79 Abs. 3 GG; Jestaedt, Ferne (Fn. 21), S. 506 f., der dem Gericht die „euroskeptische Umdeutung der sog. Ewigkeitsklausel“ beziehungsweise sogar das „grundlegende[s] Missverständnis dieses ultimativen Halteankers grundgesetzlicher Verfassungsstaatlichkeit“ vorwirft; weniger drastisch Schönberger, Union (Fn. 34), S. 553 ff. sowie Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 248 ff. 566 Dies tun Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 875. 567 So beispielsweise Halberstam/Möllers, Court (Fn. 34), S. 1253 ff.; Jestaedt, Ferne (Fn. 21), S. 506 ff.; Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 248 ff.; Schönberger, Union (Fn. 34), S. 553 f.; Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 110 sowie Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 279 f.

132

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

staunt“ insbesondere der Kontrast zwischen dem in der Präambel statuierten Integrationsauftrag und dem faktischen Verbot eines europäischen Bundesstaats, welches dem Schutz der souveränen Staatlichkeit zwangsläufig entwächst568. Ferner wird diese mit der Tradition verfassungsrichterlicher Rechtsprechung brechende569 weitgehende Auslegung von Art. 79 Abs. 3 GG als nicht mit dessen Entstehungsgeschichte vereinbar angesehen. Die Vorschrift sei vom Parlamentarischen Rat gedacht, um einen Umsturz gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Form einer Machtergreifung durch totalitäre Regime abzuwehren und revolutionären Bewegungen die „Maske der Legalität“ zu nehmen570. Schutzgüter von Art. 79 Abs. 3 GG seien folglich neben den dort niedergelegten Grundprinzipien die Grundrechte sowie die freiheitlich-demokratische Grundordnung, nicht jedoch die souveräne Verfassungsstaatlichkeit im Prozess der europäischen Integration. Die Inhalte von Art. 79 Abs. 3 GG seien als Integrationsgrenze mit Vorsicht zu genießen, denn Sinn dieser Bestimmung sei es, einen Rückfall der Bundesrepublik Deutschland „in Diktatur und Barbarei auszuschließen“, und nichts diene „diesem Ziel mit höherer Wahrscheinlichkeit als Deutschlands Integration in die Europäische Union“ 571. Es mute daher „befremdend“ an, die Vorschrift zur Kupierung der Reichweite des grundgesetzlichen Integrationsauftrags zu missbrauchen572. Der leichtfertige Rekurs auf Art. 79 Abs. 3 GG in einem solch unnötigen Fall führe unweigerlich dazu, dass die Norm mit der Zeit verschlissen werde – zu einer „capitis diminutio“ dieser Vorschrift573.

568

Jestaedt, Ferne (Fn. 21), S. 506. Schönberger, Union (Fn. 34), S. 553 mit Verweis auf den bis dahin zurückhaltenden Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit der sog. Ewigkeitsklausel in BVerfGE 30, 1 (26 ff.) – Abhörurteil; 94, 49 (103) – Sichere Drittstaaten. 570 Diesen Bezug zur ursprünglichen Bezeichnung der Ewigkeitsklausel im Parlamentarischen Rat durch den FDP-Abgeordneten Thomas Dehler in der zweiten Lesung des Hauptausschusses vom 12. Januar 1949, JöR 1 (1951), S. 586 betonen Halberstam/ Möllers, Court (Fn. 34), S. 1254 („highly dubious“); Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 278; Jestaedt, Ferne (Fn. 21), S. 506; vgl. auch Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 4 ff.; zum Begriff der „legalen Revolution“ als Bezeichung für die Taktik der Nationalsozialisten, der sog. Machtergreifung (angesichts der Erfahrungen eines zuvor gescheiterten Putschversuchs) den Schein der Legalität zu geben siehe W. Frotscher/ B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 10. Aufl. 2011, Rn. 597 ff. 571 So bereits die abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff im Urteil des Zweiten Senats vom 18. Juli 2005, BVerfGE 113, 273 (336) – Europäischer Haftbefehl. 572 So wiederum Jestaedt, Ferne (Fn. 21), S. 506, unter Berufung auf die damaligen Aussagen des FDP-Vertreters Thomas Dehlers sowie des SPD-Vertreters Carlo Schmid in der 36. Sitzung des Hauptausschusses vom 12.1.1949, in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses. 1948/1949, S. 454, 454 f.; gleiche Stoßrichtung bei Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 278 f.: „[. . .] the issues to be tackled did not have the slightest flair of a head-on attack on democratic values as envisioned by the authors of the constitutional text“. 573 So das alarmierende Fazit von Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 279; ähnliche Kritik bei Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 249. 569

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

133

Darüber hinaus wird argumentiert, Art. 79 Abs. 3 GG schütze durch den Verweis auf die in Art. 20 Abs. 1 GG garantierte Bundesstaatlichkeit nicht die Institution des (souveränen574) Staats als solche, sondern lediglich die dort genannten Staatsstrukturprinzipien, also die konkrete Form der Ausgestaltung der Staatlichkeit als soziale, demokratische Bundesstaatlichkeit, letztere in Abgrenzung zu einem Staatenbund575. Damit wird der vom Bundesverfassungsgericht offensichtlich als selbstverständlich vorausgesetzte Gewährleistungszusammenhang zwischen Art. 79 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 1 GG576 ernsthaft erschüttert. Schließlich wird der Maßstab der Souveränität an sich kritisiert und mit Verweis auf das in Art. 50 EUV nunmehr ausdrücklich enthaltene Austrittsrecht eines jeden Mitgliedstaats argumentiert, dass die Übertragung von Hoheitsrechten freiwillig und widerruflich erfolge. Ein Verlust der staatlichen Souveränität drohe durch die Tatsache, dass diese freiwillig eingegangenen Verpflichtungen gegenüber Deutschland verbindlich gelten, jedenfalls nicht577. (3) Fazit Zunächst gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass auch das im Grundgesetz verankerte und vielzitierte Prinzip offener Staatlichkeit schon begrifflich Staatlichkeit und deren Kontinuität voraussetzt578: Gäbe die Bundesrepublik Deutschland ihre souveräne (offene) Staatlichkeit auf, so verlöre auch dieses verfassungsrechtliche Grundprinzip seine Bedeutung. Der Gedanke der Möglichkeit einer Selbst-

574 So das Ergebnis von v. Komorowski, Demokratieprinzip (Fn. 431), S. 1222, der durch Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG seinem Wortlaut nach zwar die Staatlichkeit, nicht jedoch die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland vorausgesetzt sieht. 575 Vgl. Fn. 562; zu nennen ist hier die auf die repräsentative Position Paul Kirchhofs bezogene Exegese von Möllers, Staat (Fn. 48), S. 383 ff., 405 f., der zunächst mit dem Wortlaut von Art. 79 Abs. 3 GG argumentiert, welcher „Grundsätze“ und damit normative Prinzipien schütze. Als ein solches könne man die Staatlichkeit nicht wirklich bezeichnen. Zudem sieht er diese Auslegung insofern historisch gedeckt, als offenbar weder der Parlamentarische Rat bei der Schaffung des Grundgesetzes noch frühe Grundgesetzkommentierungen von der Staatlichkeit als Schutzgut der sog. Ewigkeitsklausel ausgingen. Schließlich führe auch eine systematische Auslegung zu keinem anderen Ergebnis, da die Garantie der Bundesstaatlichkeit die der Staatlichkeit nicht zwingend beinhalte: Auch ein durch Hoheitsrechtsübertragungen nur noch verbleibender Restbestand an nationalen Kompetenzen, welcher die Qualifizierung als Staatlichkeit nicht (mehr) verdiene, könne Regelungsgegenstand der in Art. 79 Abs. 3 i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG enthaltenen Prinzipien sein (vgl. Möllers Beispiel in Bezug auf die [nur noch zweifelhafte] Staatlichkeit der deutschen Länder und deren davon unabhängige Bindung an Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG, [S. 384]). 576 BVerfGE 123, 267 (343 f.). 577 So v. Danwitz, Unabhängig (Fn. 558), S. 8; ausf. zu Voraussetzungen und Verfahren des Austrittsrechts gemäß Art. 50 EUV Calliess, Union (Fn. 17), S. 95 ff. 578 Möllers, Staat (Fn. 48), S. 386 Fn. 58.

134

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

aufgabe des Staats zugunsten des Prinzips der offenen Staatlichkeit scheint absurd. Zu Recht wird im Zusammenhang mit dem Verbot des Verlusts der Staatlichkeit eingewandt, dass souverän nur derjenige ist, der sich in dieser Souveränität durch Selbstbindung einschränken oder aufgeben kann579. Dies impliziert jedoch einerseits, dass die Bindung auf einer freien Entscheidung basieren muss und andererseits, dass diese Entscheidung über das „Ob“ der Selbstbindung beim Souverän selbst verbleiben muss. Wenngleich der politische Einfluss, den der Zweite Senat durch die LissabonEntscheidung ausübt – nicht nur im Hinblick auf das Prinzip der Gewaltenteilung – bedenklich ist, so sind die rechtlichen Ausführungen zu Art. 79 Abs. 3 GG, der die entscheidenen Weichenstellungen Urteilsgründe stützt, bei genauerem Blick nicht überbordend souveränitätsschonend. Die materiellrechtliche Verewigung des Grundgesetzkerns garantiert nicht beliebige nationalstaatliche Eigenheiten, sondern fundamentale Prinzipien des demokratischen deutschen Rechtsstaats, die im Nationalstaat günstigere Voraussetzungen finden, als in der europäischen Union580. Dass das Bundesverfassungsgericht seine „Hüterrolle“ allzu ernst nimmt und diese Garantie auch gegenüber supranationalen Interessen behauptet, darf nicht als bloßes Hindernis auf dem Weg zu einem geeinten Europa abgetan werden581. Dies gilt umso mehr, wenn man die von Seiten des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Vergangenheit nicht gerade zaghaft „eingeschlagenen Pflöcke“ zur Effektivierung des Unionsrechts berücksichtigt582. Dem Argument des umkehrbaren und daher nicht endgültigen Souveränitätsverlusts durch das nunmehr ausdrücklich garantierte Austrittsrecht ist entgegenzuhalten, dass dieses in der Rechtswirklichkeit – man betrachte nur die gegenwärtigen Zweifel an einem Fortbestand der Währungsunion – weitaus größeren Hindernissen ausgesetzt sein würde583. 579 Möllers, Staat (Fn. 48), S. 387; 393 ff.; ähnlich U. Fink, Garantiert das Grundgesetz die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland?, in: DÖV 1998, S. 133 (139). 580 So Grimm, Souveränität (Fn. 31), S. 122 f., der staatliche Souveränität unter anderem als „Demokratieschutz“ versteht; Zivier, Finalität (Fn. 13), S. 229. 581 So Zivier, Finalität (Fn. 13), S. 229, der die Reichweite von Art. 79 Abs. 3 GG nicht als „Stolperstein auf dem Weg nach Europa“ diskrediert sehen will. 582 Vgl. den diesbezüglichen Hinweis von U. Di Fabio, „Der Bundesstaat ist ein Irrtum“, Spiegel-Gespräch, in: Der Spiegel 52/2011, S. 34 (36), der zwar zugesteht, dass die Lissabon-Entscheidung die Perspektive der Verfassungsidentität mit Nachdruck verdeutlicht habe, gleichzeitig jedoch ein wechselnd pronounciertes Auftreten als charakteristisch für die Rollenwahrnehmung im System des europäischen Gerichtsverbunds ansieht; diese Aussage kann durchaus als Antwort auf die Kritik gegenüber der mangelnden Kontinuität der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts interpretiert werden (vgl. etwa die hierhin gehende Kritik nach dem Honeywell-Beschluss v. Proelß, Kontrolle [Fn. 52], S. 261). 583 Herdegen, Grundgesetz (Fn. 328), S. 149.

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

135

Die Garantie souveräner deutscher Staatlichkeit folgt letztlich mit zwingender immanenter Logik aus Art. 79 Abs. 3 GG selbst584, welcher voraussetzt, dass sich auch die darin geschützten, unaufgebbaren Verfassungsprinzipien ohne deren Gewährleistung durch die Träger der deutschen Staatsgewalt nicht von selbst erhalten können. Wenn das Bundesverfassungsgericht diese defensive Ausrichtung im Lissabon-Urteil aktiv verteidigt und im Zusammenhang mit der Disposition über die freiheitlich-demokratische Grundordnung für den Verbleib eines Letztentscheidungsrechts auf mitgliedstaatlicher Ebene sorgt, so ist dies nur als ernsthafter Ausdruck der Volkssouveränität mit allen Konsequenzen zu sehen. Die Fragen, wie Deutschland in historischer Perspektive mit der Vorstellung von nationalstaatlicher Souveränität umgegangen ist und ob ein Staat im Zentrum Europas in der globalisierten Gegenwart die staatliche Souveränität angesichts schwindender Problemlösungsfähigkeit auf nationalstaatlicher Ebene noch als Zielvorstellung formulieren sollte585, mögen berechtigt sein, wurzeln jedoch im rein politischen Bereich. Schließlich ist zuzugeben, dass Art. 79 Abs. 3 GG ursprünglich primär dazu gedacht war, eine Wiederholung der nationalsozialistischen Machterfgreifung zu verhindern und (zusammen mit dem Widerstandsrecht gemäß Art. 20 Abs. 4 GG) eine wehrhafte Demokratie zu schaffen586. Jedoch zeigt die gegenwärtige Situation der Bundesrepublik Deutschland als Staat im Zentrum eines vereinten Europas, dass sich die Geschichte nicht immer detailgetreu wiederholt. Für die Mitglieder des Parlamentarischen Rats dürfte es demnach durchaus voraussehbar gewesen sein, dass die verfassungsmäßige Ordnung in (ferner) Zukunft durch andere, als die bis dahin bekannten Gefahren beeinträchtigt respektive bedroht werden kann587. Von einem Verschleiß oder einem Missbrauch der Vorschrift zu sprechen, erscheint daher nicht statthaft. bb) Das Demokratieprinzip in der Bundesrepublik Deutschland Von der durch Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG geschützten souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland ist das hierdurch eben584 Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 875; instruktiv bereits Fink, Grundgesetz (Fn. 579), S. 133 ff. 585 Diese Fragen formuliert v. Danwitz, Unabhängig (Fn. 558), S. 8. Nach seiner (funktional geprägten) Ansicht gilt es im 21. Jahrhundert, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen nationalstaatlicher Selbstbestimmung auf der einen und inter- respektive supranationaler Einbindung auf der anderen Seite zu finden. Souveränität bezeichnet er in diesem Zusammenhang als „eine leere Verheißung, die keine Probleme löst, aber die Gefahren eines deutschen Sonderweges in Kauf nimmt“. 586 Vgl. die Auslegung von Art. 79 Abs. 3 GG in BVerfGE 30, 1 (24) – Abhörurteil. 587 So schon BVerfGE 84, 90 (120) – Bodenreform I; P. M. Huber, Die Anforderungen der Europäischen Union an die Reform des Grundgesetzes, in: ThürVBl. 1994, S. 1 (2); Di Fabio, Art. 23 (Fn. 175), S. 199.

136

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

falls geschützte demokratische Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland bei fortschreitender europäischer Integration zu unterscheiden588. Die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse müssen sich auch im Prozess der europäischen Integration auf das deutsche Staatsvolk zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden589. Das Bundesverfassungsgericht geht im Lissabon-Urteil auch auf diese Begrenzung der Integrationsgewalt ein, indem es konstatiert, dass die grundgesetzliche Ausgestaltung des Demokratieprinzips offen ist für eine Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in eine europäische Friedensordnung. Auch unterliege die Ausgestaltung der politischen Herrschaft auf europäischer Ebene nicht streng schematisch den innerhalb des Grundgesetzes bestehenden Anforderungen und dürfe daher nicht ohne Weiteres an den konkreten mitgliedstaatlichen Ausprägungen des Demokratieprinzips, etwa im Sinne des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG gemessen werden590. Die Ermächtigung zur europäischen Integration erlaube also durchaus eine davon abweichende politische Willensbildung. Sie finde jedoch in der „unverfügbaren Verfassungsidentität“ gemäß Art. 79 Abs. 3 GG ihre absolute Grenze. Der Grundsatz der demokratischen Selbstbestimmung des deutschen Volks und der gleichheitsgerechten Teilhabe des Einzelnen an der öffentlichen Gewalt bleibe auch durch die Grundsätze von Europarechts- und Völkerrechtsfreundlichkeit591 unangetastet592. 588 Meessen, Maastricht (Fn. 513), S. 552; Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 27; dass diese von Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Grundentscheidung der Demokratie eine parlamentarische ist, welche plebiszitäre Elemente nur dort zulässt, wo auch das Parlament nur erschwert Änderungen hervorrufen kann (Revision der Verfassung, wesentliche Änderungen des Staatsangehörifkeitsrecht, etc.), betont J. Isensee, Befindlichkeit deutscher Demokratie, in: Huber, Grundgesetz (Fn. 159), S. 1 (22 f.); zu den einzelnen Strukturelementen der Demokratie als „aussagekräftigste[r] Grundsatz der Ewigkeitsgarantie“ siehe B.-O. Bryde, in: I. v. Münch/P. Kunig, Grundgesetz-Kommentar (Fn. 215), Art. 79 Rn. 39; Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 36 sowie D. Zacharias, Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: M. Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie – Beiträge über die Regelungen zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, 2003, S. 57 (85). 589 BVerfGE 89, 155 (182); Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 89; Böckenförde, Demokratie (Fn. 430), § 24 Rn. 26 ff. 590 BVerfGE 123, 367 (344); Wahl, Schwebelage (Fn. 34), S. 613 kritisiert zu Recht, dass es dem Gericht, abgesehen von der Statuierung dieses Maßstabs im Lissabon-Urteil, jedoch nicht gelingt, das Demokratieprinzip auf das föderale Gebilde der Europäischen Union zu übertragen oder einen für deren Struktur adäquaten demokratischen Entwurf festzulegen und damit der Vorgabe struktureller Kongruenz anhand greifbarer Kriterien mehr Konturen zu verleihen. 591 Vgl. BVerfGE 31, 58 (75 f.) – Spanier-Beschluß; 111, 307 (317); 112, 1 (26) – Bodenreform III; BVerfGK 9, 174 (186). 592 BVerfGE 123, 267 (344); kritisch zur „unnötigen“ Heranziehung von Art. 79 Abs. 3 GG vor dem Hintergrund der ausdrücklichen Inbezugnahme des Demokratieprinzips in Art. 23 Abs. 1 GG als verbindliche Vorgabe für den Integrationsprozess Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 278; ähnl. Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 109, 111 f., der angesichts der weitreichenden politsch gestaltenden Ausführungen im Urteil be-

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

137

Im Hinblick auf das Demokratieprinzip schützt der Verweis auf Art. 79 Abs. 3 GG in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG konkret die demokratischen Gehalte, die nicht bereits aus der Unverfügbarkeit der verfassunggebenden Gewalt und der staatlichen Souveränität folgen593. Darunter fällt etwa die Möglichkeit des nationalen Parlaments, unabhängig von äußeren Bindungen Gesetze zu verabschieden und eigenverantwortlich politisch tätig zu werden594. Gefahr für die nationale Demokratie besteht naturgemäß vor allem in der zunehmenden Befugnisverlagerung auf die Europäische Union, wodurch das deutsche Parlament in seiner Funktionsfähigkeit als unabhängiges Gesetzgebungsorgan beschränkt wird595. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits im Urteil zum Vertrag von Maastricht die Schranken, die Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG durch den mittelbaren Bezug auf Art. 20 Abs. 1 und 2 GG zieht, begründet und über den im Rahmen von Art. 24 Abs. 1 GG enwickelten Schutzumfang hinaus präzisiert596. Danach ist das Demokratieprinzip nicht abwägungsfähig, unantastbar597. Insbesondere müssen der nationalen Politikebene hinreichend bedeutsame, eigenständige Aufgabenfelder verbleiben598. Wenn die Aufgaben und Befugnisse überwiegend in der Verantwortung der Europäischen Union stünden, würde die Demokratie auf staatlicher Ebene nachhaltig geschwächt, sodass die Parlamente auf nationaler Ebene die Hoheitsgewalt der Europäischen Union nicht mehr ausreichend legitimieren könnten599. Dem Bundestag müssten deshalb stets Aufgaben und Befugnisse von „substanziellem Gewicht“ verbleiben, damit das deutsche Staatsvolk Ausgangspunkt der auf es selbst bezogenen Staatsgewalt bleibe600. Maßgeblich sei ferner, „dass die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt“ 601. In der Lissabon-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht diese Präzisierung aufgegriffen und erneut betont: zweifelt, dass das Bundesverfassungsgericht selbst den von ihm geforderten demokratischen Grundsätzen innerstaatlich im Verhältnis zum deutschen Gesetzgeber gerecht wurde. 593 BVerfGE 123, 267 (357); Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 94. 594 Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 27. 595 Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 27. 596 Siehe dazu BVerfGE 89, 155 (172 f.; 184 ff.); Meessen, Maastricht (Fn. 513), S. 551 ff.; Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 23 ff., 53; Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 424 f.; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 132 f. 597 BVerfGE 89, 155 (182); 123, 267 (343). 598 BVerfGE 89, 155 (186); Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 27; Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 424. 599 BVerfGE 89, 155 (186). 600 BVerfGE 89, 155 (186); 123, 267 (356 f.); dazu Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 34. 601 BVerfGE 89, 155 (186).

138

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

„Die konkreten Anforderungen an die demokratischen Grundsätze hängen vom Umfang der übertragenen Hoheitsrechte und vom Grad der Verselbständigung europäischer Entscheidungsverfahren ab. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen des Demokratieprinzips an die Organisationsstruktur und die Entscheidungsverfahren der Europäischen Union hängen davon ab, in welchem Umfang hoheitliche Aufgaben auf die Union übertragen werden und wie hoch der Grad der politischen Verselbständigung bei der Wahrnehmung der übertragenen Hoheitsrechte ist. Eine Verstärkung der Integration kann verfassungswidrig sein, wenn das demokratische Legitimationsniveau mit dem Umfang und dem Gewicht supranationaler Herrschaftsmacht nicht Schritt hält“ 602.

Zudem hat das Gericht ausdrücklich einige Politikbereiche aufgezählt, die es „seit jeher“ als „besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaats“ ansieht603 und die daher nicht uneingeschränkt auf die supranationale Ebene verlagert werden können604. Diese sind „Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht, die Verfügung über das Gewaltmonopol, polizeilich nach innen und militärisch nach außen, die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen605 und – gerade auch sozialpolitisch mo602 BVerfGE 123, 267 (364); diese „flexible Verknüpfung“ von Entwicklungsstufe der Europäischen Union und demokratischen Anforderungen lobt Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 342. 603 BVerfGE 123, 267 (3. Leitsatz, 359); Degenhart, Staatsrecht I (Fn. 182), Rn. 122 f.; kritisch gegenüber einer so weitreichenden Aufladung der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG im Hinblick auf das in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG enthaltene Gebot zur Entwicklung der Union Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 28; ähnlich Ruffert, Grenzen (Fn. 10), S. 1204; Terhechte, Souveränität (Fn. 34), S. 730; Lecheler, Mitwirkungsgesetzgebung (Fn. 34), S. 1158; Schönberger, Union (Fn. 34), S. 554, der insbesondere kritisiert, dass der Senat eine Erklärung schuldig bleibt, wieso gerade diese Teilbereiche von der Ewigkeitsgarantie umfasst sein sollen und nicht andere, etwa das klassische staatliche Hoheitsrecht über die Währung; ebenso kritisch Halberstam/Möllers, Court (Fn. 34), S. 1250 („the list makes no sense“); Möllers, Grenze (Fn. 560), S. 6 („der schwächste Teil der Lissabon-Entscheidung“); Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 342; Nettesheim, Entmündigung (Fn. 34), S. 8 sowie v. Ungern-Sternberg, L’arrêt (Fn. 34), S. 191; hingegen eher neutral Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 3 sowie Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 94. 604 Halberstam/Möllers, Court (Fn. 34), S. 1249 f. sehen in der Vorgehensweise des Zweiten Senats eine plötzliche (unnötige) Wiederbelebung der in der Staatswissenschaft lang gehegten Idee von einer konzeptuellen Staatsaufgabenlehre, indem das Gericht den (nahezu unmöglichen) Versuch unternimmt, ein eigenes, vom offenen demokratischen Prozess unabhäniges Portfolio an Staatsaufgaben zu definieren; historisch widerlegt wird hier zudem, dass (nur) die vom Bundesverfassungsgericht aufgezählten Bereiche, wie behauptet, „seit jeher“ zu den „zentralen politischen Bereichen des Raumes persönlicher Entfaltung und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse“ (BVerfGE 123, 267 [359]) und damit zu den genuinen Aufgaben des souveränen Staats gehören. 605 Kritisch zu dieser vor dem Hintergrund des faktischen Endes nationalstaatlicher Souveränität „unrealistischen“ Annahme einer souveränen Bestimmung der staatlichen Einnahmen, Ausgaben und Kreditaufnahmen zum Zeitpunkt des Höhepunkts der weltweiten Finanzkrise Röper, Souveränitätsbegriff (Fn. 19), S. 287 ff.: Es bedürfe zur Regulierung der globalen Wirtschaft und Finanzmärkte supranationaler Bestimmungen und Institutionen mit Durchgriffsbefugnissen – etwa der Europäischen Union – jenseits

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

139

tivierte – Ausgaben der öffentlichen Hand, die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften“ 606. Dies sind mehr oder weniger zufällig die Politikbereiche, in welchen die Legislativzuständigkeit nach derzeitigem Stand noch bei den Mitgliedstaaten liegt und welche Gegenstand der im Vertrag von Lissabon eingeführten Passerelle-Klauseln607 sind608 – es liegt daher der Verdacht nicht ganz fern, dass das Gericht ungeachtet jeglicher fadenscheiniger staatstheoretischer Überlegungen alle noch auf mitgliedstaatlicher Ebene verbliebenen Kompetenzen im Sinne eines endgültigen Integrationsstopps als grundsätzlich nicht übertragbar kennzeichnen wollte609.

der nationalstaatlichen Souveränität. Zwischenstaatliche, völkerrechtliche Regelungen reichten hier nicht aus; radikaler, da den endgültigen „Abschied von der Kategorie der Souveränität“ fordernd M. Morlok, Grundfragen einer Verfassung auf europäischer Ebene, in: P. Häberle/M. Morlok/V. Skouris (Hrsg.), Staat und Verfassung in Europa – Erträge des Wissenschaftlichen Kolloquiums zu Ehren von Prof. Dr. Dimitris Th. Tsatsos aus Anlaß seines 65. Geburtstages, 2000, S. 73 (90); dem zustimmend Denninger, Ende (Fn. 30), S. 1125 f., der die Begriffe „Staatlichkeit“ (als rechtlich verfasste hoheitliche Gewalt) und „Souveränität“ entkoppeln möchte. 606 BVerfGE 123, 267 (359); dazu zuletzt M. Wiemers, Zur Staatsaufgabenlehre des Bundesverfassungsgerichts im „Lissabon-Urteil“ – Ein Beitrag zur Finalität der Integration Europas? –, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 94 (2011), S. 226 (229 ff.). 607 Die allgemeine Passerelle-Regelung gemäß Art. 48 Abs. 7 EUV besagt, dass in Fällen, in denen der Rat der Europäischen Union Entscheidungen einstimmig treffen muss, dieser durch einen einstimmigen Beschluss festlegen kann, diese Entscheidungen zukünftig mit qualifizierter Mehrheit zu treffen (vgl. Art. 48 Abs. 7 UAbs. 1 EUV). Gegenstand des Übergangs (der Passerelle also) ist das Entscheidungsquorum. Gemäß Art. 48 Abs. 7 UAbs. 2 EUV kann der Rat auf gleiche Weise das ordentliche Gesetzgebungsverfahren auf Politikbereiche ausdehnen, in denen zuvor besondere Verfahren anzuwenden waren. Aus Art. 48 Abs. 7 UAbs. 2 S. 2 EUV ergibt sich jedoch, dass der Widerspruch eines einzigen nationalen Parlaments ausreicht, um diese Vorgehensweise der Passerelle-Regelung zu blockieren. Von der Passerelle-Regelung grundsätzlich ausgenommen sind Beschlüsse mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen. 608 Halberstam/Möllers, Court (Fn. 34), S. 1250 f.; M. Nettesheim, Die Karlsruher Verkündigung – das BVerfG in staatsrechtlicher Endzeitstimmung, in: A. Hatje/J. P. Terhechte (Hrsg.), Grundgesetz und europäische Integration – Die Europäische Union nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Europarecht-Beiheft 1/2010, S. 101 (115): „Das BVerfG stützt sich [. . .] auf eine – beliebige – historische Momentaufnahme“. 609 Diesen Verdacht hegt Schönberger, Union (Fn. 34), S. 555, der in der Auflistung des Gerichts gleichsinning nicht zufällig ein „negatives Abziehbild der Unionskompetenzen“ nach dem Vertrag von Lissabon sieht; anschaulich Halberstam/Möllers, Court (Fn. 34), S. 1250 f., die in der Auflistung der Souveränitätselemete daher die zu einer verheerenden erkenntnistheoretischen Staatstheorie „recycelten Überreste der Europäischen Integration“ sehen; a. A. Herdegen, Grundgesetz (Fn. 328), S. 147, der die Auflistung des Bundesverfassungsgerichts begrüßt, da sie demokratische Selbstbestimmung „nicht in ängstlicher Abkehr jeweils neuer Kompetenzverluste umschreibt, sondern mit einem positiven Gehalt unterlegt“.

140

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

cc) Die Bundesstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG schützt i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG auch die bundesstaatliche Struktur Deutschlands. Es gelten die im Rahmen des Art. 24 Abs. 1 GG entwickelten Forderungen auch für Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG unverändert fort610. Der deutsche Staat muss bundesstaatlich organisiert sein, das heißt die Gliederung des Bunds in Länder und deren grundsätzliche Mitwirkung an der Gesetzgebung darf nicht aufgegeben werden611. Ferner muss den Ländern ein Kernbereich eigener Aufgaben als „Hausgut“ 612 verbleiben, damit deren Staatsqualität erhalten bleibt613. Insoweit werden seit geraumer Zeit Gefahren für die Kompetenzen der Länder beklagt. Da sich die überstaatliche Integration auch auf Politikbereiche erstreckt, welche innerstaatlich nach der Kompetenzordnung der Art. 70 ff. GG den Ländern zugewiesen sind, sind es diese, welche den größten Beeinträchtigungen ausgesetzt sind614. Zu den gefährdeten Kompetenzen gehören beispielsweise das Bildungswesen und der Rundfunk615. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG fordert einen insgesamt hinreichenden Umfang von Landesaufgaben616. Sofern also eine bestimmte Übertragung von Kompetenzen die Bundesstaatlichkeit gefährdet, wäre dieses Problem auch durch Rückübertragung anderer, vergleichbar bedeutsamer Kompetenzen vom Bund auf die Länder zu lösen. Erst das Zusammenspiel von nationaler Unitarisierung und europäischer Integration kann eine Gefährdung für die deutsche Bundesstaatlichkeit bewirken. Ein verfassungsrechtliches Verdikt kann daher nicht allein die Mitwirkung an der Europäischen Union treffen.

610

Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 133. Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 133; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 84; Huber, Maastricht (Fn. 79), S. 16 sieht den föderalen Aufbau Deutschlands durch den Schutz der Gliederung des Bunds in Länder, den Schutz der Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und durch den Schutz des in Art. 20 Abs. 1 GG enthaltenen Bundesstaatsprinzips gleich dreifach geschützt. 612 BVerfGE 34, 9 (19 f.); Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 84. 613 Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 33; Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 41; Scholz (Fn. 179), Art. 23 (2009) Rn. 95; Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 84; Uhrig, Schranken (Fn. 75), S. 133; ebenso zuvor Randelzhofer (Fn. 162), Art. 24 Abs. 1 (1992) Rn. 204. 614 Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 39 m.w. N. hält im Falle einer übermäßigen Kompetenzübertragung einen Ausgleich durch Rückübertragung bedeutender Kompetenzen für möglich; Streinz, Europäisierung (Fn. 106), S. 41 f. hält diese Binnenfolgen der vertikalen Verschiebung des Kompetenzgefüges zu Lasten der Länder durch die ausdrückliche verfassungsrechtliche Integrationsermächtigung grundsätzlich für gerechtfertigt und durch die Mitwirkungsregelungen in Art. 23 Abs. 2–7 GG kompensiert. 615 I. Pernice, Europäische Union – Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, in: DVBl. 1993, S. 909 (912); Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 39. 616 So Classen (Fn. 418), der betont, dass gerade nicht der Erhalt einzelner, aktuell bestehender Kompetenzen gefordert ist. 611

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

141

dd) Zur „Identität“ des Grundgesetzes Der Begriff der „Identität der Verfassung“ fand im Zusammenhang mit der integrationsbedingten Übertragung von Hoheitsrechten bereits in den SolangeEntscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Erwähnung, wurde dort jedoch konkret nur mit dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes617 gefüllt. Das, was sich zuvor jedoch bereits durch den Rekurs auf das „unaufgebbare, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörende Essentiale“ 618 beziehungsweise auf die „konstituierenden Strukturen“ 619 des Verfassungsrechts andeutete, bestätigt sich spätestens620 in der Lissabon-Entscheidung: Eng verbunden mit demokratischer Selbstbestimmung wird der abstrakte Begriff der „Identität“ der Verfassung nunmehr ausdrücklich auf sämtliche in Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Werte bezogen, die die Integrationsmöglichkeiten rechtlich eingrenzen621. Auch Art. 4 Abs. 2 EUV knüpft an diesen Begriff an, indem er die Union zur Achtung der jeweiligen „nationalen Identität“ der Mitgliedstaaten verpflichtet, die in deren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt. Fraglich ist zum einen, ob ein solcher Identitätsbegriff die in Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Kernelemente deutscher Verfassungsstaatlichkeit adäquat erfasst (1), da die Identität des die Verfassung tragenden deutschen Volks – und damit auch die Verfassungsordnung selbst Gegenstand konstanter Veränderung ist. Desweiteren soll ein Blick auf die einzelnen Merkmale dieser Identität unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Griechenlandhilfe respektive Euro-Rettung geworfen werden (2).

617 BVerfGE 37, 271 (279); 73, 339 (376), siehe bereits Fn. 554; dazu Di Fabio, Art. 23 (Fn. 175), S. 191, 210; P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 1 ff.; Kottmann/Wohlfahrt, Wächter (Fn. 34), S. 448. 618 BVerfGE 37, 271 (279). 619 BVerfGE 73, 339 (375 f.). 620 Badura, Bundesstaat (Fn. 176), S. 8 konstatiert, dass bereits durch die Einfügung des „neuen“ Art. 23 GG und des darin enthaltenen Verweises auf Art. 79 Abs. 3 GG, die bis dato existierende Frage, ob die Identitätsformel des Bundesverfassungsgerichts eine über Art. 79 Abs. 3 GG hinausgehende Begrenzung der Integrationsermächtigung darstellte, gegenstandslos geworden sei. 621 Nach den Andeutungen in BVerfGE 37, 271 (279 ff.) sowie E 73, 339 (375 f.) nunmehr deutlich in E 123, 267 (343 f.); kritisch zu diesem wertungsoffenen „Sammelbegriff“ ohne Rückhalt im Text des Grundgesetzes Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 349; ähnl. Kottmann/Wohlfahrt, Wächter (Fn. 34), S. 448, die den Begriff als eine „eher etatistische Konzeption“ verstehen; Pöttering, Europa (Fn. 31), S. 8 sieht den Begriff der Verfassungsidentität als Teil des vom Bundesverfassungsgericht errichteten Kontrollsystems, das weder zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes noch zur „sonstige[n] Karlsruher Rechtsprechung“ passe; rechtsvergleichend zuletzt M. Walter, Integrationsgrenze Verfassungsidentität – Konzept und Kontrolle aus europäischer, deutscher und französischer Perspektive, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 72 (2012), S. 177 ff.

142

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

(1) Adäquanz des Begriffs In Bezug auf Art. 79 Abs. 3 GG ist diese Begriffswahl durchaus treffend, da die hier verbürgten zentralen verfassungsrechtlichen Inhalte von fundamentaler, grundsätzlicher Natur sind und – nicht zuletzt aufgrund der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Fixierung auf das Grundgesetz – den charakteristischen Schwerpunkt des deutschen Verfassungsstaats bilden622. Funktional gesehen, folgt aus dieser verbindlichen Identitätsfestlegung zwingend die Dichotomie von Verfassungsänderung und -aufgabe, die Unterscheidung zwischen einer Verfassungsentwicklung oder Totalrevision bei Bewahrung des wesentlichen Kerns der alten Verfassung einerseits und der Verfassungsablösung durch Neuverfassung beziehungsweise Revolution andererseits623. Die Adäquanz dieses Begriffs lässt sich jedoch auch bezweifeln. Insbesondere gilt dies, wenn man davon ausgeht, dass eine durch das Volk anerkannte und legitimierte Verfassungsidentität gerade die Möglichkeit jederzeitiger Veränderung der Verfassung durch den jeweils der Verfassung unterworfenen Bürger voraussetzt, ohne dass dieser durch die konstitutiven Entscheidungen vorhergehender Generationen gebunden ist624. Denn nach dieser Sichtweise liegt die Qualität einer modernen Verfassung auch in ihrer Offenheit für Abänderungen und damit in 622 So H. Dreier, Deutschland, in: A. von Bogdandy/P. Cruz Villalón/P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 1, Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts, 2007, § 1 Rn. 149, der hier eine Analogie zur Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG erwägt und sich in dem parallelen Beitrag von Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 1 ff. bestätigt sieht, der „in weiten Teilen im Grunde eine Kommentierung des Art. 79 Abs. 3 GG“ darstelle; anders Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 299 (301); dieser geht davon aus, dass die Verfassungsidentität nicht vollständig in Art. 79 Abs. 3 GG zum Ausdruck gebracht ist. 623 Eine so funktionale Interpretation des Art. 79 Abs. 3 GG bei Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 11 (sowie dort Fn. 42), 44 mit Verweis auf die frühe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grenzen zulässiger Verfassungsänderung in BVerfGE 1, 14 (47) – Südweststaat; 3, 225 (236) – Gleichberechtigung; 4, 157 (169 f.) – Saarstatut; 12, 45 (50 f.) – Kriegsdienstverweigerung I; 30, 1 (23 ff.) – Abhörurteil sowie 34, 9 (19 ff.) – Besoldungsvereinheitlichung; ebenso Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 301, 305 f.; zur Unterscheidung von Verfassungsänderung und Verfassunggebung im Zusammenhang mit Art. 146 GG n. F. als einer rein graduellen, nicht kategorischen E. Wiederin, Die Verfassunggebung im wiedervereinigten Deutschland – Versuch einer dogmatischen Zwischenbilanz zu Art. 146 GG n. F., in: Archiv des öffentlichen Rechts 117 (1992), S. 410 (413 ff.). 624 Möllers, Staat (Fn. 48), Einleitung S. XLV; in diese Richtung wohl auch Dreier, Deutschland (Fn. 622), § 1 Rn. 151, der „nüchtern“ konstatiert, dass auch das Grundgesetz als Verfassung und rechtliche Grundordnung des politischen Gemeinwesens ein Werk des Menschen und daher fehlbar und vergänglich ist; ebenso zuvor Ipsen, Grundgesetz (Fn. 745), S. 28, der fragt, ob „die Generation, die das Grundgesetz schuf [. . .] dem demokratischen Gestaltungswillen der Späteren in dieser Weise vorgreifen durfte“; P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 3, der die verfassunggebende Gewalt als Entscheidungsträger sieht, der den Text und Inhalt des Grundgesetzes verantwortet und gegenwartsgerecht fortbildet.

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

143

ihrer Anpassbarkeit an gesellschaftliche Veränderungen625. Solche Modifikationen der nationalen Verfassung sind theoretisch auch durch den Prozess der Europäisierung selbst denkbar, vorausgesetzt, man geht von einem nicht statischen Identitätsbegriff aus626. Zudem erscheint der an sich „identitätsschützende“ Art. 79 Abs. 3 GG in einem anderen – womöglich paradoxen – Licht, wenn man bedenkt, dass diese Norm eine maßgebliche Bedeutung dort erlangt, wo sie den konkreten demokratischen Akt der Verfassungsänderung definitiv untersagt, um das in Art. 20 Abs. 1 GG festgelegte Demokratieprinzip zu schützen627. Aus historische Sicht stellt die in Art. 79 Abs. 3 GG trotz ausdrücklich erlaubter Grundgesetzänderung enthaltene verfassungsrechtliche „Selbstverstetigung“ einen Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung dar, nach deren Art. 76 eine Verfassungsänderung möglich war, ohne dass der Verfassungstext dafür inhaltliche Grenzen setzte628. Die Vorschrift deklariert einerseits materiell den Korridor, in dem das geltende Grundgesetz geändert werden darf und andererseits den änderungsfesten Kernbestand des Grundgesetzes, welcher ihre Substanz, ihre Identität ausmacht629. (2) Identitätsmerkmale des Grundgesetzes Zu den konkreten Merkmalen der Identitätsgarantie sind die Verfassungstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenwürde, die Demokratie, die Republik, das Bundesstaatsprinzip, die Sozialstaatlichkeit630 zu zählen. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Lissabon-Entscheidung darüber hinaus konkrete, die verfassungsstaatliche, demokratische 625 Möllers, Staat (Fn. 48), Einleitung S. XLV: „Unabänderlichkeit erzeugt Fremdbestimmung“; ambivalenter Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 41, der einerseits in einer zu starren Verfassung die Gefahr deren Zerbrechens an der Entwicklung des Staatswesen sieht, andererseits jedoch eine zu flexible Verfassung dem Risiko einer Verflüchtigung in der Beliebigkeit alltäglicher Politik ausgesetzt sieht; zur prinzipiellen Notwendigkeit von Verfassungsänderungen als Zeichen von Lebendigkeit und „effektiver Verfassungsbindung“ siehe H. Dreier, Verfassungsänderung, leicht gemacht, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 6 (2008), S. 399 (403). 626 Diesen Gedanken führt Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 115 an und resümiert, dass die Frage, welchen Identitätsbegriff das Bundesverfassungsgericht verfolgt, offen bleibt. 627 So wiederum Möllers, Staat (Fn. 48), Einleitung S. XLVII. 628 Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 64, 99; ähnl. Dreier, Deutschland (Fn. 622), § 1 Rn. 149 mit Verweis auf das Sondervotum von G. Lübbe-Wolff, in: BVerfGE 113, 273 (336) = NJW 2005, 2289 (2301) – Europäischer Haftbefehl. 629 Degenhart, Staatsrecht I (Fn. 182), Rn. 255; Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 83 vergleicht diese Kerngehaltsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG mit der Garantie des Art. 19 Abs. 2 GG, wonach in keinem Fall ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf (vgl. BVerfGE 30, 1 [24] – Abhörurteil). 630 Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 83 ff.; ähnl., mit Abgrenzung zum psychologischen Identitätsbegriff zuvor A. Bleckmann, Die Wahrung der „nationalen Identität“ im Unions-Vertrag, in: JZ 1997, S. 265 (266 ff.).

144

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Selbstbestimmung prägende Vorbehaltsbereiche formuliert, welche die Übertragung und die Ausübung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union in vorhersehbarer Weise sachlich begrenzen. Dazu gehören nach Ansicht des Zweiten Senats das Strafrecht, die Verfügung über das Gewaltmonopol, die fiskalischen Grundentscheidungen über den öffentlichen Haushalt, die Sozialstaatlichkeit und besonders bedeutsame Entscheidungen betreffend die deutsche Kultur631. Das Bundesverfassungsgericht selbst übernimmt zudem als Teil der auch ihm zukommenden Integrationsverantwortung nach eigenem Verständnis die Verantwortung für die Einhaltung des hinreichend bestimmten und vorhersehbaren Integrationsprogramms mit dem unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes als „Schranken-Schranke“ 632. Zuletzt hat die budgetrechtliche Facette der „Identität“ des Grundgesetzes im Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Griechenlandhilfe633 weitere Konturen erhalten. Darin führt das Gericht aus, dass der Deutsche Bundestag seine Budgetverantwortung – also die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben des Staats – nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen darf 634: „Insbesondere darf er sich, auch durch Gesetz, keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern, die [. . .] zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können, seien es Ausgaben oder Einnahmeausfälle. Dieses Verbot der Entäußerung der Budgetverantwortung beschränkt nicht etwa unzulässig die Haushaltskompetenz des Gesetzgebers, sondern zielt gerade auf deren Bewahrung“. Nach Ansicht des Gerichts läge „eine das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag verletzende Übertragung wesentlicher Bestandteile des Budgetrechts des Bundestages jedenfalls dann vor, wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert und damit der Dispositionsbefugnis des Bundestages entzogen würde“ 635. 631 BVerfGE 123, 267 (3. LS, 359 ff.); zur Kritik an diesen Vorbehaltsbereichen siehe bereits Fn. 603. 632 BVerfGE 123, 267 (353); dazu Voßkuhle, Integrationsverantwortung (Fn. 17), S. 238 f.; zur verfassungsrechtlichen Identität innerhalb des Integrationsprozesses schon E. Denninger, Integration und Identität – eine Bitte um etwas Nachdenklichkeit, in: Kritische Justiz 34 (2001), S. 442 ff. 633 Urt. v. 7.9.2011 (Az. 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10), Abdr. unter anderem in: NJW 2011, S. 2946 ff. 634 BVerfG NJW 2011, 2946 (2951); die überragende verfassungsrechtliche Stellung des Bundestags in den haushaltsbezogenen Angelegenheiten spiegelt sich vor allem in den Art. 110 Abs. 1 GG sowie Art. 114 GG wider, die den jährlich vom Bundestag zu verabschiedenden Haushaltsplan sowie die dem Parlament gegenüber bestehenden Rechnungslegungs- und Berichtspflichten des Bundesministers der Finanzen und des Bundesrechnungshofs regeln, siehe Ruffert, Schuldenkrise (Fn. 46), S. 847 f. 635 BVerfG NJW 2011, 2946 (2951); vgl. auch bereits BVerfGE 123, 267 (361); zur Aufgabe eigener Staatlichkeit durch eine umfassende Wirtschaftsunion siehe bereits

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

145

Dass sich das Gericht angesichts des in Art. 115 Abs. 1 GG ausdrücklich vorgesehenen Gesetzesvorbehalts in finanzrechtlichen Gewährleistungsfragen und der Annahme der Gewährleistungsermächtigungen zur Griechenlandrettung durch das Parlament636 überhaupt zur Reichweite des Budgetrechts des Deutschen Bundestags äußern kann (und muss), erschließt sich nur vor dem Hintergrund des bereits in der Lissabon-Entscheidung erwähnten budgetrechtlichen Identitätsmerkmals des Grundgesetzes637. Dadurch, dass die Budgethoheit des Bundestages den Rang eines durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten, integrationsfesten Grundelements der deutschen Verfassungsrechtsordnung erhält, wird sie für das Bundesverfassungsgericht als Integrationsgrenze justiziabel638. Eine notwendige Bedingung für die Sicherung politischer Freiräume im Sinne des Identitätskerns der Verfassung (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG) besteht darin, dass der Haushaltsgesetzgeber seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung durch die Organe und anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union trifft und dauerhaft „Herr seiner Entschlüsse“ bleibt639. Zu diesem Grundsatz stehen Gewährleistungsermächtigungen, mit denen die Zahlungsfähigkeit anderer Mitgliedstaaten abgesichert werden soll, in einem erheblichen Spannungsverhältnis. In erster Linie sei der Bundestag selbst dafür zuständig, in Abwägung aktueller Bedürfnisse mit den Risiken mittel- und langfristiger Gewährleistungen darüber zu befinden, in welcher Gesamthöhe Gewähr-

Hahn/Häde (Fn. 215), Art. 88 (1999) Rn. 383, die vor allem die Zuständigkeit für die Aufstellung des eigenen Haushalts für die Steuererhebung zu den „wesentlichen staatlichen Funktionen“ zählen. 636 Vgl. die Ermächtigung des Bundesministeriums der Finanzen in § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen zum Erhalt der für die Finanzstabilität in der Währungsunion erforderlichen Zahlungsfähigkeit der Hellenischen Republik v. 7.5.2010 (Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz – WFStG, BGBl. I 2010, S. 537) sowie in § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Stabilisierungsmechanismusgesetz – StabMechG, BGBl. I 2010, S. 627). 637 BVerfGE 123, 267 (361 f.): „Eine das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag in seinem substantiellen Bestimmungsgehalt verletzende Übertragung des Budgetrechts des Bundestages läge vor, wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert würde. Der Deutsche Bundestag muss dem Volk gegenüber verantwortlich über die Summe der Belastungen der Bürger entscheiden. [. . .] Entscheidend ist [aber], dass die Gesamtverantwortung mit ausreichenden politischen Freiräumen für Einnahmen und Ausgaben noch im Deutschen Bundestag getroffen werden kann“. 638 So Ruffert, Schuldenkrise (Fn. 46), S. 848, der (erneut) die Ableitung der integrationsfesten Vorbehaltsbereiche aus Art. 79 Abs. 3 GG im Lissabon-Urteil kritisiert; vgl. zuvor ders., Grenzen (Fn. 10), S. 1203. 639 Vgl. hierzu auch zuletzt das Urteil des Zweiten Senats vom 28.2.2012 (Az. 2 BvE 8/11) zum Sondergremium des Haushaltsausschusses gemäß § 3 Abs. 3 StabMechG, in dem das Gericht betont, dass es aus dem Demokratieprinzip folge, dass der Bundestag bei der Ausübung des Budgetrechts und der Wahrnehmung seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung die wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muss (Rn. 110 f.).

146

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

leistungssummen noch verantwortbar seien640. Aus der demokratischen Verankerung der Haushaltsautonomie folge, „dass der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbarten, nicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus nicht zustimmen darf, der – einmal in Gang gesetzt – seiner Kontrolle und Einwirkung entzogen ist“ 641. Nach Ansicht des Gerichts dürfen daher „keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind“ 642. Eine Konsequenz daraus ist, dass jede nicht unwesentliche deutsche Hilfsmaßnahme im inter- oder supranationalen Bereich vom Bundestag einzelnen bewilligt werden muss643. Soweit, wie durch die Einrichtung des Rettungsmechanismus geschehen, Vereinbarungen getroffen werden, die das Budgetrecht des Bundestags aufgrund ihres Umfangs von „struktureller Bedeutung“ sein können, muss darüber hinaus hinreichender Einfluss des deutschen Parlaments auf den konkreten Umgang mit den zur Verfügung gestellten Mitteln gesichert sein644. Abschließend führt das Gericht in Anknüpfung an die Lissabon-Rechtsprechung aus, dass die Integrationsverantwortung des Deutschen Bundestags, welche bei der Kompetenzübertragung auf die Europäische Union greift645, entsprechend auch für „haushaltswirksame Maßnahmen vergleichbaren Gewichts“ gilt646. Dass das Gericht nach Prüfung der geplanten Rettungsmaßnahmen an dem zuvor erläuterten verfassungsrechtlichen Maßstab zu dem Ergebnis kommt, dass dadurch kein Automatismus entstehe, durch den der Deutsche Bundestag sich sein Budgetrecht verlieren würde und dass momentan auch kein solche irreversibler Prozess erkennbar sei, der die Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestags gefährde647, ist jedoch nicht zwingend. Denn auch auf den zweiten Blick ist es nicht abwegig darüber nachzudenken, ob durch den Europäischen Stabilitäts640 BVerfG NJW 2011, 2946 (2951); vgl. auch BVerfGE 79, 311 (343); 119, 96 (142 f.); A. Voßkuhle, Demokratie (Fn. 180), S. 7, Sp. 6 veranschaulicht diese Anforderung mit dem Negativbeispiel des morgens aufwachenden Bürgers, der erstaunt feststellen müsste, dass diejenigen, die er gewählt habe, „nichts mehr zu entscheiden haben“. 641 BVerfG NJW 2011, 2946 (2951); kritisch zur Überprüfbarkeit dieses Kriteriums Möllers, Grenze (Fn. 560), S. 6. 642 BVerfG NJW 2011, 2946 (2951); dazu W. Kahl/A. Glaser, Nicht ohne uns, in: FAZ v. 8.3.2012, S. 8. 643 BVerfG NJW 2011, 2946 (LS 3b, 2951). 644 BVerfG NJW 2011, 2946 (2951). 645 Vgl. BVerfGE 123, 267 (356 ff.). 646 BVerfG NJW 2011, 2946 (2951). 647 BVerfG NJW 2011, 2946 (2952).

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

147

mechanismus bereits eine die Identität des Grundgesetzes verändernde, bundesstaatsähnliche Fiskalunion begründet wird648. Mit dieser Annahme verbunden ist die vieldiskutierte Frage nach der Zulässigkeit und den Voraussetzungen der Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in einen europäischen Bundesstaat oder ein ähnlich föderal strukturiertes, supranationales Gebilde. c) Aufgehen der Bundesrepublik Deutschland in einem Europäischen Bundesstaat Im unmittelbaren Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Identität des Grundgesetzes steht die stets diskutierte Frage nach der Zulässigkeit eines Aufgehens der Bundesrepublik Deutschland in einem europäischen Bundesstaat. Wenngleich diese Möglichkeit zum Teil als eine illusionäre abgetan wird649, so sprechen unter anderem die verhältnismäßig umfassenden Ausführungen und Anspielungen des Bundesverfassungsgerichts hierzu im Lissabon-Urteil dafür, die Frage im Rahmen einer Untersuchung der verfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen zu thematisieren. Einer kurzen Darstellung der bisherigen Entwicklung in dieser Streitfrage (aa) folgt daher die Gegenüberstellung der beiden maßgeblichen Ansichten (bb, cc), bevor unter Berücksichtigung der hierauf bezogenen Passagen des Lissabon-Urteils (dd) das Fazit (ee) gezogen wird, dass der Beitritt zu einem europäischen Staatsgebilde nicht zwangsläufig den Verlust der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland bedeutet, wie sie das Bundesverfassungsgericht durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützt sieht und daher nicht per se verfassungsrechtlich unzulässig wäre.

648 So zuletzt das Fazit von Kahl/Glaser, Nicht (Fn. 642), S. 8, die in der Annahme des Europäischen Stabilitätsmechanismus eine Identitätsänderung des Grundgesetzes begründet sehen, die durch eine Volksabstimmung nach Art. 146 GG zu legitimieren sei. 649 Dies tun Höpner u. a., Kampf (Fn. 58), S. 237 mit dem Argument, dass sich eine föderale Weiterentwicklung der Europäischen Union allenfalls schrittweise vollziehen werde und ein Erfordernis der Verfassungsneuschöpfung durch Volksentscheid, welche einen großen Schritt darstellen würde, die Offenheit für einen Bundesstaat zunichte machen würde; ähnl. zuletzt Di Fabio, Bundesstaat (Fn. 582), S. 36, der die Entwicklungsoption eines europäischen Bundesstaats als „eine ganz theoretische Frage“ ansieht, die derzeit mangels praktischen Gründungswillens den „Grenzfall des Denkbaren“ darstelle; ähnl. Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 113, welcher durch den (erst nach zähem Ringen der Mitgliedstaaten entstandenen) Vertrag von Lissabon die Grenzen der auf absehbare Zeit erreichbaren europäischen Einigung markiert sieht und einen europäischen Bundesstaat daher auch bei einer „europhorischen pro-europäischen Betrachtung“ für nicht wahrscheinlich hält. Die hierauf bezogenen Aussagen im Lissabon-Urteil bewertet er daher als übertrieben ängstliche Vorsichtsmaßnahme.

148

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

aa) Vorhergehende Entwicklung der Streitfrage In diesem Zusammenhang ist letztlich die mit Blick auf die fortschreitende europäische Integration bisher sehr umstrittene Frage zu erörtern, ob das Aufgehen der Bundesrepublik Deutschland in einer europäischen Bundesstaatlichkeit durch die erläuterten materiellen Mindestanforderungen in Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG von Verfassung wegen untersagt ist und daher nur auf dem Wege eines Akts der verfassunggebenden Gewalt zu erreichen ist650. Diese Problematik, wurde insbesondere im Vorfeld der Ratifikation des Maastrichter Vertrags zur Europäischen Union diskutiert651 und seit jeher kontrovers gesehen652. Im Zuge der Ratifikation des Vertrags von Lissabon wurde sie erneut aktuell. Das Bundesverfassungsgericht hatte die (mangels Relevanz hypothetische653) Frage der Zulässigkeit eines Beitritts in der Entscheidung zum Vertrag 650 Siehe bereits C. Tomuschat, in: R. Dolzer/K. Vogel/K. Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Zweitbearbeitung 1981, Art. 24 Rn. 46 („Schaffung eines europäischen Staates“); ferner statt vieler Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 55 ff.; Huber, Maastricht (Fn. 79), S. 29. 651 Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 53; vgl. dazu Badura, Bundesstaat (Fn. 176), S. 4 f. sowie die im Maastricht-Urteil geschilderten Auffassung der Beschwerdeführer, BVerfGE 89, 155 (169) sowie die (nach Veröffentlichung des Maastricht-Urteils) gemachte Vorhersage von C. Tomuschat, Das Endziel der europäischen Integration – Maastricht ad infinitum?, in: DVBl. 1996, S. 1073 (1074 f.), der die Gründung eines europäischen Staats, die mit der Aufgabe der Staatlichkeit seiner bisherigen Mitglieder implizieren würde, noch als so unrealistisch hielt, dass man sie „von vornherein aus[zu]schließen“ könne. Ferner hätte „ein Europa, dass danach trachten würde, wie ein Bulldozer alle politischen Traditionen [. . .] plattzuwalzen, [. . .] keinerlei Rückhalt bei seinen Bürgern“ und sei daher „allenfalls als Ergebnis einer Kette historischer Unglücksfälle denkbar“. Betrachtet man Tomuschats damalige Deutung in Kenntnis der Aussagen des Bundesverfassungsgerichts im Lissabon-Urteil, so lässt sich resümieren, dass er mit der Entscheidung, diese „Radikallösung“ lapidar als „völlig unmöglich“ abzutun und sich auf „rationale Überlegungen“ zu konzentrieren, einerseits die Realisierungsmöglichkeit dieses Modells unterschätzt haben mag. Gleichzeitig lag er jedoch – zumindest betreffend das deutsche Verfassungsgericht – mit der Vorhersage, dass das Szenario „auf geballten Widerstand“ stoßen werde, angesichts der dazu ergangenen, unmissverständlichen Passagen des Lissabon-Urteils (siehe dd) richtig. 652 Wahl, Leitbegriffe (Fn. 32), S. 124 bezeichnet die damit eng verbundene (Teil-) Frage, ob die Europäische Union bereits ein (Bundes)staat ist, als die „umfangreichste Diskussion des neueren Öffentlichen Rechts“, deren Höhepunkt parallel in die Zeit der Debatte um den Vertrag von Maastricht fiel und seitdem eine Menge neuer Abgrenzungsformeln generiert habe, darunter die Bezeichnung des „Staatenverbunds“ nach P. Kirchhof; umfassend zur Diskussion A. von Bogdandy, Stand und Entwicklungsperspektiven rechtswissenschaftlicher Konzepte zum europäischen Integrationsprozeß, in: W. Loth/W. Wessels (Hrsg.), Theorien europäischer Integration, 2001, S. 107 (112 ff.) sowie C. Schönberger, Bund (Fn. 68), S. 81 ff. 653 H.-J. Papier, Die Politik läuft in eine unsägliche Falle, in: Welt-Online v. 4.12. 2011 sieht einen Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat auch heute noch als unrealistische Entwicklungsalternative an und warnt davor, angesichts der Euro-Krise unnötigerweise eine Verfassungsdiskussion zu erzwingen; ähnl. kritisch, jedoch offen für Wachstum und Steigerung der Integration ohne Erreichen eines europäischen Bundesstaats zuvor Wahl, Leitbegriffe (Fn. 32), S. 121 ff., 126 („Der Bundesstaat ist nicht

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

149

von Maastricht noch ausdrücklich offen gelassen654 und damit zu einer abschließenden Klärung nicht beigetragen655. Es haben sich daher zwei konträre Meinungslager zu dieser Frage entwickelt, welche einen Beitritt entweder als unzulässige Überschreitung der absoluten Integrationsgrenze aus Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG (bb) oder aber als verfassungsrechtlich zulässigen Schritt (cc) ansehen. Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht die sich mehr oder weniger bietende Möglichkeit der Äußerung zu dieser Frage im Urteil zum Vertrag von Lissabon genutzt und einen Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu einem europäischen Staat als verfassungsrechtlich unzulässigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volks erklärt (dd). bb) Beitritt als unzulässige Überschreitung der Integrationsgrenzen aus Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG Es entsprach bereits der überwiegenden Ansicht656 in der rechtswissenschaftlichen Literatur, dass durch eine Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die einzige und nicht die wahrscheinlichste Richtungsangabe“); vgl. auch C. Calliess/ M. Ruffert, Vom Vertrag zur EU-Verfassung? Eine perspektivische Einführung in das Thema der Weimarer Tagung, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 31 (2004), S. 542 (545). 654 Siehe BVerfGE 89, 155 (188): „Der Unions-Vertrag begründet – wie ausgeführt – einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der – staatlich organisierten – Völker Europas [. . .], keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat. Angesichts dieses Inhalts stellt sich die [. . .] Frage nicht, ob das Grundgesetz eine deutsche Mitgliedschaft in einem europäischen Staat erlaubt oder ausschließt. Zu beurteilen ist allein das Zustimmungsgesetz zu einer Mitgliedschaft Deutschlands in einem Staatenverbund“; a. A. schon damals König, Übertragung (Fn. 191), S. 490 f., die auch nach damaligem Stand eine Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland aus demokratietheoretischen Erwägungen des Maastricht-Urteils als verfassungswidrig ansah; dazu ferner Calliess, Union (Fn. 17) S. 244; J. Sack, Der „Staatenverbund“ – Das Europa der Vaterländer des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 623 ff. 655 Tomuschat, Endziel (Fn. 651), S. 1078 (dort Fn. 27), weist in diesem Zusammenhang zurecht darauf hin, dass sich gegen die ursprünglich vorherrschende Lehre des Verbots der Reduzierung der Staatsqualität der Bundesrepublik Deutschland auf den Status eines staatlichen Teilelements im Rahmen eines europäischen Bundesstaats, wie sie insbesondere von Paul Kirchhof, (ders., Staat [Fn. 305], § 183 Rn. 60) und Josef Isensee, (ders., Integrationsziel Europastaat?, in: O. Due/M. Lutter/J. Schwarze [Hrsg.], 1. Festschrift für Ulrich Everling, 1995, S. 567 [589]) vertreten wurde, in der Zwischenzeit mehrheitlich Gegenstimmen erhoben hatten, siehe beispielsweise Hilf, Union (Fn. 479), S. 23; I. Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 26 (1993), S. 449 (471 ff.) sowie Steinberger, Union (Fn. 2), S. 1328 f. 656 So Badura, Kunst (Fn. 478), S. 379; Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 423; Classen (Fn. 418), Art. 23 Rn. 4 (jedoch ohne Rückgriff auf Art. 79 Abs. 3 GG); Everling, Überlegungen (Fn. 158), S. 943; Di Fabio, Art. 23 (Fn. 175), S. 206; 214; Fink, Grundgesetz (Fn. 579), S. 135 f.; wohl auch Hahn/Häde (Fn. 215), Art. 88 (1999) Rn. 383; ehemals noch M. Herdegen, Die Belastbarkeit des Verfassungsgefüges auf dem Weg zur Europäischen Union, in: EuGRZ 1992, S. 589 (590); C. Hillgruber, Der Nationalstaat in

150

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

einen europäischen Staat die Integrationsgrenzen von Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG überschritten seien. Zum Teil wurde ein solches Beitrittsverbot mit der Gewährleistung der deutschen Staatlichkeit durch Art. 79 Abs. 3 GG begründet, da andernfalls die Qualität Deutschlands als souveränes Völkerrechtssubjekt verloren ginge657. Zudem führe dies zu einer Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses658 zwischen staatlicher Souveränität und deren Beschränkung durch die Öffnung für die Einwirkung des Unionsrechts659. Eine Eingliederung der Bundesrepublik in eine Europäische Union bedeute schließlich, selbst wenn dadurch die Staatsqualität als Glied eines Bundesstaats erhalten bleibe, den Verlust der entscheidenden Letztverantwortung für das Schicksal der deutschen Bürger und ihres Territoriums660. Die Staatlichkeit Deutschlands sei durch Art. 79 Abs. 3 GG dem (ewigen) Schutz unterstellt, welcher der Staatszielbestimmung eines Hinwirkens auf ein vereintes Europa gerade nicht zukomme661. Das Beitrittsverbot zu einem europäischen Staat wurde auch aus der Gewährleistung der Volkssouveränität gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG hergeleitet662. Dieder überstaatlichen Verflechtung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 32 Rn. 108; P. M. Huber, Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof als Hüter der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 116 (1991), S. 210 (229); ders., Maastricht (Fn. 188), S. 29; Isensee, Integrationsziel (Fn. 655), S. 590; P. Kirchhof, Staat (Fn. 305), § 183 Rn. 62; Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 121 f.; W. Philipp, Ein dreistufiger Bundesstaat? – deutsche Einheit zwischen Europa und den Ländern, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1991, S. 433 (438); Randelzhofer (Fn. 162), Art. 24 Abs. 1 (1992) Rn. 204; Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 15; noch zu Art. 24 GG; T. Schilling, Artikel 24 Absatz 1 des Grundgesetzes, Artikel 177 des EWG-Vertrags und die Einheit der Rechtsordnung, in: Der Staat 29 (1990), S. 161 ff.; ders., Die deutsche Verfassung und die europäische Einigung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 116 (1991), S. 32 (38 ff.); T. Stein, Europäische Integration und nationale Reservate, in: D. Merten (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften, 1990, S. 91 (97); Streinz (Fn. 9), Art. 23 Rn. 84; Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 445. 657 Huber, Maastricht (Fn. 79), S. 27 f.; Klein, Verfassungsstaat (Fn. 135), S. 70 f., 93; Murswiek, Pouvoir (Fn. 79), S. 162 ff. 658 Vgl. BVerfGE 37, 271 (180): „der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes [wird] zurückgenommen“. 659 Huber, Maastricht (Fn. 79), S. 28; ähnlich Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 121 f., der in einer solchen Eingliederung einen (zu großen,) das „Ob“ der Staatlichkeit betreffenden Souveränitätsverlust sieht. 660 So Huber, Maastricht (Fn. 79), S. 28. 661 Huber, Maastricht (Fn. 79), S. 28; ähnlich Fink, Grundgesetz (Fn. 579), S. 138 f., der die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland als Voraussetzung des Bundesstaatsprinzips gemäß Art. 20 Abs. 1 GG ansieht. 662 So wiederum Huber, Maastricht (Fn. 188), S. 28 f.; Kirchhof, Staat (Fn. 305), § 183 Rn. 23, 57 ff.; ders., Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz?, 1992, S. 37 f.; Schilling, Verfassung (Fn. 560), S. 54 f.; Di Fabio, Art. 23 (Fn. 175), S. 199 ff.; Penski, Bestand (Fn. 541), S. 192 ff.; Breuer, Sackgasse (Fn. 166), S. 423; M. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 416 f.

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

151

ser Grundsatz erfordere es, dass (ausschließlich) das deutsche Volk die Möglichkeit habe, durch die demokratische Rückbindung des Parlaments an die Wahl, der Ausübung öffentlicher Staatsgewalt in Deutschland die jeweils mehrheitsbestimmte Richtung zu geben. Ein Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat hingegen würde nicht eine lediglich auf Teilbereiche bezogene Beschränkung, sondern eine vor dem Hintergrund des Art. 79 Abs. 3 GG nicht mehr zulässige Relativierung dieser zwingenden Anforderung darstellen. Denn unabhängig von der jeweiligen Ausgestaltung eines europäischen Bundesstaats hinge die demokratische Legitimation und Festlegung der öffentlichen Gewalt in Europa nicht mehr entscheidend vom deutschen Volk ab und ein reales Selbstbestimmungsrecht sei dank dauerhafter Majorisierung der deutschen Vertreter in den europäischen Organen nicht mehr existent663. Auch der ursprünglich in der Präambel des Grundgesetzes enthaltene Wiedervereinigungsauftrag, welcher seit deren Vollendung in Form eines Auftrags zur Wahrung der Einheit Deutschlands fortbesteht, wird teilweise als Argument gegen die Zulässigkeit des Aufgehens der Bundesrepublik Deutschland in einem europäischen Bundesstaat angeführt664. Teilweise wird ein Beitrittsverbot zu einem europäischen Bundesstaat weder mit dem Grundsatz der Volkssouveränität noch mit dem Demokratieprinzip, sondern schlichtweg damit begründet, dass eine künftige europäische (Bundes-)Verfassung voraussichtlich keine Garantie dafür enthalten werde, dass kein europäisches Bundesrecht entstehen dürfe, das dem deutschen Art. 79 Abs. 3 GG widerspreche665. Um den unabänderlichen Identitätskern des Grundgesetzes auch für alle Zeiten garantieren zu können, bleibe nur die (unwahrscheinliche) Möglichkeit, Art. 79 Abs. 3 GG für die Verfassung Europas zu übernehmen666. Schließlich wird die Frage nach der Gründung eines europäischen Bundesstaats und der Reduktion der Bundesrepublik Deutschland zu einem den deutschen Ländern im deutschen Bundesstaat vergleichbaren Gliedstaat als „neue Grundentscheidung über den verfassungsrechtlichen Gesamtstatus Deutschlands“ 663 Huber, Maastricht (Fn. 188), S. 28; ähnlich zuletzt das Bundesverfassungsgericht in der Lissabon-Entscheidung, in der es feststellt, dass die Gründung eines europäischen Staats einen „ausdrücklich zu vollziehenden Wechsel des demokratischen Legitimationssubjekts“ darstellen würde (BVerfGE 123, 267 [398]). 664 P. M. Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 3. Aufl. 2003, Präambel Rn. 39 m.w. N.; Streinz, Europäisierung (Fn. 106), S. 35 f.; zum ursprünglichen Auftrag der Wiedervereinigung K. Stern, Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit, in: ders./B. Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), 1990, Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Bd. 2, 1990, S. 3 (26 f.). 665 So namentlich Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 445 f. 666 Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 446, der jedoch zugleich eingesteht, dass ein solcher Schritt nur sehr unwahrscheinlich sei, da die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union einer ewigen Festschreibung im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG, z. B. des grundsätzlichen Rechts auf Legislativmitwirkung der deutschen Länder nicht zustimmen würden.

152

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

gesehen667, welche innerhalb des Grundgesetzes nicht mehr im Rahmen einer Verfassungsänderung gemäß Art. 79 GG, sondern bei der Betätigung der verfassunggebenden Gewalt anzusiedeln sei668. Die Frage, ob Art. 146 GG dafür eine geeignete Vorschrift ist, wird jedoch überwiegend negiert. Teilweise wird dies dadurch begründet, dass der Schlussartikel das verfasste deutsche Volk addressiert und daher die von Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG garantierte Verfassungsstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland voraussetze, welche jedoch bei deren Eingliederung in einen europäischen Verfassungsstaat aufgegeben würde669. Überwiegend wird jedoch – ungeachtet einer etwaigen Bindung der nach Art. 146 GG tätigen Kraft an Art. 79 Abs. 3 GG – für eine originäre Staatsgründung durch Verfassunggebung ein autonomer Akt konstitutiver Neugründung ohne jegliche verfassungsrechtliche Bindung als erforderlich erachtet670. cc) Beitritt als im Rahmen der Integrationsgrenzen zulässiger Schritt Die Gegenansicht671 sieht einen Beitritt der Bundesrepublik Deutschland auch nach gegenwärtigem Verfassungsrecht für zulässig an. Als maßgebliche Integrationsvorschrift des Grundgesetzes schließe es erstens Art. 23 GG nicht aus, dass europäische Integration auch auf europäische Bundes667 So unabhängig von der Frage nach der Zulässigkeit im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG jedenfalls Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 57; Murswiek, Pouvoir (Fn. 79), S. 187 ff.; Bryde (Fn. 588), Art. 79 Rn. 49a; Huber, Maastricht (Fn. 79), S. 28 f.; Wolf, Revision (Fn. 79), S. 598 ff.; Penski, Bestand (Fn. 541), S. 195 f.; Bethge, Staatsgebiet (Fn. 152), § 199 Rn. 26. 668 So ausdr. Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 57; ders., in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 146 Rn. 24 a. E. 669 Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 60; J. Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes: Art. 146 GG, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 166 Rn. 68 bezeichnet in diesem Zusammenhang den Weg des Art. 146 GG als untaugliche, „juristische Selbsttäuschung“. 670 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 146 Rn. 16; Isensee, Schlußbestimmung (Fn. 669), § 166 Rn. 68; Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 60; Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 9 ff.; Scholz (Fn. 179), Art. 146 (1991) Rn. 16 f. 671 So Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 35; T. Herbst, Legitimation durch Verfassunggebung – ein Prinzipienmodell der Legitimität staatlicher und supranationaler Hoheitsgewalt, 2003, S. 264 ff.; Kirchner/Haas, Grenzen (Fn. 175); S. 762; Magiera, Grundgesetzänderung (Fn. 177), S. 8; Lerche, Staatlichkeit (Fn. 556), S. 140 ff.; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 36, 92; ders., Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration in: Archiv des öffentlichen Rechts 120 (1995), S. 100 (100 f.); D. H. Scheuing, Deutsches Verfassungsrecht und europäische Integration, in: Europarecht Beiheft 1/1997, S. 7 (23 f.); M. Zuleeg, in: E. Denninger u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2001, Art. 23 Rn. 53 („Die deutsche Verfassung steht dem europäischen Bundesstaat also nicht im Wege“).

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

153

staatlichkeit hinauslaufe – vorausgesetzt, die in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG festgelegten zu bewahrenden Verfassungssubstanzen werden in hinreichendem Maße verwirklicht672. Zweitens verliere die Bundesrepublik Deutschland auch in einem europäischen Bundesstaat, ebenso wie bereits jetzt die deutschen Länder im Gefüge des grundgesetzlichen Föderalismus, nicht ihren Staatscharakter673. Zum Teil wird auf Grundlage einer Unterscheidung zwischen verfassungstheoretisch vorausgesetzter und verfassungsrechtlich gewährleisteter Staatlichkeit bezweifelt, ob das Wort „Bundesstaat“, insbesondere die bloße Existenz des Halbwortes „-staat“ in Art. 20 Abs. 1 GG überhaupt so zu lesen ist, dass dadurch der Verfassunggeber einen Bestandsschutz des Staats positiv-rechtlich regeln wollte, ob die Vorschrift damit geeignet sei, das Prinzip der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland als Integrationsgrenze gemäß Art. 79 Abs. 3 GG zu statuieren674. Denn die Erkenntnis, dass die Tatbestandsmerkmale des Art. 79 Abs. 3 GG die Form, also das „Wie“ der Staatlichkeit umfassen, zwinge nicht zu dem Schluss, dass (auf einer anderen begrifflichen Ebene) auch das „Ob“ der Staatlichkeit durch die Rechtsfolge verfassungsrechtlich unabänderbar gewährleistet sei675. So bleibe auch bei einem Verlust von Souveränität und Staatlichkeit für die durch Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich geschützten Gehalte noch ein ausreichender Regelungsgegenstand erhalten, selbst wenn dieser „Restbestand“ die Bezeichnung Staat nicht mehr verdiene676. Zudem sei die Staatlichkeit an sich nicht als ein „Grundsatz“ i. S. v. Art. 79 Abs. 3 GG zu verstehen677. Teilweise wird vertreten, dass das Konzept des souveränen Nationalstaats angesichts des derzeitigen Standes der europäischen Integration fortentwickelt werden müsse. Vor dem Hintergrund des im Grundgesetz enthaltenen Prinzips offener Staatlichkeit sei Souveränität auch in begrenzter Form durch die Eingliederung eines Staats in einem Mehrebenensystem realisierbar678. 672 Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 53; a. A. jedoch Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 35, der den Schritt zu einem europäischen Bundesstaat nicht durch Art. 23 Abs. 1 GG gedeckt sieht; ebenso Rojahn (Fn. 162), Art. 23 Rn. 11 f. 673 Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 54; zur Staatsqualität der deutschen Länder bereits BVerfGE 36, 342 (360 f.). 674 So namentlich Möllers, Staat (Fn. 48), S. 384 f.; ähnliche Argumentation bei Zacharias, Ewigkeitsgarantie (Fn. 588), S. 82 ff. 675 Schließlich wolle das Grundgesetz offensichtlich nicht alles, was es voraussetze auch gewährleisten, siehe Möllers, Staat (Fn. 48), S. 383 mit Verweis auf Enders, Staatlichkeit (Fn. 202), S. 40 sowie Jeckel, Staatlichkeit (Fn. 562), S. 136 ff.; mit Verweis auf den Wortlaut argumentiert Lerche, Staatlichkeit (Fn. 556), S. 134. 676 Möllers, Staat (Fn. 48), S. 383 ff., der als vergleichbaren Fall die trotz des zu beziffernden Kompetenzverlusts der deutschen Länder noch immer bestehende Geltung der Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG nennt. 677 Möllers, Staat (Fn. 48), S. 383 f.; zum Begriff des „Grundsatzes“ i. S. v. Art. 79 Abs. 3 GG siehe Fn. 547. 678 So U. Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt – die Weiterentwicklung von Begriffen der Staatslehre und des Staatsrechts im europäischen Mehr-

154

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

dd) Erklärung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil zum Vertrag von Lissabon Das Bundesverfassungsgericht hat schließlich – nach einer zwischenzeitlichen, auf das Maastricht-Urteil bezogenen Andeutung im Urteil zum Europäischen Haftbefehl679 – in der Entscheidung zum Vertrag von Lissabon mit Rückgriff auf das Demokratieprinzip ausdrücklich festgestellt, dass „ein nach Art. 23 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht hinnehmbares strukturelles“ 680 Defizit vorliege, „wenn der Kompetenzumfang, die politische Gestaltungsmacht und der Grad an selbständiger Willensbildung der Unionsorgane ein der Bundesebene im föderalen Staat entsprechendes (staatsanaloges) Niveau erreiche, weil etwa die für die demokratische Selbstbestimmung wesentlichen Gesetzgebungszuständigkeiten überwiegend auf der Unionsebene ausgeübt würden“ 681. Damit einher geht die Feststellung, dass die von der Europäischen Union ausgeübte Hoheitsgewalt mangels Kompetenz-Kompetenz weiterhin eine von den einzelnen Mitgliedstaaten abgeleitete ist und sein muss682. Der Integrationshebel gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG berechtige also lediglich zur Übertragung einzelner, hinreichend ebenensystem, 2004, S. 448 ff.; vgl. Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 56, der das Konzept geteilter, mehrstufiger Souveränität der mittlerweile „anachronistisch“ anmutenden Idee von souveräner Nationalstaatlichkeit und den damit verbundenen Begriffen von Bundesstaat, Gliedstaat und Staatenverbund vorzieht; ebenso I. Pernice, Bestandssicherung der Verfassungen – verfassungsrechtliche Mechanismen zur Wahrung der Verfassungsordnung, in: R. Bieber/P. Widmer (Hrsg.), Der europäische Verfassungsraum, 1995, S. 225 (258) sowie ders. (Fn. 137), Art. 23 Rn. 26, 65 ff., welcher die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Staatlichkeit als Teil der gliedstaatlichen Identität Deutschlands, integriert in das föderale System der supranationalen Europäischen Union ansieht; a. A. Wahl, Leitbegriffe (Fn. 32), S. 130, der den Begriff „geteilter Souveränität“ zwar treffend in Bezug auf den Ausgangssachverhalt bewertet, jedoch die harmlose und zähmende Abweichung von der urprünglichen Souveränitätsvorstellung Bodins und dessen Nachfolgern moniert und daher die Souveränität im europäischen Zusammenhang nicht mehr als politisch-rechtlichen Zentralbegriff ansieht; näher zur Achtung der Staatlichkeit Deutschlands als einer „integrierten“ M. Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, in: A. Randelzhofer (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, S. 157 (162 ff.). 679 So BVerfGE 113, 273 (298): „Die Möglichkeit der Einschränkung des bislang absolut geltenden Auslieferungsverbots Deutscher führt auch nicht zu einer Entstaatlichung der vom Grundgesetz verfassten Rechtsordnung, die wegen der unantastbaren Grundsätze des Art. 20 GG der Dispositionsfreiheit des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen wäre (vgl. BVerfGE 89, 155 [182 ff.])“; dazu Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 55. 680 BVerfGE 123, 267 (364 f.). 681 BVerfGE 123, 267 (364 f.); dass der Zweite Senat diese Feststellung im Lissabon-Urteil mangels Entscheidungserheblichkeit nicht zwingend hätte treffen müssen/ dürfen, bemerken z. B. Halberstam/Möllers, Court (Fn. 34), S. 1251 sowie Pache, Ende (Fn. 34), S. 289. 682 BVerfGE 123, 267 (350): „Das europarechtliche Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die europarechtliche Pflicht zur Identitätsachtung sind insoweit vertraglicher Ausdruck der staatsverfassungsrechtlichen Grundlegung der Unionsgewalt“.

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

155

bestimmter und damit inhaltlich begrenzter Hoheitsrechte. Ein überstaatlicher Transfer der dem souveränen deutschen Staat ausschließlich zukommenden und vorbehaltenen umfassenden Staatsgewalt wäre damit nicht zulässig683. Auch der Eintritt in einen europäischen Bundesstaat überschreite das nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 2 und 3 GG durchaus vorhandene, zulässige integrationsbedingte Änderungspotential des Grundgesetzes. Da ein solcher Schritt zwangsläufig mit der Aufgabe des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volks in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität einhergehe, sei er also durch den verfassungsändernden Gesetzgeber in den absoluten Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG auf der Grundlage des geltenden Rechts nicht möglich684. Bezogen auf das Demokratieprinzip müssten die Legitimationsstrukturen innerhalb eines solchen Bundesstaats dann denen eines staatlich organisierten Verbands vollständig entsprechen und könnten naturgemäß nicht mehr von den mitgliedstaatlichen Verfassungen geregelt werden685. Eine solch supranationale Verfassung, die aus eigenem und von fremden Willen und Strukturvorgaben (vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG) unabhängigen Recht legitimiert ist und auf einem für die Europäische Unionsgewalt eigenständigen Legitimationssubjekt fußt, widerspricht jedoch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts dem Charakter der Europäischen Union als einem „Staatenverbund souveräner Mitgliedstaaten“ 686. Als einen solchen sahen die Karlsruher Richter die Europäische Union seit jeher und daran hat sich offenbar wenig geändert687. So lässt sich resümieren, dass das Grundgesetz laut Bundesverfassungsgericht auf der einen Seite eine demokratischere, staatsähnliche Ausgestaltung der Europäischen Union im weiteren integrativen Prozess erfordert, auf der anderen Seite eine Bildung und Einordnung 683

BVerfGE 123, 267 (348 f.); Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 875. BVerfGE 123, 267 (347 f.); vgl. die Aussage hierzu von P. Kirchhof, „Vereinigte Staaten von Europa wird es nicht geben“, Gespräch mit der FAZ v. 30.6.2009, S. 3: „Wir wissen jetzt, wo die Reise hingeht und wo der Endbahnhof ist. Die EU darf kein Staat werden. [. . .] Die Vereinigten Staaten von Europa wird es unter Geltung des Grundgesetzes nicht geben. Weder Bundestag noch Bundesregierung dürfen eine solche Entwicklung fördern“; dem zustimmend Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 875; äußerst kritisch zu dieser These hingegen Schönberger, Union (Fn. 34), S. 555 ff. sowie Selmayr, Endstation (Fn. 34), S. 642 f. 685 BVerfGE 123, 267 (364). 686 So die Begriffschöpfung von Kirchhof, Staat (Fn. 305), § 183 Rn. 50 ff.; vgl. bereits Fn. 68; das Bundesverfassungsgericht versteht darunter gleichsinnig „eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben“ (BVerfGE 123, 267 [348]). 687 BVerfGE 123, 267 (348 f.); vgl. auch die diesbezüglich eindeutige, jüngst getätigte Aussage des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Papier, Politik (Fn. 653): „Europa muss eine Union souveräner Staaten bleiben, jedenfalls auf der Basis des Grundgesetzes“. 684

156

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Deutschlands in ein solches demokratisches Gebilde, also in einen europäischen Bundesstaat de facto nicht zulässt. Aus diesem wenig erfreulichen Dilemma688 erklärt sich die Deutung des Bundesverfassungsgerichts, welche den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat als einen nach geltendem Verfassungsrecht unzulässigen „Identitätswechsel“ der Bundesrepublik Deutschland ansieht, der wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt den dazu unmittelbar erklärten Willen des deutschen Volks erfordere689. Mit dieser Feststellung findet im Lissabon-Urteil jedoch zugleich Erwähnung, dass erstens der Vertrag von Lissabon die Schwelle zu einem solchen europäischen Bundesstaat nicht überschreitet690 und zweitens ein innerhalb der Europäischen Union gehegter Wille zur (un)mittelbar bevorstehenden Staatsgründung – jedenfalls vom Bundesverfassungsgericht – nicht erkennbar ist691. Vielmehr wird 688 Als ein solches könnte man die verfassungsrichterlich aufgezeigten Perspektiven der weiteren Integration der Bundesrepublik Deutschland in den Rahmen Europäische Union betiteln, da einerseits ein europäischer Bundesstaat, um den demokratischen Anforderungen des Grundgesetzes (vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG) zu genügen, quasi staatsähnliche Strukturen aufweisen müsste, andererseits die Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG zum Schutz der Grundsätze des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG den Beitritt zu einem solchen staatlichen Gebilde wegen der damit verbundenen unumkehrbaren Souveränitätsübertragung gerade untersagt. Zur Vielfalt der Veranschaulichung dieses Paradoxons der Einbahnstraße in eine Sackgasse vgl. Halberstam/Möllers, Court (Fn. 34), S. 1251 („mutually defeating commands“) sowie Schönberger, Union (Fn. 34), S. 556 f., der das Bundesverfassungsgericht mit einem Arzt vergleicht, der nach schonungsloser Schilderung des äußerst besorgniserregenden Gesundheitszustands seinem Patienten mitteilt, dass die erfolgversprechende Therapie verboten sei; ähnl. der Vergleich v. Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 248, der den im Lissabon-Urteil erneut unterstrichenen Integrationsauftrag des Grundgesetzes als „Pflicht zur Durchführung eines untauglichen Versuchs“ bezeichnet; nüchterner Grimm, Grundgesetz (Fn. 34), S. 489 sowie Thym, Integration (Fn. 34), S. 576 f.; inter alia weniger kritisch MüllerGraff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 343 f.; Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 278. 689 BVerfGE 123, 267 (331 f., 347 f.); vgl. ebenda 364: „[. . .] was in Deutschland eine freie Entscheidung des Volkes jenseits der gegenwärtigen Geltungskraft des Grundgesetzes voraussetzt [. . .]“. Angesichts der im Lissabon-Urteil etablierten Zwickmühle liegt es daher nicht allzu fern anzunehmen, das Gericht sehe die Verfassungneugung als zwingenden zukünftigen Schritt zur Sicherung der Fortführung europäischer Integration an; Höpner u. a., Kampf (Fn. 58), S. 237 interpretieren diese Ausführungen in der Lissabon-Entscheidung dahingehend, dass sich das Bundesverfassungsgericht hier ein „demokratisches Europatürchen“ für den Föderalismus offenhalte, wenn es den Volksentscheid gemäß Art. 146 GG als (einzig) Möglichkeit für die Schaffung eines europäischen Bundesstaats anerkenne. 690 BVerfGE 123, 267 (370 f.): „Auch der Vertrag von Lissabon hat sich gegen das Konzept einer europäischen Bundesverfassung entschieden, in dem ein europäisches Parlament als Repräsentationsorgan eines damit konstitutionell verfassten neuen Bundesvolkes in den Mittelpunkt träte“. 691 BVerfGE 123, 267 (371 [„Ein auf Staatsgründung zielender Wille ist nicht feststellbar“], 420 [„Ein solcher Schritt ist aber mit dem Vertrag von Lissabon nicht gemacht“]).

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

157

der Vertrag von Lissabon als „entwicklungsoffen“ interpretiert. Ein unumkehrbarer, absehbarer Trend zu einer faktisch notwendigen Gründung eines europäischen Bundesstaats durch ein allmähliches Zurücktreten der Rechtssubjektivität der Mitgliedstaaten in den auswärtigen Beziehungen692 und das immer deutlichere staatsanaloge Auftreten der Europäischen Union kann vom Bundesverfassungsgericht nicht ausgemacht werden693. ee) Fazit Das Bundesverfassungsgericht erteilt dem Beitritt zu beziehungsweise dem Aufgehen der Bundesrepublik Deutschland in einem europäischen Bundesstaat ungeachtet der zuvor dargestellten Ansichten – jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes in seiner derzeitgen Form – eine klare Absage. Man mag die Bindung eines solchen Schritts an eine Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt des Volks (ohne Notwendigkeit der Erörterung dieser Frage im LissabonUrteil) als eine zwingende Konsequenz, als „politische Kosten des Rechtsstaats“ 694 ansehen. Der Senat geht hierbei jedoch offensichtlich ausnahmlos von einem europäischen Einheitsstaatsmodell aus, in welchem sich ein einheitliches europäisches Staatsvolk organisiert und welcher durch parlamentarische Mehrheitsherrschaft in einem bundestagsgleichen europäischen Parlament als Repräsentationsorgan regiert wird695. Dabei übersieht das Gericht, dass die Schaffung eines Europäischen Bundesstaats nicht in jedem Fall – mit Blick auf die geschichtlichen Erfahrungen vielleicht sogar nur in einem sehr unwahrscheinlichen Falle – auch mit der Errichtung eines europäischen Zentralstaats einhergehen 692 Als Anzeichen eines solchen Trends sind unter anderem die durch den Vertrag von Lissabon geschaffene (und in Art. I-28 des Verfassungsvertrags für Europa [VVE] noch als „Außenminister der Union“ bezeichnete) Position des Hohen Vertreters der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der diesem unterstellte Europäische Auswärtige Dienst zu nennen (Art. 18, 27 Abs. 3 EUV). 693 BVerfGE 123, 267 (420); i. Erg. ebenso Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 111, der die durch den Inhalt des Lissabonner Vertrags entstehenden Neuerungen nicht als „einen Quantensprung an Machtzuwachs“ sondern eher als „pragmatische Arrondierung der Gemeinschaftspolitik“ ansieht; zu den Entwicklungsperspektiven der Europäischen Union auf Grundlage des Vertrags von Lissabon M. Knauff, Die Erweiterung der Europäischen Union auf Grundlage des Vertrags von Lissabon, in: DÖV 2010, S. 631 ff. 694 Vgl. Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 113; ursprüngliche Verwendung bei F. W. Scharpf, Die politischen Kosten des Rechtsstaates – Eine vergleichende Studie der deutschen und amerikanischen Verwaltungskontrollen, 1970. 695 Schönberger, Union (Fn. 34), S. 555 f.; vgl. die dies indizierenden negativierenden Ausführungen des Gerichts in BVerfGE 123, 267 (370 ff.), in denen der Senat feststellt, dass es der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon an einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens fehlt und daher eine Bundesstaatsqualität der Union verneint; kritisch zum theoretischen Einfluss eines politisch geeinten Volks auf den Integrationsprozess im Vergleich zur Macht politischer und wirtschaftlicher Eliten Wahl, Leitbegriffe (Fn. 32), S. 120.

158

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

muss696. Der Beitritt zu einem europäischen Staatsgebilde bedeutet daher nicht zwangsläufig den Verlust der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, wie sie das Bundesverfassungsgericht durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützt sieht697. Es sind andere Alternativen der Ausgestaltung denkbar und realistischer, an erster Stelle die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in ein föderales System auf europäischer Ebene, welches mit einer dem deutschen Bundesrat entsprechenden, die Gliedstaaten repräsentierenden Kammer im Parlament ausgestattet wäre und in der die politische Substanz bei den kleineren Einheiten verbliebe698. Deutschland könnte sich daher als Gliedstaat in ein solches System der „Vereinigten Staaten von Europa“ einordnen ohne gleichzeitigen Verzicht auf die eigene Staatlichkeit – analog zu den Deutschen Bundesländern699. Dem im Lissabon-Urteil gezeichneten Bild eines europäischen „Bundes“staats fehlt unter dem Strich also jegliche Rückbindung an die realen Erfahrungen mit der Gründung von Bundesstaaten700. Ein tiefgreifendes, rein methodische Problem an der Absage hinsichtlich eines Beitritts Deutschlands zu einem europäischen Staat besteht also darin, dass diese Absage nicht in Bezug auf eine konkret zur Disposition stehende Konstruktion eines europäischen Bundesstaats erging, sondern unter Zugrundelegung eines veralteten, abstrakt bleibenden Modells. Zu Recht wird jedoch darauf hingewiesen, dass die so weitreichende und unter dem Grundgesetz unumkehrbare, kategorische Entscheidung des verfassungsrechtlichen Verbots eines europäischen Bundesstaats nur in Bezug auf einen konkreten Bundesstaatsentwurf denkbar ist und auch unter dieser Voraussetzung zusätzlich einer sorgfältigen Prüfung unter Berücksichtigung historischer und rechtsverglei696 Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 338; Schönberger, Union (Fn. 34), S. 555 f.; zuvor schon B.-O. Bryde, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – Konsequenzen für die weitere Entwicklung der europäischen Integration, 1993, S. 15 sowie Tomuschat, Endziel (Fn. 651), S. 1075 f. 697 Hobe (Fn. 76), Art. 23 Rn. 54; Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 36; Schönberger, Union (Fn. 34), S. 556; ebenso bereits Tomuschat, Endziel (Fn. 651), S. 1075 f., der jedoch gleichzeitig darauf hinweist, dass ein europäischer Bundesstaat als Staat auch eines einheitlichen europäischen Staatsvolks bedürfte, welches – je nach Konstruktionsweise – wiederum als Inhaber der verfassunggebende Gewalt auch eine KompetenzKompetenz auf der Bundesebene der Europäischen Union begründen könnte. 698 Dieses Konzept bereits bei Wahl, Leitbegriffe (Fn. 32), S. 128 f., der mit dem Verbleib der „politischen Substanz“ auf nationaler Ebene den politikverdrossenen IstZustand beschreibt, in dem auch die wenigen politikaffinen europäischen Staatsbürger sich zuerst als Bürger ihrer Staaten und allenfalls in zweiter Linie als Unionsbürger sehen. Solle die Europäische Union eine andere als die bisherige Entwicklungsstufe erreichen, so müsse sich dieser Zustand zuvor ändern, wobei jede staats- und europarechtliche Theorie dafür belanglos und allein die Erkenntnis der Notwendigkeit der Änderung bei den Bürgern entscheidend sei. 699 Schönberger, Union (Fn. 34), S. 546 ff.; zur Staatsqualität der deutschen Länder bereits BVerfGE 36, 342 (360 f.). 700 Schönberger, Union (Fn. 34), S. 556 wirft dem Gericht vor, es handle sich bei dem im Lissabon-Urteil der Prüfung zugrundegelegten Bundesstaatsmodell um eine völlig veraltete, „blutleere Konstruktion“.

IV. Die aktualisierten Integrationsgrenzen des Grundgesetzes

159

chender Kriterien einer Bundesstaatsgründung bedarf 701. Naheliegender als die ausdrückliche (Neu-)gründung eines Bundesstaats ist etwa das Szenario, dass durch den Eintritt Deutschlands in eine „bundesstaatsähnliche, föderale Fiskalund Haftungsunion“ durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus eine Änderung der Identität des Grundgesetzes erfolgt702. Dem Anspruch einer solch flexiblen und realitätsnaheren Prüfung wird das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil jedoch nicht gerecht. 3. Zwischenfazit Im Ergebnis ist festzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht aus einer souveränitätsbetonten Bewertung heraus die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Weiterführung europäischer Integration auf Grundlage des Grundgesetzes neu definiert hat. Die grundgesetzlichen Integrationsgrenzen sind auch nach der Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weiterhin zweigleisig ausgestaltet und differenzieren nach ihrem Anknüpfungspunkt im integrativen Prozess der Hoheitsrechtsübertragung. Zum einen erfolgt eine Begrenzung der Integrationsgewalt durch die Normierung von Strukturprinzipien, welche die Europäische Union als Adressatin deutscher Hoheitsrechte erfüllen muss, damit eine Kompetenzverlagerung aus Sicht des Grundgesetzes zulässig ist. Mangels Möglichkeit die Europäische Union unmittelbar zu verpflichten, erfolgt die Begrenzung mittelbar, indem sich die strukturellen Anforderungen an die deutschen Verfassungsorgane richten. Sie dürfen Hoheitsrechte nur auf eine solche Europäische Union übertragen, die die verfassungsrechtlich vorgesehenen Strukturen zumindet in grundsätzlicher Kongruenz tatsächlich aufweist. Die maßgebliche Vorschrift des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG erfordert für die Entwicklung der Europäische Union, dass sie demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Als praktisch besonders relevant haben sich hier in der jüngsten beziehungsweise älteren Vergangenheit insbesondere die Erfordernisse nach demokratischen Grundsätzen beziehungsweise nach einem dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz erwiesen. Erst genanntes Strukturmerkmal weist eine zweifache Zielrichtung auf: Einerseits wird ein demokratischer Prozess auf Unionsebene angestrebt, in den 701

So wiederum Schönberger, Union (Fn. 34), S. 556. So Kahl/Glaser, Nicht ohne uns (Fn. 642), S. 8, die in der Zustimmung zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus eine Identitätsänderung sehen, welche eine Volksabstimmung gemäß Art. 146 GG erfordert. Insbesondere die Pflichten zu solidarischer Finanzhilfe, welche durch den Mechanismus vorgesehen ist, gingen angesichts der niedrigen Voraussetzungen für eine Gewährung über die entsprechende Regelung im deutschen Föderalismus hinaus. 702

160

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

die Bundesrepublik Deutschland sich effektiv und gleichberechtigt einbringen kann. Andererseits wird ein de facto wiederum zweigleisig zu verfolgendes hinreichendes demokratisches Legitimationsniveau der Europäischen Union selbst sichergestellt. Die Forderung nach einem dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene ist als Reaktion auf den hier aufgetretenen gesteigerten Bedarf an Grundrechtsschutz zu sehen, der angesichts der heutigen Kompetenzfülle der Europäischen Union realistischerweise nicht allein durch die einzelnen Mitgliedstaaten gewährleistet werden kann. Die konkrete Formulierung in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG entstammt der Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welches die grundsätzliche Existenz des erforderlichen Grundrechtsniveaus für die Europäische Union nach anfänglichen Bedenken seit Längerem und bis auf weiteres als gegeben ansieht. Neben der Formulierung von Strukturprinzipien, die die Europäische Union erfüllen muss, beschränkt das Grundgesetz die Möglichkeit europäischer Integration zugleich auf anderer Seite, indem es den Verbleib eines absoluten Mindestmaßes an Souveränitätsrechten bei der Bundesrepublik Deutschland, dem die Kompetenzen übertragenden Mitgliedstaat, sicherstellt. Die Wirkung dieser absoluten Integrationsgrenzen wird dadurch verstärkt, dass dem einzelnen Staatsbürger die Möglichkeit eingeräumt ist, deren Verletzung im Wege der Individualverfassungsbeschwerde als subjektives öffentliches Recht geltend zu machen. Der insoweit maßgebliche, in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG enthaltene Verweis auf die Schutzgüter des Art. 79 Abs. 3 GG soll gewährleisten, dass ungeachtet der Hoheitsrechtsübertragungen zur Entwicklung der Europäischen Union die absolute Grenze der dort festgeschriebenen Verfassungsprinzipien der Gliederung des Bunds in Länder, deren grundsätzliche Mitwirkung bei der Gesetzgebung sowie die Grundsätze der Artikel 1 und 20 GG gewahrt bleiben muss. Konkrete Inhalte dieser Grundsätze sind nach der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts im Lissabon-Urteil insbesondere die Garantien der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland sowie des demokratischen Verfassungssystems, welche der Zweite Senat als „Identität“ des Grundgesetzes zusammenfasst. Auf dessen Grundlage erteilt das Gericht dem Beitritt beziehungsweise dem Aufgehen der Bundesrepublik Deutschland zu einem europäischen Bundesstaat jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes in seiner derzeitgen Form eine klare Absage. Dieses Ergebnis erscheint im Hinblick auf die eingeengte, föderale Gestaltungsmöglichkeiten außer Acht lassende und ausschließlich von einem abstrakten Modell eines europäischen Zentralstaats ausgehende Sichtweise des Gerichts, welches bei einem solchen Schritt zwangsläufig mit dem Verlust der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland rechnet, nicht sachgerecht. Der in der Literatur enthaltene Hinweis darauf, dass die unumkehrbare Entscheidung des verfassungsrechtlichen Verbots eines europäischen Bundesstaats nur in Bezug auf einen konkreten Bundesstaatsentwurf sinnvoll ist und auch unter dieser Voraussetzung zusätzlich einer sorgfäl-

V. Möglichkeiten der Überwindung der Integrationsgrenzen

161

tigen Prüfung unter Berücksichtigung historischer und rechtsvergleichender Kriterien einer Bundesstaatsgründung bedarf, erfolgt daher zu Recht. Unabhängig von der Prüfung der geschriebenen Integrationsgrenzen hat das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil erstmals die Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland in die Pflicht genommen, indem es betont hat, dass diesen im Integrationsprozess eine besondere, verfassungsgerichtlich einforderbare (Integrations-)Verantwortung obliegt, welche es unter anderem gebietet sicherzustellen, dass zukünftige Änderungen des europäischen Primärrechts den Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG genügen.

V. Möglichkeiten der Überwindung der Integrationsgrenzen Trifft der Prozess der europäischen Integration in Deutschland an die genannten Grenzen, die auch durch eine Verfassungsänderung nicht überwindbar sind, so bestehen für den weiteren Integrationsprozess grundsätzlich drei denkbare Alternativen: Entweder die Integration kommt (jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland) zum Stillstand (1.), die Interpretation der Schranken durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die Lehre passt sich den politischen Vorgaben an (2.), oder die Bundesrepublik Deutschland gibt sich eine neue Verfassung (3.)703. 1. Keine Überwindung: Stillstand der Integration in der Bundesrepublik Deutschland Bei weiteren substantiellen Schritten zur Fortentwicklung der Integration innerhalb der Europäischen Union stößt der Handlungsspielraum des verfassungsändernden Gesetzgebers an seine Grenzen. Denkbar wäre es in diesem Fall, mit der Bestimmung der unüberwindbaren Integrationsgrenze des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG weitere integrative Schritte abzublocken und den Integrationsprozess für die Bundesrepublik Deutschland zum Erliegen zu bringen704. Eine zuletzt aufgekommene, jedoch wohl ebenso wenig realistische Entwicklungsalternative wäre eine Umstrukturierung der Europäischen Union, die sich an den derzeitigen (etwa durch die Eurokrise ausgelösten) Bedürfnissen orientiert und nicht mit einer weiteren Übertragung von Kompetenzen einhergeht, oder jedenfalls im Gegenzug

703 Aufzählung dieser drei Alternativen für jeden Mitgliedstaat der Europäischen Union bei Huber, Recht (Fn. 76), S. 48 f. 704 A. v. Campenhausen/P. Unruh, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 146 Rn. 16; Huber, Recht (Fn. 76), S. 49.

162

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

bereits auf die europäische Ebene übertragene Politikfelder aus Subsidiaritätsgründen auf die nationale Ebene zurückführt705. 2. Anpassung der Verfassungsinterpretation an politische Vorgaben Theoretisch denkbar ist auch, dass sich die Methoden der Verfassungsinterpretation an konkrete politische Vorgaben anpassen. Teilweise werden in diesem Zusammenhang neben einer punktuellen Verfassungsänderung auch einzelne Gesetzesänderungen zur Kupierung der Befugnisse des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der Kontrolle des Integrationsgesetzgebers in Aussicht gestellt706. Es ist an sich müßig zu erwähnen, dass diese Option, angesichts der herausragenden Stellung des Bundesverfassungsgerichts im deutschen Verfassungsstaat als geschätzter „Hüter“ der Verfassung707, vorwiegend utopischen Charakter hat. 3. Verfassungneugebung Schließlich ist auch der Weg einer Verfassungneugebung in der Bundesrepublik Deutschland denkbar. In einem Mitgliedstaat der europäischen Union kann dieser Vorgang grundsätzlich in einem verfassungsrechtlich geordneten Verfahren oder anarchistisch-revolutionär erfolgen708. Eine Reihe von Mitgliedstaaten hat sich insoweit für eine geordnete Verfassungsablösung entschieden. Nimmt man den vom Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil aufgezeigten Weg einer Verfassunggebung gemäß Art. 146 GG ernst, so entscheidet sich die Wahl zwischen den genannten Verfahren für die Bundesrepublik Deutschland mit der Klarstellung des Verhältnisses von Art. 146 GG und Art. 79 Abs. 3 GG: Nur dann, wenn auch die verfassunggebende Gewalt des Art. 146 GG an die 705 Dieser Gedanke bei Papier, Politik (Fn. 653), der „zur Erhaltung der Existenzgrundlage“ eine stärkere Zentralisierung der Finanzpolitik einerseits sowie eine Rückübertragung des Verbraucher- und des Naturschutzes andererseits andenkt. 706 Dieser Gedanke bei Zivier, Finalität (Fn. 13), S. 229, der ein solches Vorhaben jedoch zu Recht als „Bärendienst für den Gedanken der europäischen Einigung“ bezeichnet. 707 So auch Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte (Fn. 570), Rn. 816, mit Betonung der Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts für die Entwicklung der im Grundgesetz angelegten Grundrechtskonzeption; zum Bundesverfassungsgericht als „Meilenstein deutscher Verfassungsentwicklung“ siehe J. Menzel, Sechzig Jahre Verfassungsrechtsprechung – Einführende Überlegungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit, zum Bundesverfassungsgericht und zur Bedeutung seiner Judikative, in: ders./R. Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung – Ausgewählte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive, 2. Aufl. 2011, S. 1 (37 ff.), der dem Gericht zugesteht, sich als „Hüter der Verfassung“ zweifellos etabliert zu haben und das Vertrauen der Bevölkerung zu genießen. 708 Siehe dazu Huber, Recht (Fn. 76), S. 49 ff.

V. Möglichkeiten der Überwindung der Integrationsgrenzen

163

Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden wäre, könnte eine Verfassunggebung nicht mehr in einem rechtstaatlichen Verfahren in Kontinuität mit dem Grundgesetz erfolgen, müsste also auf revolutionärem Weg beschritten werden709. Letztere Alternative kann gegenwärtig realistischerweise jedoch nur als fernliegend bezeichnet werden. 4. Abschließendes Fazit Der abschließende Blick auf die grundgesetzlichen Bedingungen für die europäische Integration, wie sie sich nach dem Lissabon-Urteil darstellen, zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht trotz Betonung der weitgehenden Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes aus einer wenig überraschenden, souveränitätsbetonten Sichtweise heraus die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Weiterführung europäischer Integration auf Grundlage des Grundgesetzes teilweise neu definiert hat. Die grundgesetzlichen Integrationsgrenzen sind auch nach der Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weiterhin zweigleisig ausgestaltet. Zum einen erfolgt eine Begrenzung der Integrationsgewalt durch die Normierung von Strukturprinzipien, welche die Europäische Union als Adressatin deutscher Hoheitsrechte erfüllen muss, damit eine Kompetenzverlagerung aus Sicht des Grundgesetzes zulässig ist. Als praktisch besonders relevant haben sich hier in der Vergangenheit die Erfordernisse nach demokratischen Grundsätzen beziehungsweise nach einem dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz erwiesen. Auf anderer Seite beschränkt das Grundgesetz die Möglichkeit europäischer Integration, indem es den Verbleib eines absoluten Mindestmaßes an Souveränitätsrechten bei der Bundesrepublik Deutschland, dem die Kompetenzen übertragenden Mitgliedstaat, sicherstellt. Abänderungsfest sind nach der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts im Lissabon-Urteil insbesondere die Garantien der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland sowie des demokratische Verfassungssystems, welche der Zweite Senat als „Identität“ des Grundgesetzes zusammenfasst. Auf Grundlage dieser Identität des Grundgesetzes erteilt das Gericht dem Beitritt beziehungsweise dem Aufgehen der Bundesrepublik Deutschland zu einem europäischen Bundesstaat jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes in seiner derzeitgen Form eine klare Absage. Dass dieses Ergebnis gerade im Hinblick auf die eingeengte, diverse föderale Gestaltungsmöglichkeiten außer Acht lassende, Sichtweise des Gerichts, nicht sachgerecht ist, wurde dargelegt. 709 Vgl. Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 15 („Die Norm macht die legale Revolution unmöglich“); zur Brisanz dieses Verhältnisses und dem „Monstrum“ des pouvoir constituant ferner Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 273; M. Herdegen, in: T. Maunz/ G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 79 Abs. 3 (2008) Rn. 86; Sachs (Fn. 547), Art. 79 Rn. 5; zur Frage der nationalsozialistischen Machtergreifung als „legale Revolution“ siehe Hillgruber, Revolutionen (Fn. 169), S. 189 ff.; allgemeiner F. Scriba, „Legale Revolution“? – Zu den Grenzen verfassungsändernder Rechtssetzung und der Haltbarkeit eines umstrittenen Begriffs, 2008.

164

Kap. 1: Eine Bestandsaufnahme

Sollte es in Zukunft angestrebt werden, die europäische Integration über den derzeitigen Stand hinaus voranzutreiben, so bestehen in der Theorie – neben einem Integrationsstillstand – mehrere Wege zur Überwindung der verfassungsrechtlichen Grenzen. Als wahrscheinlichstes Szenario erscheint hier noch eine Verfassungneugebung gemäß Art. 146 GG. Das Bundesverfassungsgericht hält sich in dieser Frage bislang relativ bedeckt, scheint jedoch diesen Weg ebenfalls zu favorisieren. So jedenfalls lassen sich die im Lissabon-Urteil eingestreuten Verweise auf die verfassunggebende Gewalt sowie dessen grundgesetzlichen Bezug in Art. 146 GG deuten. In diese Richtung gehen auch die Aussagen der Beteiligten, die mitteilen, dass der Rahmen des unter dem Grundgesetz zulässigen europäischen Integrationspotentials „wohl weitgehend ausgeschöpft“ 710 sei. Einen konkreten Weg, wie eine Verfassunggebung zwecks weiterer integrativer Schritte prozedural von statten gehen könnte, weist das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht711. Die Anwendung des Art. 146 GG zu einer Volksabstimmung auf dem Feld der europäischen Integration ist jedenfalls sehr umstritten. Sie setzt zudem voraus, dass dem Art. 146 GG in heutiger Form überhaupt ein Anwendungsbereich verbleibt. Auch diese Frage wird angesichts des geschichtlichen Hintergrunds des Schlussartikels und seiner Neufassung im Zuge der Deutschen Wiedervereinigung sehr kontrovers beurteilt. Unter Berücksichtigung diverser, bestehender Interpretationen der Vorschrift soll daher im zweiten Kapitel geprüft werden, ob Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte ernsthaft in Frage kommt.

710 So Voßkuhle, Europa (Fn. 25), auf die Frage, ob das Grundgesetz eine weitere europäische Integration zulasse; kritisch zuletzt Pöttering, Europa (Fn. 31), S. 8, der dies als alarmierenden Ausdruck der „Europa-Skepsis“ des Bundesverfassungsgericht wertet, die sowohl die genuin europafreundliche Ausrichtung des Grundgesetzes als auch die Funktion des parlamentarischen Gesetzgebers missachte. 711 Thym, Integration (Fn. 34), S. 565; Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 251.

Kapitel 2

Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte Neben einem derzeit eher fernliegenden, rein nationalen Anwendungsfall des Art. 146 GG in Krisenzeiten des Verfassungsstaats wird als mögliches Aktivierungspotential von Art. 146 GG die fortschreitende europäische Integration zunehmend konkret genannt712. Ob Art. 146 GG einen Weg zur Überschreitung der in Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG enthaltenen Integrationsgrenze darstellen kann713 ist jedoch in der aktuellen rechtswissenschaftlichen Lehre äußerst umstritten714. Dabei ist die Frage nach der Erforderlichkeit beziehungsweise der Anwendungsmöglichkeit direktdemokratischer Elemente auf dem Gebiet der europäischen Integration keineswegs eine neue. Bereits die Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht715 sowie der Vertrag über eine Verfassung für die Europäische Union716 und das Vorhaben der Bundesregierung, 712 Siehe nur Schmahl (Fn. 181), Art. 146 Rn. 5; Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 16; Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 18 f.; B. Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 250 ff. sowie zuletzt Cornils, Mitgliedstaatlichkeit (Fn. 51), S. 873; weniger neutral inter alia Hofmann (Fn. 192), Art. 20 Rn. 51 f., der die Bildung eines europäischen Bundesstaats als Ergebnis der „Suche nach einem verbliebenen Anwendungsbereich für Art. 146 GG“ degradiert und darin „eine Umfunktionierung zu einem normfremden Zweck“ sieht, die er – unter anderem gestützt auf das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – ablehnt. 713 So z. B. Jarass (Fn. 138), Art. 23 Rn. 35; Art. 146, Rn. 5; Schmahl (Fn. 181), Art. 146 Rn. 5, Hobe (Fn. 76), Art. 146 (2008), Rn. 18, Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 15, Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 57; Wohland, Bundestag (Fn. 542), S. 35; a. A. wohl Hillgruber, Nationalstaat (Fn. 656), § 32 Rn. 108; Isensee, Schlußbestimmung (Fn. 669), § 166 Rn. 68; Schmahl (Fn. 181), Art. 146 GG Rn. 5. 714 Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 9 sieht einen Grund dieser Kontroverse in der verschiedenartigen Vorstellungsweise der staats-, europa- und völkerrechtlichen Methoden. 715 Einen Akt der verfassunggebenden Gewalt für notwendig erachtend damals z. B. H. H. Rupp, Muß das Volk über den Vertrag von Maastricht entscheiden?, in: NJW 1993, S. 38 (40); J. Wolf, Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht – ein Anwendungsfall des Art. 146 GG, in: JZ 1993, S. 594 ff. 716 Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE), bekanntgemacht im ABl. 2004/ C 310/01 (Gesetzentwurf der Bundesreg. in BT-Drs. 15/4900); der Verfassungsvertrag war ein im Jahr 2003 entworfener und am 29. Oktober 2004 in Rom feierlich von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zwar unterzeichneter, jedoch letztlich nie in Kraft getretener völkerrechtlicher Vertrag, der weitreichende politische Reformen innerhalb der Europäischen Union beinhaltete. Ursprünglich sollte der Vertrag am 1. November 2006 in Kraft treten. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch an den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden und damit an der erforderlichen Zustim-

166

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

das deutsche Volk diesem Vertrag – im Gegensatz zu den Regierungen in Frankreich und dem Vereinigten Königreich – ohne direkte Beteiligung zu unterwerfen, brachten die Frage auf, ob diese durch ein Referendum anzunehmen seien oder ob das Grundgesetz eine Volksabstimmung über die Verfassung der Europäischen Union verbiete717. Auch im Zusammenhang mit dem Vertrag von Lissabon ist darüber diskutiert worden, ob in Deutschland für die Ratifikation des Vertragswerks eine Volksabstimmung erforderlich sei718. In der zu diesem Vertrag ergangenen Entscheidung rekurriert der Zweite Senat teilweise ausdrücklich719, an anderer Stelle eher mittelbar durch den Bezug auf die Figur der verfassunggebenden Gewalt720 auf Art. 146 GG. Er tut dies als Bestätigung des vorkonstitutionellen Rechts des Bürgers auf Verfassunggebung beziehungsweise in einer Zusammenschau mit der Präambel und den Art. 23 Abs. 1, 20, 79 Abs. 3 GG zur Herleitung der Feststellung, dass es der europäischen Hoheitsgewalt an einem eigenen Legitimationsobjekt fehlt. Das Gericht wendet Art. 146 GG vorwiegend als Maßstab für die Verletzung der verfassunggebenden Gewalt des Volks durch die verfassten Gewalten an721. In gewisser Weise adressiert die Vorschrift damit (auch) die verfassten Gewalten, indem sie diesen untersagt, im Bereich der identitätsändernden Verfassungänderung tätig zu werden722. Wer jedoch auf eine Klärung des lange bestehenden Problemherds um Art. 146 GG bezüglich einer Möglichkeit der Abwahl des Grundgesetzes, und insbesondere zu deren integrationsrechtlicher Perspektive hoffte, wurde enttäuscht: Eine konkrete, eindeutige Antwort der Karlsruher Richter auf die Frage, ob Art. 146 GG das geeignete Instrument ist, welches die erwähnte unmittelbare

mung aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Nach zwischenzeitlichem Stillstand des Integrationsprozesses folgte schließlich im Juni 2007 die Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon; dazu aus der Lit. statt aller J. Schwarze, Der Europäische Verfassungsvertrag, in: JZ 2005, S. 1130 ff. sowie R. Streinz, Die „Verfassung“ der Europäischen Union nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und dem Vertrag von Lissabon, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 23 (2008), S. 105 ff. 717 Vgl. etwa den dazu veröffentlichten Beitrag von M. Elicker, Verbietet das Grundgesetz ein Referendum über die EU-Verfassung?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2004, S. 225 ff. sowie die Erwiderung von T. Herbst, Volksabstimmung ohne Grundgesetz?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2005, S. 29 ff.; desweiteren C. Koenig, Volksabstimmungen nach dem Grundgesetz auf dem Weg in die Vereinigten Staaten von Europa?, in: DVBl. 1993, S. 140 ff. 718 Dies thematisiert beispielsweise O. Sauer, Volksabstimmung über den Lissabonner Vertrag?, in: BayVBl. 2008, S. 581 ff. 719 BVerfGE 123, 267 (332). 720 BVerfGE 123, 267 (343, 349). 721 Grefrath, Exposé (Fn. 34), S. 234. 722 Grefrath, Exposé (Fn. 34), S. 234; vgl. auch Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 15; D. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 190; U. Storost, Legitimität durch Erfolg?, in: Der Staat 30 (1991), S. 537 (542).

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

167

Erklärung des Volkswillens723 und damit die Schaffung einer neuen Verfassung erlaubt, die wiederum weitere substantielle Integrationsschritte wie etwa die Gründung eines Bundesstaats ermöglichen würde, bleibt jedenfalls aus724. Ebenso offen – jedoch ausdrücklich – bleibt die damit verbundene Frage, ob die ultimative Integrationsgrenze gemäß Art. 79 Abs. 3 GG und damit das Verbot der Aufgabe souveräner Staatlichkeit zugunsten des europäischen Zusammenwachsens auch die extrakonstitutionelle Gewalt beschränkt725. Es scheint, als habe man in einem in weiten Teilen ohnehin schon brisanten verfassungsgerichtlichen Judikat nicht noch ein weiteres, zudem so entzündliches „Fass aufmachen“ wollen. Und doch könnte das Gericht angesichts der offenen Passagen hierzu genau das Gegenteil erreicht haben726. Das Urteil jedenfalls flüchtet sich in die Feststellung, dass ein europäischer Bundesstaat, wie er in Rede stehe, weder durch den gegenwärtigen Integrationsstand nach dem Vertrag von Lissabon erreicht, noch in naher Zukunft angestrebt (und daher – so mag der Leser ergänzen – nicht entscheidungserheblich) sei727. Aus nachvollziehbaren Gründen ist daher auch nach Veröffentlichung der Lissabon-Entscheidung die Möglichkeit einer Volksabstimmung auf Grundlage des Art. 146 GG – wenngleich dort wie gesehen nur angedeutet oder in einem Halbsatz eher schemenhaft zitiert728 – stetig im öffentlichen Diskurs geblieben: Als konkreter, bislang ungeklärter Anwendungsfall der Verfassunggebung durch Volksabstimmung im Sinne der Schlussvorschrift des Grundgesetzes wird nunmehr fast ausschließlich der Übergang von der Europäischen Union als Staatenverbund souveräner Mitgliedstaaten in der Form des Vertrags von Lissabon hin zu einer Föderation, einem europäischen Bundesstaat gesehen, in dem beispielweise das Gros der Budgetrechte der nationalen Parlamente an eine supranationale Vertretung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union übertragen

723

Vgl. BVerfGE 123, 267 (348). Wie hier Herdegen, Grundgesetz (Fn. 328), S. 149, der jedoch die Schaffung eines europäischen Bundesstaats insgesamt für wenig wahrscheinlich hält und daher prognostiziert, dass das Grundgesetz auch zukünftig als „Leitordnung für den Rechtsraum der Bundesrepublik Deutschland erhalten bleibt“. 725 BVerfGE 123, 267 (343), „Ob diese Bindung [. . .] sogar für die verfassungsgebende Gewalt gilt, also für den Fall, dass das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung, aber in einer Legalitätskontinuität zur Herrschaftsordnung des Grundgesetzes sich eine neue Verfassung gibt [. . .], kann offen bleiben.“ 726 In diese Richtung geht die Kritik beispielweise bei Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 273. 727 BVerfGE 123, 267 (330 f.); vgl. bereits Fn. 690 f.; Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 252 sieht daher in der (erneuten) Konkretisierung der eher wagen Andeutungen des Bundesverfassungsgerichts eine Aufgabe der Jurisprudenz. 728 Kottmann/Wohlfahrt, Wächter (Fn. 34), S. 449; Die Andeutungen des Gerichts deutlicher interpretiert hingegen die Figur des Justus Lipsius, dargestellt in Mayer, Rashomon (Fn. 34), S. 715. 724

168

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

wird729. Zuletzt ist angesichts der Schaffung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und den damit abzugebenden, umfassenden finanziellen Gewährleistungen die Notwendigkeit einer Volksabstimmung auf Grundlage von Art. 146 GG zur Überwindung des qualitativen Sprungs hin zu einer bundesstaatsähnlichen Fiskalunion betont worden730. Alle diese Überlegungen zum konkreten Anwendungsbereich des Art. 146 GG als einem Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte hin zu einer europäischen Föderation setzen (neben dem grundsätzlichen Erfordernis eines rechtlichen Schritts zur Legitimation der Entstaatlichung731) denklogisch ein verbleibendes Anwendungspotential der Vorschrift überhaupt voraus. Zunächst gilt es daher zu untersuchen, ob Art. 146 GG angesichts seines kontroversen Charakters (I.) und der unterschiedlichen Deutungen (III.) als sogenannte verfassungspolitische Erwartungsnorm (II.) überhaupt ein Anwendungsbereich verbleibt, bevor die Frage nach dem etwaig maßgeblichen Zeitpunkt einer Verfassungneugebung (VI.) thematisiert werden kann. Dabei zu berücksichtigen ist die Interpretation des Art. 146 GG durch das Bundesverfassungsgericht (V.), welche zuletzt im obiter dictum in dessen Lissabon-Entscheidung zumindest konturenreicher wurde. 729 Diesen konkreten Schritt nennt z. B. H. A. Winkler, Die grosse Illusion – warum direkte Demokratie nicht unbedingt den Fortschritt fördert, in: Der Spiegel 47/2011, S. 47 (48); anders zuvor Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 251 ff., die das Feld der europäischen Integration deshalb für den wahrscheinlichsten Anwendungsfall des Art. 146 GG hält, weil in einem europäischen Bundesstaat das „Föderalismusprinzip in seinem spezifisch deutschen Verständnis“ aufgrund der Tatsache, dass dieses den meisten europäischen Verfassungstraditionen unbekannt sei, nicht übernommen werden könne und daher Art. 79 Abs. 3 GG zu überwinden sei: „Und so könnte Art. 146 GG eine verfassungsrechtliche Möglichkeit, in einem zusammengewachsenen europäischen Bundesstaat mitverfaßt zu sein, jedenfalls dann bereitstellen, wenn eine europäische Bundesverfassung zur Aufgabe des deutschen Föderalismus zwingen würde, und sich in der Bundesrepublik ein politischer Konsens dahingehend gewinnen ließe, zugunsten der Idee eines vereinen Europas insbesondere die vermeintliche ewige Wahrheit, daß Deutschland auf alle Zeiten stark föderal organisiert sein müßte, fallenzulassen“; anders zuletzt Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 251, der allein in der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht einen europäischen Bundesstaat als derzeit verfassungsrechtlich unzulässiges Integrationsziel deklariert hat, den Grund für die erneute Aktivierung dieser im Schrifttum schon lange diskutierten Frage sieht. 730 Kahl/Glaser, Nicht (Fn. 642), S. 8. 731 Anders etwa Möllers, Staat (Fn. 48), S. 411 f., der im Zusammenhang mit der als Reaktion auf die Maastricht-Rechtsprechung (namentlich durch Murswiek, Pouvoir [Fn. 79], S. 162 ff.) aufgekommenen Verknüpfung von Staatlichkeit und verfassunggebender Gewalt für die Legitimation des Staatsverlusts auf die rein faktische Zustimmung des deutschen Volks abstellt: Da diese Verknüpfung seiner Ansicht nach einen vorwiegend faktischen Staatsbegriff zugrundelegt, der die Unumkehrbarkeit des Integrationsvorgangs (Überschreitung eines point of no return) als maßgebliches, rechtlich nicht messbares Kriterium des Staatsverlusts bezeichnet, sieht er die ebenso rein faktische Duldung des integrativen Prozesses durch die deutschen Staatsbürger als möglichen Legitimationsakt der verfassunggebenden Gewalt des Volks an (S. 412, Fn. 194). Offen bleibt in diesem Modell faktischer Legitimation jedoch, wie umgekehrt das Volk eine Ablehnung der integrationsbedingten Entstaatlichung rein faktisch kundtun sollte.

I. Art. 146 GG zwischen Re- und Denationalisierung

169

I. Art. 146 GG zwischen Re- und Denationalisierung: der kontroverse Charakter der Schlussbestimmung Der Schlussartikel des Grundgesetzes war und ist Gegenstand zahlreicher Kontroversen732, nicht nur im staatsrechtswissenschaftlichen, sondern auch im verfassungspolitischen Bereich. Dies gilt sowohl für die ursprüngliche Fassung der Bestimmung als auch für die im Zuge der deutschen Wiedervereinigung überarbeitete Neufassung733. Um beide Fassungen wurde erbittert debattiert. Bereits vor Schaffung des Grundgesetzes wurde gegen eine Aufnahme der im Entwurf des Herrenchiemseer Verfassungskonvents enthaltenen Bestimmung argumentiert734, für die späteren Fassungen des Art. 146 GG wurde jeweils ihre Streichung gefordert. Noch heute gibt diese aktuelle Fassung des Schlussartikels einige ungeklärte Fragen auf – wie gesehen nicht zuletzt in Bezug auf ihre An-

732 Siehe dazu statt vieler J. Isensee, Braucht Deutschland eine neue Verfassung?, Überlegungen zur neuen Schlußbestimmung des Grundgesetzes, Art. 146 GG, 1992, S. 15, der Art. 146 GG als „Fremdkörper“ beziehungsweise „Sprengkörper im System des Grundgesetzes“ bezeichnet; zu Art. 146 GG n. F. als Kontroverse Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 17 („heillos umstritten“); P. Lerche, Fragen der Stabilität, in: Huber, Grundgesetz (Fn. 159), S. 73 (76): „zahlreiche [. . .] Interpretationen wuchern“; ähnl. ders., Art. 146 GG: Auftrag zur Neuverfassung Deutschlands?, in: K. Ballestrem/H. Ottmann (Hrsg.), Theorie und Praxis – Festschrift für Nikolaus Lobkowicz zum 65. Geburtstag, 1996, S. 299 (300): „interpretative Wirrnis“. 733 Die Neufassung geht auf „Beitrittsbedingte Änderung“ gemäß Art. 4 Ziffer 6 des Einigungsvertrags zurück; A. Randelzhofer, Das Grundgesetz unter Vorbehalt?, in: K. Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. 1: Eigentum – Neue Verfassung – Finanzverfassung, 1991, S. 141 sieht die Neufassung des Art. 146 sogar als „bedeutsamste Änderung des Grundgesetzes“ durch den Einigungsvertrag; Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 411 resümiert dementsprechend überspitzt zu den verschiedenen zu Art. 146 GG vertretenen Auffassungen: „Es gibt kaum eine abstrakt vorstellbare Position, der sich im Schrifttum nicht auch konkrete Vertreter zuordnen ließen“; nicht zuletzt indiziert die herausragende Rolle, welche Art. 146 GG auf der anlässlich der überraschend bevorstehenden Wiedervereinigung Deutschlands abgehaltenen Sondertagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer im damaligen Plenarsaal des Bundesverwaltungsgerichts in Berlin am 27. April 1990 spielte, die bisherige Relevanz und Brisanz dieser Vorschrift innerhalb der Staatsrechtswissenschaft; Herdegen (Fn. 709), Art. 79 Abs. 3 (2008) Rn. 86 bezeichnet die Ablösung des Grundgesetzes nach Art. 146 GG als „die Existenzfrage der grundgesetzlichen Ordnung schlechthin“. 734 Instruktiv zu den einzelnen Imponderabilien, die während der Sitzungen des Parlamentarischen Rats auftraten und die „Geburt“ des Art. 146 GG a. F. zu einer schweren werden ließen Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 421 ff. m.w. N. Festzustellen ist eine ambivalente Einstellung innerhalb des Parlamentarischen Rats, die einerseits von der Erkenntnis geprägt war, dass ein Ablösevorbehalt nach dem Muster des Art. 146 GG a. F. angesichts des provisorischen Charakters des Grundgesetzes sinnvoll sei. Andererseits neigte man jedoch dazu, die Frage nach den genauen Umständen des Außerkrafttretens des Grundgesetzes der Regelung in einer kommenden Nachfolgeverfassung zu überlassen. Zudem fürchtete man, dass eine solche Vorschrift die Gefahr mit sich bringe, den Übergang zu einer Volksdemokratie zu ermöglichen. Nach mehreren Umformulierungen fügte man schließlich die Regelung des Art. 146 GG a. F. in ihrem bekannten Wortlaut ins Grundgesetz ein.

170

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

wendungsmöglichkeit für eine zukünftige überstaatliche Integration735. Die verschiedenen Interpretationen der Schlussvorschrift des Grundgesetzes treten immer wieder dann zu Tage, wenn Situationen entstehen, die Zweifel aufkommen lassen, ob die bestehenden Instrumentarien des Grundgesetzes ausreichen, um zukünftige Herausforderungen zu meistern736. Eine treffende Beschreibung des „Sondercharakters“ und der politischen Reichweite des Art. 146 GG liefert – wohl auch rückblickend auf die Kontroversen um die Vorschrift im Prozess der deutschen Wiedervereinigung – Isensee: „Art. 146 GG ist Schlußbestimmung des Grundgesetzes in des Wortes doppelter Bedeutung: als der am Schluß des Verfassungstextes placierte Artikel, zugleich als der Artikel, der das zeitliche Ende des Grundgesetzes zum Thema hat. Er führt an die Grenze der Reichweite des politischen Verfassungsrechts. Hier brechen Fragen auf, die über die juristische Verfassungsauslegung im Regelkreis des positiven Rechts hinausweisen auf metarechtliche Grundlagen der Verfassung, die Gegenstand der Staatslehre und der Verfassungstheorie sind. Darüber hinaus erheben sich Fragen der Verfassungspolitik, aber auch Fragen der politischen Psychologie im Blick auf politische Befindlichkeiten, die sich in Art. 146 GG spiegeln und an ihm entzünden“ 737.

Jedenfalls für die Vorgängervorschrift von Art. 146 GG in seiner gegenwärtigen Fassung kann es als unstreitig angesehen werden, dass sie in ihrem Anwendungsbereich dem deutschen Volk oder den es vertretenden Staatsorganen die Erlaubnis gewährte, an sich verfassungswidrige Ziele zu verfolgen, indem sie ohne materiellrechtliche Vorgaben zur Verfassungsablösung ermächtigte738. Art. 146 GG a. F. stellte damit eine Vorschrift des Grundgesetzes dar, welche sich explizit auf den Bereich außerhalb des grundgesetzlichen Verfassungsgefüges bezog. Dieser für eine Verfassungsvorschrift untypische Charakter hat wiederum ihre eindeu735 Vgl. das Bekenntnis gegenüber der internationalen Staatsrechtscommunity von Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 272 f., der Art. 146 GG im Zusammenhang mit weiteren Integrationsschritten als „[. . .] a provision, which nobody fully understands“ beschreibt. 736 So Lerche, Fragen (Fn. 732), S. 76 f. mit Hinweis auf die Intensivierung der europäischen Integration oder andere Lagen, deren Bewältigung im Grundgesetz nicht vorgesehen war; zu den „außerordentlichen Interpretationsschwierigkeiten“ der Vorschrift aufgrund der geschichtlichen Umstände Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 28. 737 Isensee, Deutschland (Fn. 732), S. 15. 738 Vgl. bereits BVerfGE 5, 85 (131); H. P. Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950, S. 27 f.; D. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 101; U. Scheuner, Art. 146 GG und das Problem der verfassunggebenden Gewalt, in: H. Kurz (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, 1970, S. 288 (290); Stern, Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 76), S. 143 f.; W. Weber, Die Frage der gesamtdeutschen Verfassung, 1950, S. 25; aus späterer Zeit Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 2; J. Isensee, Verfassungsrechtliche Wege zur deutschen Einheit, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1990, S. 309 (326); ders., Wenn im Streit über den Weg das Ziel verloren geht, in: FAZ v. 12.4.1990, S. 14; ebenso Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 430; anders wohl T. Maunz, Die verfassunggebende Gewalt im Grundgesetz, in: DÖV 1953 S. 645 (648), der zumindest die vorbereitenden Akte einer Verfassungsablösung gemäß Art. 146 GG a. F. nur „in den Rechtsformen des Grundgesetzes“ für möglich erachtet.

II. Rechtstheoretische Einordnung von Art. 146 GG a. F.

171

tige rechtliche Einordnung erschwert und zu unterschiedlichen rechtstheoretischen Deutungen geführt.

II. Rechtstheoretische Einordnung von Art. 146 GG a. F. Eine rechtstheoretische Möglichkeit zur Charakterisierung der Reichweite des Art. 146 GG a. F. ist die Figur der „verfassungspolitischen Erwartungsnorm“ 739. Kirn definiert diese als „Aussage im Verfassungstext, welche das an sich geschlossene System der staatsrechtlichen Prinzipien und Verfahren (,pouvoir constitué‘) im Hinblick auf bestimmte im tieferen Volkswillen verankerte dynastische, politisch-organisatorische oder soziale Ansprüche für entsprechende legitimationserneuernde Entschlüsse zur Disposition stellt“ 740. Gleichzeitig stellt er einschränkend klar, dass eine solche Normenkategorie nur für mittelfristig erreichbare und konkret ausgesprochene Erwartungen an den pouvoir constitué funktionieren könne, da für nicht überschaubare, längere Zeiträume eine sinnvolle Aussage nicht getroffen werden könne741. Diese „Situationsbedingheit der verfassunggebenden Gewalt“ folge aus der Übertragung von Sieyès742 originär philosophischer Lehre des pouvoir constituant originaire auf das verfassungspolitische Rechtsleben. Wendet man diese Definition an, so ist festzustellen, dass eine solche konkrete verfassungspolitische Lage, welche Art. 146 GG a. F. adressierte, in der Zeit während und nach der Wiedervereinigung Deutschlands bestand. Für die Betrachtung der Vorgängernorm von Art. 146 GG n. F., dem Art. 146 GG a. F., wäre folglich auch die besondere politische Lage der Wiedervereinigung Deutschlands zu berücksichtigen.

739

Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 2. Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 2. 741 Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 2, 5. 742 Bereits etwa 100 Jahre bevor der Begriff der „verfassunggebenden Gewalt“ in Deutschland überhaupt rechtliche Relevanz erhielt, erklärte der französische Staatstheoretiker (Abbé) Emmanuel Joseph Sieyès 1789 das Volk allein zum Träger der originären verfassunggebenden Gewalt, um damit den Versuchen des französischen Königs entgegenzutreten, für sich selbst die verfassunggebende Gewalt in Anspruch zu nehmen, so B. Kempen, Grundgesetz oder neue deutsche Verfassung, in: NJW 1991, S. 964 (964); siehe auch Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 736; Sieyès nahm an, dass das Volk, die „Nation“ im Naturzustand frei und jederzeit in der Lage sei, sich ohne Bindungen eine Verfassung zu geben und dass eine Generation spätere Generationen nicht durch die Schaffung „ewiger Verfassungsinhalte“ unterwerfen könne, siehe E. J. Sieyès, Qu’est-ce que le tiers état?, 1789, dt. Übersetzung (Hrsg.: R. H. Foerster), 1968, S. 108 ff. sowie Art. 25 und Art. 28 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrecht der Französischen Republik vom 24. Juni 1793 (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen; diese lauteten „La souveraineté réside dans le peuple. Elle est une, indivisible, imprescriptible et inaliénable“ sowie „Un peuple a toujours le droit de revoir, de réformer et de changer sa Constitution. Une génération ne peut assujettir à ses lois les générations futures“). 740

172

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

In eine ähnliche Richtung geht die Charakterisierung des Art. 146 GG von Möllers, der feststellt, dass Art. 146 GG ein „verfassungstheoretisches Element“ in Bezug nimmt und somit die Abgrenzung verfassungsrechtlicher Inhalte zu Gegenständen der Verfassungstheorie erschwert743. Bereits diese zusammenfassenden Charakterisierungen der Vorschrift lassen erahnen, dass Art. 146 GG – abgesehen von den kontroversen rechtlichen Interpretationsmöglichkeiten im Detail – in seiner grundsätzlichen heutigen Bedeutung nur im systematischen Zusammenhang mit der Vorgängervorschrift des Art. 146 GG a. F. und der damit verbundenen, ursprünglich intendierten Vorläufigkeit des Grundgesetzes erfasst werden kann. Die „Altlast“ seiner Vorgängervorschrift bei einer vollständigen Auslegung verdankt Art. 146 GG jedoch auch den Interpretationen, die eine Fortführung der Möglichkeit einer Verfassungsablösung nach der Wiedervereinigung für nicht sachgerecht oder sogar verfassungswidrig ansehen. Als Folge dieser Gegebenheiten fließen sowohl verfassungsrechtliche, als auch verfassungsgeschichtliche und verfassungspolitische Gesichtspunkte in die Interpretation der heutigen Form des Schlussartikels mit ein744. Im Folgenden soll zunächst ein Überblick über den geschichtlichen Hintergrund und die ursprüngliche Funktion des Art. 146 GG a. F. gegeben werden, bevor die seit der deutschen Wiedervereinigung bestehenden kontroversen Deutungen der aktuellen Vorschrift dargestellt werden und anhand einer Auslegung des Art. 146 GG n. F. gezeigt wird, wieso die Zukunft der deutschen Verfassung auch heute noch offen ist und Art. 146 GG eine Verfassungneugebung durch Volksentscheid bis zum heutigen Tage ermöglicht. 1. Geschichtlicher Hintergrund zu Art. 146 GG a. F.: das Grundgesetz als intendierte Übergangsverfassung Die Frage nach der ursprünglichen Funktion des Schlussartikels ist untrennbar verknüpft mit dem Vorläufigkeitscharakter, der dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nach der Intention seiner Architekten zukam. Zum Teil resultierte diese Vorläufigkeit daraus, dass man die staatsrechtliche Einheit Deutschlands nicht durch die Entscheidung für eine endgültige, vollwertige Verfassung der drei Westzonen gefährden wollte745. Als das Grundgesetz am 8. Mai 1949 verabschiedet wurde, ging man im Parlamentarischen Rat sicher nicht davon aus, 743

Möllers, Staat (Fn. 48), S. 199 f. Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 299. 745 So H. P. Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950, S. 9. Ipsen nennt als weitere Gründe für die Schaffung eines bloßen „Organisationsstatuts“ das damalige Fehlen einer „echten deutschen“ verfassunggebenden Gewalt aufgrund der fortdauernden Besatzung, die Gefahr eines sich verfassungsrechtlich niederschlagenden Einflusses der Besatzungsmächte, die im Rahmen ihrer Kriegszielbestimmung und ihrer Besatzungspolitik Interventionen vorgesehen hatten sowie die besondere Ausnahme- und Übergangssituation in 744

II. Rechtstheoretische Einordnung von Art. 146 GG a. F.

173

dass diese provisorische Verfassung746 über sechzig Jahre lang in bis dato beispielloser Stabilität gelten werden würde747. Lediglich bis zur (zeitnah erwarteten) Wiedervereinigung Deutschlands sollte das Grundgesetz dem „staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung“ 748 sichern. Nach vollendeter Wiedervereinigung der Nation sollte der Weg frei sein für eine gesamtdeutsche Verfassung, welcher der „Geruch der Einwirkung durch die drei westlichen Besatzungsmächte“ 749 nicht mehr anhaftete. Diese Verfassung sollte – und hier gewinnt Art. 146 GG a. F. an Relevanz – ohne inhaltliche Vorgaben und Vorbehalte seitens der alliierten Besatzungsmächte selbstbestimmt und souverän erarbeitet werden können750. Der Schlussartikel Art. 146 GG a. F. war also eine Art verfassungsrechtliches „Hintertürchen“, mit dem man das Grundgesetz trotz seines Charakters als „Kind der Eile“ 751 vorausschauend ausstattete. Deutschland zur Zeit der Schaffung des Grundgesetzes, die die Schaffung einer abschließenden verfassungsmäßigen Ordnung erschwert habe. 746 Dass der Begriff „Provisorium“ zur Betonung der Vorläufigkeit des Grundgesetzes schon im Bericht des Herrenchiemseer Verfassungskonvents vom August 1948 auftaucht und bis heute benutzt wird, betont H. Dreier, Das Grundgesetz unter Ablösungsvorbehalt?, in: ders. (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, Sechs Würzburger Vorträge zu 60 Jahren Grundgesetz, 2009, S. 159 (161) mit Verweis auf T. Heuss in seiner Abschiedsrede vom 12. September 1959 („Provisorium und Transitorium“), W. Hoffmann-Riem, Das Grundgesetz – zukunftsfähig?, in: DVBl. 1999, S. 657 (658) und D. Grimm, Identität und Wandel – das Grundgesetz 1949 und heute, in: Leviathan 37 (2009), S. 603 (603); ebenso Voßkuhle, Einführung (Fn. 75), S. 11. 747 Voßkuhle, Einführung (Fn. 75), S. 11 („Die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes war nicht absehbar“); ähnl. Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 187, der die Wertschätzung gegenüber dem Grundgesetz auch in den neuen Bundesländern betont; Thym, Integration (Fn. 34), S. 575, der die „einzigartige Stabilität“ des Grundgesetzes als „dauerhaft belastbare Ordnung“ betont; P. M. Huber, Das europäisierte Grundgesetz, in: DVBl. 2009, S. 574 (582) sieht das ursprünglich provisorische Grundgesetz als „unangefochtene Verfassung des deutschen Nationalstaats etabliert“; dass das Grundgesetz die freiheitlich demokratische Grundordnung bis heute zu einer Selbstverständlichkeit gemacht hat, betont Schäuble, Grundordnung (Fn. 188), S. 65; ders., Grundgesetz (Fn. 70), S. 87 bescheinigt dem Grundgesetz zudem die Eigenschaft eines „Glücksfall[s] in der deutschen Geschichte“. 748 Zippelius, Einheit (Fn. 66), S. 289; Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 1 („Übergangsverfassung“); so auch die Präambel des Grundgesetzes in ihrer ursprünglichen Fassung bis 29.9.1990, siehe deren Abdr. bei Dreier/Wittreck, Grundgesetz (Fn. 126), S. 16, Fn. 1. 749 So C. Tomuschat, Wege zur deutschen Einheit, in: VVDStRL 49 (1990), S. 70 (75) in Bezug auf das Grundgesetz in seiner Urfassung; ähnl. im Zusammenhang mit Art. 146 GG Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 745 f. 750 So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 160; ebenso bereits Ipsen, Grundgesetz (Fn. 745), S. 8 f., 27, der resümiert, dass sich das Grundgesetz „in seinem Verzicht darauf, eine Verfassung eines ganzen Deutschlands sein zu wollen, und in seinem Wesen, als vorläufige Verfassung eines Teiles Deutschlands zu gelten“ zu diesem provisorischen Charakter bekenne, „bis das Schicksal uns eine Verfassung für das ganze Vaterland vergönnt“. 751 So die Bezeichnung von F. Kirchhof, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaats, Vortrag bei der Juristischen Studiengesellschaft in Münster, 29.9.2010.

174

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Die intendierte Vorläufigkeit des Grundgesetzes ist ihm durch seine Bezeichnung noch heute auf die Stirn geschrieben, denn diese provisorischen Planungen fanden ihren Niederschlag in der Begrifflichkeit von „Parlamentarischem Rat“ und „Grundgesetz“, die insofern untypisch waren, als sie von der bis dahin üblichen Betitelung einer „Verfassung“ als ranghöchster nationaler deutscher Rechtsquelle abwichen752. So offenkundig diese Bezeichnung das Grundgesetz als Übergangslösung erscheinen ließ, so vollständig war jedoch dessen Inhalt, welcher sachlich nicht nur die Organisation der Staatsangelegenheiten umfasste, sondern auch das Verhältnis von Bürger und Staat anhand der an den Anfang des Texts gestellten Grundrechte detailliert prägte und Staatszielbestimmungen enthielt. Sachlich war das Grundgesetz damit von Beginn an als „Vollverfassung“ anzusehen753. a) Scheinbarer Widerspruch zwischen Provisorium und Ewigkeitsbekenntnis des Art. 79 Abs. 3 GG Als prima facie widersprüchlichste Regelung innerhalb des intendiert vorläufigen Grundgesetzes erscheint die sogenannte Ewigkeitsklausel754 in Art. 79 Abs. 3 GG, welche die Grundsätze der Art. 1 und 20 GG als Kernelemente des Grundgesetzes unabänderlich und dauerhaft gegen die verfassten Gewalten in Form des verfassungsändernden Gesetzgebers etabliert755. Die Klausel ist ein na752

Voßkuhle, Einführung (Fn. 75), S. 11; instruktiv hier wiederum Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 161, der darauf hinweist, dass, nachdem die drei Westalliierten in den „Frankfurter Dokumenten“ eine „constitution“ zugelassen hatten, vor allem die Ministerpräsidenten der Länder die Bezeichnung als „Grundgesetz“ favorisiert hatten, um eine Betonung der Spaltung Deutschlands durch die Schaffung einer endgültigen westdeutschen „Verfassung“ zu vermeiden. 753 So das Fazit von Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 161 f., der dies zudem daran veranschaulicht, dass das Grundgesetz an einigen Stellen von sich selbst als „Verfassung“ spricht, so z. B. in Art. 5 Abs. 3 GG („Treue zur Verfassung“), in Art. 9 Abs. 2 GG sowie Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 28 Abs. 1, 3 GG („verfassungsmäßige Ordnung“), in Art. 21 Abs. 2 GG und Art. 26 Abs. 1 GG („verfassungswidrig“) und in Art. 93 GG („Bundesverfassungsgericht“, „Verfassungsbeschwerden“); Thym, Integration (Fn. 34), S. 575, beschreibt den Gegensatz von Bezeichnung und Inhalt des Grundgesetzes gleichsinnig als „praxistaugliche Balance zwischen Rigidität und Flexibilität“; Analyse einer inhaltlich „echten Verfassung“ bereits bei Ipsen, Grundgesetz (Fn. 745), S. 10 ff. 754 Statt aller Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 1 ff., 14 ff.; ders., Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 163 m.w. N. 755 Art. 79 Abs. 3 GG ist in seiner entstehungsgeschichtlich als Reaktion, insbesondere im Hinblick auf die „legale“ Machtergreifung A. Hitlers und das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 zu begreifen. Er soll durch die Unabänderbarkeit der genannten Prinzipien eine „legale“ Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Wege eines Umsturzes verhindern, siehe Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 744 f. sowie H. Dreier/F. Wittreck, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – Entstehung und Entwicklung, Gestalt und Zukunft, in: dies. (Hrsg.), Grundgesetz (Fn. 126), S. XII (XVI f.).

II. Rechtstheoretische Einordnung von Art. 146 GG a. F.

175

hezu beispielloses Konstrukt756 materieller Verrechtlichung über den parlamentarischen Gesetzgeber hinaus und als Resultat negativer Erfahrungen mit der Änderungsoffenheit der Weimarer Reichsverfassung757 entstanden758. Wäre ein Widerspruch zwischen Bezeichnung und Inhalt des Grundgesetzes unter Umständen hinnehmbar gewesen, so wurde es teilweise als widersprüchlich beziehungsweise paradox bezeichnet759, dass das Grundgesetz sich auch in seinem Inhalt zu widersprechen schien. Denn der Ablösevorbehalt der Art. 146 GG a. F. lag, wie gesehen, nicht nur auf einer Linie mit der Vorläufigkeit des Grundgesetzes, er unterstrich diese sogar noch und stand damit der Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG offenbar widersprüchlich gegenüber. b) Verschiedene Ansichten zur Auflösung des Widerspruchs Die Frage, wie dieser angeblich offensichtliche Widerspruch zu erklären sei, wurde auf unterschiedlich Weise beantwortet760. Die beiden wohl relevantesten Ansichten sollen im Folgenden dargestellt werden. aa) Das Grundgesetz als bedingt vorläufige, „treuhänderisch-vorsorgliche Ordnung“ Vornehmlich Isensee sieht in dem beschriebenen Spannungsverhältnis ein Scheinwiderspruch, der sich mit Vollendung der Wiedervereinigung Deutschlands aufgelöst habe761. Er entnimmt dies der ursprünglichen Präambel des 756 Zur ältesten vergleichbaren Regelung in der Verfassung eines selbstständigen Staats, Art. 112 Abs. 1 S. 3 der Verfassung Norwegens vom 4. November 1814, welche Änderungen, die den Grundsätzen der Verfassung widerspochen oder ihren Geist verändert hätten, untersagte, siehe Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 1; ferner P. Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, in: Y. Hangartner (Hrsg.), Völkerrecht im Dienste des Menschen – Festschrift für Hans Haug, 1986, S. 81 (82 ff.); Pernice, Bestandssicherung (Fn. 678), S. 230 sowie H. Möller, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes und die Schranken der Verfassungsrevision, 2004, S. 118 ff. 757 So die gängige Bezeichnung der Verfassung des Deutschen Reiches v. 11. August 1919 (RGBl. 1919, S. 1383 ff.); einen Überblick über die wesentlichen Neuerungen des Grundgesetzes gegenüber der Weimarer Reichsverfassung bietet Wahl, Elemente (Fn. 72), S. 1042 f.; näher zu der Frage, ob das Grundgesetz eine „juristische Antithese“ zur Weimarer Reichsverfassung war und ist, siehe C. Gusy, Die Weimarer Verfassung und ihre Wirkung auf das Grundgesetz, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte (32) 2010, S. 208 ff. 758 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 164. 759 So H. Huba, Das Grundgesetz als dauerhafte gesamtdeutsche Verfassung. Erinnerung an seine Legitimität, in: Der Staat 30 (1991), S. 367 (370 f.). 760 Instruktiv zu den verschiedenen Sichtweisen Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 419 ff. 761 J. Isensee, Staatseinheit und Verfassungskontinuität, in: VVDStRL 49 (1990), S. 39 (52).

176

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Grundgesetzes. Diese lautete bis zu ihrer Änderung im Zuge der deutschen Wiedervereinigung mit Wirkung zum 29.9.1990 wie folgt: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren [. . .] hat das Deutsche Volk [. . .] um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. [. . .] Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ 762.

Durch die darin enthaltene Feststellung, dass das Deutsche Volk bei Erlass des Grundgesetzes auch für die von der Mitwirkung ausgeschlossenen Deutschen gehandelt hatte, komme die Intention zur Schaffung einer in Bezug auf das Wiedervereinigungsziel endgültigen, „treuhänderisch-vorsorglichen Ordnung“ zum Audruck763. So sei das Grundgesetz nur unter der Bedingung, dass die Wiedervereinigung über Art. 146 GG erfolgen würde, provisorisch gewesen. Unter der Bedingung, dass sie über Art. 23 GG verlaufen würde, sei es jedoch endgültig gewesen (und dazu stehe auch Art. 79 Abs. 3 GG nicht im Widerspruch)764. Dass gegen diese Deutung einer bedingten Vorläufigkeit des Grundgesetzes jedoch die Systematik der Präambel in ihrer alten Fassung spricht, beweist Wiederin765. Zunächst erscheint es sehr fragwürdig, die darin enthaltene Aussage, es werde für die von der Mitwirkung ausgeschlossenen Deutschen gehandelt, als rechtlich verbindliche Stellvertretung (etwa analog Art. 59 Abs. 1 GG oder §§ 164 ff. BGB) anzusehen. Bereits der politisch deklarative Charakter dieses Ausspruchs dürfte dies nicht zulassen766. Ferner erfolgte das treuhänderische Handeln für den von einer Mitwirkung ausgeschlossenen Teil Deutschlands nur insoweit, wie damals durch die Schaffung des Grundgesetzes tatsächlich gehandelt wurde und erschöpfte sich in diesem Schritt. Da der Verfassunggeber sich ausdrücklich darauf beschränkte, „dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“ 767, bezog sich auch die Vertretung für den verhinderten Teil der Deutschen nur auf die Schaffung einer als provisorisches Grund-

762 Vollst. Abdr. dieser Fassung der Präambel bei Dreier/Wittreck, Grundgesetz (Fn. 126), S. 16, Fn. 1; zum klagenden, verzichtenden Charakter der letzten Passagen der ursprünglichen Präambel Ipsen, Grundgesetz (Fn. 745), S. 39 f. 763 Isensee, Staatseinheit (Fn. 761), S. 52 f.; 189 f. 764 Isensee, Staatseinheit (Fn. 761), S. 52; ebenso M. Heckel, Staat – Kirche – Recht – Geschichte, in: K. Schlaich (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 3, 1997, S. 61 Rn. 106. 765 Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 420. 766 Vgl. dazu bereits eingehend Murswiek, Gewalt (Fn. 722), S. 66 ff., 71; ebenso Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 420. 767 Vgl. wiederum den Wortlaut der ursprünglichen Präambel bei Dreier/Wittreck, Grundgesetz (Fn. 126), S. 16 Fn. 1.

II. Rechtstheoretische Einordnung von Art. 146 GG a. F.

177

gesetz ausgestalteten Verfassung768. Es besteht daher bei genauer Betrachtung gar kein Bedarf nach der Auflösung der scheinbaren Antinomie über eine so komplexe Konstruktion einer bedingten Vorläufigkeit des Grundgesetzes769. bb) Ewigkeitsklausel unter dem Vorbehalt von Art. 146 GG a. F. Augenscheinlich plausibel hingegen ist die vornehmlich von Dreier770 und Wiederin771 gewählte Interpretation, die diesen Widerspruch ebenso durch Rückgriff auf die ursprüngliche Präambel des Grundgesetzes, jedoch auch anhand der ursprünglichen Schlussbestimmung des Art. 146 GG a. F.772 auflösen. Bis zu einer Änderung im Zuge der deutschen Wiedervereinigung lautete Art. 146 GG (a. F.) wie folgt: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Nach dieser Ansicht brachte das Grundgesetz klar zum Ausdruck, dass es Grundgesetz während seiner Gültigkeit die die gesamte staatliche Gewalt bindende Verfassung darstellt und Verfassungsänderungen nur in dem durch Art. 79 Abs. 3 GG negativ definierten Umfang zulässig sind. Dieser stabile Status sollte jedoch nur bis zu dem zukünftigen Zeitpunkt aufrechterhalten werden, in dem sich das deutsche Volk nach erfolgter Wiedervereinigung Deutschlands „in freier Entscheidung“ eine neue Verfassung geben würde und damit das – in sich zwar stabile – insgesamt jedoch provisorische Grundgesetz ablösen würde773. Auch der jeglicher Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogene Gehalt des Art. 79 Abs. 3 GG war nach dieser Lesart nur für die (begrenzte) Gültigkeitsdauer des insgesamt vorläufigen Grundgesetzes gesichert. Der ewige Geltungsanspruch des Grundgesetzes in Art. 79 Abs. 3 GG reichte nur so weit, wie das Grundgesetz insgesamt überhaupt Geltung beansprucht774. Eine originäre 768

Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 420. Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 420. 770 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 164 ff. 771 Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 420 f. 772 Abgedruckt bei Dreier/Wittreck, Grundgesetz (Fn. 126), S. 141 mit Fn. 1. 773 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 164 f.; Gusy, Verfassung (Fn. 757), S. 209, sieht den Ablösevorbehalt des Art. 146 GG a. F. auch als endgültigen Abschied von der Weimarer Reichsverfassung und Ausdruck eines intendierten „staatsrechtlichen Neubeginns“; a. A. H. Huba, Das Grundgesetz als dauerhafte gesamtdeutsche Verfassung. Erinnerung an seine Legitimität, in: Der Staat 30 (1991), S. 367 (371) sowie ders., Zwei Wege zur Einheit und die Endgültigkeit des Grundgesetzes, in: VBlBW 1990, S. 288 (293), der zwischen Art. 79 Abs. 3 GG und Art. 146 GG a. F. „nicht nur ein Spannungsverhältnis, sondern ein[en] kontradiktorische[n] Widerspruch“ sah, der nach seiner Ansicht „prinzipieller interpretorischer Auflösung“ bedurfte. 774 Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 420 f., der Art. 146 GG a. F. sogar als lex specialis zu Art. 79 Abs. 3 GG ansieht, mit Verweis auf Ipsen, Grundgesetz 769

178

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

„Ewigkeits“klausel stellte Art. 79 Abs. 3 GG somit angesichts des in Art. 146 GG a. F. enthaltenen Vorbehalts nicht dar. Die Vorschrift des Art. 146 GG a. F., welche die zeitliche Geltung des Grundgesetzes betraf, erscheint also bei genauer Betrachtung keineswegs antinomisch, da systemwidrig im Verhältnis zu den unumstößlichen Festsetzungen in Art. 79 Abs. 3 GG. Die Schlussvorschrift ist vielmehr vor dem Hintergrund der Tatsache zu betrachten, dass das ursprüngliche Grundgesetz in Ansehung einer mittelfristig bevorstehenden deutschen Wiedervereinigung und der damit bestehenden Möglichkeit der Verfassunggebung ohne besatzungsrechtliche Beschränkungen die Selbstaufgabe ausdrücklich vorsah775. In Art. 146 GG a. F. ist damit der Grund dafür zu finden, dass das sachlich-inhaltlich als vollwertige Verfassung konstruierte Grundgesetz seine die Vorläufigkeit betonende Bezeichnung tatsächlich aufgrund der grundgesetzlichen Eigenschaft als zeitliche und – vor dem Hintergrund der avisierten Wiedervereinigung Deutschlands auch räumliche – Interimslösung verdiente776. c) Art. 146 GG a. F. als Ausdruck fehlender freier Selbstbestimmung Die ursprüngliche Fassung des Schlussartikels war also – in Kombination mit der Präambel und Art. 23 GG a. F. – als Antwort und potentieller Ausweg aus der staatsrechtlichen und der damit verbundenen gesellschaftlichen Lage der jeweils (Fn. 745), S. 28, der bereits kurz nach Schaffung des Grundgesetzes ahnt, dass Art. 79 GG geeignet ist, „die Vorläufigkeit des Grundgesetzes und seinen notwendigen Verzicht auf uneingeschränkte Ableitung aus dem pouvoir constituant in einer Weise zu verhüllen, die der Idee der verfassunggebenden Gewalt nicht nur dienlich ist“. 775 So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 165 f. mit Bezug zu der gebräuchlichen Bezeichnung von Art. 146 GG a. F. als „Ablösungs-“ oder „Ablösevorbehalt“; dass diese (eigentlich selbstverständliche) Verweisung des Grundgesetzes auf sein eigenes mögliches Ende (etwa aus den Augen eines unbefangenen Marsbewohners) insbesondere im Hinblick auf das in Art. 20 Abs. 4 GG enthaltene Widerstandsrecht durchaus ungewöhnlich erscheint, sieht Lerche, Fragen (Fn. 732), S. 76 f., der jedoch zugleich das Widerstandsrecht gegen gemäß Art. 146 GG ergriffene, vorbereitende Maßnahmen und Verfahrensschritte gehemmt sieht, da das Grundgesetzes solche „verfassungsfeindlichen“ prozeduralen Schritte angesichts der Existenz des Art. 146 GG ausdrücklich vorsehe (ders., Auftrag [Fn. 732], S. 305); Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 424 sieht die entscheidenden Gründe für die Schaffung des Art. 146 GG a. F. in der damaligen „Situation der Unfreiheit“, sowie im Mangel an demokratischer Legitimation bei der Schaffung des Grundgesetzes, nicht in der deutschen Teilung. 776 So das Fazit bei Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 166; gleichsam stellte das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) fest: „Art. 146 GG beschränkt die Geltung des Grundgesetzes auf die Zeit bis zum Inkrafttreten einer Verfassung, ,die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist‘, bringt also klar zum Ausdruck, daß erst diese Verfassung als die endgültige Entscheidung des deutschen Volkes über seine staatliche Zukunft angesehen wird“ (BVerfGE 5, 85 [127]); dazu auch Voßkuhle, Einführung (Fn. 75), S. 11 f.

II. Rechtstheoretische Einordnung von Art. 146 GG a. F.

179

unter Besatzungsherrschaft stehenden geteilten deutschen Staatsgebilde in der Nachkriegszeit geschaffen worden777. Dies signalisierte bereits der damalige Wortlaut der das Grundgesetz umklammernden Vorschriften, welcher die Zielvorstellungen der „freien Selbstbestimmung“, der staatlichen „Einheit“ Deutschlands und der „Freiheit“ des deutschen Volks beinhaltete und damit klarstellte, dass das Grundgesetz in der damaligen Fassung gerade nicht auf einer freien Selbstbestimmung des deutschen Volks basierte778. Bisweilen wurde und wird Art. 146 GG a. F. sogar auf den Regelungszweck reduziert, dem „anderen Teil“ des deutschen Volks eine nachträgliche Möglichkeit zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechts einzuräumen und damit das Grundgesetz zwangsläufig unter Ablösungsvorbehalt zu stellen, indem es ausnahmsweise selbst die der Verfassung vorausgesetzte extrakonstitutionelle Souveränität der verfassunggebenden Gewalt779 des Volks adressiert780. Auch auf diese pointierte Interpretation wird im Gange der Untersuchung des Art. 146 GG n. F. noch einzugehen sein. Das Grundgesetz legitimierte seinen Geltungsanspruch ungeachtet der fehlenden Mitwirkungsmöglichkeit des „anderen Teils“ bei seiner Schaffung durch den Vorbehalt eines freien, gesamtdeutschen Verfassunggebungsakts781. Es tat dies jedoch, ohne den Mangel an direkter demokratischer Legitimation dadurch zu beseitigen, dass es durch eine Abstimmung des westdeutschen Volks angenommen wurde und damit ohne Gefahr zu laufen, die provisorisch gedachten Inhalte durch die Bestätigung des Volks zu verfestigen782. Der Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue, für das gesamte deutsche Volk geltende Verfassung sollte also zunächst die Beseitigung der Teilung 777 Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 3; H. Meyer, in: VVDStRL 49 (1990), S. 163 f.; Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 423 f. 778 Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 3; ebenso Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 14 sowie ders., Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 164 f. mit Hinweis darauf, dass für das Inkrafttreten des Grundgesetzes neben der Zustimmung der Volksvertretungen der Länder, auch die explizite Genehmigung der drei westlichen Militärgouverneure notwendig gewesen war und dass diese während der laufenden Beratungen im Parlamentarischen Rat mehrmals interveniert und (zumeist vergeblich) versucht hatten, dezentrale, föderalistische Strukturen im Grundgesetz durchzusetzen; Rekurs auf externe Beeinflussung der Beratungen und Entscheidungen des Bonner Rats schon bei Ipsen, Grundgesetz (Fn. 745), S. 25. 779 Dazu grundlegend Murswiek, Gewalt (Fn. 722), S. 146 ff. 780 R. Bartlsperger, Verfassung und verfassunggebende Gewalt im vereinten Deutschland, in: DVBl. 1990, S. 1285 (1295); anders ausdr. v. Komorowski, Demokratieprinzip (Fn. 431), S. 1223, der die verfassunggebende Gewalt unter anderem in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG geregelt sieht. 781 H. Moelle, Der Verfassungsbeschluß nach Artikel 146 Grundgesetz, 1996, S. 77. 782 Dies konstatiert Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 424. Entgegen dem Wunsch der Besatzungsmächte hatte man (bewusst) davon abgesehen, das Grundgesetz durch eine unmittelbare Abstimmung des Volks annehmen zu lassen.

180

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Deutschlands vorangehen. Art. 146 GG a. F., der dafür eine Alternative zur Beitrittsoption des Art. 23 GG a. F. enthielt783, sollte nach der Erreichung dieses Ziels der Wiederherstellung der Staatseinheit zudem die Grundlage für einen originären Akt der Verfassungneugebung durch das geeinte deutsche Volk bieten784. Eine weitere inhaltliche Ausgestaltung dieser Prozedur enthielt der knappe Wortlaut des Art. 146 GG a. F. nicht. Nach konsequenter, ganz herrschender Ansicht sollte diese Volksabstimmung über eine neue Verfassung daher mit dem demokratischen Mindestmaß einer einfachen Mehrheit möglich sein785. Als sich die in Art. 146 GG a. F. antizipierte Wiedervereinigung Deutschlands schließlich zum Ende der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts mit einiger „Verspätung“ realisierte, zeigte sich jedoch, dass der bei der Schaffung des Grundgesetzes vorgesehene Weg einer Verfassunggebung auf wenig Gegenliebe stieß. Zudem blieb der Wortlaut des Art. 146 GG – wie das Grundgesetz insgesamt – angesichts des absehbaren Endes der deutschen Teilung nicht unangetastet786. 2. Keine Anwendung des Art. 146 GG a. F. zum Zweck der Wiedervereinigung Die Verhandlungen zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands kann/darf man guten Gewissens als erste wirkliche Bewährungsprobe des Grundgesetzes ansehen787, in der naturgemäß auch über Bedeutungsgehalt und Anwendungs783

Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 5. Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 3; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 77; die bereits vor der Wiedervereinigung geäußerte These, eine Verfassunggebung auf Grundlage von Art. 146 GG a. F. und ohne Bindung an Art. 79 GG sei auch ohne die Mitwirkung des ostdeutschen Volks, also auch vor Erreichen der Wiedervereinigung Deutschlands möglich (so explizit der CDU-Bundestagsabgeordnete H. Dichgans, Eine verfassunggebende Nationalversammlung?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1968, S. 61 [62]), wurde folglich von der herrschenden Ansicht der Staatsrechtslehre abgelehnt (stellv. hier Murswiek, Gewalt [Fn. 722], S. 103 ff.; Überblick über die damalige Debatte bei J. Seifert, Totalrevision: Drohung mit dem Verfassungsbruch, in Kritische Justiz 2 [1969], S. 169 [170 f.]); den aus Praktikabilitätsgründen faktisch – nicht jedoch rechtlich bestehenden Zwang einer der Verfassunggebung vorhergehenden Wiedervereinigung der beiden Staaten betont Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 425. 785 Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 430; Isensee, Staatseinheit (Fn. 761), S. 49; Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 90. 786 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 168 f. mit Verweis auf einen Überblick über die Änderungen des Grundgesetzes im Zuge der Wiedervereinigung bei M. Herdegen, Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, 1991. 787 So K. Stern, Einführung, in: ders. (Hrsg.), 60 Jahre GG (Fn. 66), S. 7 (11); a. A. Lerche, Fragen (Fn. 732), S. 74, der die Wiedervereinigung zwar als „besonders erfreulichen Schritt“ ansieht, jedoch die wahre Bewährungsprobe einer Verfassung (rückblickend nicht ganz zu Unrecht) in deren Behauptung in Zeiten existenzieller Not und Gefahr (etwa einer elementaren Wirtschaftskrise) sieht und bezweifelt, dass diese mit dem Instrumentarium des Grundgesetzes beherrscht werden könne. 784

II. Rechtstheoretische Einordnung von Art. 146 GG a. F.

181

möglichkeit respektive -pflicht des Schlussartikels heftig diskutiert wurde788. Bereits im Vorfeld der Wiedervereinigung war aufgrund der Existenz zweier unabhängiger im Grundgesetz vorgesehener Wege zur Beendigung der Teilung Deutschlands in Art. 23 S. 2 GG a. F. und Art. 146 GG a. F. die Frage umstritten, ob die Deutsche Demokratische Republik (DDR) gemäß ersterer Vorschrift dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten solle oder ob die Wiedervereini788 Aus der damaligen Literatur vgl. etwa R. Bartlsperger, Verfassung und verfassunggebende Gewalt im vereinten Deutschland, in: DVBl. 1990, S. 1285 ff.; D. Blumenwitz, Braucht Deutschland ein neues Grundgesetz? Verfassungsgebende und verfassungsändernde Gewalt nach dem Einigungsvertrag, in: Zeitschrift für Politik 39 (1992), S. 1 ff.; C. Degenhart, Verfassungsfragen der deutschen Einheit, in: DVBl. 1990, S. 973 ff.; H.-U. Erichsen, Die Verfassungsänderung nach Art. 79 GG und der Verfassungsbeschluß nach Art. 146 GG, in: Jura 1992, S. 52 ff.; D. Grimm, Zwischen Anschluß und Neukonstitution. Wie aus dem Grundgesetz eine Verfassung für das geeinte Deutschland werden kann, zuerst veröffentlicht in: FAZ v. 5.4.1990, S. 35 – Abdr. in: ders., Die Verfassung und die Politik, 2001, S. 35 ff.; P. Häberle, Verfassungspolitik für die Freiheit und Einheit Deutschlands. Ein wissenschaftlicher Diskussionsbeitrag im Vormärz 1990, in: JZ 1990, S. 358 ff.; D. Heckmann, Verfassungsreform als Ideenwettbewerb zwischen Staat und Volk – Zur Harmonisierung von Art. 79, 146 GG und Art. 5 EV –, in: DVBl. 1991, S. 847 ff.; Huba, Grundgesetz (Fn. 773), S. 367 ff.; J. Isensee, Staatseinheit und Verfassungskontinuität, in: VVDStRL 49 (1990), 1990, S. 39 ff.; ders., Braucht Deutschland eine neue Verfassung? Überlegungen zur neuen Schlußbestimmung des Grundgesetzes, Art. 146 GG, 1992; B. Jeand’Heur, Weitergeltung des Grundgesetzes oder Verabschiedung einer neuen Verfassung in einem vereinigten Deutschland?, in: DÖV 1990, S. 873 ff.; B. Kempen, Grundgesetz oder neue deutsche Verfassung?, in: NJW 1991, S. 964 ff.; Kirchhof, Grundgesetz (Fn. 662); M. Kriele, Eine Sprengladung unter dem Fundament des Grundgesetzes, in: Die Welt Nr. 190 v. 16.8.1990, S. 5; P. Lerche, Beitritt der DDR und dazu ein Volksentscheid?, in: FAZ v. 27.4.1990, S. 10; A. Randelzhofer, Das Grundgesetz unter Vorbehalt? Zum neuen Art. 146 GG, in: K. Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Bd. 1, 1991, S. 141 ff.; D. Rauschning, Deutschlands aktuelle Verfassungslage, in: DVBl. 1990, S. 393 ff.; G. Roellecke, Schwierigkeiten mit der Rechtseinheit nach der deutschen Wiedervereinigung, in: NJW 1991, S. 657 ff.; ders., Brauchen wir ein neues Grundgesetz?, in: NJW 1991, S. 2441 ff.; H. H. Rupp, Verfassungsprobleme auf dem Weg zur Europäischen Union, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1990, S. 1 ff.; M. Sachs, Das Grundgesetz im vereinten Deutschland – endgültige Verfassung oder Dauerprovisorium?, in: JuS 1991, S. 985 ff.; K.-D. Schnapauff, Der Einigungsvertrag: Überleitungsgesetzgebung in Vertragsform, in: DVBl. 1990, S. 1249 ff.; C. Starck, Deutschland auf dem Wege zur staatlichen Einheit, in: JZ 1990, S. 349 ff.; K. Stern, Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit, in: ders./B. Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Verträge und Rechtsakte zur deutschen Einheit, Bd. 2, 1990, S. 3 ff.; ders., Der verfassungsändernde Charakter des Einigungsvertrages, in: Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift 1990, S. 289 ff.; C. Tomuschat, Wege zur deutschen Einheit, in: VVDStRL 49 (1990), S. 70 ff.; R. Wahl, Die Verfassungsfrage nach dem Beitritt, in: StWStPr 1 (1990), S. 468 ff.; H. Weis, Verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, in: Archiv des öffentlichen Rechts 116 (1991), S. 1 ff.; J. Wuermeling, Auf dem Weg zur Einheit: die Rolle der deutschen Bundesländer, in: NJW 1990, S. 1079 ff.; T. Würtenberger, Art. 146 GG n. F.: Kontinuität oder Diskontinuität im Verfassungsrecht?, in: K. Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Bd. 1, 1991, S. 95 ff.; R. Zippelius, Quo vadis Grundgesetz?, in: NJW 1991, S. 23; zusammenfassend mit zahlreichen Belegen B. Guggenberger/T. Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit. Analysen – Hintergründe – Materialien, 1991.

182

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

gung durch die Schaffung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung auf Grundlage des letzteren Artikels zu vollenden sei789. Die in erster Linie politisch geprägte Frage790, welcher dieser beiden Wege beschritten werden sollte, warf unter staatsrechtlichem Blickwinkel die Frage nach dem Verhältnis der beiden Grundgesetzartikel auf. Überwiegend wurden Art. 23 S. 2 GG a. F. und Art. 146 GG a. F. als einzige und zwingend alternative, sich ausschließende Wege zur Überwindung der Teilung angesehen, welche sich entweder durch Verfassungskontinuität per Beitritt der DDR oder durch die Schaffung einer neuen, gesamtdeutschen Verfassung erreichen ließe791. Andere Verfahren, etwa eine Mitwirkung des Volks über den Weg des Art. 23 S. 2 GG a. F. in Form einer Volksabstimmung über die Frage, ob die Bundesrepublik bereit wäre, einen Beitritt der DDR nach Art. 23 S. 2 GG a. F. zu akzeptieren, wurde allgemein als unzulässig angesehen. Die Vorschrift stelle ihrem Wortlaut nach den Beitritt der DDR gerade nicht unter einen solchen Vorbehalt792. Nach Vollendung der Wiedervereinigung Deutschlands im Wege der Eingliederung der neuen Bundesländer zum Staatsgebiet der Bundesrepublik durch den Einigungsvertrag gemäß Art. 23 GG a. F. und nach Aufhebung der besatzungsrechtlichen Beschränkungen durch den in Moskau unterzeichneten „Zwei-plusVier-Vertrag“ 793 vom 12. September 1990 wurde jedenfalls eine Zielsetzung des 789 Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 5; Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 173 f.; ders. (Fn. 670), Art. 146 Rn. 29; Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 4 f.; ausf. zur damaligen Diskussion Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 32 ff. 790 So bereits im Vorfeld der Wiedervereinigung Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 92; jetzt Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 172 f. („Kampf ums Grundgesetz“). 791 R. Bartlsperger, Die Rechtslage Deutschlands, 1990, S. 46; von Campenhausen/ Unruh (Fn. 704), Art. 146 Rn. 10 f.; E. Grabitz/A. v. Bogdandy, Deutsche Einheit und europäische Integration, in: NJW 1990, S. 1073 (1075); P. Häberle, Verfassungspolitik für die Freiheit und Einheit Deutschlands, in: JZ 1990, S. 358; Isensee, Staatseinheit (Fn. 785) S. 53 f.; ders., Schlußbestimmung (Fn. 669), § 166 Rn. 9; Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 3 f.; E. Klein, An der Schwelle zur Wiedervereinigung Deutschlands, in: NJW 1990, S. 1065 (1069); Rauschning, Verfassungslage (Fn. 788), S. 401; ausdr. Scholz (Fn. 179), Art. 146 (1991) Rn. 4; C. Starck, Deutschland auf dem Wege zur staatlichen Einheit, in: JZ 1990, S. 349 (352); Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 70 (72 f.), hielt neben Art. 146 GG a. F. und Art. 23 S. 2 GG a. F. auch andere Wege zur Schaffung der deutschen Einheit für möglich, etwa den eines völkerrechtlichen Vertrags, einer deutschen Konföderation oder den einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Den genannten zwingenden gegenseitigen Ausschluss beider Alternativen vertrat ebenfalls J. Wuermeling, Auf dem Weg zur Einheit: Die Rolle der deutschen Bundesländer, in: NJW 1990, S. 1079 (1080); Zippelius, Einheit (Fn. 66), S. 289; zum umstrittenen Verhältnis der beiden damaligen Grundgesetzartikel siehe auch die Debatte zwischen Frowein und Isensee, in: VVDStRL 49 (1990), S. 562 ff. 792 Statt vieler Rauschning, Verfassungslage (Fn. 788), S. 401; Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 86. 793 BGBl. 1990 II, S. 1318; dazu K. Stern, Der Zwei-plus-Vier-Vertrag – das völkerrechtliche Grundsatzdokument zur Wiederherstellung der deutschen Einheit, in: BayVBl. 1991, S. 523 ff.

II. Rechtstheoretische Einordnung von Art. 146 GG a. F.

183

Art. 146 GG a. F. erreicht. Durch Art. 7 Abs. 2 dieses Vertrags wurde dem wiedervereinten Deutschland von den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs die volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten zurückgewährt794. Es sind die hieraus resultierenden Fragen, ob und inwieweit die Option der verfassungspolitischen Erwartungsnorm durch diese Entwicklungen erfüllt oder abhanden gekommen ist, und welche verbleibende Regelungsoption Art. 146 GG n. F. noch enthält, die den kontroversen Charakter des Schlussartikels in der heutigen Fassung maßgeblich begründen. Im Zuge der Interpretation der durch die Wiedervereinigung veranlassten Neufassung gilt es, sich zunächst vor Augen zu führen, wieso die Art. 146 GG a. F. zur Realisierung der Wiedervereinigung trotz seiner entsprechenden funktionalen Bestimmung gerade nicht in Anspruch genommen wurde und stattdessen ein (neugefasster) Art. 146 GG am Schluss des Grundgesetztexts plaziert wurde. a) Politische Gründe für die Wahl des „Beitritts gemäß Art. 23 S. 2 GG a. F.“ Die während der Zeit der friedlichen Revolutionen im Oktober des Jahres 1989 noch wenig konkreten Forderungen nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurden ab Ende des Jahres von verschiedenen Seiten mit mehr Nachdruck erhoben795. Während vor Vollendung der Wiedervereinigung Deutschlands zur Jahreswende zunächst noch verschiedene Möglichkeiten deren rechtlicher Realisierung – etwa eine „Vertragsgemeinschaft“ 796 oder ein sukzessiv gestufter Plan im Sinne einer „Vertragsgemeinschaft, Konföderation, Föderation“ 797 – hart diskutiert worden waren798, realisierten sich jedoch mit Abschluss des Einigungsvertrags in Bezug auf die Verfassungsfrage die zuvor stets gehegten Vorbehalte gegenüber der Anwendung des Art. 146 GG a. F. 794 Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 31; zu den Viermächte- und Dreimächtepositionen zur Mitwirkung bei der Regelung dieser „deutschen Frage“ siehe Rauschning, Verfassungslage (Fn. 788), S. 395 ff.; J. A. Frowein, Die Verfassungslage Deutschlands im Rahmen des Völkerrechts, in: VVDStRL 49 (1990), S. 7 (11 ff.); S. Fröhlich, Umbruch in Europa – die deutsche Frage und ihre sicherheitspolitischen Herausforderungen für die Siegermächte, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 40 (1990), S. 35 ff. 795 Hillgruber, Revolutionen (Fn. 169), S. 195; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 126 f.; Rauschning, Verfassungslage (Fn. 788), S. 394. 796 So der Vorschlag vom Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, H. Modrow, in der Regierungserklärung vor der Volkskammer am 17.11.1989. 797 Vgl. diese Überlegungen etwa bei Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 70 (72 f.). 798 So konstatierend Stern, Einführung (Fn. 787), S. 12; ebenso Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 33 („lange Debatte“), die festhält, dass für eine Anwendung des Art. 146 GG insbesondere angeführt worden war, dass die Vereinigung als partnerschaftlicher Prozess zu vollziehen sei, um eine Identifikation mit dem wiedervereinigten Staat in beiden Gebieten gleichermaßen sicherzustellen.

184

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Schon im Laufe des gesamten beschleunigten politischen Wiedervereinigungsprozesses nach dem Mauerfall erwies sich für eine Herstellung der deutschen Einheit der Weg eines umfassenden Prozesses der Verfassungneugebung als zu langwierig für das relativ kurze Zeitfenster, das es angesichts der politisch instabilen Situation in Moskau seit dem dortigen Besuch Helmut Kohls im Februar 1990 zu nutzen galt799. Zudem wäre die Ausarbeitung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung neben der Befürchtung einer – dem Typus des deutschen Rechtswissenschaftlers entsprechenden – besonders langwierigen und gründlichen Diskussion800 nicht zuletzt mit risikoreichen politischen Unwägbarkeiten verbunden gewesen801. Die Zustimmung der Siegermächte und Nachbarstaaten zu einer weitgehend bekannten und damit berechenbaren Verfassung des vergrößerten Deutschlands schien leichter erlangbar802, so dass es neben dem zeitlichen Rahmen an der politischen Bereitschaft fehlte, den steinigen Weg einer Verfassunggebung anzutreten. Der Effekt der Zeitersparnis des Beitritts gemäß Art. 23 S. 2 GG a. F. wurde noch dadurch verstärkt, dass man so ein Scheitern der Wiedervereinigung aufgrund stockender innerdeutscher Verhandlungen über die völlige

799 Dieses Fazit ziehen neben Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 169 f., 172 unter anderem Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 100; Stern, Einführung (Fn. 787), S. 17; ders., Wiederherstellung (Fn. 788), S. 4; Klein, Schwelle (Fn. 791), S. 1070; Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 99 f.; Grimm, Anschluß (Fn. 900), S. 47 beschreibt dies als Bedürfnis einer von außenpolitischen Veränderungen unabhängigen „raschen Grundentscheidung“ über die Einheit; die herausragende Rolle des Zeitarguments in der damaligen verfassungsrechtlichen Diskussion betont Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 425; passend resümiert rückblickend W. Schäuble, Grundgesetz (Fn. 70), S. 92: „Aber falls wir um Rat gefragt worden wären [. . .] hätte ich, wie viele andere auch, für Artikel 23 plädiert, weil wir sonst eine neue Verfassung hätten ausarbeiten müssen. Ich vermute, wir würden heute noch damit beschäftigt sein und hätten darüber die historische Chance verspielt“. 800 So Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 33 mit Verweis auf E. Bülow, Die Entstehungsgeschichte des Art. 146 GG n. F., in: Stern, Wiedervereinigung (Fn. 732), S. 49 (51). 801 Ebenso Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 712), S. 425, der resümiert, dass die „politischen Kosten“ einer Wiedervereinigung zu hoch gewesen wären. Während der Weg des Art. 146 GG also „verfassungsrechtliches Neuland“ bedeutet hätte, hatte der Weg des Artikel 23 GG a. F. und dessen Befürworter nicht zuletzt einen historischen Präzedenz- und Bewährungsfall auf ihrer Seite: Der erfolgreiche Beitritt des Saarlands am 1. Januar 1957 zum Grundgesetz lege nahe, dass zeitliche und inhaltliche Übergangslösungen, die auch den Bedürfnissen des beitretenden Teils Rechnung tragen, zulässig und möglich seien, siehe J. Isensee, Verfassungsrechtliche Wege zur deutschen Einheit, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 73 (1990), S. 125 (130 ff.); A. Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, 2009, S. 283 ff. 802 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 172; Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 100; bereits Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 93 warnt, dass „jede an die Fundamente gehende Verfassungsreform“ mehr Geduld und Sorgfalt der Vorbereitung verlange, als im Vorfeld der Wiedervereinigung zur Verfügung stehe und erwähnt in diesem Zusammenhang das „Schicksal der Frankfurter Paulskirche“.

II. Rechtstheoretische Einordnung von Art. 146 GG a. F.

185

Neukonstruktion einer Verfassung vermeiden konnte803. Wenn man schon nicht den zügigen Abschluss der internationalen Verhandlungen des „Zwei-plus-VierVertrags“ beeinflussen konnte, so sah man jedenfalls die zügige Klärung der Verfassungsfrage als notwendigen Beitrag der deutschen Staaten zur Herbeiführung ihrer Wiedervereinigung an804. Aufgrund der Summe dieser Vorteile der Variante des Art. 23 GG, bildete sich damit schnell eine klare Mehrheit für die schnellere und politisch wie rechtlich unkompliziertere Lösung der Wiedervereinigungsfrage805. Die Anhängerschaft einer Verfassungneugebung gemäß Art. 146 GG a. F. hatte in dieser Kontroverse, welche die Verhandlungen des Einigungsvertrags stets begleitet hatte806, damit letztlich das Nachsehen. Für den weiteren Fortgang der Untersuchung sei an dieser Stelle jedoch betont, dass vorwiegend politische respektive taktische Erwägungen und nicht (verfassungs)rechtliche Gründe ausschlaggebend für die Wahl der Beitrittsvariante zur Vollendung der Wiedervereinigung beider Staaten waren. b) Wiedervereinigung durch völkerrechtlichen Einigungsvertrag Ungeachtet der schließlich realisierten deutschen Wiedervereinigung blieb das Grundgesetz in Kraft, wenn auch in veränderter Form807. Von einer durch Adenauer ursprünglich im Parlamentarischen Rat ausdrücklich bekräftigten Geltung des Grundgesetzes für eine Übergangszeit808 kann rückblickend also keine Rede sein. Im Gegenteil: Der Vergleich mit früheren deutschen Verfassungen zeigt, dass gerade das Grundgesetz langlebiger und politischer Dauerzustand ist809. 803 Diesen Punkt betont Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 92 beim Vergleich der beiden Wege zur Wiedervereinigung. 804 So zu verstehen ist wohl die Aussage von Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 92, der in der relativ zügigen Einigung in der Verfassungsfrage „in jedem Falle einen Gewinn“ sieht. 805 So konstatierte Manssen, Lage (Fn. 832), S. 460: „Politisch sind derzeit die Signale auf einen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des GG nach Art. 23 GG gestellt“; ebenso Degenhart, Verfassungsfragen (Fn. 788), S. 980 f. 806 So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 173, der kritisiert, dass in diesen Debatten oftmals „Verfassungsinterpretation und Verfassungspolitik [. . .] bis zur Unkenntlichkeit verschwammen“. 807 Siehe bereits Fn. 786. Zu den durch die Wiedervereinigung veranlassten Grundgesetzänderungen siehe neben den Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission (BT-Drs. 12/6000, S. 15 ff.) Kloepfer, Verfassungsänderung (Fn. 232); Papier, Entwicklung (Fn. 70), S. 2841 ff.; S. Rohn/R. Sannwald, Die Ergebnisse der Gemeinsamen Verfassungskommission, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1994, S. 65 ff.; kritisch insbes. H. Meyer, Das ramponierte Grundgesetz, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 76 (1993), S. 399 (410 ff.). 808 K. Adenauer, Erinnerungen, 1945–1953, Bd. 1, Stuttgart 1965, S. 172. 809 Schambeck, Grundgesetz (Fn. 71), S. 26 betont die über 60-jährige Geltungsdauer des Grundgesetzes unter anderem im Vergleich mit jener der Reichsverfassung 1849,

186

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

aa) Wiedervereinigung zweier kontrastierender Staaten Nicht nur innerstaatlich hatte sich die höchste westdeutsche Rechtsordnung bis zur Wiedervereinigung von der ursprünglich aus der Not geborenen Übergangsverfassung bereits zu einer endgültigen Ordnung entwickelt und war zu einem geschätzten politischen Orientierungspunkt der Bundesrepublik Deutschland und einem zentralen Identitätsmerkmal dieses Staats geworden810. Und nicht ohne Grund war es angesichts dieser nachdrücklichen Bewährung des Grundgesetzes ein Schlüsselreiz der revolutionären Bewegungen in der Endzeit der DDR gewesen, das westdeutsche Grundgesetz auch für den Ostteil Deutschlands in Geltung zu bringen811. Dies lässt sich rückblickend wohl ohne unangebrachtes Pathos feststellen: Schließlich beendete die Wiedervereinigung die Trennung eines politisch zweifelhaften812 und wirtschaftlich antiquiert wirkenden Ostteils, in dem die Autorität der staatlichen Behörden unaufhörlich schwand, von einem bis dahin insgesamt erfolgreichen, florierenden Westteil, der seit unmittelbarer Nachkriegszeit die Vorbildverfassung des Grundgesetzes sein Eigen nennen konnte813. Auch abseits der jeweiligen verfassungsrechtlichen Ausgestaltung war es also die Wiedervereinigung zweier Staaten, die sich in den etwa vierzig Jahren der Teilung stark auseinander entwickelt hatten, eben gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich814. Als Ironie der Geschichte kann es schließlich angesehen werden, dass die Zusammenführung von Ost und West entgegen der Vorsehung durch die „Architekten“ des Grundgesetzes nicht (un)mittelbar nach dessen Einführung oder einer überschaubaren Übergangszeit erfolgte, sondern nicht weniger als vier Jahrzehnte später. Während dieser Zeit sah die Mehrzahl der Deutschen ein Ende der Teilung nicht mehr als mittelfristig realistisch erreichbares Ziel an und hatte sich wohl letztlich (wenigstens teilweise) mit einem Zustand dauerhafter Teilung abgefunden, mitunter sogar angefreundet815. die „praktisch nicht in Kraft trat“, mit der 47-jährigen Geltungsdauer der Verfassung des deutschen Kaiserreichs (1871–1918) und der relativ kurzen Geltungsdauer der Weimarer Verfassung (1919–1933). 810 So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 168; rückblickend ähnlich T. Oppermann, Deutschland in guter Verfassung? – 60 Jahre Grundgesetz, in: JZ 2009, S. 481 ff. sowie Voßkuhle, Einführung (Fn. 75), S. 11 ff. 811 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 168 m.w. N. 812 Stern, Wiederherstellung (Fn. 788), S. 26 erinnert an die vielen menschlichen (Todes)opfer, die das totalitäre, marode sozialistische Regime in den vierzig Jahren seiner Existenz mit sich brachte. 813 So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 168 („Exportschlager namens Grundgesetz“); vgl. auch Voßkuhle, Einführung (Fn. 75), S. 11 (12): „Modell für die Verfassungsgebung in Transformationsstaaten weltweit“. 814 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 168. 815 So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 167, der unter anderem mit Hinweis auf die damalige politische Stimmung im „linksintellektuellen Bürgertum“ konkreti-

II. Rechtstheoretische Einordnung von Art. 146 GG a. F.

187

bb) Trotz Beitrittserklärung der Volkskammer: kein Beitritt „der DDR“ zum Grundgesetz Was den konkreten rechtlichen Ablauf der Wiedervereinigung betrifft, so ist zu betonen, dass entgegen der gebräuchlichen Formulierung in Bevölkerung und Staatsrechtslehre die DDR dem Grundgesetz gemäß Art. 23 S. 2 GG a. F. nicht „beigetreten“ ist. Diese alte Fassung des Art. 23 GG lautete: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen“ 816.

So richtig wie missverständlich ist es zwar, dass es 23. August 1990 einen von der Volkskammer der DDR geäußerten Beschluss des „Beitritts“817 gegeben hatte. Diese lautete: „Die Volkskammer erklärt den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990. Sie geht dabei davon aus, – daß die Beratungen zum Einigungsvertrag zu diesem Termin abgeschlossen sind, – die Zwei-plus-vier-Verhandlungen einen Stand erreicht haben, der die außen- und sicherheitspolitischen Bedingungen der deutschen Einheit regelt, – die Länderbildung soweit vorbereitet ist, daß die Wahl in den Länderparlamenten am 14. Oktober 1990 durchgeführt werden kann. Vorstehender Beschluß wurde von der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik in ihrer 30. Tagung am 23. August 1990 gefaßt . . .“

Entgegen dem Eindruck ihres Wortlauts ist diese Bekundung jedoch als eine rein politisch wirkende Erklärung anzusehen, welche keinesfalls etwa gleichzeitig den völkerrechtlich wirksamen Beitritt der DDR zum Grundgesetz bewirkte. Sie diente vielmehr – entgegen ihrer zugegebenermaßen irreführenden – Formulierung allenfalls der Beschleunigung politischer Bereitschaft beider Seiten zur späteren Realisierung der Wiedervereinigung durch den Einigungsvertrag818. siert, dass die Wiedervereinigung und damit das plötzliche Ende eines Teilungszustands als „wohlverdienter Strafe“ für nationalsozialistisches Unrecht „nicht nur unverhofft“, sondern „von manchen durchaus unerhofft“ (mit Verweis auf die Formulierung von V. Kronenberg, Patriotismus in Deutschland – Perspektiven für eine weltoffene Nation, 2. Aufl. 2006, S. 218) kam. 816 Abdr. dieser Fassung des Art. 23 GG bei Dreier/Wittreck, Grundgesetz (Fn. 126), S. 30, Fn. 1. 817 BGBl. 1990 I, S. 2057. 818 Dies so einschließlich ersterem Zitat klarstellend Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 169; siehe auch Art. 1 des Einigungsvertragsgesetzes vom 23.9.1990 (BGBl. 1990 II, S. 885; vgl. dazu K. Stern/B. Schmidt-Bleibtreu [Hrsg.], Verträge und Rechtsakte zur deutschen Einheit, Bd. 2, 1990), förmlich bezeichnet als „in Berlin am

188

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Denn selbst nach der Entscheidung gegen eine Verfassungneugebung für ein geeintes Deutschland gemäß Art. 146 GG stellte sich die Frage, wie genau die Nutzung der einmaligen Möglichkeit der Zusammenführung beider Staaten rechtstechnisch aussehen sollte. Der knappe Wortlaut des Art. 23 S. 2 GG a. F. jedenfalls ließ über die bloße Formulierung des Wiedervereinigungsziels hinaus vieles offen und hätte zur ergänzenden Auslegung unter Rückgriff auf allgemeine Verfassungsgrundsätze gezwungen819. Die Regelung des Beitritts durch ein Bundesgesetz, wie es zuvor bei der Eingliederung des Saarlands zum Bundesgebiet gewählt wurde, erschien angesichts des zu bewältigenden administrativen Umfangs der Zusammenführung zweier Staaten dieses Formats ebenfalls nicht praktikabel820. Rückblickend fand man angesichts der Umstände wohl eine in erster Linie praktikable Lösung, die sich in Form eines Ausschlussprinzips quasi aufdrängte: Wie gesehen machten die drängenden wirtschaftlichen Imponderabilien und die angespannte binnen- und außenpolitische Situation ein zeitnahes Handeln erforderlich. Ein zeitintensiver gesamtdeutscher Verfassunggebungsprozess auf Grundlage des Art. 146 GG war daher nicht erfolgversprechend und man wählte schließlich den Weg eines förmlichen Völkerrechtsvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Letztere hat daher mit der Bundesrepublik Deutschland den völkerrechtlichen Wiedervereinigungsvertrag geschlossen, durch den die zeitgleich erschaffenen neuen Bundesländer dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beigetreten sind. Ein Beitritt „der DDR“ zum Grundgesetz fand nicht statt821. Dieser juristische Kunstgriff hatte den positiven Nebeneffekt, dass man ein selbstständiges, schematisches Aufdrängen der westdeutschen Rechtsordnung auf die ehemalige DDR vermeiden konnte, welche allgemein als den ostdeutschen Mitbürgern nicht zumutbar galt und daher unerwünscht war822. Auch die Vorstellung einer Überleitungsgesetzgebung durch einen gesamtdeutschen Gesetzgeber, in der die Bevölkerung der DDR nur im Verhältnis zu ihrer 31. August 1990 unterzeichneter Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands einschließlich des Protokolls und der Anlagen I bis III sowie der in Bonn und Berlin am 18. September unterzeichneten Vereinbarung“; dazu E. Klein, Der Einigungsvertrag – Verfassungsprobleme und -aufträge, in: DÖV 1991, S. 569 ff. 819 So bereits V. Epping, Die Beitrittserklärung und ihre Folgen für die Bundesrepublik Deutschland, in: JZ 1990, S. 805 ff.; Häberle, Verfassungspolitik (Fn. 791), S. 358 f.; Rauschning, Verfassungslage (Fn. 791), S. 393 f.; Starck, Deutschland (Fn. 791), S. 349 ff.; Stern, Wiederherstellung (Fn. 788), S. 27 m.w. N.; W. Thieme, Fragen einer gesamtdeutschen Verfassung, in: DÖV 1990, S. 401 f. 820 Stern, Wiederherstellung (Fn. 788), S. 33. 821 Wie hier: Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 170, 171 f., der den kolportierten „Beitritt“ der DDR durch den logischen Schluss widerlegt, dass durch den Einigungsvertrag das veränderte Grundgesetz auch in den neuen Bundesländern galt, die mit Wirkung zum 3.10.1990 neu geschaffen wurden und damit in der gleichen juristischen Sekunde die alte DDR ablösten. 822 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 169 f.; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 160.

II. Rechtstheoretische Einordnung von Art. 146 GG a. F.

189

(geringeren) Bevölkerungszahl vertreten gewesen wäre, wurde somit vermieden823. Jedoch war nicht nur die DDR, sondern auch Art. 23 GG a. F. durch den Einigungsvertrag bereits ab dem 29.9.1990 nicht mehr existent und konnte damit zum Zeitpunkt des Beitritts der neuen Bundesländer am 3.10.1990 offensichtlich nicht mehr die verfassungsrechtliche Basis für den Einigungsvorgang bieten824. Nicht nur ist also die DDR nicht dem Grundgesetz beigetreten, die Wiedervereinigung erfolgte auch nicht gemäß Art. 23 S. 2 GG a. F.825. Festzuhalten bleibt also, dass – entgegen allgemein vorherrschendem Sprachgebrauch – die erneute Einheit Deutschlands weder über Art. 146 GG a. F., noch – und dies entgegen dem Wortlaut des Einigungsvertrags826 – über Art. 23 GG a. F., sondern nur durch den völkerrechtlichen Einigungsvertrag selbst hergestellt wurde827. c) Diskussion und Ablehnung der sukzessiven Anwendung von Art. 23 S. 2 GG a. F. und Art. 146 GG Angesichts der Beibehaltung des Art. 146 GG n. F. im Grundgesetz trotz vollendeter Wiedervereinigung kam die Frage auf, ob nach vollzogener Wiedervereinigung Deutschlands und damit auch des deutschen Volks im Hinblick auf Art. 146 GG die Notwendigkeit eines verfassungsrechtlichen Neubeginns828 be823 So Schäuble, Grundgesetz (Fn. 70), S. 93 f., der preisgibt, dass der rechtliche Grundgedanke der Deutschen Wiedervereinigung sich an dem Beitritt des Saarlands orientiert und man danach entschieden habe, die Bedigungen für die Herstellung der Einheit vorher durch Vertrag zwischen zwei – zumindest auf dem Papier – gleichberechtigten Staaten festzulegen. 824 Das Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag stammt vom 23.9.1990. Der Einigungsvertrag selbst ist laut Bekanntmachung vom 16.10.1990 (BGBl. 1990 II, S. 1360) am 29.9.1990 in Kraft getreten. Dessen Art. 4 Nr. 2 regelt die Aufhebung des Art. 23 GG a. F.; Stern, Wiederherstellung (Fn. 788) geht hingegen noch davon aus, dass die gesamte DDR Teil des Staats Bundesrepublik Deutschland werde, bevor eine „juristisch Sekunde“ später die Erstreckung des Grundgesetzes auf diesen Staat erfolge. Staatsrechtlich bestehe die DDR jedoch solange als Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland fort, bis ihre eigenen bundesstaatlichen Untergliederungen (also die „neuen Länder“) entstanden seien. 825 Zu Recht hierauf hinweisend wiederum Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 171 f.; stellvertretend für die früher herrschende Gegenansicht Epping, Beitrittserklärung (Fn. 819), S. 808; Isensee, Wege (Fn. 738), S. 316; Stern, Wiederherstellung (Fn. 788), S. 27 f. 826 Vgl. Art. 1 Abs. 1 S. 1 des Einigungsvertrags, der regelt, dass „mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 [. . .] die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland [werden]“ (Herv. durch d. Verf.). 827 So auch Hofmann, Verfassungsentwicklung (Fn. 446) S. 158; von „Beitritt“ hingegen spricht Zippelius, Einheit (Fn. 66), S. 289 f. 828 So z. B. bereits Zippelius, Einheit (Fn. 66), S. 291 f.

190

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

stehe. Diskutiert wurde im Zusammenhang mit dieser „Verfassungsfrage“ 829 zunächst, ob das in Art. 146 GG a. F. vorgesehene Verfahren dem des gewählten nach Art. 23 S. 2 GG a. F. in einer Art drittem Weg „draufgesattelt“ 830 werden könne831. Dies ist jedoch – in Anbetracht der despektierlichen Bezeichnung dieses Vorschlags wenig überraschend – zumindest bis zur Neuformulierung des Art. 146 GG überwiegend verneint worden832. Gegen eine solche sukzessive Anwendung der beiden Grundgesetzartikel wurde angeführt, dass der Beitrittsakt nach seiner Vollendung nicht mehr in Frage gestellt werden dürfe und es sich damit bei einem nachgeschalteten Akt im Wege der Volksabstimmung lediglich um eine Überprüfung des Grundgesetzes im Hinblick auf dessen Qualität als Verfassung für ein vereintes Deutschland handeln könne833. Eine solche Überprüfung setze jedoch auch die grundsätzliche Anerkennung des zur Verfassungsänderung erforderlichen Verfahrens nach Art. 79 GG voraus, welche damit den gleichzeitigen Bestand einer Verfassungsänderung unter geringeren Voraussetzungen (einfacher Mehrheit) sowohl aus Gründen der Rechtssicherheit als auch zur Vermeidung von Legitimitätskonflikten zwischen den Plenen von Bundestag und -rat und einer verfassunggebenden Nationalversammlung ausschließe834. Auch der Gedanke, Art. 23 S. 2 GG a. F. aus Art. 146 GG a. F. zu ergänzen, um auch den Beitritt einer Volksabstimmung zu unterwerfen, wurde verworfen. Ein Hauptargument dafür war, dass Art. 146 GG a. F. nur den gesamtdeutschen Verfassunggeber von den prozessualen Bindungen des Art. 79 GG suspendiere, nicht

829

Statt aller Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1286 et passim. So die bekannt degradierende Bezeichnung, gewählt beispielsweise von Tomuschat, Wege (Fn. 780), S. 86; dazu Dreier (Fn. 670), Art. 146 Rn. 29 („polemisch“); Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 5; Frowein, Verfassungslage (Fn. 794), S. 15 f.; Häberle, Verfassungspolitik (Fn. 791), S. 359 f. 831 Diese Hintereinanderschaltung der Verfahren wurde z. B. befürwortet von P. Häberle, Föderalismus, Regionalismus, Kleinstaaten – in Europa, in: Die Verwaltung 1992, S. 1 (14); B. Jeand’Heur, Weitergeltung des Grundgesetzes oder Verabschiedung einer neuen Verfassung in einem vereinigten Deutschland?, in: DÖV 1990, S. 873 (873); U. K. Preuß, Die Chance der Verfassunggebung, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 49 (1991), S. 12 ff.; H. Roggemann, Zur Reformverfassung einer gesamtdeutschen Bundesrepublik – Ein verfassungspolitischer Diskussionsbeitrag, in: Neue Justiz 1990, S. 182 (183 f.); als „Krönung der Wiedervereinigung“ bezeichnete diesen Weg K. H. Seifert, in: ders./D. Hörnig (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – Taschenkommentar, 2. Aufl. 1985, Art. 146 Anm. 2; U. Storost, Legitimität (Fn. 722), S. 546. 832 Vgl. zu dieser Auffassung des dritten Wegs G. Manssen, Die staatsrechtliche Lage Deutschlands, in: BayVBl. 1990, S. 458 (460) m.w. N.; sowie Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 106 ff. 833 Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 86, 99 (LS 23). 834 Diese Schlussfolgerung zieht Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 86 mit dem Fazit, dass Art. 146 GG mit dem Beitritt „obsolet“ werde. 830

II. Rechtstheoretische Einordnung von Art. 146 GG a. F.

191

jedoch den Gesetzgeber der Bundesrepublik, welcher im Vorfeld eines Beitritts die Änderungen des Grundgesetzes vollziehen müsse835. Durch die vom verfassungsändernden Gesetzgeber vorgenommene Neufassung des Art. 146 GG (dazu sogleich) wurde jedoch die bis dahin in der Staatsrechtslehre vorherrschende Meinung aufgegeben, dass Art. 146 GG a. F. und Art. 23 S. 2 GG a. F. in einem nicht kombinierbaren, beziehungsweise sukzessiv anwendbaren Exklusivverhältnis gestanden haben836. 3. Zwischenfazit: Gebot der Trennung von Ideologie und Recht Nach Vorgesagtem bleibt festzuhalten, dass die Vorschrift des Art. 146 GG a. F. bei ihrem (einzigen) ursprünglich vorgesehenen und unstreitig anerkannten Anwendungsfall, der Wiedervereinigung Deutschlands, letztlich nicht aktiviert wurde und in veränderter Form dennoch im Grundgesetz verblieb. Ferner fällt auf, dass die Beobachtungen, die bei der damaligen Diskussion um die Anwendung des Schlussartikels zu machen waren, auch heute noch für die Auslegung seiner Nachfolgevorschrift fruchtbar gemacht werden können: Angesichts der unkategorischen rechtstheoretischen Einordnung von Art. 146 GG als grundrechtliches Einfallstor für verfassungstheoretische Elemente wie die Figur des pouvoir constituant und angesichts des bewegten historischen und politischen Hintergrunds des Art. 146 GG a. F. liegt die Gefahr nicht ganz fern, bei der Auslegung des heutigen Anwendungsbereichs von Art. 146 GG n. F. verfassungsrechtlichen Vorverständnissen und politischen Ausgangspositionen aufzusitzen und eine rein (staats)rechtlichen Regeln folgende Auslegung zu vernachlässigen837. Dass diese Schwierigkeit nicht ausschließlich für den heutigen Schlussartikel des Grundgesetzes gilt, liegt wohl zumindest auch in der Natur einer verfassungsrechtlichen Vorschrift. So enthalten die einzelnen Normen des Grundgesetzes je nach Regelungsgegenstand und -ziel zwangsläufig einen unterschiedlichen Prä-

835 Dazu ausführlich Lerche, Beitritt (Fn. 848), S. 10; ebenso Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 86. 836 So konstatierend B. Schlink, Deutsch-deutsche Verfassungsentwicklungen im Jahre 1990, in: Der Staat 30 (1991), S. 162 (178); Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712); an dem Exklusivverhältnis weiterhin festhaltend, da von einer Verfassungswidrigkeit des Art. 146 GG n. F. ausgehend Bartlsperger, Verfassung (Fn. 788), S. 1300; ebenso Kempen, Grundgesetz (Fn. 788), S. 966 f. 837 Ähnl. Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 299; ein Beispiel bietet in diesem Zusammenhang der damalige Beitrag von Kriele, Sprengladung (Fn. 788), S. 5 sowie ders., Art. 146 GG: Brücke zu einer neuen Verfassung, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1991, S. 1 ff., der die Ebene rechtlicher Diskussion zugunsten verfassungspolitisch motivierter Schreckensszenarien verlässt.

192

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

zisionsgrad838. Daher bestehen bei der Auslegung verfassungsrechtlicher Vorschriften unabhängig von den gängigen Auslegungsmethoden durchaus restliche Interpretationsspielräume, die unterschiedlich ausgefüllt werden können. Diese Tatsache hat wiederum zur Folge, dass selbst bei Übereinstimmung von Interpretationsmethode und rechtsdogmatischen Deutungsansatz noch immer verschiedene rechtliche Begründungen zu unterschiedlichen Auslegungsergebnissen führen können, welche mit den Kategorien richtig und falsch nicht abschließend zu erfassen sind839. Vielmehr sind diese Spielräume „anfällig“ für verfassungsrechtliche Vorverständnisse, Grundüberzeugungen und Erfahrungswerte, welche mitunter auch zu verfassungsschöpfenden Schritten führen können. Es erscheint für eine objektivierte Interpretation des heutigen rechtlichen Gehalts von Art. 146 GG daher geboten, etwaige verfassungspolitische Vorverständnisse – soweit möglich – auszublenden und ausschließlich rechtliche Gesichtspunkte einfließen zu lassen. Die Gefahr der Abhängigkeit von Vorverständnissen darf nicht zur Legitimation der Vernachlässigung wissenschaftlicher Methoden führen840. Dieser Anspruch, impliziten Vorverständnissen nicht aufzusitzen841, scheint angesichts des eingangs erörterten, auch dem Wortlaut von Art. 146 GG zu bescheinigenden geringen Grads an Präzision und der fast allen heutigen Interpretationsansätzen anhaftenden historischen und politischen Aufladung schwierig genug zu befriedigen. Jedoch entbehrt ein solches Vorgehen nicht von der Möglichkeit, ein ausschließlich auf rechtlichen Erwägungen basierendes Ergebnis nachträglich anhand der jeweils gegebenen verfassungspolitischen Meinungslager zu reflektieren und gegebenenfalls zu neutralisieren beziehungsweise sogar zu korrigieren.

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG Ob durch den beschriebenen Beitritt der neuen Bundesländer zur Bundesrepublik im Wege des völkerrechtlichen Einigungsvertrags das in Art. 146 GG angestrebte Ziel einer neuen gesamtdeutschen Verfassung in freier Selbstbestimmung 838

Grimm, Grundgesetz (Fn. 44), S. 30, Sp. 3. So Grimm, Grundgesetz (Fn. 44), S. 30 Sp. 3, der in dieser Tatsache ein grundsätzliches Dilemma für die Aufgabe der Richter des Bundesverfassungsgerichts sieht, da sie zur wirksamen Wahrnehmung ihrer Kontrollfunktion unabhängig von der Politik und von demokratischer Verantwortung primär freigestellt sind, um ihren Entscheidungen ausschließlich rechtliche Kriterien zugrunde zu legen, diese Kriterien jedoch oftmals nicht ausreichen, um eine abschließende Bindung zu generieren, die nur eine Entscheidung zulässt („Eine unpolitische Verfassungsgerichtsbarkeit ist eine Illusion“). 840 So Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 299. 841 Vgl. den hierhin gehenden Anspruch bei Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 299, der „bei aller Verwobenheit rechtlicher und politischer Komponenten“ deren Trennung erhalten will; gleicher Anspruch in anderem Zusammenhang bei Wahl, Leitbegriffe (Fn. 32), S. 123. 839

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

193

jegliche Basis verloren hat oder ob dieses Ziel unverändert besteht, ist seit der beitrittsbedingten Neufassung des Art. 146 GG gemäß Art. 4 Ziffer 6 des Einigungsvertrags842 bis heute eine kontroverse Frage unter deutschen Verfassungsrechtlern. In seiner neuen Fassung lautet Art. 146 GG nunmehr wie folgt: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“.

Die Wurzeln dieser Kontroverse um den Gehalt von Art. 146 GG n. F. sind in der Zeit seiner Schaffung während der Wiedervereinigung zu suchen. 1. Wurzeln der Debatte im Umfeld der Wiedervereinigung Angesichts des eingangs betonten politischen und ideologischen Potentials von Art. 146 GG sei hier bemerkt, dass zu dieser Zeit die verbitterte843 Diskussion um eine sofort oder später neu zu verhandelnde gesamtdeutsche Verfassung zu mehreren politisch und strategisch motivierten „Lagerwechseln“ führte, in der plötzlich ein vormals eher konservativ ausgerichteter Teil der Staatsrechtslehre, der das Verfahren des Art. 146 GG a. F. als den „Königsweg“ 844 angesehen hatte, nunmehr für die Beibehaltung des Grundgesetzes plädierte, und eher linkslastige Staatsrechtler, die vormals das Staatsrecht der Bundesrepublik stets mit dem Grundgesetz gleichgesetzt hatten, plötzlich eine Verfassunggebung gemäß Art. 146 GG favorisierten845.

842 Zur Zulässigkeit der Neufassung des Art. 146 GG durch den Einigungsvertrag als Grundgesetzauftrag an die Bundesregierung siehe Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 79 ff. 843 P. Häberle, Verfassungspolitik (Fn. 791), S. 358 („Glaubenskrieg“); Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 411. Ähnlich auch M. Kirn, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 3. Aufl. 1996, Art. 146 Rn. 1, der nach der Phase hoher verfassungspolitischer Aktivität eine „ruhigere Betrachtungsweise“ vorschlägt. 844 Zu den innen- und außenpolitischen „Stolpersteinen“ auf diesem Königsweg Stern, Wiederherstellung (Fn. 788), S. 26. 845 Dieser Hinweis auf den Lagerwechsel bei Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 172 f. mit Verweis auf die diesbezüglichen Interpretationen von H. Hofmann, Über Verfassungsfieber, in: Ius Commune 17 (1990), S. 310 f.; ebenso Meyer (Fn. 777), S. 164, der in der damaligen Vorgehensweise einiger Kollegen, „Art. 146 [GG a. F.] die Garotte um den Hals zu legen, um sie beliebig zuziehen zu können“, die Absicht erkennt, den status quo der „sozialen Machtverteilung nach dem Grundgesetz festzuschreiben“; die zuletzt genannten Lagerwechsel in Richtung einer Verfassunggebung dürften nicht zuletzt durch die Hoffnung motiviert gewesen sein, im Entwurf einer neuen Verfassung die eigenen favorisierten politischen Vorstellungen maßgeblich und gewinnbringend einfließen lassen zu können. Zur ebenso motivierten Gefahr im Falle einer zukünftigen Verfassunggebung siehe die Warnung von H.-J. Papier, Fn. 1201.

194

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Die herrschende Ansicht sah jedoch angesichts vollendeter Wiedervereinigung in Art. 146 GG eine funktionslose, überflüssige Vorschrift ohne verbliebenen Anwendungsbereich, die es abzuschaffen gelte846. Diese drastische Interpretation fußte auf der Annahme, dass die beiden Grundgesetzartikel 23 a. F. und 146 a. F. zwei einander ausschließende Alternativen zur Wiedervereinigung Deutschlands darstellten847. Sah man also die einzige Daseinsberechtigung des Art. 146 GG a. F. darin, einen gangbaren Weg zur Wiedervereinigung aufzuzeigen, so führte deren Erlangung auf dem Wege des „Beitritts“ zum Funktionsverlust bei Art. 146 GG a. F.848. Denn durch den Staatsbeitritt, welcher ebenfalls eine Ausübung des extrakonstitutionellen Selbstbestimmungsrechts in der Verfassungsfrage darstellt, sei auch gleichzeitig ein materieller Entscheid zugunsten des Grundgesetzes gefällt worden, der einen weiteren Anwendungsbereich von Art. 146 GG a. F. ausschließe849. Gleiches sollte für den Fall gelten, dass die Wiedervereinigung für immer unmöglich geworden oder gänzlich unterblieben wäre und damit ein gesamtes deutsches Volk als Träger des Selbstbestimmungsrechts nicht mehr existent gewesen wäre850. Aus dieser Annahme folgte das überspitzte Bild, welches die verweigerte Streichung des Schlussartikels nach dem Erreichen der deut-

846 Herdegen (Fn. 709), Art. 79 Abs. 3 (2007), Rn. 6 ff.; zynisch Kriele, Sprengladung (Fn. 788), S. 5, der zur Vorbeugung der Gefahr, revolutionäres Vorgehen durch Art. 146 GG zu legitimieren, das unter normalen Umständen das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG aktivieren würde, anregt, Art. 146 GG durch eine Bestätigung des Grundgesetzes in unveränderter Form (jedoch ohne Art. 146 GG) im Verfahren des Art. 146 GG selbst abzuschaffen; i. Ü. statt vieler Isensee, Staatseinheit (Fn. 785), S. 53 ff.; dass Art. 146 GG „der Totenschein“ ausgestellt werden solle, fordert ders., Selbstpreisgabe des Grundgesetzes? Der Beitritt der DDR macht die Abschlußbestimmung des Grundgesetzes obsolet, in: FAZ v. 28.8.1990, S. 10; Starck, Deutschland (Fn. 791), S. 354; Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1297 f.; Zippelius, Einheit (Fn. 66), S. 291 („überflüssig und verfassungspolitisch bedenklich“); Isensee, Schlußbestimmung (Fn. 669), § 166 Rn. 23 ff. bezeichnet diese Ansicht als „Konsumtionsthese“; ebenso von Campenhausen/Unruh (Fn. 704), Art. 146 Rn. 6; Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 254 f.; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 152 f. 847 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 174; dies vertraten z. B. mit Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht beider Teile Deutschlands Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1297; Randelzhofer, Grundgesetz (Fn. 733), S. 141 m.w. N.; Voßkuhle, Einführung (Fn. 75), S. 23; siehe i. Ü. Fn. 791. 848 Diese Interpretation entsprach auch der damals vorherrschenden Ansicht innerhalb der Vereinigung der Staatsrechtslehrer, wie sich aus der Dokumentation der Sondertagung ergibt, vgl. Isensee, Staatseinheit (Fn. 785), S. 53, 67 (LS 13a) sowie Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 99 (LS 23); ebenso P. Lerche, Beitritt der DDR und dazu ein Volksentscheid?, in: FAZ v. 27.4.1990, S. 10; Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1298, der daraus schließt, dass Art. 146 GG a. F. mit vollzogenem Staatsbeitritt daher formell aufzuheben gewesen sei, sowie H. Buchheim, Leserbrief, in: FAZ v. 7.10.1990, S. 10; zuletzt Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 875. 849 Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1297. 850 Murswiek, Gewalt (Fn. 722), S. 111 f.; Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1297.

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

195

schen Einheit per „Beitritt“ mit der Belassung einer „Zeitbombe im Verfassungsgehäuse“ gleichsetzte851. Nach der Vergegenwärtigung des geschichtlichen Hintergrunds der Schlussnorm des Grundgesetzes in ihrer heutigen Fassung stellt sich damit die Frage, was obige Feststellungen für den Ablösungsvorbehalt bedeuten. Insbesondere ist zu klären, ob Art. 146 GG nach über zwanzig Jahren seit seiner Neufassung und ohne dass währenddessen jemals ein verfassunggebender Akt ernsthaft das Stadium einer bloßen Überlegung überschritten hat852, überhaupt noch eine konstitutive Bedeutung haben kann. Dazu haben sich im Wesentlichen drei zu unterscheidende Ansichten853 herausgebildet, die nachfolgend umrissen werden. 2. These der Verfassungswidrigkeit des Art. 146 GG n. F. Eine Ansicht, welche gerade in der Zeit unmittelbar nach Vollendung der Wiedervereinigung Zulauf erhielt854, sieht Art. 146 GG in der aktualisierten Fassung als verfassungswidrig an855. Dies folgt erstens aus der Annahme, dass Art. 146 GG mit Vollendung der Wiedervereinigung Deutschlands seinen Sinn und damit gemäß dem Prinzip „cessante ratione legis cessat lex ipsa“ 856 eo ipso seine 851 So die mittlerweile bekannte Formulierung von Isensee, Selbstpreisgabe (Fn. 846), S. 10; ähnlich koloriert auch Kriele, Sprengladung (Fn. 788), S. 5 sowie Lerche, Fragen (Fn. 732), S. 77, „statt schön dekorierter Schlussbaustein tückisches Munitionsdepot“, „Sirenenklänge unserer Verfassung“; Hinweis wiederum bei Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 174. 852 Solche Überlegungen kamen jeweils etwa bei den Änderungen der Europäischen Verträge und den damit verbundenen Auswirkungen auf das Grundgesetz auf, vgl. oben Fn. 715 ff. 853 Unterscheidung ebenso bereits bei D. Heckmann, Das „unvollkommen-plebiszitäre Element“ des Art. 146 GG – Ursprung, Obsoletwerden, Erfüllung – in: K. Borgmann u. a. (Hrsg.), Verfassungsreform und Grundgesetz, 1992, S. 9 (10 ff.). 854 Heckmann, Element (Fn. 853), S. 10; Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 411. 855 Zur Frage der Existenz verfassungswidrigen Verfassungsrechts siehe bereits O. Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, 1951; H. Lecheler, Unrecht in Gesetzesform? Gedanken zur „Radbruch’schen Formel“, 1994; C. Wintherhoff, Verfassung – Verfassunggebung – Verfassungsänderung. Zur Theorie der Verfassung und der Verfassungsrechtserzeugung, 2007 sowie Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 747 f. 856 „Fällt der Sinn eines Gesetzes weg, so fällt das Gesetz selbst weg“; zu Recht kritisch zu dieser Annahme Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 424 f. Er trifft die Feststellung, dass selbst Autoren, die dieses Prinzip im Grundsatz anerkennen, dessen Geltung auf Fälle beschränken, in denen die Anwendung des in Frage stehenden Rechtssatzes zu völlig sinn- und zwecklosen Ergebnissen führt. Das ist bei Art. 146 GG jedoch nicht der Fall. Allg. zu diesem (umstrittenen) Prinzip bereits W. Löwer, Cessante ratione lex cessat ipsa lex – Wandlung einer gemeinrechtlichen Auslegungsregel zum Verfassungsgebot?, 1989; unter den genannten Einschränkungen zustimmend K. Larenz/C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 171, die einschränkend ausführen, dass dann, wenn sich für eine Norm noch (irgend)ein vernünftiger Grund oder Zweck denken lässt – selbst, wenn es nicht der ursprünglich gedachte des

196

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Geltung verloren habe857. Zweitens habe der verfassungsändernde Gesetzgeber dadurch, dass er bei der Neufassung des Schlussartikels die legale Ablösungsmöglichkeit des Grundgesetzes in Art. 146 GG a. F. über den Zeitpunkt der Wiedervereinigung hinaus verlängert habe, die ihm zustehenden Kompetenzen überschritten. Dadurch seien vom verfassungsändernden Gesetzgeber eine unzulässige Regelung in Bezug auf die verfassunggebende Gewalt getroffen worden, welche wiederum die Grundlage seiner eigenen Ermächtigung darstelle858. Die Schlussfolgerung basiert also im Kern auf der Annahme, dass Art. 146 GG die Regelung der verfassunggebenden Gewalt des Volks und damit die Abschaffung des Grundgesetzes beinhaltet, welche das Grundgesetz zumindest für einen unaufgebbaren Kernbereich in Art. 79 Abs. 3 GG selbst für unzulässig erklärt859. Eine Berufung und Anwendung dieses Ablösevorbehalts durch die pouvoirs constitués, die verfassten Gewalten also, sei daher ein Verstoß gegen die „Ewigkeitsklausel“ und jedenfalls verfassungsrechtlich unzulässig. Anders gewendet habe der verfassungsändernde Gesetzgeber – im Gegensatz zum verfassunggebenden Gesetzgeber, welcher sich in Art. 146 GG a. F. eine Selbstbindung in Form der Beschränkung des eigenen Tätigwerdens auf den Fall der Wiedervereinigung auferlegt hatte – außerhalb seiner Kompetenzen gehandelt, indem er mit der „Restituierung der verfassunggebenden Gewalt des Volks“ die Kompetenz zu normieren versuche, welche allein dem originären Verfassunggeber als deren Inhaber zustehe. Auch das Volk als verfassunggebende Gewalt und damit Adressat des Art. 146 GG bewege sich bei einer Anwendung des Art. 146 GG zur Ablösung des Grundgesetzes jedenfalls im „extrakonstitutionellen“ 860 Bereich. Aus der Perspektive historischen Gesetzgebers ist – sie in einer diesem Zweck entsprechenden Auslegung anwendbar bleibt; das Prinzip ablehnend noch C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz – eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, 2. Aufl. 1983, S. 189. 857 Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 417 f.; diese Ansicht vertraten beispielsweise Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1299 f.; Huba, Grundgesetz (Fn. 773), S. 373 ff.; B. Kempen, Grundgesetz oder neue deutsche Verfassung?, in: NJW 1991, S. 964 (966 f.); L. Menz, Das Grundgesetz im vereinten Deutschland – zur Diskussion um eine Verfassungsreform, in: VBlBW 1991, S. 401 (404); Stern, Wiederherstellung (Fn. 788), S. 47 und wohl auch R. Zippelius, Quo vadis Grundgesetz?, in: NJW 1991, S. 23 (23). 858 So z. B. Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1299 f.; Huba, Grundgesetz (Fn. 773), S. 373 ff.; Kempen, Grundgesetz (Fn. 857), S. 966 f.; G. Roellecke, Brauchen wir ein neues Grundgesetz?, in: NJW 1991, S. 2441 (2443 f.); a. A. unter anderem Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 417 f., der ausschließlich auf die Reichweite der verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Gesetzgebers zur Schaffung einer solchen Norm abstellt. 859 Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1300; Heckmann, Element (Fn. 853), S. 10. 860 Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1300; a. A. mit Betonung auf der durch Art. 146 GG geschaffenen Kontinuität zwischen dem Grundgesetz und einer unter den Voraussetzungen geschaffenen, nachfolgenden Verfassung Wiederin, Verfassunggebung

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

197

des geltenden Grundgesetzes ist nach dieser Interpretation dessen Ablösung immer zugleich eine „Revolution“ und damit unter der geltenden Verfassungsordnung „illegal“ 861. Der Schlussartikel des Grundgesetzes wird demnach nicht als Legalisierung der Grundgesetzablösung durch Verfassungneugebung, sondern als Weg zu einer „verschleierten Revolution“ 862 angesehen. Autoren, die Art. 146 GG n. F. so interpretieren, nehmen also eine Freistellung des Art. 146 GG n. F. von den Beschränkungen des Art. 79 Abs. 3 GG an, (dis-)qualifizieren ihn dann aber wegen dieser Freistellung als verfassungswidriges Verfassungsrecht 863. 3. Art. 146 GG n. F. als obsolete Verfassungsnorm Die nach der Wiedervereinigung vorherrschende Ansicht864 ging zwar nicht so weit, den Art. 146 GG als verfassungswidrige Vorschrift zu deklarieren. Jedoch sah man in ihm überwiegend einen bloßen Hinweis auf eine „demokratietheoretische Selbstverständlichkeit“ 865 beziehungsweise auf eine „Binsenwahrheit“ 866: (Fn. 623), S. 415; D. Blumenwitz, Wie offen ist die Verfassungsfrage nach der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands?, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 49 (1991), S. 3 (6). 861 Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1300; U. Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1966, S. 214 ff.; Murswiek, Gewalt (Fn. 722), S. 252 ff.; Zippelius, Einheit (Fn. 66), S. 291 sieht bereits eine Änderung der Verfassung durch Volksabstimmung als verfassungsrechtlich illegal an; a. A. T. Würtenberger, Art. 146 GG n. F.: Kontinuität oder Diskontinuität im Verfassungsrecht?, in: Wiedervereinigung (Fn. 149), S. 95 (98), der den verfassungsändernden Gesetzgeber in der Pflicht sieht, Art 146 GG a. F. der geänderten Lage Deutschlands nach der Wiedervereinigung anzupassen. 862 Huba, Grundgesetz (Fn. 773), S. 374. 863 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 176; die Bezeichnung „konstitutionell illegaler Verfassungskompromiß“ wählt Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1300. 864 A. v. Campenhausen, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/A. v. Campenhausen (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, 3. Aufl. München 1991, Art. 146 Rn. 10 ff.; J. Isensee, Das Grundgesetz zwischen Endgültigkeitsanspruch und Ablösungsklausel, in: Wiedervereinigung (Fn. 733), S. 63 (90 ff.); Würtenberger, Kontinuität (Fn. 861), S. 98 f.; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl. 1991, Rn. 100 f. 865 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 182 mit Verweis auf Di Fabio, Art. 23 (Fn. 175), S. 212; zur verfassunggebenden Gewalt bereits V. Lemke, Aktualisierung der verfassunggebenden Gewalt nach dem Grundgesetz, 1974, S. 64 f.; Huber (Fn. 125), Präambel Rn. 16 ff.; ders., Art. 146 Rn. 15 ff.; Manssen, Lage (Fn. 832), S. 460; H. Maurer, Aussprache, in: VVDStRL 49 (1990), S. 168; Sachs (Fn. 547), Art. 20 Rn. 27; Steiner, Verfassunggebung (Fn. 861), S. 220 ff.; D. Sterzel, In neuer Verfassung? – zur Notwendigkeit eines konstitutionellen Gründungsaktes für das vereinte Deutschland, in: Kritische Justiz 23 (1990), S. 385 (387); ebenso, jedoch im Zusammenhang mit einem Referendum über die EU-Verfassung Elicker, Grundgesetz (Fn. 717), S. 228. 866 Vgl. die Formulierung bei K. Stern, Der verfassungsändernde Charakter des Einigungsvertrages, in: Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift 1990, S. 289 (293) sowie ders., Wiederherstellung (Fn. 788), S. 48: „juristische Binsenweisheit“; ebenso Heck-

198

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Mit dem Inkrafttreten einer neuen Verfassung geht zwangsläufig das Außerkrafttreten der alten Konstitution einher. Dies sei Ausdruck der auf den Haupttheoretiker der Französischen Revolution Emmanuel Joseph (Abbé) Sieyès zurückgehenden Idee der rechtlich ungebundenen und nicht bindbaren Verfassunggebung durch den pouvoir constituant. Diese Theorie867 besagt im Kern, dass ein Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt zu jeder Zeit den bisherigen verfassungsrechtlichen Limitierungen entrinnen und auf dem Wege der Revolution eine neue Grundarchitektur seiner politischen Existenz schaffen könnte. Nach dieser Lesart scheidet ein über diesen deklaratorischen Gehalt hinaus gehender Anwendungsbereich des Art. 146 GG schon deswegen aus, weil die Vorschrift in neuer Fassung einen veränderten Sinn erhalten habe. Zudem sei die Neufassung im Zuge des Einigungsvertrags durch den verfassungsändernden Gesetzgeber und daher innerhalb der Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG zustande gekommen868. Argumentiert wird hier mit der Formulierung des Art. 5 des Einimann, Element (Fn. 853), S. 11, der diesen Ausdruck zurückführt auf G. Roellecke, Schwierigkeiten mit der Rechtseinheit nach der deutschen Wiedervereinigung, in: NJW 1991, S. 657 (660); ebenso Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 182, der hierin einen „letzten Versuch dem Art. 146 n. F. GG regulativen Charakter abzusprechen“ sieht. 867 Sieyès’ Theorie des pouvoir constituant diente als Weiterentwicklung des durch Rousseau geprägten Begriffs der Volkssouveränität vorwiegend dazu, dem Großteil des Volks als drittem Stand eine nach damaligem Staatsrecht nicht anerkannte Kompetenz zur Verfassunggebung durch die verfassunggebende Versammlung (Assemblée constituante) zuzusprechen und damit die Möglichkeit zu eröffnen, den bis dahin absolut ermächtigten Monarchen von diesem Prozess auszuschließen. Diese Idee des Konstitutionalismus wurde daher sowohl von demokratischen als auch von liberalen Motiven gespeist. Grundlegend zur Bedeutung dieser Rechtsfigur im Grundgesetz C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 75 ff.; Maunz, Gewalt (Fn. 738), S. 645 ff. sowie Stern, Staatsrecht Bd. I (Fn. 76), S. 51; zur Bedeutung im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 414 m.w. N.; Steiner, Verfassunggebung (Fn. 861), S. 206; zur Geschichte, Unklarheit und Widersprüchlichkeit dieser Rechtsfigur siehe Roellecke, Gewalt (Fn. 128), S. 929, 931 ff. sowie zuletzt S. R. Castaño, Die verfassunggebende Gewalt in der deutschen Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit. Ein Überblick, in: T. Vormbaum (Hrsg.), Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 11 (2010), S. 15 ff.; zur (schwierigen) Abgrenzung von pouvoir constituant und pouvoir constitué bei einer Verfassungsänderung durch Referendum siehe M. Herdegen, Grenzen der Verfassungsgebung, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 349 (352). 868 Aus der Zeit unmittelbar nach der Wiedervereinigung für eine vollständige Bindung des Art. 146 GG an Art. 79 GG etwa W. Schäuble, Der Einigungsvertrag – Vollendung der Einheit Deutschlands in Freiheit, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 5 (1990), S. 289 (304 f.); Scholz (Fn. 179), Art. 146 (1991) Rn. 23; Stern, Charakter (Fn. 788) S. 293 f.; K.-D. Schnapauff, Der Einigungsvertrag: Überleitungsgesetzgebung in Vertragsform, in: DVBl. 1990, S. 1249 (1252); V. Krönung, Kernfragen der Verfassungsreform – Plädoyer für eine Konzentration auf das Wesentliche, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1991, S. 161 (165); V. Busse, Das vertragliche Werk der deutschen Einheit und die Änderungen von Verfassungsrecht, in: DÖV 1991, S. 345 (351); Weis, Fragen (Fn. 788), S. 30; Heckmann, Verfassungsreform (Fn. 788), S. 854 f.; E. Klein, Bundesstaatlichkeit im vereinten Deutschland, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission (Hrsg.), Die Wiedervereinigung und damit zusammenhängende

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

199

gungsvertrags, der die „Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes [n. F.] und in deren Rahmen einer Volksabstimmung“ durch das Wort „insbesondere“ explizit als einen Unterfall der „im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes“ einordnet869. Unter dem Strich stellt die Vorschrift so interpretiert also – im Gegensatz zu ihrer Vorgängervorschrift, welche durchaus als von Art. 79 GG suspendierend angesehen werden konnte870 – eine Alternative ohne Eigenwert zur bereits normierten Verfassungsänderung des Art. 79 GG dar und ist damit belanglos und obsolet871. Folgerichtig sah die vorherrschende Ansicht Art. 146 GG damit zwar nicht als verfassungswidrigen oder -gefährdenden Fremdkörper im Verfassungsgehäuse an. Jedoch sah man in ihm einen bedeutungslosen „Appendix“ 872 ohne rechtlichen Gehalt, der daher zu streichen sei873. Rechtsprobleme, 1991, S. 23 (30); P. Kirchhof, Der Auftrag zur Rechtseinheit im vereinten Deutschland, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission, Wiedervereinigung (Fn. 868), S. 3 (9); Hesse, Grundzüge (Fn. 864), Rn. 707; U. Battis/ C. Gusy, Einführung in das Staatsrecht, 3. Aufl. 1991, S. 12; Blumenwitz, Verfassungsfrage (Fn. 860), S. 9; ders., Deutschland (Fn. 788), S. 15 f.; H. D. Jarass, in: ders./ B. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 2. Aufl. 1992, Art. 146 Rn. 1; C. Degenhart, Direkte Demokratie in den Ländern – Impulse für das Grundgesetz?, in: Der Staat 31 (1992), S. 77 (79); aus der heutigen Lit. Schmahl (Fn. 181), Art. 146 Rn. 4; Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 8; 14; Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 875 f.; Hofmann (Fn. 192), Art. 146 Rn. 4; die Frage nach dem rein deklaratorischen Charakter von Art. 146 GG n. F. ausdrücklich offen lassend Möllers, Staat (Fn. 48), S. 201; die Frage nach der Bindung an Art. 79 Abs. 3 GG ausdrücklich offen lassend BVerfGE 123, 267 (343). 869 So Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 301 f., der diese Interpretation aufgrund des gegenläufigen Wortlauts von Art. 146 GG n. F. ausdrücklich ablehnt. 870 Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 254 f. bezeichnet diese Ansicht als „Konsumtionsthese“, welche von der Diskontiuiät von Art. 146 GG a. F. und Art. 146 GG n. F. ausgeht. 871 Heckmann, Element (Fn. 853), S. 11; Isensee, Endgültigkeitsanspruch (Fn. 864), S. 92 bezeichnet Art. 146 GG n. F. gleichsinnig als „Programmsatz“ ohne „unmittelbar wirksames Handlungsinstrument“ beziehungsweise „überflüssig“; ähnlich Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 746 f., der in Art. 146 GG den untauglichen Versuch sieht, die unvereinbaren Elemente einer Verfassungsablösung auf Grundlage der bisher geltenden Verfassung zu vereinbaren und die Vorschrift daher als eine ohne „eigene Substanz“ bezeichnet. 872 So der Vergleich von Isensee, Endgültigkeitsklausel (Fn. 871), S. 92 f., der die neue Schlussbestimmung „(. . .) als Wurmfortsatz des Grundgesetzes: funktionslos, aber entzündlich“ ansieht; erneut ders., Demokratie ohne Volksabstimmung. Das Grundgesetz, in: Christian Hillgruber/Christian Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2010, S. 117 (137): „Blinddarm des Grundgesetzes: rechtlich überflüssig, doch politisch entzündlich“; zustimmend S. Haack, Verlust der Staatlichkeit, 2007, S. 448. 873 Isensee, Endgültigkeitsklausel (Fn. 871), S. 93; Heckmann, Element (Fn. 853), S. 11; Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 309 begründet den Bedarf nach Streichung durch den nach seiner Ansicht undurchdachten, missglückten Charakter der Neufassung; Stern, Wiederherstellung (Fn. 788), S. 41, 46 f.; ebenso rückblickend Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 746 f.

200

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Eine Streichung von Art. 146 GG ist jedoch trotz der dargestellten Befürchtungen nicht erfolgt. Lediglich der Wortlaut der Vorschrift erfuhr eine ergänzende Modifizierung um einen Relativsatz, ähnlich wie die aktualisierte Präambel874. Anstelle einer Abschaffung wurde die Vorschrift damit in ihrer Weitergeltung ebenso wie das Grundgesetz für das nunmehr wiedervereinte Deutschland bestätigt875. Das Gros der Staatsrechtslehre hielt ungeachtet dieser Wortlautänderung jedoch daran fest, die Schlussbestimmung des Grundgesetzes weiterhin als überflüssig abzutun876. Die Tatsache, dass der Schlussartikel des Grundgesetzes entgegen allen Plädoyers nicht abgeschafft worden war, wurde unter Hinweis auf die vollendete Wiedervereinigung über den Weg des Beitritts und des damit angeblich einhergehenden automatischen Außerkrafttretens der Vorschrift schlichtweg ignoriert877. Die neue Schlussvorschrift des Grundgesetzes sollte die Kapazität zu dessen Ablösung verloren haben und lediglich eine Verfassungsreform zulassen. Dieser Schluss folgte aus der Interpretation von Art. 146 GG n. F. als eine genuin neue und – wichtiger – durch den verfassungsändernden Gesetzgeber als Teil der pouvoirs constitués geschaffene Vorschrift878. Auf Grundlage dieser Interpretation haben sich wiederum mehrere Unteransichten gebildet879, welche Art. 146 GG n. F. mehr oder weniger beschränkend auslegen. Auf die beiden relevantesten dieser Unteransichten soll an dieser Stelle kurz eingegangen werden.

874 Hinweis auf diese Parallele samt neugefasstem Wortlaut von Art. 146 GG bei Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 174. 875 So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 174; Isensee, Deutschland (Fn. 732), S. 15, sieht die Aktualisierungen als „Bekräftigung des Selbstverständlichen“, welche in ihrer Dopplung den Argwohn der Juristen auf sich ziehen. 876 So wiederum Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 174; dies vertraten unter anderem Blumenwitz, Deutschland (Fn. 788), S. 21 f.; Kriele, Art. 146 (Fn. 837), S. 3 f.; Isensee, Schlußbestimmung (Fn. 669), § 166 Rn. 47; Scholz (Fn. 179), Art. 146 (1991), Rn. 9, 13. 877 So das Fazit von Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 174 f. mit Verweis auf ausführliche Diskussion bei M. Heckel, Die Legitimation des Grundgesetzes durch das deutsche Volk, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, 1995, § 197 Rn. 86 ff.; Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 29 ff., 37 ff.; Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 411 f., 424. 878 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 175 mit Verweis auf den diesbezüglichen Einfluss von Isensee, Deutschland (Fn. 732), S. 41 ff.; ders., Schlußbestimmung (Fn. 669), § 166, Rn. 53 ff. und Kirchhof, Grundgesetz (Fn. 662), S. 15; ähnlich Randelzhofer, Grundgesetz (Fn. 733), S. 142, der einen „grundlegenden Bedeutungswandel“ des Art. 146 GG n. F. annimmt; ebenso Stern, Wiederherstellung (Fn. 788), S. 50, der hieraus eine Bindung an Art. 79 Abs. 3 GG folgert. 879 So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 175, der „eine bunte Vielfalt divergierender Interpretationsansätze“ zu erkennen vermag.

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

201

a) These der Bindung des Art. 146 GG n. F. an Art. 79 GG Aus der Herkunft von Art. 146 GG n. F. als Produkt des verfassungsändernden Gesetzgebers wurde teilweise gefolgert, dass eine Anwendung der Vorschrift vollständig an die von Art. 79 GG genannten Limitierungen, insbesondere die materielle Schranke des Art. 79 Abs. 3 GG880 gebunden sei881. Auch eine Bindung an Art. 79 Abs. 1 und 2 GG würde jedoch konkrete Konsequenzen entfalten. Wenn man etwa eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung durchführen wollte und zu diesem Zweck ein Durchführungsgesetz erlassen wollte, so unterfiele dieses sowohl den nach Art. 79 Abs. 2 GG erforderlichen Mehrheiten als auch dem Textänderungsgebot des Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG882. Eine Verfassungsablösung auf Grundlage von Art. 146 GG n. F. wurde nach dieser Ansicht damit einer ohnehin möglichen Verfassungsänderung in den Bahnen von Art. 79 GG de facto gleichgestellt883. Folgt man dieser Interpretation, so kann man sich zu Recht fragen, worin der eigenständige Gehalt des Schlussartikels angesichts dieser Degradierung zu einer alternativen Möglichkeit der Verfassungsänderung noch bestehen soll884. Ob der verfassunggebende Gesetzgeber tatsächlich eine überflüssige Vorschrift in das Grundgesetz aufnehmen wollte, ist jedoch äußerst zweifelhaft. b) These von der Identität des Grundgesetzes und der in Art. 146 GG n. F. genannten „Verfassung“ Ein nicht unerheblicher Teil der Lehre vertrat sogar die Ansicht, dass das Grundgesetz genau die „Verfassung“ sei, die der Wortlaut von Art. 146 GG n. F. noch heute adressiert885. Bartlsperger etwa bezieht sich in diesem Zusammenhang insbesondere auf eine durch den Grundlagenvertrag886 entstandene „ge880 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 175 f. mit Verweis auf Scholz (Fn. 179), Art. 146 (1991), Rn. 20 ff.; von Campenhausen/Unruh (Fn. 704), Art. 146 Rn. 16; Jarass (Fn. 138), Art. 146 Rn. 4; Schmahl (Fn. 181), Art. 146 Rn. 4 und Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 8 ff., der jedoch nur eine Bindung an Art. 79 Abs. 1 und 2 annimmt. 881 Isensee, Schlußbestimmung (Fn. 669), § 166 Rn. 58 ff.; Kirchhof, Erneuertes GG (Fn. 878), S. 15; Stern, Wiederherstellung (Fn. 788), S. 49 f.; Hinweis wiederum bei Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 175; siehe zudem Fn. 868. 882 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 175; dies vertrat z. B. Stern, Wiederherstellung (Fn. 788), S. 49. 883 So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 175 f. 884 Wie hier Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 306, der dem Art. 146 GG nach dieser Interpretation bloße Funktions- respektive absolute Bedeutungslosigkeit zubilligt; ebenso Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 176 („absolut überflüssig“). 885 So zu Recht kritisch Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 176 („besonders kühne Form der Interpretation“) mit Verweis auf Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1297, 1300 f.; Isensee, Schlußbestimmung (Fn. 669), § 166 Rn. 61; Kirchhof, Erneuertes GG (Fn. 878), S. 16 und Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 5. 886 Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik v. 21.12.1972 (BGBl. 1973

202

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

wandelte Rechtslage zum Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes“ 887. Er liest Art. 146 GG als eine Regelung, die das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volks in Bezug nehme und in einer einmaligen historischen Situation in das Grundgesetz eingefügt worden sei. Da jedoch mit erfolgtem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes das Selbstbestimmungsrecht des geeinten deutschen Volks auch in der Verfassungsfrage endgültig ausgeübt worden sei, habe Art. 146 GG seine Geltungsgrundlage verloren888. Gegen diese Ansicht führt namentlich Wiederin zu Recht ins Feld, dass der Grundlagenvertrag keinen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Einfluss haben konnte, da er als (spezieller889) völkerrechtlicher Vertrag gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG durch ein Bundesgesetz umgesetzt wurde und damit rangmäßig unterhalb des Verfassungsrechts angesiedelt ist890. Ferner könnte man – vorausgesetzt man folgt der genannten Ansicht – argumentieren, dass der vor Wirksamwerden des Beitritts abgeschlossene Einigungsvertrag ebenso eine Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volks darstellte, und daher eine materiell gleichwertige, freie verfassunggebende Entscheidung im Sinne von Art. 146 GG a. F. Zwar wäre damit gemäß Art. 146 GG a. F. das Grundgesetz durch den Einigungsvertrag die endgültige Verfassung der Deutschen geworden. Da jedoch das Grundgesetz nach wie vor mit einer beitrittsbedingten Neufassung des Schlussartikels versehen ist, stünde es nach wie vor unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit und könnte deshalb künftig durch eine in freier Entscheidung beschlossene Verfassung abgelöst werden891. c) Fazit: herrschende Ansicht der Obsoleszenz und Gegenargumente Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die herrschende Ansicht Art. 146 GG n. F. aus unterschiedlichen Gründen keine selbstständige Bedeutung zukommen ließ, die von Art. 79 Abs. 3 GG umfassten Inhalte im Sinne einer „echten“ Ewigkeits-

II, S. 421); dessen Art. 6 lautete „Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gehen von dem Grundsatz aus, daß die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt. Sie respektieren die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten“; vgl. zu den Auswirkungen BVerfGE 36, 1. 887 Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1295 f. 888 Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1295 ff. 889 BVerfGE 36, 1 (LS 6, 23 f.). 890 Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 428 f. 891 Diese Schlussfolgerung bei Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 429 f. basiert auf der Tatsache, dass im Zeitpunkt des „Beitritts“ der Neuen Länder zum Grundgesetz am 3.10.1990 der am 29.9.1990 inkraftgetretene Einigungsvertrag (vgl. Art. 45 Abs. 1 EV) bereits geltendes Recht war.

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

203

klausel als absolut bestandsfest angesehen wurden und Art. 146 GG zu einem Nullum ohne echte rechtliche Relevanz degradierte892. Gegen eine solche Bindung des Art. 146 GG an Art. 79 Abs. 3 GG spricht jedoch, dass die von Art. 146 GG avisierte neue Verfassung inhaltlich nicht deckungsgleich mit dem Grundgesetz sein muss, sondern dieses ersetzen soll. Eine Bindung an Art. 79 Abs. 3 GG würde aber gerade eine Überleitung der Identität des Grundgesetzes in die (ansonsten wie auch immer geartete) Neuverfassung bewirken893. Dreier weist zudem zu Recht auf das methodologische Dogma hin, dass insbesondere Normen von Verfassungsrang nicht der Deklaration von Selbstverständlichem dienen, sondern Anspruch auf Regelungswirkung erheben894. So enthält auch Art. 146 GG einen eigenständigen Sinngehalt, der über den bloßen Rekurs auf die verfassunggebende Gewalt hinausgeht. Selbst, wenn man Art. 146 GG keinen Auftrag zur Neuverfassung Deutschlands zuspricht, so statuiert er doch eine normative Überleitung von der alten zur neuen Verfassungsordnung und zeigt durch dieses Einverständnis, dass eine Verfassung sehr wohl die Modalitäten der eigenen Ablösung nennen kann895. Dieses Einverständnis verhindert, dass sich eine gemäß Art. 146 GG geschaffene Nachfolgeverfassung als revolutionärer Akt darstellt, der sich gegen die weitere Geltung der grundgesetzlichen Ordnung wendet. Die Schaffung einer nachfolgenden Verfassungsordnung wird hingegen vom Grundgesetz explizit als Entwicklungsoption vorgesehen und zugelassen896. 892 Dieses ungeschönte Fazit zieht Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 177 („Nullpunkt“). 893 Diese Argumentation auch bei Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 301 f. 894 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 182; a. A. Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 307, der gerade aus den Gründen, die zu einer Funktionslosigkeit des Art. 146 GG n. F. führen würden, erst recht die „irreführende“ These ablehnt, dass die drohende Funktionslosigkeit ein Argument für die konträre Interpretation ist, welche Art. 146 GG n. F., um die Funktionslosigkeit zu vermeiden, einen Auftrag zur Neuverfassung zuspricht. Seiner Auffassung nach sind also die Gründe, aus denen sich eine Bedeutungslosigkeit der Vorschrift mangels Auftrags zur Neuverfassung ergibt, so schwerwiegend, dass sie trotz dieses widersprüchlichen Ergebnisses eine andere Interpretation nicht erlauben. 895 Diese Argumentation bei Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 182 („normative Brücke“); Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 304 sieht in dieser Funktion den nicht zu überschätzenden „Erdenrest an Eigensinn“ des Art. 146 GG, selbst wenn man der Vorschrift einen Auftrag zur Neuverfassung abspreche. 896 So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 182, der dies als „eine Konstitutionalisierung des Verfassunggebungsprozesses auf der Zeitschiene“ bezeichnet; vgl. auch ders. (Fn. 670) Art. 146 Rn. 24; Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 304 f. schätzt den Eigenwert dieses Einverständnisses angesichts der demokratischen Strukturen in Deutschland und vor dem Hintergrund des heutzutage selbstverständlichen Prinzips der Volksherrschaft als gering ein, erwähnt jedoch das praktische, prozedurale Potential dieser Funktion von Art. 146 GG, welches möglicherweise auch Vorbereitungshandlungen zur Ablösung der verfassungsrechtlichen Ordnung gegenüber der Staatsgewalt legitimieren könnte; a. A. wohl Roellecke, Gewalt (Fn. 128), S. 934, der pauschal resümiert, dass das Recht zur verfassung[s]gebenden Gewalt nichts sagen könne, noch nicht einmal, dass es sie nicht gebe.

204

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

4. Die „dritte Kategorie“ Eine dritte, vermittelnde Auffassung kommt im Ergebnis weder zu einer Verfassungswidrigkeit noch zu einer rechtlichen Belanglosigkeit des Art. 146 GG n. F., denn sie sieht dessen Regelungsziel weder in der Verfassunggebung noch in der Verfassungsänderung897. Während diese Ansicht in der Zeit unmittelbar nach der Wiedervereinigung nur von einer Minderheit vertreten wurde898, hat sie im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr Zulauf erfahren. Inhaltlich sieht sie den Anwendungsbereich des Art. 146 GG neben beziehungsweise zeitlich nach der durch Beitritt über Art. 23 Abs. 2 GG a. F. erreichten Wiedervereinigung Deutschlands. Die verschiedenen Argumentationsstränge innerhalb dieser Meinung ergeben jedoch kein einheitliches Bild899: a) Art. 146 GG n. F. als Nachfolgevorschrift des Art. 146 GG a. F. Teilweise wird Art. 146 GG n. F. als ungeschmälerte Nachfolgevorschrift des Art. 146 GG a. F. angesehen, welche das Grundgesetz nach wie vor unter einen originären Ablösevorbehalt stellt. Durch den Einschub des Relativsatzes durch den Gesetzgeber habe dieser die durch die verfassunggebende Gewalt des Parlamentarischen Rats zweifellos legitimierte Vorgängernorm des Art. 146 GG a. F. lediglich teilweise in seinem ursprünglichen Gehalt gekürzt. Der Schlussartikel habe zwar durch erfolgte Wiedervereinigung auf diesem Gebiet jegliche Bedeutung verloren, lasse aber unverändert die Überleitung des Grundgesetzes hin zu einer neuen Verfassung zu. Ein Akt des Volks auf Basis von Art. 146 GG n. F. ist nach dieser Ansicht den Bindungen des Art. 79 GG folgerichtig entzogen900. b) Art. 146 GG n. F. als Verfassungsänderungsvorschrift sui generis Eine weitere, namentlich von Stern vertretene Unteransicht sieht Art. 146 GG n. F. weder als Regelung der verfassunggebenden Gewalt des pouvoir constituant 897 So ausdrücklich Heckmann, Element (Fn. 853), S. 11; Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 411 („dritter Weg“). 898 Darunter z. B. H.-U. Erichsen, Die Verfassungsänderung nach Art. 79 GG und der Verfassungsbeschluß nach Art. 146 GG, in: Jura 1992, S. 52 (55); Heckmann, Verfassungsreform (Fn. 788), S. 854 f.; Storost, Legitimität (Fn. 722), S. 541 ff. 899 So Heckmann, Element (Fn. 853), S. 12. 900 So etwa Häberle, Verfassungspolitik (Fn. 791), S. 359; D. Grimm, Zwischen Anschluß und Neukonstitution, in: ders., Die Verfassung und die Politik, 2001, S. 35 (47); Rauschning, Verfassungslage (Fn. 791), S. 401; Herdegen, Verfassungsänderungen (Fn. 786), S. 26 ff.; M. Sachs, Das Grundgesetz im vereinten Deutschland – endgültige Verfassung oder Dauerprovisorium?, in: JuS 1991, S. 985 (988); H. Engel, Aussprache, in: Wiedervereinigung (Fn. 733), S. 111 (113).

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

205

orginaire, noch als bloßen Hinweis ohne rechtlichen Gehalt an, sondern als eine Art Vorschrift sui generis zur Verfassungsrevision901. Die in dieser Regelung vorhandenen Lücken bezüglich der Aktivierung und der erforderlichen Mehrheit einer Verfassungsrevision könnten jedoch nicht zu einer Umgehung der in Art. 79 Abs. 2 GG vorgesehenen Schranken führen, sondern seien durch eben diese formellen und materiellen Bedingungen zu ergänzen902. Dies folge aus dem zwingenden, „unlöslichen“ Zusammenhang des neu gefassten Schlussartikels mit der „anderen Verfassungsänderungsvorschrift“ des Art. 79 GG; in seiner neuen Funktion könne Art. 146 GG jedenfalls nicht ohne Bezug zu Art. 79 Abs. 2 GG ausgelegt werden903. Diese beiden Verfassungsänderungsvorschriften seien Regelungen zur konstitutionellen Kanalisierung des pouvoir constituant innerhalb der geltenden Verfassungsordnung und außerhalb einer revolutionären Ausübung des pouvoir constituant originaire904. Bereits die Eröffnung des Verfahrens zu einer Verfassunggebung durch Volksabstimmung stelle eine materielle Verfassungsänderung dar. Auch die Fragen nach dem telos des Art. 146 GG n. F. stütze diese Auslegung: Im Falle einer Anwendung des Art. 146 GG n. F. mit dem Quorum einer einfachen Mehrheit stünde das Grundgesetz samt seines durch die Bürger der früheren DDR erkämpften Schutzes trotz des mit qualifizierter Mehrheit der Volkskammer erklärten Beitritts zu dessen Geltungsbereich zur Disposition. Eine 901 P. Badura, Deutschlands aktuelle Verfassungslage, in: Archiv des öffentlichen Rechts 115 (1990), S. 314 (320) deklariert die in Art. 146 GG angesprochene Verfassunggebung durch ein spezifiziertes Organ in einem speziellen Verfahren mithin als „selbständigen Revisionstatbestand“; ähnl. Tenor bei Haack, Verlust (Fn. 872), S. 453 ff., der Art. 146 GG n. F. als spezielle Option zur Totalrevision des Grundgesetzes interpretiert, die zwischen einer punktuellen Änderung des Verfassungstexts gemäß Art. 79 Abs. 2 GG auf der einen Seite und einer Verfassunggebung als Neukonstituierung des Gemeinwesens durch das Volk als pouvoir constituant auf der anderen Seite anzusiedeln sei. 902 Stern, Charakter (Fn. 866), S. 293 f.; ders., Wiederherstellung (Fn. 788), S. 49; ähnlich Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 414 f., der im Zusammenhang mit Art. 146 GG zwischen der im Schrifttum geläufigen Figur des pouvoir constituant originaire und der des pouvoir constituant constitué unterscheidet. Während ersterer sich jedem Versuch normativer Erfassung entziehe und in Art. 146 GG zur Vermeidung der Selbstpreisgabe des Grundgesetzes gerade nicht angesprochen sei, sei letzterer die in Art. 146 GG geregelte, um die Vorbehalte einer freien Entscheidung des vereinigten deutschen Volks erweiterte verfassunggebende Gewalt, welche das Grundgesetz durchaus außer Kraft setzen könne. Dadurch, dass sich das Grundgesetz die Enscheidung einer von ihr selbst näher geregelten verfassunggebenden Gewalt zu eigen mache, habe sie diese implizit als pouvoir constituant constitué rechtlich verfasst; von dieser Unterscheidung ebenso ausgehend Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 875; a. A. Haack, Verlust (Fn. 872), S. 448, 452, der davon ausgeht, dass das, „was sich per definitionem nicht regeln läßt, weil es selbst die Grundlage aller rechtlichen Vorschriften darstellt, [. . .] nicht zugleich als Adressat von verfassungsmäßigen Rechten und Pflichten erscheinen [kann]“, und daher feststellt, dass Art. 146 GG nicht den pouvoir constituant ins Auge fassen könne, weil er nach dieser Lesart funktionlos sei. 903 Stern, Charakter (Fn. 866), S. 293 f.; ders., Wiederherstellung (Fn. 788), S. 49. 904 Stern, Wiederherstellung (Fn. 677), S. 49.

206

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

solche Auslegung von Art. 146 GG n. F., die letztlich im Widerspruch zu den Hauptzielen des Einigungsvertrags stünde, könne vom verfassungsändernden Gesetzgeber nicht gewollt sein905. Nach dieser Interpretation erlaubt Art. 146 GG n. F. erst nach vorheriger Verfassungsrevision im Verfahren des Art. 79 GG deren Bestätigung oder Ablehnung durch ein freie Entscheidung des deutschen Volks906. Da bereits die Aktivierung einer Prozedur zur Verfassungsablösung durch Volkentscheid im Rahmen einer bestehenden Verfassung materiell einer Verfassungsänderung gleichkomme, sei danach in jedem Falle zunächst eine Zweidrittelmehrheit gemäß Art. 79 Abs. 2 GG erforderlich907. Auch Art. 79 Abs. 3 GG sei für eine Verfassung auf der Grundlage des Art. 146 n. F. zu beachten908. Im Gegensatz zur erst genannten Unteransicht ist nach dieser Auffassung eine Volksabstimmung gemäß Art. 146 GG n. F. – wie eine „gewöhnliche“ Verfassungsänderung – an die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden. Da sie jedoch wie eine Verfassunggebung eine Beteiligung des Volks vorsieht, unterfällt diese Interpretation ebenfalls der „dritten Kategorie“ 909. 5. Fortbestehende Möglichkeit zur Verfassunggebung durch Art. 146 GG n. F. Die beschriebenen Ansichten, welche Art. 146 GG n. F. entweder als verfassungswidrig, als obsolet oder als Verfassungsänderungsvorschrift sui generis deklarierten, waren von Beginn an Objekt zahlreicher Gegenargumente909a. Diese bündelten sich in eine Gegenmeinung910, welche zunächst die Minderheit dargestellt hat, seit der Wiedervereinigung jedoch die Tatsache für sich in Anspruch nehmen kann, dass Art. 146 GG vom verfassungsändernden Gesetzgeber zwar verändert, insgesamt aber weiterhin im Grundgesetz belassen wurde und somit

905

Diese Argumentation bei Stern, Wiederherstellung (Fn. 677), S. 50. Zu Recht kritisiert Heckmann, Element (Fn. 853), S. 12 den offensichtlichen Widerspruch zum Wortlaut des Art. 146 GG n. F., der eine Verfassungsänderung nicht vorsieht. 907 Stern, Charakter (Fn. 866), S. 293 folgert die zwingende vorherige „Befassung“ der gesetzgebenden Körperschaften mit der Frage nach einer Verfassungsänderung aus dem Wortlaut des Art. 5 Spiegelstrich 4 des Einigungsvertrags. Er sieht ferner bei einer „Umgehung“ der Mehrheitserfordernisse des Art. 79 Abs. 2 GG die Gefahr der Aushebelung des „von den Menschen der DDR erkämpfte[n] Schutz[es] durch das Grundgesetz und der von der qualifizierten Mehrheit der Volkskammer beschlossene Beitritt[s]“ zum Grundgesetz. 908 Im Ergebnis ebenso wohl Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 875 f. 909 So die begriffliche Einordnung bei Heckmann, Element (Fn. 853), S. 12 f. 909a Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 177. 910 Darunter Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 419; Heckmann, Element (Fn. 853), S. 14 ff. 906

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

207

dem Wortlaut nach ausdrücklich einen legalen Weg zur Abwahl des Grundgesetzes bereitstellen kann911, ohne sich zu letzterem in rechtlichen Widerspruch zu setzen. Neben diesem rechtshistorischen Faktum sprechen im Endeffekt gewichtige systematische Argumente für eine solche, zukunftsoffenere Auslegung von Art. 146 GG 912. a) Trennung von Wiedervereinigungs- und Verfassungsfrage Den Zugang zu dieser Interpretation bietet die Erkenntnis, dass Art. 146 GG a. F. entgegen dem vielfach geäußerten Argument der vorherrschenden Ansicht in seiner Funktion nicht darauf beschränkt war, einen Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands aufzuzeigen913. Denn darüber hinaus war die Vorschrift einerseits Ausdruck der Besatzungszwänge zur Zeit der Schaffung des Grundgesetzes, welche eine freie Entscheidung des souveränen deutschen Volks über seinen politisch gewünschten Lebensstil nicht zuließ und damit auch der Tatsache, dass der Parlamentarische Rat diese Entscheidungsfreiheit für den zukünftigen Akt einer endgültigen Verfassunggebung herbeisehnte914. Dies fügt sich in das Selbstbild des Grundgesetzes, das sich von Anfang an aufgrund der fehlenden Mitwirkung des gesamtdeutschen Volks nicht als vollwertige Verfassung ansah. Ferner kam Art. 146 GG a. F. die Funktion zu, die mangelnde demokratische Legitimation des durch die Landtage delegierten Parlamentarischen Rats zur Verfassunggebung nachträglich beseitigen zu können915. Schließlich war Art. 146 GG a. F. durchaus auch dazu gedacht, einen möglichen Weg zur deutschen Einheit aufzuzeigen und enthielt insofern eine Option für das Erreichen der Einheit916. Die Erledigung der einen Funktion durch die erfolgte Wiedervereinigung ließ damit die beiden übrigen Funktionen der Ver-

911 So konstatierend Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 106; Weis, Fragen (Fn. 880), S. 29. 912 Dies betont Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 178. 913 Vgl. hierzu die gegenteilige sarkastische Bemerkung von H. Meyer, in: VVDStRL 49 (1990), S. 163, der bemerkt, er habe den Art. 147 GG übersehen, welcher anordne, dass Art. 146 GG seine Gültigkeit verliere, wenn der andere Teil Deutschlands nach Art. 23 GG beigetreten sei; Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 177 lässt Art. 146 GG a. F. jedenfalls eine „Doppelrolle“ zukommen, da er je eine Antwort auf die Frage der Wiedervereinigung und die der Verfassunggebung enthalte; ebenso ders. (Fn. 670), Art. 146 Rn. 25. 914 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 177; ders. (Fn. 670), Art. 146 Rn. 25; Meyer (Fn. 913), S. 163 f. übersetzt gleichsam den Begriff „frei“ in S. 3 der ursprünglichen Präambel und in Art. 146 GG a. F. mit „souverän“; Sachs, Grundgesetz (Fn. 900), S. 990; Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 425. 915 Dreier (Fn. 670), Art. 146 Rn. 14; Meyer (Fn. 913), S. 163 f. 916 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 177; ders. (Fn. 670), Art. 146 Rn. 26; Meyer (Fn. 913), S. 164.

208

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

fassunggebung zur nachträglichen Legitimation des Grundgesetzes unberührt917. Bisweilen wird zudem eine Bestätigung dieser erweiterten Auslegung von Art. 146 GG a. F. in den Unterlagen zur Beratung des Parlamentarischen Rats zum Grundgesetz selbst verortet918. So hatte der Vorsitzende des Hauptausschusses Carlo Schmid bei der Vorstellung des Grundgesetzes gegenüber dem Plenum in der Schlusslesung des Parlamentarischen Rats919 betont, dass nicht schon der Beitritt anderer Länder Deutschlands zum räumlichen Geltungsbereich des Grundgesetzes aus diesem die von Art. 146 GG avisierte gesamtdeutsche Verfassung mache, sondern dass es eine solche „erst dann geben [werde], wenn das deutsche Volk die Inhalte und Formen seines politischen Lebens in freier Entschließung bestimmt haben wird“. Hieraus ergibt sich eindeutig der historische Wille des Gesetzgebers, Art. 146 GG a. F. und Art. 23 S. 2 GG a. F. nicht als exklusive, einander ausschließende Vorschriften zu konzipieren und durch Art. 146 GG a. F. auch nach erfolgtem Beitritt aller deutschen Gebiete die Möglichkeit zur Schaffung einer endgültigen Verfassung zu bieten920. Auch der Wortlaut der Vorschrift bietet gegenläufigen Deutungsansätzen keinen Halt, da er keinerlei Anhaltspunkte für eine Konsumtion des Art. 146 GG durch Erreichen der Wiedervereinigung auf anderem Wege gibt. Es erscheint vielmehr folgerichtig, die ursprünglichen Vorbehalte des Grundgesetzes nicht zu vermengen: Während Art. 23 S. 2 GG a. F. den „räumlichen Geltungsbereich“ des Grundgesetzes bedingte, regelte der Schlussartikel die zeitliche Beendigung der Geltungskraft des Grundgesetzes und dessen Ablösung durch eine (neue) Verfassung921. 917 Näher dazu Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 30 ff. m.w. N. sowie Scheuner, Art. 146 (Fn. 738), S. 297 f., der bereits feststellt, dass „in einem Grundgesetz, das selbst sich zeitlich einer verfassunggebenden Neuformung unterwirft, die Anrufung einer demokratischen Konstituante oder einer Volksabstimmung zur Gesamtrevision auch außerhalb des Falles der Wiedervereinigung sich auf die Anerkennung einer verfassunggebenden Gewalt in der Verfassung berufen kann. Im modernen demokratischen Staate gehört freilich die normative Beständigkeit der Verfassung, ihre Dauer über den wechselnden Mehrheiten, zu den grundlegenden politischen Werten“. 918 Dies tut namentlich Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 178. 919 Vgl. C. Schmid in der 9. Sitzung des Plenums vom 6.5.1949 (Parl. Rat, Bd. 9, S. 438, 444); Zitat abgedruckt bei Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 178. 920 Dies betont Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 178, der zudem auf den krassen Widerspruch hinweist, der zwischen Entstehungsgeschichte des Art. 23 GG a. F. und der Aussage Heckels besteht, welcher annimmt, aus Art. 23 GG a. F. gehe hervor, dass das Grundgesetz auch mit der Wiedervereinigung durch einen Beitritt ohne den Preis der Verfassungsbeseitigung gerechnet habe (M. Heckel, Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage, 1995, S. 29, ebd., Fn. 59); wie hier auch Meyer (Fn. 913), S. 163; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 51 sowie die Analyse von Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 425: „Art. 146 GG war nicht nur als ein Weg zur deutschen Einheit konzipiert; er sollte auch und vor allem einen Weg zu einer neuen Verfassung im geeinigten Deutschland bilden“.

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

209

Die Gegenansicht, welche eine Anwendung des Art. 146 GG a. F. durch den erfolgten Beitritt im Sinne des Art. 23 S. 2 GG a. F. ausschließt, verkürzt den normativen Gehalt einer Verfassungsbestimmung unnötig und führt daher zu einer systemwidrigen Interpretation922. Wiederin verdeutlicht die Absurdität der Gegenmeinung anhand eines hypothetischen Beispiels: Man stelle sich vor, die politische Führung beider Teile Deutschlands hätte sich angesichts der bevorstehenden Wiedervereinigung darauf geeinigt, nach einer völkervertragsrechtlichen Zusammenführung von DDR und Bundesrepublik, dem geeinten Deutschland im Wege einer Volksabstimmung respektive verfassunggebenden Nationalversammlung eine neue gemeinsame Verfassung zu geben. Nach der beschriebenen Ansicht, die die Funktion des Art. 146 GG a. F. auf die Bereitstellung eines Wegs zur Wiedervereinigung beschränkte, wäre die Vorschrift mangels erfolgter Anwendung zur Vollendung der Wiedervereinigung in diesem Zeitpunkt bereits ohne Funktion und damit für die Verfassunggebung nicht anwendbar gewesen. Die Vorstellung, eine solche, speziell auf diesen Fall gerichtete Vorschrift nun unangewendet zu lassen und stattdessen eine Verfassunggebung innerhalb der Grenzen von Art. 79 Abs. 3 GG und ohne Beteiligung des gesamten deutschen Volks vorzunehmen, hätte jedoch jeglicher Systematik und Logik entbehrt. Hätte man jedoch in diesem Falle eine Anwendbarkeit von Art. 146 GG bejaht, so ist nicht einzusehen, wieso die Vorschrift nach Vollendung der Wiedervereinigung durch den im Einigungsvertrag geregelten Beitritt nicht anwendbar sein sollte923. b) Fazit: Art. 146 GG a. F. als Antwort auf die Wiedervereinigungs- und auf die Verfassungsfrage Nach Vorgesagtem ist zu konstatieren, dass in Art. 23 S. 2 GG a. F. und Art. 146 GG a. F. zwar zwei alternative Wege zur Vollendung der (erledigten) Wiedervereinigung offenstanden, aber nur letzterer daneben auch die Möglich921 Diese Trennung von zeitlicher und räumlicher Bedingtheit des Grundgesetzes bei Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 179; Hofmann, Verfassungsentwicklung (Fn. 446), S. 159; Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 302; so wohl auch Streinz, Europäisierung (Fn. 106), S. 35; ähnl. Trennung bei Klein, Schwelle (Fn. 791), S. 1069, der Art. 23 S. 2 GG a. F. eine „territoriale“, Art. 146 GG a. F. aufgrund der darin enthaltenen Anknüpfung an das deutsche Volk hingegen eine „personelle Komponente“ zuschreibt. 922 So Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 419, der ausführt, dass allenfalls ein aus Art. 23 S. 2 GG a. F. hergeleitetes Argument, das verdeutliche, dass eine freie Entscheidung des geeinten deutschen Volks nach der Wiedervereinigung erschwert, respektive unmöglich geworden sei, gegen eine Anwendbarkeit des Art. 146 GG nach erfolgtem Beitritt sprechen könne. Eine solche Erschwerung oder Unmöglichkeit liegt jedoch freilich nicht vor. Das Gegenteil ist der Fall. 923 So Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 426 (sowie dort Fn. 77), der konstatiert: „Dieses Ergebnis ist schlichtweg unhaltbar. Wenn Art. 146 GG a. F. irgendeine Funktion hatte, dann jene, in derartigen Konstellationen den Übergang zu einer voraussetzungslos konzipierten gesamtdeutschen Verfassung zu erleichtern und nicht, ihn zu erschweren oder gar unmöglich zu machen“).

210

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

keit der Schaffung einer neuen Verfassung bot924. Zwar wird vereinzelt angenommen, dass beide Wege zur Wiedervereinigung als Grundoptionen für das Grundgesetz zu verstehen seien: entweder die Option des Grundgesetzes als endgültige gesamtdeutsche Verfassung (Art. 23 GG) oder die Option für das Grundgesetz als bloßes Provisorium und Transitorium bis zur deutschen Einheit (Art. 146 GG)925. Dagegen spricht jedoch die Erkenntnis, dass Art. 23 GG a. F. den räumlichen Geltungsbereich behandelte, während Art. 146 GG a. F. das zeitliche Ende der Geltung des Grundgesetzes behandelte, indem er dessen Ablösung durch eine Verfassung vorsah926. Dieses Ergebnis entspricht mittlerweile dem überwiegenden Teil der Literatur927 und wohl auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wie zumindest die dahingehenden Andeutungen in der LissabonEntscheidung vermuten lassen. Darin wird Art. 146 GG als Bestätigung des präkonstitutionellen Rechts des Volks gesehen, sich (in diesem Fall in „Legalitätskontinuität“ zur Verfassungsordnung des Grundgesetzes) „eine neue Verfassung zu geben, aus der die verfasste Gewalt hervorgeht und an die sie gebunden ist“ 928. Diese Feststellungen werden für die Gegenwart getroffen, ohne, dass die Norm in irgendeinem Zusammenhang mit der Wiedervereinigung als erledigt angesehen wird. 6. Die Auslegung des Art. 146 GG n. F. Nach Erörterung der Frage, wie Art. 146 GG a. F. auszulegen war, ist nunmehr unter Berücksichtigung der hier bevorzugten, differenzierten Interpretation des Art. 146 GG a. F. auf die Auslegung der aktuellen Fassung des Art. 146 GG einzugehen. Die zu beantwortende elementare Frage in diesem Zusammenhang betrifft das Verhältnis von Art. 146 GG n. F. zur Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG: Ist Art. 146 GG n. F. eine durch den verfassungsändernden Gesetzgeber geschaffene Vorschrift, die in Diskontinuiät zur alten Fassung lediglich die verfas924 So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 179 mit Verweis auf E. G. Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk 1992, S. 27. 925 Scholz, Reform (Fn. 885), S. 6, der die Unterscheidung zwischen räumlicher (Art. 23 GG a. F.) und zeitlicher Geltung (Art. 146 GG) nicht trifft. 926 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 179; Hofmann, Verfassungsentwicklung (Fn. 446), S. 159; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 161 f. 927 So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 179 f., der zu Recht darauf verweist, dass die These des Obsoletwerdens des Art. 146 GG in der neueren monographischen Literatur hierzu überwiegend abgelehnt wird, vgl. etwa S. Blasche, Die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung, 2006, S. 29 ff., 43 ff., 55 f.; K. Merkel, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes. Grundlagen und Dogmatik des Artikels 146 GG, 1996, S. 27 ff., 33 ff., 87 ff.; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 155 ff., 163 f., 193; Scriba, Revolution (Fn. 709), S. 325 ff.; Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 79 ff., 106 ff.; auch Schäuble, Grundordnung (Fn. 188), S. 71 hält i. Erg. eine Verfassunggebung über Art. 146 GG für „weiterhin möglich“; ebenso zuletzt Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 255 f. 928 BVerfGE 123, 267 (332, 343).

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

211

sungsändernde Gewalt adressiert und an die Beschränkungen des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden ist, oder stellt die Neufassung eine Fortschreibung des ursprünglichen Schlussartikels dar, welcher somit nach wie vor die ungebundene verfassunggebende Gewalt des Volks zu einer „echten“ Verfassungsablösung ermächtigt? a) Auslegungsmethodik Die Auslegung des Art. 146 GG n. F. erweist sich – ungeachtet des breiten Meinungsspektrums zu dieser Vorschrift – auch aufgrund des Zustandekommens der Neufassung im Rahmen des Einigungsvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik als einem völkerrechtlichen Vertrag als problematisch. Konkret stellt sich im Hinblick auf die Rechtsqualität des Art. 146 GG n. F. die Frage, ob angesichts der Geltungsgrundlage der Vorschrift im völkerrechtlichen Einigungsvertrag die verfassungsrechtlichen oder die völkerrechtlichen Interpretationsgrundsätze Anwendung finden müssen929. Für letztere Alternative spricht auf den ersten Blick, dass das Eingungsvertragsgesetz930 die Transformation des Einigungsvertrags einschließlich des gemäß Art. 4 Ziffer 6 geschaffenen Art. 146 GG n. F. in innerstaatliches Recht vorsieht und dieser damit ausschließlich dem nationalen Verfassungsrecht angehört. Zudem sah Art. 45 Abs. 2 des Einigungsvertrags vor, dass der Inhalt des Vertrags nach Vollendung des Beitritts als Bundesrecht fortgilt. Insbesondere vor diesem Hintergrund, dass der Einigungsvertrag heute also völkerrechtlich nicht mehr existiert, erscheint es ungeachtet einer Entscheidung zwischen der Transformationstheorie931 und der Vollzugstheorie932 überzeugend, die maßgeblichen Regelungen der Art. 31–33 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.5.1969933 bei der Auslegung des Art. 146 GG n. F. nicht zu berücksichtigen934. Es bleibt damit bei dem „herkömmlichen“, auf Savigny zurück929

Wie hier Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 103. BGBl. 1990 II, S. 889. 931 Diese geht davon aus, dass ein völkerrechtlicher Vertrag durch das Zustimmungsgesetz auf Grundlage von Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG in innerstaatliches Recht transformiert wird, siehe z. B. BVerfGE 1, 372 (389); 1, 396 (410); 4, 157 (163); 6, 290 (294); grundlegend zur weitgehenden Übernahme dieser Lehre aus der Weimarer Reichserfassung bereits G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, 1965, S. 32 ff., insb. Fn. 138. 932 Im Gegensatz zur Transformationstheorie geht dieser (heute herrschende) Ansatz davon aus, dass das Zustimmungsgesetz lediglich den Befehl erteilt, den völkerrechtlichen Vertrag innerstaatlich anzuwenden, ohne dass dieser in nationales Recht transformiert wird, siehe dazu BVerfGE 90, 286 (364); 104, 151 (209); Rojahn (Fn. 162), Art. 59 Rn. 33 ff.; Jarass (Fn. 138), Art. 59 Rn. 17. 933 BGBl. 1985 II, S. 927 ff. 934 Anders Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 181 f., der bei der Interpretation auf Art. 32 des Übereinkommens abstellt; ebenso Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 145, der für die Interpretation von Art. 146 GG n. F. aufgrund dessen Her930

212

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

gehenden Auslegungskanon, welcher die Auslegung des Wortlauts, des logischsystematischen Zusammenhangs, der Entstehungsgeschichte sowie des Sinns und Zwecks der in Frage stehenden Vorschrift vorsieht935. b) Grammatikalische Auslegung des Art. 146 GG Der Wortlaut des Artikels 146 GG n. F. lautet: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“.

Bei einer grammatikalischen Auslegung der neugefassten Schlussvorschrift stellt sich zunächst die Frage, wie sich der in der Neufassung des Art. 146 GG – vorwiegend aus außenpolitischen Gründen936 – eingefügte Relativsatz937 auswirkt. Man könnte diese Ergänzung dahingehend verstehen, dass mit der Wiedervereinigung Deutschlands und der Geltung des Grundgesetzes im gesamten (also wiedervereinigten) deutschen Staatsgebiet das als Provisorium gedachte Grundgesetz endgültig abgelöst wurde. Damit wäre das durch Art. 146 GG a. F. angestrebte Ziel einer „von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossene[n]“ Verfassung erreicht und die Vorschrift hätte ihren (Haupt-)zweck erfüllt938. Dieser Ansicht scheint die Bundesregierung in ihrer Denkschrift zum Einigungsvertrag939 gefolgt zu sein, als sie davon ausging, dass Art. 146 GG n. F. durch seinen Wortlaut verdeutliche, auf den verfassungsändernden Gesetzgeber bezogen zu sein, und dass die Verfassungsnovellierungen mithin den Anforderun-

kunft in Art. 4 Ziffer 6 des Einigungsvertrags die Auslegungsregeln für völkerrechtliche Verträge gemäß Art. 31 ff. des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge anwendet – letzendlich jedoch zum gleichen Auslegungsergebnis gelangt; instruktiv A. Randelzhofer, Deutsche Einheit und Europäische Integration, in: VVDStRL 49 (1990), S. 102 (108 ff.); ders., Grundgesetz (Fn. 733), S. 145 ff. 935 Dieser entspricht der st. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts (allgemein dazu schon BVerfGE 1, 299 [312]; ferner BVerfGE 88, 145 [166]; 93, 37 [81]; vollst. Erwähnung des Kanons unter anderem in BVerfGE 15, 256 [264]; 74, 102 [116]; 77, 1 [44 ff.], 83, 119 [126]; 95, 48 [62]; 109, 190 [212]; 110, 226 [248 ff.]; 111, 54 [91]); vgl. schon E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, in: NJW 1976, S. 2090 ff.; kritisch hingegen zuletzt Sachs (Fn. 547), Einführung Rn. 38 f. („überkommen“). 936 Dazu eingehend Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 135 ff.; Mahrenholz, Verfassung (Fn. 924), S. 34; Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 181; Blasche, Mitwirkung (Fn. 927), S. 31 f. 937 Dieser lautet „. . ., das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt . . .“. 938 Isensee (Fn. 876), § 166, Rn. 47; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 109; Papier, Entwicklung (Fn. 70), S. 2841; Scholz (Fn. 179), Art. 146 (1991), Rn. 5, 9. 939 Denkschrift zum Einigungsvertrag, BT-Drs. 11/7760, S. 355 ff.

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

213

gen des Art. 79 GG unterlägen940. Dass eine solche Interpretation keineswegs einhellige Meinung war941, erschließt sich jedoch aus der im Bundestag anschließend ausführlich geführten Debatte942. Und selbst wenn damals ein einheitliches Verständnis der gesetzgebenden Körperschaften von Art. 146 GG n. F. vorgelegen hätte, so wäre dennoch gemäß Art. 79 Abs. 1 GG eine Änderung des Wortlauts notwendig gewesen, die der dahingehenden Intention Ausdruck verleiht, um eine Auswirkung auf den Gehalt des Art. 146 GG n. F. zu erreichen943. Der Wortlaut der Neufassung bietet hierfür jedoch keine Anzeichen. Gegen eine Bindung an Art. 79 Abs. 3 GG spricht auch, dass der Wortlaut des Art. 146 GG n. F. das Grundgesetz nicht als die angestrebte endgültige Verfassung bezeichnet. Die Vorschrift unterscheidet deutlich zwischen dem Grundgesetz und einer neuen Verfassung und hat damit eine vom Grundgesetz unabhängige, genuin neue Verfassung im Auge944, die auch nur durch die verfassunggebende Gewalt geschaffen werden kann. Verfassungsänderungen werden durch den Wortlaut des Art. 146

940 BT-Drs. 11/7760, S. 359; zur unglücklichen Audrucksweise in Bezug auf die Bindung an Art. 79 Abs. 3 GG bei Schaffung des Art. 146 GG n. F. siehe Bülow, Entstehungsgeschichte (Fn. 800), S. 53 sowie H. H. Klein, Kontinuität des Grundgesetzes und seine Änderung im Zuge der Wiedervereinigung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 8, 1995, § 198 Rn. 50. 941 So aber z. B. Sachs, Grundgesetz (Fn. 900), S. 989 („einmütige Beurteilung durch die beteiligten Organe“). 942 Zwar betonte zunächst Bundesminister Schäuble in der 222. Sitzung des Bundestags am 5.9.1990 in vollem Bewusstsein der Kontroverse zu Art. 146 GG, dass „die Frage einer Volksabstimmung nach Art. 146 GG eine Frage ist, die von den gesetzgebenden Körperschaften Bundestag und Bundesrat als eine Änderung oder Ergänzung der Verfassung, d. h. mit den Mehrheiten nach Art. 79 Abs. 2 entschieden werden kann und auch nur so entschieden werden kann, daß es also einen anderen Weg, zu einer Volksabstimmung nach Art. 146 GG zu kommen, nicht“ gäbe. Das sei „im [Einigungs-]Vertrag klargestellt“, darüber herrsche „Einigkeit“ und das sei „auch für künftige verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Diskussionen wichtig und ausdrücklich festzuhalten“ (siehe BT-Prot. 11/S. 17490 f.; Herv. im Original). Schon in der zweiten Beratung über den Einigungsvertrag erhoben sich jedoch abermals Gegenstimmen zu dieser Ansicht, welche die Interpretation des Art. 146 GG in der Denkschrift der Bundesregierung als skandalösen, untauglichen Versuch zur rechtlichen Änderung des Art. 146 GG degradierten und den wahren Gehalt des Schlussartikels „auf den Kopf gestellt“ sahen (so insbes. der Beitrag des Abgeordneten Häfner, in der 226. Sitzung am 20.9.1990, siehe BT-Prot. 11/S. 17824). Auch die damals abgegebenen schriftlichen Erklärungen zur Abstimmung zeigen, dass nicht wenige der damaligen Abgeordneten nicht von einer Bindung des Art. 146 GG n. F. an die Schranken des Art. 79 GG ausgingen und daher dessen Streichung intendierten (vgl. BT-Prot. 11/S. 17933, 17939 ff.). Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 436 resümiert angesichts dieser Kontroverse daher zu Recht, dass über den Inhalt des Art. 146 GG n. F. kein Konsens bestand. 943 Sachs, Grundgesetz (Fn. 900), S. 989; Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 436 f. 944 Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 45; Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 302; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 109; zuletzt S. Blasche, Die Bedeutung des Art. 146 GG n. F. zwanzig Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, in: VR 2010, S. 377 (378).

214

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

GG n. F. hingegen nicht angesprochen945. Daher scheint auch eine Interpretation, die Art. 146 GG als lex specialis zu Art. 79 GG bezeichnet946, unter diesem Gesichtspunkt unglücklich. Da sich Art. 146 GG n. F. auf den Entstehungsvorgang, nicht auf den Inhalt einer solchen neuen Verfassung bezieht, ist es durchaus denkbar, eine genuin neue Verfassung zu schaffen, deren Inhalt sich jedoch teilweise oder weitgehend mit dem des bisherigen Grundgesetzes deckt947. Der Bezug zum Verlust der Gültigkeit des Grundgesetzes verdeutlicht jedenfalls, dass dieses und damit auch die Bindungen des Art. 79 GG im Anwendungsfall des Art. 146 GG gerade nicht weitergelten sollen948. Zudem blieb die Regelung im Kern ihrer Aussage – der zeitlichen Beendigung des Grundgesetzes unter der Bedingung einer freien Entscheidung des deutschen Volks – absolut unverändert, wenn man einmal von der rein deklaratorischen Einfügung des Halbsatzes absieht, der nunmehr das gesamte deutsche Volk in Bezug nimmt949. Dass dies eine bloß deklaratorische Feststellung ist, folgt schon aus der Tatsache, dass das Grundgesetz seine eigene Geltung weder begründen noch anordnen kann950. Die verfassunggebende Gewalt, die dazu in der Lage wäre, hatte aber die Neufassung des Art. 146 GG gerade nicht veranlasst951. Wenn schon der ursprüngliche Wortlaut des Art. 146 GG die zeitliche Beendigung der Geltungskraft des Grundgesetzes lediglich an die Schaffung einer neuen Verfassung durch eine freie Entscheidung des Volks knüpft, dann kann auch die bloße Erhaltung dieser Aussage in der Neufassung des Schlussartikels inhaltlich nicht an den materiellen Anforderungen der sogenannten Ewigkeitsklausel gemäß Art. 79 Abs. 3 GG scheitern. Jedenfalls deutet die Neufassung des Schlussartikels nicht an, dass eine mit einfacher Mehrheit getroffene Volksentscheidung nach Vollendung der Wiederverei-

945 Blasche, Art. 146 GG (Fn. 944), S. 378; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 109; Randelzhofer, Grundgesetz (Fn. 733), S. 151; Sachs, Grundgesetz (Fn. 900), S. 989; a. A. Bülow, Entstehungsgeschichte (Fn. 800), S. 138, der in der Formulierung „verliert seine Gültigkeit“ auch einen Bezug zur Verfassungsänderungen für möglich hält. 946 So Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 420; i. Erg. wohl auch Bülow, Entstehungsgeschichte (Fn. 800), S. 138. 947 So Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 302, der sogar eine totale inhaltliche Identität zwischen Grundgesetz und Neuverfassung andenkt. 948 Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 302; ebenso Blasche, Art. 146 GG (Fn. 944), S. 378, der im Übrigen auf die Möglichkeit hinweist, in eine gänzlich neue Verfassung eine dem Art. 79 GG ähnliche Vorschrift einzufügen (dort Fn. 20); ebenso Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 109 mit Hinweis auf die klare Bezugnahme des Grundgesetzes auf seine eigene Ablösung („eindeutig“). 949 So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 181; Blasche, Mitwirkung (Fn. 927), S. 31 f.; Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 202. 950 So Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 109. 951 Mahrenholz, Verfassung (Fn. 924), S. 22 f.; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 109.

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

215

nigung nur dann als „frei“ anzusehen ist, wenn ihr mit qualifizierter Mehrheit gefasste Beschlüsse von Bundestag und -rat vorhergehen952. Eine andere Deutung würde dazu führen, dass der durch den eingefügten Relativsatz auf das gesamte Staatsgebiet erweiterte Geltungsanspruch des Grundgesetzes auch die verfassten Gewalten umfasst. Die Herbeiführung des Außerkrafttretens dieses Grundgesetzes durch deren eigene Initiative stünde dazu jedoch in offensichtlichen Widerspruch953. Ein solcher Gültigkeitsverlust kann daher auch nach dem Wortlaut des Art. 146 GG n. F. nur durch die verfassunggebende Gewalt erfolgen, welche dessen einziger Adressat ist954. Auch diese Lesart der Schlussbestimmung sieht daher die Frage des räumlichen Geltungsbereichs des Grundgesetzes beantwortet, nicht jedoch die nach der zeitlichen Geltung vor dem Hintergrund der Möglichkeit einer Verfassungneugebung955. c) Systematische Auslegung des Art. 146 GG Auch der neugefasste Art. 146 GG steht als Schlussartikel des Grundgesetzes in systematischer Verbindung zu dessen Präambel, dem Art. 79 GG sowie dem unmittelbar vorstehenden Art. 145 GG. Die systematische Auslegung kann mithin nur mit Rücksicht auf das Verhältnis der Vorschriften untereinander erfolgen. Mit erfolgter Wiedervereinigung wurden sowohl Art. 146 GG als auch die dem Grundgesetz vorangestellte Präambel in ihrem Wortlaut modifiziert956. Der gegenwärtigen Fassung der Präambel sind sowohl der Bezug zu der „Übergangszeit“ des Grundgesetzes als auch der Appell an das deutsche Volk, die Einheit herbeizuführen, aus nachvollziehbarem Grund abhanden gekommen. Die ehemals als Staatsziel ausgegebene957 Einheit und Freiheit Deutschlands wird ausdrücklich als vollendet anerkannt und die Geltung des Grundgesetzes für das gesamte deutsche Volk festgestellt. Es liegt auf den ersten Blick nahe, mit der hier festgestellten Vollendung der Einheit Deutschlands auch die endgültige Geltung des Grundgesetzes als Faktum und damit den Zweck des Art. 146 GG a. F. als erreicht anzusehen958. Einer sol952

Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 302; Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 437. Blasche, Art. 146 GG (Fn. 944), S. 378. 954 Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 39; Blasche, Art. 146 GG (Fn. 944), S. 378; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 109 ff. 955 Siehe dazu ausführlich Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 30 ff. m.w. N.; ders., Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 172 ff.; i. Erg. ebenso Kriele, Art. 146 (Fn. 837), S. 1; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 109 f.; Schilling, Verfassung (Fn. 560), S. 67 sowie Zippelius, Einheit (Fn. 66), S. 291 und ders., Grundgesetz (Fn. 857), S. 23. 956 Zum Wortlaut der ursprünglichen Präambel siehe oben II 1. 957 BVerfGE 5, 85 (127); dazu instruktiv D. Murswiek, Das Staatsziel der Einheit Deutschlands nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989. 958 Isensee, Staatseinheit (Fn. 785), S. 53; Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1297. 953

216

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

chen Interpretation können jedoch gewichtige systematische Argumente entgegengebracht werden. So spricht einiges dafür, dass die neugefasste Präambel nur ein Indikator für die abschließende räumliche Geltung des Grundgesetzes im Gegensatz zu der ursprünglich in der Präambel angestrebten Wiedervereinigung ist. Als Konsequenz ist die Änderung des Wortlauts von Art. 146 GG als bloße Bestätigung der bereits in der neu gefassten Präambel ausgedrückten räumlichen Endgültigkeit des Grundgesetzes – und nur dieser – zu sehen959. Systematisch folgt dementsprechend aus der Beibehaltung der Möglichkeit des Außerkrafttretens des Grundgesetzes bei dessen gleichzeitig festgestellter räumlicher Endgültigkeit, dass auch nach vollendeter Wiedervereinigung eine Verfassungneugebung durch den pouvoir constituant auf Grundlage des Art. 146 GG möglich sein muss. Die Beibehaltung der Stellung des Art. 146 GG n. F. im Grundgesetz, welcher dem Art. 145 GG nachgestellt ist, unterstützt diese Interpretation960. Aus ihr ergibt sich, dass auch Art. 146 GG n. F. nicht zu den von der Präambel und Art. 145 GG umklammerten Grundgesetzartikeln zu zählen ist, welche den von diesen in Geltung gesetzten Inhalt des Grundgesetzes bilden. Art. 146 GG kann damit nicht die verfasste Gewalt, den pouvoir constitué betreffen. Auch Art. 79 Abs. 3 GG, welcher sich im siebten Abschnitt betreffend die Gesetzgebung befindet, kann für die durch Art. 146 GG im Abschnitt der Übergangs- und Schlussbestimmungen adressierte verfassunggebende Gewalt daher keine Bindungswirkung entfalten961. Wenn man Art. 146 GG hin zu einer an Art. 79 GG gebundenen Option der Verfassungsänderung hätte modifizieren wollen, so hätte man einen neuen, vierten Absatz der Ewigkeitsklausel einfügen können. Dies wäre systematisch konsistenter gewesen als das Festhalten an einem diffusen Schlussartikel, der die Verfassungsgrenzen tangiert962. Auch eine Heranziehung von Art. 4 Nr. 6 des Einigungsvertrags, der die Neufassung des Art. 146 GG als beitrittsbedingte Änderung des Grundgesetzes ausweist, und somit eine Sinnänderung indizieren könnte963, kommt bei einer systematischen Auslegung der Verfassungsvorschrift des Art. 146 GG n. F. aufgrund des Rangs des Einigungsvertrags als einfaches Bundesgesetz nicht in Frage964. 959

Blasche, Art. 146 GG (Fn. 944), S. 379. Sachs, Grundgesetz (Fn. 900), S. 989; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 112. 961 So insbes. wiederum Sachs, Grundgesetz (Fn. 900), S. 989; Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 437; Blasche, Art. 146 GG (Fn. 944), S. 379. 962 So H. Dreier, Das Grundgesetz – eine Verfassung auf Abruf?, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 59 (2009), 18/19, S. 19 (24); v. Campenhausen/Unruh (Fn. 704), Art. 146 Rn. 21; Hinweis auf beide Aspekte ebenfalls bei Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 436 f. 963 So bei Blumenwitz, Verfassungsfrage (Fn. 860), S. 9; Busse, Werk (Fn. 868), S. 352; Heckmann, Verfassungsreform (Fn. 788), S. 852; Mahrenholz, Verfassung (Fn. 924), S. 38 f. 964 Sachs, Grundgesetz (Fn. 900), S. 989; Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 437 („unzulässige gesetzeskonforme Interpretation der Verfassung“); Würtenberger, 960

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

217

Eine systematische Auslegung des Art. 146 GG n. F. ergibt daher, dass sich dieser auf die verfassunggebende Gewalt bezieht und eine Verfassungneugebung weiterhin möglich ist. d) Genetische Auslegung des Art. 146 GG Bei der genetischen Auslegung ist zunächst zu beachten, dass der neugefasste Schlussartikel keine Anhaltspunkte für politische Implikationen bietet965. Hält man zudem den Abschnitt 3 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge für einschlägig, so stellen die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände der Entstehung einer Norm nur ergänzende Auslegungsmittel dar, die erst dann herangezogen werden können, wenn eine Auslegung nach Wortlaut und Sinn und Zweck nicht zielführend ist965a. Maßgeblich für die genetische Auslegung des Art. 146 GG n. F. sind neben den einschlägigen Plenardebatten in erster Linie das Zustimmungsgesetz966 zum Einigungsvertrag967 sowie die bereits genannte Denkschrift der Bundesregierung968 zu jenem Vertrag, welche die Entstehungsgeschichte der Vorschrift nachvollziehbar machen. Art. 4 Nr. 6 des Einigungsvertrags beinhaltete die Änderung des Art. 146 GG a. F., nicht jedoch dessen Streichung, trotz vollendeter Wiedervereinigung. Artikel 5 des Einigungsvertrags lautet zudem wie folgt: „Künftige Verfassungsänderungen Die Regierungen der beiden Vertragsparteien empfehlen den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zu Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere (. . .) – mit der Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung“.

Die Denkschrift der Bundesregierung deutet die in Art. 4 Nr. 6 EV enthaltene Änderung des Wortlauts von Art. 146 GG a. F. als Zeichen der Verwirklichung der deutschen Einheit unter Fortbestand des Grundgesetzes als rechtliche Grundordnung für das gesamte deutsche Volk. Sie geht zudem offensichtlich von der Bindung des von Art. 146 GG n. F. ermächtigten Gesetzgebers an Art. 79 GG aus. So wird ausgeführt, der Wortlaut mache deutlich, dass Arbeiten zur Novellierung von Verfassungsbestimmungen in dem im Grundgesetz verankerten Verfahren erKontinuität (Fn. 861), S. 97; zur Bedeutung des Einigungsvertrags für die genetische Auslegung von Art. 146 GG n. F. siehe d). 965 Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 42 f. ders., Abruf (Fn. 962), S. 25. 965a Hinweis wiederum bei Dreier, Abruf (Fn. 962), S. 25. 966 Einigungsvertragsgesetz v. 23.9.1990, BGBl. 1990 II, S. 885 ff. 967 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands, BGBl. 1990 II, S. 889 ff.; dazu Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 102 f. 968 BT-Drs. 11/7760, S. 355 ff.

218

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

folgten und damit den Anforderungen des Art. 79 GG uneingeschränkt unterlägen. Die Intention der Mehrheit der Abgeordneten, durch die Neufassung des Art. 146 GG eine Bindung an Art. 79 GG zu erreichen, wird damit offenkundig. Diese Auslegung wird durch die damaligen Plenardebatten – zumindest teilweise – bestätigt969. Da die genetische Auslegung allein aber ein Auslegungsergebnis insgesamt nicht tragen kann970, ist es fraglich, ob auch die teleologische Auslegung der grammatikalischen und der systematischen im Ergebnis widerspricht. e) Teleologische Auslegung des Art. 146 GG Auf den ersten Blick erscheint der objektive Zweck des Art. 146 GG n. F. klar: Die Ermöglichung einer freien Abstimmung des Volks über eine neue Verfassung, die das Grundgesetz in der jetzigen Form ablöst971. Diese Intention ist – wie gesehen – den besonderen Umständen der Entstehung des Grundgesetzes im Jahre 1945 und damit dem Willen der Mitglieder des Parlamentarischen Rats geschuldet, welche mit dem Entwurf des Grundgesetzes als vorläufige Verfassung den Vorgaben der alliierten Militärgouverneure folgten und damit nicht völlig frei gestalten konnten. Der Verfassunggeber hat diese besatzungsrechtlichen Beschränkungen offenbar als Unfreiheit empfunden und dieses unter anderem in Art. 146 GG a. F. zum Ausdruck gebracht972. Neben dem Mangel an freiheitlicher Gestaltungsmacht ist Art. 144 Abs. 1 GG – heutzutage rein „historisches Dokument“ 973 – Indiz für einen weiteren von Art. 146 GG a. F. besorgten Missstand. So regelt Art. 144 Abs. 1 GG, dass das Grundgesetz der Annahme durch die Volksvertretungen in zwei Dritteln der deutschen Länder bedarf. Dieser ohne Betätigung des unmittelbaren Volkswillens auskommende und damit vergleichsweise ungewöhnliche974 Akt verfassunggebender Gewalt betont wiederum den Charakter des Grundgesetzes als Provisorium975. Er leidet jedoch auch an einem erheb969 Vgl. bereits Fn. 942; dazu ausf. Blasche, Mitwirkung (Fn. 927), S. 38 ff. sowie Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 436. 970 Blasche, Mitwirkung (Fn. 927), S. 35 ff. 971 Dass Art. 146 GG gleichzeitig dazu dient, eine „geordnete Überleitung in die neue Verfassungsordnung“ zu gewährleisten, „indem die Staatsgewalt auch während des andauenden Verfahrens der Verfassunggebung nur nach Maßgabe des Grundgesetzes ausgeübt werden kann“ und dass dem Grundgesetz daher im Ablöseprozess bis zum längst möglichen Zeitpunkt zur Geltung verholfen werden soll, betont Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 205. 972 So Blasche, Art. 146 GG (Fn. 944), S. 382, der zudem darauf hinweist, dass die ursprüngliche Präambel von einem Hinweis auf diese Unfreiheit verschont wurde, um keine „resignative Wirkung“ zu erzeugen; ebenso Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 438. 973 P. Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar (Fn. 215), Art. 144 Rn. 1. 974 Kunig (Fn. 973), Art. 144 Rn. 2 f. 975 Ebenso Huber (Fn. 125), Art. 144 Rn. 7, der die „politischen Rahmenbedingungen“ als Grund für das „atypisch, gestufte Verfahren der Verfassungsgebung“ sieht.

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

219

lichen Defizit direkter demokratischer Legitimation976, welches zu beheben ein weiterer intendierter Zweck des Art. 146 GG a. F. war, unabhängig von der Frage, ob zwingende Voraussetzung für die Entstehung einer einwandfrei demokratisch legitimierten Verfassung eine Volksabstimmung ist977. Ein weitergehender Zweck des Art. 146 GG n. F. ist indes nicht (mehr) erkennbar. Selbst, wenn man von einer ursprünglichen Multifunktion des Schlussartikels ausgeht und damit neben der Möglichkeit der Verfassungneugebung auch einen gangbaren Weg zur Wiedervereinigung in Art. 146 GG a. F. sah, ist mit erfolgter Wiedervereinigung diese Funktion jedenfalls obsolet geworden. Durch die Wiedervereinigung erledigte sich jedoch wie gesehen978 nicht die Möglichkeit der freiheitlichen Verfassungneugebung durch den pouvoir constituant, so dass diese auch heute noch durch Art. 146 GG n. F. fortbesteht979. Es ist augenscheinlich, dass die textliche Veränderung des Art. 146 GG n. F. durch Einschub des Relativsatzes in erster Linie den simplen Zweck verfolgte, zu betonen, dass der vorherige Regelungsgehalt einer möglichen Verfassungneugebung auch nach erfolgter Wiedervereinigung Bestand haben sollte980. Das ergibt sich schon daraus, dass es dem verfassungsändernden Gesetzgeber gar nicht frei- und zustand, hier eine Veränderung herbeizuführen981. Da Art. 146 GG a. F. eine vom ursprüng-

976 A. A. Huber (Fn. 125), Präambel Rn. 19 f. mit Verweis auf die „geradezu selbstverständliche“ Selbstbetrachtung aller an der Verfassunggebung beteiligten Länder als Glieder des handlungsunfähig gewordenen deutschen Staats, den es von unten nach oben wiederherzustellen galt. 977 Blasche, Art. 146 GG (Fn. 944), S. 380; Isensee, Deutschland (Fn. 732), S. 35 (38 f.) bezeichnet diese Auslegung von Art. 146 GG als für die Verfassungsdogmatik ungeeignete „Geburtsmakeltheorie“, die er unter anderem deswegen ablehnt, weil die deutschen Landtage im Zeitpunkt der Verfassunggebung die höchsten Repräsentationsorgane und damit auch befugt gewesen seien, in einem noch rudimentären staatlichen Organisationsaufbau treuhänderisch gesamtstaatliche Gewalt auszuüben. Zudem sei das Grundgesetz durch „indirekten Verfassungsplebiszit“ nachhaltig durch die tatsächliche Zustimmung der Deutschen in seinem Geltungsbereich legitimiert worden, insbesondere während der Zeit der deutschen Teilung; dazu auch Kirchhof, Identität (Fn. 624), § 21 Rn. 4, 56 ff. sowie S. Speckmaier, in: D. C. Umbach/T. Clemens (Hrsg.), Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. 2, 2002, Art. 146 Rn. 9 f. 978 Siehe oben unter 5. 979 H. Schulze-Fielitz, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: DVBl. 1991, S. 893 (905); Sachs, Grundgesetz (Fn. 900), S. 990; Hofmann, Verfassungsentwicklung (Fn. 446), S. 159 f.; Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 438; Speckmaier (Fn. 977), Art. 146 Rn. 15. 980 So Dreier, Abruf (Fn. 962), S. 24; v. Campenhausen/Unruh (Fn. 704), Art. 146 Rn. 12; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 128; dass diese Klarstellung angesichts der von einem Großteil der Staatsrechtslehre gehegten Zweifel an einer Weitergeltung von Art. 146 GG sinnvoll war, betont Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 438. 981 Wahl, Verfassungsfrage (Fn. 788), S. 476; Storost, Legitimität (Fn. 722), S. 541, 546; Mahrenholz, Verfassung (Fn. 924), S. 32 f.; a. A. Wiederin, Verfassunggebung

220

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

lichen Verfassunggeber geschaffene Norm war, mit der dieser in endgültiger und verbindlicher Weise festgelegt hatte, unter welchen Umständen das Grundgesetz von einer neuen, vom gesamten deutschen Volk beschlossenen Verfassung abgelöst werden sollte, darf dieser Ablösungsvorbehalt nicht einfach durch den verfassungsändernden Gesetzgeber gestrichen oder sonst substantiell verändert werden. Die teleologische Auslegung ergibt also, dass Art. 146 GG n. F. bezweckt, eine Verfassungneugebung ohne Beschränkung der freiheitlichen und unmittelbaren Abstimmung des Volks zu ermöglichen. Gegen ein solches Auslegungsergebnis wird teilweise eingewandt, dass, wenn schon die Änderung des Grundgesetzes der Bindung an Art. 79 GG unterläge, dies erst recht und umso mehr für die vollständige Aufhebung gelten müsse982. Dass dieser Schluss der Wertung des Grundgesetzes selbst nicht entspricht, liegt jedoch auf der Hand: Zwar soll der verfassungsändernde Gesetzgeber an die Prinzipien des Art. 79 GG gebunden sein. Wie allen verfassten Gewalten ist es daher auch dem verfassungsändernden Gesetzgeber untersagt, die gegenwärtige verfassungsrechtliche Ordnung zu beseitigen. Das Grundgesetz lässt jedoch eine punktuelle Ausnahme hiervon zu, die für die durch eine freie Entscheidung des deutschen Volks beschlossene Nachfolgeverfassung eine Bindung an Art. 79 GG nicht vorsieht983. 7. Fazit: Art. 146 GG als verfassungsrechtlicher Gegenpol zu Art. 79 Abs. 3 GG Die Auslegung von Art. 146 GG n. F. ergibt, dass sich diese Vorschrift auf eine Verfassungneugebung bezieht und damit den pouvoir constituant adressiert. Dieses Ergebnis wird durch den Wortlaut und die systematische Stellung des Schlussartikels getragen. Es wird durch die teleologische Interpretation der Norm bestätigt984, welche zeigt, dass der (neben der Herbeiführung der Wiedervereinigung Deutschlands bestehende) Zweck des Art. 146 GG a. F., eine Verfassungneugebung durch Volksabstimmung zu realisieren, mangels Erreichung auch in Art. 146 GG n. F. fortbesteht. Die darüber hinausgehende Frage, ob die Beibehal(Fn. 623), S. 416. Siehe noch Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 38; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 73 ff. 982 Dies tun V. Kröning, Kernfragen der Verfassungsreform – Plädoyer für eine Konzentration auf das Wesentliche, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1991, S. 161 (165); W. Schmitt Glaeser, Die Stellung der Bundesländer bei einer Vereinigung Deutschlands, 1990, S. 41 sowie Stern, Charakter (Fn. 866), S. 293. 983 So Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 440, der zu Recht darauf hinweist, dass – hätte man diese Wertung des Grundgesetzes vermeiden wollen – Art. 146 GG erst gar nicht in das Grundgesetz hätte aufgenommen werden dürfen beziehungsweise im Zuge der Wiedervereinigung hätte gestrichen werden müssen. 984 Blasche, Art. 146 GG (Fn. 944), S. 382.

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

221

tung einer solchen Ablöseoption nach Herstellung der deutschen Einheit und der Erstreckung des Grundgesetzes sinnvoll war985, ist wohl eher politischer denn rechtlicher Natur. Und selbst wenn dieses Auslegungsergebnis durch eine genetische Analyse der Vorschrift nicht vollständig getragen wird, da sie zumindest auch den gesetzgeberischen Willen erkennen lässt, den durch Art. 146 GG n. F. ermächtigten verfassunggebenden Gesetzgeber an Art. 79 GG zu binden986: Dieser Wille hat sich in Art. 146 GG n. F. selbst nicht perpetuiert, so dass es keinerlei objektive Anhaltspunkte für eine Funktionsänderung der Vorschrift gibt, welche diese Auslegung tragen könnten987, obwohl diese auch vor dem Hintergrund des politischen Kompromisscharakters der Neufassung988 durchaus möglich gewesen wäre989. Vielmehr hat man sich bewusst gegen eine Streichung des Art. 146 GG a. F. entschieden990. Art. 146 GG bezieht sich also auf eine den Beschränkungen des Art. 79 GG nicht unterliegende verfassunggebende Gewalt und ermöglicht dieser, sich während ihres Tätigwerdens nicht in Widerspruch zu der noch geltenden Verfassungsordnung zu setzen991. Diese Möglichkeit besteht solange fort, bis eine endgültige Verfassung das Grundgesetz ablöst992. Der Grund für die so eindeutige Schlussnorm des Grundgesetzes liegt in der anderen basalen Staatsnorm993, der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG993a. 985 Vgl. Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 303. Dieser ist der Ansicht, dass nach Herstellung der Deutschen Einheit der eigentliche Legitimationsgrund für die im Grundgesetz enthaltene Option der eigenen Ablösung entfallen sei und etwaige danach erforderliche inhaltliche Anpassungen im Grundgesetz über den Weg der Grundgesetzänderung erreichbar sein sollten. Dass eine Verfassunggebung sinnvoll respektive erforderlich sein könnte, zeigt jedoch die Entwicklung der Europäischen Union und insbesondere die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in Bezug auf die Fortführung des europäischen Integrationsprozesses. 986 I. Erg. ebenso Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 59. 987 Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 145 f. 988 P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 58; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 131 ff.; Stern, Einführung (Fn. 787), S. 12. 989 So wiederum Blasche, Art. 146 GG (Fn. 944), S. 382, der feststellt, dass beispielsweise eine textliche Klarstellung möglich gewesen wäre. 990 Dieses Fazit auch bei Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 303, der die Beibehaltung abermals als Produkt eines „umgreifenden politischen Kompromisses der bestimmenden politischen Kräfte“ bezeichnet. 991 I. Erg. ebenso v. Komorowski, Demokratieprinzip (Fn. 431), S. 1231 ff. 992 Huber, Bundesverfassungsgericht (Fn. 656), S. 250; Kriele, Art. 146 (Fn. 837), S. 2; Schilling, Verfassung (Fn. 560), S. 69; plastisch Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 442: „Die Tür des Art. 146 GG bleibt solange offen, bis sie durch den Beschluss einer neuen Verfassung endgültig verschlossen wird“. 993 Vgl. Stern, Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 76), S. 84, der sowohl sowohl Art. 146 GG (a. F.) als auch Art. 79 Abs. 3 GG Nawiaskys Begriff einer (H. Kelsens Grundnorm ähnelnden) teilhypothethischen „Staatsfundamentalnorm“ zuordnet. Deren Eigenart sei es, rechtlich

222

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Die hier lokalisierte Sperre gegenüber der das Grundgesetz revidierenden Gewalt verhindert es, durch eine „einfache“ Grundgesetzänderung eine grundlegend neue staatsrechtliche Basis zu legen. Das Gegenstück und der Ausweg aus dieser absoluten Veränderungssperre bildet Art. 146 GG, der innerhalb der Ordnung des Grundgesetzes die Revisionen ermöglicht, die die Ewigkeitsklausel gemäß Art. 79 Abs. 3 GG ausdrücklich und unbedingt untersagt. Daher erscheint die Aussage, dass Art. 146 GG nach dieser Lesart eine für einen Verfassungstext untypische Vorschrift sei994, da durch sie die Verfassung ihre eigene Ablösung quasi als selbstverständlich voraussetze und legitimiere, in einem anderen Licht, wenn man den Schlussartikel vor dem Hintergrund des ebenso untypischen Charakters des Grundgesetzes samt seines partiellen Ewigkeitsanspruchs betrachtet995. Es stellt Art. 146 GG lediglich das Gegengewicht zu der im Verfassungsvergleich nahezu beispiellosen „ewigen“ Festsetzung des Art. 79 Abs. 3 GG dar und sichert dem Grundgesetz in dieser Rolle ein gewisses Maß an grundlegender Revisionsoffenheit. Alles, was also den dem Schutzbereich von Art. 79 Abs. 3 GG unterfallenden „unberührbaren Grundsätzen“ zugeordnet wird, muss gleicherweise über Art. 146 GG letztendlich doch zur Disposition der verfassunggebenden Gewalt des Volks stehen. Wenn dem Bundesverfassungsgericht somit aufgrund der Ausführungen im Lissabon-Urteil vorgeworfen wird, den Schutzgehalt des Art. 79 Abs. 3 GG in etatistischer Weise aufzuladen, so ist es nur sachgerecht, Art. 146 GG von diesen Aufladungen freizustellen und dadurch beispielsweise weitere europabezogene Integrationsschritte zu ermöglichen. Insoweit erscheinen auch die (ebenso kritisierten) Ausführungen des Zweiten Senats im Lissabon-Urteil, welche Art. 146 GG als Überwindungsmöglichkeit der souveränitätsschonend ausgelegten Grenzen des Integrationsgesetzgebers andeuten, in letzter Konsequenz nur folgerichtig. Wenn auch der Weg eines verfassunggebenden Referendums über Art. 146 GG ungewöhnlich scheinen mag – verlässt er doch die gewohnten Bahnen einer (weiteren) Verfassungsänderung zugunsten der europäischen Integration – so verdeutlicht er, dass das rechtliche und politische Zusammenwachsen Europas die Grenze des derzeit unter dem Grundgesetz Machbaren erreicht hat. Möchte man in Zukunft weitere integrative Schritte in Angriff nehmen, so muss man den dazu vorgezeichneten Weg in Kauf unabänderbare Vorschriften über den Erlass der Staatsverfassung einschließlich ihrer Änderung zu enthalten oder „gewisse oberste sachliche, politische Grundsätze für den Inhalt der Verfassung“ festzulegen (vgl. H. Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 2. Aufl. 1948, S. 23 ff.). 993a So Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 183. 994 Statt vieler P. Kirchhof, Identität (Fn. 988), § 21 Rn. 56 f. 995 Vgl. z. B. Kirchhof, Identität (Fn. 988), § 21 Rn. 31 („eine verfassungshistorische Besonderheit“); Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 183 f. erwähnt hier zu Recht, dass andere Verfassungen einer so ungewöhnlichen Regelung wie Art. 146 GG nicht bedürfen, da die Reichweite der verfassungsändernden Gewalt nicht so stark limitiert ist wie durch Art. 79 Abs. 3 GG.

III. Gegenläufige Deutungen des Art. 146 GG

223

nehmen. Der in diesem Zusammenhang bereits geäußerte Rat, gegenüber den aus nationalstaatlicher Sicht erhobenen, neophoben Stimmen, einen Blick über die nationalen Grenzen hinaus in die deutschsprachigen Nachbarstaaten Schweiz und Österreich zu werfen996, um die Bedenken um den Schlussartikel zu relativieren, mag hier ein erster Schritt sein. Es gilt zu realisieren, dass die Anwendung von Art. 146 GG im Rahmen der europäischen Integration durch das deutsche Volk als friedlicher Akt der Verfassunggebung zur Aktualisierung der staatlichen Grundordnung, nicht als „verfassungsrechtlicher Suizid“ anzusehen ist997. Mag die Erkenntnis verfassungspolitisch unerfreulich oder sogar unerwünscht sein, so ist sie jedoch verfassungsdogmatisch unausweichlich998. Zu Recht ist der Vorwurf erhoben worden, dass es nur eine gewisse Distanz gegenüber dem Recht auf eigenständige politische Selbstbestimmung – welches in heutiger Form keineswegs immer selbstverständlich war – widerspiegle, wenn die Möglichkeit einer auf Volksabstimmung beruhenden Verfassunggebung in Deutschland als mit dem Zünder der einfachen Mehrheit versehene „Sprengladung unter dem Fundament des Grundgesetzes“ negativ überzeichnet worden ist999. 996 Dazu rät Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 184 f.; zugleich weist er jedoch darauf hin, dass die betreffenden schweizerischen Bundes- und Kantonalbestimmungen (im Unterschied zur punktuellen Regelung im Grundgesetz) auf der Vorstellung basieren, dass die verfassunggebende Gewalt für eine Selbstbindung und Selbstverpflichtung nicht zugänglich ist und daher eine aus der Volkssouveränität über die Verfassung folgende Neukonstituierung durch die Verfassung selbst höchstens in einem besonderen Verfahren geregelt werden könne. Nachweise dazu finden sich bei P. Häberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat: Eine vergleichende Textstufenanalyse, in: Archiv des öffentlichen Rechts 112 (1987), S. 54, 79 ff. 997 Dies zu Recht klarstellend Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 185; ähnl. zuletzt Voßkuhle, Europa (Fn. 25), der eine Verfassunggebung per Volksentscheid für möglich erachtet („Ohne das Volk geht es nicht!“). 998 Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 443. Wiederin hält es angesichts dieses unerwünschten Auslegungsergebnisses für möglich, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber Art. 146 GG n. F. mangels eines darin verbürgten unabänderlichen Rechts im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG abschafft. Dies scheint angesichts der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der Lissabon-Entscheidung, in denen Art. 146 GG ausdrücklich als Bestätigung des vorverfassungsrechtlichen Rechts auf Verfassunggebung sowie in Verbindung mit den in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten als verletzt gerügt werden kann (BVerfGE 123, 267 [332]) nur schwer haltbar; in diese Richtung zuvor bereits Storost, Legitimität (Fn. 722), S. 327, der eine Abschaffung des Art. 146 GG n. F. als Verstoß gegen den in Art. 20 Abs. 2 GG enthaltenen Grundsatz der Volkssouveräntität ansieht; zuzustimmen ist Wiederin hingegen insoweit, als er auch eine Abschaffung des Art. 146 GG n. F. durch dessen Anwendung und damit durch die Annahme einer dem Grundgesetz bis auf Art. 146 GG identischen Verfassung im Wege einer Volksabstimmung als möglich erachtet (ebd., S. 444 ff.). Ob eine solche „Abwahl des Art. 146 GG“ angesichts der sich damit auf ewig verfestigenden Gehalte des Art. 79 Abs. 3 GG gerade im Hinblick auf die hierdurch endgültig errichteten Integrationshürden sinnvoll wäre, darf hingegen bezweifelt werden. 999 So wiederum Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 185 f. bezogen auf Kriele, Sprengladung (Fn. 788), S. 5 beziehungsweise Isensee, Selbstpreisgabe (Fn. 846), S. 10.

224

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Ein Blick über die Staatsgrenzen hinaus zeigt dann auch, dass mehrere andere Verfassungsstaaten ohne solch existenzielle Ängste mit einem solchen „Blindgänger“ in ihrer Verfassungsordnung umgehen, diese Revisionsmöglichkeit mitunter sogar als Chance politischer Selbstbestimmung begreifen1000. Den deutschen Verfassungsrechtler jedoch scheint es beim Gedanken an eine jederzeit ablösbare, so gar nicht ewige Verfassung kalte Schauer über den Rücken zu treiben. Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass es eine deutsche Eigenart ist, die – im internationalen Vergleich zum Teil selbstverständliche – Aussicht1001 auf die Chance, unsere politische Grundordnung neu ausrichten zu können, vorwiegend als Auslöser negativer Konotationen zu verstehen1002. Besorgten Beobachtern sei vor Augen geführt, dass eine Verfassunggebung auf Grundlage von Art. 146 GG mit der Anforderung einer freien Entscheidung des (gesamten) deutschen Volks praktischen Hindernissen gegenüberstehen würde, die größer sind als dies der knappe Wortlaut der Vorschrift erahnen lässt. Als lex specialis für den Ausnahmefall jedoch ermöglicht Art. 146 GG genau in solchen Situationen den Übergang zu einer neuen Verfassung ohne revolutionären Bruch1003. Es ist bezeichnend, dass der Text des Grundgesetzes mit einer Vorschrift endet, die – ebenso wie die vorangestellte Präambel, die sich zum europäischen Einigungsprozess bekennt – die Veränderungsoffenheit der Verfassungsordnung erkennen lässt. Diese Entwicklungsoffenheit des Grundgesetzes wurde stets als Teil dessen Erfolgsrezepts gesehen und gelobt. Es mag zum Teil der damaligen politischen (Ausnahme)Situation und den vorangegangenen Erfahrungen geschuldet sein, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rats die Konzeption der (entwicklungs)offenen Staatlichkeit im Grundgesetz berücksichtigten. Zugleich war es jedoch auch nachhaltiges und vorausschauendes Vorgehen, das dem Grundgesetz seit nunmehr über 60 Jahren zu beispielloser Identifikation und Stabilität im

Desweiteren zitiert Dreier als Vertreter, die das Bild von Art. 146 GG als Bedrohung schüren, Heckel, Einheit (Fn. 920), S. 10 sowie M. Hochhuth, Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, S. 142, der Art. 146 GG als „plebiszitäre Dauerdrohung gegen das Grundgesetz“ bezeichnet. 1000 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 186. 1001 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 186 mit Hinweis auf Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 445 ff. 1002 So wiederum Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 186, der appelliert, der Vorstellung einer umfassenden Gestaltungsmacht in Bezug auf die zukünftige politische Grundordnung auch etwas Positives abzugewinnen. 1003 Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 187 f.; ausf. zur Funktion des Art. 146 GG als eine Überleitungsnorm hin zu einer Neuverfassung Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 177 ff., 204 f.; Schäuble, Grundordnung (Fn. 188), S. 71 sieht eine „List der Geschichte“ darin, dass gerade der bei der Wiedervereinigung Deutschlands verschmähte Art. 146 GG zukünftig dort zur Geltung kommen könnte, wo Teile der verfassungsmäßigen Ordnung und Kompetenz dauerhaft auf die Europäische Union übertragen werden sollten.

IV. Art. 146 GG als Bedingung künftiger Integrationsschritte

225

deutschen politischen Leben verhalf. Und so wie die Präambel die europäische Einigung als verfassungsrechtlichen Programmsatz formuliert, kann auch Art. 146 GG für den weiteren Fortgang der europäischen Integration bedeutsam werden. Es spricht einiges dafür, den Schlussartikel des Grundgesetzes als verfassungsrechtliche Möglichkeit zur Schaffung eines europäischen Bundesstaats anzusehen, dessen Vision in der Staatsrechtslehre ungebrochen ist1004. Prominentester Vertreter dieser Ansicht ist, wie gesehen, das Bundesverfassungsgericht, das (spätestens) für diesen „Identitätswechsel der Verfassung“ eine neue Grundentscheidung des deutschen Volks gemäß Art. 146 GG als notwendig erachtet1005.

IV. Obiter dictum des Lissabon-Urteils: Art. 146 GG als notwendige Bedingung für künftige Integrationsschritte Art. 146 GG in seiner jetzigen Fassung könnte nach Vorgesagtem auch Jahrzehnte nach vollendeter Wiedervereinigung Deutschlands erneut aktuelle Bedeutung dadurch erlangen, dass sich das deutsche Volk, von den Bindungen des Art. 79 Abs. 3 GG freigestellt, eine neue Verfassung geben könnte, welche – nach Lesart des Bundesverfassungsgerichts im Gegensatz zum Grundgesetz in heutiger Form – den Beitritt der Bundesrepublik zu einem europäischen Bundesstaat ermöglicht. Wenn sich Deutschland also den Beitritt zu einem solchen Bundesstaat offenhalten möchte, so ist Art. 146 GG dafür der einzige Garant1006. Bereits nach der deutschen Wiedervereinigung ist vorgeschlagen worden, über Art. 146 GG eine solche „beitrittsfreundliche“ Verfassung zu schaffen, die etwa eine dem Art. 178 der Bayerischen Verfassung vom 8.12.1946 vergleichbare Regelung in Bezug auf einen europäischen Bundesstaat beinhaltet1007. Dieser

1004 Diese Vision auch bei Dreier, Ablösungsvorbehalt (Fn. 746), S. 188, der die Mitgliedstaaten der Europäischen Union durch einen solchen Schritt zu „bloßen Untergliederungen eines höheren politischen Gemeinwesens herabgestuft“ sieht; zu Art. 146 GG n. F. als möglichem Anwendungsfall bei der Gründung eines europäischen Bundesstaats siehe den dortigen Verweis auf Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 18 f.; Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 16; Schmahl (Fn. 181), Art. 146 Rn. 5. 1005 So das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil (BVerfGE 123, 267 [331 f., 344]); zuvor bereits Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 57; ders. (Fn. 668), Art. 146 Rn. 16. 1006 So bereits Schilling, Verfassung (Fn. 560), S. 69, der seinerzeit unter anderem andenkt, eine neue Verfassung anzunehmen, die einen Beitritt ausdrücklich vorsieht und erlaubt. Als Orientierungshilfe empfiehlt er Art. 178 der Bayerischen Verfassung. 1007 Vorschlag bei Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 447, der deshalb seinerzeit dringend von einer vorschnellen, politisch und emotional aufgeladenen und motivierten Abschaffung des Art. 146 GG n. F. abriet, ohne sich die Konsequenzen klar vor Augen zu führen: Heile Deutschland durch eine Abschaffung des Art. 146 GG vordergründig lediglich den „Geburtsfehler“ des Grundgesetzes, so bedeute dies zugleich die Beerdigung der Idee eines europäischen Bundesstaats, da diese ohne die Möglichkeit der Mitwirkung Deutschlands kaum realisierbar sei.

226

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Art. 178 nimmt den später erfolgten Beitritt Bayerns zu der Bundesrepublik Deutschland in Bezug und lautet: „Bayern wird einem künftigen deutschen demokratischen Bundesstaat beitreten. Er soll auf einem freiwilligen Zusammenschluss der deutschen Einzelstaaten beruhen, deren staatsrechtliches Eigenleben zu sichern ist“.

Denkbar wäre also ein an den derzeitigen Art. 23 Abs. 1 GG angelehnter, zukünftiger Verfassungsartikel der in etwa wie folgt lauten könnte: „Die Bundesrepublik Deutschland wird einem künftigen europäischen Bundesstaat beitreten, der demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet sein und einen dieser Verfassung im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten soll. Er soll auf einem freiwilligen Zusammenschluss der bisherigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union beruhen, deren staatsrechtliches Eigenleben und nationale Identität zu achten sind“.

Freilich kann eine solche Formulierung hier nur skizziert werden. Zudem träten für einen solchen Beitrittsartikel Folgeprobleme auf, deren Klärung an dieser Stelle nicht erfolgen kann und soll, etwa die Frage einer Anpassung, Lockerung oder teilweisen Aufgabe der bisher in der Struktursicherungsklausel enthaltenen Anforderungen in Bezug auf den Grundrechtsschutz oder die derzeitig in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG in Bezug genommene souveräne Staatlichkeit1008. Abgesehen von der Neugestaltung der innerstaatlichen Verfassungsordnung bestünde für Deutschland zudem die Möglichkeit, eine etwaig zukünftig angestrebte europäische Verfassung maßgeblich mitzugestalten. Denkbar wäre daher auch, dass diese beispielsweise, entgegen den jetzigen Anforderungen der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ein dem deutschen Verständnis entsprechendes Föderalismusprinzip nicht enthält1009. Ein solch konstitutionelles Konzept könnte damit den Verfassungstraditionen der meisten europäischen Mitgliedstaaten folgen, welche ein maßgeblich durch Subsidiarität zentraler Bundesstrukturen gekennzeichnetes Föderalismusprinzip nach deutschem Verständnis so nicht kennen1010. Ein Szenario, in welchem eine zukünftige europäische Verfassung dieselben oder ähnliche Vorbehalte wie Art. 79 Abs. 3 GG enthält, scheint auch aus diesem Grund wenig wahrscheinlich1011. Denn bereits aus der Perspek1008 Schilling, Verfassung (Fn. 560), S. 69 nennt in diesem Zusammenhang die (wohl unwahrscheinliche) Alternative, dass das Gebot zu Wahrung der staatlichen Souveränität in einer neuen Verfassung nicht mehr enthalten sein könne. Denkbar ist für ihn jedoch auch, dass im Anschluss an ein solches Gebot klargestellt werden könne, dass dieses dem Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat nicht entgegenstehe. 1009 Schilling, Verfassung (Fn. 560), S. 69; Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 446 f. 1010 Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 251. 1011 Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 251 hält dies schon deswegen für unwahrscheinlich, weil die britische Verfassungstradition unabänderliches Verfassungsrecht quasi ausdrücklich ausschließt; ebenso Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623),

IV. Art. 146 GG als Bedingung künftiger Integrationsschritte

227

tive des Grundgesetzes ist deren Beibehaltung im Hinblick auf das Potential von Art. 146 GG letztendlich nicht zwingend. Wenn sich also der Bundesrepublik Deutschland zukünftig die konkrete Option ergeben sollte, in einem europäischen Bundesstaat integriert und mitverfasst zu sein, könnte in Art. 146 GG ein verfassungsrechtlicher Weg gegeben sein, die derzeitige Ausgestaltung des Föderalismusprinzips zugunsten eines ultimativ vereinten Europas zu opfern. Das schließt jedoch nicht aus, das Föderalismusprinzip in flexiblerer Form auch in eine europäische Verfassung einzubringen. Damit wäre auch eine Verfassungneugebung gemäß Art. 146 GG mit dem Ziel der „legalen Abschaffung“ des Föderalismus jedenfalls nicht zwingend erforderlich1012. Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht in seinem grundlegenden Urteil zum Vertrag von Lissabon in auf den ersten Blick unscheinbar wirkender Art und Weise auch die Bedeutung des Art. 146 GG für eine weitere Intensivierung der Integration Deutschlands in die Europäische Union und für eine eventuell zukünftig konkret zur Debatte stehende Schaffung eines Europäischen Bundesstaats angerissen1013. Ausgangspunkt für diese Ausführungen waren dabei der durch Art. 38 Abs. 1 GG gewährleistete Schutz vor dem „Verlust der Staatlichkeit“ Deutschlands. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Griechenlandhilfe1014, welches die Verletzung der dauerhaften Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestags überprüfte, wurde dieser Kurs beibehalten und Art. 38 Abs. 1 GG als rügefähiges Recht ausgeführt1015. S. 446 f. mit dem Hinweis, dass die einzig „ewige“ Norm des britischen Verfassungsrechts besagt, dass es unabänderliches Recht nicht geben darf. 1012 Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 253 sieht in der Eröffnung dieser Entscheidung über die Abschaffung des Föderalismus die maßgebliche, zukünftig potentiell aktuelle Bedeutung von Art. 146 GG. 1013 BVerfGE 123, 257 (331 f., 343 f., 347 f.); kritisch zu diesem „revolutionären Appell“ Nettesheim, Entmündigung (Fn. 34), S. 8; ferner zu dem Erfordernis der Verfassunggebung Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 354 sowie Becker/Maurer, Integrationsbremsen (Fn. 34), S. 3. 1014 Urt. v. 7.9.2011 (Az. 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10), Abdr. z. B. in: NJW 2011, S. 2946 ff.; zum Urteil Nettesheim, Euro-Rettung (Fn. 46), S. 765 ff. sowie Ruffert, Schuldenkrise (Fn. 46), S. 842 ff.; bereits im Vorfeld zur verfassungsrechtlichen Perspektive der Griechenlandhilfe C. Calliess, Perspektiven des Euro zwischen Solidariät und Recht – Eine rechtliche Analyse der Griechenlandhilfe und des Rettungsschirms, in: Zeitschrift für europarechtliche Studien 13 (2010), S. 213 ff.; zur fragwürdigen rechtl. Grundlage insbes. K. Faßbender, Der europäische „Stabilisierungsmechanismus“ im Lichte von Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht, in: NVwZ 2010, S. 799 ff.; unter anderem im Hinblick auf eine Gefährdung der Stabilität der Bundesrepublik Deutschland durch weitreichende Darlehensgewährung L. Knopp, Griechendland-Nothilfe auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, in: NJW 2010, S. 1777 ff.; zur Einhaltung der seit Lissabon bestehenden Integrationsgrenzen insbes. H. Kube/E. Reimer, Grenzen des Europäischen Stabilitätsmechanismus, in: NJW 2010, S. 1911 ff. 1015 Vgl. Rn. 103 f. des Urteils: „Die Beschwerdebefugnis über Art. 38 Abs. 1 GG kann auch dann gegeben sein, wenn, was hier allein in Rede steht, Gewährleistungser-

228

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

1. Reichweite der Wahlrechtsgewährleistungen gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG Im Lissabon-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht zwei verbundene Anträge im Organstreitverfahren und mehrere Verfassungsbeschwerden in einem einheitlichen Verfahren miteinander verbunden1016. Da bekanntlich ohne zulässigen Rechtsbehelf auch die existenziellsten Fragen des Integrationsverfassungsrechts gerichtlich nicht zu klären sind1017, die Anträge im Organstreitverfahren im Ergebnis jedoch unzulässig beziehungsweise unbegründet waren, war es für eine Sachentscheidung zu den Verfassungsbeschwerden maßgeblich, ob die Beschwerdeführer gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG möglicherweise in einem ihrer Grundrechte oder im Grundgesetz genannten grundrechtsgleichen Rechte verletzt waren1018. Für die Beschwerdeführer kam als solches subjektives Recht nur das Recht zur Wahl des Deutschen Bundestags und damit auf demokratische Teilhabe gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG in Frage, welches das Bundesverfassungsgericht mithin als Ausgangspunkt für das Verfahren zur Prüfung des deutschen Zustimmungsgesetzes zum Lissabon-Vertrag auf dessen Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz nahm1019.

mächtigungen gemäß Art. 115 Abs. 1 GG, mit denen völkervertragliche Vereinbarungen umgesetzt werden, nach Art und Umfang zu massiven Beeinträchtigungen der Haushaltsautonomie führen können. Die Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand zählen zum Kern der parlamentarischen Rechte in der Demokratie. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG schließt es aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflussnahme auf deren Ausübung durch Fesselung des Haushaltsgesetzgebers so zu entleeren, dass das Demokratieprinzip verletzt wird“; kritisch zu dieser Grenzziehung durch das Bundesverfassungsgericht C. Möllers, An der Grenze, in: FAZ v. 20.10.2011, S. 6. 1016 Antragsteller in den Organstreitverfahren waren CSU-Abgeordnete des Deutschen Bundestags sowie die Fraktion Die Linke. Beschwerdeführer der Verfassungsbeschwerden waren unter anderem Abgeordnete der Parteien CSU, Die Linke sowie der Bundesvorsitzende der Partei ödp. Neben den zwei verbundenen Organstreitverfahren und den vier Verfassungsbeschwerden, die mündlich verhandelt wurden, waren insgesamt 19 weitere Verfassungsbeschwerden gegen den Vertrag von Lissabon eingelegt worden, von denen später drei zurückgenommen wurden. Weitere Anträge, die darauf gerichtet waren, dem Bundespräsidenten die Unterlegung der Ratifikationsurkunde zum Vertrag von Lissabon per einstweiliger Anordnung zu untersagen, erledigten sich dadurch, dass zu Beginn des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht der Chef des Bundespräsidialamts erklärte, dass der Bundespräsident die Ratifikationsurkunde nicht ausfertigen werde, bevor das Bundesverfassungsgericht abschließend über die Vereinbarkeit entschieden habe, siehe Schübel-Pfister/Kaiser, Lissabon-Urteil (Fn. 34), S. 767 f., sowie dort Fn. 2. 1017 Vgl. Ruffert, Schuldenkrise (Fn. 46), S. 843. 1018 Denninger, Identität (Fn. 11), S. 970. 1019 BVerfGE 123, 267 (340 f.); vgl. auch den bereits im Maastricht-Urteil gewählten Anknüpfungspunkt des Art. 38 Abs. 1 GG (BVerfGE 89, 155 [182 f.]); dazu ausf. D. Murswiek, Art. 38 GG als Grundlage eines Rechts auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, in: JZ 2010, S. 702 ff.

IV. Art. 146 GG als Bedingung künftiger Integrationsschritte

229

a) Die ursprüngliche Etablierung der abwehrrechtlichen Dimension von Art. 38 Abs. 1 GG durch die Maastricht-Rechtsprechung Laut Bundesverfassungsgericht stellt in der repräsentativen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland „die in Art. 38 Abs. 1 GG normierte Wahl des Deutschen Bundestags den grundlegenden Legitimationsakt dar“ und „bildet das wesentliche Element des Prozesses der Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und damit zugleich die Grundlage der politischen Integration“ 1020. Zudem ist die Gleichheit aller Staatsbürger bei der Ausübung des Wahlrechts als eine der für die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes wesentlichen Grundlagen anzusehen1021. Der Bundestag ist das einzige Verfassungsorgan, welches direkt gewählt wird und besitzt damit (etwa im Gegensatz zum Bundespräsidenten) unmittelbare personelle demokratische Legitimation. Nicht zuletzt deswegen gilt als spezielle Ausprägung des Gesetzesvorbehalts die Wesentlichkeitsdoktrin, welche es nach Ansicht des Verfassungsgerichts erfordert, dass die „wesentlichen“ Entscheidungen im Parlament selbst getroffen werden müssen1022. Aus dem materiellen Schutzgehalt des Art. 38 Abs. 1 GG folgt zwar regelmäßig kein Recht des Bürgers, demokratisch gefällte Mehrheitsentscheidun-

1020 So BVerfGE 123, 39 (68 f.) – Wahlcomputer mit Verweis darauf, dass die Beachtung der dafür geltenden Wahlgrundsätze daher Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Demokratie sei; dazu Voßkuhle, Demokratie (Fn. 180), S. 7, Sp. 1, der das günstige Verhältnis zwischen Aufwand und Einfluss des Wahlakts unterstreicht und dem Nachteil des rein quantitativ geringen Einflusses eines einzigen Wählers den – zumindest auf nationaler Ebene existenten (vgl. die interessante Parallele hierzu im Lissabon-Urteil, BVerfGE 123, 267 [371 a. E.]) – Vorteil der Stimmengleichheit (mit Zitat aus A. d Toquevilles 1835 dazu veröffentlichte philosophische Schrift De la démocratie en Amérique) entgegenhält; kritisch zum Ideal der strikt proportionalen Zusammensetzung des (Europäischen) Parlaments als einer in der Französischen Revolution wurzelnden Fiktion M. Nettesheim, Wie der König ersetzt wird, in: FAZ v. 14.1.2010, S. 8. 1021 BVerfGE 123, 267 (373); vgl. schon BVerfGE 6, 84 (91); 41, 399 (413) – Wahlkampfkostenpauschale; 51, 222 (234) – 5 %-Klausel; 85, 148 (157 f.) – Wahlprüfungsumfang; 99, 1 (13) – Bayerische Kommunalwahlen sowie 121, 266 (295 f.) – Landeslisten. 1022 St. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts, siehe z. B. BVerfGE 33, 125 (160) – Facharzt; 34, 165 (192 f.) – Förderstufe; 47, 46 (79, 82) – Sexualkundeunterricht sowie BVerfGE 98, 218 (251) – Rechtschreibreform; allein die Tatsache, dass eine Frage politisch umstritten ist, führt dagegen für sich genommen nicht dazu, dass sie als „wesentlich“ verstanden werden muss, vgl. BVerfGE 49, 89 (LS 2; 126 f.) – Kalkar I; dazu Voßkuhle, Demokratie (Fn. 180), S. 7, Sp. 3; allg. zum Wesentlichkeitsvorbehalt siehe z. B. H. H. v. Arnim, Zur „Wesentlichkeitstheorie“ des Bundesverfassungsgerichts. Einige Anmerkungen zum Parlamentsvorbehalt, in: DVBl. 1987, S. 1241 ff.; U. Haltern/ F. Mayer/C. Möllers, Wesentlichkeitstheorie und Gerichtsbarkeit. Zur institutionellen Kritik des Gesetzesvorbehalts, in: Die Verwaltung 30 (1997), S. 51 ff. sowie D. Hömig, Grundlagen und Ausgestaltung der Wesentlichkeitslehre, in: E. Schmidt-Aßmann u. a. (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 273 ff.

230

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

gen einer Rechtmäßigkeitskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht zu unterziehen. Denn das Wahlrecht ist durch die Gewährleistung periodischer demokratischer Wahlen der Abgeordneten des Bundestags primär auf die Ermöglichung demokratischer Prozesse als Quelle aller Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 GG), nicht auf deren inhaltliche Kontrolle gerichtet1023. Als Grundrecht auf Mitwirkung an der demokratischen Selbstherrschaft des Volks verleiht Art. 38 Abs. 1 GG daher grundsätzlich keine Beschwerdebefugnis gegen Parlamentsbeschlüsse, insbesondere Gesetzesbeschlüsse1024. Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht seit dem Urteil zum Maastrichter Unionsvertrag eine Ausnahme von diesem Grundsatz anerkannt, wenn aufgrund völkervertraglich vereinbarter Verlagerungen von Aufgaben und Befugnissen des Bundestags eine Entleerung der von der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung gewährleisteten politischen Gestaltungsmöglichkeiten des Parlaments zu befürchten ist1025. In diesem Fall beschränkt sich der subjektivrechtliche Gehalt von Art. 38 GG nicht auf die dem Einzelnen garantierte Teilnahme an der Bundestagswahl, bei der die niedergelegten Wahlrechtsgrundsätze eingehalten werden müssen. Vielmehr kann gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG im Zusammenhang mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG ein Recht des Einzelnen begründet werden, welches im Fall einer Strukturveränderung im staatsorganisationsrechtlichen Gefüge durch übermäßigen Kompetenzabfluss vom Bundestag als gewähltem Repräsentativorgan der Volksherrschaft hin zur Europäischen Union eine Rüge der Verletzung demokratischer Grundsätze auf dem Weg einer Individualverfassungsbeschwerde ermöglicht1026. Der Gehalt des Art. 38 Abs. 1 GG war also bereits in dem Sinne erweitert worden, dass er – ähnlich wie die allgemeine Handlungsfreiheit, welche mittelbar aufgrund einer Einschränkung durch ein aus anderen Gründen verfassungswidriges Gesetz verletzten werden kann1027 – neben der Gewährleistung der Grundsätze eines allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlverfahrens auch den „grundlegenden demokratischen

1023

BVerfGE 123, 267 (340). So auch zuletzt ausdrücklich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Griechenlandhilfe v. 7.9.2011 (Az. 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10), BVerfG NJW 2011, 2946 (2948). 1025 BVerfGE 89, 155 (172); vom Bundesverfassungsgericht erneut bekräftigt in BVerfGE 123, 267 (341) und BVerfG NJW 2011, 2946 (2948); dazu Frowein, Maastricht-Urteil (Fn. 30), S. 8 sowie Schönberger, Union (Fn. 34), S. 539; rückblickend kritisch zur damaligen Erweiterung von Art. 38 GG Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 336 f. sowie Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 113. 1026 So erneut BVerfGE 123, 267 (340 f.). 1027 So die Interpretation von Meessen, Maastricht (Fn. 513), S. 550 unter Berufung auf die st. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 2 Abs. 1 GG, vgl. BVerfGE 6, 32 (41) – Elfes; 80, 137 (152 f.) – Reiten im Walde. 1024

IV. Art. 146 GG als Bedingung künftiger Integrationsschritte

231

Gehalt“ 1028 des Wahlrechts vor der übermäßigen Übertragung von Bundestagskompetenzen auf die überstaatliche Ebene sichert. Wenn der Bundestag so viele seiner Aufgaben und Befugnisse auf die Europäische Union verlagert, dass das Parlament als gewähltes Staatsorgan nicht mehr über ein gewisses Mindestmaß an demokratisch legitimierter Handlungsmacht verfügt, die tatsächlich gegenüber dem Staatsvolk wirken kann, so würde der Wahlakt an sich sinnlos1029. Diese Grenze ist laut Bundesverfassungsgericht dann überschritten und somit Art. 38 GG verletzt, wenn „die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflussnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen“ so entleert ist, „dass das demokratische Prinzip [. . .] verletzt wird [. . .], soweit es Art. 79 Abs. 3 i.V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt“ 1030. Durch diese prozessuale Verknüpfung von Demokratieprinzip und Garantie souveräner Staatlichkeit ist Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG mithin zu einem „Vehikel der Staatlichkeit“ 1031 ausgebaut worden, welches den deutschen Staatsbürger mobilisiert, sein Recht auf demokratische Selbstbestimmung gegenüber den deutschen Staatsorganen geltend zu machen1032. Da die Einschränkung im Hinblick auf eine Verletzung der unantastbaren Gehalte des Demokratieprinzips in den entsprechenden Ausführungen des Lissabon-Urteils nicht mehr enthalten ist1033, wäre es nur konsequent anzunehmen, dass jede Machtverlagerung des 1028 BVerfGE 89, 155 (171); 123, 267 (330); dazu Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 872. 1029 BVerfGE 123, 267 (330); vgl. dazu wiederum das spätere Bundesverfassungsgerichtsurteil zur „Griechenlandhilfe“ (Urt. v. 7.9.2011, Az. 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/ 10, 2 BvR 1099/10), BVerfG NJW 2011, 2946 (2948): „Nichts anderes gilt jedenfalls für vergleichbare völkervertraglich eingegangene Bindungen, die im institutionellen Zusammenhang mit der supranationalen Union stehen, wenn dadurch die demokratische Selbstregierung des Volkes dauerhaft derart eingeschränkt wird, dass zentrale politische Entscheidungen nicht mehr selbstständig getroffen werden können“. 1030 BVerfGE 89, 155 (172); kritisch zu dieser „Überbetonung“ Proelß, Kontrolle (Fn. 52), S. 252. 1031 So Möllers, Staat (Fn. 48), S. 412 f. mit Verweis auf die Begriffsschöpfung von Isensee, Integrationsziel (Fn. 656), S. 589; ähnl. plastisch Kottmann/Wohlfahrt, Wächter (Fn. 34), S. 444 („prozessuales Sesam-öffne-Dich“). 1032 Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 872 f. sehen in diesem „Kunstgriff“ des Zweiten Senats eine mitgliedstaatliche Parallelentwicklung zur Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, welcher seit jeher die subjektiven Rechte der Unionsbürger ausgebaut hat, um auf diesem Weg die dezentrale Durchsetzung des Unionsrechts vor mitgliedstaatlichen Gerichten zu ermöglichen; ebenso Ruffert, Schuldenkrise (Fn. 46), S. 845 f., der dem Gericht vorwirft, hier die rechtliche Dogmatik zugunsten politischer Gestaltungsabsicht zu vernachlässigen und gleichzeitig betont, dass das Grundgesetz als bewährte Verfassung solcher Durchsetzungsmittel nicht bedürfe, ähnl. Kritik bereits zur Lissabon-Entscheidung bei Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 108 f. 1033 Siehe BVerfGE 123, 267 (330), wo das Gericht ausführt, dass das Grundgesetz den gesamten „legitimatorischen Zusammenhang zwischen dem Wahlberechtigten und der Staatsgewalt durch Art. 23 Abs. 1 S. 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG für unantastbar erklärt“ hat. Im Urteil zur Griechenland-

232

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Bundestags auf die Organe der Europäischen Union eine Verletzung von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG darstellt, wenn nicht auf andere Weise ein ausreichendes Maß an demokratischer Legitimation hergestellt werden kann1034. b) Die Weiterentwicklung durch die Lissabon-Rechtsprechung In der Lissabon-Entscheidung hat das Karlsruher Gericht die eingeschlagene Richtung fortgeführt und den Gehalt von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG quasi parallel zum fortschreitenden Integrationsprozess erweitert. So führt das Gericht aus, dass die Wahlberechtigten verfassungsrechtlich relevante Legitimationsdefizite auf europäischischer Ebene ebenso aus Art. 38 GG rügen können wie Defizite der innerstaatlichen Demokratie, die durch die überstaatliche Integration verursacht werden1035. Vor dem Hintergrund des über Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG als subjektives öffentliches Recht rügefähig gemachten Demokratieprinzips1036 kann es, wenn Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen werden, nicht ohne Bedeutung sein, ob die auf europäischer Ebene ausgeübte Hoheitsgewalt auch demokratisch legitimiert ist. Anders gewendet: Fließen Hoheitsrechte auf die Europäische Ebene ab, so wächst die Kontrollbefugnis des Einzelnen in gleichem Maße, da die Bundesrepublik Deutschland bekanntlich nur an einer Europäischen Union mitwirken darf, die demokratischen Grundsätzen verpflichtet ist. Auf diesen legitimatorischen Zusammenhang zwischen den Wahlberechtigten und der europäischen Hoheitsgewalt hat der Bürger laut Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG einen Anspruch1037. Wenngleich diese Ausführungen im Lissabon-Urteil, mit Ausnahme des dargestellten Maßes an Kontrollzuwachs für den Einzelnen, in der Sache überschauhilfe bekräftigte das Bundesverfassungsgericht diese abwehrrechtliche Dimension des Art. 38 Abs. 1 GG, trotz sowohl nach der Maastricht-Entscheidung als auch nach der Lissabon-Entscheidung jeweils geäußerter Kritik, vgl. Urt. v. 7.9.2011 (Az. 2 BvR 987/ 10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10), Rn. 101: „Der Senat hält indes an seiner Auffassung fest. Der letztlich in der Würde des Menschen wurzelnde Anspruch des Bürgers auf Demokratie [. . .] wäre hinfällig, wenn das Parlament Kernbestandteile politischer Selbstbestimmung aufgäbe und damit dem Bürger dauerhaft seine demokratischen Einflussmöglichkeiten entzöge“; dazu Ruffert, Schuldenkrise (Fn. 46), S. 843; D. Thym, Euro-Rettungsschirm: zwischenstaatliche Rechtskonstruktionen und verfassungsgerichtliche Kontrolle, in: EuZW 2011, S. 167 ff. 1034 Diesen Schluss zieht Denninger, Identität (Fn. 11), S. 970. 1035 BVerfGE 123, 267 (331). 1036 Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 872 bezeichnen diese subjektivrechtliche Gewährleistung des Demokratieprinzips als dessen Verstärkung zu einem status activus processualis (zum Begriff P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL 30 [1972], S. 43 [86 ff.]). 1037 BVerfGE 123, 267 (331).

IV. Art. 146 GG als Bedingung künftiger Integrationsschritte

233

bare Neuerungen mit sich bringen, so ist es unter anderem der darauf gestützte und als grundrechtsgleiches Recht durch Art. 38 GG i.V. m. Art. 146 GG gewährleistete Schutz vor dem „Verlust der Staatlichkeit“ 1038 der Bundesrepublik Deutschland, der als ultimative Erweiterung des demokratiebezogenen Gewährleistungsgehalts von Art. 38 GG ein Novum darstellt1039 (vgl. dazu bereits oben Kapitel 1, IV. 2. b) aa) sowie unten 3.). Neben der Rüge der Verletzung des Demokratie-1040 und Sozialstaatsprinzips begründet auch der drohende Verlust der Staatlichkeit eine Beschwerdebefugnis1041. Eine solche Ablösung des Grundgesetzes und ein damit einhergehender Verlust der grundgesetzlichen „Identität“ durch „Entstaatlichung“ der Bundesrepublik Deutschland1042 ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls dann erreicht, wenn die Bundesrepublik Deutschland als Teilstaat in einen europäischen Bundesstaat eingegliedert würde1043. Dieser Schritt ist also den deutschen Verfassungsorganen nach dem Grundgesetz verwehrt. Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zur Griechenlandhilfe1044 den verfassungsprozessualen Schutz der dauerhaften demokratischen Selbstregierung des Volks und den aus Art. 38 Abs. 1 GG folgenden Anspruch auf „Gewährleistung wirksamer Volksherrschaft“ bestätigt und erweitert1045. Angesichts der außerhalb des institutionellen Rahmens der Europäischen Union gegründeten provisorischen Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF)1046 und des dadurch drohenden Verlusts an zentraler politischer Entscheidungsselbstständigkeit wurden die Gewährleistungen einerseits ausdrücklich auch auf solche völkervertraglichen Bindungen erstreckt, die zwar lediglich intergou-

1038

Vgl. BVerfGE 123, 267 (328, 331 ff., 343). Dies feststellend Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 336 ff.; Schönberger, Union (Fn. 34), S. 540 f.; Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 264 ff.; krit. Weber, Union (Fn. 34), S. 158 sowie Denninger, Identität (Fn. 11), S. 970, der darauf hinweist, dass das BVerfG den Begriff in BVerfGE 112, 273 (298) zwar schon verwendet, in der Sache jedoch zurückgewiesen hatte. 1040 BVerfGE 123, 267 (331). 1041 BVerfGE 123, 267 (332); dazu Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 339. 1042 Vgl. BVerfGE 123, 267 (332 f.). 1043 BVerfGE 37, 270 (279); 123, 267 (331 f.). 1044 Urt. v. 7.9.2011 (Az. 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10), Abdr. unter anderem in: NJW 2011, S. 2946 ff. 1045 BVerfG NJW 2011, 2946 (2948). 1046 Zu dieser im Rahmen des provisorischen Stabilisierungsmechanismusses nach luxemburgischen Recht gegründeten Zweckgesellschaft, die Anleihen am Kapitalmarkt bis zu einer Höhe von 440 Mrd. Euro aufnimmt, für die alle Mitgliedstaaten der Eurozone gemeinschaftlich haften, siehe K. Regling, Aufgaben und Herausforderungen der EFSF, in: Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 22 (2011), S. 261 ff.; Ruffert, Schuldenkrise (Fn. 46), S. 851 f. sowie J. U. Schröder, Die Griechenlandhilfe im Falle ihrer Unionsrechtswidrigkeit – Ein Beitrag zur Kollision von Unions- und Völkerrecht, in: DÖV 2011, S. 61 ff. 1039

234

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

vernemental sind, jedoch in einem institutionellen Zusammenhang mit der supranationalen Union stehen1047. Zudem gewährleistet Art. 38 Abs. 1 GG nunmehr auch ausdrücklich die Erhaltung der Budgethoheit des Bundestags im europäischen Integrationsprozess1048. Als eine darüber hinausgehende Erweiterung des Gewährleistungsgehalts von Art. 38 Abs. 1 GG kann es angesehen werden, dass gegenwärtig gemäß Art. 115 Abs. 1 GG erteilte Gewährleistungsermächtigungen, mit denen völkervertragliche Vereinbarungen umgesetzt werden und die zukünftig nach Art und Umfang zu massiven Beeinträchtigungen der Haushaltsautonomie führen können, durch Individualbeschwerde angegriffen werden können1049. c) Kritik an der weitreichenden materiellen Aufladung von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG Die dargestellte, vom Bundesverfassungsgericht ohne nähere Begründung festgestellte1050, aufladende Interpretation des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG im LissabonUrteil ist in der Lehre erwartungsgemäß nicht durchweg auf Zustimmung gestoßen. Kritisiert wurde – neben einer befürchteten Flut an Verfassungsbeschwerden durch die „ausufernden“ Rügemöglichkeiten des Individuums1051 – insbesondere, dass der Wortlaut der Vorschrift, welcher ausschließlich die Wahl der Abgeordne-

1047 BVerfG NJW 2011, 2946 (2948); zustimmend Nettesheim, Euro-Rettung (Fn. 46), S. 768, 770, der Art. 38 GG nur dann als wirksame Garantie der Budgetverantwortung ansieht, wenn er vor allen Maßnahmen – sowohl innerhalb des institutionellen Rahmens der Europäischen Union, als auch außerhalb – schützt, durch die die Bundesrepublik Deutschland sich in ihrer Budgethoheit bindet; Ruffert, Schuldenkrise (Fn. 46), S. 843 f. 1048 BVerfG NJW 2011, 2946 (2948); Nettesheim, Euro-Rettung (Fn. 46), S. 770; Ruffert, Schuldenkrise (Fn. 46), S. 843 f.; BVerfG NJW 2001, 2946 (2948). 1049 BVerfG NJW 2001, 2946 (2948); als Erweiterung in Bezug auf den Modus der Individualbeschwerde sieht dies Ruffert, Schuldenkrise (Fn. 46), S. 845; ähnl. Nettesheim, Euro-Rettung (Fn. 46), S. 770, der jedoch dem Gericht vorwirft, sich in der Sache zu wenig mit der Frage auseinandergesetzt zu haben, ob die Restrukturierung der Wirtschafts- und Währungsunion eine grundgesetzwidrige Änderung der europäischen Verträge darstellt und daher den Art. 38 Abs. 1 GG in seinem seit der Maastricht-Entscheidung bekannten Gehalt vernachlässigt zu haben. 1050 Thym, Integration (Fn. 34), S. 560; Tomuschat, Lisbon (Fn. 34), S. 265 f. 1051 Dies befürchtet z. B. Pache, Ende (Fn. 34), S. 287 f.; Schönberger, Union (Fn. 34), S. 539 spricht von einer „uferlose[n] Entgrenzung“ des Anwendungsbereichs von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG; Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 245 stellt es indes zu Recht in Frage, ob für den rügeberechtigten Einzelnen eine „Aushöhlung“ des Wahlrechts aufgrund eines übermäßigen Kompetenzabflusses beim Bundestag überhaupt messbar beziehungsweise erkennbar ist und erachtet den vom Bundesverfassungsgericht angewandten Maßstab des nicht (mehr) ausreichenden demokratischen Gestaltungsspielraums für den deutschen Gesetzgeber in beispielhaft angeführten Bereichen (vgl. BVerfGE 123, 267 [358]) als wenig hilfreich; in ähnl. Richtung zuvor bereits Denninger, Identität (Fn. 11), S. 972 sowie Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 337 f.

IV. Art. 146 GG als Bedingung künftiger Integrationsschritte

235

ten des Deutschen Bundestags nach den Wahlrechtsgrundsätzen regelt, dies nicht hergebe1052. Aus einer Individualberechtigung zur Beachtung der Wahlrechtsgrundsätze aus der Bundestagswahl folgere das Bundesverfassungsgericht die Basisnorm für eine Popularklage gegen alle zukünftig anstehenden Änderungen der Europäischen Verträge, welche das verfassungsgerichtliche Verfahrenssystem und insbesondere die Existenz des insofern naheliegenderen Verfahrens der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG verkenne1053. Desweiteren wird mit Verweis auf die Stellung von Art. 38 GG im grundgesetzlichen Umfeld der eher „technisch“ geprägten Vorschriften über den Bundestag und dessen Abgeordneten eine so weitreichende Aufladung des Wortlauts als unglücklich beziehungsweise „weit hergeholt“ bewertet1054. d) Fazit Richtig ist wohl, dass Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht in erster Linie als Aufhängungspunkt grundsätzlicher demokratietheoretischer Wertentscheidungen des Grundgesetzes dient und sich bereits im Maastricht-Urteil als „Türöffner“ zu grundlegenden Fragen des materiellen Verfassungsrechts in Form des Demokratieprinzips erwiesen hat1055. Ungeachtet dieser praktischen 1052 Dies kritisieren insbes. Jestaedt, Ferne (Fn. 21), S. 503 ff. sowie Terhechte, Souveränität (Fn. 33), S. 726 f. 1053 So unter anderem Nettesheim, Verkündigung (Fn. 608), S. 122; Schönberger, Union (Fn. 34), S. 540, der konsequenterweise befürchtet, dass durch die faktische Deklaration des Einzelnen zum „verfassungsprozessualen Hüter der europäischen Demokratie“ jede zukünftig anstehende Änderung des europäischen Primärrechts durch die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen das jeweilige deutsche Zustimmungsgesetz latent der Prüfung des Bundesverfassungsgerichts unterliege und daher die ansonsten zurückhaltende Handhabung von Verfassungsbeschwerden eines ohnehin überlastenden Gerichts zugunsten der intendierten Umgehung eines für Normenkontrollen geltenden Antragsquorums fahrlässig gelockert werde; ebenso Schwarze, Demokratie (Fn. 34), S. 114, der mit der Aufladung von Art. 38 GG mit objektiven Verfassungsprinzipien den Abschied von der bisherigen Konzeption des subjektiven Rechtsschutzes herannahen sieht; a. A. Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 873, die ohne geeignete gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung an der praktischen Wirksamkeit des Rechts auf demokratische Selbstbestimmung und der Verfassungsgarantie der souveränen Staatlichkeit zweifeln; ähnl. Murswiek, Art. 38 (Fn. 1019), S. 707, der die Gefahr einer Popularklage als „allenfalls rechtspolitisch beachtliches“ Argument abtut und systemfremdes Recht insbesondere vor dem Hintergrund des Grundgesetzes als „wehrhafte Demokratie“ nicht erkennen kann. 1054 Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 244. 1055 So wiederum Jestaedt, Ferne (Fn. 21), S. 503 f. sowie Terchechte, Souveränität (Fn. 33), S. 726, der die Eröffnung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden im Lissabon-Urteil anhand von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG als „Kunstgriff“ des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet. Diese mit dem Wortlaut der Vorschrift nicht ohne weiteres zu vereinbarende Vorgehensweise im Maastricht-Urteil kritisierte bereits C. Tomuschat, Die Europäische Union unter Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1993, S. 489 (491).

236

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Gegebenheit ist und bleibt das Wahlrecht konstitutives Element des Demokratieprinzips, welches es vor integrationsbedingter Entleerung der Gestaltungsmacht des Bundestags zu schützen gilt. Die Verknüpfung einer Rüge des Demokratieverlusts mit der Rüge des Verlusts der Staatlichkeit hingegen erscheint vor dem Hintergrund von Stellung und Wortlaut des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG nicht zwingend1056. 2. Anspruch auf demokratische Teilhabe aus Art. 1 Abs. 1 GG Der aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG unmittelbar folgende, subjektivrechtliche Anspruch des Einzelnen auf demokratische Teilhabe wird vom Bundesverfassungsgericht zudem in seinem Kerngehalt auf die Gewährleistung der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG zurückgeführt und den von Art. 20 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG unveränderbar geschützten Grundsätzen des deutschen Verfassungsrechts zugeordnet1057. Durch diese Rückführung findet eine Verbindung der Legitimation von individueller (Art. 1 Abs. 1 GG) und kollektiver Selbstbestimmung (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) statt, und zwar über ihre gemeinsame Ableitung aus der in der Menschenwürde wurzelnden Selbstbestimmung des Individuums1058. Das Gericht stützt diese Interpretation auf die Feststellung, dass innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung

1056 I. Erg. ebenso Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 244 f.; neutraler Murswiek, Art. 38 (Fn. 1019), S. 708, der resümiert, dass durch die Möglichkeit der verfassungsrechtlichen Rüge jeglicher Verletzung der Schutzgüter von Art. 79 Abs. 3 GG im Ergebnis ein auf Art. 38 GG basierendes, „umfassendes Recht des wahlberechtigten Staatsbürgers auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns“ gewährleistet sei. 1057 BVerfGE 123, 267 (241): „Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert. Er gehört zu den durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG als unveränderbar festgelegten Grundsätzen des deutschen Verfassungsrechts“; dazu Voßkuhle, Demokratie (Fn. 180), S. 7, Sp. 2; kritisch Weber, Union (Fn. 34), S. 158, der dies als „Bärendienst“ beziehungsweise „unnötige, materielle Aufladung“ des Wahlrechts ansieht, da so Verstöße gegen Art. 38 Abs. 1 GG durch einen ungleichen Erfolgswert der Stimmabgabe jeweils immer auch einen Verstoß gegen die Menschenwürde bedeuten würden. 1058 Dies betonen Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 873 unter Verweis auf gleichsinnige vorherige Andeutungen in BVerfGE 5, 85 (204 f.) – KPD-Verbot sowie BVerfGE 40, 287 (291). Zu Recht stellen sie weiterhin differenzierend heraus, dass Legitimationsobjekt politischer Herrschaft i. S. v. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG stets das Volk als Ganzes und als Summe aller Staatsangehörigen (Art. 116 Abs. 1 GG) ist und dadurch zwangsläufig demokratische – im Gegensatz zu individueller – Selbstbestimmung Ausländern nicht, oder genauer durch die Möglichkeit der Einbürgerung nach den §§ 8 ff. des Staatsangehörigkeitsgesetzes lediglich potentiell zusteht, vgl. zur demokratiezentralen Volkssouveränität als Ausdruck kollektiver oder individueller Selbstbestimmung v. Komorowski, Demokratieprinzip (Fn. 431), S. 196 ff.; ferner C. Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 2008, S. 24 ff.

IV. Art. 146 GG als Bedingung künftiger Integrationsschritte

237

letztlich alle den Bürger (in dessen Grundrechten) betreffenden, bindenden Entscheidungen auf einen frei gebildeten Mehrheitswillen des Volkes rückführbar sein müssen. Denn diese rechtsstaatliche Ordnung basiere auf der jeweils mehrheitlichen Selbstbestimmung des Volks und damit letztlich auf der Freiheit des Einzelnen, welche durch Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet ist1059. Die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes sei damit letztlich Ausdruck des in der Würde des Menschen angelegten Eigenwerts des Menschen1060. Den Wahlen komme für die Teilhabe des Einzelnen im demokratischen Verfassungsstaat eine zentrale und tragende Rolle zu. Dadurch, dass die Wahlen die Mehrheitsmeinung widerspiegeln und das Parlament sich in verantwortliche Regierung und unbehinderte Opposition mit theoretischer Möglichkeit zur Regierungsübernahme gliedert, sind die Bürger prinzipiell zu keiner Zeit einer politischen Gewalt unterworfen, die sie nicht durch politische Richtungsentscheidungen „personell und sachlich zu gleichem Anteil in Freiheit zu bestimmen vermögen“ 1061. Diese Teilhabe des Einzelnen wirke „insbesondere im Status des Abgeordneten fort“. Das Fortwirken werde durch das Recht auf die gleiche Teilhabe am Willensbildungsprozess im Deutschen Bundestag deutlich, welches durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gewährleistet werde1062. Vor dem Hintergrund, dass bereits Art. 20 Abs. 1 und 2 GG die freie Willensbildung des Einzelnen schützen, erscheint es fraglich, ob ein aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG unmittelbar folgender, subjektivrechtlicher Anspruch des Einzelnen zudem auf die Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG zurückgeführt werden muss1063. Man mag sich angesichts dieser Verschränkung von Grundrecht und Staatsstrukturprinzip fragen, was das Bundesverfassungsgericht zukünftig noch unter den unantastbaren Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG stellen mag, wenn die Erhaltung verfassungsrechtlicher Güter vor überbordender europäischer Integration intendiert ist1064.

1059 BVerfGE 123, 267 (341) mit Verweis auf BVerfGE 2, 1 (12 f.) – SRP-Verbot („So läßt sich die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt.“); Voßkuhle, Demokratie (Fn. 180), S. 7, Sp. 1 stellt den Bezug des Wahlrechts zur Menschenwürde auch im Hinblick auf die Stimmengleichheit her, in der sich nach seiner Ansicht „das Ideal gleicher Freiheit und Würde“ manifestiert. 1060 BVerfGE 123, 267 (341). 1061 BVerfGE 123, 267 (341 f.). 1062 BVerfGE 123, 267 (342). 1063 Enders, Staatlichkeit (Fn. 202), S. 41 f.; Schönberger, Union (Fn. 34), S. 554; hingegen zustimmend zu dieser auf dem grundgesetzlichen Prinzip personaler Freiheit aufbauenden Denkweise des Gerichts „vom Menschen her“ Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 873. 1064 Gleiche Stoßrichtung etwa bei Schorkopf, Union (Fn. 34), S. 1233.

238

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

3. Teilhabe an der verfassunggebenden Gewalt gemäß Art. 146 GG als kombiniertes Individualrecht Mit der Erwähnung des Szenarios eines europäischen Bundesstaats im Lissabon-Urteil führt das Bundesverfassungsgericht den im Urteil zum Vertrag von Maastricht eingeschlagenen Weg fort: Bereits im Richterspruch aus dem Jahre 1993 betonte das Gericht, dass der Unionsvertrag lediglich „einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der staatlich organisierten Völker Europas“, jedoch „keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat“ begründe. Das Gericht geht jedoch im Lissabon-Urteil noch einen Schritt weiter1065, indem es feststellt, dass jeder wahlberechtigte Deutsche das Recht besitzt, „über den Identitätswechsel der Bundesrepublik Deutschland, wie er durch Umbildung zu einem Gliedstaat eines europäischen Bundesstaats bewirkt werden würde, und die damit einhergehende Ablösung des Grundgesetzes ,in freier Entscheidung‘ zu befinden“ 1066. Die Formulierung „in freier Entscheidung“ ist dabei nicht zufällig gewählt und weist den Weg zum Schlussartikel des Grundgesetzes, der das deutsche Volk adressiert und unter der Prämisse der freiheitlichen Entscheidung zur Verfassunggebung ermächtigt. Gleichsam wird im Urteil ausgeführt, dass, auch wenn der Beschwerdeführer unmittelbar keine Verfassungneugebung durch Volksentscheid herbeiführen möchte, „Art. 146 GG [. . .] – wie Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG – ein Teilhaberecht des wahlberechtigten Bürgers [schafft]. Art. 146 GG bestätigt das vorverfassungsrechtliche Recht, sich eine Verfassung zu geben, aus der die verfasste Gewalt hervorgeht und an die sie gebunden ist. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet das Recht, an der Legitimation der verfassten Gewalt mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen. Art. 146 GG formuliert neben den materiellen Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die äußerste Grenze der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der europäischen Integration. Es ist allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt“ 1067. Art. 146 GG wird damit – wohlgemerkt in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 GG – erstmals der Charakter eines Grundrechts im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG zuteil, dessen Verletzung in Form der Ablösung des Grundgesetzes durch den Verlust der Staatlichkeit von jedermann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann. Erfasst sind damit auch und insbesondere demokra1065

Denninger, Identität (Fn. 11), S. 971. BVerfGE 123, 267 (331 f.); anders noch BVerfGE 89, 155 (180): „Das Grundgesetz gewährt individuelle Rechte nur im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung, nicht jedoch für das Verfahren oder den Inhalt einer Verfassungsneugebung“. 1067 BVerfGE 123, 267 (331 f.); anders noch BVerfGE 89, 155 (180) mit Hinweis auf die Aufzählung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG: „Auch Art. 146 GG begründet kein verfassungsbeschwerdefähiges Individualrecht [. . .]“. 1066

IV. Art. 146 GG als Bedingung künftiger Integrationsschritte

239

tieverletzende Kompetenzübertragungen der vom Bundesverfassungsgericht aufgelisteten Vorbehaltsbereiche des Strafrechts, des Gewaltmonopols, der fiskalischen Grundentscheidungen, der Sozialstaatlichkeit und der kulturell besonders bedeutsamen Entscheidungen1068. Etwaige Bedenken, das Gericht setze sich damit in Widerspruch zu der im Maastricht-Urteil ausdrücklich enthaltenden Feststellung, dass Art. 146 GG gerade kein beschwerdefähiges Individualrecht begründe1069, weisen die Karlsruher Richter anhand einer zweifelhaften und in der Sache begründungslos gelieferten1070 Konstruktion zudem präventiv zurück: „Der verfassungsprozessualen Rügefähigkeit der ,Entstaatlichung‘ steht nicht entgegen, dass Art. 146 GG kein selbständig rügefähiges, mithin verfassungsbeschwerdefähiges Individualrecht im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet [. . .]. Denn dies schließt nicht aus, dass Art. 146 GG in Verbindung mit den in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten – hier Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG – als verletzt gerügt werden kann“ 1071. 4. Kritik an der Subjektivierung des Art. 146 GG Es war zu erwarten, dass dieses Konzept der in Kombination mit den Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten bestehenden individualrechtlichen Rügefähigkeit des Art. 146 GG in der Staatswissenschaft nicht vorbehaltslos aufgenommen werden würde. Dies gilt nicht allein deswegen, weil das Konstrukt auf den ersten Blick eine Abkehr von der im Maastricht-Urteil ausführlich genannten Ablehnung der Rügefähigkeit darstellt. Es wurden gleich mehrere methodische Brüche der im Lissabon-Urteil ebenso lakonisch wie unbegründet angenommenen Rügefähigkeit des Schlussartikels vorgebracht. Denninger gibt zu bedenken, dass Art. 146 GG seinem Wortlaut nach einen offensichtlich rein objektiven Normgehalt hat, welcher die Verfassungneugebung durch den pouvoir constituant und damit die zeitliche Geltung des Grundgesetzes betrifft. Eine normative Einbindung und nähere Ausgestaltung dieser ungebundenen verfassunggebenden Gewalt durch die verfasste Gewalt des Bundesverfassungsgerichts, wie im Lissabon-Urteil geschehen, wird daher denklogisch als nicht möglich angesehen1072. Ebenso praktisch inkompatibel hält er die im Urteil angesprochene Kombination des „vorverfassungsrechtlichen Rechtes“ aus Art. 146 GG mit den in Art. 93

1068 BVerfGE 123, 267 (329 ff.); rückblickend Ruffert, Schuldenkrise (Fn. 46), S. 843. 1069 So BVerfGE 89, 155 (180); a. A. schon damals Wolf, Revision (Fn. 79), S. 600. 1070 Dies betont Denninger, Identität (Fn. 11), S. 971; ähnl. erstaunt Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 338. 1071 BVerfGE 123, 267 (332); kritisch Grefrath, Exposé (Fn. 34), S. 223 ff. 1072 Denninger, Identität (Fn. 11), S. 971.

240

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Abs. 1 Nr. 4a GG genannten „verfassungspositiven Rechten“ zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde1073. Halberstam und Möllers bezeichnen die Subjetivierung des vorkonstitutionellen, in Art. 146 GG bestätigten Rechts auf Verfassunggebung schlicht als „konzeptuell so absurd“, dass sogar der Senat selbst Schwierigkeit damit habe, diese exakt auszudrücken1074. Zudem kritisieren Sie, dass dieser revolutionäre Akt auf ein gewöhnliches, vor dem Verfassungsgericht stattfindendes und unter dessen Kontrolle stehendes Verfahren heruntergezont werde1075. Zum Teil wird die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, welches einen Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu einem europäischen Bundesstaat so lange ablehnt, wie dessen Organe nicht demokratisch legitimiert sind, als wenig weitsichtig, da am herkömmlichen Bild des Nationalstaats festhaltend, beurteilt. Art. 146 GG hingegen löse sich von diesem Bild und betreffe mit der „freien Entscheidung“ des deutschen Volks eine Verfassung, welche als postmodernes Pendant zur demokratischen Legitimation der Staatsmacht dem Einzelnen die Transparenz der Bereiche des europäischen Gemeinwesens bietet, in welche er gesellschaftlich eingebunden ist1076. 5. Abschließendes Fazit Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Lissabon-Entscheidung neben den entscheidungserheblichen Gründen zu den Grenzen einer Integration Deutschlands in die Europäische Union nach Lissabon en passant die Anforderungen an die Integration in einen derzeit hypothetischen Bundesstaat klargestellt. Man mag hierin einen unnötigen, mit der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes schwer zu vereinbarenden Vorgriff auf unsichere Zukunftsszenarien sehen1077. Dennoch sind die Ausführungen, die die erstmals konkret etablierte Garantie der Staatlichkeit Deutschlands durch das Grundgesetz enthalten, trotz aller Kritik im Ergebnis schlüssig. Die Stimmen der Literatur, welche dem Bundesverfassungsgericht vorwerfen, mit seinem Verdikt vorschnell eine nicht mehr zu lösende Integrationsbremse gezogen zu haben, scheinen rückblickend alarmistisch. Sachgerechter ist die Feststellung, dass das Gericht die weitere Entwicklung europäischer Integration, insbesondere im Hinblick auf die Eingliederung in einen neugeschaffenen europäischen Bundesstaat, zwar erschwert, jedoch nicht völlig 1073 Denninger, Identität (Fn. 11), S. 971; ähnl. Müller-Graff, Lissabon-Urteil (Fn. 21), S. 338, der einen „kühnen Bogenschlag zur Verfassungsbeschwerde“ feststellt. 1074 Halberstam/Möllers, Court (Fn. 33), S. 1256. 1075 Halberstam/Möllers, Court (Fn. 33), S. 1256. 1076 M. Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 11. 1077 Vgl. z. B. Selmayr, Endstation (Fn. 34), S. 642 („aus eigenem Antrieb, und ohne Notwendigkeit“).

IV. Art. 146 GG als Bedingung künftiger Integrationsschritte

241

verhindert hat1078. Als finale „Ausbaustufe“ der europäischen Integration wird die europäische Einheit in einem Bundesstaat vom Bundesverfassungsgericht angedeutet und durch den Rekurs auf Art. 146 GG auch auf dem Boden des Grundgesetzes angepeilt, ohne dass man sich mit diesem in rechtlichen Widerspruch setzen oder revolutionäre Schritte begehen müsste1079. Dass der Rückgriff auf Art. 146 GG i.V. m. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG durchaus einen über den bisherigen Gewährleistungsgehalt des Wahlrechts hinausgehenden Mehrwehrt hat, zeigt bereits, dass nunmehr auch jede Machtverlagerung, die das Grundgesetz teilweise außer Kraft setzt, und nicht nur parlamentarischer Kompetenzverlust durch eine Verfassungsbeschwerde rügefähig ist1080. Bei aller Kritik, die nach Veröffentlichung auf den Urteilsspruch niederging, wird es dem Bundesverfassungsgericht zu Recht gedankt, dass die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in einen solchen Bundesstaat nach verfassungsrechtlichen Gegebenheiten in klarer „Diskontinuität zum Grundgesetz“ 1081 erfolgen müsste. Erforderlich wäre also ein klares Bekenntnis der deutschen Staatsbürger durch eine Verfassunggebung gemäß Art. 146 GG. Ob dadurch die europäische „Identifikationskrise“ und die große Kluft zwischen Regierten Europäern und Regierenden in Brüssel überwunden werden können1082, darf jedoch bezweifelt werden. Eine schleichende europäische „Verbundesstaatlichung“, wie bereits durch einige der Verfassungskläger im Verfahren zum Vertrag von Lissabon befürchtet1083, droht damit jedenfalls nicht. Realistischer scheint es, dass etwaig zukünftig ergriffene, integrativ motivierte Vertragsänderungen durch die Initiative deutscher Staatsorgane oder deren Teile dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung angetragen werden. Dies gilt insbesondere, da sich das Bundesverfassungsgericht durch den weitreichenden Urteilsspruch ausdrücklich die verfassungsrechtliche Kontrolle des weiteren 1078 Ähnl. Fazit bei Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 260; Selmayr, Endstation (Fn. 34), S. 646 sowie Kottmann/Wohlfahrt, Wächter (Fn. 34), S. 449, die gleichsam feststellen, das Bundesverfassungsgericht habe „sein Faible für die direkte Beteiligung des Volks entdeckt“. 1079 A. A. Isensee, Demokratie (Fn. 872), S. 133, der zur Ermöglichung eines Übergangs der Bundesrepublik Deutschland zu einem europäischen Gliedstaat einen originären Akt des deutschen Volks für erforderlich hält, welcher sich weder an Art. 79 GG noch an Art. 146 GG orientieren müsse. 1080 Herausstellung dieses „prozessualen Mehrwerts“ einer auf Art. 146 GG i.V. m. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerde gegenüber einer solchen auf Grundlage von Art. 38 Abs. 1 S. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 2 GG bei Grefrath, Exposé (Fn. 34), S. 225. 1081 So Dreier (Fn. 151), Art. 79 Abs. 3 Rn. 15 sowie Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 260. 1082 Diese Hoffnung hegt Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 260; a. A. beispielsweise Papier, Entwicklung (Fn. 70), S. 2848, der die Vorstellung, dass die Ausweitung plebiszitäre Verfahren ein Mittel gegen „Machtusurpationen der politischen Parteien bei gleichzeitiger Parteienverdrossenheit der Bevölkerung“ seien, als eine illusionäre bezeichnet. 1083 BVerfGE 123, 267 (310 f.); dazu Selmayr, Endstation (Fn. 34), S. 643.

242

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

europäischen Prozesses vorbehalten und den klarstellungsbedürftigen Weg des Art. 146 GG vorgezeichnet hat. Eine höchstrichterliche Auseinandersetzung mit dem Schlussartikel des Grundgesetzes könnte also in mittelbarer Zukunft anstehen und zur Klärung des seit (weit) über zwanzig Jahren bestehenden und in der Lissabon-Entscheidung nicht (auch noch) thematisierten Meinungsstreits um Art. 146 GG führen. Die anfangs dieser Arbeit erwähnten, angekündigten Verfassungsbeschwerden gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus zur Erzwingung eines Referendums könnten hier die Gelegenheit bieten. Zu klären bleibt neben der Frage nach der Bindung an Art. 79 Abs. 3 GG etwa auch, wie genau das Szenarium der Verfassunggebung zu erfolgen hat. Der knappe Wortlaut des Schlussartikels lässt hier viel Raum für rechtliche Spekulation. Ob die Mitgliedstaaten der Europäischen Union den Weg zu einer Europäischen Föderation tatsächlich einmal antreten – und diese Rechtsfragen damit vollständig aktuell werden – ist schließlich keine rechtliche, sondern eine auf politischen Strömungen basierende, tatsächliche Frage. Entscheidend dafür ist, dass das Vertrauen der Bürger, der „Völker Europas“ (vgl. EUV) in die europäischen Amtsinhaber in Brüssel gewahrt und verstärkt wird1084. Aus der heutigen Perspektive und angesichts der derzeitigen Krisen der Europäischen Union kann die Prognose zugegebenermaßen nur lauten, dass hiervon abweichende Konstellationen jedenfalls realistischer sind.

V. Zeitliche Perspektiven der Verfassungneugebung 1. Keine Befristung auf einen zeitlichen Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Zum Teil wurde es vertreten, dass Art. 146 GG n. F. die Schaffung einer neuen Verfassung und somit das Einverständnis in die eigene Ablösung nur für einen bestimmten Zeitraum nach vollendeter Wiedervereinigung Deutschlands zulasse. Dieses wurde einerseits mit dem Wortlaut des Art. 5 des Einigungsvertrags begründet1085. Jener empfiehlt eine Frist von zwei Jahren, innerhalb derer sich die 1084 Zweifel hieran hegen T. Darnstädt/C. Schult/H. Zuber, Der große Sprung nach vorn, in: Der Spiegel 47/2011, S. 118 (118) mit Verweis auf die Befürchtungen des FDP-Europaabgeordneten A. Graf Lambsdorff, der angesichts der Euro-Krise die Legitimationsstränge politischer Entscheidungen in Europa als „bis zum Zerreißen gespannt“ einschätzt. 1085 So etwa Herdegen, Verfassungsänderungen (Fn. 786), S. 30 f., der seinerzeit vorsichtig formuliert: „Artikel 146 GG kann demnach auch nach seiner Novellierung nur in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Beitritt der DDR die verfahrensrechtlichen und materiellen Bindungen nach Art. 79 GG suspendieren. [. . .] Der Vorschrift des Art. 5 des Einigungsvertrages mit ihrem Appell an die gesetzgebenden Körperschaften, sich innerhalb von zwei Jahren mit einer möglichen Revision des Grundgesetzes in Hinblick auf den Beitritt der DDR zu befassen, mag man eine Konkretisierung des erforderlichen temporalen Zusammenhanges im Sinne dieses Zeitraumes entnehmen“.

V. Zeitliche Perspektiven der Verfassungneugebung

243

gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen (unter anderem die Anwendung des Art. 146 GG) zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes befassen. Folglich geht diese Ansicht davon aus, dass eine nach Ablauf der Frist erfolgende Verfassungsablösung unzulässig ist. Die Zwei-Jahres-Frist wird jedoch nicht von allen Verfechtern einer zeitlichen Limitierung so strikt gesetzt. So wird eine Befristung zulässiger Verfassunggebung teilweise in Hinsicht auf die Grundlagen der staatlichen Substanz befürwortet, da diese so lange „grundgesetzlich ungesichert“ seien, wie das Grundgesetz selbst das Einverständnis in die eigene Ablösung gemäß Art. 146 GG erteile1086. Vermöge diese Herleitung einer Befristung zwar keine konkrete zeitliche Grenze nennen, bis wann eine Ablösung des Grundgesetzes zulässig gewesen sei, so lasse sich doch feststellen, dass eine heutige Ablösung diese Frist jedenfalls überschreite1087. Gegen die Annahme einer strikten Befristung mit Bezug auf die Regelung im Einigungsvertrag spricht jedoch, dass diese Zwei-Jahres-Frist des Art. 5 EV unmittelbar nur für Grundgesetzreformen und nicht für die Anwendung der Grundgesetzvorschriften gelten soll, die Gegenstand der Reformvorschläge sind. Zudem war diese Frist nur als Empfehlung, nicht hingegen als strikte Vorgabe zu verstehen1088. Es stellt sich damit die (nächste) Frage, wann genau diese maßgebliche Frist abgelaufen sein soll. Des Weiteren hat eine solche Befristung keinerlei Anhaltspunkt im Wortlaut des Art. 146 GG n. F. Schon die Vorgängernorm des Art. 146 GG a. F. war ohne eine zeitliche Befristung in Kraft getreten. Vor dem Hintergrund der Erwartung des Parlamentarischen Rats, dass sich ein zukünftiges geeintes deutsches Volk selbstverständlich eine neue gesamtdeutsche Verfassung geben wollen würde, scheint dies nur allzu gut verständlich1089. Allein die Tatsache, dass sich diese Erwartungen nicht erfüllt haben und die Regierungen der beiden Parteien des Einigungsvertrags den gesetzgebenden Körperschaften die 1086 So etwa Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 306: „Es kann kaum angenommen werden, daß ein derartiger Kontinuitätsbruch vom eigenen Boden des Grundgesetzes aus auch noch für alle Zukunft sanktioniert werden soll, d. h. auch für einen Zeitraum, der mit dem Zeitpunkt der Herstellung der staatlichen Einheit nicht mehr faßbar zusammenhängt“. 1087 Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 305 f., der dies unter anderem dadurch verdeutlicht, dass Art. 146 GG n. F. andernfalls nicht nur eine „Zeitbombe“, sondern sogar eine „Jederzeit-Bombe“ unter dem Verfassungsgehäuse darstelle. 1088 Lerche, Auftrag (Fn. 786), S. 306, Fn. 23; M. Baldus, Eine vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossene Verfassung, in: Kritische Vierteljahreschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 79 (1993), S. 429 (436) betont, dass der Hinweis in Art. 5 des Einigungsvertrags aus dem Kompromisscharakter des Art. 146 GG n. F. folgt und kein zulässiges Auslegungsmittel für Art. 146 GG n. F. ist. 1089 Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 441 mit Verweis auf H. Simon, Markierungen auf dem Weg zu einer neuen gesamtdeutschen Verfassung, in: Neue Justiz 1990, S. 516 (518).

244

Kap. 2: Art. 146 GG als Wegbereiter zukünftiger Integrationsschritte

Empfehlung ausgesprochen haben, sich mit der Frage der Anwendung des mittlerweile neugefassten Art. 146 zu beschäftigen1090, rechtfertigt jedoch nicht die Annahme einer rechtlich bindenden, zeitlichen Befristung des Anwendungsfelds des Schlussartikels1091. Art. 146 GG n. F. bezweckt daher weiterhin, dem wiedervereinigten Deutschland einen Weg zu einer voraussetzungslos gefassten neuen Verfassung zu ermöglichen. Dass diese Grundentscheidung zugleich eine Gefährdung der Grundlagen der staatlichen Substanz durch eine – mitunter zufällig zustande gekommene Mehrheit – bedeutet, sollte hingenommen werden. Das Grundgesetz selbst jedenfalls geht dieses Wagnis ein. 2. Maßgeblicher Zeitpunkt Allein der Rekurs auf einen Akt der verfassunggebenden Gewalt in Form einer Volksabstimmung zur Überführung der Bundesrepublik in einen europäischen Bundesstaat, wie er unter anderem im Lissabon-Urteil zu finden ist, sagt jedoch noch nichts darüber aus, wann der maßgebliche Zeitpunkt für diesen Transfer gekommen ist. Das überrascht nicht, weiß doch momentan niemand genau zu bestimmen, wo exakt diese Grenzlinie verläuft1092. Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich lediglich in der Aussage, dass eine rein quantitative Bewertung der auf nationaler Ebene notwendigen Staatsaufgaben nicht statthaft sei und keine von vornherein bestimmbare Summe oder bestimmte Arten von Hoheitsrechten in der Hand des Staates bleiben müssen1093. Jedoch lassen sich Kriterien nennen, welche eine Verfassunggebung jedenfalls erforderlich machen würden, wenn sie durch Fortentwicklung des europäischen Primärrechts erfüllt würden. Als sicher, da einheitlich so gesehen, kann die These bezeichnet werden, dass der Schritt zu einem europäischen (Bundes)staat vollzogen wäre, sobald die Europäische Union mit einer Kompetenz-Kompetenz, also der Kompetenz zur Begründung neuer eigener Kompetenzen, ausgestattet 1090 Vgl. Art. 5 des Einigungsvertrags: „Die Regierungen der beiden Vertragsparteien empfehlen den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere [. . .] mit der Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung“ (Herv. durch d. Verf.). 1091 So i. Erg. auch Speckmaier (Fn. 977), Art. 146 Rn. 27 sowie Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 442, der annimmt, dass den Architekten des Grundgesetzes eine späte neue Verfassung immer noch lieber gewesen sei als gar keine gesamtdeutsche Verfassung. 1092 Möllers, Grenze (Fn. 560), S. 6. 1093 BVerfGE 123, 267 (248, 351); dazu M. Abels, Das Bundesverfassungsgericht und die Integration Europas – Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen untersucht am Karlsruher Lissabon-Urteil, 2011, S. 44 ff.

V. Zeitliche Perspektiven der Verfassungneugebung

245

wäre1094. Wenngleich die sog. Flexibilitätsklausel1095 nach Art. 352 Abs. 1 AEUV einer solchen Kompetenz-Kompetenz faktisch sehr nahe kommen dürfte, wird diese noch immer bei den Mitgliedstaaten verortet1096. Laut dieser Vorschrift ist es den Unionsorganen erlaubt, „geeignete Vorschriften“ zu erlassen, wenn ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich scheint, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen, und in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind. Auch die Rechtsangleichungsvorschriften der Art. 114 und Art. 115 AEUV (exArtikel 94 und 95 EGV) eröffnen der Europäischen Union „breite Kompetenzräume“ 1097, ohne jedoch ernsthaft am Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu rütteln und die Mitgliedstaaten aus ihrer Rolle als „Herren der Verträge“ 1098 und deren Fortentwicklung zu drängen. Den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung zum Vertrag von Lissabon lässt sich indirekt entnehmen, dass nach Ansicht der Richter der Punkt einer Verfassunggebung gekommen wäre, wenn sich die Vertragsnovellierungen nur so auslegen ließen, dass die verfassungsrechtliche und politische Identität der Mitgliedstaaten nicht mehr gewahrt wäre1099. Damit würde auch die Verantwortung für die grundlegende Richtung und Ausgestaltung der Unionspolitik von den Mitgliedstaaten auf die Union übergehen und die souveräne deutsche Staatsgewalt einschließlich der verfassunggebenden Gewalt wäre in ihrer Substanz verletzt.

1094 1095

Streinz, Europarecht (Fn. 173), § 3 Rn. 135. Statt aller M. Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV (Fn. 404), Art. 352 AEUV

Rn. 2. 1096 So BVerfGE 123, 267 (349 f.) mit Verweis auf Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV, der das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung bekräftige: „Das Grundgesetz ermächtigt die deutschen Staatsorgane nicht, Hoheitsrechte derart zu übertragen, dass aus ihrer Ausübung heraus eigenständig weitere Zuständigkeiten für die Europäische Union begründet werden können. Es untersagt die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz. [. . .] Das europarechtliche Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die europarechtliche Pflicht zur Identitätsachtung sind insoweit vertraglicher Ausdruck der staatsverfassungsrechtlichen Grundlegung der Unionsgewalt“; ebenso Streinz, Europarecht (Fn. 173), § 3 Rn. 135, der zudem für eine restriktive Interpretation der ebenfalls sehr weiten Vorschrift des Art. 311 Abs. 1 AEUV plädiert und diese nicht als genuine Kompetenzvorschrift versteht (so bereits die ausf. Auslegung der Vorgängervorschrift in BVerfGE 89, 155 [194 ff.]). 1097 Streinz, Europarecht (Fn. 173), § 3 Rn. 135. 1098 BVerfGE 75, 223 (242); 89, 155 (190, 198 f.); 123, 267 (349 f., 381). 1099 Vgl. die (noch) gegenteilige Bewertung der Regelungen des Vertrags von Lissabon in BVerfGE 123, 267 (381 ff.).

Kapitel 3

Szenarium einer Verfassungneugebung durch das Volk I. Einleitung: Verfassungsvoraussetzungen und -aporie Einem jeden Verfassungsstaat liegt das Verständnis zugrunde, dass die geschriebene Verfassung als fundamentalstes Gesetz die höchste Autorität der Rechtsordnung darstellt1100. Es ist die verfassunggebende Gewalt, welche die Rückführbarkeit dieses höchsten Teils der Rechtsordnung auf den Willen des Volks herstellt und damit die uneingeschränkte Geltung der Verfassung als Ganzes legitimiert1101. 1. Die außerrechtliche Bedingtheit des Verfassungsstaats Vor dem Hintergrund dieser Lehre des pouvoir constituant zeichnet sich jedoch stets auch die Kontur der außerrechtlichen Bedingtheit des Staats von „nichtrechtliche Dependenzen“ 1102 als Aporie der jeweiligen Verfassung ab: Der Staat liegt in letzter Konsequenz „in den Händen der Träger der von ihm gewährten Freiheitsrechte“ 1103. Anders gewendet ist der Konsens des Volks zu jeder Zeit eine stillschweigende (Vor)bedingung der Geltungskraft einer demokratischen Verfassung1104, denn die Geltung der Verfassung als solche ist aufgrund deren höher1100 Wahl, Elemente (Fn. 72), S. 1041 f. mit Hinweis auf die Präzisierung dieses Grundgedankens durch die rechtlichen Prinzipien der Normativität der Verfassung und des Vorrangs der Verfassung sowie dessen Effektivierung und Durchsetzung durch eine ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit. 1101 Möllers, Staat (Fn. 48), S. 200 m.w. N.; ähnl. E.-W. Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes als Grenzbegriff des Rechts, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie – Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, 1991, S. 90 (91 f.), der die verfassunggebende Gewalt des Volks als Verbindung von Norm und Faktizität charakterisiert; grundlegend zur verfassunggebenden Gewalt des Volks bereits C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 75 ff. 1102 Als Kurzformel für solche sieht Möllers, Staat (Fn. 48), S. 271 den Begriff der Verfassungsvoraussetzungen. 1103 So konstatierend U. J. Schröder, Wovon der Staat lebt. Verfassungsvoraussetzungen vom Vormärz bis zum Grundgesetz, in: JZ 2010, S. 869 (875), der beispielhaft das Widerstandsrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG anführt. 1104 So Elicker, Grundgesetz (Fn. 717), S. 228 mit Hinweis auf gleichsinnige Äußerungen Carlo Schmids im Parlamentarischen Rat, Abdr. in: G. Leibholz/H. v. Mangoldt

I. Einleitung: Verfassungsvoraussetzungen und -aporie

247

rangiger Verortung rechtlich nicht als Argument fass- und verwertbar1105. Die Beachtung der Verfassung wird durch eine über dem Verfassungsgesetz stehende geschriebene Rechtsordnung ebenso wenig garantiert wie durch gedachte Kräfte, die über den verfassten Staatsorganen stehen könnten1106. Die Geltungsvoraussetzungen einer Verfassung können demgemäß durch den Inhalt der Verfassungsurkunde auch nicht ausgedrückt, sondern lediglich angesprochen werden1107. Man kann also die Zustimmung des Volks als gesellschaftliche Bedingung und Verfassungsvoraussetzung im Sinne von Herbert Krüger bezeichnen1108. Darunter zu verstehen ist also eine der Verfassung zwar zugrunde liegende, jedoch von ihr selbst nicht geregelte Struktur, die Einfluss auf den dogmatischen Gehalt des Verfassungsrechts nehmen kann1109. Die Figur der verfassunggebenden Gewalt dient in diesem Geflecht neben der Unterscheidung von Verfassungsrecht und einfachem Gesetz und der Erhaltung einer stetigen verfassungspolitischen Diskussion insbesondere der Linderung des Widerspruchs zwischen dem Primat einer Befugnis und deren Rechtfertigung durch außer „ihrer selbst liegende Gründe“ 1110. Wenngleich sie insofern die Gefahr innehat, zu einer bloßen „Ideologie“ zu verkommen, ist sie aus diesen Gründen dennoch mangels besserer Alternative unersetzlich1111. (Hrsg.), Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart: neue Folge 1 (1951), S. 198; ähnlich Dreier, Deutschland (Fn. 622), § 1 Rn. 151: „Sie [die Verfassung] kann gerechte politische wie gesellschaftliche Verhältnisse anstreben und Vorkehrungen für deren Realisierung treffen, muss dabei aber stets die pluralistische Vielfalt der Auffassungen und Werthaltungen der Bürger in Rechnung stellen, auf deren Annahme und Akzeptanz sie mehr als auf alles andere angewiesen ist“; ebenso Kirchhof, Identität (Fn. 988), § 21 Rn. 10 a. E. 1105 Möllers, Staat (Fn. 48), S. 200; Isensee, Schlußbestimmung (Fn. 669), § 166 Rn. 46; Roellecke, Gewalt (Fn. 128), S. 152 f., 160 f. 1106 So Kirchhof, Identität (Fn. 988), § 21 Rn. 18, der daher den Bedarf sieht, die Verfassungsordnung über die Binnenverhältnisse im verfassten Staat so zu gestalten, dass die Verfassung größtmögliche Chancen auf Wirkungskraft und -dauer erhält. 1107 So Kirchhof, Identität (Fn. 988), § 21 Rn. 66, der als solche bloß ansprechbaren Geltungsvoraussetzungen etwa eine rechtlich organisierbare Gemeinschaft, eine zur Staatsgewalt formbare Macht, die Verbindlichkeit des Rechts sowie auch die Deutschsprachigkeit von Staatsorganen und Staatsvolk nennt; vgl. auch H. Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: H. Ehmke/J. H. Kaiser/W. A. Kewenig/K. M. Meesen/W. Rüfner (Hrsg.), Festschrift für Ulricht Scheuner zum 70. Geburtstag, 1973, S. 285 ff. 1108 Siehe Krüger, Verfassungsvoraussetzungen (Fn. 1107), S. 285 ff., der als andere Voraussetzungen, das im Grundgesetz zum Ausdruck kommende Menschenbild oder auch Geld nennt (S. 297 ff.); ähnl. Dreier, Deutschland (Fn. 622), § 1 Rn. 151. 1109 So Möllers, Staat (Fn. 48), S. 256 ff., der den Staat als Teil von Krügers Kategorie der Verfassungsvoraussetzung untersucht. 1110 So Roellecke, Gewalt (Fn. 128), S. 934, der diesen Widerspruch als „verhüllte Selbstlegitimation des Rechts“ bezeichnet. 1111 So wiederum Roellecke, Gewalt (Fn. 128), S. 934, der daher die Problematik der Figur der verfassunggebenden Gewalt mit der des Denkens über Gott vergleicht.

248

Kap. 3: Szenarium einer Verfassungneugebung durch das Volk

Anders gewendet können diese vorverfassungsrechtlichen Voraussetzungen jedoch auch als „Kapital“ und „Vertrauensbasis“ des Staats gesehen werden, weil sie den Bürgern die Freiheit vermitteln, persönliche, gesellschaftliche und religiöse Werte zu entwickeln beziehungsweise zu verändern1112 und in das staatliche Gebilde und Rechtsmedium Verfassung einfließen zu lassen. Ohne diese Voraussetzungen verliert die Verfassung ihre Funktionalität1113. Kirchhof fasst dieses sinngemäß in der Aussage zusammen, dass der Staat von den Voraussetzungen lebt, die er zwar „nicht vollständig garantieren kann“, aber weitgehend „mitverantwortet“ und die „von ihm selbst – auch in der Verfassung – gepflegt werden müssen“ 1114. Es ist unter anderem diese Nichtidentität von Staat und Gesellschaft1115, welche einen stetigen Zwang zur Rechtfertigung des staatlichen Gefüges und dessen Rechtssystems vor der Akzeptanz seiner Bürger verursacht1116. Die außerrechtliche Bedingtheit des Staats erfordert letzten Endes eine ständig erneuerte Legitimation staatlichen Handelns durch tatsächliche gesellschaftliche Akzeptanz und vermeidet dadurch als fortwährender Prozess einen bloß starren Verweis der verfassten Staatsgewalt auf Hoheitsmacht und Gebräuche1117. 2. Historische Skizze der Frage nach Verfassungsvoraussetzungen Die Frage nach den Prämissen einer geschriebenen Verfassung sowie nach den Wechselwirkungen zwischen diesen Verfassungsvoraussetzungen und dem Verfassungsrecht selbst ist nicht erst im Zuge der Ausarbeitung des Bonner Grund-

1112 So ausdrücklich Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 875; ähnlich Möllers, Staat (Fn. 48), Einleitung, S. XLV, der die Normativität einer modernen Verfassung in der Organisation gesellschaftlichen Wandels, nicht aber in dessen Verhinderung sieht; grundlegend dazu H. Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? Fünf Kapitel zum modernen Verfassungsstaat, Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 2009. 1113 Krüger, Verfassungsvoraussetzungen (Fn. 1107), S. 291 ff.; Möllers, Staat (Fn. 48), S. 257. 1114 So wiederum Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 875 mit einschläg. Verweis auf P. Kirchhof, Freiheit in der Gemeinsamkeit der Werte, in: FAZ v. 22.5.1999, S. 8; vgl. auch ders., Identität (Fn. 988), § 21 Rn. 66 sowie bereits E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 2006, S. 92 (111 ff.). 1115 E.-W. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders., Recht (Fn. 1114), S. 209 ff.; C. Möllers, Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik, 2008, S. 47 ff.; Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 874. 1116 So Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 874, der in der Annahme von Identität oder Trennung beider Sphären gleichsam eine „Weichenstellung mit eklatant divergierenden Rechtsfolgen“ sieht. 1117 So wiederum Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 874, der diese Gegebenheit der „Unabgeschlossenheit“ als „Bauprinzip des Staates“ bezeichnet.

I. Einleitung: Verfassungsvoraussetzungen und -aporie

249

gesetzes thematisiert worden1118. Bereits zur Zeit des Vormärzes hat sie Niederschlag in der Literatur gefunden1119: Damals argumentiert v. Eichendorff, dass das organisch gewachsene Gesetzesrecht als lebendige, progressive Bewegung Ausdruck des historischen „Ineinanderlebens“ von König und Volk zu einem untrennbaren Ganzen sei und damit die einfachste und kräftigste Garantie für den Bestand der staatlichen Institutionen und Rechte. Die Verfassung sei in der gemeinsamen Moral der Staatsbürger ausgedrückt und verwirkliche sich durch die praktische Befolgung dieser Vorstellung – ein geschriebenes Regelungswerk sei daher nicht unbedingt notwendig. Sie könne diese Moralverwirklichung als „künstliche Konstruktion“ mitunter sogar behindern1120. Dass das dualistische „Ineinanderleben“ von König und Volk(svertretung) – insbesondere in Fragen der Machtverteilung – jedoch begrenzt und ein (lückenloses) geschriebenes Regelwerk durchaus von Vorteil war, sollte sich nicht zuletzt im späteren „Preußischen Verfassungskonflikt“ 1121 zeigen. 1118 Einen instruktiven Überblick über die historische Behandlung der „Verfassungsvoraussetzungen vom Vormärz bis zum Grundgesetz“ gibt der Beitrag von Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 869 (870 ff.), der der vorliegenden historischen Skizze als Grundlage diente. 1119 Roellecke, Gewalt (Fn. 128), S. 929 ff. 1120 J. v. Eichendorff, Preußen und die Verfassungsfrage, in: W. Frühwald/B. Schillbach/H. Schultz (Hrsg.), Werke in sechs Bänden, Bd. 5, Adel und Revolution – Autobiographische Dichtungen, Historische und politische Schriften, 1993, S. 599 (644). 1121 Der sog. Preußische Verfassungskonflikt (auch als preuß. Verfassungs- oder Heereskonflikt bezeichnet) stellt einen der bekanntesten, in den Jahren 1862–1866 ausgetragenen Konflikt zwischen königlicher Regierung und Parlament dar, der anschaulich die Grenzen des dualistischen Konstitutionalismus aufzeigte (so H. Dreier, Der Kampf um das Budgetrecht als Kampf um die staatliche Steuerungsherrschaft – Zur Entwicklung des modernen Haushaltsrechts, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann [Hrsg.], Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, 1998, S. 59 [60 ff.]; Frotscher/ Pieroth, Verfassungsgeschichte [Fn. 570], Rn. 387 ff.). Sachlich wurde er durch eine Reform des preußischen Heers (unter anderem Aufstockung der Truppenstärke) ausgelöst, entwickelte sich anhand der auftretenden Finanzierungsfragen zu einem Konflikt um die verfassungsrechtliche Budgethoheit zwischen König und Parlament und eskalierte in einem Konflikt um die Verfassung selbst. Konkret stand der anf. Prinzregent und spätere König Wilhelm I. mit seinen Reformplänen dem liberaldominierten Abgeordnetenhaus gegenüber, welches der Feststellung des budgetrechtlichen Etats durch Gesetz hätte zustimmen müssen (vgl. Art. 99, 62 der preuß. Verfassungsurkunde v. 1850), dieses jedoch – auch nach zwischenzeitlicher Auflösung des Abgeordnetenhauses und durchgeführten Neuwahlen – verweigerte. Da die Verfassung nicht regelte, was im Falle einer Uneinigkeit zwischen Kabinett und Parlament passieren sollte, umging der König respektive sein zwischenzeitlich berufener Ministerpräsident Bismarck einen königlichen Rücktritt dadurch, dass er die Führung eines budgetlosen Regiments durch eine Lücke in der damaligen preußischen Verfassung rechtfertigte, die durch Entscheidung des Königs (als Mittelpunkt aller Staatsgewalt) geschlossen werden könne (sog. Lückentheorie; dazu H.-C. Kraus, Ursprung und Genese der Lückentheorie im preußischen Verfassungskonflikt, in: der Staat 29 [1990], S. 209 ff.). Das eigentliche politische Ende (nicht jedoch die verfassungsrechtl. Lösung) erlebte der Konflikt im Jahr 1866 damit, dass der rechte Teil der Liberalen eine neue Partei gründete und das „Indemnitätsgesetz“ Bismarcks (das sein Vorgehen nachträglich legimierte/bestätigte) an-

250

Kap. 3: Szenarium einer Verfassungneugebung durch das Volk

Auch zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung wird die Frage nach Voraussetzungen und Regelungsvermögen einer Verfassung thematisiert1122. So charakterisiert Anschütz die Verfassung als stets abhängig von den Vorbedingungen im Staat, insbesondere von den Personen, die Verfassungsinstitutionen verkörpern und greifbar machen. Die Staatsprinzipien von Demokratie und Unitarismus (als gegensätzliches Prinzip zum Föderalismus) seien zudem von der Gesinnung des Volks abhängig und somit verfassungsrechtlich schlicht nicht zu garantieren1123. Die Verantwortlichkeit des Volks für den Staat als grundlegende Tugend mache das Wesen der Demokratie aus1124. Geänderte Wertvorstellungen in der Bevölkerung würden sich als Verfassungswandel1125 auch ohne Veränderung des Wortlauts auf den Bedeutungsgehalt des Verfassungstextes auswirken1126. Die Staatsgewalt sei der Volkswille1127, der Staat werde durch das Volk repräsentiert, nicht etwa umgekehrt. Gleichsinnig formuliert Heller, dass die tatsächlichen Machtverhältnisse Gegenstand ständiger Bewegung seien und eine Verfassung als menschliche Organisation dadurch bestehe, dass sie immer von Neuem entstehe1128. Jede Verfassunggebung setze ein verfassunggebendes Subjekt – den pouvoir constituant – voraus, das als solches nur eine Entscheidungs- und wirkungsfähige Willenseinheit sein könne1129. Diese verfassunggebende Gewalt werde durch denjenigen politischen Willen verkörpert, dessen „Macht und Autorität“ imstande sei, die Existenz der politischen Einheit im Ganzen zu bestimmen1130. Die rechtlich normierte Verfasnahm; zum Ganzen ferner F. Löwenthal, Der preußische Verfassungsstreit 1862–1866, 1914; B. Hoppe, Der preußische Verfassungskonflikt von 1862–1866, in: JA 1993, S. 146; inh. Bezug zum Konflikt wiederum bei Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 869 (870 f.). 1122 Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 869 (871). 1123 G. Anschütz, Die drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung. Rede, gehalten bei der Jahresfeier der Universität Heidelberg am 22. November 1922, 1923, S. 19. Dazu H. Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, in: Rechtswissenschaft (1) 2010, S. 11 (30); Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 870. 1124 Anschütz, Leitgedanken (Fn. 1123), S. 31. 1125 Zum Verhältnis dieses Terminus zu Georg Jellineks Konzeption der „Verfassungswandlung“ siehe Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 871. 1126 Anschütz, Leitgedanken (Fn. 1123), S. 20. 1127 Anschütz, Leitgedanken (Fn. 1123), S. 31. 1128 H. Heller, Staatslehre – In der Bearbeitung von Gerhart Niemeyer, 6. Aufl. 1983, S. 282 f. („Als politischer Seinszustand, als die konkrete Ordnung und Form, ist die Verfassung nur dadurch möglich, daß die Beteiligten ihr einmal erreichtes oder künftig neu zu gestaltendes In-Ordnung- und in-Form-Sein als ein gesolltes Sein festhalten und neu oder anders aktualisieren“); inhaltl. Bezug zu Hermann Heller samt vorstehendem Zitat ebenso bei Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 869 (872). 1129 Heller, Staatslehre (Fn. 1128), S. 313. 1130 Heller, Staatslehre (Fn. 1128), S. 314; zur Einheit des Rechtssystems als Ausdruck eines souveränen Staatswillens ders., Die Souveränität – Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts, 1927, S. 88 f.

I. Einleitung: Verfassungsvoraussetzungen und -aporie

251

sung bestehe niemals bloß aus staatlich autorisierten Rechtssätzen, sondern bedürfe zu ihrer Geltung immer der „Ergänzung durch die nicht normierten und durch die außerrechtlich normierten Verfassungselemente“ 1131. Die Legitimität einer Verfassung als „gesellschaftliche Wirklichkeit“ liegt für Heller nicht in ihrem Zustandekommen nach vorher geltenden positiven Rechtssätzen, sondern in ihrer Rechtfertigung an sittlichen Rechtsgrundsätzen1132. Ab der Mitte des vorherigen Jahrhunderts etabliert Böckenförde die Vorstellung eines Paradoxons1133 als Preis eines freiheitlichen Staats: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von den Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne1134. Diese seien die Moralität des Einzelnen und dessen Selbstregulierung, Antriebe und Bindungskräfte, welche aus religiösem Glauben als verbindlich erfahren würden1135. Dass solche religiösen Wert- und Moralvorstellungen in der heutigen, multireligiösen und -kulturellen, teilweise atheistischen Gesellschaft nicht einheitlich ausfallen und daher veränderte Voraussetzungen für Verfassungsleben und -wandel darstellten, liege auf der Hand. Dreier beschreibt die Aporie der Verfassung durch deren Bezeichnung als eine „riskante Ordnung“ 1136. Jede Verfassung beinhalte das „Gefahrenpotential exogener Bedingtheit“ 1137. Im Kontext der Systemtheorie begreift Luhmann das (Verfassungs-)recht schließlich als Subsystem der Gesellschaft, welches zwingend von Vorbedingungen, beispielsweise einem gesicherten Frieden, abhängig sei, um als geschlossenes Subsystem angesehen werden zu können und zu funktionieren1138. 3. Fazit in Bezug auf Art. 146 GG Festzuhalten bleibt nach allen Ansätzen jedenfalls die Existenz eines steten Spannungsverhältnisses zwischen rechtlicher Gewährung von Freiheit einerseits und Stabilisierungsfunktion des Rechts andererseits1139. Festzuhalten bleibt aber 1131

Heller, Staatslehre (Fn. 1128), S. 288. So Heller, Staatslehre (Fn. 1128), S. 282 f., 314, der ausführt, dass eine verfassunggebende Macht, die mit den für die Machtstruktur ausschlaggebenden Gesellschaftsschichten nicht durch gemeinsame Rechtsgrundsätze verbunden sei, weder Macht noch Autorität und somit keine Existenz habe. 1133 Darauf Bezug nehmend Möllers, Staat (Fn. 48), S. 271; ausführlich Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 873 f. 1134 E.-W. Böckenförde, Entstehung (Fn. 1114), S. 112. 1135 Böckenförde, Entstehung (Fn. 1114), S. 113. 1136 Dreier, Verfassungsstaat (Fn. 1123), S. 11 ff. 1137 So mit Bezug auf Dreier ausdrücklich Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 874. 1138 Wiederum Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 874 mit Bezug auf N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1. Aufl. 1995, S. 281 ff. 1139 So Schröder, Staat (Fn. 1103), S. 874. Er vergleicht vor diesem Hintergrund den freiheitlichen Rechtsstaat mit einem stets andauernden Experiment, in ausdrücklicher 1132

252

Kap. 3: Szenarium einer Verfassungneugebung durch das Volk

auch, dass Art. 146 GG nicht die Legitimität und Geltung des bisherigen Grundgesetzes regelt – und dies auch nicht kann – sondern die einer das Grundgesetz ablösenden Nachfolgeverfassung, indem er für die Entstehung einer nachfolgenden Verfassung die Bedingungen von Freiheit und Demokratie beansprucht1140. Aus Vorgesagtem erklärt sich die Schwierigkeit, die in der verfassungsimmanenten Regelung der verfassunggebenden Gewalt als Vorvoraussetzung einer jeden Verfassung liegt. Sie verleiht dieser außerrechtlichen, verfassungstheoretischen Lehre einen normativen Anknüpfungspunkt und lässt sie damit zu einer verfassungsrechtlichen Fragestellung werden1141. Die verfassungsrechtliche Behandlung extrakonstitutioneller Gegebenheiten birgt jedoch neue Fragestellungen, insbesondere wenn dies mittels einer so knappen Regelung wie Art. 146 GG geschieht. Zwei dieser Fragen werden nachfolgend erörtert. Sie betreffen die Aktivierung der verfassunggebenden Gewalt (1.) sowie die konkret zu stellenden Anforderungen an den Vorgang der Verfassunggebung (2).

II. Prozedurale Ausgestaltung der Verfassunggebung Im Gegensatz zu Art. 146 GG a. F., der die Wiedervereinigung Deutschlands als tatbestandliche Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Verfassunggebung vorsah, enthält Art. 146 GG in heutiger Fassung keinerlei Bedingungen für diesen Schritt1142. Auch nach Wegfall der Wiedervereinigungsbedingung bleibt also die Frage ungeklärt, wie konkret die Prozedur einer Verfassunggebung „durch das Volk“ aussehen soll.

Anlehnung an die Bezeichnung Renans von Demokratie als „tagtäglichem Plebiszit“ (vgl. E. Renan, Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne, dt. Übersetzung, 1996, S. 35 f., welcher in dieser Rede zur Frage nach dem Wesen einer Nation ausführte, dass die Nation als Solidar- und zugleich Opfergemeinschaft eine gemeinsame Vergangenheit der Angehörigen und deren täglich geäußerten Wunsch der gemeinsamen Fortsetzung des Lebens in der Nation voraussetze und damit in seinem Nationenverständnis [wenn auch rudimentär] von dem, was heute als „Volkssouveränität“ bezeichnet wird, ausging); dazu Grefrath, Exposé (Fn. 34), S. 237 f.; zur Figur des plebiscite de tous les jours als Vehikel zur nachträglichen Legitimation des Grundgesetzes vgl. von Campenhausen/Unruh (Fn. 704), Art. 146 Rn. 22; Dreier (Fn. 670), Art. 146 Rn. 45; Isensee, Staatseinheit (Fn. 785), S. 52 f.; ablehnend Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 194, der eine nachträgliche Legitimation deswegen ausschließt, weil das Volk bei der Anwendung des Grundgesetzes stets nur als pouvoir constitué, nicht jedoch als pouvoir constituant auftrete. 1140 Möllers, Staat (Fn. 48), S. 200 f.; Kirchhof, Identität (Fn. 988), § 21 Rn. 31. 1141 Möllers, Staat (Fn. 48), S. 201; F. Müller, Fragment (über) verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995, S. 85 f. 1142 Dies betonend Dreier (Fn. 670), Art. 146 Rn. 53; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 195 sowie Speckmaier (Fn. 977), Art. 146 Rn. 18.

II. Prozedurale Ausgestaltung der Verfassunggebung

253

1. Offener Wortlaut von Art. 146 GG Ausgangspunkt aller Fragen in Bezug auf die Prozedur einer Verfassungneugebung ist der Wortlaut von Art. 146 GG. Abgesehen von dem Erfordernis einer freien Entscheidung des deutschen Volks sagt er nichts über das Verfahren des Zustandekommens einer neuen Verfassung aus1143. War dieser knappe Wortlaut in Art. 146 GG a. F. wenig erstaunlich – es hätte befremdlich gewirkt, wenn das Grundgesetz seine eigene Ablösung im Vorhinein prozedural detailliert geregelt hätte – so droht durch dessen Beibehaltung in Art. 146 GG n. F. die Gefahr der Rechtsunsicherheit oder sogar der Beliebigkeit1144. Im Unterschied zur Ausgestaltung der Verfassungsänderung in Art. 79 Abs. 2 GG legt Art. 146 GG keine konkreten Verfahrensregeln für die Verfassungsablösung fest1145 und lässt durch seine offene Formulierung beispielsweise neben einer repräsentativen Ausgestaltung der Verfassunggebung eine solche durch Volksabstimmung zu. Auch ein konkret erforderliches Quorum, um das Verfahren der Verfassunggebung in Gang zu bringen oder die neue Verfassung zu beschließen, lässt sich dem Wortlaut nicht entnehmen1146. Insbesondere ist keine dem Art. 79 Abs. 2 GG vergleichbare Zweidrittelmehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften gefordert. Theoretisch denkbar ist daher auch eine Entscheidung mit einfacher Mehrheit als demokratisches Minimum. Als konkrete Optionen der Verfassungsablösung sind ein Verfassungsreferendum oder eine volksgewählte Versammlung denkbar. Die These, dass die Entscheidung über eine neue Verfassung selbst alternativlos durch einen Volksentscheid vorgesehen ist oder sogar geschehen muss, wird jedoch auch angezweifelt1147.

1143 Dazu bereits Blumenwitz, Deutschland (Fn. 788), S. 15; Sachs, Grundgesetz (Fn. 900), S. 990 sowie Dreier (Fn. 670), Art. 146 Rn. 53, der einen „Fahrplan“ bzw. (in Anlehnung an Wahl, Verfassungsfrage [Fn. 788], S. 478 f.) ein „,allgemeingültiges Schnittmuster‘ für die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt“ vermisst; ebenso Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 198 („prozedurales Defizit“), der die ausdr. Verfahrensregelung für Totalrevisionen in Art. 118 der Schweizer Bundesverfassung gegenüberstellt. 1144 Erstere Feststellung bei Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 442; ebenso bei Isensee, Schlußbestimmung (Fn. 669), § 166 Rn. 55 und Lerche, Auftrag (Fn. 732), S. 305, die darüber hinaus die genannten Nachteile des knappen Wortlauts aufzeigen. 1145 von Campenhausen/Unruh (Fn. 704), Art. 146 Rn. 23 f.; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 197 ff.; Stern, Charakter (Fn. 866), S. 293; zur ähnlichen Situation bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Referendums auf Grundlage der Bayerischen Verfassung und deren Schweigen als Interpretationsgegenstand siehe das Gutachten von J. Isensee, Verfassungsreferendum mit einfacher Mehrheit – Der Volksentscheid zur Abschaffung des Bayerischen Senats als Paradigma, 1999, S. 48 ff. 1146 So bereits Stern, Wiederherstellung (Fn. 788), S. 48 f. 1147 So z. B. Hefty, Verfassung (Fn. 1161), S. 10.

254

Kap. 3: Szenarium einer Verfassungneugebung durch das Volk

2. Fragen im Zusammenhang mit der Aktivierung des pouvoir constituant Auf erster Stufe stellt sich bereits verfassungstheoretisch die Frage, wie die verfassunggebende Gewalt überhaupt aus der grundgesetzlichen Ordnung heraus aktiviert werden soll (b)1148 und wem ein solches Initiativrecht zustehen kann (a). a) Inhaber des Rechts zur Aktivierung des pouvoir constituant Angesichts des Wortlauts von Art. 146 GG, der die Entscheidung über die Verfassunggebung dem „Volk“ vorbehält, erscheint es auf den ersten Blick legitim, die Aktivierung des pouvoir constituant einer Entscheidung der das Volk repräsentierenden Verfassungsorgane im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG zu unterstellen. Führt man sich jedoch vor Augen, dass bereits die Frage der Aktivierung des pouvoir constituant mit dem Ziel der Verfassungneugebung selbst eine materiell verfassunggebende Entscheidung darstellt, so muss das Recht zur Aktivierung des pouvoir constituant konsequenterweise ebenfalls bei diesem verortet werden1149. Träger des Rechts zur Entscheidung über die Einleitung des Ablöseverfahrens ist damit unmittelbar das deutsche Volk selbst. Dies dürfte auch der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts entsprechen, das Art. 146 GG als Bestätigung des „vorverfassungsrechtliche[n] Recht[s]“ sieht, „sich eine Verfassung zu geben, aus der die verfasste Gewalt hervorgeht und an die sie gebunden ist“ 1150. Denn aus dieser Annahme folgt, dass Art. 146 GG das Recht auf Verfassunggebung nicht selbst begründet, sondern die Aktivierung und Ausübung dieses präkonstitutionellen Rechts nur unter bestimmten Voraussetzungen als mit der scheidenden Verfassungsordnung vereinbar erklärt1151. Die Orientierung am Wortlaut von Art. 146 GG, der eine Entscheidung des deutschen Volks erfordert, spricht zudem dafür, die erstmalige Initiative für eine Verfassunggebung einem Verfahren zu unterwerfen, welches das Volk als Inhaber des Rechts auf Verfassunggebung unmittelbar beteiligt1152. Danach wäre also ein initiierendes Verfahren

1148 Die vereinzelt vertretene These, dass Art. 5 des Einigungsvertrags den „gesetzgebenden Körperschaften“ die Aktivierung der verfassunggebenden Gewalt zusprach und damit die fehlende Regelung in Art. 146 GG ausfülle, wird zu Recht und insbesondere mit Hinweis auf den Empfehlungscharakter dieser Passage des Einigungsvertrags abgelehnt, siehe Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 198 f. 1149 Murswiek, Gewalt (Fn. 722), S. 132; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 199 f. 1150 BVerfGE 123, 267 (332). 1151 So zuvor schon Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 200. 1152 I. E. ebenso Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität (Fn. 8), S. 876, die Art. 79 Abs. 3 GG ein Verbot für die verfasste Staatsgewalt – also die deutschen Staatsorgane – entnehmen, sich an diesem Schritt zu beteiligten oder sogar die Initiative hierzu zu ergreifen; Thym, Integration (Fn. 34), S. 566 hält dagegen, dass schon das Grundgesetz

II. Prozedurale Ausgestaltung der Verfassunggebung

255

durch die das Volk vertretenden Bundesorgane unzulässig, es blieben die Verfahrensformen einer Volksabstimmung oder der Wahl einer verfassunggebenden Versammlung1153, welche über die Einleitung des Verfassunggebungsprozesses entscheidet. b) Ausübung des Aktivierungsrechts Da Art. 146 GG auch zu der Frage, wie die Entscheidung über das „Ob“ der Verfassunggebung zu treffen ist, keine Regelung trifft, wird teilweise auf allgemeine Legitimitätsanforderungen zurückgegriffen1154. Überwiegend werden die konkreten Verfahrensmodelle einer verfassunggebenden Nationalversammlung und einer Volksabstimmung befürwortet1155. Beide Modelle sind denkbare Alternativen in einem Konflikt, der zwischen organisatorisch noch handhabbarem Entscheidungsverfahren durch die Repräsentation des Volkswillens in einer Versammlung auf der einen und ungeschmälerter Legitimität durch unmittelbare Demokratie per Volksentscheid auf der anderen Seite besteht. Die Frage danach, wer die Verfahrensrechte konkret gesetzlich ausgestalten darf, ist mit einem ähnlichen Problem verknüpft. Denn auf der einen Seite lässt das Grundgesetz nicht zu, dass die deutschen Staatsorgane sich zur verfassunggebenden Gewalt aufschwingen, indem sie selbst die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Akts der Verfassunggebung vornehmen und dadurch in gewissem Umfang auch Einfluss auf dessen Inhalt nehmen können1156. Auf der anderen Seite spricht einiges dafür, die Aktivierung des pouvoir constituant aufgrund der intendierten Überwindung von Art. 79 Abs. 3 GG strengeren prozeduralen Anforderungen zu unterwerfen als denen eines demokratisch unmittelbar legitimierten, verfassungsändernden Volksentscheids, welcher nach einer solchen, auf erster Stufe stehenden Verfassungsänderung denkbar wäre. Das Vakuum, das mangels Regelung dieser Fragen im Schlussartikel des Grundgesetzes besteht, bietet naturgemäß Nährboden für die Lehre von der Freiheit der verfassunggebenden Gewalt unabhängig von Art. 146 GG voraussetze, vgl. BVerfGE 1, 14 (61 f.) – Südweststaat. 1153 von Campenhausen/Unruh (Fn. 704), Art. 146 Rn. 23; Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 52; Jarass (Fn. 138), Art. 146 Rn. 3; Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 258; a. A. Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 112 ff.; Thym, Integration (Fn. 34), S. 566, die offenbar auch eine repräsente Initiative durch die Verfassungsorgane für zulässig halten. 1154 So unter anderem Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 88 f. mit Verweis auf Murswiek, Gewalt (Fn. 722), S. 125 ff.; Steiner, Verfassunggebung (Fn. 861), S. 106. 1155 Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 88. 1156 Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 18; ähnlich streng Herbst, Volksabstimmung (Fn. 717), S. 30, der eine Verfassunggebung durch das Volk als Ausnahme für den „äußersten Notfall“ ansieht und daher eine deutliche Preisgabe der Bindungswirkung der bisherigen Verfassung für erforderlich hält. Diese kann nach seiner Ansicht nicht in Gestalt eines Gesetzesbeschlusses erfolgen, „der sich allein durch das Erreichen besonderer Mehrheiten oder durch ein plebiszitäres Verfahren“ auszeichnet.

256

Kap. 3: Szenarium einer Verfassungneugebung durch das Volk

zahlreiche Theorien, wie genau die verfassunggebende Gewalt des Volks aktiviert und gehandhabt werden sollte. Colorandi causa seien einzelne dieser Interpretationen aufgeführt. Huber etwa sieht es als notwendig an, zunächst eine Verfassungsänderung im Verfahren gemäß Art. 79 Abs. 1 und 2 GG durchzuführen, welche wiederum das darauffolgende Verfahren der eigentlichen Verfassungsablösung festlegt1157. Dies folge aus der Tatsache, dass Art. 146 GG die Verfassungsablösung aus der grundgesetzlichen Ordnung heraus regle und nur diese regeln könne1158. Auch Bartlsperger nimmt an, dass ein sich außerhalb der Verfassung bewegender (also „extrakonstitutioneller“) Vorgang der Neukonstituierung durch Volksabstimmung wesentlich auf repräsentative Elemente bei der Entscheidungsvorbereitung angewiesen wäre, wenn auch ohne Verfassungsänderung1159. Bundestag und Bundesrat wären demnach in der Pflicht, eine Volksabstimmung anzuordnen1160. Hefty stellt darüber hinaus als konkrete Optionen sowohl ein aktivierendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts als auch ein Initiativrecht der Bundesregierung oder eine Unterschriftensammlung des Volks in den Raum1161. Maurer schließlich hält die verfassunggebende Gewalt an sich für „nicht beliebig abrufbar“ 1162, insbesondere nicht in politisch zweckmäßigen Situationen, sondern setzt eine spezielle, die verfassungsrechtliche Neuordnung erfordernde und legitimierende Situation voraus. Mangels irgendeiner prozeduralen Vorgabe des Grundgesetzes ist die Frage der Aktivierung des pouvoir constituant wohl keine, die in den Kategorien richtig und falsch zu fassen ist. Eines ist jedoch festzuhalten: Wenn nach der hier vertretenen Ansicht die Entscheidung über die Initiative zur Verfassunggebung unmittelbar dem gesamten Volk zusteht, so folgt daraus, dass diese Entscheidung nicht nur von wenigen Einzelnen oder von Teilen des Volks getroffen werden kann, sondern dass diese mindestens von der absoluten Mehrheit aller deutschen Staats1157 Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 15 f.; ebenso schon Heckmann, Element (Fn. 853), S. 28; zuletzt Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 259; a. A. Baldus, Volk (Fn. 1088), S. 435, der ein einfaches Bundesgesetz als ausreichend erachtet, welches die Durchführung der Verfassunggebung durch das Volk regelt, sowie Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 214. 1158 Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 15 f. 1159 Bartlsperger, Verfassung (Fn. 780), S. 1301; Winkler, Illusion (Fn. 729), S. 48. 1160 So wohl Winkler, Illusion (Fn. 729), S. 48, der Bundestag und Bundesrat in der Pflicht sieht, die „notwendigen Vorbereitungen“ für die Entscheidung des deutschen Volks gemäß Art. 146 GG bereits jetzt zu treffen; ebenso Kahl/Glaser, Nicht (Fn. 642), S. 8, die Bundestag und Bundesrat als zuständig und fähig erachten, eine solche Volksabstimmung anzuordnen. 1161 G. P. Hefty, Eine neue Verfassung? Nachdenken über die Folgen der verfassungsrichterlichen Bedenken, in: FAZ v. 24.10.2011, S. 10. 1162 Maurer, Staatsrecht (Fn. 177), S. 743.

II. Prozedurale Ausgestaltung der Verfassunggebung

257

bürger getroffen werden muss1163. Problematisch erscheint hierbei, dass die Entscheidung über die Einleitung des Verfahrens zur Verfassunggebung, welche in der Theorie vom gesamten Volk getroffen werden müsste, in der Praxis schwerlich ohne Repräsentation durch die Verfassungsorgane getroffen werden kann1164. Denkbar ist allenfalls eine Initiative zur Verfassunggebung aus der Mitte des Volks, etwa die Bildung eines Verfassungsrats, der eigenständig eine Verfassung ausarbeitet und dem Volk anschließend zur Abstimmung vorlegt1165. Der Erfolg einer solchen Initiative wäre jedoch – neben der erforderlichen Zustimmung zu der erarbeiteten Verfassung durch die Mehrheit des Volks – maßgeblich durch die ausreichende Publizierung eines solchen Vorgehens bedingt, die zu Recht als praktisch sehr hohe Hürde angesehen wird1166. Somit wäre das deutsche Volk de facto doch auf die (treuhänderische) Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat angewiesen, denen als politische Plenen eine ausreichende Publizität ohne weiteres zuteil wird. Ebenso wie das Volk selbst bei der eigentlichen Verfassunggebung können auch die Verfassungsorgane bei Ausübung des Initiativrechts richtigerweise nicht an Art. 79 Abs. 3 GG gebunden sein, da dieser Schritt lediglich vorbereitende Handlungen eines das Grundgesetz ablösenden Verfassungsbeschlusses in Gang setzt und Art. 146 GG in diesem Fall auch die verfassten Gewalten zur Vorbereitung seiner eigenen Ablösung ermächtigt1167. Daraus folgt 1163

Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 199 f. So Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 201, der zutreffend konstatiert, dass jede Entscheidung des pouvoir constituant über die eigene Organisation bereits dessen Organisation voraussetzt und dafür die Möglichkeit zur Äußerung der verfassunggebenden Gewalt des Volks durch ein treuhänderisch agierendes Hilfsorgan ins Auge fasst. 1165 Ausf. zu dieser Vorgehensweise Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 202 f., der als Beispiel einer treuhänderischen Verfassungsinitiative aus der Mitte des Volks das „Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder“ von 1990 anführt; Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 112 f. sowie Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 53, der als „Anhaltspunkt“ Art. 115 der Verfassung des Landes Brandenburg (BbgVerf.) nennt. Dieser regelt, dass auf Initiative des Volks oder durch einen Beschluss des Landtags hin eine verfassunggebende Versammlung eine neue Verfassung mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer Mitglieder beschließen kann, wenn in einem Volksentscheid die Mehrheit der Abstimmenden der neuen Verfassung zugestimmt hat. 1166 So wiederum Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 203, der zur Steigerung der Erfolgschancen eines solchen selbsternannten Verfassungsrats vorschlägt, diesen durch Mitglieder zu besetzen, welche im Volk einen möglichst hohen Grad an Autorität genießen. 1167 So zu Art. 146 GG a. F. bereits Huba, Wege (Fn. 773), S. 292; Klein, Schwelle (Fn. 791), S. 1069 („Auch wenn das Grundgesetz nicht vorher außer Kraft tritt, vermag es hinsichtlich des Weges zur Herstellung der Gesamtstaatlichkeit seine Stringenz nicht voll zu wahren“); Mahrenholz, Verfassung (Fn. 924), S. 41; ebenso zu Art. 146 GG n. F. Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 207 ff., der darüber hinaus anführt, dass anderenfalls eine mittelbare Bindung des pouvoir constituant an Art. 79 Abs. 3 GG entstehen könnte, wenn ein Verfassungsentwurf im Bundestag selbst ausgearbeitet würde und anschließend dem Volk selbst nur noch zur Abstimmung vorgelegt würde; a. A. noch zu 1164

258

Kap. 3: Szenarium einer Verfassungneugebung durch das Volk

ferner, dass entgegen zuvor geäußerten Ansichten eine Grundgesetzänderung nach Maßgabe von Art. 79 Abs. 2 und 3 GG zur Konkretisierung des Verfahrens der Verfassungsablösung nicht erforderlich ist. Zu Recht ist solchen Aussagen entgegengehalten worden, dass der Bundestag bei einem Beschluss zur Einsetzung eines Verfassungsrats oder bei der Verabschiedung eines Gesetzes zur Regelung der Wahl einer verfassunggebenden Versammlung gerade nicht auf Grundlage des Grundgesetzes und des darin enthaltenen Kompetenzkatalogs, sondern treuhänderisch als Hilfsorgan der extrakonstitutionellen Gewalt tätig wird1168. 3. Das Verfahren der eigentlichen Ablösung des Grundgesetzes Wie die Ablösung des Grundgesetzes selbst prozedural erfolgen kann, wird wiederum unterschiedlich beurteilt. Teilweise wird ein zweistufiges Verfahren als adäquat angesehen, welches auf erster Stufe zwingend einen Volksentscheid voraussetzt, in dem das Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt auf Grundlage von Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG und Art. 146 GG über das „Ob“ einer Verfassungsneuschöpfung zu befinden hat1169. Auf zweiter Stufe wiederum soll es dann möglich sein, die eigentliche Sachentscheidung bezüglich der Aufhebung oder inhaltlichen Abänderung der „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG zu treffen. In welcher Form die Entscheidung auf dieser zweiten Stufe zu treffen ist, ist ebenfalls nicht eindeutig. In Frage kommen hier unter anderem ein zweiter Volksentscheid sowie die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung1170. Bei letzterer Alternative stellt sich die Frage der Zusammensetzung1171. Vorstellbar ist es hinArt. 146 GG a. F. etwa Maunz, Gewalt (Fn. 738), S. 648; Rauschning, Verfassungslage (Fn. 788), S. 402 sowie H.-P. Schneider, Verfassungsänderung oder Verfassunggebung? – Thesen und Nachbemerkung, in: E. Klein (Hrsg.), Verfassungsentwicklung in Deutschland nach der Wiedervereinigung, 1994, S. 37 (38). 1168 So Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 214 f. mit Verweis auf Sterzel, Verfassung (Fn. 865), S. 392 f. Moelle konkretisiert, dass sich der Bundestag in diesem Fall durch Erlass eines Bundesgesetzes lediglich „einer ihm bekannten Handlungsform“ bediene. 1169 So z. B. Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 16 f., der es nur so als gesichert ansieht, dass allein dem deutschen Volk aufgrund seines konstitutionellen Selbstbestimmungsrechts die Frage nach dem „Ob“ und dem „Wie“ der Neugestaltung des Grundgesetzes vorbehalten bleibt; a. A. M. Zuleeg, in: E. Denninger u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2001, Art. 146 Rn. 6, der den Ablauf des Verfahrens als „weitgehend frei“ bezeichnet und ein Referendum darüber, ob das Volk als Verfassunggeber auftreten möchte, nicht ausschließt aber als „unnötig“ ansieht. 1170 P. M. Huber, Die Anforderungen der Europäischen Union an die Reform des Grundgesetzes, in: ThürVBl. 1994, S. 1 (8). 1171 Hefty, Verfassung (Fn. 1161), S. 10 nennt eine Beschickung durch Bundestag und Bundesrat oder durch Delegierte der Bevölkerungen der Bundesländer als potentielle Modelle.

II. Prozedurale Ausgestaltung der Verfassunggebung

259

gegen auch, dass eine vorgelegte Neufassung des Grundgesetzes vom Bundestag oder von einer Art Bundesversammlung lediglich bestätigt wird1172. Tomuschat sieht in der Verfassunggebung „eine Angelegenheit aller Bürger“, welche nicht geheime Prozedur der Regierung sein dürfe, sondern aufgrund des Demokratieprinzips publik und transparent sowohl für die Staatsbürger als auch für die zur Entscheidung berufenen Parlamente sein müsse1173. Richtigerweise kann die Ablösung des Grundgesetzes, ebenso wie die Entscheidung über die Aktivierung der verfassunggebenden Gewalt, nicht ausschließlich in einer direktdemokratischen Volksabstimmung, sondern auch in einem Repräsentativverfahren, etwa durch eine Nationalversammlung erfolgen1174. In letzterer Alternative wählt das Volk eine besondere Vertretung aus den eigenen Reihen, welche den Auftrag erhält, über eine neue Verfassung zu beraten und diese verbindlich zu beschließen1175. Als weiteres, ebenfalls repräsentatives Verfahrensmodell kommt die Einsetzung eines Verfassungskonvents in Betracht, der einen Entwurf einer neuen Verfassung erstellt. Dieser Entwurf wäre wiederum dem gesamten Volk zur Abstimmung vorzulegen1176. 4. Anforderungen an die Durchführung der Verfassunggebung a) Das Erfordernis einer „freien“ Entscheidung Der Wortlaut des Art. 146 GG, welcher eine „freie Entscheidung“ des (deutschen) Volks erfordert, ist im Zusammenhang mit den hierfür bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen zu verstehen und enthält die Aufforderung zu einem freien Nachdenken als Vorstufe der politischen Entscheidung über die Verfassung selbst1177. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bereits im Jahr 1956 im Rah1172

So Hefty, Verfassung (Fn. 1161), S. 10. So in Bezug auf Art. 23 S. 2 GG a. F. Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 87, der in diesem Zusammenhang als mahnende Beispiele den „Moskauer Vertrag“ zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland (v. 12. August 1970) und den „Warschauer Vertrag“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen (v. 7. Dezember 1970) anführt. 1174 Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 52; Merkel, Gewalt (Fn. 927), S. 211 ff.; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 197 f.; Stückrath, Verfassungsablösung (Fn. 712), S. 154 f., 345. 1175 Beschreibung dieser Option bei Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 52, der als Beispiele für diese Vorgehensweise die nach der Märzrevolution durch die Frankfurter Nationalversammlung entworfene Paulskirchenverfassung sowie die Weimarer Reichsverfassung anführt. 1176 So Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 52; Heckel, Legitimation (Fn. 877), § 197 Rn. 77; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 197 f. 1177 So Kirn (Fn. 421), Art. 146 GG Rn. 15. 1173

260

Kap. 3: Szenarium einer Verfassungneugebung durch das Volk

men des KPD-Verbotsverfahrens zur Auslegung des Art. 146 GG a. F. im Hinblick auf das anzuwendende Verfahren geäußert1178. Es sah in Art. 146 GG a. F. nur eine verbindliche Vorgabe verankert, die jedoch das Entscheidungsergebnis beeinflussen könnte: dass die Entscheidung des deutschen Volks über eine neue Verfassung eine „freie“ sein muss, also frei von äußerem und innerem Zwang gefällt werden muss, und dass eine solche „freie Entscheidung“ diese ermöglichende Einrichtungen freiheitlicher Demokratie voraussetzt1179. Daraus lässt sich schließen, dass „ein gewisser Mindeststandard freiheitlich-demokratischer Garantien“ 1180 auch beim Entstehungsprozess der neuen Verfassung gewahrt werden muss. Als konkrete Mindestkriterien für die Einhaltung dieser Vorgabe werden etwa eine freie politische Willensbildung, eine offene Form der Kommunikation sowie das Prinzip der Stimmengleichheit genannt1181. Teilweise werden die Grundsätze der Allgemeinheit, der Freiheit und der Gleichheit der Wahl im Sinne von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG auch für den extrakonstitutionellen Bereich als

1178 BVerfGE 5, 85 – KPD-Verbot. Die KPD hatte damals den Antrag gestellt, das Verfahren gegen sie als grundgesetzwidrig einzustellen, unter anderem weil der ursprüngliche Verfassungsgrundsatz der Verpflichtung zur Wiedervereinigung Deutschlands die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der KPD hindere oder andersherum gewendet, durch ein KPD-Verbot die Wiedervereinigung praktisch verhindert würde. So wurde argumentiert, dass ein Verbot der KPD freie gesamtdeutsche Wahlen, die eine unerlässliche Voraussetzung der Wiedervereinigung Deutschlands seien, unmöglich mache, da ein solches Verbot unter dem Grundgesetz nicht wieder beseitigt werden könne. Denn durch die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG werde eine Aufhebung der Gerichtsentscheidung durch andere Bundesorgane ausgeschlossen und auf die Beseitigungsmöglichkeit durch ein verfassungsänderndes Gesetz beschränkt, welches als „individuell-generelle“ Norm unzulässig sei. Auch bilde ein völkerrechtlicher Vertrag der Besatzungsmächte über die Wiederzulassung der KPD keine geeignete Rechtsgrundlage, da er vor allem den Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung verletze (BVerfGE 5, 85 [125 f.]). Diesem Antrag begegnete das Bundesverfassungsgericht mit einer Auslegung sowohl der Wiedervereinigungspflicht der Präambel in ihrer ursprünglichen Fassung sowie des Art. 146 GG a. F. Dieser lässt sich zudem entnehmen, dass das Gericht nicht von einer Bindung der Verfassungsorgane an Art. 79 Abs. 3 GG bei die Verfassungsablösung vorbereitenden Akten ausging, vgl. BVerfGE 5, 85 (132) sowie den diesbezüglichen Hinweis v. Klein, Schwelle (Fn. 791), S. 1069 sowie Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 209. 1179 BVerfGE 5, 85 (129, 131); Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 49; Kirchhof, Identität (Fn. 988), § 21 Rn. 8 schließt aus dem Wortlaut, dass die Grundprinzipien von Freiheit und Demokratie für die nachfolgende, verfassungsablösende Gewalt gültig und wirksam sind; Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, Grundgesetz (Fn. 366), Art. 146 Rn. 1.1 f. betont, dass die Anforderung einer „freien Entscheidung“ in Art. 146 GG a. F. nicht lediglich auf den Entscheidungsvorgang bezogen war. 1180 BVerfGE 5, 85 (131 f.); dazu Klein, Schwelle (Fn. 791), S. 1069, der jedoch bei der Durchführung der Verfassungsablösung „erheblichen Spielraum“ sieht. 1181 Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 49; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 58 ff.; anders Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 51, der es als wichtigstes Kriterium für die durch Art. 146 GG geforderte Entscheidungsfreiheit ansieht, dass der Einzelne die in der neuen Verfassung enthaltenen Strukturen samt seiner eigenen Stellung darin erkenne.

II. Prozedurale Ausgestaltung der Verfassunggebung

261

Maßstab angelegt1182. Daraus folgt jedoch auch, dass jedenfalls die zuerst erfolgende Abstimmung über die Aktivierung des pouvoir constituant an diese verfassungsrechtliche Festlegung gebunden ist1183. Bezweifelt werden darf etwa, dass mit der Anforderung einer „freie Entscheidung“ eine Teilnahmepflicht an der Volksabstimmung zu vereinbaren ist1184. Teilweise wird das Erfordernis einer „freien“ Entscheidung auch als Bestätigung der Nichtbindung des gemäß Art. 146 GG verfassunggebenden Volks an Art. 79 Abs. 3 GG fruchtbar gemacht1185. b) Das Erfordernis einer Entscheidung „des deutschen Volks“ Die in Art. 146 GG geregelte freie Entscheidung muss durch das deutsche Volk getroffen werden. Ein Stimmrecht für Ausländer besteht insoweit also nicht1186. Der Begriff des „deutschen Volks“ ist freilich nicht in einem ethnischen, sondern im staatsrechtlichen Sinne zu verstehen und besteht damit aus der Summe der deutschen Staatsbürger und der diesen in Art. 116 Abs. 1 GG Gleichgestellten1187. Nur Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG sind daher in einem Entscheidungsverfahren bezüglich des „Ob“ der Verfassungsablösung teilnahme- und stimmberechtigt. Nach affirmativer Beantwortung dieser Frage sind jedoch im weiteren Verfahren solche Beschränkungen nicht mehr auferlegt1188. c) Ausgestaltung der erforderlichen Abstimmungsmehrheiten Überwiegend wird das demokratische Minimum der einfachen Mehrheit in einem Verfahren der Verfassunggebung als ausreichendes Beteiligungsquorum angesehen1189, wobei die gesetzliche Ausgestaltung einer verfassunggebenden Na1182

Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 58; Murswiek, Gewalt (Fn. 722), S. 131; Rauschning, Verfassungslage (Fn. 788), S. 402; zuvor bereits Scheuner, Art. 146 (Fn. 738), S. 582; vgl. auch Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 49. 1183 Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 21. 1184 Die Frage nach der Pflicht stellt z. B. Hefty, Verfassung (Fn. 1161), S. 10. 1185 So etwa Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 50 m.w. N.; Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 258. 1186 Vgl. allgemein zur Ausübung der Staatsgewalt des deutschen Volks bei Wahlen BVerfGE 83, 37 (50; 59). 1187 Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 52 mit Hinweis auf den Begriff des deutschen Volks in S. 3 der Präambel; Kirn (Fn. 421), Art. 146 Rn. 13, 15. 1188 So Huber (Fn. 125), Art. 146 Rn. 22, der darauf hinweist, dass damit aus der Sicht des Grundgesetzes beispielsweise ein europäischer Bundesstaat auch durch eine Wahl auf europäischer Ebene etabliert werden könne, etwa in einem europaweiten Referendum zur Änderung der Europäischen Verträge. 1189 Jarass (Fn. 138), Art. 146 Rn. 4; Moelle, Verfassungsbeschluß (Fn. 781), S. 57; siehe zu Art. 146 GG a. F. bereits Fn. 785; Hefty, Verfassung (Fn. 1161) stellt die Frage,

262

Kap. 3: Szenarium einer Verfassungneugebung durch das Volk

tionalversammlung andere Mehrheitserfordernisse, wie etwa eine Zweidrittelmehrheit, festlegen könnte1190. Die Ausgestaltung der erforderlichen Beteiligungs- und Zustimmungsquoren ist nicht unproblematisch in ihrer Folgenabwägung. So spricht gegen das Zustimmungsquorum der einfachen Mehrheit, dass dadurch die Gefahr besteht, dass hochmotivierte, gut vernetzte privilegierte Minderheiten einen überdurchschnittlich großen Einfluss auf den Ausgang einer Abstimmung haben1191. In der besonderen Situation einer Verfassunggebung durch das Volk ist jedoch auf anderer Seite zu berücksichtigen, dass bei dem Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit die Gefahr einer Pattsituation bei der Abstimmung – und dadurch eines verfassungsrechtlichen Vakuums – entstünde1192. d) Keine zeitliche Befristung des Verfassungneugebungsprozesses Die Vorstellung eines zeitlich unbegrenzten Prozesses der Verfassunggebung wird teilweise kritisch gesehen1193. Nach Aktivierung der verfassunggebenden Gewalt besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis der Rechtssicherheit auf Verfassungsebene durch die zeitnahe Ablösung des Grundgesetzes (welches gerade keine „Verfassung auf Abruf 1194 “ sein soll) und dem Anspruch an die Reife und Qualität einer neuen Verfassung, welche durch eine facettenreiche Gesellschaft mitgestaltet und mitgetragen wird. Auf der einen Seite droht ein ob neben Deutschen i. S. d. Grundgesetzes auch EU-Bürger an der Abstimmung teilnehmen dürften; für einfache Mehrheit auch Speckmaier (Fn. 977), Art. 146 Rn. 28, die jedoch für den zur Abstimmung stehenden Verfassungsentwurf eine inhaltliche Bindung an Art. 79 Abs. 3 GG annimmt. 1190 So in Bezug auf eine diskutierte Verfassunggebung im Zuge der Wiedervereinigung Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 90; Möllers, Staat (Fn. 48), S. 412 bezweifelt generell, dass eine Volksabstimmung – unabhängig von dem darin erreichten Quorum – mehr demokratische Legitimation vermittelt als eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat; allg. zur Problematik F. Meerkamp, Die Quorenfrage im Volksgesetzgebungsverfahren. Bedeutung und Entwicklung, 2011. 1191 Diese Gefahr sieht etwa Winkler, Illusion (Fn. 729), S. 48 im Zusammenhang mit einem aktuellen Antrag des Vorstands der SPD, welcher Volksgesetzgebung durch die Mehrheit der Abstimmenden ermöglicht, wenn sich mindestens ein Fünftel aller Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligen. Falls die Beteiligung nicht höher ist als zwingend erforderlich und die Zahl der Ja-Stimmen, die der Nein-Stimmen knapp überwiegt, hieße das, dass bereits gut ein Zehntel der stimmberechtigten Bürger ein Gesetz herbeiführen könnte. Die weiteren Bedenken Winklers, dass „[. . .] die Initiatoren einer Volksabstimmung manchmal nur des Desinteresses der breiten Mehrheit [bedürfen]“, um Erfolg zu haben, scheinen für eine so basale Frage wie der Verfassungneugebung hingegen nicht übertragbar. 1192 Davor warnt Tomuschat, Wege (Fn. 749), S. 90. 1193 So z. B. Hefty, Verfassung (Fn. 1147), S. 10. 1194 Vgl. dazu H. Dreier, Das Grundgesetz – Verfassung auf Abruf?, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 59 (2009), 18/19, S. 19–26.

II. Prozedurale Ausgestaltung der Verfassunggebung

263

Szenario, in dem die Staatsbürger und -organe Deutschlands über eine unbestimmte Zeit mit der Findung einer neuen Verfassung belastet werden und das Grundgesetz in der Zwischenzeit bedingtes Recht ist. Auf der anderen Seite scheint es nur realistisch, für die Findung einer konsensfähigen Neuverfassung einen möglichst langen Zeitraum zuzugestehen1195. Auch der Wortlaut von Art. 146 GG, der nach wie vor eine „freie“ Entscheidung voraussetzt, spricht für diese Annahme. Eine freie Entscheidung muss auch frei von zeitlichen Vorgaben sein1196. 5. Inhaltliche Ausgestaltung der Neuverfassung Die inhaltliche Neugestaltung einer dem Grundgesetz nachfolgenden Verfassung könnte, gerade im Hinblick auf die verfolgte Gründung eines europäischen Bundesstaats, mit der bloßen Änderung weniger Bestimmungen bei gleichzeitiger Beibehaltung der bisherigen Inhalte auskommen1197. Für diese Alternative spricht nicht zuletzt die Wertschätzung, die dem Grundgesetz als krisenerprobte Rechtsordnung aus der deutschen Bevölkerung entgegengebracht wird. Ungeachtet der durchweg positiven Erfahrungen mit dem als Provisorium gedachten Grundgesetz und dessen jahrzehntelanger Bewährung stünden jedoch bei einem solchen Schritt (all) die bisherigen Grundprinzipien des Grundgesetzes grundsätzlich ungebunden zur Disposition1198. Diese Perspektive lässt Spielraum für rechtliche und politische Gedankenspiele, der durchaus eifrig genutzt wird. So wird teilweise sogar die Möglichkeit der Abschaffung des Bundesverfassungsgerichts in gegenwärtiger Form thematisiert und gefragt, ob gleichzeitig alle dessen bisher verkündeten Urteile an Rechtskraft verlören und ob diese in das nachfolgende Regelungswerk eingearbeitet werden könnten respektive müssten1199.

1195 So Hefty, Verfassung (Fn. 1147), S. 10, der einen „Mindestzeitraum“ von zwei Jahren einplanen möchte. 1196 Wiederin, Verfassunggebung (Fn. 623), S. 442. 1197 So die Aussagen des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, A. Voßkuhle bei der Diskussionsrunde zum 60-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg, SZ v. 8.7.2009, S. 6; vgl. dazu Nettesheim, Verkündigung (Fn. 608), S. 108, der die Empfehlung Voßkuhles als „vorbeugende Zähmung der revolutionären Gewalt“ bezeichnet; ähnl. Selmayr, Endstation (Fn. 33), S. 646, der hierin eine Relativierung der absoluten Aussagen im Lissabon-Urteil sieht, wonach das Grundgesetz einen europäischen Bundesstaat nicht zulässt. 1198 Hefty, Verfassung (Fn. 1147), S. 10 sieht hier die Parteien als Instrument des Einzelnen zur „Mitwirkung bei der politischen Willensbildung“ (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG) in der Pflicht der Mitgestaltung und Abbildung der Mehrheitsverhältnisse in Bezug auf die verschiedenen inhaltlichen Vorstellungen über eine neue Verfassung; a. A. Speckmaier (Fn. 977), Art. 146 Rn. 19, die annimmt, dass der Entwurf einer neuen Verfassung inhaltlich an die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden sei, da Art. 146 GG n. F. „ein Produkt des verfassungsändernden Gesetzgebers“ sei. 1199 So ohne nähere Begründung Hefty, Verfassung (Fn. 1147), S. 10.

264

Kap. 3: Szenarium einer Verfassungneugebung durch das Volk

Weitere inhaltliche Aspekte, die eine neue Verfassung (abgesehen von der Möglichkeit der Ausweitung der europäischen Integration) aufgreifen könnte, wären zum Beispiel eine plastische Auffächerung und Definition der Menschenwürde, die Überarbeitung des bisherigen Schutzes der staatlichen Ordnung für Ehe und Familie im Hinblick auf andere Formen von Lebensgemeinschaften, die Einführung einer Direktwahl von Bundespräsident und -kanzler sowie die öffentliche Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts, dessen Beibehaltung freilich vorausgesetzt1200. Auf den ersten Blick spricht also auch einiges dafür, das Grundgesetz einer Reformkur zu unterziehen, um das in die Jahre gekommene Provisorium mit einem Mal vollständig an die Umweltveränderungen und heutigen Bedürfnisse anzupassen. In der Möglichkeit der weitgreifenden Reformierung des derzeitigen Grundgesetzes durch die Ausgestaltung einer Neuverfassung liegt jedoch zugleich deren Gefahr: Es erscheint angesichts der unterschiedlichen politischen Lager utopisch, davon auszugehen, in einem geordneten Verfahren eine neue Verfassung entwickeln zu können, die von einem auf den anderen Tag das Grundgesetz ablöst, das sich seit über 60 Jahren insbesondere in Krisenzeiten als stabile Vorgabe bewährt hat. Angesichts der Möglichkeit eines völligen staatsrechtlichen Neuanfangs wären die politischen und rechtlichen Kontroversen über die exakten Inhalte einer solchen neuen Verfassung praktisch wohl kaum zu kanalisieren1201. Denkbar sind neben kleineren und insofern harmloseren Nachbesserungen an der alten Verfassung nämlich auch grundlegende Verfassungsrechtsreformen, darunter gerade solche, die bisher das Maß einer nach Art. 79 Abs. 2 und 3 GG zulässigen Verfassungsänderung weit überschritten hätten. Vorstellbar sind etwa eine Neuordnung des Grundrechtekatalogs, der verfassungsrechtlichen Rolle der Kirche, des Wirtschafts- und Sozialrechts sowie die Abschaffung der bundesstaatlichen Ordnung oder eben die völlige Abschaffung des Bundesverfassungsgerichts1202. Eine solche omnipotente Dispositionsmöglichkeit könnte eine ernsthafte Gefahr für die politische Stabilität der Bundesrepublik Deutschland darstellen, welche bis dato maßgeblich durch das Grundgesetz gewährleistet wurde. Ausgangspunkt all dieser ausschweifenden Gedanken ist und bleibt jedoch die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in einen europäischen Bundesstaat als Nachfolger der derzeitigen Europäischen Union. Realistischerweise darf daher nicht aus den Augen verloren werden, dass die Neuverfassung den rechtlichen Vorgaben der Europäischen Union sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention genügen müsste. Auch der grundsätzlich bestehende Gestaltungsspielraum kann daher nicht die rechtlich bindenden Grundentscheidungen auf 1200

Diese Aufzählung macht Hefty, Verfassung (Fn. 1147), S. 10. Hiervor warnt der ehemalige Präsident der Bundesverfassungsgerichts, H.-J. Papier, Die Politik läuft in eine unsägliche Falle, in: Welt-Online v. 4.12.2011. 1202 Diese Aufzählung wiederum bei Papier, Politik (Fn. 1201). 1201

II. Prozedurale Ausgestaltung der Verfassunggebung

265

europäischer Ebene, etwa die der Menschenrechte, der Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit sowie der Marktwirtschaft in Frage stellen. 6. Abschließendes Fazit Die Frage des konkreten Szenariums einer Verfassunggebung durch das Volk auf Grundlage von Art. 146 GG impliziert das Tätigwerden des Volks als pouvoir constituant und damit die außerrechtliche Bedingtheit des Staats von nichtrechtlichen Dependenzen als Aporie der jeweiligen Verfassung. Der Staat liegt in letzter Konsequenz in den Händen der Träger der von ihm gewährten Freiheitsrechte. Wenig ergiebiger Ausgangspunkt aller Überlegungen zum konkreten Szenarium ist der knappe Wortlaut von Art. 146 GG, der – abgesehen von dem Erfordernis einer freien Entscheidung des deutschen Volks – wenig über das Verfahren des Zustandekommens einer neuen Verfassung aussagt. Die Forderung nach einer Entscheidung des deutschen Volks spricht dafür, dass die erstmalige Initiative für eine Verfassunggebung in einem Verfahren erfolgen muss, welches das Volk als Inhaber des Rechts auf Verfassunggebung unmittelbar beteiligt. Denkbar sind hier eine Volksabstimmung oder die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung, welche über die Einleitung des Verfassunggebungsprozesses entscheidet. Auch eine treuhänderische Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat, denen als politische Plenen eine ausreichende Publizität zukommt, ist vorstellbar. Diese Verfassungsorgane wären bei Ausübung des Initiativrechts nicht an Art. 79 Abs. 3 GG gebunden. Die eigentliche Ablösung des Grundgesetzes kann ebenfalls nicht nur in einer direktdemokratischen Volksabstimmung, sondern auch in einem Repräsentativverfahren, etwa durch eine Nationalversammlung oder die Einsetzung eines Verfassungskonvents erfolgen. Eine solche das Grundgesetz ablösende Verfassungsentscheidung könnte mit dem Quorum der einfachen Mehrheit ergehen und ist nach wie vor zeitlich unbefristet. Der entscheidende Faktor für die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Versuchs der Anwendung von Art. 146 GG dürfte danach die Publizität und Politisierung einer solchen Initiative aus der Mitte des Volks oder aus dem Parlament sein. Es spricht viel dafür, dass sich die Rolle des Art. 146 GG danach auf die Bewältigung von Umbruchsituationen und fundamentalen Wandlungsprozessen beschränken wird1203. Eine solche Situation würde die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in einen Europäischen Bundesstaat ohne weiteres darstellen. Bei diesem Schritt stünden die bisherigen Grundprinzipien des Grundgesetzes im Rahmen der europarechtlichen Vorgaben zur Disposition. Eine Verfassunggebung birgt daher bei unbedachter Anwendung nicht nur Entwicklungspotential, sondern auch die durchaus ernstzunehmende Gefahr eines politisch motivierten Fehlgebrauchs, der der politischen Stabilität der Bundes1203

Dreier (Fn. 668), Art. 146 Rn. 54.

266

Kap. 3: Szenarium einer Verfassungneugebung durch das Volk

republik Deutschland nicht zuträglich wäre. Zudem könnte eine solche „Feuerprobe“ angesichts der derzeitigen tiefgreifenden Umwälzungen innerhalb der Europäischen Union weniger fernliegend sein, als bislang erwartet. Ob jedoch ein Referendum über den Europäischen Stabilitätsmechanismus und den sogenannten Fiskalpakt, wie es zuletzt unter „Androhung“ einer Verfassungsbeschwerde gegen das deutsche Ratifizierungsgesetz gefordert wurde, wirklich durchzuführen sein wird, darf bezweifelt werden. Das Bundesverfassungsgericht wird sich mit dieser Frage gegebenenfalls auseinandersetzen müssen. Eine verlässliche Vorhersage scheint hier angesichts der bisherigen, nicht immer erwartungsgemäßen Geschichte des Grundgesetzes jedoch praktisch unmöglich.

Epilog Ausblick auf eine Neuverfassung und „Vereinigte Staaten von Europa“ Die bisher behandelte Frage einer Volksabstimmung in der Bundesrepublik Deutschland zur Überwindung beziehungsweise Verschiebung der gegenwärtigen Integrationsgrenzen betrifft die Verfassungsordnung eines von derzeit 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Obwohl dieser Fragenkreis das Grundgesetz in seinem Kern berührt, stellt er aus europäischer Perspektive nur eine Art Randnotiz, ein „hausgemachtes“ Problem eines einzigen Staats dar, wenn dieser auch Mitgliedstaat der ersten Stunde und Heimat etwa eines Neuntels aller heutigen Europäer ist. Verändert man also den Blickwinkel von der nationalstaatlichen auf die supranationale Ebene, so steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich die derzeitigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zukünftig zu organisieren gedenken. Die hiermit verbundene Idee eines Europäischen Bundesstaats beziehungsweise Vereinigter Staaten von Europa ist als klassisches Gegenmodell zum „Europa der Vaterländer“ 1204 so alt wie die Europäische Einigungsbewegung der Nachkriegszeit selbst1205. Als ein Indiz hierfür kann man beispielsweise den Luxemburger Vertragsentwurf vom 18.6.1991 ansehen, welcher den Maastrichter 1204 Zu diesem von de Gaulle am 5.9.1960 gegenüber der Europäischen Kommission vorgestellten Konzept, das vorwiegend auf zwischenstaatliche, intergouvernementale Zusammenarbeit baute und die mitgliedstaatliche Souveränität vollständig erhielt, Calliess, Union (Fn. 17), S. 23 f. sowie Stern, Weg (Fn. 76), S. 150. 1205 Fischer, Staatenverbund (Fn. 1230), S. 7 stellt heraus, dass bereits Robert Schuman 1950 die Vision einer „Europäischen Föderation“ gehabt habe, wenn auch damalig mit dem vorrangigen Ziel der Friedenssicherung nach den Erfahrungen zweier Weltkriege; vgl. auch die dahingehenden Ausführungen von M. Seidel, Der europäische Verfassungsprozess und Winston Churchills Züricher Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“, in: EuZW 2008, S. 1, der bereits Churchill aufgrund seiner berühmten Rede vor der akademischen Jugend in Zürich 1946 und der darin mitgeteilten Vision von „Vereinigten Staaten von Europa“ als deren „Taufpate“ bezeichnet, obgleich Churchill eine „echte“ einheitliche kontinentaleuropäische Nation (schon aus britischen Interessen) nicht im Sinn gehabt haben dürfte. Wenig später sei das Ziel eines europäischen Bundesstaats durch den ersten Präsidenten der Kommission der EWG, Hallstein, formuliert worden, als er die EWG als „unvollendeten Bundesstaat“ bezeichnet habe. Nicht zuletzt die deutsche Europapolitik der Achtziger und Neunziger Jahre unter Bundeskanzler Kohl habe ernsthaft mit der Idee eines europäischen Bundesstaats kokettiert; ähnl. auch Stern, Weg (Fn. 76), S. 144, der in Churchills Rede und dem späteren sog. „Europakongress“ in Den Haag (1948) den Beginn eines Prozesses sieht, der später zur Gründung des Europarats (1949) als erstem bemerkenswerten Ausdruck politischer Kooperation durch wechselseitige Kontrolle geführt habe.

268

Epilog

Vertrag als neue Stufe in einem Prozess, der schrittweise zu einer Union „mit föderalem Ziel“ führe, bezeichnete1206. Trotz der gegenwärtigen Entwicklung von der Euro- zur Europakrise und damit einhergehenden Zweifeln an dem Sinn einer weiteren Intensivierung europäischer Integration gibt es zur Weiterführung der bisherigen Erfolgsgeschichte der Europäischen Einigung langfristig keine politisch und gesellschaftlich vertretbare Alternative1207. Das lehrt auch ein Blick in die Historie des europäischen Projekts, das in der Vergangenheit mehrfach Krisen zu überstehen hatte1208 und aus diesen gestärkt hervorging. Da eine – wie auch immer genau geartete – Europäische Union unterhalb der Ebene eines vollwertigen europäischen Bundesstaats wohl von europhilen Zeitgenossen nur als ein vorübergehender Zustand angesehen wird1209, spricht schon heute vieles dafür, dass langfristig „Vereinigte Staaten von Europa“ ernsthaft ins Auge genommen werden. Die Forderung nach einer Europäischen Union, die föderativen Grundsätzen entsprechen muss, ist seit Gründung der Europäischen Union in der Struktursicherung des Art. 23 Abs. 1 S. 1, 2. Hs GG enthalten und zielt zumindest in diese Entwicklungsrichtung. Zudem definiert Art. 1 Abs. 2 des Vertrags der Europäischen Union in der Form des Vertrags von Lissabon als Ziel des europäischen Integrationsprozesses nach wie vor eine „immer engere Union der Völker Europas“ 1210. Die Betonung liegt hier jedoch auf der Langfristigkeit dieser Aussicht, da in näherer Zukunft realistischerweise die Gründung einer europäischen Föderation, wie gesehen, weder rechtlich ohne weiteres möglich, noch politisch gewollt sein dürfte1211. 1206 Hinweis bei Geiger (Fn. 403), Art. 1 EUV Rn. 11 mit Bezug auf R. Corbett, The Treaty of Maastricht: From Conception to Ratification, 1993, S. 293. 1207 Vgl. den bereits im Jahr 2000 (nicht ganz ohne Pathos) geäußerten Appell von Fischer, Staatenverbund (Fn. 1230), S. 10: „Quo vadis Europa? fragt uns daher ein weiteres Mal die Geschichte unseres Kontinents. Und die Antwort der Europäer kann aus vielerlei Gründen, wenn sie es gut mit sich und ihren Kindern meinen, nur lauten: vorwärts bis zur Vollendung der europäischen Integration. Für einen Rückschritt oder auch nur Stillstand und ein Verharren beim Erreichten würde Europa, würden alle an der Europäischen Union beteiligten Mitgliedstaaten und auch alle diejenigen, die Mitglied werden wollen, würden vor allem also unsere Menschen einen fatal hohen Preis zu entrichten haben. Und dies gilt ganz besonders für Deutschland und die Deutschen“. 1208 Zur (ersten) „Verfassungskrise“ und zur „Politik des leeren Stuhls“ in den 1960er Jahren und deren Überwindung anhand einer „Politik der kleinen Schritte“ siehe etwa Stern, Weg (Fn. 76), S. 150 ff. 1209 So die Prognose von Zivier, Finalität (Fn. 13), S. 229. 1210 Geiger (Fn. 403), Art. 1 EUV Rn. 11 f.; vgl. auch J. P. Terchechte, Europäischer Bundesstaat, supranationale Gemeinschaft oder Vertragsunion souveräner Staaten? – Zum Verhältnis von Staat und Union nach dem Lissabon-Urteil des BVerfG, in: A. Hatje/J. P. Terhechte (Hrsg.), Grundgesetz und europäische Integration – Die Europäische Union nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, EuroparechtBeiheft 1/2010, S. 135 (136), jedoch mit Hinweis auf die Entwicklungsoffenheit dieser Zielbestimmung.

I. Begriffsklärung

269

Trotz aller vom Bundesverfassungsgericht für Deutschland erklärten Integrationsvorbehalte entsprechen die Befugnisse der Europäischen Union realiter bereits jetzt in vielen Politikfeldern denen eines europäischen Bundesstaats und die europäische Einigungsbewegung macht – spätestens seit der Wirtschafts- und Währungsunion durch den Vertrag von Maastricht – auch vor originären Kernkompetenzen der Mitgliedstaaten nicht Halt1212. Die Vorstellung eines Europäischen Bundesstaats als visionäre Spielart ohne Realitätsbezug abzutun, wird dem gegenwärtig erreichten Stand europäischer Zusammenarbeit und den zukünftig unweigerlich anstehenden Herausforderungen nicht gerecht.

I. Begriffsklärung Zunächst muss festgestellt werden, dass eine allgemeingültige Definition des Bundesstaats angesichts der vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten eines solchen Modells staatlicher Ordnung mit dem Ziel der wirksamen Gewaltenteilung zwischen den Ebenen schwer zu fassen ist. Große Unterschiede bestehen etwa in der konkreten Gestaltung der Kompetenzverteilung und der Gewichtung des Einflusses der gesamt- und gliedstaatlichen Organe im gesamtstaatlichen Willensbildungsprozess1213. In dem hier erläuterten Zusammenhang ist unter dem Begriff eines Europäischen Bundesstaats der föderale Verbund der jetzigen Europäischen Mitgliedstaaten zu verstehen, in dem der Gesamtstaat Inhaber der Kompetenz-Kompetenz ist und dessen Schaffung (jedenfalls nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts) zu einem Identitätsverlust der Bundesrepublik Deutschland im Falle ihrer Eingliederung führen würde. Mit dem Übergang der Kompetenz-Kompetenz als Allgemeinzuständigkeit zum politischen Handeln1214 ginge zwangsläufig auch eine Aufgabe des bisherigen Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung der Europäischen Union (Art. 3 Abs. 6, Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV) einher. Denkbare Konstruktionen sind sowohl ein dem deutschen Bundesstaatsmodell entsprechender, zweigliedriger Aufbau, indem sowohl der Bund als auch die Gliedstaaten Staatsqualität besitzen, als auch eine dreigliedrige Gestaltung, bei der erst die Gliedstaaten und ein Zentralstaat den Gesamtstaat bilden1215. 1211 Zivier, Finalität (Fn. 13), S. 229 macht für diese Feststellung bereits den gescheiterten Verfassungsvertrag, nicht erst das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts verantwortlich; ebenso Terchechte, Bundesstaat (Fn. 1210), S. 137 f. 1212 Zivier, Finalität (Fn. 13), S. 229. 1213 H. Bethge, Stichwort: Bundesstaat, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, Bd. 1, 7. Aufl., Sonderausg. 1995, S. 993 (993). 1214 Calliess (Fn. 411), Art. 1 EUV Rn. 29. 1215 Zu diesen und anderen Ausgestaltungen des Bundesstaats als „komplementärem Element demokratischer Ordnung“ siehe wiederum Bethge, Bundesstaat (Fn. 1213), S. 993.

270

Epilog

Legt man Jellineks klassische Drei-Elemente-Lehre als Maßstab für einen solchen konsolidierten Bundesstaat an, so würde dies neben der Existenz eines Staatsgebiets und einer Staatsgewalt auch die eines europäischen Staatsvolks voraussetzen1216.

II. Schaffung eines Europäischen Staats als verbindliches Ziel des Grundgesetzes? Vor dem Hintergrund der Europäischen Verträge, welche eine flächendeckende Anwendung des Mehrheitsprinzips auch im Vertragsänderungsverfahren sowie eine uneingeschränkte Etablierung des Vorrangs des Unionsrechts und der kontinuierlichen Integration immer neuer Politikfelder beinhalten, stellt sich zwangsläufig die Frage, ob die Schaffung eines Europäischen (Bundes-)Staats ein verbindliches Integrationsziel des Grundgesetzes ist. Dieser Gedanke lässt sich auch dem Absatz 1 Satz 1 des Europaartikels 23 GG entnehmen, wenn man dessen Auftrag ernst nimmt, die Entwicklung einer Europäischen Union voranzutreiben, welche demokratischen Grundsätzen verpflichtet ist1217. Zum Teil wird ein europäischer Bundesstaat als natürlicher Schlusspunkt der europäischen Integration gesehen1218, so dass die Europäische Union so lange als defizitär angesehen wird, wie sie nicht in Aufbau und Struktur einem Bundesstaat entspricht1219. Mitunter wird die Schaffung eines europäischen Bundesstaats oder eines anderen föderativ orientierten, vereinten Europas sogar als dem ehemaligen Wiedervereinigungsgebot gleichartiger Verfassungsauftrag an die deutschen Staatsorgane gesehen1220. Dies folge sowohl aus dem Grundsatz der 1216 Blanke, Unionsvertrag (Fn. 79), S. 415; ebenso M. Pechstein, in: Streinz, EUV/ AEUV (Fn. 403), Art. 1 EUV Rn. 10, die für die derzeitige Europäische Union keines der drei Elemente als gegeben ansieht; zum (fehlenden) europ. Staatsvolk trotz bestehender Unionsbürgerschaft siehe Calliess (Fn. 411), Art. 1 EUV Rn. 24; vgl. auch die dahingehende Prüfung des Bundesverfassungsgerichts im Lissabon-Urteil, BVerfGE 123, 267 (381, 402 f.). 1217 Zum Fehlen dieser Entwicklungsperspektive im Lissabon-Urteil, welche gegen einen kategorischen Ausschluss des Integrationsziels eines europäischen Bundesstaats unter dem derzeitigen Grundgesetz spricht, vgl. Mirschberger, Einigung (Fn. 133), S. 250. 1218 So Huber, Recht (Fn. 76), S. 85 mit Verweis auf das frühe Werk von W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat – Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse, 1. Aufl. 1969. 1219 Huber, Recht (Fn. 76), S. 85 sieht in diesen Erwartungen auch einen Grund für die Enttäuschung über den Vertrag von Nizza. 1220 Dies vertritt z. B. Röper, Souveränitätsbegriff, S. 292, der es daher für „schwer nachvollziehbar“ hält, dass das Bundesverfassungsgericht diesen Auftrag nicht anerkennt und für ein einheitliches Europa „eine neue Verfassung“ fordert. Es werde wohl einer historischen Situation wie dem Mauerfall bedürfen, damit das Bundesverfassungsgericht einen Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu einem vereinten Europa akzeptiere; i. Erg. ebenso Selmayr, Endstation (Fn. 34), S. 645 f., der deutsche Wiederver-

II. Schaffung eines Europäischen Staats als verbindliches Ziel?

271

Europarechtsfreundlichkeit als auch aus der grundsätzlichen Integrationsoffenheit des Grundgesetzes1221. Möllers problematisiert zu Recht die Rolle der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Falle eines Beitritts der Bundesrepublik zu einem Europäischen Bundesstaat1222. Schließlich kann Deutschland einen solchen nicht allein gründen, die Zustimmung aller Mitgliedstaaten wäre dafür erforderlich1223. Pernice interpretiert den Integrationsauftrag des Grundgesetzes vor dem Hintergrund der Offenheit und Dynamik des europäischen Integrationsprozesses, von dem auch das Grundgesetz ausgehe1224. Nach dieser Vorstellung ist das Ziel der intendierten Integration bewusst offen gelassen und die „Abschaffung“ des deutschen Nationalstaats muss nicht mit der Schaffung eines Abbilds auf europäischer Ebene einhergehen1225. Dass die Europäische Union die Form eines Bundesstaats annehme, sei also durch Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG weder gefordert noch ausgeschlossen1226. Gegen eine Interpretation, die die Schaffung eines europäischen Bundesstaats als verpflichtenden Schlusspunkt des europäischen Integrationsprozesses sieht, spricht insbesondere, dass die Verfassungen der Mitgliedstaaten – das Grundgesetz bildet hier keine Ausnahme – de lege lata einen endgültigen Souveränitätsverlust in der Regel nicht zulassen1227. Aus praktischer Sicht darf zudem bezweifelt werden, dass für eine Verfassung, die ausdrücklich darauf gerichtet wäre, in einem europäischen Verfassungswerk aufzugehen, im Hinblick auf die Unumkehrbarkeit dieser Entscheidung und der ungewissen künftigen Entwicklung eine ausreichende Zustimmung des Volks einholbar ist und damit die Legitimitätsvoraussetzungen für eine solche politische Ordnung gegeben sind1228.

einigung und europäische Einigung als „zwei Seiten derselben Medaille“ bezeichnet, die vom Grundgesetzgeber ursprünglich parallel, seit Auswechslung des Art. 23 GG a. F. mit beendeter Teilung nunmehr nur noch in europäischer Dimension verfolgt würden. 1221 So Selmayr, Endstation (Fn. 34), S. 646, der für die Schaffung eines europäischen Bundesstaats sogar eine Verfassungsänderung gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 2 GG als ausreichend ansieht und damit eine Ablösung des Grundgesetzes nicht zwingend voraussetzt. 1222 Möllers, Grenze (Fn. 1015), S. 6. 1223 Möllers, Grenze (Fn. 1015), S. 6. 1224 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 38. 1225 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 38. m.w. N. 1226 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 38, 65; Scholz (Fn. 179), Art. 23 (2009), Rn. 50, 54 f. 1227 Huber, Recht (Fn. 76), S. 46, 85. 1228 Hefty, Verfassung (Fn. 1147), S. 10; Huber, Recht (Fn. 76), S. 85.

272

Epilog

III. Alternative Szenarien zukünftiger europäischer Integration Wie genau sich die Zukunft europäischer Einigung entwickeln wird, ist nahezu unmöglich vorherzusehen. Auch aus diesem Grund herrscht innerhalb der deutschen Staats- und Europarechtswissenschaft keinerlei Einigkeit über das wahrscheinlichste aller denkbaren Zukunftsszenarien. Die zeitnahe Schaffung eines europäischen Bundesstaats wird selten erwartet. Zum Teil wird es als wahrscheinlicher angesehen, zwischen dem derzeitigen Grundgesetz und einer Neuverfassung, welche das eigene Aufgehen in einem Europäischen Bundesstaat vorsieht, zunächst eine Übergangsverfassung (z. B. durch punktuelle Veränderung des Grundgesetzes) zu schaffen, welche die deutsche Mitwirkung an der Realisierung eines geeinten Europas legalisieren und legitimieren würde1229. Von anderer Seite wird die Frage nach der Finalität des europäischen Einigungsprozesses mit der Schaffung einer europäischen Föderation beantwortet, welche aus fortbestehenden Nationalstaaten besteht1230. Diese sieht eine zwischen Föderation und Einzelstaaten geteilte Souveränität vor und stellt damit eine Form der Verbindung der Mitgliedstaaten dar, welche zwar unterhalb der Integrationsstufe eines europäischen Bundesstaats als neuem (, einzigem) Souverän anzusiedeln wäre, jedoch eine engere Verbindung aufwiese als ein zweckbegrenztes, völkervertragsrechtliches Bündnis1231.

IV. Das Verhältnis von nationalem und europäischem Bundesstaat: „Multilevel Constitutionalism“ Bereits heute ist das Verhältnis zwischen der supranationalen Europäischen Union und den Verfassungen der Mitgliedstaaten wie gesehen umstritten1232. Es stellt sich darüber hinaus die Frage, wie das Verhältnis nach der Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in einen Europäischen Bundesstaat aussehen 1229 Hefty, Verfassung (Fn. 1147), S. 10; in diese Richtung ist wohl auch die Aussage Voßkuhles zu deuten, der die bloße Änderung weniger Grundgesetzbestimmungen bei gleichzeitiger Beibehaltung der bisherigen Inhalte als ausreichend erachtet, um die Gründung eines europäischen Bundesstaats verfassungsrechtlich zu ermöglichen, vgl. SZ v. 8.7.2009, S. 6 sowie Fn. 1197. 1230 Denninger, Ende (Fn. 30), S. 1124 mit Bezug auf J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Rede in der Humboldt-Universität in Berlin am 12. Mai 2000. 1231 So Fischer, Staatenverbund (Fn. 1230), S. 26 („Die Vollendung der europäischen Integration läßt sich erfolgreich nur denken, wenn dies auf der Grundlage einer Souveränitätsteilung von Europa und Nationalstaat geschieht“ [Herv. im Orig.]), der diese Souveränitätsteilung bereits im Vertragstext der Europäischen Union (Art. 2 Abs. 2 EUV a. F.) beziehungsweise der Europäischen Gemeinschaft (Art. 5 EGV a. F.) angelegt sieht; ähnl. kritisch zum Festhalten am Begriff der Souveräntität in einem mehrebigen System Denninger, Ende (Fn. 30), S. 1124 ff. 1232 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 20; zum Streitstand und der unterschiedlichen Begründung des Geltungsgrunds des Unionsrechts siehe Kap. 1, III. 5. d).

IV. „Multilevel Constitutionalism‘‘

273

würde, wenn also originär staatliches Verfassungsrecht auf zwei Ebenen existieren würde. In diesem Zusammenhang hat sich bereits jetzt die Bezeichnung des „Multilevel Constitutionalism“ 1233 herausgebildet, eines politisch verantwortlichen mehrebigen Verfassungsverbunds also, in dem der Begriff der Verfassung von dem des Staats gelöst wird und sich mehr an dem des jeweilig verfassten Volks orientiert1234. Das Konzept basiert auf der Erkenntnis, dass die jeweils betroffenen Bürger eine für sich selbst verbindliche, zwar unabgeleitete, jedoch begrenzte politische Herrschaftsmacht verfassen. Sie tun dies – wie die Verfassung der Europäischen Union veranschaulicht – nicht nur auf staatlicher, sondern je nach Integrationsbedarf auch auf europäischer Ebene und zukünftig möglicherweise auch interkontinental1235, ohne dass jedoch zwischen den einzelnen Verfassungen über eine vertikale Verflechtung hinaus hierarchische Strukturen entstehen1236. Fraglich ist, wie ein solches „postnationales“ 1237 Verständnis des europäischen Verfassungsverbunds zwischen Bundes- und gliedstaatlicher Ebene in einem europäischen Bundesstaat zum Tragen käme. Wollte man auch nach Gründung eines solchen europäischen Föderalismus an dem Verständnis beider Ebenen als koexistente Träger jeweils begrenzter anvertrauter Zuständigkeiten festhalten1238, so würde das einem traditionell souveränitätsbezogenen Modell, welches streng hierarchisch zwischen Bundes- und Gliedstaatenebene unterscheidet und dem 1233 So Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 20 m.w. N.; erstmals ders., Constitutional Law Implications for a State Participating in a Process of Regional Integration. German Constitution and „Multilevel Constitutionalism“, in: E. Riedel (Hrsg.), German Reports on Public Law Presented to the XV. International Congress on Comparative Law, Bristol, 26 July to 1 August 1998, 1998, S. 40 (43 ff.) nach Impuls von F. C. Mayer. 1234 Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 20; ausf. Peters, Elemente (Fn. 401), S. 95 ff. („Keine durchgängige Koppelung von ,Staat‘ und ,Verfassung‘“). 1235 Vgl. hierzu (mit Fokus auf dem Dilemma von lokalem Konstitutionalismus und „Global Governance“) D. Halberstam, Local, global and plural constitutionalism: Europe meets the world, in: G. de Búrca/J. H. H. Weiler (Hrsg.), The Worlds of European Constitutionalism, 2012, S. 150 ff. 1236 So A. v. Bogdandy, Die Europäische Union als supranationale Föderation, in: integration 22 (1999), S. 95 (96 f.) sowie Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 20 mit Hinweis auf die Öffnung des nationalen Verfassungsrechts durch Art. 23 GG, der dem Geltungsanspruch des europäischen Primärrechts Raum lasse, welches formal zwischenstaatlich, inhaltlich und funktional jedoch originäres Verfassungsrecht sei; ebenso Peters, Elemente (Fn. 401), S. 254 f. 1237 Dazu ausf. R. Dehousse, Beyond representative democracy: constitutionalism in a polycentric polity, in: J. H. H. Weiler/M. Wind (Hrsg.), European Constitutionalism Beyond the State, 2003, S. 135 ff. sowie zuvor Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (2001), S. 148 (155 ff.). 1238 So das Verständnis von Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 20, der die verschiedenen Ebenen als „kohärentes System zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben“ beziehungsweise als „komplementäre Teilordnungen“ des Europäischen Verfassungsverbunds begreift; vgl. auch ders., Verfassungsrecht (Fn. 1237), S. 163 ff.

274

Epilog

Gesamtstaat die grundsätzliche Kompetenz-Kompetenz zukommen lässt1239, jedenfalls entgegenlaufen. Einem unter zwei gleichwertigen, konkurrierenden Ebenen stattfindenden Wettbewerb um von Bundesbürgern anvertraute Kompetenzen entspricht letztgenannte Vorstellung jedenfalls nicht. Andererseits könnte das derzeitige Verständnis der Verfassung der Europäischen Union als einer „komplementären“, die auf die mitgliedstaatlichen Verfassungen angewiesen ist1240, in einem Europäischen Bundesstaat an seine Grenzen stoßen. Denn es entspricht umgekehrt gerade dem Charakter eines Bundesstaats, dass die Verfassungen der Gliedstaaten, wie etwa Art. 28 Abs. 1 GG dies für die bundesstaatliche Ausprägung der Bundesrepublik Deutschland regelt, trotz grundsätzlich bestehender Verfassungsautonomie der Gliedstaaten den Grundentscheidungen der gesamtstaatlichen Verfassung entsprechen müssen und dass faktisch der Großteil der Gesetzgebungszuständigkeiten auf gesamtstaatlicher Ebene vorzufinden ist1241. Solche Unitarisierungstendenzen innerhalb des bundesstaatlichen Geflechts wären auch für die Europäische Ebene zu befürchten, in denen die Bedeutung der gliedstaatlichen Verfassungen und Gesetze, und erst recht die der deutschen Länder faktisch schwinden würde, selbst, wenn bei den Gliedstaaten substanzielle Gesetzgebungszuständigkeiten verbleiben würden.

V. Zusammenfassung So alt die Idee eines europäischen Bundesstaats als Endzustand des Einigungsprozesses ist, so schwierig erweist sich der Weg zu ihrer Realisierung. Ob diese überhaupt jemals erreicht wird, hängt vom Willen der Europäer ab und ist damit weiterhin ungewiss1242. Sowohl die Gründung der Europäischen Union durch die Vertragsänderungen von Maastricht als auch die primärrechtlichen Änderungen 1239

Degenhart, Staatsrecht I (Fn. 182), Rn. 448, 459. So wiederum Pernice (Fn. 137), Art. 23 Rn. 21 m.w. N. und weiteren Bezeichnungen. 1241 So zum Homogenitätsprinzip und zur bundesstaatlichen Kompetenzordnung Degenhart, Staatsrecht I (Fn. 182), Rn. 19, 450 f., der festhält, dass durch die Grundregel des Art. 83 GG den Ländern im Gegenzug der Großteil der Verwaltungstätigkeit zukommt. 1242 Kritisch zur Bereitschaft weiterer Integrationsschritte angesichts der Erfahrungen mit den Änderungen des Primärrechts durch den Vertrag von Lissabon ist der Bundesminister der Finanzen W. Schäuble, Reform der Europäischen Finanzregeln – Für eine bessere Verfassung Europas, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 26.1.2010 (FCE 02/11), S. 14, abrufbar unter: http://www.whi-berlin.eu/tl_files/FCE/ Rede-Schaeuble.pdf („Weil wir die beschriebenen engen verfassungsrechtlichen, wie europarechtlichen Grenzen respektieren müssen, vor allem aber, meine Damen und Herren, weil die politischen Widerstände für eine weitere Vergemeinschaftung beim demokratischen Souverän in den allermeisten Mitgliedstaaten und damit auch in den Parlamenten derzeit unübersehbar sind, werden wir auf absehbare Zeit nur begrenzte institutionelle Fortschritte machen. Übrigens ist schon die Bereitschaft zu weiteren Vertragsänderungen nach den Erfahrungen mit dem Lissabon-Vertrag bei den meisten Beteiligten derzeit eher begrenzt“). 1240

V. Zusammenfassung

275

durch den Vertrag von Lissabon wurden bereits als Zeichen für eine Staatswerdung der Europäischen Union interpretiert und vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht als mit dem deutschen Grundgesetz unvereinbar angeprangert. Die vielzitierte Kompetenz-Kompetenz wurde bereits in Brüssel verortet. Nicht nur die deutschen Richter haben jedoch anders geurteilt und klargestellt, dass es sich im gegenwärtigen Entwicklungsstadium nach wie vor um einen vertraglichen Zusammenschluss souveräner Einzelstaaten handelt und dass die Organe der Union gerade keine Staatsorgane sind1243. Die Europäische Union muss jedoch auch in derzeitiger Gestalt offen sein für Weiterentwicklung, wenn auch die Schaffung Vereinigter Staaten von Europa keineswegs ein Selbstzweck sein sollte. Denn falls zukünftig einmal, und dies kann nicht ausgeschlossen werden, ein stabiler, ausbalancierter Zustand erreicht wird, welcher von den Beteiligten aller Ebenen als befriedigend ansehen wird, wäre es wenig sinnvoll, zur Realisierung einer Vision auf der Gründung eines europäischen Bundesstaats zu beharren. Dies würde auch die die Vorbehalte außer Acht lassen, die in vielen Mitgliedstaaten und auf unterschiedlichen politischen Ebenen gegen die Sinnhaftigkeit der Schaffung eines europäischen Bundesstaats angeführt werden1244. Aus nationalstaatlicher Sicht sind dies insbesondere der damit einhergehende Souveränitätsverzicht und die Einbußen an Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten auf der Ebene eines europäischen Gesamtstaats, welche – insbesondere für die deutschen Bundesländer – zutreffend befürchtet werden1245. Für einen solchen finalen Schritt des Einigungsprozesses spräche, dass dadurch die politische Integration Europas zu der hoch entwickelten wirtschaftlichen aufschließen würde und beispielsweise eine europäische Haushaltsüberwachung erleichtern könnte. Wie sinnvoll dieser Schritt aus volkswirtschaftlicher Sicht sein kann, zeigen die Auswirkungen der Euro-Krise, die maßgeblich durch die fehlende politische Kontrollierbarkeit des wirtschaftlichen Prozesses verursacht worden sein dürfte1246. Freilich sollten in der Europäischen Union nicht ausschließ1243

BVerfGE 89, 155 (8. Leitsatz, 188); 123, 267 (370 f.); Zivier, Finalität (Fn. 13),

S. 230. 1244 So Zivier, Finalität (Fn. 13), S. 230, der in einem solchen Fall zwar keinen Stillstand der Entwicklung der Europäischen Union befürchtet, von der Europapolitik jedoch erwartet, dass sie die Frage nach der demokratische Legitimation des Staatenverbunds in den Fokus ihrer Tätigkeit stellen würde. 1245 Dazu stellv. wiederum Schäuble, Reform (Fn. 1242), S. 15: „Noch einmal: Niemand will einen europäischen Superstaat, der gewissermaßen alle Zuständigkeiten des klassischen Nationalstaates auf die europäische Ebene zu übertragen versuchen würde“. Schäuble sieht die Zukunft des Integrationsprozesses stattdessen in einem Festhalten an der bisherigen Konzeption der Europäischen Union unter demokratischer Legitimierung aller Entscheidungen, um „staatliche und nationalstaatliche und europäische Zuständigkeiten klug auszubalancieren“ und gegebenenfalls anhand kurzfristiger Entwicklungen nachzujustieren. 1246 Zuletzt zum Auseinanderfallen der Zuständigkeiten in europäische Währungspolitik und mitgliedstaatliche Wirtschaftspolitik als Ursache der Krise der Eurozone

276

Epilog

lich wirtschaftliche Aspekte Berücksichtigung finden. Jedoch waren es in nicht unerheblichem Maße wirtschaftliche Interessen, die einst zur Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents durch Gründung der Montanunion als Urenkelin der Europäischen Union in der heutigen post-Lissabon-Gestalt geführt haben. Die Errichtung des Binnenmarkts innerhalb der Europäischen Union soll zudem zu einer nachhaltigen Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und Preisstabilität sowie zu einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft führen (Art. 3 Abs. 3 EUV). Auch demokratietheoretische Gesichtspunkten könnten für die Errichtung eines bundesstaatsähnlichen Föderalismus auf europäischer Ebene sprechen. Die Vorbehalte, die gegenüber einem europäischen (Bundes)staat bestehen, könnten durch eine schrittweise Anhebung des Legitimationsniveaus der Unionsorgane, welches den Anforderungen an einen demokratischen Rechtsstaat entspricht, sowie durch eine größere Bürgernähe der Europäischen Union insgesamt deutlich verringert werden1247. Die Zukunft wird zeigen, ob die Vereinigten Staaten von Europa weiterhin verfolgt werden und sich damit Hallsteins frühe Bezeichnung sowohl der Montanunion als auch der Europäischen Gemeinschaft als „unvollendetem Bundesstaat“ 1248 nachträglich als kluge Vorhersage oder optimistische Fehlprognose erweisen wird.

C. Calliess, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtsetzung, in: VVDStRL 71 (2012), S. 113 (167 ff.). 1247 So wiederum Zivier, Finalität (Fn. 13), S. 230, der einräumt, dass sich zu diesem Zeitpunkt die Frage „Staatenverbund oder Bundesstaat“ als überholt erweisen könnte; in ähnl. Richtung auch Schäuble, Reform (Fn. 1242), S. 3, der die juristische Debatte, ob die Europäische Union Bundesstaat oder Staatenbund sei, bereits heute als völlig veraltet bezeichnet. 1248 So neben dem gleichnamigen Spätwerk von W. Hallstein auch ders., Die europäische Gemeinschaft, 1. Aufl., 1973, S. 62 ff.; zu diesem „Schlüsselbegriff“ von Hallsteins Europapolitik siehe T. Freiberger, Der friedliche Revolutionär: Walter Hallsteins Epochenbewusstsein, in: V. Depkat/P. S. Graglia (Hrsg.), Entscheidung für Europa – Erfahrung, Zeitgeist und politische Herausforderungen am Beginn der europäischen Integration, 2010, S. 205 (216) sowie W. Wessels, Walter Hallstein: Verkannter Integrationsprophet? Schlüsselbegriffe im Relevanztest, in: M. Zuleeg (Hrsg.), Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas – Referate zu Ehren von Walter Hallstein, 2003, S. 38 (40 f.).

Literaturverzeichnis Abels, Michael: Das Bundesverfassungsgericht und die Integration Europas – Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen untersucht am Karlsruher Lissabon-Urteil, München 2011. Adenauer, Konrad: Erinnerungen, 1945–1953, Bd. I, Stuttgart 1965. Anschütz, Gerhard: Die drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung. Rede, gehalten bei der Jahresfeier der Universität Heidelberg am 22. November 1922, Tübingen 1923. von Arnauld, Andreas: Theorie und Methode des Grundrechtsschutzes in Europa – am Beispiel des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit –, in: Europarecht 43 (2008), Beiheft 1, S. 41–64. von Arnauld, Andreas/Hufeld, Ulrich (Hrsg.): Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen – IntVG, EUZBBG, EUZBLG – Handkommentar, Baden-Baden 2011. von Arnim, Hans Herbert: Zur „Wesentlichkeitstheorie“ des Bundesverfassungsgerichts. Einige Anmerkungen zum Parlamentsvorbehalt, in: DVBl. 1987, S. 1241–1249. Arnold, Rainer: Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof: Kooperation oder Konflikt?, in: Herbert Roth (Hrsg.), Europäisierung des Rechts, Tübingen 2010, S. 1–9. Bachof, Otto: Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, Tübingen 1951. Badura, Peter: Deutschlands aktuelle Verfassungslage. Bericht über die Sondertagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Berlin am 27. April 1990, in: Archiv des öffentlichen Rechts 115 (1990), S. 314–328. – Das Grundgesetz – Verfassung für Deutschland, in: Bernd Guggenberger/Tine Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit: Analysen – Hintergründe – Materialien, München/Wien 1991, S. 325–335. – Der Bundesstaat Deutschland im Prozeß der europäischen Integration – Vortrag vor dem Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Saarbrücken 1993. – Die „Kunst der föderalen Form“ – der Bundesstaat in Europa und die europäische Föderation, in: ders./Rupert Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens: Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, München 1993, S. 369–384. – Das Staatsziel „Europäische Integration“ im Grundgesetz, in: Johannes Hengstschläger/Heribert Franz Köck/Karl Korinek/Klaus Stern/Antonio Truyol y Serra (Hrsg.), Für Staat und Recht – Festschrift für Herbert Schambeck, Berlin 1994, S. 887–906. – Willensbildung und Beschlußverfahren in der Europäischen Union, in: Ulrich Everling (Hrsg.), Von der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, Europarecht Beiheft 1/1994, Baden-Baden 1994, S. 9–23.

278

Literaturverzeichnis

Baldus, Manfred: Eine vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossene Verfassung. Zum Schicksal des Art. 146 GG nach Vorlage des Abschlußberichts der Gemeinsamen Verfassungskommission, in: Kritische Vierteljahreschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 79 (1993), S. 429–441. Balthasar, Alexander/Prosser, Alexander: Die Europäische Bürgerinitiative – Gefährdung der Glaubwürdigkeit eines direktdemokratischen Instruments?, in: Journal für Rechtspolitik 18 (2010), S. 122–132. Barley, Katarina: Das Kommunalwahlrecht für Ausländer nach der Neuordnung des Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG, Berlin 1999. Bartlsperger, Richard: Die Rechtslage Deutschlands, Erlangen 1990. – Verfassung und verfassunggebende Gewalt im vereinten Deutschland, in: DVBl. 1990, S. 1285–1301. Battis, Ulrich/Gusy, Christoph: Einführung in das Staatsrecht, 3. Aufl., Karlsruhe 1991. Beck, Gunnar: The Lisbon judgment of the German Constitutional Court, the primacy of EU law and the problem of Kompetenz-Kompetenz: a conflict between right and right in which there is no praetor, in: European Law Journal 17 (2011), S. 470–494. Becker, Peter/Maurer, Andreas: Deutsche Integrationsbremsen, Folgen und Gefahren des Karlsruher Urteils für Deutschland und die EU, in: SWP-Aktuell, Ausgabe 41/ 2009, S. 1–8. Beljin, Sasˇa: Staatshaftung im Europarecht – Konturen des Haftungsinstituts, Mitgliedstaatliche Pflichten und subjektive Gemeinschaftsrechte, innerstaatliche Durchführung, Köln (u. a.) 2000. Bergmann, Jan/Karpenstein, Ulrich: Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht – zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Vorlageverpflichtung, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 529–542. Bermanseder, Markus: Die Europäische Idee im Parlamentarischen Rat, Berlin 1998. Bernitz, Ulf: Swedish report, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung – das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, Baden-Baden 2000, S. 389–459. Bethge, Herbert: Das Staatsgebiet des wiedervereinigten Deutschlands, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 8, Heidelberg 1995, § 199 (S. 603–621). – Stichwort: Bundesstaat, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, Bd. 1, 7. Aufl., Sonderausgabe, Freiburg (u. a.) 1995, S. 993– 999. – Deutsche Bundesstaatlichkeit und Europäische Union. Bemerkungen über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur EG-Fernsehrichtlinie, in: Rudolf Wendt (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Steuern. Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1996, S. 55–74. Beutler, Bengt: Offene Staatlichkeit und europäische Integration, in: Rolf Grawert u. a. (Hrsg.), Offene Staatlichkeit – Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 109–124.

Literaturverzeichnis

279

Bieber, Roland: „An Association of sovereign States“, in: European Constitutional Law Review 5 (2009), S. 391–406. Bieber, Roland/Epiney, Astrid/Haag, Marcel: Die Europäische Union, Europarecht und Politik, 9. Aufl. 2011. Birkinshaw, Patrick J.: British report, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung – das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, Baden-Baden 2000, S. 205–286. Birkinshaw, Patrick J./Künnecke, Martina: Offene Staatlichkeit: Großbritannien, in: Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/Peter M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2, Offene Staatlichkeit – Wissenschaft vom Verfassungsrecht, Heidelberg 2008, § 17 (S. 107–141). Blanke, Hermann-Josef: Der Unionsvertrag von Maastricht – Ein Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat?, in: DÖV 1993, S. 412–423. Blasche, Sebastian: Die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung: eine verfassungsdogmatische Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3, 2. Var. GG vor dem Hintergrund einer möglichen Einführung von Volksgesetzgebung in das Grundgesetz, Baden-Baden 2006. – Die Bedeutung des Art. 146 GG n. F. zwanzig Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, in: VR 2010, S. 377–383. Bleckmann, Albert: Zur Funktion des Art. 24 Abs. 1 Grundgesetz, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 35 (1975), S. 79–84. – Teleologie und dynamische Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Europarecht 14 (1979), S. 239–260. – Die Wahrung der „nationalen Identität“ im Unions-Vertrag, in: JZ 1997, S. 265–269. Blumenwitz, Dieter: Wie offen ist die Verfassungsfrage nach der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands?, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 49 (1991), 9, S. 3–11. – Braucht Deutschland ein neues Grundgesetz? Verfassungsgebende und verfassungsändernde Gewalt nach dem Einigungsvertrag, in: Zeitschrift für Politik 39 (1992), S. 1–23. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, in: NJW 1976, S. 2089–2099. – Die verfassunggebende Gewalt des Volkes als Grenzbegriff des Rechts, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie – Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1991, S. 90–112. – Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, Verfassungsstaat, 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 24 (S. 429–496). – Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt 2006, S. 209–243.

280

Literaturverzeichnis

– Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt 2006, S. 92–114. Boehmer, Gerhard: Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, Köln/Berlin 1965. von Bogdandy, Armin: Die Europäische Union als supranationale Föderation, in: integration 22 (1999), S. 95–112. – Stand und Entwicklungsperspektiven rechtswissenschaftlicher Konzepte zum europäischen Integrationsprozeß, in: Wilfried Loth/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Theorien europäischer Integration, Opladen 2001, S. 107–146. – Zur Übertragbarkeit staatsrechtlicher Figuren auf die Europäische Union – vom Nutzen der Gestaltidee supranationaler Föderalismus anhand des Demokratieprinzips, in: Michael Brenner/Peter M. Huber (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel. Festschrift für Peter Badura zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2004, S. 1033–1052. Borchardt, Klaus-Dieter: Der sozialrechtliche Gehalt der Unionsbürgerschaft, in: NJW 2000, S. 2057–2061. Breuer, Marten: Staatshaftung für Judikativunrecht vor dem EuGH, in: BayVBl. 2003, S. 586–589. – Staatshaftung für judikatives Unrecht – Eine Untersuchung zum deutschen Recht, zum Europa- und Völkerrecht, Tübingen 2011. Breuer, Rüdiger: Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), in: NVwZ 1994, S. 417–429. Bröhmer, Jürgen: „Containment eines Leviathans“ – Anmerkungen zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 543–557. Brosius-Gersdorf, Frauke: Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip – eine verfassungsrechtliche Studie zur Bundesbankautonomie vor und nach der dritten Stufe der europäischen Währungsunion, Berlin 1997. Broß, Siegfried: Überlegungen zum gegenwärtigen Stand des Europäischen Einigungsprozesses: Probleme, Risiken und Chancen, in: EuGRZ 2002, S. 574–580. – Verfassungssystematische und verfassungspolitische Überlegungen zum Erfordernis eines nationalen Referendums über die Verfassung der Europäischen Union, in: Michael Wollenschläger u. a. (Hrsg.), Recht – Wirtschaft – Kultur. Herausforderungen an Staat und Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung. Festschrift für Hans Hablitzel zum 60. Geburtstag, Berlin 2005, S. 55–66. Bryde, Brun-Otto: Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – Konsequenzen für die weitere Entwicklung der europäischen Integration. Überarbeitete Fassung eines am 09.11.93 im Graduiertenkolleg „Vertiefung der Europäischen Integration“ gehaltenen Vortrags, Tübingen 1993. – Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 5 (1994), S. 305–330.

Literaturverzeichnis

281

Buchheim, Hans: Zu Art. 23 und Art. 146 GG, Leserbrief, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 7.4.1990, S. 10. Bülow, Erich: Die Entstehungsgeschichte des Art. 146 GG n. F., in: Klaus Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Bd. 1, Eigentum – Neue Verfassung – Finanzverfassung, Köln (u. a.) 1991, S. 49–53. Bull, Hans Peter/Mehde, Veith: Der rationale Finanzausgleich – ein Gesetzgebungsauftrag ohnegleichen: die Aufgabe des Gesetzgebers nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: DÖV 2000, S. 305–314. Burkholz, Bernhard: Teilnahme von Unionsbürgern an kommunalen Bürgerentscheiden? – Zur Zulässigkeit der Erweiterung landesrechtlicher Partizipationsrechte nach der Änderung des Art. 28 Abs. 1 GG, in: DÖV 1995, S. 816–819. Busse, Volker: Das vertragliche Werk der deutschen Einheit und die Änderungen von Verfassungsrecht, in: DÖV 1991, S. 345–354. Bußjäger, Peter: Folgerungen aus dem Lissabonurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Juristische Blätter 132 (2010), S. 273–283. Calliess, Christian: Das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip (Art. 3b EGV) als „Grundsatz der größtmöglichen Berücksichtigung der Regionen“, in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1996), S. 509–543. – Verfassungsverbund oder „Superstaat Europa“? – Perspektiven der EU-Erweiterung, in: Universitätsbund Göttingen (Hrsg.), Georgia Augusta: Wissenschaftsmagazin der Georg-August-Universität Göttingen, Bd. 3, Göttingen 2004, S. 18–25. – Das Ringen des Zweiten Senats mit der Europäischen Union – Über das Ziel hinausgeschossen . . ., in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 559–573. – Unter Karlsruher Totalaufsicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.8.2009, S. 8. – Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon – Ein Überblick über die Reformen unter Berücksichtigung ihrer Implikationen für das deutsche Recht, Tübingen 2011. – Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtsetzung, in: VVDStRL 71 (2012), S. 113–176. Calliess, Christian/Ruffert, Matthias: Vom Vertrag zur EU-Verfassung? Eine perspektivische Einführung in das Thema der Weimarer Tagung, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 31 (2004), S. 542–550. – (Hrsg.): EUV/AEUV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta. Kommentar, 4. Aufl., München 2011. Canaris, Claus-Wilhelm: Die Feststellung von Lücken im Gesetz – eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, 2. Aufl., Berlin 1983. Carstenholz, Frank: Die EU-Bürgerinitiative: Entwicklung und Konturen eines Europäischen Bürgerrechts, in: Peter-Christian Müller Graff/Stefanie Schmahl/Vassilios Skouris (Hrsg.), Europäisches Recht zwischen Bewährung und Wandel. Festschrift für Dieter H. Scheuing, Baden-Baden 2011, S. 39–57.

282

Literaturverzeichnis

Caspar, Johannes: Nationale Grundrechtsgarantien und sekundäres Gemeinschaftsrecht, in: DÖV 2000, S. 349–361. Cassese, Sabino: L’Unione europea e il guinzaglio tedesco, in: Giornale di diritto amministrativo 15 (2009), S. 1003–1007. Castaño, Sergio Raúl: Die verfassunggebende Gewalt in der deutschen Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit. Ein Überblick, in: Thomas Vormbaum (Hrsg.), Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 11 (2010), Berlin/New York 2010, S. 15–45. Classen, Claus Dieter: Maastricht und die Verfassung – kritische Bemerkungen zum neuen „Europa-Artikel“ 23 GG, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1993, S. 57–61. – Hauptstadtfrage und Verbesserung der Europatauglichkeit, in: Christian Starck (Hrsg.), Föderalismusreform – Einführung, München 2007, S. 95–123. – Legitime Stärkung des Bundestages oder verfassungsrechtliches Prokrustesbett? – Zum Urteil des BVerfG zum Vertrag von Lissabon, in: JZ 2009, S. 881–889. Corbett, Richard: The Treaty of Maastricht: From Conception to Ratification. A complete guide to the Maastricht process – covering its initial conception, negotiations and ratification, Harlow 1993. Cornils, Matthias: Mitgliedstaatlichkeit vorbehalten: Europa am Endpunkt der Integration?, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung – Ausgewählte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive, 2. Aufl., Tübingen 2011, S. 873–884. Craig, Paul: Integration, Democracy, and Legitimacy, in: ders./Gráinne de Búrca (Hrsg.), The Evolution of EU law, 2. Aufl., Oxford (u. a.) 2011, S. 13–40. Cremer, Wolfram: Lissabon-Vertrag und Grundgesetz, in: Juristische Ausbildung 2010, S. 296–307. von Danwitz, Thomas: Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung der Mitgliedstaaten – Entwicklung, Stand und Perspektiven der Europäischen Haftung aus Richterhand –, in: DVBl. 1997, S. 1–10. – Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 30.09.2003 – Rs. C-224/01, in: JZ 2004, S. 301– 303. – Unabhängig – und dann?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.3.2012, S. 8. Darnstädt, Thomas/Schult, Christoph/Zuber, Helene: Der große Sprung nach vorn, in: Der Spiegel 47/2011, S. 118–126. Degenhart, Christoph: Verfassungsfragen der deutschen Einheit, in: DVBl. 1990, S. 973–981. – Direkte Demokratie in den Ländern – Impulse für das Grundgesetz?, in: Der Staat 31 (1992), S. 77–97. – Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht – mit Bezügen zum Europarecht, 27. Aufl., Heidelberg 2011. Dehousse, Renaud: Beyond representative democracy: constitutionalism in a polycentric polity, in: Joseph H. H. Weiler/Marlene Wind (Hrsg.), European Constitutionalism Beyond the State, Cambridge (u. a.) 2003, S. 135–156.

Literaturverzeichnis

283

Denninger, Erhard: Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität in Europa, in: JZ 2000, S. 1121–1126. – u. a. (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), Bd. 2/3, 3. Aufl., Neuwied/Kriftel 2001. – Integration und Identität – eine Bitte um etwas Nachdenklichkeit, in: Kritische Justiz 34 (2001), S. 442–452. – Identität versus Integration?, in: JZ 2010, S. 969–974. Detterbeck, Steffen: Haftung der Europäischen Gemeinschaft und gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch, in: Archiv des öffentlichen Rechts 125 (2000), S. 202–256. Deutscher Bundestag (Hrsg.): Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Zur Sache 5/93, Bonn 1993. Di Fabio, Udo: Der neue Art. 23 des Grundgesetzes. Positivierung vollzogenen Verfassungswandels oder Verfassungsneuschöpfung?, in: Der Staat 32 (1993), S. 191–217. – „Der Bundesstaat ist ein Irrtum“, Spiegel-Gespräch, in: Der Spiegel 52/2011, S. 34– 36. Dichgans, Hans: Eine verfassunggebende Nationalversammlung?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1968, S. 61–63. Dingemann, Kathrin: Zwischen Integrationsverantwortung und Identitätskontrolle: Das „Lissabon“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 491–529. Dörr, Claus: Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: DVBl. 2006, S. 598–604. Dolzer, Rudolf/Vogel, Klaus/Graßhof, Karin (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, 133. EL, Stand: 4/2008, Heidelberg 2008. Doukas, Dimitrios: The verdict of the German Federal Constitutional Court on the Lisbon Treaty – not guilty, but don’t do it again!, in: European Law Review 34 (2009), S. 866–889. Dreier, Horst (Hrsg.): Grundgesetz-Kommentar, Tübingen, Bd. 2, 2. Aufl. 2006; Bd. 3, 2. Aufl. 2008. – Der Kampf um das Budgetrecht als Kampf um die staatliche Steuerungsherrschaft – Zur Entwicklung des modernen Haushaltsrechts, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/ Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, Baden-Baden 1998, S. 59–105. – Deutschland, in: Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/Peter M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 1, Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts, Heidelberg 2007, § 1 (S. 3–85). – Verfassungsänderung, leicht gemacht, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 6 (2008), S. 399–407.

284

Literaturverzeichnis

– Das Grundgesetz – eine Verfassung auf Abruf?, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 59 (2009), 18/19, S. 19–26. – Das Grundgesetz unter Ablösungsvorbehalt? Zu Deutung und Bedeutung des Art. 146 GG, in: ders. (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, Sechs Würzburger Vorträge zu 60 Jahren Grundgesetz, Berlin 2009, S. 159–189. – Gilt das Grundgesetz ewig? Fünf Kapitel zum modernen Verfassungsstaat, Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München 2009. – (Hrsg.): Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, Sechs Würzburger Vorträge zu 60 Jahren Grundgesetz, Berlin 2009. – Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, in: Rechtswissenschaft (1) 2010, S. 11–37. Dreier, Horst/Wittreck, Fabian (Hrsg.): Grundgesetz. Textausgabe mit sämtlichen Änderungen und andere Texte zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht, 6. Aufl., Tübingen 2011. – Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – Entstehung und Entwicklung, Gestalt und Zukunft, in: dies. (Hrsg.), Grundgesetz. Textausgabe mit sämtlichen Änderungen und andere Texte zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht, 6. Aufl., Tübingen 2011, S. XIII–XXVIII. Dutheil de la Rochère, Jacqueline/Pernice, Ingolf: European Union Law and National Constitutions, in: Mads Andenæs/John Usher (Hrsg.), The Treaty of Nice and Beyond – Enlargement and Constitutional Reform, Oxford 2003, S. 47–105. Ehlers, Dirk: Vertragsverletzungsklage des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Jura 2007, S. 684–689. Eibach, Gerhard: Das Recht der Europäischen Gemeinschaften als Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts: verfassungsrechtliche und verfahrensrechtliche Möglichkeiten unter den Gesichtspunkten des deutschen sowie des europäischen Rechts und des Völkerrechts, Berlin 1986. von Eichendorff, Joseph: Preußen und die Verfassungsfrage, in: Wolfgang Frühwald/ Brigitte Schillbach/Hartwig Schultz (Hrsg.), Joseph von Eichendorff. Werke in sechs Bänden, Bd. 5: Tagebücher, autobiographische Dichtungen, historische und politische Schriften, Frankfurt 1993, S. 599–611. Eichenhofer, Eberhard: Das Europäische Sozialrecht – Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektiven, in: JZ 1992, S. 269–277. Eijsbouts, Willem Thomas: Wir sind das Volk – notes about the notion of „the people“ as occasioned by the Lissabon-Urteil, in: European Constitutional Law Review 6 (2010), S. 199–222. Elicker, Michael: Verbietet das Grundgesetz ein Referendum über die EU-Verfassung?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2004, S. 225–229. Emmerich-Fritsche, Angelika: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung – mit Beiträgen zu einer gemeineuropäischen Grundrechtslehre sowie zum Lebensmittelrecht, Berlin 2000.

Literaturverzeichnis

285

Enders, Christoph: Offene Staatlichkeit unter Souveränitätsvorbehalt – oder: Vom Kampf der Rechtsordnungen nach Maastricht, in: Rolf Grawert u. a. (Hrsg.), Offene Staatlichkeit, Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 29–49. Engel, Hans u. a.: Aussprache, in: Klaus Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Bd. 1, Eigentum – Neue Verfassung – Finanzverfassung, Köln (u. a.) 1991, S. 111– 139. Engelken, Klaas: Einbeziehung der Unionsbürger in kommunale Abstimmungen (Bürgerentscheide, Bürgerbegehren)?, in: NVwZ 1995, S. 432–436. – Nochmals: Teilnahme von Unionsbürgern an kommunalen Bürgerentscheiden?, in: DÖV 1996, S. 737–741. Epiney, Astrid: Gemeinschaftsrecht und Föderalismus: „Landes-Blindheit“ und Pflicht zur Berücksichtigung innerstaatlicher Verfassungsstrukturen, in: Europarecht 29 (1994), S. 301–324. Epping, Volker: Die Beitrittserklärung und ihre Folgen für die Bundesrepublik Deutschland, in: JZ 1990, S. 805–808. Epping, Volker/Hillgruber, Christian (Hrsg.): Grundgesetz. Kommentar, München 2009. Erichsen, Hans-Uwe: Kommunales Ausländerwahlrecht, in: Jura 1988, S. 549–551. – Die Verfassungsänderung nach Art. 79 GG und der Verfassungsbeschluß nach Art. 146 GG, in: Juristische Ausbildung 1992, S. 52–55. Everling, Ulrich: Reflections on the Structure of the European Union, in: Common Market Law Review 29 (1992), S. 1053–1077. – Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, in: DVBl. 1993, S. 936–947. – Europas Zukunft unter der Kontrolle der nationalen Verfassungsgerichte – Anmerkungen zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 über den Vertrag von Lissabon, in: Europarecht 45 (2010), S. 91–107. Fink, Udo: Garantiert das Grundgesetz die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland?, in: DÖV 1998, S. 133–141. Fisahn, Andreas: Verdünnung der Zustimmung zum Zwangsgesetz – Demokratie und der Ausweg für Helden im Lissabon Urteil, in: Juridikum 4/2009, S. 176–183. Fischer, Joschka: Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Rede in der Humboldt-Universität in Berlin am 12. Mai 2000, Frankfurt 2000. Freiberger, Thomas: Der friedliche Revolutionär: Walter Hallsteins Epochenbewusstsein, in: Volker Depkat/Piero S. Graglia (Hrsg.), Entscheidung für Europa – Erfahrung, Zeitgeist und politische Herausforderungen am Beginn der europäischen Integration, Berlin/New York 2010, S. 205–242. Frenz, Walter: Dienstalterbezüge und Freizügigkeit; Staatshaftung für letztinstanzliche Gerichtsentscheidungen, Anmerkung zum EuGH-Urt. v. 30.9.2003 – C 224/01 – (Köbler ./. Österreich), in: DVBl. 2003, S. 1522–1524.

286

Literaturverzeichnis

– Handbuch Europarecht, Bd. 5, Wirkungen und Rechtsschutz, Berlin/Heidelberg 2010. – Subsidiaritätsprinzip und -klage nach dem Vertrag von Lissabon, in: Jura 2010, S. 641–645. Frenz, Walter/Götzkes, Vera: Staatshaftung für Gerichtsentscheidungen bei auslegungsbedürftigem Recht, in: Europarecht 44 (2009), S. 622–644. Friauf, Karl Heinrich/Höfling, Wolfram (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Berlin 2011 (Stand: 33. Ergänzungslieferung Juli 2011). Fröhlich, Stefan: Umbruch in Europa – die deutsche Frage und ihre sicherheitspolitischen Herausforderungen für die Siegermächte, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 40 (1990), 29, S. 35–45. Fromont, Michel: Souveränität und Europa: Ein Vergleich der deutschen und französischen Verfassungsrechtsprechung, in: DÖV 2011, S. 457–465. Frotscher, Werner/Pieroth, Bodo: Verfassungsgeschichte, 10. Aufl., München 2011. Frowein, Jochen Abraham: Die Verfassungslage Deutschlands im Rahmen des Völkerrechts, in: VVDStRL 49 (1990), S. 7–33. – Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 54 (1994), S. 1–16. – Die Europäisierung des Verfassungsrechts, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1: Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsprozeß, Tübingen 2001, S. 209–221. Gärdlitz, Klaus Ferdinand/Hillgruber, Christian: Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, in: JZ 2009, S. 872–881. Gaitanides, Charlotte: Der Nationale Stabilitätspakt nach der Föderalismusreform – eine Fiktion?, in: NJW 2007, S. 3112–3116. Galahn, Gunbritt: Die Deutsche Bundesbank im Prozess der europäischen Währungsintegration – rechtliche und währungspolitische Fragen aus deutscher Sicht, Berlin/ New York, 1996. Gas, Tonio: Macht das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Option der De-facto-Subsidiaritätsklage durch ein Bundesland unmöglich?, in: DÖV 2010, S. 313–318. Geerlings, Jörg: Die neue Rolle der Bundesbank im Europäischen System der Zentralbanken – von der Reichsbank zur Europäischen Zentralbank, in: DÖV 2003, S. 322–328. Geiger, Rudolf: Die Mitwirkung des deutschen Gesetzgebers an der Entwicklung der Europäischen Union. Zur Auslegung des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG in: JZ 1996, S. 1093–1098. – Zur Beteiligung des Gesetzgebers gemäß Art. 23 Abs. 1 GG bei Änderung und Erweiterung der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 18 (2003), S. 193–207.

Literaturverzeichnis

287

Geiger, Rudolf/Khan, Daniel-Erasmus/Kotzur, Markus (Hrsg.): EUV/AEUV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Kommentar, 5. Aufl., München 2010. Geiger, Willi: Der Grundlagenvertrag und die Einheit Deutschlands, in: Dieter Blumenwitz (Hrsg.), 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Verantwortung für Deutschland, Köln 1989, S. 53–64. Gerhardt, Michael: Europa als Rechtsgemeinschaft: Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2010, S. 161–165. Giegerich, Thomas: The Federal Constitutional Court’s non-sustainable role as Europe’s ultimate arbiter: from age discrimination to the saving of the Euro, in: German Yearbook of International Law/Jahrbuch für internationales Recht 53 (2010), S. 867–884. Goerlich, Helmut/Assenbrunner, Benedikt: Das Europäische „Bürgerbegehren“ als Element eines supranationalen Demokratieverständnisses nach dem Vertrag von Lissabon, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 26 (2011), S. 268–287. Grabitz, Eberhard/von Bogdandy, Armin: Deutsche Einheit und Europäische Integration, in: NJW 1990, S. 1073–1079. Grabitz, Eberhard/Hilf, Meinhard/Nettesheim, Martin (Hrsg.): Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt, 46. EL, Stand: 10/2011, München 2011. Grefrath, Holger: Exposé eines Verfassungsprozessrechts von den Letztfragen? Das Lissabon-Urteil zwischen actio pro socio und negativer Theologie, in: Archiv des öffentlichen Rechts 135 (2010), S. 221–250. Grimm, Dieter: Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995, S. 581–591. – Zwischen Anschluß und Neukonstitution. Wie aus dem Grundgesetz eine Verfassung für das geeinte Deutschland werden kann, zuerst veröffentlicht in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.4.1990, S. 35, abgedruckt in: ders., Die Verfassung und die Politik. Einsprüche in Störfällen, München 2001, S. 35–47. – Souveränität – Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin 2009. – Das Grundgesetz als Riegel vor einer Verstaatlichung der Europäischen Union, in: Der Staat 48 (2009), S. 475–495. – Identität und Wandel – das Grundgesetz 1949 und heute, in: Leviathan 37 (2009), S. 603–616. – Was das Grundgesetz will, ist eine politische Frage, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.12.2011, S. 30. Gromitsaris, Athanasios: Rechtsgrund und Haftungsauslösung im Staatshaftungsrecht – eine Untersuchung auf europarechtlicher und rechtsvergleichender Grundlage, Berlin 2006. Gross, Andreas: „Europäische Bürgerinitiative“ als erster Schritt auf dem Weg zur transnationalen Demokratie und zur Demokratisierung der EU, in: Johannes W. Pichler (Hrsg.), Direkte Demokratie in der Europäischen Union, Wien/Graz 2009, S. 79–83.

288

Literaturverzeichnis

Grosser, Alfred: The Federal Constitutional Court’s Lisbon Case: Germany’s „Sonderweg“ – An Outsider’s Perspective, in: German Law Journal 10 (2009), S. 1263– 1266. Grune, Jeanette: Staatshaftung bei Verstößen nationaler Gerichte gegen Europäisches Gemeinschaftsrecht, in: BayVBl. 2004, S. 673–677. Guckelberger, Annette: Die Europäische Bürgerinitiative (EBI), in: DÖV 2010, S. 745– 754. Guggenberger, Bernd/Stein, Tine (Hrsg.): Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit. Analysen – Hintergründe – Materialien, München/Wien 1991. Gundel, Jörg: Gemeinschaftsrechtliche Haftungsvorgaben für judikatives Unrecht – Konsequenzen für die Rechtskraft und das deutsche „Richterprivileg“ (§ 839 Abs. 2 BGB) – zugleich Anmerkung zu EuGH, 30. 9. 2003 – Rs. C-224/01, Gerhard Köbler/Republik Österreich, in: Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 1/2004, S. 8–16. Gusy, Christoph: Die Weimarer Verfassung und ihre Wirkung auf das Grundgesetz, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte (32) 2010, S. 208–224. Haack, Stefan: Verlust der Staatlichkeit, Tübingen 2007. Habermas, Jürgen: Zur Verfassung Europas – Ein Essay, Berlin 2011. Häberle, Peter: Grundrechte im Leistungsstaat, in: Wolfgang Martens/Peter Häberle/ Otto Bachof/Winfried Brohm (Hrsg.), Grundrechte im Leistungsstaat: Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), Berlin/New York 1972, S. 43–141. – Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, in: Yvo Hangartner (Hrsg.), Völkerrecht im Dienste des Menschen – Festschrift für Hans Haug, Bern (u. a.) 1986, S. 81–108. – Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat: Eine vergleichende Textstufenanalyse, in: Archiv des öffentlichen Rechts 112 (1987), S. 54–92. – Verfassungspolitik für die Freiheit und Einheit Deutschlands. Ein wissenschaftlicher Diskussionsbeitrag im Vormärz 1990, in: JZ 1990, S. 358–363. – Föderalismus, Regionalismus, Kleinstaaten – in Europa, in: Die Verwaltung 1992, S. 1–19. – Verfassungsrechtliche Fragen im Prozeß der europäischen Einigung, in: EuGRZ 1992, S. 429–437. – Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: Archiv des öffentlichen Rechts 119 (1994), S. 169–206. – Die Europäische Verfassungsstaatlichkeit, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 78 (1995), S. 298–312. – Gemeineuropäisches Verfassungsrecht und „Verfassung“ der EG, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, Baden-Baden 1998, S. 11–44.

Literaturverzeichnis

289

– Das retrospektive Lissabon-Urteil als versteinernde Maastricht II-Entscheidung, in: ders. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 58 (2010), S. 317– 336. Häde, Ulrich: Finanzausgleich – die Verteilung der Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen im Recht der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, Tübingen 1996. – Die innerstaatliche Verteilung gemeinschaftsrechtlicher Zahlungspflichten – Anlastungen und Haushaltsdisziplin, Berlin 2006. – Zur Föderalismusreform in Deutschland, in: JZ 2006, S. 930–940. Hahn, Hugo: Der Vertrag von Maastricht als völkerrechtliche Übereinkunft und Verfassung. Anmerkungen anhand Grundgesetz und Gemeinschaftsrecht, Baden-Baden 1992. Hahn, Jörg-Uwe: Die Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten nach dem neuen Integrationsverantwortungsgesetz, in: EuZW 2009, S. 758–762. Hahn, Martin: Mehr Demokratie wagen: „Lissabon“-Entscheidung und Volkssouveränität, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 583–597. Hakenberg, Waltraud: Zur Staatshaftung von Gerichten bei Verletzung von europäischem Gemeinschaftsrecht – gleichzeitig eine Besprechung des Urteils „Köbler“ des EuGH vom 30.9.2003, in: DRiZ 2004, S. 113–117. Halberstam, Daniel: Local, global and plural constitutionalism: Europe meets the world, in: Gráinne de Búrca/Joseph H. H. Weiler (Hrsg.), The Worlds of European Constitutionalism, Cambridge (u. a.) 2012, S. 150–202. Halberstam, Daniel/Möllers, Christoph: The German Constitutional Court says „Ja zu Deutschland!“, in: German Law Journal 10 (2009), S. 1241–1257. Halfmann, Ralf: Entwicklungen des deutschen Staatsorganisationsrechts – die Zusammenarbeit von Bund und Ländern nach Art. 23 GG im Lichte der Staatsstrukturprinzipien des Grundgesetzes, Berlin 2000. Hallstein, Walter: Der unvollendete Bundesstaat – Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse, Düsseldorf/Wien 1969. – Die europäische Gemeinschaft, Düsseldorf 1973. Haltern, Ulrich/Mayer, Franz/Möllers, Christoph: Wesentlichkeitstheorie und Gerichtsbarkeit. Zur institutionellen Kritik des Gesetzesvorbehalts, in: Die Verwaltung 30 (1997), S. 51–74. Hankel, Wilhelm/Nölling, Wilhelm/Schachtschneider, Karl Albrecht/Starbatty, Joachim: Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muß, Reinbek bei Hamburg 1998. Hanschmann, Felix: „Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende“ – eine rechtliche (Neu-)Bewertung des kommunalen Wahlrechts für Drittstaatsangehörige, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40 (2009), S. 74–85. Haratsch, Andreas/Koenig, Christian/Pechstein, Matthias: Europarecht, 7. Aufl., Tübingen 2010.

290

Literaturverzeichnis

Hatje, Armin/Terhechte, Jörg Philipp (Hrsg.): Grundgesetz und europäische Integration – Die Europäische Union nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Europarecht-Beiheft 1/2010, Baden-Baden 2010. Heckel, Katharina: Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, Berlin 1998. Heckel, Martin: Die Legitimation des Grundgesetzes durch das deutsche Volk, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 8, Heidelberg 1995, § 197 (S. 489–555). – Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage. Wo war das Volk?, Heidelberg 1995. – Staat – Kirche – Recht – Geschichte, in: Klaus Schlaich (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 3, Tübingen 1997. Heckmann, Dirk: Verfassungsreform als Ideenwettbewerb zwischen Staat und Volk – Zur Harmonisierung von Art. 79, 146 GG und Art. 5 EV –, in: DVBl. 1991, S. 847– 855. – Das „unvollkommen-plebiszitäre Element“ des Art. 146 GG – Ursprung, Obsoletwerden, Erfüllung – in: Klaus Borgmann u. a. (Hrsg.), Verfassungsreform und Grundgesetz. 32. Tagung der Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachrichtung „Öffentliches Recht“, Stuttgart (u. a.) 1992, S. 9–29. Hector, Pascal: Zur Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 599–612. Heintzen, Markus: Die „Herrschaft“ über die Europäischen Gemeinschaftsverträge – Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof auf Konfliktkurs?, in: Archiv des öffentlichen Rechts 119 (2004), S. 564–589. Heller, Hermann: Die Souveränität – Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts, Berlin/Leipzig 1927. – Staatslehre – In der Bearbeitung von Gerhart Niemeyer, 6. Aufl., Tübingen 1983. Herbst, Tobias: Legitimation durch Verfassunggebung – ein Prinzipienmodell der Legitimität staatlicher und supranationaler Hoheitsgewalt, Baden-Baden 2003. – Volksabstimmung ohne Grundgesetz?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2005, S. 29– 31. Herdegen, Matthias: Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, Heidelberg 1991. – Die Belastbarkeit des Verfassungsgefüges auf dem Weg zur Europäischen Union, in: EuGRZ 1992, S. 589–595. – Zeitgemäße Souveränität – Das Zusammenspiel von staatlicher Freiheit und völkerrechtlichen Bindungen schützt die Bürger eines Staates und zugleich die ganze Staatengemeinschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.4.2009, S. 9. – Grenzen der Verfassungsgebung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, Tübingen 2010, S. 349–371.

Literaturverzeichnis

291

– Das Grundgesetz und die Europäische Union, in: Christian Hillgruber/Christian Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, Göttingen 2010, S. 139–150. – Europarecht, 13. Aufl., München 2011. Herzog, Roman: Subsidiaritätsprinzip und Staatsverfassung, in: Der Staat 2 (1963), S. 399–423. Herzog, Roman/Gerken, Lüder: Stoppt den Europäischen Gerichtshof, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8.9.2008, S. 8. Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl., Heidelberg 1991. Hidien, Jürgen W.: Der bundesstaatliche Finanzausgleich in Deutschland – geschichtliche und staatsrechtliche Grundlagen, Baden-Baden 1999. Hilf, Meinhard: Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, in: VVDStRL 53 (1994), S. 7–25. – Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, in: Albrecht Randelzhofer (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, München 1995, S. 157– 170. Hillgruber, Christian: Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 32 (S. 929–992). – Deutsche Revolutionen – „Legale Revolutionen“?, in: Der Staat 49 (2010), S. 167– 209. Hirsch, Günter: Europäischer Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht – Kooperation oder Konfrontation?, in: NJW 1996, S. 2457–2466. – Der EuGH im Spannungsverhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, in: NJW 2000, S. 1817–1822. Hobe, Stephan: Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht – auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat?, in: Der Staat 32 (1993), S. 245–268. – Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz – eine Studie zur Wandlung des Staatsbegriffs der deutschsprachigen Staatslehre im Kontext internationaler institutionalisierter Kooperation, Berlin 1998. Hochhuth, Martin: Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, Tübingen 2007. Hölscheidt, Sven/Menzenbach, Steffi/Schröder, Birgit: Das Integrationsverantwortungsgesetz – ein Kurzkommentar, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40 (2009), S. 758– 773. Hömig, Dieter: Grundlagen und Ausgestaltung der Wesentlichkeitslehre, in: Eberhard Schmidt-Aßmann u. a. (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, Köln (u. a.) 2003, S. 273–288. Höpner, Martin/Leibfried, Stephan/Höreth, Marcus/Scharpf, Fritz W./Zürn, Michael: Kampf um Souveränität? Eine Kontroverse zur europäischen Integration nach dem

292

Literaturverzeichnis

Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Politische Vierteljahresschrift 51 (2010), S. 323–355. Hoffmann-Riem, Wolfgang: Das Grundgesetz – zukunftsfähig?, in: DVBl. 1999, S. 657– 667. Hofmann, Hasso: Über Verfassungsfieber, in: Ius Commune, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, Bd. 17 (1990), S. 310–317. – Zur Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 6 (1995), S. 155–181. Hoppe, Bernd: Der preußische Verfassungskonflikt von 1862–1866, in: JA 1993, S. 146. Hornung, Ulrike: Die Verordnung über die Europäische Bürgerinitiative – mit Vollgas und angezogener Handbremse zu mehr Demokratie in Europa?, in: Recht und Politik 47 (2011), S. 94–102. Huba, Hermann: Zwei Wege zur Einheit und die Endgültigkeit des Grundgesetzes, in: VBlBW 1990, S. 288–293. – Das Grundgesetz als dauerhafte gesamtdeutsche Verfassung. Erinnerung an seine Legitimität, in: Der Staat 30 (1991), S. 367–377. Huber, Peter M.: Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof als Hüter der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 116 (1991), S. 210–251. – Maastricht – ein Staatsstreich?, Stuttgart/München (u. a.) 1993. – Die Anforderungen der Europäischen Union an die Reform des Grundgesetzes, in: ThürVBl. 1994, S. 1–8. – Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl., München 2002. – Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/Peter M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2, Offene Staatlichkeit – Wissenschaft vom Verfassungsrecht, Heidelberg 2008, § 26 (S. 403–459). – Das europäisierte Grundgesetz, in: DVBl. 2009, S. 574–582. – Wer das Sagen hat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.9.2009, S. 8. – Demokratische Legitimation in der Europäischen Union, in: Horst Dreier/Friedrich Wilhelm Graf/Joachim Jens Hesse (Hrsg.), Staatswissenschaften und Staatspraxis, Baden-Baden 2011, S. 68–83. Ipsen, Hans-Peter: Über das Grundgesetz – Rede gehalten anläßlich des Beginns des neuen Amtsjahres des Rektors der Universität Hamburg am 17. November 1949, Hamburg 1950. – Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972. Isensee, Josef: Staatseinheit und Verfassungskontinuität, in: VVDStRL 49 (1990), S. 39–64. – Verfassungsrechtliche Wege zur deutschen Einheit, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 73 (1990), S. 125–147.

Literaturverzeichnis

293

– Verfassungsrechtliche Wege zur deutschen Einheit, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1990, S. 309–332. – Selbstpreisgabe des Grundgesetzes? Der Beitritt der DDR macht die Abschlußbestimmung des Grundgesetzes obsolet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28.8. 1990, S. 10. – Das Grundgesetz zwischen Endgültigkeitsanspruch und Ablösungsklausel, in: Klaus Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Bd. 1, Eigentum – Neue Verfassung – Finanzverfassung, Köln (u. a.) 1991, S. 63–93. – Braucht Deutschland eine neue Verfassung? Überlegungen zur neuen Schlußbestimmung des Grundgesetzes, Art. 146 GG, Köln 1992. – Schlußbestimmung des Grundgesetzes: Artikel 146, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, Heidelberg 1992, § 166 (S. 271–306). – Integrationsziel Europastaat?, in: Ole Due/Marcus Lutter/Jürgen Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. 1, Baden-Baden 1995, S. 567–592. – Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte – offener Dissens, in: Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 1241–1268. – Verfassungsreferendum mit einfacher Mehrheit. Der Volksentscheid zur Abschaffung des Bayerischen Senats als Paradigma, Heidelberg 1999. – Befindlichkeit deutscher Demokratie – Momentaufnahmen der realen und der rechtlichen Verfassungslage nach der Bundestagswahl 2005, in: Peter M. Huber (Hrsg.), Das Grundgesetz zwischen Stabilität und Veränderung, Tübingen 2007, S. 1–23. – Demokratie ohne Volksabstimmung. Das Grundgesetz, in: Christian Hillgruber/ Christian Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, Göttingen 2010, S. 117–137. – Integrationswille und Integrationsresistenz des Grundgesetzes – Das Bundesverfassungsgericht zum Vertrag von Lissabon, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2010, S. 33–37. Italiaander, Rolf: Richard N. Coudenhove-Kalergi – Begründer der Paneuropa-Bewegung, Freudenstadt 1969. Janzen, Dietmar: Der neue Art. 88 Satz 2 des Grundgesetzes – verfassungsrechtliche Anforderungen an die Übertragung der Währungshoheit auf die Europäische Zentralbank, Berlin 1996. Jarass, Hans Dieter: EG-Kompetenzen und das Prinzip der Subsidiarität nach Schaffung der Europäischen Union, in: EuGRZ 1994, S. 209–211. – Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1996), S. 173–199. – Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Kommentar, München 2010. Jarass, Hans Dieter/Pieroth, Bodo: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, München, 2. Aufl. 1992; 11. Aufl. 2011.

294

Literaturverzeichnis

Jeand’Heur, Bernd: Weitergeltung des Grundgesetzes oder Verabschiedung einer neuen Verfassung in einem vereinigten Deutschland?, in: DÖV 1990, S. 873–879. Jeckel, Sebastian: Die Staatlichkeit Deutschlands in der Europäischen Union aus verfassungsrechtlicher und gemeinschaftsrechtlicher Sicht, Köln 1997. Jestaedt, Matthias: Warum in die Ferne schweifen, wenn der Massstab liegt so nah?, in: Der Staat 48 (2009), S. 497–516. Kadelbach, Stefan: Vorrang und Verfassung. Das Recht der Europäischen Union im innerstaatlichen Bereich, in: Charlotte Gaitanides (Hrsg.), Europa und seine Verfassung. Festschrift für Manfred Zuleeg zum siebzigsten Geburtstag, 2. Aufl., BadenBaden 2007, S. 219–233. – Autonomie und Bindungen der Rechtsetzung in gestuften Rechtsordnungen, in: VVDStRL 66 (2007), S. 7–44. – Unionsbürgerrechte, in: Dirk Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., Berlin 2009, § 19 (S. 648–685). Kahl, Wolfgang/Glaser, Andreas: Nicht ohne uns, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8.3.2012, S. 8. Kemmler, Iris: Nationaler Stabilitätspakt und Aufteilung der EU-Haftung zwischen Bund und Ländern nach der Föderalismusreform, in: Landes- und Kommunalverwaltung 2006, S. 529–535. Kempen, Bernhard: Grundgesetz oder neue deutsche Verfassung?, in: NJW 1991, S. 964–967. Kiiver, Philipp: The Lisbon judgement of the German Constitutional Court – a courtordered strengthening of the national legislature in the EU, in: European Law Journal 16 (2010), S. 578–588. Kirchhof, Ferdinand: Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaats, Vortrag bei der Juristischen Studiengesellschaft in Münster am 29.9.2010. Kirchhof, Paul: Der Finanzausgleich als Grundlage kommunaler Selbstverwaltung, in: DVBl. 1980, S. 711–719. – Der Auftrag der Rechtseinheit im vereinigten Deutschland, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission (Hrsg.), Die Wiedervereinigung und damit zusammenhängende Rechtsprobleme – Jahrestagung vom 16. bis 18. November 1990 in Bensberg, Heidelberg 1991, S. 3–19. – Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Josef Isensee/ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, Heidelberg 1992, § 183 (S. 855–887.) – Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz?, München 1992. – Der wechselseitige Einfluß von Staatsverfassung und Europa, in: Peter Clever/Heinz Gester (Hrsg.): Der Vertrag über die Europäische Union und seine Auswirkungen auf die deutsche Wirtschafts- und Arbeitsverfassung, München 1996, S. 9–26. – Freiheit in der Gemeinsamkeit der Werte. Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst mitverantwortet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.5.1999, S. 8.

Literaturverzeichnis

295

– Die Identität der Verfassung, in: J. Isensee/ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 21 (S 261– 316). – „Vereinigte Staaten von Europa wird es nicht geben“, Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 1.7.2009, S. 3. Kirchner, Christian/Haas, Joachim: Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft, in: JZ 1993, S. 760–771. Kischel, Uwe: Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, in: Europarecht 35 (2000), S. 380–402. Klein, Eckart: An der Schwelle zur Wiedervereinigung Deutschlands, in: NJW 1990, S. 1065–1073. – Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 50 (1991), S. 56–96. – Bundesstaatlichkeit im vereinten Deutschland, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission (Hrsg.), Die Wiedervereinigung und damit zusammenhängende Rechtsprobleme – Jahrestagung vom 16. bis 18. November 1990 in Bensberg, Heidelberg 1991, S. 23–43. – Der Einigungsvertrag – Verfassungsprobleme und -aufträge, in: DÖV 1991, S. 569– 578. Klein, Eckart/Haratsch, Andreas: Neuere Entwicklungen des Rechts der Europäischen Gemeinschaften, in: DÖV 1993, S. 785–798; 1994, S. 133–142. Klein, Hans Hugo: Kontinuität des Grundgesetzes und seine Änderung im Zuge der Wiedervereinigung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 8, Heidelberg 1995, § 198 (S. 557– 602). Kloepfer, Michael: Verfassungsänderung statt Verfassungsreform – zur Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission, 2. Aufl., Berlin 1996. Kluth, Winfried: Die demokratische Legitimation der Europäischen Union – Eine Analyse der These vom Demokratiedefizit der Europäischen Union aus gemeineuropäischer Verfassungsperspektive, Berlin 1995. – Die Haftung der Mitgliedstaaten für gemeinschaftsrechtswidrige höchstrichterliche Entscheidungen – Schlussstein im System der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung, in: DVBl. 2004, S. 393–403. – (Hrsg.): Förderalismusreformgesetz – Einführung und Kommentierung, Baden-Baden 2007. Knauff, Matthias: Die Erweiterung der Europäischen Union auf Grundlage des Vertrags von Lissabon, in: DÖV 2010, S. 631–638. Koch, Oliver: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Berlin 2003. Koenig, Christian: Volksabstimmungen nach dem Grundgesetz auf dem Weg in die Vereinigten Staaten von Europa?, in: DVBl. 1993, S. 140–148.

296

Literaturverzeichnis

– Die europäische Sozialunion als Bewährungsprobe der supranationalen Gerichtsbarkeit, in: Europarecht 29 (1994), S. 175–195. – Staatshaftung für „hinreichend qualifizierte“ Gemeinschaftsrechtsverstöße im nicht oder nur teilharmonisierten Bereich und die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG, in: Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 7/2009, S. 249–253. Koenig, Christian/Braun, Jens-Daniel: Rückgriffsansprüche des Bundes bei einer Haftung für Verstöße der Bundesländer gegen Gemeinschaftsrecht, in: Neue Justiz 58 (2004), S. 97–103. König, Doris: Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses – Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes, Berlin 2000. von Komorowski, Alexis: Demokratieprinzip und Europäische Union – staatsverfassungsrechtliche Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung, Berlin 2010. Kottmann, Matthias/Wohlfahrt, Christian: Der gespaltene Wächter? – Demokratie, Verfassungsidentität und Integrationsverantwortung im Lissabon-Urteil, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 69 (2009), S. 443–470. Kraus, Hans-Christof: Ursprung und Genese der Lückentheorie im preußischen Verfassungskonflikt, in: Der Staat 29 (1990), S. 209–234. Kremer, Carsten: Staatshaftung für Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht durch letztinstanzliche Gerichte (EuGH, NJW 2003, 3539 – Köbler), in: NJW 2004, S. 480–482. Kriele, Martin: Eine Sprengladung unter dem Fundament des Grundgesetzes, in: Die Welt Nr. 190 v. 16.8.1990, S. 5. – Art. 146 GG: Brücke zu einer neuen Verfassung, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1991, S. 1–5. Kröning, Volker: Kernfragen der Verfassungsreform – Plädoyer für eine Konzentration auf das Wesentliche, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1991, S. 161–166. Kronenberg, Volker: Patriotismus in Deutschland – Perspektiven für eine weltoffene Nation, 2. Aufl., Wiesbaden 2006. Krüger, Herbert: Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Horst Ehmke/Joseph H. Kaiser/Wilhelm A. Kewenig/Karl Matthias Meesen/Wolfgang Rüfner (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag, Berlin 1973, S. 285–306. Kühnhardt, Ludger: Die zweite Begründung der europäischen Integration, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 60 (2010), 18, S. 3–8. Kuhn, Heike: Die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaft, Berlin 1995. Kuhnen, Jan Drees: Die Zukunft der Nationen in Europa. Ist das Zeitalter der Nationen und Nationalstaaten in Europa vorüber?, Berlin 2009. Kunig, Philip: Mitwirkung der Länder bei der europäischen Integration. Art. 23 des Grundgesetzes im Zwielicht, in: Jörn Ipsen (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel. Wiedervereinigung Deutschlands, Deutschland in der Europäischen Union, Verfas-

Literaturverzeichnis

297

sungsstaat und Föderalismus. Festschrift zum 180jährigen Bestehen der Carl-Heymanns-Verlag-KG, Köln (u. a.) 1995, S. 591–605. Ladenburger, Clemens: Anmerkungen zu Kompetenzordnung und Subsidiarität nach dem Vertrag von Lissabon, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 14 (2011), S. 389–408. Lange, Friederike V.: „Direkter Ausdruck nationaler Souveränität“? – Das Referendum in Frankreich, in: Lars P. Feld u. a. (Hrsg.), Jahrbuch für direkte Demokratie 2009, Baden-Baden 2010, S. 259–270. Lanza, Elisabetta: Core of State Sovereignty and Boundaries of European Union’s Identity in the Lissabon-Urteil, in: German Law Journal 11 (2010), S. 399–418. Larenz, Karl/Canaris, Claus-Wilhelm: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin (u. a.) 1995. Lecheler, Helmut: Das Subsidiaritätsprinzip – Strukturprinzip einer europäischen Union, Berlin 1993. – Unrecht in Gesetzesform? Gedanken zur „Radbruch’schen Formel“ – Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 1. Dezember 1993, Berlin 1994. – Die Mitwirkungsgesetzgebung an der europäischen Integration vor und nach dem Urteil des BVerfG zum Lissabon-Vertrag, in: JZ 2009, S. 1156–1160. Leibfried, Stephan: Staatsschiff Europa, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 60 (2010), 18, S. 41–46. Leibholz, Gerhard/von Mangoldt, Hermann (Hrsg.): Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart: neue Folge (Das öffentliche Recht der Gegenwart) 1 (1951), Tübingen 1951. Lemke, Volker: Aktualisierung der verfassunggebenden Gewalt nach dem Grundgesetz, Kiel 1974. Lenz, Carl Otto: Ausbrechender Rechtsakt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8.8. 2009, S. 7. Lerche, Peter: Beitritt der DDR und dazu ein Volksentscheid?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.4.1990, S. 10. – Europäische Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes, in: Bernd Bender/ Rüdiger Breuer/Fritz Ossenbühl/Horst Sendler (Hrsg.), Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz. Festschrift für Konrad Redeker, München 1993, S. 131–147. – Der Beitritt der DDR – Voraussetzungen, Realisierung, Wirkungen, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts des Bundesrepublik Deutschland, Bd. 8, Heidelberg 1995, § 194 (S. 403–446). – Art. 146 GG: Auftrag zur Neuverfassung Deutschlands?, in: Karl Graf Ballestrem/ Henning Ottmann (Hrsg.), Theorie und Praxis – Festschrift für Nikolaus Lobkowicz zum 65. Geburtstag, Berlin 1996, S. 299–309. – Fragen der Stabilität des Grundgesetzes, in: Peter M. Huber (Hrsg.), Das Grundgesetz zwischen Stabilität und Veränderung, Tübingen 2007, S. 73–80.

298

Literaturverzeichnis

Limbach, Jutta: Das Bundesverfassungsgericht und der Grundrechtsschutz in Europa, in: NJW 2001, S. 2913–2919. Link, Werner: Auf dem Weg zu einem neuen Europa – Herausforderungen und Antworten, Baden-Baden 2006. Löwenthal, Fritz: Der preußische Verfassungsstreit 1862–1866, München/Leipzig 1914. Löwer, Wolfgang: Cessante ratione legis cessat ipsa lex – Wandlung einer gemeinrechtlichen Auslegungsregel zum Verfassungsgebot? Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 23. November 1988, Berlin 1989. Loth, Wilfried: Der Weg nach Europa – Geschichte der europäischen Integration 1939– 1957, 3. Aufl., Göttingen 1996. Lübbe-Wolff, Gertrude: Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (2001), S. 246–289. Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt 1995. Magiera, Siegfried: Die Grundgesetzänderung von 1992 und die Europäische Union, in: Jura 1994, S. 1–11. Mahrenholz, Ernst Gottfried: Die Verfassung und das Volk. Vortrag gehalten in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung am 30. Oktober 1991, München 1992. Mangold, Anna Katharina: Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht. Die Europäisierung der deutschen Rechtsordnung in historisch-empirischer Sicht, Tübingen 2011. von Mangoldt, Hermann/Klein, Friedrich/von Campenhausen, Axel (Hrsg.): Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, 3. Aufl., München 1991. von Mangoldt, Hermann/Klein, Friedrich/Starck, Christian (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz, München, Bd. 2, 6. Aufl. 2010; Bd. 3, 4. Aufl. 2001; 6. Aufl. 2010. Manssen, Gerrit: Die staatsrechtliche Lage Deutschlands, in: BayVBl. 1990, S. 458– 462. Maunz, Theodor: Die verfassunggebende Gewalt im Grundgesetz, in: DÖV 1953, S. 645–648; Abdr. in: Hanns Kurz (Hrsg.): Volkssouveränität und Staatssouveränität, Darmstadt 1970, S. 311–322. Maunz, Theodor/Dürig, Günter (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, 63. EL, Stand: 10/2011, München 2011. Maurer, Hartmut: Staatsrecht I – Grundlagen, Verfassungsorgane, Staatsfunktionen, 6. Aufl., München 2010. Mayer, Franz C.: Ein Referendum über die Europäische Verfassung?, in: EuZW 2003, S. 321. – Europäische Union: Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl., Berlin/Heidelberg 2009, S. 559–607. – Rashomon in Karlsruhe, in: NJW 2010, S. 714–718. Mayer, Franz C./Walter, Maja: Die Europarechtsfreundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss, in: Jura 2011, S. 532–542.

Literaturverzeichnis

299

Meerkamp, Frank: Die Quorenfrage im Volksgesetzgebungsverfahren. Bedeutung und Entwicklung, Wiesbaden 2011. Meessen, Karl Matthias: Maastricht nach Karlsruhe, in: NJW 1994, S. 549–554. Melin, Patrick: Die Rolle der deutschen Bundesländer im Europäischen Rechtsetzungsverfahren nach Lissabon, in: Europarecht 46 (2011), S. 655–682. Mellein, Christine: Subsidiaritätskontrolle durch nationale Parlamente – eine Untersuchung zur Rolle der mitgliedstaatlichen Parlamente in der Architektur Europas, Baden-Baden 2007. Menz, Lorenz: Das Grundgesetz im vereinten Deutschland – zur Diskussion um eine Verfassungsreform, in: VBlBW 1991, S. 401–404. Menzel, Jörg: Sechzig Jahre Verfassungsrechtsprechung – Einführende Überlegungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit, zum Bundesverfassungsgericht und zur Bedeutung seiner Judikative, in: ders./Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung – Ausgewählte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive, 2. Aufl., Tübingen 2011, S. 1–44. Merkel, Karlheinz: Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, Grundlagen und Dogmatik des Artikels 146 GG, Baden-Baden 1996. Meyer, Hans: Das ramponierte Grundgesetz, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 76 (1993), S. 399–428. Meyer-Teschendorf, Klaus-G./Hofmann, Hans: Teilnahme von Unionsbürgern nicht nur an Kommunalwahlen, sondern auch an kommunalen Plebisziten?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1995, S. 290–293. Mirschberger, Michael: Europäische Einigung: Das Lissabon-Urteil und die Abwahl des Grundgesetzes, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 94 (2011), S. 239–261. Moelle, Henning: Der Verfassungsbeschluß nach Artikel 146 GG, Paderborn/München 1996. Möller, Hauke: Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und die Schranken der Verfassungsrevision, Berlin 2004. Möllers, Christoph: Demokratie – Zumutungen und Versprechungen, Berlin 2008. – Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik, Frankfurt 2008. – Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl., Berlin/Heidelberg 2009, S. 227–278. – Staat als Argument, 2. Aufl., Tübingen 2011. – An der Grenze, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20.10.2011, S. 6. Morlok, Martin: Grundfragen einer Verfassung auf europäischer Ebene, in: Peter Häberle/Martin Morlok/Vassilios Skouris (Hrsg.), Staat und Verfassung in Europa – Erträge des Wissenschaftlichen Kolloquiums zu Ehren von Prof. Dr. Dimitris Th. Tsatsos aus Anlaß seines 65. Geburtstages, Baden-Baden 2000, S. 73–90.

300

Literaturverzeichnis

Mosler, Hermann: Die Übertragung von Hoheitsgewalt, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, Heidelberg 1992, § 175 (S. 599–666). Müller, Friedrich: Fragement (über) verfassunggebende Gewalt des Volkes, Berlin 1995. Müller-Graff, Peter-Christian: Das Karlsruher Lissabon-Urteil: Bedingungen, Grenzen, Orakel und integrative Optionen, in: integration 32 (2009), S. 331–360. – Das Lissabon-Urteil – Implikationen für die Europapolitik, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 60 (2010), 18, S. 22–29. von Münch, Ingo/Kunig, Philip (Hrsg.): Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4./5. Aufl., München 2001; Bd. 3, 5. Aufl., München 2003. Murkens, Jo Eric Khusal: „We want our identity back“. The revival of national sovereignty in the German Federal Constitutional Court’s decision on the Lisbon Treaty, in: Public Law 55 (2010), S. 530–550. Murswiek, Dietrich: Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978. – Das Staatsziel der Einheit Deutschlands nach 40 Jahren Grundgesetz, München 1989. – Maastricht – nicht ohne Volksentscheid!, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.10.1992, S. 11. – Maastricht und der Pouvoir Constituant – Zur Bedeutung der verfassungsgebenden Gewalt im Prozeß der europäischen Integration, in: Der Staat 32 (1993), S. 161–190. – Art. 38 GG als Grundlage eines Rechts auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, in: JZ 2010, S. 702–708. Nawiasky, Hans: Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 2. Aufl., Einsiedeln (u. a.) 1948. Nettesheim, Martin: Art. 23 GG, nationale Grundrechte und EU-Recht, in: NJW 1995, S. 2083–2085. – Entmündigung der Politik, Gastbeitrag in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.8. 2009, S. 8. – Ein Individualrecht auf Staatlichkeit? Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG, in: NJW 2009, S. 2867–2869. – Die Karlsruher Verkündigung – das BVerfG in staatsrechtlicher Endzeitstimmung, in: Armin Hatje/Jörg Philipp Terhechte (Hrsg.), Grundgesetz und europäische Integration – Die Europäische Union nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Europarecht-Beiheft 1/2010, Baden-Baden 2010, S. 101–122. – Wie der König ersetzt wird, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 14.1.2010, S. 8. – Die Integrationsverantwortung – Vorgaben des BVerfG und gesetzgeberische Umsetzung, in: NJW 2010, S. 177–183. – „Euro-Rettung“ und Grundgesetz – Verfassungsgerichtliche Vorgaben für den Umbau der Währungsunion, in: Europarecht 46 (2011), S. 765–783.

Literaturverzeichnis

301

Neubacher, Alexander: Schwankendes Fugen-s, in: Der Spiegel 41/2004, S. 80. Niedobitek, Matthias: The Lisbon Case of 30 June 2009 – A Comment from the European Law Perspective, in: German Law Journal 10 (2009), S. 1267–1275. Nierhaus, Michael/Rademacher, Sonja: Die große Staatsreform als Ausweg aus der Föderalismusfalle?, in: Landes- und Kommunalverwaltung 2006, S. 385–395. Obwexer, Walter: Staatshaftung für offenkundig gegen Gemeinschaftsrecht verstoßendes Gerichtsurteil, Anmerkung zum EuGH-Urt. v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 – Gerhard Köbler, in: EuZW 2003, S. 726–727. Obwexer, Walter/Villotti, Julia: Die Europäische Bürgerinitiative. Grundlagen, Bedingungen und Verfahren, in: Journal für Rechtspolitik 18 (2010), S. 108–121. Ohler, Christoph: Herrschaft, Legitimation und Recht in der Europäischen Union – Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des BVerfG, in: Archiv des öffentlichen Rechts 135 (2010), S. 153–184. Olah, Oliver: Artikel 23 GG – Verfassungsrechtliche Grundlage der europäischen Integration, in: Zeitschrift für die sozialrechtliche Praxis 39 (2000), S. 131–144. Oppermann, Thomas: Die Dritte Gewalt in der Europäischen Union, in: DVBl. 1994, S. 901–908. – Den Musterknaben ins Bremserhäuschen! – Bundesverfassungsgericht und Lissabon-Vertrag, in: EuZW 2009, S. 473–474. – Deutschland in guter Verfassung? – 60 Jahre Grundgesetz, in: JZ 2009, S. 481–491. Oppermann, Thomas/Classen, Claus Dieter: Europäische Union. Erfüllung des Grundgesetzes, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 43 (1993), 28, S. 11–20. Oppermann, Thomas/Classen, Claus Dieter/Nettesheim, Martin: Europarecht – ein Studienbuch, 4. Aufl., München 2009. Ossenbühl, Fritz: Maastricht und das Grundgesetz, eine verfassungsrechtliche Wende?, in: DVBl. 1993, S. 629–637. Pache, Eckhard: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, in: NVwZ 1999, S. 1033–1040. – Das Ende der europäischen Integration? – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, zur Zukunft Europas und der Demokratie, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2009, S. 285–298. – Grundgesetz und Europa: Verfassungsrechtliche Vorgaben und Grenzen der Mitwirkung Deutschlands an der europäischen Integration, in: Horst Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, Sechs Würzburger Vorträge zu 60 Jahren Grundgesetz, Berlin 2009, S. 137–158. Papier, Hans-Jürgen: Die Entwicklung des Verfassungsrechts seit der Einigung und seit Maastricht, in: NJW 1997, S. 2841–2848. – Kommunale Daseinsvorsorge im Spannungsfeld zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht, in: DVBl. 2003, S. 686–696.

302

Literaturverzeichnis

– Das Subsidiaritätsprinzip – Bremse des europäischen Zentralismus?, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort – Festschrift für Josef Isensee, Heidelberg 2007, S. 691–705. – Die Bedeutung des Grundgesetz im Europäischen Staatenverbund, in: Klaus Stern (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Verfassungsverbund, München 2010, S. 107–119. – Bundesstaatlichkeit und Europäische Integration – Die Rolle der Deutschen Bundesländer. Festansprache anlässlich der 20. Jahrestagung der Konstituierung des Thüringer Landtages am 25. Oktober 2010, in: Thüringer Verwaltungsblätter 2011, S. 49– 52. – Die Politik läuft in eine unsägliche Falle, in: Welt-Online v. 4.12.2011. Parlamentarischer Rat (Hrsg.): Verhandlungen des Hauptausschusses. Bonn 1948/49, Bonn 1950. Payandeh, Mehrdad: Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip. Ein Beitrag des Grundgesetzes zur Einheit von Völkerrecht und nationalem Recht, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 57 (2009), S. 465–502. Penski, Ulrich: Bestand nationaler Staatlichkeit als Bestandteil der Änderungsgrenzen in Art. 79 Abs. 3 GG – zugleich eine auf das Thema bezogene Stellungnahme zur Maastricht-Entscheidung des BVerfG, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1994, S. 192– 196. Pernice, Ingolf: Maastricht, Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 26 (1993), S. 449–488. – Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, in: Archiv des öffentlichen Rechts 120 (1995), S. 100–120. – Bestandssicherung der Verfassungen – verfassungsrechtliche Mechanismen zur Wahrung der Verfassungsordnung, in: Roland Bieber/Pierre Widmer (Hrsg.), Der europäische Verfassungsraum – L’espace constitutionnel européen, Zürich 1995, S. 225–264. – Das Ende der währungspolitischen Souveränität Deutschlands und das MaastrichtUrteil des BVerfG, in: Ole Due/Marcus Lutter/Jürgen Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. 2, Baden-Baden 1995, S. 1057–1070. – Constitutional Law Implications for a State Participating in a Process of Regional Integration. German Constitution and „Multilevel Constitutionalism“, in: Eibe Riedel (Hrsg.), German Reports on Public Law Presented to the XV. International Congress on Comparative Law, Bristol, 26 July to 1 August 1998, Baden-Baden 1998, S. 40–65. – Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (2001), S. 148–193. Peters, Anne: Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin 2001. Philipp, Wolfgang: Ein dreistufiger Bundesstaat? – Deutsche Einheit zwischen Europa und den Ländern, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1991, S. 433–438. Pieper, Stefan Ulrich: Quo vadis Grundgesetz? – Gedanken zur Lage der Verfassung im europäischen Integrationsprozeß, in: Martin Coen/Sven Hölscheidt/ders. (Hrsg.), Festschrift für Prof. Dr. Dr. Albert Bleckmann zum 60. Geburtstag, Herne/Berlin 1993, S. 197–218.

Literaturverzeichnis

303

– Subsidiaritätsprinzip – Strukturprinzip der Europäischen Union, in: DVBl. 1993, S. 705–712. Pöttering, Hans-Gert: Wie geht es weiter mit Europa?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.2.2012, S. 8. Pötters, Stephan/Traut, Johannes: Die ultra-vires-Kontrolle des BVerfG nach „Honeywell“ – Neues zum Kooperationsverhältnis von BVerfG und EuGH?, in: Europarecht 46 (2011), S. 580–592. Preuß, Ulrich K.: Die Chance der Verfassunggebung, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 41 (1991), 49, S. 12–19. Proelß, Alexander: Zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Kompetenzmäßigkeit von Maßnahmen der Europäischen Union: Der „ausbrechende Rechtsakt“ in der Praxis des BVerfG – Anmerkungen zum Honeywell-Beschluss des BVerfG vom 6. Juli 2010, in: Europarecht 46 (2011), S. 241–262. Radermacher, Ludger: Gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für höchstrichterliche Entscheidungen, in: NVwZ 2004, S. 1415–1421. Randelzhofer, Albrecht: Deutsche Einheit und Europäische Integration, in: VVDStRL 49 (1990), S. 102–121. – Das Grundgesetz unter Vorbehalt? Zum neuen Art. 146 GG, in: Klaus Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Bd. 1, Eigentum – Neue Verfassung – Finanzverfassung, Köln (u. a.) 1991, S. 141–157. – Zum behaupteten Demokratiedefizit der Europäischen Gemeinschaft, in: Peter Hommelhoff/Paul Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union – Beiträge und Diskussionen des Symposiums am 21./22. Januar 1994 in Heidelberg, Heidelberg 1994, S. 39–55. Rauschning, Dietrich: Deutschlands aktuelle Verfassungslage, in: DVBl. 1990, S. 393– 404. Regling, Klaus: Aufgaben und Herausforderungen der EFSF, in: Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 22 (2011), S. 261–265. Renan, Ernest: Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne, dt. Übersetzung (Henning Ritter), Hamburg 1996. Rödder, Andreas: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009. Röger, Ralf: Der neue Artikel 28 Absatz 1 Satz 3 GG – vorläufiger Abschluß der langjährigen Diskussion um ein Kommunalwahlrecht für Ausländer, in: Verwaltungsrundschau 1993, S. 137–143. Roellecke, Gerd: Schwierigkeiten mit der Rechtseinheit nach der deutschen Wiedervereinigung, in: NJW 1991, S. 657–662. – Brauchen wir ein neues Grundgesetz?, in: NJW 1991, S. 2441–2448. – Verfassungsgebende Gewalt als Ideologie, in: JZ 1992, S. 929–934. Röper, Erich: Der Souveränitäts- und Volksbegriff des Bundesverfassungsgerichts, in: DÖV 2010, S. 285–292.

304

Literaturverzeichnis

Roggemann, Herwig: Zur Reformverfassung einer gesamtdeutschen Bundesrepublik – Ein verfassungspolitischer Diskussionsbeitrag, in: Neue Justiz 44 (1990), S. 182– 184. Rohn, Stephan/Sannwald, Rüdiger: Die Ergebnisse der Gemeinsamen Verfassungskommission, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1994, S. 65–73. Rossolillo, Giulia: The German Constitutional Court and the Future of European Unification, in: The Federalist 2/51 (2009), S. 3. Rubel, Rüdiger: Das neue Grundgesetz: zum Stand der Reformbemühungen, in JA 1992, S. 265–271. Ruffert, Matthias: An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, in: DVBl. 2009, S. 1197– 1208. – Nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – zur Anatomie einer Debatte, in: Horst Dreier/Friedrich Wilhelm Graf/Joachim Jens Hesse (Hrsg.), Staatswissenschaften und Staatspraxis, Baden-Baden 2011, S. 84–101. – Die europäische Schuldenkrise vor dem Bundesverfassungsgericht – Anmerkung zum Urteil vom 7. September 2011 –, in: Europarecht 46 (2011), S. 842–855. Rupp, Hans Heinrich: Verfassungsprobleme auf dem Weg zur Europäischen Union, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1990, S. 1–4. – Muß das Volk über den Vertrag von Maastricht entscheiden?, in: NJW 1993, S. 38– 40. Sachs, Michael (Hrsg.): Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl., München 2011. – Das Grundgesetz im vereinten Deutschland – endgültige Verfassung oder Dauerprovisorium?, in: JuS 1991, S. 985–991. Sack, Jörn: Der „Staatenverbund“ – Das Europa der Vaterländer des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 623–636. Säuberlich, Björn-Peter: Staatliche Haftung unter europäischem Einfluss – die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des Amtshaftungsanspruchs bei legislativem Unrecht, in: Europarecht 39 (2004), S. 954–971. Sauer, Heiko: Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen – Die Entwicklung eines Modells zur Lösung von Konflikten zwischen Gerichten unterschiedlicher Ebenen in vernetzten Rechtsordnungen, Berlin 2008. – Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil – ein neues Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2009, S. 195–198. – Europas Richter Hand in Hand? – Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH nach Honeywell, in: EuZW 2011, S. 94–97. Sauer, Oliver: Volksabstimmung über den Lissabonner Vertrag?, in: BayVBl. 2008, S. 581–585.

Literaturverzeichnis

305

Schäffer, Heinz: Österreichischer Landesbericht, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung – das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, Baden-Baden 2000, S. 339–387. Schäuble, Wolfgang: Der Einigungsvertrag – Vollendung der Einheit Deutschlands in Freiheit, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 5 (1990), S. 289–307. – Grundordnung auf dem Weg durch die Zeit, in: Peter M. Huber (Hrsg.), Das Grundgesetz zwischen Stabilität und Veränderung, Tübingen 2007, S. 65–72. – Das Grundgesetz als Rechtsrahmen der deutschen Einheit, in: Christian Hillgruber/ Christian Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, Göttingen 2010, S. 87–96. – Reform der Europäischen Finanzregeln – Für eine bessere Verfassung Europas, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 26.1.2010 (FCE 02/11), abrufbar unter: http://www.whi-berlin.eu/tl_files/FCE/Rede-Schaeuble.pdf. Schambeck, Herbert: Das Grundgesetz und seine Bedeutung für die neue Ordnung des integrierten Europa, in: Klaus Stern (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Verfassungsverbund, München 2010, S. 21–35. Scharpf, Fritz Wilhelm: Die politischen Kosten des Rechtsstaates – Eine vergleichende Studie der deutschen und amerikanischen Verwaltungskontrollen, Tübingen 1970. Schede, Christian: Bundesrat und Europäische Union. Die Beteiligung des Bundesrates nach dem neuen Artikel 23 des Grundgesetzes, Frankfurt 1994. Schenke, Wolf-Rüdiger: Verfassungsrechtliche Garantie eines Rechtsschutzes gegen Rechtsprechungsakte?, in: JZ 2005, S. 116–126. Scheuing, Dieter H.: Deutsches Verfassungsrecht und europäische Integration, in: Europarecht Beiheft 1/1997, S. 7–60. Scheuner, Ulrich: Art. 146 GG und das Problem der verfassunggebenden Gewalt, in: DÖV 1953, S. 581–585; Abdr. in: Hanns Kurz (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, Darmstadt 1970, S. 288–300. – Staatszielbestimmungen, in: Roman Schnur (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, 2. Aufl., München 1974, S. 325–346. Schilling, Theodor: Artikel 24 Absatz 1 des Grundgesetzes, Artikel 177 des EWG-Vertrags und die Einheit der Rechtsordnung, in: Der Staat 29 (1990), S. 161–183. – Die deutsche Verfassung und die europäische Einigung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 116 (1991), S. 32–70. – Zu den Grenzen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, in: Der Staat 33 (1994), S. 555–580. Schink, Alexander: Umweltschutz als Staatsziel, in: DÖV 1997, S. 221–229. – Kommunale Daseinsvorsorge in Europa, in: DVBl. 2005, S. 861–870. Schlaich, Klaus/Korioth, Stefan: Das Bundesverfassungsgericht – Stellung, Verfahren, Entscheidungen. Ein Studienbuch, 8. Aufl., München 2010.

306

Literaturverzeichnis

Schliesky, Utz: Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt – die Weiterentwicklung von Begriffen der Staatslehre und des Staatsrechts im europäischen Mehrebenensystem, Tübingen 2004. Schlink, Bernhard: Deutsch-deutsche Verfassungsentwicklungen im Jahre 1990, in: Der Staat 30 (1991), S. 162–180. Schmahl, Stefanie: Integrationsverantwortung, Demokratieprinzip und Gewaltenteilung – Die Mitwirkung der deutschen Verfassungsorgane in Angelegenheiten der Europäischen Union, in: Eric Hilgendorf/Frank Eckert (Hrsg.), Subsidiarität – Sicherheit – Solidarität, Festgabe für Franz-Ludwig Knemeyer, Würzburg 2012, S. 765–784. Schmalenbach, Kirsten: Der neue Europaartikel 23 des Grundgesetzes im Lichte der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission, Motive einer Verfassungsänderung, 1996. Schmidt-Bleibtreu, Bruno/Hofmann, Hans/Hopfauf, Axel (Hrsg.): GG. Kommentar zum Grundgesetz, 12. Aufl., Köln 2012. Schmitt, Carl: Verfassungslehre, München 1928. Schmitt, Karl: Regionen, Regionalisierung und Föderalismus in Europa, in: Peter M. Huber (Hrsg.), Das Ziel der Europäischen Integration, Berlin 1996, S. 55–79. Schmitt Glaeser, Walter: Die Stellung der Bundesländer bei einer Vereinigung Deutschlands, Berlin 1990. Schnapauff, Klaus-Dieter: Der Einigungsvertrag: Überleitungsgesetzgebung in Vertragsform, in: DVBl. 1990, S. 1249–1256. Schneider, Hans-Peter: Verfassungsänderung oder Verfassunggebung? – Thesen und Nachbemerkung, in: Eckart Klein (Hrsg.), Verfassungsentwicklung in Deutschland nach der Wiedervereinigung, Berlin 1994, S. 37–40. Schönberger, Christoph: Die Europäische Union als Bund, in: Archiv des öffentlichen Rechts 129 (2004), S. 81–120. – Lisbon in Karlsruhe: Maastricht’s Epigones At Sea, in: German Law Journal 10 (2009), S. 1201–1218. – Die Europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot, in: Der Staat 48 (2009), S. 535–558. Schöne, Tim: Was Vagheit ist, Paderborn 2011. Scholz, Rupert: Grundgesetz und Europäische Einigung – Zu den reformpolitischen Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission, in: NJW 1992, S. 2593– 2601. – Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, Berlin 1993. – Europäische Union und Verfassungsreform, in: NJW 1993, S. 1690–1692. – Aufgaben und Grenzen einer Reform des Grundgesetzes, in: Peter Badura/Rupert Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, München 1993, S. 65–81. – Europäische Union und deutscher Bundesstaat, in: NVwZ 1993, S. 817–824.

Literaturverzeichnis

307

Schorkopf, Frank: Grundgesetz und Überstaatlichkeit. Konflikt und Harmonie in den auswertigen Beziehungen Deutschlands, Tübingen 2007. – Die Europäische Union im Lot – Karlsruhes Rechtsspruch zum Vertrag von Lissabon, in: EuZW 2009, S. 718–723. – The European Union as An Association of Sovereign States: Karlsruhe’s Ruling on the Treaty of Lisbon, in: German Law Journal 10 (2009), S. 1219–1240. Schröder, Jan Ulrich: Wovon der Staat lebt. Verfassungsvoraussetzungen vom Vormärz bis zum Grundgesetz, in: JZ 2010, S. 869–875. – Die Griechenlandhilfe im Falle ihrer Unionsrechtswidrigkeit – Ein Beitrag zur Kollision von Unions- und Völkerrecht, in: DÖV 2011, S. 61–68. Schröder, Meinhard: Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates im Prozeß der europäischen Integration. Bemerkungen zum Maastricht-Urteil, in: DVBl. 1994, S. 316–325. Schübel-Pfister, Isabel/Kaiser, Karen: Das Lissabon-Urteil des BVerfG vom 30.6.2009 – Ein Leitfaden für Ausbildung und Praxis, in: JuS 2009, S. 767–771. Schünemann, Wolf J.: Wieder ein Sieg der Angst? Das zweite irische Referendum über den Lissabon-Vertrag in der Analyse, in: integration 33 (2010), S. 224–239. Schulze, Reiner/Walter, Christian: Einleitung, in: dies. (Hrsg.), 50 Jahre Römische Verträge, Tübingen 2008, S. 1–16. Schulze-Fielitz, Helmuth: Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: DVBl. 1991, S. 893–906. Schwartz, Ivo E.: Subsidiarität und EG-Kompetenzen. Der neue Titel „Kultur“, Medienvielfalt und Binnenmarkt, in: AfP 1993, S. 409–421. Schwarze, Jürgen: Das Grundgesetz und das europäische Recht, in: Klaus Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz. Entstehung, Bewährung und internationale Ausstrahlung, München 1990, S. 209–233. – Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, S. 585–594. – Der Europäische Verfassungsvertrag, in: JZ 2005, S. 1130–1137. – Die verordnete Demokratie – Zum Urteil des 2. Senats des BVerfG zum LissabonVertrag, in: Europarecht 45 (2010), S. 108–117. Schweitzer, Michael: Staatsrecht III. Staatsrecht – Völkerrecht – Europarecht, 10. Aufl., Heidelberg 2010. Scriba, Florian: „Legale Revolution“? – Zu den Grenzen verfassungsändernder Rechtssetzung und der Haltbarkeit eines umstrittenen Begriffs, Berlin 2008. Seidel, Martin: Der europäische Verfassungsprozess und Winston Churchills Züricher Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“, Gastkommentar, in: EuZW 2008, S. 1. Seifert, Jürgen: Totalrevision: Drohung mit dem Verfassungsbruch, in: Kritische Justiz 2 (1969), S. 169–175. Seifert, Karl-Heinz/Hörnig, Dieter: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – Taschenkommentar, 2. Aufl., Baden-Baden 1985.

308

Literaturverzeichnis

Selmayr, Martin: Endstation Lissabon? Zehn Thesen zum „Niemals“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 637–679. Sensburg, Patrick Ernst: Staatshaftung für judikatives Unrecht – Besprechung von EuGH, Urt. v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01, in: NVwZ 2004, S. 179–180. Shirvani, Foroud: Die europäische Subsidiaritätsklage und ihre Umsetzung ins deutsche Recht, in: JZ 2010, S. 753–759. Sieyès, Emmanuel Joseph: Qu’est-ce que le tiers état?, Paris 1789, dt. Übersetzung (Hrsg.: Rolf Hellmut Foerster), Frankfurt 1968. Simon, Helmut: Markierungen auf dem Weg zu einer neuen gesamtdeutschen Verfassung, in: Neue Justiz 1990, S. 516–519. von Simson, Werner/Schwarze, Jürgen: Europäische Integration und Grundgesetz – Maastricht und die Folgen für das deutsche Verfassungsrecht, Berlin 1992. Skouris, Vassilios: Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit aus der Sicht des Europäischen Gerichtshofes, in: Michael Holoubek u. a. (Hrsg.), Dimensionen des modernen Verfassungsstaates – Symposion zum 60. Geburtstag von Karl Korinek, Wien (u. a.) 2002, S. 151–166. Sodan, Helge (Hrsg.): Grundgesetz. Beck’scher Kompakt-Kommentar, München 2009. Sommermann, Karl-Peter: Staatsziel „Europäische Union“ – zur normativen Reichweite des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG n. F., in: DÖV 1994, S. 596–604. – Offene Staatlichkeit: Deutschland, in: Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/Peter M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2, Offene Staatlichkeit – Wissenschaft vom Verfassungsrecht, Heidelberg 2008, § 14 (S. 3–35). Sonder, Nicolas: Was ist Integrationsverantwortung? – Kritische Überlegungen zu den verfassungstheoretischen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und der Umsetzung im IntVG –, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 94 (2011), S. 214–225. Starck, Christian: Deutschland auf dem Wege zur staatlichen Einheit, in: JZ 1990, S. 349–358. – Das Grundgesetz heute. Deutsche und europäische Perspektiven, in: Klaus Stern (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Verfassungsverbund, München 2010, S. 56–69. Stein, Torsten: Europäische Integration und nationale Reservate, in: Detlef Merten (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften unter besonderer Berücksichtigung von Umwelt und Gesundheit, Kultur und Bildung, Berlin 1990, S. 91– 107. Steinberger, Helmut: Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, in: Ulrich Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung – Völkerrecht, Europarecht, Staatsrecht. Festschrift für Rudolf Bernhardt, Berlin/Heidelberg/New York 1995, S. 1313–1335. Steiner, Udo: Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, Berlin 1966.

Literaturverzeichnis

309

Stelkens, Ulrich: Amtshaftung und Regress bei Schädigungen durch Verwaltungshelfer, in: JZ 2004, S. 656–661. Stern, Klaus: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, München, Bd. 1: Grundbegriffe und Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung, 2. Aufl. 1984; Bd. 2, Staatsorgane, Staatsfunktionen, Finanz- und haushaltsverfassung, Notstandsverfassung, 1980; Bd. 3, Hb. 1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, 1988. – Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit, in: ders./Bruno Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Bd. 2: Einigungsvertrag und Wahlvertrag mit Vertragsgesetzen, Begründungen – Erläuterung und Materialien, München 1990, S. 3–55. – Der verfassungsändernde Charakter des Einigungsvertrages, in: Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift 1990, S. 289–294. – Der Zwei-plus-Vier-Vertrag – das völkerrechtliche Grundsatzdokument zur Wiederherstellung der deutschen Einheit, in: BayVBl. 1991, S. 523–529. – Die Verfassungsmäßigkeit der Übertragung der Bankenaufsicht auf die deutsche Bundesbank – Rechtsgutachten erstattet der Deutschen Bundesbank, Köln 2001. – Der Weg zur politischen Union Europas, in: Claus Dieter Classen u. a. (Hrsg.), „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . .“ – Liber amicorum Thomas Oppermann, Berlin 2001, S. 143–162. – (Hrsg.): 60 Jahre Grundgesetz. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Verfassungsverbund, München 2010. Stern, Klaus/Schmidt-Bleibtreu, Bruno (Hrsg.): Verträge und Rechtsakte zur deutschen Einheit, Bd. 2, Einigungsvertrag und Wahlvertrag, München 1990. Sterzel, Dieter: In neuer Verfassung? – zur Notwendigkeit eines konstitutionellen Gründungsaktes für das vereinte Deutschland, in: Kritische Justiz 23 (1990), S. 385–396. Storost, Ulrich: Legitimität durch Erfolg? Gedanken zur Dauerhaftigkeit einer Verfassung, in: Der Staat 30 (1991), S. 537–547. Storr, Stefan: Abschied vom Spruchrichterprivileg?, in: DÖV 2004, S. 545–553. Streinz, Rudolf: Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht – die Überprüfung grundrechtsbeschränkender deutscher Begründungs- und Vollzugsakte von Europäischem Gemeinschaftsrecht durch das Bundesverfassungsgericht, Baden-Baden 1989. – Zur Europäisierung des Grundgesetzes, in: Peter M. Huber (Hrsg.), Das Grundgesetz zwischen Stabilität und Veränderung, Tübingen 2007, S. 33–64. – Die „Verfassung“ der Europäischen Union nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und dem Vertrag von Lissabon, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 23 (2008), S. 105–126. – Die Völker- und Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, in: Thomas Giegerich (Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren. Anspruch und Wirklichkeit einer großen Errungenschaft, Berlin 2010, S. 327–331.

310

Literaturverzeichnis

– (Hrsg.): EUV/AEUV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Kommentar, 2. Aufl., München 2012. – Europarecht, 9. Aufl., Heidelberg 2012. Streinz, Rudolf/Ohler, Christoph/Hermann, Christoph (Hrsg.): Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 3. Aufl., München 2010. Stückrath, Birgitta: Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, Berlin 1997. Terhechte, Jörg Philipp: Der Vertrag von Lissabon: Grundlegende Verfassungsurkunde der europäischen Rechtsgemeinschaft oder technischer Änderungsvertrag?, in: Europarecht 43 (2008), S. 143–189. – Souveränität, Dynamik und Integration – making up the rules as we go along? Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: EuZW 2009, S. 724–731. – Europäischer Bundesstaat, supranationale Gemeinschaft oder Vertragsunion souveräner Staaten? – Zum Verhältnis von Staat und Union nach dem Lissabon-Urteil des BVerfG, in: Armin Hatje/Jörg Philipp Terhechte (Hrsg.), Grundgesetz und europäische Integration – Die Europäische Union nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Europarecht-Beiheft 1/2010, Baden-Baden 2010, S. 135–148. Thiele, Alexander: Das Rechtsschutzsystem nach dem Vertrag von Lissabon – (K)ein Schritt nach vorn?, in: Europarecht 45 (2010), S. 30–50. Thieme, Werner: Fragen einer gesamtdeutschen Verfassung, in: DÖV 1990, S. 401–408. Thym, Daniel: Europäische Integration im Schatten souveräner Staatlichkeit, in: Der Staat 48 (2009), S. 559–586. Tomuschat, Christian: Wege zur deutschen Einheit, in: VVDStRL 49 (1990), S. 70–100. – Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, Heidelberg 1992, § 172 (S. 483–524). – Die Europäische Union unter Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, in: EuGRZ 1993, S. 489–496. – Das Endziel der europäischen Integration – Maastricht ad infinitum?, in: DVBl. 1996, S. 1073–1082. – Lisbon – Terminal of the European Integration Process?, The Judgment of the German Constitutional Court of 30 June 2009, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 70 (2010), S. 251–282. Uerpmann-Wittzack, Robert: Frühwarnsystem und Subsidiaritätsklage im deutschen Verfassungssystem, in: EuGRZ 2009, S. 461–468. Uerpmann-Wittzack, Robert/Edenharter, Andrea: Subsidiaritätsklage als parlamentarisches Minderheitsrecht?, in: Europarecht 44 (2009), S. 313–329. Uhrig, Stephanie: Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration – Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten nach dem Grundgesetz am Beispiel des Vertrages von Maastricht, Berlin 2000.

Literaturverzeichnis

311

Ukrow, Jörg: Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH – dargestellt am Beispiel der Erweiterung des Rechtsschutzes des Marktbürgers im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes und der Staatshaftung, Baden-Baden 1995. – Deutschland auf dem Weg vom Motor zum Bremser der Integration?, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 12 (2009), S. 717–729. Umbach, Dieter C./Clemens, Thomas (Hrsg.): Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. 2, Heidelberg 2002. von Ungern-Sternberg, Antje: L’arrêt Lisbonne de la Cour constitutionnelle fédérale allemande, la fin de l’intégration européenne?, in: Revue du droit public et de la science politique en France et à l’étranger 126 (2010), S. 171–195. Vogel, Klaus: Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für die internationale Zusammenarbeit. Ein Diskussionsbeitrag zu einer Frage der Staatstheorie sowie des geltenden deutschen Staatsrechts, Tübingen 1964. Vorländer, Hans: Die Deutschen und ihre Verfassung, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 59 (2009), 18/19, S. 8–18. Voßkuhle, Andreas: Verfassungsstil und Verfassungsfunktion – ein Beitrag zum Verfassungshandwerk, in: Archiv des öffentlichen Rechts 119 (1994), S. 35–60. – Fruchtbares Zusammenspiel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.04.2010, S. 11. – Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, in: NVwZ 2010, S. 1–8. – Die Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, in: Peter Axer u. a. (Hrsg.), Das Europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase. Systembildung – Disziplinierung – Internationalisierung, Die Verwaltung Beiheft 10, Berlin 2010, S. 229–240. – „Mehr Europa lässt das Grundgesetz kaum zu“, Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.9.2010, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/europas-schuldenkrise /im-gespraech-andreasvosskuhle-mehr-europa-laesst-das-grundgesetz-kaum-zu-11369184.html. – Einführung, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe, 60. Aufl., München 2011, S. XI–XXVIII. – Über die Demokratie in Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 9.2.2012, S. 7. Wahl, Rainer: Die Verfassungsfrage nach dem Beitritt, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1 (1990), S. 468–484. – Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, in: JuS 2001, S. 1041–1048. – Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, in: Horst Dreier (Hrsg.), Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit. Symposium für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag, Berlin 2005, S. 113–149. – Die Schwebelage im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten – Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Der Staat 48 (2009), S. 587– 614.

312

Literaturverzeichnis

Waigel, Christian: Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank – gemessen am Kriterium demokratischer Legitimation, Baden-Baden 1999. Waldhoff, Christian: Mischfinanzierungen in der Bundesstaatsreform, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 91 (2008), S. 213–230. Walter, Christian: Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Dirk Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., Berlin 2009, § 1 (S. 1–23). – 60 Jahre offene Staatlichkeit, in: Fabian Wittreck (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz. Verfassung mit Zukunft!?, Baden-Baden 2010, S. 61–77. Walter, Konrad: Rechtsfortbildung durch den EuGH – Eine rechtsmethodische Untersuchung ausgehend von der deutschen und französischen Methodenlehre, Berlin 2009. Walter, Maja: Integrationsgrenze Verfassungsidentität – Konzept und Kontrolle aus europäischer, deutscher und französischer Perspektive, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 72 (2012), S. 177–200. Wattel, Peter J.: Köbler, CILFIT and Welthgrove – We can’t go on meeting like this, in: Common Market Law Review 41 (2004), S. 177–190. Weber, Albrecht: Zur künftigen Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, in: JZ 1993, S. 325–330. – Europäische Verfassungsvergleichung, München 2010. – Die Europäische Union unter Richtervorbehalt? – Rechtsvergleichende Anmerkungen zum Urteil des BVerfG v. 30.6.2009 („Vertrag von Lissabon“), in: JZ 2010, S. 157–164. Weber, Lutz B.: Die Umsetzung der Bestimmungen über die Europäische Währungsunion in das deutsche Verfassungsrecht – eine Untersuchung nach dem Vertrag von Maastricht unter besonderer Berücksichtigung der Deutschen Bundesbank (Artikel 88 des Grundgesetzes), Frankfurt am Main (u. a.), 2000. Weber, Werner: Die Frage der gesamtdeutschen Verfassung – Vortrag im Königsteiner Kreis (Vereinigung der Juristen und Beamten aus der sowjetischen Besatzungszone) am 24.9.1950, München 1950. Weikart, Thomas: Die Änderung des Bundesbank-Artikels im Grundgesetz im Hinblick auf den Vertrag von Maastricht, in: NVwZ 1993, S. 834–841. Weis, Hubert: Verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, in: Archiv des öffentlichen Rechts 116 (1991), S. 1–31. Wendel, Mattias: Lisbon Before the Courts: Comparative Perspectives, in: European Constitutional Law Review 7 (2011), S. 96–107. – Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht. Verfassungsrechtliche Integrationsnormen auf Staats- und Unionsebene im Vergleich, Tübingen 2011. Wendt, Rudolf: Finanzhoheit und Finanzausgleich, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 6, 3. Aufl., Heidelberg 2008, § 139 (S. 875–963).

Literaturverzeichnis

313

Wessels, Wolfgang: Walter Hallstein: Verkannter Integrationsprophet? Schlüsselbegriffe im Relevanztest, in: Manfred Zuleeg (Hrsg.), Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas – Referate zu Ehren von Walter Hallstein, Baden-Baden 2003, S. 38– 55. Wiederin, Ewald: Die Verfassunggebung im wiedervereinigten Deutschland. Versuch einer dogmatischen Zwischenbilanz zu Art. 146 GG n. F., in: Archiv des öffentlichen Rechts 117 (1992), S. 410–448. – Deutschland über alles: Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Österreichische Juristen-Zeitung 2010, S. 398–406. Wieland, Jochen: Staatsverschuldung als Herausforderung für die Finanzverfassung, in: JZ 2006, S. 751–756. – Staatsverschuldung – sind Stabilitätspakt und Schuldenbremse nur noch Makulatur?, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Systemmängel in Demokratie und Marktwirtschaft – Beiträge auf der 12. Speyerer Demokratietagung vom 28. bis 29. Oktober 2010 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 2011, S. 9–17. Wiemers, Matthias: Zur Staatsaufgabenlehre des Bundesverfassungsgerichts im „Lissabon-Urteil“ – Ein Beitrag zur Finalität der Integration Europas? –, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 94 (2011), S. 226– 238. Winkelmann, Ingo: Innerstaatliche Kompetenzverteilung bei Vertragsabschlüssen in Angelegenheiten der Europäischen Union: zur Nichtbeachtlichkeit der Lindauer Absprache im Anwendungsbereich von Art. 23 n. F. GG, in: DVBl. 1993, S. 1128– 1136. Winkler, Heinrich August: Die grosse Illusion – warum direkte Demokratie nicht unbedingt den Fortschritt fördert, in: Der Spiegel 47/2011, S. 47–48. Winterhoff, Christian: Verfassung – Verfassunggebung – Verfassungsänderung. Zur Theorie der Verfassung und der Verfassungsrechtserzeugung, Tübingen 2007. Wittreck, Fabian: Die Verwaltung der Dritten Gewalt, Tübingen 2006. – Wächter wider Willen – Probleme der Beteiligung von Parlamenten am europäischen Integrationsprozeß auf Bundes- und Landesebene, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 26 (2011), S. 122–135. Wölker, Ulrich: Der Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion – Vortrag gehalten im Rahmen des Walther-Schücking-Kollegs, Walther-SchückingInstitut für Internationales Recht an der Universität Kiel, 18. Juni 1998, Bonn 1999. Wohland, Elisabeth: Bundestag, Bundesrat und Landesparlamente im europäischen Integrationsprozess. Zur Auslegung von Art. 23 Grundgesetz unter Berücksichtigung des Verfassungsvertrags von Europa und des Vertrags von Lissabon, Frankfurt 2008. Wolf, Joachim: Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht – ein Anwendungsfall des Art. 146 GG, in: JZ 1993, S. 594–601. Wuermeling, Joachim: Auf dem Weg zur Einheit: die Rolle der deutschen Bundesländer, in: NJW 1990, S. 1079–1083.

314

Literaturverzeichnis

Würtenberger, Thomas: Art. 146 GG n. F.: Kontinuität oder Diskontinuität im Verfassungsrecht?, in: Klaus Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Bd. 1, Eigentum – Neue Verfassung – Finanzverfassung, Köln (u. a.) 1991, S. 95–109. Zacharias, Diana: Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Markus Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie – Beiträge über die Regelungen zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, Tübingen 2003, S. 57–97. Zais, Dietrich: Rechtsnatur und Rechtsgehalt der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, Tübingen 1973. Ziller, Jacques: Zur Europarechtsfreundlichkeit des deutschen Bundesverfassungsgerichtes. Eine ausländische Bewertung des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zur Ratifikation des Vertrages von Lissabon, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 65 (2010), S. 157–176. Zippelius, Reinhold: Quo vadis Grundgesetz?, in: NJW 1991, S. 23. – Deutsche Einheit und Grundgesetz, in: BayVBl. 1992, S. 289–295. Zivier, Ernst R.: Finalität des Europäischen Einigungsprozesses. Überlegungen nach dem „Lissabon-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts, in: Recht und Politik 45 (2009), S. 225–231. Zuleeg, Manfred: Demokratie durch Rechtsprechung, in: Ludwig Krämer/Hans-Wolfgang Micklitz/Klaus Tonner (Hrsg.), Law and diffuse Interests in the European Legal Order/Recht und diffuse Interessen in der europäischen Rechtsordnung, BadenBaden 1997, S. 1–10.

Sachwortverzeichnis Agrarabschöpfungen, Abschaffung 74 Artikel 23 GG n. F. siehe auch Struktursicherungsklausel – als Europa-Artikel 53 – als lex generalis zu Art. 88 GG 63 – als Staatszielbestimmung 78 – Symbolcharakter 54 Artikel 24 GG – als Integrationsinstrument 48 – Hoheitsrechtsübertragung 51 Artikel 79 GG siehe Ewigkeitsklausel Artikel 146 GG – Deutsche Einigung 180, 189, 193 – Deutungen 192 – Einordnung 171 – freie Entscheidung 259, 263 – geschichtl. Hintergrund 172 – Interpretationsmöglichkeiten 172 – Kontroverse 169 – Offenheit 253 – Sondercharakter 170 – Subjektivierung 238 – sukzessive Anwendung 189 – Verfassungswidrigkeit 195 Artikel 146 GG a. F. – Altlast 172 – ursprünglicher Gehalt 209 – Wortlaut 177 Artikel 146 GG n. F. – als Norm sui generis 204 – als „Zeitbombe“ 195, 223 – Auslegung 210 – Bezugnahme auf das GG 201 – Bindung an Art. 79 GG 201 – gegenwärtiger Gehalt 206

– – – – – – –

Genetik 217 Grammatik 212 Nachfolge des Art. 146 GG a. F. 204 Obsoleszenz 197 Systematik 215 Telos 218 Verhältnis zu Art. 79 Abs. 3 GG 220

Budgethoheit 144 Bundesstaatlichkeit 140 Bundesverfassungsgericht – Abschaffung 264 – Hüterrolle 91, 119 – Identitätskontrolle 33 – KPD-Verbot 259 – Maastricht-Entscheidung 81 – Maastricht-Rechtsprechung 44, 229, 235 – Solange-Entscheidungen 80 – und EuGH 34, 44, 91 Demokratieprinzip – Abwägungsfestigkeit 137 – Europäisierung 60 – in der Bundesrepublik Deutschland 135 – Kerngehalt 81 – Teilhabe 236 – und Menschenwürde 236 – Wahlrecht 230 Deutsche Einigung siehe Wiedervereinigung EFSF 233 EGKS, Gründung 49 Einigungsvertrag 217 – Zwei-Jahres-Frist 242

316

Sachwortverzeichnis

EMRK 100 – als bindende Vorgabe 264 Europäische Integration siehe auch Europ. Zentralbank – Beginn 36 – Schranken des GG 22 – Szenarien 272 Europäische Union – Bauprinzip 120 – Binnenmarktabgaben 74 – Charta der Grundrechte 78, 100 – Einigungsbewegung 267 – Gründung 274 – Hoheitsrechtsübertragung 41, 46, 232 – Kompetenz-Kompetenz 27, 244, 269, 275 – Rechtsakte 83 – Sekundärrecht 82 – Verfassung 79, 273 – verfassungsrechtl. Grundlage 54 – Verfassungsvertrag 165 – Vorgänger 45 Europäische Zentralbank 62 Europäischer Bundesstaat 147, 225, 227 – als Umbruch 265 – als Verfassungsauftrag 270 – Begriff 269 – Perspektive 240 – Realisierung 274 – Volksabstimmung 244 Europäischer Stabilitätsmechanismus 20, 168, 266 Europäischer Verfassungsverbund 99, 272 Ewigkeitsklausel 221 – als Integrationsgrenze 125 – Gehalt 128 – Lissabon-Urteil 131 – Souveränität 130 Föderalismus 115 Förderalismusreform I 67 Fugen-s 26

Gemeinsame Verfassungskommission 185 Griechenlandhilfe 227, 233 Grundgesetz – als Identitätsmerkmal 186, 264 – als Provisorium 172, 218, 263 – Bundesstaatlichkeit 140 – Europabezug 45 – Europarechtsfreundlichkeit 34, 35, 43, 76, 101 – Finanzverfassung 73 – Identität 141 – im europ. Verfassungsverbund 99 – Integrationsgrenzen 103 – Präambel 175 – Steuerverwaltung 75 – Transformationstheorie 211 – und Europarecht 43, 78 – Vollzugstheorie 211 Grundlagenvertrag 201 Grundrechtsschutz – funktionale Adäquanz 117 – Wesensgehalt 118 Hallstein, Walter 267, 276 Herrenchiemseer Verfassungskonvent 169 Integration – Art. 146 GG als Wegbereiter 165 – Stillstand 161 Integrationsverantwortung 24 – des BVerfG 144 – des Deutschen Bundestags 146 Integrationsverantwortungsgesetz 23 Kommunalwahlrecht für Unionsbürger 59 Königsteiner Schlüssel 70 Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern 67 Lissabon-Urteil 225, 228 – Bundesstaatlichkeit der EU 154

Sachwortverzeichnis – Interpretation von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG 232 – Kernaussagen 23 – Kritik 30, 131, 222, 234, 239 – mediales Echo 27 – obiter dictum 225 – Souveränitätsgarantie 130 – Verlust der Staatlichkeit 227 Lückentheorie 249 Menschenwürde 237 Moskauer Vertrag 259 Multilevel Constitutionalism siehe Europäischer Verfassungsverbund Nationaler Stabilitätspakt 71 Neuverfassung – inhaltliche Ausgestaltung 226, 263 – Qualität 262 – Vereinigte Staaten von Europa 267 No-Bail-Out 63 Öffnungsklauseln 39 Parlamentarischer Rat, Hoheitsrechtsübertragung 50 Passerelle-Klausel 139 Plebiszit, tagtäglicher 252 pouvoir constituant – Abrufbarkeit 256 – Aktivierung 254, 255, 256 – als Individualrecht 238 – als verfassunggebendes Subjekt 250 – constitué 205 – nach Sieyès 171, 198 – originaire 205 – Überprüfbarkeit 26 – und Verfassungsstaat 246 Präambel, Europabezug 46 Preußischer Verfassungskonflikt 249 Rechtsstaat 112

317

Sanktionszahlungsaufteilungsgesetz 72 Schlussartikel siehe Artikel 146 GG Schmid, Carlo 208 Schranken-Schranke 144 Solange-Rechtsprechung siehe Bundesverfassungsgericht Sorites-Paradox 81 Souveränität als variabler Begriff 27 Sozialstaat 113 Spruchrichterprivileg 97 Staatlichkeit, souveräne 130 Staatsfundamentalnorm 221 Staatshaftung 93 Struktursicherungsklausel 56, 268 – Anknüpfungspunkt 126 – Demokratie 106 – Föderalismus 115 – Grundrechtsschutz 116, 118 – Inhalt 103 – Lockerung 226 – Rechtsstaat 112 – Sozialstaat 113 – Subsidiarität 119 Subsidiaritätsprinzip 120 – als Beweislastregel 121 – Rechtsbehelfe 122 Unionsrecht – Anwendungsvorrang 84, 87, 92 – Autonomie 88 – Effektivitätsprinzip 85, 93 – innerstaatl. Geltung 86, 90 – mitgliedstaatl. Haftung 91 Verfassung – als Moralausdruck 249 – Durchbrechungen 125 – Identität 141 – offene Staatlichkeit 37, 48, 102 – Spielräume 192 – stille Änderung 51 – systemtheoretische Einordnung 251

318

Sachwortverzeichnis

– Voraussetzungen 246 Verfassunggebende Gewalt siehe pouvoir constituant Verfassunggebung 162 – Ablösung des GG 258 – Abstimmungsmehrheiten 261 – als Einigungsoption 184 – Anforderungen 259 – des deutschen Volks 261 – durch Art. 146 GG 265 – durch Konvent 259 – durch Nationalversammlung 255, 259 – durch Urteil 256 – durch Volksabstimmung 220, 255 – Gefahr des Vakuums 262 – maßgeblicher Zeitpunkt 244 – Missbrauchsgefahr 265 – Prozedur 252, 258 – Quorum 253 – Teilnahmepflicht 261 – und Wiedervereinigung 252 – zeitliche Befristung 262 – zeitliche Konstitutionalisierung 203 – zeitliche Perspektiven 242 Verfassungneugebung, Szenarium 246 Verfassungsbestandsklausel 125, 128 – Anknüpfungspunkt 126 Verfassungsfrage siehe Wiedervereinigung Verfassungsvoraussetzungen, Historie 248 Verfassungswandel 250

Vertrag von Lissabon 83 – Ratifizierung 24 – Zustimmungsgesetz 82 Vertrag von Maastricht 79 – Ratifikation 39 – Wirtschafts- und Währungsunion 63 Wahlrecht – Gehalt Art. 38 GG 228 – grundlegender Gehalt 231 – Lissabon-Rechtsprechung 232 Wahlrechtsgrundsätze 230 Weimarer Reichsverfassung 67, 143, 175, 250 Widerstandsrecht 178 Wiedervereinigung 220 – als aufschiebende Bedingung 176 – als Bewährungsprobe 180 – als Fernziel 37 – als Verfassungsgebot 46, 151 – Beitritt der neuen Bundesländer 188 – durch Beitritt 183, 187 – durch Einigungsvertrag 185, 187 – rechtliche Realisierung 183, 189 – Reform des Art. 146 GG 164 – Verfassungsfrage 190, 207 – Vollendung 182 – Zeitfenster 184 – zwei Wege zur 181, 191 Zwei-plus-Vier-Vertrag 182, 185